Jan Turowski Sozialdemokratische Reformdiskurse
Jan Turowski
Sozialdemokratische Reformdiskurse
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Jan Turowski Sozialdemokratische Reformdiskurse
Jan Turowski
Sozialdemokratische Reformdiskurse
Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17307-8
VORWORT
Im Sommer 2003 begann meine Mitarbeit in dem DFG-finanzierten Forschungsprojekt „Theorie der Sozialen Demokratie“ an der Universität Dortmund unter der Leitung von Prof. Thomas Meyer. Die Forschungsergebnisse wurden in den Büchern „Theorie der Sozialen Demokratie“ 2005 und „Praxis der Sozialen Demokratie“ 2006 veröffentlicht. In dem Forschungsprojekt ging es zum einen darum, eine normativ fundierte Theorie der Sozialen Demokratie zu erarbeiten, und zum anderen darum, unterschiedliche politische Handlungsstrategien, die sich aus eben diesen normativen Grundlagen ableiten, empirisch zu vergleichen. Wir arbeiteten damals klar heraus, dass jenseits einiger normativer Grundbedingungen, die Ziele Sozialer Demokratie über sehr unterschiedliche wirtschaftliche und sozialpolitische Strategien realisiert werden können, und dass die Strategien immer wieder einer sich verändernden Umwelt angepasst werden müssen. Ebenso eindeutig formulierten wir, dass Reformen, die die Selbstbehauptung und Nachhaltigkeit der Wirtschaftssysteme und Sozialstaaten gewährleisten, sich aus den Normen Sozialer Demokratie selbst ergeben. In jener Zeit leitete die Schröder-Regierung mit ihrer ‚Agenda 2010’ grundlegende Wohlfahrtsstaatsreformen ein, die – trotz aller Unterschiede der sozialstaatlichen Modelle – in die gleiche Richtung wiesen wie die Wohlfahrtsstaatsreformen anderer europäischer Länder. Dennoch schien der Umbau der Sozialsysteme in Deutschland massivere Gegenreaktionen auszulösen als in den anderen Ländern. Der Schröder-Regierung gelang es kaum, die Reformkommunikation unter Kontrolle zu halten. Zudem zwangen die Reformen der Regierungspartei SPD einen Programmdiskurs auf, der die Partei in ihren Grundfesten erschütterte und von dem sie sich bis heute noch nicht erholt hat. In diesen Jahren setzte sich auch in der Politikwissenschaft verstärkt die Erkenntnis durch, dass – jenseits nationaler Institutionen und Akteurskonstellationen – der öffentliche Diskurs eine zentrale Ressource im Machtbildungsprozess und bei der Implementierung von Reformprogrammen darstellt. Zwischen den Grundwerten der Sozialen Demokratie und den Reformpolitiken schien also der öffentliche Reformdiskurs zu stehen, der die Spannungen zwischen beiden moderierend und erklärend auflöst, Legitimation politischen Handelns erzeugt und somit die Durchsetzung von Reformprogrammen ermöglicht. In Deutschland litt der öffentliche Reformdiskurs hingegen vor allem darunter, dass es ihm nicht gelang, die Reformen auch in die Regierungspartei SPD hinein normativ kohärent zu kommunizieren. Reformdiskurse müssen offensichtlich vor dem Hintergrund der Parteienkonkurrenz und Parteienidentität betrachtet werden. Dies war die Ausgangssituation, die mich zu einer tiefer gehenden Untersuchung motivierte: die systematische Herausarbeitung unterschiedlicher Diskurskontexte, in denen öffentliche Reformdiskurse sehr unterschiedliche normative Werte, historisch gewachsene Identitäten und ideologische Leitmotive kommunizieren müssen, um erfolgreich zu sein.
6
Vorwort
Bei diesem Buch handelt es sich um eine überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die im Juni 2009 von der Fakultät (14) Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund angenommen wurde. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bei meinem Dissertationsbetreuer Herrn Prof. Dr. Thomas Meyer, der mich zur Dissertation ermuntert und die Arbeit hilfreich und kritisch betreut hat. In den Jahren der produktiven und freundschaftlichen Zusammenarbeit durfte ich viel von ihm lernen. Herrn Prof. Dr. Udo Vorholt danke ich für wesentlich mehr als die Übernahme des Zweitgutachtens. Ein besonderer Dank gilt Dr. Klaus-Jürgen Scherer, Kulturforum der Sozialdemokratie, Willy-Brandt-Haus, für die vielen konstruktiv-kritischen Anmerkungen in langen persönlichen Diskussionen, die kontinuierliche Einbindung in spannende Debatten sowie für die mir stets entgegengebrachte Hilfe. Manuel Falkenberg möchte ich dafür danken, dass er Teile des Manuskriptes korrekturgelesen hat, und Carolin Friese dafür, dass sie neben dem Korrekturlesen auch bei der Erstellung der Druckfassung geholfen hat. Ganz besonders möchte vor allem meiner Familie, meinen Eltern Erika und Peter Turowski und meiner Schwester Ines Turowski, danken. Dass ich die Arbeit zu einem Abschluss bringen konnte, habe ich wesentlich ihrer kontinuierlichen Unterstützung, ideellen wie materiellen Rückendeckung und umfassenden Solidarität zu verdanken. Berlin im Februar 2010
Jan Turowski
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung: Reform und Diskurs Die besondere Herausforderung sozialdemokratischer Diskurse - Dimensionen des sozialdemokratischen Reformdiskurses - Input- und Output-Bedingungen sozialdemokratischer Reformdiskurse 1.1 Fragestellung 1.2 Methode und Aufbau Die analytische Bedeutung des öffentlichen Diskurses - Qualitativ-vergleichende Methode - Die Auswahl der Vergleichsländer - Aufbau der Arbeit 2 2.1 2.2 2.3 2.4
3
Der öffentliche Diskurs: Methodische Abgrenzung, inhaltlichkonzeptuelle Begriffsverwendung und erkenntnisleitende Problembegrenzung Diskurs und Diskursforschung: Ein kurzer Abriss der Diskursverwendungen Der öffentliche Diskurs: Inhaltliche und methodische Abgrenzung Was ist ein öffentlicher Reformdiskurs? Der nach Hegemonie strebende Diskurs - Institutioneller Kontext und Akteurskonstellationen Funktions- und Wirkungsweisen des öffentlichen Diskurses Die ideenbasierte Dimension: kognitive und normative Funktion - Die interaktive Dimension: kommunikative und koordinierte Funktion - Einfache und komplexe Politiksysteme
Der sozialdemokratische Grundwertediskurs: Ziele und Politikinstrumente in neuen Spannungsfeldern 3.1 Reformen, Diskurse und Parteiendifferenz: Die Notwendigkeit der richtungspolitischen Einordnung von Reformdiskursen Ungleicher programmatischer Anpassungsdruck 3.2 Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse: Programmatische Veränderungsprozesse und inhaltliche Neujustierungen 3.2.1 Gründe und Motivationen der programmatischen Revision: Veränderte Rahmenbedingungen für sozialdemokratische Politik Wirtschaftspolitische Handlungszwänge der Globalisierung - Sozialpolitische Handlungszwänge im Zuge der Veränderungen von Arbeits- und Lebenswelten Elektorale Handlungszwänge 3.2.2 Anthony Giddens’ Idee und Konzept des ‚Dritten Weges’ Neue Politik jenseits alter Fundamentalalternativen - Lösungsansätze 3.3 Der ‚Dritte Weg’: Partei- und Kommunikationsmodernisierung Die US-amerikanischen Ursprünge - New Labour - Professionalisierung des Parteien- und Kommunikationsmanagements - Britische und amerikanische Besonderheiten
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27 29
37 37 41 44 47
51 51 59 62
69 74
8
Inhaltsverzeichnis
3.4 Der ‚Dritte Weg’ als diskursiver Rahmen sozialdemokratischer Standortbestimmung Das ‚Dritte’: Bruch, Überwindung, Erneuerung und Kontinuität - Pragmatismus als Dreh- und Angelpunkt 3.5 Die normative Paradigmenverschiebung im sozialdemokratischem Diskurs Demokratische Wohlfahrtsstaaten und Gerechtigkeit 4 Nationale Input- und Output-Filter öffentlicher Reformdiskurse 4.1 Input-Filter: Das politische System 4.1.1 Großbritannien 4.1.2 Deutschland 4.1.3 Schweden 4.2 Input-Filter: Die wohlfahrtsstaatliche und politisch-ökonomische Ausgangssituation Typen wohlfahrtsstaatlicher Arrangements und politisch-ökonomischer Organisation 4.2.1 Schweden: Sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime und national koordinierte Marktwirtschaft Das schwedische Modell unter Globalisierungsdruck 4.2.2 Großbritannien: liberaler Wohlfahrtsstaat und unkoordinierte Marktwirtschaft Wohlfahrtsstaatsreformen: Politische und ideologische Richtungsänderungen 4.2.3 Deutschland: konservativer Wohlfahrtsstaat und koordinierte Marktwirtschaft Das konservativ-korporative deutsche Wohlfahrtsmodell: Arbeitslosigkeit, die Herausforderungen der neuen Frauenrolle, neue Soziale Risken 4.2.4 Unterschiedliche Wohlfahrtsregime, unterschiedliche Reformdiskurse 4.3 Output-Filter: Politische Kultur 4.3.1 Politische Kultur und Diskurs, Politische Kultur als Diskurs 4.3.2 Postmaterialismus, Individualisierung, Subjektivierung und postmoderner Wertewandel Erlebnis-, Risiko- und Kontrollgesellschaft - Die politisch-kulturelle Verortung sozialdemokratischer Reformdiskurse: normative und kommunikative Herausforderungssituation 4.3.3 Differenzen nationaler politischer Kulturen: Unterschiedliche Vorstellungen, Einstellungen und Erwartungen, unterschiedliche Diskurskontexte Gesellschaftskultur vs. Staatskultur, Wettbewerb vs. Solidarität 4.3.4 Schweden 4.3.5 Deutschland 4.3.6 Großbritannien Margaret Thatchers Kulturrevolution - New Labours kulturalisierter PostThatcherismus 4.4 Output-Filter: Mediensysteme 4.4.1 Medien und politische Öffentlichkeiten im Wandel
87 95 102 104 108 111 113 117
120 122 125 127 129 130 132
143 146 152 155 160 162
Inhaltsverzeichnis Mediokratie - Amerikanisierung, Globalisierung Modernisierung, Säkularisierung 4.4.2 Der politische Diskurs in zersplitterten Medienwelten und antihegemonialen Öffentlichkeiten Normative Voraussetzungen vs. mediale Begrenzungen des Diskurses Normative Voraussetzungen und sozialdemokratische Diskurse 4.4.3 Reformdiskurse in unterschiedlichen nationalen Mediensystemen Typologisierender Mediensystemvergleich - Rahmenwerk zur Unterscheidung von Mediensystemen - Drei Modelle von Mediensystemen - Nationale Mediensysteme und ihr Verhältnis zum Idealmodell 4.4.4 Großbritannien 4.4.5 Schweden 4.4.6 Deutschland Strukturwandel des deutschen Mediensystems 4.4.7 Unterschiedliche Diskursbedingungen unterschiedlicher Mediensysteme? 4.5 Nationale Diskurskontexte
9
166 173
182 186 190 198 200
5
Verlauf öffentlicher Reformdiskurse: Inhaltlich-strategische, kommunikative und normative Positionierung sozialdemokratischer Diskurse Vergleich nationaler sozialdemokratischer Reformdiskurse 5.1 Großbritannien: Der idealtypische sozialdemokratische Reformdiskurs? 5.1.1 New Labours interaktiver Diskurs Kommunikativer Diskurs - Koordinierter Diskurs 5.1.2 Die ideenbegründete Diskursdimension: New Labours Diskurs der Modernisierung Modernisierung und Modernisierungszwang - Die normative Vergewisserung der Modernisierung: Der Sprung in die Zukunft über die Betonung einer Vor-Vergangenheit - Diskurskontextuelle Gründe für New Labours Erneuerungsnarrativ Das normativ-kognitive ‚Framing’ der Chancengerechtigkeit - Die wettbewerbliche Konzeption der Chancengerechtigkeit 5.1.3 New Labours öffentlicher Reformdiskurs im britischen Diskurskontext Neoliberaler Diskurs, sozialdemokratische Politik? 5.1.4 Verschiebung des nationalen Diskurskontexts. Die Labour Party Zurück zum Ausgangspunkt 5.2 Schweden: Die diskursive Neubestimmung des schwedischen Modells Der schwedische ‚Dritte Weg’: Programmatische Neubestimmung in den 1980er Jahren 5.2.1 SAPs interaktiver Diskurs Die Handlungsfreiheit des koordinierten Diskurses - Der kommunikative Reformdiskus 5.2.2 Der ideenbegründete Diskurs: Bewahrung im Angesicht der Zukunft „Derjenige, der Schulden hat, ist nicht frei“ - Der normative Diskurs: Anpassungsreformen als Bewahrung - ‚Volksheim’: Das Schwedische in den Stürmen der Globalisierung - Diskurskontextuelle Gründe für SAPs
206 210 211 218
228 230 238 242 247
Inhaltsverzeichnis
10
Bewahrungsnarrativ - ‚Zurück in die Zukunft’: Die Modernisierung des universalistischen Wohlfahrtsstaats - Universalität oder Chancengerechtigkeit? Die Risiken der Wissensökonomie 5.2.3 Die Stabilisierung des schwedischen Diskurskontexts Diskurskontext und Parteidiskurs - Opfer des eigenen Erfolgs? Die Wahlniederlage von 2006 5.3 Deutschland: Der unentschlossene, geliehene und verspätete Reformdiskurs Modernisierung: Aufbruch oder Zwang 5.3.1 Der Interaktive Diskurs Kommunikative Diskursdimension - Programmatischer Dualismus: Die halbherzige Modernisierung der SPD - Zick-Zack-Diskurs - ‚Agenda 2010’: Der nachgereichte Reformdiskurs 5.3.2 Koordinierte Diskursdimension 5.3.3 Der ideenbegründete Diskurs Der kognitive Diskurs - Der normative Diskurs - Schröder-Blair-Papier - Der normative ‚Agenda 2010’-Diskurs: ‚Mut zur Modernisierung’ und Neubestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs - Diskurskontexuelle Diskrepanzen 5.3.4 Verschiebung des deutschen Diskurskontextes 6 Schlussbetrachtung und Ausblick 6.1 Welcher öffentliche Reformdiskurs unter welchen nationalen Bedingungen? Forschungsperspektive - Populismusherausforderung 6.2 Der ideologische Diskurs der Sozialdemokratie Das Verschwinden des sozialdemokratischen Narrativs - Sozialdemokratische Modernisierung, modernisierte Sozialdemokratie 7
Literatur
256 261 266
281 284
299 308 310 319
327
Tabellen und Abbildungen
11
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabellen Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4:
Diskursdimensionen Verschiebungen der Werteparadigmen im „Dritten Weg“-Diskurs Politisch-institutionelle Struktur und Diskurs Problemlösungsverantwortung und Interaktionsformen politischer Kulturen Tabelle 5: Medieninfrastruktur Tabelle 6: Modelle nationaler Diskurskontexte Tabelle 7: „Linke“ Einstellungen in Großbritannien 1990-2005
47 100 108 146 200 204 232
Abbildungen Abbildung.1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6:
Nationale Input- und Output-Filter sozialdemokratischer Reformdiskurse Verhältnis der nationalen Mediensysteme zu Idealmodellen Diskurskontextverschiebung Diskurskontextverschiebung Großbritannien Diskurskontextverschiebung Schweden Diskurskontextverschiebung Deutschland
26 181 208 234 260 304
12
Abkürzungen
Abkürzungsverzeichnis ALG II AQTIV ARD ATP attac BBC BR CDU CSU DLC FDP DGB DNVP DVU EWS EU GmbH IBA IT ITV LO NPD NRW PDS PES PPI PPP PR PSOE SACO SAP SPD SR SVT TCO Ufa USA VW WASG WDR ZDF
Arbeitslosengeld II Aktivieren, Qualifizieren, Trainieren, Investieren, Vermitteln Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands allmän tilläggspension association pour une taxation des transactions financières pour l'aide aux citoyens British Broadcasting Corporation Bayerischer Rundfunk Christlich Demokratische Union Christlich Soziale Union Democratic Leadership Council Freie Demokratische Partei Deutscher Gewerkschaftsbund Deutschnationale Volkspartei Deutsche Volksunion Europäische Währungssystem Europäische Union Gesellschaft mit beschränkter Haftung Independent Broadcasting Authority Information Technology Independent Television Landsorganisationen Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nordrhein-Westfalen Partei des Demokratischen Sozialismus Party of European Socialists Progressive Policy Institute Public-Private-Partnership Public Relation Partido Socialista Obrero Español Sveriges Akademikers Centralorganisation Socialdemokratiska arbetareparti Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sverige Radio Sveriges Television Tjänstemäns Central Organisationen Universum-Film AG United States of America Volkswagen Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit Westdeutscher Rundfunk Zweites Deutsches Fernsehen
1 Einleitung: Reform und Diskurs
Die sozioökonomischen und soziokulturellen Grundlagen und Rahmenbedingungen westlicher Wohlfahrtsstaaten haben sich in den letzten 20 Jahren derart radikal verändert, dass die meisten ihrer sozialstaatlichen Arrangements, auf denen sie seit den 1950er Jahren maßgeblich basierten und die ihre bisherige demokratische Leistungsfähigkeit wie ihren ökonomischen Erfolg garantierten, einem massivem, bis heute nicht abgeschlossenen Reformdruck ausgesetzt sind. Die neuartigen Herausforderungen, mit denen sich entwickelte Wohlfahrtssysteme konfrontiert sehen, sind sowohl interner wie auch externer Natur1: Die externen Herausforderungen entstehen aus der Globalisierung2 in Form eines rapiden Wachstums transnationaler Finanzströme, einer zunehmenden Integration der Güter- und Dienstleistungsmärkte und der damit einhergehenden Verschärfung der Standortkonkurrenz, so dass herkömmliche Steuerungskapazitäten der Nationalstaaten zunehmend untergraben werden. Der Nationalstaat wird somit immer weniger als ‚umfassender Schicksalsraum’ oder als ‚gesellschaftlicher Horizont’ erfahren3. Die internen Herausforderungen ergeben sich aus dem demographischen Wandel aufgrund wachsender Lebenserwartung und geringer Geburtenzahlen, der zunehmenden Pluralisierung der Lebensweisen und Wertevorstellungen4, einer neuen Frauenrolle und einer erhöhten Frauenerwerbstätigkeit5 und schließlich den tief greifenden Veränderungen der Arbeitswelt und der wachsenden Beschäftigungsprobleme gering Qualifizierter im Zuge der Transformation von einer fordistischen, industriellen Massenproduktion hin zur einer wissensbasierten Dienstleistungsökonomie6. Diese vielfach in einem engen, sich wechselseitig bedingenden Beziehungszusammenhang stehenden Herausforderungen erzeugen zwar in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedliche Problemlagen, die unterschiedliche Lösungen verlangen7, gleichwohl verändern sie für alle westlichen Wohlfahrtsstaaten spätestens seit den 1980er Jahren die 1
F.X. Kaufmann 1997 Mit dem Begriff ‚Globalisierung’ wird im Folgenden ein Prozess „der zunehmenden Ausdehnung und Intensität ökonomischer Austauschbeziehungen“ verstanden (Vgl. T. Bernauer 2000: 28), durch den sich der institutionelle und organisatorische Rahmen nationaler Policies grundlegend verändert (D. Held/ A. McGrew 1993: 275), so dass sich dadurch die faktische Handlungsfähigkeit der Regierungen massiv verringert, ohne dass dabei ihre formelle Souveränität eingeschränkt ist. Zum Forschungsstand und einer Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Globalisierungsdimensionen vgl. u. a. D. Held 1995; U. Beck 1998; E. Altvater/ B. Mahnkopf 2002; P. Genschel 2003. Für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vollzieht sich zudem ein nationalstaatlicher Autonomie- teilweise auch Souveränitätsverlust durch die europäische Integration. Die damit verbundenen grundsätzlichen Einschränkungen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischer Handlungsspielräume nationaler Regierungen werden der Einfachheit halber im Folgenden in dem Oberbegriff ‚Globalisierung’ gebündelt; von ‚Europäisierung’ hingegen wird nur dann gesprochen, wenn spezifisch Maßnahmen, Gesetze und Beschränkungen explizit auf Beschlüsse und Verträge der Europäischen Union gründen. 3 F.X Kaufmann 1997: 11 4 U. Beck 1994; R. Ingelhart 1997 5 G. Esping-Andersen 2003; K.L Brewster/ R.R. Rindfuss 2000 6 R. Rowthorn/ R. Ramaswamy 1997 7 F.W. Scharpf 2000b; A. Hemerijck/ M. Schludi 2000. Vgl. Kapitel 3 2
14
1 Einleitung: Reform und Diskurs
sozialen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen erheblich und machen somit – trotz unterschiedlich geartetem Anpassungsdruck – überall tiefgreifende Anpassungsreaktionen notwendig. Dies vor allem, weil die meisten wohlfahrtsstaatlichen Systeme, die vielfach noch soziopolitische und ökonomische Makrokonstellationen ebenso wie Beschäftigungs-, Familien- und Risikostrukturen ihrer Gründungs- und frühen Expansionsphase widerspiegeln, weder konzeptionell noch strukturell auf die Veränderung der Rahmenbedingungen eingestellt sind. Regierungen müssen auf diese Entwicklungen mit teilweise enormen Umbaumaßnahmen der wohlfahrtsstaatlichen Leistungs- und Finanzierungsstrukturen reagieren und in allen Ländern stehen diese ‚intensiven Renovierungen’8 der Wohlfahrtssysteme im Zentrum der politischen Auseinandersetzung und des gesellschaftlichen Konflikts, in dem sich – im Extremfall – bereits die Wahrnehmung von Handlungszwängen sowie die Einsicht zu Anpassungsreaktionen einem Beharrungspopulismus und radikalisierter Wirklichkeitsverleugnung gegenüberstehen. Die verschiedenen nationalen Anpassungsstrategien und Neujustierungen der wohlfahrtsstaatlichen Systeme, die sozial- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen, Praktiken und Programme, aber auch die jeweiligen institutionellen Ressourcen und Restriktionen sowie Akteurskonstellationen in den jeweiligen Reformprozessen sind in den letzten Jahren in der politikwissenschaftlichen Forschung ausgiebig und in vergleichender Perspektive untersucht worden9. Dabei konzentrierten sich die Untersuchungen der Reformen vor allem auf die Policy-Ebene: je nach analytischem Schwerpunkt entweder auf eine entsprechende Übersetzung der Herausforderungen in Policies, auf Inhalt und Leistungsfähigkeit der jeweiligen Policy-Programme oder auf die unterschiedlichen Rollen von Policy-Akteuren und in welchem Ausmaß ihre verschiedenen Interessen die Policy-Ergebnisse beeinflussten. Der politische Prozess der Willensbildung und Aushandlung, der zu unterschiedlichen Anpassungsreaktionen führte, ist bislang weitgehend vernachlässigt worden. Doch zwischen der Identifizierung sozialpolitischer Kernprobleme und Anpassungsnotwendigkeiten auf der einen Seite und der effektiven Umsetzung von Policy-Lösungen auf der anderen befindet sich ein politisch-institutioneller Zwischenraum, in dem politische Ideen und Handlungen auf einer komplexen kognitiven und normativen Weise interagieren. In diesem Zwischenraum werden Handlungszwänge und Policy-Ideen durch argumentative Verweise, durch Einbettung in kognitive Kontexte und durch Verbindungen zu allgemein akzeptierten Werten in einer spezifischen Weise gerahmt, die es Personen ermöglicht, Handlungen und Dinge identifizieren und komplexe Sachverhalte mitunter auf einen Begriff bringen zu können10. Diese Rahmung von Ideen und Themen vollzieht und artikuliert sich in Demokratien immer in einem öffentlichen Diskurs, der wiederum die Legitimation und letztlich die Durchsetzung von Reformprogrammen beeinflusst11. Vivien A. Schmidt hat zu Recht bemerkt, dass in den verschiedenen Forschungen zu Reformfähigkeit und -dynamik in unterschiedlichen Ländern diese prozessuale Dimension der kognitiven und normativen Ideenvermittlung und darin vor allem die Rolle des öffentlichen Diskurses auffallend wenig berücksichtigt wurde. Ohne eine genaue Analyse der politics-Dimension im Allgemeinen und des Reformdiskurses im Besonderen, also die öffentli8
G. Bonoli/ B. Palier 2000 Vgl. zum Beispiel C. Crouch 1999; G Esping-Andersen 1999; M. Ferrera/ M. Rhodes 2000; E. Huber/ J.D. Stephans 2001; F.W. Scharpf/ V.A. Schmidt 2000; Leibfried 2001; F.W. Scharpf 2003 10 E. Goffman 1977 11 D. Beetham 1991 9
1 Einleitung: Reform und Diskurs
15
che Kommunikation der Notwendigkeit einer Reform und ihre Einbindung in die zentralen politischen Werte der Gesellschaft, ist jedoch nicht zu verstehen, wie die jeweiligen Regierungen in einem kommunikativen Prozess Zustimmung für ihre Anpassungspolitik gewinnen, wie sie institutionelle Hürden überwinden und organisierte Interessen einbinden konnten oder darin scheiterten. Der öffentliche Diskurs ist zudem nicht nur wichtig, um politische Unterstützung für eine bestimmte Politik zu erlangen, sondern vor allem auch, um öffentliche Unterstützung für eine Reformpolitik zu erhalten12. Öffentliche Diskurse spielen eine zentrale Rolle im Machbildungs- und Durchsetzungsprozess politischer Agenden. Inhalt und Form des öffentlichen Diskurses, den Regierungen führen, um der Öffentlichkeit die Notwendigkeit politischer Maßnahmen zu erklären und eine Zustimmung für Reformprojekte insgesamt zu gewinnen, unterscheiden sich entsprechend der unterschiedlichen institutionellen Strukturen des politischen Systems und der jeweiligen Akteurskonstellationen in den politischen Arenen von Land zu Land. Das Diskursfeld, auf dem öffentliche Akteure entweder vorwiegend miteinander oder eher direkt mit der Öffentlichkeit sprechen, um Policy-Ideen zu generieren und zu legitimieren, ist also entscheidend durch nationale institutionelle Hintergrundfaktoren, wie beispielsweise Gesetzgebungsverfahren, die Anzahl der Veto-Spieler13 oder traditionelle Lösungspräferenzen determiniert. Doch auch wenn die kommunikative Ausgestaltung nationaler Reformdiskurse durch eine Vielzahl institutioneller Grenzen und Vorgaben in einer spezifischen Weise vorgeprägt ist, können Regierungen das jeweilige Diskursfeld entweder in ihrem Sinne optimal ausschöpfen oder gerade daran scheitern, einen ihrem nationalen Diskurskontext entsprechenden Diskurs erfolgreich zu führen14. Ein analytisch vergleichender Ansatz, der sich auf Form und Inhalt der Reformdiskurse von Regierungen in einem gegebenen nationalspezifischen Diskurskontext konzentriert, setzt allerdings voraus, dass die Stoßrichtung der Wohlfahrtsstaatsreformen und folglich der sie legitimierenden Diskurse in allen Ländern ähnlich ist. Eine solche Sichtweise ist bis zu einem gewissen Grad dann plausibel, wenn man unter Wohlfahrtsstaatsreformen ausschließlich die grundlegende Veränderung lange gültiger und eingespielter politischer Verfahren und sozialpolitischer Verteilungsmechanismen oder gar die Abkehr von bestehenden Politikinstrumenten oder -zielen versteht, die zwangsläufig den Widerstand ‚verschanzter’ Interessen oder gar der Mehrheit der Bevölkerung hervorrufen. Wenn man Reformen allein auf ähnlich ausgerichtete Policy-Veränderungen reduziert, dann können unterschiedliche Reformdiskurse in ihren jeweiligen institutionellen Diskurskontexten tatsächlich dahin gehend vergleichend untersucht werden, inwieweit sie durch überzeugende und kohärente Argumentation institutionelle Blockaden aufzulösen und kollektive Interessen einzubinden imstande sind und somit eine breite Zustimmung für Reformprojekte herstellen können. Ein solcher Ansatz ist aber unterkomplex, weil er die von Regierungen geführten Reformdiskurse auf diese Weise von dem Parteienwettbewerb entkoppelt. Regierungen werden in repräsentativen Demokratien jedoch von Parteien gestellt und von der parlamentarischen Mehrheitsfraktion getragen und die Forschung hat mit empirischer Evidenz gezeigt, dass es deutliche Unterschiede nicht nur in den Wahlaussagen konkurrierender Parteien 12
V.A. Schmidt 2002 Vgl. G. Tsebelis 1995, 2002. Siehe auch Tab. 7: ‚Institutionelle Barrieren der zentralstaatlichen Exekutive in 36 Demokratien am Ende des 20. Jahrhunderts’, M. G. Schmidt 2000: 352 14 V.A. Schmidt 2000a, 2002. Vgl. Kap.2: ‚Der öffentliche Diskurs: Methodische Abgrenzung, inhaltlichkonzeptuelle Begriffsverwendung und erkenntnisleitende Problembegrenzung’ 13
16
1 Einleitung: Reform und Diskurs
gibt, sondern auch, dass diese programmatischen Unterschiede in aller Regel in Policies umgesetzt werden15. Parteien sind von Grundwerten und -überzeugungen sowie von soziostrukturellen ‚Cleavages’ geprägt, sie sind ‚historische Wesen’16, deren politische Orientierungen und Handlungsprogramme maßgeblich durch ihre Tradition und Vergangenheit bestimmt sind. Mit welchem Reformprogramm die jeweiligen Regierungen auf die neuen Herausforderungen des Wohlfahrtsstaats reagieren, ist also auch abhängig davon, welche Partei die Regierung stellt. Doch selbst wenn man von der These ausgehen würde, dass durch äußere und innere Anpassungszwänge der sozial-, wirtschafts- und finanzpolitische Gestaltungskorridor für Regierungen jedweder Couleur so eng geworden ist, dass die Policies linker und rechter Regierungen letztlich konvergieren, müsste man dennoch davon ausgehen, dass der politikwissenschaftliche ‚Parties do matter’-Ansatz zumindest auf der Ebene der Regierungsdiskurse weiterhin deutlich zum Ausdruck kommt, da die jeweiligen Diskurse auf unterschiedliche Parteimitglieder und Stammwähler zielen, durch eine gewisse ‚parteiprogrammatische Pfadabhängigkeit’ normativ begrenzt sind und ein unterschiedliches elektorales Risiko bergen. Das hieße, dass Regierungen ihrer programmatischen Ausrichtung und Grundwerteorientiertung entsprechend gleiche Reformprogramme mittels eines sehr unterschiedlichen öffentlichen Diskurses legitimieren müssten.
Die besondere Herausforderung sozialdemokratischer Diskurse Öffentliche Reformdiskurse unterscheiden sich folglich nicht nur durch einen länderspezifisch institutionellen Diskurskontext, sondern entscheidend auch dadurch, ob eine sozialdemokratisch oder bürgerlich geführte Regierung Policy-Veränderungen kommunizieren und diskursiv legitimieren muss. In der parteipolitisch differenzierten Betrachtung öffentlicher Reformdiskurse und ihrer unterschiedlichen Wirkungsweisen erweisen sich speziell sozialdemokratische Parteiund Regierungsdiskurse im Hinblick auf die hier vorgenommene politikwissenschaftliche Fragestellung in dreifacher Weise als besonders ergiebig und aufschlussreich17: Erstens stellen die Wohlfahrtsstaaten als Verwirklichung wichtiger sozialdemokratischer Ziele selbst den normativen Kern sozialdemokratischer Programmatik und Ausdruck politischen Selbstbewusstseins und historischen Erfolgs dar. Deshalb gestalten sich Anpassungsreaktionen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik für Sozialdemokraten problematischer und vor allem ihre diskursive Legitimation schwieriger als für bürgerliche Parteien, da durch Reformen (z. B. steuerliche Entlastung von Unternehmen und hohen Einkommen, Umbau des Wohlfahrtsstaats, Deregulierung) vielfach genau die ehemals hart erkämpften wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften des ‚goldenen Zeitalters’ betroffen sind, die traditionell sozialdemokratische Wertevorstellungen und Identitäten berühren. Sozialdemokratische Parteien müssen auf die Herausforderungssituation mit stärkeren programmatischen Veränderungen reagieren und vor allem die Revision ihrer Politikziele 15
I. Budge/ H. Keman 1990 H.D. Klingemann/ R. Hofferbert / I. Budge 1994: 24 17 Aus denselben Gründen galt der Sozialdemokratie bzw. der sozialdemokratischen Parteienfamilie in der Politikwissenschaft stets größte Aufmerksamkeit. Herbert Kitschelt verweist auf die Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten weit mehr politik- und sozialwissenschaftliche Studien zur Sozialdemokratie publiziert wurden als zu anderen politischen Parteien. H. Kitschelt 1994: 1 16
1 Einleitung: Reform und Diskurs
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und -instrumente mit einem grundsätzlich anderen Diskurs legitimieren als ihre bürgerliche Konkurrenz. Zweitens ist die Sozialdemokratie in ihrer langen Geschichte – von der revolutionären Arbeiterbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur modernen Volkspartei in einem liberaldemokratischen System in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – enormen Veränderungen unterworfen gewesen, die einerseits Selbstbewusstsein, Tradition und Stolz, andererseits politische, kulturelle und symbolische Spannungen und Widersprüche innerhalb sozialdemokratischer Parteien bis heute prägen. Gegen Ende der 1980er Jahre führte das Ende des Industrialismus und der damit verbundenen Veränderungen der Arbeitswelt erneut zu massiven politischen wie elektoralen Anpassungszwängen sozialdemokratischer Parteien. Drittens ist in der Sozialdemokratie das Spannungsverhältnis zwischen politischem Gestaltungsanspruch und realistischen Gestaltungsmöglichkeiten traditionell ausgeprägter als bei bürgerlichen Parteien. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen ist die Untersuchung der Leistungsfähigkeit der politischen Machtressource ‚Diskurs’ bei sozialdemokratischen Parteien und sozialdemokratisch geführten Regierungen theoretisch besonders interessant, da diese gleich mehrere Spannungsverhältnisse und Hürden normativ wie kommunikativ überwinden muss. Gelingt es hingegen dem öffentlichen Diskurs, diese Spannungen und scheinbar unüberwindbare Interessenswidersprüche produktiv zu kommunizieren, wird deutlich, welche machtvolle Ressource der Diskurs im Reformprozess insbesondere für sozialdemokratische Regierungen sein kann. Aber nicht nur die parteipolitische Herkunft der handelnden Akteure prägt Form und Inhalt der von ihnen kommunizierten Reformdiskurse, sondern notwendigerweise auch die unterschiedliche Ausrichtung der Reformprogramme. So lassen sich auch innerhalb der europäischen Sozialdemokratie höchst unterschiedliche Reformprofile und -strategien identifizieren, die sich aufgrund unterschiedlicher nationaler Problemlagen, kultureller Traditionen und variierender institutioneller Handlungskontexte ausgebildet haben und jeweils unterschiedlich diskursiv legitimiert werden müssen. Selbst wenn man annehmen würde, dass sozialdemokratische Parteien ihre Reformpolitik nicht nur vor dem Hintergrund gleicher Grundwerte, sondern auch gleicher Zielpräferenzen ähnlich kommunizieren müssten (was aufgrund sehr unterschiedlicher Parteiengeschichten und -kulturen ohnehin kaum möglich ist), so verlangt doch beispielsweise die marktorientierte Reformstrategie von New Labour einen inhaltlich-normativ anders ausgerichteten Reformdiskurs als die reformiertwohlfahrtsstaatliche der schwedischen Sozialdemokraten18. Bezieht man also die Parteiendifferenzthese in die analytische Betrachtung öffentlicher Reformdiskurse mit ein, dann wird deutlich, dass Reformdiskurse von Regierungen immer auch an vorgelagerte Diskurse politischer Leitideen und Grundwerte anknüpfen. Dennoch sind trotz vielfältiger Überschneidungen und Verschränkungen die jeweiligen Reformdiskurse einer Regierung und einer sie tragen Regierungspartei notwendig zu unterscheiden und differenziert zu analysieren, da Regierungen wegen einer Vielzahl formeller und informeller Vetospieler oder makroökonomischer Handlungszwänge nicht nur auf der 18
W. Merkel 2000b. In seiner Untersuchung unterschiedlicher Reformstrategien der Sozialdemokratie unterscheidet Merkel neben diesen beiden Reformwegen zudem noch den konsensorientierten Weg der Partij van de Arbeid (PvdA) im „holländischen Polder-Modell“ und den etatistischen Weg der französischen Parti Socialiste (PS).
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1 Einleitung: Reform und Diskurs
Policy-Ebene vielfach zu Kompromissen gezwungen sind, sondern gerade auch auf der Ebene der politischen Meinungsbildung und der gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Politikvermittlung auf vielfältige Einflussfaktoren, wie konkurrierende Sprecher und Diskurse, nationale Wertvorstellungen oder institutionelle und mediale Diskursfilter Rücksicht nehmen müssen. Parteiendiskurse hingegen zielen, egal ob nach innen, auf die Mitglieder hin gerichtet oder nach außen, auf die Wähler, funktional eher auf politische Abgrenzung und auf Wahrung einer eigenen programmatischen Identität und sind somit eher puristisch und grundsätzlich als pragmatisch. Das bedeutet, dass Regierungen in ihren Bemühungen, eine praktische Reformpolitik zu legitimieren, zwar häufig Diskurse der sie tragenden Parteien und die darin entfalteten Werte und Normen als argumentative Ressource nutzen können, dieselben Parteiendiskurse aber gleichzeitig, wegen ihrer meist identitären Ausrichtung und ihrer eher statischen Prinzipien, in Widerspruch zu gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Regierungsdiskursen geraten können. Ein solch dialektisches Spannungsverhältnis zwischen Partei- und Regierungsdiskursen steht gewissermaßen für den Konflikt zwischen der Übersetzung von Ideen in umsetzungsfähige Politik einerseits und der in der Geschichte sozialdemokratischer Parteien immerwährenden Anschuldigungen des Verrats an eben diesen Ideen andererseits19. Politikwissenschaftlich besonders interessant sind die sozialdemokratischen Reformdiskurse der letzten 10 Jahre auch, wenn man sie gewissermaßen von ihrem ‚Ende’ aus betrachtet. Befanden sich die Sozialdemokraten in vielen europäischen Ländern ab Mitte der 1990er Jahre im Aufschwung und strahlten Modernität wie Selbstbewusstsein aus, so erlebt die Sozialdemokratie heute in ganz Europa einen dramatischen Niedergang. Bei der Europawahl im Juni 2009 konnte die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament nur noch 22,1% der Sitze gewinnen. Der Absturz wird umso deutlicher, wenn man die Wahlergebnisse einiger Mitgliedsländer gesondert betrachtet. In Frankreich beispielsweise kam die PS nur noch auf knapp 17%, in den Niederlanden die PvdA auf 12%, die österreichische SPÖ und die deutsche SPD fuhren mit knapp 24 bzw. 20% ihr jeweils schlechtestes Ergebnis bei einer landesweiten Wahl seit 1945 ein und die britische Labour-Party kam nur noch auf knapp 16% und landete gar hinter den Konservativen und der europafeindlichen Unabhängigkeitspartei UKIP auf dem dritten Platz. Dass diese ehemals großen Parteien so viele Wähler verloren haben, lässt sich allein mit ihren Reformpolitiken, die in den jeweiligen Ländern ohnehin recht unterschiedliche Ausprägungen hatten, nur unzureichend erklären; die Parteien sind wohl auch daran gescheitert, ihre Politik durch einen klaren und überzeugenden Diskurs abzusichern. Nach einem Jahrzehnt sozialdemokratischer Reformpolitik scheinen die Parteien sich selbst deartikuliert zu haben. Die Sozialdemokratie befindet sich in einer Überzeugungskrise, weil ihrem Politikdiskurs der identitärer Kern verloren gegangen ist. Dieses gegenwärtige Diskursvakuum lässt sich nur mit einem analytischen Blick zurück auf die sozialdemokratischen Reformdiskurse der letzten anderthalb Jahrzehnte ergründen.
19
Vgl. A. Gamble/ T. Wright 1999
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Dimensionen des sozialdemokratischen Reformdiskurses Vor dem Hintergrund dieses komplexen Spannungsverhältnisses zwischen politischen Grundwerten und ihrer zeitgemäßen Interpretation, traditionellen Zielen und wohlfahrtsstaatlichen Reformzwängen, normativen Ideen und kognitiven Argumenten sowie Regierungs- und Parteidiskursen untersucht die vorliegende Arbeit sozialdemokratische Reformdiskurse. Welche Möglichkeiten haben sozialdemokratisch geführte Regierungen, ihre Reformprogramme im jeweiligen nationalen Diskurskontext überzeugend kommunizieren und legitimieren zu können? Wie verknüpfen sie eine gezielte und strategisch koordinierte Präsentation ihrer Reformprogramme mit einem sozialdemokratischen Wertesystem und wie prägen traditionelle Grundwerte und Identitäten wiederum Inhalt und Form des Reformdiskurses sozialdemokratischer Regierungen? Doch auch die sozialdemokratischen Grundwerte selbst sind nie statisch, sondern immer Teil der politischen Auseinandersetzung: In veränderten Umwelten müssen sie mit neuen erstrebenswerten Zielen ausgefüllt werden, ebenso wie die Instrumente zur Erlangung dieser Ziele im Einklang mit den Grundwerten immer neu justiert werden müssen. Die Neubestimmung sozialdemokratischer Grundwerte ist demzufolge ein logischer Bestandteil jedes sozialdemokratischen Reformdiskurses; dabei ist an dieser Stelle erst einmal unerheblich, ob sie durch einen machterstrebenden Modernisierungsdiskurs von Parteistrategen oder einen machterhaltenden Regierungsdiskurs aufgrund von Handlungszwängen ausgelöst wurde, also zeitlich nachfolgte, oder ob die Revision der Grundwerte diesen Diskursen vorausging und sie somit erst ermöglichte. Wie sehr sich diese unterschiedlichen Dimensionen eines sozialdemokratischen Reformdiskurses strategisch überlagern und inhaltlich bedingen, wurde in der heftigen und kontroversen Modernisierungsdebatte über die zeitgemäße Füllung grundwerteorientierter Leitziele und politischer Instrumente deutlich, die alle europäischen sozialdemokratischen Parteien20 in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erfasste. Anlass und Ausgangspunkt dieser sozialdemokratischen Modernisierungs- und Reformdiskurse war die allgemeine Erkenntnis, dass einerseits unter dem Druck der Zwänge der Globalisierung und Wissensökonomie die klassischen sozialdemokratischen Instrumente der Finanz-, Sozial- und Beschäftigungspolitik ganz oder teilweise ihre Wirkung verloren hatten, so wie sich andererseits durch die Veränderung gesellschaftlicher Lebensweisen die Wertehorizonte und politischen Erwartungsrahmen fundamental verändert hatten. Hinzu kam, dass aufgrund dieser Entwicklungen die Sozialdemokratie in einem elektoralen Dilemma – dem Wegbrechen klassischer Wählergruppen oder Zielkonflikten zwischen neuen, postmaterialistischen Themen und alten, traditionellen Verteilungsfragen – gefangen zu sein schien, durch das sich ihre Position an den Wahlurnen und im Parteienwettbewerb systematisch verschlechtern würde21. Die Vielzahl sozialdemokratischer Modernisierungsdiskurse summierten und verdichteten sich in den späten 1990er Jahre in der Debatte um einen ‚Dritten Weg’. Obwohl der Impuls zu dieser Debatte ursprünglich von der britischen Labour Party im Zuge ihrer Par20 Unter der Bezeichnung „sozialdemokratische Parteien“ werden hier und im Folgenden alle Parteien zusammengefasst, die aus der freiheitlichen demokratischen Arbeiterbewegung zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervorgegangen sind und die sich, sozialdemokratische, sozialistische, Arbeits- oder Arbeiterpartei genannt, auf die gleichen Grundwerte gestützt haben. 21 H. Kitschelt 1994; W. Merkel 1993
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tei- und Politik-Modernisierung und dem daraus abgeleiteten Versuch ausging, New Labour in eine kohärente politische Philosophie oder gar eigenständige Ideologie einzubetten22, wurde der ‚Dritte Weg’ schnell zu einem internationalen und öffentlich wirksamen Schlagwort, um das sich vielschichtige Debatten der theoretischen und programmatischen Erneuerungen und Transformationen der europäischen Sozialdemokratie gruppierten und sich dabei vielfach vom ursprünglich britischen Kontext entgrenzten23. Der ‚Dritte Weg’ war der Versuch der Sozialdemokratie, neue politische Positionen voranzutreiben, die zu den Rahmenbedingungen einer modernen Gesellschaft und zu einer globalen Ökonomie passen, ohne dabei die Kernprinzipen ihrer politischen Identität, nämlich der Solidarität, Freiheit und sozialen Gerechtigkeit preiszugeben. Zur Erlangung dieses Zieles müsste, so die Forderung der ‚Dritte Weg’-Akteure, eine den veränderten Umständen angepasste sozialdemokratische Reformpolitik einen neuen, einen dritten Weg beschreiten und sich dabei in doppelter Weise abgrenzen: zum einen von einer alten Sozialdemokratie des keynesianistischen ‚goldenen Zeitalters’ und ihrem Vertrauen in die omnipotente Rolle des Staates und umfassender wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung, zum anderen von der neoliberalen Ideologie des Marktfundamentalismus mit ihrer grundsätzlichen Ablehnung des Staates als Marktregulierer und als sozialpolitischer Kompensierer von marktbedingten Ungleichheiten24. Stattdessen wurde im ‚Dritten Weg’ eine Neuordnung der fixierten Alternativen Markt und Staat betont. Zivilgesellschaft, Regierung und Wirtschaft wurden als von einander abhängige und gleichberechtigte Partner bei der Bereitstellung von Wohlfahrtsleistungen definiert und die Rolle des Staates sollte sein, ein Gleichgewicht zwischen diesen Säulen herzustellen und die Leistungsgewährung zu garantieren. Entgegen den traditionellen Vorstellungen von Einkommensgleichheit wurde in diesem Diskurs bei der Bestimmung und Ausgestaltung der beiden sozialdemokratischen Grundwerte ‚Gerechtigkeit’ und ‚Gleichheit’ der gestaltungspolitische Fokus in Richtung gesellschaftliche Inklusion verschoben und die Chancengleichheit betont. Diese sollte über den ‚aktivierenden Staat’25 bzw. den ‚Sozialinvestitionsstaat’26 hergestellt werden, der dem Individuum mehr Freiraum zur unabhängigen und aktiven Selbstbestimmung überlässt, aber auch mehr Verantwortung zur Selbsthilfe überträgt27. Auch wenn der Begriff ‚Dritter Weg’ in den politischen Auseinandersetzung der 1990er Jahre häufig sehr allgemein und vielfach sogar assoziativ verwendet wurde und eine Vielzahl höchst unterschiedlicher politischer Phänomene zu bezeichnen schien (von der Blair-Revolution und New Labour über das Schröder-Blair-Papier und verschiedene nationale sozialdemokratische Reformpolitiken bis hin zu Parteimodernisierungen und modernen Wahlkampf- und Kommunikationstechniken), fungierte er als kommunikativer wie 22 Die Labour Party bezog sich ihrerseits stark auf amerikanische Quellen der New Democrats und der Regierung Clinton. Vgl. hierzu Kap. 3.3: ‚Der Dritte Weg: Partei- und Kommunikationsmodernisierung’ 23 In Großbritannien wurde mit dem Schlagwort „Dritter Weg“ nach 1997 öffentlich weniger ein politisches Konzept der Linken verbunden, sondern eher eine gleichzeitige Anpassung an sowohl rechte als auch linke Themen. Während in Europa der „Dritte Weg“ – im Sinne Tony Blairs und Anthony Giddens’ – immer als Begriff einer modernen Sozialdemokratie und nicht eines politischen Zentrismus verstanden wurde, war die Begriffsrezeption in Großbritannien in dieser Hinsicht weniger eindeutig und eher konfus. Vgl. P. Mandelson 2002: XXVIII 24 A. Giddens 1999: 18 25 B. Hombach 1998 26 T. Blair 1998a; A. Giddens 1999; Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD 1999; G. Schröder/ T. Blair 1999 27 Vgl. Kap. 3.2.2: ‚Anthony Giddens’ Idee und Konzept des „Dritten Weges’ und Kap. 3.5 ‚Die normative Paradigmenverschiebung im sozialdemokratischem Diskurs’
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auch ideeller Bezugspunkt, nach dem sich alle nach innen und außen gerichteten Reformdiskurse im Spannungsfeld der ‚neuen Sozialdemokratie’28 ausrichteten. Dabei fand die Debatte gleichermaßen auf drei Ebenen statt: erstens auf der politsch-theoretischen Ebene der politischen Prinzipien und langfristigen Ziele, zweitens auf der Ebene politischer Projekte, also Ziel und Richtung von Policy-Veränderungen und drittens auf der Ebene praktischer Politik-Umsetzung29. Als Diskurs erzeugte der ‚Dritte Weg’ zudem dadurch einen nachhaltigen politischen Reflexionsraum, dass er gleichermaßen in drei Arenen, der politischen, der wissenschaftlichen und der journalistischen, verhandelt wurde. Um einen Modernisierungsdiskurs wie den ‚Dritten Weg’ in seiner Komplexität systematisch erfassen und seine Wirkungen bewerten zu können, ist es notwendig, ihn über seine unterschiedlichen Erscheinungsformen und zeitlichen Wandlungen zu analysieren. Dabei ist eine historische Distanz zum Forschungsobjekt überaus hilfreich. Den sozialdemokratischen Revisionismus-Diskurs der 1990er und frühen 2000er von seinem Ende her kritisch zu betrachten, öffnet erst die adäquate analytische Perspektive, den inhaltlichen Gehalt des ‚Dritten Weges’, die programmatischen Veränderungen, die durch ihn ausgelöst wurden, oder die richtige oder falsche politische Kommunikation seiner Ideen zu betrachten. In der Rückschau fällt vor allem auf, dass eine Vielzahl der Modernisierungsvokabeln des ‚Dritten Weges’, die in den 1990er Jahren noch als Inbegriff einer Renaissance der europäischen Sozialdemokratie gefeiert wurden, heute weitgehend aus der politischen Debatte verschwunden sind. Der Blick auf die heterogenen Modernisierungsdebatten der späten 1990er Jahre verdeutlicht vor allem: In sozialdemokratischen Reformdiskursen überlagern und verschränken sich notwendig die Dimensionen der politisch-ideologischen Neubestimmungen von Begrifflichkeiten und Werten und die der politischen Gestaltung sowie konkretpragmatischen Inhalte sozialdemokratischer Regierungspolitik substanziell. Zudem müssen verschiedene Teildiskurse in der Untersuchung sozialdemokratischer Reformdiskurse analytisch unterschieden werden. Erstens: Der nach innen gerichtete Reformdiskurs als programmatische Parteimodernisierung. Dieser Diskurs ist primär in die Parteien hinein gerichtet, bestimmt Grundwerte und Programmatik neu und soll bei Mitgliedern und Sympathisanten Zustimmung für die, von Parteiführung (bzw. Regierung) angestrebte, politische Richtungsänderung gewinnen. Der Parteidiskurs geht häufig einher mit einer organisatorischen Modernisierung und Professionalisierung von Parteistrukturen, um beispielsweise auf neue Anforderungen der politischen Kommunikation in einer grundlegend veränderten Medienlandschaft30 angemessen reagieren zu können. Zweitens: Der nach außen gerichtete, Macht erstrebende Reformdiskurs als politische Kommunikation, Marketing- und Wahlkampftechnik. Dieser Diskurs dient dem Ziel, die Partei programmatisch und kommunikativ so auszurichten, dass sie Wahlkämpfe führen und Wahlen gewinnen kann. Neue Politikinhalte und -angebote ebenso wie professionelle Politikinszenierung und Kommunikation zielen auf neue parteipolitisch ungebundene Mittelschichten in einem zunehmend heterogenen Wählermarkt. Drittens: Der nach außen gerichtete, Macht erhaltende Reformdiskurs als legitimierender Regierungsdiskurs. Dieser Diskurs sozialdemokratischer Regierungen richtet sich an 28 29 30
A. Gamble/ T. Wright 1999 R. Cuperus/ K. Duffek/ J. Kandel 2001b: 245f. Vgl. u. a. P. Maier/ W.C. Müller/ F. Plasser 1999
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die gesamte Bevölkerung und soll öffentliche Zustimmung für ihre Anpassungspolitik befördern. In Regierungsverantwortung und somit in einem Dialog mit der gesamten nationalen Öffentlichkeit müssen sozialdemokratische Regierungen ihren Reformdiskurs durch Anrufung allgemein akzeptierter Werte und durch die Einbindung national tief verwurzelter Anschauungen und Meinungen normativ untermauern und argumentativ kommunizieren. In einigen (nationalen oder zeithistorischen) Fällen mit spezifischen Handlungs- und Kommunikationsrestriktionen scheint es für sozialdemokratische Regierungen sogar angemessener, auf bestimmte politische Rhetoriken des nach innen gerichteten Diskurses bzw. die Anrufung sozialdemokratischer Werte ganz zu verzichten. Viertens: Der kontextualisierte Diskurs als Reaktion, Teil- oder Schnittmenge anderer Diskurse (neoliberaler Diskurs, Anti-Globalisierungsdiskurs, neobürgerlicher oder postmaterialistischer Diskurs etc.). Dieser Diskurs unterscheidet sich von den drei anderen Diskursen insofern, dass er ihnen – als deren eigentliche Ursprungsmotivation – vorgeordnet ist und diese umfasst, da sich die verschiedenen Dimensionen eines sozialdemokratischen Reformdiskurses nicht aus sich selbst generieren, sondern vielmehr eine Reaktion auf konkurrierende ideologische Positionen sind. Sie sind somit immer auch in eine komplexe Diskurslandschaft inhaltlich eingebettet und mit anderen Diskursen dialektisch verschränkt. Auch der kontextualisierte Diskurs bleibt ein spezifischer Reformdiskurs, der sich in der Kontinuität der sozialdemokratischen Grundwerte verortet und sich auf diese Weise von neoliberalen, konservativen, aber auch von linkspopulistischen Reformdiskursen sowohl in seinen Inhalten als auch in seiner kommunikativen Argumentation und Rhetorik unterscheidet und von diesen notwendig abgrenzen muss. Auch wenn der sozialdemokratische Modernisierungsdiskurs um den ‚Dritten Weg’ „am Ende des 20. Jahrhunderts (...) zum wichtigsten politischen Reformdiskurs in der europäischen Parteienlandschaft“31 geworden war, bleibt er insgesamt ebenso wie seine grundlegenden Ideen und Argumente nur ein parteipolitisches Angebot unter vielen im Feld der Parteienkonkurrenz.
Input- und Output-Bedingungen sozialdemokratischer Reformdiskurse Auch wenn sozialdemokratische Regierungen in ihren jeweiligen nationalen Diskurskontexten mit spezifischen institutionellen Hintergrundbedingungen konfrontiert sind und demzufolge die interaktive Dimension ihres Diskurses mit der Öffentlichkeit höchst unterschiedlich koordinieren und kommunizieren müssen, sollte angesichts ähnlicher wohlfahrtsstaatlicher Herausforderungen und gleicher Grundwerte zumindest die IdeenDimension europäischer sozialdemokratischer Reformdiskurse eine starke Kohärenz aufweisen32. Doch da die verschiedenen Länder aufgrund ihrer unterschiedlichen wirtschaftlichen und institutionellen Strukturen keineswegs in gleicher Weise verletzlich sind, und verschiedene Wohlfahrtsstaatsregime33 oder unterschiedliche Strukturen ihrer politischen Ökonomien34 sehr unterschiedliche Problemlagen erzeugen, die wiederum unterschiedliche Lösungen verlangen, führen ähnliche Herausforderungen nicht nur auf der Policy-Ebene zu
31
W. Merkel 2000c V.A. Schmidt 2002. Vgl. Kap. 2.5: ‚Funktions- und Wirkungsweisen des öffentlichen Diskurses’ 33 G. Esping-Andersen 1990 34 P.A. Hall/ D. Soskice 2001; P.A. Hall 2002 32
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divergierenden Anpassungsreaktionen35, sondern auch dazu, dass sich sozialdemokratische Reformdiskurse in den jeweiligen Ländern entlang sehr unterschiedlicher Kernprobleme und primärer Reformfelder inhaltlich, normativ und kommunikativ strukturieren. Zudem ist die Wahl der politischen wie kommunikativen Strategien sozialdemokratischer Parteien und Regierungen maßgeblich abhängig von ihrer jeweiligen politischen Verortung im nationalen Parteienwettbewerb. Das bedeutet, dass Art und Inhalt sozialdemokratischer Reformdiskurse durch die Wahrnehmung bestimmter Kernprobleme und einem daraus abgeleiteten Anpassungsdruck sowie durch die Konkurrenzsituation in den jeweiligen wahlpolitischen Arenen länderspezifisch determiniert sind. Während also institutionelle Faktoren bestimmen, wie sozialdemokratische Regierungen ihre Reformen argumentativ kommunizieren, sind es die jeweiligen nationalen Kernprobleme und die Bedingungen der nationalen Parteienlandschaft, die vorgeben, was inhaltlich kommuniziert wird. Ähnliche sozial- und wirtschaftspolitische Reformzwänge sowie gleiche Grundwerte setzen also für sozialdemokratische Regierungs- wie Parteidiskurse den gleichen ideellen Diskursrahmen, der aber durch eine Vielzahl von nationalen Input-Bedingungen gefiltert wird, so dass die konkrete inhaltliche Ausgestaltung dieses Rahmens in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich ist. Wie ein sozialdemokratischer Reformdiskurs geführt wird und mit welchen Schlüsselthemen, Begriffen und Rhetoriken, kognitiven Argumenten und normativen Werten er ausgestaltet wird, ist also entscheidend von länderspezifischen Input-Filtern bestimmt. Doch wie und ob die Ideen und Argumente, die in diesem (auch strategischen) Diskurs formuliert und in einer bestimmten Weise kommuniziert werden, in der Öffentlichkeit ankommen, ob die Reformprojekte und ihre normative Legitimation bei der Bevölkerung als angemessen, relevant und kohärent wahrgenommen werden, ist wiederum maßgeblich von Bedingungen abhängig, die das im Diskurs Gesagte in einer spezifischen Weise filtern. Diese Output-Filter prägen den ‚Klang’ der formulierten Reformideen, positionieren sie in einem allgemeinen Satz politischer Ideen, paralleler Diskurse und in einer Hierarchie von Werten und bestimmen somit entscheidend, wie diese in der Öffentlichkeit wahrgenommen und rezipiert werden. Die Output-Filter filtern im Diskurs formulierte Positionen in länderspezifischer Weise. Erstens: Ein entscheidender Output-Filter, der die Resonanz bestimmter politischer Ideen in der Bevölkerung nachhaltig determiniert, ist die politische Kultur eines Landes. Ebenso wie politische Konstellationen und wohlfahrtsstaatliche Institutionen immer bestimmte kulturelle Rahmenbedingungen voraussetzen und das Ergebnis kollektive Lernprozesse sind36, ist auch bereits Art und Inhalt des Diskurses über den Wohlfahrtsstaat in einem kulturellen und historisch gewachsenen System von Werten, Glaubensüberzeugungen und Einstellungen verwurzelt. Politische Kultur filtert als ‚subjektive Dimension der gesellschaftlichen Grundlagen politischer Systeme’37 Reformdiskurse dadurch, dass sie durch spezifische kollektive Legitimations-, Werte- und Funktionsverständnisse einen höchst unterschiedlichen nationalen Rahmen vorgibt, in dem die im Diskurs entwickelten Ideen, Begriffe und Werte ihre kommunikative Wirkung entfalten müssen. In gewisser Hinsicht kann man die politische Kultur eines Landes auch als einen verdichteten, historisch gewachsenen und tief verwurzelten hegemonialen Diskurs beschreiben, der die Entstehung 35 36 37
F.W. Scharpf 2000b Vgl. u. a.: A. De Swaan 1988; D. Rüschemeyer/ T. Skocpol 1996 D. Berg-Schlosser 2002: 389
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1 Einleitung: Reform und Diskurs
und Form von Institutionen unterstützt, die seiner Logik entsprechen und die Dominanz dieses Diskurses wiederum verstärken38. In einem hegemonialen Diskurs werden kollektive Definitionen von z. B. Solidarität, Gerechtigkeit oder Gemeinwohl festgelegt und mögliche politische Krisenreaktionen auf jene begrenzt, die diesen Definitionen kognitiv, normativ und instrumentell entsprechen. Der hegemoniale Diskurs erzeugt förmlich seine eigenen Beschränkungen, so dass „bestimmte Argumente in >einem bestimmten@ politischen Kontext einfach nicht öffentlich ausgesprochen werden ...“39. Hat ein solcher Diskurs Hegemonie erlangt, verhindert er entweder die Entstehung alternativer Diskurse oder absorbiert sie. Für die Analyse sozialdemokratischer Diskurse ist also von Bedeutung, in welcher (auch historischen) Relation sie zu diesen hegemonialen Diskursen stehen: Haben Sozialdemokraten seine Wahrnehmungen, Normen und Regeln entscheidend geprägt (so wie die schwedische SAP den hegemonialen Diskurs eines ‚Folkhem’ maßgeblich bestimmte) oder haben sie sich letztendlich in ihn integriert und als kognitive wie normative Grundlage des eigenen Diskurses angenommen (so wie die deutsche SPD nach 1945 ihren eigenen Diskurs in den hegemonialen Diskurs der ‚Sozialen Marktwirtschaft’ einfügte). Zweitens: In entwickelten Demokratien sind öffentliche Diskurse heute vor allem durch Medien vermittelte oder gar erst erzeugte Diskurse. In den letzten zwanzig Jahren hat sich das Ausmaß der medialen Kommunikation derart vergrößert und nahezu alle gesellschaftlichen Sphären in einer Weise durchdrungen, dass sich politische Kommunikationsformen und demokratische Verfahrensweisen so weit Medienlogiken anpassen müssen, dass in der Politikwissenschaft gar eine weitreichende Veränderung der Qualität und Substanz der liberalen Demokratie selbst festgestellt wurde40. Die Tatsache, dass Massenmedien zunehmend ins Zentrum des politischen Systems rücken und sich Institutionen und Praktiken der Politik in ihren Versuchen, komplexe Ideen und Politikziele überhaupt in der Öffentlichkeit kommunizieren zu können, an die zentrale Rolle der Medien anpassen müssen, gilt gleichermaßen für alle westlichen Massendemokratien. Dennoch unterscheiden sich – trotz aller Konvergenztendenzen der letzten Jahre – die Mediensysteme in den jeweiligen Ländern; unterschiedliche Mediengesetze und staatliche Regulierungen, unterschiedliche historische Entwicklungsprozesse der nationalen Medienlandschaft, der Grad der Kommerzialisierung und Fragmentierung der Informationskanäle oder unterschiedliche journalistische Selbstverständnisse erzeugen höchst unterschiedliche mediale Diskursfilter, die Inhalte, Argumente und Werte eines sozialdemokratischen Reformdiskurses in länderspezifischer Weise brechen. Das jeweilige nationale Mediensystem kann sozialdemokratische Diskurse in zweifacher Hinsicht entscheidend filtern. Zum einen, wenn die Medien einen eigenen Reformdiskurs ausbilden und eine Reformagenda und Reformrichtung einklagen, die den Werten und Inhalten des sozialdemokratischen Diskurse entgegenstehen. Auf eine derart medial erzeugte, eigenwillige Diskursdynamik können Regierungen und politische Akteure meist nur noch defensiv reagieren. Zum anderen – entscheidender noch – unterscheiden sich nationale Mediensysteme in dem Ausmaß, wie viel Raum sie für anspruchsvolle, gesamtgesellschaftliche Debatten im Sinne der diskursiven Validierung von rationalen Argumenten bereitstellen. In dem Maße, wie sich moderne Demokratien in medienzentrierte Demokra38
G. Lehmbruch, Gerhard 2001. Vgl. auch Kap. 4.3.1: ‚Politische Kultur und Diskurs, Politische Kultur als Diskurs’ 39 J. Elster 1983: 35 40 Vgl. u. a. T. Meyer 2001c
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tien verwandeln und profitorientierte und auf hohe Massenattraktivität zielende private Medienanbieter, Infotainment, Theatralisierung und Dramatisierung41 die politischen Kommunikationsformen zunehmend bestimmen, gewinnt die Bestimmung medialer und journalistischer ‚Qualität’42 der jeweiligen nationalen Mediensysteme zunehmend an diskursanalytischer Bedeutung. Auch wenn ein idealtypischer freier und rationalisierender Diskurs im strengen Habermas’schen Sinne unter den Bedingungen moderner Massenmedien grundsätzlich nicht möglich ist, da Medien (zumal im Zuge ihrer verstärkten Kommerzialisierung) in allen Ländern spezifische Handlungslogiken, funktional-ästhetischen Eigensinn und vor allem eigene (ökonomische) Interessen entwickeln und sie deshalb keinen neutralen ‚Verhandlungsraum’ für rationale, einzig an der Wahrheit orientierten Diskurse darstellen43, sind nationale Mediensysteme dennoch dahin gehend unterscheidbar, wie weit sie sich den theoretischen Idealbedindungen zumindest annähern (z. B. Verhältnis und Bedeutung von Qualitätsmedien gegenüber Boulevardmedien, öffentlich-rechtlicher Rundfunk o. ä.), die in den Konzepten der ‚deliberativen Demokratie’ postuliert werden. Regierungssystem, politische Kultur und Mediensystem verdichten sich zu politischen Kommunikationskulturen44. Diese prägen einerseits die Einstellungen, Interaktionsmuster und Rollenverständnisse der am politischen Kommunikationsprozess beteiligten Akteure und bestimmen auf diese Weise andererseits die Art und Weise, wie Politik und Regierung mit den Medien kommunizieren und wie Regierungen ihre Reformprogramme kognitiv formulieren müssen, um Medien in einen Reformdiskurs gezielt einzubinden. So wichtig es ist, die verschiedenen Input- und Output-Filter eines sozialdemokratischen Reformdiskurses im Ländervergleich analytisch zu unterscheiden, so klar ist auch, dass sich diese Filterfaktoren in der politischen Realwelt auf sehr vielfältige Weise überschneiden und wechselseitig bedingen. Da beispielsweise die Output-Filter von den politischen Akteuren bereits antizipiert werden, passen sie Form und Inhalt ihrer Diskursführung, also wie und was gesagt wird, an die Output-Bedingungen an, so dass diese wiederum auf gewisse Weise als Input-Filter fungieren. Ebenso sind die Bedingungen und Voraussetzungen für die jeweiligen Input- und Output-Filter komplementär verschränkt: Die institutionelle Struktur eines Wohlfahrtsregimes, seine Problemlagen sowie Akteurskonstellationen sind eng mit der politischen Kultur verknüpft und in diese eingebettet, während wiederum die Routinen, Normensysteme und Regeln, die sich in einem bestimmten Wohlfahrtsregime ausbilden, die kulturellen Einstellungen und Werte, verstärken, die sich letztendlich auch in einem nationalen Mediensystem sedimentieren. Der Grad der Personalisierung in der politischen Berichterstattung oder die Struktur der nationalen Parteienlandschaft sind abhängig vom politischen System und vor allem vom Wahlsystem. 41
T. Meyer 2001c Der Begriff ‚Qualität’ kann in journalistischen bzw. medialen Zusammenhängen nicht als absoluter oder statischer Begriff beschrieben werden, da Medium, Genre und Zielgruppen der verschiedenen Medienprodukte notwendigerweise einen je eigenen (handwerklichen) Qualitätsbegriff bestimmen. Sehr allgemein und grundsätzlich wird hier journalistische Qualität bezeichnet als fachliche Kompetenz der Journalisten, Autonomie der Redaktionen (vor allem auch Trennung von Journalismus und Geschäft), Transparenz, Sachlichkeit, Differenzierung und Vielfalt. Negativ lässt sich ein so verstandener Qualitätsbegriff abgrenzen von den Medien-Phänomenen der Neuigkeitsfixierung, des Negativismus, der Personalisierung und der Entgrenzung hin zur Unterhaltung, zu Public Relations und insbesondere zum Marketing. Für eine genauere Beschreibung der unterschiedlichen Qualitätsdimensionen in unterschiedlichen nationalen Mediensystemen vgl. Kap. 4.4.1: ‚Der politische Diskurs in zersplitterten Medienwelten und anti-hegemonialen Öffentlichkeiten’. 43 J. Habermas 1981, 1990 44 J.G. Blumler/ M. Gurevitch 1995 42
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Doch obwohl sich die Input- und Output-Filter, die Form und Inhalt der jeweiligen nationalen Reformdiskurse maßgeblich bestimmen, also in ihrer phänotypischen Ausprägung überlagern, sind sie dennoch getrennt zu untersuchen, da ihre Unterscheidung und Trennung ein methodisches Raster begründet, das eine kritisch vergleichende Bewertung der Rahmenbedingungen unterschiedlicher sozialdemokratischer Reformdiskurse in verschiedenen Ländern erlaubt. Abbildung 1:
Nationale Input- und Output-Filter sozialdemokratischer Reformdiskurse (eigene Darstellung)
1.1 Fragestellung
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1.1 Fragestellung Die eingeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten sozialdemokratische Regierungen unter veränderten Rahmenbedingungen45 nach dem Ende des ‚goldenen Zeitalters’ der Sozialdemokratie Mitte der 1970er Jahre und unterschiedliche, vor allem auch unterschiedlich erfolgreiche sozialdemokratische Reformpolitiken und -strategien46 sind in der Politikwissenschaft ausgiebig und vergleichend untersucht worden. Auch die Frage, wie sozialdemokratische Parteien vor dem Hintergrund des sozialen Wandels, vor allem dem Rückgang der Industriearbeiterschaft als deren klassischer Kernklientel, sich programmatisch erneuern und was diese Neuorientierung für ihren elektoralen Erfolg bedeutet, stand in den letzten 20 Jahren häufig im Fokus politikwissenschaftlicher Analysen47. Während das Spannungsverhältnis zwischen sozialdemokratischer Regierungspolitik unter den Bedingungen der Globalisierung einerseits und der programmatischen und organisatorischen Neubestimmungen sozialdemokratischer Parteien in einem veränderten sozialkulturellen und medialen Kontext andererseits also hinlänglich beschrieben und analysiert wurde, sind die Rahmenbedingungen, wie sozialdemokratische Regierungen bzw. Parteien ihre Ideen, Werte und PolitikProgramme mit der Öffentlichkeit kommunizieren, wie sie die Durchsetzung sozialdemokratischer Ziele, wie sie die diesen zugrunde liegenden Werte sowie die gewählten Politikinstrumente in ihrem jeweiligen nationalen Kontext diskursiv legitimieren, noch weitgehend unerforscht. In der vorliegenden Arbeit werden sozialdemokratische Reformdiskurse der 1990er und 2000er Jahre in vergleichender Perspektive systematisch untersucht. Wie wurden die Reformdiskurse in den unterschiedlichen Ländern geführt? Welche Inhalte, welche Kernargumente und welche kommunikative Form waren bestimmend? Dabei wird die Untersuchung entlang zweier Achsen erfolgen, die sich methodisch immer wieder berühren und inhaltlich ergänzen: Zum einen werden die Ressourcen und Restriktionen der nationalen Diskurskontexte für reformenlegitimierende Diskurse sozialdemokratischer Regierungen verglichen. Welcher sozialdemokratische Regierungsdiskurs ist unter den gegebenen länderspezifischen Bedingungen möglich? Welche nationalen politisch-administrativen, ökonomisch-institutionellen, politisch-kulturellen und medialen Input- und Output-Filter formen den jeweiligen ‚Charakter’ der Reformdiskurse sozialdemokratischer Regierungen? Und was bedeuten diese Filter für die inhaltlich-programmatische wie für die kommunikativ-argumentative Dimension der jeweiligen Diskurse? Zum anderen werden sozialdemokratische Reformdiskurse als parteipolitische Grundwertediskurse betrachtet, die den Regierungsdiskursen und den darin entfalteten Argumenten theoretisch-konzeptionell (jedoch nicht notwendigerweise zeitlich) vorgeordnet sind, weil sie diese normativ herleiten. Wie werden Veränderungen der Instrumente oder gar der Ziele sozialdemokratischer Politik ideologisch begründet und wodurch waren sie motiviert? Welche Rolle spielt ein solcher grundwerteorientierter, normativer Diskurs wiederum für den kommunikativen Reformdiskurs sozialdemokratischer Regierungen? Der öffentliche Diskurs besteht einerseits aus einem Satz von Ideen und andererseits aus einem interaktiven Prozess, der diese Ideen koordiniert und kommuniziert48. Das Ver45
Vgl. u. a. F.W. Scharpf 1987; W. Merkel 1993 Vgl. v. a. als umfassenden Überblick: W. Merkel/ C. Egle/ C. Henkes / T. Ostheim/ A. 2006 47 H. Kitschelt 1994 48 V.A. Schmidt 2000a 46
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hältnis von Form und Inhalt eines Diskurses ist auf komplexe Weise interdependent, da die diskursive Form, indem sie als Technik der Ansprache auf bestimmte inhaltliche Positionen und Argumente verweist, selbst eine inhaltlich-ideologische Qualität erlangt. Dementsprechend sind die Fragestellungen entlang dieser beiden Achsen aufeinander bezogen und integriert und verdichten sich zu einem Untersuchungsfeld, das hier sehr umfassend als ‚sozialdemokratischer Reformdiskurs’ beschrieben wird: einerseits als Ideen, Werte und Argumente, die von innen, von sozialdemokratischen Regierungen und Parteien, nach außen, in die Öffentlichkeit kommuniziert werden, und andererseits als die Bedingungen und Zwänge, die von außen die Generierung oder Neubestimmung eben jener Ideen, Werte und Argumente sowie die Form ihrer Kommunikation vorgeben und prägen. Hier überlagern sich der nach innen, in die Partei hinein und der nach außen gerichtete, Macht erlangende bzw. Macht erhaltende sozialdemokratische Diskurs auf eine sehr spannungsreiche Weise. Wie organisieren die an politischen Mehrheiten in der Gesellschaft orientierten strategischen Führungsspitzen sozialdemokratischer Parteien und/oder Regierungen die Außenkommunikation und wie korrespondiert diese mit den allgemeinen Wertorientierungen ihrer Parteimitglieder? Dieses Spannungsverhältnis hat sich unter dem zunehmenden Kommunikationsdruck der Mediendemokratie in den letzten Jahrzehnten in allen Ländern und allen Parteien massiv verstärkt. Da die Massenmedien ins Zentrum des politischen Systems gerückt sind und die sich daraus ergebende politische Kommunikationsspirale immer weitere Anpassungsleistungen erfordert, haben die Parteien darauf ihrerseits mit der Professionalisierung ihrer politischen Außenkommunikation reagiert, die sich an den kurzen medialen Produktionszeiten ausrichtet. Dadurch werden die inneren Parteidiskurse, die sich ihrem Wesen nach durch langwierige Prozesszeiten kennzeichnen, zwingend an den Rand gedrängt oder gar entmachtet49. So sehr heute öffentliche und strategische Diskursführung und professionelle politische Kommunikation ein inneres Beziehungsgeflecht bilden, so genau müssen beide Phänomene unterschieden werden: Während das eine dem kurzfristigen Präsentismusprinzip der Medienkommunikation folgt, konstruiert das andere einen Rahmen, in dem eine Vielzahl von Einzelfragen in sehr ähnlicher Weise kognitiv und normativ kommuniziert werden können. Für die systematische Analyse sozialdemokratischer Diskurse ist deshalb die Frage bedeutsam, wie die Parteien und Regierungen kurzfristige politische Kommunikation in ihren langfristigen Diskurs integrieren und wie sie das Spannungsverhältnis zwischen professioneller Außenkommunikation und eher grundwerteorientierter Innenkommunikation austarieren. Die komparative Analyse von ‚Reformdiskursen’ in drei unterschiedlichen nationalen Diskurskontexten – Deutschland, Großbritannien, Schweden – öffnet den Blick für die Unterschiede und Ähnlichkeiten der nationalen Diskursausprägungen und ermöglicht somit die Klärung der Wechselwirkungen und Komplementaritäten zwischen den zentralen Filterfaktoren, die die nationalen Diskurskontexte entscheidend bestimmen. Während die Ähnlichkeiten neuerer sozialdemokratischer Diskursstrategien in allen Ländern vor allem auf die ähnlichen Rahmenbedingungen der Mediendemokratie verweisen, in der heute der politische Einfluss der Parteien auf die gesellschaftliche Willensbildung in einem kritischen Ausmaß zurückgeht, heben die Unterschiede methodisch die jeweiligen Aspekte der nationalen Diskursführung hervor, die nicht allein aus eben diesen Rahmenbedingungen erklärt werden können und daher weiterer Erklärung bedürfen. Durch den analytischen Vergleich lassen sich somit nicht nur die jeweiligen spezifischen Bedingungen und Dynamiken 49
T. Meyer 2001b
1.2 Methode und Aufbau
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unterschiedlicher Reformdiskurse differenzieren, sondern auch die idealen Voraussetzungen herausarbeiten, unter denen sich die normativen und kommunikativen Wirkungen sozialdemokratischer Diskurse optimal entfalten können. An eine derartige Identifizierung von Erfolgsfaktoren schließt sich notwendig die Frage an, ob und in welchem Maße politische Akteure die Rahmenbedingungen und -strukturen für ihre jeweiligen Reformdiskurse positiv beeinflussen oder gar verändern können oder ob sie nur die jeweiligen Ressourcen optimal ausschöpfen können, die ihr nationaler und eher statischer Diskurskontext bereitstellt.
1.2 Methode und Aufbau Die vorliegende Arbeit ist eine diskurstheoretische, gleichwohl empirisch gestützte Untersuchung ‚sozialdemokratischer Reformdiskurse’, in der es einerseits um die Klärung der Voraussetzungen und Folgen der jeweiligen nationalen Kontextbedingungen für die strategische Ausgestaltung öffentlicher Diskurse und andererseits um die jeweilige inhaltliche und kommunikative Ausformung und Positionierung des Diskurses, also wie ‚gut’ Protagonisten ihren Diskurs unter den gegebenen Bedingungen tatsächlich führen. Der öffentliche Diskurs ist eine variable und gleichsam höchst voraussetzungsvolle Machtressource in einem dynamischen Politik-Prozess, die, um eine transformative Wirkung effektiv entfalten zu können, von unterschiedlichen Diskursprotagonisten inhaltlich und kommunikationsstrategisch unterschiedlich ausgestaltet werden muss. Dieses dialektische Verhältnis zwischen öffentlichem Diskurs, Diskursbedingungen und -protagonisten wird anhand der Wohlfahrtsstaatsreformdiskurse sozialdemokratisch geführter Regierungen und der sie stützenden sozialdemokratischen Parteien untersucht. Hierzu werden die Diskursbedingungen in drei Ländern und die Diskursformen drei sozialdemokratischer Regierungen und Parteien vergleichend untersucht: Großbritannien und Tony Blairs New Labour-Regierung, Deutschland und Gerhard Schröders SPD geführte Regierung und schließlich Schweden und Göran Perssons SAP. Da es in dieser Arbeit nicht um gesellschaftliche Diskurse per se geht, sondern um öffentliche Reformdiskurse, die ein entscheidender Faktor beim (erfolgreichen) Umbau wohlfahrtsstaatlicher Systeme sein können, wird hier auf die Diskurse fokussiert, die sozialdemokratische Regierungen nutzen oder zu nutzen versuchten, um ihre sozialpolitischen Reformpolitiken in den 1990er und 2000er Jahren jeweils zu legitimieren und durchzusetzen. Öffentliche Reformdiskurse werden hier folglich als politisch-institutionelle Interaktionen zwischen Policy-Akteuren sowie der Öffentlichkeit definiert, in denen die Policy-Ideen entwickelt und kommuniziert werden, die die Wahrnehmungen von Interessen und Werten, Begriffen und Problemen nachhaltig verändern und auf diese Weise die Problemlösungsfähigkeit der Akteure vergrößern50.
50 Zur genaueren definitorischen Bestimmung und Abgrenzung vgl. Kapitel 2: ‚Der öffentliche Diskurs: Methodische Abgrenzung, inhaltlich-konzeptuelle Begriffsverwendung und erkenntnisleitende Problembegrenzung’.
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1 Einleitung: Reform und Diskurs
Die analytische Bedeutung des öffentlichen Diskurses Die politische Durchsetzung von Policy-Veränderungen ist immer von einer Vielzahl von interessengeleiteten, institutionellen und kulturellen Faktoren abhängig. In diesem komplexen Zusammenspiel aufeinander bezogener und interdependenter Kräfte in demokratischen Entscheidungsprozessen ist es analytisch unmöglich, den öffentlichen Diskurs von all den anderen Variablen als einen unabhängigen, eindeutig zu quantifizierenden Faktor zu separieren, dies vor allem, da der nationale Diskurs ebenso wie seine Bedeutung für den politischen Wandel seinerseits wiederum von einem Satz institutioneller und kultureller Faktoren abhängig ist. Aus diesem Grund scheint in der Vergangenheit die Bedeutung des öffentlichen Diskurses für die Reformen des Wohlfahrtsstaats in der Politikwissenschaft eher gering eingeschätzt worden zu sein. Stattdessen konzentrierte sich die überwiegende Mehrzahl der Untersuchungen unterschiedlicher Reformen auf die institutionellen Arrangements und die Interessen spezifischer Akteure. Doch diese politologischen Forschungsansätze stießen an ihre empirischen Grenzen, wenn es darum ging, den dynamischen, prozessualen und argumentativen Aspekt der Wohlfahrtsstaatsreformen zu erklären. So konnten sie zwar meist eindeutig die internen und externen Handlungszwänge für die nationalstaatlichen Wohlfahrtssysteme und die jeweiligen institutionellen Handlungsressourcen der Policy-Akteure ‚objektiv’ ermitteln, warum aber bestimmte Akteure auf die Herausforderung ‚sachgerechter’ reagieren konnten und bei der Durchsetzung bestimmter Policy-Programme erfolgreicher waren als andere und warum die Problemwahrnehmungen und Reformzielsetzungen sich im Laufe der Interaktionen veränderten, blieb meist unbeantwortet. Politische Verhandlungen und Entscheidungen finden immer in einem Handlungskontext einer wahrgenommenen Realität statt, in der bestimmte Sachverhalte allgemein als ‚objektive’ Tatsachen akzeptiert werden51. Diese Realität wiederum wird durch den öffentlichen Diskurs – vor allem in Krisensituationen – neu bestimmt, wodurch sich für PolicyAkteure neue Handlungsoptionen eröffnen, um auf die Herausforderungen zu reagieren. Umgekehrt bedeutet dies, dass dort, wo sich die Regierungen nicht auf einen legitimierenden öffentlichen Diskurs stützen, der Umbau oder partielle Rückbau der Wohlfahrtssysteme sich sehr viel schwieriger gestaltet oder gar unmöglich ist. Berücksichtigt man zudem den normativen Anspruch der Demokratie, dass politische Entscheidungen letztlich vor der Bevölkerung gerechtfertigt und durch sie legitimiert werden müssen, stellen öffentliche Diskurse, also die Fähigkeit, Ideen und Deutungen überzeugend zu kommunizieren, im Reformprozess „eine zentrale Ressource politischen Handelns dar“52. Der öffentliche Diskurs ist also eine wesentliche Quelle, mit der die dynamischen Prozesse von Wohlfahrtsstaatsreformen erklärt werden können. Das Verhältnis von Diskurs und Reformdynamik kann allerdings auf methodisch sehr unterschiedlichem Wege untersucht werden. Vivan A. Schmidts Methode des diskursiven Institutionalismus beispielsweise analysiert den Diskurs als einen mediatisierenden Faktor in unterschiedlichen nationalen Institutionensystemen und Akteurskonstellationen. Sie definiert den Diskurs einerseits als variablen Interaktionsfaktor zwischen kollektiven Akteuren (einschließlich der Öffentlichkeit) in einem gegebenen institutionellen Setting, durch den die historisch gewachsenen, interessengeleiteten und einen Politikwechsel meist blockierenden Interaktionsregeln ver51 52
I. Hacking 1999 M. Seeleib-Kaiser 2001: 34
1.2 Methode und Aufbau
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ändert werden, und andererseits als von Institutionen gerahmt, die das Repertoire mehr oder weniger akzeptierter diskursiver Interaktionen vorgeben53. Martin Seeleib-Kaiser hingegen betrachtet nationale Diskurse als Wahrnehmungsfilter der Globalisierungsherausforderungen, der seinerseits durch die jeweiligen nationalen Wohlfahrtssysteme gefiltert wird. Öffentliche Diskurse werden hier als kognitive Verdichtung der länderspezifischen Filterungen im Hinblick auf Problemdefinition sowie allgemeine Zielformulierung verstanden, so dass der Diskurs als eine Form gemeinsamer Orientierung je nach Land nur sehr divergente Policy-Instrumente legitimiert und bereitstellt54. In dem vorliegenden Buch werden diese beiden methodischen Forschungsansätze verbunden: Erstens werden sozialdemokratische Reformdiskurse in ihrem spezifischen institutionellen Rahmen untersucht, wobei neben den statischen, strukturellen polity-Bedingungen weitere eher dynamische Input- und Output-Filter identifiziert und in ihrer Bedeutung für die nationalen Diskursausprägungen analysiert werden. In den jeweiligen Diskurskontexten werden sozialdemokratische Regierungsdiskurse als ein politisches Mittel verstanden, vor dem Hintergrund notwendiger, meist schmerzlicher Wohlfahrtsstaatsreformen Legitimation zu organisieren und Interessen strategisch einzubinden. Zweitens werden sozialdemokratische (vor allem Parteien-)Diskurse als spezifische Realitätswahrnehmung analysiert, in der sich ein neues Verständnis von der Natur der Probleme entwickelt, Handlungszwänge akzeptiert und Begriffe und Werte normativ neu bestimmt werden, so dass bestimmte PolicyProgramme in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als notwendig und angemessen, legitim und gerecht empfunden werden. In dem Maße beispielsweise, in dem sich durch den öffentlichen Diskurs kollektive Gerechtigkeitsvorstellungen von einer (distributiven) Verteilungsgerechtigkeit hin zu einer Teilhabegerechtigkeit verlagern, wird auch der politische Gestaltungsspielraum einer wohlfahrtstaatlichen Reformpolitik verschoben.
Qualitativ-vergleichende Methode Es ist offensichtlich, dass man den öffentliche Diskurs in einer vergleichenden Untersuchung nicht als unabhängige Variable für die Erklärung politischen Wandels markieren kann, da der Diskurs in seiner nationalen Ausprägung seinerseits einen ‚dichten’ Analyseraum von Kontextfaktoren und unabhängiger wie abhängiger Variablen darstellt. Zudem sind politische Ideen ebenso wie veränderte Deutungsmuster als Indikatoren nicht oder nur sehr unzureichend standardisierbar. Um die Bedeutung öffentlicher Diskurse in der jeweiligen nationalen Reformentwicklung und die spezifischen Diskurskontexte in ihrer Komplexität angemessen zu erfassen, scheidet eine Vergleichsanalyse quantitativer Indikatoren aus. Stattdessen ist die analytische Methode der vorliegenden Arbeit ein diskursanalytisch qualitativer und diskurstheoretisch sowie transdisziplinär abgestützter Vergleich einer begrenzten Zahl von Ländern bzw. Reformdiskursen, um auf diese Weise dem sehr heterogenen Beobachtungsfeld und der mehrdimensionalen Fragestellung gerecht zu werden. Entsprechend der untersuchungsleitenden Grundannahmen, dass Reformdiskurse wichtige politische Machtressourcen im Reformprozess darstellen, dass sie Teil der ideologischen Parteienkonkurrenz sind und schließlich die Diskursinhalte somit gleichermaßen den Reformherausforderungen wie auch der Parteiprogrammatik gerecht werden müssen, 53 54
V.A. Schmidt 2003 M. Seeleib-Kaiser 2001
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1 Einleitung: Reform und Diskurs
wurde ein transdisziplinäres Vergehen gewählt, weil nur ein solches die dynamischen und komplementären Interaktionen öffentlicher Diskurse und ihrer jeweiligen nationalen Diskurskontexte theoretisch adäquat zu erfassen vermag. Gleichwohl muss die hier entwickelte integrative Perspektive zum Zwecke der Theorieentwicklung über die bloße summarische Erfassung der unterschiedlichen Diskursbedingungen hinausreichen. Denn die Bestimmung der machtpolitischen Möglichkeiten und Beschränkungen öffentlicher Reformdiskurse muss einerseits ihre jeweilige funktionale Instrumentalisierung über die Zeitläufte erhellen und andererseits die diskursive Kommunikation politischer Ideen an die (unter Umständen kontingente) Entstehung politischer Ideen zurück beziehen. Ein öffentlicher Reformdiskurs zeichnet sich in aller Regel dadurch aus, dass er Probleme strukturell identifiziert, die sich meist über mehrere Politikfelder erstrecken. Diese sehr grundsätzliche Kommunikation ergibt sich aus der Tatsache, dass Reformdiskurse immer schon Ideen und Werte thematisieren müssen, bevor sie in sehr unterschiedlichen Politikfeldern konkrete Veränderungen argumentieren. Das diskursive ‚Aufbrechen’ von fest gefügten Interessenstrukturen und Mentalitäten (z. B. in Richtung von mehr Eigenverantwortung) oder die Gewichtsverschiebung von Werteorientierung (z. B. weg von Verteilungsgerechtigkeit hin zur Chancengerechtigkeit) vollzieht sich quer zu den Politikfeldern. Zwar argumentiert der öffentliche Diskurs in seiner kognitiven Dimension immer sehr konkret und mitunter technisch (z. B. Finanzierbarkeit bestimmter Sozialprogramme, makroökonomische Herausforderungen), dennoch klingt auch bei dieser Form der Argumentation fast immer auch die prinzipielle Stoßrichtung der Reformen mit. Diese prinzipielle Stoßrichtung fügt kommunikativ die jeweiligen Teilreformen in den einzelnen Politikfeldern in ein allgemeines Reformziel zusammen. Das bedeutet, dass sich die Untersuchung von Reformdiskursen – im Gegensatz zu vergleichenden politikwissenschaftlichen Studien zu Arbeitsmarkt-, Sozial- oder Gesundheitspolitiken – nicht auf ein Politikfeld beschränken kann und den öffentlichen Diskurs als eine Art kommunikativen Überbaus eines ganzen Bündels von Policy-Programmen betrachten muss. Selbstverständlich kommunizieren Reformdiskurse Reform-Policies – denn dies ist ja ihr Sinn und Zweck. Dennoch werden in der hier eingenommenen methodischen Perspektive die jeweiligen nationalen Policies hinsichtlich ihrer Konzeption oder Wirkung nicht tiefergehend untersucht. Der Bezugsrahmen der Analyse ist der Reformdiskurs als ‚kommunikativer Container’ von Policy-Ideen. Die Reform-Policies selbst, ihre Konzeption, Durchführung und Wirksamkeit – in den letzten Jahren hinreichend wissenschaftlich untersucht und bewertet – werden nur als ein kommunikativer Inhalt neben anderem betrachtet. Der Zweidimensionalität der Konzeptualisierung der Arbeit entsprechend – den Reformdiskurs erstens als wichtige Macht- bzw. Durchsetzungsressource zu untersuchen und dabei zweitens unterschiedliche kontextuelle Entfaltungs- und Wirkungsbedingungen der Reformideen herausarbeiten – ist das Forschungs- und Theorierepertoire groß und vielfältig, auf das hier integrativ mit Blick auf die Fragestellung zurückgegriffen wird: die Diskursforschung, die vergleichende Forschung politischer Systeme, die Parteienforschung, die politische Kulturforschung, die vergleichende Forschung politischer Ökonomien und Wohlfahrtsstaaten sowie die vergleichende Forschung nationaler Mediensysteme. Da Sozialdemokraten jeweils zu unterschiedlichen Zeiten die Regierung stellten, vor allem aber da unterschiedliche Reformprogramme und die sie begleitenden und einbettenden Diskurse in den Vergleichsländern zeitlich versetzt die Öffentlichkeit bestimmten, ist
1.2 Methode und Aufbau
33
der Kern-Untersuchungszeitraum durch die schwedischen Reformen seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre einerseits und den späten Reformen in Deutschland Mitte der 2000er Jahre andererseits bestimmt. Zugleich haben aber Reformdiskurse, parteiliche zumal, eine programmatisch-ideologische Vorlaufzeit wie sich auch die Auswirkungen (und kollektive Bewertungen) erst nach der eigentlichen Reformphase zeigen, so dass der zeitliche Rahmen der Untersuchungsanlage entsprechend auch erweitert wird. Reformdiskurse finden in einem durch ökonomische und politisch-institutionelle Bedingungen strukturierten Kontext statt, der bestimmte strategische Diskursführungen in länderspezifischer Weise ermöglicht oder beschränkt. Dieser Diskurskontext kennzeichnet sich, neben strukturellen Faktoren, durch Interaktionen zwischen intentional handelnden individuellen, kollektiven oder korporativen Akteuren, die eigene Interessen verfolgen und ihrerseits mit Handlungsressourcen ausgestattet sind. Die Interaktionsmodi und die Beschaffenheit der Akteure sind in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich und müssen deshalb als spezifische Ressourcen und Restriktionen nationaler Reformdiskurse in die Analyse mit einbezogen werden. Vor allem bei der Analyse nationaler Input- und OutputFilter sozialdemokratischer Diskurse folgt diese Arbeit dem theoretischen Ansatz des akteurszentrierten Institutionalismus55, untersucht die inhaltlichen und kommunikativen Diskursoptionen der am politischen Prozess sowie am öffentlichen Diskurs beteiligten Akteure und fragt, unter welchen Bedingungen sozialdemokratische Regierungen und Parteien ebenso wie andere Akteure im jeweiligen Diskurskontext bestimmte Strategien zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung wählen.
Die Auswahl der Vergleichsländer Die Auswahl der zu untersuchenden Länder erfolgte nach zwei Kriterien. Erstens mussten die ausgewählten Länder grundsätzlich vergleichbar sein: Alle Länder mussten als kapitalistische Wohlfahrtsstaaten auf interne und externe Herausforderungen mit tiefgreifenden sozialpolitischen Reformen reagieren, alle Länder mussten sich als entwickelte liberale Demokratien durch ein komplexes Beziehungsgeflecht von Institutionen und Akteurskonstellationen sowie zunehmender Bedeutung der Medien in politischen Entscheidungsprozessen und der daraus folgenden Veränderung der politischen Kommunikation kennzeichnen, und schließlich mussten in allen Länder sozialdemokratische Parteien die Regierung stellen. Um Erkenntnisse über die Eigenart sozialdemokratischer Diskurse in ihren jeweiligen Diskurskontexten sinnvoll gewinnen zu können, mussten die Länder trotz ihrer grundsätzlichen Ähnlichkeit zweitens eine hinreichende bis größtmögliche Varianz in den Dimensionen des politischen Systems und der Parteienlandschaft, des Wohlfahrtsregimes und der politischen Ökonomie, der politischen Kultur und des Mediensystems aufweisen. Drittens mussten die sozialdemokratischen Parteien in den jeweiligen Ländern vor dem Hintergrund ihrer Geschichte und ihrer Position im nationalen Parteienwettbewerb in den letzten Jahren unterschiedliche programmatische Positionen entwickelt haben, sozialdemokratische Grundwerte in Parteiendiskursen und Regierungspolitiken unterschiedlich interpretiert und ihre Parteiorganisation unterschiedlich bzw. in unterschiedlichem Ausmaß modernisiert haben. 55
F.W. Scharpf 2000a
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1 Einleitung: Reform und Diskurs
In der Politikwissenschaft sind in den vergangenen 20 Jahren für die hier vorgenommene Fragestellung wichtige theoretische und empirische Erkenntnisse, Typologien und Unterscheidungen erarbeitet worden, die heute die wissenschaftlichen Debatten bestimmen. In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatforschung beispielsweise Gøsta Esping-Andersens Unterscheidung eines universalistischen, eines residualen und eines statuserhaltenden Wohlfahrtsregimes56, in der ‚Varieties of Capitalism’-Forschung Peter Halls und David Soskice’ Differenzierung von liberalen und koordinierten Marktwirtschaften57, in der vergleichenden Forschung politischer Systeme Arend Lijpharts Unterscheidung von Mehrheits- und Konsensdemokratien58, und in der Forschung nationaler Mediensysteme unterscheiden Daniel C. Hallin und Paolo Mancini demokratisch-koporatische von liberalen Mediensystemen59. Fügt man diese unterschiedlichen Typologien zu einem analytischen Raster zusammen, dann fällt auf, dass die Länder Großbritannien, Deutschland und Schweden in den jeweiligen Typologien für (quasi)prototypische Eigenschaften stehen. In diesen Ländern haben sozialdemokratische Parteien im programmatischen Diskurs wie auch in der organisatorischen und medienkommunikativen Modernisierung der letzten Jahre eine unterschiedliche Rolle gespielt. Da schließlich in allen drei Ländern Mitte-links-Regierungen in den 1990er und/oder 2000er Jahren zudem einschneidende Wohlfahrtsreformen durchführen mussten, bieten sich diese Länder bzw. Parteien und ihre jeweiligen Diskurse für die hier vorgenommene Untersuchung an.
56
Großbritannien und die Labour Party: Das politische System Großbritanniens gilt als Prototyp der Mehrheitsdemokratie und ist durch einen ‚zentralistischen Einheitsstaat’, das einfache Mehrheitswahlrecht und eine vergleichsweise geringe Anzahl von VetoPlayer charakterisiert. Als unkoordinierte, liberale Marktwirtschaft sind auch mächtige korporatistische Akteure eher unbekannt, so dass der nationale Diskurskontext insgesamt einfach strukturiert ist. Gleichheitsvorstellungen sind in der britischen politischen Kultur gering ausgeprägt und das residuale Wohlfahrtsregime eher von minimalen sozialen Grundsicherungen als von Umverteilung bestimmt. Von Großbritannien aus nahm der von Tony Blair und seinem Berater Anthony Giddens initiierte sozialdemokratische ‚Dritte Weg’-Diskurs60 seinen (wenn schon nicht originären, so doch nachhaltigsten) Ausgang. New Labour forcierte in ihrer Parteimodernisierung eine bis dahin bei europäischen Parteien weitgehend unbekannte Professionalisierung der Kommunikationsstrategien. Der Bruch mit ‚Old Labour’ war besonders symbolträchtig, medial inszeniert und ein substanzieller Bestandteil eines umfassenden und gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Reformdiskurses. Die britische Medienlandschaft wird gemeinhin den liberalen Mediensystemen zugeordnet. Schweden und die SAP: Nach einer schweren Wirtschaftskrise Anfang der 1990er Jahre musste Schweden eine Vielzahl an Neujustierungen am ‚Folkhem’ vornehmen. Doch die ‚Staatlichkeit’ und Universalität des schwedischen Wohlfahrtsstaats insgesamt wurde von der SAP offensiv und selbstbewusst verteidigt. Schweden steht ferner
G. Esping-Andersen 1990 P.A. Hall/ D. Soskice 2001 58 A. Lijphart 1999 59 D.C. Hallin/ P. Mancini 2004 60 T. Blair 1998; A. Giddens 1999, 2000 57
1.2 Methode und Aufbau
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für eine egalitaristisch geprägte politische Kultur, so dass Werte wie ‚Gleichheit’ und ‚Solidarität’ in Policy-legitimierenden Diskursen eine zentrale Rolle spielen. Die politische Öffentlichkeit ist sehr konsensual ausgerichtet, und die (sozialdemokratische) Regierung zieht bewusst und moderierend weitere politische Akteure in den öffentlichen Diskurs mit ein. Da die SAP für den Aus- und Aufbau des schwedischen Wohlfahrtsregimes bis in die 1980er Jahre maßgeblich verantwortlich war und die politische Kultur somit auch hegemonial prägte, strahlen (innerparteiliche) sozialdemokratische Reformdiskurse immer auch auf die Gesamtgesellschaft ab. Auch wenn das schwedische Mediensystem seit den frühen 1990er Jahren einen radikalen Wandel vollzog, gilt es immer noch als das Mediensystem, das dem demokratischkorporativen Idealtyp am nächsten kommt. Deutschland und die SPD: Deutschland steht beispielhaft für die Kombination des ‚konservativen’ Wohlfahrtsregimes und weitreichenden Selbstverwaltungsstrukturen mit einer stark selbstkoordinierten Marktwirtschaft. Da sich das politische System zudem durch eine Vielzahl mächtiger Veto-Player und institutioneller Sperren charakterisiert, ist der nationale Diskursraum durch mehrere gleichwertige Protagonisten und konkurrierende wie auch fragmentierte Diskurse bestimmt. Die SPD führte ihren Modernisierungsdiskurs sowohl auf der Grundwerteebene als auch auf der Policy-Ebene hochgradig unkoordiniert. Ohne eine frühzeitige und eindeutige Richtungsentscheidung blieb die SPD in einem Konflikt zwischen eher marktorientierten und eher regulativen, interventionsstaatlichen Lösungspolitiken, zwischen so genannten ‚Modernisieren’ und Traditionalisten gefangen, so dass die Regierungspolitik von sozialpolitischen Richtungswechseln und unklaren kommunikativen Leitmotiven geprägt war. Die deutsche Medienlandschaft hat sich in den letzten zwanzig Jahren noch radikaler verändert als die schwedische, wird aber dennoch eher dem demokratischkorporativen Mediensystem zugeordnet.
Aufbau der Arbeit Die Untersuchung sozialdemokratischer Reformdiskurse in ihren jeweiligen nationalen Diskurskontexten wird in drei Arbeitsschritten vollzogen, aus denen sich die Struktur der vorliegenden Arbeit ergibt. Erstens werden verschiedene theoretische und empirische Grundlagen erarbeitet. Dazu gehört vor allem, den Begriff ‚Diskurs’ der Fragestellung entsprechend zu definieren und ihn von sonstigen wissenschaftlichen und alltagsgebräuchlichen Verwendungen abzugrenzen (Kapitel 2). Die Grundwerte, also die vermeintlichen Inhalte und Anknüpfungspunkte sozialdemokratischer Parteien- und Regierungsdiskurse, werden vor dem Hintergrund der Revisionismusdebatte um einen sozialdemokratischen ‚Dritten Weg’ der 1990er Jahre diskutiert (Kapitel 3). Zweitens werden die nationalen Diskurskontexte unterschiedlicher sozialdemokratischer Diskurse untersucht. Hierzu werden die spezifischen Input- und Output-Filter für bestimmte Inhalte und Kommunikationsformen identifiziert und in ihrer Bedeutung für die jeweilige nationale Diskursausprägung analysiert. Bei den Input-Filtern werden das politische System untersucht und die darin gegebenen institutionellen Ressourcen und Restriktionen für die jeweilige Diskursführung herausgearbeitet. Was und wie in einem Reform-
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1 Einleitung: Reform und Diskurs
diskurs von sozialdemokratischen Parteien und Regierungen kommuniziert wird, ist ferner maßgeblich durch die nationale Parteienlandschaft bestimmt. Daher werden die unterschiedlichen sozialdemokratischen Parteien und ihre jeweiligen diskursiven Abgrenzungen zu politischen Konkurrenten in ihren nationalen Wahlarenen untersucht (Kapitel 4.1). Als weiterer Input-Filter, mehr auf der normativ-kognitiven als auf der kommunikativen Ebene, werden die unterschiedlichen primären Problemfelder der nationalen Wohlfahrtsstaatsreformen betrachtet, die die jeweiligen Kernideen und -argumente der unterschiedlichen Reformdiskurse bestimmen (Kapitel 4.2). Die öffentliche Rezeption des in einem Diskurs Gesagten ist entscheidend von verschiedenen Output-Filtern bestimmt. Als Output-Filter werden die politische Kultur (Kapitel 4.3) und die nationalen Mediensysteme (Kapitel 4.4) untersucht. Um zu allgemeinen Aussagen über die jeweiligen Bedingungen sozialdemokratischer Diskurse zu gelangen, werden die unterschiedlichen nationalen Input- und Output-Filter zu Modellen von Diskurskontexten verdichtet (Kapitel 4.5). Drittens: Nach der Untersuchung der Kontextbedingungen werden die tatsächlichen Diskursstrategien sozialdemokratischer Regierungen verglichen (Kapitel 5). Hierzu wurden als empirisches Quellenmaterial auch kompetente Experten befragt. Viertens: In einer abschließenden Betrachtung werden die Eigenschaften der realen nationalen Reformdiskurse vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Diskurskontexte diskutiert. Sodann werden Erkenntnisse aus dem Vergleich national notwendig differenter sozialdemokratischer Reformdiskurse und veränderter Diskurskontexten nach den Wohlfahrtsstaatsreformen der 1990er und 2000er Jahre perspektivisch wieder auf ein grundsätzliches und allgemeines Herausforderungsprofil für sozialdemokratische Diskurse zurückbezogen (Kapitel 6).
2 Der öffentliche Diskurs: Methodische Abgrenzung, inhaltlich-konzeptuelle Begriffsverwendung und erkenntnisleitende Problembegrenzung
Sozialdemokratische Reformdiskurse artikulieren sich in ihren jeweiligen nationalen Diskurskontexten. Die Fragestellung, auf welche Weise und wie erfolgreich die unterschiedlichen sozialdemokratischen Reformdiskurse wohlfahrtsstaatliche Umbaupolitiken legitimieren können, hat notwendig mehrere Ebenen und umfasst statische und dynamische, allgemeine und spezielle Aspekte, die alle aufs Engste miteinander verknüpft sind: Die statischen Aspekte betreffen die institutionellen Bedingungen und Ressourcen, unter denen ein öffentlicher Diskurs in den unterschiedlichen Ländern zu führen ist, die dynamischen die möglichen Diskursspielräume, die diskursstrategischen Entscheidungen, den jeweilige Diskursverlauf oder auch etwaige Schwächen und kommunikative Widersprüche in jeweils gegebenen nationalen Diskurskontexten, die allgemeinen Aspekte betreffen die genuin sozialdemokratischen, normativen Diskursdimensionen, die alle sozialdemokratischen Reformdiskurse im Kern miteinander verbinden und von konkurrierenden Reformdiskursen abgrenzen, die speziellen ihre länderspezifische Modulation und Anpassung. Ausgangs- und konzeptueller Bezugspunkt dieser mehrdimensionalen Fragestellung ist der Schlüsselbegriff des ‚öffentlichen Reformdiskurses’. Um unterschiedliche sozialdemokratische Reformdiskurse und die nationalen Bedingungen, unter denen sie jeweils geführt werden, theoretisch konsistent und empirisch vergleichbar zu erfassen, ist es entscheidend, einen für den hier vorgenommenen Ansatz operationalisierbaren Begriff eines ‚öffentlichen Reformdiskurses’ zu erarbeiten und seine spezifischen Charakteristika von anderen wissenschaftlichen und alltagsgebräuchlichen Begriffsverwendungen abzugrenzen.
2.1 Diskurs und Diskursforschung: Ein kurzer Abriss der Diskursverwendungen Seit spätestens den frühen 1960er Jahren hat sich in den Sozialwissenschaften der Begriff ‚Diskurs’ über die sich allgemein durchsetzende Erkenntnis, dass die Beziehungen der Menschen zur Welt durch kollektiv erzeugte symbolische Sinnsysteme oder Wissensordnungen vermittelt werden, als eine zentrale theoretische wie analytische Kategorie durchgesetzt. Auch wenn die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Diskurs durch sehr verschiedene wissenschaftliche Disziplinen (und deren unterschiedliche Integration) betrieben wurde, die naturgemäß ganz unterschiedliche analytische Schwerpunkte setzten, und auch wenn verschiedene Forschergenerationen den Definitionsbereich häufig erweiterten, unterschiedlich bestimmten und mit dem Begriff ‚Diskurs’ unterschiedliche Phänomene
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2 Abgrenzung, Begriffsverwendung, Problembegrenzung
beschrieben61, so teilen doch alle theoretischen Perspektiven und Forschungsfragen mit einem ‚Diskurs’-Bezug die Grundannahme, dass kommunikative Prozesse einen entscheidenden Anteil an der Konstitution einer wie auch immer gearteten politischen ‚Wirklichkeit’ und auf die ihr zugrunde liegenden Strukturmuster der Bedeutungsproduktion haben. Die Fülle der Diskursforschungen, die sich in den letzten vierzig Jahren auf sehr komplexe Weise ausdifferenziert hat, lässt sich sehr grob nach drei erkenntnisleitenden bzw. methodischen Ansätzen unterteilen, die sich jedoch überschneiden und mitunter aufeinander beziehen und die in der vorliegenden Arbeit nur anhand einiger prominenter Positionen kurz skizziert werden können. Erstens: die theoretische Erfassung von Diskursen als machtgestützte Sinnordnungen und Bedeutungszuschreibungen. Für diesen Ansatz steht vielleicht am prototypischsten Michel Foucault, der Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, im Gegensatz vorheriger eher (sozio)linguistischer Diskustheorien, den Begriff ‚Diskurs’ sehr weit fasst und damit alle sozialen Praktiken beschreibt, durch die diejenigen ‚Gestaltungsregeln’ geformt werden, die die Produktion solcher Praktiken beherrschen62. Die gesellschaftliche Wissensordnung ist demnach nicht eine schlichte und neutrale Abbildung von Wirklichkeit, sondern erst durch Inhalt und Form des Diskurses selbst konstituiert. Durch die ‚Festsetzung von Regeln’, durch die Definition von Normalität und Abweichung, die Institutionalisierung kollektiv verbindlicher Wissens- und Moralsysteme und schließlich der Nichtthematisierung des Undenk- und Unsagbaren, ist der Diskurs nach Foucault eine notwendige Konstitutionsbedingung von Macht (und durch Veränderung des Diskurses auch die ihrer Transformation)63. „Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ‚allgemeine Politik’ der Wahrheit: d. h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem sie den einen oder anderen sanktionieren...“64.
Dieser Ansatz ist nachfolgend in (post)strukturalistischen Theorien weiterentwickelt und der Diskursbegriff darin nochmals erweitert worden, so dass er nicht mehr als einzelne, abgrenzbare soziale Phänomene determinierend verstanden wird, sondern nun mit dem ‚Sozialen’ quasi gleichgesetzt wird (und hier vor allem mit der Logik und Struktur der Sprache, einer nur scheinbar neutralen Wissenschaft oder mit Vorstellungen der Trennung von Inhalt und Form und von Identität und Subjekt)65. Zweitens: das normative Modell einer Diskursethik. Während sich nach Foucault Diskurse erst durch und in fortwährenden diskursiven Machtkämpfen konstituieren, geht es Jürgen Habermas in seiner normativen Begründung idealer Diskursprozesse, in denen alle Diskursteilnehmer „strittige Geltungsansprüche thematisieren und versuchen, diese mit Argumenten einzulösen und zu kritisieren“66, gerade um die notwendige Abwesenheit von Macht. Der herrschaftsfreie Diskurs gründet auf einer ‚kommunikativen Rationalität’ aller 61
Für einen Überblick über unterschiedliche Ansätze der Diskursanalyse und Diskurstheorie sowie die jeweiligen Verwendungsarten des Begriffs „Diskurs“ vgl. R. Keller/ A. Hirseland/ W. Schneider/ W. Viehöver 2001; R. Keller 2004; J. Torfing 2005 62 M. Foucault 1988 63 M. Foucault 1991 64 M. Foucault 1978: 51 65 Vgl. u. a.: J. Derrida 2003, 1974; R. Barthes 2003, 1987 66 J. Habermas 1988: 39.
2.1 Diskurs und Diskursforschung: Ein kurzer Abriss der Diskursverwendungen
39
Teilnehmer, die „als eine Disposition sprach- und handlungsfähiger Subjekte“ immer schon als vorhanden verstanden werden muss und deren „rationale Äußerungen einer objektiven Beurteilung zugänglich ist“67. Diskurse setzen als organisierte Diskussionsprozesse rational-argumentativer Auseinandersetzung demnach normales kommunikatives Handeln auf einer höheren Stufe fort und sind als institutionalisierte Verfahren demokratischer Meinungs- und Willensbildung integraler Bestandteil der Demokratie. Als solche ‚herrschen’ Diskurse nicht, sondern zwingen – so Habermas – eine an Recht und Gesetz gebundene Regierung zur Rationalisierung ihrer Entscheidungen. Rationalisierung bedeutet mehr als bloße Legitimation, aber weniger als die Konstituierung der Macht68. Diskursive Regeln und Gestaltungsmaßnahmen explizit vorausgesetzt, funktioniert der Diskurs in der Demokratie als eine Art Prozeduralisierung der Volkssouveränität wie auch als Rückbindung des politischen Systems an die Netzwerke der Öffentlichkeit in einer dezentrierten modernen Gesellschaft. Jürgen Habermas’ Ansatz beruht jedoch auf der diskursethischen Prämisse, dass in einem herrschaftsfreien Diskurs allen Beteiligten möglichst vollständig die Informationen über die zur Entscheidung stehenden Sachverhalte bereitstehen, was allerdings unter den Bedingungen einer modernen Mediendemokratie und einer ‚professionalisierten Öffentlichkeit’, in der das Publikum in der Diskursarena eher passiv konsumierend als aktiv räsonierend ist69, ausgeschlossen scheint. Insofern beschreibt Habermas’ Diskursethik einen normbegründeten idealtypischen Diskursprozess im Sinne eines diskursiven Leitbilds oder funktionalen Organisationsmodells, welcher als kritischer Beurteilungsmaßstab realer Kommunikations- und demokratischer Verständigungsprozesse herangezogen werden kann. Drittens: die inhaltliche Analyse von Diskursen. Der diskursanalytische Ansatz widmet sich weniger den diskursiven Sinnkategorien als vielmehr den konkreten Deutungskonflikten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursen. Der Diskurs wird dabei nicht als ‚herrschend’ im Sinne einer umfassenden Bestimmung von ‚Wahrheit’ verstanden, sondern als Herstellung von Öffentlichkeit und als Produktion öffentlicher Meinung. Diese Ansätze gründen ihre Analysen somit eher auf formalen und quantifizierbaren Kriterien und auf kleineren empirischen Analysekategorien (Gibt es Ballungen von Begriffen? Welche Schlüsselwörter werden verwendet? Welche semantischen Elemente strukturieren den Diskurs? Welche Art von Äußerungen, welche Argumentationsketten geben ihm seine spezifische Gestalt?). Der vielgestaltige diskursanalytische Ansatz umfasst bzw. integriert eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen, die teils eher theoretisch oder teils eher empirisch ausgerichtet sind, meist weniger einen allumfassenden Diskurs an sich als einzelne Diskursbeiträge, Themen und Sprecher untersuchen, sich in ihren analytischen Begrifflichkeiten und Vorgehensweisen vielfach stark unterscheiden, und die von konversationsanalytischen, literaturwissenschaftlichen, hermeneutischen und soziolinguistischen Analysen des konkreten Sprachgebrauchs über kulturalistische Untersuchungen symbolischer Handlungen und Interaktionen bis hin zu Untersuchungen politischer Bewegungen oder der Medienforschung reichen. Diskursanalytische Forschungen widmen sich zum einen der strukturellen (textlichen) Zusammensetzung von Diskursen, zum anderen denjenigen inhaltlichen Aspek-
67 68 69
J. Habermas 1988: 38, 44 J. Habermas 1995: 447ff. J. Habermas 1996
40
2 Abgrenzung, Begriffsverwendung, Problembegrenzung
ten, die die Verknüpfung von Diskursen mit sozialem und politischem Handeln sowie soziokulturellem Wissen bzw. einer komplexen Wirklichkeitswahrnehmung betreffen. Auch wenn sich diskursanalytische Ansätze dem Untersuchungsgegenstand ‚Diskurs’ in gewisser Weise positivistischer nähern als die beiden vorherigen Ansätze, so stellt auch bei diesen Untersuchungen die machtkonstituierende Relevanz des Diskurses meist eine zentrale Analysekategorie dar. Hier ist vor allem die Critical Discourse Analysis hervorzuheben, für die insbesondere Norman Fairclough steht und die ihren analytischen Fokus auf den linguistischen Charakter sozialer und kultureller Prozesse richtet. Fairclough gründet seinen Analyseansatz zwar auf Foucaults Definition diskursiv bestimmter Machtbeziehungen, weist jedoch dabei Foucaults überhistorische und ‚quasi-transzendentale’ Diskurskonzeption explizit zurück70. Stattdessen geht es ihm um die dialektischen Bedingungen, unter denen sich Diskurse konstituieren und um die determinierenden gesellschaftlichinstitutionellen Strukturen, die regulieren, was und wie es gesagt werden kann und wer was und in welchem Namen sagt. In der Critical Discourse Analysis werden linguistische mit ideologie- und gesellschaftskritischen Fragestellungen verknüpft71, um – durch die Analyse von Sprachkonventionen sowie ihrer Einbettung in soziale Institutionen – die diskursive Konstruktion sozialer Identitäten, die Herstellung sozialer Beziehungen und die Konstruktion von Wissens- und Glaubenssystemen herauszuarbeiten72. Aus der Erforschung von Mobilisierungsprozessen sozialer Protestbewegungen – und daher ein wenig abseits der ‚reinen’ Diskursanalyse – stammen ferner zwei, sich teilweise wechselseitig bedingende politikwissenschaftliche Forschungsansätze, deren Untersuchung politischen Wandels als einen wesentlich durch Wissens- bzw. Ideenwandel initiierten und motivierten Prozess für die hier vorgenommene Untersuchung öffentlicher Diskurse bzw. Diskursbedingungen aufschlussreich ist: die Rahmenanalyse und die political opportunity structures. Die Rahmenanalyse gründet wesentlich auf Erving Goffmans ‚Framingkonzept’, in dem er Frames als natürliche Schablonen oder Interpretationsschemata beschreibt, mittels derer Menschen im Alltag Ereignisse und Ideen identifizieren und kategorisieren73. Goffman untersucht seit Mitte der 1980er Jahre die Durchsetzung bzw. Durchsetzungsmöglichkeiten alternativer Deutungsmuster speziell von Protestbewegungen in der Öffentlichkeit. Ein ‚Diskursrahmen’ markiert einerseits die Grenze zwischen Wichtigem und Unwichtigem und gibt auf diese Weise vor, was ein Thema ist, und strukturiert andererseits die Einordnung dieses Themas. Um bei strittigen Themen spezifische Problemdeutungen durchzusetzen und möglichst breite öffentliche Resonanz zu erzielen, den Diskursrahmen also insgesamt zu verschieben, ist es notwendig, gleichermaßen Problemsichten, Wahrnehmungsund Verhaltensmuster zu verändern74. Als zentraler Austragungsort dieser Interpretationsund Deutungskonflikte und als entscheidende Arena der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion werden in diesem Ansatz die Massenmedien bestimmt und untersucht75. 70
N. Fairclough 1992: 38f. In Deutschland orientieren sich Jürgen Link und Siegfried Jäger mit ihrer ebenfalls sprachwissenschaftlich fundierten Kritischen Diskursanalyse viel stärker am Diskursbegriff Michel Foucaults als die Critical Discourse Analysis. Vgl. u. a. J. Link 1997; S. Jäger 1993, 2001 72 N. Fairclough 1989, 1995. 73 E. Goffman 1977 74 Vgl. u. a. M.M. Ferree/ W.A. Gamson/ J. Gerhards/ D. Rucht 2002; D.A. Snow/ R.Benford/ B. Rochford/ S.K. Worden 1986 75 Vgl. u. a. W.A. Gamson 1988; W.A. Gamson/ A. Modigliani 1989 71
2.2 Der öffentliche Diskurs: Inhaltliche und methodische Abgrenzung
41
Der political opportunity structures-Ansatz hingegen analysiert und formalisiert schließlich die eher statischen institutionellen und informellen Rahmenbedingungen des politischen Aushandlungsprozesses, die entscheidend für den Erfolg von politischen Bewegungen und die Durchsetzung neuer Deutungsmuster sind. Unterschiedliche politische Gelegenheitsstrukturen ergeben sich aus der jeweiligen Offenheit des politischen Systems, der Implementierungsfähigkeit der Regierungen, der Stabilität von politischen Koalitionen, dem Grad der Geschlossenheit der gesellschaftlichen Eliten oder dem Zugang zu Ressourcen, zur öffentlichen Sphäre und zu Institutionen76. In dieser primär institutionellen bzw. systemischen Konzeption politischer Gelegenheitsstrukturen treten aber auch zwangsläufig kulturelle Komponenten hervor, wie beispielsweise die den jeweiligen sozialen und politischen Institutionen zugrunde liegenden Werte und Normen, ideologische oder kulturelle Bruchstellen in der Gesellschaft oder vorherrschende Weltbilder und Symbole, die für die Erklärung der jeweiligen Dynamiken öffentlicher Diskurse und unterschiedlicher symbolischer Anknüpfungspunkte und Begründungsstrategien der Akteure entscheidend sind77. An diesem Punkt überschneiden sich Diskursanalyse, die Forschung politischer Systeme und politische Kulturforschung.
2.2 Der öffentliche Diskurs: Inhaltliche und methodische Abgrenzung Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Verwendungstraditionen des Diskursbegriffs, heterogener Diskurskonzeptionen und Erkenntnisinteressen sowie vielfältiger methodischer Forschungsansätze ist es zwingend notwendig, den in dem vorliegenden Text verwendeten Diskursbegriff sowie den daraus abgeleiteten analytischen Bezugsrahmen genau zu bestimmen und abzugrenzen. ‚Diskurs’ wird hier in einem politikwissenschaftlichen Sinne als kommunikativer Prozess der Entwicklung und Durchsetzung von Reformideen und -Policies verstanden. Durch eine solche Begriffsbestimmung unterscheidet sich der hier vollzogene Forschungsansatz inhaltlich und methodisch von den oben skizzierten Ansätzen in sechsfacher Hinsicht, auch wenn deren jeweilige Forschungskonzeptionen und Erkenntnisse als Grundlagen der Analyse durchaus miteinbezogen werden. Erstens wird Diskurs hier als eine auf Öffentlichkeit zielende Kommunikation von Policy-Akteuren (Regierungen, Parteien, Verbände, Gewerkschaften etc.) in einer öffentlichen Arena untersucht. Übergeordnete, strukturalistische, also quasi metapolitische Diskurse, die eine herrschende ‚Wirklichkeit’ auch oder vor allem jenseits politischer Institutionen und demokratischer Aushandlungsverfahren konstituieren, spielen dagegen keine Rolle. Dass öffentliche Policy-Diskurse ihrerseits wiederum in diskursiv erzeugte Sinnsysteme oder Wissensordnungen im Foucaultschen Sinne eingebettet sind, wird als eine Art vorgeordnete Realität gleichsam akzeptiert und erfährt nur dann explizite Aufmerksamkeit, wenn sie – z. B. im Feld der (politischen) Kultur – Inhalt und Kommunikationsform der untersuchten Reformdiskurse selbst betreffen. Politische Macht und systeminstitutionelle Entscheidungsverfahren werden zweitens in den hier untersuchten liberalen Demokratien als grundsätzlich legitim vorausgesetzt. Das 76
Vgl. S. Tarrow 1988; H. Kitschelt 1986 Vgl. für die kulturelle Erweiterung der political opportunity structures u. a.: E. Laraña/ H. Johnston/ J.R. Gusfield 1994; D. McAdam/ J.D. McCarthy/ M.N. Zald 1996
77
42
2 Abgrenzung, Begriffsverwendung, Problembegrenzung
bedeutet, dass auch die Reformdiskurse, die Regierungen mit der Bevölkerung – dem Souverän – zur demokratischen Durchsetzung von Reformprogrammen führen, ebenfalls als legitim erachtet werden. Dementsprechend wird Macht im Zusammenhang mit Diskurs auch nicht im Hinblick auf Missbrauch, Ausgrenzung und illegitime oder gar repressive Dominanz untersucht, sondern als eine demokratische Durchsetzungs- und Gestaltungsmacht, die sich im öffentlichen Diskursfeld zu legitimieren versucht und dabei auf verschiedene Gegenmächte mit jeweils eigenen Deutungsdiskursen trifft. In einer solchen Sicht ist der öffentliche Diskurs ein notwendiges und natürliches Instrument, durch das demokratische Legitimität politischer Macht hergestellt oder bestätigt werden kann, allerdings nur, wenn dieses Instrument erfolgreich eingesetzt wird. Öffentliche Diskurse werden folglich gleichermaßen als Ausdruck und substanzieller Bestandteil ungleicher Machtbeziehungen verstanden, die jedoch nicht festgeschrieben sind, sondern sich in liberalen Demokratien – nicht zuletzt auch aufgrund von Diskursverschiebungen – immer wieder neu bestimmen. Da Diskurse als Instrument demokratischer Machtausübung im Sinne der Durchsetzung von Reformprogrammen seitens der Regierung wie auch gleichermaßen als ein Mittel zur Verhinderung dieser Macht seitens der Opposition verstanden werden, kann es drittens in dem vorliegenden Ansatz nicht darum gehen, einen Diskurs als ‚wahr’ oder ‚falsch’ zu bestimmen. Der öffentliche Diskurs ist vielmehr Teil eines dynamischen Prozesses, in dem Policy-Akteure versuchen, Problemdeutungen, Ideen zur Lösungen der Probleme sowie Politikziele, kurz ihre eigene ‚Wahrheit’ durchzusetzen. Das bedeutet, dass Diskurse allenfalls als erfolgreich oder nicht erfolgreich hinsichtlich der Beeinflussung einer intersubjektiven Realität eingestuft werden können78. Der diskursive ‚Erfolg’ wiederum kann nur mehrdimensional bemessen werden und muss zugleich kritisch bewertet werden. Hier fließen natürlich die politisch Durchsetzung der Reformpolitik sowie Wahlergebnisse mit ein (die allerdings vor dem Hintergrund unterschiedlicher Wahlsysteme und im Zeitverlauf relativ zu analysieren sind), aber auch die kommunikative Nachhaltigkeit der eigenen Wertideen oder die programmatische und symbolische Kohärenz des eigenen Narrativs angesichts weiterer Reformherausforderungen (wie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008). Viertens wird auf öffentliche Reformdiskurse von Policy-Akteuren und auf die institutionellen Ressourcen und Restriktionen fokussiert, welche die jeweilige inhaltliche und kommunikative Ausgestaltung nationaler Reformdiskurse maßgeblich vorprägen. Dadurch ist der hier vorgenommene Ansatz weniger ‚textorientiert’ und unterscheidet sich somit von soziolinguistischen oder hermeneutischen Diskursanalysen. Einen nationalen Diskurskontext in seiner institutionellen Dimension zu erfassen, bedeutet den Blick auf spezifische sozial bedingte, historisch gewachsene und interessenbasierte institutionalisierte Interaktionsregeln zu richten, die für die jeweiligen Policy-Akteure eine Vielzahl von Kommunikationsanreizen, -möglichkeiten und -grenzen bereitstellen. Die jeweilige Institutionenstruktur prägt somit den nationalen Reformdiskurs, indem sie ein typisches Repertoire mehr oder weniger akzeptierter diskursiver Interaktionen vorgibt79. Gleichwohl wird untersucht, wie Regierungen und Parteien ihre Reformideen in ihrem kommunikativen Diskurs mit der Öffentlichkeit rhetorisch rahmen, an historisch gestützte nationale Werte anknüpfen und in spezifische Politiknarrative einbetten. Gerade die Einbet78 79
C.M. Randelli/ V.A. Schmidt 2004 Vgl. V.A. Schmidt 2003: 319
2.2 Der öffentliche Diskurs: Inhaltliche und methodische Abgrenzung
43
tung in oder die rhetorische Aktivierung von historisch gewachsenen nationalen Politiknarrativen ist für den Erfolg der jeweiligen Reformdiskurse und somit letztlich für die Legitimation politischer Reformstrategien von besonderer Bedeutung, da auf diese Weise die Fülle von – scheinbar disparaten – Teilprogrammen und Einzelargumenten in Sinn und Richtung wieder zusammengeführt werden80. Der hier vorgenommene Ansatz teilt somit mit Norman Faircloughs ‚Critical Discourse Analysis’ das Interesse an den dialektischen Bedingungen von Kontext und Diskursrhetoriken, ist dabei allerdings weit weniger linguistisch ausgerichtet. Fünftens wird ‚Diskurs’ als ein Satz von Ideen und deren interaktive Kommunikation verstanden. Politische Ideen spielen in diskursiven Prozessen eine entscheidende Rolle, indem sie politische Aktionen auf normative Prinzipien beziehen, die zu erreichenden oder anzustrebenden Ziele vorgeben, Interessen und Argumente kognitiv zusammenführen81 und schließlich die Handlungen und Instrumente, aber auch neue strategische Interaktionen und kooperative Lösungen ermöglichen, die zuvor noch unter den gegebenen Handlungsbedingungen unmöglich schienen. Ähnlich der Rahmenanalyse werden hier die (medialen) Diskursbedingungen untersucht, die die Durchsetzung politischer Ideen ermöglichen oder erschweren und wie Ideen von Policy-Akteuren in dem jeweiligen Kontexten kommuniziert werden müssen, um sie auf die Wahrnehmungsebene zu heben, von der aus sie eine so nachhaltige Bedeutung der Politikerklärung entfalten, die letztlich auch politische Einstellungen der Bevölkerung verändert. Der diskursive Kontext, in dem sich politische Ideen entwickeln und durchsetzen, ist zudem entscheidend durch die Strukturbedingungen des jeweiligen politischen Systems vorgeprägt. Die politischen Systeme verdichten sich zu komplexen ländertypischen Institutionensystemen, die ihrerseits auf kognitiven Elementen wie tradierten Meinungen oder legitimatorischen Ideologien gründen82. Mit dem ‚political opportunity structures’-Ansatz teilt diese Arbeit das Interesse an den institutionellen Strukturen politischer Systeme, die die Ausprägung und Entfaltung neuer politischer Ideen bestimmen. Im Gegensatz zu diesem Ansatz (wie auch zu dem ‚framing’-Ansatz) geht es hier allerdings nicht darum, wie Ideen von der ‚Peripherie ins Zentrum’ vordringen, sondern wie Ideen, die von PolicyEliten im Zentrum entwickelt werden, in die gesellschaftliche Breite hinein kommuniziert werden können. Das Interesse richtet sich hier auf Reformdiskurse, die ‚Top-down’Veränderungen legitimieren. Bei der Untersuchung der jeweiligen Diskursbedingungen und Möglichkeiten, komplexe Reformideen, Reformzwänge und Gestaltungsziele auch vor dem Hintergrund politischer Grundwerte rational zu kommunizieren, kommt den Kontextbedingungen eine wichtige Bedeutung zu. Dabei wird schließlich sechstens Habermas’ Diskursethik als Idealbedingung diskursiver Aushandlungs- und Verständigungsprozesse in liberalen Demokratien als Richtwert herangezogen, an dem die realen nationalen Diskurskontexte und das Ausmaß ihrer jeweiligen (medialen) Verzerrungen gespiegelt und miteinander verglichen werden können.
80 81 82
T. Meyer 2005b: 362ff. Vgl. u. a. P. Taylor-Gooby 2005 Vgl. vor allem die Beiträge in P.J. DiMaggio/ W.W. Powell 1991
44
2 Abgrenzung, Begriffsverwendung, Problembegrenzung
2.3 Was ist ein öffentlicher Reformdiskurs? Der öffentliche Reformdiskurs wird in der vorliegenden Arbeit ganz allgemein und funktional als öffentlicher Kommunikationsprozess definiert, in dem Policy-Akteure miteinander kommunizieren und dabei mit Blick auf die Öffentlichkeit die Veränderungen bestehender handlungspolitischer Rahmenbedingungen erklären, konkurrierende Policy-Ideen zur Lösung der aus den veränderten Bedingungen entstehenden Problemen entwickeln und vor allem deren politische Umsetzung zu legitimieren versuchen. Der öffentliche Reformdiskurs ist demnach ein Diskurs, der – in seiner jeweiligen Ausprägung entweder in direkter Ansprache an die Wahlbevölkerung oder in halböffentlichen oder verschlossenen Verhandlungen zwischen Policy-Akteuren – primär in der politischen Sphäre geführt wird und in dem im Hinblick auf Problemlösungen sowohl unterschiedliche Lösungskonzeptionen, Handlungsziele und Policy-Programme wie auch unterschiedliche Zielvorstellungen und Grundwerte aufeinander treffen. Da Regierungen aufgrund innerer und äußerer Sachzwänge Wohlfahrtsstaatsreformen durchführen müssen, die sich meist gegen die unmittelbaren Besitzstandsinteressen mächtiger Interessensgruppen oder gar gesellschaftlicher Mehrheiten richten, kommt dem öffentlichen Reformdiskurs zudem eine wichtige transformative Funktion zu, indem er die politischen Wandlungsprozesse, jenseits festgefügter und institutionalisierter Akteursorientierungen sowie deren rationaler Eigeninteressen und politischer Handlungsressourcen, in ein übergeordnetes und allgemein anerkanntes Gerechtigkeitskonzept kognitiv und normativ einbettet und auf diese Weise Zustimmung und Legitimität der Reform-Policies und letztlich auch der Regierung herstellt. Der transformative öffentliche Diskurs – sofern erfolgreich – verändert die kollektive Wahrnehmung der Probleme, stimuliert die Diskussion über Policy-Veränderung und gibt deren Richtung vor, verschiebt die Grenzen des jeweiligen gesellschaftlichen ‚bargaining process’ und vergrößert somit die Problemlösungsfähigkeiten der Regierungen. In letzter Konsequenz verändert er bestehende PolicyParadigmen und eröffnet Akteuren somit einerseits neue politische Handlungsoptionen und andererseits die notwendige argumentative Grundlage, gesellschaftlichem Druck besser widerstehen zu können. Dem öffentlichen Diskurs kommt deshalb gerade in Krisen- und Umbruchzeiten (wie eben beim Umbau des Wohlfahrtsstaats) eine wichtige Bedeutung zu, weil in ihm über die Artikulation von Policy-Ideen und normativen Orientierungen gleichermaßen Prozesse des ‚Staatslernens’, also aus früheren Fehlern und Misserfolgen Schlussfolgerungen zu ziehen83, und der kollektiven inhaltlichen Verarbeitung der Wandlungen ablaufen. Doch auch wenn öffentliche Diskurse in modernen Massendemokratien eine notwendige Voraussetzung für Wohlfahrtsstaatsreformen darstellen, so entfalten sie ihr gesellschaftliches und politisches Wandlungspotential nur in der Kombination mit anderen Faktoren politischen Wandels. Sie betten zwar Politikentscheidungen in einen größeren normativen Sinnzusammenhang ein und fördern somit die Legitimität ihrer Durchsetzung, die politisch-administrative Macht, die letztlich Policies beschließt und durchsetzt, können Diskurse aber nicht ersetzen. Somit stehen politische Macht und öffentlicher Reformdiskurs in einem dialektischen Spannungsverhältnis: In einer Demokratie braucht politische Macht den öffentlichen und legitimierenden Diskurs, um sich selbst zu erhalten. Der öffentliche Reformdiskurs wiederum entfaltet sein transformatives Potential jedoch erst, wenn hinter 83
P.A. Hall 1993
2.3 Was ist ein öffentlicher Reformdiskurs?
45
den darin kommunizierten Politikentwürfen auch eine reale Durchsetzungsmacht steht, die diese grundsätzlich zu implementieren imstande ist. Die governmentale Durchsetzungsmacht stößt jedoch im demokratischen Wettbewerb auf politische Gegenmächte mit je eigenen Diskursen, die ihrerseits danach streben, politische Macht zu erlangen, um ihre Vorstellungen und Ziele durchzusetzen; und da ihr Machterwerb immer eine reale Option ist, gewinnt ihr alternativer Reformdiskurs gleichfalls an kommunikativer Wirkungsmacht.
Der nach Hegemonie strebende Diskurs Aus diesem Grund besitzt der öffentliche Diskurs im prozesspolitischen Politics-Feld notwendigerweise immer auch eine nach Hegemonie strebende Dimension der den jeweiligen Diskursen zugrunde liegenden Werte und Zielvorstellungen, die über die rein transformative Artikulation und Vermittlung der ‚richtigen’ und angemessenen PolicyProblemlösungen hinausreicht. Die hegemoniale Diskurs-Dimension muss heute jedoch vor dem Hintergrund einer lebensweltlich und medial zunehmend fragmentierten Gesellschaft84 und eines ‚Anspruchsindividualismus’85, betrachtet werden, in der eine weitreichende politisch-kulturelle Hegemonie bestimmter politischer Werte und Ziele unmöglich geworden zu sein scheint. Die nach Hegemonie strebende Diskursdimension ist als handlungssmotivierender und diskursstrukturierender Faktor bedeutsam: Erstens weil öffentliche Diskurse immer auf einer Wahrheit gründen (sei es eine Wirklichkeitsinterpretation, sei es der richtige Problemlösungsansatz oder seien es Vorstellung von Gerechtigkeit) und sie daher, ihrer politischen Natur entsprechend, alternative ‚Wahrheiten’ ausschließen müssen. Jeder Diskurs artikuliert bestimmte Vorstellungen, Ordnungen und Verfahrensweisen, die er gegen andere Vorstellungen, Ordnungen und Verfahrensweisen hegemonial durchzusetzen strebt. Das bedeutet, dass ein Diskurs, der mehrere Wahrheiten in sich vereinigt, prinzipiell unmöglich ist. Zweitens weil die nach Hegemonie strebende Diskursdimension die unterschiedlichen Policy-Programme an den übergeordneten Wettstreit politischer Ideen, Gestaltungs- oder auch Gerechtigkeitsvorstellungen koppelt und so die allgemeine Stoßrichtung des Diskurses vorgibt sowie politische Ereignisse und Handlungen auch in einem weltbildlichen Sinne zu erklären und rechtfertigen versucht. Drittens weil sie die Relevanz der dem Diskurs zugrunde liegenden eigenen Grundwerte und Zielvorstellungen glaubwürdig betont und politische Identitäten und politische Geschichte formt bzw. re-interpretiert. Und nicht zuletzt viertens weil ‚Hegemonie’ als ein anzustrebendes Ziel, den Reformdiskurs reflexiv mit Bedeutung ausstattet. Die nach Hegemonie strebende Dimension ist folglich – jenseits der reinen PolicyProblemlösung – der natürliche politics-Treibstoff eines dynamischen Diskurses, der die (Re-)Formulierung normativer Werte in einem politischen Wettbewerbsraum kontinuierlich antreibt. Schließlich muss noch zwischen Reformdiskurs und Politikdiskurs unterschieden werden. Der Begriff ‚Politikdiskurs’ wird in der vorliegenden Untersuchung als diskursive Kommunikation der historisch gewachsenen Werte, Ziele und Vorstellungen einer Partei verwendet. Der Politikdiskurs ist die programmatisch-ideologische Rahmung jeglicher 84 85
Vgl. O. Jarren 1998 U. Schimank 1998
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2 Abgrenzung, Begriffsverwendung, Problembegrenzung
Parteikommunikation, schließt aber auch gewachsene symbolische, ästhetische und milieukulturelle Aspekte mit ein. Das bedeutet, dass ein Reformdiskurs einer Partei immer auch in ihren Politikdiskurs eingebettet ist; im politischen Alltag verschwindet jedoch der Politikdiskurs hinter der aufmerksamkeitsabsorbierenden Reformkommunikation. Zudem sind beide Diskurse nicht trennscharf von einander zu differenzieren: Der Politikdiskurs bestimmt den Reformdiskurs und der Reformdiskurs verändert den Politikdiskurs. Im folgenden wird somit ‚sozialdemokratischer Reformdiskurs’ verwendet, wenn sein Inhalt konkret die Wohlfahrtsstaatsreformen späten 1990er und 2000er Jahre betrifft, abgrenzend dazu ‚sozialdemokratischer Politikdiskurs’, wenn die Gesamtheit Policy- und PoliticsKommunikation sozialdemokratischer Parteien gemeint ist.
Institutioneller Kontext und Akteurskonstellationen Der öffentliche Reformdiskurs wird ferner nicht durch vereinzelte Individuen geführt, sondern durch Diskursprotagonisten, die mit Amt, Funktion oder Mandat ausgestattet oder als hoch organisierte kollektive Akteure eine spezifische Sprecherposition in einem politökonomischen und institutionellen Rahmengefüge einnehmen und in einem strategischen Interaktionsverhältnis sowie einem komplexen Kommunikationszusammenhang verortet sind. Die Diskursprotagonisten agieren und ‚sprechen’ in institutionellen Kontexten und – diesen Kontexten entsprechenden – stabilen ‚Akteurskonstellationen’. Die jeweiligen Institutionenkontexte kennzeichnen sich durch unterschiedliche institutionelle Normen, Kompetenzen und Ressourcen und definieren so den Handlungsrahmen und die generellen Handlungsorientierungen der Akteure. Ferner bestimmt dieser Kontext wesentlich die Art und Weise, wie die Akteure interagieren, um sich gegenseitig zu beeinflussen und ihre Problemlösungsvorstellungen bestmöglich durchzusetzen. In dieser akteurstheoretischen Sichtweise sind politische Veränderungen bzw. Policy-Programme vor allem das Produkt strategischer Interaktionen zwischen zielgerichtet handelnden und mit Eigeninteressen, normativen Präferenzen und eigenen Handlungsressourcen ausgestatteten Akteuren, durch die die Anzahl realisierbarer Policy-Programme immer auf spezifische Weise begrenzt ist86. Form und Inhalt des öffentlichen Diskurses spiegeln wesentlich den jeweiligen institutionellen Kontext wider, in dem er geführt wird, weil das institutionelle Raster die kognitiven und normativen Interessensorientierungen der Diskursprotagonisten determiniert und auf diese Weise vorprägt ‚wie’ sie öffentlich sprechen. Darüber hinaus ist der öffentliche Diskurs aber auch ein dynamischer handlungsmotivierender Faktor, der die starren und überlieferten Interessensinterpretationen, Werteorientierungen und Strategien der Akteure aufbricht und deren Wandel vorantreibt. Somit muss man den öffentlichen Diskurs sowohl im Zentrum der nationalen Interessen- und Institutionenkonstellationen verorten, die seine spezifische inhaltliche Ausprägung und kommunikative Interaktion bestimmen, als auch gleichermaßen ‚quer’ zu den institutionellen Strukturen, da sich Zielsetzungen und Interessen der Akteure häufig erst durch den Diskurs selbst konkretisieren oder gar durch ihn verändert werden87. 86
F.W. Scharpf 1997, 2000a Vivien A. Schmidt beschreibt dieses Spannungsverhältnis des Diskurses als einen variablen Faktor in der institutionellen Problemlösungskapazität als ‚diskursiven Institutionalismus’, der die etablierten Forschungen des historischen, soziologischen und akteurszentrierten Institutionalismus’ komplettiert. Vgl. V.A. Schmidt 2003 87
2.4 Funktions- und Wirkungsweisen des öffentlichen Diskurses
47
2.4 Funktions- und Wirkungsweisen des öffentlichen Diskurses Der öffentliche Reformdiskurs ist also sowohl ein Satz von Policy-Ideen als auch ein interaktiver Kommunikationsprozess, der durch den institutionellen Kontext samt seinen entsprechenden Interaktionsformen vorgeprägt ist und dabei seinerseits – dadurch dass er die Durchsetzung von Reformprojekten befördert – auf die Konfiguration dieses Kontexts einwirkt. Nach Vivien A. Schmidt entfaltet der öffentliche Diskurs seine Wirkung zur Durchsetzung von Reformprogrammen in vierfacher Weise: entlang zweier Dimensionenachsen, eine ideenbasierte und eine interaktive, mit jeweils zwei Funktions- bzw. Aktivitätsformen. Die unterschiedlichen Wirkungs- und Funktionsweisen überlappen sich und bestimmen alle öffentlichen Reformdiskurse in komplexen Demokratien. Wie stark sich allerdings die jeweiligen Diskursdimensionen ausprägen, wie sie sich zueinander verhalten und welche Wirkungsmacht sie erlangen können, ist maßgeblich von den jeweiligen nationalen Hintergrundbedingen abhängig88. Tabelle 1: Diskursdimensionen (In Anlehnung an Schmidt, Vivien A. 2000) Ideenbegründete Dimension
Interaktive Dimension
Kognitive Funktion
Koordinierte Funktion
Normative Funktion
Kommunikative Funktion
Die ideenbasierte Dimension: kognitive und normative Funktion Die ideenbasierte Dimension des öffentlichen Diskurses umfasst alle Ideen, die sowohl die Auswahl bestimmter Reformprogramme, Policy-Methoden und -Instrumente, mittels derer die zu lösenden Probleme bearbeitet werden sollen, erklären und begründen, ebenso wie jene, die die Reformen an nationale Werte, Ideale und kollektive Zielvorstellungen anbinden und auf diese Weise die Legitimität konkreter Policy-Ideen aus einem größeren normativen Sinnzusammenhang herzuleiten versuchen. Die ideenbasierte Diskursdimension erfüllt somit zwei eng miteinander verwobene Funktionen: Zum einen eine kognitive Funktion, indem durch überzeugende Argumente ein spezifisches Policy-Programm kommuniziert wird, und warum es richtig und besser ist als ein vergangenes oder anderes Programm. Diese Funktion erfüllt der Reformdiskurs dann, wenn er gleichermaßen und aufeinander abgestimmt erstens die Notwendigkeit der Reformen durch die eindeutige Identifizierung der zu lösenden Probleme begründet, zweitens aufzeigt, dass die getroffene Policy-Wahl zur Lösung der identifizierten Probleme angemessen ist und drittens die Reformprogramme
88
V.A. Schmidt, 2000a, 2002, 2005
48
2 Abgrenzung, Begriffsverwendung, Problembegrenzung
im Hinblick auf die Ziele kohärent sind89. Zum anderen erfüllt die ideenbasierte Dimension eine normative Funktion, indem sie überzeugend darlegt, dass die Reform-Programme den historisch gewachsenen nationalen Werten und Idealen, normativen Handlungsprinzipien und kollektiven Identitäten entsprechen und diesen dienen, wiewohl sie gleichzeitig diese Werte den veränderten sozio-ökonomischen Realitäten anpasst oder gar neue Werte bereitstellt, die die Wirklichkeiten besser abbilden. Die normative Argumentation legitimiert den Policy-Wandel durch die Anrufung ‚ursprünglicher’ nationaler Werte und tief verwurzelter Strukturen, die entweder durch die Reformen unberührt bleiben oder durch diese erst wieder hergestellt werden; der dynamische Wandel wird somit förmlich von der Betonung einer Kontinuität übergeordneter Werte und Ideale abgeleitet90. Eine normative Legitimation bedeutet jedoch nicht, dass der öffentliche Reformdiskurs die durchzusetzenden PolicyVeränderungen einfach nur mit bereits existierenden nationalen Werten und Idealen in Einklang bringt; da Werte und Normen ihrerseits nie starr und absolut sind, sondern immer auch umstritten, kontingent und interpretierbar, wäre dies ohnehin nicht möglich. Vielmehr muss der Reformdiskurs, indem er faktisch eine Verschiebung von Policy-Ideen anbietet, auch die kollektiven Vorstellungen nationaler Werte verändern. Die normative Diskurskommunikation koppelt den Wandel folglich nur scheinbar an ‚ursprüngliche’ Ideen und Werte des politischen Gemeinwesens, während sie diese tatsächlich neu interpretiert und mit neu entstandenen Werten vermischt, nationale Erinnerungen sehr selektiv aufnimmt und in die eigene Politikerzählung integriert und teilweise disparate Wertefragmente zu einem kohärenten Neuen zusammenfügt. Dementsprechend geht es bei einem normativen Argument auch nicht darum, ob es ‚wahr’ oder ‚richtig’ ist, sondern allein darum, eine Reformpolitik in Werte und Ideale zu übersetzen. Wichtig für die Überzeugungsfähigkeit des Diskurses ist die normative Funktion, indem sie die Reformideen als nationale Werte und Ziele in der Gesellschaft widerklingen lässt und dabei gleichzeitig den, für die Reformen notwendigen Wertewandel befördert91. Auch wenn es analytisch entscheidend ist, diese zwei Funktionen des Diskurses zu unterscheiden, so muss hier jedoch betont werden, dass sich kognitive und normative Aspekte in der komplexen Diskursrealität auf vielfältige Weise überschneiden und wechselseitig bedingen. Kognitive Argumente müssen immer auch normative Orientierungen widerspiegeln, ebenso wie der normative Verweis auf nationale Werte und Ideale einen kognitiven Bezug auf die zu lösenden Policy-Probleme haben muss.
Die interaktive Dimension: kommunikative und koordinierte Funktion Der öffentliche Diskurs kennzeichnet sich notwendigerweise immer auch durch eine interaktive Dimension. Während es in der ideenbasierten Dimension um die Konstruktion von Ideen geht, bestimmt sich die interaktive Dimension dadurch, auf welche Weise diese Ideen mit der Öffentlichkeit kommuniziert werden. Vivien A. Schmidt unterscheidet zwei unter89
V.A. Schmidt 2000a: 280 Ein prominentes Beispiel für eine erfolgreiche normative Argumentation findet sich in Margaret Thatchers neoliberalem Reformdiskurs, in dem sie ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen über die Anrufung angeblich „urbritischer“ Traditionen des liberalen Staates und des Individualismus legimiert. Der Wohlfahrtsstaat wird auf diese Weise als unbritisch diskreditiert und die Reformprogramme dienen der Wiederherstellung ursprünglicher Ideale und Werte. 91 V.A. Schmidt 2002: 221 90
2.4 Funktions- und Wirkungsweisen des öffentlichen Diskurses
49
schiedliche Funktionsformen diskursiver Interaktion: eine koordinierte und eine kommunikative Funktion. Die koordinierte Funktion des Diskurses ist vor allem in (öffentlichen) Interaktionen von Policy-Akteuren bei der Entwicklung, Aushandlung und abgestimmten Durchsetzung von Reformprogrammen bedeutsam. Seine kommunikative Funktion hingegen entfaltet der Reformdiskurs, wenn es gilt, diese Policy-Programme in der Öffentlichkeit zu präsentieren und vor dieser zu legitimieren. Die beiden interaktiven Funktionsweisen des Diskurses finden ihre reflexive Entsprechung in zwei zu unterscheidenden, wenn auch sich überlagernden Sphären der Öffentlichkeit: Die Policy-Sphäre, in der Akteure – Entscheidungsträger, Spitzenbeamte und organisierte Interessen – danach streben, Reformprogramme zu entwickeln und auszuhandeln, und die Politics-Sphäre, in der neben den Policy-Akteuren auch andere Akteure – Medien, organisierte wie unorganisierte Interessen, Teilöffentlichkeiten oder die gesellschaftliche Willensbildung beeinflussende Persönlichkeiten – nicht nur über konkrete Policy-Programme kritisch diskutieren, sondern diese zumeist auch in allgemeine Werte- und Interessensdebatten sowie grundsätzliche Argumentationen einbetten. In der Policy-Sphäre dominiert eindeutig der koordinierte Diskurs, da alle Diskursteilnehmer sowohl die Informationen über Handlungszwänge und Gestaltungsrahmen als auch die Einsicht von der Notwendigkeit von Politikentscheidungen teilen. Der kommunikative Prozess in der Politics-Sphäre ist dagegen weitaus komplizierter. Hier können die Akteure nicht nur sachgerecht über spezielle Policy-Fragen sprechen, sondern müssen diese in ein größeres, verschiedene Politikfelder abdeckendes Reformprogramm diskursiv einfügen. Im kommunikativen Diskurs wird der Policy-Akteur zu einem PoliticsAkteur, der auf einer allgemeineren Ebene über die Angemessenheit von PolicyProgrammen kognitiv argumentiert (durchaus auch mit Argumenten des koordinierten Diskurses, wenn auch in einer weniger technokratischen Sprache), vor allem aber normativ darauf verweist, dass die Reformprogramme die Probleme in einer Weise lösen, die den Werten der Gesellschaft und des politischen Systems entsprechen und insgesamt sinnvoll sind92. Auch wenn sich sowohl im koordinierten als auch im kommunikativen Diskurs gleichermaßen kognitive und normative Argumente finden, so kennzeichnen sie sich durch sehr unterschiedliche Betonungen der jeweiligen Argumentationen. Der koordinierte Diskurs zwischen Policy-Akteuren ist vor allem durch kognitive Argumente und Problemlösungsansätze, die eher technisch oder wissenschaftlich begründet werden, bestimmt. Normative Argumente werden hier seltener verwendet und wenn, dann vor allem weil Verhandlungen blockiert oder Politikveränderungen so weitreichend sind, dass sich die Akteure für ihre Verhandlungen (über die Politics-Sphäre) zusätzliche Legitimation beschaffen müssen. Der kommunikative Diskurs fokussiert stattdessen auf normative Argumente, greift dabei aber auch auf die Präsentation kognitiver ‚Wahrheiten’ zurück, die seine Aussagen objektivieren und so seine normative Resonanz verstärken.
Einfache und komplexe Politiksysteme Obwohl alle liberalen Demokratien koordinierte wie kommunikative Reformdiskurse führen, unterscheiden sie sich durch das unterschiedliche Ausmaß der jeweiligen diskursiven Interaktion. Die interaktive Diskursdimension, der diskursive Stil sowie argumentative 92
V.A. Schmidt 2002: 230ff., 2005: 27ff.
50
2 Abgrenzung, Begriffsverwendung, Problembegrenzung
Schwerpunkte sind wiederum wesentlich durch den institutionellen Kontext des politischen Systems bestimmt, der die Policy-Akteure mit spezifischen, nationalen Legitimitätsproblemen und Interaktionsnotwendigkeiten konfrontiert, auf die sie diskursiv reagieren müssen. Mit Blick auf die jeweils vorherrschende interaktive Diskursart unterscheiden sich komplexe Politiksysteme, die sich durch eine hohe Anzahl, die Handlungsmacht der Regierung beschränkender, institutioneller Akteure kennzeichnen von einfachen Politiksystemen, in denen die Macht der Exekutive verhältnismäßig unbeschränkt ist. Der öffentliche Diskurs komplexer Politiksysteme ist stärker von einem koordinierten Diskurs bestimmt, da die Machtbeschränkungen der Regierung eine konsensorientierte Einbindung mächtiger Policy-Akteure voraussetzt, um eine Übereinkunft über die Reformprogramme zu erzielen. Zur Ermöglichung solcher Übereinkünfte ist der koordinierte Diskurs in seinen Aussagen eher kooperativ als konfrontativ. Während der Verhandlungen führen die unterschiedlichen Policy-Akteure eine Art kommunikativen ‚Sub-Diskurs’ mit ihren jeweiligen Parteimitgliedern, Unterstützern oder ihrer Wählerschaft, in der sie sich über speziell auf diese Gruppen ausgerichtete kognitive und normative Argumente zu legitimieren versuchen. Der ‚große’ kommunikative Diskurs mit der Gesamtöffentlichkeit wird erst dann geführt, wenn die Regierung die erzielten Übereinkünfte präsentiert, wobei sie dies so kommunizieren muss, dass die in den jeweiligen Sub-Diskursen entwickelten kognitiven und normativen Ideen gleichermaßen zu Geltung kommen. Die transformative Kraft des öffentlichen Diskurses muss in komplexen Politiksystemen als Symbiose verschiedener Sub-Diskurse verstanden werden, die umso größer ist, wenn es gelingt, diese weitgehend aufeinander abzustimmen. In einfachen Politiksystemen hingegen dominiert der kommunikative Diskurs während der koordinierte Diskurs eher schwach ist. Die Machtkonzentration der Exekutive erlaubt es, Reformprogramme ohne weitere Einbindung oder Konsultation organisierter Interessen durchzusetzen. Die Durchsetzung bestimmter Reform-Policies wird in einfachen Politiksystemen daher vor allem durch die Öffentlichkeit – Demonstrationen, Streiks, Kritik der Medien, schlechte Umfragewerte, anstehende Wahlen – beschränkt. Da einfache Politiksysteme zudem vor einer starken Polarisierung der politischen Landschaft bestimmt sind, ist der von der Regierung geführte kommunikative Diskurs somit in seiner kognitiven wie auch normativen Argumentation eher dezisionistisch-autoritär und im Ton eher feindlich93.
93
V.A. Schmidt 2002: 240ff., 2007
3 Der sozialdemokratische Grundwertediskurs: Ziele und Politikinstrumente in neuen Spannungsfeldern
Der öffentliche Reformdiskurs entfaltet seine Wirkung über die kommunikative Verknüpfung von Reform-Policy-Ideen mit normativen Werten. Die normative Dimension des Diskurses wiederum ist von den jeweiligen Diskursprotagonisten abhängig und in ihre jeweilige ideologische und wertorientierte Ausrichtung eingebettet. Nicht jeder Diskursprotagonist kann glaubhaft die gleichen Werte und Ideale proklamieren. In der Analyse sozialdemokratischer Reformdiskurse muss daher deren normative, genuin sozialdemokratische Diskursdimension herausgearbeitet werden, wie sich diese kognitiv mit den notwendigen Reformideen verbindet und wie sich der Interpretationsrahmen und -zusammenhang im diskursiven Prozess verändert bzw. verändern muss. Auch wenn sich nationale sozialdemokratische Reformdiskurse – wie im Folgenden gezeigt wird – aufgrund vielfältiger Hintergrundfaktoren, wie beispielsweise höchst unterschiedliche wirtschaftspolitische und wohlfahrtsstaatliche Kernherausforderungen, nationalspezifische Policy-Hinterlassenschaften, institutionalisierte Entscheidungsprozesse oder unterschiedliche Akteurspräferenzen, in ihren Inhalten und Kommunikationsformen unterscheiden, teilen doch alle Parteien der sozialdemokratischen Parteifamilie die gleiche historische Herkunft, sehr ähnliche ideologische Grundpositionen und normative Werte wie auch sehr ähnliche soziale Merkmale ihrer Wähler und Mitglieder94, so dass sich ihre Reformdiskurse länderübergreifend normativ auf gleiche Grundwerte stützen und kommunikativ vor ähnlichen elektoralen Herausforderungen stehen. Es ist daher wichtig, die diskursive Rolle sozialdemokratischer Grundwerte sowohl für den innerparteilichen als auch für den gesamtgesellschaftlichen Reformdiskurs herauszuarbeiten, auf ihren kognitiven und transformativen Gehalt und ihre normative Aktivierbarkeit hin zu untersuchen und wie sich diese Grundwerte wiederum im öffentlich-diskursiven Prozess sowie in unterschiedlichen Öffentlichkeitssphären verändern bzw. verändern müssen, um ihr ideologisches Diskurspotential optimal entfalten zu können.
3.1 Reformen, Diskurse und Parteiendifferenz: Die Notwendigkeit der richtungspolitischen Einordnung von Reformdiskursen Reformen sind gemeinhin dadurch motiviert, dass Systeme, Verfahren oder Institutionen in einer veränderten Umwelt nicht mehr imstande sind, ihre ihnen ursprünglich zugewiesenen Aufgaben, Zielvorgaben und normativen Ansprüche angemessen zu erfüllen. Durch sozioökonomischen oder kulturellen Wandel oder durch neue politische Anforderungen verändern sich die Rahmenbedingungen derart, dass überlieferte Systeme oder lang eingespielte gesellschaftliche Mechanismen in der sie umgebenden Welt ihrem Ursprungssinn nur noch 94
P. Mair/ C. Mudde 1998
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
unzureichend gerecht werden oder gar kontraproduktiv zur ursprünglichen Intention sind. Dann wird eine „planmäßige und legale Änderung des bestehenden Zustandes mit dem Ziel, diesen zu verbessern“95 notwendig; eine Umgestaltung und Anpassung der Institutionengefüge an die veränderte Umwelt, um ihren ursprünglichen Zweck und ihre Leistungsfähigkeit wieder herzustellen. Reformprogramme, die eine problemgerechte Anpassungslösung anstreben, haben jedoch immer eine politische Zielrichtung, die sich einerseits aus einem bestimmten Verständnis von der Natur der Probleme und der Realisierbarkeit bestimmter Lösungen ergibt und sich andererseits an normativen Präferenzen ausrichtet. Bei Reformenpolitik geht es – so gesehen – nicht nur um die ‚richtige’ Identifizierung eines Problems und die Umsetzung einer einzigen effektiven und neutralen Lösung, sondern um die Durchsetzung einer bestimmten Lösung samt politisch gewünschter Auswirkungen auf die ursprünglichen Probleme. Parteien lassen sich programmatisch – verschiedenen Prognosen von einem ‚Ende der Ideologien’96 oder einer Verwandlung in programmfreie ‚Allerweltsparteien’97 zum Trotz – auf einer Links-Rechts-Achse verorten, ihre Mitglieder und Kernwähler teilen gemeinhin bestimmte grundlegende Wertvorstellungen, Annahmen und Ideen, die sich von denen anderer Parteien unterscheiden und die sich zu primären Durchsetzungszielen bestimmter Politiken verdichten98. Auch die politikwissenschaftliche Frage, ob solcherart programmatische Ausrichtungen der Parteien Einfluss auf die Politikentwicklung haben (‚Do Parties matter?’)99, ist – zumindest über längerfristige Zeiträume – innerhalb der Policy- und Parteienforschung im Grundsatz bestätigt worden100. Gleichwohl muss das, was Parteien in Regierungsverantwortung wollen, von dem, was sie auch tatsächlich durchsetzen können, klar unterschieden werden. Restriktionen des parteilichen Regierungshandelns resultieren aus institutionellen Schranken oder der Anzahl der Vetospieler, der nationalen Parteienlandschaft oder die Art der Koalitionsbildung, Widersprüche zwischen innerparteilichen Positionen und dem Handeln der Parteieliten im Regierungsprozess bis hin zu der Frage, ob sich – besonders deutlich beispielsweise bei Reformen der Sozialsysteme – die subjektiven Präferenzen der Wähler einer Partei immer mit deren objektiven Interessen101 decken und wieweit die Regierungspolitik dieser Parteien ein solches Spannungsverhältnis auszuhalten imstande ist. Insofern muss der Einfluss, den weltanschaulich unterschiedliche Regierungsparteien tatsächlich auf Reformausrichtung und -performanz haben, immer auch im Rahmen des politischen Prozesses betrachtet werden, in dem politische Akteure fortwährend um Machtpotentiale ringen, und die oben gestellte Frage nach dem Zusammenhang von Parteiprogrammen und Policies muss somit in eine umfassendere Analyse unterschiedlicher Entscheidungs- und Durchsetzungsprozesse sowie Interaktionsbeziehungen (‚Do Politics matter?’) eingebettet werden102. 95
M.G. Schmidt 1995: 799 D. Bell 1962 O. Kirchheimer 1965 98 I. Budge/ H.D. Klingemann/ A. Volkens/ J. Bara/ E. Tanenbaum 2001; I. Budge/ H. Keman 1990; H.D. Klingemann/ A. Volkens 2002 99 Zum Beispiel F.G. Castles 1982 100 Klassisch: D. Hibbs 1977. Vgl. auch H.D. Klingemann/ R.I. Hofferbert/ I. Budge 1994; M.G. Schmidt 1982; E. Huber/ J.D. Stephans 2002 101 Vgl. R. Zohlnhöfer 2003a: 54f. 102 M. Caul/M. Gray 2000; F.G. Castles 1982; M.G. Schmidt 1997, 2002 96 97
3.1 Reformen, Diskurse und Parteiendifferenz
53
In diesem Spannungsfeld zwischen Policy-Ideen und Regierungshandeln, Parteiprogrammatik und Wählererwartungen wie auch den dynamischen Politics-Prozessen kommt den öffentlichen Reformdiskursen die zentrale Aufgabe zu, eine Verbindung zwischen den verschiedenen Politikdimensionen herzustellen103, indem sie nicht nur die Reformnotwendigkeit und das Reformprogramm zur effektiven und angemessen Problemlösung, sondern zugleich auch die Reformziele kommunizieren, die mit den normativen Grundwerten der Parteimitglieder und ihrer Wählerschaft in Einklang stehen. In dem Maße, wie es gelingt, über einen kognitiv wie normativ abgestimmten diskursiven Dreiklang aus Reformnotwendigkeiten, -programmen und -zielen Legitimation herzustellen, werden in der PoliticsDimension wiederum die Machtressourcen mobilisiert, die zur Implementierung der Reform-Policies (mit)entscheidend sind. Da sich unterschiedliche Reformziele aus den jeweiligen Grundwerten und Programmen der (Regierungs-)Parteien ergeben, wird deutlich, dass Form und Inhalt öffentlicher Reformdiskurse analytisch nicht von der ‚Parteiendifferenz’ bzw. ‚Parteienkonkurrenz’ abgekoppelt werden können. Um einen Reformdiskurs erfolgreich zu führen, müssen die Diskursprotagonisten die ideenbegründete und die kommunikative Diskursdimension zu einem kohärenten Ganzen zusammenführen, was nur dann glaubhaft gelingen kann, wenn sie die Reformen über die ihnen gemeinhin zugeschriebenen Ideen, Normen und Werte legitimieren. Der öffentliche Diskurs strebt zwar danach, über die Kommunikation, Aktivierung und vor allem über eine eigene Interpretation möglichst universalistischer und daher allgemein anerkannter Normen Hegemonie zu erlangen, kennzeichnet sich aber in einem demokratischen Wettbewerbsraum zugleich durch die Artikulation partikularistischer Werte und Interessen104. Denn die jeweiligen Reformdiskurse von Regierungen und der sie tragenden Parteien spiegeln rhetorisch kommunikativ wie inhaltlich ideenbegründet in ihrer normativen und kognitiven Dimension immer auch die gesellschaftlichen Konfliktlinien (‚cleavages’) wider, um die sich die nationalen Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert gebildet haben105. Auch wenn sich Parteien nach dem Abschmelzen ihrer Milieus und Kernwählerschaften verstärkt in die Mitte bewegen, um sich neuen individualisierten und politisch säkularisierten Wählerschichten zu öffnen, bleiben historisch gewachsene Weltsichten und Richtungssymbole aller reformierten Programmatik zum Trotz im öffentlichen Diskursfeld weiterhin als Identifikation und Zielorientierung wirkungsmächtig. Gerade bei den Reformen des Wohlfahrtsstaats sind in den letzten Jahren jene Konfliktlinien (Kapital vs. Arbeit), die lange Zeit von neuen postmaterialistischen verdrängt zu sein schienen106, wieder verstärkt in den Vordergrund getreten (allerdings ohne dabei die postmaterialistisch-materialistische Konfliktlinie aufzulösen) und determinieren den Diskursrahmen, aus dem die unterschiedlichen Parteien mit ihren jeweiligen Diskursen nicht einfach ausbrechen können, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Gleichwohl gibt es innerhalb dieses vorstrukturierten Diskursrahmens für die Parteien große Spielräume, ihre Programmatik an die veränderte politische Umwelt und die neuen Herausforderungen anzupassen, indem sie traditionelle Werte neu gewichten, bestimmte Ziele betonen, während sie andere zurückstellen, neue Themen einführen und diese mit traditionellen Grundthemen verbinden.
103
V.A. Schmidt 2002 Vgl. Kap. 4.3.1: ‚Politische Kultur und Diskurs, Politische Kultur als Diskurs’ 105 Vgl. S.M. Lipset/ S. Rokkan 1967 106 R. Inglehart 1977, 1989 104
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
Auch wenn Reformen und somit die diese legitimierenden Reformdiskurse durch verschiedenartige Handlungszwänge motiviert sind, sich die jeweiligen Policy-Programme vor allem an den zu lösenden Problemen ausrichten und somit der politisch-ideologische Gestaltungsrahmen für Akteure jedweder Couleur massiv eingeschränkt ist, bleiben die im Diskurs kommunizierten Reformideen und normativen Werte notwendig in unterschiedliche parteipolitische Programme und Ideologien eingebettet, so dass auch öffentliche Reformdiskurse selbst auf einer Links-Rechts-Achse zu verorten sind. Mehr noch: Während sich aus den Reformnotwendigkeiten häufig technisch neutrale Handlungsimperative ableiten, müssen die diese kommunizierenden Reformdiskurse durch die rhetorische Anrufung bestimmter Werte kognitiv immer eine linke oder rechte Ausrichtung haben. Denn selbst wenn der argumentative Kern der Reformdiskurse auf unausweichlichen Sachgesetzlichkeiten gründet, muss die Herausforderungssituation politisch interpretiert und vor allem die Richtung der Problemlösung durch unterschiedliche – linke oder rechte – Grundwerte legitimiert werden107. Norberto Bobbio zufolge strukturieren die Begriffe ‚links’ und ‚rechts’ nach wie vor und zwingend das gesamte politische Spektrum, da Politik a priori als Widerstreit zwischen entgegengesetzten Ansichten und Programmen angelegt ist. Die Links-Rechts-Einstufung ist eine Art politische Primär-Unterscheidung, die, jenseits historisch-spezifischer Konfliktfelder, ideologischer Neuorientierungen oder von Land zu Land unterschiedlicher PolicyIssues, das Politische durch politisch-anthropologische Grundannahmen, unhintergehbare Normen und generalisierte Bedeutungselemente dichotomisch teilt108. Linke Politik orientiert sich von jeher eher an den Normen sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit, gründet auf einem umfassenden Freiheitsbegriff, der negative und positive Freiheit als gleichwertig erachtet109 und zielt somit auf eine eher horizontale und egalitäre Vision der Gesellschaft. Mit Blick auf die Reformen des Wohlfahrtsstaats setzen sich die jeweiligen Grundorientierungen etwa in einem Konflikt um die Verteilfunktion des Staats fort, in dem unterschiedliche Ziele wie ‚staatlich garantierte soziale Grundrechte’ oder ‚individuelle Eigenverantwortung’ in einem prinzipiellen Gegensatz zwischen einem sozialen und einem kompetitiven, libertären Verteilungsideal münden110. Das Links-Rechts-Schema ist ferner auf der politischen Rezeptionsseite die zentrale räumliche Metapher, durch die komplexe Sachverhalte vereinfacht und reduziert dargestellt werden können; es ist – vor allem in dynamischen Wandlungsprozessen – ein funktionaler Orientierungsmechanismus und bietet den Bürgern klare politische Alternativen111. Öffentliche Reformdiskurse lassen sich also durch die jeweilige kommunikative Aktivierung unterschiedlicher normativer Grundwerte, Annahmen und ideologischer Leitmotive in diesem historisch gewachsenen axialen Ordnungssystem konnotativ entweder als ‚links’ 107 Ein ‚There is no alternative’-Diskurs kann ideologisch höchst unterschiedlich ausgerichtet sein. Während beispielsweise Margaret Thatchers neoliberaler TINA-Diskurs in den 1980er Jahren den Wohlfahrtsstaat selbst als eine Form der Freiheitsbeschränkung und als dysfunktionales Anreizsystem ideologisierte, kommunizierten die schwedischen Sozialdemokraten in den 1990er Jahren die Alternativlosigkeit der Sparpolitik als zentrale Voraussetzung für den Fortbestand des Wohlfahrtsstaats. 108 N. Bobbio 1996 109 Vgl. T. Meyer 2005b 110 Linkes und rechtes politisches Denken ist ferner gemeinhin durch den Gegensatz von autoritätsfreundlichen und autoritätskritischen Haltungen bestimmt. Diese Trennung spielt jedoch in den Diskursen zur Reform des Wohlfahrtsstaats eine eher untergeordnete Rolle (auch wenn in einigen Reformdiskursen neoliberale Policy- und neokonservative Werte-Ideen verbunden werden) und erfährt daher hier keine explizite Aufmerksamkeit. 111 Vgl. D. Fuchs/ H.D. Klingemann 1989
3.1 Reformen, Diskurse und Parteiendifferenz
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oder ‚rechts’ einstufen, und es ist für ihre transformative Wirkung entscheidend, dass ein derartiger richtungspolitisch kommunizierter Diskurs mit den Reform-Policies der Regierung und der Parteien als kognitiv kohärent wahrgenommen wird. Vor dem Hintergrund sozial- und wirtschaftspolitischer Handlungszwänge ist es allerdings sehr viel schwieriger, Reformprogramme (im Sinne von Krisenreaktion und ‚Retrenchment’) ebenso eindeutig als ‚links’ oder ‚rechts’ zu klassifizieren, vor allem wenn traditionelle Politik-Instrumente, die den politischen Parteien gemeinhin zugeschrieben werden, unter veränderten Bedingungen kaum oder gar nicht mehr funktionieren. Daher ist es durchaus möglich, dass Regierungen unterschiedlicher Herkunft bis zu einem gewissen Grade eine sehr ähnliche Reformpolitik mit jeweils ideologisch unterschiedlich ausgerichteten Reformdiskursen zu legitimieren versuchen oder gar Policies, die eher der Rechten zugeschrieben werden, mit ‚linken’ normativen Grundwerten bzw. eher ‚linke’ Policies mit ‚rechten’ Argumenten diskursiv kommunizieren. Da öffentliche Reformdiskurse den durchzusetzenden Refom-Policies als normative Legitimation vorgeordnet sind, sich aber diese diskursive Legitimation durch notwendige Reform-Policies zugleich verändert, müssen miteinander konkurrierende parteipolitische Reformdiskurse – in sehr grober Anlehnung an die in der Parteienforschung gebräuchliche Unterscheidung – als eine komplexe Symbiose aus ‚Office-Seeking’ und ‚Policy-Seeking’ konzeptualisiert werden112: ‚Office-Seeking’, weil Reformdiskurse konkrete PolicyProgramme von Regierungen (oder nach Regierungsmacht strebenden Parteien) kognitiv kommunizieren, ihren Sinn und ihre Notwendigkeit erläutern, und auf diese Weise Legitimität des Regierungshandelns herstellen und weitgehende öffentliche Zustimmung und Wählerstimmen organisieren. Deshalb haben Reformdiskurse immer eine Ämter- bzw. Machtorientierung. ‚Policy-Seeking’, weil Reformdiskurse die Reformprogramme mit normativen Grundwerten und Leitideen verknüpfen, deren Interpretation sie jedoch den Rahmenbedingungen entsprechend modifizieren und so als Mittel zur Verwirklichung politischer Ziele kommunizieren. Reformdiskurse müssen immer eine grundwertegestützte Zielorientierung haben.
Ungleicher programmatischer Anpassungsdruck Öffentliche Reformdiskurse haben also jenseits der durchzusetzenden Policy-Programme ein gewisses ideelles Eigengewicht, da sie Reformideen über bestimmte Grundwerte und Leitziele kommunizieren und diese als entweder ‚links’ oder ‚rechts’ codieren. Dennoch ist ebenso klar, dass diese Diskurse von den Reformprogrammen nicht völlig abgekoppelt sein können, wollen sie nicht kognitiv in Widerspruch zu dem geraten, was sie legitimieren sollen. Das bedeutet, dass Reformdiskurse zwar konkurrierende Grundwerte und Politikziele kommunizieren, dass sie aber vor dem Hintergrund der Reformnotwendigkeiten gleichzeitig diese Grundwerte und Politikziele neu interpretieren und anpassen. Der Reformdruck durch veränderte Umwelten zwingt Regierungen nicht nur dazu, bestehende Politikinstrumente zur Erreichung ihrer Ziele zu verändern oder durch neue zu ersetzen, sondern
112
Vgl. W.C Müller/ K. Strøm 1999
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
vielfach auch die Politikziele selbst neu zu bestimmen113. Setzen sich diese notwendigen, durch die Regierungen eingeleiteten Policy-Veränderungen nicht in einer programmatischen Neujustierung und einer Revision politischer Ideen und Werte fort, kommt es zu einem unvermeidlichen Konflikt zwischen Grundwerten und Wirklichkeit114. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis übernimmt der Reformdiskurs die zentrale Funktion, einerseits die Reformprogramme über die parteipolitischen Grundwerte zu legitimieren und so von konkurrierenden Programmen, Ideen und Zielen abzugrenzen, und dabei andererseits die Grundwerte ihrerseits neu zu bestimmen, so dass die Reform-Policies der Regierung insgesamt als kohärent, den Zielen entsprechend und der Problemlösung angemessen wahrgenommen werden. Sozial- und wirtschaftspolitische Reformen als Reaktion auf weltwirtschaftliche, demographische und technologische Herausforderungen zwingen alle politischen Akteure dazu, die zur Erreichung ihrer Ziele vorgesehenen Instrumente oder gar die programmatischen Ziele selbst zu modifizieren. Eine derartige Policy- bzw. Programm-Anpassung ist allerdings durch eine gewisse ‚programmatische Pfadabhängigkeit’ der Parteien begrenzt. Das bedeutet, dass Parteien aufgrund ihres historisch gewachsenen ‚programmatischen Erbes’ ihre Politik-Instrumente und Gestaltungsziele nicht grundlegend und schnell verändern können, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dem programmatischen Anpassungsbedarf steht also eine Anpassungsfähigkeit gegenüber, die umso geringer ist, je mehr grundlegende Wertvorstellungen, Kausalannahmen und Problemperzeptionen (‚belief systems’)115 einer Partei von der Anpassung betroffen sind. Da der globalisierungsbedingte Anpassungsdruck vor allem traditionelle wirtschafts- und gesellschaftspolitische Instrumente und regulative Steuerungsmöglichkeiten der Sozialdemokratie betrifft und dadurch zugleich ein ‚Weltbild’ einer grundsätzlichen und umfassenden Gestaltungsmöglichkeit sowie zentrale Politik-Ziele herausfordert, scheinen bürgerliche und konservative Parteien ohne einen derartigen normativen Handlungsanspruch einen größeren programmatischen Bewegungsspielraum für Reformen zu haben. Der programmatische Anpassungsdruck ist folglich bei den Parteien unterschiedlich stark ausgeprägt: Er ist bei sozialdemokratischen Parteien wesentlich größer als bei bürgerlichen. Doch selbst wenn es allen Parteien gleichermaßen gelänge, einen politischen Strategiewechsel programmatisch kohärent nachzuvollziehen, bedeutete dies nicht, dass sie im öffentlichen Diskursraum auch im gleichen Umfang auf argumentative Ressourcen zurückgreifen könnten. Der erfolgreiche öffentliche Diskurs basiert nämlich nicht nur auf der kognitiven Argumentation notwendiger und angemessener Policy-Reformen, sondern zugleich auch auf deren ideenbegründeten Einbettung, die ihrerseits eine originäre Antwort auf die Herausforderungen darstellen muss. Um sich im öffentlichen Diskurs behaupten zu können, dürfen Anpassungen der eigenen programmatischen Tradition folglich nicht (oder zumindest nicht nur) defensiv-bewahrend kommuniziert werden, sondern müssen veränderte Politikinstrumente und -ziele über offensiv-gestaltende Argumentationsfiguren legitimieren. Auch wenn eine Vielzahl der Politik-Instrumente (z. B. keynesianistische MakroSteuerung oder Kündigungsschutz), die die Sozialdemokratie aufgrund der geänderten 113
Peter Hall hat Policy-Veränderungen mittels eines Drei-Ebenen-Modells beschrieben: Veränderung der bestehenden Politik-Instrumente (first order change), Einsatz neuer Instrumente zur Erreichung bestehender Ziele (second order change) Veränderung der Ziele bzw. neue Zielhierarchien (third order change). P.A. Hall 1993 114 Vgl. zum Beispiel T. Meyer 2004b 115 P. Sabatier 1993
3.1 Reformen, Diskurse und Parteiendifferenz
57
Umweltbedingungen aufgeben bzw. verändern musste, keinen Selbstzweck darstellten, sondern immer Mittel waren, um bestimmte Ziele zu erreichen116, verkörperten die Instrumente dennoch auch die Vorstellung umfassender politischer Steuerbarkeit und Gestaltbarkeit von Gesellschaft und Wirtschaft. Die Idee politischer Steuerbarkeit wiederum war zentraler Bestandteil sowohl eines visionären Gesellschaftsentwurfs als auch eines Begriffs- und Ideensystems und eines Interpretationsmusters, aus dem die Sozialdemokratie Antriebsmotivation, Selbstbewusstsein und vor allem argumentative Diskursressourcen offensiv ableiten konnte117. In dem Maße, in dem die traditionelle Idee einer universellen Steuerung als quasi visionärer Mehrwert zugunsten pragmatischer, sachorientierter und partieller Regulierungen programmatisch angepasst wird, verändern sich auch die kommunikativen Argumentationsfiguren grundlegend, die vor allem von sozialdemokratischen Parteien vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung eine anspruchsvolle ideelle Neuformulierung abverlangen. Gerade die durch die Globalisierung geschaffene sozial- und wirtschaftspolitische Herausforderungssituation und verloren gegangene Steuerungsmöglichkeiten kennzeichnen den programmatischen Anpassungsbedarf sozialdemokratischer Parteien. Erstens verlieren die – vor allem von sozialdemokratischen Parteien traditionell bevorzugten – Instrumente der keynesianistischen Wirtschaftspolitik118 unter den Bedingungen international offener Finanz-, Güter- und Dienstleistungsmärkte ihre Wirksamkeit oder werden sogar kontraproduktiv119. Der Monetarismus allerdings – wie Jahre zuvor der Keynesianismus im umgekehrten Sinne auch – war nicht nur ein makroökonomisch neutrales wirtschaftspolitisches Handlungskonzept, sondern immer auch ein politisches Instrument der neoliberalen Ideologie mit dem Ziel der Entbettung der globalen Finanzindustrie120, dem sich auch viele sozialdemokratische Parteien mit dem unkritischen Verweis einer Unausweichlichkeit anschlossen. Dass im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise mit kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen und konzertierten Niedrigzinspolitiken eine keynesianische Krisenüberwindung wieder auf die Bühne der Wirtschaftspolitik zurückkehrte, ist nicht nur ein ‚Treppenwitz der Weltgeschichte’. Denn zumindest in Fragmenten war der Keynesianismus (massive Zinssenkungen z. B. 2000 nach der ‚dot.com’-Krise’) als makroökonomisches Instrument nie gänzlich verschwunden. Gleichwohl hatte sich der so genannte NeoKeynesianismus im neoliberalen Zeitalter zum einen vom traditionellen Ziel der Vollbeschäftigung entkoppelt und zum anderen angesichts sinkender Profitraten in der Realwirtschaft, der zunehmenden Ungleichheit der Einkommen und Vermögen und der DeRegulierung der Finanzwirtschaft zu den Spekulationsblasen beigetragen. Die Internationalisierung der Kapitalmärkte und der daraus resultierende Einflussgewinn des Kapitals verschieben zweitens die innerstaatlichen Machtressourcen zugunsten der Kapitaleigner, da diese glaubwürdig auf ‚Exit’-Optionen verweisen können121 und sozialdemokratische Regierungen zu Zugeständnissen (z.B. Steuersenkungen, günstige Investiti-
116
W. Merkel/ C. Egle/ C. Henkes/ T. Ostheim/ A. Petring (2006): 26 B. Böhning/ J. Turowski 2007 Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass auch bürgerliche Regierungen in den 1960er und 1970er Jahren auf dieses Instrument makroökonomischer Steuerung vertrauten und es einsetzten. 119 F.W. Scharpf 1987; F.W. Scharpf/ V.A. Schmidt 2000; W. Streeck 1999; E. Matzner/ W. Streeck 1991 120 E. Altvater 2005: 110ff. 121 R.O. Keohane 1984; J.B. Goodman/ L.W. Pauly 1993 117 118
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
onsbedingungen, Reduzierung der Sozialabgaben) zwingen können, die ihren ursprünglichen programmatischen Überzeugungen widersprechen. Da sich sozialdemokratische Politik des ‚goldenen Zeitalters’ programmatisch und politisch-praktisch wesentlich über eine Beschränkung des Marktes bzw. über den sozialstaatlichen Ausgleich unerwünschter Folgen des Marktgeschehens bestimmte, erschüttern nicht zuletzt drittens globalisierungsbedingte Anpassungen, die einen Um- oder gar Abbau des Wohlfahrtsstaats, eine Reduzierung des öffentlichen Sektors oder eine Deregulierung des Arbeitsmarktes implizieren, die Fundamente sozialdemokratischen Selbstverständnisses. Angesichts der potenziellen Zielkonflikte, die sich aus der neuen Herausforderungssituation ergeben, müssen sich sozialdemokratische Parteien ceteris paribus stärker als ihre Konkurrenten um programmatische Anpassungskonzepte bemühen, die es ihnen erlauben, Reformprogramme durchzusetzen, ohne dabei zentrale Werte und Identitäten aufgeben zu müssen. Die grundsätzliche (wiewohl unterschiedlich weitreichende) programmatische Anpassung sozialdemokratischer Parteien ist zudem durch national sehr unterschiedliche Anpassungspfade und Zeitpunkte der Anpassung bestimmt, die wiederum von nationalen Parteienkonstellationen (z. B. eine zweite Wohlfahrtsstaatspartei, Konkurrenz am linken Rand) und von innerparteilichen Machtkonstellationen122 abhängig sind. Vor dem Hintergrund der Globalisierungszwänge scheinen bürgerliche oder rechte Parteien hingegen ohne größeren Glaubwürdigkeitsverlust ihre Programme leichter anpassen zu können, da von der notwendigen Anpassung der Politik-Instrumente ihre programmatischen Kernelemente und Überzeugungssysteme weit weniger betroffen sind. Sie können unter Umständen sogar die Reformzwänge diskursiv dazu nutzen, eine Politik (Monetarismus, Deregulierung, Privatisierung, Abbau des Wohlfahrtsstaats) durchzusetzen, die ihnen programmatisch seit jeher erstrebenswert, aber gegen Wählerwiderstand politisch nicht durchsetzbar erschien123. In diesem komplexen Spannungsfeld von Reformzwängen, Politikzielen und Politikinstrumenten, Parteiendifferenz und historisch gewachsenen weltanschaulichen Überzeugungen kommt dem sozialdemokratischen Reformdiskurs die funktionale Aufgabe zu, die traditionellen Grundwerte und Identitäten normativ neu zu justieren, veränderte Politikinstrumente programmatisch zu verarbeiten, einzubetten und zu legitimieren, und dabei gleichzeitig – über die kognitive Kommunikation der Reformnotwendigkeiten und veränderten Rahmenbedingungen – die Voraussetzung und Grundlage für eben diese inhaltliche Neubestimmung herzustellen. Diese beiden funktionalen Dimensionen des Reformdiskurses sind sich dialektisch überlagernde Prozesse, die zwar analytisch differenziert werden müssen, aber unter realen Kommunikationsbedingungen moderner Mediendemokratien kaum auseinanderseziert werden können. Für die gesamtgesellschaftliche wie innerparteiliche Wirkungsweise des sozialdemokratischen Reformdiskurses selbst ist die programmatische Anpassung zudem essentiell, da nur so Reform-Policies kognitiv ohne argumentative Widersprüche als in sich kohärent un
122
J. Raschke 1977 Reimut Zohlnhöfer verweist darauf, dass in dieser Gegenüberstellung christdemokratische Parteien differenziert betrachten werden müssen, die sich historisch ebenfalls durch eine avancierte Sozialpolitik auszeichnen und denen der Abbau des Wohlfahrts daher programmatisch schwerer fällt als konservativen oder liberalen Parteien. R. Zohlnhöfer 2005
123
3.2 Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse
59
normativ im Einklang mit den (parteipolitischen) Grundwerten kommuniziert werden können.
3.2 Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse: Programmatische Veränderungsprozesse und inhaltliche Neujustierungen Eine breite, länderübergreifende programmatische Debatte über klassische Positionen und Zielwerte sozialdemokratischer Parteien fand in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre statt124, die gleichermaßen in den politischen, akademischen und medial-öffentlichen Sphären geführt wurde und so bald zu einem der wichtigsten politischen Diskurse avancierte. In diesem neuen Revisionismusstreit125 der Sozialdemokratie ging es einerseits – vor dem Hintergrund neuartiger Herausforderungen und Zwänge – um Gestaltungsmöglichkeiten, Policy-Orientierungen und Richtlinien einer veränderten Regierungspraxis und andererseits um eine inhaltliche Neubestimmung der Grundwerte, die die Sozialdemokratie auch in Abgrenzung zum politischen Konkurrenten politisch offensiv und ‚diskursfest’ und somit letztlich wählbar macht. Denn die europäische Sozialdemokratie befand sich durch die ideologische Dominanz des ‚Neoliberalismus’126 seit spätestens den frühen 1980er Jahren politisch wie intellektuell in der Defensive und musste sich auf einem ‚feindlichen Terrain’127 neu definieren. Folge des zwei Jahrzehnte währenden ‚neoliberalen Projekts’ waren ökonomische und politische Veränderungen, die sozialdemokratische Regierungen zur Aufgabe ihrer traditionellen Politik (Ziele wie Instrumente) zwangen, was wiederum zu strukturellen Nachteilen sozialdemokratischer Parteien sowohl auf dem Wählermarkt als auch im Diskurs der politischen Ideen und Programme zu führen schien. Zudem schien die Sozialdemokratie – so wurde von Wissenschaft und Publizistik immer häufiger angeführt – in den 1980er Jahren ihre historische Aufgabe, nämlich den Kapitalismus zu zivilisieren und soziale Bürgerrechte und gerechte Teilhabe zu institutionalisieren, im Verlauf des 20. Jahrhunderts endgültig erfüllt und sich durch ihre Erfolge selbst überflüssig gemacht zu haben. Diese Einschätzung eines historisch zwingenden und unvermeidlichen Abstiegs der Soziademokratie mündete 1983 in Ralf Dahrendorfs bekannter und immer wieder zitierter Formel vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“128. Diese Konstrukte und Hypothesen zur Krise der Sozialdemokratie unterschätzten jedoch die Wandlungsfähigkeit sozialdemokratischer Parteien. Denn die Sozialdemokratie ist 124
W. Merkel 2000a, 2000b: T. Meyer 1998, 1999a W. Merkel 2000c. Der Begriff ‚Revisionismus’ hat in der sozialdemokratischen Ideengeschichte eine spezifische Tradition, weil er für die – mehrmals vollzogene – kritische Überprüfung und Neubewertung bis dahin feststehender Glaubensgewissheiten und ideologischer Annahmen steht. Aus diesem Grund beschreibt die Überschrift ‚neuer Revisionismus’ die 1990er Jahre Debatten auch adäquater als andere Titulierungen wie z. B. „Modernisierungsdebatte“ oder „Dritte Weg-Debatte“, die sehr stark auf die britische Politik- und Parteimodernisierung der Labour Party fokussiert. Für frühere sozialdemokratische Revisionismen vgl. u. a. D. Sassoon 1996; T. Meyer 1977 126 Neoliberalismus ist als Klassifizierungsbegriff natürlich sehr schwach: Er ist ungenau und vage, meist assoziativ, ein politisch viel, aber sehr unterschiedlich verwendeter Kampfbegriff sowie eine positive wie negative Projektionsfläche. Andererseits ist dieser Begriff vonnöten, um das makro-ökonomische und kulturelle Paradigma zu beschreiben, das seit Ende der 1970er Jahre weite Bereiche der Politik dominiert. Gerade in seiner Unschärfe ist der Begriff daher hilfreich, ein global sehr heterogenes Programm und eine teils widersprüchliche Ideologie zu erfassen. 127 A. Gamble/ T. Wright 1999: 1 128 R. Dahrendorf, Ralf 1983: 17 125
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
keine fixierte Doktrin, kein festgeschriebenes Programm oder unveränderlicher Lehrsatz, sondern ein politisch und ideengeschichtlich kontinuierlicher Versuch, „Mehrheiten für Reformen ökonomischer und sozialer Institutionen zu erreichen und zu erhalten, um Ungerechtigkeit zu bekämpfen und Ungleichheit zu reduzieren“129. Aus diesem Grund muss die Geschichte der Sozialdemokratie als ein Prozess kontinuierliche Anpassungen an veränderte Rahmenbedingungen gelesen werden, und für sozialdemokratische Parteien ist in ihrer Programmgeschichte eine Überprüfung und Veränderung der politischen Strategie und notfalls auch der Ziele nichts Neues130. Der neue Revisionismusstreit der 1990er Jahre wurde unter dem Leitbegriff ‚Dritter Weg’ geführt. Die ‚Dritte Weg’-Debatte wurde zwar maßgeblich von dem britischen Soziologen Anthony Giddens131 angestoßen, seine – auf ganz Europa ausstrahlende – politische und diskursive Wirkung entfaltete der ‚Dritte Weg’ jedoch vor allem dadurch, dass seine Grundideen in die neue Programmatik der britischen Labour Party einflossen und der Begriff selbst kommunikativer Bestandteil von Tony Blairs Partei- und Politikmodernisierung wurde. Der ‚Dritte Weg’ stellte den Versuch dar, sowohl die allzu statischen Ideen und Instrumente der klassischen Sozialdemokratie der nationalstaatlichen Epoche als auch die des marktfundamentalistischen Neoliberalismus der globalen Ära zu überwinden und so die sozialdemokratischen Grundwerte an die neuen ‚Zeiten’ intellektuell offensiv und gestaltungspolitisch anzupassen. Auch wenn schon vorher die Frage vielfältig diskutiert wurde, wie die Sozialdemokratie angesichts neuer Herausforderungen das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und Marktwirtschaft, Marktregulierung und Marktfreiheit oder von Individuum und Solidarität neu austarieren solle, und einige sozialdemokratische Regierungen dies auch pragmatisch auszugestalten versuchten, avancierte Ende der 1990er Jahren der ‚Dritte Weg’ für Unterstützer wie für Kritiker zu dem zentralen Bezugspunkt der programmatischen Diskussion. Durch den überwältigen Wahlerfolg von New Labour 1997 wurde die Debatte um einen neuen ‚Dritten Weg’ der Sozialdemokratie nochmals beschleunigt, wobei unter diesem Schlagwort neben politisch-ideologischen Begrifflichkeiten und konkret-pragmatischen PolicyOrientierungen nun auch moderne Wahlkampf- und Kommunikationsstrategien, eine personenbezogene professionelle Politikinszenierung und die organisatorische Modernisierung sozialdemokratischer Parteien diskutiert wurden. Der ‚Dritte Weg’ wurde bald zu einem allumfassenden und meist auch zu einem – hinsichtlich der unterschiedlichen Politikbereiche – undifferenzierten Synonym für ‚Modernisierung’ der Sozialdemokratie. Der Begriff ‚Dritter Weg’ verschwand zwar aus der politischen und wissenschaftlichen Debatte schnell wieder und wird heute sogar von manchem seiner früheren Befürworter mit einem gewissen ‚Gefühl der Peinlichkeit’132 betrachtet, doch die im ‚Dritten Weg’-Diskurs aufgeworfenen programmatischen Fragen und die meisten Policy-Antworten bestimmen im Kern bis weit in die 2000er Jahre den diskursiven Rahmen sozialdemokratischer Erneuerung und Reform, in dem sich mehr oder weniger alle sozialdemokratischen Parteien wiederfinden. Der ‚Dritte Weg’ stellte ein Analyse-, Begriffs- und Ideensystem zur Verfügung, das eine ‚neue’ europäische Sozialdemokratie zum Ausgang des 20.Jahrhunderts in der einen oder 129
A. Gamble/ T. Wright 1999: 1 (Übersetzung durch den Autor) Vgl. W. Merkel 1996, D. Sassoon 1996 131 A. Giddens 1999, 2000, 2002b. Vgl. auch Kap. 3.2.2: ‚Anthony Giddens’ Idee und Konzept des „Dritten Weges“’. 132 J. Andersen 2006: 432 130
3.2 Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse
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anderen Hinsicht politisch, symbolisch oder diskursiv prägte; sowohl sozialdemokratische Reformdiskurse der 1990er und 2000er Jahre als auch die gegenwärtige, nächste Phase der programmatischen Selbstverortung nach der globalen Finanzkrise ist ohne die analytische Rückbeziehung auf den ‚Dritten Weg’ nicht möglich. Wenn man die programmatische Selbstfindung der Sozialdemokratie in historische Zyklen einteilt, dann ist mit aller Wahrscheinlichkeit der Zyklus des ‚Dritten Weg’Revisionismus mitsamt all seinen Teil- und Gegendiskursen, Politikveränderungen, Rhetoriken, Persönlichkeiten und organisatorischen Parteimodernisierungen spätestens mit der globalen Finanz- und Wirtschafskrise endgültig abgeschlossen und die Sozialdemokratie muss nun in einen neuen Zyklus der ideologischen Neudefinitionen eintreten. Gleichwohl sind die Möglichkeiten und Beschränkungen der neuen ideologischen Selbstfindung durch die vorherige determiniert; insbesondere durch die fast vollständige ideologischprogrammatische Entkernung der Sozialdemokratie im Zuge der ‚Dritten Weg’Modernisierung. Die europäische Sozialdemokratie der späten 1990er und der ersten Hälfte der 2000er Jahre war – entweder in positiver Identifikation oder negativer Abgrenzung – vom ‚Dritten Weg’- Diskurs bestimmt, und ein Verständnis der gegenwärtigen politischen und diskursiven Schwäche ist ohne eine kritische Bezugnahme auf die sozialdemokratische Modernisierungseuphorie eines ‚Endes aller Ideologien’ nicht möglich133. Zudem strukturierte der ‚Dritter Weg’ wie kein anderer Begriff die parteienübergreifende Debatte der programmatischen Erneuerung der letzten 20 Jahre134. Dies ist allerdings gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Herausforderung ein zentrales Problem, denn die ideologische Neubestimmung war häufig hohl und bot nur sehr bedingt normative Orientierungspunkte. „Es ist faszinierend, wie der ‚Dritte Weg’ jemals als ein neues Phänomen verstanden werden konnte“. Ein dritter Weg stellte immer die zentrale raison d’être sozialdemokratischer Parteien dar135. In der heutigen Rückschau wirken manche euphorische Totalerklärungen einer Renaissance einer modernisierten europäischen Sozialdemokratie ebenso vereinfachend, wie Anfang der 1980er Jahre die Krisenbeschreibungen ihres Endes. Ebenso so wenig wie die ‚traditionelle’ Sozialdemokratie als politische Idee in den neoliberalen Jahrzehnten der 1980er und 1990er Jahre völlig verschwunden war, so wenig wurde die ‚erneuerte’ Sozialdemokratie eines ‚Dritten Weges’ – wie sich in 2000er Jahre zeigen sollte – zu einem neuen einheitlichen, europaweiten und hegemonialen politischen Projekt. Der Revisionismus (und die Zwänge und Notwendigkeiten zu einem programmatischen Revisionismus) sozialdemokratischer Politik war seit den 1990er Jahren Gegenstand zahlreicher politischer Diskussionen und wissenschaftlicher Abhandlungen, Untersuchungen und Reflexionen. Die Schwerpunkte waren dabei die Analyse und der Vergleich von Policy-Reformen136, die von sozialdemokratischen Regierungen durchgeführt wurden, die theoretische Diskussion der ideologischen Neubestimmung137, die Parteimodernisierung138
133
Vgl. als kritische Reflexion A. von Lucke 2003 Für eine umfassende, nationenübergreifende und auch heute noch sehr aufschlussreiche Diskussion siehe: R. Cuperus/ J. Kandel 1998 135 J. Hinnfors 2006: 108 136 Vgl. u. a. W. Merkel/ C. Egle/ C. Henkes/ T. Ostheim/ A. Petring 2006; J. Lewis/ R. Surender 2004; W. Schroeder 2001 137 Vgl. u. a. A. Giddens 2000; G. Hirscher/ G. Sturm 2001; A. Callinicos 2001 138 Vgl. u. a. M. Machning/ H.P. Bartels 2001; U. Jun 2004 134
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
oder die jeweils unterschiedlichen Macht- und Umsetzungsressourcen139 sozialdemokratischer Parteien. In diesem Kapitel kann es weder darum gehen, die gesamte politische und wissenschaftliche Revisionismusdiskussion der 1990er Jahre detailliert nachzuzeichnen, noch die unterschiedlichen Programmatiken und Regierungspolitiken sozialdemokratischer Parteien und Regierungen umfassend zu analysieren. Vielmehr soll die im ‚Dritten Weg’ vollzogene programmatische Neubestimmung der Sozialdemokratie auf ihren für den öffentlichen Reformdiskurs relevanten normativen Kern untersucht werden, der die vielfältigen sozialdemokratischen Reformpolitiken ideologisch untermauert, als angemessen, kohärent und zielgerichtet zusammenhält und als klar erkennbare sozialdemokratische Politikalternative von der politischen Konkurrenz abgrenzt. Auch wenn sich in der politischen Praxis wie auch in der Politikwissenschaft die Ansicht durchgesetzt hatte, dass es „mannigfaltige Dritte Wege“140 gab und somit jedes Land, jede sozialdemokratische Partei ihren eigenen ‚Dritten Weg’ finden musste, sollen hier grob die länderübergreifenden Leitlinien einer sozialdemokratischen Programmatik nachgezeichnet werden, die den öffentlichen Diskurs sozialdemokratischer Regierungen wie Parteien notwendig normativ strukturierten und von neoliberalen und konservativen Reformdiskursen in seinen Inhalten und in seiner kommunikativen Argumentation abgrenzten. Gründeten sich sozialdemokratische Reform-Policy-Diskurse normativ wie kommunikativ auf einer gemeinsamen kohärenten politischen Philosophie oder gar eigenständigen Ideologie, auf einem linken Politikmodell? Welche Erneuerungen und Transformationen mussten einerseits auf der inhaltlich-programmatischen Ebene vollzogen werden, damit ein öffentlicher Reformdiskurs ein (wahrscheinlich unvermeidliches) Spannungsverhältnis zwischen Grundwerten und Politikzwängen ohne Widersprüche kommunikativ überbrücken bzw. integrieren konnte? Wie weit durfte andererseits eine theoretische und programmatische Neubestimmung gehen, ohne dass der von sozialdemokratischen Regierungen und Parteien geführte Reformdiskurs in einer öffentlichen Arena seine erkennbare sozialdemokratische Ausprägung oder gar Identität verlor? Der programmatische Revisionismus des ‚Dritten Weges’ stellte – zumindest in seinen zentralen Teildiskursen wie aktivierende Arbeitsmarktpolitik und Chancengerechtigkeit oder Bildungspolitik und Inklusion – eine argumentative Ressource für gesamtgesellschaftlich ausgerichtete sozialdemokratische Regierungsdiskurse dar, wurde selbst „am Ende des 20. Jahrhunderts (...) zum wichtigsten politischen Reformdiskurs in der europäischen Parteienlandschaft“141 und fungierte als ein inhaltlich anspruchsvolles parteipolitisches Angebot im Feld der Parteienkonkurrenz.
3.2.1
Gründe und Motivationen der programmatischen Revision: Veränderte Rahmenbedingungen für sozialdemokratische Politik
Der ‚Dritte Weg’ war die diskursive Verdichtung einer Reihe von sich komplementär bedingender Problemwahrnehmungen, neuer Themen und Fragestellungen sowie partei- und wahlstrategischer Modernisierungskonzepte. Das ‚klassische’ sozialdemokratische Modell, das sich – wie von Anthony Crosland in den 1950er Jahren paradigmatisch beschrieben – 139 140 141
Vgl. u. a. W. Merkel1993; H. Kitschelt 1994 R. Cuperus/ K. Duffek/ J. Kandel 2001: 245f. W. Merkel 2000c
3.2 Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse
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durch liberale Demokratie, eine gemischte Wirtschaftverfassung, einen ausgebauten und umfassenden Wohlfahrtsstaat, eine keynesianistische Wirtschafts- und Finanzpolitik und nicht zuletzt durch den Glauben an weitgehende gesellschaftliche und ökonomische Gleichheit kennzeichnete142, erwies sich hinsichtlich neuartiger polit-ökonomischer Herausforderungen steuerungspolitisch als nicht mehr brauchbar und hinsichtlich der Erwartungen einer individualisierten und lebensweltlich gewandelten Gesellschaft auch als nicht mehr zeitgemäß143. Jenseits aller Unterschiede in den Institutionen, Parteisystemen und politischen Kulturen offerierte der ‚Dritte Weg’ für alle sozialdemokratischen Parteien vor allem ein neues und zuweilen auch Traditionen herausforderndes politisches und analytisches Vokabular, durch das sowohl die Grundwerte als auch die Wege politischer Gestaltung sozialdemokratischer Regierungspolitik diskutiert und in eine spannungsreiche Beziehung gesetzt werden konnten. Anlass und Ausgangspunkt des Diskurses über einen ‚Dritten Weg’ war die – weitgehend unbestrittene – Feststellung zweier zusammenhängender Tatsachen, auf die sozialdemokratische Parteien einerseits neue Policy-Antworten finden, auf die sie andererseits in ihrem öffentlichen Diskurses normativ wie kommunikativ reagieren mussten: erstens die ökonomische Globalisierung und zweitens die sozioökonomischen, soziokulturellen und elektoralen Veränderungen einer individualistischen und pluralistischen Gesellschaft.
Wirtschaftspolitische Handlungszwänge der Globalisierung Zentraler Ausgangspunkt der sozialdemokratischen ‚Dritten Weg’-Diskussion waren die historisch neuartigen und in den 1980er Jahren politisch immer deutlicher werdenden Herausforderungen, die von der Globalisierung bzw. Transnationalisierung der Finanz-, Kapital- und Warenmärkte ausgingen und die eine wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten in bis dahin ungekannter Weise einschränkten. Obgleich das Ausmaß der tatsächlichen politischen Unveränderbarkeit der Weltmarktbedingungen seinerseits bereits heftig diskutierter Bestandteil des Revisionismus-Diskurses war, teilten doch alle Teilnehmer der Debatte die Einschätzung, dass von der zunehmenden Globalisierung oder Denationalisierung der Märkte stark restringierende Wirkungen auf die traditionellen Optionen sozialdemokratischer Politik ausgingen144. Vor allem die von den meisten sozialdemokratischen Regierungen seit dem Krieg bevorzugten Strategien einer keynesianistischen Nachfragesteuerung oder makroökonomischen Koordinierung145 ließen sich von den Nationalstaaten unter dem Druck eines transnational frei beweglichen Finanzkapitals kaum noch verfolgen, da mit dem ‚Verlust der Zinssouveränität’ der nationalstaatlichen keynesianisti142
A. Crosland 1956 W. Merkel 1993; T. Meyer 2004c; F.F. Piven 1991 144 E. Huber/ J.D. Stephans 1998 145 „Keynesianistische Nachfragepolitik“ wird hier verallgemeinernd prototypisch für sozialdemokratische Wirtschaftspolitik der 1960er und 1970er verwendet. Gleichwohl gab es unter sozialdemokratischen Regierungen in den verschiedenen Ländern erhebliche Unterschiede in Art und Ausmaß makroökonomisch-keynesianistischer Steuerung. In Schweden wurde die klassische antizyklische Nachfragepolitik unter Einbindung zentralisierter Gewerkschaften erfolgreich durch Instrumente der Lohnpolitik ergänzt, während eine solche Politik in Großbritannien aufgrund fragmentierter industrieller Beziehungen begrenzt war. In Deutschland wiederum war eine „Globalsteuerung“ kaum möglich, weil die unabhängige Bundesbank einseitig eine restriktive Geldpolitik verfolgte. 143
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
schen Regulationspolitik ihr wesentliches Instrument aus der Hand geschlagen war146. Im Krisenjahrzehnt der späten 1970er und frühen 1980er Jahre zeigte die Stagflation, also steigende Inflation gepaart mit rückläufiger Konjunktur, hoher Arbeitslosigkeit und hohen Haushaltsdefiziten147, die Grenzen allgemeiner Nachfragepolitik auf und zwang auch sozialdemokratische Regierungen über die Hinwendung zur Angebotspolitik zu einem wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel. Mit den stark eingeschränkten Möglichkeiten einer nationalen keynesianistischen Wirtschaftspolitik und den damit einhergehenden Begrenzungen umverteilender Steuer- und Lohnpolitik geriet gleichsam ein weiteres zentrales, mit der makroökonomischen Steuerung komplementär verzahntes Feld sozialdemokratischer Politik unter Druck: der redistributive und regulative Wohlfahrtsstaat. Der Wohlfahrtsstaat institutionalisierte durch staatliche Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen und deren Dekommodifizierung die grundlegende sozialdemokratische Vorstellung vom Schutz des Individuums vor den ungezügelten Kräften des Marktes und garantierte auf diese Weise das gleiche Recht auf persönliche Autonomie und Entfaltung, unabhängig von Einkommen und Status148. Beides, ausgebauter Wohlfahrtsstaat wie keynesianistische Wirtschaftspolitik, stand nach dem Zweiten Weltkrieg für die sozialdemokratische Variante des Kapitalismus und somit für die grundsätzliche sozialdemokratische Akzeptanz kapitalistischer Marktmechanismen, deren inhärente Funktionsdefizite wie soziale Unsicherheit infolge zyklischer Schwankungen, Grundrechte verletzende Arbeitsbedingungen und Abhängigkeitsverhältnisse und große Ungleichverteilung von Lebenschancen und -gütern durch eben diese sozial- und wirtschaftspolitische Politikinstrumente verhindert oder zumindest ausgeglichen werden sollten, ohne dabei auf die ökonomische und gesamtgesellschaftliche Leistungsfähigkeit und allokative Rationalität der Märkte verzichten zu müssen.
Sozialpolitische Handlungszwänge im Zuge der Veränderungen von Arbeits- und Lebenswelten Durch die globale Integration der Produkt- und Gütermärkte sind die Unternehmen in den entwickelten Marktwirtschaften einem verstärkten internationalen Wettbewerb ausgesetzt, der sie zwingt, ihre Produktivität durch weitgehende Automatisierung zu erhöhen sowie durch Forschung und Entwicklung oder Design die technische und ästhetische Qualität ihrer Produkte zu steigern. Diese Entwicklung von einer personalintensiven Massen- zu einer wissens- und innovationsbasierten Qualitätsproduktion hat sich durch den enormen Bedeutungszuwachs neuer Technologien, insbesondere Informations- und Telekommunikationstechnologien sowie Biotechnologien zusätzlich beschleunigt. Seit den 1970er Jahren vollzieht sich ein, bis heute nicht abgeschlossener Übergang von einer fordistischen Phase des Kapitalismus, die durch Massenproduktion, starke Gewerkschaften und (ein zumeist männliches) Normalarbeitsverhältnis geprägt war, zu einer postfordistischen Phase, die sich eher durch spezialisierte und flexibilisierte Produktionsnormen und Arbeitsformen kennzeichnet. Der mit dieser Entwicklung einher gehende Deindustrialisierungsprozess sowie die Ausdehnung der Dienstleistungsbeschäftigung führt wiederum zu einem Struk146 147 148
F.W. Scharpf 1987 Vgl. u. a. M. Olson 1982; F:W: Scharpf 2000b G. Esping-Andersen 1990; T. Meyer 2005b
3.2 Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse
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turwandel der Arbeitsmärkte und der Erwerbsarbeit, zu neuen beruflichen Anforderungsund Qualifikationsprofilen, neuen Arbeits- und Lebensweisen und zu einer neuen Sozialökonomie samt neuartiger sozialer Risiken (mit jeweils weit reichenden Konsequenzen für die Grundlagen und Ausrichtung der Wohlfahrtssysteme149) als auch für die industriellen Beziehungen und das Verhältnis von Kapital und Arbeit in allgemeinen sowie klassenbasierten kollektiven Handelns und die Rolle der Gewerkschaften im speziellen150. Die klassischen sozialdemokratischen Politikziele der umfassenden sozialen Sicherheit, der weitgehenden gesellschaftlichen und ökonomischenr Gleichheit und der Vollbeschäftigung geraten in dieser neuen wissensbasierten Dienstleistungsökonomie in ein Spannungsfeld von ‚trade-offs’, in dem sich die unterschiedlichen Ziele in immer geringerem Maße miteinander vereinbaren lassen oder sich das eine Ziel gar nur auf Kosten des anderen erreichen lässt: Da Industriearbeit, die nur niedrige Qualifikation erfordert, leicht in Billiglohnländern geleistet werden kann, vollzieht sich einerseits eine erhebliche Umverteilung von Chancen und Risiken auf dem Arbeitsmarkt151, wobei insbesondere niedrig Qualifizierte und Männer – im Gegensatz zu der fordistischen Phase des ‚goldenen Zeitalters’ – zu den Verlierern zählen. Auf diese Marginalisierungstendenzen gering Qualifizierter sind die Sozialsysteme, die in den Nachkriegsjahrzehnten auf- und ausgebaut wurden, in ihrer Leistungs- und Funktionsweise schlecht oder gar nicht eingestellt. Die Erschließung neuer Beschäftigungspotentiale im Dienstleistungssektor scheint andererseits nur unter den Bedingungen einer deutlich höheren Lohnspreizung und der damit einhergehenden Akzeptanz eines ausgeprägten Niedriglohnsektors erreichbar zu sein. So erweist sich beispielsweise eine ‚solidarische Lohnpolitik’152 vielfach als Hemmnis für die Expansion des Dienstleistungssektors (vor allem des personenbezogenen mit naturgemäß niedriger Produktivität) und kann nur um den Preis hoher struktureller Arbeitslosigkeit aufrechterhalten werden153. Eine aus sozialdemokratischer Sicht wünschenswerte und angestrebte Regulierung von Lohnstrukturen wird zunehmend durch vom Markt produzierte Lohnunterschiede ersetzt. Seit den 1970er Jahren wächst in allen OECD-Staaten die Ungleichheit der Einkommen: Der Gini-Koeffizient für Hauseinkommen vor Steuern und Abgaben ist um 10 bis 25% gestiegen154. Diese sozioökonomischen Veränderungen sind wiederum in einen soziokulturellen Veränderungsprozess eingebettet, der sich in neuen Werten und Einstellungen, neuen Konsummustern, einer individuelleren Lebensweise und nicht zuletzt auch in einer neuen Frauenrolle und einer höheren Frauenerwerbstätigkeit zum Ausdruck bringt. Die klassische 149
F.X. Kaufmann 1997 J. Steinbicker 2001 151 J. Alber 2002 152 In der „solidarischen Lohnpolitik“ ging es erstens um die Durchsetzung "gerechter Löhne" entsprechend dem Grundsatz, dass unabhängig von der wirtschaftlichen Lage oder der jeweils spezifischen Machtkonstellationen im einzelnen Betrieb für gleichwertige Arbeit auch ein gleicher Lohn bezahlt werden soll, und zweitens um eine "ausgeglichene Lohnstruktur", in der Lohndifferenzen bei unterschiedlichen Arbeitsanforderungen zwar grundsätzlich akzeptiert sind, die einzelnen Lohngruppen jedoch nicht zu weit auseinander driften sollen. Das Konzept der „solidarischen Lohnpolitik“ (Rehn-Meidner-Modell) war ursprünglich zentraler Eckpfeiler des schwedischen sozialdemokratischen Modells gesamtwirtschaftlicher Koordinierung, aber auch in Ländern mit vorwiegend sektoralen Lohnverhandlungen fanden sich analoge Formen einer Lohnkoordinierung, die sich entweder über lohnpolitische Empfehlungen der nationalen Dachverbände der Gewerkschaften oder durch die Lohnführerschaft eines herausragenden Sektors (z. B. in Deutschland die IG Metall) vollzogen. Vgl. R. Meidner/ A. Hedborg 1984; F. Traxler 2000 153 T. Iversen/ A. Wren 1998: 512 154 G. Esping-Andersen 2002 150
66
3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
Nachkriegfamilie – das ‚male breadwinner-Modell’ – wird zunehmend von einer Vielzahl neuartiger Haushaltsformen verdrängt. Die Zahl von Einpersonen- und Einelternhaushalten, aber auch von Doppelverdienerhaushalten ohne Kinder, nimmt stetig zu. Während diese Entwicklung zweifelsfrei für viele Menschen neue Lebenschancen mit sich bringt, erzeugt die Vermehrung informeller Partnerschaften, atypischer Haushalte und stärker ‚bedingter’ Partnerschaften sowie steigende Trennungs- und Scheidungsraten auch mehr Instabilität, Fragilität und neue soziale Verletzlichkeiten. Die gewachsene Instabilität von Familien und Berufskarrieren trägt insgesamt dazu bei, dass (Erwerbs-)Biografien heute weniger linear verlaufen als früher und viel komplexere Haushaltsmuster entstehen155. Und schließlich geraten die Wohlfahrtssysteme in allen entwickelten Industriestaaten unter den Druck demographischer Veränderungen (Geburtenrückgang und demographisches Altern), die das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern, vor allem im Bereich der Alterssicherung, dramatisch verschieben. Die traditionellen Wohlfahrtsmodelle, die die Kosten der Alterssicherung weitgehend kollektiviert und gleichzeitig die Kosten für die Nachwuchssicherung individualisiert haben, geraten angesichts der zunehmenden Pluralisierung der privaten Lebensformen und der nachlassenden gesellschaftlichen Zentralität und Verbindlichkeit der Ehe als kinderorientierte Lebensform in eine funktionale wie normative Schieflage156.
Elektorale Handlungszwänge Durch den gesellschaftlichen Wertewandel, durch neue Arbeits- und Konsummuster und durch neue Formen der ökonomisch-kulturellen Interdependenzen verändern sich nicht nur die Rahmenbedingungen für traditionell sozialdemokratische Politikinstrumente, sondern auch die elektorale Ausgangssituation für sozialdemokratische Parteien. Der politische wie quantitative Bedeutungsrückgang der (gewerkschaftlich organisierten) Industriearbeiterschaft führt in allen westlichen Gesellschaften seit den frühen 1970er Jahren zu einer kontinuierlichen Erosion der traditionellen Sozialmilieus, die in ihrer ganzen Alltagskultur mit der Sozialdemokratie eng verbunden waren und den sicheren Kern ihrer Stammwählerschaft ausmachten. Der Arbeiteranteil am sozialdemokratischen Elektorat ging – ebenso wie in der Gesamtbevölkerung – deutlich zurück. Der wirtschaftliche Strukturwandel der letzten Dekaden brachte nicht nur einen massiven Rückgang der industriellen und einen Anstieg der Dienstleistungs-Beschäftigung, sondern auch insgesamt eine Heterogenisierung der Arbeitswelt, eine Zersplitterung ökonomischer Interessen und eine Auffächerung der Gesellschaft in relativ kleine soziale Milieus mit eher fragmentierten Werteorientierungen. Politische Einstellungen bestimmen sich heute nicht mehr primär aus einer ‚sozialen Klassenlage’ (‚Class Voting’)157, sondern ergeben sich vielfach aus persönlicher Betroffenheit. In dem Maße, in dem Parteien ihre Sozialisations- und ideologische Orientierungsfunktion verlieren, flexibilisiert sich das Wahlverhalten und verändert sich die Konfliktstruktur im Parteienwettbewerb. Da zudem die neuen und immer dominanter werdenden Dienstleis155
G. Esping-Andersen 2003; J. Pontussen, Jonas 1995; U. Beck 1994 F.X. Kaufmann 1997 157 Auch wenn Ausmaß und Veränderungsdynamik des Zusammenhangs zwischen Sozialstruktur und Parteipräferenz nationale Eigenheiten der Sozialstruktur oder des politischen Parteienwettbewerbs widerspiegeln, lässt sich für alle Länder der einheitliche Trend eines Rückgangs des ‚class voting’ feststellen. Vgl. P. Nieuwbeerta 1995 156
3.2 Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse
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tungsberufe, wegen höchst unterschiedlicher Beschäftigungsformen, Qualifikationen und Einkommen kein einheitliches ‚Klassenbewusstsein’ entwickeln und schwer parteipolitisch bzw. gewerkschaftlich organisierbar sind (‚dealignment’) und zudem kollektiv bindende Normen und politisch-visionäre Gestaltungsziele in einer hochdynamischen ‚Multioptionsgesellschaft’158 grundsätzlich an Prägekraft verlieren, werden im politischen Wettbewerbsraum ‚alte cleavages’, die aus materiellen Interessengegensätzen zwischen Arbeitern und Unternehmern hervorgehen von ‚neuen cleavages’ überlagert, die infolge der Verbreitung von postmaterialistischen Wertorientierungen aufklaffen159. Eine sozialdemokratische Mehrheitsfähigkeit ist also vor dem Hintergrund dieser sozialkulturellen Veränderungen prekär und sozialdemokratische Parteien scheinen – zumindest aus Sicht der ‚rational choice’-Theorien160 – nur überleben zu können, wenn sie sich für neue Wählerschichten öffnen, sich an den Präferenzen des neuen Median-Wählers orientieren und sich dabei ihrer ursprünglichen Parteiideologie als Arbeiterpartei entledigen. Folgt man diesem Ansatz eines räumlichen Modells der Parteienkonkurrenz, bestünde die Optimierung der Wahlchancen darin, in einem multidimensionalen Policy-Raum eine möglichst optimale Position in der Nähe der meisten Wähler zu besetzen. Auf der Grundlage veränderter gesellschaftlicher Konflikt- und Interessenlagen ist die Öffnung sozialdemokratischer Parteien zu neuen Themen und unterschiedlichen sozialen Zielgruppen zwar notwendig, jedoch gleichzeitig sehr voraussetzungsvoll und nicht risikolos, da in diesem sozio-ökonomischen Transformationsprozess ‚alte’ Konfliktkonstellationen und traditionelle Kernwählerschaften zwar abnehmen aber nicht völlig verschwinden. Herbert Kitschelt zufolge ist der elektorale Erfolg sozialdemokratischer Parteien davon abhängig, wie und inwieweit sie die Verschiebung der Hauptkonfliktlinien programmatisch verarbeiten161: Bewegen sie sich auf der alten Konfliktlinie von Wohlfahrtsstaat, Distribution oder ökonomischem Wachstum stärker in Richtung moderat marktlicher Lösungsansätze und auf der neuen Konfliktlinie von Umwelt, Feminismus, Selbstverwirklichung oder Kriminalität stärker in Richtung postmaterialistischer Orientierungen, dann laufen sie Gefahr, ihre Kernklientel zu verlieren, die weiterhin an ‚alten’ politischen Verteilungsfragen festhält und sich im kulturellen Modernisierungsprozess eher auf rechts-autoritäre Positionen zubewegt. Bleiben sozialdemokratische Parteien stattdessen auf der alten Konfliktlinie bei marktfernen und umverteilungsorientierten Policy-Lösungen und auf der neuen Konfliktlinie bei eher autoritären Positionen, können sie die neuen Wählerschichten nicht erreichen und müssen befürchten, dass neben ihnen eine linksalternative Partei entsteht. Bei einer zentristischen Strategie, die darauf abzielt, Wähler der politischen Mitte anzusprechen, müssen Irritationen der Parteimitglieder und etwaige Verluste der Stammwählerschaft dadurch kompensiert werden, dass die Wähler der politischen Mitte auch tatsächlich auf diese Strategie anspringen. Geht diese Strategie nämlich nicht auf, verliert die Partei nicht nur Stimmen, sondern auch ihre spezifische und erkennbare Position im Feld der Parteienkonkurrenz sowie politisches Gewicht in möglichen Koalitionsverhandlungen. Wahlstrategieänderungen sozialdemokratischer Parteien können im Zweifel sehr kostenträchtig sein, sind immer höchst voraussetzungsvoll und von den speziellen Bedingungen nationaler Kontexte abhängig (Wahlsystem, parteiorganisatorische Voraussetzungen, Kons158
P. Gross 1994 R. Inglehart 1984 160 Vgl. M. Olson 2004; A. Downs 1957 161 H. Kitschelt 1994, 1999 159
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
tellationen des nationalen Parteienwettbewerbs, Motivation für einen Strategiewandel aufgrund langer Oppositionszeit usw.)162. Zudem kann ein Policy-Strategiewechsel nur gelingen, wenn er durch einen Modernisierungsdiskurs flankiert wird, in dem die Kommunikation nach außen (auf neue Wählergruppen) und nach innen (um die Mitglieder für den Wechsel zu motivieren) aufeinander abgestimmt ist und nicht zu normativen Widersprüchen führt. Kitschelts Ansatz ist hilfreich zu erklären, welche prekäre ‚trade-off’-Situation sich aus der programmatischen Neuorientierung und deren diskursiven Kommunikation ergibt. Gleichwohl muss die Klassenabhängigkeit sozialdemokratischer Parteien sehr differenziert betrachtet werden. Die Sozialdemokratie stützte sich von jeher auf unterschiedliche Milieus, und auch „die Mentalitäten der Arbeiter, die ihre Mitglieder und Wähler waren, sind weit differenzierter gewesen als es die vereinheitlichende Kategorie ‚Arbeiter’ sah“163. Der immer schon komplexe Zusammenhang zwischen Beschäftigungsstruktur und Parteienpräferenz hat sich nicht aufgelöst, sondern im Zuge des Ausbaus und der Stabilisierung des Wohlfahrtsstaats in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg verlagert und ist insgesamt heterogener geworden164. Gøsta Esping-Andersens prominenter Ansatz der ‚Klassenallianzen’ erklärt sozialdemokratische Wahl- und Politikerfolge dementsprechend aus der Fähigkeit, die Arbeiterbewegung zusammenzuhalten und zugleich Allianzen mit den Mittelschichten zu schließen165. Diese historische Fähigkeit zu Koalitionen prägt den Charakter, die institutionelle Architektur und die Legitimation des Wohlfahrtsstaats und – zeitlich versetzt – dominante politischkulturelle Einstellungen und Parteienpräferenzen166. So begründet Esping-Andersen die Stärke sozialdemokratischer Parteien in Skandinavien damit, dass sie fähig waren, einen Wohlfahrtsstaat mit Leistungen gleichermaßen für die Mittelklassen als auch für die Arbeiterklasse zu schaffen und sich über diese spezielle Art der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung weite politische Unterstützung zu sichern. Aus der Perspektive des Klassenallianzen-Ansatzes hängt die Bewahrung der politischen Unterstützung von der fortwährenden Fähigkeit sozialdemokratischer Parteien ab, Wohlfahrtsleistungen sowohl für die Mittelklassen als auch für die Arbeiter bereitzustellen. So gesehen stellt der sozialpolitische Rückbau eine ernste Gefahr für die Legitimität des Wohlfahrtsstaats und die Sozialdemokratie dar, wenn er nämlich seine Attraktivität für die steuerlich hoch belasteten Mittelklassen verringert, die sich stattdessen fortan auf dem Markt nach Einkommenssicherung und soziale Dienstleistungen umsehen. Ein sozialdemokratischer Diskurs, der wohlfahrtsstaatlichen Rückbau legitimiert, muss folglich divergierende ökonomische Interessen durch die Identifikation verbindender Wertideen (und auch Interessen) kommunikativ immer wieder neu zusammenfügen. Dabei müssen die politischen Reformziele einerseits aus konsistent sozialdemokratischen Werten hergeleitet werden (Tradition), und diese Werte müssen andererseits – vor dem Hintergrund zunehmend fragmentierter gesellschaftlicher Wertorientierungen – soziokulturell entgrenzt werden (Modernisierung).
162
H. Kitschelt 2001 T. Meyer 1998: 90f. 164 O. Knutsen 2005 165 G. Esping-Andersens 1990, 1998 166 Vgl. hierzu auch B. Rothstein 1998 163
3.2 Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse 3.2.2
69
Anthony Giddens’ Idee und Konzept des ‚Dritten Weges’
„Der Dritte Weg“ des britischen Soziologen Anthony Giddens ist eine zentrale und vor allem länderübergreifende Schrift in der Revisionismusdebatte der 1990er Jahre, die mit dem Untertitel „Die Erneuerung der Sozialdemokratie“ den richtungsweisenden Anspruch formuliert, ein neues sozialdemokratisches Projekt zu entwickeln und zu begründen167. Auch wenn die in Giddens’ ‚Drittem Weg’ entwickelten Ideen, Ideale und Konzeptionen vielfältige theoretische und politische Vorläufer hatten und die darin vorgeschlagenen Policy-Ideen in sozialdemokratischer Realpolitik bereits teilweise praktiziert wurden (z. B. Hinwendung zur Angebotspolitik, aktivierende Arbeitsmarktpolitik usw.)168, zeichnet sich sein Text vor allem dadurch aus, dass er zuvor disparate Zustandsanalysen, Wertedebatten und Politikinhalte und -modelle argumentativ schlüssig, prägnant und verdichtet zusammenführt und so für die sozialdemokratische Revisionismusdebatte, die unter dem Schlagwort ‚Dritter Weg’-Diskurs eine breite öffentliche und politische Aufmerksamkeit erfuhr, ein zentrales (auch zuweilen inhaltlich vages) Begriffsvokabular bereitstellt. Giddens gab auf diese Weise eine analytische, normative und politisch-praktische Stoßrichtung vor, die in sozialdemokratischen Parteien trotz aller Unterschiede eine starke Beachtung fand und zum Kristallisationspunkt einer fortschreitenden, programmatisch-politischen Modernisierungsdebatte wurde. Die programmatische Stoßrichtung und die ihr zugrundeliegende Analyse bilden den gemeinsamen argumentativen Rahmen eines europäischen sozialdemokratischen Reformdiskurses, um den sich im weiteren Verlauf die jeweiligen nationalen normativen Positionen (auch in Abgrenzung), Policy-Programme und länderspezifische politische Rhetoriken gruppieren. Im ‚Dritten Weg’ werden erstens die diskursiven Paradigmen eines sozialdemokratischen Politikanspruchs normativ verschoben und diese zweitens in politisch tragfähige und umsetzungsfähige Programme kognitiv eingebettet. Dadurch werden sehr ursprüngliche politische Handlungsmotivationen und Zielorientierungen auch rhetorisch neu konzeptionalisiert, ein neuer offensiver Gestaltungswille artikuliert und sozialdemokratische Argumentationsressourcen vergrößert. Aus diesem Grund werden im folgenden die zentrale Aspekte des ‚Dritten Weges’, die in den sozialdemokratischen Reformdiskursen kognitiv wie normativ aktivierbar waren, schlaglichtartig vorgestellt.
Neue Politik jenseits alter Fundamentalalternativen Die veränderten Strukturen der politischen Ordnung und die sich daraus ergebenden Herausforderungen, die Anthony Giddens unter die Schlagworte ‚Globalisierung, die Veränderungen des persönlichen Lebens und unsere Beziehung zur Natur’169 subsumiert, sind für ihn auch Ressource zur Entwicklung neuer politischer Optionen. Da sich im Zuge dieser Veränderung das Politische verschoben und somit das klassische politische Koordinaten167
A. Giddens 1999 So bezeichnet z. B. Bernhard Weßels den „Dritten Weg“ als „nachholende Programmierung“, die eine Verschiebung auf eine angebotsorientierte Politik – spätestens ab der zweiten Ölpreiskrise 1979 – nun auch programmatisch erfassen sollte. B. Weßels 2000 169 A. Giddens 1999: 80 168
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
system, das sich entlang der Begriffe ‚Links’ und ‚Rechts’ strukturierte, einiges an seiner Bedeutung eingebüßt hat170, muss eine ‚post-pessimistische Sozialdemokratie’171 ebenfalls eine grundlegende Positionsverschiebung unternehmen. Viele Themenstellungen, denen sich die Gesellschaft gegenübersieht, sind nur unzureichend mit traditionellen ‚linken’ oder ‚rechten’ Ansätzen bewältigbar. Sie benötigten Lösungen, die sich sowohl jenseits des klassischen sozialdemokratischen etatistischen Politikansatzes als auch des marktfundamentalistischen Neoliberalismus verorten. Nach Giddens ist die ‚alte’ Sozialdemokratie dadurch gekennzeichnet, dass in ihrer Politik der Staat eine herausragende Rolle einnimmt, indem er primär (oder sogar ausschließlich) für die umfassende Wohlfahrt der Bürgerinnen und Bürger verantwortlich ist. Zudem ist in dem traditionellen sozialdemokratischen Politik- und Gesellschaftsverständnis Gleichheit – auch und gerade verstanden als materielle Gleichheit – ein ‚unumstrittener Referenzpunkt’172, an dem sich alle politischen Gestaltungsinstrumente auszurichten haben: Umverteilung materieller Güter und progressive Steuertarife, Steuerung nationaler Volkswirtschaften und Regulierung der Arbeitsmärkte, Ausbau des Wohlfahrtsstaats und des öffentlichen Sektors173. Diesen ‚alten’ sozialdemokratischen Politikansätzen sind jedoch aufgrund veränderter Bedingungen die Voraussetzungen ihrer Politik abhanden gekommen. Vor allem das Ende des Keynesianismus, welcher für Giddens als Steuerungsinstrument nicht nur wegen der globalen Integration der Märkte ineffizient geworden sei, sondern auch weil, er wesentlich auf einer massenindustriellen Lebens- und Arbeitswelt gründe, die im Zeitalter der reflexiven Modernisierung174 keine lebensweltliche Entsprechung mehr findet, markiert sinnbildlich die dringende Notwendigkeit einer sozialdemokratischen Neuorientierung175. Das neoliberale Gegenmodell hingegen vertraut auf eine ‚überlegene Natur der Märkte’, die man – damit sie ihre Wirkung optimal entfalten – am besten sich selbst überlassen sollte. Staatliche Eingriffe ins Marktgeschehen und der Wohlfahrtsstaat werden daher abgelehnt und marktbedingte Ungleichheiten werden als unvermeidliche Konsequenz wirtschaftlicher Entwicklung gleichgültig oder bewusst hingenommen176. Ein ‚natürlicher’ ökonomischer Individualismus ist in dieser Vorstellung eingebettet in eine autonome Zivilgesellschaft, die erst frei von staatlichen Fesseln gedeihen kann, und in eine konservative Werteorientierung. Doch der Neoliberalismus gerät – so Giddens – durch die bedingungslose Bejahung des Marktes in einen Widerspruch zu seinem eigenen Wertekonservatismus und seinem Vertrauen in die autonome Zivilgesellschaft, weil der Marktradikalismus eben die traditionellen, gemeinwohlorientierten und lokalen Zusammenhänge zerstöre. „Zudem lässt [der Neoliberalismus] die soziale Grundlage der Märkte selbst außer acht, die auf den Vergesellschaftsformen beruhen, die der Marktfundamentalismus gleichgültig abschreibt“177. Der ‚Dritte Weg’ ist, indem er über traditionell sich ausschließende Ideen hinausgeht und auf diese Weise die Fundamentalalternativen zwischen ‚alten Linken’ und ‚neuen 170
A. Giddens 1997 R. Cuperus/ K. Duffek/ J. Kandel 2001a: 15 172 W. Merkel/ C. Egle/ C. Henkes/ T. Ostheim/ A. Petring 2006: 28 173 A. Giddens1999: 19ff. 174 A. Giddens 1997: 118ff. Vgl. auch U. Beck 1986 175 A. Giddens 1998: 27 176 A. Giddens 1998:.22ff. 177 A. Giddens 1998: 27 171
3.2 Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse
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Rechten’ auflöst, der Versuch, ein Verständnis von neuer Politik herzustellen. Giddens zufolge lassen sich die neuen ökonomischen und sozialen Herausforderungen mit den historisch gewachsenen Zuschreibungen, was Links und was Rechts sei, nur bedingt bewältigen. Es handelt es sich beim ‚Dritten Weg’ aber nicht – wie oft behauptet wird –, um eine synthetische Zusammenführung sowohl traditionell sozialdemokratischer als auch neoliberaler Elemente, sondern um ein grundsätzlich neues Politikkonzept, das alte Politikverständnisse und entsprechende Politikentwürfe hinter sich lässt178. Zudem beharrt Giddens weiterhin auf der Kernunterscheidung zwischen Links und Rechts, die in dem Begriff der ‚Gleichheit’ nach wie vor deutlich wird: Während die Linke an der Zielvorstellung und am Wert der gesellschaftlichen Gleichheit festhalte, akzeptiere die Rechte gesellschaftliche Ungleichheit. Insofern versteht sich der ‚Dritte Weg’ als ein linkes Projekt und bleibt den Grundwerten der Sozialdemokratie verbunden, auch oder gerade indem er bestehenden mit der Praxis sozialdemokratischer Parteien in einigen wesentlichen Punkten bricht. Giddens bestimmt linke Politik als eine emanzipatorische Politik, die sich in einem ‚radikalen Zentrum’ eines neuen Koordinatensystems quer zu den traditionellen Klassenlinien zum Ausdruck bringt, ohne jedoch die Selbstverortung im linken politischen Spektrum aufzugeben. Giddens’ ‚Dritter Weg’ ist der Entwurf eines neuen Konzepts sozialdemokratischer Politik, die weiterhin auf den klassischen sozialdemokratischen Grundwerten der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gründet; Werte, für deren Entfaltung die gegenwärtige Herausforderungssituation kein Hemmnis darstellen muss, sondern die man auf theoretischer wie praktisch-politischer Ebene jederzeit propagieren kann, wenn die Sozialdemokratie bereit ist, überkommene Instrumente zu ihrer Durchsetzung grundsätzlich in Frage zu stellen179.
Lösungsansätze Der ‚Dritte Weg’ ist eine sozialdemokratische Antwort auf fundamentale soziale und wirtschaftliche Veränderungen. Neben der Globalisierung, der Auflösung des Rechts-LinksGegensatzes und der Individualisierung, die eine neue Balance zwischen individueller und kollektiver Verantwortung verlangt, nennt Giddens zudem noch Veränderungen im Politischen Handeln (‚Political Agency’), die verstärkt durch unkonventionelle Formen der politischen Beteilung geprägt sind (Bürgerinitiativen, Nichtregierungsorganisationen, zivilgesellschaftliche Initiativen) sowie die zunehmende Bedeutung ökologischer Fragen, die sich vor dem Hintergrund der aus Wissenschaft und Technologie resultierenden Risiken stellen. Angesichts dieser Veränderung und der zunehmenden Komplexität moderner Gesellschaften muss sich auch das Verständnis politischer Gestaltung und Steuerung verändern. In diesem Verständnis ist der Staat zwar weiterhin zentraler wirtschafts-, gesellschafts- und sozialpolitischer Akteur und für die Gewährleistung sozialer Grundrechte letztverantwortlich (dies unterscheidet den ‚Dritten Weg’ fundamental von einem neoliberalen Politikverständnis), doch die Form seines politischen Handelns verlagert sich von einer zentralistischen und hierarchischen Steuerung und Regulierung hin zu einer initiierenden, unterstützenden und ermöglichenden Rahmensetzung, die horizontal arbeitsteilige und partnerschaftliche Handlungsweisen zwischen verschiedenen politischen Akteuren und neue Formen gesellschaftlicher Selbstregulation ermöglicht. Der Staat übernimmt verstärkt die Rol178 179
A. Giddens 1998, 1997, 2000 A. Giddens 1998: 7
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
le eines Moderators, der gesamtgesellschaftliche Zielvorgaben zwar definiert, auf dem Weg zur Erreichung dieser Ziele aber der Gesellschaft einen Teil der Gestaltungsverantwortung zurückgibt und unterschiedliche marktwirtschaftliche (z.B. Privat-Public-Partnership) und zivilgesellschaftliche Fähigkeiten zusammenbringt und koordiniert. Aus diesem neuen Politik- bzw. Regierungsverständnis leiten sich im ‚Dritten Weg’ zwangsläufig neue Akzente in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ab. Der Markt wird nunmehr als effizientes Instrument der Allokation von Produktionsfaktoren und der allgemeinen Wohlfahrtsproduktion positiv definiert und nicht mehr (im Gegensatz zur ‚alten’ Sozialdemokratie) als zwingend krisenhaft und Ungleichheiten produzierend. Gerade unter dem Druck der wirtschaftlichen Globalisierung, die Giddens als unhintergehbare Realität (‚Facts of Life’) des Politischen bestimmt, sind flexible Märkte für eine dynamische ökonomische Entwicklung notwendig. Da einerseits die traditionelle Politik der makroökonomischen Nachfrage-Steuerung unter globalen Bedingungen ihre Wirkung verloren hat, aber andererseits Märkte nicht sich selbst überlassen werden dürfen, strebt Giddens eine ‚New Mixed Economy’ an, die einen 'Synergieeffekt von öffentlichem und privatem Sektor erzielt, indem sie die Dynamik des Marktes für das öffentliche Interesse nutzt“180. Im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Vorstellungen des ‚goldenen Zeitalters’ der Nachkriegsjahre bis in die 1970er Jahre hinein wird in der neuen gemischten Wirtschaft verstärkt der Selbststeuerungs- und gesamtgesellschaftlichen Leistungsfähigkeit der Märkte vertraut; die alte sozialdemokratische Idee einer Politik gegen die Märkte181 wird durch eine der Politik für Märkte ersetzt und das Soziale wird nicht mehr als grundsätzliche Antithese zu Marktmechanismen verstanden. Gleichwohl ist in diesem Wirtschaftsverständnis die Rolle des Staates nicht passiv: Märkte sollen durch Sozialpolitik gefördert und gestärkt und das Soziale nach Marktprinzipien organisiert werden. Eine derartige angebotsorientierte Wirtschaftspolitik muss einhergehen mit einer strukturellen Reform des Wohlfahrtsstaats. Das Wohlfahrtsstaatsmodell, das sich unter grundlegend anderen Bedingungen im ‚goldenen Zeitalter’ ausgebildet hat, stößt nach Giddens mehrfach an seine Grenzen, da es einen – vor allem in der global-ökonomischen Konkurrenzsituation – nicht mehr vertretbaren Druck auf die Arbeitskosten und Steuertarife ausübt, der Veränderung der Alterspyramide nicht gerecht wird, auf traditionellen und veralteten Familien- und Geschlechterrollen aufbaut und diese sogar reproduziert und – gleichermaßen normativ wie funktional bedenklich – durch seine bürokratische Struktur und seine passiven Leistungen eine ‚Wohlfahrtsstaatsabhängigkeit’ und somit neue Exklusionsfallen produziert, anstatt die Menschen in ihrer Eigenverantwortung zu stärken. Im Gegensatz zum Neoliberalismus jedoch, in dessen Selbstverständnis der Wohlfahrtsstaat per se als Beschränkung von Freiheit, als ineffektiver Kostenverursacher und als dysfunktionales Anreizsystem begriffen wird, geht es der modernisierten Sozialdemokratie nicht darum, die ‚Verlierer’ der Globalisierungs- und Modernisierungsprozesse einfach sich selbst zu überlassen, sondern den Wohlfahrtsstaat in Richtung zielgenauerer Lösungen der Inklusion umzubauen. Dabei wird die normative Grundlage des herkömmlichen Wohlfahrtsstaats, welche soziale Gerechtigkeit primär als nachträgliche Korrektur des Marktversagens und materieller Ungleichheit bestimmt, zugunsten einer Idee von Gerechtigkeit umdefiniert, die als sozial gerecht vor allem die Teilhabe am ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Leben versteht. Das Ziel sozialer Inklusion bezieht sich vor allem auf 180 181
A. Giddens 1998: 117 G. Esping-Andersen 1985
3.2 Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse
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die Integration aller in den Arbeitsmarkt, da Erwerbsarbeit als die entscheidende Quelle aller anderen Formen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bestimmt wird. Über Erwerbsarbeit beziehen Menschen nicht nur ihr Einkommen und somit die sozialen Güter für ein selbst bestimmtes Leben, sondern auch soziale und kulturelle Anerkennung und Selbstachtung. Mit dem neuen sozialpolitischen Begriff der ‚Inklusion’ eng verbunden ist auch die normative Neubestimmung des sozialdemokratischen Wertes der Gleichheit, der fortan weniger als materielle Ergebnisgleichheit sondern vor allen als Chancengleichheit interpretiert wird. Eine materielle Umverteilung, die auf soziale Gleichheit im Ergebnis zielt, soll von einer Chancenumverteilung abgelöst werden, die im Endeffekt eine Gleichheit als Inklusion herstellt: Nicht mehr die gleiche Verteilung von Wohlstand, sondern die gleiche Verteilung von Chancen steht im Vordergrund. Aus diesem veränderten Verständnis heraus müsse – so Giddens – der traditionelle, passive Wohlfahrtsstaat zu einem aktivierenden Sozialinvestitionsstaat umgebaut werden, der in einem System ‚positiver Wohlfahrt’ Bedingungen schafft, durch die individuelle Potentiale, Talente und die Fähigkeit zu Eigenverantwortung und Eigenengagement gefördert und somit möglichst alle Teile in die Gemeinschaft integriert werden. Der Umbau des Wohlfahrtsstaats vollzieht sich über vier aufeinander bezogene Kernpunkte: Erstens: An die Stelle passiver Transferzahlungen im Falle von Arbeitslosigkeit treten aktivierende Beschäftigungsprogramme, die sich an den Maximen ‚employability’ (beschäftigungsbefähigende Qualifikation) und ‚workfare’ (Sozialleistungen werden an die Aufnahme angebotener Beschäftigung geknüpft) orientieren. Zweitens: Der Hauptakzent öffentlicher Investitionspolitik des aktivierenden Sozialinvestitionsstaats liegt konsequenterweise auf der Entwicklung des Humankapitals durch Verbesserungen im Bildungssystem, in der Weiterqualifizierung und bei der Förderung von Umschulungen (im Sinne lebenslangen Lernens182). Drittens: Ein zentrales Grundprinzip des ‚Dritten Weges’ ist die Betonung einer reziproken Solidarität, die sich nicht nur auf wohlfahrtsstaatliche institutionalisierte Entwicklungschancen, Hilfen und Leistungen bezieht, die die Gesellschaft dem Einzelnen bereitzustellen hat, sondern gleichermaßen auf die Solidarität des Individuums mit der Gemeinschaft. Eine passive Alimentierung von Sozialleistungen soll auf die ‚wirklich Bedürftigen’ beschränkt bleiben183. Es gilt das Prinzip: ‚Keine Rechte ohne Pflichten’184. Viertens: Die Bedeutung der ‚Eigenverantwortung und –initiative’ äußert sich ferner darin, dass der Staat unter der Überschrift ‚die Demokratie demokratisieren’ die Zivilgesellschaft aufwertet, sie stärker in politische Entscheidungsprozesse einbindet und ihr Gestaltungsverantwortung überträgt185. Dieser Demokratisierungsprozess soll sich über die Schaffung effizienterer und transparenterer Verwaltungsstrukturen, Zielkontrollen, Verfahren direkter und dezentraler Demokratie und über die Verwirklichung des Subsidaritätsgedankens vollziehen. Auf diese Weise wirbt der ‚Dritte Weg’ zugleich auf einer moralisch kulturellen Ebene für ein verändertes Selbstverständnis der Staatsbürgerrolle (‚New Citizenship’)186.
182
A. Giddens 1998: 145 Vgl. W. Merkel 2000a: 278 184 A. Giddens 1998: 81 185 A. Giddens 1998: 86ff. 186 T. Meyer 2005b: 503 183
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Bei der retrospektiven Bewertung des ‚Dritten Weges’ als programmatische und auch begriffliche Grundlage sozialdemokratischer Reformdiskurse, fällt vor allem auf, dass von seinen Modernisierungsbegriffen, die allzu unbedarft an Subjektivierungs- und Selbstgestaltungsimperativen ausgerichtet wurden – Fairness, Chancengleichheit, Marktfähigkeit usw. –, heute kaum noch einer die sozialdemokratischen Diskurse bestimmt. Zwar muss den traditionalistischen Flügeln und Strömungen, die in allen sozialdemokratischen Parteien Europas den ‚Dritten Weg’ in den 1990er und 2000er Jahren als Aufgabe essentieller sozialdemokratischer Grundwerte und ideologischer Sicherheiten verteufelten, widersprochen werden, dass der ‚Dritte Weg’ nur eine sozialere Variante des Neoliberalismus sei (zumal die Traditionalisten ihrerseits eine zeitgemäße Antwort schuldig blieben187). Doch auch die sozialdemokratischen Modernisierer lagen falsch, die glaubten, durch eine symbiotische Überwindung vermeintlich alter Gegensätze etwas sozialdemokratisch Neues und Zeitgemäßes formuliert zu haben, was aber tatsächlich eine weitreichende Akzeptanz der politischen Grenzverschriebung war, die sich in den neoliberalen 1980er und 1990er Jahren vollzogen hatte. Das Defizit des ‚Dritte Weg’-Diskurses als öffentlicher Reformdiskurs bestand darin, dass die allgegenwärtige Rhetorik des ‚Pragmatismus’ sich diskurspolitisch als freiwillige Reduktion oder Abrüstung des eigenen kritischen und kreativen Denkens darstellte und die Sozialdemokratie angesichts der realen Widersprüche des globalen Kapitalismus (und in all seinen nationalen Variationen) ideen- und begriffslos zurückließ.
3.3 Der ‚Dritte Weg’: Partei- und Kommunikationsmodernisierung Die revisionistischen Konzepte des ‚Dritten Weges’ gewannen in der internationalen Sozialdemokratie und der breiteren medialen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit der späten 1990er Jahre auch deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil sie kommunikativer Bestandteil der erfolgreichen Partei- und Politikmodernisierung der britischen Labour Party waren, indem sie dieser einen diskursiv-theoretischen Rahmen bereitstellten. Die theoretischen Ideen des ‚Dritten Weges’ wurden so dominant, weil sie im Zusammenhang mit dem Erfolg Tony Blairs standen. Anthony Giddens’ ‚Dritter Weg’ und seine öffentliche Rezeption durch Tony Blair188 müssen daher vor allem auch als strategisches Kalkül im Parteienwettbewerb, Wahlkämpfe zu führen und zu gewinnen, betrachtet und analysiert werden. Durch den Wahlerfolg New Labours 1997 wurde der britische Weg sozialdemokratischer Politikmodernisierung alsbald zu einem Leitbild für andere sozialdemokratische Parteien erklärt. Die politische Semantik des ‚Dritten Weges’ zielt in erster Linie auf die für das soziale und politische Klima bedeutsamen neuen Mittelschichten (Kultur-, Sozial- und Informationsberufe, kleine und mittlere Selbständige in den neuen, auf die Wissensgesellschaft bezogenen Branchen), die zwar den Zielen und Grundwerten der Sozialdemokratie grundsätzlich, wenn auch kritisch aufgeschlossen sind und deren Zustimmung und Unterstützung immer wieder neu gewonnen werden muss. Durch das Wegbrechen traditioneller Wähler
187 188
J. Hinnfors 2006: 108; A. Gamble/ T. Wright 1999: 2 T. Blair 1998a
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milieus, Individualisierung und gesellschaftliche Fragmentierung von Werteorientierung und die Dominanz moderner Massenmedien sind zukünftige sozialdemokratische Mehrheiten entscheidend von der Fähigkeit der Parteien abhängig, erstens die eigene Politik inhaltlich so zu konzeptualisieren, dass sich auch die neuen Mittelschichten mit ihr identifizieren könnent189 und zweitens diese Politikkonzeption und -ideen durch professionelle Kommunikationsstrategien glaubwürdig zu vermitteln. In der diskursanalytischen Terminologie heißt dies: Um Mehrheiten für sozialdemokratische Politik zu gewinnen, müssen ideenbasierte und interaktive Diskursdimension auf komplexe Weise zusammengeführt werden; die programmatische Erneuerung sozialdemokratischer Politikziele und -instrumente muss in der Mediendemokratie in einer ihr entsprechenden politischen Kommunikation (Botschaften, Image, politisches Personal, Stil) vermittelt werden, zugleich brauchen modernes Kommunikations- und Themenmanagement sowie professionelle Politikinszenierung neue Politikinhalte, um die neue kommunikative Form und den ästhetischen Stil mit Bedeutung und Relevanz aufzuladen und wahrnehmbar zu machen.
Die US-amerikanischen Ursprünge Die politische Konzeption eines ‚Dritten Weges’ als eine doppelte Abgrenzung gegenüber ‚altlinks’ und ‚neurechts’, die programmatische und kommunikative Modernisierung und identitäre Neubestimmung einer Mitte-links-Partei hat ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten der späten 1980er und frühen 1990er Jahre. Angesichts der Tatsache, dass sich historisch die Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten parteipolitisch nie verwurzeln konnte, die Demokratische Partei programmatisch auf gänzlich anderen regionalistischen und ethnischen Traditionen und organisatorisch auf gänzlich anderen Strukturen gründet190 als sozialdemokratische Parteien in Europa, und nicht zuletzt angesichts fundamental anderer politisch-kultureller Demokratie-, Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen in den Vereinigten Staaten191, verwundert es, dass die inhaltliche und kommunikative Modernisierung der Demokraten überhaupt einen derartigen Einfluss auf europäische sozialdemokratische Parteien – allen voran auf die britischen Labour Party – erlangen konnte. Aus diesem Grund sollen hier die amerikanischen Ursprünge der europäischen Reformdiskurse ausführlicher nachgezeichnet werden. Die Demokraten hatten im Laufe der 1980er Jahre nicht nur eine Reihe bitterer Wahlniederlagen erlitten192, auch schienen sie der politisch-kulturellen Hegemonie des Neokonservatismus inhaltlich wenig entgegen setzen zu können. Während die Republikaner mit einer neuen, neokonservativen Agenda als Partei neuer Ideen und mit einer Mission wahrgenommen wurden, die zudem bereit war, in der Reagan- und Bush-Administration diese Ideen auch zu implementieren, sahen sich die Demokraten immer weiter an den Rand des politischen Spektrums gedrängt. Die Demokratische Partei wurde seit den 1960er Jahren in 189
T. Meyer 1998: 87ff. S.M. Lipset/ G. Marks 2000; J.F. Hough 2006 191 M. Gilens 1999 192 Die Wahl von 1980 war die schlimmste Niederlage für die Demokraten seit dem New Deal. Nicht nur, dass ein amtierender Präsident abgewählt wurde, die Republikaner übernahmen zudem auch zum ersten Mal seit 1952 die Kontrolle des Senats. 190
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der amerikanischen Öffentlichkeit mit einem rigiden Liberalismus193, mit einer Politik für Minderheiten und mit ‚Big Government’, also Steuer- und öffentlichen Ausgabepolitiken assoziiert, die zunehmend im Widerspruch zu den Interessen, der Moral und den kulturellen Werten der durchschnittlichen amerikanischen Familie zu stehen schien. Die Republikaner konnten ihre Wahlkampagnen erfolgreich auf dem ideologischen Feindbild eines ‚liberalen Fundamentalismus’ gründen, der nicht nur den Kontakt zum amerikanischen Volk verloren habe, sondern ihren Werten sogar ‚feindlich’ gegenüberstände194. Die dritte Niederlage in einer Präsidentschaftswahl in Folge demonstrierte neben der Unfähigkeit, auf die Demagogie der Republikaner kampagnenstrategisch reagieren zu können, vor allem, dass die Demokraten – allen zentristischen Abgrenzungsversuchen zum Trotz – keine kohärente Botschaft hatten, die ihren in den 1960er Jahren entwickelten ‚aktivistischen Liberalismus’ ersetzen konnte195. Vor dem Hintergrund der neokonservativen Vorherrschaft der 1980er Jahre und aus Sorge, politisch immer weiter ins Abseits zu geraten und Wahlen kaum noch gewinnen zu können, gründeten mehrere moderat-konservative Demokratische Mandatsträger vor allem aus den Südstaaten (Gouverneure, Mitglieder des Kongresses u. a.) 1984 das Democratic Leadership Council (DLC), ein Ideen- und Strategie-Aktionszentrum, und 1989 das Progressive Policy Institute (PPI), ein offiziell von dem DLC unabhängiger, wenn auch mit ihm eng vernetzter ‚Think Tank’. Das Ziel der DLC war es, die Democratic Party sowohl in ihrer politischen Substanz als auch in der öffentlichen Wahrnehmung ins Zentrum des politischen Spektrums zu bewegen, um die Republikanische Dominanz zu beenden. Das DLC war jedoch keine offizielle Parteiorganisation. Es wurde vielmehr von führenden Demokratischen Persönlichkeiten in bewusster Abgrenzung zu den bestehenden Parteistrukturen gegründet196. Die offiziellen Parteistrukturen und Nominierungsmechanismen behinderten – zumindest aus Sicht des DLC – eine Neuformulierung der eigenen Politik und die Kommunikation einer glaubwürdigen Botschaft. Zudem verfügen amerikanische Parteien, die im Vergleich mit europäischen Parteien organisatorisch dezentralisiert und programmatisch fragmentiert sind, kaum über die institutionellen Prozesse und Orte, um die Herausforderung einer programmatischen Neubestimmung anzugehen. So gesehen war die Tatsache, dass das DLC eine nicht-offizielle Parteiorganisation bzw. -gliederung der Democratic Party war, gleichermaßen Voraussetzung und Bestandteil der Modernisierung Demokratischer Politik. Während in der Gründungsphase noch moderat konservative Demokraten dominierten, die alle liberalen Stränge der Demokratischen Partei kappen wollten, setzte sich innerhalb des DLC alsbald eine Strömung durch, die davon ausging, dass man die Partei zwar neu erfinden, sich dabei aber nicht dem Neokonservatismus anpassen und die eigene Identität aufgeben müsse197. Hier liegen die Wurzeln des ‚Dritten Weg’-Diskurses. Als Gouverneur von Arkansas wurde Bill Clinton 1990 Vorsitzender des DLC und baute ein anfänglich eher offenes Diskussionsforum in eine schlagkräftige Organisation und Parteiströmung um, die sich auf die Entwicklung und Kommunikation einer neuen 193 Es gibt in der amerikanischen und europäischen politischen Debatte eine Diskrepanz der Begriffsverwendung „liberal“. In den Vereinigten Staaten wird das Adjektiv „liberal“ in einer Weise verwendet, für die in Europa eher Begriffe wie „demokratisch sozial“, „aktiver Staat“, „re-distributiv“ oder schlicht „links“ gebräuchlich sind. 194 J.F. Hale 1995 195 W. Galston/ E.C. Kamarck 1989 196 W.G. Mayer 1996; W.P. Steger 2007; M. Thunert 2001 197 J.F. Hale 1995
3.3 Der ‚Dritte Weg’: Partei- und Kommunikationsmodernisierung
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Demokratischen Parteiidentität, der New Democrats konzentrierte. Die schwierige Aufgabe des DLC bestand darin, die New Democrats programmatisch sowohl nach links als auch nach rechts abzugrenzen. Die Lösung bestand in der Verneinung einer konservativlinksliberalen Dichotomie, die unter veränderten politischen Bedingungen ihre traditionelle Bedeutung verloren hätte, und der Proklamation der eigenen Ideen als einem progressiven, einen dritten Weg, um den neuartigen Problemen der 1990er Jahre zu begegnen. Der Begriff ‚liberal’ wurde in den Botschaften der New Democrats konsequent vermieden und durch Schlagworte wie ‚progressiv’ und ‚modern’ ersetzt. Tatsächlich waren die Rhetoriken der Versuch, den Liberalismus von seiner negativen Reputation zu befreien und ihn politisch zu erneuern198. Die Rhetorik der ‚New Democrats’ war aber nicht nur eine ‚kommunikative Rückwärtsverteidigung’, sondern stand auch für substantiell neue Themen wie z. B. ‚Reinventing Government’, die Verbindung von Rechten und Pflichtens sowie stärker auf die Interessen der Mittelschichten zugeschnittene Leistungen199. Die Revision Demokratischer Politikvorstellungen umfasste alle Politikfelder, von der Wirtschafts- und Fiskalpolitik über die Sozial- und Gesundheitspolitik bis hin zur Rechts- und Innenpolitik200. Das DLC und Bill Clinton (1992 Präsidentschaftskandidat) stellten eine erfolgreiche Symbiose dar: Den Mitgliedern des DLC war klar, dass die einzige Möglichkeit, die eigene Botschaft zur Botschaft der Gesamtpartei zu machen und die Democrats in New Democrats zu verwandeln darin bestand, dass ein erfolgversprechender, junger Demokratischer Präsidentschaftskandidat ihre Positionen und Strategien aufgreift und mit diesen seinen Wahlkampf bestreitet. Umgekehrt wusste Clinton, der in seiner auf die weiße Mittelschichten zielenden Kampagne betonte ein ‚anderer Typ Demokrat zu sein’, die vom DLC aufgebaute ‚progressive’ Infrastruktur aus Think Tanks, Magazinen und Gruppen ebenso wie vom PPI ausgearbeiteten Policy-Ideen zu nutzen. Clintons Wahlkampagne zeichnete sich ferner durch eine grundlegende Veränderung der Demokratischen Wahlkampfstrategie aus, die das Erscheinungsbild von Kandidat und Partei neu zu positionieren versuchte. In ihrer Zielsetzung, die Mittelschichten, die sich in den 1980er Jahren abgewandt hatten, zurückzugewinnen, meinten die Demokraten es sich nicht mehr leisten zu können, mit partikularen Interessen assoziiert zu werden. Die Wahlkampf-Botschaften wurden auf Grundlage von Fokus-Gruppen-Befragungen kontinuierlich verfeinert und optimiert, zudem wurde ein ‚War Room’ in Little Rock eingerichtet, der die Kampagne zentral koordinierte201. Um sich in den Mittelschichten eine elektorale Basis zu erarbeiten, war eine grundlegend veränderte Haltung in der Sozialpolitik wichtig202, ebenso die Versicherung, dass es keine Steuererhöhungen gebe und eine harte Haltung gegenüber Kriminalität. Auch wenn die Policy-Analysen und -Angebote teilweise recht unkonturiert blieben203, gelang es Clinton durch seine ‚Dritte Weg’-Rhetorik eine neues Image der ‚Democrats’ zu etablieren.
198
J.F. Hale 1995 Democratic Leadership Council 1990 200 S. Schreyer 2000 201 D. King/ M. Wickham-Jones 1999 202 Die neue Demokratische Haltung gegenüber den Wohlfahrtssystemen wurde theoretisch durch Positionen von Wissenschaftlern wie beispielsweise Lawrence Mead begründet. Mead sah die Hauptursache der Arbeitslosigkeit nicht in der Ökonomie, sondern vielmehr in einer Kultur der Armut begründet, die sich vor allem durch ein Fehlen einer Arbeitskompetenz kennzeichne. Vgl. L.M. Mead 1992 203 M. Ehrke 1999 199
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Bill Clinton hat seinen Wahlkampf 1992 stark an wirtschaftspolitischen Fragen ausgerichtet und verstand es, die Wirtschaftsrezession der frühen 1990er Jahre als Schwachstelle des populären Außenpolitikers George Bush sen. für die eigene Kampagne zu nutzen. Und so gewann er die Präsidentschaft zwar auch wegen der für einen Herausforderer günstigen allgemeinen Besorgnis über den Zustand der Wirtschaft, dass jedoch Clinton aus der Wirtschaftskrise überhaupt Profit ziehen und die Demokratische Partei nach der langen republikanischen Reagan-Bush-Ära wieder mehrheitsfähig machen konnte, lag zweifellos an der neuen Identität der Partei, die der amerikanischen Öffentlichkeit präsentiert wurde. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass der New Democrats-Wahlsieg 1992 – der nachfolgend als programmatische, strategische und organisatorische ‚Blaupause’ auch für europäische Mitte-links-Parteien herangezogen wurde – nicht unerheblich der Tatsache entsprang, dass mit Ross Perot auch ein unabhängiger Kandidat für das Amt des Präsidenten kandidierte und mit 18,9% der Stimmen einen beachtlichen Erfolg erzielte. Da vor allem viele konservative Wähler Ross Perot ihre Stimme gaben, gingen seine Wahlgewinne auf Kosten des republikanischen Kandidaten George Bush. Nachdem Clinton als New Democrat ins Weiße Haus gewählt wurde, zeigte sich bald, dass der ‚Dritte Weg’-Diskurs als strategisch-programmatische Neupositionierung und moderne Wahlkampf-Kommunikation das eine, ein realpolitischer ‚Dritten Weg’ als Regierungsprogramm das andere ist. In den ersten zwei Jahren regierte Clinton keineswegs stringent entlang der neuen politischen Leitvorstellungen, sondern eher als traditioneller Demokrat204. Dies hatte politisch-institutionelle und situationsbezogene Gründe, vor allem fehlte wohl eine klare Vision, was ‚New Democratic’ in der Praxis bedeutet205. Für die diskursanalytische Betrachtung des ‚Dritten Weges’ der New Democrats ist – jenseits erfolgreicher oder erfolgloser Policy-Initiativen der Clinton-Ära – jedoch vor allem die Frage bedeutsam, ob und inwieweit es diesem Diskurs gelang, spezifische Problemdeutungen und die Akzeptanz von Lösungsinstrumenten und Politikzielen auf einer normativen wie kognitiven Ebene diskursiv nachhaltig durchzusetzen. Konnten Gestaltungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen in einer Weise kommuniziert werden, welche eine neue Bedeutungsaufladung einer ‚linken Mitte’ in der politischen Kultur der Vereinigten Staaten ermöglicht? Konnte sich im Wettstreit politischer Ideen ein neues analytisches und ideologisches Vokabular in der amerikanischen Öffentlichkeit sedimentieren? Kurzum: Gelang es den ‚New Democrats’, den Siegeszug des Neokonservatismus zu stoppen oder gar umzukehren und die Demokratische Partei nachhaltig aus einer politisch-ideologischen Randlage zu befreien? Die Tatsache, dass Bill Clinton 1996 als Präsident bestätigt wurde, spricht zwar dafür, dass die Wähler, insbesondere die elektoral so wichtigen Mittelschichten, die Politikkonzepte der New Democrats und den diese Konzepte legitimierenden Diskurs honorierten. Doch wählt man eine weiter gefasste Perspektive, dann scheint die Clinton-Präsidentschaft, die sich zudem in einem diskursiven Kontext zunehmend kulturell-moralischer Aufladung meist in der kommunikativen Defensive befand, allenfalls eine Unterbrechung oder Verlangsamung, aber keinesfalls eine Umkehrung der ‚konservativen Revolution’ zu sein, die sich seit den 1970er Jahren vollzog und sich unter Präsident George W. Bush ab 2000 wieder beschleunigte. Die politische Polarisierung verschärfte sich weiter, viele innenpolitische Auseinandersetzungen der Vereinigten Staaten verwandelten sich in einen Kulturkampf mit 204 205
J.F. Hale 1995; M. Thunert 2001 D. King/ M. Wickham-Jones 1999
3.3 Der ‚Dritte Weg’: Partei- und Kommunikationsmodernisierung
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religiösen Komponenten und die grundsätzliche Kritik der Republikaner an staatlichen Interventionen jeglicher Art ideologisierte sich zunehmend. Die amerikanische Bevölkerung ist in ein religiöses und säkulares Amerika gespalten, wobei das Land kulturell weit nach rechts gerückt ist.206. Präsident Barack Obama richtet seit seinem beeindruckenden Wahlsieg 2008 Clintons post-‚New Deal’-Democrats diskursiv wieder an den Werten und Ideen von Roosevelts New Deal aus. Zum einen, weil die makroökonomischen Rahmenbedingungen eine fortgesetzte Laissez-faire-Politik unmöglich machen. Zum anderen, weil der massiven Ideologisierung der radikalen Entstaatlichung und religiösen Moralisierung auf der Rechten nicht dauerhaft mit einer Entideologisierung auf der Linken begegnet werden konnte. Und schließlich, weil das Clinton’sche Projekt, die New Democrats zu post-linken Repräsentanten der Wissensökonomie und wirtschaftlichen Globalisierung zu machen, nicht nachhaltig war und zu viele Gruppen (Schwarze, Immigranten, traditionelle weiße Arbeiter) am Rand des politischen Spektrums zurückließ. Obama verfolgt (ebenso wie Clinton) eine zwar durchaus moderate Politik, versteckt dabei aber in seinem Diskurs – trotz seiner betont integrierenden Rhetorik – keinesfalls linke Ideen oder Begriffe. Bemerkenswert ist im Vergleich zur Clinton-Präsidentschaft, dass es Obama gelungen ist, – einzigartig seit den 1960er Jahren – in republikanische Milieus einzubrechen und zwar nicht mit bloß entideologisierter politischer Kommunikation und modernen Wahlkampftechniken, sondern gerade mit einem distinktiv linken Reformdiskurs207. In seiner kurzen Amtszeit hat Präsident Obama in seinem Diskurs selbstbewusst Policy-Ideen, Begriffe und Werte kommuniziert, die in der politischen Arena lange nicht zu hören waren und scheint dadurch schon jetzt den amerikanischen Diskurskontext verändert zu haben. Dabei hat auch die ‚paranoide’208 Radikalisierung auf Seiten der christlichen und nationalistischen Rechten, die sich in einem apokalyptischen Endzeitkampf zwischen dem absoluten Guten und dem absoluten Bösen wähnt, zu dieser Diskurskontextverschiebung nach links beigetragen. Denn die Rechte konnte – durch talk-radios und Rupert Murdochs Fox News befeuert – ihre Anhänger zwar massenhaft und medienwirksam für Proteste gegen Präsident Obama mobilisieren, doch ihre hysterische Rhetorik, ihre Verschwörungstheorien und Untergangsszenarien haben den rechten Politikdiskurs an den äußeren Rand gedrängt und die Mitte des amerikanischen Diskurskontexts geräumt. Für die Republikaner könnte die Anti-Obama-Allianz mit Rechtsaußen angesichts einer sich rasch wandelnden Zusammensetzung der Bevölkerung langfristig zum Problem werden, da dies ihre programmatische Erneuerung und Öffnung zur Mitte behindert209. Diskurstheoretisch ist vor allem bemerkenswert, dass der aggressive AntiSozialismus-Diskurs, mit dem die politische Rechte Obamas Policies zu diskreditieren versucht, kontraproduktiv zu sein scheint. War der Begriff ‚Sozialismus’ noch in der 1990er und frühen 2000er Jahren aus der amerikanischen politischen Öffentlich gänzlich verschwunden und tauchte nur noch in obskur-sektiererischen oder allenfalls akademischen Teilöffentlichkeiten hier und da mal auf, so wurde er als polemischer Anti-Begriff zur 206
T. Greven 2004; E. Ashbee 2005. Vgl. auch die aufschlussreiche, wenn auch eher journalistische Einschätzung der amerikanischen politischen Kultur bei T. Frank 2004. 207 M. Davis 2009 208 R. Hofstadter 1965 209 A. Scharenberg 2009
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Stigmatisierung des politischen Gegners durch die Rechte selbst wieder in die öffentliche Arena geworfen. Durch seine hysterische und überzeichnete, vor allem unqualifizierte und durchsichtige Verwendung im Anti-Obama-Protest allerdings scheint sich die überaus negative Konnotation, die der Begriff ‚Sozialismus’ in der amerikanischen politischen Kultur traditionell besitzt, bis zu einem gewissen Grad abgenutzt zu haben. In einer Umfrage des Rasmussen-Report im April 2009 glaubten nur 53% der Amerikaner, dass Kapitalismus besser sei als Sozialismus, bemerkenswerte 20% meinten, dass Sozialismus besser sei und 27% waren unentschieden210. Ohne hier diese Momentaufnahme der öffentlichen Meinung überbewerten zu wollen, verdeutlich sie doch, dass diskursive Konfliktlinien zur Politik gehören und ein entpolitisierter, zentristischer Diskurs einer gesellschaftlichen Mitte, der solche Konfliktlinien ignoriert, keine Identifikationsmöglichkeiten mehr bietet. Politikdiskurse müssen sich innerhalb der Matrix von rechts und links artikulieren. Der politisierte, zum Teil aufgezwungene antagonistische Diskurs scheint den Democrats – so Umfragen – keinesfalls geschadet zu haben. In der nunmehr fast zwanzigjährigen Rückschau scheint der ‚Dritte Weg’ der New Democrats als ein eigenständiger Diskurs hingegen in der politischen Kultur und öffentlichen Debatte der Vereinigten Staaten keine tiefen Spuren hinterlassen zu haben. New Labour Die Politik- und Parteimodernisierung der britischen Labour Party hatte zwar schon in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren begonnen211, doch nach Bill Clintons Wahlsieg 1992 (im selben Jahr von Labours vierter Wahlniederlage in Folge) gewann der Modernisierungsprozess an Dynamik und vor allem seine distinktive politische ‚Dritter Weg’Ausrichtung. Der Erfolg der New Democrats in den USA vergrößerte das britische Selbstbewusstsein, dass Parteien der Linken Wahlen gewinnen können. Dazu sei es jedoch notwendig – so die Meinung der Modernisierer –, die politische Neubestimmung weiter und grundsätzlicher zu betreiben, als dies bisher geschehen sei. Weitere Veränderungen im Policy-Erscheinungsbild Labours seien essentiell, wenn die Partei jemals wieder Regierungsmacht gewinnen wolle. Particia Hewitt und Philip Gould veröffentlichten im Januar 1993 einen, in der Partei äußerst einflussreichen Bericht über die Clinton-Kampagne, in dem sie schlussfolgerten, dass Labour sich an den New Democrats und deren Wahlkampagne orientieren müsse, um Wahlen zu gewinnen. Die Labour Party brauche – ähnlich wie die Demokraten – eine frische Identität, um für die Mittelklassen attraktiv werden zu können. In diesem Vorhaben sollte sich die Labour Party mehr am erfolgreichen Kommunikationsprozess des Demokratischen Erfolgs orientieren als an seinen konkreten, auf das amerikanische politische System bezogenen Inhalten. Hewitt und Gould zufolge gelang die Vermittlung einer neuen Demokratischen Parteiidentität über die Betonung und politischsemantische Rahmung von Schlüsselthemen, die wiederum durch die extensive Beschäftigung von Fokus-Gruppen als solche identifiziert wurden, die radikale inhaltliche Neube210
Rasmussen-Report 2009 Bereits Neil Kinnock (1983-1992) und John Smith (1992-1994) begannen pragmatisch die Partei in die Mitte des politischen Spektrums zu rücken, innerparteilich-militante Gruppen auszuschließen und die Partei organisatorisch zu modernisieren.
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3.3 Der ‚Dritte Weg’: Partei- und Kommunikationsmodernisierung
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stimmung sehr symbolischer Policies wie Wohlfahrtstaat und Kriminalität, die Präsentation Clintons als neuer Typus eines Demokratischen Politikers und schließlich ein zentralisiertes Kampagnen-Management in einem ‚War Room’, das unterschiedliche Medien-Statements, Policy-Vorschläge und Wahlkampf-Botschaften wie auch -Inszenierungen entlang einer klaren inhaltlichen Leitlinie koordinierte212. Mit dem und durch den neuen Parteivorsitzenden Tony Blair 1994 wurde die Parteiund Politikmodernisierung der Labour Party weiter den amerikanischen Erfahrungen, Ideen und Konzepten entsprechend vorangetrieben, die nicht zuletzt durch enge (auch persönliche) Verbindungen Labours zu der neuen Demokratischen Regierung in Washington213 an Einfluss gewannen. In den USA betonte Bill Clinton die engen Beziehungen zwischen der Demokratischen und der Labour Party und argumentierte, dass sie dieselben Herausforderungen bewältigen müssten und dass „die Werte, die uns in die Politik brachten, dieselben seien“214, was angesichts der sehr unterschiedlichen Parteitraditionen und politischen Kulturen der beiden Länder überrascht. Eine glaubwürdige Außenkommunikation modernisierter Politikkonzepte setze eine unumkehrbare Modernisierung der Labour Party zwingend voraus. Dies vor allem, weil Labour noch in den frühen 1980er Jahren stark vom Einfluss militanter links-sozialistischer Gruppierungen geprägt und von den Gewerkschaften dominiert war und in den 1990er Jahren – vor allem in den umkämpften Mittelklassen – immer noch mit einer der größten Wirtschaftskrisen der Nachkriegsgeschichte, dem ‚winter of discontent’ 1978-1979 mit Streiks, Inflation und hohen Steuern, assoziiert wurde215. Um Labour als eine grundlegend reformierte Partei, als New Labour216, der Öffentlichkeit zu präsentieren, musste der Abbau des Traditionsbestandes der Partei sowohl auf organisatorischer Ebene (wie beispielsweise die Begrenzung des Gewerkschaftseinflusses durch die Abschaffung von Blockwahlen auf Parteitagen und größere und zentralisierte Handlungsressourcen für die Parteiführung) als auch auf programmatischer Ebene (wie beispielsweise die Änderung der Clause IV des Parteiprogramms) noch radikaler ausfallen, als dies unter Neil Kinnock und John Smith geschehen war217. Vor allem die Streichung des aus dem Jahr 1918 stammenden Paragraph IV des Labour-Programms (die berühmte ‚Clause IV’, die eine Verstaatlichung der Produktionsmittel vorsah, in Labours realpolitischen Konzepten jedoch allenfalls ein symbolisches Relikt aus den Anfängen der Partei darstellte), bedeutete einen wichtigen symbolischkommunikativen Bruch mit der eigenen Partei-Tradition. Denn es ging in der Modernisierungsstrategie entscheidend darum, aus Labour eine neue Partei zu machen, die sich nicht nur durch einen neuen Namen oder oberflächliche programmatische Veränderungen, son212
P. Hewitt/ P. Gould 1993 Tony Blair und Gordon Brown verbrachten während der Übergangszeit im Januar 1993 einige Zeit in Washington. Philip Gould, seit den frühen 1990er Jahren Berater von Tony Blair und – neben Peter Mandelson and Alastair Campbell – Architekt von Labours 1997er Wahlkampagne, arbeitete an zentraler Stelle 1992 in Bill Clintons Wahlkampfteam in „Little Rock“ und brachte verschiedene Wahlkampftaktiken nach Großbritannien mit, die später Grundlage von New Labours Wahlkampf wurden. Auch in umgekehrter Richtung funktionierte der personelle Austausch von New Democrats und New Labour: Die beiden Manager der Clinton-Kampagne Stanley Greenberg und James Carville arbeiteten 1997 in New Labours „War Room“ in Millbank Tower. Vgl. P. Gould 1998a 214 D. King/ M. Wickham-Jones 1999 215 P. Gould 1998b 216 New Labour als eine neue „Markenbezeichnung“ für die Labour Party wurde zuerst als Slogan beim Parteitag 1994 verwendet und setzte sich bald danach als (Selbst)Bezeichnung einer neuen reformierten Partei durch. 217 M. Ehrke 2000 213
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dern auch durch eine kompromisslose neue Bestimmung kennzeichnet, so dass der Wahlkampfslogan ‚New Labour, New Britain’ nun auch als der Realität entsprechend kommuniziert werden konnte218. Tony Blair, Gordon Brown und andere innerparteiliche Reformer bemühten sich darum, Labour aus den historisch-organisatorischen Zwängen einer Arbeiter- und Gewerkschaftspartei zu befreien und sie zu einer modernen medienkompatiblen Volkspartei umzugestalten, die Arbeiter und Mittelschichten gleichermaßen als politische Konsumenten anzusprechen imstande sei. Der ‚traditionalistische’ Parteiflügel Labours hingegen befürchtete, dass die Parteireformen nicht nur mit nicht mehr zeitgemäßen Traditionen brechen würden, sondern damit auch lang gültige Werte, historisch gewachsene Identitäten und Selbstverständnisses verloren gingen, politische Allianzen verraten und hart erkämpfte Politiken geopfert würden. So hallte zwar in Blairs Modernisierungsdiskurs viel von der Rhetorik Clintons wider (die Betonung der Zwänge veränderter Rahmenbedingungen, die Notwendigkeit eines neuen Denkens und neuer Politik-Instrumente und die ausgiebige Verwendung des Attributs ‚neu’219), doch zugleich insistiert Blair, dass der Modernisierungsprozess keine Zurückweisung traditioneller Werte, sondern vielmehr deren Aktualisierung sei und sich die Partei schlicht den Fragen der Zeit stellen müsse220. Im Zuge dieser programmatischen Neubestimmung der Werte, Ziele und Instrumente war die Labour Party – als europäischer Typ einer Mitglieder- und Programmpartei – gezwungen, einen theoretisch sehr viel grundlegenderen und komplexeren Diskurs zu führen als zuvor die amerikanischen Demokraten. Während sich die politische Neujustierung der New Democrats als Reaktion auf elektorale Imperative vor allem auf der Ebene politischer Projekte und praktischer Politik-Umsetzung vollzog221, musste die britische Labour Party ihren ‚Dritte Weg’-Diskurs um eine normative bzw. ideologisch-theoretische Ebene erweitern, auf der ein in die Partei gerichteter Reformdiskurs die Frage verhandelte, was Sozialdemokratie am Ende des 20. Jahrhunderts bedeute222. In diesem diskursiven Selbstfindungsprozess muss Anthony Giddens’ Buch „Dritte Weg: Die Erneuerung der Sozialen Demokratie“ einsortiert werden. Dabei ist bemerkenswert, dass Giddens’ Werk keineswegs am Anfang eines neuen sozialdemokratischen Revisionismus stand, sondern an dessen Ende – quasi als abschließende Rationalisierung und Systematisierung einer sich aufgrund vielfältiger Zwänge längst vollzogenen Partei- und Politikmodernisierung.
Professionalisierung des Parteien- und Kommunikationsmanagements Beim Umbau der Parteiorganisation und vor allem bei der Kampagneführung wurden viele Lektionen aus Clintons Sieg gezogen: Fokus-Gruppen, gezielt abgestimmtes politisches Marketing und koordiniertes Management der Medien via ‚spin doctors’. Die Voraussetzungen für alle drei Maßnahmen wurden durch Labour zwar schon vor 1992 geschaffen, doch erst im 1997er Wahlkampf entscheidend intensiviert und aufgewertet. Die Partei bezog 1995 nach dem Vorbild des Clinton-Wahlkampfes ein neues Kampagnen218
P. Gould 1998b D. King/ M. Wickham-Jones1999 220 Vgl. J. Lees-Marshment/ D. Lilleker 2001; J. Hinnfors 2006 221 M. Ehrke 2000 222 Vgl. A. Gamble/ T. Wright 1999 219
3.3 Der ‚Dritte Weg’: Partei- und Kommunikationsmodernisierung
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Hauptquartier im mittlerweile legendären Millbank Tower. Die neuen Räume wurden zum Hightech-‚War Room’, der auch eine riesige Datenbank beherbergte, Excalibur genannt, mit Zeitungsmeldungen, politische Reden, Interviews und Äußerungen bestückt, die als Basis für schnelle, d. h. vor allem mediengerechte Angriffe und Gegenangriffe bei der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner in der Öffentlich dienen sollte (‚instant rebuttal’)223. Das Wahlkampf-Hauptquartier in Millbank erarbeitete großflächig angelegte Imagekampagnen, wertete Meinungsumfragen und Fokus-Gruppen aus, steuerte zentral den Wahlkampf in den für das Wahlergebnis entscheidenden Wahlkreisen, orchestrierte thematisch die Aussagen der Repräsentanten, damit die Partei immer ‚on Message’ blieb224, und steuerte durch ‚Spin Doctors’ die Medienarbeit225. Die Einrichtung eines ‚War Rooms’ war zugleich Teil der Kampagne selbst226, indem er die Aufmerksamkeit der politischen Journalisten auf sich zog und zum Image der fortschrittlichen Professionalität beitrug. Der Wahlerfolg von 1997 bestätigte New Labours Strategie: Es gelang, die Wähler, vor allem die Mittelschichten zu überzeugen, dass die Labour Party nach 18 Jahren in der Opposition wieder eine ernst zu nehmende politische und verlässliche Alternative in der britischen Politik sei. New Labour inszenierte sich als Symbol eines gesellschaftlichkulturellen Neuanfangs und Aufbruchs (‚Cool Britannia’). Diese radikale Professionalisierungsstrategie New Labours, die in ihrer tiefgreifenden, alle Bereiche umfassenden Anpassung an die Anforderungen zunehmend volatiler Wählermärkte und eines neuartigen Medienumfeldes international ohne Vorbild war227, und deshalb zum häufig zitierten Beispiel für einen völlig neuen Typus sozialdemokratischer Partei herangezogen wurde, steht allerdings paradoxerweise für die gleichzeitige Stärkung wie Schwächung eines spezifischen sozialdemokratischen öffentlichen Diskurses. Einerseits ist der Erfolg des programmatischen Wandels Labours und der neuen Präsentation ihrer Politik offensichtlich, wie drei aufeinander folgende Wahlsiege 1997, 2001 und 2005 zeigen. Waren die Policy-Positionen der Labour Party in den 1980er Jahren noch hoffungslos weit vom Median-Wähler entfernt, so war sie 1997 und den nachfolgenden Jahren in der Links-Rechts-Skala näher am Median-Wähler als die Konservative Partei (auch weil sich die Konservativen zunehmend ideologisch dogmatisch von ihren Wählern entfernten)228 und konnte seitdem folglich ihren, auf Werten und Begriffen wie Inklusion, Chancengerechtigkeit oder radikaler Demokratie basierenden Reformdiskurs in der Mitte des politischen Spektrums platzieren. Andererseits vertraute New Labour so stark virtuellen Strategien des Politikmarketings und Wählerakzeptanz, dass sie ihre komfortable öffentlich-mediale Dominanz kaum zur Durchsetzung ideologischer Grundüberzeugungen und intellektueller Führung nutzte. Peter Robinson verweist auf die Tatsache, dass, obwohl Labour durchaus moderate Umverteilungspolitiken betrieb und Steuern erhöhte, auf klassische Umverteilungs- bzw. Gerechtigkeitsrhetoriken gänzlich verzichtete; Labour führte einen viel liberaleren Diskurs als es ihrer tatsächlichen Politik entsprach. Dies war wohl der Sorge geschuldet, New Labour 223
D. King/ M. Wickham-Jones1999; R. Sturm 2001a; U. Jun 2004: 371ff. P. Anderson/ N. Mann 1997 225 F. Plasser 2003: 387f. 226 Auch die deutsche Version eines „War Rooms“, die KAMPA 98, zielte auf die Aufmerksamkeit der Massenmedien und der Selbstdarstellung der Modernität der Sozialdemokratie, während die tatsächliche strategische Bedeutung der KAMPA unklar blieb. Vgl. F. Plasser 2003: 387f. und Kap. 5.3.1: ‚Der Interaktive Diskurs’. 227 J. Bartle/ D. Griffiths 2001 228 P. Norris 2001 224
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könnte mit dem alten ‚tax and spend’-Image von ‚Old’ Labour assoziiert werden229. So lange die Wirtschaft und somit das Verteilungsvolumen kontinuierlich wuchs, konnte die in der Öffentlichkeit immer öfter vorgetragene Behauptung ‚heimlicher Umverteilung’ und ‚heimlicher Steuern’ von Seiten der Regierung großzügig überhört werden. Diese Strategie, die dem politischen Zielkonflikt zwischen Steuersenkungen und Ausgabensteigerung auswich, war jedoch auf Dauer gefährlich, weil sie einen sozialdemokratischen Diskurs letztlich nicht führte und somit sozialdemokratische Werte und Ideen gesellschaftlich und kulturell nicht verstetigte. In diesem Sinne fragt Robinson: „Wie kann man einen Konsens dauerhaft verankern, wenn man in der Öffentlichkeit nicht ausdrücklich Schlüsselfragen (etwa: Wie viel ist der Gesellschaft soziale Gerechtigkeit wert?) formuliert und beantwortet?“230 Dieses diskursive Defizit wurde nach dem Schock der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Herbst 2008 überdeutlich. Die Ideen von New Labour wurden fast vollständig politisch, gesellschaftlich und kulturell entkräftet. Die Erosion eines finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, der die letzten zwanzig Jahre dominierte, könnte eine Art Zeitenwende sein, an der ein Politikzyklus endet und ein neuer mit einer grundlegenden Neuordnung der Beziehungen von Politik, Staat und Ökonomie beginnt. Dies allerdings setzt einen Politikdiskurs voraus, in dem sich ein neues Verständnis von Politikgestaltung und -anspruch entwickeln kann und sich ernsthafte und tragfähige Alternativen zu den ‚unerbittlichen Wachstumsdogmen der Wirtschaftslehre’ artikulieren können. Dass die New Labour elektoral so wenig von der Finanz- und Wirtschaftskrise zu profitieren scheint – obwohl sie im Vergleich mit ihren konservativen Konkurrenten weniger euphorisch und ideologisch begründet die Finanzmärkte de-reguliert und ehemalige Staatsunternehmen privatisiert hatte -, ist einerseits darin begründet, dass globaler Ebene auch bürgerliche Regierungen in ihrem Krisenmanagement nun auf traditionell sozialdemokratische Instrumente (Regulierung, Interventionismus, Keynesianismus) zurückgreifen und eine spezifisch sozialdemokratische Position im allgemeinen ‚Krisen-TINA’-Diskurs untergeht. New Labour hatte sich andererseits in den Jahren zuvor so weit der ZeitgeistMeinung untergeordnet, dass Märkte immer klüger flexibler, effizienter und billiger seien als die Politik, und hatte sich dabei ihrer traditionellen Begriffssysteme so vollständig entledigt, dass nun kein Diskurs kritischer Reflexion mehr zu Verfügung steht. Die Finanzkrise zeigt, dass die Labour Party zu gegenwärtigen Politikkonzepten keine grundlegende politische Alternative im emphatischen Sinn hat.
Britische und amerikanische Besonderheiten Durch die Betrachtung der Verlaufsgeschichte des ‚Dritten Weges’ wird deutlich, dass die normative Diskursdimension einer Neubestimmung der wertebegründeten Ziele, die kognitive Dimension von Policy-Projekten zur Erreichung dieser Ziele und schließlich die Professionalisierung der politischen Kommunikation zur Vermittlung ebendieser Ziele und Instrumente sich auf vielfältige Weise vermischen und wechselseitig bedingen. Diese Dimensionen müssen diskursanalytisch zwar kritisch auseinander seziert werden, da moderne 229 230
J. Hills 2002 P. Robinson 2007
3.3 Der ‚Dritte Weg’: Partei- und Kommunikationsmodernisierung
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Wahlkampf- oder Politikkommunikation (wie erfolgreich auch immer) allein noch keinen nachhaltigen öffentlichen Diskurs darstellen. Ein öffentlicher Regierungsdiskurs setzt gleichwohl in einer modernen Mediendemokratie eine avancierte politische Kommunikation voraus, steht immer in Beziehung (positiv anknüpfend oder negativ abgrenzend) zu vorherigen und kommenden Wahlkampf-Botschaften und versucht – vor dem Hintergrund konkreter Reformprogramme – die alltagspolitische Kommunikation argumentativ auf einer höheren diskursiven Ebene zu verdichten und zusammenzuführen und in gesamtgesellschaftlich inkludierende Werteorientierungen zu transformieren. So sehr sich Werte und Ideen, Policy-Inhalte und Politikvermittlung im Diskurs zwingend zusammenfügen, so sehr sind sie jeweils durch spezifische Bedingungen eines nationalen Kontexts bestimmt. Der britische wie amerikanische ‚Dritte Weg’ zeigen, dass sowohl die veränderten Rahmenbedingungen für Policies in Zeiten der Globalisierung als auch die Zwänge veränderter Wählermärkte gleichermaßen Initialmotivation für einen Revisionismus waren und untrennbar miteinander verbunden sind. Das bedeutet, dass die normativen Aussagen des ‚Dritten Wegs’ nicht von ihren strategischen Implikationen losgelöst betrachtet werden können. Diese strategischen Implikationen bedeuten aber zugleich, dass der ‚Dritte Weg’ auch in seiner normativen Dimension auf spezifische Bedingungen seines amerikanischen bzw. britischen Kontexts reagiert und nicht auf andere nationale Kontexte ohne ‚Reibungsverluste’ übertragbar ist. Beide Kontexte – der amerikanische und der britische – weisen vier spezifische Gemeinsamkeiten auf (auch wenn sie sich in anderen Hinsichten unterscheiden), die sie von anderen Länderkontexten trennen: Erstens: Großbritannien und die USA waren in den 1980er Jahren die zentralen ‚Schlachtfelder’ radikal neoliberaler Reformen. In beiden Ländern verbanden sich neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitiken (Reaganomics und Thatcherism) ferner mit einem Neokonservatismus, der den Rückbau des Wohlfahrtsstaats, Privatisierungen von Staatsunternehmen, Monetarismus und Steuersenkungen, die Deregulierung der Märkte, vor allem der Arbeitsmärkte und die Entmachtung der Gewerkschaften ideologisch über neu-alte Werte wie Familie, Religion, bürgerliche Moral, Ruhe und Ordnung oder Nationalismus legitimierte231. Sowohl für Roland Reagan als auch für Margaret Thatcher war der Rückbau des Wohlfahrtsstaats auch politisch motiviert und resultierte nicht nur – wie in anderen Ländern jener Jahre – aus funktionalen Zwängen. Margaret Thatcher betrachtete den Wohlfahrtsstaat ideologisch als Form der Beschränkung von Freiheit, die eine Abhängigkeitskultur kreiere, welche wiederum die moralische Energie und die Selbstdisziplin der Individuen untergrabe232. Daher sind die Reformdiskurse der New Democrats wie auch von New Labour Nachfolge-Reformdiskurse, die die umfassenden Veränderungen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ihrer Vorgänger als unhintergehbare Realität in ihren eigenen Diskurs integrieren, politisch allerdings korrigieren. Von sich aus hätte die Labour Party diesen radikalen Reformenpfad der 1980er Jahre wahrscheinlich nie beschritten, doch sie akzeptierte wesentliche Änderungen233. Zweitens: In einem Mehrheitswahlsystem – wie den USA und Großbritannien – vollzieht sich der Wettbewerb zweier Parteien entlang einer eindimensionalen, sich vor allem 231 232 233
D. King/ S. Wood 2000; D. Kavanagh 1990 R. Eccleshall 1994: 74f. A. Giddens 2002a: 8
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an Verteilungsfragen ausrichtenden Rechts-Links-Achse, so dass die angestrebte Stimmenmaximierung in der Mitte des politischen Spektrums in der Regel zu geringen Verlusten an den Rändern führt. In Verhältniswahl- und Mehrparteiensystemen hingegen ist die Ausgangslage komplizierter, da die politische Vernachlässigung der Ränder (bzw. des Median-Wählers der eigenen Parteigefolgschaft) zu erheblichen Stimmenverlusten oder gar zu Abspaltungen bzw. Neugründungen von Parteien führen kann, da das Koordinatensystem der Parteikonkurrenz durch mehrdimensionale Achsen determiniert ist (z. B. durch sozialkonservative, nationalliberale, populistische, regionalistische oder postmaterialische Parteien)234 und da Regierungen von Parteikoalitionen gebildet werden, so dass es zu Stimmenverschiebungen innerhalb von politischen Lagern kommen kann235. In einem Zwei-Parteien-System zielen New Democrats und New Labours politische Botschaften der Selbstverantwortung und Leistungsbereitschaft, des Versprechens, die Steuern nicht zu erhöhen sowie einer harten Haltung gegenüber Kriminalität auf wahlentscheidende Mittelschichten, die entweder für die eine oder andere Partei votieren. In einem Mehrparteien-System hingegen können sozialdemokratische Parteien mit einer zu ausgeprägten ‚Law & Order’-Haltung Wähler an linksalternative Parteien, mit einer zu starken Leistungsbetonung an linkspopulistische Parteien verlieren. Drittens: New Labour und New Democrats zielen mit ihren Botschaften auf Mittelschichten in einem residualen (wie Großbritannien) bzw. einem kaum existierenden (wie in den USA) Wohlfahrtsstaat, die ihre – über die soziale Grundsicherung hinausgehenden – Wohlfahrtsbedürfnisse selbst auf dem privaten Markt befriedigen müssen, während die Unterklassen im Sinne der Armenfürsorge auf sehr gering ausgestattete Sozialprogramme angewiesen sind. Die Mittelschichten sind hier kaum oder gar nicht in die Sicherungssysteme eingebunden, was zu einer natürlichen Distanz zu oder gar Ablehnung von staatlichen Wohlfahrtleistungen führt. Eine politische Rhetorik, die den Werten der Mittelschichten in residualen Wohlfahrtsstaaten zu entsprechen versucht, profiliert sich somit zwangsläufig auf Kosten der Wohlfahrtsabhängigen. In Wohlfahrtsstaaten hingegen, in denen auch die Mittelschichten in vielfältiger Weise von umfassenden Sozialleistungen profitieren (vor allem in Schweden, aber auch in Deutschland), ist eine rhetorische Polarisierung von Mittelschichten auf der einen Seite, die über ihre Steuern Sozialleistungen finanzieren, und Unterschichten auf der anderen, die Leistungen beziehen, in dieser Weise nicht möglich. Viertens: Die USA und Großbritannien sind unkoordinierte, liberale Marktwirtschaften, die sich durch unternehmerischen Kurzfristorientierungen, deregulierte und fluide Arbeitsmärkte, fragmentierte Lohnfindungen, schwache Gewerkschaften und einen großen Niedriglohnsektor (‚low skill, low wage’) sowie große Lohnunterschiede kennzeichnen236, und so eine spezifische Problem- und Problemlösungssituationen erzeugen, die sich von Ländern mit koordinierten Marktwirtschaften (Schweden, Deutschland) unterscheiden237. Da der Staat in unkoordinierten Marktwirtschaften in das Marktgeschehen nicht regulativ eingreift und Kooperations- und Konzertationsstrukturen zwischen korporativen Akteuren sowie der Regierung fehlen, obliegt es allein dem Wohlfahrtsstaat, die sozialen Verwerfungen, die sich aus den Risiken des Marktkapitalismus ergeben, auszugleichen oder 234
Herbert Kitschelt hat dieses Dilemma für sozialdemokratische Parteien beschrieben. Vgl. H. Kitschelt 1994 Vgl. Kap.4.1: ‚Input-Filter: Das politische System’ 236 P.A. Hall/ D. Soskice 2001. Vgl. Kap. 4.2: ‚ Input-Filter: Die wohlfahrtsstaatliche und politisch-ökonomische Ausgangssituation’ 237 Vgl. Kap. 4.2: ‘Input-Filter: Die wohlfahrtsstaatliche und politisch-ökonomische Ausgangssituation’ 235
3.4 Der ‚Dritte Weg’ als diskursiver Rahmen
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abzufedern. In einer solchen politischen Ökonomie ergeben sich einerseits für Gerechtigkeits- und andererseits für Effizienzdiskurse zwangsläufig andere Bezugspunkte als in koordinierten Marktwirtschaften. So ist beispielsweise die kommunikative Wirkung und Attraktivität eines öffentlichen Diskurses, der auf Aktivierung und Investitionen in Humankapital zielt, in einer politischen Ökonomie, die wesentlich auf niedrig qualifizierten und gering entlohnten Arbeitskräften basiert, eine andere als in einer nord- oder kontinentaleuropäischen Marktwirtschaft, die von jeher auf gut ausgebildeten und gut bezahlten Facharbeitern, weitreichendem Kündigungsschutz und einem ausgebauten öffentlichen Sektor gründet238. In einer frühen Phase des New Labour-Diskurses war die Idee einer ‚Stakeholder Economy’ noch wichtiger Programmpunkt und zentrale Vision und wurde einem ‚Shareholder Capitalism’ britischer Provenienz – Inbegriff der Thatcher-Jahre – rhetorisch gegenübergestellt239. Tony Blair deutete zwar in einer Rede am 8. Januar 1996 in Singapur mit dem Begriff ‚Stakeholding’ noch eine Revision des angelsächsischen Kapitalismusmodells an, doch verschwand die politische Idee einer Überwindung des Modells angelsächsischer Marktökonomie alsbald aus dem New Labour-Diskurs. Im Wahlkampf 1997 spielte der Gegensatz unterschiedlicher Kapitalismustypen keine Rolle mehr240.
3.4 Der ‚Dritte Weg’ als diskursiver Rahmen sozialdemokratischer Standortbestimmung Jenseits der spezifischen Ausgangs- und Rahmenbedingungen, wahlstrategischen Initialmotivationen und Policy-Orientierungen des amerikanischen und britischen ‚Dritten Weges’ zeichnet der ‚Dritte Weg’ als programmatischer Diskurs einer postindustriellen Sozialdemokratie einen komplexen Argumentations-Rahmen aus normativen Neubewertungen, Problemanalysen, Fragestellungen und praktisch-politischen Lösungsansätzen, in den die jeweiligen länderspezifischen Reformprogramme eingefügt werden können. Diese Zusammenführung mehrdimensionaler Argumentationsstränge bei gleichzeitiger Offenheit für pragmatisch angemessene Politik-Umsetzungen kennzeichnet die Form öffentlicher Reformdiskurse im Allgemeinen und die des ‚Dritten Weg’-Diskurses im Besonderen und erklärt seine programmatische Ausstrahlung auf sozialdemokratische Parteien über den amerikanischen und britischen Kontext hinaus. Denn ein öffentlicher Reformdiskurs zeichnet sich grundsätzlich dadurch aus, dass in ihm verschiedene, teilweise spannungsreiche kognitive Argumente und normative Wertorientierungen integriert und zusammenfügt werden. Der Diskurs konstruiert auf diese Weise einen so weiten Kommunikationsraum, dass in ihm gleichermaßen die Notwendigkeit und allgemeine Stoßrichtung der Reformen als ein Ganzes wie auch eine Variationsbreite konkreter (national unterschiedlicher) PolicyProgramme legitimiert werden können. Der ‚Dritte Weg’ oder – allgemeiner – ein sozialdemokratischer Revisionismus als Diskurs kommuniziert aber zugleich zwingend den Rahmen selbst, als eine programmatische Verdichtung und Abgrenzung, als politische
238
S. Giaimo/ S. White, Stuart 2001; G. Bonoli/ M. Powell 2002 Vor allem Will Huttons Buch „The State We’re in“ wurde zu einer wichtigen argumentativen Ressource. Vgl. W. Hutton 1995 240 C. Hay 1999; R. Backburn 1997; R. Sturm 2001a 239
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Vision, Politikentwurf und als bildhafte Antwort auf die Frage, was unter Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert zu verstehen ist. Der Erfolg des sozialdemokratischen Reformdiskurses ist dementsprechend nicht nur (wenn auch wesentlich) davon abhängig, inwieweit es gelingt, normative und politischpraktische Teildiskurse zu einem widerspruchsfreien, kohärenten Diskurs-Ganzen zusammenzufügen, sondern auch davon, ob er als attraktive politische Idee insgesamt eine diskursive Strahlkraft entfalten kann. Ein öffentlicher Diskurs ist eine komplexe Matrix unterschiedlicher Argumente, Policy-Vorschläge und Werte und gleichsam ein selbst Label, das allumfassend Eigensinn und Selbstbewusstsein in die Öffentlichkeit kommuniziert. Diese Differenzierung ist von zentraler Bedeutung, da ein nur auf seine argumentative ‚Innenstabilität’ fokussierender Diskurs Gefahr läuft, in einen technokratischen Eliten-Diskurs abzudriften. Denn ein öffentlicher Diskurs kommuniziert nie nur ein Reform-Programm, sondern immer auch zugleich eine ‚Vision’, die über den reinen Policy-Bereich hinaus reicht und aus der sich Gestaltungswille und Legitimation des eigenen politischen Anspruchs ableiten. Es geht also um die Frage, ob der ‚Dritte Weg’ – jenseits innerparteilich programmatischer Neubestimmungen, Analysen und Instrumentendiskussionen – eine genuin sozialdemokratische und zeitgemäße Zukunftsperspektive, also den eigenen Politikdiskurs in die Gesellschaft hinein kommunizieren kann. Um seine gesamtgesellschaftlichen Diskursstärken oder -schwächen in diesem Sinne zu erfassen, ist es notwendig, den ‚Dritten Weg’ als ein Ideenkonstrukt genauer zu bestimmen und im Feld politischer Ideen zu lokalisieren. Ist der ‚Dritte Weg’ eine neue politische Ideologie mit einem eigenen distinktiven Kern und einer eigenen theoretischen und moralischen Weltbeschreibung, eine strategische Neuorientierung innerhalb einer bestehenden Ideologie oder eine Symbiose unterschiedlicher Ideologien? Ist er eine zentristische Positionierung zwischen den polarisierenden Extremen oder bestimmt er jenseits der Extreme die politischen Zuschreibungen von ‚links’ und ‚rechts’ gänzlich neu? Es sind vor allem zwei Argumentationsfiguren, die die in sich geschlossene logische Struktur aus Werten, Analysen, Ideen und Instrumenten nach außen und gegen andere politische Ideengebäude abgrenzen und auf diese Weise einen Freiraum für die eigene Sichtweise der Dinge schaffen: Zum einen die Idee des ‚Dritten’ jenseits überkommener Gegensätze alter Politik. Zum anderen – mit ersterem eng verbunden – die Betonung des Pragmatismus „What’s best is what works“241 als politische Handlungsmaxime und neues Politikverständnis.
Das ‚Dritte’: Bruch, Überwindung, Erneuerung und Kontinuität Vor dem Hintergrund veränderter Politikbedingungen und -voraussetzungen überwindet der ‚Dritte Weg’242 eine nicht mehr zeitgemäße polarisierte Welt und sucht nach Lösungen jenseits des sozialdemokratischen etatistischen Politikansatzes und des marktfundamentalistischen Neoliberalismus. Auf diese Weise geht er über traditionell sich ausschließende Ideen hinaus und transformiert sich in etwas Neues. Dieses Neue – so betont Giddens und 241
J. Le Grand 1998 Da in Deutschland der Begriff „Dritter Weg“ historisch vorbelastet war, fungierte hier die Modernisierung bzw. Selbstdarstellung der Sozialdemokratie im Bundestagswahlkampf 1998 unter dem Etikett „Neue Mitte“. Dieses Etikett wurde im Wesentlichen analog zum „Dritten Weg“ verwendet.
242
3.4 Der ‚Dritte Weg’ als diskursiver Rahmen
89
andere – ist aber weiterhin ein linkes Projekt und bleibt den Grundwerten der Sozialdemokratie verhaftet. Das Dritte, das Neue zwischen den Politikalternativen ist also eine erneuerte, zeitgemäße Sozialdemokratie, die mit veränderten Instrumenten die Gegenwart und Zukunft zu gestalten versucht, ohne dabei die Werte der Vergangenheit aufzugeben243. Wie sich dieser Ansatz schließlich in praktische Reform-Policies sozialdemokratischer Regierungen und Parteien übersetzte, ist in einer sehr vielfältigen Forschungsliteratur in den letzten Jahren hinreichend untersucht worden. Hier soll es stattdessen um die strategische Metapher des ‚Dritten’ als Diskursressource gehen. In dem Maße wie der ‚Dritte Weg’ eine Mittelposition zwischen zwei diametral entgegen gesetzten Politikorientierungen erfolgreich besetzt, erfüllt eine solche Selbstverortung zwei wichtige Argumentationsfunktionen: Erstens stellt er eine Art Kompromiss zwischen zwei Politikalternativen dar, indem er ihre jeweiligen positiven Eigenschaften inkorporiert, ihre Defizite jedoch ausschließt. Wie alle historischen ‚Dritten Wege’ vor ihm, beansprucht auch der sozialdemokratische ‚Dritte Weg’ der 1990er Jahre somit für sich eine quasi natürliche Objektivität, die aus der Zurückweisung eines unproduktiven Antagonismus resultiert244. Auf diese Weise wird der eigene Argumentationsort vorteilhaft als ideale und reale ‚politische Mitte’ definiert245, von dem aus die abgelehnten Alternativen in eine Randposition gedrängt werden und man selbst in alle Richtungen argumentieren und sich abgrenzen kann. Zweitens proklamiert das ‚Dritte’ im sozialdemokratischen Modernisierungsdiskurs Modernität, da die hinter sich gelassenen Politikorientierungen der Vergangenheit angehören, deren Überwindung jedoch in die Zukunft weist. Dadurch dass die traditionelle Dichotomie als dogmatisch erstarrt und nicht mehr zeitgemäß beschrieben wird, gewinnt die moderne Überwindung dieser Gegensätze eine natürliche Überlegenheit. Indem der ‚Dritten Weg’ die Überwindung alter Gegensätze als Notwendigkeit veränderter politischer, ökonomischer oder sozialer Rahmenbedingungen beschreibt, strukturiert er gleichzeitig das Feld der politischen Auseinandersetzung im Sinne der eigenen (Mittel-) Position neu und schafft sich so – auch im kommunikationspolitischen Alltag – neue Diskursressourcen. Doch zugleich stecken ‚Dritte Wege’ prinzipiell in einem Dilemma. „Sie sind nicht eigenständig. Sie brauchen die Folie des Versagens eines ersten und zweiten Weges, damit sie denjenigen Weg definieren können, der erfolgreich zwischen beiden hindurch führt.“246 Aus diesem Grund kann die diskursive Stärke eines neuen ‚Dritten’ schnell zu einer Schwäche werden; nämlich dann, wenn es zwar alte Dichotomien hinter sich lässt, das eigene Projekt aus dieser Überwindung aber nicht distinktiv hervortritt und wenn zwar unterschiedliche, gegensätzliche bzw. spannungsreiche politische Werte und Ideen integriert, die Spannungen zwischen diesen aber nicht aufgelöst werden. In diesem Fall werden Mehrdeutigkeiten problematisch und können leicht zu falschen Erwartungen und kommunikativen Widersprüchen in öffentlichen Reformdiskursen führen. Betrachtet man aus dieser Perspektive nun den sozialdemokratischen ‚Dritten Weg’ der 1990er Jahre, so lässt er sich negativ, also abgrenzend bestimmen. Auf der einen Seite fällt die Abgrenzung zu einer ‚alten’ Sozialdemokratie des keynsianistischen Wohlfahrtsstaats leicht, da deren Voraussetzungen aufgrund sozioökonomischer und soziokultureller 243
Vgl. Kap. 3.2.2: ‚Neue Politik jenseits von Fundamentalalternativen’ S. Bastow/ J. Martin/ D. Pels 2002 245 R. Sturm 2001b 246 R. Sturm 2001b 244
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
Veränderungen gleich in mehrfacher Hinsicht abhanden gekommen sind und somit auch ‚traditionelle’ wirtschafts- und sozialpolitische Steuerungselemente ihren politischen Gestaltungssinn verloren haben. In den 1990er Jahren, in denen das gesellschaftlich Zerstörerische des Marktradikalismus überdeutlich wurde, gelingt auch auf der anderen Seite die rhetorische und politische Abgrenzung zum Neoliberalismus. Die politische Attraktivität der neoliberalen Ideologie nahm in dem Maße ab, in dem sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt zustörte, die Bürger durch immer weiterreichende Flexibilisierungs- und Marktfähigkeitsanforderungen erschöpfte, offensichtlich ungerecht war und die gesamtökonomische Leistungsfähigkeit ihrer Instrumente – entgegen ihrem originären Anspruch – begrenzt war. Der Vorwurf, der vor allem von der anti-kapitalistischen Linken außerhalb und vom linkstraditionalistischen Flügel innerhalb der Sozialdemokratie erhoben wird, dass der ‚Dritten Weg’ im Kern eine Akzeptanz neoliberaler Positionen und Vorstellungen247 bzw. eine nur sozialere, abgeschwächte Variante des ‚Thatcherismus’248 darstelle, trifft eindeutig nicht zu. Dieser Vorwurf ist von der überwiegenden Mehrheit der Autoren klar als ‚analytisch unsinnig’ widerlegt worden249. Doch auch wenn der ‚Dritten Weg’ keinesfalls als sozialdemokratische Variante des Neoliberalismus betrachtet werden darf, so muss jedoch die diskurstheoretisch weit wichtigere Frage, ob er den Neoliberalismus mit einem eigenen, politisch und ideologisch wirkungsmächtigen Gegendiskurs dialektisch überwinden kann, verneint werden. Dies, weil zum einen zu viele Fragmente des neoliberalen Diskurses wie beispielsweise Standortkonkurrenz im globalen Zeitalter, ein Loblied auf die Effizienz der Märkte und einen schlanken Staat oder die Moralisierung des Wohlfahrtsstaats in den eigenen sozialdemokratischen Diskurs unkritisch integriert werden. Zum anderen, weil die Interessendimension, die den Neoliberalismus als wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Projekt von Anfang an befeuerte, im ‚Dritten Weg’-Diskurs ignoriert werden. In seiner normativen wie kognitiven Dimension bestimmte sich der neoliberale Diskurs explizit (sowohl in seiner theoretischen Formulierung bei Friedrich Hayek und Milton Friedman wie auch in seiner politischen Formulierung bei Ronald Reagan und Margaret Thatcher) über seinen Feind, nämlich die historischen Organisationen der Arbeiterklasse und deren relative Machtposition innerhalb des Wohlfahrtsstaatskompromisses. Indem der ‚Dritte Weg’ diese Artikulation eines Feindbilds und die Interessenmotivation bei der Auflösung der im Fordismus erkämpften sozialen Strukturen ignoriert und den Neoliberalismus bloß als Fehlentwicklung jenseits aller Macht- und Dominanzkämpfe kritisiert und somit entpolitisiert, kann er über eine negative Abgrenzung kaum diskursiven Ressourcen akquirieren. Die positive Bestimmung des ‚Dritten Weges’ ist ebenfalls recht unklar. Die programmatisch-ideologische Bestimmungsschwierigkeit ist darin begründet, dass der ‚Dritte Weg’ der 1990er Jahre in einer historischen Traditionslinie älterer ‚Dritte Wege’250 steht, 247
Vgl. zum Beispiel A. Callinicos 2001 „Thatcherism with a human face is not so far from capturing the true essence of the ‚Third Way’“. C. Hay/ M. Watson 1999: 178 249 Wolfgang Merkel hat diesen Vorwurf analytisch klar und plausibel ausgeräumt. W. Merkel 2000a: 275, 2000b. Vgl. auch S. Driver/ L. Martell, Luke 2002; K. Schönwalder 2002 250 Hier kann es nicht darum gehen, eine vollständige Geschichte historischer „Dritter Wege“ nachzuzeichnen. Als „Dritte Wege“ bezeichneten sich z.B. selbst oder wurden bezeichnet: Die Austro-Marxisten um Otto Bauer oder die ethischen Sozialisten, die in 1920er und 30er Jahren einen integralen Weg zwischen sowjetischem Modell und sozialdemokratischen Reformen suchten. Die Protagonisten des „Prager Frühlings“ um Alexander Dubcek und Ota Sik bezeichneten 1968 ihr „Konzept einer Humanen Wirtschaftsdemokratie“ als „Dritten Weg“, ebenso die italienischen Euro-Kommunisten um Enrico Berlinguer ihren „Historischen Kompromiss“. Auch der Faschismus 248
3.4 Der ‚Dritte Weg’ als diskursiver Rahmen
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die – grob gesprochen – alle danach strebten, das Spannungsverhältnis von Staat und Markt, Bevormundung und Freiheit, ‚Kollektivismus’ und ‚ungezügelter Marktfreiheit’ zu überwinden. In diesem Sinne ist bereits die Sozialdemokratie an sich bzw. der kapitalistische Wohlfahrtsstaat, das schwedische ‚Volksheim’ oder der deutsche ‚Rheinische Kapitalismus’ ein ‚Dritter Weg’ (und als solche sind diese Modelle auch bezeichnet worden). Diese Tatsache schließt natürlich nicht aus, dass in jeder neuen politischen Phase immer wieder neue ideologische Dualismen entstehen, die durch ein ‚Drittes’ überwunden werden können. In einer Zeit jedoch, die nicht mehr von politischen Systemkonkurrenzen und fundamentalen Ideologiekonflikten geprägt ist, Demokratie, Marktwirtschaft wie auch politische, bürgerliche und soziale Grundrechte sich als allgemein verbindliche Normen durchgesetzt haben, ist der Abstand zwischen erstem und zweitem so klein geworden, dass es für jeden ‚Dritten Weg’ schwieriger wird, einen genuin eigenen ideologischen Kern auszuprägen, der auch diskurspolitisch aktivierbar ist. Für den sozialdemokratischen Reformdiskurs der 1990er Jahre stellt sich die diskursanalytisch wichtige Frage, ob das neue ‚Dritte’ eine politische Alternative darstellt und kommuniziert. Da ein öffentlicher Diskurs durch seine normative Wertebegründung notwendig über die reine Kommunikation von Policy-Optionen hinausreicht, gleichermaßen kommunikativ eine ideologische Position, eine realistisch-utopische Zielorientierung wie auch ein grundsätzliches Interpretationsmuster repräsentiert, ist es für den Durchsetzungserfolg eines Diskurses entscheidend, dass die jeweiligen politischen Handlungen diskursiv immer wieder an einen klaren, widerspruchsfreien ideologischen Kern rückgekoppelt werden können. Ein zentrales Problem des ‚Dritten Weges’ ist es jedoch, dass, obwohl die veränderten gesellschaftlichen wie politischen Risikostrukturen analysiert und eine Vielzahl neuer richtungsweisender Policies und institutioneller Arrangements vorgegeben werden, er bei der letztendlichen Bestimmung der Balance von Staats- und Marktfunktionen genauso vage bleibt und bleiben muss wie die ‚alte’ Sozialdemokratie. Der ‚Dritte Weg’ scheint diskursiv Markt und Staat, Rechte und Pflichten, soziale Gerechtigkeit und privates Eigentum gleichermaßen zu umarmen. Der Markt wie auch der Staat weisen gleichermaßen Funktionsdefizite und -vorzüge auf und die politische Entscheidung für das eine oder andere Instrument der Wohlfahrtsproduktion sollte daher keine dogmatisch-ideologische sein, sondern sich einzig daran ausrichten, was im Ergebnis funktioniert. Obwohl der ‚Dritte Weg’ stärker marktwirtschaftlicher Lösungen betont und – wichtiger noch – die nur sehr eingeschränkte Fähigkeit regulativer Interventionen seitens des Staates hervorhebt, stimmt er in seinem argumentativen Kern mit dem überein, was die SPD in ihrem Godesberger Grundsatzprogramm bereits 1959 mit der Formel „So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig“ proklamiert hat251. Diese Formel zeichnet genau das Spannungsfeld, das die Sozialdemokratie programmatisch wie umsetzungspolitisch seit dem 2.Weltkrieg bestimmt hat. Die Spannungen der Dichotomien von freiem Markt und staatlicher Regulierung bzw. individueller Selbstverantwortung und wohlfahrtsstaatlichen Transferleistungen werden auch im ‚Dritten Weg’ – entgegen dem eigenen Anspruch – nicht aufgelöst252. Denn auch das Ziel der Inklusion setzt Formen der Regulierung und Redistribution voraus. So betont beiversuchte sich zwischen der alten Polarität eines internationalen Kapitalismus und eines internationalistischen Marxismus zu platzieren, um eine abgeschlossene, autarke völkisch begründete Gemeinschaft des nationalen Sozialismus herzustellen. Vgl. u.a. T. Meyer 1998; A. Gallus/ E. Jesse 2001 251 „Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig!" Vgl. D. Münkel 2007: 225 252 S. Driver/ L. Martell 2002: 84ff.
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
spielsweise der ehemalige Vorsitzende der belgischen Sozialisten Frank Vanderbroucke, dass eine auf Chancengleichheit setzende Politik die Unterschiede von individuellen Talenten und Möglichkeiten nicht ignorieren dürfe und dass – selbst wenn die Gleichheit der Chancen formal hergestellt sei – die Unterschiede der Marktergebnisse nicht die individuelle Leistungsbereitschaft und Selbstverantwortung widerspiegeln. Demnach ist das politische Ziel sozialer Gerechtigkeit auch bei einer Neubewertung der Politikinstrumente – so Vanderbroucke – letztlich ohne Redistribution nicht zu erreichen253. Auch wenn ein ‚nationaler keynesianistischer Wohlfahrtsstaat’ und eine Vielzahl traditioneller Politikinstrumente in einem grundlegend veränderten ökonomischen Kontext obsolet geworden sind, müssen die politischen Gestaltungsprinzipien wie wirtschaftliche Effizienz, Pluralismus, Gleichheit und Autonomie der Individuen weiterhin austariert werden. Das bedeutet, dass der ‚Dritten Weg’ ein sozialdemokratisches Handlungsprogramm unter den Bedingungen der 1990er Jahre neu bestimmt und mit den sozialdemokratischen Grundwerten normativ abgleicht und dabei zwar viel Richtiges, aber insgesamt auch wenig ideologisch Neues formuliert. Denn Chancengleichheit, aktivierende Arbeitsmarktpolitik oder Selbstverantwortung (im Sinne solidarischer Reziprozität zwischen Gemeinschaft und Individuum) sind auch im Diskurs der so genannten ‚alten’ Sozialdemokratie keine gänzlich unbekannten Begriffe. Was sich jedoch in dem neuen Revisionismus-Diskurs durch das überwindende und integrierende ‚Dritte’ rhetorisch fundamental verändert hat, ist die realistische Akzeptanz einer politischen Wirklichkeit, deren Herausforderungen und Spannungen nicht durch ein einziges allumfassendes Regulationsprinzip (wie z.B. der Staat) zu beantworten sind. Mit dem ‚Dritten Weg’ kommt die Sozialdemokratie auch programmatisch in der kapitalistischen Wirklichkeit an (dort, wo sie realpolitisch bereits war), indem sie erkennt, dass es den einen einzigen omnipotenten Schlüssel zur Lösung aller sozialen Widerspruche nicht gibt, sondern dass unterschiedliche Regulationsinstrumente jeweils ambivalente Ergebnisse und ‚Trade-offs’ erzeugen, die es immer wieder neu politisch zu moderieren und mit Blick auf die normativen Zielwerte kontinuierlich zu justieren gilt. Doch damit – und dies ist diskurspolitisch bedeutsam – wird die eine große politische Idee von mehreren kleineren Ideen abgelöst. Soziale Gerechtigkeit beispielsweise wird nunmehr als komplexes Ergebnis einer Vielzahl konkreter Einzelmaßnahmen betrachtet und nicht mehr als sozialromantisches Ergebnis eines einzigen eindimensionalen, universellen und finalen Gestaltungsprinzips. So sehr diese programmatische Wahrnehmungsveränderung einer zeitgemäßen Wirklichkeitsinterpretation auch entspricht und eine zwingende Voraussetzung jeglicher sozialdemokratischer Reformpolitik bedeutet, so bricht sie doch mit einer traditionellen sozialdemokratischen Vorstellungswelt254 (vor allem der eignen Mitgliedschaft) und lässt die ‚schillernde Ästhetik’ eines eigenen visionären Begriffs- und Ideensystem hinter sich zurück. Dadurch wird speziell im sozialdemokratischen Diskurs – der sich von jeher durch seinen visionären Mehrwert von anderen Diskursen unterschied – ein Vakuum erzeugt, das mit neuen Ideen zur Vitalisierung eigener Visionen diskursiv gefüllt werden muss, ohne dabei mit dem realpolitischen Handlungsprogramm in Widerspruch zu geraten. Während unterschiedliche, im ‚Dritten Weg’-Diskurs aufgeworfene PolicyTeildiskurse zur Reform der Wohlfahrtsstaaten auch heute noch die Debatten der Sozialdemokratie bestimmen, ist der ‚Dritte Weg’ insgesamt als allumfassende, begrifflich253 254
F. Vanderbroucke 2002: xiv M. Freeden 1999b
3.4 Der ‚Dritte Weg’ als diskursiver Rahmen
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symbolische Verdichtung der Vision einer erneuerten Sozialdemokratie aus den öffentlichen Diskussionen verschwunden. In der britischen Labour Party spielt – ganz im Gegensatz zu anderen Schlagworten ‚New Labour’, New Deal’ oder ‚Progressive Politics’ – der Begriff des ‚Dritten Weges’, in der deutschen SPD der einer ‚Neuen Mitte’ schon lange keine kommunikative Rolle mehr, die schwedische SAP, die bereits in den 1980er mit ihren Modernisierungsprogramm einen eigenen ‚Dritten Weg’ beschritten hatte, hielt in den 1990er und 2000er Jahren Distanz zu den Revisionismusdebatten der britischen und deutschen Schwesterparteien.
Pragmatismus als Dreh- und Angelpunkt Wenn das Spannungsverhältnis zwischen wohlstandsoptimierender Leistungsfähigkeit der Märkte auf einen Seite und – aufgrund der Märkten inhärenten Funktionsdefizite – notwendig zielführenden Marktregulativen und makro-ökonomischen Koordinationen durch den Staat auf der anderen prinzipiell nicht aufgelöst werden kann, bleibt nur die pragmatische aufgaben- und problembezogene Abwägung, welchen Wohlfahrtsmechanismus man mit Blick auf die Politikziele mit welchen Aufgaben betraut. In seiner Abgrenzung zur ‚alten’ Sozialdemokratie charakterisiert sich der ‚Dritte Weg’ auch durch seine explizit pragmatische Haltung eines ‚permanenten Revisionismus’255. Das bedeutet, Politikziele bleiben beständig, die Politikmittel müssen jedoch kontinuierlich dem Wandel sich ändernder politischer Rahmenbedingungen angepasst werden. Durch Einbindung, Ausprobieren und Evaluieren unterschiedlicher Politikansätze ohne dabei den Blick durch Scheuklappen der Tradition einzuengen, setzt sich der ‚Dritte Weg’ bewusst von allerklärenden Ideologien ab und sucht einen pragmatischen Weg zwischen den Ideologien256. Während heute – vor dem Hintergrund globalisierungsbedingt eingeschränkter Gestaltungsmöglichkeiten, den vielfältigen Umbauherausforderungen der Sozialsysteme, den tiefgreifenden Veränderungen der Arbeitswelt, zersplitterter Interessen und nicht zuletzt einer hochdynamischen Gesellschaft – pragmatische Problemlösungen zweifellos die einzig angemessene (und dabei höchst anspruchsvolle) Form zeitgemäßer Regierungstätigkeit beschreiben, muss der Pragmatismus-Aspekt als Ressource im öffentlichen Diskurs allerdings sehr differenziert betrachtet werden. Denn es können sich durchaus Diskrepanzen ergeben, zwischen einer pragmatischen Haltung in der Policy-Sphäre und einer notwendigen normativen Kommunikation im öffentlichen Diskurs. Einerseits eröffnet ein politischer Pragmatismus den Diskursprotagonisten neue und vielfältige kommunikative Freiräume. In dem Maße wie ein quasi-separater, sich häufig selbstbeschränkender sozialistischer Theoriekorpus, dem es eine vielfältig widersprüchliche Wirklichkeit anzupassen galt, verworfen wird, vergrößern sich die intellektuellen und wissenschaftlichen Ressourcen und Freiheiten, politische Lösungen den Herausforderungen und nicht einer Dogmatik entsprechend kommunizieren zu können. Durch diese Offenheit können auch die Unterschiede zwischen normativen Politik-Zielen und praktischen PolitikInstrumenten besser kommuniziert und die Notwendigkeit der Erneuerung derselben besser begründet werden. Zudem scheint ein Problemlösungspragmatismus und die diesem ent255 256
T. Blair 1998a: 4 B. Hombach 1998
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
sprechende politische Kommunikation den Ansprüchen einer dynamischen und lebensweltlich fragmentierten Gesellschaft zu entsprechen, in der sich traditionelle Milieus auflösen, sich politische Einstellungen individualisieren und ideologische Überzeugungssysteme kaum noch verwurzelt sind. Refom-Policies in einem passe-partout allzu starrer Ideologiesysteme diskursiv zu legitimieren, ist in einem solchen gesellschaftskulturellen und medialen Kontext grundsätzlich kaum mehr möglich. Andererseits – und genau hier wird der Unterschied zwischen einem zu kommunizierenden Reformprogramm und dem dahinter stehenden öffentlichen Diskurs sehr deutlich – tendiert die pragmatische Integration heterogener theoretischer Positionen und Politikstrategien dazu, neue Problemlagen als neutrale Sachzwänge zu kommunizieren, die es nicht nur ideologiefrei zu lösen, sondern auch zu diskutieren gelte. Ein solcher, von einer ‚Ideologie des Nicht-Ideologischen’257 inspirierter Diskurs prägt fast zwangsläufig eine ‚kalte’, ökonomische Effizienzrhetorik, eine Sprache ‚betriebswirtschaftlicher Kosten-NutzenRechung’ aus, die zwar in seiner kognitiven Dimension durchaus überzeugen kann, in seiner normativen Dimension aber ‚Wärme’ vermissen lässt. Ferner läuft ein öffentlicher Reformdiskurs, der vor allem auf der politischen Kommunikation pragmatisch zu lösender Sachzwänge gründet, Gefahr sich selbst zu entpolitisieren, sich also von sozialen und gesellschaftlichen Gegensätzen abzukoppeln, indem er suggeriert, dass politische Probleme und deren Lösung bloß technischer Natur seien. In diesem Fall werden die Reformen als eine Art unausweichliches Schicksal kommuniziert, die sich z.B. aus den Veränderungen der Globalisierung, des demographischen Wandels oder neuer sozialer Risiken ergeben. Werden unterschiedliche Problemlösungen allerdings allein als ein pragmatischer Wettbewerb der Ideen auf einem politisch gänzlich neutralen Terrain beschrieben, dann verschwinden gesellschaftliche Interessengegensätze und Machtverhältnissen aus der diskursiven Reform-Legitimation. Da die politischen und ökonomischen Veränderungen und Reformzwänge ihrerseits keine neutralen Phänomene sind, sondern neue sozioökonomische Gräben und Gegensätze erzeugen (z.B. so genannte Modernisierungsverlierer) und dementsprechend politische Reformen in einer kapitalistischen Demokratie nie von Interessengegensätzen, öffentliche Diskurse in demokratischen, heterogenen und medialen Kommunikationsräumen nie von konkurrierenden Diskursen und schließlich Parteien nie vom Parteienwettbewerb abgetrennt werden können, ist eine rein technisch-neutrale Reformkommunikation diskursstrategisch problematisch. Denn eine solche Kommunikation verkennt, dass in pluralistischen Demokratien öffentliche Diskurse ihrem Wesen nach einen antagonistisch-konfliktorischen Kern haben, indem sie sich immer als Alternativen zu bestehenden hegemonialen oder konkurrierenden (ihrerseits nach Hegemonie strebenden) diskursiven Wahrnehmungsmustern und Wissens- und Wertesystemen artikulieren. Auch wenn Diskurse ihrer Funktionslogik entsprechend danach streben, ihre politische ‚Wirklichkeit’ in der gesellschaftlichen Mitte als eine neue Hegemonie zu etablieren (und die Formulierung, ‚sich der Realität beugen’ und diese pragmatisch gestalten zu wollen, ist bereits Teil dieser hegemonialen Artikulation), so integrieren sie doch – egal wie hegemonial sie auch sein mögen – im Feld der demokratischen Auseinandersetzungen antagonistischer Interessen immer nur einen Teil höchst unterschiedlicher Wirklichkeits- und Problemwahrnehmungen258. Kommunizieren
257 258
R. Misik 1999: 448 Vgl. E. Laclau/ C. Mouffe 2001; C. Mouffe 2007
3.5 Die normative Paradigmenverschiebung
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öffentliche Diskurse Reformmaßnahmen allein aus Handlungszwängen, dann läuft eine daraus folgende technokratische und glatte Reformrhetorik Gefahr, nicht zu den Wählern durchzudringen und gar Abwehrreaktionen auszulösen. Rasante soziokulturelle Veränderungen und neue gesellschaftliche Konfliktlinien, die sich im Zeitalter der Globalisierung und des Postindustrialismus immer deutlicher abzeichnen, erzeugen neue Unsicherheiten und eine dem entsprechende Orientierungssuche, der sozialdemokratische Parteien mit ihrer Geschichte als Vertreterinnen der ‚kleinen Leute’ auch auf emotionaler Ebene diskursiv begegnen müssen259. Der Erfolg des sozialdemokratischen Reformdiskurses hängt somit davon, ob es gelingt, auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht nur pragmatisch vernünftige oder ‚richtige’ Policy-Lösungen zu kommunizieren, sondern diese als genuin sozialdemokratische Antworten auch emotional zu begründen. Entscheidend für den Erfolg eines sozialdemokratischen Reformdiskurses ist also seine Fähigkeit, pragmatische Problemlösungen als Schritte auf dem Weg zu einem größeren Ziel normativ wie emotional zu unterfüttern; gelingt dies nicht bzw. nicht ausreichend, dann erscheinen in der Öffentlichkeit Rückbau- oder Umbaupolitiken der Sozialsysteme als Selbstzweck.
3.5 Die normative Paradigmenverschiebung im sozialdemokratischem Diskurs Reformdiskurse haben neben der kognitiven Dimension, in der Reformnotwendigkeiten und -zusammenhänge, Policy-Lösungen sowie deren konkrete Ausgestaltungen und Auswirkungen erklärt werden, immer auch eine normative Dimension, die die Reformen in einen größeren Sinnzusammenhang einbettet und über ein Wertesystem bzw. ein wertegestütztes Interpretationsmuster legitimiert260. Während sich die kognitive Diskursdimension vor allem über die zu kommunizierenden konkreten Reformprogramme bestimmt und somit den unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Handlungszwängen, Kernproblemen und institutionellen Strukturen in den jeweiligen Ländern entspricht, müssten sich sozialdemokratische Diskurse in ihrer normativen Dimension durch länderübergreifende Ähnlichkeiten identifizieren lassen. In dem Maße, in dem die Sozialdemokratie ihr programmatisches Begriffs- und Ideensystem verschiebt, verschiebt sich zwingend auch das Spektrum der Werte, die im öffentlichen Diskurs normativ aktivierbar sind. Die Neubestimmung der Grundwerte oder zumindest eine veränderte Wertehierarchie ist zugleich die notwendige Bedingung dafür, spezifisch sozialdemokratische Werte in Einklang mit den eingeleiteten Policy-Veränderungen kommunizieren und sie fortan ohne Widersprüche als diskursiven Resonanzkörper aktivieren zu können. Da sich Reformdiskurse erstens wesentlich aus den Handlungszwängen der Reformen ergeben, die auch die Zielrichtung der zu kommunizierenden Politik-Ideen bestimmen, da Reformdiskurse zweitens immer auch auf Gegendiskurse mit jeweils eigenen normativen Werten treffen, auf die es argumentativ zu reagieren und sich abzugrenzen gilt, und da drittens parteipolitische Reformdiskurse immer ihre eigenen ideologischen Vorläuferdiskurse haben, deren ‚alte’ normative Orientierungen ohne Glaubwürdigkeitsverlust nicht abrupt negiert werden können, sind die Werte, die einen Reformdiskurs normativ verankern und die Reformprogramme legitimieren, meist nicht gänzlich neu generiert, 259 260
W.A. Perger 2007 V.A. Schmidt 2000a, 2000b, 2002, 2007; C.M. Randelli/ V.A. Schmidt 2004
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3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
sondern vielmehr Rekombinationen vorhandener Werte-Mischungen, ReReferenzialisierungen (neue Zielgruppen und neue politische Handlungsfelder) oder die veränderte semantische Präsentation bestehender Werte261. Dies trifft auch für den ‚Dritte Weg’-Diskurs zu. Unter dem Druck veränderter politischer Handlungs- und Gestaltungsräume und in Konkurrenz zu anderen politischen Werten und Weltbildern, werden im ‚Dritten Weg’ keine völlig neuen Normen geschaffen, sondern ‚alte’ Werte umgedeutet und neu gewichtet sowie traditionell eher ‚fremde’ Werte übernommen und programmatisch eingebettet. Das Neue am ‚Dritten Weg’ ist die komplexe Symbiose bestehender sozialdemokratischer, kommunitaristischer und liberaler Werte, die Zusammenführung mehrerer Politikvorstellungen zu einem neuen Ganzen, das sich jenseits der alten Ideen und Gegensätze verortet: das Ideal sozialer Gerechtigkeit und kollektiver Verantwortung, das reziproke Verhältnis von Rechten und Pflichten, die Freiheit des Einzelnen in der Marktgesellschaft. Auch der moderne Wohlfahrtsstaat selbst ist eine institutionalisierte Verdichtung einer Reihe normativer und kognitiver Ideen. Er ist die politisch-administrative Ausformung eines ihm zugrunde liegenden, historisch gewachsenen und gesamtgesellschaftlichen Diskurses, aus dem sich Entstehung und Form seiner Institutionen, seine allgemeine Orientierung wie auch seine Legitimation ableiten. Ein solcher Diskurs wird dann hegemonial, wenn er ein (relativ) zeitresistentes und stabiles System von Grundüberzeugungen, Problemsichten und eine Weise des Denkens oder Organisierens (Paradigmen) vorgibt, das wiederum verschiedene Teil- bzw. Subdiskurse überwölbt, disparate Sektorendiskurse integriert und auf diese Weise die Entstehung alternativer Diskurse verhindert. Der hegemoniale Diskurs (z.B. ‚soziale Marktwirtschaft’, ‚Folkhem’ oder auch ‚Frontier’-Ideologie, Individualismus und libertäre Staatsskepsis) gründet seinerseits auf einem Repertoire von Werten, das jeden nationalen Reformdiskurs, der die Veränderung der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Instrumente und Normen anstrebt, normativ begrenzt262. Zugleich ist ein hegemonialer Diskurs weniger ein statischer Satz fest gefügter Werte (nur so konnte er über lange Zeiträume Hegemonie erlangen), als vielmehr ein nationalspezifischer diskursiver Rahmen, innerhalb dessen unterschiedliche, teils konfligierende Wertevorstellungen Platz haben. Aus diesem Grund legitimiert der öffentliche Reformdiskurs den Wandel des Wohlfahrtsstaats (in der Regel) nicht über die grundsätzliche Infragestellung seiner normativen Grundlagen, sondern über Gewichtverschiebungen im Spektrum der vom hegemonialen Diskurs bereit gestellten Werte-Paradigmen. Der ‚Dritte Weg’-Diskurs stellt so gesehen keinen Paradigmenwechsel263, keinen grundlegenden Bruch oder radikale Veränderung wohlfahrtsstaatlicher oder sozialdemokratischer Denkmuster dar, sondern eher eine markante Neubewertung oder Verschiebung bestehender Paradigmen. Der Werte-Rahmen (die prinzipielle Notwendigkeit des Wohlfahrtsstaats, der Wert der Gleichheit, kollektive Verantwortung u.a.) bleibt unverändert, die Paradigmenverschiebungen innerhalb dieses Rahmens jedoch (Betonung der Chancen261
L. Leisering 2004: 41ff. Für die ausführliche Betrachtung der praktisch-semantischen Präsentation der Wertemischungen vgl. Kap.5 262 G. Lehmbruch 2001 263 Der Begriff "Paradigmenwechsel" ist in den letzten Jahren fast inflationär verwendet worden. Ursprünglich nur als Wechsel zu einem neuen Denk- und Analysemodell, als „Gestaltwechsel“ der Problemsichten und als grundlegend neue methodische Herangehensweise in den Naturwissenschaften bekannt, findet er nun sehr ungenau überall dort Verwendung, wo ganz allgemein Veränderungen der Wahrnehmungen, Analysen und Mittel festzustellen sind. Für den wissenschaftstheoretischen Ansatz vgl. T. Kuhn 1967.
3.5 Die normative Paradigmenverschiebung
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gleichheit gegenüber der Ergebnisgleichheit, Aktivierung, Pflichten u.a.) sind mitunter weitreichend.
Demokratische Wohlfahrtsstaaten und Gerechtigkeit Alle demokratischen Wohlfahrtsstaaten begründen ihre Legitimation und ideelle Dynamik über den politischen Grundwert der Gerechtigkeit264. Gerechtigkeit stellt den normativen Kern politischen Gemeinwesens sowie den diskursiven Ausgangs- und Bezugspunkt gesellschaftlicher Verständigungsprozesse dar. Doch tatsächlich beruhen Wohlfahrtsstaaten jenseits dieser prinzipiellen Gerechtigkeitsnorm auf mehreren heterogenen, uneinheitlichen und vielschichtigen Gerechtigkeitsvorstellungen; wohlfahrtstaatliche Institutionen, ihre verschiedenartigen Leistungen und Funktionsweisen ebenso wie die Erwartungshaltungen der Bürger sind Ausdruck der Überlagerung mehrerer und auch widersprüchlicher Gerechtigkeitsideologien265. Lutz Leisering zufolge finden sich in modernen Wohlfahrtsstaatsdiskursen vier ‚Paradigmen’ sozialer Gerechtigkeit. Erstens Bedarfgerechtigkeit: Dieses Gerechtigkeitsparadigma leitet sich aus dem positiven Freiheitsbegriff ab, nach dem alle Personen über die sozialen und ökonomischen Handlungsressourcen als Handlungsvoraussetzungen zur Wahrnehmung ihrer Freiheitsrechte verfügen müssen. Bedarfgerechtigkeit wird dementsprechend häufig als wohlfahrtsstaatliche Sicherung vor Armut übersetzt, in einem weiteren Verständnis aber auch als Sicherung vor gesellschaftlicher Marginalisierung oder vor Ausschluss aus sozialen Zusammenhängen. Normative Ansprüche auf materielle Ressourcen, die jedoch realpraktisch höchst unterschiedlich bemessen und definiert werden, stellen die ursprünglichste Begründungsnorm des Wohlfahrtsstaats überhaupt dar und sind heute ein zentrales Argument des Gegen-Reformdiskurses. Im umbaukritischen Diskurs wird Bedarfgerechtigkeit meist ganz allgemein als ‚Gerechtigkeit’ für die Modernisierungsverlierer übersetzt und angemahnt. Zweitens Leistungsgerechtigkeit: Dieser Vorstellung von Gerechtigkeit zufolge soll sich die Zuteilung von Ressourcen nach der individuellen Leistung bemessen. ‚Leistung’ meint hier vor allem Erwerbsarbeit und ‚Ressourcen’ meinen das am Markt erzielte Einkommen. Leistungsgerechtigkeit ist seit den 1970er Jahren ein zentrales Argument des neoliberalen Diskurses zum Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen, seit den frühen 1990er Jahren aber auch – vor allem über die inhaltliche Ausdehnung des Begriffs auf nicht-marktbezoge Leistungen – ein wichtiges Gerechtigkeitsparadigma für moderate Umbaudiskurse in Richtung eines vermeintlich zeitgemäßen und effektiven Wohlfahrtsstaats. Drittens produktivistische Gerechtigkeit: Das produktivistische Gerechtigkeitsparadigma zielt auf die längerfristige Mehrung der gesellschaftlichen Güter, also auf die Produktion einer größeren Verteilungsmasse und somit letztlich auf einen größeren Wohlstand für alle. In dieser Perspektive sind Ungleichheiten in der Verteilung der Ressourcen dann gerechtfertigt, wenn sie den Interessen der kollektiven Wohlfahrt dienen. Viertens Teilhabegerechtigkeit: Neben sozioökonomischer, aus dem Erwerbssystem erwachsender Ungleichheit gewinnt seit den frühen 1980er Jahren eine neue soziale Un264
Auf eine Darlegung der philosophischen Grundlagen der sozialen Gerechtigkeit muss hier verzichtet werden. Vgl. hierzu beispielhaft W. Kersting 2000; W. Merkel/ M. Krück 2003 B. Wegener 1992
265
98
3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
gleichheit verstärkt politische Aufmerksamkeit, die ihren Ursprung zumeist in askriptiven Merkmalen wie Geschlecht, Familie (Kinderzahl), ethnischer Herkunft oder Alter hat. Dabei handelt es sich keineswegs um genuin neue Formen der Ungleichheit, sondern vielmehr um solche, die gewissermaßen im toten Winkel der traditionellen Gerechtigkeitsvorstellungen liegen. Die unter dem Anspruch der Teilhabegerechtigkeit entwickelten Forderungen zielen denn auch nicht (primär) auf ökonomische Besserstellung, sondern auf soziale Anerkennung und Partizipation266. Diese Gerechtigkeitsparadigmen strukturieren allesamt die jeweiligen nationalen Wohlfahrtsstaatsdiskurse. Da die unterschiedlichen Gerechtigkeitsnormen jedoch widersprüchlich sind und notwendig in Konflikt miteinander geraten, unterscheiden sich die jeweiligen Wohlfahrtsstaatstypen vor allem darin, wie sie die unterschiedlichen Gerechtigkeitsparadigmen interpretieren und miteinander in Einklang bringen und wie das Mischungs- und Spannungsverhältnis dieser konfligierenden Gerechtigkeitsvorstellungen institutionell und politisch-kulturell austariert wird. So spielt beispielsweise die Bedarfsgerechtigkeit im schwedischen ebenso wie im britischen Wohlfahrtsstaat historisch wie legitimatorisch eine zentrale Rolle; im britischen Fall wird dieses Gerechtigkeitsparadigma jedoch traditionell als residuale Sicherung des Existenzminimums interpretiert, während Schweden aus dem selben Paradigma einen generös-universalistischen Wohlfahrtsstaat herleitet. Das deutsche Sozialversicherungssystem gründet wesentlich auf dem Paradigma der Leistungsgerechtigkeit im Sinne der Sicherung eines einmal erreichten Lebensstandards, vor allem als ‚lohnbezogene’ Rente. Gleichwohl muss das deutsche Verständnis der Leistungsgerechtigkeit, das zudem durch eine umfassende Bedarfsorientiertung bei der Sozialhilfe oder im Gesundheitssystem komplettiert wird, von dem britischen unterschieden werden, das über den Wert der Leistungsgerechtigkeit einen marktbasierten Individualismus, einen primär negativen Freiheitsbegriff und eine prinzipielle Ablehnung wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung normativ herleitet. In den USA als einem klassischen Einwanderungsland beispielsweise sind politisches Handeln und politische Auseinandersetzungen stark durch ‚Ethnisierung’ bzw. merkmalorientierte Gruppenbildung charakterisiert und die Frage der Teilhabegerechtigkeit spielt seit den 1960er Jahren eine zentrale Rolle im öffentlichen Diskurs: Vor allem in Bildungsbereich stellt dieses Gerechtigkeitsparadigma den normativen Ausgangspunkt vielfältiger Auseinandersetzungen um die Gewichtung der Lehrpläne (Kanon), um die Zusammensetzung des Lehrkörpers (Quoten), um die Beziehung zwischen ethnischen Gruppen (politische Korrektheit) oder um Quotenregelungen für Minderheitenstudenten (affirmative action und Zulassungsstandards)267. Das produktivistische Gerechtigkeitsparadigma artikuliert sich im schwedischen Wohlfahrtsstaat in der jahrzehntelangen politischen Maxime ‚First growth than redistribution’268, durch die beispielsweise die starken und zentralisierten Gewerkschaften verantwortungsvoll in makroökonomische Strategien (Lohnzurückhaltung) eingebunden werden konnten. Auch im deutschen Modell eines ‚Rheinischen Kapitalismus’ spielen im öffentlichen Wohlfahrtsstaatsdiskurs schon früh funktionale Begründungen für soziale Sicherheit (kooperative Sozialbeziehungen als Voraussetzung für hohe Produktivität) eine wichtige Rolle; die Argumentation produktiver Ungleichheit als notwendige Bedingung für wirtschaftliche Prosperität hingegen – obwohl sie in den Umbaudiskursen der 1990er Jahren (Senkung der Lohnneben266 267 268
L. Leisering 2004: 33ff. B. Ostendorf 1994 J. Potusson 1992: 314
3.5 Die normative Paradigmenverschiebung
99
kosten) deutlich an Gewicht gewann – hat in Deutschland von jeher einen schweren Stand269. In den verschiedenen nationalen Wohlfahrtsstaatsdiskursen koexistieren also unterschiedliche Gerechtigkeitsparadigmen und die jeweiligen konkreten wohlfahrtsstaatlichen Arrangements sind Ausformungen länderspezifischer Wertekompromisse. Ein solcher Wertekompromiss ist Legitimationsquelle und diskursiver Rahmen der verschiedenen modernen Wohlfahrtsstaatstypen und dient vor allem auch bei den aktuellen Wohlfahrtsstaatsreformen als normative Orientierungshilfe bei der Einordnung der unterschiedlichen Umbaupositionen und -konflikte. Auch der länderübergreifende sozialdemokratische Reformdiskurs des ‚Dritten Weges’ bestimmt in seiner normativen Dimension das Verhältnis der Gerechtigkeitsparadigmen untereinander neu. Im Zuge der diskursiven Neubestimmung des Wertes der Gleichheit (von der materiellen Einkommensgleichheit hin zur Chancengleichheit) kommt es im sozialdemokratischen Politikdiskurs zu Akzentverschiebungen im ‚klassischen’ sozialdemokratischen Wertekompromiss. In seiner programmatischen Abkehr vom konsumtiven Sozialstaat bzw. egalitären Etatismus und seiner Hinwendung zum investiven Sozialstaat, verlagert der ‚Dritte Weg’-Diskurs seinen normativen Schwerpunkt von der traditionell dominanten Bedarfgerechtigkeit (im Sinne staatlich zu bewirkenden Angleichung der Lebensverhältnisse) hin zur Leistungs- und Teilhabegerechtigkeit. Allein die Neubewertung sozial-ökonomischer Problemlagen jenseits alter Klassenverständnisse, die Wahrnehmung neuer sozialer Fragen wie Anerkennung, Identität und Partizipation führt von der Bedarfsgerechtigkeit in Richtung Teilhabegerechtigkeit. Durch die Betonung der Chancengleichheit wiederum werden erstens marktbedingte Ungleichheiten als leistungsgerecht akzeptiert. Innerhalb wohlfahrtsstaatlicher Systeme werden zweitens individuelle Leistungen (Pflichten und Eigenverantwortung) deutlich aufgewertet. Zudem wird der neue sozialpolitische Schwerpunkt staatlicher Aktivitäten im Bildungsund beruflichen Qualifizierungsbereich (Fördern und Fordern), die Förderung der Marktfähigkeit von Sozialleistungsempfängern (employability) und die Abkehr von staatlichen Umverteilungsinstrumenten (progressive Steuersysteme) nicht nur als Selbstzweck der Inklusion verstanden, sondern auch funktional als Voraussetzung für wirtschaftliche Dynamik und – besonders vor dem Hintergrund der Globalisierung – als notwendige Bedingung für die fortwährende Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaats.
269
V.A. Schmidt 2000b: 276
100
3 Sozialdemokratischer Grundwertediskurs
Tabelle 2: Verschiebungen der Werteparadigmen im ‚Dritten Weg’-Diskurs (eigene Darstellung) Einkommensgleichheit Bedarfsgerechtigkeit
passive Wohlfahrt
Chancengleichheit
Leistungsgerechtigkeit
Produktivistische Gerechtigkeit
Teilhabegerechtigkeit
der soziale Investitionsstaat
von den ‚Armen’ zu den ‚Exkludierten’
aktive Wohlfahrt
aktive Wohlfahrt
‚keine Rechte unterstützende ohne Pflichten’ Rahmensetzung, horizontale arbeitsteilige Handlungsweisen Eigenverantwortung nachträgliche Korrektur
materielle Umverteilungsinstrumente
‚private-publicpartnership’
Aktivierung
Aktivierung
‚welfare to work’ ‚employability’
‚employability’
Investitionen in Humankapital (Bildung und Ausbildung)
Investitionen in Humankapital (Bildung und Ausbildung)
‚Wohlfahrtsstaatsabhängigkeit’ Exklusionsfallen
effizientes (zielgruppenorientiertes) Risiko-Management
‚alte’ kratie
‚Dritter Weg’
Sozialdemo-
Die im ‚Dritten Weg’ formulierten Revisionen traditioneller sozialdemokratischer Werte und Instrumente ermöglichen und/oder erzwingen eine grundsätzliche Verschiebung der
3.5 Die normative Paradigmenverschiebung
101
normativen Diskursdimension der Reformdiskurse sozialdemokratischer Parteien. Zugleich sind die sozialdemokratischen Reformdiskurse, quasi als gesellschaftspolitische Subdiskurse, in ihren jeweiligen nationalen hegemonialen Diskurs eingebettet, dessen normative und kognitive Ideen wiederum – gerade in Phasen des Umbaus – von konkurrierenden Diskursen unterschiedlich interpretiert und akzentuiert werden. Das bedeutet, dass sich sozialdemokratische Reformdiskurse vor dem Hintergrund des Revisionismus der 1990er Jahre und unter Druck der neuen globalen Herausforderungen und sozialpolitischen Zwänge zwar normativ in eine gleiche Richtung entwickeln, ohne sich dabei anzugleichen, da diskursive Neubestimmungen jeweils mit den immer schon vorgeordneten Werten und Ideen sehr unterschiedlicher und historisch gewachsener Diskurskontexte korrespondieren müssen. Eine Verschiebung des normativen Akzentes hin zur Leistungsgerechtigkeit bedeutet in einem nationalen hegemonialen Diskurs, in dem marktbedingte Ungleichheiten gerechtigkeitsideologisch eher akzeptiert werden, etwas anderes als in einem hegemonialen Diskurs, in dem traditionell materielle Gleichheit und kollektive Lösungen präferiert werden. Auch wenn die innere Struktur der Werte und Ideen eines hegemonialen Diskurses immer wieder durch mehrere, in ihn eingebettete (Sub)diskurse herausgefordert und verschoben wird, kennzeichnet sich ein hegemonialer Diskurs entscheidend dadurch, dass er das Repertoire möglicher Antworten begrenzt, die innerhalb des von ihm gezogenen diskursiven Rahmens kognitiv denkbar, normativ legitim und instrumentell durchführbar sind270. Aus diesem Grund sind öffentliche sozialdemokratische Diskurse, jenseits ähnlicher programmatischer Richtungsverschiebungen, immer länderspezifisch und notwendig divergent. Die sozialdemokratische Neubeschreibung der normativen Geltungsgrundlagen politischer Praxis haben gleiche Initialmotiviation und ähnliche inhaltliche Stossrichtung. Darüber hinaus unterscheiden sie sich aber aufgrund vielfältiger nationaler (Filter)Faktoren in ihrer kommunikativen Form und auch in ihrer normativen Argumentation grundlegend.
270
G. Lehmbruch 2001
4 Nationale Input- und Output-Filter öffentlicher Reformdiskurse
In den 1990er Jahren sind alle sozialdemokratischen Parteien und sozialdemokratisch geführte Regierungen mit ähnlichen Problemstrukturen konfrontiert, die sich einerseits aus ökonomischen Anpassungszwängen und andererseits aus veränderten sozio-kulturellen Werteorientierungen ergeben, und die folglich ähnliche sozialdemokratische Problemlösungsdiskurse nahezulegen scheinen. Doch ebenso wie ein paralleler Problemdruck auf der Policy-Ebene allenfalls zu einer Angleichung der Reformrichtung, aber – aufgrund höchst unterschiedlicher politisch-institutioneller, politisch-ökonomischer und wohlfahrtsstaatlicher Arrangements in den jeweiligen Ländern – keinesfalls zur Konvergenz auf ein einziges Reformmodell führt271, so können auch nationale Reformdiskurse nur sehr grundsätzlich und allenfalls abstrakt auf gemeinsame Argumente, Werte oder Rhetoriken zurückgreifen. Denn öffentliche Reformdiskurse sind in ihrer kommunikativen und inhaltlichen Struktur nie voraussetzungslos, sondern immer von einer ganzen Reihe mehrdimensionaler länderspezifischer Bedingungen – von gesellschaftlich-kulturellen Leitbildern (hegemoniale Diskurse) über system-institutionelle Umsetzungs- und Kommunikationsressourcen, Akteurskonstellationen und Wahlsysteme (Polity) bis hin zu speziellen Interessensstrukturen und Willensbildungsprozessen (Politics) – vorgeprägt. Auch wenn Sinn und Wesen von Reformdiskursen genau darin bestehen, Strukturen jeweils gegebener Interessensinterpretationen und Werteorientierungen durch Kommunikation einer veränderten Problemwahrnehmung und der Vermittlung neuer Zielvorstellungen oder wirkungsmächtiger Ideen zu verändern, so bleibt der öffentliche Diskurs doch immer von eben diesen Strukturen gerahmt. Da der öffentliche Reformdiskurs nie in einem leeren oder neutralen, sondern immer in einem gegebenen öffentlich-politischen Raum, mit einer Vielzahl von spezifischen Eigenschaften, Akteuren und Kommunikationskanälen geführt wird, ist sein diskursiver Inhalt, die Art seiner Kommunikation wie auch seine transformative Wirkung von den in diesem Raum jeweils gegebenen Bedingungen und vorformulierten Interessen abhängig. Diese national sehr unterschiedlichen Bedingungen fungieren als länderspezifische Diskurs-Filter; indem sie erstens den Reformdiskurs um bestimmte, zu kommunizierende Kernthemen und -herausforderungen gruppieren und so seine Komplexität reduzieren; sie zweitens das ökonomische und institutionelle Interaktions- und Kommunikationsgefüge der Diskursteilnehmer determinieren und so bestimmte strategische Kommunikationsformen ausschließen oder zumindest deren Wirkungen massiv beschränken; sie drittens den Reformdiskurs in einem bestimmten politischen Wettbewerbsraum verorten und so unterschiedliche argumentative Abgrenzungen und Positionierungen abverlangen; sie viertens die diskursive Problemwahrnehmung und Probleminterpretation historisch und politischkulturell einbetten und so die normative Argumentation auf die Anrufung und Aktivierung 271
Vgl. u. a. W. Merkel/ C. Egle/ C. Henkes / T. Ostheim/ A. Petring 2006; K. Grabow 2005; D. Gallie/ S. Paugam 2000; N. Siegel 2002; S. Jochem/ N. Siegel 2003
4 Nationale Input- und Output-Filter
103
bestimmter nationaler und historisch gewachsener Werte beschränken; sie fünftens nur bestimmte Kommunikationsprozesse, Vermittlungsinstrumente und gesellschaftliche und mediale ‚Resonanzkörper’ bereitstellen und so die mögliche Rezeption, Akzeptanz und gesamtgesellschaftliche Diffusion der formulierten Reformideen und normativen Werte entscheidend vorstrukturieren. Durch die jeweiligen Diskursfilter bestimmen sich erst die spezifisch inhaltlichideologische Ausrichtung, die kommunikative Form und letztlich auch die Wirkungsweise der unterschiedlichen sozialdemokratischen Reformdiskurse. Diskursanalytisch müssen diese in Input- und Output-Filter differenziert werden: Die Input-Filter prägen als intervenierende Faktoren ‚Was’ und auf welche Art und Weise in den jeweiligen Reformdiskursen gesagt wird, während die Output-Filter bestimmen, wie das im Diskurs ‚Gesagte’ (Ideen, Werte, Argumente) in der Öffentlichkeit ‚widerklingt’. Input- und Output-Filter sind jedoch komplementär verzahnt: Die Diskurs-Filter, die den Input des Diskurses filtern, entsprechen zwingend denen, die seinen Output filtern, da sich einerseits Akteurs- und Interaktionskonstellationen, politisch-ökonomische und wohlfahrtsstaatliche Regime und die entsprechenden Problemstellungen und Herausforderungen immer in den politisch-kulturellen Werteorientierungen und medialen Debatten widerspiegeln oder sich Politikherausforderungen (die in einem anderen Land gar nicht oder kaum als Problem wahrgenommen werden) erst durch nationale Werteorientierungen ergeben. Andererseits werden die Output-Filter, die filtern, wie etwas bei den Wählern ankommt, von den Diskursprotagonisten von vornherein antizipiert, so dass der kognitive und normative Inhalt der jeweiligen Diskursstrategien nicht nur von den Input-, sondern auch – bis zu einem gewissen Grad – von eigentlich den Output filternden Faktoren bestimmt ist. Summe und Zusammensetzung der Diskursfilter zeichnen einen nationalen Diskurskontext, der die jeweiligen Akteure in ihrem Bemühen, die Effektivität und Adäquatheit einer bestimmten politischen Problemlösung zu kommunizieren, mit unterschiedlichen Kommunikationsressourcen ausstattet. Die jeweiligen nationalen Diskurskontexte gründen jedoch auf derart komplexen Strukturen, dass der tatsächliche Verlauf eines nationalen Reformdiskurses von vielfältigen weiteren, auch zufälligen Bedingungen abhängig ist, auf die Regierungen spontan reagieren müssen (symbolträchtig-kollektive Erfahrungen wie z. B. außenpolitische Ereignisse, Katastrophen, Skandale) und die unter Umständen – aufgrund von Gründen, die mit den Inhalten, Argumenten und Kommunikationsweisen des Reformdiskurses nichts zu tun haben – die Glaubwürdigkeit des Regierungsdiskurses und vor allem der Diskursprotagonisten unterlaufen oder verstärken. Obwohl öffentliche Diskurse also einem Determinismus ihres jeweiligen Diskurskontextes unterliegen, ist eine Vorhersage ihrer tatsächlichen Verlaufsdynamik prinzipiell nicht möglich. Die jeweiligen nationalen Diskursressourcen und restriktionen können also zu völlig verschiedenen Diskursen führen. Trotz der einer gewissen Vielfalt möglicher Diskurse, setzt der Diskurskontext dieser Vielfalt zugleich Grenzen; so wird beispielsweise in einer politischen Kultur, in der individual-egoistische Werte dominieren, ein radikaler Gleichheitsdiskurs nicht erfolgreich sein, und umgekehrt wird in einer politischen Kultur, in der egalitäre Orientierungen tief verwurzelt sind, ein Diskurs, der große Ungleichheit als normativ gerecht betont, scheitern. Die Feststellung, dass öffentliche Reformdiskurse in nationale Diskurskontexte eingebettet und Diskursprotagonisten mit jeweils unterschiedlichen kommunikativen Ressourcen und Restriktionen ausgestattet sind, ist für sich genommen banal, gewinnt aber dann
104
4 Nationale Input- und Outputfilter
analytische Relevanz, wenn man davon ausgeht, dass innerhalb der jeweiligen Diskurskontexte für parteipolitisch unterschiedliche Reformdiskurse unterschiedliche Bedingungen herrschen. Nationale Diskurskontexte müssen dann nicht nur dahin gehend verglichen werden, auf welche Weise Regierungen jedweder Couleur unter den jeweiligen Rahmenbedingungen und gegen institutionell verfestigte Beharrungskräfte problemgerechte PolicyLösungen diskursiv legitimieren, sondern auch dahin gehend, was diese Rahmenbedingungen und Widerstände speziell für sozialdemokratische Reformdiskurse bedeuten. Zwar stützen sich sozialdemokratische Regierungsdiskurse – wie alle gouvernementalpragmatischen Reformdiskurse – auf die kognitive Argumentation der Notwendigkeit, Angemessenheit und Richtigkeit von Policy-Reformen, doch darüber hinaus auch zwingend auf ideologisch-normative Werte und Ziele, die es in national unterschiedlichen Wettbewerbsräumen antagonistischer Ideen und Werte zu behaupten gilt und deren kommunikative Vermittlung und Durchsetzung in den jeweiligen Diskurskontexten auf höchst unterschiedliche Herausforderungen treffen. Auch wenn Diskursfilter unterschiedlich breite Kommunikationskorridore für sozialdemokratische Reformdiskurse abstecken, in denen von Land zu Land nur bestimmte reformlegitimierende Argumente und sozialdemokratische Werte ihre Wirkung entfalten können, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass strategische Ausrichtung, kommunikative Form und normativer Inhalt der jeweiligen nationalen Diskurse von vornherein determiniert sind. Innerhalb eines nationalen Diskurskontexts gibt es genügend Raum und eine ganze Bandbreite von Optionen für kontextgemäße Diskurs-Strategien. Zugleich verändert ein Reformdiskurs – sofern erfolgreich – durch die kognitive Kommunikation der Notwendigkeit von Veränderungen und die normative Neubestimmung von Werten bis zu einem gewissen Grad seinen eigenen Diskurskontext, da er traditionelle Werteparadigmen verschiebt, lang eingespielte politische Kommunikationsrituale verändert und verschanzte Interessenstrukturen auflöst. Das bedeutet, dass sozialdemokratische Diskursprotagonisten durch einen erfolgreichen Reformdiskurs in einem, ihren Werten und politischen Zielen eher widrigen Diskurskontext nicht nur ihr Reformprogramm durchsetzen, sondern dadurch auch langfristig die Bedingungen ihrer wertebegründeten Kommunikation verbessern können.
4.1 Input-Filter: Das politische System Form und Inhalt öffentlicher Reformdiskurse sind entscheidend von der Gestalt des politischen Systems, in dem sie geführt werden, abhängig. Die politisch-institutionelle Struktur der Polity bestimmt darüber, wie Reformprogramme verhandelt und politisch durchgesetzt werden, wie viele relevante Politik-Akteure an dem Politikprozess beteiligt sind oder strategisch eingebunden werden müssen, wie sich die Kommunikationskanäle in institutionalisierten Akteurskonstellationen strukturieren, wie Wählerpräferenzen in Wählerstimmen und schließlich in Sitze der Repräsentation transformiert werden oder wie sich Parteien in einem Wettbewerbsraum (wahrscheinlich) ideologisch positionieren oder abgrenzen. Da politische Systemstrukturen den Mechanismus der Reform-Implementierung determinieren (hier vor allem majoritäre vs. verhandlungsdemokratische Entscheidungsmechanismen), prägen diese Strukturen zugleich auch die inhaltliche und kommunikative Form der jeweiligen diskursiven Reform-Legitimation.
4.1 Input-Filter: Das politische System
105
Ein zentrales Forschungsfeld der Politikwissenschaft ist seit jeher die komparative Untersuchung parlamentarisch-demokratischer Systeme. Dabei werden Demokratien normativ oder empirisch hinsichtlich ihrer Funktionsweise und Leistungsfähigkeit verglichen272, im Sinne der Polyarchie gemessen273 und in präsidentielle und parlamentarische Demokratien274, Konkurrenz- und Konkordanzdemokratien275 oder libertäre und soziale Demokratien276 typologisch unterschieden. Vor dem Hintergrund dieser Fülle und Komplexität der vergleichenden politikwissenschaftlichen Demokratieforschungen der letzten Jahrzehnte gilt es für den hier vorgenommenen Ansatz, die Literatur auf die jeweiligen Implikationen der politischen Systeme für unterschiedliche nationale Diskurskontexte zu überprüfen und gezielt heranzuziehen. Dabei geht es um zwei zentrale Fragen: Erstens, welche institutionellen Formen der politischen Problemlösung sind für die jeweiligen politischen Systeme charakteristisch, und wie wird eine kommunikative ‚Rückkoppelung’ zwischen den vielfältigen gesellschaftlichen Interessen gewährleistet? Neben dem politischen Prozess selbst ist zweitens entscheidend, wie viele institutionelle, kollektive oder korporative Akteure an dem Prozess beteiligt sind. Denn aus dem institutionalisierten Willensbildungs- und Entscheidungsprozess einerseits und der Anzahl der Akteure andererseits ergibt sich, wie die Diskursprotagonisten in den unterschiedlichen Ländern miteinander und wie mit der Öffentlichkeit kommunizieren müssen. Der öffentliche Reformdiskurs ist dementsprechend auch dadurch bestimmt, wo er – politisch-institutionell bedingt – geführt werden muss. Für die vergleichende Betrachtung parlamentarisch-demokratischer Systeme als determinierende Diskurs-Input-Filter bietet sich erstens Arend Lijpharts paradigmatische typologische Unterscheidung demokratischer Regierungssysteme an, weil sie – indem sie den analytischen Blick auf die demokratischen Beteiligungsstrukturen, auf Konsens und Entscheidungslegitimation richtet – den jeweiligen nationalen politischen Raum und Prozess herausarbeitet, in dem sich nationale Reformdiskurse in spezifischer Weise positionieren und behaupten müssen. Lijpharts Unterscheidung verschiedenartiger Demokratietypen vollzieht sich entlang zweier Achsen: Zum einen unterscheidet Lijphart Mehrheits- von proportionalen Wahlsystemen, zum anderen unitaristische von föderalen Regierungssystemen. Ein auf dem Mehrheitsprinzip ausgerichtetes politisches System ist von einer primär auf Konkurrenz gestützten Zwei-Parteien-Struktur und der Machtkonzentration der regierenden Partei in Ein-Parteienkabinetten geprägt. Eine unitaristische Regierungsstruktur begrenzt zudem die Anzahl der politischen Akteure und erhöht die Dominanz der Exekutive. Wegen der ausgeprägten Machtkonzentration der Regierung sind Deliberation und Kompromisse eher seltene Instrumente der Regierungspraxis. In Konsensdemokratien hingegen ist die Macht in Mehr-Parteien- oder föderalen Systemen durch eine Vielzahl von Akteuren weit weniger zentriert, so dass Machtteilung, Kompromiss und Kooperation zwischen unterschiedlichen Interessen und Kräften ein struktureller Bestandteil dieses Demokratietyps sind277. Neben den festen, institutionalisierten Strukturen des politischen Systems
272
Für einen Überblick der verschiedenen Forschungsansätze vgl. M.G. Schmidt 2000: darin Teil III ‚Vergleichende Demokratieforschung: empirisch-analytische Demokratietheorien’, 307-487. R. Dahl 1971, T. Vanhanen 1997 274 W. Steffani 1979, 1983, 1995 275 G. Lehmbruch 1983, 1991 276 T. Meyer 2005b, 2006 277 A. Lijphart 1999. 273
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4 Nationale Input- und Outputfilter
finden sich aber auch häufig informelle, aus Traditionen gebildete Mechanismen, die die Funktionsweise des jeweiligen politischen Systems erheblich mitbestimmen und prägen. Als analytisches Raster institutioneller Diskursfilter wird zweitens auf George Tsebelis’ Vetospielertheorie278 zurückgegriffen. In diesem Ansatz wird das jeweilige reformpolitische Potential einer Regierung aus der Anzahl nicht nur der institutionellen, sondern auch der parteipolitischen (partisan) Vetospieler, ihrer jeweiligen Kongruenz (die programmatische Nähe oder Distanz) und ihrer internen Kohärenz (die programmatischen Differenzen innerhalb der Spieler) erklärt. Diesem Erklärungsansatz zufolge schrumpft die Möglichkeit eines Politikwechsels – ceteris paribus – erstens je höher die Anzahl der Vetospieler ist, zweitens je größer deren interne Kohäsion ist und drittens je geringer die Kongruenz der Positionen zwischen den verschiedenen Vetospielern zu den in Frage kommenden ReformPolicies ist. Während Tsebelis mit diesen Parametern die realen governementalen Durchsetzungskapazitäten von Reformen grundsätzlich zu erklären und auch prognostisch vorauszusagen meint279, interessiert hier an seinem Ansatz eher die systematische Konstruktion unterschiedlicher nationaler Vetospielerkonstellationen, die den öffentlichen Diskursprozess zwangsläufig beeinflussen. Wird in Tsebelis’ Theorie eher von starren Politikpositionen der Vetospieler ausgegangen, geht es bei der Analyse öffentlicher Reformdiskurse jedoch gerade darum, dass die Akteure aufgrund eines öffentlichen Diskurses ihre Präferenzen ändern und ihre Blockadehaltungen aufgeben. Wie der Diskurs zur Legitimierung von Reformen letztlich geführt wird, hängt zudem nicht nur davon ab, auf wie viele Akteure die Regierung eingehen muss (oder sie stattdessen via eines Diskurses mit der Öffentlichkeit übergeht oder konfrontiert), sondern auch davon, wie die wichtigen Vetospieler und die Regierung selbst ideologisch verortet sind. Somit wird deutlich, dass in der vergleichenden Analyse unterschiedlicher Diskurskontexte – im Gegensatz zu der Vetospielertheorie – die Diskursressourcen von Vetospielern nicht notwendigerweise identisch mit deren faktischen Machtressourcen sein müssen, und dass ein kommunikatives Blockadepotential bestimmter Vetospieler für Regierungen unterschiedlicher programmatischer Ausrichtung Unterschiedliches bedeutet. Das wohl prominenteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist das Verhältnis von sozialdemokratischen Regierungen und Gewerkschaften: Sozialdemokratische wie bürgerliche Regierungen können zwar gleichermaßen sozialstaatliche oder arbeitsmarktpolitische Reformen gegen die Gewerkschaften – als nicht-institutionellen Vetospieler – durchsetzen, doch wegen der historischen und programmatischen Nähe der Sozialdemokratie zu den Gewerkschaften und vor allem wegen vieler Doppelmitgliedschaften ihrer Mitglieder, sind die Gewerkschaften für sozialdemokratische Regierungen ein viel mächtigerer parteilicher Vetospieler als für die bürgerliche Konkurrenz. Die Herausforderung eines gewerkschaftlichen Gegendiskurses zwingt Regierungen unterschiedlicher Couleur zu kognitiv wie normativ unterschiedlichen Reformdiskursen: Während sozialdemokratische Regierungen die Wohlfahrtsstaatsreformen eher als Bewahrung gemeinsamer Ziele kommunizieren müssen, kann ihre bürgerliche Konkurrenz den Widerstand der Gewerkschaften
278
Vgl. G. Tsebelis 1995, 2000, 2002 Wolfgang Merkel hat anhand von Fallstudien die Tragfähigkeit der mit den Hypothesen verbundenen Erklärungskraft von Tsebelis’ Theorie überprüft. Ohne dessen theoretischer Grundfigur (Zahl – Kongruenz – Kohäsion) prinzipiell zu widersprechen, zeigt Merkel doch eindeutig die Grenzen des in ihr formulierten Erklärungsanspruchs auf. W. Merkel 2003a, 2003b
279
4.1 Input-Filter: Das politische System
107
mitunter sogar in ihren Reformdiskurs einbauen, indem sie Rolle und Positionen der Gewerkschaften als Teil des zu lösenden Problems betont. Drittens: Sowohl die Unterscheidung von Konkurrenz- und Verhandlungsdemokratien wie auch die jeweiligen Vetospielerkonstellationen spiegeln im Kern das wider, was Vivien A. Schmidt als unterschiedliche politisch-institutionelle Diskursbedingungen einfacher und komplexer Politik-Systeme identifiziert hat280. Einfache Politik-Systeme zeichnen sich demnach durch zentralisierte institutionelle Strukturen, Mehrheitswahlrecht, ein hohes politisches Umsetzungspotential der Exekutive und einer geringen Anzahl faktischer Vetospielern aus. Die Polity-Struktur einfacher Politik-Systemen bedeutet zweierlei: Zum einen können Regierungen aufgrund hoher institutioneller Umsetzungsressourcen Reformen leichter durchsetzen, die Verantwortlichkeit der Regierung für getroffene Politikentscheidungen ist dabei eindeutig und die Politik formuliert sich wettbewerblich und konfliktbetont in klaren Alternativen. Zum anderen ist der politische Kommunikationskanal der Regierungsaktivitäten ebenfalls zentriert, Policy-Akteure sind nicht gezwungen, mit Vetospielern öffentlich oder hinter verschlossenen Türen zu sprechen und folglich dominiert der kommunikative Diskurs zwischen Regierung und Volk. In komplexen Politik-Systemen hingegen ist die Durchsetzungskapazität der Regierung durch eine Vielzahl institutioneller und föderaler Schranken sowie Vetospieler, proportionale Repräsentationssysteme und korporative Entscheidungsprozesse begrenzt. Dies bedeutet, dass zum einen die Implementierung von Reformen schwieriger ist und zwischen vielen Vetospielern ausgehandelt werden muss (Koalitions- und Vermittlungsausschüssen) und die Verantwortlichkeit für Politikveränderungen zwischen Policy-Akteuren aufgeteilt und uneindeutig ist. Durch diese Machtfragmentierung sind in komplexen Politik-Systemen zum anderen die Kommunikationskanäle sehr viel weniger zentriert und Kompromisssuche und Einbindung zwingen zu einem koordinierten Diskurs zwischen den Policy-Akteuren281.
280 281
V.A. Schmidt 2000a, 2002 Vgl. Kapitel 2.4: ‚Funktions- und Wirkungsweisen des öffentlichen Diskurs’
108
4 Nationale Input- und Outputfilter
Tabelle 3: Politisch-institutionelle Struktur und Diskurs (In Anlehnung an Schmidt, Vivien A.: 2000, 2007) Einfache Politiksysteme Ein-Akteur-Systeme: Politischinstitutionelle StrukUnitaristischer Staatsauftur bau, Mehrheitswahl
Komplexe Politiksysteme Multi-Akteur-Systeme: Bikameralismus, Föderalismus, korporatistische Entscheidungsfindung
Zentralisierte Implementie- Aushandeln von Reformporung von Reformpolitiken litiken Wählerbestrafung
Diskurs
Dominanz des kommunikativen Diskurses zwischen Policy-Akteuren und der allgemeinen Öffentlichkeit, um zu informieren und Ideen zu legitimieren Ein-Akteur-System = eine Stimme
4.1.1
fehlende Einigung, Blockade Dominanz des koordinierten Diskurses zwischen Policy-Akteuren, um Ideen zu entwickeln und eine Einigung zu erzielen
Multi-Akteur-System = viele Stimmen (in Harmonie oder Kakophonie)
Großbritannien
Das politische System Großbritanniens gilt als Prototyp der Mehrheitsdemokratie. Der Staatsaufbau ist durch einen ‚zentralistischen Einheitsstaat’ und das Wahlsystem durch ein einfaches Mehrheitswahlrecht charakterisiert. Die demokratische Legitimität und Identität des Systems ist eng mit der zentralen und herausragenden Rolle des Parlaments verknüpft: „Es ist formal weder einer Verfassung gegenüber noch einer höheren Gerichtsbarkeit... verpflichtet und kann somit – befristet durch die Legislaturperiode – unbeschränkte Macht ausüben282“. Diese Parlamentssouveränität ist jedoch meist gleichbedeutend mit der Souveränität der jeweiligen Regierung, da Exekutive und Mehrheitsfraktion zu einer ‚Funktionseinheit’ verschmelzen. Die Machtkonzentration der Regierung wird zudem durch ein, aus dem Mehrheitswahlrecht resultierenden, Zwei-Parteien-System283 verstärkt, da die Partei, die die Regierung stellt, in der Regel auch über eine unproblematische Parlamentsmehrheit 282
C. Krell 2006: 206 Das britische Modell ist tatsächlich eher ein „two-party-plus-system“, in dem sich zwischen den beiden großen Parteien immer auch „dritte Parteien“ platzieren können. Gleichwohl ist die, aus dem Mehrheitswahlrecht resultierende Zwei-Parteien-Polarisierung das dominante Systemcharakteristikum.
283
4.1 Input-Filter: Das politische System
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verfügt und Koalitionsregierungen somit die große Ausnahme sind. In seiner vergleichenden Demokratiestudie platziert Arend Lijphart das britische ‚Westminster Modell’ folglich dem polaren Typus der zentralistischen Mehrheitsdemokratie am nächsten284. Da weder das Oberhaus, ein oberstes Gericht noch ein föderaler Staatsaufbau die Politikdurchsetzung der Regierung beschränken, ist die Mehrheitsfraktion im Unterhaus der einzige faktische Vetospieler. Britische Regierungen verfügen somit bekanntermaßen über außerordentlich hohe, direkte und schnelle Umsetzungsressourcen, so dass auch ein grundlegender politischer Richtungswechsel möglich ist. Dieser große Gestaltungsspielraum, der wesentlich nur durch den nächsten Wahltermin begrenzt wird285, prägt zugleich die Struktur des öffentlichen Reformdiskurses. Denn aufgrund der Machtkonzentration der Exekutive, einem Minimum an Vetospielern und einer unterentwickelten institutionalisierten politisch-ökonomischen Interessensrepräsentation, ist der öffentliche Policy-Diskurs stark auf die Kommunikationskanäle der Regierung zugeschnitten. Da die Opposition in Ermangelung eigener Machtressourcen keine Chance hat, Reform-Policies inhaltlich zu beeinflussen, ist zugleich ihr diskursiver Einfluss auf die Öffentlichkeit begrenzt und gewinnt erst dann – in Formulierung eher grundsätzlicher Alternativen – an Wirkungsmacht, wenn der Regierungsdiskurs erschöpft ist. Durch die große politische Durchsetzungskapazität und der daraus folgenden Dominanz des Regierungsdiskurses ist die Opposition wesentlich darauf zurückgeworfen, sich programmatisch neu zu bestimmen und sich als Angebot auf dem Wählermarkt neu zu positionieren. So dominierte Margaret Thatchers neoliberaler Diskurs in den 1980er und frühen 1990er Jahren nicht allein wegen des ‚Westminster’-Regierungssystems286, sondern auch wegen der Unwählbarkeit einer zerstrittenen und sich zeitweise sogar radikalisierenden Labour-Opposition. Umgekehrt konnte Tony Blair in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren einen sozialdemokratischen Modernisierungsdiskurs führen, der von einer unwählbaren, zerstrittenen, ideologisch unbestimmten und intellektuell ausgezehrten Konservativen Partei287 nie ernsthaft herausgefordert wurde. In einem einfachen Politiksystem wie dem britischen, in dem die Durchsetzung von Politikprogrammen der Regierung eher durch öffentlichen Protest, schlechte Umfragenergebnisse, und vor allem durch Wahlen als durch konkurrierende Policy-Akteure herausgefordert werden, ist der kommunikative Diskurs von jeher höchst elaboriert, in seiner direkten Ansprache an das Wahlvolk stark durch normative Kriterien und Werte begründet288 und in seiner Argumentation – wegen des ‚geschlossenen’ Parteienwettbewerbs mit einer scharfen links-rechts Trennung – eher dezionistisch. Die Mehrheitsdemokratie tut sich aufgrund des Mehrheitsprinzips traditionell schwer, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und Wahlverlierer, soziale Klassen oder ethnische Gruppen in den politischen Prozess einzubinden; ein Defizit, das teilweise durch den öffentlichen Policy-Diskurs noch verstärkt wird289. Margaret Thatcher hat nicht nur sozialpolitisch zum „Entstehen einer 284
A. Lijphart 1999 Der Premierminister kann zudem jederzeit mit einem Vorlauf von 17 Werktagen Wahlen ansetzen, so dass der Wahltermin vor dem Hintergrund demoskopischer Umfragen selbst ein strategisches Instrument der Machterhaltung sein kann. 286 M. Rhodes 2000b 287 Seit Anfang 1997 standen an der Spitze der Conservative Party mit John Major, William Hague, Ian DuncanSmith, Michael Howard und David Cameron nicht weniger als fünf unterschiedliche Personen. 288 V.A. Schmidt 2000a, 2000b, 2002, 2007; C.M.Randelli/ V.A. Schmidt, Vivien 2004 289 F. Cohen 1997; S.E. Finer 1975 285
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verarmten sozialen Unterschicht beigetragen“290, sondern auch durch ihren konfrontativen und aggressiven öffentlichen Diskurs (‚us and them’, „there is no such thing as society, only individual men and women and their families“291) die Gesellschaft gespalten und die Desintegration vorangetrieben. Betrachtet man Tony Blairs bzw. New Labours spezifischen Reformdiskurs in diesem politisch-systemischen Kontext, dann müssen vor allem drei zentrale Eigenschaften hervorgehoben werden: Erstens: Entgegen dem konfliktbetonten Charakter der britischen Politik der letzten 25 Jahre und vor dem Hintergrund der thatcheristischen Hinterlassenschaft einer tief gespaltenen Gesellschaft, betont der sozialdemokratische Reformdiskurs New Labours integrative, konsensuale und auch versöhnende Elemente. Die Gesellschaft wird bewusst als ganze angesprochen, was eine Abkehr nicht nur von neoliberalen, sondern auch labour-eigenen ideologischen Polarisierungen bedeutet. New Labour hat sich nicht nur auf der PolicyEbene programmatisch in die gesellschaftliche Mitte bewegt, sondern – über die Betonung des gesellschaftlichen Neuanfangs, der Nation und der Zivilgesellschaft und über die exzessive rhetorische Verwendung eines inklusiven ‚Wir’292 – auch diskursiv in der Mitte der Gesellschaft verortet. In gewisser Weise ist es der Blair-Regierung mit ihrem öffentlichen Reformdiskurs gelungen, aus dem traditionellen Kreislauf von politisch-konfrontativen Diskursen und Gegendiskursen auszubrechen, die ideologischen Gegensätze der Vergangenheit als nicht mehr zeitgemäß kommunikativ zu diskreditieren und sich auf diese Weise als ‚überparteiliche’ Regierung zu inszenieren293. Zweitens: Um den eigenen Diskurs überhaupt glaubhaft integrativ in die gesellschaftliche Mitte hinein kommunizieren zu können, ist es notwendig, die Labour Party aus ihrer traditionellen Klassenorientierung, aus ihrer politischen (Selbst)Beschränkung durch die Artikulation von Partikularinteressen (z. B. jenen der Gewerkschaften) und ihrer klassischen Parteiideologie herauszulösen. Labours innerparteilicher Modernisierungsdiskurs der 1990er Jahre ist gleichermaßen Voraussetzung und Bestandteil des späteren gesamtgesellschaftlich ausgerichteten, sozialdemokratischen Regierungsdiskurses. Die Stärke und Außenwirkung von Blairs Regierungsdiskurs besteht zweifellos darin, dass er keine langwierige ‚Rückwärtsverteidigung’ eines innerparteilichen Diskurses über Richtung, Ausmaß und Angemessenheit der Policy-Reformen und über die Werteorientierung seiner Politik mehr führen muss. In dem Maße, wie vom parteilichen Vetospieler keine störende Blockadehaltung oder kommunikative Vielstimmigkeit mehr zu befürchten ist, ist es möglich, eine problemorientierte und zielgerichtete Reformpolitik durchzusetzen und über einen normativ wie kognitiv stringenten Reformdiskurs zu legitimieren. Dieser Modernisierungsprozess der Partei, vor allem der organisatorische, hat jedoch auch dazu geführt, dass die Partei vom politischen Prozess bis zu einem gewissen Grade entkoppelt wird, dass die Organisationsrealität eines neuen Typus Medienpartei zum Vorschein kommz294 und dass die Labour Party auf ein Parteientyp amerikanischen Stils hin konvergiert, in dem eher strikte Wählerorientierung der Parteiführung und professionalisierte Medienzentrierung dominieren, als die traditionelle Willensbildung der Mitgliederpartei. Die Zentralisierung und Personalisie290
S. Mau 2005: 98 Zitiert in J. Urry 2000: 5 292 N. Fairclough 2000b: 34ff. 293 P. Mair 2000 294 U. Jun 2004: 197 291
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rung des Reformdiskurses hat zweifellos seine argumentative Stringenz und überparteiliche Erscheinung nach außen erhöht, aber dabei wurde die Regierungspartei als politischer Akteur zunehmend marginalisiert295. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Regierung den parteilichen Vetospieler jederzeit unter Kontrolle hat, wie z. B. das Abstimmungsverhalten der Fraktion in der Irak- oder der Studiengebühren-Frage verdeutlichte oder Blairs vergeblicher Versuch, den Partei-Linken Ken Livingston als Bürgermeister von London zu verhindern. Drittens: Das britische politische System ermöglicht es der Regierung – mehr als andere Regierungssysteme – einen öffentlichen Reformdiskurs auf die eigenen Kommunikationskanäle und Diskursprotagonisten zu zentrieren. Sie ist institutionell nicht gezwungen, ihre Reformprogramme mit mehreren Vetospielern in einem (mitunter öffentlichen) deliberativen Verständigungsprozess auszuhandeln. Der öffentliche Diskurs zielt hier allein auf die (heute primär medial vermittelte) Öffentlichkeit, die es von Policy-Reformen zu überzeugen gilt, und kaum auf andere Policy-Akteure, die zur Reformdurchsetzung eingebunden und überzeugt werden müssen. Aus diesem Grund ist in Großbritannien die kommunikative Diskursdimension sehr ausgeprägt, die koordinierte hingegen schwach296. In der Blair-Regierung werden diese Diskursressourcen, die ein einfaches Politiksystem bietet, exzessiv und – im Hinblick auf veränderte Medienformen und die zunehmende Bedeutung der Meinungsmedien – höchst professionell ausgeschöpft. Die medienorientierte Politikdarstellung wird unter New Labour ein derart zentraler Bestandteil des politischen Prozesses selbst, dass Reformpolitik und eine durch ‚Spin-Doktoren’ entwickelte Darstellungspolitik symbiotisch verschmelzen.
4.1.2
Deutschland
Arend Lijphart ordnet das politische System der Bundesrepublik Deutschland – diametral entgegengesetzt zu dem Großbritanniens – dem Pol der föderal verfassten Konsensdemokratie zu. Das Regierungssystem ist durch institutionelle Gewaltenteilung bzw. Gewaltenverschränkung sowohl auf horizontaler als auch auf vertikaler Ebene gekennzeichnet und auf diese Weise durch eine Vielzahl institutioneller Barrieren zentralisierter Steuerungsfähigkeit bestimmt. Zu den Beschränkungen der zentralstaatlichen Exekutive gehören neben Föderalismus und Verhältniswahlrecht, Bikameralismus und Verfassungsgerichtsbarkeit auch weit reichende Selbstverwaltungsstrukturen in der Sozialpolitik. Vor allem die föderale Struktur und die Rolle des Bundesrates, der bei allen Gesetzen, die die Kompetenzen der Länder berühren, zustimmen muss, zwingen die Bundesregierung häufig und in vielen Politikfeldern zu Verhandlungen, Konsens und Kompromiss. In Deutschland existieren drei institutionelle Vetospieler – der Bundesrat, das Bundesverfassungsgericht und der Bundespräsident, zudem in der Regel zwei parteiliche Vetospieler, welche die Regierungskoalition bilden. Auch wenn das tatsächliche Veto-Potential dieser Akteure sehr differenziert betrachtet werden muss, da das Vetorecht des Bundesrates nur für gut 50% aller Gesetze gilt und von unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen abhängig ist, das Verfassungsgericht nur nach Anrufung eine Normenkontrolle vornimmt und
295 296
P. Mair 2000; D. Marquand 2000 V.A. Schmidt 2000a, 2000b, 2002, 2007; C.M Randelli/ V.A. Schmidt 2004
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der Bundespräsident nur ein abgeschwächtes Prüfungsrecht hat297, kann die außerordentliche Stabilitätsorientierung des deutschen politischen Systems zu Entscheidungsblockaden und ‚Politikverflechtungsfallen’298 führen. Vor allem aber zeichnet die hohe Anzahl von machtvollen Akteuren einen speziellen nationalen Diskurskontext, in dem der Reformdiskurs konstitutionell bedingt fragmeniert ist. Erstens können Akteure, die selbst keinen positiven politischen Gestaltungsraum haben, wie der Bundespräsident oder das Bundesverfassungsgericht, aufgrund ihrer öffentlich-moralischen Autorität, den Reformdiskurs beeinflussen oder die Regierung diskursiv unter Druck setzen. Die föderative Vielstimmigkeit verstärkt sich zweitens durch häufig stattfindende Länderwahlen, durch die Bundesregierungen in weitgehend von den Medien definierten, hektischen Meinungs- und Rechtfertigungsarenen gezwungen werden und in denen sich Länderpolitiker (auch der Regierungsparteien) immer wieder über öffentliche Gegendiskurse zu profilieren suchen, um ihre Wahlchancen zu erhöhen. Drittens potenziert sich die Heterogenität der politischen Kommunikationskanäle dadurch, dass im ökonomischen und sozialen Bereich zahlreiche Steuerungsfunktionen an (zivil)gesellschaftliche Akteure delegiert werden, diese körperschaftlich selbstständig in öffentliche bzw. halböffentliche Gremien eingebunden sind und eine starke autonome und legitime Interessensartikulation und -wahrung, kurz: eine eigenständige Stimme darstellen. Das deutsche politische System charakterisiert sich demnach nicht nur dadurch, dass fundamentale Systemwechsel unmöglich sind und Reformen verhandelt und nur inkrementell implementiert werden können, sondern es zeichnet auch einen Diskurskontext, in dem Reformdiskurse selbst – aufgrund der ständigen diskursiven Parallelität mitunter widerstreitender Ideen und Lösungsansätze – Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster nur sehr langsam verändern können. Der politisch-institutionelle Kontext legt eher koordinierte Reformdiskurse zwischen den Koalitionsparteien, zwischen Bund und Ländern oder zwischen korporativen Sozialpartnern (Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften) nahe. Dementsprechend wird in der deutschen Öffentlichkeit die Lösung von Policy-Problemen weniger als Frage klarer Politikalternativen betrachtet, sondern vielmehr als Verhandlungslösung von Policy-Akteuren (der politischen Klasse oder ganz allgemein der Politik) erwartet. Gleichwohl steht dem Zwang zum kompromissorientierten Handeln eine ausgeprägte Parteienkonkurrenz gegenüber, so dass föderale Mitbestimmungsrechte vielfach in den Parteienwettbewerb hineingezogen und „als Instrument der Opposition zur Beschränkung der Handlungsfähigkeit der Bundesregierung genutzt werden können“. Die Parteienkonkurrenz verschärfte sich seit Mitte der 1980er mit dem Aufkommen von Bündnis 90/Die Grünen, da die bis dahin nur mäßig ausgeprägte bipolare Struktur einer Drei-ParteienKonstellation (mit der liberalen FDP als ‚Scharnierpartei’) durch eine Parteienlandschaft abgelöst wurde, in der sich fortan ein bürgerliches Lager aus Union und FDP und ein linkes Lager aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegenüberstanden299. Die gesamtdeutsche Parteienlandschaft wurde nach der Wiedervereineinigung noch komplexer und fragmentierter, da sich in Ostdeutschland ein eigenständiges Parteiensystem ausbildete. Hier etablierte sich eine Drei-Parteien-Konstellation: die CDU, eine auf gesamtdeutscher Ebene als nicht koalitionsfähig angesehene PDS und die SPD als Scharnierpartei. In den 1990er Jahren 297 298 299
Vgl. G. Tsebelis 1995: 306; W. Merkel 2003a, G.A. Strohmeier 2003 F.W. Scharpf 1985 C. Egle 2006: 278f.
4.1 Input-Filter: Das politische System
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konnte sich die PDS allerdings nur als eine ostdeutsche Regionalpartei behaupten, die in Westdeutschland kaum Fuß fassen konnte, und stellte somit für SPD keine Konkurrenz auf ihrer linken Seite dar. Als die PDS 2007 mit der westdeutsch geprägten WASG fusionierte, die als Reaktion auf die Reformpolitik der Schröder-Regierung von ehemaligen SPDMitgliedern und Gewerkschaftern gegründet worden war, scheint sie sich nun als Die Linke gesamtdeutsch links von der SPD zu etablieren. Im Sozialstaatskonflikt besetzt sie klar als Polpartei die Verteilungsgerechtigkeit und macht vor allem der SPD bei Teilen ihrer traditionellen Stammklientel Konkurrenz300. Als Resultat nicht zuletzt der Reformpolitik hat sich das deutsche Parteiensystem von einem 4-Parteien- zu einem ‚fluiden’ 5-Parteien-System gewandelt. Eine parteipolitische Patt-Situation bedeutet aber, dass Kompromisslösungen, die über einen koordinierten Reformdiskurs gefunden werden können, begrenzt sind, und die Bundesregierung somit gezwungen ist, einen kommunikativen Diskurs zu führen, um sich über die Öffentlichkeit zusätzliche Legitimation für ihre Reformprogramme zu beschaffen und mittels dieser Ressource, die Bedingungen des koordinierten Diskurses neu zu rahmen301.
4.1.3
Schweden
Obwohl das Politiksystem Schwedens von seiner politisch-institutionellen Struktur her ein einfaches System ist, dominiert hier traditionell der koordinierte Diskurs. Schweden ist ein dezentraler Einheitsstaat, in dem nationale Regierungen in den Bereichen, in denen der Staat die einzige Verantwortlichkeit besitzt – vor allem auch in der steuerfinanzierten und somit im Vergleich zu z. B. Deutschland stärker politisch determinierten Sozialpolitik –, mit weitreichenden Handlungskompetenzen und Durchsetzungsressourcen ausgestattet sind, die weder durch föderale Schranken, ein Verfassungsgericht oder (seit der Abschaffung 1970) durch eine zweite Parlamentskammer begrenzt sind. Bei der Anzahl der institutionellen Vetospieler befindet sich Schweden auf demselben Niveau wie Großbritannien302. Obwohl die Anzahl der neben der Regierung angesiedelten und konstitutionell verbürgten Mitentscheidungsakteure, die Verhandlungen erzwingen können303, gering ist, wird dennoch in der schwedischen Politik besonderer Wert auf Konsens und Verhandlungsbereitschaft gelegt. In Arend Lijpharts vergleichender Analyse wird Schweden den Konsensdemokratien zugeordnet304. Die Konsensorientierung der schwedischen Politik scheint aus der historischen Tatsache zu resultieren, dass Regierungen in aller Regel knappe Koalitions- oder gar Minderheitsregierungen305 sind und wechselnde (teilweise ad hoc) Parlamentsmehrheiten oder ‚legislative’ informelle Koalitionskonstellationen einen konsensuellen und kooperativen Politikstil befördert haben. Schwedische Regierungen sind jedoch 300
O. Niedermayer 2006 V.A. Schmidt 2007 302 G. Tsebelis 2002. In anderen Berechnungen der Durchsetzungsbegrenzungen nationaler Regierungen sogar noch hinter Großbritannien. Vgl. M.G. Schmidt 2000: 352 303 R. Czada 2000 304 A. Lijphart 1999 305 In den Jahren nach 1945 sind 70% der sozialdemokratischen Regierungen Minderheitsregierungen. Vgl. C. Steffen 2006: 92. Auf die Besonderheit von Minderheitsregierungen im Hinblick auf den öffentlichen Reformdiskurs wird in Kap. 6.2: ‚SAPs interaktiver Diskurs’ tiefergehend eingegangen. 301
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keine ‚oversized governments’ mit parteipolitischen Proporzpraktiken wie man sie aus klassischen Konkordanzdemokratien kennt306. Andererseits kennzeichnet sich das Parteiensystem mit seiner stabilen Blockbildung entlang einer Links-Rechts-Achse durch eine relative Polarisierung – auch wenn vor allem der bürgerliche Block aus Konservativen, Agrarpartei und Liberalen ideologisch sehr heterogen ist und die Parteien in der Geschichte gelegentlich blockübergreifend zusammen gearbeitet haben307. Ein Charakteristikum der schwedischen Verhandlungsdemokratie ist das ‚RemissVerfahren’, das zu den wichtigsten parlamentarischen Prozeduren zählt. Sämtliche Verwaltungen und Interessengruppen, die von einem Gesetz betroffen sind oder sein könnten, werden aufgefordert, zu den Vorschlägen der hierfür eingerichteten Kommission Stellung zu beziehen308. „Dieses Verfahren ist, was die politische Kultur betrifft, nicht nur deshalb bedeutsam, weil alle vom Gesetzesvorhaben berührten Einrichtungen früh in den Diskussions- und Abstimmungsprozess einbezogen werden, sondern auch weil Initiativen zu gesellschaftlichen Veränderungen von den gesellschaftlichen Gruppierungen selbst ausgehen können“309. Diese Vorberatungen von Gesetzesvorhaben weisen gewisse ‚konkordanzdemokratische Elemente’ des politischen Systems auf. Aber diese Kommissionen werden nicht nach einheitlichen Proporzregeln besetzt und dienen weniger der Organisation des Parteienwettbewerbs als der frühzeitigen Einbindung von Interessengruppen und Experten310. Die konsensorientierte Verhandlungspraxis bezieht sich vor allem auf korporative Entscheidungsprozesse. Die schwedische Sozial- und Wirtschaftspolitik des 20. Jahrhunderts gründet historisch auf der umfassenden Integration und Kooperation der Sozialpartner. Das ‚schwedische Modell’ entwickelte sich seit den 1930er Jahren auf der Grundlage klassenübergreifender keynesianischer Wachstums- und Wohlfahrtspolitiken, die auch von den Arbeitgebern aktiv unterstützt wurden311. Diese korporatistische Verbändeeinbindung gründet zudem auf der Tatsache, dass sowohl Gewerkschaften wie auch Arbeitgeber hochgradig organisiert und zentralisiert sind und somit Verhandlungsergebnisse durchsetzen können. Die schwedischen Regierungen haben in den Phasen, in denen sich die Sozialpartner gegenseitig blockieren oder gar entscheiden, nicht partizipieren zu wollen, ausreichend Umsetzungsressourcen, um zu handeln (und haben von diesen Möglichkeiten auch immer wieder Gebrauch gemacht), bevorzugen jedoch traditionell, Entscheidungen in einem elaborierten Konsultationsprozess mit den Sozialpartnern und der Öffentlichkeit zu finden. Die korporatistische Verhandlungsdemokratie in Schweden ist gerade nicht wie in Deutschland durch gegenmajoritäre Institutionen oder Politikverflechtungen zwischen Verfassungsorganen gekennzeichnet. Deshalb können in Schweden auch größere Kurswechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik vollzogen werden als in Staaten mit bundesstaatlicher Gliederung.
306
G. Lehmbruch 1969 Die berühmte rot-grüne Koalition (zwischen Arbeiterschaft und Kleinbauern) in den 1930er Jahren stellte die Grundlage für den Erfolg der schwedischen Sozialdemokratie dar. Eine Koalition zwischen SAP und Bauernbund existierte dann auch zwischen 1951 und 1957. Vgl. G. Esping-Andersen 1998; D. Arter 1999 308 D. Jahn 2003 309 E. Gurgsdies 2006: 88 310 R. Czada 1993 311 P.A. Swenson 2002 307
4.1 Input-Filter: Das politische System
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Das bedeutet, dass das schwedische Politiksystem sich zwar in der Regel wie ein komplexes verhält, jedoch in den Phasen, in denen schnelles und rigides Handeln vonnöten ist, die politischen Durchsetzungskapazitäten eines einfachen Politiksystems bietet. Der öffentliche Reformdiskurs kennzeichnet sich somit in seinem politischen Alltag durch einen ausgeprägten koordinierten Diskurs und der öffentlichen Diskurskommunikation zwischen parteipolitischen Akteuren einerseits und vor allem zwischen den Sozialpartnern und Interessengruppen andererseits. Dieser koordinierte Diskurs zwischen PolicyAkteuren findet überwiegend in der Öffentlichkeit und verhältnismäßig wenig hinter verschlossenen Türen statt und ist in seinem Duktus problemorientiert und sachlich. Doch trotz dieser Konsensorientierung und Verhandlungskultur ist der schwedische Parteienwettbewerb zwischen der Arbeiterbewegung auf der einen und den bürgerlichen Parteien auf der anderen Seite historisch durch klare sozial-ökonomische Konflikt- und ideologische Trennlinien bestimmt, so dass sich Parteien und Regierungen immer wieder mit einem kommunikativen Diskurs direkt an die Bevölkerung wenden und diese über die Betonung unterschiedlicher Normen und politischer Interessenaspekte zu beeinflussen versuchen. Das bedeutet, dass öffentliche Reformdiskurse in Schweden zwar eine starke koordinierte Dimension besitzen, in der lösungspragmatische Inhalte dominieren, dass hinter dem typisch schwedischen Pragmatismus und der Konsensorientierung die kommunikative Diskursdimension jedoch nicht verschwindet, in der Werte und programmatische Orientierung kommuniziert werden. So ist der sozialdemokratische Politikdiskurs – gemessen an der Tatsache, dass die schwedische Sozialdemokratie im Vergleich zu ihren europäischen Schwesterparteien sehr früh den reformistischen Weg einschlug, eher nach pragmatischen Lösungen denn ideologischen Gewissheiten suchte und es eine lange Tradition korporativen Regierens gibt – auffallend stark durch die kommunikative Betonung ökonomischer Interessen sowie den rhetorischen Verweis auf soziale Widersprüche und Machtverhältnisse bestimmt. Bei der analytischen Betrachtung der Kontextbedingungen für einen öffentlichen Reformdiskurs muss auch auf die nicht-konstitutionalisierten, gleichwohl langfristig gewachsenen und quasi-institutionellen Strukturen des schwedischen Politiksystems eingegangen werden. Der Korporatismus des ‚schwedischen Modells’ gründet über Jahrzehnte auf einer sehr engen, geradezu symbiotischen Verbindung zwischen der hegemonialen Sozialdemokratie als ‚natürlicher Regierungspartei’ und der hochgradig organisierten und mächtigen Gewerkschaftsbewegung, allen voran der Industriearbeitergewerkschaft LO312. Diese Partnerschaft ermöglichte bis weit in die 1970er Jahre eine Politikkonzertierung zwischen den Akteuren von Arbeit, Kapital und Staat – deren sichtbarste Ausprägung die zentralisierte und solidarische Lohnpolitik war313 – , die die Gewerkschaften über vielfältige Formen der Beteiligung und Mitspracherechte in Kommissionen, Verwaltungen und kollegialen Verwaltungsorganisationen in die Policy-Formulierung mit einband314. Ab den 1970er Jahren begann jedoch langsam dieses enge Verhältnis zwischen der Partei und den Gewerkschaften zu erodieren. Zum einen nahm im Zuge der PostIndustrialisisierung die Bedeutung des SAP-nahen LO-Industriegewerkschaftsverbandes gegenüber den stärker werdenden Gewerkschaftsbünden TCO und SACO im öffentlichen 312 313 314
H. Milner 1990; K. Åmark 1992 R. Meidner/ A. Hedborg 1984; J. Pontussen 1991 E. Tucker 1994
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Dienst und bei den Angestellten im privaten Sektor ab. Zum anderen positionierte sich die SAP, als eine Partei mit stark ausgeprägten ‚Office-Seeking’-Verhalten, angesichts eines veränderten und volatilen Wählermarktes zunehmend in der Mitte des politischen Spektrums und löste sich wegen makroökonomischer Handlungszwänge aus der ehemals engen Umklammerung mit den Gewerkschaften315. Die organisatorische und politische Entkoppelung von SAP und Gewerkschaften (disengagement) in den 1980er und 1990er Jahren hat für den Reformprozess und den Reformdiskurs weitreichendere Implikationen als beispielsweise für den deutschen, wo die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften eine größere Distanz zueinander hatten als in Schweden, und ist für die hier vorgenommene Betrachtung in vierfacher Hinsicht bedeutsam: Erstens profiliert der sozialdemokratische Diskurs sein Reformprofil gegenüber der Wählerschaft auch in Abgrenzung zu den Gewerkschaften und kommuniziert seine Problemlösungsfähigkeit durch die Überwindung von Verbandswiderständen. Zweitens differenzieren sich vor dem Hintergrund von Postindustrialismus, Individualisierung und Globalisierung diskursive Neubestimmungen sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Werte und Kernvorstellungen aus: Die gemeinsame Agenda der Schwesterorganisationen löst sich auf. Dennoch haben SAP und Gewerkschaften drittens weiterhin eine große ideologische Nähe und sind nicht zuletzt deshalb durch wechselseitige Abhängigkeiten gekennzeichnet: Zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Ziele sind sozialdemokratische Regierungen von Vorteil und zur Erlangung von Mehrheiten können sozialdemokratische Parteien nur kurzfristig, aber nicht langfristig auf die Unterstützung der Gewerkschaften verzichten. Das bedeutet, dass sich sozialdemokratische und gewerkschaftliche Modernisierungs- und Reformdiskurse zwar jeweils von einander abgrenzen und eine jeweils eigene diskursive oder gar narrative Identität entwickeln müssen, sich aber wegen eben ihrer jeweiligen diskursiven Identitäten nicht zu weit von einander entfernen dürfen. Diese politischen wie diskursiven Differenzierungen führen viertens zu einem eigentümlichen Kommunikationsverhältnis zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften. Durch weiterhin vielfältige organisatorische und personelle Verflechtungen, vor allem auf lokaler Ebene316, dominiert ein koordinierter Diskurs zwischen Partei und Gewerkschaft. Mit Blick auf den Wählermarkt bzw. auf die Gewerkschaftsmitglieder grenzen sie sich mit einem kommunikativen Diskurs von einander ab. Dieser kommunikative Abgrenzungsdiskurs wiederum darf nie so weit gehen, dass sich die beiden Organisationen entfremden. Der Konflikt zwischen SAP und LO wegen der Krisenprogramme Ende der 1980er und vor allem in den frühen 1990er Jahren, führte bei den Gewerkschaften zu einer Art ‚Trauma’, zur Wahlniederlage der Sozialdemokraten 1991 beigetragen und eine bürgerliche Regierung ermöglicht zu haben. In der Folgezeit waren LO and SAP wieder um eine Annäherung bemüht. Im Wahlkampf 2002 wurde der Schulterschluss mediengerecht inszeniert317.
315 316 317
J. Callaghan 2000: 186; J. Pontussen 1997 N. Aylott 2003 S. Jochem 2003
4.2 Input-Filter: Die Ausgangssituation
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4.2 Input-Filter: Die wohlfahrtsstaatliche und politisch-ökonomische Ausgangssituation Während sich in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die europäischen Wohlfahrtsstaaten gleichermaßen durch eine politisch gewünschte und forcierte sozial- und regulationspolitische Expansion kennzeichneten, durch ein ‚goldenes Zeitalter’ staatlicher Sozial- und keynesianistischer Nachfragepolitik, steht das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts überall für den Rück- bzw. Umbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen, für De-Regulierung und für die Konsolidierung der Sozialausgaben. Verlangsamtes Wirtschaftswachstum bei steigender Inflation seit Mitte der 1970er Jahre, neue globale Wettbewerbsbedingungen, Veränderungen der Arbeitswelt und folglich der Arbeitsmärkte, steigende und strukturell hohe Arbeitslosigkeit, der demographische Wandel und häufig notorische Haushaltsdefizite zwangen die nationalen Regierungen in einer nach-expansiven Phase318 dazu, Leistungen zu kürzen und Sozialsysteme neu auszurichten. Auch wenn die nationalen Wohlfahrtsstaaten zu unterschiedlichen Zeiten mit internen und externen Herauforderungen unterschiedlich stark konfrontiert waren, steht der Wohlfahrtsstaat an sich – unabhängig von seiner jeweiligen nationalen institutionellen und programmatischen Ausrichtung – spätestens seit Beginn der 1990er vor gewaltigen Herausforderungen. Alle europäischen Staaten stehen seitdem neuartigen sozialen Risiken, Veränderungen und Notwendigkeiten gegenüber: Überall wächst die Ungleichheit, die durch den Markt erzeugt wird, überall herrscht ein globaler Wettbewerbsdruck und auch die Probleme, die durch den demographischen Wandel entstehen, sind überall sehr ähnlich. Das ‚goldene Zeitalter’ des Wohlfahrtsstaats war zugleich ein sozialdemokratisches Zeitalter in dem Sinne, dass in jenen Jahren das demokratische Prinzip auf die Sozial- und Wirtschaftsordnung ausgedehnt und die klassische sozialdemokratische Kernforderung einer Übereinstimmung von Formalgeltung und Realwirkung der Grundrechte319 in und durch den Wohlfahrtsstaat weitgehend erfüllt wurde. Zu Beginn der 1990er Jahre sind alle sozialdemokratischen Parteien und Regierungen somit nicht nur mit der Tatsache konfrontiert, einen öffentlichen Policy-Diskurs zum Umbau des Wohlfahrtsstaats führen zu müssen, sondern auch sich als Sozialdemokratie in diesem Umbau-Diskurs normativ neu zu bestimmen320. Alle sozialdemokratischen Parteien müssen den Diskurs zur Wohlfahrtsstaatsreform und einen Grundwertediskurs ineinander auslegen: „Die europäische Sozialdemokratie kann zwar einen weniger fürsorglichen denn aktivierend-fordernden Sozialstaat wagen, aber kaum das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit opfern, es sei denn um den Preis des dauerhaften, eigenen elektoralen Niedergangs“321. Obwohl sozialdemokratische Parteien und Regierungen vor sehr ähnlichen politischen und diskursiven Herausforderungen stehen, müssen ihre jeweiligen Reformdiskurse der inneren Struktur der nationalen Wohlfahrtsmodelle entsprechend differenziert betrachtet werden. Denn was in einem öffentlichen Reformdiskurs gesagt wird, ist wesentlich durch den zu reformierenden Wohlfahrtsstaat selbst determiniert. Das nationale Wohlfahrtsmodell filtert den Inhalt des öffentlichen Reformdiskurses in dreifacher Hinsicht. Erstens tref318
P. Pierson 2001a T. Meyer 2005b 320 Anthony Giddens „Dritter Weg“ hatte den Anspruch, die Sozialdemokratie jenseits nationaler Besonderheiten programmatisch neu zu begründen und einen länderübergreifenden normativen Kern der Sozialdemokratie zu liefern. 321 M. Frenzel 2003: 87 319
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4 Nationale Input- und Outputfilter
fen ökonomische Globalisierung sowie demographischer, technologischer und kultureller Wandel in den unterschiedlichen Ländern auf komplexe Mischungen ökonomischer und sozialpolitischer Faktoren, so dass sie im jeweiligen ‚Setting’ höchst unterschiedliche Problemeffekte erzeugen. Neben den unterschiedlichen Effekten werden in den Wohlfahrtsstaaten – je nach programmatischer Ausrichtung und institutioneller Akteurskonstellation – zweitens unterschiedliche Probleme als die eigentlichen Kernprobleme wahrgenommen. Drittens erzeugt der Wohlfahrtsstaat seinerseits Probleme, die sich durch Art und Ausmaß seiner determinierenden Intervention in z. B. industrielle Beziehungen, Familienleben oder Erwerbsverläufe unterscheiden. Viertens beruhen die Wohlfahrtsstaaten auf unterschiedlichen normativen Begründungen und erzeugen unterschiedliche Besitzstandsinteressen. Und fünftens ergeben sich aus den unterschiedlichen institutionellen Wohlfahrtsstaats- und Akteurskonfigurationen unterschiedliche Reformpräferenzen, -strategien und -kapazitäten. Die Fähigkeit der jeweiligen kapitalistischen Wohlfahrtstaaten auf Zwänge effektiv reagieren zu können, ist abhängig von ihren strukturellen Stärken und Schwächen. Diese Stärken und Schwächen wiederum sind abhängig von der institutionellen Konfiguration ihrer Sozialsysteme und -programme. Ähnliche ökonomische und soziale Herausforderungen führen in den jeweiligen nationalen Wohlfahrtsmodellen notwendigerweise zu unterschiedlichen Problemen und auf der Policy-Ebene zu divergierenden Anpassungsreaktionen. Sozialdemokratische Reformdiskurse, die diesen Umbau-Prozess kognitiv und normativ kommunizieren, strukturieren sich in den jeweiligen Ländern inhaltlich und kommunikationspolitisch folglich entlang sehr unterschiedlicher Kernprobleme und primärer Reformfelder. Bereits die diskursive Vermittlung von Problemwahrnehmung, -interpretation und die Wahl der Problemlösungsstrategien – die also vorgeordnete Legitimation politischer Handlung – ist somit ‚pfadabhängig’.
Typen wohlfahrtsstaatlicher Arrangements und politisch-ökonomischer Organisation In die Analyse sozialdemokratischer Reformdiskurse müssen die filternden wohlfahrtsstaatlichen und politisch-ökonomischen Kontextbedingungen mit einbezogen werden. Welche Kernprobleme finden sich in den unterschiedlichen Wohlfahrtsmodellen, um die sich nachfolgend die jeweiligen kognitiven wie auch normativen Reformargumentationen gruppieren? Welche Reformrichtung scheint vor dem Hintergrund einer historisch gewachsenen, komplexen und in seinen Teilbereichen komplementär verzahnten Politischen Ökonomie angemessen? In den letzten zwanzig Jahren ist in der Politikwissenschaft eine kaum mehr überschaubare Fülle an Literatur zur vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung erschienen: So sind Wohlfahrtsstaaten in ihren jeweiligen institutionellen Gesamtlösungen322 oder in speziellen Politikfeldern323 verglichen, die Herausforderungssituation324 wie auch die Legitimations- und Kulturkrisen325 des Wohlfahrtsstaats und schließlich unterschiedliche Anpassungsreaktionen326 beschrieben worden. 322
Zum Beispiel S. Lessenich/ I. Ostner 1998; H. Kitschelt/ P. Lange/ G. Marks/ J.D. Stephans 1999; J. Clasen 1999; B. Ebbinghaus/ P. Manow 2001; J. Schmid 2002; F.X. Kaufmann 2003 323 Zum Beispiel K. Schömann/ S. Flechtner/ R. Mytzek/ I. Schömann 2000; E. Reynaud 2000; S. Ganghof 2000 324 Zum Beispiel. F.X. Kaufmann 1997 325 Zum Beispiel K. van Kersbergen 2000: 19 326 Zum Beispiel. F.W. Scharpf 2000b; P. Pierson 2001b; N. Siegel 2002
4.2 Input-Filter: Die Ausgangssituation
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Ein öffentlicher Reformdiskurs setzt sich in aller Regel durch eine Vielzahl spezialisierter Policy-Diskurse in verschiedenen Politikfeldern zusammen, die sich meist, aber nicht immer, in einer gemeinsamen Reformstoßrichtung treffen. Zudem ist die Frage, in welchem Ausmaß neuartige Herausforderungen (wie die z. B. Globalisierung) überhaupt Auswirkungen auf die nationale autonome Handlungsfähigkeit und bisher geschlossene Wohlfahrtssysteme haben, selbst Teil des politischen wie wissenschaftlichen Diskurses327. Und schließlich finden sich in allen Reformdiskursen komplexe Überschneidungen makround mikroökonomischer Argumentationen. Aus methodischen Gründen der Komplexitätsreduktion kann bei der Betrachtung unterschiedlicher kapitalistischer Wohlfahrtsstaaten als Filter nationaler Reformdiskurse nicht auf alle diese Teil- und Spezialdiskurse, alle institutionellen Anpassungen und sozialpolitischen Reformprogramme eingegangen werden. Vielmehr geht es darum, die Wohlfahrtsstaats- und Produktionsregime als national unterschiedliche Funktionssysteme moderner Gesellschaften zu betrachten, die bestimmte Diskursinhalte (Probleme und Problemlösungen) überhaupt erst generieren und sich in ihrer nationalen Spezifik von denen anderer nationaler Systeme unterscheiden. Dabei wird einerseits auf Gøsta Esping-Andersens paradigmatische Typologie „The Three Worlds of Welfare Capitalism” zurückgegriffen. Esping-Andersen untersucht Wohlfahrtsstaaten im Hinblick auf den Inhalt und die Organisationsform wohlfahrtsstaatlicher Sicherung, die Leistungsniveaus und Finanzierungsarten und unterscheidet dabei drei idealtypische Wohlfahrtsregime: ein liberales residuales, bedürfnisorientiertes und schwach entwickeltes, ein konservatives beschäftigungsbezogenes und statusorientiertes und ein sozialdemokratisches auf sozialen Bürgerstatus beruhendes, universalistisches und sehr generöses Wohlfahrtsstaatsregime328. Die charakteristischen Unterschiede der Wohlfahrtsregime bewirken, dass die gleichen ökonomischen Herausforderungen jeweils unterschiedlichen Problemdruck erzeugen329; der Inhalt (die Reform-Policies) sozialdemokratischre Reformdiskurse in den 1990er und 2000er leitet sich wesentlich von dem Wohlfahrtsregime ab, in dem der Diskurs geführt wird. Diese Wohlfahrtsregime sind andererseits in unterschiedliche Typen kapitalistischer Marktökonomien und ihre jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen eingebettet. Peter Hall und David Soskice differenzieren zwischen liberalen, unkoordinierten Marktwirtschaften und sozialen, koordinierten Marktwirtschaften. In ihrer Typologie unterscheiden sich Marktökonomien vor allem dadurch, dass in ihnen entweder Formen eher marktförmiger oder eher strategischer Koordinierung dominant sind. Koordinierte Marktwirtschaften kennzeichnen sich im Bereich industrieller Beziehungen durch korporatistische Verhandlungsinstitutionen, Mitbestimmungsrechte, Beschäftigungsschutz und koordinierte Lohnverhandlungen. Unkoordinierte Marktwirtschaften zeichnen sich stattdessen wesentlich durch marktzentrierte industrielle Beziehungen, dezentralisierte Tarifverhandlungen, geringen Kündigungsschutz und einem unterentwickelten System der betrieblichen Berufsbildung aus330. Globale und sozio-kulturelle Zwänge drängen die divergenten Typen politischer Ökonomien zur prinzipiellen Modernisierung. Doch ob die notwendigen Modernisierungen allein durch Marktkräfte vorangetrieben oder durch Kooperation und Konzertation
327
M. Ramesh 1999; P. Genschel 2003 G. Esping-Andersen 1990 329 G. Esping-Anderson 2002 330 P.A. Hall/ D. Soskice 328
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korporativer Akteure und der Regierungen politisch gesteuert werden, bestimmen Inhalt und Form der Reformdiskurse. Legt man beide Typologien übereinander, wird ein komplexes Beziehungsgeflecht von politischer Ökonomie und Wohlfahrtsstaat sichtbar, aus dem sich einerseits ganz unterschiedliche Reformzwänge und -ressourcen ergeben, und in dem andererseits die Reforminhalte kognitiv und die Reformrichtungen normativ sehr unterschiedlich diskursiv kommuniziert werden müssen.
4.2.1 Schweden: Sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime und national koordinierte Marktwirtschaft Schweden gilt – sowohl in der politischen Auseinandersetzung weit über seine Grenzen hinaus, in der Selbstwahrnehmung der schwedischen Bevölkerung und auch in EspingAndersens wissenschaftlicher Wohlfahrtsstaats-Typologie – als Prototyp des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats, der sich durch eine normative Handlungsmaxime der Gleichheit, Solidarität und Zusammenarbeit sowie durch den sozialpolitischen Akzent auf universellen Einkommensgarantien, Arbeitsmarkt-Aktivierung und hochentwickelten sozialen Dienstleistungen charakterisiert. Der schwedische Wohlfahrtsstaat hat die Funktion, Wettbewerb und marktbedingte Ungleichheit zu begrenzen. Zu seinen wesentlichen Strukturmerkmalen zählen seine überwiegend steuerfinanzierten und generösen Sozialsysteme, eine Leistungsberechtigung, die sich aus der Staatsbürgerschaft herleitet, eine hohe Umverteilungskapazität und seine eher Dienstleistungs- denn Transferorientierung. Der Ausbau der Sozialleistungen nach dem Zweiten Weltkrieg ging einher mit deren Universalisierung, um Sozialleistungsbezieher vor Stigmatisierung zu schützen, ein hohes Maß an sozialer Gleichheit zu verwirklichen und um die Mittelklassen, die mit hohen Steuersätzen belastet wurden, über hochwertige und allgemein zugängliche soziale Dienstleistungen in den Wohlfahrtsstaat einzubinden331. Das breite und großzügige Einkommenssicherheitsnetz ist ein effektives Bollwerk gegen Armut. Weiterhin haben präventive Maßnahmen zur Verhinderung des Risikoeintritts im schwedischen Wohlfahrtsstaat von jeher einen großen Stellenwert, z. B. durch aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Zudem richtet sich das schwedische System seit den 1960er Jahren zunehmend an der Selbstverpflichtung aus, sich nicht nur auf den Ausgleich der sozialen Klassen oder die Abwehr akuter Armut zu beschränken, sondern das Gleichheitsideal verstärkt auf die individuellen Lebenschancen, vor allem auch auf die Gleichheit der Geschlechter auszudehnen. Aus diesem Grund strebt Schweden seit jenen Jahren eine Erhöhung der Frauenerwerbsquote aktiv an und baut schon früh, die für gleiche Beschäftigungschancen notwendigen, umfassenden familienbezogenen sozialen Dienstleistungen aus332. Leiteten sich diese umfassenden sozialen Dienstleistungen ursprünglich noch allein aus den universellen Gleichheitsnormen ab, so stellen sie heute mit Blick auf die neuen Herausforderungen und sozialen Risiken des demographischen wie kulturellen Wandels und den Veränderungen der Arbeitswelt einen entscheidenden funktionalen Vorteil des schwedischen Modells dar. Der Wohlfahrtsstaat muss somit auch als ein Mittel für größere 331
E. Gurgsdies 2006: 60ff.; M. Kautto/ J. Fritzell/ B. Hvinden/ J. Kvist/ H. Uusitalo 2001; F.X. Kaufmann, 2003: 179ff. E. Gurgsdies 2006: 66; G. Esping-Andersen 1992; C. Bergqvist 1999, D. Sainsbury 1999
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4.2 Input-Filter: Die Ausgangssituation
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Risikobereitschaft und größere Arbeitsmarktflexibilität und -anpassung verstanden werden. Er stärkt die Familien, indem er sie von Verpflichtungen – Kinder-, Alten- und Krankenpflege – entlastet, er vergrößert die individuelle Unabhängigkeit und aktiviert (auch das wirtschaftliche) Potential der neuen Frauenrolle und erhöht dabei (durch größere Nachfrage nach Dienstleistungen) die Beschäftigungsquote insgesamt. Die Frauenerwerbsquote ist im europäischen Vergleich einzigartig hoch und die Geburtsraten liegen über dem europäischen Durchschnitt333.
Das schwedische Modell unter Globalisierungsdruck Dieses schwedische Wohlfahrtsstaatsmodell korrespondiert auf komplexe Weise mit einer koordinierten Marktökonomie, die sich noch bis in die 1980er Jahre durch zentralisierte Lohnverhandlungen zwischen den Spitzenverbänden von Arbeit und Kapital auf nationaler Ebene, eine ‚solidarische Lohnpolitik’ und umfangreiche Abkommen zu Fragen des Arbeitsschutzes oder der betrieblichen Mitbestimmung kennzeichnete. Sinnbildlich für diese kompakte Form des Korporatismus und die staatliche Wirtschaftsregulation stand das lang praktizierte ‚Rehn-Meidner-Modell’, das eine klassische keynesianistische, antizyklische Nachfragetheorie gezielt mit Instrumenten der Lohnpolitik, der selektiven Industriepolitik und einer aktiven Arbeitsmarktpolitik verband334. Neben den vielfältigen Instrumenten der Sozialpolitik garantierten diese Strukturen der industriellen Beziehungen eine niedrige Arbeitslosigkeit und ein hohes Maß sozialer Gleichheit. Als das schwedische Modell Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre in eine schwere Krise geriet, geschah dies, weil gleichzeitig drei Fundamente, die dieses Modell seit Jahrzehnten auszeichneten, erodierten: Erstens verloren die zentralisierten Lohnverhandlungen auf der Ebene der Dachverbände von Kapital und Arbeit zunehmend ihre Bedeutung und Wirkungskraft. Auch hielt die ‚solidarische Lohnpolitik’ mit den Anforderungen postfordistischer und wissensbasierter Produktionsformen, vor allem in den exportorientierten Industrien, nicht mehr Schritt. Zweitens griffen in Zeiten der global integrierten Produkt- und Finanzmärkte die traditionellen makroökonomischen Steuerungsinstrumente immer weniger. Der ökonomische Effekt der Abwertung der Schwedischen Krone, mit dem der Druck auf die exportorientierte Wirtschaft und auf die Arbeitsmärkte immer wieder abgeschwächt wurde, war aufgezehrt. Drittens schienen die generösen und allgemeinen Sozialleistungen des schwedischen Wohlfahrtsstaats schlichtweg nicht mehr finanzierbar zu sein. Mit der sprunghaft angestiegenen Arbeitslosigkeit kam es zu beispiellosen Haushaltsdefiziten, öffentlichen Schulden sowie einem schrumpfenden Bruttosozialprodukt. Die Reformen, mit denen in den 1990er Jahren auf diese Krise reagiert wurde, waren erfolgreich. Bis zum Ende der 1990er Jahre konnte die Arbeitslosigkeit radikal reduziert und die Staatsverschuldung abgebaut werden, das Bruttosozialprodukt wächst seitdem stetig und die öffentlichen Einnahmen erzielen Überschüsse. Betrachtet man die Art und Richtung der Reformen, dann fällt auf, dass zwar Elemente und Instrumente des schwedischen Wohlfahrtsregimes umgebaut und neu gewichtet wurden, es einige Grenzverschiebungen zwischen Staat und Markt wie auch eine Öffnung der bis dahin ausschließlich staat-
333 334
G. Esping-Anderson 2002 E. Gurgsdies 2006: 61ff.; P. Whyman 2003
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lichen Wohlfahrt für private Anbieter sozialer Leistungen gegeben hat335, und koordinierte Lohnverhandlungen sich von der nationalen Dachverbandsebene auf die Ebene der Industriesektoren verlagerten, das schwedische Modell an sich dabei jedoch nicht aufgekündigt wurde336. Die prinzipielle ‚Staatlichkeit’ des Wohlfahrtsstaats wurde bewahrt und der charakteristische Dreiklang des schwedischen Modells aus universellen Einkommensgarantien, aktivierender Arbeitsmarktpolitik und hoch entwickelten Dienstleistungen blieb erhalten337. Obwohl das schwedische Modell heute vergleichsweise gut positioniert ist, um den Anforderungen des postindustriellen Wandels zu begegnen, legte die Krise jedoch die Achillesferse des sozialdemokratischen Modells bloß: die hohen Steuerforderungen. Zwar konnte auch in und nach der Krise das für das Modell existenziell hohe Steueraufkommen gesichert werden, vor allem durch die breite Unterstützung der Mittelklassen. Doch die schwedische Wirtschaftskrise verdeutlicht, wie stark das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime abhängig ist von Vollbeschäftigung, verhältnismäßig großer Einkommensgleichheit und Wirtschaftswachstum. Denn sollte das Wachstum unstetig werden, sich die – durch den Markt erzeugten – Ungleichheiten und Dualismen weiter vergrößern und sich die Mittelklassen deshalb aus dem universalistischen System verabschieden und auf den Markt ausweichen, würde sich das Modell selbst seiner Grundlagen entziehen.
4.2.2 Großbritannien: liberaler Wohlfahrtsstaat und unkoordinierte Marktwirtschaft In Esping-Andersens Typologie wird Großbritannien dem liberalen Wohlfahrtsregime zugeordnet, in dem die soziale Verantwortlichkeit des Staates nur residual ist und die Politik aktiv danach strebt, für soziale Probleme Marktlösungen zu finden. Das Wohlfahrtsmodell gründet auf privater, marktbasierter Wohlfahrtsproduktion und begrenzt die staatliche Verantwortung auf die gravierendsten Marktdefizite. Mit Ausnahme des britischen Gesundheitssystems (National Health Service) ist die Stoßrichtung des liberalen Wohlfahrtsregimes, soziale Unterstützung nur den nachweislich Bedürftigen zukommen zu lassen. Der Zugang zu Sozialleistungen ist stigmatisierend (‚mean test’) und die Höhe der Leistungen bescheiden. Der residuale Wohlfahrtsstaat übernimmt nur dann Aufgaben, wenn der Markt versagt. Es gibt eine Selbsthilfepriorität, wonach zunächst alle dem Individuum zur Verfügung stehenden Ressourcen ausgeschöpft werden sollen338. Die Mittelklassen werden aufgefordert, ihre Wohlfahrtsbedürfnisse privat durch den Markt zu befriedigen. Dies führt zu einem zentralen Merkmal des liberalen Wohlfahrtsregimes: Dem Wohlfahrtsdualismus. Der Druck zu privater Vorsorge degradiert Haushalte, die sich wegen eines zu geringen Einkommens private Versicherungen nicht leisten können, zu Wohlfahrtsbürgern zweiter Klasse. Dadurch verfestigt sich einerseits die gesellschaftliche Polarisierung. Andererseits sind auf diese Weise die Mittelklassen immer weniger in die Wohlfahrtssysteme selbst eingebunden. Ihre Bereitschaft nimmt tendenziell ab, die Systeme, deren Leistungen sie selbst nicht in Anspruch nehmen, über Steuern zu finanzieren. Gerade deshalb scheint der angelsächsische Wohlfahrtsstaat als besonders empfänglich für neolibe335
P. Blomqvist 2000 P. Swensson/ J. Pontussen 2000 337 S. Kuhnle 2000; M. Benner/ T. Bundgaard Vad 2000 338 R.M. Titmuss 1974 336
4.2 Input-Filter: Die Ausgangssituation
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rale Umstrukturierungen, da hier nur eine Minorität von den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen profitiert339. Hall und Soskice ordnen Großbritannien ferner dem Cluster der unkoordinierten liberalen Marktwirtschaften zu. Diese kennzeichnen sich dadurch, dass die Unternehmen ihr strategisches Handeln fast ausschließlich über Marktbeziehungen koordinieren, ihr Kapital auf dem Aktien- und Finanzmarkt akquirieren müssen und somit – aufgrund ihrer Abhängigkeit von shareholders – eher unternehmerische Kurzfristorientierungen dominiert. Wegen der schwachen oder fehlenden Organisation und Zentralisierung der Spitzenzusammenschlüsse von Gewerkschaften und Unternehmensverbänden sind Lohnverhandlungen hochgradig fragmentiert und finden meist auf Unternehmensebene oder individuell zwischen dem einzelnen Arbeitnehmer und Arbeitgeber statt. Der Kündigungsschutzes ist schwach ausgebildet und die Arbeitsplatzfluktuation sehr hoch, so dass es sich für Unternehmer wie Arbeitnehmer meist nicht lohnt, langfristig in die berufsspezifische Qualifikation zu investieren. Standardisierte, arbeitsintensive und niedrig bezahlte Massenproduktion und Dienstleistungen (‚low skill, low wage’), ausgeprägte Hierarchien und eine extreme Arbeitsteilung in den Unternehmen bestimmen noch heute weite Teile der britischen Arbeitswelt340. Die Kombination des britischen Modells aus residualem Wohlfahrtsstaat, einem Produktionsregime, das auf einem ausgedehnten Niedriglohnsektor basiert, und unkoordinierten Lohnfindungsprozessen führt zu großen Lohnunterschieden und gesellschaftlicher Polarisierung, vor allem aber – und das ist traditionell das Kernproblem des britischen Modells – zu Armutsfallen und dauerhafter sozialer Unsicherheit für große Bevölkerungsgruppen.
Wohlfahrtsstaatsreformen: Politische und ideologische Richtungsänderungen Auch wenn das britische Wohlfahrtsregime – wie alle anderen europäischen Wohlfahrtsstaaten auch – bis in die 1960er Jahre von einer qualitativen und quantitativen Ausdehnung der Sozialleistungen bestimmt war, bevorzugte es seit seiner Einrichtung auf Grundlage des Beveridge Reports341 minimalistisches staatliches Engagement, weil – der liberalen britischen Denktradition folgend – davon ausgegangen wurde, dass der Markt die beste Lösung für innergesellschaftliche Güterverteilung sei. Zugleich sollte aber über ein ‚weitreichendes Verstaatlichungsprogramm’ von Schlüsselindustrien unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine ‚mixed Economy’ geschaffen werden, die von einer auf Vollbeschäftigung ausgerichteten Wirtschaftspolitik gesteuert wurde342. Doch bis weit in die 1980er Jahre hinein existierten Wohlfahrtssystem und Ökonomie in weitgehend abgetrennten Sphären. Während in den skandinavisch sozialdemokratischen und den kontinentaleuropäisch konservativen Wohlfahrtsregimen soziale Rechte in den Verfassungen institutionalisiert waren und daher marktkorrigierende Staats-Interventionen legitimerweise weit in die Marktwirtschaft hineinreichten und zugleich produktive ökono-
339
J. Turowski 2006: 472 P.A. Hall/ D. Soskice 2001 Eine 1941 unter dem Vorsitz von William Henry Beveridge einberufene Kommission legte im Dezember 1942 den „Report on Social Insurance and Allied Services“ vor, der – besser bekannt als „ Beveridge Report“ – nach dem Zweiten Weltkrieg als Grundlage des weitgehenden Neuaufbaus sozialer Sicherungssysteme durch die Labour Regierung diente. R. Parry 1986, F.X. Kaufmann 2003: 144; C. Krell 2006: 145 342 C. Krell 2006: 147 340 341
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mische Rahmenbedingungen erzeugten343, hielten Wohlfahrtsstaat und liberale Marktökonomie in Großbritannien traditionell Distanz zueinander. „Thus, in its disjointed mix of formal social programms and labour market income delivery, both the ‚accumulation function’ (promoting growth) and ‚legitimation function’ (securing popular support for economic adjustment) of welfare were flawed“344. Vor diesem Hintergrund brachte die Ära Margaret Thatcher in den 1980er Jahren eine Neuordnung des institutionellen Beziehungsgeflechts des britischen Modells. Der Wohlfahrtsstaat wurde nun rhetorisch stärker an funktionalen Notwendigkeiten der Ökonomie ausgerichtet, de facto aber den Marktmechanismen untergeordnet. Der massive Rückbau der Sozialleistungen, die Privatisierung ehemals staatlicher Unternehmen, die weitreichende Liberalisierung der Finanzmärkte sowie die Ausdehnung und Betonung von Marktprinzipien auf den Arbeitsmarkt waren ideologisch motiviert. In Thatchers neoliberalem Selbstverständnis geriet der Wohlfahrtsstaats prinzipiell in die Kritik: als eine Form der Beschränkung von Freiheit, als ineffektiver Kostenverursacher und als dysfunktionales Anreizsystem. Der wohlfahrtsstaatliche Rückbau ging einher mit einer Wirtschaftspolitik, die einerseits den ohnehin geschwächten industriellen Sektor bewusst externen Schockbedingungen aussetzte und seinen Kollaps in Kauf nahm, und andererseits die Gewerkschaften als politisch-ökonomische Akteure gänzlich entmachtete. Innerhalb eines Jahrzehnts wurden der Arbeitsmarkt und das innere Gefüge der Arbeitnehmerschaft radikal verändert und die letzten Reste eines immer schon fragilen britischen Korporatismus beseitigt345. Eine nunmehr individualisierte Lohnfindung in einem vollständig deregulierten Arbeitsmarkt führten zunehmend zu polarisierten Beschäftigungsmöglichkeiten und Einkommensverhältnissen. Die Thatcherischen Wohlfahrtsstaatsreformen haben diesen arbeitsmarktlichen Exklusionsprozess zusätzlich verschärft und zur Verfestigung einer verarmten sozialen Unterschicht beigetragen346. Die hohen Armutsquoten, soziale Exklusion und eine sehr ungleiche Einkommensverteilung sind jedoch von jeher systemimmanente Schwächen des liberalen Wohlfahrtsregimes. Labours Regierungsübernahme 1997 rückte somit die Bekämpfung der Armut und die Inklusion aller in die Gesellschaft ins Zentrum ihrer Politik, wobei sozialstaatliche Maßnahmen weniger auf die nachträgliche Kompensation von ungleichen Marktergebnissen ausgerichtet war, als auf die Vergrößerung der Zugangschancen des Einzelnen zum Arbeitsmarkt. Der Bruch mit dem Thatcherismus bestand vor allem darin, dass der Markt sozial gesockelt wurde und der Staat wieder in die Verantwortung für das soziale Wohlergehen aller seiner Bürger genommen wurde. Doch New Labours soziale Gegenreform zum Neoliberalismus blieb der Systemlogik des liberalen Wohlfahrtsssystems verhaftet: Die Grundausrichtung des britischen Wohlfahrtsregimes wurde nicht verändert. Der Umbau eines passiven Sozialleistungsstaates zu einem Sozialinvestitionsstaat setzte weniger auf ausreichende soziale Sicherung für möglichst viele als auf gezielte Programme für Bedürftige. New Labour vertraute beim Kampf gegen die Armut vor allem auf die Teilhabe aller Arbeitsfähigen am Erwerbsleben durch Gewährleistungen einer ausreichend dynamischen Volkswirtschaft und flexible Beschäftigung, insbesondere auch durch Hilfen für den Wie343
A. Hemerijck 2002; M. Ferrera/ M. Rhodes 2000 M. Rhodes 2000b 345 P. Pierson 1994 346 Die Armutsquote hatte sich in den Jahren zwischen 1979 und 1994 verdoppelt. M. Rhodes 2000a: 178. Vgl. auch C. Krell 2006: 171ff. 344
4.2 Input-Filter: Die Ausgangssituation
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dereintritt in das Erwerbsleben. Zu diesem Zweck wurden die Unterstützungsleistungen zunehmend an eine Erwerbstätigkeit gekoppelt347. Die ‚in Arbeit’-Unterstützung wurde als ein effektiver Weg betrachtet, soziale Exklusion zu bekämpfen348. Die Strategie schien begrenzt erfolgreich; die Labour-Regierung konnte die Armutsquoten deutlich reduzieren. Doch an Erwerbsarbeit gekoppelte Unterstützung hilft nicht den Bürgern, die trotz allem arbeitslos bleien. Vergleichsweise hohe Armutsquoten sind infolgedessen immer noch das größte Problem des britischen Modells. Hinzu kommt, dass die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien, der Entzug von Leistungen, ein verschärftes Lohnabstandsgebot der Sozialhilfe und subventionierte Niedriglöhne natürlichen einen immensen Lohndruck zur Folge haben und somit das in der unkoordinierten, liberalen Marktwirtschaft angelegte Problem eines großen Niedriglohnsektors verschärfen. Dieses Problem wurde jedoch durch Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns entschärft.
4.2.3 Deutschland: konservativer Wohlfahrtsstaat und koordinierte Marktwirtschaft Deutschland steht beispielhaft für die Kombination des kontinentaleuropäischen konservativen Wohlfahrtsregimes mit einer stark (selbst)koordinierten Marktwirtschaft. In EspingAndersens Typologie steht das konservative Wohlfahrtsregime dafür, dass Statusunterschiede erhalten bleiben, doch gleichzeitig soziale Stabilität gesichert wird, wobei sich staatspolitische und paternalistische Motive überlagern. Das deutsche Wohlfahrtsregime kennzeichnet sich strukturell durch die Dominanz sozialer Pflichtversicherungen, die um das Lohnarbeitsprinzip zentriert sind. Das Versicherungsprinzip nimmt eine Verknüpfung zwischen Einzahlungen und Leistungen vor, so dass die Umverteilungswirkung begrenzt bleibt. Diese Organisations- und Finanzierungsform der sozialen Sicherungssysteme hat sich in den letzten Jahren als zunehmend problematisch erwiesen und zwar sowohl aus funktionalen Gründen – im Hinblick auf die Schaffung von Arbeitsplätzen – als auch aus Gründen der Gerechtigkeitsnormen – im Hinblick auf die umfassende Integration aller Bürger in die Systeme349. Da die Sozialversicherungsbeiträge lohnbezogenen geleistet werden, die Finanzierung des deutschen Sozialsystems also an das Arbeitsverhältnis gekoppelt ist, stellen die Beiträge einen nicht unerheblichen Preisaufschlag auf die Löhne dar. Es entsteht ein ‚Abgabenkeil’, der sich zwischen Brutto- und Nettolohn schiebt. Diese Kostenbelastung der Sozialabgaben verteuert den Arbeitspreis vor allem bei einfachen Dienstleistungen und Tätigkeiten mit geringer Produktivität maßgeblich, so dass private Beschäftigung im Dienstleistungsbereich vom Markt verschwindet350. Aus diesem Grund hat Deutschland so wenig Beschäftigung im privaten Dienstleistungsbereich wie Schweden, und wegen des stetigen Rückbaus des Staates seit den 1980er Jahren auch so wenig öffentliche Beschäftigung wie die Vereinigten Staaten. Deshalb ist das deutsche Modell zunehmend in einem Teufelkreis gefangen: Eine geringe Beschäftigungsquote erhöht die Beitragsquote; die strukturelle Arbeitslosigkeit ist somit Ursache der Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme und die Finanzierungsstrukturen sind wiederum Kernproblem der struk347
C. Krell 2006: 176ff. D. Purdy 2000: 192 349 J. Turowski 2006: 466 350 C. Egle 2006: 295 348
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turellen Unterbeschäftigung351. Ungerechtigkeiten entstehen vor allem auf der Leistungsseite des beitragsfinanzierten Wohlfahrtsstaats, in dem höhere Versicherungsbeiträge höhere Transferzahlungen nach sich ziehen und auf diese Weise bestehende Statusunterschiede eher konservieren als verringern. Außerdem beschützen arbeitsabhängige soziale Versicherungssysteme jene recht gut, die in stabilen, lebenslangen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, während sie denen kaum Schutz bieten, die nur eine schwache Beziehung zum Arbeitsmarkt haben oder irreguläre Arbeitskarrieren aufweisen. Dadurch vergrößert sich der Graben zwischen einem privilegierten ‚Drinnen’ und einem unsicheren ‚Draußen’. Das deutsche Wohlfahrtsstaatsmodell ist in eine koordinierte Marktwirtschaft eingebettet und mit ihr komplementär verzahnt. Diese Marktwirtschaft konnte bis in die 1990er Jahre mittels der beiden Begriffspaare ‚koordinierter Kapitalismus’ und ‚kooperative Sozialbeziehungen’ sehr treffend beschrieben werden und basierte auf einer umfassenden Export- und Industrieorientierung. Die koordinierte Marktwirtschaft zeichnete sich im Bereich der industriellen Beziehungen seit jeher durch eine relativ starke Beteiligung von Arbeitnehmern an der Unternehmensführung und -kontrolle, das Prinzip der Tarifautonomie, die langfristige Bindung der Mitarbeiter an ihr Unternehmen und die kooperative Entwicklung von Ausbildungsnetzwerken aus. Diese Eigenschaften wiederum waren die Grundlage, auf der das deutsche Produktionsregime einer ‚diversifizierten Qualitätsproduktion’352 basierte. Eine gut ausbildete und verdienende, arbeitsrechtlich weitgehend geschützte Facharbeiterschaft war lange einerseits Voraussetzung und komparativer Vorteil der deutschen Ökonomie und andererseits Grundlage des deutschen Sozialmodells. Dieses Modell geriet im Zuge der Globalisierung und europäischen Integration sowie der Deregulierung der Kapital-, Arbeits- und Gütermärkte seit den späten 1980er Jahren verstärkt unter Druck: Zum einen schienen die für die deutsche Marktwirtschaft typische Unternehmensfinanzierung über Hausbanken, Überkreuzbeteiligungen und die spezifische Form der Mitbestimmung zunehmend ein Hindernis für grenzüberschreitende Aktivitäten deutscher Unternehmen und für neue Finanzierungsformen auf dem globalen Kapitalmarkt zu sein. Zum anderen wurde in den 1990er Jahren die interne Koordinationsfähigkeit des deutschen Korporatismus brüchig. Insbesondere die Organisationskraft der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände und damit deren Strategiefähigkeit und Koordinierungsfunktion nahmen kontinuierlich ab353 und waren immer weniger in der Lage, unter den gewandelten globalen Rahmenbedingungen den neuartigen Anforderungen einer zunehmend flexiblen und wissensbasierten Dienstleistungsökonomie flächendeckend und für alle Berufsgruppen gerecht zu werden.
Das konservativ-korporative deutsche Wohlfahrtsmodell: Arbeitslosigkeit, die Herausforderungen der neuen Frauenrolle, neue Soziale Risken In den frühen 1990er Jahren traten zwei Kernherausforderungen des konservativen Wohlfahrtsregimes deutlich hervor, die eng miteinander verbunden sind. Erstens ‚Wohlfahrtohne-Arbeit’: Der Beschäftigungsaufbau wurde durch relativ hohe Löhne und die Last der 351 352 353
F.W. Scharpf 2004 W. Streeck 1991, 1997. Vgl. auch W. Abelshauser 2003 C. Egle 2006: 292
4.2 Input-Filter: Die Ausgangssituation
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Sozialabgaben strukturell behindert. Zweitens eine – im Vergleich mit liberalen und sozialdemokratischen Modellen – geringe Frauenerwerbsquote und niedrige Geburtenrate: Das konservative Wohlfahrtsregime kennzeichnet sich durch ein Festhalten an einer traditionellen Wohlfahrtsverantwortung der Familien. In einem solchen Wohlfahrtsverständnis erlangt die soziale Sicherheit des alleinverdienenden Familienernährers (meist der Ehemann) fundamentale Wichtigkeit und wohlfahrtsstaatliche Transfers (im Gegensatz zu sozialen Dienstleistungen) gründen auf Vorstellungen und Annahmen, dass familiäre Dienstleistungen durch die Familie selbst (meist die Ehefrau) geleistet werden. Passive Einkommensunterstützungen verbunden mit strengen Arbeitsplatzgarantien für den Familienernährer wurden spätestens in den 1990er Jahren jedoch problematisch, je mehr die traditionelle Ehe als Beziehungsmodell instabiler wurde bzw. zunehmend verschwand und immer mehr ‚unkoventionelle’ Haushalte entstanden (z. B. alleinerziehende Mütter oder Arbeitnehmer mit irregulären Berufskarrieren). Zudem waren arbeitsabhängige soziale Versicherungssysteme offensichtlich in der Bekämpfung sozialer ‚Exklusion’ recht uneffektiv, da sie nur jene beschützen, die in stabilen, lebenslagen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Da familienfreundliche Dienstleistungen weitgehend fehlten, mussten sich Frauen häufig zwischen Erwerbstätigkeit und Kindern entscheiden. Dadurch wurde entweder das Qualifikationspotential von Frauen volkswirtschaftlich nicht ausgeschöpft oder – durch zu geringe Fertilitätsraten – die Nachhaltigkeit der Sozialsysteme gefährdet. Durch eine hohe Frauenerwerbsquote werden jedoch traditionell weibliche und bisher unbezahlte Tätigkeiten, wie Kinder- und Altenpflege kommodifiziert, was wiederum zu einer neuen Dynamik bei den haushaltsbezogenen und sozialen Dienstleistungen führt und neue Möglichkeiten für Erwerbsarbeit und zum Abbau der Arbeitslosigkeit schafft.
4.2.4 Unterschiedliche Wohlfahrtsregime, unterschiedliche Reformdiskurse Der gemeinsame Druck neuartiger globaler und sozio-kultureller Herausforderungen auf die nationalen Wohlfahrtssysteme ist unbestritten. Allerdings werden diese durch unterschiedliche Wohlfahrtsregime unterschiedlich gebrochen und verarbeitet. Divergente Reformzwänge und -antworten wiederum führen notwendig zu unterschiedlichen Reformdiskursen. Dabei wird der kognitive wie normative Inhalt sozialdemokratischer Reformdiskurse – selbst wenn ihre argumentative Stoßrichtung und ihr programmatisches Reformziel sehr ähnlich ist – durch die Sozial- und Wirtschaftsmodelle, in denen sie geführt werden, in vierfacher Hinsicht bestimmt. Erstens wird der Reformbedarf anhand der Probleme diskutiert, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung offensichtlich und zweifelsfrei im Argen liegen. Dies ist in Schweden die Finanzierungsgrundlage des Wohlfahrtsstaats, in Großbritannien das Armutsproblem und in Deutschland die strukturelle Massenarbeitslosigkeit. Zweitens gründen die unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen und polit-ökonomischen Institutionen-Konstellationen traditionell auf unterschiedlich dominanten Werteideen. Auch wenn es in allen Ländern durch die Reformdiskurse selbst zur einer Neubestimmung der Werte bzw. zur Neugewichtung der Wertehierarchie kommt, ist doch der Wert der Bedarfsgerechtigkeit in Schweden von jeher ausgeprägter als in Großbritannien. Bedarfsgerechtigkeit war im universalistischen schwedischen Wohlfahrtsstaat zudem immer schon an
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den Wert der Teilhabegerechtigkeit gekoppelt. Die Idee der Leistungsgerechtigkeit ist hingegen sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland traditionell sehr dominant, dabei allerdings jeweils unterschiedlich in ihrem Verhältnis zu einem produktivistischen Gerechtigkeitsverständnis. Aus den Unterschieden der nationalen Wertehierarchien ergibt sich, dass in New Labours Reformdiskurs kommerzieller Erfolg oder Marktergebnisse positiv betont werden, während hingegen im schwedischen Diskurs Solidarität, Gleichheit und die Befriedigung individueller Bedürfnisse durch kollektive Arrangements weiterhin dominant sind354. Drittens sind Problemlösungen – also der kognitive Inhalt des Reformdiskurses – durch die jeweiligen Produktions- und Wohlfahrtsregime vorgegeben bzw. begrenzt. Vor allem, weil Problemlösungsstrategien durch frühere Erfahrungen und Präferenzen motiviert sind und durch jeweilige institutionelle Kapazitäten umgesetzt werden. Auch die Reformpolitik, die die Defizite der jeweiligen Modelle zu beheben versucht, folgt weitgehend der inhärenten Logik der Sozialmodelle. So folgt die Labour Party dem Charakter des liberalen Wohlfahrtsstaats, indem sie Marktprinzipien, ‚Public-Private-Partnership’ (PPP), vertragliche Arrangements und Wettbewerbselemente im öffentlichen Sektor betont. Trotz vielfältiger Rück- und Umbaupolitiken bleiben die schwedischen Sozialdemokraten den normativen und organisatorischen Prinzipien des universalistischen Wohlfahrtsstaats verpflichtet. Allein die deutschen Sozialdemokraten greifen stark auf ‚regimefremde’ Problemlösungen zurück (vor allem auf New Labours aktivierende Arbeitsmarktpolitik). Viertens muss sich sozialdemokratische Reformpolitik zu den historisch gewachsenen ideologischen Grundaussichtungen der jeweiligen Wohlfahrtsregime positionieren. Das bedeutet, dass sowohl Problemdefinition als auch Problemlösung eine programmatische Zielrichtung haben. Die Zielrichtung kann sich positiv oder negativ zum Wohlfahrtsregime artikulieren. Ein sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime wie das schwedische ist einem sozialdemokratischen Reformdiskurs selbstverständlich ein positiver Bezugspunkt; die notwendigen Reformen sollen das System im Kern bewahren. New Labours Diskurs gründet bei der Formulierung seiner sozialdemokratischen Problemlösungen auf die Funktionslogiken des liberalen Produktions- und Wohlfahrtsregimes: Auf die Notwendigkeit des sozialen Schutzes wird zwar verwiesen, aber zugleich individuelle Leistung und die Allokation der Märkte hervorgehoben. Ein deutscher sozialdemokratischer Reformdiskurs hätte neben offensichtlichen ökonomischen Leistungsdefiziten auch die ideologischen Schwächen und veraltete Konzeption des konservativen Wohlfahrtsregimes thematisieren müssen; dies hätte nachfolgend die Legitimität einer sozialdemokratischen Problemlösung erhöht. Dass Gerhard Schröder im Bundestagswahlkampf 1998 seine zukünftige Ministerkollegin Christine Bergmann mit der herablassenden Formulierung der Öffentlichkeit vorstellte, sie sei zuständig „für Frauen und das ganze andere Gedöns“355 steht sinnbildlich dafür, dass die deutsche Sozialdemokratie zu dem Zeitpunkt der Machtübernahme (und auch noch später) keinen originär deutschen Reformdiskurs hatte, der eine sozialdemokratische Antwort auf die spezifischen Herausforderungen des konservativen Wohlfahrtsmodells darlegte.
354 355
J. Hinnfors 2006 S. Lang/ B. Sauer 2006
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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4.3 Output-Filter: Politische Kultur Der öffentliche Reformdiskurs hat eine inhaltlich-kognitive wie normative Stoßrichtung, die darauf zielt, kollektive Einstellungen und Erwartungen der Bürger oder Interessenorganisationen in einer Weise zu verändern, die es der Regierung ermöglicht, notwendige Anpassungsreformen an veränderte Umwelten auch gegen die unmittelbare Besitzstandinteressen durchzuführen. Die diskursive Stoßrichtung der Wohlfahrstaatsreformen der 1990er Jahre wurde – vor allem ‚Top-down’ – überall mit sehr ähnlichen inhaltlich-kognitiven Argumenten kommuniziert: Angesichts der Finanzierungsprobleme durch lang andauernde Arbeitslosigkeit und demographische Ungleichgewichte, neuartige soziale Risikostrukturen, angesichts der ökonomischen Globalisierung und der Notwendigkeit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sei eine wohlfahrtsstaatliche Strukturreform und eine restriktivere Sozialpolitik unumgänglich. Doch ob und inwieweit dieser inhaltlich-kognitive Diskurs in der Öffentlichkeit eine positive Resonanz erzeugt, also den politischen Handlungsraum der Regierungen für Wohlfahrtsstaatsreformen tatsächlich vergrößert, hängt auch entscheidend von der politischen Kultur ab, in der diese Argumente formuliert werden. Denn die politische Kultur des jeweiligen Landes filtert den ‚Widerhall’ und die Überzeugungskraft dieser Argumente in zweifacher Hinsicht: Zum einen müssen Richtungsprinzip und Ausmaß der Reformen vor dem Hintergrund der jeweils dominierenden Werteorientierungen und Gerechtigkeitsvorstellungen als grundsätzlich legitim erachtet und als gerecht akzeptiert werden, zum anderen sind die unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements, ihre Institutionen und Verfahren ihrerseits historische Ausprägungen nationaler politischer Kulturen, sie spiegeln historische Politik- und Krisenerfahrungen wie auch die kollektiv gefundenen ‚Ergebnisse’ der Problemösung wider. Deshalb filtert die politische Kultur nicht nur die Resonanz des Reformarguments, sondern auch meist bereits die Problemwahrnehmung und folglich das Verständnis der Realisierbarkeit bestimmter Lösungen. Zugleich sind politisch-kulturelle Sinnbezüge und Legitimationsmuster immer dynamisch und unabgeschlossen, befinden sich mitunter in ein und der derselben Gesellschaft in einem spannungsreichen Nebeneinander und verändern langsam die Erwartungen an das politische Regime und somit wiederum die Legitimationsmuster. Ein Beispiel hierfür ist der als ‚stille Revolution’ apostrophierte ‚postmaterialistische’ Wertewandel in westlichen Gesellschaften356. Ein Reformdiskurs muss sich dementsprechend normativ wie kommunikativ nicht allein im Hinblick auf jeweils dominante länderspezifisch politisch-kulturelle Orientierungen formulieren, die sich im Zeitablauf als besonders stabil erwiesen haben, sondern zugleich auch auf deren dynamische, innergesellschaftlich vielfach äußerst spannungsreiche Verschiebungen; ein Reformdiskurs muss gleichermaßen Statik und Dynamik einer politischen Kultur in einen gesellschaftlichen Gesamtdiskurs integrieren bzw. die Veränderung als politisch-kulturell verwurzelt und das politisch-kulturell Ursprüngliche als immer schon dynamisch kommunizieren.
356
R. Ingelhart 1977
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4 Nationale Input- und Outputfilter
4.3.1 Politische Kultur und Diskurs, Politische Kultur als Diskurs Seit Gabriel A. Almond und Sidney Verbas klassischer Studie „The Civic Culture“ bezeichnet man die Verteilung individueller Orientierungen auf politische Objekte als ‚politische Kultur’ und schreibt ihr eine zentrale Rolle als Bestimmungsfaktor politischer Prozesse und für die Funktionsfähigkeit politischer Systeme zu. Über die Untersuchung subjektiver Einstellungen und Bewertungen, Mentalitäten und Bewusstseinslagen, typische Denk- und Verhaltensweisen von Gesellschaften wird das politische System somit theoretisch mit dem Individuum verknüpft. Almond/ Verba definieren die politische Kultur eines Landes als „particular distribution of patterns of orientation toward political objects among the members of a nation“357. Auch wenn bis heute in divergierenden theoretischen Überlegungen kontrovers diskutiert wird, welche Orientierungskategorien (Kombination von Orientierungsart und Objekt) überhaupt für die Analyse politischer Kulturen von Bedeutung sind358 und ob sich Normen und Einstellungen methodisch vergleichbar überhaupt beim Individuum abfragen lassen359 und sich die Forschung seit geraumer Zeit eher auf die Verfeinerung der Befragungsmethoden einzelner Orientierungskategorien oder gar nur von kleinen Ausschnitten konzentriert, entwickelt sich die Politische Kulturforschung in den vergangenen Jahrzehnten auf Almond und Verbas konzeptuell-theoretischer Grundlage, nämlich die Orientierungen und Selbstverständnisse der Bürger als wichtige Triebfeder politischer Prozesse zu erfassen, zu einem der wichtigsten Untersuchungsfelder der vergleichenden Politikwissenschaft. Während sich Almonds und Verbas empirische Untersuchung der späten 1950er Jahre noch zentral der Frage widmete, ob sich die Stabilität von Demokratien über die sie umgebene politische Kultur erklären lasse, geht es bei dem hier vorgenommen Ansatz – bei dem alle untersuchten Länder als politisch institutionell stabile Demokratien betrachtet werden – um Divergenzen nationaler politischer Kulturen hinsichtlich Wohlfahrtsstaatsorientierungen, Gleichheits- oder Gerechtigkeitsvorstellungen, allgemein anerkannter sozialpolitischer Verteilungsregeln, der Rolle des Individuums und des Gemeinschaftlichen und schließlich der Rolle des Staates und der Zivilgesellschaft, welche sich als Output-Filter für die jeweils argumentative Wirksamkeit nationaler Wohlfahrtsstaatsreformdiskurse und öffentliche Responsivität auf Reformideen identifizieren lassen. Die filternde Wirkung der politischen Kultur vollzieht sich aber nicht nur dadurch, dass sie politische (Reform)Ideen selbst und ihre kommunikative Aktivierung kognitiv und normativ rahmt, sondern auch indem sie deliberative Prozesse, in denen politische Ideen überhaupt erst produziert werden, determiniert. Denn wenn man politische Kultur als ein Regelsystem versteht, von dem abhängt, wie ‚man’ innerhalb eines sozialen Verbandes politisch handeln und wie und was ‚man’ politisch reden kann360, dann wird deutlich, dass politische Kultur und öffentlicher Reformdiskurs auf komplexe Art verschränkt sind. Öffentlicher Diskurs und politische Kultur stehen sich somit nicht als in sich abgeschlossene Entitäten gegenüber, sondern sind Bestandteil des jeweils anderen. Einerseits funktioniert politische Kultur als vorgegebener „objektiver Strukturzusammenhang gegenüber der Sub-
357
G. Almond/ S. Verba 1989: 13 Vgl. zum Beispiel D. Easton 1975; M. Kaase 1983: 157; G. Almond 1990 359 K. Rohe 1987 360 K. Rohe 1994: 163 358
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
131
jektivität des einzelnen Individuums“361 ihrerseits immer auch als Diskurs, in dem kollektive Definitionen politischer Begriffe bereits festgelegt sind (als ein historisch gewachsener und tief verwurzelter hegemonialer Diskurs)362, andererseits sind es wiederum öffentliche Diskurse und politische Innovationen, die den politisch-kulturellen Rahmen in Frage stellen und verändern. Die Beziehung zwischen politischer Kultur und öffentlichem Diskurs ist also eine dialektische, in der die politische Kultur als hegemonialer Diskurs die Wirkungsweise jedes Reformdiskurses begrenzt, während dieser die Grenzen immer wieder verschiebt. Die Beziehung zwischen politischer Kultur und öffentlichem Diskurs wird zudem nochmals facettenreicher, wenn man den Reformdiskurs als einen spezifisch sozialdemokratischen betrachtet. Denn die Sozialdemokratie hat als politische Ideenbewegung ihrerseits auch eine historisch gewachsene politisch-kulturelle Dimension, in der sich ein spezifisches Raster von Werten, Ideen, Hoffnungen und Vorstellungen gebildet hat, das über jeweils zeitgebundene, konkrete Policy-Programme hinaus weist und das (gewissermaßen als politische Teilkultur) mit der sie umgebenden nationalen politischen Kultur interagiert. Der Erfolg sozialdemokratischer Reformdiskurse hängt folglich nicht nur davon ab, ob die Reformnotwendigkeit und die Angemessenheit der Politikinstrumente zur Lösung der Probleme grundsätzlich akzeptiert werden – dies gilt für Regierungen jedweder Couleur gleichermaßen – sondern auch, ob die sozialdemokratische grundwertegestütze Zielperspektive (Extensivität und Intensität) der Reformen auf entsprechende Werte- und Gerechtigkeitsvorstellungen im überwiegenden Teil der Gesellschaft trifft. Die Kommunikation der Notwendigkeit von Wohlfahrtsstaatsreformen – wiewohl zwingend Voraussetzung jedes Reformdiskurses – allein begründet noch nicht die politische Richtung der Problemlösungen: Werden die Reformzwänge zum neoliberalen Abbau des institutionellen Kerns des Wohlfahrtsstaats genutzt, begründen sie eine eher funktionale Anpassung bestehender Systeme, eine hektische Krisenreaktion oder legitimieren sie gar – z. B. aufgrund neuartiger wohlfahrtsstaatlicher Konfliktstrukturen, neuer sozialer Risiken oder der Wahrnehmung nicht-intendierter Nebenfolgen – eine sozialdemokratisch begründete Neukonzeption der Wohlfahrtsstaatsarchitektur? In liberalen Demokratien sind öffentliche Reformdiskurse wie die Reformen selbst Teil des politischen Wettbewerbs, und dieser Wettbewerb ist wiederum durch jeweils unterschiedliche politische Kulturen geprägt. In der vergleichenden Betrachtung der politischen Kultur als Diskurskontext entweder entgegen kommender oder behindernder dominanter Werte und Überzeugungen für die kommunikative Wirksamkeit und Entfaltungsmöglichkeit spezifisch sozialdemokratischer Reformdiskurse, müssen jedoch zwei Ebenen unterschieden werden: Zum einen die Veränderungen der politischen Kultur in allen westlichen Industriestaaten im Zeitverlauf, die sich aus der immer stärkeren Individualisierung der Lebensmodelle, zunehmend postmaterialistischen Orientierungen und der Auflösung allzu verbindlicher Wertevorstellungen ergeben. In diesem kulturellen Veränderungsprozess erfährt die klassische Volks- und Mitgliederpartei einen massiven Bedeutungsverlust363, so dass sich zwangsläufig auch Form, Inhalt und Ort ihrer öffentlichen Diskurse verändern364. Zum anderen bleiben – trotz grundsätzlich 361
K. Mannheim 1964: 414 G. Lehmbruch 2001 363 Vgl. K. von Beyme 2000 364 E. Åsard/ L.W. Bennett 1997 362
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4 Nationale Input- und Outputfilter
ähnlicher sozio-kultureller Entwicklungen – Unterschiede nationaler politischer Kulturen bestehen. Da sich politische Kulturen in wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und politischen Verfahren historisch verdichtet haben, werden auch ähnliche kulturelle Tendenzen z. B. der Individualisierung oder des Postmaterialismus hinsichtlich sozialpolitischer Erwartungen und Einstellungen länderspezifisch gebrochen, die somit für die jeweiligen nationalen sozialdemokratischen Parteien immer einen divergenten Diskursrahmen bereitstellen.
4.3.2 Postmaterialismus, Individualisierung, Subjektivierung und postmoderner Wertewandel Seit Anfang der 1970er Jahre lässt sich in allen entwickelten Industrienationen ein Wertewandel feststellen, den Ronald Inglehart in dem Begriff ‚Postmaterialismus’ zusammengefasst hat. Mit der Zunahme sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit legen – Inglehart zufolge – seit dem Zweiten Weltkrieg neue Generationen allmählich mehr Wert auf postmaterialistische Ziele wie Gleichberechtigung, gesellschaftliche Demokratisierung, individuelle Selbstentfaltung oder Umweltschutz als auf materialistische Ziele wie soziale Sicherheit, wirtschaftliches Wachstum und materielle Ressourcenverteilung. Der Prozess der Generationsablösung führt zwangläufig zu einem kontinuierlichen Anstieg postmaterialistischer Werte in der Gesamtbevölkerung365. Der postmaterialistische Wertewandel ist gleichermaßen Resultat wie kulturelle Voraussetzung der postindustriellen Transformation aller entwickelten Ökonomien in Europa, Nordamerika und zunehmend auch in Asien. Immer weniger Menschen arbeiten in standardisierten Arbeitsprozessen, wie man sie aus der Zeit der industriellen Massenproduktion kannte. Stattdessen nehmen Tätigkeiten massiv zu, in denen Kommunikations- und Informationsverarbeitungsfähigkeiten zentral sind: In der postindustriellen Ökonomie sind Innovation, Wissen und Ideen entscheidende wirtschaftliche Ressourcen und menschliche Kreativität wird im globalen Wettbewerb zu einem wichtigen Standortfaktor366. Da in der Informations- und Dienstleistungsökonomie vor allem die Nachfrage nach kognitiven Fähigkeiten und nach spezifischen Qualifikationen dramatisch steigt, entstehen immer neue Berufsfelder, die sich durch ein hohes Maß an beruflicher Gestaltungsautonomie auszeichnen. Diese Autonomie in einer zunehmend flexibel organisierten Arbeitswelt setzt sich in allen Bereichen des sozialen Lebens fort. Die Menschen befreien sich aus ehemals vorgegebenen, eng geknüpften sozialen Milieus und wählen fortan ihren sozialen Beziehungskontext frei und selbstbestimmt aus367. Die Arbeitsmarktdynamik, das Bildungssystem, neue Karrieremuster, Mobilität und Märkte haben individualisierende Konsequenzen. Auch der moderne Wohlfahrtsstaat unterstützt über die individual-rechtliche Institutionalisierung sozialer Grundrechte den gesellschaftlichen Trend zur Individualisierung368. In diesem (auch emanzipatorischen) wirtschaftlichen wie politischkulturellen Prozess entwickelen die Menschen ein neues Verständnis von Autonomie, in der einerseits der Wunsch nach Wahlfreiheit zunimmt und andererseits die Bereitschaft abnimmt, Autoritäten einfach zu akzeptieren369. 365
R. Inglehart 1977 R. Florida 2002 367 Vgl. F. Brettschneider/ J. van Deth/ E. Roller 2002 368 Zum Beispiel K.U. Mayer/ W. Müller 1994 369 R. Inglehart/ C. Welzel 2005: 28ff. 366
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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Die Interpretation jedoch, dass der Rückgang traditioneller und eher autoritärer Pflicht- und Akzeptanzwerte notwendigerweise auch zu einem Bedeutungsverlust materieller Werte führe, ist – vor allem vor dem Hintergrund gegenwärtiger Konsumgesellschaften – kritisiert worden. Vielmehr habe der Rückgang traditioneller Werte des Selbstzwangs und der Selbstkontrolle erst die Voraussetzung für neue materialistische, hedonistische Wertorientierungen geschaffen. Für Wilhelm Bürklin, Markus Klein, Achim Ruß ist der gesellschaftlichen Wertewandel folglich weniger durch die abnehmende Bedeutung materieller Politikprioritäten gekennzeichnet, sondern eher durch den Verfall gemeinschaftsbezogener, kollektiver Werte. Parallel zu diesem Verfall der gemeinschaftsbezogenen Werte gewinnen diejenigen Werte an Bedeutung, die den Rechten des Individuums Priorität vor denen jeglicher Kollektive einräumen. Der Wertewandel in der Gesellschaft sollte daher anstatt als postmateriell vielmehr als postkollektiv beschrieben werden370. Zudem zeigen Untersuchungen, dass sich die Zwangsläufigkeit der Zunahme postmaterialistischer Orientierungen über die Generationenabfolge empirisch nicht bestätigen lassen und sich vielmehr der Prozess der Abwendung von materialistischen Werten in den jüngsten Generationen umkehre371. Ob im öffentlichen Reformdiskurs an sozialdemokratischen Grundwerten (traditionell gemeinschaftsorientiert und solidarisch begründet) ausgerichtete Reformargumente in der Öffentlichkeit widerklingen können, ist zwangsläufig verknüpft mit der Frage, ob in der postindustriellen oder ‚postmodernen’ Gesellschaft eher individuelle oder eher kollektive Lösungsstrategien auf die neuen Herausforderungen präferiert werden. Für die Betrachtung sozialdemokratischer Reformdiskurse ist der kommunikative Rahmen der politischen Kultur bedeutsam: Können politische Ideen oder gar ideologische Überzeugungssysteme in hochdynamischen Gesellschaften, in denen sich politische Einstellungen individualisieren, sich kompakte weltanschauliche Überzeugungen und gesellschaftspolitische Hoffnungen immer weniger verwurzeln, überhaupt noch in einen öffentlichen Reformdiskurs übersetzt werden? Das Zeitalter des ‚eigenen Lebens’ verändert das Verständnis einer auf aggregierten Interessen basierenden Politik372 und führt zu einem unüberschaubaren Meinungspluralismus bzw. ostentativer politischer Meinungsenthaltsamkeit. ‚Linker’ und ‚rechter’ Politikstil scheinen kaum mehr unterscheidbar, dass gar eine ‚neue Beliebigkeit des Denkens’ ausgemacht wurde373. Nachdem Parteien im Zuge gesellschaftlicher Individualisierung und der damit einhergehenden Auflösung traditioneller sozialer Milieus ihre Sozialisationsfunktion längst verloren haben374, geht es bei der Untersuchung (parteilicher) öffentlicher Reformdiskurse darum, ob sie ihre ideologische Orientierungsfunktion aufrechterhalten können. Sind Parteien noch fähig, die ‚großen Fragen’ der Zeit diskursiv zu bestimmen und in ihrem Sinne zu beantworten?
370
W. Bürklin/ M. Klein/ A. Ruß 1996. Vgl. auch A. Honneth 1997; H. Klages 1985 M. Klein 2003; M. Klein/ M. Pötschke 2000 372 U. Beck 2001 373 Zum Beispiel H. Brunkhorst 1990 374 K. von Beyme 2002 371
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4 Nationale Input- und Outputfilter
Erlebnis-, Risiko- und Kontrollgesellschaft In den letzten Jahren hat es eine Vielzahl von Versuchen gegeben, die kulturelle Komplexität und Dynamik moderner Großgesellschaften anhand besonders prägender Phänomene zu charakterisieren und zu erklären. Es wurden neue Erlebnismöglichkeiten in der Gesellschaft (‚Erlebnisgesellschaft’) ausgemacht, eine erhöhte Risikoträchtigkeit (‚Risikogesellschaft’) beschrieben und machtvolle Subjektivierungspraktiken (‚Kontrollgesellschaft’) identifiziert375. Während diese Analysen in den frühen 1990er Jahren noch gesellschaftliche Entwicklungstendenzen beschrieben, deren politische Auswirkungen eher erahnt wurden, traten – nicht zuletzt durch Sozialstaatsreformen beschleunigt – die darin beschriebenen Phänomene erst im letzten Jahrzehnt mit voller Vehemenz auf die Bühne gesellschaftlicher und politischer Wahrnehmung. So unterschiedlich die jeweiligen analytischen Ansätze wie Gesellschaftscharakterisierungen auch sind, sie alle kommen zu dem Schluss, dass die Individualisierungsschübe der letzten Jahrzehnte von den Individuen selbst ausgehen und ihnen aber zugleich auch als Individualisierungszwänge begegnen. Die sozialstrukturellen Veränderungen, die sich aus einer größeren persönlichen Selbstgestaltung ergeben, verändern einerseits die Voraussetzungen für kollektiv bindende Entscheidungen oder gar die Form des Politischen, andererseits sind es die Lebensbedingungen der postindustriellen Gesellschaft, also Bedingungen die das Individuum selbst nicht beeinflussen kann und die politischer Natur sind, die den Einzelnen auf sich selbst zurückwerfen. Vor diesem Hintergrund müssen sich heute alle politischen Diskurse nicht nur normativ in mehreren komplexen, sich überlagernden Spannungsfeldern widerstrebender Werte und zersplitterter Interessen und kommunikativ in höchst unterschiedlichen symbolischen Stilen artikulieren, sondern sie müssen darüber hinaus ihren originären öffentlichen Ort der Politikaushandlung verteidigen. Öffentliche Reformdiskurse, die als kommunikative Machtressource zur Durchsetzung verbindlicher Ziele Teil des politischen Subsystems sind376, können nicht unabhängig von diesen gesellschaftlichen Neuverortungen oder gar Relativierungen des Politischen betrachtet werden. Auch wenn hier nicht ausführlich auf die Vielzahl soziologischer und philosophischer Theorien zum Wertewandel in der Gesellschaft eingegangen werden kann, sollen doch – über die für die politische Kulturforschung typischen kollektivierten Sets von Einstellungen und Werten hinaus – drei Erklärungsansätze für sich verändernde Deutungsmuster in modernen Gesellschaften kurz betrachtet werden, die für die kommunikative Wirksamkeit grundwertebegründeter Reformdiskurse – und somit letztlich auch für Policy-Wechsel – von Bedeutung sind. Mit dem Begriff der Erlebnisgesellschaft bezeichnet Gerhard Schulze in seiner Kultursoziologie der Gegenwart eine Gesellschaft, in der (sowohl im historischen wie auch im interkulturellen Vergleich) innenorientierte Lebensauffassungen eine relativ große Rolle für den Aufbau der Sozialwelt spielen. Ästhetisierung der Alltagswelt ist Kennzeichen einer Gesellschaft, deren existenzielle Kernprobleme nicht mehr darin bestehen, physisch oder sozial zu überleben, sondern ein schönes Leben zu führen, Leben wird folglich zum
375
In diese Auflistung gehört selbstverständlich auch die „Mediengesellschaft“, die vielfach als zentraler Katalysator all dieser Entwicklungen ausgemacht wurde. Auf die Rolle der Medien wird gesondert im Kap. 4.4: ‚OutputFilter: Mediensysteme’ eingegangen. 376 T. Meyer 2003: 137ff.
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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Er-Leben377. Mit dem Übergang von der Mangel- zur Überflussgesellschaft spätestens Ende der 1960er Jahre rückte das Produkt bzw. sein massenhafter Konsum in den Vordergrund. Die gesellschaftlich-ökonomische Modernisierung und Differenzierung setzt sich in einem fortschreitenden Prozess einer ‚subjektiven Modernisierung’378 fort. Kultur explodiert als hedonistischer Konsum in alle Lebensbereiche und wird zum Hauptartikulationsmittel von verfeinerten sozialen Klassifizierungen. Stilfragen – Haarlänge, Kleidung, Musik, Lebensweisen und Moralvorstellungen – treten massiv in den Vordergrund und stellen immer künstlichere und individuellere ‚Identitäten’ bereit. Im Konsumbereich verschiebt sich das Denken von Nutzendefinitionen des Produkts zum Nutzen des subjektiven Erlebnisses oder zum Mittel ästhetischer Status-, Identitäts- und Abgrenzungskämpfe379. Soziale Distinktion wird über den Konsum in neuen sozialen Milieus reaktiviert, die einiges von ihrer räumlichen Exklusivität verloren haben380. Umso wichtiger ist es für Milieus, sich ab und zu ihrer ‚kollektiven’ Existenz zu vergewissern. Genau diese Aufgaben erfüllen – nicht nur, aber oftmals – Events381. Sie sind aus dem Alltag herausgehobene, raum-zeitlich höchst verdichtete, interaktive Performance-Ereignisse. Dieser Trend zur ‚Erlebnisorientierung’, in der der Einzelne kurzfristige Befriedigung seiner Bedürfnisse und Interessen sucht, hat zwangsläufig Konsequenzen für Parteien, wie auch für alle anderen gesellschaftlichen Großorganisationen. Für Parteien wird es zunehmend schwer, Mitglieder zu rekrutieren, wie auch Interessen zu bündeln und anzusprechen. Die Volksparteien stecken in einer ‚Modernisierungsfalle’382: Einerseits nimmt ihre Umfassungs- und Absorptionsfähigkeit gegenüber einer sich stärker auseinander entwickelnden, segmentierenden Gesellschaft kontinuierlich ab, andererseits können sie sich dieser Entwicklung nicht nostalgisch verschließen und müssen – um ihre öffentliche Relevanz zu verteidigen – ihre Präsentation, internen Verfahrensweisen und politische Kommunikation jenen fragmentierten, eher abwechslungs- und konsumorientierten Bedingungen anpassen, die ihre (politischen) Integrationsmöglichkeiten zusätzlich unterlaufen. Parteien haben auf diese Entwicklung in den letzten Jahren bekanntlich mit einer grundsätzlich veränderten kommunikativen Handlungsstrategie reagiert: Dem individuellen und rational nutzenabwägenden Wähler werden – teilweise unter Rückgriff auf Instrumente und Stilmittel der Unterhaltungskultur – eher emotional und ästhetisch ansprechende und vor allem milieuunspezifische Botschaften präsentiert als eindeutig richtungspolitische Positionen. Während eine (politikwissenschaftlich hinlänglich untersuchte) professionalisierte politische Kommunikation (Ereignisinszenierung – Parteitage, Pressekonferenzen, Talkshows –, Personalisierung und Emotionalisierung, ‚Life-Style Politics’, strategisches Themen- und Nachrichtenmanagement) den Parteien tatsächlich neue integrative Möglichkeiten bietet, den Wähler auf dem veränderten Wählermarkt der Erlebnisgesellschaft zu erreichen383, muss der öffentliche Diskurs in diesem Zusammenhang differenziert betrachtet werden.
377
G. Schulze 1992 S. Hradil 1992: 11 379 Vgl. J. Lamla/ S. Neckel 2006 380 B. Flaig/ T. Meyer/ J. Ueltzhöffer 1994 381 F. Liebl 2000 382 E. Wiesendahl 1992: 13 383 A. Dörner 2001; C. Schicha/ C. Brosda 2002; C. Holtz-Bach 2004; T. Hedwig 2006. Die hohen politischen Kosten dieser Entwicklung werden beschrieben u. a. in J.N. Cappella/ K. Hall Jamieson 1997; T. Meyer 2001c 378
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4 Nationale Input- und Outputfilter
Denn erstens ist die Erlebnisgesellschaft und die sich daraus ableitende LebensstilDesign-, Medien- und Unterhaltungsorientierung Bestandteil eines veränderten hegemonialen Diskurses, im Sinne eines gegebenen politischen Sinn- und Erfahrungsraums. Die Professionalisierung der politischen Kommunikation seitens der Parteien ist folglich nur Symptom veränderter diskursiver Bedingungen. Zweitens sind politische Kommunikationserfolge bzw. -misserfolge im Ringen um das Stimmenpotential der ideologisch ungebundenen politischen Mitte eher kurzfristige Wellenbewegungen innerhalb eines vorstrukturierten Diskurskontexts als die diskursive Durchsetzung eigener Werteorientierungen oder gar die Verschiebung der Grenzen des Diskurskontexts. In dem Maße, in dem sich die politische Kommunikation von einer normativen Diskursdimension zunehmend entkoppelt, ist es kaum mehr möglich, den diskursiven Rahmen für die eigene politische Kommunikation nachhaltig zu beeinflussen, was es wiederum schwer macht, unpopuläre, aber notwendige Maßnahmen normativ und langfristig, also jenseits kurzfristiger Stimmungen zu kommunizieren. In diesem Diskurskontext lässt sich drittens die politisch-kommunikative Ereignisorientierung nicht unendlich steigern, ohne nicht gleichzeitig erhebliche Substanzverluste des Politischen zu erzeugen. Hinzu kommt, dass Individuen – gerade durch die zunehmende Wertschätzung ihrer Eigenständigkeit – eine von außen an sie herangeführte, kommunikative Erlebnisrationalität häufig entweder ironisch brechen oder aggressiv ablehnen. Dadurch verschärft die Politik – in einer Art Teufelskreis – genau das unfreiwillig, wogegen sie angehen will: Ihre Zielgruppen zerrinnen umso mehr, da sich über die sozialökonomische Pluralisierung und Fragmentierung nun auch kulturell höchst unterschiedliche, eigenwillige und widersprüchliche Praktiken der Rezeption politischer Kommunikation legen. Auch die Risikogesellschaft, die Ulrich Beck Mitte der 1980er Jahre beschrieb, hat ihren Ursprung in der Freisetzung des Individuums aus sozialen Klassenbindungen und traditionellen Geschlechtslagen384. Im Zuge der Modernisierung und ihrer fortschreitenden funktionalen Differenzierungen gesellschaftlicher Teilsysteme, hat sich auch die gesellschaftliche Integration des Einzelnen grundlegend verändert. Das Individuum ist nicht mehr bestimmten gesellschaftlichen Teilsystemen und den darin festgeschriebenen Lebensorientierungen zugehörig und in diesen sozial verortet. Diese Freisetzung bringt neue Freiheiten und Selbstverwirklichung sowie Emanzipation mit sich, stellt aber auch neue Anforderungen und Ansprüche an das Individuum und seine Entscheidungsfähigkeit. In der Risikogesellschaft muss sich Identität in unterschiedlichen Rollen ausdifferenzieren. Die Individualisierung ist ambivalent: Der Zugewinn an Autonomie bedeutet für das Individuum neue Risiken und größere Unsicherheiten, die es jetzt großteils selbst und ohne Hilfe von Außen bewältigen muss. Die neuen Freiheiten sind nicht nur Entscheidungsmöglichkeiten, die man nutzen kann, sondern auch institutionalisierte Entscheidungszwänge, die man nutzen muss. An die Stelle von Normalbiografien treten Wahlbiografien oder Risikobiografien, denen die materielle Zukunftssicherheit und soziale Identität abhanden kommt385. „In der individualisierten Gesellschaft muss der Einzelne (...) bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen“386. Die Freisetzung aus einer stark reglementierten Welt erzwingt Selbstverwirklichung. Individua384 385 386
U. Beck 1986 U. Beck 1993, 1997 U. Beck 1986: 217
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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lisierung ist die ideologische Voraussetzung einer modernen Leistungsgesellschaft, in der sowohl die Partizipationsmöglichkeiten als auch die Risiken individualisiert sind: Scheitern, Krisen, Armut und soziale Ungleichheit werden – vor dem Hintergrund eines allgegenwärtigen Entscheidungszwangs – zunehmend individuelle Kategorien, wobei gleichzeitig die Risikoverteilung in der entwickelten Moderne ungleich ist. Aus diesem Grund sind die Möglichkeiten zur individuellen Selbstgestaltung mit Ohnmacht- und Überforderungsgefühlen gepaart387. Für die hier vorgenommene Betrachtung eines veränderten Diskurskontexts ist ferner ein weiterer Aspekt in Becks Gesellschaftsanalyse bedeutsam: Die Individualisierung der Risikogesellschaft führt zu einer Pluralisierung der Bezugsquellen politischer Wirklichkeitsdeutung; politische Überzeugungen sind mehr als je zuvor Angelegenheit individueller Wahl bzw. Entscheidung388. Zugleich geht mit der Tendenz zur Privatisierung des Politischen (was begrifflich ein Widerspruch in sich selbst bedeutet) ein Rückzug aus dem öffentlichen Raum in die Privatsphäre und gar eine weitreichende Abgrenzung vom Öffentlichen einher. Der öffentliche politische Raum als Ort der diskursiven Auseinandersetzung zerfasert, die Politik entgrenzt sich in gesellschaftliche, mediale oder wirtschaftliche Subpolitiken und verliert ihr Monopol als gesellschaftliches Steuerungszentrum389. Die prinzipielle Fähigkeit eines öffentlichen Diskurses, die Mehrheit der Bürger durch eine kohärente Argumentation normativ wie kognitiv zu erreichen, wird durch die Pluralisierung politischer Vorstellungen in der Risikogesellschaft latent unterlaufen. Denn hier treffen zwei gegenläufige Dynamiken aufeinander: Während der Reformdiskurs danach strebt, breite öffentliche Zustimmung als maßgebliche Machtressource für PolicyVeränderungen notwendig integrativ zu erlangen, wirkt die Pluralisierung der Lebensentwürfe, eher brüchig gewordener Identitäten, ein verwirrend großes Angebot von Markierungspunkten zur politischen Orientierung sowie ein tendenzieller Verzicht auf Institutionalisierung eines Konsenses eher desintegrativ. Mit dem Begriff ‚Kontrollgesellschaft’ schließlich, der eher die kulturtheoretischen Debatten der 1990er Jahre prägte, beschrieb der Philosoph Gilles Deleuze die politische und ökonomische Transformation der postindustriellen Gesellschaft, in der sich über eine Individualisierung als Standardisierung ein neuartiger Machttypus formiert390. Deleuze zufolge löst die machtvolle Kulturformation der Kontrollgesellschaft die traditionelle Disziplinargesellschaft391 ab. Während sich in der Disziplinargesellschaft die Lebensweisen im Großen und Ganzen nach den Imperativen der Produktion – Arbeit, Karriere, Leistung, private Familie und intaktes Heim – ausrichteten, brachte der Massenkonsumismus ganz andere Werte ins Zentrum der Gesellschaft und veränderte somit auch das jeweilige Bedingungsgefüge von Kultur, Politik, Ökonomie und Subjektivität nachhaltig. Die von Max Weber identifizierten ‚Tugenden’, die die Durchsetzung des Kapitalismus beflügelten392, sind längst von gegenteiligen Werten und Rechtfertigungen abgelöst worden: statt Sparsamkeit Geldausgeben, statt Genügsamkeit Hedonismus, statt Dauerhaftigkeit Wegwerfprodukte, statt ständigem Aufschub von Bedürfnissen schnelle Befriedigung. 387
R. Sennett 1998; A. Ehrenberg 2004 Vgl. P. Gross 1994 389 U. Beck 1986: 368ff. 390 G. Deleuze 1993 391 M. Foucault 1976 392 M. Weber 2007 388
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4 Nationale Input- und Outputfilter
Diese neuen Werte des Konsumismus und die Ästhetik der Selbstverwirklichung gingen zugleich einher mit der kulturell begründeten Mobilisierung, Flexibilisierung und letztlich auch Prekarisierung von Subjektivität. Mit der Ausbreitung der postfordistischen Produktionsformen, in denen so genannte ‚flache’ Hierarchien Stempeluhr und Fließbandmonotonie ersetzt haben, ist der ‚Subjektbedarf’ im Sinne kreativer und verantwortlicher Eigenleistung gestiegen. ‚Disziplin’ und ‚Norm’ garantieren heute keine Produktivität mehr. Fand die traditionale Disziplinarmacht ihren genuinen Ausdruck in Akten der Normalisierung, so entwickeln Kontrollgesellschaften demgegenüber ein neues Repertoire von Führungstechniken: weg von zentralisierenden Instanzen hin zum ‚selbst-verantwortlichen’ Einzelnen. An die Stelle von Disziplin und Normierung treten ‚Flexibilität’, ‚Motivation’, ‚Zielvereinbarung’ und ‚Selbstorganisation’. Deleuze zufolge werden die ehemals betreuten, aber auch disziplinierten Individuen zunehmend zu freien Unternehmern. Sie sind in jeder Beziehung ‚befreit’: ‚frei’ von inneren Zwängen, aber auch ‚frei’ von jeder Fürsorge und Sicherheit. Autonomie bedeutet oft Zwangsprivatisierung. Die Kontrollgesellschaft verbindet Freiheit und Herrschaft in der paradoxen Figur der ‚freiwilligen Selbstkontrolle’. So wie „das Unternehmen die Fabrik ablöst, löst die permanente Weiterbildung tendenziell die Schule ab“393. Während in der Disziplinargesellschaft Individuen noch unablässig in den Maschen der Disziplinarmacht zirkulierten, wandert der vervielfachte, permanente Kontrollblick der Kontrollgesellschaft nun gewissermaßen nach innen: Das neue Subjekt wird zu seinem eigenen Beobachter, Kontrolleur und Investor, zu seinem eigenen Unternehmer. Die neue Autonomie des Individuums ist das Ergebnis des Untergangs abgelebter Disziplinarformen und verdichtet sich in „sich selbst wie auch der Gesellschaft gegenüber verantwortlicher, zugleich ‚ökonomischer’ und ‚moralischer’ Subjekte“394. Die Dynamik dieser politisch-kulturellen Veränderungen hin zur Kontrollgesellschaft ist nur vollständig zu erfassen, wenn man die sozio-kulturellen, künstlerischen, kulturindustriellen und auch jugendkulturellen Aufbrüche und Ansprüche seit den 1960er Jahren395, die in allen westlichen Industriestaaten eine gleiche Stoßrichtung aufweisen, mit in die Betrachtung einbezieht. Denn diese Aufbrüche, Gegenkulturen und Umwälzungen von Alltäglichkeit396 waren – in letzter Konsequenz – eine entscheidende Triebfeder zu Entfaltung der Kontrollgesellschaft. Während die traditionellen Disziplinartechniken ihre Wirkung in so genannten ‚Einschließungsmilieus’ entfalteten (die bürgerliche Kleinfamilie, das Gefängnis, die Schule, die Universität, die Kaserne, die Fabrik), in denen man ununterbrochen kontrolliert und diszipliniert wurde, wandten sich die kulturellen, politischen und künstlerischen Bewegungen und ein neues politisches Selbstverständnis fortan gegen diese autoritäre Einschließung. Sie wehrten sich gegen die fabrikartig organisierte Welt, gegen die ständige Disziplinierung und verlangten von der Gesellschaft, von der Demokratie und letztlich auch von der Kulturindustrie die Einlösung ihrer Versprechen – hier und jetzt. Dadurch setzten sich nicht nur die neuen Werte des Konsumismus durch, sondern vermischten sich auch Werte von Produktions- und Konsumptionssphäre. Spaß, Erlebnis und Selbsterfüllung sind heute nicht mehr auf bestimmte Reservate begrenzt, sondern zur end393
G. Deleuze 1993: 275 S. Lessenich 2003: 86 395 Es ist bemerkenswert, dass sich die Politische Kulturforschung bis heute weder für kulturelle Produktionen noch für kulturelle ‚politics’ und ihre jeweilige Bedeutung für die Entwicklung kollektiver Werteorientierung sonderlich interessierte. 396 Vgl. K.H. Stamm 1988 394
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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losen Ressource gleichermaßen der Arbeits- als auch der Freizeitwelt geworden. Je mehr der mit Jugendlichkeit verkoppelte Konsumismus ins Zentrum der Gesellschaft rückte, desto mehr wurde die Gesellschaft durch ihren Konsum ‚jugendlich’. Jugendlicher Lebensstil und jugendliches Aussehen wurden alsbald zu einer neuen Norm, zum Synonym unendlich flexibler Fähigkeiten und ‚Jugend’ schließlich zu einem Instrument der ständigen Selbstkontrolle: Sehe ich noch gut genug aus, bin ich noch fit, flexibel und mobil genug, bin ich für den neuen Job nicht zu alt? Brauche ich nicht eine neue Wohnungseinrichtung, muss ich nicht mit jugendlichem Übermut in den Erlebnisurlaub fahren?397 Zu den Herausforderungen des gegenwärtigen Gesellschaftstypus zählt, dass ausgerechnet in Zeiten einer immer mehr in zersplitterte Einzelprojekte zerfallenden Erwerbsbiografie und Normalisierung so genannter atypischer Arbeitsverhältnisse in Gestalt von nur punktuell abgesicherten und begrenzten Arbeitszusammenhängen398, von denen nicht minder prekär werdenden privaten Lebensverhältnissen ganz zu schweigen, ein immer komplexerer und integrierter Persönlichkeitstyp mit einem Höchstmaß an Selbstkontrolle und sozialer Handlungskompetenz gefordert wird. „Die Dialektik dieses Prozesses der Modernisierung bringt es mit sich, dass Individuen durch diese wachsenden Anforderungen schlicht überfordert werden, insbesondere jene, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft und Platzierung nur schlecht mit den für diese radikalisierte Konkurrenz nötigen kulturellen Kompetenzen ausgestattet sind, es riskieren auf der Strecke zu bleiben“399.
Die politisch-kulturelle Verortung sozialdemokratischer Reformdiskurse: normative und kommunikative Herausforderungssituation In einer politischen Kultur, die sich zunehmend durch Werte der individuellen Selbstgestaltung auszeichnet, verändern sich Erfahrungen von Subjektivität und zwangsläufig auch politische Beschreibungs- und Verständniskategorien. Diese Veränderungen ergeben sich aus einer fortschreitenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und den daraus folgenden Eigendynamiken gesellschaftlicher Teilbereiche, so dass einerseits die Ansprüche an die Politik komplexer werden und andererseits die Ursachen der politischen Probleme sowie die realen politischen Maßnahmen und Möglichkeiten zu ihrer Lösung immer weiter auseinander driften. Das Politische hat als ‚autonomes Teilsystem’ innerhalb der modernen Gesellschaften seinen exklusiven Ort gesellschaftlicher Steuerung und Regulation verloren. Vielmehr nehmen gesellschaftliche Entwicklungen ihrerseits politische Qualität an, mit direkten Konsequenzen für Gestalt und Ordnung des Gemeinwesens, wie das von den ökonomischen ‚Sachzwängen’ seit langem bekannt ist400. Somit muss auch die vielzitierte Dahrendorf-Formel401 vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ im Lichte dieser politisch-kulturellen Veränderung betrachtet wer397
T. Holert/ M. Terkessides 1996. Vgl auch N. Fraser 2003 Zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen zählen: Teilzeitbeschäftigung mit 20 oder weniger Stunden in der Woche, geringfügige Beschäftigung, befristete Beschäftigung, Zeitarbeit, auch Leiharbeit oder Arbeitnehmerüberlassung genannt. In Deutschland stieg beispielsweise im Zeitraum von 1997-2007 der Anteil der Personen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen aller abhängig Beschäftigten von 17,5 % auf 25.5 %. Vgl. W. Strohm 2008 399 L. Boltanski/ È. Chiapello 2006: IIIf. 400 Vgl. u. a. T. Meyer 1994; K. von Beyme, Klaus 1992 401 Vgl. Kap.3.2: ‚Normen und Ideen sozialdemokratischer Reformdiskurse’ 398
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4 Nationale Input- und Outputfilter
den. Und zwar weniger im Sinne Dahrendorfs, dass sich die lang erkämpften Forderungen nach positiven Freiheitsrechten, nach sozialer Grundsicherung oder nach Chancengleichheit längst als verbindliche Normen durchgesetzt haben, im politischen Werte-Mainstream liberaler Demokratien aufgegangen sind und sich die Sozialdemokratie historisch überlebt hat, sondern vielmehr in dem Sinne, dass es zunehmend schwierig scheint, die traditionellen Ziele und Normen – nachdem es nun kaum noch um den kollektiven sozialen Aufstieg und die materiellen Ressourcen einer ehemals ausgeschlossenen, klar abgrenzbaren und in sich homogenen sozialen Klasse geht – in die individualisierte Risikogesellschaft zu übersetzen und vor allem in die Tradition einer legitimierenden Erzählung einzubetten. Unter den Bedingungen von sozialer Differenzierung sowie politisch-kultureller Enttraditionalisierung und Individualisierung ergeben sich nicht nur neue Herausforderungen der politischen (Selbst-)Steuerung, sondern darüber hinaus auch Gestaltunggrenzen ‚rhetorischen Handelns’402, und sogar Hemmnisse für die diskursive Konstruktion traditioneller Formen des Regierens überhaupt. Diese gesellschaftlichen, kulturellen und sozioökonomischen Veränderungen zeichnen einen gänzlich neuen kommunikativen und normativen Rahmen für politisch öffentliche Reformdiskurse im Allgemeinen und für sozialdemokratische Reformdiskurse im Speziellen: Erstens: Reformdiskurse werden durch – sich immer aufeinander beziehende – kognitive Argumente der angemessenen Problemlösung und normative, grundwertorientierte Argumente der Richtigkeit der grundsätzlichen Reformrichtung zusammengehalten. In dem Maße jedoch, wie sich traditionelle Milieus auflösen und politische wie ökonomische Interessen zersplittern, wird nicht nur die kognitive Kommunikation der jeweiligen politischen Problemlösungskompetenz komplexer und mitunter widersprüchlich, auch die normative Diskursdimension verliert zunehmend ihren prinzipiell integrativen Charakter. In Zeiten postmoderner Skepsis scheinen politische Ideen ihren ehemals proklamativ allerklärenden oder gar teleologischen Wesensgehalt und ihre hoffnungsfrohe, politische Unschuld verloren zu haben. Eine unter diesen politisch-kulturellen Bedingungen betont pragmatische Reformrhetorik gründet sich eher auf die kognitive Vermittlung der Problemlösung und tendenziell immer weniger auf programmatischen Grundwerten, verliert aber somit zugleich ihre ideologische Distinktion. Ein öffentlicher Reformdiskurs muss sich heute nicht nur im Kontext neuer Politikformen kommunikativ artikulieren, sondern muss darüber hinaus veränderte Gestaltungsmöglichkeiten und -ansprüche des Politischen insgesamt normativ herleiten und legitimieren. Zweitens: An die Stelle traditioneller Gegensätze von ‚Kapital’ und ‚Arbeit’ oder ‚oben’ und ‚unten’ sind in einer individualisierten Risiko- oder Kontrollgesellschaft neue Verteilungskonflikte getreten, die sich aus höchst ungleicher Risikoverteilung ergeben403. Risiko und Chancen entmischen sich: Bei einem Teil der Gesellschaft kumulieren sich (mitunter zufällig) die Chancen, ohne dass ernsthaft Risiken zu bewältigen sind. Dem stehen die Ausgeschlossenen, die Zurückgebliebenen gegenüber, die mit den zunehmenden Risikoanforderungen nicht mehr Schritt halten können404; dort kumulieren sich die Risiken. Die postindustrielle Dienstleistungsökonomie erzeugt neue Verteilungslogiken, in denen soziale Spaltungs- und Exklusionseffekte lauern und deren Auswirkungen inzwischen die 402 403 404
F. Nullmeier 1993 D. Brock 1994 Z. Baumann 2005
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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gesamte Gesellschaft – und vor allem auch zunehmend die Mittelschichten – betreffen. Über die Frage von ‚oben’ und ‚unten’ hat sich die von ‚innen’ und ‚außen’ gelegt405. Die traditionellen Ausgleichsmechanismen, die den historischen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit kennzeichneten und sinnbildlich für den normativen Politikanspruch der Sozialdemokratie stehen, scheinen in weiten ökonomischen und sozialen Sphären ihre Wirkungskraft verloren zu haben. Drittens: Kultur – als Gesamtheit sich bedingender, aufeinander beziehender und voneinander abhängiger Erzeugnisse, Werte- und Bedeutungssysteme – ist in Zeiten der Globalisierung ebenso hochdynamisch wie desintegrativ. Die nunmehr häufig global agierenden gesellschaftlichen Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik, Medien oder Kunst entkoppeln sich zunehmend von ihren jeweiligen nationalen Verwurzelungen und sind immer weniger in eine nationale Kultur eingebettet und durch diese determiniert. Diese Entbettung gesellschaftlicher Teilsysteme, also das kulturelle Ausfransen einer nationalen Kultur nach oben bewirkt im gleichen Moment, dass sich deren kulturelle Integrationskraft nach unten, in die Gesellschaften hinein, abschwächt. ‚Eine nationale Kultur’ funktioniert immer weniger als ein alles verbindender gesellschaftlicher Kitt406. Neue Kommunikationstechnologien (in erster Linie die Computertechnologie) erzeugt ein unmittelbares und erdumspannendes Auftragmanagement und neue globale Formen der Profiterwirtschaftung, was einerseits zu einer ungeahnten globalen Reaktivität führt und andererseits global agierende Akteure sich immer weniger ihrer ursprünglichen nationalen Kultur oder Solidargemeinschschaft verpflichtet fühlen lässt. Dadurch überschneiden sich kulturelle mit sozioökonomischen Heterogenisierungsprozessen, was bei den großen Teilen der Bevölkerung zusätzliche Gefühle der Entwurzelung, Entfremdung und des Sinnverlusts hervorruft und zu kulturellen Abwehrhaltungen in Form von Re-Traditionalisierungen, Selbst-Ethnisierungen, häufig autoritären Selbstvergewisserungen und neuer, nach außen abgrenzend und nach innen homogenisierend wirkender Gemeinschaftsbildungen führt407. Die postindustriellen Gesellschaften sind von einer spannungsreichen Gleichzeitigkeit einer globalen postnationalen ‚Kultur’, einem kosmopolitischen Lebensstil, einer Art spielerisch luxuriösen Konsumglobalisierung einerseits und nationalistischen, regionalen bzw. kulturell-ethnischen Abgrenzungen und einer neuen Suche nach Identität andererseits gekennzeichnet408. Viertens: Die wohlfahrtsstaatlichen Reformzwänge (demographischer Wandel, geringe Fertilität, Veränderung der Arbeitswelt, neue soziale Risiken usw.) resultieren zu einem wesentlichen Teil aus den veränderten Werteorientierungen und Sinnkonstruktionen einer flexiblen und mobilen Gesellschaft selbst. Gleichwohl ist die politische Kultur eines zunehmend dominant werdenden Postkollektivismus und Postmaterialismus oder einer Risiko- und Kontrollgesellschaft nicht nur eine ‚objektive Lage’, in der bestimmte Werte und Lebensweisen und in deren Folge sozialpolitische Handlungszwänge entstehen, sondern auch ein ‚Überbau’, der in seiner Wirksamkeit und Wirklichkeit die Erwartungen an die Problemlösung zugleich normativ formt. Dies bringt sich beispielsweise darin zum Ausdruck, dass in der sozialen Lebens- und Handlungssituation der meisten Bürger über die
405
C. Offe/ H. Bude 2008 Zum Beispiel U. Menzel 1998 407 Vgl. u. a. D. Loch/ W. Heitmeyer 2001 408 Vgl. hierzu auch R. Cuperus 2003, 2007 406
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4 Nationale Input- und Outputfilter
individuelle Selbstverwandlung und Modulation hinaus kaum noch gesellschaftspolitische Handlungsentwürfe vorkommen409. Fünftens: Die politische Kultur der postindustriellen Gesellschaften ist selbstverständlich nicht ideologiefrei. Das bedeutet, dass sie nicht nur gesellschaftliche und politische Sinnordnungen und Funktionsverständnisse in einer bestimmten Weise prägt, sondern dadurch vor allem auch den ‚Klang’, die Konnotation und Überzeugungskraft von politischen Begriffen, Ideen und Werten bestimmt. Da ein öffentlicher Reformdiskurs seine Argumentation notwendig auf einen Satz zentraler, häufig verwendeter Begriffe und Ideen gründet, der den Diskursakteuren jenseits der reinen Problem- und Policy-Vermittlung eine parteiund diskurspolitische Identität gibt, ist es für deren kommunikative Wirkungsweise zwangsläufig entscheidend, inwieweit sich diese in einen veränderten politisch-kulturellen Bedeutungshorizont ‚übersetzen’. Für sozialdemokratische Reformdiskurse bedeutet dies in den 1990er Jahren, die programmatischen Zielwerte der Reformanstrengungen als positive, moderne und zukunftsgewandte Begriffe in den öffentlichen Diskurs einzuschleusen. Diese begrifflich-konnotative Übersetzung von neuen gesellschaftlich dominanten Werteorientierungen in sozialdemokratischer Programmatik, Reformideen und -zielen vollzieht sich maßgeblich unter dem Druck der postmodernen Tendenz zur Pluralisierung und Individualisierung der Lebensstile und dem daraus folgenden Überdruss an kultureller Normierung und der Ablehnung von Formen kollektiven Lebens. Mit diesen Orientierungen geht aber auch vielfach eine gewisse Staats- und Politikverachtung einher, was besonders für die Sozialdemokratie, die dem Staat traditionell eine primäre Regulierungs- und Gestaltungsfunktion einräumt, eine neue Herausforderung darstellt. In den 1990er Jahren versuchten aus eben diesem Grund programmatische Neuorientierungen der Sozialdemokratie und moderner Kommunikationsstrategien wie ‚New Labour’ oder ‚Neue Mitte’, das Sozialdemokratische – in scharfer Abgrenzung zu Vorstellungen einer langweiligen, muffigen Gesellschaft mit allgemeiner Bevormundung – als moderne Vision zu re-formulieren. Für die Wirksamkeit eines öffentlichen Reformdiskurses ist es von zentraler Bedeutung, dass die Werte, Ziele, die ein Reformprogramm proklamiert, in der politischen Kultur der Gesellschaft einen Resonanzkörper finden und somit als zeitgemäß und authentisch wahrgenommen werden können. Denn nur dann kann ein Diskurs argumentative Überschussenergien freisetzen, die etwaige Blockaden bestehender Policy-Paradigmen und eingefahrener Akteurs-Konstellationen aufbrechen können. Gleichwohl birgt eine Strategie, die vorherrschenden kulturellen Werte weitgehend zu absorbieren und die eigene Programmatik dementsprechend zu verändern, die (zumindest latente) Gefahr, dass durch kontinuierliche Anpassungen und Modifizierungen die eigenen programmatischen Ziele und Vorstellungen letztlich ihren originären Kern verlieren und sich somit nicht mehr sinnvoll von den Positionen der politischen Konkurrenz sichtbar absetzen können. Die diskursive Legitimation von Wohlfahrtsstaatreformen, die über die kognitive Vermittlung von Policy-Programmen hinaus strahlt, wird also durch die politische Kultur gefiltert. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Prozesse, die Veränderungen der vorherrschenden Wert- und Sinnorientierungen erzeugen oder beschleunigen, sind jedoch weder eindeutig noch unumkämpft, sondern verdanken sich ihrerseits politischen Auseinandersetzungen und Entscheidungen und wirken auf diese zurück. Das bedeutet, dass auch die sozial- oder arbeitsmarktpolitischen Reformen der 1990er Jahre und ihre Auswirkungen auf die Lebenswelt der Bürger, die daraus folgende ‚Umwälzung von Alltäglichkeit’ wie 409
J. Hirsch 1995
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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auch die Reformdiskurse mit ihren Werten, Argumenten und kommunizierten Zielvorstellungen die Definitionen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung nachhaltig beeinflussen. Die Reformdiskurse müssen auch als ein Konflikt um ‚kulturelle Hegemonie’ gelesen werden, denn sie prägen den diskursiven Kontext, in dem sie ihre politische Ziele, Begriffe und Programme kommunizieren, entscheidend mit. Auch wenn die wohlfahrtsstaatlichen Reformzwänge auf der Policy-Ebene die tatsächlichen Handlungsspielräume einengen und einen begrenzten Satz nur bestimmter Reformlösungen vorgeben, kann der sozialdemokratische Reformdiskurs auf diese politischkulturellen Rahmenbedingungen kommunikativ entweder affirmativ oder kritisch reagieren (aus eben diesem Grund ist es wichtig, die konkreten Reform-Policies und deren diskursive Legitimation differenziert zu betrachten). Als affirmativ lassen sich die Aspekte der sozialdemokratischen Reformdiskurse der 1990er und frühen 2000er Jahre beschreiben, in denen es – vor allem in Großbritannien und Deutschland, jedoch weit weniger in Schweden – in der normativen Dimension eine markante Verschiebung weg vom Egalitarismus und hin zu Chancengleichheit gab. Diskursiv wurden die Reformen des Wohlfahrtsstaats nicht nur markroökonomisch oder sozialpolitisch kommuniziert, sondern zugleich auch moralisch. Gefordert wurde nicht nur ein ökonomisch kalkulierendes Selbstverhältnis, sondern auch der beständige Ausweis von Eigenverantwortlichkeit, privater Vorsorge und selbsttätiger Prävention410. Sozialpolitisch als gerecht galt es fortan, wenn wohlfahrtsstaatlich subventionierte marktexterne Existenzweisen durch Leistungskürzungen und verschärfte Zugangsbedingungen zu Sozialleistungen eingeschränkt wurden. Dadurch wurden im öffentlichen Reformdiskurs die – in der politischen Kultur des Postindustrialismus ohnehin angelegten – Selbstverantwortungs-, Selbstmanagement und Selbstgestaltungsimperative nochmals verstärkt. Als kritisch können hingegen diejenigen Inhalte sozialdemokratischer Reformdiskurse bezeichnet werden, die den Individualisierungstendenzen der postindustriellen Gesellschaft traditionell sozialdemokratische Gerechtigkeits- und Solidaritätswerte entgegen stellen. Hier werden Argumente benutzt, die betonen – wie dies vor allem im schwedischen Reformdiskurs zu beobachten war –, dass wohlfahrtsstaatlicher Universalismus, soziale Gerechtigkeit und eher egalitäre Gesellschaftsformen erst die Voraussetzung bilden, um individuelle und optionalisierte Lebensformen frei ausleben zu können. Die kritischen Aspekte sozialdemokratischer Reformdiskurse widmen sich somit der Frage, wie ein neuer übergreifender Wertezusammenhang beschaffen sein muss, der einerseits durch neue Formen der gesellschaftlichen Solidarität den destruktiven Tendenzen einer weiteren Individualisierung und Subjektivierung entgegenwirkt, ohne andererseits dem Pluralismus liberaler und spätmoderner Gesellschaften zuwiderzulaufen.
4.3.3 Differenzen nationaler politischer Kulturen: Unterschiedliche Vorstellungen, Einstellungen und Erwartungen, unterschiedliche Diskurskontexte Die Individualisierungs-, Subjektivierungs- und Pluralisierungsprozesse bestimmen zunehmend die politische Kultur aller spätmodernen Gesellschaften und gehen quasi natürlich einher mit einer voranschreitenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme wie 410
S. Lessenich 2003: 89
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4 Nationale Input- und Outputfilter
Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medien und Künste. Auch wenn diese Entwicklungen die Gestaltungsmöglichkeiten der Politik in allen entwickelten Demokratien sowie Programmatik und Diskursfähigkeit aller sozialdemokratischen Parteien gleichermaßen auf sehr komplexe Weise herausfordern, sind doch Ausmaß und Gestalt der Herausforderungen in den jeweiligen Ländern unterschiedlich. Denn ähnliche dynamische Veränderungen der Werteorientierungen und Erwartungen bleiben in historisch gewachsene, nationale politische Kulturen eingebettet, die im Laufe ihrer Geschichte und vor dem Hintergrund kollektiver Krisenerfahrungen und Lernprozesse, höchst differente politische Institutionen und Strukturen wie auch Deliberationsverfahren ausgebildet haben und in einem engen, komplementären Wechselverhältnis zueinander stehen. Auf diese Weise werden neue alternative Lebensformen, stärkere Selbstverwirklichungs- und Autonomieansprüche oder die Hinwendung zu postmaterialistischen Werten über die historischen Tiefenschichten, die eine politische Kultur über lange Zeit prägen, länderspezifisch gebrochen; dies führt dazu, dass in den jeweiligen Ländern neben unterschiedlichen Reformzwängen und -Policies, auch unterschiedliche wertebegründete Erwartungshaltungen und Legitimationsmuster vorzufinden sind, und sich somit die jeweiligen Ausgangsbedingungen für nationale Reformdiskurse markant unterscheiden. Ob ein sozialdemokratischer Reformdiskurs beispielsweise sozialund arbeitsmarktpolitische Reformen als eher affirmative oder eher kritische Antwort auf die Herausforderungen der Individualisierung, Risikogesellschaft oder Postkollektivismus kommuniziert wird, ergibt sich wesentlich aus den jeweils vorherrschenden, historisch gewachsenen und institutionell verdichteten Werteorientierungen hinsichtlich Gerechtigkeit und Solidarität (wobei der Diskursverlauf nicht auf den politisch-kulturellen Kontext reduzierbar ist, sondern hier auch bewusste kommunikationsstrategische Entscheidungen der Diskursakteure eine Rolle spielen). Nationale politische Kulturen filtern den normativen und kognitiven ‚Widerhall’ öffentlicher Reformdiskurse in der Gesellschaft und somit die Fähigkeit der Regierungen, problemadäquate Reformen durchzusetzen, entscheidend dadurch, dass die jeweilige argumentative Stoßrichtung der Diskurse entweder auf entgegenkommende Werte und politische Sinnorientierungen trifft oder nicht. Politische Kulturen kennzeichnen sich durch ein großes Repertoire von Werten, von denen einige Objekt allgemeiner sozialer Übereinstimmung sind, andere hingegen weniger. Alle Länder haben ihre besondere Mischung von Werten, einige sind lang etabliert, einige gerade erst aufgetaucht, einige verschwinden langsam wie bestimmte Nöte und Hoffnungen, Lebensweisen und Moralvorstellungen411. Die diskursfilternde Wirkung der nationalen politischen Kultur erhöht sich, wenn man einen Reformdiskurs als einen spezifisch sozialdemokratischen betrachtet. Denn im Wettbewerb konkurrierender Diskurse müssen nicht nur die Reformnotwendigkeiten gesellschaftlich akzeptiert sein, sondern – ebenso wichtig – auch die politische Richtung der Reformen als grundsätzlich legitim erachtet werden. Wie stark im nationalen kollektiven Bewusstsein (soziale) Gleichheitsvorstellungen und gesellschaftliche Solidarität ausgeprägt sind oder welche Gestaltungsrolle dem Staat traditionell zugeschrieben wird, determiniert wesentlich die Entfaltungsmöglichkeiten sozialdemokratischer Argumentationen (allerdings können stark ausgeprägte ‚sozialdemokratische’ Orientierungen in einer nationalen politischen Kultur im Reformprozess auch oder besonders für sozialdemokratische Regierungen von Nachteil sein, wenn die Reformnotwendigkeiten eine Abkehr von diesen politisch-kulturellen Grunderwartungen erzwingen). 411
U. Schimank 1996
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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Gesellschaftskultur vs. Staatskultur, Wettbewerb vs. Solidarität Bei den Wohlfahrtsstaatsreformen der 1990er und 2000er Jahre geht es zentral um die Anpassung des jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges – meist entgegen eingespielter kollektivierter Interessen – an eine veränderte soziale und ökonomische Umwelt. Die ‚Anpassungen’ werden in öffentlichen Reformdiskursen über konkurrierende Ideen und Lösungskonzepte vermittelt, die wiederum ihrerseits in politische ‚Deutungskulturen’ eingebettet sind, die jeweils ein spezifisches politisches Interpretationsangebot bereitstellen412. Um vor diesem Hintergrund nationale politische Kulturen als unterschiedliche ‚Filter’ für sozialdemokratische Reformdiskurse erfassen zu können, sollen hier die historisch gewachsenen nationalen Sichtweisen und Bewertungen politischer Organisation in einem Werte-Raster zweier gegensätzlicher politischer Orientierungen verglichen werden: Zum einen die Einstellungen und Erwartungen gegenüber dem Staat (Staatskultur vs. Gesellschaftskultur), zum anderen die bevorzugten Beziehungen des Einzelnen zu den Anderen (Wettbewerb vs. Solidarität). Die Unterscheidung zwischen Staats- und Gesellschaftskulturen macht sich – Karl Rohe zufolge – daran fest, was Angehörige einer politischen Kultur als ein Problem erachten und wem sie die primäre Problemlösungsverantwortung zuschreiben. In einer typischen Staatskultur beziehen die Bürger Politik vor allem auf den Staat, der als etwas organisch Ganzes und im Hegelschen Sinne als ‚Verwirklichung einer sittlichen Idee’ perzipiert wird. In einer Gesellschaftskultur hingegen ist der Politikbegriff viel stärker gesellschaftsbezogen: Die Gesellschaft ist zuerst einmal für die Regelung ihrer eigenen Sachverhalte zuständig und erst dann gibt es zur effizienten Problemlösung bestimmter Phänomene den Staat. In diesem Verständnis ist der Staat die rein funktionale Ansammlung von Regierungsorganisationen, der man kritisch und sich bisweilen abgrenzend, vor allem die eigene Freiheit betonend gegenübersteht413. Unterhalb dieser Ebene unterscheiden sich politische Kulturen zudem dadurch, welchen politischen und wirtschaftlichen Interaktionsformen die Bürger vertrauen. Kulturen, die entweder durch Wettbewerbs- oder Solidaritätsprinzipien bestimmt sind, unterscheiden sich vor allem dadurch, in welcher Weise die Bürger ihre politischen und sozioökonomischen Koordinierungsprobleme zu lösen bevorzugen. In wettbewerblichen Kulturen basieren die Beziehungen des Einzelnen zu Anderen stark auf Konkurrenzprinzipien und Marktbeziehungen. Solidarische Kulturen kennzeichnen sich hingegen durch ein starkes Vertrauen in marktunabhängige Ausgleichsmechanismen und kollektive Organisationsmuster. Innerhalb eines solchen Rasters von Erwartungen und Vorstellungen, Konventionen und Normen können die jeweiligen Werteorientierungen unterschiedlich stark ausgeprägt und unterschiedlich kombiniert sein. Wie sich nationale politische Kulturen in einem solchen Raster auch immer platzieren, die Werteorientierungen prägen den Reformdiskurs im Hinblick auf Reformnotwendigkeiten, -instrumente und -ziele sowohl handlungsleitend wie handlungslegitimierend.
412 413
K. Rohe 1987 K. Rohe 1990
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4 Nationale Input- und Outputfilter
Tabelle 4: Problemlösungsverantwortung und Interaktionsformen politischer Kulturen
Staatskultur
Gesellschaftskultur
Solidarität
Wettbewerb
Die nationalen politischen Kulturen werden hier qualitativ in ihrer historischen Entwicklung verglichen, da es schwierig ist, Werte und Einstellungen beim Individuum abzufragen, das, um sich auszudrücken, wiederum auf bestimmte, historisch gewachsene Begrifflichkeiten, Konzepte und Vorstellungen zurückgreifen muss414. Eine Forderung nach ‚mehr sozialer Gleichheit’ beispielsweise bedeutet in einem Land mit einer sehr egalitären Einkommensstruktur etwas anderes als dieselbe Forderung in einem Land, das sich durch eine hohe Einkommensungleichheit auszeichnet. Auch ein Begriff wie ‚Gerechtigkeit’ – auch wenn er überall hohe Zustimmungswerte erzielt – wird in unterschiedlichen politischen Kulturen vor dem Hintergrund jeweiliger historischer Erfahrungen unterschiedlich ausdefiniert. Denn gerade bei der Analyse politischer Kulturen als Diskursfilter geht es weniger um die Ermittlung kurzfristiger Einstellungen, die gegebenenfalls durch öffentliche Diskurse sogar verändert wurden, als vielmehr um komplexe Vorstellungen über die Grundlagen der politischen Ordnung, die Inhalt und Form, Wirkungsweise und Resonanz öffentlicher Diskurse bestimmen. Denn nur wenn Diskurse relevante Aspekte bestehender Wertmuster situationsgerecht aufgreifen können, gewinnen sie ihrerseits die Kraft zur Akzentuierung und Neugewichtung im Prozess der dynamischen Entfaltung der politischen Kultur einer Gesellschaft.
4.3.4 Schweden Zwei Charakteristika der schwedischen Entwicklung im 20. Jahrhundert werden immer wieder hervorgehoben: Zum einen der Bürgerstatus als Bezugspunkt eines generösen, universalistischen Wohlfahrtsstaats und zum anderen die kooperativen Sozialbeziehungen. Beide Charakteristika werden häufig auf eine politische Kultur zurückgeführt, in der (soziale) Gleichheitsvorstellungen und gesellschaftliche Solidarität sehr ausgeprägt sind. Die politischen Diskurse wie auch die sozialstaatlichen Entwicklungen sind über weite Strecken des 20. Jahrhunderts maßgeblich und wie selbstverständlich von der Zielvorgabe gesellschaftlicher Gleichheit bestimmt. 414
K. Rohe 1987
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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Die politisch-kulturellen Orientierungen verdichteten sich schon in der 1930er Jahren in der politischen Metapher des Volksheimes (Folkhem), die früh als rhetorisches Fundament die Ausgestaltung des schwedischen Wohlfahrtsstaats legitimatorisch stützte und politisch vorantrieb415. Per Albin Hanson, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) und späterer Ministerpräsident Schwedens verwendete den Begriff ‚Volksheim’ 1928 in einer Parlamentsrede um die Ziele sozialdemokratischer Politik zu beschreiben: „Eine gute Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die wie ein Heim funktioniert. In einem guten Heim herrscht Gleichberechtigung, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft. Auf unsere ganze Gesellschaft übertragen, würde das bedeuten, dass alle sozialen und wirtschaftlichen Schranken niedergerissen werden sollten, die zu einer Aufteilung des Volkes führen in Privilegierte und Zurückgesetzte, Herrschende und Abhängige, in Reiche und Arme, in Plünderer und Ausgeplünderte“416.
Bis in die späten 1970er Jahre – vor allem in der goldenen Volksheim-Ära von 1950-1970 – schienen sich in dieser Metapher die wichtigsten Werte der schwedischen politischen Kultur symbolisch zusammenzufügen und so wurde sie zu einem sich kontinuierlich erneuernden und dynamisierenden Leitmotiv für den Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Sie verkörperte sinnstiftend die Vorstellung von einer gerechten Gesellschaft, in der der Staat für die Sicherheit seiner Bürger sorgte und alle Bürger gemeinsam für die materielle Grundlage dieses auf Solidarität beruhenden Versorgungssystems verantwortlich waren. Der Begriff Folkhem selbst war alsbald so stark in der schwedischen Identität verwurzelt und zugleich inhaltlich so weit gefasst, dass sich spätere politische Ideen und rhetorische Figuren wie beispielsweise die des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Tage Erlanders einer ‚starken Gesellschaft’ (det starka samhället) oder die sozialdemokratische programmatische Radikalisierung der späten 1960er Jahre, die sich eher um Slogans wie ‚mehr Gleichheit’ (ökad jämlikhet), ‚ökonomische Demokratie’ und ‚Arbeitnehmerfonds’ gruppierten, problemlos in die Volksheim-Ideologie und -Rhetorik integrieren ließen417. Doch jenseits ihrer egalitären Konnotation umfasste die Volksheim-Konzeption auch spezifische Orientierungen hinsichtlich Demokratie, Modernität und Bürgerschaft, die gerade in ihrer Kombination die Nachhaltigkeit und umfassende Integrationskraft dieses politischrhetorischen Leitmotivs erklärten und eine besondere Beziehung zwischen dem Staat – als dem Garanten wohlfahrtsstaatlicher Leistungen – und dem Individuum herstellten. Das Volksheim stellte zudem weniger eine pathetisch beschworene Ideologie dar (obgleich es immer auch eine moralische Dimension aufwies), sondern vielmehr eine regulative Idee, die jederzeit verhandelbar war. Die politische Kultur Schwedens wird ferner mit Begriffen wie ‚strukturierte Konsultation’ oder „’korporative Repräsentation’ beschrieben. Sie sind Ausdruck dominanter politisch-kultureller Orientierungen und gleichzeitig selbst verstärkende Elemente des schwedischen Modells, indem sie sich beispielsweise in den industriellen Beziehungen Schwedens – einer zentralen Säule des ‚Folkhems’ – in spezifischer Weise ausgeprägt haben418. 415
E. Åsard/ W. Bennett 1997: 86ff. Zitiert nach: R. Meidner/ A. Hedborg 1984: 16 417 Vgl. Kap. 5.2.2: ‚Der ideenbegründete Diskurs: Bewahrung im Angesicht der Zukunft’ 418 B. Rothstein 1992 416
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Bereits im Jahr 1938 vereinbarten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in einem ‚historischen Kompromiss’ das ‚Abkommen von Saltsjöbaden’: Ein institutionalisiertes System staatlich flankierter Selbstregulierung durch die kollektiven Akteure von Kapital und Arbeit, das auch die gesamtschwedischen Interessen im Blick haben sollte. Die Gewerkschaften akzeptierten die Verfügungsgewalt der Arbeitgeber über die Produktionsmittel und wurden dafür als Tarifpartner akzeptiert. Gleichzeitig verpflichteten sich die Arbeitgeber, die staatliche Umverteilung erwirtschafteter Güter zu respektieren419. Die Umverteilungsaufgabe war damit auf die staatlichen Instanzen verlegt420, während die Lohnverhandlungen auf Basis wechselseitiger Anerkennung von Vertretungs- und Eigentumsrechten sowie des Prinzips der Tarifautonomie stattfanden. Dieses Abkommen bildete die Voraussetzung für ein außergewöhnlich kohärentes korporatistisches Modell, in dem einerseits die Gewerkschaften eine ‚solidarischen Lohnpolitik’ durchsetzten, die in den 1960er Jahren weitestgehend realisiert wurde421 und die neben der umverteilenden Steuerpolitik seitens des Staates zu einer sehr egalitären Gesellschaftsstruktur beitrug und das andererseits die Sozialpartner als wichtige und verlässliche Akteure umfassend in die Sozial- und Wirtschaftspolitik (vor allem bis Ende der 1970er Jahre in die Politik eines ‚konzertierten Keynesianismus’422) integrierte. Beides – Folkhem und konsensorientierte Einbindung der Sozialpartner und Interessengruppen – war gleichermaßen Grundlage wie Ausdruck der hegemonialen Rolle der Sozialdemokratie, die seit 1932 mit wenigen Ausnahmen die nationalen Regierungen dominierte und auf diese Weise die schwedische Konzeption des Wohlfahrtsstaats mit den Schwerpunkten Universalismus, Solidarität und Umverteilung durchsetzte423. Diese sozialdemokratische Hegemonie bestand dabei jedoch weniger aus einer quantitativen Macht als vielmehr aus einer kulturellen Hegemonie ihrer programmatischen Werte. Auch die Konsensstrategie war Bestandteil einer sozialdemokratischer Machtstrategie424: Indem sie auf ihre Intitiativkraft, der Versachlichung von Themen und die Flexibilität der politischen Akteure vertraute, ermöglichte es die Konsenspolitik der SAP – über die strategische Zusammenführung dieser Komponenten – auch in einer Minderheitsregierung die politischen Verhältnisse zu ihren Gunsten zu gestalten. Wie stark der kulturelle Einfluss sozialdemokratischer Politikideen die Politik Schwedens in 20. Jahrhundert prägte, zeigt sich vielleicht am ehesten in der Tatsache, dass diese Ideen von bürgerlichen Parteien akzeptiert wurden425. Die politische Kultur Schwedens ist heute wesentlich bestimmt durch eine starke Stellung und einer weitgehenden Akzeptanz des Staates, der auch über seine Sozialpolitik unmittelbar und massiv Einfluss auf das Leben der Bürger nimmt, durch ein ausgeprägtes Gleichheitsverständnis und eine solidarische Kooperationsorientierung. Zur Erklärung der Ausprägung dieser Werte müssen zwei Aspekte in die Betrachtung miteinbezogen werden: 419
K. Åmark 1992 Vgl. G. Adler-Karlsson 1973. Adler-Karlsson bezeichnet diese Form der Wirtschaftsorganisation als 'funktionalen Sozialismus': Nicht die gesamte Produktion bzw. das gesamte Privateigentum wird verstaatlicht sondern nur diejenigen Funktionen des Eigentums, die in den Dienst der Gesellschaft gestellt werden. 421 P. Whyman 2003; R. Meidner/ A. Hedborg 1984. Vgl. auch Kap. 4.2.1: ‚Schweden: Sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime und national koordinierte Marktwirtschaft’ 422 P. Whyman 2003 423 Vgl. N. Ginsburg 1992 424 G. Therborn 1992 425 T. Tilton 1991: 6f. 420
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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Zum einen Form und Zeitpunkt der Institutionalisierung des universalistischen Sozialstaates. Bo Rothstein betont, dass die Institutionalisierung des Wohlfahrtsstaats selbst (vor allen die Einbindung der Mittelklassen) in dem kurzen Zeitfenster der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre die in der schwedischen politischen Kultur ohnehin inhärenten Gleichheitsideale und solidarischen Einstellungsmuster verstärkt habe. Der sodann institutionalisierte universalistische Wohlfahrtsstaat habe sich in der nachfolgenden Zeit als wirksamer Grund dafür erwiesen, dass sich für längere Zeit eine ihm entgegenkommende politische Kultur im weit überwiegenden Teil der schwedischen Gesellschaft entfalten konnte426. Politische Kultur und wohlfahrtsstaatliche Institutionen standen somit in einem komplementären Verhältnis, so dass sich die Ausprägung bereits angelegter gesellschaftlicher Werte und ihre wohlfahrtsstaatlich-institutionelle Entsprechung wechselseitig forcierten. Zum anderen – mit ersterem eng verknüpft – der verhältnismäßig friedliche Modernisierungsprozess, in dem gesellschaftliche Organisationen schon früh als legitime Interessenvertreter im demokratischen Entscheidungsprozess anerkannt wurden. Die Demokratisierungs- als auch Industrialisierungsphase setzten in Schweden verhältnismäßig spät und zudem kurz hintereinander ein. Doch spielten im schwedischen Modernisierungsprozess, anders als z. B. in Deutschland, die Identitätskonflikte aufgrund der konfessionellen und kulturellen Homogenität der schwedischen Gesellschaft und die Legitimationskonflikte aufgrund schwacher reaktionärer Kräfte (die Rolle der Aristokratie war bereits in einer vorliberalen Phase eingeschränkt) kaum eine Rolle. Parlamentarisierung und Demokratisierung verliefen, nachdem sie einmal auf den Weg gebracht wurden, relativ frei von Konflikten und Verfassungskämpfen427. In Schweden gab es daher, ähnlich wie in England, kaum Spannungen zwischen ‚Staat’ und ‚Gesellschaft’, allerdings aus gegensätzlichen Gründen: „Während sich in England die Staatlichkeit erst spät und im kontinentaleuropäischen Sinne nur rudimentär entwickelte, wurde in Schweden die Staatlichkeit durch Entwicklungen der ‚bürgerlichen’ Gesellschaft nur wenig beschränkt. Eine Bewegung zur Institutionalisierung liberaler Abwehrrechte gegenüber dem Staat kam nie in Gang, und auch innerhalb des Staatswesens sind ‚checks and balances’ wenig ausgeprägt428“. In diesem relativ konfliktfreien politischen Modernisierungsprozess konnte sich die schwedische Arbeiterbewegung schnell in das politische System integrieren und die sozialdemokratische Partei früh ihre reformistische Programmatik entwickeln429. Bereits 1911 enthielt das sozialdemokratische Parteiprogramm zwei entscheidende Passagen: Erstens verstand sich die Partei nicht ausschließlich als Interessensvertretung der industriellen Arbeiterklasse, sondern schloss ausdrücklich die ‚kleinen Leute’ in ihr politisches Selbstverständnis mit ein. Der Begriff ‚Klassenkampf’ verlor seinen Einfluss, stattdessen entwickelte sich ein Politikstil, der auf Verhandlungen und Kooperation angelegt war. Zweitens wurde die Verstaatlichung der Produktionsmittel nicht mehr als notwendige Voraussetzung für den Sozialismus erachtet430. Damit waren einerseits die politischen Leitlinien eines universellen Wohlfahrtsstaat formuliert und andererseits die Voraussetzungen für eine politische Allianz mit Organisationen der Bauernschaft und später der Angestellten geschaffen, die
426
B. Rothstein 1998 E. Gurgsdies 2006: 55f. 428 F.X. Kaufmann 2003: 166 429 E. Gurgsdies 2006: 57f. 430 T. Tilton 1992: 415 427
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4 Nationale Input- und Outputfilter
als entscheidender Faktor für spätere politische Hegemonie der schwedischen Sozialdemokratie und für die Kontinuität der Wohlfahrtsstaatentwicklung angesehen wird431. Als in den frühen 1980er Jahren das ‚schwedische Modell’, vor allem seine lohnpolitische Koordination des korporatistischen Verhandlungssystems, aufgrund verschiedener ökonomischer Gründe in die Krise geriet, büßte auch die Folkheim-Konzeption an Integrationskraft ein. Die regulationspolitische Grenzen, an die das ‚schwedische Modell’ offensichtlichen stieß, und die Veränderungen in den politisch-kulturellen Orientierungen gingen dabei Hand in Hand. Erstens: Individualisierung, Säkularisierung und ein postmoderner Wertewandel, der sich seit den 1960er Jahren in allen westlichen Industriestaaten vollzog, waren insbesondere in Schweden weit fortgeschritten432. Der schwedische Wohlfahrtsstaat gründete sein wechselseitiges Solidaritätsverständnis (zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft) gleichermaßen auch auf einer ‚protestantischen Arbeitsethik’ und einer Tradition der Eigenverantwortung. Der soziale Druck, diese Ethik zu befolgen, hatte im Zuge des postmaterialistischen Wertewandels massiv nachgelassen. Ferner wurde in der schwedischen Politik das ältere ‚Cleavage’ zwischen Kapital und Arbeit fortan von mehreren neueren Themen wie ‚Umweltschutz’, ‚Feminismus’, ‚Selbstverwirklichung’ oder ‚kulturelle Vielfalt’ überlagert. Der SAP gelang es nur zum Teil die neuen Themen in ihre eigene Programmatik zu integrieren und sah sie sich zunehmend einem fragmentierten und volantilen Wählermarkt gegenüber, so dass sie ihre hegemoniale Stellung im schwedischen Parteiengefüge verlor. Zweitens: Im Zuge des Übergangs von der industriellen Massenproduktion zur wissenbasierten Dienstleistungsökonomie kam es zu einer stärkeren Ausdifferenzierung der Berufsfelder, mehr Lohndifferenzierung (vor allem zwischen hoch und niedrig qualifizierten Dienstleistungsberufen) und einer höheren Arbeitsmarktflexibilität, die sich in eine Ausdifferenzierung der schwedischen Sozialstruktur übersetzte. In einer solchen differenzierten Sozialstruktur veränderten und vervielfältigten sich wiederum die Erwartungshaltungen gegenüber dem Wohlfahrtsstaat. Es wuchs das Bedürfnis nach mehr individueller Entscheidungsfreiheit und mehr Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Wohlfahrtsangebote. Drittens: Die schwedische Gesellschaft zeichnete sich lange durch eine hohe kulturelle Homogenität aus. Diese Homogenität war ein zentrales Element der Kohäsion der Wohlfahrtsstaatsideologie. Seit den frühen 1980er Jahren hatte Schweden eine große Zahl von Flüchtlingen vom Balkan, aus dem Mittleren Osten, aus Afrika und Lateinamerika aufgenommen, was der Homogenität der schwedischen Gesellschaft ein Ende setzte. Die Integration der Immigranten in den schwedischen Arbeitsmarkt erwies sich als schwierig, der Anteil der Einwanderer, der auf Sozialhilfe angewiesen ist, war weit größer als bei alteingessenenen Schweden und es ließen sich – vor allen in den urbanen Zentren – bisher fremde Segregationsprozesse feststellen. Der schwedische Wohlfahrtsstaat hatte sich vor diesem Hintergrund in mancher Hinsicht als verletzlich erwiesen und musste sich nun ‚multikulturell’ – mit einer stärkeren Betonung der qualitativen Förderung sozialer Kompetenz als dies noch bei seiner Gründungsphase in 1950er Jahren notwendig gewesen war – grundlegend neu ausrichten433. 431
G. Esping-Andersen 1998 In Roland Ingleharts emprischen Untersuchungen nimmt Schweden sowohl in der "SelbstentfaltungsDimension" als auch in der „säkular rationellen Dimension“ einen Spitzenplatz ein. Vgl. R. Inglehart 1998; R. Inglehart/ W.E. Baker 2000; R. Inglehart/ C. Welzel 2005 433 M. Peterson 1999 432
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
151
Der politisch-kulturelle Kontext Schwedens, in dem der Reformdiskurs der 1990er Jahre sich artikulieren und überzeugen musste, war also durch ein Spannungsfeld zwischen älteren, stark sozialdemokratisch imprägnierten Egalitäts- und Solidaritätswerten und neueren individuellen ‚Selbstentfaltungswerten’ bestimmt. Dieses Spannungsfeld schien den öffentlichen Reformdiskurs in einer spezifischen Weise zu rahmen: In der kognitiven Diskursdimension wurden pragmatisch sozial- und wirtschaftspolitische Problemlösungen betont, die den strukturellen sozio-ökonomischen Veränderungen einer zunehmend individualisierten, mobilen und säkularisierten Gesellschaft entsprachen (z. B. Kinderbetreuung und Frauenerwerbsarbeit, Fort- und Weiterbildung, feministische Gleichstellungspolitiken usw.), während in der normativen Diskursdimension die Solidaritäts- und Gleichheitswerte der Volksheim-Metapher (abgeschwächt und von manchem ideologischen Ballast entledigt) weiterhin den diskursiven Bezugspunkt darstellten. Die beiden Diskursdimensionen gerieten deshalb nicht in Widerspruch zueinander, weil in der schwedischen politischen Kultur die Beziehung (Wohlfahrts)Staat und individuelle Freiheit kaum als Gegensatz begriffen wurde. Der universalistische Wohlfahrtsstaat gründete sich historisch auf einer direkten Beziehung zwischen dem Staat und dem Individuum, und zwar ausdrücklich und bewusst in Abgrenzung zu intermediären Wohlfahrtsinstitutionen wie den Kirchen, privaten und freiwilligen Wohltätigkeitsorganisationen oder der Familie. Diese Institutionen wurden hier schon sehr früh weniger mit Pluralismus oder Freiheit assoziiert, als vielmehr mit Erniedrigung, Ungleichheit, patriarchiale Beziehungen oder informellen Machtmissbrauch. Der schwedische Staat hingegen wurde als ‚Befreier’ des Individuums von all diesen Formen der Abhängigkeit wahrgenommen, der die individuellen Rechte stärkte (z. B. weil – im Gegensatz zu Deutschland – individuelle Ansprüche nicht durch die Versorgungsverantwortung anderer Familienmitglieder eingeschränkt wurden). Ein staatsbezogener Individualismus ist heute für die politische Kultur Schwedens charakteristisch434. Dies bringt sich auch durch die hohen grundsätzlichen Zustimmungswerte für den Wohlfahrtsstaat zum Ausdruck, die sich selbst in der ökonomischen Krise Anfang der 1990er Jahre nicht abgeschwächt haben435. Individuelle Entfaltung und Staatlichkeit werden weniger als Widerspruch betrachtet, weil der sozialdemokratische Folkhem-Diskurs schon seit den 1930er Jahren auf ein starkes produktivistisches Argument verwies, das den produktiven Aspekt der Solidarität und Sicherheit stets hervorhob und zugleich die Ineffizienz einer ungleichen Gesellschaft und die ökonomischen Kosten sozialer Unsicherheit betonte436. Die Verknüpfung von ökonomischem Wachstum und individueller Freiheit bildete den Kern des schwedischen Wohlfahrtsstaatsverständnisses: Erst die Universalität der Sozialleistungen und die staatliche Regulation garantierten die individuelle (und zugleich volkswirtschaftliche) Produktivität437. Ökonomische und soziale Argumente waren hier in ein und demselben Diskurs integriert und wurden nicht – wie in anderen Ländern – als sich unvereinbare Prinzipien gegeneinander in Stellung gebracht. Das politisch-kulturelle Spannungsverhältnis zwischen älteren und neueren Werten zwang die sozialdemokratischen Diskursprotagonisten dazu, ihren traditionellen Diskurs an 434
L. Trägårdh 1997 E. Gurgsdies 2006: 87 436 G. Esping-Andersen 1985 437 Vgl. J. Anderson 2005 435
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4 Nationale Input- und Outputfilter
die neuen Verhältnisse und Erwartungen einer postindustriellen Gesellschaft anzupassen, doch bot es zugleich – gerade hinsichtlich sozialpolitischer Anpassungen – auch manche argumentative Ressource, da der ‚funktionale Umbau, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des universalistischen Wohlfahrtsstaatsprinzips’ durchaus den dominanten Werteorientierungen entsprach.
4.3.5 Deutschland Nach Karl Rohe stellt Deutschland die typische Verkörperung einer Staatskultur dar, mit seinen Traditionen der preußischen Sekundärtugenden und dem Glauben an die Letztverantwortung des allmächtigen Staats438. Während der Begriff der ‚Staatskultur’ in der politischen Kulturforschung vor allem zur Kennzeichnung der politischen Werteorientierungen und Einstellungen hinsichtlich Demokratie, Pluralismus, politischer Partizipation und Konfliktfähigkeit in Deutschland herangezogen wird, soll es bei der hier vorgenommenen Betrachtung der politischen Kultur als Diskursfilter eher um Orientierungen und Erwartungen gegenüber dem Wohlfahrtsstaat, sozialer Gleichheit und Sicherheit oder der Akzeptanz von Interventionsstaatlichkeit gehen. Gleichwohl ist auch in diesem Betrachtungszusammenhang die Bezeichnung ‚Staatskultur’ höchst aufschlussreich. Denn einige zentrale Konstruktionsprinzipien, die die deutschen Wohlfahrtsinstitutionen auch heute noch bestimmen439, gründen auf einer ursprünglich ‚staatsautoritären Sozialpolitik’440, die sich zur Stabilisierung einer vordemokratischen Ordnung als Reaktion auf die zunehmende Arbeitermobilisierung herleitete. Die deutschen Sozialreformen zum Ende des 19. Jahrhunderts sollten die sozialen Not lindern und dabei vor allem den politischen Organisationen der Arbeiterbewegung den Nährboden entziehen und gingen stets einher mit repressiven Maßnahmen. Diese autoritäre Sozialpolitik war ferner eingebettet in eine wesentlich vom Staat beförderte und bürokratisch gesteuerte Industrialisierung und gesellschaftliche Modernisierung, die einerseits die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erhöhen sollte, andererseits aber die vormoderne politisch-soziale Herrschaftsordnung des preußisch-deutschen Obrigkeits- und Militärstaat davon unberührt lassen wollte441. Die sozialen Reformen waren vor allem ein Mittel zur Sicherung des sozialen Zusammenhalts bei gleichzeitigem Fehlen politischer Demokratie. In Deutschland wurden in dieser Phase soziale Rechte also eher als Kompensation für die Verweigerung politischer Rechte gewährt. Dabei ging es aber nicht etwa um die Ausdehnung universeller sozialer Rechte für alle Mitglieder der Gesellschaft, sondern einzig um die Gewährung spezifischer Privilegien für solche Gruppen, deren Kooperation bei der Modernisierung und Nationenwerdung von den politischen Eliten in Deutschland als unverzichtbar erachtet wurde442. Die Ursprungsmotivation der Sozialversicherung war nicht ein Bedürftigkeitskriterium oder ein egalisierender Anspruch, sondern die politische Bedrohung, die diese Gruppen für die staatliche Ordnung darstellten. Während in Schweden die Antriebsfeder für den Aufbau eines universellen Wohlfahrtsstaats die Idee der sozialen 438
K. Rohe 1990 J. Alber 1988 440 H. Lampert 1980: 180 441 T. Nipperdey 1991: 59 442 P. Manow 2001 439
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
153
Gleichheit war, hat der deutsche Wohlfahrtsstaat seine Wurzeln in dem staatlichen Versuch, Loyalität gegenüber der Obrigkeit herzustellen443. Demzufolge fokussierten sich die sozialpolitischen Maßnahmen zunächst auch auf die Arbeiter in Industrie und Gewerbe. Die Ursprungsformen des sozialen Schutzes waren folglich partikularistisch und – da die Leistungs- nach dem Betragssätzen bemessen wurden – statusorientiert. Insgesamt linderte die Sozialpolitik im Kaiserreich zwar die soziale Not, brachte aber nicht mehr Gleichheit und Gerechtigkeit, sondern konservierte das bestehende soziale Gefüge. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden immer weitere Berufsgruppen in die Sozialversicherungen einbezogen und das soziale Netz enger geknüpft und verbessert, so dass sich in der breiten gesellschaftlichen Mitte die Leistungsrechte der Arbeiter und Angestellten fortan einander annäherten, das Versicherungsprinzip der Bismarckschen Tradition, das Umverteilungswirkungen begrenzt und Marktungleichheiten in relativer Form reproduziert, blieb aber im Kern erhalten. In den Jahren des ‚Wirtschaftswunders’ und des Aufbaus des westdeutschen Wohlfahrtsstaats als ‚sozialer Marktwirtschaft’ kam es zu einer neuartigen Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen. Diese führte in den Mittelschichten – welche in Inflation 1923 und der Wirtschaftskrise 1929 verarmt waren und in den 1930er Jahren im Nationalsozialismus einen Schutzwall gleichermaßen gegen den Kommunismus wie gegen einen überzogenen und entgrenzten Liberalismus sahen – zu einem neuen bürgerlichen Lebensstil, der sich nun nicht mehr länger primär auf Eigentum, sondern auf ein soziales Sicherungsnetz stützte: Rentenanspruch, Karrieregarantien des Ausbildungsabschlusses, vom Lebensalter abhängige Einkommensentwicklung, Stabilität der Gehälter, eine Art Arbeitsplatzgarantie im fordistischen Großunternehmen444. Auch die Kaufkraft der unteren Einkommensschichten steigerte sich kontinuierlich – wenn auch in geringerem Maße –, und von den 1960er Jahren an verbesserten sich sogar auch die Chancen ihrer Kinder auf eine schulische Ausbildung in der Sekundarstufe. Es ist wichtig hervorzuheben, dass sich in den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland eine politische Kultur ausbildete, in der das Vertrauen in diese Sicherheit zentral war. Politische Systemakzeptanz beruhte stark auf ökonomischer Effektivität. Das ist bis heute so geblieben445. Doch Kernelemente dieses sozioökonomischen Grundvertrauens wurden gerade in den 1990er Jahren von dem Hintergrund der (welt)wirtschaftlichen Entwicklung zunehmend in Frage gestellt. Zwei weitere, mitunter spannungsreiche Konstitutionsfaktoren des deutschen Wohlfahrtsstaats müssen in die Betrachtung der politischen Kultur miteinbezogen werden: Erstens: Die ‚Soziale Marktwirtschaft’, wie sie sich seit den 1950er Jahren ausbildete und fortan die deutschen Wohlfahrtsorientierungen und -erwartungen entscheidend prägte, gründete auf der Grundidee des Ordoliberalismus, die marktwirtschaftliche Lösungen den Vorrang gab und Markt sowie den sich darin entfaltenden Wettbewerb als ein Höchstmaß an Freiheit und als Ausdruck von Gerechtigkeit betrachtete. In der ordoliberalen Konzeption waren zwar staatliche Interventionen und Regulierungen durchaus möglich, aber weniger um ungleiche Marktergebnisse auszugleichen, sondern nur wenn reine Marktmechanismen gestört waren (z. B. durch Monopole und Kartellbildung, fehlende Transparenz usw.)446. Gleichzeitig etablierte sich im Bereich der industriellen Beziehungen, der ‚Corpo443
F.X. Kaufmann 2003 L. Boltanski/ È. Chiapello 2006: 28 445 M. Greiffenhagen 1997 446 R. Ptak 2004; C. Noppeney 1998 444
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4 Nationale Input- und Outputfilter
rate Governance’ und der Unternehmensfinanzierung – teilweise auf Strukturen aus dem 19. Jahrhunderts aufbauend – ein dichtes Netz nicht-marktlicher Koordinierung. Zweitens: Die wohlfahrtsstaatliche Sicherung gegen zentralen Lebensrisiken wurde seit Beginn der Bundesrepublik von einem breiten gesellschaftlichen und parteipolitischen Konsens getragen. Die beiden großen und maßgeblichen Parteien – CDU/CSU und SPD – können als Wohlfahrtsstaatsparteien bezeichnet werden447, so dass der Wohlfahrtsstaat im Grundsatz außerhalb des Parteienkonflikts stand. Gleichwohl bezogen sich beide Parteien auf unterschiedliche sozialpolitische Leitideen. Die CDU/CSU formulierte ihre Sozialpolitik wesentlich in der Tradition des Sozialkatholizismus und akzentuierte das Subsidaritätsprinzip, in dessen Zentrum die Familie (im Sinne des traditionellen male breadwinnerModells) stand, die über steuer- und sozialpolitische Begünstigungen zur Bildung von Eigentum gefördert werden sollte. Die SPD mit ihren Grundwerten von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität hingegen betonte eher individuelle soziale Grundrechte, Freiheit von strukturellen und materiellen Zwängen und Aufstiegschancen. Die Sozialdemokraten – in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik in einer strukturellen Minderheitenposition gefangen – konzentrierten sich vor allem auf die Regulierung der Arbeitsbedingungen, auf Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit448. Der deutsche Wohlfahrtsstaat war also durchaus von unterschiedlichen normativen Leitmotiven determiniert, die allerdings, zumindest in seinem ‚goldenen Zeitalter’, das durch eine kontinuierliche Expansion charakterisiert war, kaum als Hemmnis, sondern meist sogar produktiv wirkten. In der ökonomischen Sphäre wurden betriebliche Mitbestimmungsregeln durchgesetzt, Tarifautonomie und verhältnismäßig starke Gewerkschaften sorgten für kontinuierliche Lohnzuwächse, kooperative berufliche Ausbildungssysteme eröffneten den Facharbeitern Arbeitsplatzsicherheit und Aufstiegschancen. In der wohlfahrtsstaatlichen Sphäre wurde dem deutschen konservativen Modell entsprechend die Familie gefördert. Sozialpolitische Programme sollten die Familie stärken und nicht ersetzen. Dieser Vorrang der Familie zeigt sich auch in der konzeptuellen Dominanz des Ernährermodells, das eine geringe Erwerbsbeteiligung von Müttern oder verheirateten Frauen zur Folge hatte449. Gegenüber dem politisch-kulturellen Wertewandel der Individualisierung seit den 1970er Jahren, vor allem seit den 1980er Jahren – sowohl in Arbeits- als auch Privatleben – erwies sich das deutsche Modell als besonders verletzlich. In der Arbeitswelt lösten sich die eher statischen und hierarchischen Strukturen des Fordismus auf und wurden durch neue Anforderungen an das Humankapital, an die individuellen Kompetenzen und an flexible Selbststeuerungsfähigkeiten ersetzt, Erwerbsbiografien wurden brüchiger, Arbeitsverhältnisse prekärer. Obschon im Zuge der Globalisierung und technologischer Innovationen dieser Transformationsprozess der Arbeitswelt alle entwickelten Ökonomien gleichermaßen erfasste, konnte gerade das um die Familie herum organisierte, deutsche Wohlfahrtsmodell den sich aus dem Wandel ergebenen neuen sozialen Risiken nur wenig entgegen setzen, da sich die Familie selbst zu einer viel wechselhafteren und anfälligeren Institution entwickelt hatte, die neben den prekären Beschäftigungsverhältnissen und dem Gefühl der Unsicherheit ihrerseits für Instabilität sorgte.
447 448 449
M.G. Schmidt 1998: 168 J. Alber 1988: 104 I. Ostner 1995, 1998.
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
155
4.3.6 Großbritannien Als Gegenpol zu der Staatskultur, wie sie sich in Schweden und Deutschland ausgeprägt hat, wird in der Forschung üblicherweise die zivile Gesellschaftskultur der angelsächsischen Länder identifiziert450, in der anti-staatliche Grundhaltungen und die Betonung negativer Freiheitsrechte, individualistische Konkurrenzmentalität, größere Akzeptanz gesellschaftlicher Ungleichheit sowie nur geringe Affinität zu Formen staatlich-solidarischer Verantwortung typisch sind451. Staat und Politik Großbritanniens waren bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vom klassisch-liberalen Gedankengut der Naturrechtsphilosophen wie John Locke und David Hume, den klassischen wirtschaftsliberalen Schulen Adam Smith’ und David Ricardos und dem Utilitarismus eines Jeremy Benthams sowie einem, aus diesen Schulen abgeleiteten Handlungsprinzip eines ‚Government shall not interfere’ bestimmt. Doch auch als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die liberale Grundannahme, dass ein freier Markt eine prosperierende Ökonomie und damit langfristig Wohlstand für die Mehrheit der Bevölkerung bringen würde, angesichts einer offensichtlichen katastrophalen Massenarmut zunehmend in Zweifel gezogen wurde, richtete sich das Engagement des britischen Staates, das über die Armenprogramme des frühen 19. Jahrhunderts hinausreichte, weiterhin an der selbstgestellten Handlungsverpflichtung aus, dass der Staat Garant einer natürlichen, d.h. marktförmigen Ordnung zu sein habe. Somit blieben beispielsweise die Grundprinzipien des Poor Law (1834) bis ins 20. Jahrhundert bestehen, das die Armenhilfe unterhalb der Arbeitslöhne ansiedelte, Arbeitsobligation und Selbsthilfepriorität betonte und Armut moralisierte, was sich in der Unterscheidung zwischen ‚deserving’ und ‚undeserving poor’ niederschlug. In dem Wechselverhältnis von wirtschaftlichem und politischm Liberalismus entstanden im viktorianischen Ära Zeitalter zudem zwei weitere Formen nichtstaatlicher Wohlfahrtsproduktion, die ebenfalls langfristige Auswirkungen auf die britische Sozialpolitik haben sollten: auf Ebene der Zivilgesellschaft ein ‚bemerkenswertes philantropisches Engagement’452, auf Ebene der Arbeiterklasse Selbsthilfeorganisation, Versicherungen und Berufsvereinigungen, frühe Formen der Gewerkschaftsbewegung. Das früh gewährte demokratische Recht auf Organisationsfreiheit förderte einerseits die Einbindung einer reformorientierten Arbeiterklasse in das politische System und ließ die britischen Gewerkschaften andererseits bis zu einem gewissen Grad sich liberale Prinzipien zu eigen machen und mehr ihrer eigenen Verhandlungsstärke als staatlichen Regelungen vertrauen453. Die ursprünglichen Rahmenbedingungen sowohl des britischen Kapitalismus wie auch die darauf folgenden sozialpolitischen Reaktionen sind – ganz im Gegensatz zu z. B. Deutschland – von einer expressiven staatlichen Passivität bestimmt. Die Antriebskraft für die frühen Sozialgesetzgebungen und später den Aufbau des Wohlfahrtsstaats war Franz-Xaver Kaufmann zufolge die Armutsbekämpfung; es ging von jeher um Maßnahmen allein für diejenigen, die ‚unverschuldet’ in Not geraten sind – Frauen, Alte, Kranke – und die sich selbst nicht helfen konnten454. Diese Einschätzung teilten die politischen Eliten, die in ih450
K. Rohe 1990 P. Reichel 1985 452 C. Krell 2006: 206 453 J. Schmid 2002 454 F.X. Kaufmann 2003: 132 451
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4 Nationale Input- und Outputfilter
rem liberalen Verständnis entsprechend die primäre Wohlfahrtsproduktion dem Markt zuwiesen, mit der Arbeiterschaft, die eher auf Selbsthilfe als auf staatliche sozialpolitische Maßnahmen setzte. Der Zweite Weltkrieg stellte in Großbritannien wie in vielen anderen Ländern eine politisch-kulturelle Zäsur dar: die kollektiven Erfahrungen mit einem neuen sozialen Konsens, mit der politischen Einbindung aller gesellschaftlichen Kräfte, mit der Steuerung und Regulierung der Kriegswirtschaft und mit staatlichen Sozialprogramme (für Angehörige des Militärs)455. Es gab bald eine allgemeine politische Übereinstimmung darüber, dass man nach dem Krieg nicht wieder zur politischen Polarisierung und den sozialen Verwerfungen der Vorkriegszeit zurückkehren dürfe. Zudem veränderten seit den 1930er Jahren die Theorien John Maynard Keynes makroökonomische Vorstellungen so nachhaltig, dass sich auch in der Wirtschaftspolitik verstärkt die Idee durchsetzte, dass für das Funktionieren der Wirtschaft – ganz im Gegensatz zu den bis dahin dominanten liberalen Laissez-faireKonzeptionen – der Staat eine entscheidende Rolle spiele. Ferner traf der bereits im Krieg unter der Leitung von William Henry Beveridge erarbeitete und 1942 veröffentlichte Bericht ‚Social Insurance and Allied Services’ (besser bekannt als ‚Beveridge Report’) den Nerv der Zeit und sollte zur Grundlage des Aufbaus eines Wohlfahrtsstaats im Großbritannien der Nachkriegszeit werden. Sowohl Keynes’ als auch Beveridges Ideen prägen sich vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und deren sozio-ökonomischen Folgen aus; zugleich waren beide Liberale, die an dem Glauben der Leistungsfähigkeit marktwirtschaftlicher Ordnung und ihrer individuellen Freiheiten festhielten. So rahmten nun makroökonomische Regulierung (Keynes) und soziale Grundsicherung (Beveridge) zwar die britische Nachkriegsordnung eines gesellschaftlichen und politischen ‚eingebetteten Kapitalismus’456, doch zugleich kennzeichnete sich der kapitalistische Wohlfahrtsstaat Großbritanniens durch eine starke institutionelle wie ideologische Kontinuität. Im liberalen Wohlfahrtsstaat, der sich auf der konzeptionellen Grundlage des Beveridge Reports in den späten 1940er bis in die 1960er Jahre ausbildete, blieb der Markt der zentrale Motor der Gesellschaft und individuelle Leistung wird allein über den Markt gratifiziert. Zwar wurde die wohlfahrtsstaatliche Klientel (besonders beim National Health Service) bis in die Mittelklassen hinein erweitert, der Wohlfahrtsstaat sollte aber nur extreme Defizite der Marktdistribution abfedern, so dass die staatlichen Versorgungsleistungen auf ein Minimum beschränkt blieben. Der britische Staat führte eine soziale Sockelung ein; oberhalb dieser Grundsicherung blieben davon allerdings die liberalen Werte der individuellen Leistung und Marktfähigkeit, der Selbsthilfe und Eigeninitiative unberührt. Ganz im Gegensatz zu der schwedischen Vorstellung des Wohlfahrtsstaats, die sich von der Idee einer sozialen Staatsbürgerschaft ableitete und eine Universalisierung sozialer Dienstleistungen installierte, gerade um Sozialleistungsbezieher vor Stigmatisierung zu schützen, aber auch entgegen den deutschen Prinzipien des Wohlfahrtsstaats, die auf der Idee der Sicherung eines einmal erreichten Lebensstandards gründeten, übernahm der britische Wohlfahrtsstaats jenseits der reinen Existenzsicherung kaum eine aktive oder gar umverteilende Rolle. Auch wenn der Thatcheristische Wohlfahrtsstaatsdiskurs populistisch radikalisierte und Leistungsempfänger häufig als faul und betrügerisch denunzierte: Die Stigmatisierung der Leistungsempfänger sowie ihre Isolierung von den Mittelklassen war dem britischen Wohlfahrtsstaatsmodell konzeptionell eingeschrieben und stellte die genaue 455 456
K. Jones 1991: 21 K. Polanyi 2007
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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Antithese zu den Prinzipien der sozialen Bürgerschaft in skandinavischen und kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten dar. Gleiches galt für den britischen Keynesianismus, der vor allem auf die Wiederherstellung makroökonomischer Stabilität und den Bedingungen der Unternehmen fokussierte – ganz im Gegensatz zu seiner schwedischen Variante, die soziale und infrastrukturelle Investitionsprogramme nicht als Mittel zum Zweck, sondern stets als Zweck selbst betrachtete457. Der britische keynesianistische Wohlfahrtsstaat verwies konzeptionell und rhetorisch auf eine Kosten-Dimension, die Sozialleistungen und Regulierungen als Kosten betrachtete, die die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft belasten und folglich so gering wie möglich gehalten werden müssten458. Während die kontinentaleuropäischen, vor allem die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten, sich über ihre sozialen Rechte-Dimension legitimierten und früh den produktivistischen Aspekt der Solidarität und sozialer Sicherheit bzw. umgekehrt die volkswirtschaftlichen Kosten von Unsicherheit und sozialen Risiken betonten459, blieb im britischen Wohlfahrtsstaat die frühliberale Unterscheidung zwischen ‚deserving’ und ‚undeserving poor’ im Kern erhalten.
Margaret Thatchers Kulturrevolution Der ideologisch motivierte massive Rückbau der staatlichen Sozialleistungen, die Privatisierung ehemals staatlicher Unternehmen, die Deregulierung der Finanzmärkte und die Ausdehnung und Betonung von Marktprinzipien auf den Arbeitsmarkt konnte die Regierung Margaret Thatcher über die rhetorische Aktivierung der im britischen Wohlfahrtsstaatsdiskurs immer schon angelegte Kostenfrage legitimieren: Der Wohlfahrtsstaat wurde als ineffektiver Kostenverursacher und als dysfunktionales Anreizsystem diskreditiert. Im Thatcherischen Reformdiskurs wurden zudem immer Bezüge zu einem klassischen Liberalismus hergestellt, wie etwa die Superiorität des Marktes und die Bedeutung der Wahlfreiheit. Das ideologisierte Ideal eines historischen Liberalismus diente als diskursives Vexierbild der Thatcher-Reformen. Über die Anrufung dieses Ideals legitimierte der Neoliberalismus Ungleichheit und relative Armut als notwendige Nebenprodukte des Wirkens von Marktkräften460. Nachdem die Finanzmärkte von staatlicher Aufsicht in den frühen 1980er Jahren befreit wurden und der Börsenhandel kurz darauf förmlich ‚explodierte’, wurde die ‚City of London’ – neben New York der wichtigste Handelsplatz der Welt – zum Symbol der ‚Thatcher Revolution’. Galt die ‚City’ samt ihrer alten Eliten und uralten Bankhäuser in Familienbesitz lange Zeit als hoffungslos altmodisch, schossen nun Handelsbüros und Glastürme aus dem Boden und eine neue Generation von City-Berufstätigen – jung und ambitioniert, egoistisch und gierig – bestimmte fortan das Geschehen: Der Yuppie wurde zum kulturellen Inbegriff der späten 1980er Jahre. In der politischen Rhetorik Thatchers wurden Egoismus und Gewinnstreben als positive und gesamtwirtschaftlich nützliche Eigenschaften in einer Weise hervorgehoben, die aus Reichtum fast einen Fetisch machte. Bei der rückblickenden Betrachtung des thatcheristi457
T. Skocpol/ M. Weir 1985 H. Glennester 1990: 16 459 G. Esping-Andersen 1985 460 D. King 1999; W.U. Prigge 1991 458
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4 Nationale Input- und Outputfilter
schen Neoliberalismus wird häufig ein kulturelles Phänomen der späten 1980er Jahre hinter den politisch bedeutsameren Themen wie den Rückbau des Wohlfahrtsstaats, die Deregulierung der Märkte und Privatisierung öffentlicher Unternehmen übersehen: ein hedonistische Konsumismus. Massive Steuersenkungen und leicht erhältliche Kredite für private Haushalte erzeugten in den 1980er Jahren einen, seit dem Zweiten Weltkrieg nie da gewesenen Anstieg der Immobilienpreise und die Nachfragesteigerung nach Konsumgütern. Der so genannte ‚Lawson-Boom’461 finanzierte sich jedoch wesentlich über eine ‚Blase’, die Anfang der 1990er Jahre platzte und in einer Rezession mündete462. Dem neuen expressiven Konsum bestimmter Schichten und in bestimmten Regionen stand gleichwohl Armut in anderen Schichten, Leerstand und verwahrloste und zerstörte Stadtviertel in anderen Regionen gegenüber. Die angebotsseitigen Strukturreformen der Regierung Thatcher führten zu einer extremen Deindustrialisierung und rabiat beschleunigten Tertialisierung der britischen Wirtschaft. Dieser negative Deindustrialisierungsprozess war politisch gewollt (auch um die in den Altindustrien starken Gewerkschaften zu zerstören) und die hohen sozialen Kosten wurden bewusst in Kauf genommen. Die Deindustrialisierung führte dazu, dass erstens die Industriearbeiterschaft und ganze Regionen und Städte verarmten (weil der Dienstleistungssektor die frei werdenden Arbeitskräfte nicht absorbieren konnte)463, dass zweitens die soziale wie geografische Polarisierung Großbritanniens massiv zunahm, dass drittens Tertialisierung und Entmachtung der Gewerkschaften der britischen Gesellschaft einen massiven Individualisierungs- und Entsolidarisierungsschub bescherten, der einerseits das Ende einer langen Tradition von Arbeiterstolz und organisiation und andererseits die Entstehung neuer postindustriellen Unterschichten bedeuteten, und dass viertens eine ideologisch motivierte Stadtentwicklungs- oder Regionalpolitik sich allein an ökonomischen Bedingungen ausrichtete, gewachsene soziale Strukturen zerstörte und den öffentlichen Raum privatisierte464. Obwohl zunächst nicht explizit Bestandteil der thatcheristischen Agenda465, wurde die Privatisierung von Staatsunternehmen schließlich zur Essenz des Thatcherismus. In den 1980er Jahren verkaufte die konservative Regierung öffentliches Eigentum an den Privatsektor. Öl, Elektrizität, Stahl und Wasser, British Gas, British Telecom und British Airways wurden privatisiert. Neben makroökonomischen Überlegungen wie die Begrenzung der Staatverschuldung, Wettbewerbspolitik und Strukturwandel hatte die Privatisierungspolitik, die von einer massiven Werbekampagne begeleitet wurde, auch einen explizit politischkulturellen Aspekt. Die Überführung von ehemals öffentlichen Eigentums in nunmehr privates Eigentum wurde unter den Schlagworten ‚popular capitalism’ und ‚shareholder democracy’ diskursiv als Rückgabe von Vermögen an die Bevölkerung kommuniziert. Die Privatisierungen sollten durch eine möglichst breite Streuung des Aktienbesitzes auf gesellschaftlicher Ebene zur Erhöhung der individuellen Freiheit beitragen. Margaret Thatcher selbst nannte die Privatisierungen einen Kreuzzug für einen neuen ‚Popular Capitalism’466. Claus Offe sah hinter Thatchers Privatisierungen vielmehr „Botschaften des ‚heimlichen 461
Benannt nach dem Schatzkanzler der Regierung Thatcher Nigel Lawson (1983-1989). M. Rhodes 2000b R. Munck 2004 464 Vgl. D. Kavanagh 1990 465 C. Krell 2006: 163 466 "Popular capitalism is nothing less than a crusade, to enfranchise the many in the economic life of the nation. We Conservatives are returning power to the people - that is the way to one nation, one people." M. Thatcher 1986 462 463
4.3 Output-Filter: Politische Kultur
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Lehrplans’“: Die britische Bevölkerung sollte „besser individualistisch als kollektivistisch“, besser über den Markt als über den Staat ihre ‚Erwerbs- und sonstigen Lebensinteressen verfolgen’. All dies war darauf angelegt, „den ‚kleinen Mann’ zu einem klugen Investor zu erziehen467. Die Ironie von Thatchers Kulturrevolution war, dass demonstrativer Konsum, billiger Kredit und Ausschweifungen allesamt gegen die von ihr gepriesenen viktorianischen Werte standen. Thatcher wollte den Staat verkleinern und die Menschen von staatlicher Bevormundung befreien, um Großbritannien zurück zu den alten ökonomischen Werten der harten Arbeit, des Sparens und der Selbstverantwortung zu führen468. Tatsächlich endete Thatchers Neokonservatismus allzu häufig in kurzfristigen und spekulativen Orientierungen, in ‚get what you can’-Individualismus, in Kriminalität, Drogenkonsum und Verwahrlosung oder im kreditfinanzierten und vulgären Konsumismus. Wenn man am Ende des 20. Jahrhunderts Entwicklungen und Errungenschaften des 20. Jahrhunderts rückgängig machen und radikal anti-modernistisch Werte des 19. Jahrhunderts re-installieren möchte, dann geht dies nur, wenn man sich mit einer radikal modernistischen Politik gegen gewachsene sozialen Strukturen und Traditionen richtet. Thatchers Marktradikalismus und umfassende Ökonomisierung aller Lebenswelten führte zur Zerstörung eben jener Werte, die ihr politischer Konservatismus bewahren bzw. wieder herzustellten versuchte.
New Labours kulturalisierter Post-Thatcherismus Der ‚Dritte Weg’-Diskurs New Labours muss als eine direkte Antwort auf die politische wie politisch-kulturelle Entwicklung der 1980er und 1990er Jahre in Großbritannien verstanden werden469. Als Gegendiskurs zum Thatcherismus wies New Labours Modernisierungsdiskurs eine starke kulturelle Komponente auf: Soziale Demokratie wurde fast mehr über moralische als politisch-ökonomische Argumente begründet. Verstand sich die Sozialdemokratie historisch über ihren Willen zur Regulierung und Planung von Wirtschaft und Gesellschaft immer auch als Korrekturentwurf kapitalistischer Marktlogiken, traten nun die klassischen sozialdemokratischen Politik-Instrumente wie öffentliches Eigentum, Wohlfahrtsstaat oder Re-Distribution hinter kulturellen Argumenten wie Gemeinschaft, Pflicht und Verantwortung zurück470. Die Kritik an den extremen sozialen Verwerfungen, der Exklusion und der Armut oder dem allgegenwärtigen Wettbewerbsindividualismus im Großbritannien der konservativen Regierungsjahre wurde in New-Labours wie auch in Tony Blairs Diskurs häufig eine eher moralische Erregung über die Auswüchse als eine grundsätzliche oder systemanalytische Kritik. Auch die ursprünglich kritische linke Distanz zur Kommodifikation des Alltags und zum allgegenwärtigen Konsumismus wurde aufgeben, Konsum wurde nunmehr als Erfüllung individueller Freiheiten und nicht mehr als Entfremdung beschrieben471.
467
C. Offe 1994: 348 Vgl. E.A. Reitan 1997 469 A. Giddens 1998: 27. Vgl. Kap. 3.2.2: ‚Anthony Giddens’ Idee und Konzept des „Dritten Weges“’ 470 S. Driver/ L. Martell 1999 471 L. Ray/ A. Sayer 1999 468
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4 Nationale Input- und Outputfilter
Durch diesen Pfadwechsel im Politikdiskurs der Labour Party gingen auch zentrale und kritische ‚Vokabulare’ der Sozialdemokratie verloren, die für langfristige intellektuelle wie auch imaginäre Deutungsdiskurse notwendig sind. New Labour Reformdiskurs jedenfalls war sehr stark auf den politisch-kulturellen Kontext des liberalen Wohlfahrtsmodell und eines Post-Thachterismus zugeschnitten.
4.4 Output-Filter: Mediensysteme Politische Diskurse werden heute fast ausschließlich in den Medien geführt. Massenmedien vermitteln politische Inhalte und stellen auf diese Weise eine zentrale Verbindungsinstanz zwischen Politikern und Bürgern, Staat und Gesellschaft dar. Erst Medien erzeugen eine politische Öffentlichkeit472, die wiederum notwendige Voraussetzung für alle Formen demokratischer Beteiligung und Bestandteil des demokratischen Prozesses an sich ist473. Doch wie politische Inhalte kommuniziert werden, ist entscheidend durch das Medium selbst determiniert: Zum einen durch seine Form, die Inhalte nur in einer spezifischen Weise (Bild, Text, Ton) wiedergeben kann, zum anderen durch seine Interessen, die Inhalte aus ideologischen, ökonomischen oder sonstigen Gründen nicht wiedergeben will. In soziokulturell komplexen, heterogenen und technologisch avancierten Gesellschaften überlagern sich unterschiedliche Formen und Interessen moderner Massenmedien auf vielfältige Weise. Die in einem öffentlichen Reformdiskurs zu kommunizierenden Ideen, Argumente und Werte werden also über Medien an die Bevölkerung vermittelt und gefiltert. Dabei darf die mediale Filterung politischer Inhalte durch äußerst komplexe nationale Medienlandschaften nicht etwa als ein konzertierter, bewusster und aktiver, gezielter oder gar politisch motivierter Akt verstanden werden. Filterung bedeutet hier vielmehr, dass unterschiedliche Medien in ihrer Eigenlogik nur bis zu einem gewissen Grad politische Diskurse authentisch abbilden können. Denn ‚Inhalt’ ist in Medien auf das Medienformat und vor allen auf die Rezipienten bezogen, so dass ein wie auch immer gearteter Inhalt medienadäquat dargestellt, übersetzt, vermittelt und inszeniert werden muss. Gleichwohl braucht das Politische Medien zur Darstellung seiner Tätigkeit (ob Kirchenfenster, Tafelbild474 oder Fernseh-LiveBerichterstattung). Ferner kann es einen politischen Diskurs nur in und mit einer Öffentlichkeit geben, die sich – zumindest ab einer bestimmten Größe – erst durch Massenmedien konstituieren kann. Demokratische Politik, die ihr Handeln vor der Öffentlichkeit legitimieren muss, ist somit auf Medien in doppelter Weise angewiesen: Zum einen stellen die sich zu einer Öffentlichkeit verdichteten Medien einen Kommunikationsraum dar, in dem sich Meinung bildet und artikuliert und der auf diese Weise eine notwendige gesellschaftliche Kontrollinstanz zur staatlichen Macht darstellt, zum anderen bedarf es eben dieser Medien, um mit dieser Öffentlichkeit, mit den Wählern überhaupt in einen Policy-legitimatorischen Dialog treten zu können. Medien wiederum brauchen – um ihrer eigenen Existenz willen – ihrerseits Inhalte, die sie transportieren können. Aus diesem Grund gibt es zwischen Politik
472 473 474
J. Schiewe 2004 O. Jarren/ P. Donges 2002 K. von Beyme 1998; H. Münkler 1994
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
161
und Medien ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis oder symbiotisches Verhältnis475. In welchem Maße Massenmedien die politische Realität abbilden oder eher konstruieren, ist an dieser Stelle erst einmal eine untergeordnete und allenfalls erkenntnistheoretische Frage. Entscheidend ist vielmehr, dass sich politische und mediale Realität überlagern und gegenseitig bedingen. Die Beziehung zwischen Politik und Medien wird jedoch in eben dem Moment demokratietheoretisch bedeutsam, in dem sich das Gleichgewicht zwischen politischer und medialer Realität verschiebt, die mediale Funktionslogik die politische dominiert, das mediale dem politischen Subsystem Verhaltensweisen oktroyiert und sich die Abhängigkeit der politischen Akteure und Institutionen von den Medien einseitig vergrößert. All diese Phänomene sind in den letzten Jahren zusammenfassend mit den Begriffen ‚Mediendemokratie’ oder ‚Mediengesellschaft’ beschrieben worden. Der Publizistikwissenschaftler Ulrich Saxer definiert die Mediengesellschaft „als (...) ein hochkomplexer Typ von moderner, funktional differenzierter Gesellschaft, der von Medialisierung durch und durch geprägt wird. Deren gesellschaftliches Gestaltungsvermögen gründet in der Ausdifferenzierung des Elements der Medialität in Kommunikationsprozessen und der Emanzipation der Mediensysteme aus institutionellen Bindungen. Medialisierung interveniert über Kommunikation eufunktional oder dysfunktional, stabilisierend oder labilisierend, jedenfalls multifunktional, und zwar bei Komplexitäts- oder Kontingenzproblemen, aber mit Auswirkungen auf die Lösungen im Gesamtbereich der elementaren Probleme in Adaption, Zielrealisierung, Integration und Identitätskonstruktion. Als Totalphänomen operiert sie auf der Mikro-, Meso- und Makroebene, durchwirkt also Interaktions-, Organisations- und Funktionssysteme, das Institutionengefüge wie die Lebenswelt und entgrenzt und durchmischt vormals definierte Sinn- und Sozialphären und -konstellationen“476.
Die treibende Kraft hinter dieser Medialisierung ist das Fernsehen, das als Leitmedium die gesellschaftliche Verständigung über gemeinsame Werte und eine gültige Realität durch die Schaffung verbindlicher kollektiver Wahrnehmungs- und Erkenntnismuster determiniert477. Das Fernsehen ist ferner das Medium, das in den letzten Jahrzehnten den kommerziellen Markt- und Inszenierungsdruck aller Medien massiv vorangetrieben hat. So zeigt sich eine generelle Tendenz in Richtung einer transnationalen „progression of commercial media logic and associated forms of promotional, mediatized political communication“478. Wie das in einem öffentlichen Reformdiskurs Gesagte in der Bevölkerung wahrgenommen wird, bestimmt sich zweifellos durch die Medien, die die jeweiligen Ideen, Werte und Argumente ‚weiterkommunizieren’. Seit langem untersucht die Politische Kommunikationsforschung sowohl theoretisch als auch empirisch vergleichend, wie sich die Kommunikation politischer Inhalte in jeweils gegebenen Mediengesellschaften ausgestaltet, mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert und welchen Veränderungen sie unterworfen ist479. Obwohl sich öffentliche Reformdiskurse in massenmedial strukturierten Öffentlichkeiten politisch zu artikulieren haben, reicht der öffentliche Diskurs über die politische Kommunikation hinaus. 475
U. Sarcinelli 1987: 217 U. Saxer 2007: 26f. 477 J. Bleicher 1999: 70 478 S. Moog/ J. Sluyter-Beltrao 2001: 48 479 Zum Forschungsstand vgl. u. a. K. Imhof/ R. Blum/ H. Bonfadelli/ O. Jarren 2004; O. Jarren/ U. Sarcinelli/ U. Saxer 1998; U. Sarcinelli 1998; F. Esser/ B. Pfetsch 2003 476
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4 Nationale Input- und Outputfilter
Erstens umfassen öffentliche Diskurse eine Vielzahl von Werten, Vorstellungen und Sinnkonstruktionen, die sich einem vorpolitischen Raum konstituieren480. Zweitens spiegeln öffentliche Diskurse die Gesamtheit politischer Kommunikation wider; zugleich sind sie – da sie ihrerseits Inhalt und Form einzelner politischen Äußerungen prägen – ‚mehr als die Summe’ politischer Kommunikation in einem Gemeinwesen. In der Betrachtung der Filterwirkung nationaler Mediensysteme auf öffentliche Reformdiskurse ergeben sich für die hier vorgenommene Fragestellung folgende AnalyseDimensionen:
Mediensystem und Reformdiskurs, Mediensystem und sozialdemokratischer Diskurs, Mediensystem und sozialdemokratischer Reformdiskurs.
Welcher Reformdiskurs ist in den gegebenen Mediensystemen möglich? Hier geht es um die Frage, welche rationale und sachliche, mitunter komplexe Argumentation im Hinblick auf die Reformzwänge und Reform-Policies kommuniziert werden kann. Welcher sozialdemokratische Diskurs? Hier geht es um die Frage nach dem möglichen Widerhall sozialdemokratischer Grundwerte, Ideen oder gar Visionen in der jeweiligen medialen Öffentlichkeit. Und schließlich: Welcher sozialdemokratische Reformdiskurs? Hier geht es um die Frage, ob sich aus der Erkenntnis der Reformnotwendigkeit auch eine Präferenz für eine sozialdemokratische Reformrichtung in den Mediensystemen entfalten kann. Ebenso wie bei der politischen Kultur, muss auch die Analyse sozialdemokratischer Reformdiskurse in ihren jeweiligen Medienkontexten die gemeinsamen Veränderungen des Politischen im Zuge der Medialisierung der letzten Jahrzehnte von den stabilen Unterschieden gewachsener Medienkulturen unterscheiden. So müssen sich alle sozialdemokratischen Politikdiskurse gleichermaßen in zunehmend fragmentierten, (fernseh)bildgetriebenen und mitunter zynischen Medienlandschaften behaupten. Dennoch haben sich Mediengesellschaften auf unterschiedlichen länder- und kulturspezifischen Entwicklungspfaden ausgeprägt, so dass sie unterschiedliche Voraussetzungen für qualitativ anspruchsvolle Reformdiskurse oder unterscheidliche Bedingungen für deliberative Politikprozesse bereitstellen.
4.4.1 Medien und politische Öffentlichkeiten im Wandel In allen modernen (und z.T. auch vormodernen) Gesellschaften konturiert heute eine weitreichende Medialisierung fast alle kommunikativen Handlungsmöglichkeiten. Dies wirkt sich sowohl auf ehemals ideologisch ausgerichtete und sozialstrukturell verankerte Massenparteien im Speziellen, die sich zunehmend in professionalisierte Kommunikationsnetzwerke verwandeln, wie auch auf die repräsentative Demokratie im Allgemeinen aus, die heute von einem zunehmend volantilen und unberechenbaren Wählerpublikum geprägt ist. Mediokratie 480
Vgl. u. a. A. Dörner 2000
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
163
Wie die gesellschaftliche Medienzentrierung, der sich Institutionen und Praktiken der Politik immer stärker anpassen müssen, die Qualität und Substanz der liberalen Demokratie selbst verändert hat, erfasst Thomas Meyers Untersuchung der ‚Mediokratie’481 besonders gut. Darin wird analysiert, dass durch die Dominanz der Medien sich auch die Funktionsweisen des Politischen selbst dramatisch verändert haben; die Politik wurde förmlich kolonisiert. In dem Maße, in dem das Publikum über größte Autonomie in Bezug auf die einzelnen Medien verfügt482 und sich von politischer Kommunikation auch vollständig abkoppeln kann, unterwirft sich die Politik den Regeln der Medien, um auf diesem Weg Kontrolle über die Öffentlichkeit zu gewinnen. Selbstmediatisierung wird zu einer zentralen Strategie politischen Handelns in der Mediengesellschaft. Während in der Parteiendemokratie noch die Medien die Parteien beobachteten, beobachten in der Mediokratie nun die Parteien die Medien, um sich ihnen anzupassen und medienadäquat zu präsentieren. Kernphänomen des Mediokratisierungsprozesses ist die Übertragung einer medialen Funktionslogik auf das Politische, die der politischen Eigenlogik bis zu einem gewissen Grad widerspricht. Erstens folgen Medien einer Selektionslogik, die in der Auswahl berichtenswerter Ereignisse nach Maßgabe ihrer Nachrichtenwerte besteht. Was Nachrichten allerdings zu Nachrichten macht, ist ihre medial vermittelte Aufmerksamkeitserregung, die wiederum meist auf Sensation, Skandalisierung, vor allem Negativismus oder auch auf Unwichtigem und Nebensächlichem gründet. Zweitens folgen Medien einer Präsentationslogik, wonach Inhalte attraktiv inszeniert werden. Mediale Ästhetisierung und Unterhaltung483, Ereignis und Dramatisierung von Nachrichten dienen der Maximierung eines anhaltenden Publikumsinteresses484. Eine schwer ‚ins Bild zu setzende’ Komplexität widerspricht notwendig diesen Formen der Präsentation. Drittens weisen Medien eine eigene Zeitlogik auf. Die Eigenart von Medienprodukten besteht in ihrem Neuigkeitswert. Neuigkeitsereignisse können allerdings nur als abgeschlossene Ereignisse mit überschaubarem Anfang und Ende medial verwertet werden. Gepaart mit der extrem kurzen medialen Produktionszeit – vor allem des Fernsehens – gerät die mediale Zeitlogik in Widerspruch zur Prozesszeit des Politischen, das seiner konstitutiven Eigenart entsprechend zum Großteil aus langwierigen, langen Verhandlungen und unabgeschlossenen Ereignissen besteht. Wenn sich die Politik an medialen Prozesszeiten ausrichtet, geraten deliberative Prozesse unter Zeitdruck. Doch gerade die ausgedehnte Prozessdauer selbst ist eine der wichtigsten Erfolgsbedingungen politischer Praxis. Dieser Prozess wird durch die kommerzielle Eigendynamik des privaten Mediensystems nochmals verstärkt. Die außerordentliche Bedeutung von Marktanteilen und Quoten für die Einnahmen privater Medien wirkt in Richtung einer radikalen Zuspitzung ihrer Inszenierungsleistungen und der Selbstbeschränkung auf publikumsattraktive Sendeangebote. Mit Blick auf die ausschließlich auf Quoten fixierte Produktionslogik amerikanischer Fernsehprogramme merkt beispielsweise Thomas Patterson an, dass die Qualität politischer Berichterstattung notwendig darunter leide, da „the chief goal of media is not to foster a free market place of ideas, but rather to attract and hold large audiences for advertisers“485. 481
T. Meyer 2001c J.G. Blumler/ D. Kavanagh 1999 483 A. Dörner 2001 484 T. Meyer 2001c: 104ff., 111ff.; T. Meyer/ R. Ontrup/ C. Schicha 2000 485 T. Patterson 2000 482
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4 Nationale Input- und Outputfilter
In einem ‚Market-driven journalism’ werden – wie der Medienkritiker Leo Bogart sehr pointiert formuliert – nicht nur Informations- und Kommunikationsbedürfnisse bedient, sondern auch wie Verbrauchsgüter gezielt geweckt; auf diese Weise vollzieht sich ein Prozess weg von der Information hin zur fiktionalen Unterhaltung. Journalisten werden zu Superstars der Unterhaltungsbranche, das Publikum zu Konsumenten der Unterhaltungsindustrie486. In den privaten Sendeanstalten und Boulevard-Printmedien drängt – auch zunehmend in Europa – infolge dieser kommerziellen Verwertungskultur ein Journalistentyp nach vorn, dessen Schlüsselqualifikation in der Fähigkeit besteht, attraktive Medienprodukte zu inszenieren, ohne Rücksicht auf die Sache und ihre inhaltlichen Ansprüche.
Amerikanisierung, Globalisierung Modernisierung, Säkularisierung Die Veränderungen der politischen Berichterstattung im Zuge ihrer Kommerzialisierung und die darauf reagierende veränderte Außenkommunikation der Parteien487 überall in Europa, ist in den letzten Jahren häufig als ‚Amerikanisierung’ bezeichnet worden488. Damit sind Aufmerksamkeitsstrategien in einem kommerziellen medialen Vielkanalkontext gemeint – als welcher der amerikanische gemeinhin beschrieben wird –, denen sich sowohl die Medien als auch die politischen Akteure permanent strategisch anpassen müssen489. Dies führt zu ‚Pseudo-Ereignissen’490 und ‚symbolischer Politik’491; Konzepte der politischen Akteure, den Massenmedien kommunikative Angebote zu unterbreiten, die in Form und zum Teil auch im Inhalt mediale Auswahlbedingungen bereits antizipieren492. Die Medien ihrerseits versuchen, politische Inhalte durch Visualisierungsstrategien, Inszenierung und Personalisierung ‚interessant’ zu machen. Politik wird primär zum ‚Spiel zwischen Personen’, Berichterstattung ist eher strategiebezogen als politikbezogen493, Dramaturgie (‚horse race journalism’, Umfragedaten und spekulative Kommentierung demoskopischer Datensplitter und Koalitionskonstellationen) erhöht den Unterhaltungscharakter, Negativismus (Affären, Skandale und Fehlleistungen) und ein unverkennbarer elitenkritischer Tenor entsprechen redaktionellen Nachrichtenwerten494. Diese Form der Präsentation politischer Inhalte ist jedoch logisch in einer Beschleunigungsspirale gefangen. Die Fragmentierung der Fernsehangebote, immer raschere Nachrichtenzyklen (news cycles) und ein verschärfter Wettbewerb zwischen den Fernsehanstalten um ‚Breaking News’ führen zu Sehgewohnheiten, die in den USA als ‚Event driven News Consumption’ bezeichnet werden. Eine Mehrheit des Fernsehpublikums verfolgt nationale und internationale Nachrichten nur dann, wenn über einschneidende, besonders dramatische, bedrohliche oder spektakuläre Ereignisabläufe berichtet wird495. Dies erzeugt 486
L. Bogart 1995 O. Niedermayer 2000: 196 488 J.G. Blumler/ M. Gurevitch, Michael 1995: 77. „American-style ‚video-politics’ seems to emerged as something of a role model for political communicators in other liberal democracies“. 489 R. Entman 1989 490 D.J. Boorstin 1992 491 U. Sarcinelli 1987 492 P. Maier/ W.C. Müller/ F. Plasser 1999 493 T. Patterson 2002 494 J.N. Capella/ K. Hall Jamieson 1997 495 F. Plasser 2003: 257f. 487
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
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auf Seiten der politischen Parteien, Kandidaten und Kommunikationsmanager Anpassungsreaktionen, sich mediengerecht zu inszenieren oder Bilder und Themen gar zu manipulieren, was wiederum die Tendenzen einer hyper-reflexiven politischen Berichterstattung weiter verstärkt496. Da die USA vor dreißig Jahren fast das einzige industrialisierte Land mit einem rein kommerziellen Rundfunksystem waren, wurden die Wandlungsprozesse der Mediengesellschaft als Anpassungsprozesse an das US-amerikanische Modell eines privatwirtschaftlich organisierten Mediensystems beschrieben. Die ‚Amerikanisierungsthese’ übersah allerdings, dass das amerikanische Modell seinerseits einem erheblichen Wandlungsdruck unterworfen war, der sich aus gesellschaftskulturellen und technologischen Veränderungen wie auch aus Interaktionen mit anderen Ländern und Kulturen ergab. Die ‚Globalisierung’ der nationalen Mediensysteme, die sich eher durch Interdependenz zwischen verschiedenen Ländern und Kommunikationssystemen als durch Konvergenz auf ein einziges nationales Modell auszeichnet, scheint die weltweite Angleichung der Mediensysteme besser zu beschreiben. Dies vor allem, weil in diesem Erklärungsansatz neben den externen auch interne Wandlungsprozesse der nationalen Mediengesellschaften miteinbezogen werden. Eine vermeintliche Angleichung der europäischen Mediensysteme und Öffentlichkeiten an das amerikanische oder ein globales Modell wäre demnach nur möglich, weil zuvor sozioökonomische und -kulturelle Veränderungen sowie eine anwachsende Interkulturalität die Voraussetzungen geschaffen haben, sich äußeren Einflüssen zu öffnen. Der Begriff ‚Modernisierung’ leitet die Veränderung der Politischen Kommunikation noch stärker von inneren Wandlungsprozessen ab. Der Modernisierungsansatz betont, dass sich Individualismus zwingend auf Kosten organisierter sozialen Gruppen, Milieus oder Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, Kirchen) durchsetzt, zu denen die Menschen früher enge soziale Bindungen und ideologische Loyalitäten unterhielten497. Im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung, funktionaler Ausdifferenzierung von Leistungsanforderungen und Identitäten ist es auch zu einer Transformation des politischen Lebens gekommen; Parteien, Gewerkschaften, Kirchen sind heute nicht mehr in der Lage, Gemeinschaft zu stiften und eine politische und mediale Ordnung zu strukturieren. Persönliche Bindungen werden zugunsten themenbezogener kurzfristiger Unterstützungsmotive und Betroffenheitssurrogate zurückgedrängt. Der Modernisierungsansatz erklärt die Veränderungen der politischen Kommunikation eher über die Nachfrageseite; die Medien sind – auch jenseits einer reinen Marktlogik – eben jene, die eine fragmentierte, individualistische Gesellschaft nachfragt. Je stärker sich eine Gesellschaft individualisiert, desto mehr übernehmen Massenmedien die Kommunikation von Realitätskonstruktionen498, je stärker sich die Gesellschaft ausdifferenziert, desto stärker differenziert sich das Medienangebot aus. Dabei ist das Fernsehen schon längst nicht mehr das unangefochtene Leitmedium. Alternative Medienangebote wie YouTube, Twitter, Flickr, Facebook etc. und Medienanwendungen wie Skype, Blogs, Chats, Podcasting, Foren laufen den etablierten Medien von Zeitung bis Fernsehen zunehmend den Rang ab. 496 497 498
S. Moog/ J. Sluyter-Beltrano 2001; F. Esser/ C. Reinemann/ D. Fan 2001 P. Mancini/ D.L. Swanson 1996 N. Luhmann 1996: 188
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Zugleich ist der Begriff ‚Modernisierung’ problematisch, da er impliziert, dass der Wandel der Medien ein natürlicher und gradliniger Fortschritt sei. Dies würde bedeuten, dass die neuen Formen der politischen Kommunikation politisch alternativlos und das notwendige Ergebnis eines natürlichen Prozesses seien und Parteien wie politische Akteure darauf nur mit der Anpassung ihrer Kommunikationsformen und demokratischen Verfahrensweisen reagieren könnten. Zwar erklärt der Modernisierungsansatz die Dynamik der medialen Differenzierung und deren gesellschaftliche und kulturelle Voraussetzungen, doch warum in diesem Entwicklungsprozess das politische Subsystem die eigene Autonomie seiner Handlungslogik einer verbindlichen gesellschaftlichen Steuerung aufgab, um sich so stark der zunehmend autonomen Handlungslogik des medialen Subsystems unterzuordnen, bleibt offen.
4.4.2 Der politische Diskurs in zersplitterten Medienwelten und anti-hegemonialen Öffentlichkeiten Welche legitimierende Rolle der öffentliche Diskurs im jeweiligen politischen Reformprozess spielt, hängt maßgeblich davon ab, wie viel ‚öffentlichen Raum’ er bespielen kann. Mit dem Verweis auf einen öffentlichen Raum oder eine öffentliche Arena soll deutlich gemacht werden, dass ein öffentlicher Diskurs zu seiner Entfaltung bestimmter qualitativer Voraussetzungen bedarf. Ein Reform- oder auch Anwendungsdiskurs unterscheidet sich qualitativ und strukturell von reiner politischer Kommunikation darin, dass der Diskurs
erstens komplex (er umfasst meist mehrere Politikfelder und weist zudem über die reinen Policies hinaus), zweitens rationalisierend (er fügt auf gleichzeitig mehreren Ebenen normative und praktische Argumente zusammen), drittens langwierig (von Reformzwängen bis zu der Erarbeitung und schließlich Implementierung von Reformlösungen liegen große Zeitspannen) und viertens dialogisch (ein Diskurs ist weniger Verlautbarung als viel mehr Beratung und Verständigung) ist.
Eine funktionierende Öffentlichkeit und ihre entsprechenden Diskurse sind an sich bereits Grundbedingung der liberalen Demokratie, da sie den Bürgern vollständige und authentische Informationen über politische Sachverhalte bereitstellen und ihnen somit eine Entscheidungsbeteiligung ermöglichen. In Reformphasen, in denen die politische Routine verlassen wird, die Bevölkerung zum Teil schmerzhafte Veränderungen hinnehmen muss und der demokratische Prozess unter Stress steht, steigt der Bedarf an hochwertiger Information ebenso wie an Prozeduren der öffentlichen Deliberation und Verständigung zusätzlich. In der Betrachtung sozialdemokratischer Reformdiskurse geht es um Frage, inwieweit ein komplexer, rationalisierender, langwieriger und dialogischer Reformdiskurs unter den Bedingungen der Mediokratie überhaupt noch möglich ist. Zugleich behindert die Zersplitterung der Medienlandschaft, die eine gewisse politisch-mediale Gleichzeitigkeit beendet, die politische Wirksamkeit des öffentlichen Diskurses. Denn so sehr der Pluralismus Voraussetzung einer demokratischen Öffentlichkeit ist,
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
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so problematisch ist eine zu pluralistische Öffentlichkeit, in der sich in letzter Konsequenz unterschiedliche Teilöffentlichkeiten berührungs- und interesselos gegenüberstehen. Vor allem das private Fernsehen hat den Desintegrationsprozess bestimmter gesellschaftlicher Milieus aus einer ‚gemeinsamen’ Öffentlichkeit beschleunigt. Da aber Öffentlichkeit ein wichtiges Instrument der Beeinflussung politischer Entscheidung ist, bedeutet ihre Fragmentierung, dass sich erstens Meinungen neutralisieren und diskursives Handeln kaum mehr möglich499 ist und zweitens Öffentlichkeit als wichtige gesellschaftliche Inklusionsform500 verschwindet. Die Zersplitterung der Medienlandschaft bedeutet aber auch, dass sich Teilöffentlichkeiten in ihre jeweiligen Nischen zurückziehen und somit politische Akteure gar nicht mehr den Versuch unternehmen, politische Ideen oder Vorstellungen zu entwickeln, die gleichermaßen Diskurshegemonie erlangen als auch als Leitmotiv praktischer Politik fungieren können. Doch die Stärke eines öffentlichen Diskurses resultiert aus der Überzeugungskraft und Inspiration seiner Ideen. Wenn also Parteien und Regierungen versuchen, einen öffentlichen Diskurs durch politisches Marketing und Public Relation zu ersetzen, also Ideen vor allem zielgruppenorientiert auf heterogener werdenden Wählermärkten zu kommunizieren, dann ist politische Entfremdung und Politikverdrossenheit sehr wahrscheinlich (sowohl bei denen, die gezielt angesprochen werden sollen, da diese ohnehin schon Marketingobjekt wirtschaftlicher Interessen sind und rhetorischen Anbiederungen zunehmend gelangweilt und zynisch gegenüber stehen, als auch bei denen, die politisch und kommunikativ zurückgelassen werden, da diese sich desillusioniert und verbittert durch die Politik bzw. das politische System nicht vertreten fühlen).
Normative Voraussetzungen vs. mediale Begrenzungen des Diskurses Betrachtet man den öffentlichen Diskurs als notwendiges Instrument der Legitimation politischer Entscheidungen und hält somit an der demokratischen Idee öffentlicher Diskursivität fest, dann gilt es notwendig einen idealen Diskursprozess zu bestimmen, der diesen funktionalen wie normativen Ansprüchen gerecht wird. Die Legitimität politischer Entscheidungen beruht auf deren Anbindung an öffentlich artikulierte, im Diskurs zustande gekommene Meinungen. Die entscheidende Frage ist, wie der Diskurs selbst strukturiert sein muss, damit er seine demokratische Funktion auch erfüllen kann. Jürgen Habermas hat in seiner Diskursethik einen Rahmen aus Diskursnormen beschrieben, innerhalb dessen wahrhaftige Erkenntnisse und Ergebnisse einer gleichberechtigten Kommunikation möglich sind. Ein Diskurs als Prozess einer Aushandlung von individuellen Geltungsansprüchen einzelner Akteure ist jedoch – so Habermas – ohne diskursermöglichende Prinzipien der Willens-, Handlungsund Meinungsfreiheit undenkbar. In einer idealen ‚unbegrenzten und unverzerrten Kommunikationsgemeinschaft’ müssen sich alle Äußerungen, sofern sie einen Hörer finden, implizit jederzeit auf eine Infragestellung und damit diskursive Überprüfung ihres Wahrheitsgehaltes gefasst machen501. Eine solche diskursive Überprüfung geschieht dann vor 499 500 501
J. Gerhards 1998 T. Bonacker 2000 J. Habermas 1988: 147
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dem informierten Publikum, welches die Position eines ‚verallgemeinerten Anderen’ vertritt. Dieser Aushandlungsprozess vollzieht sich in einem ‚herrschaftsfreien Diskurs’ über eine der Kommunikation eingeschriebene Rationalität502: Ausschließlich das bessere Argument zählt. Denn nach Habermas sind die Ergebnisse diskursiver Verständigung – wenn sie frei ist von Verzerrungen durch Macht, Interessen oder Hierarchien – zwangsläufig rational. Die Diskursteilnehmer befinden sich in einer ‚idealen Sprechsituation’, d. h. sie haben alle die gleichen Chancen, ‚Sprechakte zu wählen und auszuüben’. Damit ein Diskurs in dieser Weise geführt werden kann, braucht es eine Öffentlichkeit, die idealtypisch drei Bedingungen erfüllen muss: Die Öffentlichkeit muss erstens den offenen und gleichberechtigten Zugang zum öffentlichen Diskurs für alle gesellschaftlichen Gruppen sowie für alle Themen von kollektiver Bedeutung gewährleisten. In der Öffentlichkeit muss zweitens das Prinzip der Diskursivität gelten, d.h. ein Prozess der vernünftigen Begründung (Validierungsfähigkeit) und kooperativen Wahrheitssuche. In der Öffentlichkeit muss schließlich drittens der Diskurs frei von äußeren Zwängen (auch Zeitdruck, Handlungsdruck) geführt werden. Die Öffentlichkeit übernimmt viertens eine Legitimationsfunktion für die Politik. Entscheidungen der politischen Eliten müssen sich im öffentlichen Diskurs legitimieren. Die Öffentlichkeit ist zugleich immer schon das Ergebnis eines Normendiskurses. Die Legitimationsfunktion der Öffentlichkeit ist somit kein abgeschlossener, sondern ein sich ständig erneuernder Prozess503. Dieser Idealtypus eines öffentlichen Diskurses liegt natürlich im Bereich des Utopischen. Habermas selbst bezeichnet sein Diskursmodell auch als methodische Fiktion504. Auch stellen sich theorieimmanente Fragen, z. B. ob ein interessenloser Diskurs und konsensuelle Entscheidungsfindungen möglich bzw. demokratietheoretisch überhaupt wünschenswert seien505 oder ob eine Rationalitätszentrierung all zu sehr von gesellschaftlichem Pluralismus und Differenz abstrahiere. Jenseits dieser Einwände dient der Geltungsanspruch eines Idealmodells jedoch als Bewertungsmaßstab für eine Annäherung an ideale Diskursbedingungen. Vor allem wirken die normativen Ansprüche, die sich im Idealmodell der Öffentlichkeit formulieren, als analytische Bezugspunkte einer empirischen und reflexiven Öffentlichkeitsforschung, die die Veränderungen einer massenmedial hergestellten Öffentlichkeit nicht allein deskriptiv, sondern auch normativ und kritisch beschreibt. Denn vor dem Hintergrund des Strukturwandels der Öffentlichkeit verändern sich die Bedingungen, unter denen ein öffentlicher Diskurs geführt werden kann. Die zunehmende Kommerzialisierung der Massenmedien, die wie andere Wirtschaftsunternehmen auch dem Profit verpflichtet sind, verstärkt die Tendenz zur ‚Verwandlung der Öffentlichkeit in ein Medium der Werbung’506. Politische Kommunikation, die in einer massenmedial hergestellten Öffentlichkeit Aufmerksamkeit für ihre Themen zu gewinnen versucht, gleicht sich stilistisch der Werbung für Konsumgüter aller Art an, indem sie die ursprünglichen Dis-
502
J. Habermas 1988: 128, 198ff. J. Habermas 1988, 1991 504 J. Gerhards 1997: 8 505 E. Laclau/ C. Mouffe 2001 506 J. Habermas 1996: 284f. 503
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kursfunktionen der Öffentlichkeit in die Konkurrenzbeziehungen organisierter (Privat)Interessen überführt. Public relations – die bewusste Vermischung von Politik und Reklame zur Inszenierung von Wirklichkeit – ist strategische Kommunikation von Individuen oder Gruppen zum Zweck der Durchsetzung partikularer Interessen. Auf diese Weise gelangt man vom Interesse an öffentlichen Angelegenheiten zur mediatisierten und hysterisierten Nachrichtenerregung, von der räsonierenden bürgerlichen Öffentlichkeit zum politvoyeuristischen Publikum, vom Diskurs zum Anti-Diskurs und von der demokratischen zurück zu einer oligarchischen Öffentlichkeit507.
Normative Voraussetzungen und sozialdemokratische Diskurse In der Analyse sozialdemokratischer Reformdiskurse in den 1990er und 2000er Jahren dürfen die hier skizzierten normativen Voraussetzungen für einen öffentlichen Diskurs natürlich nicht überbewertet werden, da einerseits Form und Inhalt realer Reformdiskurse jenseits idealer Bedingungen durch eine Vielzahl weiterer ökonomischer, kultureller und technologischer Faktoren determiniert sind, die sich dem theoretischen Modell aufgrund ihrer Komplexität, Offenheit und Heterogenität bis zu einem gewissen Grad entziehen und vor allem da andererseits sozialdemokratische Diskurse hier als kommunikative Machtressource zur Durchsetzung eigener Ziele verstanden werden, also als eben jene interessengeleiteten Durchsetzungsdiskurse, die Habermas als Störung einer idealtypischen Öffentlichkeit bestimmt (hier muss also sehr klar zwischen der theoretischen Vogelperspektive und dem akteurspolitischen Eingebundensein in Diskursstrukturen unterschieden werden). Die Analyse sozialdemokratischer Diskurse kann jedoch den normativen Aspekt öffentlicher Diskursivität auch nicht gänzlich außer Acht lassen, da erstens auch jede reale Diskursführung von normativen (Selbst)Beschränkungen bestimmt ist (z. B. die Norm auf populistische Hetze, Sündenböcke oder Pressezensur zu verzichten) und da zweitens ein sozialdemokratischer Diskurs zur Durchsetzung von Reform-Policies nicht von programmatischen Grundwerten abgekoppelt ist, die wiederum eine offene, inklusive, gleichberechtigte, symmetrische und informierte Öffentlichkeit als normativen Bestandteil des sozialdemokratischen Handlungsentwurfs bestimmen. Ein sozialdemokratischer Reformdiskurs darf also nicht allein danach bewertet werden, ob er sich zur kommunikativen Durchsetzung seiner Ziele optimal an veränderte Medienlandschaften anpasst, sondern auch ob diese Anpassung mitunter auf Kosten seines inhaltlichen und programmatischen Gehalts oder auch ganz allgemein der demokratischen Prinzipien der Selbststeuerung vollzogen wurde. Hier geht es um die Frage nach dem qualitativen Ort und Inhalt des öffentlichen Diskurses: Erstens: Vergrößert oder verkleinert die Art der öffentlichen Diskursführung die demokratisch-zivilgesellschaftliche Sphäre rationaler diskursiver Auseinandersetzung? Es ist erstaunlich, wie ignorant, hilflos und affirmativ die Parteien der letzten zwanzig Jahre auf ihren eigenen Bedeutungsverlust reagiert haben und wie unreflektiert sie sich dabei an die Gesetze der Mediengesellschaft anzupassen suchten, was ihren Bedeutungsverlust letztlich 507
J. Habermas 1996: 290ff.
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4 Nationale Input- und Outputfilter
noch verstärkte508. Denn die Modernisierung der politischen Kommunikation – Professionalisierung der Public Relation, ‚going-public’ oder Demoskopiefixierung – wurde von den Parteien nicht als selbstbewusste und dabei medienkritische Neuausrichtung unterschiedlicher Kommunikationsinstrumente vollzogen, sondern als eine einseitige Anpassung an die Medienlogik. Dadurch haben die Parteien ihre spezielle Fähigkeit verloren, die ‚großen Fragen’ der Zeit diskursiv zu bestimmen und in ihrem Sinne programmatisch zu beantworten. Die gegenwärtige Dominanz der Medienlogik hat zudem das politische System in gewisser Weise post-demokratisiert, da sich ein großer Teil der Bürger nunmehr mit der Rolle als manipulierter, passiver Teilnehmer begnügen muss509. In der Mediokratie verlieren die Parteien zunehmend die Zentralfunktionen, die ihre besondere Stellung in der Demokratie begründen, während gleichzeitig die Identifizierbarkeit der Parteien mit glaubwürdigen Leitideen dramatisch abnimmt510. Zugleich wachsen Politik- und Parteienverdrossenheit, Zynismus, populistische Anti-Establishment-Haltungen sowie politische Apathie. Das Paradox der Politikverdrossenheit in der Mediendemokratie liegt darin, dass sich die Distanz zwischen Politiker und Wähler vergrößert, obwohl die Politiker ihre Positionen und Rhetoriken immer stärker an der vermuteten Meinung des Median-Wähers ausrichten, ja ihr förmlich hinterherrennen. Aus Angst vor der Eskalationslogik des Medienskandals vermeiden Politiker einen eigenwilligen, profilierten und herausfordernden Diskurs. Doch diese Anbiederung, Austauschbarkeit und Profillosigkeit der politischen Kommunikation verstärkt wiederum die Verdrossenheit. Zweitens: Kann sich ein originärer sozialdemokratischer Diskurs vom medialen Hintergrund absetzen? Sozialdemokratische Grundwerte waren immer mit der Idee einer funktionierenden Öffentlichkeit verbunden, weil diese als wesentliche Voraussetzungen für alle übrigen Politiken betrachtet wurde. Sozialdemokraten haben im 19. und 20. Jahrhundert dafür gekämpft, den einfachen Bürgern eine Öffentlichkeit, eine Bühne für ihre politischen Angelegenheiten zu verschaffen511. Denn nur in einem inklusiven und emanzipierenden Mediensystem können gerechtigkeitsorientierte Diskurse überhaupt geführt werden, während in einer geschlossenen, boulevardisierten oder segmentierten Öffentlichkeit und entsprechenden oligopolisierten Medienmärkten eine freie und mündige Meinungs- und Willensbildung der Bürger theoretisch wie praktisch kaum mehr möglich ist. In diesen Zusammenhang gehört z.B, dass sich die sozialdemokratisch geführte Regierung Helmut Schmidt in den 1970er Jahren noch ‚trickreich’ gegen die Kommerzialisierung des öffentlichen Guts ‚Rundfunk und Fernsehen’ behaupten konnte512 und sich die schwedischen Sozialdemokraten sogar bis in die 1990er Jahre gegen werbefinanzierte Rundfunk- und Fernsehprogramme stemmten513. Aus einer solchen kritischen und teilweise auch abgrenzenden Haltung gegenüber unterschiedlichen Medien(formen) ließ sich ein kohärenter Politikdiskurs formulieren, in dem sozialdemokratische Programmatik, Policies, politische Kommunikation und der mediale Ort, an dem diese Botschaften kommuniziert wurden, eine logi508
H. Kleinert 2007 C. Crouch 2008: 33 510 Die Mediendemokratie gründet auf einem strukturellen Populismus, der sich als Dauerversuchung populistischer Politikinszenierung zu einer fundamentalen Gefahr für die politische Kultur der Demokratie ausprägen kann. Vgl. auch T. Meyer 2006 511 So ist zum Beispiel im 19. Jahrhundert eine komplexe sozialdemokratische Parteipresse entstanden, auch um die Themen und Fragen zu erörtern, die in der damaligen bürgerlichen Presse kaum behandelt wurden. 512 H.J. Jakobs 2008 513 M. Haaß 2002 509
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
171
sche Einhalt zumindest zu bilden versuchten. Da nicht jeder Diskurs in jedem Medium glaubwürdig artikuliert werden kann, führt der Versuch mittels der Verwendung populärer Formen und kulturindustrieller Manipulationstechniken, alle Medien gleichermaßen mit zu Statements geschrumpften politischen Inhalten zu erreichen notwendig dazu, dass sich ein originär sozialdemokratischer Diskurs verflüchtigt oder unsichtbar wird. Die Modernisierung des politischen Kommunikationsmanagement sozialdemokratischer Parteien ist eine Reaktion auf externe Kräfte: technologische Entwicklungen wie Kabel- und Satellitenfernsehen, Digitalisierung und neue Medien sowie soziokulturelle Entwicklungen wie Individualisierung, veränderte Freizeitgewohnheiten, Traditionsverlust und zunehmend volatile Wähler. Diese zweifellos notwendige Anpassung an veränderte Medienumwelten wurde allerdings häufig allzu affirmativ vollzogen, so dass sich keine inhaltlich politisch oder zumindest kulturell identifizierbarere Haltung oder Position der Sozialdemokratie gegenüber dem sie umgebenden Kontext fand. Nicht nur ‚Politainment’ im Hinblick auf die Kommunikation von komplexen Politikinhalten, sondern auch der mediale Gesamtkontext aus Boulevardfernsehen, Talkshows und allgegenwärtigen Unterhaltungsstars im Hinblick auf die Kommunikation von Werten und Orientierungen, behindert einen sozialdemokratischen Diskurs, der jenseits der alltagspolitischen PolicyKommunikation auch Glaubwürdigkeit und Identifikation vermitteln kann. Um einen originären sozialdemokratischen Reformdiskurs von dem medialen Einerlei erkennbar abzusetzen, also eigene Gerechtigkeits- und Politikvorstellungen offensiv in die Öffentlichkeit hineintragen zu können und – medienadäquat – eine Verbindung von Interessen und kulturellen Werteorientierungen auch ästhetisch-symbolisch herzustellen, ist es notwendig, eigene grundwerteorientierte und kritische Medienakzente zu setzen. Eigene Medienakzente zu setzen bedeutet nicht, sich hoffnungslos gegen gesellschaftliche und technische Entwicklungen zu stemmen, wohl aber sich aus einer Position der ideologischen Selbstgewissheit heraus, für die Vermittlung eigener Grundwerte einen notwendigen öffentlichen Diskursraum zu verteidigen. In der Retrospektive betrachtet haben Tony Blair und Gerhard Schröder mit ihrer exzessiven Medienorientierung, die darin bewusst Boulevardjournalismus und ‚Eventkultur’ mit einschloss514, für die Sozialdemokratie Pyrrhus-Siege errungen: Kurzfristig mag eine mediengerechte Inszenierung Erfolge zeigen, weil sie Aufmerksamkeitserregungen erzielt, langfristig jedoch verkleinert eine zu affirmative Medienorientierung diejenige öffentliche Sphäre, in der die Sozialdemokratie ihren Diskurs führen, ihr Vokabular entfalten und ihre politischen Ideen kommunizieren kann. Vor allem aber unterläuft eine zu affirmative Medienorientierung die sozialdemokratische Programmatik, auf eine intakte und hochwertige Öffentlichkeit hinzuwirken, was wiederum die Glaubwürdigkeit in anderen Politikfeldern schwächt. Zudem fehlte der Blairschen und Schröder’schen politischen Kommunikationsmodernisierung eine kritische Reflexion der Kommunikationsinstrumente und -ziele, was nicht nur normativ problematisch war, sondern auch genau das unfreiwillig verstärkte, wogegen eine ‚moderne’, mediengerechte Kommunikation eigentlich anzugehen strebte: Nämlich das Verschwinden eines spezifisch sozialdemokratischen Politik- und Gesellschaftsmodells aus der öffentlichen Wahrnehmung. Denn eine rein organisatorische, medienaffirmative Kommunikationsmodernisierung, die nicht auf ein ideologisches Ganzes zurückbezogen wird, scheitert zwangsläufig an einer kulturindustriell gerahmten, multipolaren und ausdif514
D. McKie 1998; R. Kuhn 2007; R. Meng 2002; R. Grindel 2004
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4 Nationale Input- und Outputfilter
ferenzierten Mediengesellschaft, in der selbstgenügsame Nischenkulturen und ‚Mainstream’, Kritisches und Anspruchsvolles, Massengeschmack und Populismus, selbstbewusste Abgrenzung und Distinktion oder normalisierende Massenorientierung mit größtmöglichem Wiedererkennungswert in einem dialektischen Verhältnis stehen. Die bloß organisatorische Kommunikationsmoderisierung tendiert dazu, Medienmärkte, Medienprodukte und die entsprechenden Medienpublika als geschlossenes Phänomen zu betrachten und durch entsprechende Marketing-Instrumente maximal auszuschöpfen, übersieht allerdings, dass Medienkonsum auch Ausdruck kulturellen Kapitals515 ist und sich Medienkonsumenten gerade auch über Medienstile und -inhalte kulturell von einander abgrenzen. Vor dem Hintergrund einer solchen kulturellen Distinktionspraxis ist es auf dem Weg zur Mehrheitsfähigkeit nicht möglich, unterschiedliche Medienwelten (oder Milieus) einfach nur über affirmative Medienkommunikation additiv aufzutürmen; der Zustimmungszugewinn in einem Milieu geht einher mit entsprechenden Verlusten in einem anderen. Zwar kann man versuchen, über eine weitgehend unverbindliche medienästhetische und inhaltliche Kommunikation eine größstmögliche Schnittmenge aller Medienmilieus zu gewinnen, läuft dann allerdings Gefahr, die dynamischen Aspekte eines erfolgreichen öffentlichen Diskurses zu vernachlässigen wie z. B. zukunftsweisende Begriffe zu besetzen, Fortschrittsideen zu akklamieren oder Leitmilieus zu gewinnen. Diskursräume (und gleichsam die sie tragenden Milieus) sind Kulturräume. Die Kontrolle der Diskurse bestimmt sich durch die symbolische und kulturelle Autorität der jeweiligen Diskursakteure. Das wiederum bedeutet, dass – entgegen der landläufigen Auffassung postmodernen Medienmanagements – gerade wegen einer fragmentierten Mediengesellschaft nicht nur unzusammenhängende Statements, sondern vor allem ein umfassendes und integrierendes Narrativ zentrale Voraussetzung einer erfolgreichen öffentlichen Diskursführung ist. Denn in dem Moment, in dem das Durcheinander der Medien, Kanäle und Formate wie auch das Spektakel zur alltäglichen Erfahrung der Menschen wird, muss ein sozialdemokratischer Politikdiskurs die Vermittlungsmedien seiner Inhalte in die Reflexion mit einbeziehen und nach neuen Formen und Konzeptionen der Kritik und der Differenzierung suchen. Eine rein organisatorische, technische oder stilistische Modernisierung der Außenkommunikation kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie einer programmatischen Idee einer modernisierten Mediengesellschaft entspricht. Das bedeutet, dass es eine nur instrumentelle, also entpolitisierte Kommunikationsmodernisierung nicht gibt; egal in welcher Weise sich die Sozialdemokratie den Bedingungen der Mediokratie inhaltlich, stilistisch oder strukturell anpasst, es sind immer Veränderungen mit ideologischen Implikationen für den sozialdemokratischen Politikdiskurs. Drittens: Ist ein rationaler, komplexer sowie lösungs- und verständigungsorientierter Reformdiskurs möglich? Ein öffentlicher Reformdiskurs muss schließlich – jenseits der vermittelnden Einbettung in programmatische Werte und Ziele – vor allem konkrete Reform-Policies kommunizieren. Je komplexer die Reformprogramme sind, desto schwieriger ist ihre Kommunikation in der Öffentlichkeit. Die Kommunikationsschwierigkeiten potenzieren sich, wenn die Reformen in der Bevölkerung hauptsächlich als Infragestellung lang eingelebter Verteilungsgewohnheiten und daher als ungerecht wahrgenommen werden. Die Diskursakteure müssen somit in einer recht komplexen Reform-Kommunikation die Reformnotwendigkeiten und Problemlösungen, funktionale und normative Reformziele sowie mögliche Trade-offs vermitteln. Um dies angemessen tun zu können, bedarf es eines öf515
P. Bourdieu 1982
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
173
fentlichen Diskurses, der – nach Habermas – als kommunikativer Verständigungsprozess Rationalität freisetzt und offen für eine anspruchsvolle Reformargumentation ist. Die Diskursprotagonisten müssen daher an einer funktionierenden Öffentlichkeit und an gut informierten Bürger interessiert sein, da diese die Voraussetzung für einen erfolgreichen Reformdiskurs und schließlich für Bereitschaft zu Veränderungen sind. Doch auch jenseits dieses theoretischen Diskursmodells gibt es viele empirische Erkenntnisse, die darauf verweisen, dass der mediale Kontext die diskursiven Möglichkeiten der inhaltlichen Argumentation nachhaltig determiniert. Bereits in den 1960er Jahren wies Elisabeth Noelle-Neumann in einer Untersuchung zum Einfluss des Fernsehens nach, dass Fernsehkonsumenten zwar ein subjektives Interesse an der Politik hätten, allerdings gleichzeitig auch ein stark vereinfachtes Bild von Politik. Dieser Effekt trete hingegen bei regelmäßigen Lesern von politischer Information in Zeitungen kaum auf516. Neil Postman beschrieb wie die bildgestützte Zerstreuungswirkung des Fernsehens einem rationalen Erkenntnisprozess strukturell entgegensteht517. In der Forschung gilt es inzwischen als gesichert, dass die Kombination aus dominanten Nachrichtenfaktoren (wie Negativismus) und der Eigenlogik der elektronischen Medien politische Weltbilder konstruiert, die ohne die ergänzende Tiefeninformation von Tageszeitungen der Differenziertheit und Komplexität demokratischer Politik in zeitgenössischen Gesellschaften nicht gerecht werden518. Die normative Dimension des öffentlichen Diskurses kann sich also nicht auf den zu kommunizierenden Policy-Inhalt beschränken, sondern muss zwingend auch die Medien selbst umfassen, in denen der Diskurs geführt wird. Denn Massenmedien sind kein neutrales ‚Display’ für Inhalte, sondern prägen ihrerseits die Inhalte in höchst unterschiedlicher Form. Die jeweiligen Diskursprotagonisten können für ihren Diskurs zwar nur auf die Medien und Medientypen zurückgreifen, die in den nationalen Mediensystemen vorhanden sind, aber ihr Diskurs kann in einer entweder der Mediokratie kritischen oder affirmativen Grundhaltung eingebettet sein; eine kritische Grundhaltung würde den inhaltlichen Gehalt des Reformdiskurses vor allzu irrationalen, polemischen oder vereinfachenden medialen Angriffen und Ansprüchen zumindest teilweise schützen.
4.4.3 Reformdiskurse in unterschiedlichen nationalen Mediensystemen Politische Akteure sind heute in allen entwickelten Demokratien mit den Bedingungen der Mediengesellschaft konfrontiert und Reformdiskurse müssen sich überall entsprechend dieser dominanten Medienlogik artikulieren. Dennoch sind Mediensysteme in ihre gesellschaftliche Umwelt eingebettet, die immer auch eine kulturell und politisch geprägte Umwelt ist. Das bedeutet, dass die mediokratische Herausforderung für sozialdemokratische Reformdiskurse in ihren nationalen Mediensystemen unterschiedlich stark ausgeprägt ist bzw. unterschiedlich stark gebrochen wird. Denn Mediensysteme sind Ausdruck kulturellen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses und bilden deshalb soziale und politische Strukturen ab519. Medien sind immer auch soziale Organisationen, die auf vielfältige Weise in ökonomische, politische, soziale 516
E. Noelle-Neumann 1988 N. Postman 1988 518 C. Holtz-Bacher 1990; J.N. Capella/ K. Hall Jamieson 1997 519 B. Schneider 1998: 422 517
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4 Nationale Input- und Outputfilter
und kulturelle Gegebenheiten eingebunden sind und zugleich auf diese einwirken. Trotz aller Veränderungen und Konvergenztendenzen, die im Zuge der Globalisierung auch nationale Mediensysteme erfasst haben, unterscheiden sich Mediensysteme also voneinander, was wiederum Folgewirkungen auf die nationale Medienrezeption und letztlich den öffentlichen Diskurs hat. Mediensysteme filtern Inhalte, Argumente und Werte eines sozialdemokratischen Reformdiskurses in spezifischer Weise, so dass die vergleichende Betrachtung nationaler Mediensysteme Aufschluss über die jeweiligen inhaltlichen und kommunikationsstrategischen Entfaltungsmöglichkeiten nationaler Reformdiskurse bietet.
Typologisierender Mediensystemvergleich Dass nationale Mediensysteme in ihrer Gesamtheit das verdichtete Ergebnis komplexer politischer, historischer und technischer Entwicklungsprozesse, ökonomischer Voraussetzungen und staatlicher Regulierungen sowie ihrer Interdependenzen darstellen, die vergleich- und klassifizierbare Eigenschaften aufweisen, wurde bereits in den 1950er Jahren – noch stark vom Kalten Krieg geprägt – von Fred S. Siebert, Theodore Peterson und Wilbur Schramm herausgearbeitet. Sie zeigen, wie Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Medienmodellen in politischen und ökonomischen Strukturen wurzeln und dass Medien immer die Form und Färbung der sozialen und politischen Strukturen annehmen, innerhalb derer sie operieren520. In ihrer Untersuchung spiegeln jedoch Mediensysteme diese Strukturen nur wider (z. B. die Rechtsordnung oder das Parteiensystem); in den folgenden Jahren setzte sich in der Medienforschung hingegen verstärkt die Erkenntnis durch, dass die Medieninstitutionen ihrerseits einen Einfluss auf andere soziale Strukturen haben. In der jüngeren vergleichenden Mediensystemforschung sticht vor allem die Analyse dynamischer Mediensystementwicklung von Daniel C. Hallin und Paolo Mancini hervor, in der eine Vielzahl von Vergleichskriterien extrahiert und daraus idealtypische Mediensysteme entwickelt werden (die weitgehend geographischen Regionen entsprechen)521. Ihre Typologie, vor allem ihre Kategorienbildung von Mediensystemen, ermöglicht einen differenzierten Blick auf national unterschiedliche Filterwirkungen historisch gewachsener Mediensysteme. Dies vor allem, weil Hallin und Mancini Mediensysteme entwickelter und stabiler liberaler Demokratien untersuchen, die sich allesamt durch Pressefreiheit, Medienvielfalt und technologisch hochwertige Infrastrukturen kennzeichnen. Gleichwohl kann auf ihre Typenbildung hier nur sehr vorsichtig zugegriffen werden, da Hallin und Mancinis Untersuchung 18 Länder in Nordamerika und Europa umfasst (darunter die Länder, die in der hier vorliegenden Untersuchung betrachtet werden), und die herausgearbeiteten Charakteristika, die die Mediensystemmodelle auszeichnen, erst vor dem Hintergrund einer bestimmten Anzahl realer Modelle sichtbar werden. Zudem sind die Modelle Idealtypen, die den realen Mediensystemen einzelner Länder nur ungefähr entsprechen. Manche Länder stellen zudem eine Mischung aus Mediensystemtypen dar. Während diese Tatsache bei einer vergleichenden Untersuchung mit einer ausreichenden Anzahl an Vergleichländern methodisch kein Problem darstellt, da die Idealtypen aus Clustern realer Mediensysteme abgeleitet werden, die jeweils zu dem Idealtyp in unterschiedlichem 520 521
F.S. Siebert/ T. Peterson/ W. Schramm 1956 D.C. Hallin/ P. Mancini 2004
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
175
Näheverhältnis stehen, verfälscht ein kleiner Ausschnitt von nur drei Ländern aus dem Gesamtbild zwangsläufig die Perspektive auf das Beziehungsverhältnis von Real- und Idealtyp. Und schließlich haben Hallin und Mancini drei Mediensystemtypen identifiziert, die sich als Ergebnis historischer Entwicklungsprozesse in drei Weltregionen ausgebildet haben. Die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Länder weisen allerdings – in der Typologie Hallin/ Mancinis – nur die Eigenschaften zweier Typen auf, so dass die Betrachtung realer Mediensysteme als Diskursfilter, die Gesamttypologie komplettierenden Eigenschaften des dritten Idealtyps weitgehend außer Acht gelassen werden, was die Modellbeschreibung notwendig verzerrt. Dennoch soll hier – bei methodisch kritischem Gebrauch – auf Hallin und Mancinis typologischen Ansatz zurückgegriffen werden, da über ihre analytische Herleitung das innere und nicht zufällige Beziehungsgeflecht nationaler Mediensysteme freigelegt wird, das zugleich aufschlussreich bei der Betrachtung der unterschiedlichen Filterung von Diskursen in ihren jeweiligen nationalen Mediensystemen ist. Vor allem aber ergibt sich aus der Erarbeitung von Unterscheidungsmerkmalen ein Verständnis sowie ein Problembewusstsein, dass erstens Mediensysteme das Ergebnis eines historischen und unabgeschlossenen Entwicklungsprozesses sind (Mediensysteme sind niemals fertig, sondern entwickeln sich konstant weiter), dass sich zweitens Inhalte und Argumente eines öffentlichen Reformdiskurses in den jeweiligen nationalen Mediensystemen politisch-kommunikativ sehr unterschiedlich entfalten können (trotz aller Konvergenztendenzen kann eine Diskursstrategie nicht problemlos von einem Mediensystem in ein anderes implementiert werden) und dass drittens der Reformdiskurs selbst wiederum eine wichtige Variable im Entwicklungsprozess nationaler Mediensysteme ist (welche Regulierungsrolle soll der Staat übernehmen, welcher Grad der Privatisierung/ Kommerzialisierung ist erstrebenswert bzw. akzeptabel, welche gesamtgesellschaftliche Verantwortung müssen Markteilnehmer übernehmen, welche Rolle sollen öffentliche Güter spielen? u.a.).
Rahmenwerk zur Unterscheidung von Mediensystemen Nationale Mediensysteme dürfen nicht als eine Menge fixierter Eigenschaften betrachtet werden, sondern als sich verändernde systematische Beziehungen und institutionelle Muster, die sich im Prozess ihrer Evolution beeinflussen und bedingen. Um diese dynamischen Entwicklungspfade nationaler Medienmodelle analytisch zu erfassen, haben Hallin/ Mancini ein Raster aus vier Unterscheidungskriterien erarbeitet522: Erstens: Die Entwicklung eines Medienmarktes und einer Massenpresse. Skandinavien, Großbritannien, das nördliche Kontinentaleuropa und die USA kennzeichnen sich – im Gegensatz zu Südeuropa – durch eine hohe und historisch frühe Massenzirkulation von Zeitungen. Dies beschreibt nicht nur eine quantitative Tatsache, sondern auch Art und Funktion von Zeitungen. Während Zeitungen in Südeuropa eher auf eine kleine gebildete und politisch aktive Elite zielten – also eher eine horizontale Debatte führten –, strebten Zeitungen in Nord- und Kontinentaleuropa sowie in den USA schon früh danach, die Massen anzusprechen. Diese Massenorientierung von Zeitungen beförderte eine vertikale Debatte zwischen politischen Eliten und Bürgern (auch wenn sie auch eine wichtige Funktion im horizontalen innerelitären Kommunikationsprozess spielten). 522
D.C. Hallin/ P. Mancini 2004: 21-65
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4 Nationale Input- und Outputfilter
Die Massenbasis von Zeitungen wiederum kann historisch eine kommerzielle oder eine politische Ausrichtung haben. Zwar förderte die Massenbasis der Presse das Entstehen kommerzieller Medienunternehmen, doch ging das Wachstum der Massenreichweite nicht automatisch einher mit deren Kommerzialisierung. In Skandinavien und im nördlichen Kontinentaleuropa spielen Zeitungen, die eher im politischen Bereich ihre Wurzeln haben, bis heute eine zentrale Rolle. Das frühe Entstehen eines Massenmarktes kann ebenso in einer scharfen Trennung zwischen einer massensorientierten Boulevard-Presse einerseits und einer elitenorientierten Qualitätspresse andererseits münden (hier ist Großbritannien das prominenteste Beispiel). Zeitungsmärkte unterscheiden sich ferner in der Balance zwischen lokalen, regionalen und nationalen Zeitungen. In einigen Ländern dominieren nationale oder überregionale Zeitungen, in einigen lokale und in einigen schließlich findet sich eine Kombination aus beiden. Nationale Zeitungsmärkte tendieren dazu, eine eher politisch differenzierte Presselandschaft hervorzubringen. Pippa Norris beobachtet, dass sich zwischen diesen Unterschieden eine Reihe struktureller Faktoren verbergen, wie „long standing historical und cultural traditions in each region; level of social development in terms of education, literacy, and income; the news industry’s organization, ecomomics, production and distribution system; and the overall structure of public subsidies, government regulations, and national levels of democratization“523. Zweitens: Politischer Parallelismus. Medien richten sich an politischen Parteien und Strömungen aus. Nationale Mediensysteme unterscheiden sich danach, inwieweit sie die großen politischen Tendenzen der Gesellschaft widerspiegeln; in einigen Mediensystemen verlängert sich das Spektrum der politischen Orientierungen in das Medienangebot und in anderen nicht. In der Frühphase der Entstehung des modernen Pressewesens sah der ‚politische Journalist’ seine Rolle vorwiegend darin, die öffentliche Meinung im Sinne einer politischen Bewegung oder Sache zu beeinflussen. Im späten 19. Jahrhundert wurden zudem Zeitungen auf Initiative von Parteien oder politischen Akteuren gegründet bzw. durch sie unterstützt. Zur gleichen Zeit entstand ein dem entgegen gesetztes journalistisches Selbstverständnis, welchem zufolge der Journalist ein neutraler Beobachter zu sein habe, der unabhängig von politischen Interessen und Verständnissen den Leser mit neutralen Informationen, Analysen oder Unterhaltung versorgt. Dieser Journalistentyp entstand im Zuge der Kommerzialisierungsentwicklung der Presse, die eher auf hohe Leserzahlen und ökonomischen Gewinn zielte und sich weniger einer politischen Sache verpflichtet sah. Auch wenn sich eine strikte Trennlinie von professioneller Objektivität und politischer Selbstverpflichtung in der Realität ohnehin nie ziehen lässt und sich zudem in den letzten Jahrzehnten der Gegensatz nationaler journalistischer Kulturen und Selbstverständnisse stark abschwächt hat, setzen sich Unterschiede der verschiedenen Mediensystemen in jeweiligen Traditionen der politischen Fürsprache oder neutralen Informationsberichterstattung fort. Die alte Parteipresse ist zwar – sowohl als Idee wie auch als effizientes Wirtschaftsunternehmen524 – längst verschwunden, doch haben viele der nationalen Tageszeitungen in Europa – ganz im Gegensatz zu den USA – immer noch eine Nähe zu einer bestimmten Partei oder Ideologie und parteipolitisch unterschiedlich orientierte Leser. So werden in den USA auf einer 7-Punkt links-rechts-Skala die Unterschiede zwischen der eher linken Washington Post (allerdings nicht sehr links nach europäischen Maßstäben) und 523 524
P. Norris D. McQuail 1994: 15
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
177
dem eher rechten TIME Magazine von Beobachtern nur mit 1.1 Punkten eingestuft. Im Gegensatz dazu sind die Unterschiede der jeweiligen Extrempositionen der europäischen Nachrichtenmedien signifikant: 3.5 Punkte in Schweden (zwischen Aftonbladet und Svenska Dagbladet), 3.6 in Großbritannien (zwischen Daily Mirror und Daily Telegraph), 4.0 in Deutschland (zwischen der Frankfurter Rundschau und Die Welt)525. Auch wenn organisatorische Verbindungen zwischen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen usw. und Medienunternehmen in allen Ländern meist ausgestorben sind, wirkt in Mediensystemen mit einer ehemals starken Parteipresse der Parallelismus zwischen politischen Orientierungen und Medien immer noch nach, was sich einerseits an der politischen Erwartungshaltung der Leserschaft und andererseits in der Tatsache zeigt, dass Journalisten auch heute noch üblicherweise nur von einem Medienunternehmen zu einem anderen mit ähnlicher politischer Ausrichtung wechseln. In einigen Ländern wurde schließlich der politische Parallelismus in der RundfunkGovernance und -Regulierung gleichsam institutionalisiert. Im Gegensatz zu privaten Medienunternehmen stellen öffentliche Körperschaften, öffentlich-rechtliche Rundfunksysteme und Regulierungsagenturen häufig eine institutionelle Form der Einbindung politischer Strömungen und/oder Organisationen dar. So finden sich in einigen Ländern proportionalrepäsentative Kontrollmodelle über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk entsprechend der Repräsentation im Parlament, in anderen Ländern korporatistische Modelle, die über das parlamentarische Modell hinaus auch noch ‚sozial relevante Gruppen’ einbinden (z. B. Deutschland). Diesen Kontroll- und Steuerungsmodellen öffentlich-rechtlichen Rundfunks steht das professionelle Modell gegenüber, nach dem der öffentliche Rundfunk frei von politischer Kontrolle sein müsse und allein journalistischen professionellen Standards verpflichtet sei (vor allem die britische BBC, auch der schwedische Rundfunk). Drittens: Journalistischer Professionalismus. Im Zuge der modernisierenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft vollzog sich neben der Formalisierung, Verrechtlichung und Bürokratisierung auch eine Verberuflichung und Professionalisierung organisationellen Handelns. Im späten 19. Jahrhundert vollzog sich eine Professionalisierung des Journalistenberufes, in dem sich Merkmale einer Profession ausbildeten: Definitionen eines Berufsbildes und einer Berufsethik, berufsständische Interessenorganisation, breit geteilte Qualitätsstandards, Ausbildungsgänge. Die Professionalisierung des Journalismus ist einerseits in der Autonomie bei der Definierung von Professionalität und andererseits in Orientierung an der Öffentlichkeit (Vertrauenwürdigkeit) verankert und dabei gleichzeitig in unterschiedliche Entwicklungen nationaler Medienmärkte und politischer, kultureller und institutioneller Strukturen eingebettet. In den USA und Großbritannien, wo sich historisch sehr früh ein kommerzieller und großer Medienmarkt ausbildet, entsteht ebenso früh eine Idee von journalistischer Professionalität, die häufig als Norm genutzt wird, gegen die vorherrschende Einstellungen zum Journalistenberuf anderer Mediensysteme – in ihrer historischen Entwicklung wie gegenwärtigen Ausprägung – gespiegelt werden. Der anglo-amerikanische Begriff von Professionalität wird dabei häufig synonym für ‚Objektivität’ und ‚politische Neutralität’ verwendet526. In diesem Berufsverständnis artikuliert sich die Idee, der Journalist sei ein Dienstleister gegenüber seinem Publikum und in dieser Funktion ein kritischer und zugleich distanzierter Beobachter, ‚ehrlicher Zeuge’ oder ‚Wachhund’ des Politischen. In Skandinavien 525 526
T.E. Patterson 1998: 19 M. Schudson 2001
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4 Nationale Input- und Outputfilter
und Kontinentaleuropa hingegen – wo die Medienlandschaften historisch länger und stärker durch einen politischen Parallelismus geprägt sind – steht nicht so sehr die Neutralität, sondern die Integrität, die Fähigkeit zur Einschätzung und sozialen Urteilen wie auch Engagement traditionell im Zentrum des professionellen Berufsselbstverständnisses. Dem Begriff Professionalismus wird oft der Begriff der Instrumentalisierung gegenüber gestellt, mit dem Einfluss und Kontrolle auf die Medien von externen Akteuren gemeint ist. Die journalistische Autonomie verkleinert sich und eher politische als journalistische Kriterien bestimmt die mediale Praxis. In einer solchen Gegenüberstellung würde journalistische Professionalität in dem Maße abnehmen, wie offensichtliche politische Orientierung der Medienunternehmen oder Jorunalisten zunimmt. Gerade Nord- und Zentraleuropa zeigen jedoch, dass ein hohes Maß an berufsethischem Selbstverständnis mit politischem Parallelismus durchaus ko-existieren kann. Es lässt sich jedoch feststellen, dass in den letzten Jahrzehnten das europäische journalistische Professionalitätsverständnis stark auf das anglo- und vor allem auf amerikanische Modell hin konvergiert ist527; dies lässt sich zum einen mit der zunehmenden Kommerzialisierungstendenz der europäischen Presse interpretieren, zum anderen mit der Postmodernisierung oder Entideologisierung der politischen Kultur. Viertens: Rolle des Staates sowie politischer und ökonomischer Kontext. In welcher Weise sich Medien, Medienmärkte und journalistische Berufsethiken evolutionär ausprägen, ist ferner abhängig von externen Makrofaktoren, wie z. B. staatliche Regulierungen und Interventionen, Formen politischer Repräsentation (individueller oder organisierter Pluralismus) oder ökonomischen Variablen. Ein zentraler Unterschied besteht in unterschiedlichen Funktionsverständnissen, die dem Staat – auch im Hinblick auf Medien – in den jeweiligen Gesellschaften zugeschrieben werden. Die Vorstellung, dass der Staat in das Mediensystem eingreifen darf oder soll, hat sich in der historischen Verlaufsgeschichte aus unterschiedlichen ‚staatspolitischen Identitäten’528 heraus entwickelt. Die nachhaltigsten Unterschiede nationaler Mediensysteme entstehen durch das Ausmaß direkter staatlicher Intervention: So etwa durch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk (auch wenn kommerzielle Medien an Bedeutung gewinnen, bleibt dieser weiterhin bedeutsam), durch die staatliche Bereitstellung einer Kommunikationsinfrastruktur und schließlich durch Pressesubventionen (direkt oder indirekt via reduzierte Mehrwertsteuer). Der Staat determiniert das nationale Mediensystem ferner, indem er als entweder ausgebauter oder reduzierter Wohlfahrtsstaat die Soziologie der Medienkonsumption wie auch den Kommunikationsraum politischer Orientierung (mit)prägt. Auch das politische System und die politische Kultur rahmen als Mehrheits- oder Konsensdemokratien oder als moderat oder polarisiert plurale Gesellschaften ebenfalls die Ausbildung eines Medienmarktes und mediale Identitäten in national spezifischer Weise. Das nationale Recht hat ferner prägende Wirkung für den Grad an Freiheit, der Medien in einem Lande gewährt wird. Es determiniert den Rahmen, in dem Medien tätig werden können und formuliert, mit welchen Institutionen und Instrumenten die gewollte Medienrechtsordnung umgesetzt werden soll. Und schließlich sind nationale Mediensysteme das Ergebnis einer Vielzahl ökonomischer Faktoren. So spielt beispielsweise für die Entstehung einer kommerziellen Medienin527 528
S.C. Ehmig 2000; L. Nord 2001 Vgl. auch G. Haller 2002
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
179
dustrie die Verfügbarkeit von Kapital eine wichtige Rolle, die wiederum stark von der volkswirtschaftlichen Modernisierungssphase abhängt, in der sich das Land befindet. Ebenfalls wichtig für das Entstehen moderner Massenmedien ist die Existenz eines großen und verhältnismäßig homogenen Massenmarktes.
Drei Modelle von Mediensystemen Aus dem Rahmenwerk dieser Kriterien haben Hall/ Mancini drei Idealmodelle von Mediensystemen herausgearbeitet, die in unterschiedlichen Verlaufsgeschichten typische Eigenschaften ausgeprägt haben529. Erstens das polarisiert-pluralistische oder mediterrane Modell. Dieses Modell kennzeichnet sich durch
Niedrige Zeitungsauflage und –reichweite, elitenorientiert Starker politischer Parallelismus, parlamentarische oder Regierungskontrolle des öffentlichen Rundfunks, starker Einfluss der Politik auf die Medien Schwächerer Professionalismus, Formen der Instrumentalisierung Ausgeprägte Intervention des Staates (Subventionen), z.T. Perioden der Pressezensur Späte Demokratisierung, polarisierter Pluralismus Organisierter Pluralismus, wichtige Rolle der Parteien Dirigismus, Einbindung des Staates und der Parteien in die Wirtschaft, z.T. Perioden des Autoritarismus.
Zweitens das demokratisch-korporatistische oder nord-, zentraleuropäische Modell. Dieses Modell kennzeichnet sich durch
Hohe Zeitungsauflage und -zirkulation, frühe Entwicklung einer Massenpresse Politischer Parallelismus und externer Pluralismus (vor allem bei nationaler Presse); historisch starke Parteipresse, Entwicklung hin zu einer neutralen kommerziellen Presse; politischer Einfluss der Politik auf den öffentlichen Rundfunk, allerdings mit substanzieller Autonomie des Rundfunks Starker Professionalismus, institutionalisierte verbandliche Selbstregulation Ausgeprägte Intervention des Staates, jedoch gleichzeitig ausgeprägter Schutz der Pressefreiheit; hohe Subventionen und starker öffentlich-rechtlicher Rundfunk Frühe Demokratisierung, hauptsächlich Konsensdemokratien Organisierter Pluralismus, demokratischer Korporatismus Ausgebauter Wohlfahrtsstaat, signifikante Einbindung des Staates in die Wirtschaft.
Drittens das liberale oder nordatlantische Modell. Dieses Modell kennzeichnet sich durch 529
Mittlere Zeitungsauflage und -zirkulation, frühe Entwicklung einer kommerziellen Massenpresse Neutrale kommerzielle Presse, informationsorientierter Journalismus; professionelles Modell der Rundfunk-Governance, formal autonomes System D.C. Hallin/ P. Mancini 2004
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4 Nationale Input- und Outputfilter Geringe Intervention des Staates, jedoch ausgeprägter Schutz der Pressefreiheit; hohe Subventionen und starker öffentlich-rechtlicher Rundfunk Starker Professionalismus, nicht-institutionalisierte Selbstregulation Dominanz von Marktmechanismen Frühe Demokratisierung Hauptsächlich Mehrheitsdemokratie Individueller Pluralismus Schwacher Wohlfahrtsstaat
Obwohl aufgrund der Länderauswahl der vorliegenden Arbeit nur das demokratischkorporatistische und das liberale Modell von weiterem Interesse sind, stellt das polarisiertpluralistische Modell hier zumindest einen wichtigen Bezugspunkt dar, der die historische Kontingenz sowie Pfadabweichungen von Mediensystemen aufzeigt. Denn obwohl z. B. Deutschland dem demokratisch-korporatistischen Modell zugeordnet wird – hohe Zeitungsauflagen, starke Einbindung sozialer Organisationen in die Politik, einschließlich der Medienpolitik – wies es über weite Strecken seiner Geschichte eher Eigenschaften des polarisiert-pluralen Systems auf – scharfer ideologischer Konflikt, eher konfrontativer politischer Stil, lange politische Dominanz vormoderner, aristokratisch-agrarischischer Eliten, späte Demokratisierung und Pressefreiheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute Deutschland sowohl das politische als auch das Mediensystem aus den Ruinen des Nationalsozialismus neu auf und griff dabei auch auf Politikverfahren und -instrumente der kleinen korporativen Staaten in Nordeuropa530 zurück. Ferner müssen die Länder, die dem polarisiertpluralen Mediensystem zugeordnet werden, ihrerseits sehr genau unterschieden werden. Ländern wie Spanien, Portugal oder Griechenland, die nahezu die Hälfte des 20. Jahrhunderts Diktaturen waren, steht beispielsweise Frankreich mit seiner langen demokratischen (Medien)Tradition gegenüber, welches wiederum markante Ähnlichkeiten mit dem demokratisch-korporatistischen Modell aufweist. Diese differenzierte Sichtweise verdeutlicht, dass nationalen Mediensystemen in ihrer dynamischen Entwicklung mehrere Entwicklungsoptionen angelegt sind.
530
Vgl. P.J. Katzenstein 1985, 1999, 2003
4.4 Output-Filter: Mediensysteme Abbildung 2:
181
Verhältnis der nationalen Mediensysteme zu Idealmodellen (In Anlehnung an Hall/ Mancini 2004 Abb. 4.1, S. 70. GR – Griechenland, DE – Deutschland, FR – Frankreich, SP – Spanien, SW – Schweden, UK – Großbritannien, USA – Vereinigte Staaten)
Nationale Mediensysteme und ihr Verhältnis zum Idealmodell Hinsichtlich der unterschiedlichen Filterwirkung nationaler Mediensysteme auf die jeweiligen öffentlichen Diskurse erlauben die oben beschriebenen Modelle eine erste und hilfreiche Groborientierung. Die Modelle öffnen den Blick dafür, dass unterhalb einer Globalisierung der Mediensysteme weiterhin sehr unterschiedliche dynamisch-strukturelle Kräfte wirken und deshalb die tendenzielle Standardisierung der Politikvermittlung, zu deren Handlungsrepertoire gemeinhin strategisches News-Mangement, Ereignisinszenierung und Personalisierung gehört531, in nationalen Mediensystemen mitunter sehr unterschiedliche oder gar gegensätzliche Ergebnisse erzielen kann. Jedoch ist es notwendig, eine tiefer gehende Beschreibung der Mediensysteme der Vergleichsländer vorzunehmen, vor allem weil diese zu den Idealmodellen in unterschiedlichem und gar widersprüchlichem Verhältnis stehen.
531
F. Plasser 2003
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4 Nationale Input- und Outputfilter
4.4.4 Großbritannien Auch wenn Großbritannien in komparativen Medienuntersuchungen häufig mit den Vereinigten Staaten gleichgesetzt wird – was angesichts der frühen Industrialisierung und Demokratisierung, geringer staatlicher Regulierungen und einem vorherrschenden individuellen Pluralismus, der Politikferne und starken Kommerzialisierung der Medien bis zu einem gewissen Grad auch berechtigt ist –, so stellen doch beide Länder in anderen zentralen Hinsichten sehr unterschiedliche liberale Mediensysteme dar. Die Vorstellung eines einheitlichen ‚anglo-amerikanischen Journalismus’ ist tatsächlich eher ein Mythos. Großbritannien unterscheidet sich vom liberalen Idealmodell in zwei wichtigen Punkten: Zum einen artikulieren britische Zeitungen ihre politische Orientierung offen und – vor allem die Boulevard-Presse – expressiv. Zum anderen existiert mit der BBC ein öffentlicher Rundfunk und auch die Regulierung des kommerziellen Rundfunks war lange Zeit relativ stark. Diese beiden Punkte stellen nicht nur Abweichungen vom liberalen Idealmodell dar, sie charakterisieren darüber hinaus das britische Mediensystem. Denn der öffentliche Rundfunk, Inbegriff einer professionellen Unparteilichkeit, und die keine Grenzen kennende Boulevardpresse und ihre Praxis des Sensationsjournalismus kennzeichnen die gegensätzlichen Extrempunkte, die das britische Mediensystem umschreiben. Mehr als andere Länder ist der britische Zeitungsmarkt klassenstrukturell segmentiert: Gut ausgebildete Gruppen lesen die Qualitätspresse, die unteren Schichten lesen überwiegend die Boulevardpresse. Beide Zeitungsmärkte existierten lange Zeit berührungslos nebeneinander; allerdings überstieg die Boulevardpresse in Auflage und Reichweite die Qualitätspresse deutlich. Der Boulevardjournalismus stellt ein mächtiges System mit eigenen Spielregeln dar und ist bekannt für seine aggressive Berichterstattung über Skandale, Sex und Sport. Dem stehen die Qualitätszeitungen gegenüber, die sich den seriösen Themen und den öffentlichen Angelegenheiten widmen und einen informationsorientierten und autonomen Journalismus praktizierten, jedoch seit den späten 1980er Jahren in einem ruinösen Preiskampf gefangen waren, seitdem ‚Farbe’ auf die Titelseiten brachten und ihre Formate leserfreundlich gestalteten532. Der krasse Gegensatz zwischen Boulevard- und Qualitätspresse hat sich seitdem abgeschwächt, vor allem weil die Qualitätszeitungen seit den 1980er Jahren verstärkt auch seichte Themen aufgriffen und eine Reihe von SexSkandalen einiger konservativer Politiker, die von den Boulevardzeitungen ausgeschlachtet wurden, auch von der Qualitätspresse politisch nicht ignoriert werden konnten. Die vormals soziale und politische Trennlinie der Leserschaft wurde durch den allgemeinen Appetit auf Skandale und der ‚Boulevardisierung’ der britischen Presse längst übertüncht. „The journalism of scandal trumped journalism of partisanship hands down“533. Die frühe Dominanz eines kommerziellen Zeitungsmarktes führte dazu, dass eine Parteipresse in Großbritannien keine zu Skandinavien oder Kontinentaleuropa vergleichbare historische Rolle gespielt hat. Jedoch hat es im Gegensatz zu anderen liberalen Mediensystemen (USA, Kanada) durchaus eine britische Arbeiterpresse gegeben, die eine gewisse Reichweite erzielte: Z. B. der kommunistische Daily Worker, der in den 1940er und frühen 1950er Jahren täglich mehr als 100 000 Exemplare verkaufte534 oder Daily Herald, der vom Gewerkschaftsdachverband TUC bis 1929 finanziert und bis 1961 redaktionell bestimmt 532 533 534
H.A. Smetko 2000 P. Norris 1998: 123 D.C. Hallin/ P. Mancini 2004: 205
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
183
wurde. Zugleich symbolisiert der Daily Herald, wie wenig eine traditionelle politische Orientierung einer Zeitung in einem hoch kommerziellen Zeitungsmarkt zählt, als er als 1969 nun unter dem Namen The Sun an den Medienunternehmer Rupert Murdoch verkauft wurde und seitdem als Inbegriff des britischen Boulevardjournalismus gilt. In den letzten fünfzig Jahren litt die Labour Party darunter, dass sowohl Qualitätspresse als vor allem auch Boulevardpresse eine überwiegend konservative Ausrichtung haben. Während sich die Qualitätspresse – trotz einer relativ starken Rechts-Neigung – durch einen, dem kontinentaleuropäischen Mediensystemen vergleichbaren moderaten Pluralismus charakterisiert, kennzeichnet sich die Boulevardpresse durch explizit konservative, vielfach rechts-populistische Orientierungen. Von den 1970er Jahren bis in die frühen 1990er Jahre hinein wurde Labour in der Boulevardpresse gerne als ‚Staatsfeind Nummer 1’ beschrieben535. In ihrem behaupteten Anspruch, den ‚kleinen Mann’ und den ‚gesunden Menschenverstand’ zu repräsentieren, versucht sich die britische Boulevardpresse mit den lautesten und radikalsten Schlagzeilen zu profilieren, die meist Nationalismus, Antikommunismus, reaktionäre Geschlechterrollen und anti-europäische sowie anti-establishment Haltungen betonen536. Die Schärfe der expressiven Parteilichkeit der Presse hatte zwar in den 1960er und frühen 1970er Jahren abgenommen, sich in den 1980er bis Mitte der 1990er Jahre jedoch wieder intensiviert. In den 1980er Jahren focht die Boulevardpresse, allen voran Murdochs ‚The Sun’ an Margaret Thatchers Seite gegen die ‚destruction of the British way of life’, die Gewerkschaften, Labour und die EU. In den 1990er Jahren schliffen sich jedoch die politischen Extreme in Kultur und Gesellschaft zunehmend ab, so dass auch die allzu schrillen und parteilichen Töne auf dem Zeitungsmarkt verschwanden. Einen fast schon paradigmatischen Schwenk vollzogen nach dem Black Wednesday 1992 die Zeitungen des MurdochMedienimperiums, die fortan den Konservativen John Major massiv attackierten und schließlich 1997 ihre Leser aufforderten, Labour und Tony Blair zu unterstützen. Als paradigmatisch ist dieser Schwenk deshalb zu bezeichnen, weil die politischen Frontlinien, die die Presse jahrzehntelang durchfurchten, neu gezogen wurden537; mit entsprechenden Auswirkungen auf den britischen Diskurskontext. Bei dem Versuch, sich aus einer strukturellen Minderheitenposition zu befreien, wurde die Annäherung vor allem an die Boulevard-Presse ein zentraler Bestandteil der LabourKampagnen-Strategie538. Zugleich war das Zuschütten früherer ideologischer Gräben (auch und besonders in der britischen Medienlandschaft) und Kooperation statt Konfrontation eine zentrale Botschaft des New Labour-Diskurses, so dass die Nähe, die Tony Blair zu dem weltweit agierenden Medienunternehmer Rupert Murdoch suchte – der mit allen seinen Presseerzeugnissen immerhin 40% der britischen überregionalen Gesamtauflage stellt – , gleichermaßen macht- bzw. wahlkampfstrategische wie auch politisch-programmatische Gründe hatte. Murdoch wiederum wechselte das Lager als Tony Blairs gute Wahlchancen offensichtlich wurden und er einmal mehr auf der Seite der Sieger stand539. Den Wechsel 535
H.A. Smetko 2000: 345 D.C. Hallin/ P. Mancini 2004: 211. Zu dieser Regel gibt es natürlich Ausnahmen, wie zum Beispiel ‚The Mirror’, der mit dem Slogan „Loyal to Labour, Loyal to you“ wirbt. 537 Vgl auch C. Seymour-Ure 1997; J. Curtice 1997 538 M. Scammell 2000: 178 539 Nach dem Wahlsieg Labours machte ‚The Sun’ mit der Schlagzeile auf: "It was the Sun wot won it". Mit genau derselben (mittlerweile berühmten) Schlagzeile hatte ‚The Sun’ bereits 1992 den Wahlsieg von John Major gefeiert. Vgl. D. Draper 1997: 129 536
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erleichtert hat zusätzlich eine Mediengesetzgebung der Konservativen, die Murdoch nicht passte540. Die Überwindung massenmedialer Selektionsbarrieren sowie die Durchsetzung einer eigenen Sicht der Dinge auch gerade in den Medien, die traditionell labourkritisch und den Konservativen zugeneigt waren, wurde von Labours Kommunikationsstrategen als zentrale Notwendigkeit für einen Wahlsieg betrachtet. Die Nähe zum Boulevard, vor allem auch zu Rupert Murdoch541, gepaart mit dem exzessiven Einsatz von politischem Marketing und spin-doctoring erzeugte jedoch fortan ein höchst ambivalentes öffentliches Bild der Regierung Blair. Der Boulevard-Journalismus, allen voran der britische, der in seinem Vergnügen am Geschmacklosen, Kaputten und Verdorbenen gerne etwas lakonisch als grob und schmuddelig beschrieben wird, und sich deshalb ästhetischen oder moralischen Maßstäben entziehe, wirkt diskurspolitisch meist zerstörerisch und lähmend. Und der BoulevardJournalismus funktioniert nur in einer kulturellen Klassengesellschaft. New Labours virtuoser Umgang mit der medialen Öffentlichkeit geschah auf Kosten eines in der Öffentlichkeit verwurzelten ideologischen Diskurses. Dies zeigt sich darin, dass die mediale Zustimmung wesentlich unsicherer und situationsgebundener ist als der Zuspruch der Zeitungen zur Politik der Konservativen in der Thatcher-Ära542. Es ist eine vielfach skeptische und sogar zynische Unterstützung, die zudem die konservative gesellschaftspolitische Grundausrichtung vieler Boulevardzeitungen kaum berührt. Radio und Fernsehen zeigen ein ganz anderes Bild. Im Zentrum des britischen Rundfunksystems steht die BBC, die gemeinhin als Höchstmaß an Professionalität, Sachlichkeit und Unparteilichkeit gilt und in den letzten Jahrzehnten häufig als Prototyp des öffentlichrechtlichen Rundfunks betrachtet wurde. Mit der Royal Charter 1927 (vergleichbar dem deutschen Rundfunkstaatsvertrag) wurde der British Broadcasting Corporation ein Sendeauftrag erteilt (Ende der 1940er Jahre auch mit einem regelmäßigen Fernsehprogramm), wonach deren Programm ‚informieren, bilden und unterhalten’ solle. In den frühen Jahren fügte der erste BBC-Direktor John Reith diesem Sendeauftrag zudem noch eine Prise calvinistischen Paternalismus hinzu543. Gleichwohl ist das britische Fernsehen schon lange ein Hybrid aus kommerziellem und öffentlich-rechtlichem Rundfunk, seit Großbritannien 1954 als erstes großes europäisches Land mit Independent Television (ITV) kommerzielles Fernsehen einführte. ITV war regional ausgerichtet und stellte ein Gegengewicht zur zentralistischen Struktur der BBC dar. Es bestand aus mehr als einem Dutzend regionaler Fernsehsender, die sich zu einem Programmnetzwerk zusammenschlossen, das u.a. die Independent Television News produzierte. 1964 ging BBC2 mit anspruchsvollen Kultur- und Informationsprogrammen auf Sendung544. Trotz ITV blieb das britische Rundfunkssystem in seiner Struktur und seinem politischen ‚Verständnis’ nach ein öffentliches Gut, so dass üblicherweise BBC und das kommerzielle ITV gleichermaßen als Teil eines öffentlich-rechtlichen Mediensystem erachtet wurden. Die Independent Broadcasting Authority (IBA), die den kommerziellen 540
W.A. Meier/ J. Trappel 2000: 69 So wurde in der Öffentlichkeit über Blairs Unterstützung bei dem italienischen Premierminister Prodi für den Ankauf eines italienischen Fernsehsenders durch Murdoch ebenso wie über seine Zurückhaltung bei der wettbewerbspolitischen Beurteilung der Dumping-Preis-Strategie der im Besitz Murdochs befindlichen Times sehr kritisch bisweilen zynisch berichtet. 542 U. Jun 2004: 377 543 D.C. Hallin/ P. Mancini 2004: 231 544 H.A. Smetko 2000: 345 541
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Rundfunk überwachte, war mehr als nur eine Regulierungsbehörde, da sie auch Sendelizenzen verwaltete und Verträge mit einzelnen ITV Stationen abschloss und so letztlich Kontrolle über Programm-Entscheidungen behielt. Zudem waren sowohl BBC als ITV durch Statuten zu einer unparteiischen Berichterstattung öffentlicher Angelegenheiten verpflichtet. BBC und ITV konkurrierten allein um Zuschauer, jedoch nicht um Einnahmen, da sich die BBC allein aus Rundfunkgebühren und ITV allein aus Werbung finanzierte. Ab 1982 strahlte mit Channel Four ein weiterer kommerzieller Fernsehsender landesweit sein Programm aus. Channel Four war werbefinanziert, hatte aber einen öffentlichen Programmauftrag, nämlich Minderheitenprogramme zu erstellen. Channel Four steht somit – wie schon ITV – exemplarisch für die ungewöhnliche Konstruktion des britischen Fernsehsystems: Die regulierende Einbettung kommerziellen Fernsehens in einen öffentlichrechtlich Rundfunkrahmen. Das britische Fernsehsystem kennzeichnete sich lange durch seine Stabilität und hohe journalistische Qualität. Über 40 Jahre lang standen die beiden hoch geachteten Nachrichtenprogramme ITNs News at Ten und BBCs Nine O’Clock News im Zentrum der politischen Berichterstattung. Die Statik dieses Duopols zwischen der BBC und der privaten ITV wurde 1990 mit dem Broadcasting Act aufgebrochen545. Die konservative Regierung Thatcher – die in den 1980er Jahren die Industrie privatisiert und dereguliert hatte – leitete eine stark ideologisch motivierte medienpolitische Wende ein, um die Prinzipien der freien Marktwirtschaft auch auf dem Fernseh- und Radiomarkt durchzusetzen. Für Margaret Thatcher stellte das britische Rundfunksystem ‚die letzte Bastion regulierter Praxis dar’. Die Independent Broadcasting Authority wurde mit dem Broadcasting Act abgeschafft und durch eine Independent Televison Commission ersetzt, die Sendelizenzen versteigerte, darüber hinaus aber keine Regulierungsbefugnisse mehr hatte. Die Folge war eine immense Kommerzialisierung (auch von ITV und Channel Four), Zugangsmöglichkeiten privater wirtschaftlicher Interessen zu den Rundfunkmedien und eine Zersplitterung der Fernsehlandschaft. Der Broadcasting Act, der häufig als eine Essenz des thatcheristischen Neoliberalismus beschrieben wird, war in der Öffentlichkeit seinerzeit umstritten war und ist es bis heute; selbst einige Mitglieder und Abgeordnete der Konservativen Partei, die eine massive Amerikanisierung und Verflachung des Fernsehens befürchteten, wandten sich damals gegen die Rundfunkreform546. Mit dem Wandel von Old Labour zu New Labour wandelte sich auch Labours medienpolitische Ausrichtung. Die neu-programmatisch positive Akzentuierung von Marktmechanismen des ‚Dritten Weges’ führte dazu, dass der Broadcasting Act mehr und mehr verteidigt, die Wahlfreiheit der Medienkonsumenten gepriesen und von einer ReRegulierung des Medienmarktes Abstand genommen wurde. New Labours Medienpolitik zu Beginn des 21.Jahrhunderts zwischen neoliberalem Erbe der Thatcher-Ära und sozialdemokratischem Gestaltungsanspruch steht vielleicht exemplarisch für Labours ambivalentes Verhältnis zur öffentlichen Sphäre und zu Regulierung547.
545 546 547
J.G. Blumler/ D. Kavanagh/ T.J. Nossiter 1996: 60 S. Livingstone/ P. Lunt 1994; J. Seaton 2008 D. Hesmondhalgh 2005
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4 Nationale Input- und Outputfilter
4.4.5 Schweden Das schwedische Mediensystem charakterisierte sich bis in die 1990er Jahre hinein durch drei stabile Eigenschaften. Erstens (typisch für demokratisch-korporative Systeme): Zeitungen mit einer großen Leserschaft und mit einer beherrschenden Rolle im Werbemarkt sind im privaten Besitz, ein werbefreier Rundfunk wird hingegen allein durch öffentlichrechtliche Anstalten bereitgestellt. Zweitens: Sowohl in der Presse als auch im Rundfunk dominiert eine Berichterstattung zu politischen und sozialen Themen. Drittens: Es gibt eine große Gleichheit im Medienkonsumverhalten der Bürger (was wiederum eine durchgängig hohe journalistische Qualität bei regionalen und nationalen Zeitungen und dem öffentlichrechtlichen Rundfunk erklärt)548. In vergleichenden Studien nationaler Mediensysteme hebt sich Schweden als Zeitungsland massiv von anderen Ländern ab: Sowohl hinsichtlich der Auflagen (Anzahl der gedruckten Exemplare pro 1000 Einwohner - 430 im Vergleich zu 317 in Großbritannien und 303 in Deutschland) als auch mit Blick auf die Reichweite von Zeitungen (der Prozentsatz der erwachsenen Bevölkerung, der täglich mindestens eine Tageszeitung liest - 89% im Vergleich zu 79% in Deutschland und nur 34% in Großbritannien)549 (Tab.1), nimmt Schweden weltweit den Spitzenplatz ein. Zudem ist die schwedische Zeitungslandschaft durch einen starken politischen Parallelismus bestimmt, wenngleich in den letzten zwei Jahrzehnten in allein Zeitungen – zumindest im Nachrichtenteil – eine verstärkte Informationsorientierung festzustellen ist. Der politische Parallelismus reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück, als parteipolitische Zeitungsgründungen eine ebenso zentrale Rolle bei der Konstitution eines modernen schwedischen Zeitungsmarktes spielten, wie die Zeitungen, die aus eher kommerziellen Erwägungen entstanden. In Schweden war es über weite Strecken des 20. Jahrhunderts üblich, ‚seine Zeitungen’ zu lesen550, also die Pressorgane der Partei, der man sich selbst zugehörig fühlte. Dies galt für alle schwedischen Parteien, vor allem aber für die Sozialdemokraten, deren Parteizeitungen zugleich wiederum auf die Unterstützung ihrer Leser angewiesen waren551. Auch wenn sich diese organisatorischen Verbindungen zwischen Parteien, Gewerkschaften und gesellschaftlichen Organisationen und ihren jeweiligen Zeitungen seit den 1970er Jahren auflösten, sich die politische Presse gegenüber der kommerziellen marginalisierte und sich seitdem ein professionell journalistisches Selbstverständnis durchsetzte, dass Distanz zu den politischen Akteuren und neutrale Informationen betonte, blieben die ideologischen Verbindungen zwischen Zeitungen und ihren Lesern (weitgehend) erhalten. Dabei ist bemerkenswert, dass – obwohl in der komparativen Forschung zu anderen Politik- und Gesellschaftsfragen meist die jahrzehntelange sozialdemokratische Hegemonie in Schweden hervorgehoben wird – heute nur ein Fünftel der schwedischen Tagespresse der SAP zugeordnet werden kann. Die beiden großen Stockholmer Tageszeitungen mit landesweiter Relevanz – Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet – sind in ihrer Ausrichtung liberal bzw. konservativ, auch die nächst größeren Regionalzeitungen GöteborgsPosten und die Malmöer Sydskvenska Dagbladet verorten sich eindeutig rechts von der 548
K. Asp/ P. Esaiasson 1996: 81f. F. Plasser 2003: Tab. 7.1, 242f. 550 Noch 1974 bestand 97% der schwedischen Tagespresse aus parteinahen oder Parteizeitungen. S. Høyer/ P.E. Lorentzen 1977. Zitiert in: D.C. Hallin/ P. Mancini 2004: 154 551 L. Weibull 1983 549
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
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Sozialdemokratie. Die auflagenstärkste Zeitung jedoch, die Boulevardzeitung Aftonbladet hat eine eindeutig sozialdemokratische Orientierung552. In Schweden findet sich keine scharfe soziale Trennung zwischen den Qualitäts- und Boulevardzeitungslesern wie etwa in Großbritannien; dies liegt unter anderem daran, dass Qualitätszeitungen morgens und die meisten Boulevardzeitungen mittags erscheinen, so dass es durchaus üblich ist, beide Zeitungstypen zu lesen. Bis in die 1960er Jahren gab es in Schweden in vielen Gebieten noch Zweit- und Drittzeitungen vor Ort, so dass das Verschwinden der (auch regionalen) Parteipresse sowie eine zunehmende Eigentümerkonzentration zu einem Zeitungssterben und somit zur Gefährdung der medialen Meinungsvielfalt führten. Dieser Gefahr sollte Ende der 1960er Jahre durch staatliche Zeitungssubventionen begegnet werden, mit denen vor allem die zweitgrößten Zeitungen am Ort (die somit auch weniger Werbeeinnahmen haben) geschützt werden sollten. Im Jahr 2006 betrugen die Subventionen 527 Millionen Kronen (57 Millionen €)553 und stellen für viele Zeitungen eine bedeutende Einnahmequelle dar. Im internationalen Vergleich kennzeichnet sich der schwedische Zeitungsmarkt durch eine sowohl politische als auch regionale Vielfalt. Dahinter steht die weithin geteilte politische Überzeugung, dass Medien nicht nur eine private und kommerzielle Unternehmung sind, sondern auch eine soziale und demokratische Institution, für die der Staat Verantwortung übernehmen muss. Auch wenn die Subventionen bei ihrer Einführung nicht unumstritten waren, so herrscht heute Einigkeit darüber, dass die komplexe Struktur der schwedischen Presse ohne Subventionen heute anders aussehen würde554. Diese staatliche Verantwortungsethik für die Massenmedien artikuliert sich besonders deutlich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dem Rundfunk wird eine zentrale Rolle für das Funktionieren von Gesellschaft und Demokratie, für die Inklusion und Partizipation der Bürger zugeschrieben. Daher darf Radio und Fernsehen nicht privaten Interessen überlassen werden, sondern muss als öffentliches Gut bereitgestellt werden. Die Einbettung des Rundfunks in ein gesellschaftspolitisches Rahmenwerk entspricht demselben sozialdemokratischen Politikverständnis wie der universelle Wohlstaat insgesamt: Erstens müssen die Güter und Leistungen, die unbedingt zur politischen und gesellschaftlichen Teilhabe notwendig sind, Marktmechanismen entzogen werden, damit zweitens garantiert ist, dass alle Bürger, ungeachtet ihrer Klasse und Herkunft, den gleichen Zugang zu diesen Gütern und Leistungen haben. Der Staat steht also in einer Gewährleistungspflicht, für eine Rundfunkinfrastruktur wie auch für ein hochwertiges Rundfunkprogramm zu sorgen. Gleichzeitig muss dem Rundfunk jene Autonomie garantiert sein, die zur Ausübung seiner gesellschaftlichen Funktion notwendig ist. Sveriges Television (SVT) ist eine Aktiengesellschaft, deren Aktienmehrheit von einer Stiftung verwaltet wird555, die von der schwedischen Regierung ernannt wird. In dieser Stiftung sind auch Gewerkschaften, Konsumvereine und die Kirchen vertreten, 40% der Aktien halten Wirtschaftsunternehmen und Medienverlage. Die Finanzierung erfolgt über eine Rundfunkgebühr, deren Höhe vom Parlament bestimmt wird556. Das Fernsehen ist ein 552
D.C. Hallin/ P. Mancini 2004: 182; D. Jahn 2003: 120f. Swedish Institute 2006 554 K.E. Gustaffson/ S. Hadenius 1976: 109 555 Zur dieser Stiftung gehören neben dem Fernsehen auch das Radio SR und der Bildungsrundfunk UR (Utbildningsradio). 556 2008 betrug die Rundfunkgebühr 2.032 Kronen (ca. 200 €). 553
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öffentlich-rechtliches Unternehmen, das vom Staat über Jahre ein Lizenzmonopol zur Sendung von Programmen erhalten (wie auch das schwedische Radio SR) und das Bestimmungen des Rundfunkgesetzes und interner Leitlinien zu befolgen hat. Das Rundfunkgesetz garantiert SVT die Unabhängigkeit von politischen und kommerziellen Interessen, verpflichtet es aber zugleich, Behörden, Organisationen und private Unternehmen zu überwachen, deren Aktivitäten Einfluss auf Politik und Öffentlichkeit haben557. Durch seine weitgehende Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen kommt der öffentliche Rundfunk Schwedens dem ‚professionellen Modell’ der BBC sehr nahe. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt es keine Werbung. Der reguläre Programmbetrieb startete 1956, seit 1969 gibt es ein zweites Programm (SVT2), das im Gegensatz zu SVT1 nicht so stark auf Stockholm ausgerichtet ist, sondern von den Fernsehbezirken des Landes organisiert wird. Nach der Einführung des zweiten Programms kam es in der schwedischen Fernsehlandschaft bis Ende der 1980er Jahre zu keinen weiteren Veränderungen. Doch Anfang der 1990er Jahre veränderte sich das schwedische Mediensystem radikal. Zwei wichtige Veränderungen fanden zu Beginn der 1990er Jahre statt: Zum einen vollzog sich eine weitreichende De-Regulierung und De-Monopolisierung der Rundfunkmedien und ebnete den Weg für die Kommerzialisierung von Fernsehen und Radio. Gegen diese Entwicklung hatte sich die Politik, allen voran die der Sozialdemokraten lange und vehement gestemmt. Doch seit der vom Medienunternehmer Jan Stenbeck 1987 gegründete Privatfernsehsender ‚TV 3’ das staatliche Fernsehmonopol und das Verbot von Fernsehwerbung dadurch unterlief, dass er per Satellit von London ausgestrahlt wurde, blieb den schwedischen Regierungen – um einen Rest Regulierungsspielraum behaupten zu können – nichts anderes übrig, als das Lizenzmonopol von SVT und SR sowie das Werbeverbot aufzugeben. So erhielt 1992 der private und werbefinanzierte Fernsehsender ‚TV 4’ eine Sendelizenz für analoges terrestrisches Fernsehen mit der Auflage, Nachrichtenprogramme und Lokales zu senden. Zudem wurden neue Fernsehstationen ins Kabel, das Anfang der 1990er Jahre bereits 60% der Haushalte versorgte, eingespeist558. Zum anderen erreicht die De-Parteipolitisierung von Tageszeitungen – ein Prozess, der bereits in den 1970er Jahren einsetzte – zu Beginn der 1990er Jahre seinen Höhepunkt. Im Zuge dieses Abkoppelungs-Prozesses gewann in Schweden ein eher angloamerikanisches journalistisches Professionalitätsverständnis zunehmend an Gewicht, das mehr Neutralität, objektive Distanz und Unabhängigkeit anstatt publizistisches Engagement betonte. Obgleich die schwedische Zeitungslandschaft immer noch vergleichsweise vielfältig und parteipolitisch differenziert ist, kennzeichneten sich die 1990er Jahre durch eine massive mediale Homogenisierung; die De-Parteipolitisierung und Professionalisierung des Journalismus führte zu einem Mehr des Gleichen. Zudem nahm – vor allem im Fernsehen – die Kampagnen-, ‚horse-race’- und Meta-Berichterstattung zu559. Gleichwohl ist im internationalen Vergleich das Ausmaß der Themenberichterstattung (hard news im Gegensatz soft news) in den schwedischen Nachrichtenmedien immer noch verhältnismäßig groß. Und schließlich nahm in den 1990er Jahren die Gleichheit im Medienkonsum ab und vertiefte den Graben zwischen informationsreichen und informationsarmen Bürgern560. 557
„About SVT“ (Selbstdarstellung). http://svt.se/svt/jsp/Crosslink.jsp?d=10775&a=159227&lid=puff_159902&lpos=lasMer (12.01.2009). 558 D. Jahn 2003; M. Haaß 2002; Swedish Institute 2006 559 J. Strömbäck 2007 560 K. Asp/ P. Esaiasson 1996
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
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All diese mediensystemischen Veränderungen haben auch die Möglichkeiten und Rahmenbedingungen eines öffentlichen Diskurses in Schweden tiefgreifend verändert. Die Professionalisierung der Außenkommunikation seitens der Parteien, die Personalisierung und Theatralisierung des Politischen und schließlich die Dominanz der medialen Zeitlogik zwangen die schwedischen Diskursprotagonisten in den 1990er Jahren dazu, ihren öffentlichen Politikdiskurs anders als in den vorausgegangenen Jahrzehnten zu kommunizieren: Eine Modernisierung oder auch ‚Amerikanisierung’ der politischen Kommunikation ist unübersehbar. Trotz dieser Konvergenztendenz auf das liberale Medienmodell unterscheidet sich das schwedische Mediensystem von anderen Ländern immer noch durch relativ starke Meinungsdiskurse (im Gegensatz zu Faktendiskursen), eine vielfältige und hochqualitative mediale Infrastruktur und verhältnismäßig egalitären Medienkonsum. Das Niveau der staatlichen Regulierung war so hoch, das Ausmaß des politischen Parallelismus so groß, die historische Rolle der Parteipresse so bedeutsam und ein Verständnis der Medien als öffentliches Gut so ausgeprägt, dass auch nach Deregulierung und Liberalisierung die Unterschiede zu liberalen Mediensystem markant blieben. Vor allem aber – und dies ist für die hier vorgenommene Fragestellung wichtig – blieb der Inhalt des sozialdemokratischen Reformdiskurses gegenüber der Ausdehnung von Marktmechanismen und zunehmenden Ökonomisierung kritisch. In dieser kritischen Distanz zu seiner medialen Diskurs-Umgebung sowie zur Kommerzialisierung der Öffentlichkeit blieb der schwedische sozialdemokratische Reformdiskurs kohärent mit der eigenen Programmatik und seinen zu kommunizierenden Policy-Lösungen. Der normative Anspruch der Bereitstellung qualitativ hochwertiger öffentlicher Güter, auch im Hinblick auf Medien, wird nicht aufgegeben. Digitalisierung und Globalisierung der (neuen) Medien wird – im Gegensatz zum britischen und deutschen Diskurs – nicht emphatisch als Ende alter ökonomischer Widersprüche gefeiert, sondern gleichermaßen als neue politische und soziale Herausforderung561. Dabei haben die schwedischen Sozialdemokraten auf der Ebene der Kommunikationsinstrumente eine unhintergehbare Medienwirklichkeit durchaus anerkannt und ihre Kampagnenstrategien danach ausgerichtet. Auf Ebene der Kommunikationsinhalte jedoch wurde die kritische Ideologie gegenüber der Privatisierung, Vermarktlichung und Kommerzialisierung der Öffentlichkeit behauptet. Diese programmatisch kritische und gleichwohl funktionale Anpassung an ein verändertes Medienumfeld hat dem sozialdemokratischen Reformdiskurs der 1990er Jahre in seiner Grundargumentation Glaubwürdigkeit und Kohärenz verschafft.
561
Vgl. Kap. 5.2.1: ‚SAPs interaktiver Diskurs’
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4 Nationale Input- und Outputfilter
4.4.6 Deutschland In Hallin/ Mancinis Mediensystemvergleich wird Deutschland dem demokratischkorporatistischen Modell zugeordnet. Für diese Zuordnung spricht, dass sich das deutsche Mediensystem durch Eigenschaften auszeichnet, die mit diesem Modell gemeinhin identifiziert werden: die historisch frühe Massenzirkulation von Zeitungen, ein hoher Grad politischem Parallelismus’ und klarer ideologischer Artikulation bei gleichzeitig starker journalistischer Autonomie und einem weitreichenden Konsens hinsichtlich professioneller Standards; klare, liberale Begrenzung des Staates (Pressefreiheit) bei gleichzeitig aktiver staatlicher Intervention und Einbindung des öffentlichen Sektors in die Mediensphäre ebenso wie sozialer und politischer Interessen in den Policy-Prozess. Diese Eigenschaften des (west)deutschen Mediensystems sind jedoch weniger das Ergebnis einer kontinuierlichen historischen Entwicklung als das einer Zäsur. Medienorganisationen, -unternehmen und -strukturen sind in Deutschland überwiegend erst nach 1945 entstanden und staatliche Medienregulierungen und professionelle Selbstverständnisse wurden zum Teil aus anderen Ländern importiert. Gleichwohl ist die deutsche Nachkriegs-Medienlandschaft in eine kulturelle und personale Kontinuität eingebettet. Der Begriff ‚Stunde Null’ bezieht sich vor allem auf Strukturen, weniger auf Personen und Orientierungen. Die Mischung aus Kontinuität und Diskontinuität, ebenso wie die Erfahrungen aus der Katastrophe des Krieges und dem Völkermord sowie dem politischen Versagen der bürgerlichen Gesellschaft, die das deutsche Mediensystem nach 1945 kennzeichnen, stellen über Jahrzehnte einen spezifischen normativen Rahmen für den politischen Diskurs in den Medien dar: Erstens ist die Auffassung politisch dominant, dass der Rundfunk (vor dem Hintergrund der propagandistischen Gleichschaltung der Medien im Nationalsozialismus) zwar staatsfern zu sein habe, aber zugleich dem Gemeinwohl dienen und daher im öffentlichen, also im staatlich regulierten Raum angesiedelt sein sollte. Zweitens sind die deutschen Nachkriegsmedien von zwei JournalistenGenerationen bestimmt, deren professionelles Selbstverständnis von Diktatur und Krieg, aber auch vom Scheitern der Weimarer Republik (mitunter persönlich) geprägt ist. In beiden Journalisten-Generationen der Nachkriegszeit bis ca. Ende der 1970er Jahre ist (wenn auch seit den 1960er Jahren auf unterschiedliche Weise) eine Berufsethik bestimmend, wonach der Journalist gleichermaßen Wächter wie auch Propagandist der Ideen und Werte der Demokratie sei. Dieses journalistische Selbstverständnis der frühen Bundesrepublik Deutschland weist einerseits eine historische Kontinuität auf, die bis in späte 19. Jahrhundert zurückreicht, als sich der deutsche Journalist mehr als Publizist verstand, der Ideen propagierte, und weniger als Reporter, der neutral Ereignisse berichtet; andererseits bedeutet es einen historischen Bruch, da die anti-demokratische, sich ständig radikalisierende politische Polarisierung, die vor allem die Presse der Weimarer Republik prägte, überwunden wurde und sich in einem moderaten Pluralismus auflöste. Der Zeitungsmarkt in Deutschland entwickelte sich später als der in Großbritannien, doch mit der beginnenden Industrialisierung und dem Wachstum von Marktinstitutionen und -mechanismen entstand im frühen 19. Jahrhundert dann umso schneller ein Markt für eine Massenpresse, der mit dem britischen hinsichtlich Auflage und Reichweite alsbald gleichzog. Ebenso wie in der schwedischen prägten sich in der deutschen Entwicklung der nationalen Zeitungslandschaft zwei markante Eigenschaften aus, die sich von der britischen Entwicklung unterschieden. Zum einen die Bedeutung und hohe Reichweite der lokalen
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
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Presse. Ein ‚lokaler Patriotismus’ – die zivilgesellschaftliche Einbindung in lokale Gemeinschaften – ist auch das Resultat der verspäteten nationalen Einigung Deutschlands und der daraus folgenden dezentralen Entwicklung liberaler Institutionen. Zum anderen eine an Ideologien und soziale Klassen gebundene Presse. Liberale und radikale Zeitungen entstanden mit der Revolution von 1848, sozialdemokratische Zeitungen wurden ab den 1860er Jahren gegründet, die wichtigste und bekannteste sozialdemokratische Zeitung, der Vorwärts, 1876. Die Hochzeit der Parteipresse war die Weimarer Republik, in der ein Drittel aller Tageszeitungen mit politischen Parteien verbunden war. Der politische Katholizismus hatte mehr als 400, die Sozialdemokraten um die 200 und die Kommunisten um 50 Zeitungen562. Der Zeitungsmarkt sowohl des vordemokratischen Deutschlands wie auch der prekären Weimarer Demokratie spiegelte eine politisch und sozial segmentierte Öffentlichkeit563 wider. Mit dem Aufkommen der Massenpresse im 19. Jahrhundert entstanden auch rein kommerzielle Zeitungsunternehmungen, die – wie Zeitungen im liberalen Mediensystemen – ihre politische Unabhängigkeit und Unparteilichkeit betonten und sich nicht in den Dienst einer politischen Ideologie stellten. Neben den kommerziellern Qualitätszeitungen wie Vossische Zeitung, Berliner Tageblatt oder Frankfurter Zeitung entstanden im frühen 20. Jahrhundert neue Pressetypen wie die Illustrierte und Boulevardzeitungen564. Kommerzielle und Parteipresse ko-existierten im deutschen Zeitungsmarkt und befruchteten sich teilweise, unterschieden sich aber klar in ihrer Funktion und ihrem Selbstverständnis. Die scharfe politische Polarisierung der Weimarer Republik brachte allerdings auch einen neuen Typus Medienimperium hervor, das gleichermaßen ein kommerzielles wie politisches Anliegen verfolgte. Der Medienkonzern des Industriellen Alfred Hugenberg, ein Unterstützer des Nationalsozialismus und Vorsitzender des rechtsnationalistischen DNVP, nutzte seine kommerzielle Dominanz auf dem Medienmarkt für politische Zwecke. Europas erster Medienkonzern bestand aus Verlagen, Presse- und Werbeagenturen, Korrespondenzdiensten, Filmgesellschaften (z. B. UfA mit den Wochenschauen) und Zeitungsbeteiligungen. Hugenbergs Medienunternehmungen, die wiederum von Magnaten der Schwerindustrie finanziert wurden, verfolgten das explizite Ziel einer De-Stabilisierung der ihnen verhassten Demokratie565. Nach dem Zweiten Weltkrieg prägte sich in der deutschen Presse erneut der parteiliche Charakter unterschiedlicher Zeitungen aus und erzeugte einen politischen Parallelismus in der Zeitungslandschaft, der das gesamte Spektrum politischer Orientierung in der Gesellschaft abbildete. Die extreme ideologische Polarisierung jedoch, die noch die Weimarer Republik bestimmte, blieb aus. Die wichtigste Rolle beim Wiederaufbau der (west)deutschen Presse kam den alliierten Besatzungsmächten zu, die dahin gehend übereinstimmten, dass ein unabhängiges und plurales Mediensystem essentiell für eine demokratische ‚Re-Education’ der deutschen Zivilgesellschaft sei. Ziel war es, einen externen Pluralismus in der Presselandschaft zu garantieren. In ihren Ansätzen zur Rekonstruktion einer deutschen Presse allerdings unterschieden sie sich: Die US-Amerikaner versuchten – teilweise auch um die Marktdominanz ihrer Medienindustrien zu fördern – das Modell einer neutralen kommerziellen Presse zu 562
D.C. Hallin/ P. Mancini 2004: 155 U. Wehler 2003: 474 564 R. Stöber 2000 565 H. Holzbach 1981; P. Bucher 1990; K.C. Führer 1996 563
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4 Nationale Input- und Outputfilter
etablieren. Da sie jedoch beim gleichzeitigen ‚Entnazifizierungs’-Bestreben nur Zeitungen lizenzierten, die von Individuen und Organisationen betrieben wurden, die zuvor eine klare Position gegen die Nazi-Ideologie eingenommen hatten, kam es auch im Amerikanischen Sektor zu vorwiegend ‚politischen’ Zeitungsgründungen. Die britischen Besatzungstruppen hingegen förderten Partei- bzw. Tendenzzeitungen, die – so die Hoffnung – die Pluralität der Presse entlang der ideologischen Orientierungen garantierten566. Trotz des neuetablierten politischen Parallelismus konnten sich die klassischen Parteizeitungen in der Bundesrepublik kaum mehr durchsetzen. Es gab keine nennenswerte kommunistische Presse mehr und auch die Liberalen und Christdemokraten hatten kein Interesse an der Entwicklung einer eigenen Presse. Die Sozialdemokraten bauten zwar nochmals ihre Pressestrukturen auf, mussten aber in 1960er und 1970er Jahren feststellen, dass es für diese Art Zeitung keinen Markt mehr gab und mussten eine Parteizeitung nach der anderen aufgeben567. In den späten 1950er Jahren hatte sich schließlich eine komplexe und heterogene Zeitungslandschaft ausgebildet, die bis Ende der 1990er Jahre überaus stabil blieb. Erstens nationale Tageszeitungen wie Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Welt, die das politische Spektrum der deutschen Presse von links nach rechts abbildeten. In den 1980er Jahren kam zu diesem ‚Standardmaß’ der Bandbreite politischer Meinungen noch die links-alternative tageszeitung hinzu, die – als einzige nennenswerte und nachhaltige Tageszeitungsneugründung – die kulturellpolitischen Veränderungen in der deutschen Gesellschaft ab den späten 1960er Jahren repräsentierte. Zweitens eine hochwertige und auflagenstarke lokale Presse mit Zeitungen wie z. B. Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Essen), Stuttgarter Zeitung, Der Tagesspiegel (Berlin), Hannoverische Allgemeine Zeitung, Südwestpresse (Ulm). Die lokale Presse bereichert die nationale Zeitungslandschaft; vor Ort ist eine vergleichbare Meinungsvielfalt allerdings immer weniger gegeben. In Deutschland (wie auch in Schweden) nimmt seit den 1960er Jahren die Zahl der Zahl ‚Einzeitungskreise’ kontinuierlich zu. Im Jahr 1954 hatten in Westdeutschland 8,5% der Bevölkerung nur eine einzige Zeitung vor Ort, 2003 ist der Anteil der Einzeitungsgebiete über 40% gestiegen568. Drittens die nationale Boulevardzeitung BILD. Viertens lokale Boulevardzeitungen wie z. B. Express (Köln), B.Z. (Berlin), Abendzeitung (München). Fünftens nationale Wochenzeitungen wie DIE ZEIT und Rheinische Merkur und politische Magazine wie Der Spiegel. Auf diesen unterschiedlichen, gleichwohl miteinander verzahnten Ebenen und nach dem Prinzip des externen Pluralismus funktionierte die deutsche Presse insgesamt sowohl als unabhängiger ‚Watchdog’, der das politische Geschehen und die politische Klasse präzise beobachtet und kontrolliert, wie auch als Bühne gesellschaftspolitischer Diskurse (die teilweise zwischen Zeitungen kontrovers ausgetragen wurden)569. Im deutschen Mediensystem stand dem externen Pluralismus der privatwirtschaftlich organisierten Presse lange der interne Pluralismus des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gegenüber. Auch bei der Etablierung eines Rundfunksystems spielten die alliierten Besat566
D.C. Hallin/ P. Mancini 2004: 156 W. Ressmann 1991 H. Meyn 2004: 79 569 Hier kann als herausragendes Beispiel der sogenannte „Historikerstreit“ 1986 angeführt werden, der anfänglich zwischen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und DIE ZEIT (und Ernst Nolte und Jürgen Habermas) ausgetragen wurde, später beteiligten sich noch andere Zeitungen (und Intellektuelle/ Historiker) an der Debatte. Für die Dokumentation der Debatte siehe R. Augstein 1987 567 568
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
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zungsmächte – bis zum Deutschlandvertrag 1955 – eine aktiv-gestaltende Rolle; sie wollten im zerstörten Deutschland zwar einen öffentlich-rechtlichen, aber keinen Staats-Rundfunk. Beim Aufbau des deutschen Public Broadcasting orientierte man sich somit stark an der britischen BBC570. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte die Grundversorgung der Bevölkerung an Information leisten und dabei ausgewogen und überparteilich sein. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk wurde in der Bundesrepublik jedoch umfassender definiert und wies alsbald in seinem Verständnis über die bloße Staatsferne und NichtKommerzialität des BBC-Modells hinaus. Im liberalen Modell soll Freiheit und Meinungsvielfalt über die Verteidigung bürgerrechtlicher und somit journalistischer Autonomie vor äußeren, vor allem staatlichen Herrschaftsansprüchen hergestellt werden. Im demokratischkorporativen Modell hingegen soll Pluralismus dadurch garantiert werden, dass sich die Vielfältigkeit der politischen und gesellschaftlichen Kräfte in der Rundfunkgovernance widerspiegelt. Im Gegensatz zur BBC, aber auch – wenn auch weit weniger – zum schwedischen Rundfunk, die ihr Programm- und Personalpolitik autonom gestalten, sehen die verschiedenen Landesrundfunkgesetze in Deutschland durchaus die Beeinflussung und Kontrolle der Programmgestaltung via Rundfunkräten vor. Die Rundfunkräte setzen sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen und Organisationen zusammen (z. B. der Gewerkschaften, Frauenverbände, Kirchen, Parteien) und sollen die Interessen der Allgemeinheit vertreten. Durch die gesetzliche Rahmung wird deutlich, dass der Rundfunk, vor allem das Fernsehen, grundsätzlich anders zu bewerten ist als die Presse. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Sichtweise in mehreren Rundfunk-Urteilen bestätigt: Die Rundfunkfreiheit bilde unter den Bedingungen der modernen Massenkommunikation eine notwendige Ergänzung und Verstärkung der Meinungsfreiheit; sie diene der Aufgabe, freie und umfassende Meinungsbildung durch den Rundfunk zu gewährleisten. Insofern habe Rundfunkfreiheit, wie die klassischen Freiheitsrechte, abwehrende Bedeutung. Doch damit sei das, was zu gewährleisten ist, noch nicht sichergestellt. Denn bloße Staatsfreiheit bedeute noch nicht, dass freie und umfassende Meinungsbildung durch den Rundfunk möglich seien571. Der Rundfunk sei Sache der Allgemeinheit572. Aus diesem Grund liege es in der Verantwortung des Gesetzgebers, dass ein Gesamtangebot bestehe, in dem die für die freiheitliche Demokratie konstituive Meinungsvielfalt zur Darstellung gelange. Der Rundfunk in Deutschland ist föderal organisiert. 1950 schlossen sich die deutschen Landesrundfunkanstalten zu einer Arbeitgemeinschaft (ARD) zusammen, die ab 1954 ein gemeinschaftliches Fernsehprogramm ausstrahlte. Anfang der 1960er Jahre unternahm das Kabinett Konrad Adenauer den Versuch, ein zweites, bundesweites privates und werbefinanziertes Fernsehen – die Deutschland Fernsehen GmbH – zu etablieren573. Das Bundesverfassungsgericht verbot diese Unternehmung, da die Kulturhoheit bei den Ländern lag und diese deshalb für die Organisation des Rundfunks zuständig seien574. Nach dem verfassungsrechtlichen Scheitern der privaten Deutschland Fernsehen GmbH unterzeichneten die Länder 1961 einen Staatsvertrag über ‚eine gemeinnützige Anstalt des öffentlichen Rechts mit dem Namen: Zweites Deutsches Fernsehen’. Das ZDF sendete ab 570
M. Kaase 2000: 377 Bundesverfassungsgericht 1981 572 Bundesverfassungsgericht 1971 573 M. Kaase 2000: 378 574 Bundesverfassungsgericht 1971 571
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1963 bundesweit. Mitte bis Ende der 1960er Jahre nahmen schließlich die regionalen Dritten Fernsehprogramme der ARD ihren Betrieb auf, die neben Berichten aus den Regionen auch anspruchsvolle Kultur- und Nischenprogramme sendeten . Das ausschließlich öffentlich-rechtliche und aufgrund seiner föderalen Struktur äußerst komplexe deutsche Rundfunksystem, das sich bis Ende 1960er Jahre ausgeprägt hatte, blieb bis Ende der 1980er weitgehend stabil. Da der Rundfunk Länderangelegenheit ist und Länder von unterschiedlichen politischen Mehrheiten regiert werden, verlängerte sich der den jeweiligen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten eingeschriebene interne Pluralismus bis zu einem gewissen Grade bundesweit in einen externen Pluralismus zwischen Sendeanstalten. Der WDR im SPD-regierten Nordrhein-Westfalen stand insgesamt eher links und der BR im CSU-regierten Bayern eher rechts. Diese Überlagerung interner und externer Pluralismen, privatwirtschaftlicher Presse und öffentlich-rechtlichen Rundfunks und regionaler und nationaler Medien führte zu einem relativ hochwertigen demokratisch-medialen Diskurskontext, in dem viele politische Akteure eine relevante Stimme hatten und einen rationalistisch Diskursstil pflegten, genügend Raum und Zeit für komplexe Begründungen, Meinungen und Argumente verfügbar waren, in dem Informationen eingebracht wurden, die gleichermaßen geregelt ausgetauscht, kritisch geprüft und ideologisch kontextualisiert werden konnten und der schließlich auf diese Weise gesellschaftlich und politisch inkludierend wirkte575. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk entsprach ferner dem Systementwurf Sozialer Demokratie, welcher den Staat verpflichtet wie auch berechtigt, auf die gleiche politische Autonomie aller hinzuwirken, was letztlich auch medienpolitische Maßnahmen verlangt, da nicht mit Sicherheit erwartet werden kann, dass ein Programmangebot in seiner Gesamtheit Kraft der Eigengesetzlichkeit des Wettbewerbs den Anorderungen der Rundfunkfreiheit, also einer voraussetzungsvollen demokratischen Öffentlichkeit entspricht576. Es ist sicherlich nicht zu weit gegriffen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als ein zentrales politisches Handlungsinstrument Sozialer Demokratie zu bezeichnen, was wiederum Rückwirkungen auf den sozialdemokratischen Politikdiskurs bis in die 1980er Jahre selbst erzeugt. Denn für die inhaltliche Kohärenz eines Diskurses ist es nicht unerheblich, inwieweit die inhaltliche Programmatik dem Ort des Diskurses entspricht. Dies gilt auch umgekehrt: Ein politischer Diskurs, der die Überlegenheit des Marktes betont und Regulierungen oder Eingriffe stets als Angriff auf das Grundrecht der Freiheit selbst versteht, wird sich notwendig auch an einem staatlich regulierten Medium reiben, in dem er sich formulieren muss. Das Monopol des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems wurde deshalb schon in den 1970er Jahren immer wieder politisch in Frage gestellt. Die Argumente für eine Privatisierung des Rundfunks waren dieselben, die auch in anderen Politikfeldern zugunsten von Privatisierungen ideologisch angeführt wurden: Freiheitsgewinn für die Bürger durch echten Wettbewerb, der nicht nur eine Steigerung der Quantität, sondern durch Konkurrenzbedingungen auch der Qualität mit sich bringe. Das Fehlen einer echten Wahlfreiheit käme einer Bevormundung der Bürger gleich. Die Regierung Helmut Schmidt stemmte sich gegen den Aufbau eines privaten Rundfunks und unternahm nur zaghafte Versuche, Satelliten- und Verkabelungstechnik auszu575
J.G. Blumler/ D. Kavanagh 1999; J. Strömbäck 2008 Auch das Bundesverfassungsgericht betonte in seinen Urteilen von 1986 und 1987, dass der öffentlichrechtliche Rundfunk in Deutschland eine Grundversorgung leiste, die der private so nicht zu leisten im Stande sei. Bundesverfassungsgericht 1986, 1987
576
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
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bauen. Ende der 1970er Jahre vertrat SPD-Geschäftsführer Egon Bahr die Ansicht, dass sich das öffentlich-rechtliche System „so phantastisch bewährt hat, dass es keinen Vergleich, was Qualität und Quantität anbelangt, mit irgendeinem westlichen Staat zu scheuen braucht“577. Der Regierungswechsel 1982 brachte einen Paradigmenwechsel in der Medienpolitik. Die Regierung Helmut Kohl forcierte die Entmonopolisierung des Rundfunksystems in Deutschland und die Herausbildung des dualen Systems unserer Rundfunkordnung. Mit dem Staatsvertrag über die Neuordnung des Rundfunkwesens 1987 schufen die Länder eine gemeinsame Regelung zur Einführung des deutschlandweiten privaten Hörfunks und Fernsehens. Das Bundesverfassungsgericht betonte nochmals, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seiner Bereitstellung der ‚Grundversorgung’ eine Bestands- und Entwicklungsgarantie genießen müsse, erlaubte aber privaten Rundfunk578, unter der Voraussetzung, dass der Staat auch für privatwirtschaftliche Rundfunkanbieter „für den Inhalt des Gesamtprogramms Leitgrundsätze verbindlich macht, die ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten“579. Nach Einführung des Privatfernsehens konnten die privaten Sender ihre Marktanteile stetig steigern und heute bei ca. 60% stabilisieren580, was weitgehend dem durchschnittlichen Marktverhältnis zwischen privaten und öffentlichen Fernsehkanälen in Westeuropa entspricht581.
Strukturwandel des deutschen Mediensystems Die über Jahrzehnte stabile und in ihrer funktionalen Statik ausgewogene Architektur des deutschen Mediensystems wurde durch die zunehmende Bedeutung des privaten Rundfunks in den 1990er Jahren grundlegend verändert. Nicht nur das Rundfunksystem selbst, sondern die Gesamtheit aller Medien befand sich fortan in neuen Konkurrenzverhältnissen, so dass sich eine neuartige Dominanz ökonomischer Logiken (denn auch schon vorher mussten sich Zeitungen auf einem Zeitungsmarkt behaupten) auch auf die Medieninhalte auswirkte. Die wachsende Kommerzialisierung führte dazu, dass ‚Soft News’ und ‚Human Interest’-Themen an Bedeutung gewannen (‚Spill-over’-Effekte von den Boulevard- zu den Qualitätsmedien582), dagegen nahmen die Funktionen wie Kritik und Kontrolle, Aufklärung und Bildung ab. Vor allem im Bereich Hörfunk, Fernsehen und Zeitschriften, wo der Wettbewerb besonders intensiv ist, waren Kostensenkungen durch Mehrfachverwertungen und vermehrte Kaufproduktionen zu beobachten. Nachrichten werden inszeniert, um Recherchekosten zu sparen583. Statt gründlicher Recherche nehmen Aktualität, Dramatik und Kuriosität zu. Zudem führte das duale System aus öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsendern mit seinen fünfzig bis sechzig Programmauswahlmöglichkeiten einerseits zu einer Fragmentarisierung des Publikums (heute kann der Zuschauer sich in reinen Nachrichten577
Zitiert in W. Bergsdorf 2004: 6 Bundesverfassungsgericht 1981 Bundesverfassungsgericht 1986 580 Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung 2009 581 F. Plasser 2003: 248 582 F. Esser 1999 583 J. Heinrich 2001 578 579
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sendern 24 Stunden am Tag mit Politik auseinandersetzen oder Politik in seichten Unterhaltungsprogrammen gänzlich ausweichen). Die Sendervielfalt brachte aber andererseits nicht eine neue Vielfalt der Inhalte, sondern eine Vermehrung des immer Gleichen. Die verstärkte Orientierung aller Rundfunkmedien (einschließlich der öffentlichrechtlichen) auf ein möglichst breites Publikum und den Massengeschmack, die dadurch ausgelöste Strukturveränderung des Werbemarktes, unter der besonders die Zeitungen litten, und neue (auch technologische) Formen der Mediennutzung und Individualisierungsprozesse der Medienöffentlichkeit schwächten allesamt den für das deutsche Mediensystem über Jahrzehnte charakteristischen politischen Parallelismus erheblich ab. Rundfunk und Presse profilieren sich heute immer weniger durch explizite politische Orientierungen und mehr durch eine vermeintlich kritisch-professionelle Distanz zum Politischen, Informationsdienstleistungen oder über thematische Marktnischen. Die Unterschiede von WDR (noch in den 1980er Jahren häufig als ‚Rotfunk’ beschrieben) und BR haben sich längst aufgelöst. Ebenso wie Parteien und gesellschaftliche Großorganisationen scheinen auch Medien immer stärker ihre ideologische Orientierungsfunktion einzubüßen. Zudem trat im Zuge des medialen Strukturwandels in den 1990er eine neue Journalistengeneration auf die Bühne, deren intellektuelle Individuation und berufliche Sozialisation nicht mehr durch persönliche Erfahrungen mit Diktatur und Krieg geprägt war584 und die eher ein liberales journalistisches Professionalitätsverständnis betonte: Als professionell wurde vor allem die mediengerechte Aufbereitung von Informationen verstanden. Dieses Selbstverständnis zeigte sich bald in der Volantilität des Arbeitsplatzes; ein Wechsel von der linken tageszeitung zur rechten Welt, von der linksliberalen Süddeutschen Zeitung zur konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, von privaten zu öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern – zu Beginn der 1990er Jahre noch unvorstellbar – ist heute keine Seltenheit585. Wie stark sich die Rahmenbedingungen für öffentliche Politikdiskurse verändert haben, versinnbildlichen gesellschaftlich-kulturelle Relevanzverschiebungen einzelner Medien. Im Zuge der allgemeinen Boulvardisierung des deutschen Mediensystems in den 1990er Jahren rückte die BILD-Zeitung vom anrüchigen und schmuddeligen Rand in das mediale Bedeutungs- und Wahrnehmungszentrum, die traditionelle Qualitätspresse hingegen eher an den Rand. Politisch bedeutsam, weil auflagenstark, war die einzige landesweite Boulevardzeitung bereits seit den 1950er Jahren, doch wurde sie stets von der politischen Linken wie gleichermaßen vom Bildungsbürgertum wegen ihrer dumpfen und populistischen Stimmungsmache, der häufigen Verletzung von Persönlichkeitsrechten und Menschenwürde, Bigotterie, kalkulierten Grenzüberschreitungen und Geschmacklosigkeit abgelehnt und sogar bekämpft. Man muss nicht einen wissenschaftlich ohnehin schwer zu operationalisierenden Begriff eines ‚Leitmediums’ bemühen, um zu betonen, dass die BILDZeitung in die Mitte der Gesellschaft gerückt ist. Die politische Kritik an der Macht, den Methoden und Kampagnen der BILD (bis in die 1980er Jahre selbstverständlicher Bestandteil jedweden linken Emanzipations- und Aufklärungsdiskurses) oder zumindest moralische Empörung darüber sind aus dem öffentlichen Diskurs nahezu gänzlich verschwunden. Dieser Vorgang des ‚Mainstreaming’ der BILD-Zeitung allein verdeutlicht die veränderten
584 585
S.C. Ehmig 2000 A. von Lucke 2009
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
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Rahmenbedingungen für öffentliche Politik- und Reformdiskurse: von einem kognitivenrationalistischen zu einem emotional-affektiven Diskursstil586. Kommerzialisierung, Boulevardisierung, der Rückgang des politischen Parallelismus, ein zunehmend liberales Professionsverständnis als neutraler Informations-Dienstleister und zersplitterte Medienlandschaften führen allesamt dazu, dass sich der mediale Diskursrahmen entpolitisiert. Das bedeutet, dass Informationen als Ware oder Mittel zur Aufmerksamkeitserregung aus ihrem ideologischen Werte- und politischen Interessenskontext herausgelöst werden. Das führt wiederum dazu, dass in den Medien zwar aufgeregt und dramatisiert über Policy-Details diskutiert wird, die politischen Weltbilder aber aus dem Blick geraten. Aber gerade diese Weltbilder sind es, die in einem Reformdiskurs die Stoßrichtung der Reformen aufzeigen und isolierte Policy-Debatten in einen kohärenten Reformgesamtdiskurs einbetten. Nachdem die Privatisierung des Rundfunks in den 1980er Jahren durchgesetzt war, die Privatsender sich erfolgreich am Fernseh- und Radiomarkt positioniert hatten und das deutsche Mediensystem in deren Folge in den 1990er Jahren einen tiefgreifenden Wandel vollzogen hatte, verschwand ‚Medienpolitik’ als ideologischer Bestandteil eines gesellschaftspolitischen Gesamtentwurfs aus der sozialdemokratischen Programmatik587. Sozialdemokratische Ministerpräsidenten bemühten sich ebenso wie ihre christdemokratischen Kollegen in der föderalen Standortkonkurrenz um die Ansiedlung von privaten Medienunternehmen, die politische Klasse gab der BILD-Zeitung bereitwillig Interviews und Gerhard Schröder machte den ehemaligen BILD-Redakteur Béla Anda 2002 zum Regierungssprecher. Wichtig für das Verständnis öffentlicher Diskurse in der Mediendemokratie ist, dass die politische Macht der Elitepublizistik und die Entpolitisierung der Policy-Debatten auch von der Politik selbst mit aufgebaut wurden. Auf die veränderten medialen und den entsprechenden politisch-kulturellen Rahmenbedingen reagierte die Sozialdemokratie der 1990er fast ausschließlich organisatorisch588 und kaum programmatisch. Dass die Mediendemokratie normativ auch problematische Implikation besaß, wurde von der SPD nicht weiter vertieft, so dass der sozialdemokratische Reformdiskurs gerade hier eine offene Flanke besaß. Die sozialdemokratischen Modernisierer in Deutschland (ebenso wie in Großbritannien, jedoch weniger in Schweden) meinten, dass die affirmative Anpassung an die Bedingungen der Mediendemokratie und eine professionelle Kommunikationskompetenz Aufmerksamkeit erzeugen und so den Handlungsraum für sozialdemokratische Akteure vergrößere, sich der politische Hand-
586
J.G.Blumler/ D. Kavanagh 1999 Es gab natürlich weiterhin „Medienpolitik“ als ordnungspolitische Fachdiskussion, doch hatte sie kaum mehr einen, über wirtschafts- und sozialpolitische Problematiken hinaus weisenden Anspruch. In dem 2007 verabschiedeten Hamburger Grundsatzprogramm der SPD heißt es recht unpolitisch: „Wir verteidigen die Unabhängigkeit der Medien vor staatlichen Eingriffen und wirtschaftlichen Machtinteressen. Auf die effektive Selbstkontrolle der Medien und journalistisch-ethische Standards wollen wir nicht verzichten. Zur demokratischen Öffentlichkeit gehört für uns unabdingbar der öffentlich-rechtliche Rundfunk, denn er ist ein wichtiges Korrektiv gegenüber zunehmender Kommerzialisierung der Medienangebote“. Unpolitisch ist diese programmatische Forderung, weil sie weitgehend unstrittig ist und vor allem aber, weil sie offen lässt, in welchem (auch konfliktreichen) Spannungsverhältnis dieser medienpolitische Anspruch zu den tatsächlichen gesellschaftlich-kulturellen Dynamiken und wirtschaftlichen Interessen steht. 588 Vgl. U. Jun 2004 587
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4 Nationale Input- und Outputfilter
lungsraum jedoch tatsächlich mittel- und langfristig verkleinerte, da sich der Raum für einen sozialdemokratischen Gestaltungsdiskurs verkleinerte589. Auch wenn es praktisch wie theoretisch unmöglich ist, dass eine ‚Office-Seeking’Partei in einem mediokratischen Umfeld sich den Umgang mit (bestimmten) Medien untersagt, so naiv ist es zu glauben, dass eben solches demokratisches Machtstreben ohne einen nach Hegemonie strebenden öffentlichen Politikdiskurs von Erfolg gekrönt sein könnte, was wiederum bedeutet, dass jede organisatorische Kommunikationsmodernisierung einer programmatischen Medienreflexion und Stoßrichtung bedarf. Andernfalls wird der Zweck von den Mitteln überdeckt und das Sozialdemokratische der Reformanstrengungen wird unsichtbar.
4.4.7 Unterschiedliche Diskursbedingungen unterschiedlicher Mediensysteme? Es lassen sich zwar eindeutige Konvergenztendenzen auf ein liberales Mediensystem identifizieren (darin vor allem die Ausprägung eines neutralen journalistischen Professionalismus, die Entflechtung politischer Organisationen und Medien und Verflechtung wirtschaftlicher Interessen und Medien), doch bleiben nationale, mediensystemische Unterschiede und somit auch unterschiedlich filternde Diskursbedingungen für die jeweiligen Diskursprotagonisten weiterhin bestehen. Alle drei hier betrachteten nationalen Mediensysteme weisen heute strukturelle und dynamische Ähnlichkeiten auf, wie beispielsweise die gleichzeitige Existenz eines privatwirtschaftlichen wie auch eines starken öffentlichen-rechtlichen Rundfunks, eine heterogene Presselandschaft mit jedoch klarer mitte-rechts Ausrichtung (in Deutschland und Schweden weniger stark als in Großbritannien)590 oder eine zunehmende Boulevardisierung der Medienprodukte und Segmentierung der Mediennutzung. Diesen Ähnlichkeiten stehen jedoch auch strukturelle Unterschiede gegenüber, wie beispielsweise unterschiedliche politische Systeme und Parteienkonstellationen, politische Kulturen und Mediengesetzgebungen, die eine dynamische Konvergenz auf ein einziges Mediensystem begrenzen. Zudem müssen die jeweiligen Ausgangsbedingungen und -niveaus vor der letzten Transformation europäischer Mediensysteme591 mit in die Betrachtung einbezogen werden. So ist trotz einer sich in allen Ländern verstärkenden Zersplitterung der Medienmärkte die Integrationswirkung einer relativ homogenen Zeitungslandschaft in Schweden im Vergleich zu Großbritannien, wo sich nur ausgewählte Gruppen (34%) täglich der Lektüre einer Tageszeitung zuwenden, immer noch groß (siehe Tab. 4.2). Auch unterscheiden sich die Mediensysteme weiterhin in dem Ausmaß der für demokratisch-korporative Mediensysteme und koordinierten Marktwirtschaften typischen berufsverbandlichen Selbstregulierung. So verpflichteten sich schwedische Journalisten nach dem Attentat auf den Ministerpräsidenten Olof Palme 1986 für die Dauer der zwei Jahre laufenden polizeilichen Untersuchung, 589
Trotz der demonstrativen Nähe zur Bild-Zeitung, die Gerhard Schröder suchte, konnte er sich nicht auf faire Berichterstattung verlassen. Im März 2004 belegte Schröder die Bild-Zeitung und andere Erzeugnisse des AxelSpringer-Verlags mit einem Interview-Boykott, weil sie seiner Ansicht nach zu einseitig über die Regierungsarbeit berichteten. Vom Verlag aus wurde der Boykott als Einschränkung der Pressefreiheit beschrieben. Auch Tony Blair musste erfahren, dass die Annäherung an die Boulevard-Presse ihm bzw. der Labour Party langfristig keinen vorteilhafteren Medienkontext beschert hatte. 590 T.E. Patterson 1998 591 J.G. Blumler/ M. Gurevitch 1995; J. Strömbäck 2008
4.4 Output-Filter: Mediensysteme
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den Namen des Verdächtigten nicht zu nennen; dies wäre im britischen Mediensystem undenkbar592. Und schließlich bleibt in demokratisch-korporativen Mediensystemen die medienpolitische Einbindung gesellschaftlicher Organisationen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk bestehen. Auch wenn ihr Einfluss in einem größeren Medienmarkt mit einer Vielzahl privater Medienunternehmen und aufgrund des Bedeutungsschwunds klassischer Großorganisation insgesamt zurückgegangen ist, stellt diese Form gesetzlich definierter Mitspracherechte eine Art Untergrenze für eine rein marktorientierte Vereinheitlichung politischer Berichterstattung dar. Doch welcher öffentliche Reformdiskurs kann in welchem Mediensystem geführt werden? Gibt es für einen sozialdemokratischen Reformdiskurs vorteilhafte mediale Bedingungen? Dabei gilt es erst einmal festzuhalten, dass eine entgegengesetzte ideologische Orientierung eines überwiegenden Teils der nationalen Medien nicht notwendig die langund kurzfristige Ausstrahlung und Wirkung sozialdemokratischer politischer Kommunikation behindert. So hat die schwedische Sozialdemokratie langfristig die Hegemonie sozialdemokratischer Werte in einer eher mitte-rechten Zeitungslandschaft etablieren können, und Gerhard Schröder konnte 2005 kurzfristig entgegen dem vorherrschenden Meinungstrend ‚der Medien’ die Stimmung der Wähler vor den Wahlen noch merklich verändern. Eine zentrale Voraussetzung für einen sozialdemokratischen Reformdiskurs, der sozialpolitische Einschnitte, Zumutungen und Härten vor allem auch bei der eigenen Klientel kommunizieren muss, ist ein ‚medialer Raum’, eine solche Politik rational begründen zu können. Mehr als das länderspezifische Verhältnis von freundlichen und gegnerischen Medien, scheint für den Erfolg eines sozialdemokratischen Diskurses offensichtlich die Qualität des nationalen Medienraumes sowie jeweils vorherrschende Formen der Nachrichtenpräsentation zu sein. Werden Nachrichten faktenorientiert und neutral oder meinungsorientiert und politisch kontextualisiert präsentiert? Die reine Faktenorientierung der politischen Berichterstattung koppelt tendenziell den Policy-Sachverhalt von dahinter liegenden politischen Interessen und sozialen wie gesellschaftlichen Widersprüchen ab, während eine meinungsorientierte Berichterstattung meistens versucht, Policies mit Argumenten zu begründen oder abzulehnen, die sich stärker auf Wirkung, Ursachen oder auch Interesse des politischen (Reform)Handelns beziehen. Je komplexer (und für den Bürger undurchsichtiger) die Reformherausforderungen und je vielschichtiger und verschlungener die Reformprogramme sind, desto wichtiger ist es, die Reformen – über den reinen Policy-Sachverhalt hinaus – politisch und normativ zu kontextualisieren und auf diese Weise der Vielzahl von Einzelprogrammen und Policy-Details eine gemeinsame Stoßrichtung zu geben. Die unterschiedlichen Präsentationsformen entsprechen den Logiken unterschiedlicher Medienformen: Die Textzentrierung einer Zeitung entspricht eher einer meinungsorientierten Berichterstattung, die faktenorientierte Berichterstattung resultiert eher aus der Bildzentrierung des Fernsehens593. Vor diesem Hintergrund ist Pippa Norris’ analytische Unterscheidung von fernseh- und zeitungszentrierten Gesellschaft sehr aufschlussreich594. Zwar erreicht die Verbreitung des Fernsehens in den mediengesättigten Gesellschaften Europas nahezu die 100%-Marke und ist somit in allen hier untersuchten Ländern die pri592
D.C Hallin/ P. Mancini 2004: 173 Hier wird auf die, den Medien eingeschriebene, Präsentationslogik verwiesen. Natürlich kann sich auch eine Tageszeitung in easy-to-use-Informationen, Lokalberichterstattung sowie Berichten über Skandale und Affären Prominenter erschöpfen und umgekehrt Fernsehen komplexe Hintergrundreportagen senden. 594 P. Norris 2000: 84ff. 593
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4 Nationale Input- und Outputfilter
märe, universelle und eine täglich genutzte Informationsquelle und überall nimmt die Bedeutung der Zeitung in Relation zu anderen Medien ab, doch für die hier vorgenommene Unterscheidung ist ausschlaggebend, wie weit die politischen Nachrichten des szenischen Bildmediums Fernsehen durch das Lesen einer Tageszeitung zusätzlich kontextuell eingebettet werden. Hierzu werden die Werte durchschnittlichen Fernsehkonsums der Individuen in den jeweiligen Ländern mit der dortigen Gesamtreichweite der Tageszeitungen verbunden. Großbritannien ist mit durchschnittlich 241 Minuten am Tag ein Land extensiver Fernsehnutzung, in Schweden schauen die Bürger hingegen nur 154 Minuten am Tag fern (das sind bemerkenswerte eineinhalb Stunden weniger als die Briten). Ein relativ moderates Fernseh-Konsumverhalten findet sich Deutschland mit einer durchschnittlichen Sehdauer von 185 Minuten. Dem Fernsehkonsum steht der Zeitungskonsum gegenüber: In Schweden lesen 89% der Bürger täglich eine Tageszeitung, in Deutschland 79% und in Großbritannien nur 34%595. Großbritannien ist mit einem extensiven Fernsehkonsum und nur sehr geringen Reichweiten von Tageszeitungen eine fernsehzentrierte Gesellschaft, in der die Bürger ihre Meinung fast ausschließlich durch das Fernsehen bilden. Schweden hingegen ist eine zeitungszentrierte Gesellschaft, für die extensives Zeitungs-Lesen und verhältnismäßig wenig Konsum von TV-Unterhaltung typisch sind. Deutschland befindet sich zwischen den beiden Polen, jedoch mit einer starken Neigung in Richtung einer zeitungszentrierten Gesellschaft. Tabelle 5:
Medieninfrastruktur (vgl. Plasser/ Plasser 2002, Tab.7.1, S.243)
Deutschland Schweden Großbritannien
TVAnzahl der Anzahl der Zei- Gesamtreichweite Nutzung in Tageszeitungen tungsexemplare pro der TageszeitunMinuten 1000 Einwohner gen. Anzahl der Bürger die eine Zeitung/ Tag lesen (in %). 185 398 303 79 154 100 430 89 241 99 317 34
4.5 Nationale Diskurskontexte Die Gesamtheit komplementär auf einander bezogener Diskursfilter verdichtet sich zu spezifischen nationalen Diskurskontexten, die jeweils besondere Eigenschaften aufweisen und auf diese Weise unterschiedliche Rahmenbedingungen für Inhalt und Form sozialdemokratischer Reformdiskurse darstellen. Die nationalen Diskurskontexte Anfang der 1990er Jahre determinieren inhaltlich, was als zu reformierende Probleme und was als Zielvorgaben der Reformanstrengungen kommuniziert werden muss. 595
Hier werden neuere Daten von Plasser 2002 verwendet. Sie weichen von Norris’ Daten nur geringfügig ab und bestätigen die von ihr getroffene Unterscheidung von fernseh- und zeitungszentrierten Gesellschaften. European Key Facts 1999 und World Association of Newspapers: World Press Trends 1999.
4.5 Nationale Diskurskontexte
201
Vergleicht man die Summe der nationalen Input- und Output-Filter mit einander, so wird deutlich, dass die hier untersuchten Länder drei sehr unterschiedliche nationale Diskurskontexte beschreiben.
2.
Großbritannien steht für den liberal konkurrenzbestimmten Diskurskontext. Dieser kennzeichnet sich in seinem politischen System durch eine hohe Machtkonzentration und daher fast unbeschränkte und zentralisierte Policy-Diskurshoheit der Regierung. Wegen des ‚geschlossenen’ Parteienwettbewerbs mit einer scharfen links-rechts Trennung und unterentwickelter institutionalisierter, politisch-ökonomischer Interessensrepräsentation dominiert ein elaborierter kommunikativer Diskurs zwischen Regierung und Bevölkerung, in dem die Argumentation eher dezionistisch ist, die ReformPolicies eher grundsätzlich und weniger technisch diskutiert und die Reformrichtung über normative Bezüge zu nationalen Werten legitimiert werden. In seiner wohlfahrtsstaatlichen Dimension gründet der liberal konkurrenzbestimmte Diskurskontext historisch und konzeptionell auf der Vorstellung, dass die soziale Verantwortlichkeit des Staates allein auf Hilfe in akuter Not beschränkt ist (Grundsicherung, Selbsthilfepriorität). In der politischen Ökonomie dominieren sowohl zwischen Unternehmen wie auch zwischen Management und Gewerkschaften Konkurrenz- und Marktbeziehungen. Die zentrale Reformherausforderung – zumal vor dem Hintergrund eines neoliberalen Politikerbes – ist die verfestigte soziale Exklusion einer zunehmend verarmten Unterschicht. In seiner politisch-kulturellen Dimension dominieren anti-staatliche Grundhaltungen, die Betonung negativer Freiheitsrechte, individualistische Konkurrenzmentalität, die Akzeptanz gesellschaftlicher Ungleichheit und eine moralische Bestimmung unterschiedlicher Armutsformen. Die wohlfahrtsstaatliche und die politischkulturelle Dimension ergänzen sich diskursiv in der liberalen Bevorzugung von Marktlösungen. Die politischen und sozioökonomischen Polarisierungen und konfrontativen Haltungen des liberal konkurrenzbestimmten Diskurskontexts setzen sich seinem liberalen Mediensystem fort (zwischen Boulevard- und Qualitätsmedien, rechts-links). Der Rundfunk war lange vom statischen Duopols aus öffentlich-rechtlicher BBC und einem stark regulierten privaten Rundfunk geprägt. Deutschland steht für den fragmentiert-konsensualen Diskurskontext. Das politische System kennzeichnet sich durch eine sehr hohe Anzahl von Veto-Spielern, der öffentliche Diskurs ist durch eine Vielzahl wichtiger Diskursprotagonisten fragmentiert. Gleichwohl zwingt die institutionelle Notwendigkeit zur Aushandlung und zum Kompromiss zwischen Policy-Akteuren dazu, einen koordinierten Reformdiskurs zu führen, in dem immer wieder auch Positionen und Werte der politischen Gegner integriert werden müssen. Aus diesem Grund und weil es auf der Nachfrageseite der Bürger eine ausprägte Erwartungshaltung gibt, dass die Policy-Akteure zu gemeinsamen Lösungen kommen, sind zu starke diskursive Abgrenzungen, ideologische Polarisierungen oder Polemiken eher unüblich. Das konservative Wohlfahrtsregime hat zwar – im Gegensatz zum sozialdemokratischen – nur eine beschränkte Umverteilungswirkung, verspricht aber – im Gegensatz zum liberalen – die weitreichende Sicherung des einmal erreichten Lebensstandards. Dieses arbeitszentrierte Versicherungssystem war lange auf eine ‚normale’ Erwerbsbiografie ausgerichtet. Die zentrale Herausforderung ist die strukturell hohe Arbeitslosigkeit. In seiner politisch-kulturellen Dimension kennzeichnet sich der fragmentiert-konsensuelle Diskurskontext durch eine einge-
202
3.
4 Nationale Input- und Outputfilter schränkte Akzeptanz sozialer Ungleichheit, allerdings auch durch starke Betonung sozialer Sicherheit. Die politische Systemakzeptanz beruht stark auf ökonomischer Effektivität und dem sozialen Sicherheitsversprechen des Staates. Dieser Diskurskontext kennzeichnet sich durch eine ausgepägte Staatskultur. Das demokratisch-korporative Mediensystem ist von einem starken öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem und einer ausgeprägt regionalen sowie einer komplexen extern pluralistischen Zeitungslandschaft bestimmt. Gleichwohl weist das deutsche Mediensystem seit den 1990er Jahren zunehmend Eigenschaften des liberalen Mediensystems auf. Schweden steht für einen gleichheitsorientiert-konsensualen Diskurskontext. Im politischen System ist die Regierung mit weitreichenden Handlungskompetenzen ausgestattet. Dennoch wird ein koordinierter Diskurs bevorzugt, korporative tripartistische Entscheidungsprozesse sind traditionell sehr weitreichend und entsprechen der politischen Kultur Schwedens, die sich durch Konsensbereitschaft und -fähigkeit auszeichnet. Das sozialdemokratische, universalistische Wohlfahrtsfahrtsregime gründet auf dem politischen ‚Leitmotiv’ der Gleichheit. Die zentrale Reformherausforderung des ausgebauten und hochwertigen schwedischen Wohlfahrtsstaats ist seit Anfang der 1990er Jahre ist seine nachhaltige Finanzierung, die hohen Steuerforderungen und ein ‚Trade off’ zwischen egalitärer und Vollbeschäftigungspolitik. Die politisch-kulturelle Dimension charakterisiert sich durch eine ausgeprägte Gleichheitsorientierung. Die sozialdemokratische Konzeption des ‚Folkhem’ ist längst Teil der schwedischen Identität geworden. Dieser Diskurskontext kennzeichnet sich durch einen staatsbezogenen Individualismus. Das demokratisch-korporative Mediensystem ist vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk und einer hochwertigen, komplexen und subventionierten Zeitungslandschaft bestimmt. Es findet sich hier eine hohe Reichweite der Tageszeitungen und eine homogene, sozialökonomische Integration der Leserschaft.
Die sehr unterschiedliche Konstitution der drei nationalen Diskurskontexte verdeutlicht, dass der jeweilige nationale Reformdiskurs auf seinen Diskurskontext zugeschnitten sein muss. Die Implementierung eines fremden Reformdiskurses ist aufgrund der komplexen nationalen Rahmenbedingungen nicht möglich. Zur Wirkungsentfaltung sozialdemokratischer Politikdiskurse bieten die nationalen Diskurskontext je unterschiedliche Ausgangsbedingungen. So ist der liberal-konkurrenzbestimmten Diskurskontext aufgrund der in ihm vorherrschenden liberalen Werte und einem individualistischen Pluralismus kein günstiger Nährboden für die Kommunikation klassisch sozialdemokratischer Politikideen (zumindest die der skandinavischen und kontinentaleuropäischen Traditionslinien)596. Andererseits bietet dieser Diskurskontext der Regierung exklusive und zentralisierte Kommunikationsressourcen (gepaart mit hohen politischen Umsetzungsmöglichkeiten), so dass hier ein Reformdiskurs über die Kommunikation normativer Werte, ‚Belief Systems’ und programmatischer Ideen selbst am nachhaltigsten und radikalsten die Bedingungen, unter denen ein sozialdemokratischer Diskurs zu führen ist, verändern kann. Dem gegenüber steht der gleichheitsorientiert-konsensuale Diskurskontext. Dieser kennzeichnet sich in seiner politischen Kultur dadurch, dass eine sozialdemokratische Prog596
Auch in Großbritannien wurde im 20. Jahrhundert die absolute Dominanz des Liberalismus von konkurrierenden politischen Ideen und Werten der sozialistischen Arbeiterbewegung und anderer Denkrichtungen nachhaltig gebrochen. Die Labour Party hätte also durchaus auch andere diskursive Referenzpunkte als den Liberalismus in der britischen Geschichte finden können.
4.5 Nationale Diskurskontexte
203
rammatik auf entgegen kommende Werte und Überzeugungen trifft. Diese Tatsache kann für den sozialdemokratischen Reformdiskurs von Vorteil sein, wenn es gelingt, die ReformPolicies über sozialdemokratische Werte glaubhaft zu legitimieren; sie kann aber auch zum Nachteil werden, wenn die Reformen als Abkehr von sozialdemokratischen Grundsätzen aufgefasst werden. Die Herausforderung für die Diskursprotagonisten im gleichheitsorientiert-konsensualen Diskurskontext ist es, die Transformation eines Wohlfahrtsmodells mit der Kontinuität seiner Werte zu legitimieren. Die traditionelle Einbindung aller politischen Akteure in einen komplexen Konsultationsprozess fördert in diesem Diskurskontext jedoch einen problemlösungs- und sachsorientierten Diskurs, so dass es politischen Akteuren links und rechts der Sozialdemokratie schwer fällt, mit ideologischen Diskursen die politischkulturellen Werteorientierungen grundsätzlich in Frage zu stellen. In einem fragmentiert-konsensualen Diskurskontext sind die persuasiven Entfaltungsmöglichkeiten eines Reformdiskurses der Regierung eher begrenzt, da aufgrund der hohen Anzahl an Akteuren der Diskurs nicht auf einige wenige Kommunikationskanäle zu zentrieren ist und vor allem die institutionellen Blockadepositionen wichtiger Policy-Akteure diesen ein ‚Sprech-Recht’ einräumen, das dem der Regierung vergleichbar ist. Ein sozialdemokratischer Reformdiskurs wird somit zu jeder Zeit von etwa gleichstarken konkurrierenden Reformdiskursen bedrängt, und kann selbst als Regierungsdiskurs somit weniger als in den anderen Diskurskontexten eine zumindest zeitweilige und natürliche hegemoniale Position erlangen. Der Reformdiskurs der Regierung ist in diesem Kontext in seiner interaktiven Dimension mit anspruchsvollen Bedingungen konfrontiert, trifft als sozialdemokratischer Diskurs allerdings in seiner ideenbegründeten Dimension auf grundsätzlich entgegenkommende Werte. ‚Soziale Gerechtigkeit’ ist ein Wert, der in der Gesellschaft sehr hohe Zustimmung erfährt und selbst staatliche Verantwortung für Ergebnisgleichheit und Vollbeschäftigung werden überwiegend positiv bewertet597. Auch der häufige konsensuale Verhandlungszwang mit dem wichtigsten politischen Gegner – einer zweiten Wohlfahrtsstaatspartei – ist der diskursiven Vermittlung sozialdemokratischer Ideen und Werte nicht abträglich. Doch zur Kommunikation spezifisch sozialdemokratischer Politik- und Lösungsansätze muss sich der sozialdemokratische Reformdiskurs in einem derart zentralen Begriffsfeld gegen christdemokratische Wohlfahrtsstaats- und Gerechtigkeitskonzeptionen abgrenzen und durchsetzen. Gerade die strukturelle Schwäche eines zentrierten kommunikativen Diskurses wie auch die begriffliche und normative Nähe zum politischen Gegner, verlangen umso mehr einen elaborierten, ideen- und grundwertebegründeten Reformdiskurs. Die Stoßrichtung und der Sinn der Reformen müssen sich hier diskursiv viel stärker ideologisch abgrenzen und begründen als beispielsweise im liberal-konkurrenzbestimmten Diskurskontext, in dem unterschiedliche ideologische Lager und konkurrierende Politikkonzeptionen offensichtlich sind.
597
Trotz unterschiedlicher Konzeptionen und Zeiten der Umfragen bewerten jeweils über 80% der Deutschen „soziale Gerechtigkeit“ als „wichtig“ oder „sehr wichtig“ bzw. bevorzugen – ungeachtet der teils gegensätzlichen öffentlichen Diskussionen und Verlautbarungen – ein redistribuierendes, regulierendes und steuerndes Wohlfahrtsstaatsmodell. Vgl. G. Neugebauer 2007: 49; E. Roller 2000: Tabelle 2
204 Tabelle 6: Modelle nationaler Diskurskontexte
4 Nationale Input- und Outputfilter
4.5 Nationale Diskurskontexte
205
5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse: Inhaltlichstrategische, kommunikative und normative Positionierung sozialdemokratischer Diskurse
Öffentliche Reformdiskurse sind immer in ihren jeweiligen nationalen Diskurskontext eingebettet, der die Diskursprotagonisten mit jeweils höchst unterschiedlichen kommunikativen Ressourcen und Restriktionen ausstattet und Reformdiskurse sowie die in ihnen formulierten und programmatisch gestützten Reformideen durch ein historisch gewachsenes Wertesystem unterschiedlich filtert. Doch unabhängig davon, wie die jeweiligen kommunikativen Ausformungen der Diskurse durch ihre nationalen Diskursbedingungen determiniert sind, bleibt der öffentliche Diskurs überall gleichermaßen ein zentraler Bestandteil demokratischen Regierens, durch den politische Ziele definiert und Ereignisse interpretiert werden ebenso wie die Auswahl möglicher Policy-Optionen begründet wird598. Der nationale Diskurskontext stellt somit ein Raster dar, in dem sowohl unablässig politische Diskurse und Wandel stattfinden als auch Regeln und Bedingungen der politischen Auseinandersetzung kontinuierlich neu konstruiert werden. Auch wenn es in der liberalen Demokratie für politische Akteure im Grunde genommen keine Möglichkeit gibt, einen öffentlichen Diskurs als kohärente Konstruktion ihrer politischen Handlungsideen und als interaktiven Prozess nicht zu führen, da dieser eine notwendige kommunikative Machtressource zur Durchsetzung eigener Ziele wie auch eine Legitimation von Entscheidungen darstellt, können sich öffentliche Diskurse in Inhalt, Stil, Ausmaß und Zweck stark unterscheiden. Hinzu kommt, dass die Begrenzungen nationaler Diskurskontexte jeweils so weit gefasst sind, dass innerhalb des jeweils gegebenen nationalen Rahmens eine Vielzahl unterschiedlicher diskursiver Strategien, kognitiver Argumentationen, rhetorischer Figuren und normativer Bezugspunkte möglich ist. Der nationale Diskurskontext kann somit von den Diskursprotagonisten zur Erreichung ihrer Ziele – hier über einen öffentlichen Diskurs Zustimmung zur Durchsetzung von sozial- und wirtschaftspolitischen Reform-Policies zu gewinnen – entweder optimal oder unzureichend ausgeschöpft werden. Der nationale Diskurskontext stellt somit einen diskursiven Handlungsrahmen dar, der einerseits die Möglichkeiten der jeweiligen Reformkommunikation spezifisch begrenzt, und dabei andererseits den unterschiedlichen politisch-kulturellen und institutionellen Strukturen, den wohlfahrtsstaatlichen Arrangements und nationalen Akteurskonstellationen zu Beginn der Reformen komplementär entspricht. Dies bedeutet umgekehrt, dass in dem Maße, in dem es über einen erfolgreichen Reformdiskurs gelingt, die ehemals starren nationalen Ausgangsbedingungen aufzubrechen, dominante Werte zu re-konzeptualisieren und (zumindest teilweise) eine bestehende Pfadabhängigkeit hinter sich zu lassen, sich gleichermaßen der nationale Diskurskontext verschiebt und sich auf diese Weise die kom-
598
J.G. March/ J.P. Olson 1995: 46
5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
207
munikativen wie normativen Ressourcen zukünftiger sozialdemokratischer Diskurse entweder vergrößern oder – weil sich die erfolgreiche Durchsetzung von Reform-Policies über eher kurzfristige, insgesamt aber kontraproduktive diskursive Geländegewinne herleitete – verkleinern. Es ist ebenso möglich, dass ein erfolgreicher sozialdemokratischer Reformdiskurs den gegebenen nationalen Diskurskontext (als Kontinuität im Wandel) stabilisiert und dadurch – je nachdem, ob der Kontext für sozialdemokratische Diskurse ursprünglich eher günstig oder ungünstig gewesen ist – sich langfristig diskursive Ressourcen sichert oder die Sozialdemokratie sich weiterhin auf eher ‚fremdem Terrain’ artikulieren muss. Der öffentliche Reformdiskurs erzeugt somit Wandlungseffekte in zweifacher Hinsicht: Erstens legitimiert er – sofern erfolgreich – die Durchsetzung von Reform-Policies gegen den Widerstand etablierter Interessen und eingespielter Erwartungshaltungen, älterer Organisations- und Verteilungsformen. Indem der Reformdiskurs seine kognitiven Problemlösungsargumente dabei immer an normative Neukonzeptionen von Werten, Sinnstrukturen und Begriffsdefinitionen koppelt, verändert sich zweitens – über eben diese diskursive Verwandlung dominanter Werteordnungen und Gerechtigkeitsvorstellungen – zugleich das bestehende Kräfteverhältnis der kommunikativen Konzept- und Deutungsressourcen. Aus eben diesem Grund ist es wichtig, öffentliche Reformdiskurse vor dem Hintergrund der Parteienkonkurrenz zu betrachten. Denn wenn im Zuge der Reformen und nicht zuletzt der Reformdiskurse neue Akteure auf den Plan treten und ältere Akteure an Einfluss verlieren und sich allgemeine Werteorientierungen, Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit, kommunikative Spielregeln und politische Erwartungen verändern, dann bedeutet dies zugleich, dass die programmatischen bzw. diskursiven Rahmenbedingungen für die jeweiligen Parteien bzw. Diskursprotagonisten nach der reformbedingten Transformation andere sind als zuvor. Der Reformdruck zwingt die politischen Akteure nicht nur zum Reformhandeln, sondern zugleich auch dazu, ihre programmatischen Werte und Ziele, ihren lang etablierten ‚Politikdiskurs’ neu zu bestimmen und sich im Wettbewerbsraum politischer Ideen neu zu positionieren. Auch der parteipolitische Diskurs muss im Zuge der Wohlfahrtsstaatsreformen seine Stoßrichtung ändern und seine normativen Inhalte erkennbar fortführen und dabei gleichermaßen modifizieren und kann somit im Wettstreit mit anderen Diskursen als zeitgemäßere Antwort auf die Herausforderungen der Zeit, als Resonanzkörper und Schmelztiegel neuer politisch-kultureller Orientierungen an Schärfe und Glaubwürdigkeit gewinnen und das bestehende Kräfteverhältnisse der Diskursakteure nachhaltig verändern.
208 Abbildung 3:
5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse Diskurskontextverschiebung
Durch öffentliche Reformdiskurse vollzieht sich ein Wandel der normativen Grundlagen des Wohlfahrtsstaats (z. B. von der Bedarfsgerechtigkeit zur Chancengerechtigkeit) und eröffnet somit den Regierungen neue, bis dahin unmöglich durchzusetzende PolicyOptionen, um auf interne und externe Reformzwänge zu reagieren. Diese diskursiven Gewichtsverschiebungen im Spektrum der normativen Wohlfahrtsstaats-Paradigmen folgen einerseits dem demokratischen Rechtfertigungsimperativ, dem Regierungen mit ihren Reformdiskursen nicht nur kognitiv sondern auch normativ entsprechen müssen, sondern können andererseits den Akteuren – sofern sich normative und kognitive Diskursdimension kohärent zusammenfügen und beide Dimensionen zudem der programmatischen Ausrichtung und Tradition entsprechen – auch neue Mobilisierungsoptionen eröffnen. Umgekehrt besteht die Gefahr, dass sich durch einen, von Partei- und Regierungsprotagonisten selbst geführten öffentlichen Reformdiskurs der nationale Diskurskontext in eine Richtung verschiebt, durch welche die eigenen parteipolitischen Werte und Ziele zunehmend an den Rand gedrängt werden. Die konnotative Neubestimmung zentraler Begriffe vollzieht sich abgekoppelt vom Parteidiskurs und erzeugt eine Diskrepanz zwischen den Vokabularen der Regierungsprotagonisten und denen der ehemals hoch motivierten Parteiaktivisten. In einem solchen Fall verliert der Parteidiskurs in dem neuen Diskurskontext seine distinktive Position; die Wohlfahrtsinstitutionen wurden zwar modernisiert (und der Reformdiskurs ist augenscheinlich erfolgreich), doch die Partei ist in einer Identitätslücke gefangen und bleibt mit einem diffusen Selbstbild verunsichert und ohne ideologischen Fixpunkt zurück.
5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
209
Ob nun eine Partei aus dem reformbedingten Transformationsprozess gestärkt oder geschwächt hervorgeht, hängt maßgeblich davon ab, ob sie über eine (mehr oder weniger erfolgreiche) inhaltliche und kommunikative Diskursstrategie zur Kommunikation von Sachverhalten und zur Durchsetzung von Reformprogrammen hinaus auch die strukturellen Bedingungen, unter denen ein bestimmter programmgestützter Diskurs geführt werden kann, in ihrem Sinne verändert. Während die vergleichende institutionen- und akteurszentrierte Policy-Forschung, Konvergenzen und Divergenzen nationaler wohlfahrtsstaatlicher Reformstrategien angesichts der Handlungsimperative durch Globalisierung und Wissensökonomie ausführlich herausarbeitet hat599, wird hier eine gewisse Makro-Konvergenz sozialdemokratischer Politik gleichsam vorausgesetzt (Abwendung von keynesianistischer Nachfragepolitik und Abkehr vom Postulat größtmöglicher sozialer Ergebnisgleichheit, Betonung der Chancengleichheit, aktive Arbeitsmarktpolitik oder Investitionen in Bildung und Forschung usw.). Doch selbst wenn nationale Policies eine Konvergenz aufweisen, bleibt die Frage entscheidend, wie diese politischen Veränderungen und wie Begriffe wie z. B. ‚Modernisierung’, ‚Wissensökonomie’ oder auch ganz allgemein ‚Zukunft’ jeweils diskursiv konzeptualisiert und mit der eigenen ideologischen Vergangenheit verknüpft werden.
Vergleich nationaler sozialdemokratischer Reformdiskurse Bei der hier vorgenommenen vergleichenden Untersuchung sozialdemokratischer Reformdiskurse in den 1990er und frühen 2000er Jahren kann es (zumal mit nun einigem zeitlichen Abstand) nicht allein darum gehen, auf welche kommunikationsstrategische Art und Weise die jeweiligen Reformdiskurse in den Ländern geführt wurden und ob sie im Hinblick auf die Legitimation von Wohlfahrtsstaatsreformen erfolgreich waren oder nicht, sondern die analytische Perspektive muss auch dahin gehend geöffnet werden, ob diese Reformdiskurse ihren nationalen Diskurskontext für die Vermittlung und Kommunikation spezifisch sozialdemokratischer Inhalte, Positionen und Ziele, also für zukünftige sozialdemokratische Diskurse positiv oder negativ verschoben bzw. positiv oder negativ stabilisiert haben. Öffentliche Diskurse können sich zwar beschleunigen und verdichten, aufgrund von Handlungszwängen unausweichlich und aufgezwungen erscheinen und in ihrer argumentativen Konzeption gänzlich neu wirken, doch sie haben immer einen historischen Vorlauf. Was an den sozialdemokratischen Diskursen ab den 1990er Jahren ‚neu’ ist, was an Normen und Werten neu konzeptualisiert wird, steht in einem relationalen Verhältnis zu dem, was in der Sozialdemokratie zuvor diskutiert (und mitunter nicht diskutiert) und als ‚wahr’ erachtet wurde. Ferner werden Reformdiskurse – zumal in der modernen Mediendemokratie mit ihrer sehr kurzfristigen Aufmerksamkeitsfähigkeit – durch eine Vielzahl von alternativen Diskursen (Krieg, Umweltkatastrophen, Atomenergie, EU-Politik, Skandale usw.) sowie Neben- und Subdiskursen überlagert. Unterhalb der politischen Hauptdiskurse finden sich sehr unterschiedliche, teilweise hektische diskursive Wellenbewegungen, die prononciert zur Verdeutlichung des eigentlichen Reformanliegens in den Hauptdiskurs eingefügt werden 599
Zum Beispiel F.W. Scharpf/ V.A. Schmidt 2000; H. Kitschelt/ P. Lange/ G. Marks/ J.D. Stephans 1999; M. Ferrera/ M. Rhodes 2000
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
oder die vom Hauptdiskurs ablenken, diesen übertünchen oder empfindlich stören können. Die Stärke eines ‚guten’ öffentlichen Diskurses besteht darin, den Hauptdiskurs und sektorale Subdiskurse (respektive die Haupt- und Nebendiskursprotagonisten) kontrolliert aufeinander abzustimmen600. Gelingt dies nicht, können sich Diskursprotagonisten in den Nebendiskursen aufreiben und ihre politische Autorität verlieren, die Teildiskurse in ihrem Sinne in einen übergeordneten und kohärenten Gesamtdiskurs zusammenzuführen601. In dem vorliegenden Vergleich öffentlicher Reformdiskurse in den drei Ländern Deutschland, Großbritannien und Schweden können allerdings nur die großen Diskursentwicklungen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen nationalen Diskurskontexte, ihrer parteiprogrammatischen Herkunft, Entwicklung und (etwaigen) Neukonzeption sowie ihrer normativen Stoßrichtung betrachtet werden. Die sektoralen Subdiskurse hingegen, die teilweise einer je eigenen diskursiven Dynamik folgen und ihrerseits durch eine Vielzahl nationalspezifischer Faktoren bedingt sind, ebenso wie alternative Diskurse werden in die Betrachtung nur insoweit mit einbezogen, wie sie den Verlauf des Hauptdiskurses entscheidend verändern.
5.1 Großbritannien: Der idealtypische sozialdemokratische Reformdiskurs? Es ist sicherlich keine übertriebene Feststellung, dass der Wahlsieg der Labour Party in Großbritannien 1997 nach 18 Jahren konservativer Regierung eine immense und inspirierende Strahlkraft auch auf die sozialdemokratischen Debatten in Kontinentaleuropa hatte. New Labour wurde Ende der 1990er Jahre zu einem Markenzeichen, das – nach mehr als zwei Jahrzehnten politischer und kultureller Hegemonie des Neoliberalismus – politische Aufbruchstimmung und Vision eines sozialdemokratischen Neuen symbolisierte602. Entgegen mancher Prognosen und auch Befürchtungen, dass sich sozialdemokratische Politik zum Ende des 20. Jahrhunderts historisch überlebt hätte, zeigte der Wahlsieg New Labours, dass Sozialdemokraten mit neuen Antworten auf die Fragen der Zeit nicht nur Regierungsmacht erlangen, sondern vor allem auch erhalten konnten. Zudem schien sich die Entwicklung eines neuen sozialdemokratischen Diskurses fast schon prototypisch vollzogen zu haben603: Erstens entfaltete New Labour seinen kompakten Reformdiskurs über eine klare und zeitlich getrennte Abfolge einzelner Diskursschritte: von dem nach innen gerichteten Parteidiskurs über den machterstrebenden Wahlkampfdiskurs (programmatische und kommunikative Modernisierung) bis hin zum machterhaltenden Regierungsdiskurs. Zweitens gelang in den unterschiedlichen, aufeinander folgenden diskursiven Entwicklungsphasen die systematische wie plausible Zusammenführung einer programmatischen Neubestimmung sozialdemokratischer Werte und einer Entwicklung neuer Politik-Instrumente (was nach der Machtübernahme eine verhältnismäßig schnelle und ideologisch reibungslose Umsetzung zuvor erarbeiteter Policy-Programme 600
V.A. Schmidt 2002: 222f., 2005 So schreibt beispielsweise The Economist über Gordon Browns unglückliche Verstrickung in Pannen und Skandale: „The sorry episode unleashed another unstoppable political force: momentum. All political news is now interpreted through the refractive lense of Mr. Brown’s falling. His few good ideas go unrecognised unrelated; mishaps congeal into a narrative of defeat...“. The Economist 2008 602 Allerdings gab es auch vehementen Widerspruch, vor allem von der französischen Parti Socialiste (PS). Vgl. D.S. Bell 2003 603 V.A. Schmidt 2002 601
5.1 Großbritannien
211
ermöglichte). Drittens wurden die interaktive (nicht zuletzt auch durch die Persönlichkeit Tony Blairs) und die ideengestützte Diskursdimension in einen kohärenten Diskurs geschickt integriert. Viertens konnte New Labour mit ihrem ‚Dritten Weg’ vor dem eigentlichen Reform-Policy-Diskurs einen transformativen Diskurs etablieren604, in dem flexible Policy-Konzepte, Instrumente und Normen in dem weit gefassten Rahmen eines politischen Projekts zusammengefasst und normative wie kognitive Zielvorstellungen bereitstellt wurden. Indem fünftens der ‚Dritte Weg’-Diskurs viele Elemente von Thatchers Diskurs aufnahm und mit Elementen des kommunitaristischen und klassisch sozialdemokratischen Diskurses kombinierte und auf diese Weise re-konzeptualisierte605, wurde der konservative Diskurs – nunmehr ohne eigenen distinktiven Kern – fast vollständig von der öffentlichen Bühne verdrängt606.
5.1.1 New Labours interaktiver Diskurs Kommunikativer Diskurs Vivien A. Schmidts Unterscheidung von komplexen und einfachen Politiksystemen entsprechend607, kann man die politisch-institutionelle Struktur Großbritanniens eindeutig als einfaches Politiksystem beschreiben, in dem sich über zentralisierte institutionelle Strukturen und hohe exekutive Umsetzungsressourcen auch die politischen Kommunikationskanäle auf wenige Policy-Akteure beschränken. Hier dominiert der kommunikative Diskurs zwischen Politikern und dem Volk. Um allerdings über die weitgehend zentrierten politischen Kommunikationskanäle einen kommunikativen Reformdiskurs zwischen Regierung und Volk führen zu können, muss man zuerst einmal die Macht erlangen. Während in komplexen Politiksystemen die Opposition häufig ihre Politikvorstellungen und Policy-Ideen in koordinierten Diskursen mit der Regierung (z. B. als Sperrminorität oder Mehrheit in einer zweiten Parlamentskammer, in Regionalregierungen oder Vermittlungsausschüssen etc.) der Öffentlichkeit präsentieren und ihre Regierungsreife beweisen kann, bleibt der Opposition in Großbritannien aufgrund des völligen Ausschlusses von der Macht nur die Möglichkeit, das Wahlvolk allein mit einem kommunikativen Diskurs von der eigenen Regierungsfähigkeit und besseren Alternativen zu überzeugen. Für die Labour Party bedeutete dies in den 1990er Jahren vor allem, glaubhaft zu machen, dass sie die linkssozialistische Radikalisierung der 1980er Jahre und eine überkommene Klientelpolitik (‚Class-Issues’) hinter sich gelassen habe und zu einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik imstande sei608. Um die Macht zu erlangen, musste Labour einen elektoralen Mehrwert über ihre Kernwähler hinaus gewinnen. Labours kommunikativer Diskurs zielte daher vor allem auf die Stimmen im so genannten ‚Middle England’ (vorwiegend im Südosten, relativ wohlhabend, in neuen Technik-, Dienstleistungs- und Kommunikationsberufen beschäftigt, Eigenheimbesitzer, die traditionellen Mittelklassen und Teile der ehrgeizigen und aufstrebenden Arbeiterschaft), das Margaret Thatcher und John Mayor ge604
V.A. Schmidt 2005: 32 Vgl. Kap. 3.2.2: ‚Anthony Giddens’ Idee und Konzept des „Dritten Weges“’ 606 N. Fairclough 2000a 607 V.A. Schmidt 2002; C.M Randelli/ V.A. Schmidt 2004 608 Vgl. Kapitel 3.3: ‚Der „Dritte Weg“: Partei- und Kommunikationsmodernisierung’ 605
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
wählt hatte609. Labours machterstrebender Diskurs hatte aus diesem Grund zwei, sich gegenseitig ergänzende Komponenten: Über einen nach innen gerichteten Parteidiskurs wurde die Partei programmatisch und organisatorisch grundlegend reformiert (Begrenzung des Gewerkschaftseinflusses, zentralisierte Handlungsressourcen der Parteiführung, Änderung der Clause IV des Parteiprogramms)610, um die Partei in Zeiten der globalisierten Wissensökonomie politikfähig und in Zeiten der Mediendemokratie kommunikationsfähig zu machen. Die politische Neubeschreibung zentraler Policy-Bereiche (wobei eine vermeintlich ‚radikale Vergangenheit’ häufig völlig überzeichnet war611) und der Abbau von Traditionsbeständen612 war zugleich Bestandteil einer symbolischen Kommunikation, an deren Ende mit ‚New Labour’ eine neue Partei stand613. Die zweite Komponente bestand in der Übernahme zentraler kognitiver und normativer Argumente in den eigenen Diskurs, die bereits Thatcher in ihrem neoliberalen Diskurs der 1980er Jahre erfolgreich verwendet hatte614. Der Rekurs auf konservative und viktorianische Werte in der Sozialpolitik (‚Verantwortung’, Familie), die grundsätzliche Betonung marktwirtschaftlicher Prinzipien und eine offen artikulierte Skepsis gegenüber der Rolle des Staates als wirtschaftliche Steuerungsinstanz, der Verweis auf die Tradition des britischen Liberalismus und Individualismus oder ‚Zero Tolerance’ Rhetoriken im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung sollten die Labour Party wieder an den Median-Wähler heranführen, von dem sie sich in den 1980er Jahren radikal entfernt hatte615. Auch die Tatsache, dass Labour anstatt von ‚Gerechtigkeit’ meist nur noch von ‚Fairness’ sprach616 (ein Begriff, der auch für Neoliberale ideologisch unverdächtig war), machte deutlich, dass Thatchers transformativer Diskurs so tiefgreifend die britische Politikrezeption und -erwartung verändert hatte, dass die Labour Party nur dann wählbar zu sein meinte, wenn sie ihrerseits wesentliche Elemente des neoliberalen Diskurses in den eigenen Diskurs integriere617. Das bedeutete, dass – unabhängig von bestimmten Grundwerten in New Labours Programmatik, traditionellen sozialdemokratischen Politikzielen und eigener prononcierter Policy-Issues – Labours Diskurs vor allem ein PostThatcher- bzw. Post-Reformdiskurs war618 (und sich somit fundamental vom deutschen oder schwedischen Reformdiskurs unterschied): Reformdefizite sollten korrigiert werden, die ‚Kälte’ des Thatcherischen Marktradikalismus wurde als dysfunktional abgelehnt, das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft wurde normativ neu justiert und die Chancengleichheit betont, doch die Paradigmen der konservativen Wohlfahrtsstaatsreform der 1980er und 1990er Jahre wurden nicht mehr in Frage gestellt. Tony Blair repräsentierte gleichermaßen beide Komponenten in New Labours kommunikativem Diskurs: Zum einen stand er – sehr viel mehr als es seinem Vorgänger John Smith möglich gewesen wäre – für die Modernisierung der Labour Party; er hatte keine 609
N. Pippa 2001; D. Kavanagh 2007 U. Jun 2004: 174ff. D. Coates 2001. Vgl hierzu auch J. Hinnfors 2006 612 M. Ehrke 2000 613 P. Gould 1998 614 There is a political discourse which combines elements from Thatcherite Conservative discourse with elements of communitarian and social democratic discourse (a favourite way of summing this up is ‚enterprise as well as fairness“ – ‚enterprise’ is a Thatcherite word, ‚fairness’ is New Labour’s preferred alternative to the social democratic ‚equality’). N. Fairclough 2000a: 171 615 P. Norris 2001 616 L. Leisering 2004: 32 617 R. Heffernan 2001 618 S. Driver/ L. Martell 1998 610 611
5.1 Großbritannien
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persönliche Verbindung zur Gewerkschaftsbewegung, kam aus der Mittelklasse619, war nicht in die Labour Party ‚hinein geboren’, sondern hatte sie sich ausgewählt und seine elektorale Anziehungskraft lag nicht zuletzt in dem glaubhaften Versprechen, wenn notwendig auch zur eigenen Partei auf Konfrontationskurs zu gehen620. Zum anderen prägte er einen neuen politisch-diskursiven Stil, der in seiner spezifischen Wertemischung die kulturelle Stimmung der Zeit zum Ausdruck brachte: jugendlich und modern, post-ideologisch und pragmatisch, mediengewandt und charismatisch, mitfühlend und durchsetzungsstark621. Tony Blair verkörperte Labours Diskurs622, indem sich glaubwürdig vor allem über seine Person den Abschied von alten ideologischen Fronten symbolisierte und einen neuen pragmatischen Politikstil artikulierte. Die Kohärenz von Labours Reformdiskurs (zumindest als Schein, der die Öffentlichkeit befriedigte, jenseits möglicher Widersprüche im Regierungsalltag), die diskursive Zusammenführung von Policy-Programmen und Normen sowie die ‚Entwicklung eines distinktiven Sprachstils’623 war maßgeblich durch die Persönlichkeit Tony Blairs bestimmt. Blair hatte seinen kommunikativen Diskurs über die gesamte Amtszeit auf den Median-Wähler ausgerichtet und selbst nach 10 Jahren im Amt zeigten Untersuchungen, dass Blair von den Wählern immer noch in der Mitte des politischen Spektrums platziert wurde (wo sich die meisten übrigens auch selbst platzieren); Gordon Brown und die Labour Party hingegen ordneten sie links von der Mitte ein624. Der Wahlkampf 1997 zeigte ferner, dass New Labours Modernisierung vor allem auch eine Modernisierung ihrer medienorientierten Parteikommunikation war625: Ein Kampagnen-Hauptquartier – ein hightech-‚War Room’– im berühmten Millbank Tower, großflächig angelegte Imagekampagnen, Fokus-Gruppen und qualitative Marktforschung, gezielt abgestimmtes politisches Marketing und koordiniertes Management der Medien via Spin Doctors. New Labours Kampagne veränderte zweifellos den Wahlkampfstil in Großbritannien und leitete eine gänzlich neue historische Phase der politischen Kommunikation ein626. Vor allem die tägliche Medienarbeit erforderte eine zentralisierte, durch sehr wenige Personen und in kleinen Gruppen koordinierte Abstimmung der politischen Botschaften und Interpretationen von Ereignissen. Der Wahlkampf wurde allein vom ‚War Room’ aus geführt, die Labour Party als Mitgliederpartei hingegen – aus Sicht der Kampagnenzentrale allenfalls ein potentieller Störfaktor – wurde weitgehend ruhig gestellt. Wahlkampfzeiten sind spezielle politische Kommunikations-, Mobilisierungs- und Inszenierungszeiten der Demokratie627 und Wahlkampf-Botschaften allein sind noch kein Diskurs. Gleichwohl sind politische Wahlkampf-Kommunikation und ihre verkürzten und konzentrierten Botschaften Bestandteil des öffentlichen Diskurses. Denn sie geben durch Schlagworte und Bilder die diskursive Stoßrichtung vor, markieren thematische und werte619
A. King 1998: 201 D. Kavanagh 2007 N. Fairclough 2000a 622 T. Meyer 2007a: 95 623 Colin Crouch : Antwort auf e-Mail Befragung, 4.10.2006. 624 D. Kavanagh 2007 625 Vgl. Kap. 3.3: ‚Professionalisierung des Parteien- und Kommunikationsmanagements’ 626 John Bartle und Dylan Griffiths bezeichnen diese Phase nach Blairs Medienberater Peter Mandelson als „Mandelsonian Era“. Auch wenn die meisten verwendeten Wahlkampftechniken an sich nicht neu waren, kennzeichnet sich durch das Ausmaß, in dem sie eingesetzt wurden, und die Bereitschaft, issues allein aufgrund Marktforschungen zu thematisieren, eine neue Ära der politischen Kommunikation. J. Bartle/ D. Griffiths 2001: 8. Vgl. auch P. Gould 1998 627 A. Dörner 2002 620 621
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begründete Eckpunkte und präsentieren die jeweiligen Diskurs-Protagonisten sowie ihre Art und Weise Issues zu kommunizieren, kurz: ihren Diskursstil. So gesehen zeichnete Labours Wahlkampagne von 1997 in verschiedenen Hinsichten bereits markant den Rahmen, im dem sich nachfolgend Blairs öffentlicher Regierungsdiskurs formulieren sollte: Erstens die Betonung der Medienkommunikation. In ‚Downing Street No. 10’ wurde ein großer Medienapparat mit ‚Strategischer Kommunikationsabteilung’ und ‚Forschungs- und Nachrichtenabteilung’ aufgebaut, der weit über die klassische Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hinausreichte. Die Präsentation politischer Ereignisse und die damit verbundene Beeinflussung der Medien, die tägliche ‚gute Presse’ und das positive Image nahmen im Regierungsgeschäft einen zentralen Stellenwert ein628. Wie noch nie zuvor in der politischen Geschichte Großbritanniens wurde mit Blairs Machtübernahme ‚Permanent Campaigning’ zur Regierungsleitlinie629. Die erfolgreiche Kommunikationsdisziplin des Wahlkampfs sollte in der Regierungsarbeit fortgeführt werden. Allerdings führte die elaborierte ‚Spin’-Maschinerie aus ‚Downing Street No. 10’ auch zu Abwehrreaktionen sowohl von politischen Journalisten als auch von der Öffentlichkeit: Die Bereitschaft der Öffentlichkeit, den Verlautbarungen der Regierung und der Integrität des Premierministers sowie seiner Minister zu glauben, nahm kontinuierlich ab630. Dies wurde besonders im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg deutlich: Nachrichten und Mitteilungen, Berichte von Geheimdiensten oder Ansprachen über die Gründe, an der Seite der USA in den Krieg zu ziehen, wurden von weiten Teilen der Öffentlichkeit skeptisch und ablehnend betrachtet und häufig sogar als mediale Inszenierung, Manipulation und Unwahrheit verworfen631. In der zweiten Hälfte seiner Amtszeit – in der er gerade viel öffentliche Unterstützung für die Reformen der öffentlichen Dienste benötigte – hatte Blair deshalb viel von seinem Vertrauenskapital verspielt. Zweitens eine ‚Präsidentialisierung’ der britischen Politik. In ‚Downing Street No. 10’ wurden bestehende Abteilungen wie die ‚Policy Unit’ massiv vergrößert und neue Abteilungen geschaffen, die sich auf Politik-Innovation und deren Implementierung fokussierten und deren Aufgabe eher darin bestand, die Blair-Agenda durchzusetzen und weniger im traditionellen Sinne zwischen den verschiedenen Ministerien und Abteilungen zu vermitteln. Blairs Regierungsstil kennzeichnete sich durch die Arbeit in kleinen Zirkeln von Eingeweihten und Beratern, wohingegen er Kabinetts-, Partei- und formale Sitzungen als unproduktiv betrachtete. Er verbrachte weniger Zeit im Parlament und nahm sich stattdessen mehr Zeit für das Medienmanagement632. Die ‚Präsidentialisierung’ wurde durch eine Art überparteiliche Hinwendung zu den Wählern – sowohl in Abgrenzung zur eigenen Partei als auch zum parlamentarischen Prozess – diskursiv akzentuiert, als eine Form unmittelbarer Verbundenheit mit der Bevölkerung633. Drittens der politische Bedeutungsrückgang der Mitgliederpartei. Tony Blair zeichnete sich durch eine viel höhere Sensibilität gegenüber (kontinuierlich untersuchten) Wählerund Medienstimmungen aus als gegenüber den Stimmungen und Meinungen in seiner Partei. Sein Verhalten und seine Strategien bei Wahlkampagnen, Fundraising und Policymaking ließen der Partei nur noch wenige Einflussmöglichkeiten. Zwar sind die traditionel628
N. Jones 2003 M. Scammel 2000 630 D. Kavanagh 2007 631 R. Kuhn 2007 632 R. Rose 2001: 52. Eine kritische Evaluierung der unterschiedlichen Bewertungen: M. Bevir/ R.A. Rhodes, 2006 633 A. Finlayson 2003: 80f. 629
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len Mitgliederparteien mit ihren langwierigen Diskurszeiten unter dem Druck der Medienlogik und dem daraus folgenden Zwang zu jederzeitigen Sofortreaktionen des politischen Spitzenpersonals an die Bedingungen heutiger Mediendemokratien schlecht angepasst634 und befinden sich daher überall in Europa im Niedergang, doch Blairs Drang, sich nicht von der Partei in seinem politischen Handeln einzwängen lassen und seine Ungeduld mit ihren langwierigen demokratischen Prozessen hat das ‚diskursive Eigengewicht’ der Labour Party (und vor allem seiner aktiven, leidenschaftlichen und diskussionsfreudigen Mitglieder) in der öffentlichen Wahrnehmung zusätzlich verkleinert. Einer der am häufigsten vorgebrachten Kritikpunkte an der Blair-Regierung ist daher, dass die Orientierung der Politik an strategischen Gesichtspunkten und mehrheitsfähigen Politikzielen, Meinungsforschung und Marketing, die Umsetzung eines distinktiven sozialdemokratischen Politikentwurfs behindert habe. Die Anpassung an die herrschende Wählermeinung habe immer Vorrang vor der Politikgestaltung gehabt635. Hinsichtlich der Reform-Policies ist diese Kritik unbegründet; insbesondere in der Sozial- und Bildungspolitik lässt sich eindeutig eine programmatische Handschrift New Labours und ein Bruch mit der Politik der Vorgängerregierungen identifizieren. Auch waren die Maßnahmen zur Verbesserung der Lage sozial Benachteiligter durch ihre Integration in den Arbeitsmarkt, der Einführung des Mindestlohns oder der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur (NHS oder Bildungsinstitutionen) gemessen an den eigenen normativen Zielen, Voraussetzungen und Sachzwängen relativ erfolgreich636. Die Frage allerdings, wie und inwieweit britische Reform-Policies und New Labours Reformdiskurs miteinander korrespondierten, sich wechselseitig legitimierten und mitunter dynamisierten, ist jedoch weniger eindeutig zu beantworten. New Labours kommunikativer Reformdiskurs brachte zwar eine weite Unterstützung, aber eine, die nicht sehr tief war. Die Konsequenz einer solchen eher oberflächlichen Zustimmung aber ist, dass die Verbindungen zwischen Wählern und Partei/Regierung häufig konditionell und locker sind, dass die Wählerschaft zunehmend volatil ist und immer mehr Wähler überhaupt nicht mehr wählen. Man kann dies als eine Entwicklung betrachten, die sich in heterogenen, individualisierten Mediengesellschaften ohnehin vollzieht, so dass der moderne Marketingeinsatz und die verstärkte Ausrichtung der politischen Kommunikation auf strategische und taktische Gesichtspunkte eine notwendige Bedingung dafür ist, überhaupt noch Wahlerfolge zu erzielen und mehrheitsfähig zu sein. Zugleich setzt eine derartige Modernisierung der politischen Kommunikation demokratietheoretisch neue Akzente, da nunmehr im Fokus ihrer Kommunikationsziele weniger der Bürger als Staatsbürger als vielmehr der Bürger als Politikkonsument steht. In einem solchen Wählermarkt können sich zwar Parteien als eher mitte-links oder eher mitte-rechts behaupten, nur ob sie noch als Parteien mit einer distinktiven ideologischen Tradition überleben und sie als solche einen normativprogrammatischen politischen Diskurs führen können, ist hingegen fraglich.
634 635 636
T. Meyer 2001b Zum Beispiel A. Butler 2000; D. Kavanagh 2001 U. a. A. Petring 2006
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Koordinierter Diskurs Die Polity-Struktur des ‚Westminster’-Regierungssystems ermöglicht es britischen Regierungen, ihre Reformpolitik aufgrund hoher institutioneller Umsetzungsressourcen vergleichsweise einfach durchzusetzen. Die starke Machtkonzentration der Exekutive war zentrale Voraussetzung gleichermaßen für die neoliberalen Reformen der Ära Thatcher wie auch für New Labours darauf aufbauende, post-thatcheristische Reformen. So wie die Konservativen in den 1980er und frühen 1990er Jahren ihre Politik aus einer Position der Stärke angesichts einer unwählbaren Labour Party durchsetzen konnten, so konnte ‚New Labour’ aus eben dem gleichen Grund einer unwählbaren und zerstrittenen konservativen Partei ihre Reform-Policies relativ problemlos implementieren637 und unangefochten kommunizieren. Im Gegensatz zu dichten Politiksystemen, in denen Reformen zwischen unterschiedlichen Veto-Spielern häufig in einem koordinierten Diskurs ausgehandelt werden müssen, ist im britischen System der koordinierte Diskurs – wegen fehlender institutioneller Zwänge – traditionell sehr begrenzt. Die Legitimität der Reformen erhöht sich jedoch, wenn die Reform-Policies das Ergebnis vorheriger Deliberation unterschiedlicher Diskursteilnehmer sind. Deshalb stellt sich in einfachen Politiksystemen die wichtige Frage, wie man die öffentlich-kommunikative Partizipation auf einer koordinierten Ebene erhöhen kann, bevor der Staat agiert und die Gesellschaft nur noch reagieren kann638. Um dieses Dilemma zu entschärfen werden koordinierte Diskurse quasi künstlich installiert – in Form von beauftragten Kommissionen, Ausschüssen oder Expertengruppen, die Policy-Empfehlungen aussprechen. Die Blair-Regierung hat von dieser Möglichkeit ausgiebig Gebrauch gemacht. Allein in den ersten 12 Monaten ihrer Regierung haben der Premierminister und seine Minister knapp 200 Ausschüsse, ‚Task Forces’ und ‚Royal Commissions’ beauftragt639. Die in den Expertengremien und Kommissionen erarbeiteten Policy-Entwürfe konnte die Regierung nachfolgend in den kommunikativen Diskurs mit großer Autorität einbringen (vor allem dann, wenn diese nicht weiter verhandelt werden mussten). Da solche Beratergremien und Expertenkommissionen nur ausgewählte Teilinteressen vertreten und demokratisch nicht legitimiert sind, vor allem aber da sie über keine politischen Druckmittel verfügen, stellen sie keinen echten, sondern allenfalls einen pseudo-koordinierten Diskurs dar. Der koordinierte Diskurs der Labour-Regierung wurde von Beratern und Experten geführt, die bestimmten Ministern nahe standen, wobei die Labour Party insgesamt kaum eingebunden wurde und die vorgeschlagenen Konzepte auch kaum oder gar nicht in offenen Foren zur Diskussion gestellt wurden640. Kommissionen und Gremien können zweifellos den öffentlichen Diskurs versachlichen, indem sie jenseits organisierter Interessen wissensgestützte und mitunter innovative Policy-Formulierungen und kognitive Argumente in den Diskurs einschleusen. Zugleich schwächen und depolitisieren sie die legitimen Bereiche authentischer Kollektiventscheidung. Wenn der politische (bzw. kommunikative) Entscheidungsprozess auf Kommissionen und Expertenausschüsse verlagert wird, dann weist der Stil des Regierungschefs, der 637
Colin Crouch: Antwort auf e-Mail Befragung (04.10.2006). V.A. Schmidt 2005: 40f. D. Kavanagh 2007: 5. Auch die Regierung Schröder hat ihre Politik stark an Kommissionen und Beratergremien ausgerichtet. Hier allerdings aus umgekehrten Grund: Es ging nicht darum, einen zusätzlichen koordinierten Diskurs zu installieren, sondern um kommunikative Diskursressourcen (medienwirksame Expertenempfehlungen) für den systeminstitutionell vorgegebenen koordinierten Diskurs zu akquirieren. Vgl. S. Kropp 2003 640 P. Robinson 2007: 52 638 639
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sich als ‚unparteiischer’ bzw. überparteilicher Manager eines politischen Gemeinwesens präsentiert, zudem populistische Züge auf. Es geht nicht mehr um gesellschaftliche und politische Interessen oder Widersprüche, sondern allein um pragmatische ‚win-win’Problemlösungen. Peter Mair beschreibt diese, durch die Blair-Regierung ausgelösten politischen Verschiebungen – wegen ihrer Orientierung an Kommissionen bei gleichzeitiger offener Ablehnung von Parteiinteressen im Regierungsprozess und dem Mangel an klaren politischen Alternativen – als ein Musterbeispiel für eine zunehmend parteilose, depolitisierte Form der Demokratie641. Auf die demokratienormativen Implikationen einer solchen Entwicklung kann hier nicht weiter eingegangen werden. Für den öffentlichen Reformdiskurs allerdings bedeutet diese politische wie auch kommunikative Prozessverlagerung in Richtung Kommissionen, Expertenrunden und Ausschüsse, dass sich auch der Diskurs rhetorisch depolitisiert642. In dem Maße wie unterschiedliche Interessen, Machtverhältnisse und Widersprüche, ökonomische oder kulturelle Konfliktlinien, die eine offene Gesellschaft notwendig und immer schon kennzeichnen, hinter ‚problemgerechten’ und pragmatischen Sachlösungen verschwinden, wird die Sprache des Diskurses zwangsläufig technokratisch und steril. Indem New Labour eine Neubestimmung oder gar Neuerfindung (Reinventing Government, New Public Management) staatlicher Tätigkeit und Verantwortlichkeit anstrebte und sich in der Regierungspraxis selbstbewusst an Methoden erfolgreichen Managements ausrichtete643, kennzeichnete sich zwangsläufig auch ihr koordinierter Diskurs durch die Übernahme von Managementbegriffen und dem Vermeiden eines politischen Dialoges644. New Labours sozial-technokratischer Reformdiskurs unterschied sich in dieser Hinsicht fundamental von Thatchers neoliberalem Reformdiskurs: Während ersterer die Gesellschaft entpolitisierte, indem er alle Widersprüche scheinbar in sich auflöste und den Status quo als alternativlos beschrieb, den es allenfalls in technischen Details zu korrigieren galt, hat zweiterer die Gesellschaft massiv politisiert, indem er ‚Alltagsgewissheiten’ und Interessengegensätzen zwischen ‚einfachen Leuten’ und ‚bürokratischen und verbandlichen Machthabern’645 populistisch mobilisierte, Abgrenzungen, Gegner und Interessen markierte (die Gewerkschaften, der Wohlfahrtsstaat auf der einen, die hart arbeitenden Mittelschichten ‚work hard, play by the rules’ auf der anderen Seite usw.)646, und dadurch zugleich bei der Linken wie der Rechten auch neue politische und kulturelle ‚Suchbewegungen’ und Diskussionen stimulierte. Managerialistische Politik-Konzeptionen, elitenkonzentrierte und radikalpragmatische Leitvorstellungen führen stattdessen zu einer Schließung und Abschottung des Reformdiskurses. Durch einen depolitisierten Expertendiskurs kann man die Durchsetzung mancher schmerzhafter Sozialreform über eine ‚There is no alternative’-Argumentation kommunizieren, läuft aber zugleich Gefahr, politische Entfremdung, wachsende Politik- und Politi-
641
P. Mair 2000, 2002 P. Hirst 2000 A. Giddens 1998: 90, 2000: 55ff. 644 „...the state becomes ‚mangerial’, incorporating business management practices into government... government under New Labour is new order of dicourse....“ N. Fairclough 2000a: 182, 2000b 645 C. Offe 1994: 322 646 M. Freeden1999a; D. Marquard 2000 642 643
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kerverdrossenheit sowie populistischer Eruptionen zu fördern647. Denn einem technokratischen Reformdiskurs fehlt jegliche Empathie.
5.1.2 Die ideenbegründete Diskursdimension: New Labours Diskurs der Modernisierung Der interaktive Diskurs beschreibt vor allem die Form des Diskurses, seine diskursiven Ressourcen und kommunikativen Kanäle. Wie sich jedoch der Reformdiskurs in seinem Diskurskontext platziert und inwieweit er den Kontext durch normative und begriffliche Neubestimmungen verschiebt, bestimmt sich wesentlich durch seine ideenbegründete Dimension. Die Möglichkeiten für einen weitreichenden und distinktiven sozialdemokratischen Reformdiskurs schienen 1997 immens zu sein: Die günstigen institutionellen Voraussetzungen des britischen Politiksystems wurden durch eine große, sichere Mehrheit im Unterhaus, die Tony Blair gewonnen hatte, verstärkt (im Gegensatz zu allen anderen neu gewählten Regierungen der Nachkriegszeit), dass die Wirtschaft florierte, dass die konservative Opposition zerstritten und politisch diskreditiert war und dass Labour zum ersten Mal in ihrer Geschichte von der Mehrheit der nationalen Zeitungen unterstützt wurde648. Zudem hatte New Labour mit ihrem ‚Dritten Weg’ ein – wenn auch nicht gänzlich unumstrittenes – Begriffs- und Ideensystem erarbeitet, mit dessen Hilfe die Beziehung zwischen einer neuen ökonomischen Ordnung, dem sozialem Wandel und sozialdemokratischen Werten in sich kohärent in die Öffentlichkeit kommuniziert werden konnte. Der programmatische Prozess einer Revision der Mittel und ideologisch begründeten Ziele – die Modernisierung der Sozialdemokratie – war bei der Machtübernahme abgeschlossen. Dies erleichterte die Übersetzung des programmatischen Modernisierungsdiskurses wie auch der Wahlkampf-Botschaften in konkrete Reform-Policies. Bei der Neudefinition der Sozialdemokratie wurde vor allem die neue Herausforderungssituation durch Globalisierung und Wissensökonomie betont, und auf diese Weise – insbesondere auch den eigenen Mitgliedern und Anhängern – deutlich gemacht, dass darauf mit gänzlich neuen Strategien reagiert werden müsse. Wenn sich alles ändere, dann müsse sich auch die Sozialdemokratie modernisieren, um unter diesen veränderten Bedingungen weiterhin dem gerecht zu werden, was sie normativ immer schon darstellte. Die Modernisierung der Instrumente auf der Policy-Ebene – Angebotspolitik, aktivierende Arbeitsmarktpolitik, Investitionen in Flexibilisierung und Bildung – wurden durch eine Modernisierung der Ziele auf programmatischer Ebene komplettiert649. ‚Modernisierung’ wurde zum rhetorischen Leitmotiv in New Labours Reformdiskurs650.
647
Vgl. W.A. Perger 2007. Perger betont, dass eine der größten Gefahren für sozialdemokratische Mehrheitsfähigkeit in allen europäischen Ländern mittlerweile von linken und rechten populistischen Parteien ausgehe. 648 D. Kavanagh 2007: 5 649 Vgl. G. Bolini/ M.A. Powell 2004; C. Pierson 2001; W. Merkel/ C. Egle/ C. Henkes/ T. Ostheim/ A. Petring 2006: Kap. 3 ‚Herausforderungen der Sozialdemokratie’, 37-93; A. Hicks 1999; G. Garret 1998 650 Colin Crouch: Antwort auf e-Mail Befragung (4.10.2006).
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Modernisierung und Modernisierungszwang Der argumentative Ausgangpunkt in New Labours Reformdiskurs war die empirische Erkenntnis, dass sich die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen grundlegend geändert haben und eine zeitgemäße Politik mit ebenso grundlegenden PolicyVeränderungen darauf reagieren müsse. Im britischen Reformdiskurs wurde Diskontinuität durch die Betonung des Bruchs, der Neuheit, des gänzlichen Anderen oder der Veränderung hervorgehoben, was zusätzlich über die massive rhetorische Verwendung des Adjektivs ‚neu’ verstärkt wurde (New Labour, New Britain, New Politics, New Deal, New Era, New Millenium etc.)651. Man befand sich in einer neuen ökonomischen Epoche, in der nahezu alle Bedingungen und Voraussetzungen, Orientierungen und Erwartungen der vorherigen Epoche ihre Gültigkeit verloren hatten (die industrielle Massenproduktion, die Normalfamilie und das Alleinverdienermodell, der nationale keynesianistisch regulierte Wohlfahrtsstaat, makroökonomische Steuerungsressourcen, mächtige Gewerkschaften, alte Sozialdemokratie oder Kalter Krieg etc.). Peter Mandelson und Roger Liddle betonen, dass der Diskurs der Modernisierungsnotwendigkeit einer der wichtigsten Bestandteile der ‚Blair Revolution’ gewesen sei; Modernisierung sollte Großbritannien als ‚junges Land’652 neu erschaffen: „’Young’ in the sense that its economic dynamism and vitality are restored. ‚Young’ also in the opportunities it offers, which make a reality of One Nation promise that everyone, from whatever background, will have an equal chance to get on“653. New Labours Modernisierungsdiskurs richtete sich positivistisch, zuweilen simplizistisch an einer, von globaler Wissensökonomie, Kommunikations- und Informationstechnologie dominierten Vision von Zukunft aus, die nicht nur Policy-Revisionen notwendig vorantreibe, sondern in der vor allem auch ‚alte’ Klassen- und Interessengegensätze des Industriezeitalters verschwunden seien. Gordon Brown zufolge führte die moderne Wissensökonomie sogar zu einer Umkehrung von Marx’ Beschreibung von Machtbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit: Arbeit könne über die wachsende Relevanz von Wissen und Fertigkeiten und dem daraus abgeleiteten Marktwert des individuellen Humankapitals nun das Kapital ausbeuten654. Die Zielvision der Modernisierung in diesem Reformdiskurs war ein besonders modernes, wettbewerbsfähiges, durchaus um eine soziale Dimension erweitertes Kapitalismusmodell. Doch eine politökonomische Korrekturperspektive war aus dem LabourDiskurs gänzlich verschwunden. Marktmechanismen wurden ausschließlich als Teil der Problemlösung verstanden, ihre auch problematischen Funktionsweisen, ebenso wie die Rolle von Eigentum oder Ausbeutung655 wurden nicht mehr als politische Fragen begriffen oder diskursiv konzeptualisiert. Es gab in New Labours Verehrung für die neue ökonomische Ordnung der Zukunft keine kritische Theorie eines wie auch immer gearteten Interessenkonflikts im Wissenskapitalismus mehr. Die Verwendung des Begriffs ‚Modernisierung’ kann sehr unterschiedliche Akzente haben. Man kann das Verb ‚modernisieren’ transitiv (man wird modernisiert) verwenden oder reflexiv (man modernisiert sich), es gibt einen Modernisierungszwang, der von außen 651
N. Fairclough2000b: 18f.; L. Leisering 2004: 49 T. Blair 1996 653 P. Mandelson/ R. Liddle 2002: 15f. 654 G. Brown 1994 655 D. Coates 2005 652
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aufgedrängt wird, oder einen Modernisierungswunsch, der freiwillig von innen kommt. In New Labours Reformdiskurs wurde der Wandel, der sich aus der Globalisierung oder der ‚neuen technologischen Revolution’ ergab, als gegebene Tatsache beschrieben656, auf die sich Großbritannien einzustellen habe, wenn man nicht wolle, dass die Veränderungen „einfach über uns hinweg rollen“657. Im Wahlmanifest von 1997 wurde betont, dass New Labour ein politisches Projekt sei, das sich ‚den Herausforderungen einer veränderten Welt stelle’658. Modernisierung wurde als eine Art unausweichliches Schicksal kommuniziert659, das nur noch pragmatisch, wert- und ideologiefrei zu diskutieren sei. Das unausweichlich Neue und Veränderte der globalisierten Wissensökonomie wurde dabei vor allem als ökonomischer Imperativ kommuniziert, für den man sich sowohl individuell als auch nationalstaatlich ‚fit’ machen müsse660. Modernisierung bedeutete im New Labour-Diskurs zweierlei: zum einen Zwang, der sich aus veränderten Rahmenbedingungen ergab, zum anderen Bruch mit der jüngeren Vergangenheit. Jenny Andersson bezeichnet New Labours diskursives Leitmotiv ‚Modernisierung durch Erneuerung’661. New Labours Modernisierungs-Narrativ fing bereits mit der Neuerfindung ihrer selbst als Partei an und setzte sich über die Neudefinition politischer Zielgrößen (Inklusion anstatt Gleichheit) und Instrumente (‚workability’ anstatt passive Unterstützung) fort und endete bei Neubestimmung staatlichen Handelns und Verantwortung (‚New Governance’, ‚Public-Private-Partnership’)662. Zukunft war in diesem Diskurs ein statischer, vor allem ökonomisch definierter Bezugspunkt, auf den sich alle Reformbemühungen auszurichten hatten und dem man sich – wie es im New Labour-Wahlmanifest von 1997 hieß – wirtschafts-, bildungs- und sozialpolitisch stellen müsse: „We stride the future with Confidence“663. Für die Analyse unterschiedlicher Reformdiskurse ist hier vor allem entscheidend, dass im britischen New Labour-Diskurs der Begriff ‚Zukunft’ inhaltlich bereits vorgebenen war, bevor er in den Diskurs eintrat. Dementsprechend tendierte eine, auf diese bestimmte Zukunft ausgerichtete Modernisierung dazu, eine historisch determinierte Notwendigkeit zu sein. Das Politische hingegen – im Sinne machtvoller Durchsetzung von programmatischen Zielen, (Wert)Entscheidungen zwischen verschiedenen Optionen, unterschiedlicher Interpretation der Sachlagen oder der Wahrnehmung von differenten Interessen – schien aus dem Reformdiskurs verdrängt. Wenn Modernisierung auf diese Weise als unausweichliche und zugleich neutrale Notwendigkeit diskursiv behauptet wurde, dann konnten sich alternative Sichtweisen politisch kaum mehr verorten, was wiederum der Depolitisierung Vorschub leistete. Eine solche depolitisierte Rationalisierung wohlfahrtsstaatlicher Reformen über einen ökonomischen Imperativ konnte zwar kurzfristig Diskursressourcen der han656
M. Watson/ C. Hay 2003 T. Blair 1996: 98. Labour Party 1997 659 M. Raco 2002 660 A. Giddens 1999: 40ff.; T. Blair 1998a 661 J. Andersson 2006 662 Cabinet Office 1999. Vgl. auch C. Hood 2006. Für eine sehr kritische Position gegenüber ‘Managerialismus’ in Verwaltung und Regierung P. du Gay 2000. 663 Labour Party 1997. Auch zum Ende seiner Amtszeit beschreibt Tony Blair in einer Rede ‚Zukunft’ als eine Herausforderung, der man sich stellen müsse: „Today, 10 years on, we still have the right vision for Britain's future. We still have the policies that are thought through...But there is more to do; new challenges to take on; fresh changes to make. We are the best people to do it. Remember 1997 and remember what this constituency was like, how Britain was...And then face the future with confidence. T. Blair 2007 657 658
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delnden Regierung akquirieren, jedoch kaum „Kohärenz und Legitimität eines speziellen Modernisierungspfads gegenüber einen anderen herstellen“664 und führte somit langfristig eher zu einer diskursiven Schließung, die Abwehr- und Abgrenzungsreaktionen erzeugte.
Die normative Vergewisserung der Modernisierung: Der Sprung in die Zukunft über die Betonung einer Vor-Vergangenheit Eine Reformrhetorik, die über einen Bruch mit der jüngeren Vergangenheit eine hypermoderne Zukunft zu aktivieren hofft, braucht dennoch eine normative Ausgangsbasis (zumal Tony Blair seine Idee vom ‚Dritten Weg’ als ‚permanenten Revisionismus’ definierte, was weitere Unsicherheiten erzeugte). Es bedarf einer nationalen Referenz, einer Selbstvergewisserung, dass die modernistische Revolution, die von den Hemmnissen der Gegenwart befreit, in einer Tradition verwurzelt ist und diese bewahrt, und dass eine ‚Modernisierung als Erneuerung’ den gewachsenen Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten der Bevölkerung normativ entspricht. Doch wenn Modernisierung gleichermaßen als Zwang wie auch als Bruch diskursiv konzeptualisiert wird, auf welche Tradition kann man sich da beziehen? Der normative Referenzraum in New Labours, vor allem Tony Blairs Reformdiskurs war die nationale Geschichte, und zwar nicht die jüngere (die es ja zu überwinden galt), sondern eine weit zurückliegende viktorianische Epoche, die als idealisiertes Sinnbild von Modernität, großem Wohlstand und wirtschaftlicher Blüte fungierte. Die neue industrielle Revolution, die Globalisierung und technologische Innovationen eröffneten Großbritannien die Möglichkeit, an das Erbe einer seinerzeit reifen und führenden industriellen Nation wieder anzuknüpfen665. Diesen rhetorischen Verweis auf das viktorianische Erbe hatte New Labour von Margaret Thatcher übernommen, die ihren neoliberalen Reformdiskurs bereits über die vermeintliche Wiedereinsetzung klassischer britischer Werte, für die die viktorianische Zeit prototypisch zu stehen schien, als normative Grundlage ihrer Politik kommunizierte666. Mit dem Verweis auf diese ‚heroische’ Vergangenheit legitimierte auch New Labours normativer Diskurs die Reformen über einen dualen Satz an Werten: Erstens über den britischen Liberalismus: Die liberalen Werte wie Individualismus, Leistungsbereitschaft, Flexibilität und Utilitarismus samt ihren Vorstellungen von Nützlichkeit und praktischem Geschäftssinn beschrieben das eigentliche Wesen der britischen politischen Kultur, die es nun wieder zu aktivieren gelte. ‚Britische Werte’, die aus einer Vor-Vergangenheit abgeleitet wurden, zeichneten den diskursiven Rahmen des ‚nationalen Wieder-Aufstiegs’; ‚Britishness’ kennzeichnete ein Bündel an Werten, die eine ältere Vergangenheit der Größe mit der notwendigen Anpassungsfähigkeit an die Herausforderungen der Zukunft verknüpften. Modernisierung war zwar immer noch ein ökonomischer Zwang, allerdings einer, auf den Großbritannien gut eingestellt war, weil die Eigenschaften – Kreativität, Innovationsfähigkeit, Unternehmertum –, die zur Bewältigung der Herausforderun664
J. Andersson 2006: 353 T. Blair 1996: 98. Blair beschreibt die Renaissance Großbritanniens als „electronic workshop of the world“ und knüpft bewusst an die viktorianische Bezeichnung „Workshop of the world“ von Benjamin Disraeli (18041881) an, „ein metaphorischer Ausdruck des viktorianischen Stolzes auf industriellen Wachstum, Urbanisierung und den Kathedralen des Kapitalismus“. Vgl. J. Andersson 2006: 443 666 V.A. Schmidt 2002: 222, 2005: 24 665
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gen der Globalisierung und Wissensökonomie wichtig sind, im britischen Nationalcharakter tief verwurzelt seien. Die Ausnutzung dieser britischen Eigenschaften war – Gordon Brown zufolge – Grundlage für den Reformerfolg: „(...)These qualities – inventiveness, adaptability, hard work, love of learning, fairness and openess – explain Britain’s success in the 19th century. And there are precisely the qualities that are required for a country to succeed in the 21st century. Global markets and the information age call for inventiveness and creativity; a capacity for hard work alongside an adaptability in face of ever more rapid change. (...) These qualities that made us successful in the 19th century are, more than ever, the qualities that equip us for the challenges we face. (...) By harnessing the very best British qualities, this Government will unleash ther potential of the British people, to lead in Europe and in the world in the 21st century“667.
Zweitens über Moral: Das viktorianische Zeitalter charakterisierte sich durch sehr konservative Moralvorstellungen, inniges Familienleben und Pflichtgefühl. Durch den rhetorischen Verweis auf viktorianische Werte kam der moralischen Dimension in New Labours Reformdiskurs eine hervorgehobene Rolle zu. Moralische Implikationen fanden sich im gesamten Reformdiskurs668: von der Kriminalitätsproblematik, anti-sozialen Verhaltens und sozialer Verwahrlosung669, über die Betonung von Familienwerten und -verantwortung, der Gemeinschaft und zivilgesellschaftlichen Engagements bis hin zur verstärkten Konditionierung des Empfangs wohlfahrstaatlicher Leistungen (Rechte und Pflichten). Durch diese moralische Dimension des öffentlichen Diskurses wurden die Ursachen für gesellschaftliche Defizite nunmehr verstärkt beim Einzelnen gesucht und auch die Verantwortung zur Lösung von Defiziten vom der gesellschaftlichen und politischen auf die individuelle Ebene markant verschoben. Ferner wurde durch diese moralische Imprägnierung in New Labours Reformdiskurs letztlich eine Unterscheidung reaktiviert, die sich bereits in den viktorianischen Ursprüngen des britischen Wohlfahrtsstaats findet und sich seitdem latent durch die Geschichte britischer Sozialpolitik bis heute zieht: die moralische Unterscheidung von ‚Undeserving Poor’ einerseits und ‘Respectable’ und ‘Deserving Poor’ andererseits670.
Diskurskontextuelle Gründe für New Labours Erneuerungsnarrativ New Labours öffentlicher Diskurs konzeptualisierte die Reformen als einen notwendigen Neuanfang. Modernisierung wurde als Prozess beschrieben, der die Defizite der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit überwindet, um in eine erstrebenswerte Zukunft vorzustoßen. Der Bezugspunkt der Modernisierung ist allein die Zukunft. New Labours Diskursstrategie der ‚Modernisierung durch Erneuerung’ leitete sich wesentlich aus den spezifischen Bedingungen des britischen Diskurskontextes ab671. Erstens: Die Rhetorik des Bruchs und des Neuanfangs war zentrales kommunikatives Instrument, um sich von der eigenen jüngeren Labour-Geschichte der 1970er und 1980er 667
G. Brown 1997 Die moralische Dimension des Reformdiskurses verbindet den ‚Dritten Weg’ zudem mit einer kommunitaristischen und – speziell bei Tony Blair – christlichen Argumentation, und zum Teil sogar mit autoritären Argumenten. Vgl. N. Fairclough 2000b: 39; R. Taylor 2007: 221; S. Sevenhuijsen 2000 669 S. Waiton 2008 670 B. Forsythe/ B. Jordan 2002 671 Vgl. J. Andersson 2006 668
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Jahre zu distanzieren und sich in der politischen Mitte der Gesellschaft neu zu platzieren. Die Ära des industriellen Niedergangs seit den frühen 1970er Jahren (‚Winter of Discontent’, Einfluss der Gewerkschaften, Streiks, Inflation usw.) wurde stark mit der alten Labour Party assoziiert, so dass Parteitradition und -geschichte keine machtvolle Kommunikationsressource, eher eine Behinderung im Parteienwettbewerb darstellten. Der Modernisierungszwang durch die ‚neue industrielle Revolution’672 ermöglichte es New Labour zudem, alle Traditionslinien zur alten Arbeiterpartei und deren Ideologiebestand allein schon deshalb als gekappt zu kommunizieren, weil diese Bestandteile einer längst hinter sich gelassenen historischen Epoche darstellten. Durch den notwendigen, ökonomisch und technologisch motivierten Bruch mit der jüngeren Vergangenheit hingegen war man nun in eine Epoche eingetreten, in der Ideologien ohnehin keine Rolle mehr spielten. Zweitens: Die Betonung radikaler Neuheit und Diskontinuität war zudem Ausdruck der Abgrenzung gegenüber dem Erbe des Thatcherismus’. Die neoliberalen Reformen ebenso wie Thatchers konfrontativer Reformdiskurs der 1980er und 1990er Jahre hatten das Land tief gespalten und ideologisch polarisiert. New Labours Diskurs des Neuanfangs über die symbiotische Überwindung ‚alter’ Gegensätze von wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gerechtigkeit wie auch der pragmatische Weg jenseits altlinker und neurechter Ideologien im ‚Dritten Weg’ dienten dazu, die Gesellschaft zu versöhnen und politische Gräben zuzuschütten. New Labours öffentlicher Diskurs war inkludierend und konsensuell – er versuchte jeden einzubinden, es gab keine ideologischen Bruchstellen mehr, kein ‚wir’ gegen ‚die’, keine Feinde mehr673. Der Modernisierungszwang wurde in New Labours Diskurs als Chance konzeptualisiert, eine neue bessere Zukunft für Großbritannien im Zeitalter der Globalisierung und Informationstechnologie selbstbewusst und selbstsicher aufzubauen674, ein nationales Projekt, das mit der konfliktreichen und krisenbehafteten Vergangenheit brach. Drittens: Durch den Bruch mit der jüngeren Vergangenheit und dem normativen Verweis auf eine ältere, weit zurückliegende Epoche, konnte New Labour einerseits liberale Elemente aus Thatchers Diskurs in den eigenen integrieren und auf ihre Reformen aufbauen, sich dabei aber andererseits von der Ära Thatcher distanzieren. Die historische Tradition des britischen Liberalismus, an der auch New Labour diskursiv anknüpfte, war älter als der Neoliberalismus der 1980er Jahre und daher als normativer Referenzpunkt jenseits des aktuellen Parteienwettbewerbs unverdächtig. Auch wenn zuvor Margaret Thatcher ihrerseits den liberalen Charakter des ‚Britischen’ für ihren neoliberalen Reformdiskurs aktiviert und auf diese Weise den Wohlfahrtsstaat als ‚unbritische’ Beschränkung von Freiheit diffamiert hatte, war der normative Rahmen des ‚Britischen’ und des ‚Liberalismus’ so weit, dass er auch für New Labours sozial-liberale Interpretationen nutzbar war. Die jüngere Vergangenheit schien durch linke wie rechte Ideologien gleichermaßen so kontaminiert zu sein, dass die normativen Diskursressourcen offensichtlich in der politischen NeuInterpretation der Vor-Vergangenheit gesucht werden mussten.
672 673 674
T. Blair 1998a N. Fairclough (2000b): 122 T. Blair 1996, 1998a
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Das normativ-kognitive ‚Framing’ der Chancengerechtigkeit Ein (auch medial stark kommuniziertes) Kernstück von New Labours Sozialreformen675 war die aktivierende Arbeitsmarktpolitik, vor allem die Einrichtung der ‚New Deal’Programme676 zur möglichst raschen Reintegration von Problemgruppen in den Arbeitsmarkt. Sie gründeten im Wesentlichen auf der von den konservativen Vorgängerregierungen bereits vorgenommenen Deregulierungen des Arbeitsmarktes und WorkfareProgrammen, ergänzten diese jedoch durch Qualifizierungsmaßnahmen und gezielte Förderprogramme677. Das diskursiv-legitimierende Leitmotiv von New Labours Reformen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik war die Inklusion aller in den Arbeitsmarkt als zwingende Voraussetzung jeglicher gesellschaftlicher und politischer Teilhabe. Das politische Ziel der Inklusion wiederum leitete sich aus der, im ‚Dritten Weg’ programmatisch begründeten normativen Verschiebung des Wertes der Gleichheit ab: von der materiellen Ergebnisgleichheit hin zur Chancengleichheit678. Die Betonung der Chancengleichheit schließlich ergab sich aus der Neubewertung sozial-ökonomischer Problemlagen jenseits alter Klassenverständnisse, der Wahrnehmung neuer sozialer Fragen und den neuen makro- wie mikroökonomischen Herausforderungen des Zeitalters der Globalisierung und Wissensökonomie. ‚Chancengleichheit’ war in New Labours Reformdiskurs ein zentraler Begriff, indem er die verschiedenen Reform-Policies (Arbeitmarktpolitik, Bildungspolitik oder auch Steuerpolitik) normativ zusammenhielt. Gleichwohl war die ‚Chancengerechtigkeit’ in einen Diskurs-Rahmen eingebettet, den New Labour zugleich durch die ModernisierungsNarrative eines ökonomischen Modernisierungszwangs auf der einen und eines nationalen Neubeginns auf der anderen Seite begrenzte, und die dem Begriff auf diese Weise eine spezifische konnotative Ausprägung zuwiesen. Der Modernisierungszwang eines neuen globalen und wissensbasierten Kapitalismus zwang auch zu einem neuem Verständnis zeitgemäßer Wohlfahrtspolitik, in dem es keine Sicherheit mehr im Sinne eines passiven ‚Sicherheitsnetzes’ geben könne, wohl aber die Förderung der Gleichheit der Chancen. Die Wissensökonomie stellte Qualifikationsanforderungen an das Individuum wie auch an die Gesellschaft als Ganze, denen der neue Wohlfahrtsstaat nunmehr über die Förderung von Humankapital und Marktfähigkeit, der ‚Befreiung von Potentialen’, also die aktive Umverteilung von Lebenschancen gerecht werden müsse. In der öffentlichen politischen Rhetorik formulierte sich dieses neue Verständnis in der Formel ‚von der sozialen Hängematte zum Sprungbrett’. Aus dem ökonomischen Modernisierungszwang leitete sich die ökonomieadäquate Idee der sozialen Investition ab: Statt einer Alimentierung, die sich aus einer Gerechtigkeitsnorm der Bedürftigkeit speist, sollte Sozialpolitik nun zu einer effizienten Investition zu werden. Dies war nicht nur die gerechtere Lösung, sondern vor allem eine, zu der es aufgrund der ökonomischen Zwänge keine Alternative gab.
675
Department for Education and Employment 1998. Vgl. zu den Reformen der Industriellen Beziehungen und Arbeitnehmerrechte auch Department of Trade and Industry 1998. Der ‚New Deal’ umfasst ein Bündel an Policy-Programmen (z. B. New Deal for Young People, New Deal for Lone Parents, New Deal for 50 plus) der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die den Kernpunkt der ‚welfare-to-work’Strategie bildeten. Auch zusätzliche Mittel für die Schulinfrastruktur wurden über den New Deal bereitgstellt. 677 M. Rhodes 2000b; U. Jun 2000: 1517; A. Petring 2006: 132 678 Vgl. Kap. 3.5: ‚Die normative Paradigmenverschiebung im sozialdemokratischen Diskurs’ 676
5.1 Großbritannien
225
Die Betonung des nationalen Neubeginns und des ideologischen Bruchs grenzte New Labours Reformdiskurs zudem von der eigenen Labour-Geschichte und somit von ihren scheinbar überholten ‚Gleichheits- oder Gerechtigkeitsverständnissen’ ab. Der Neubeginn ließ nicht nur den Thatcherischen Marktradikalismus, sondern auch alte Wohlfahrtsarrangements und deren normative Grundlagen hinter sich. ‚Chancengerechtigkeit’ war demnach ein neues und effizientes ‚Konzept’ von Gerechtigkeit, das kaum mehr in dem normativen Referenzsystem oder rhetorischen Begriffsreservoir der ‚alten’ Sozialdemokratie verwurzelt war. Die Essenz des Diskurses war, dass es – wie Tony Blair in seinem Vorwort zum White Paper betont – zu Politikformen und Regulierungsvorstellungen des alten Kapitalismus keinen Weg mehr zurück gab, zugleich aber auch dessen soziale Konflikte und Kämpfe der Vergangenheit angehörten: „Their will be no going back. The days of strikes without ballots, mass picketing, closed shops and secondary action are over. Even after the changes we propose, Britain will have the most lightly regulated labour market of any leading economy in the world”679.
Der Neubeginn charakterisierte sich in New Labours Diskurs in der symbiotischen Überwindung des alten Gegensatzes von sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz, den die ‚alte’ Linke angeblich als inkompatibel betrachtet hatte. Die Rhetorik des Neubeginns machte es notwendig, die den Wohlfahrtsstaat begründenden Gerechtigkeitsparadigmen ebenfalls diskursiv neu zu gewichten: Marktbedingte Ungleichheiten und die Aufwertung individueller Leistung wurden im ‚Modernisierungsdiskurs durch Erneuerung’ als die zeitgemäßeren Werte in der globalisierten Wissensökonomie kommuniziert. Vor allem aber wurden die Reformen über den Gegensatz von einem alten, kostenverursachenden und einem neuen, investierenden Wohlfahrtsstaat argumentativ hergeleitet. Die soziale Investition verband ökonomische Effizienz mit sozialer Gerechtigkeit. Der soziale Investitionsstaat war effizient, während der alte Wohlfahrtsstaat ineffizient war, der Investitionsstaat erzeugte dynamische Chancen, der Wohlfahrtsstaat hingegen teure Abhängigkeit. Auch wenn für die Veränderung wohlfahrtsstaatlicher Zielkonzepte vor dem Hintergrund veränderter ökonomischer, sozialer und politischer Rahmenbedingungen eine Vielzahl von Gründen sprach (und die meisten sozialdemokratischen Regierungen Europas daher ihre Wohlfahrtssysteme in entsprechender Weise neu ausrichten), vollzog New Labour eine diskursiv besonders markante Abgrenzung gegenüber dem ‚alten’ Wohlfahrtsstaat. Durch die Forderung, wohlfahrtsstaatliche Kosten in soziale Investitionen zu verwandeln, bekam das diskursive Leitmotiv der ‚Chancengleichheit’ eine produktivistische bzw. ökonomische Färbung, die die ‚alte’ normative Ableitung sozialer Leistungen aus sozialen Grundund Bürgerrechten – zumindest teilweise – kontrastierte. Indem New Labours Reformdiskurs den Bruch mit alten Wohlfahrtvorstellungen, den notwendigen Neubeginn und die sozialpolitische Umstellung auf das Konzept der Investition betonte, formulierte er eine rückseitige Aussage zugleich mit: Im Gegensatz zu Investitionen sind soziale Rechte grundsätzlich ineffizient und teuer680.
679
T. Blair 1998b: 1, Hervorhebungen durch den Verfasser Vgl. T. Blair 1997: „I tell you: a decent society is not based on rights. It is based on duty. Our duty to each other. To all should be given opportunity, from all responsibility demanded“.
680
226
5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
Die wettbewerbliche Konzeption der Chancengerechtigkeit New Labours Diskurs der Chancengerechtigkeit gründete entscheidend auf dem kognitiven Argument, dass mehr denn je der allgemeine Zugang zu Bildung und Wissen in der neuen globalen Wissensökonomie eine zentrale Voraussetzung zu gesellschaftlicher Teilhabe sei. Die Gleichheit der Bildungschancen war die wichtigste Grundlage für Chancengerechtigkeit. In der Verbindung von sozialer Gerechtigkeit und gesamtwirtschaftlicher Leistungsfähigkeit spielte Bildung eine zentrale Rolle und war daher ein Kernelement der Reformpolitik681. Bildung und Qualifikation wurden als entscheidende Ressourcen im hypermodernen Kapitalismus konzeptualisiert und die Förderung und Aktivierung der Bildung daher zum Nukleus einer neuen investierenden Wohlfahrtsstaatsarchitektur erklärt, um den sich alle weiteren sozialstaatlichen Programme gruppieren. Ein umfassender und freier Zugang zu Bildung als Schlüssel zur Chancengleichheit sowie der Abbau herkunftsbedingter Privilegien war im allgemeineren Sinne von jeher ein normatives Leitmotiv aller sozialdemokratischen Diskurse und bei weitem keine Neuerfindung des ‚Dritten Weges’, wie die zum Teil heftigen Bildungsdiskussionen und umkämpften Bildungsreformen (Gesamtschule, Einheitsschule, Förderprogramme, Lernmittelfreiheit, Affirmative Action usw.) der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre verdeutlichen. Doch in New Labours Reformdiskurs hatte das ‚Bildungsargument’ eine neue kognitive Funktion für die Konstruktion und Legitimation des investierenden Wohlfahrtsstaats im Zeitalter der Globalisierung682. Der gleiche und staatlich garantierte Zugang zu Bildung, Qualifikation und Wissen war nicht mehr integraler Bestandteil einer egalitären Gesellschaft und somit Endzweck wohlfahrtsstaatlicher Handlungen, sondern stattdessen ihr normativer Ausgangspunkt. Die Bereitstellung gleicher Bildungschancen war die Verantwortung des ‚aktivierenden Staates’, die ‚Outcome’-Ergebnisse jenseits dieses chancengleichen Verfahrens hingegen lagen außerhalb seines Verantwortungsbereichs. Bedeutsam für die hier vorgenommene Betrachtung von Reformdiskursen war allerdings weniger die normativ-programmatische bzw. kognitive Konzeption des ‚Bildungsdiskurses’ selbst (welcher als spezieller Subdiskurs wiederum auf einer Vielzahl unterschiedlicher Traditionen und Werte gründete und auf vielfältige Gegenpositionen und -argumente traf), als vielmehr die diskursive Rahmung des ‚Bildungsargumentes’ durch den Gesamtdiskurs. Bildung und Wissen wurde in New Labours Diskurs als praktische wie normative Voraussetzung der Chancengerechtigkeit und Bildungspolitik folglich als entscheidendes Instrument des investierenden und aktivierenden Wohlfahrtsstaats argumentiert, doch zugleich wurde der investierende Wohlfahrtsstaat wiederum als Bruch mit alten Wohlfahrtsverständnissen und -erwartungen und als Antwort auf die Zwänge der Globalisierung und Wissensökonomie kommuniziert. Das kognitive Bildungsargument als Bestandteil des öffentlichen Gesamtdiskurses war folglich ebenfalls durch den ökonomischen Modernisierungsimperativ, die Rhetorik der Erneuerung und des Bruchs sowie durch die nationalen Referenzpunkte alter britischer Werte des Liberalismus, der Eigenverantwortung, Moralität und Arbeitsorientierung gerahmt. In eben diesem diskursiven ‚framing’ wurde Bildung ebenso wie Chancengleichheit als ein wettbewerbsorientiertes Konzept kommuniziert. Bildung und Wissen waren im New 681
Ein berühmter New Labour Wahlkampf-Slogan 1997 war „Education, Education, Education“. Vgl. zudem auch Department for Education and Employment 1997, 2001 J. Mulderrig 2003
682
5.1 Großbritannien
227
Labour-Diskurs vor allem ein ökonomisches Gut, eine individuelle wie nationale Ressource in einer ökonomischen, von Konkurrenz bestimmten Umwelt – hinsichtlich der individuellen Chancen auf dem Arbeitsmarkt und hinsichtlich der globalen Konkurrenz ‚nationaler Wettbewerbsstaaten’683. Bildung wurde in dem Reformdiskurs kaum als ein Wert an sich oder als soziales oder demokratisches Gut, sondern fast ausschließlich als ökonomischer Wert, als eine Warenform (‚Commmodity’) argumentiert684. Auch wenn allseits im Diskurs betont wurde, dass es darum ginge, gerade den sozial Benachteiligten über Bildung, Fertigkeiten und Wissen, Chancen zu eröffnen und deren ‚Potentiale zu befreien’, blieb das sozialpolitische Ziel der allgemeinen Erhöhung des Humankapitals und der gerechten Verteilung von Lebenschancen rhetorisch in einer ökonomistischen Effizienzsprache verfangen. Nach dreizehn Jahren Labour-Regierung waren die Ergebnisse der bildungspolitischen Anstrengungen und Offensiven durchwachsen: Viel war – gemessen an den eigenen programmatischen Politikansprüchen – erreicht worden, viele Probleme blieben ungelöst und viele neue Probleme kamen hinzu685. Doch jenseits der unterschiedlichen ‚Outcome’-Bewertungen von New Labours Bildungspolitik war für die hier vorgenommene Betrachtung wichtig, dass im öffentlichen Reformdiskurs Bildung und Wissen vor allem als quantifizierbare ökonomische Güter kommuniziert wurden: Güter, die auf einem (wenn auch staatlich garantierten) ‚Bildungsmarkt’686 erworben und auf einem ‚Arbeitsmarkt’ investiert werden konnten. Die normative Zielsetzung kommunizierte die Gleichheit der Chancen. Die marktorientierte Rhetorik des investierenden Wohlfahrtsstaatsdiskurs, der diskursive Bruch mit der wohlfahrtsstaatlichen Vergangenheit, die Hervorhebung der ökonomischen Imperative der Wissensökonomie und der globalen Wettbewerbssituation betonten allesamt die Metapher des Wettrennens, in dem – nach dem Startschuss – sozialer Aufstieg und berufliches Vorankommen von der erfolgreichen Wahrnehmung der eigenen Talente und der individuellen Leistungsfähigkeit abhängt. Ein Wettrennen kennzeichnet sich jedoch durch die Eigenschaft, dass immer einige gewinnen und andere verlieren. Die Betonung der kompetitiven Aspekte von Bildung und Wissen spiegelte die grundlegende ökonomistische Stoßrichtung des britischen Reformdiskurses wider, in dem (Bildungs)Werte jenseits ihres Marktwertes kaum mehr vorkamen. Der neue ‚aktivierende Wohlfahrtsstaat’ wurde in dem Reformdiskurs als ein Staat konzeptualisiert, der eine Verantwortung für die Bereitstellung von gleichen Chancen habe (vor allem hinsichtlich gleicher Bildungschancen), ebenso wie der Bürger eine Verantwortung zur Wahrnehmung dieser bereitgestellten Chancen habe. Scheitern – aus welchen Gründen auch immer – war hingegen in New Labours Diskurs kein Thema mehr. New Labours kommunizierte Chancengerechtigkeit war eine Art wohlfahrtspolitischer Univeralismus, in dem jedem der Zugang zu gleichen Chancen gegeben würde. Dieses Verständnis von Universalismus gründete allerdings eher auf Ideen produktivistischer Leistungsgerechtigkeit, denn auf denen der Bedarfgerechtigkeit; es war jedenfalls ein markanter Bruch mit traditionellen sozialdemokratischen Gerechtigkeitsbegriffen und – wie im folgenden zu 683
J. Hirsch 1995 D. Hill 2002 685 A. Smithers 2007; J. O’Leary 2007; A. McKnight/ H. Glennerster/ R. Lupton 2005; S. Tomlinson 2003 686 „In both the NHS and in education, there will be in one sense be a market. The patient and the parent will have much greater choice. But it will be a market in the sense of consumer choice, not a market based on private purchasing power.“ T. Blair 2005 684
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
zeigen sein wird – weit von dem schwedischen Verständnis von Universalismus entfernt687. Denn die Betonung des befähigenden und Chancen eröffnenden Wohlfahrtsstaats übertrug – zumindest diskursiv-moralisch – die Verantwortung für die Nicht-Ausnutzung der Chancen und mögliche soziale Exklusion auf das Individuum.
5.1.3 New Labours öffentlicher Reformdiskurs im britischen Diskurskontext Betrachtet man Tony Blairs öffentlichen Reformdiskurs in seinem historischen und nationalen Diskurskontext, dann müssen zwei spezifische Kontextbedingungen hervorgehoben werden: Erstens die – im Vergleich mit den anderen hier untersuchten Ländern – sehr viel liberalere diskursive Grundstruktur, eine individualistische Gesellschaftskultur, ein residualer Wohlfahrtsstaat, eine unkoordinierte politische Ökonomie und nicht zuletzt bereits fast zwei Jahrzehnte dauernde marktradikale Strukturanpassungen. Zweitens die eigene Geschichte der Labour Party, die sich selbst mit ihren sozialistischen Positionen, Symbolen und Rhetoriken in einem liberalen und verstärkt ‚postindustriellen’ Diskurskontext entwurzelt zu haben schien. Die Frage, wie sich New Labours Reformdiskurs in eben diesem Kontext verortete, muss – parallel und jenseits der politischen Kommunikation bestimmter Reform-Policies – den Diskurs zu den Kontextbedingungen kritisch in Beziehung setzen. Kritisch bedeutet in der hier vorgenommenen Betrachtungsweise, dass die diskursiven Kontextbedingungen einen Reformdiskurs keineswegs absolut bestimmen, sondern immer auch eine Vielzahl von normativen und kognitiven Diskursoptionen eröffnen. So konnte sich ein New LabourDiskurs gegenüber bestimmten vorherrschenden Werten seines Diskurskontextes kritisch positionieren oder sich diesen anpassen. Denn ein Diskurs kann einerseits die vorherrschenden politisch-kulturellen Werte und ökonomischen Zwänge weitgehend absorbieren und die eigenen Positionen dementsprechend rhetorisch anpassen oder stattdessen versuchen, eigene grundwertegestützte Akzente zu behaupten (in der politischen Realwelt sind dies natürlich keine sich ausschließenden Alternativen, sondern graduell unterschiedliche Betonungen)688. Auch der nach innen in die Partei hinein wie nach außen an die Wähler gerichtete Diskurs der politischen Neupositionierung der Labour Party und des Abwerfens der eigenen ideologischen Vergangenheit konnte rhetorisch unterschiedlich stark betont werden. Zwischen der moderaten programmatischen Policy-Anpassung an veränderte Umwelten und Herausforderungen einerseits und der dezidierten Distanz zu der LabourVergangenheit bis hin zu Neubenennung als ‚New Labour’ andererseits fand sich eine ganze Bandbreite möglicher programmatischer Parteidiskurse.
Neoliberaler Diskurs, sozialdemokratische Politik? Tony Blairs Reformdiskurs gründete vor allem auf einer Kernaussage, nämlich dem Thatcherischen Marktradikalismus eine soziale Dimension hinzuzufügen. Zugleich wurde diese soziale Dimension von ‚Old Labour’ und vom Image einer ‚Steuer- und Umverteilungspartei’ abgegrenzt. Der normative Bezugspunkt des gesamten Reformdiskurses war fortan, 687 688
J. Andersson 2006: 450 Vgl. B. Böhning/ J. Turowski 2008
5.1 Großbritannien
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wirtschaftliches Wachstum und Unternehmertum mit sozialer Gerechtigkeit (nun als Inklusion und Chancengerechtigkeit kommuniziert) zu verbinden. Beides wurde nicht mehr als Gegensatz konzeptualisiert, sondern als jeweils wechselseitige Voraussetzungen. New Labours Reformdiskurs akzeptierte die ökonomischen Imperative, die aus den offenen Güter- und Kapitalmärkten folgten als unhintergehbar und betonte, dass marktorientierte Reformen daher zwingend seien, nahm dem Reformzwang aber dadurch die Schärfe, indem zugleich kommuniziert wurde, dass sich über eine pragmatische und kluge Politik, Marktlogik und soziale Gerechtigkeit widerspruchsfrei integrieren ließen. Doch obschon Tony Blairs Reformdiskurs unentwegt betonte, dass unter den Zwängen der Globalisierung und der Wissensökonomie an eine klassische sozialdemokratische Umverteilungspolitik nicht mehr zu denken sei, blieb New Labour – im Sinne der Parteiendifferenz – eine Partei, die ihre Politik entsprechend ihrer eigenen Programmatik auch auf die Schlechtergestellten in der Gesellschaft ausrichtete, dabei dem Staat eine aktive Rolle zuwies und nicht – wie im neoliberalen Deutungsmuster der Conservative Party – an die überlegende Funktionslogik der Märkte allein glaubte. New Labours politische Agenda der Inklusion und sozialen Investition erforderte jedoch ein gewisses Maß an Umverteilung zugunsten sozial Benachteiligter (negative Einkommenssteuer, Aktivierungs- und Förderprogramme, Ausgaben für Bildung und Gesundheit usw.). An diesem Punkt fielen Reformdiskurs und Reformpolitiken auseinander, denn soweit Chancengerechtigkeit nicht allein über Inklusion in den Arbeitsmarkt hergestellt werden konnte (z. B. Kinder, Rentner, Niedriglohnarbeiter), war eben jene ‚klassische’ Redistribution vonnöten, die New Labour als hinter sich gelassen zu haben kommunizierte. In den Jahren zwischen 2000 und 2008 erhöhte sich unter der New Labour-Regierung die Staatsquote um 7,8 Prozentpunkte689. Da auch die Steuerbasis erweitert und die Steuern erhöht wurden (teilweise versteckt – ‚Stealth Taxes’ so der Vorwurf der konservativen Opposition)690, war in den öffentlichen Debatten bald von einer ‚heimlichen Umverteilung’ die Rede. New Labour war so besorgt, nicht mit dem ‚tax and spend’-Image von ‚Old Labour’ assoziiert zu werden, dass sich die Regierung nicht eindeutig zu ihrer Politik bekennen wollte691 und gar eine ‚peculiar strategy of credit avoidance’692 betrieb. In Großbritannien konnte man also die eigentümliche Situation vorfinden, dass der kognitive wie normative Reformdiskurs in manchen Bereichen marktradikaler war, als die tatsächliche Reformpolitik. Wenn man den öffentlichen Reformdiskurs – im Sinne Vivien A. Schmidts – vor allem als notwendiges und programmatisch neutrales Instrument zur Durchsetzung schmerzhafter Reformen konzeptualisiert, dann könnte man diese Tatsache als eine wichtige diskursive Vergrößerung des politischen Handlungsspielraums der BlairRegierung betrachten: Der Reformdiskurs kommunizierte die Zwänge und Notwendigkeiten, die sich aus der Globalisierung und Wissensökonomie ergeben, betonte das neue Verständnis von Rechten und Pflichten und das neue Verhältnis von Staat und Markt, und eröffnete – förmlich auf der Rückseite des Diskurses – Möglichkeiten für eine ‚sozialdemokratische Politik durch die Hintertür’. Doch es war eher umgekehrt. In nationalen Diskurskontexten bestimmen sich durch Reformdiskurse und Reformpolitiken die kommunikativen Machtressourcen der Parteien 689
Von 37.1% im Jahr 2000 auf 44.8 im Jahr 2008. Vgl. OECD 2007 P. Stephens 2001; A. Glyn/ S. Wood 2001 691 P. Robinson 2007; J. Hills 2002 692 C. Annesly/ A. Gamble 2004: 157 690
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und Akteure immer wieder neu, d. h. der öffentliche Diskurs endet nicht bei der Durchsetzung des einen oder anderen Reformprojekts. In dem Maße nun, in dem New Labours Reformkommunikation die ‚soziale Dimension’ allein als politische Ergänzung zur allokativen Rationalität der Märkte und soziale Inklusion vor allem als Marktinklusion argumentierte, implizierte dies, dass ökonomische Leistungsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit nie in Widerspruch geraten können; vor allem, dass ‚soziale Gerechtigkeit’ nichts kostet. Peter Robinson zufolge konnte New Labour über zehn Jahre einen Reformdiskurs führen, der die Frage der Umverteilung ausklammerte, weil die britische Wirtschaft – nicht zuletzt wegen mancher Strukturreform – erfolgreich wuchs. Diese Frage stellte sich jedoch in dem Moment nachdrücklich, in dem die gesamtökonomische Lage die Regierung zu der Entscheidung zwang, die Steuern zu erhöhen und/oder wegen fehlender Mittel ihre sozialpolitischen Ambitionen zurückzuschrauben. Dann wurde es wichtig, auf eigene Definitionen wirtschaftlichen Erfolgs und sozialer Gerechtigkeit zurückgreifen zu können, die sozialdemokratische Politik und einen sozialdemokratischen Diskurs dauerhaft verankern. Doch „wie kann man einen Konsens dauerhaft verankern, wenn man in der Öffentlichkeit nicht ausdrücklich Schlüsselfragen formuliert und beantwortet“693?
5.1.4 Verschiebung des nationalen Diskurskontexts. Die Labour Party - Zurück zum Ausgangspunkt Wie sich ein öffentlicher Reformdiskurs in seinem nationalen Diskurskontext behauptet, hängt natürlich einerseits vom Inhalt und der kommunikativen Form des Diskurses selbst ab, andererseits aber auch von zyklischen Wellenbewegungen bestimmter politischer Werte, Vorstellungen und Erwartungen, die einen Diskurskontext immer durchziehen. Ein Reformdiskurs ist dann wahrscheinlich am erfolgreichsten, wenn er die wechselnden Stimmungen in der Öffentlichkeit pro-zyklisch aufgreift, kanalisiert und in seinem Sinne verstärkt, er kann sich aber auch gegen Stimmungen wenden und diese erfolgreich durch seine eigene inhaltliche und kommunikative Stärke abschwächen, umleiten oder gar verändern. In der politischen und wissenschaftlichen Bewertung der Blair-Jahre ist die Meinung vorherrschend, dass New Labours einzigartiger Wahlerfolg von 1997 und danach hauptsächlich deshalb zustande kam, weil sich die Labour Party programmatisch neu positionierte, von der eigenen Vergangenheit distanzierte und als Partei neu erfand. Allein aufgrund der ideologischen und organisatorischen Modernisierung war es der Labour Party und Tony Blair möglich, einen ‚zeitgemäßen’ mitte-linken Reformdiskurs zu führen und mit diesem in Wählergruppen vorzustoßen, die vorher verschlossen schienen. Nimmt man die Wahlergebnisse von 1983, in dem die Labour Party nach einer Phase politischer Radikalisierung und ideologischer Flügelkämpfe mit nur 28% der Stimmen das schlechteste Wahlergebnis seit 1918 erreichte, oder von 1992, in dem Labour – nach langer Führung in den Umfragen schließlich 8 Prozentpunkte hinter den Conservatives liegend – die vierte vernichtende Niederlage in Folge erlitt, als Referenzpunkte, dann scheint die Einschätzung tatsächlich gerechtfertigt, dass sich die Labour Party politisch so weit marginalisierte, dass sie ohne eine tiefgreifende Parteireform keine Chance mehr hatte, jemals wieder Regierungsmacht zu erlangen. Doch Blairs Wahlerfolg von 1997 und die vorherigen Wahlniederlagen können nicht einfach als statische Größen gegenübergestellt werden, denn 693
P. Robinson 2007: 51
5.1 Großbritannien
231
die Partei stand nach 1983 nicht still. Obwohl er ursprünglich dem linken Flügel der Partei zugeordnet wurde, steuerte bereits der Parteivorsitzende Neil Kinnock nach dem 1983er Debakel die Labour Party zurück in die gesellschaftliche und politische Mitte. Nach der erneuten Wahlniederlage 1992 übernahm John Smith die Führung und setzte die organisatorische (z. B. die Abschaffung gewerkschaftlicher ‚Block Vote’) und die programmatische Neuordnung der Partei fort. Auch außerparteiliche Entwicklungen müssen in die Gegenüberstellung der größten Wahlniederlage und des größten Sieges miteinbezogen werden. John Curtice verweist auf den ‚Black Wednesday’ im September 1992, nur ein paar Monate nach dem Wahlsieg der Konservativen. Nachdem Großbritannien 1990 verspätet und mit einem überbewerteten britischen Pfund dem Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems (EWS) beigetreten war, geriet das Pfund 1992 unter Druck und die konservative Regierung – nun unter Premierminister John Major – war nicht in der Lage, den Wert der Währung auf den Märkten zu stützen, trotz steigender Leitzinssätze von bis zu 15%. Schließlich sah sich die Regierung gezwungen, das Pfund aus dem EWS zurückzuziehen. Als Ergebnis der ‚Währungskrise’ fiel das britische Pfund in den folgenden Wochen um fast 15% gegenüber der deutschen Mark und um 25% gegenüber dem US Dollar. Der ‚Black Wednesday’ war ein Schock, zerstörte die Reputation der Conservative Party ein effektiver Manager der Wirtschaft zu sein und leitete den Erosionsprozess der konservativen Regierung ein694. Weihnachten 1992 führte Labour in den Umfragen mit Prozentpunkten im zweistelligen Bereich. Im Mai 1994, in dem Monat, in dem John Smith plötzlich verstarb, lag Labour in allen Umfragen mit nicht weniger als 23 Prozentpunkten vor den Konservativen. In der Europawahl im Juni desselben Jahres gewann die Partei 44% der Stimmen (16 Punkte vor den Konservativen). Als Tony Blair im Juni 1994 Labour-Vorsitzender wurde, erfreute sich die Partei bereits wieder bedeutender Wahlerfolge: nicht nur in den Umfragen, sondern auch an der Wahlurne. Tony Blair und eine programmatisch grunderneuerte neue Labour Party stehen für beeindruckende Siege, vor allem der Erdrutschsieg von 1997 (wie bei der Europawahl gewann Labour 44% der Stimmen), aber auch der dritte Wahlsieg in Folge – zum ersten Mal in der Geschichte Labours – von 2005. Die enormen Zustimmungswerte, die Tony Blair in der ersten Amtszeit genossen hatte, begannen bereits während der zweiten Amtszeit – auch schon vor der Invasion im Irak – zu fallen. Dramatisch und beunruhigend waren die Wahlergebnisse in den Regional- und Europawahlen im Juni 2004. Labour gewann in der Europawahl gerade einmal 23% und in den Regionalwahlen – auf einen Landesdurchschnitt hochrechnet – 26% der Stimmen. Zwar schaffte Blair 2005 einen dritten Wahlsieg, doch in absoluten Zahlen war dieser Sieg weniger beeindruckend. Die Partei sichert sich nur noch 35,2% der Stimmen695 und war fast wieder bei den 34,4% angekommen, die 1992 zu so viel Enttäuschung geführt hatten. In Kombination mit der geringen Wahlbeteiligung 2005 ergibt sich ein weiterer historischer Befund: Keine andere britische Regierung regierte mit ähnlich geringer Unterstützung von nicht einmal 22% der wahlberechtigten Bevölkerung696. 694
J. Curtice 2007: 37 Wären die Anteile der absoluten Stimmen von Labour und Conservatives 2005 umgekehrt gewesen und die Conservatives hatten mit knapp 36% 3 Punkte vor Labour gelegen, dann hätten sie sich keine Mehrheit sichern können. Es wäre sogar sehr unwahrscheinlich gewesen, dass die Conservatives die größte Fraktion geworden wären. J. Curtice 2007: FN.4, 40. Vgl. auch J. Curtice/ S. Fisher/ M. Steed 2005: Appendix 2 696 L. Helms 2006: 230 695
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
In liberalen Demokratien ist es die Regel und normativ wünschenswert, dass Regierungen – mit einem Machtmandat auf Zeit ausgestattet – nach einer gewissen Zeit die Zustimmung ihrer Bevölkerung verlieren und abgewählt werden. Für die hier vorgenommene Betrachtung ist somit die Tatsache, dass die Labour-Regierung nach dreizehn Jahren an der Macht an Zustimmung verliert weit weniger interessant, als jene, dass die Labour Party bereits hohe Zustimmungswerte hatte, bevor sie ihren Reformdiskurs zunehmend in Abgrenzung zur ‚alten Sozialdemokratie’ formulierte und dass ihre marktorientierte Reformagenda im Laufe ihrer Regierungszeit eher Unsicherheiten und Ängste in der Öffentlichkeit erzeugte697. Zudem macht sich der Erfolg eines Reformdiskurses eher daran fest, ob er den nationalen Diskurskontext über die tatsächliche Regierungszeit der ihn führenden Partei hinaus nachhaltig verändert hat (was beispielsweise für Margaret Thatchers Reformdiskurs gilt). Hat New Labours Reformdiskurs dazu geführt, dass Bürger ihre eigene Meinung verändern? John Curtice verweist auf Daten der British Social Attitudes Survey, in der über zwanzig Jahre den Briten eine Anzahl von Fragen gestellt wurden, die unter anderem die Verteilung linker und rechter Einstellung in der Bevölkerung bestimmen sollen. Tabelle 7: ‚Linke’ Einstellungen in Großbritannien 1990-2005
1990 1991 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005
Arbeitslosenunterstützung ist Regierung sollte von Beszu niedrig (%) serverdienenden zu Schlechterverdienenden umverteilen (%) 52 51 54 50 58 48 53 51 51 47 48 44 46 n.g. 29 39 33 36 40 39 37 38 29 39 34 42 23 32 26 32
Links der Mitte (%)
59 54 59 64 61 58 n.g. 52 50 52 49 53 51 42 44
n.g. = nicht gefragt. Quelle: British Source Attitudes, zitiert nach Curtices, John (2007: 50, Tabelle 3.5)
Betrachtet man die Werte im Zeitlauf, dann fällt als erstes auf, dass es Margaret Thatcher trotz aller Bemühungen und Vorsätze nicht gelungen war, Großbritannien ideologisch nachhaltig nach recht zu bewegen. Vor allem fällt aber auf, dass es hingegen in der Blair697
I. Blühdorn/ U. Jun 2007: 11
5.1 Großbritannien
233
Ära einen massiven Rückgang der Unterstützungswerte für mehr soziale Gleichheit und für staatliche Interventionen in die Wirtschaft gegeben hat – Positionen, die traditionell mit der Linken assoziiert werden. Es scheint, dass die programmatische Verschiebung der Partei zur Mitte hin, auch die Bürger von den Werten wegbewegte, mit denen die Partei ursprünglich assoziiert wurde. Es gibt einen substanziellen Wandel hin zu marktliberalen Positionen und weg von sozialstaatlichen Einstellungen. „Als Ergebnis ist das ideologische Terrain, auf dem Gordon Brown nun für die Parteisache kämpfen muss, weit schwieriger als das, was Blair geerbt hat. Weniger Wähler glauben an Dinge, an die Labour (einst) glaubte“698. New Labours Reformdiskurs muss man dahingehend als sehr erfolgreich einstufen, die Erwartungshaltung in der Bevölkerung gegenüber staatlichen Steuerungs- und Inventionsmöglichkeiten nachhaltig reduziert zu haben. Vom Staat werden weniger finanzielle Zuwendungen verlangt, sondern vielmehr – den Kernbotschaften New Labours Reformdiskurses entsprechend – vor allem Möglichkeiten und Chancen. Durch ihren kohärenten Reformdiskurs scheint die Blair-Regierung somit erstens erfolgreich gewesen zu sein, ihre Reformpolitik vor der Öffentlichkeit kognitiv zu erklären und normativ zu legitimieren, was sie zweitens davor bewahrte, sich in programmatischen Grundsatzdiskursen mit verschiedenen alliierten Akteuren (Parteibasis, Gewerkschaften) aufzureiben, was wiederum drittens eine stringente Policy-Implementierung ermöglichte und viertens New Labour in die Mitte des politischen Spektrums rückte – in der sich Labours Politikentwurf mit der Mehrheitsmeinung im Einklang befand – und die Konservativen an den Rand drängte (Abb. 5.2). Das bedeutet, dass der Reformdiskurs die Einstellungen, Werte und Erwartungen der Bevölkerungen so weit verändert hat, dass sie nun nicht mehr in einem Widerspruch (mit entsprechendem politischen Konfliktpotential) zu einer notwendigen Reformpolitik stehen.
698
J. Curtice 2007: 51f. Vgl. auch P. Taylor-Gooby/ R. Martin 2008
234 Abbildung 4:
5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse Diskurskontextverschiebung Großbritannien
Jedoch schießt dieser Einstellungswandel vielfach über das Ziel hinaus. So wird Armut in Großbritannien heute häufig auf eigenes Verschulden und zu wenig persönliche Anstrengung zurückgeführt. Dieser Wandel bringt eine Regierung bzw. eine Partei, die sich verpflichtet fühlt, die massive Armut in Großbritannien zu reduzieren, in ein Diskursdilemma, wenn ihre Politik in eine entgegengesetzte Richtung zu den, durch sie selbst mit veränderten Einstellungen verläuft699. Tony Blairs Diskursstrategie scheint die Menschen davon abgebracht zu haben, mehr gesellschaftliche Gleichheit haben zu wollen (und somit auch eine Regierung, die ein solches Ziel politisch verfolgt); eine Veränderung, die es New Labour zunehmend schwer machen wird, Wahlen zu gewinnen. Denn auch wenn Ideologien in einem volatilen Wählermarkt immer weniger von Bedeutung zu sein scheinen, so hat doch der Schwenk der Werteeinstellungen in eine konservative bzw. marktliberale Richtung es für die Labour Party sicherlich schwerer gemacht, ein spezifisch sozialdemokratisches Projekt in die Gesellschaft zu kommunizieren. Aufgrund der affirmativen programmatischen wie rhetorischen Anpassung an die Welt der Globalisierung, der ökonomischen Beschleunigung und der postindustriellen Modernisierung, verlor der New Labour-Diskurs schließlich jegliche politische, aber auch morali699
Vgl. P. Taylor-Gooby/ R. Martin 2008
5.1 Großbritannien
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sche und symbolische Distinktion. Die Sozialdemokratie in Großbritannien verlor Einfluss sowie eine kulturelle Hegemoniefähigkeit, da – nachdem sie die letzten Reste von Kapitalismuskritik aus ihrem Diskurs eliminiert hatte – ihr de facto kein Groß-Politikdiskurs mehr zu Verfügung stand, allenfalls noch rhetorische Modifikationen und Abweichungen in Randbereichen des anderen Großdiskurses: der kapitalistischen Marktwirtschaft. Zwar war die rhetorische Kapitalismuskritik der Sozialdemokratie spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg immer eingebettet in eine pragmatische und realpolitische Kapitalismusgestaltung, doch Blairs Reformdiskurs blieb selbst dem anglo-amerikanischen Kapitalismus-Typus gegenüber (samt seinen normativ problematischen Implikationen wie z. B. deregulierte Finanz- und Arbeitsmärkte oder Niedriglohnbeschäftigung) weitgehend unkritisch. Jenseits der tatsächlichen Policy-Beschänkungen, die sich aus der globalen Einbettung der britischen Volkswirtschaft und ihrer spezifischen Wettbewerbsvorteile ergaben, formulierte der Reformdiskurs keine Politikalternative mehr. In nun mehr als dreizehnjähriger Rückschau muss man heute feststellen, das New Labours Reformdiskurs an vielen Stellen weniger eine zeitgemäß begriffliche und organisationspolitische Weiterentwicklung des alten sozialdemokratischen Großdiskurses war, sondern vielmehr eine ideelle Entkoppelung eines neuen von einem alten Diskurs. In diesem Entkoppelungsprozess sind allerdings viele originäre Elemente eines linken Diskurses verloren gegangen wie beispielsweise die analytische und kritische Sprachfähigkeit gegenüber kapitalistischen Entwicklungsprozessen, sozioökonomische Interessensidentitäten oder auch moralische Kategorien. So kann angesichts der Wirtschafskrise im Zuge des Zusammenbruchs des globalen Finanzsektors Gordon Brown kaum mehr auf einen historisch gewachsenen sozialdemokratischen Politikdiskurs zurückgreifen. Dies vor allem, weil New Labours Diskurs weitgehend enttraditionalisiert und entpolitisiert war. Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde als managerialistische Problemlösung konzeptualisiert, als so genannte ‚Win-Win’-Lösung jenseits von Interessen und Widersprüchen. Dabei haben sowohl Tony Blair wie auch Gordon Brown viel Wert darauf gelegt, zu kommunizieren, dass Umverteilung, hohe Steuern und staatliche Interventionen der ideologischen wie politikinstrumentellen Vergangenheit angehören. Es wurde jahrelang behauptet, dass das Wechselspiel von Boom und Krise zu Ende sei und es nur noch ‚leichte Regulierung’ bräuchte. Die Regierung Gordon Brown gerät nun diskursiv in die Defensive, da sie eben jene Politikinstrumente einsetzen muss, die Labour lange als historisch überholt kommunizierte. Zwar gibt es für die Krisenreaktions-, Bankenrettungs- und Konjunkturprogramme sowie Re-Regulierungen einen neuen öffentlichen ‚TINA’-Diskurs700, doch diesem fehlt heute eine wie auch immer geartete ideologische Grundierung und eine über die unmittelbare Krisenreaktion hinausreichende politische Perspektive – vor allem nachdem Brown als Chancellor of the Exchequer jene ‚Finanzindustrie’ lange Jahre hat wuchern lassen, die Großbritannien höchste Wachstumsraten in der EU bescherte und die ökonomische Voraussetzung für die Expansion des britischen Dienstleistungssektors war. Die Finanz- und Wirtschaftskrise offenbart ein strukturelles Defitzit in New Labours Post-Thatcher-Diskurs: die ideologisch-diskursive Abhängigkeit von Thatchers Vermächtnis der freien Märkte, der Deregulierung oder der Moralisierung des Wohlfahrtsstaats. In der langen Periode des Wirtschaftswachstums konnten Tony Blair und Gordon Brown problemlos eigene diskursive Akzente setzen, ohne von einer Vielzahl thatcheristischer 700
„There is no Alternative“. Vgl. auch Kap. 3.1: ‚Reformen, Diskurse und Parteiendifferenz’
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Imperative abrücken zu müssen. Dabei vermieden sie jeden Bezug zum ‚Sozialismus’ und sei es auch nur als eine leere Referenz zum einem egalitäreren Politikverständnis. In der Wirtschaftskrise hat Labour nun nichts, auf das sie diskursiv zurückgreifen können; es fehlt der sozialdemokratische Diskurs, der strukturellen Widersprüche des globalen Finanzkapitalismus zu kritisieren imstande ist. Aus diesem Grund wirkt die Regierung Brown – und zwar mehr als die üblichen Verschleißerscheinungen nach zwölf Jahren an der Macht – heute intellektuell ausgebrannt und programmatisch visionslos701. Sogar noch schwerwiegender ist eine durch New Labours Diskurs selbst beschleunigte Entwicklung, die Colin Crouch als Postdemokratisierung charakterisiert702 (ein Prozess, der zwar in allen westlichen Demokratien tendenziell anzutreffen ist, in Großbritannien jedoch nicht zuletzt wegen New Labour weit fortgeschritten ist). Postdemokratie beschreibt eine, gegenwärtigen Demokratien inhärente Tendenz: Es findet zwar noch der demokratische Akt der Wahl und eine mögliche Abwahl von Regierungen statt, das demokratische Projekt jedoch in seiner Gesamtheit erfährt einen erheblichen Substanzverlust. Der demokratische Prozess kontinuierlich egalitärer Umverteilung von Wohlstand und Macht und somit die politische Eindämmung ökonomischer Macht hat sich nach dem Erreichen eines historischen Scheitelpunkts in den späten 1970er Jahren umgekehrt, so dass sich nun die Macht privilegierter Eliten wieder vergrößert, egalitäre Projekte in Richtung prädemokratischer Zeiten zurückgedrängt werden und demokratische Durchsetzungsmöglichkeiten breiter sozio-ökonomischer Interessen der Gesellschaft gegenüber einer global-kapitalistischen Geschäfts- und Verwertungslogik zunehmend unzureichend werden. In den 1980er Jahren trat verstärkt ein Konzept von Demokratie auf die Bühne, das durch die begrenzte Macht der Regierung inmitten einer unbeschränkten kapitalistischen Ökonomie gekennzeichnet war. Der öffentliche Raum sowie öffentliche Güter wurden weitgehend privatisiert und privatwirtschaftliche Markt- und Effizienzlogiken auf den öffentlichen Dienst übertragen. Der Staat sollte und wollte wie ein privates Unternehmen agieren. Der Rückzug des Staates aus dem öffentlichen Raum und öffentlichen Aufgaben und die gleichzeitige Privatisierung von ehemals staatlichen Leistungen durch ‚Sponsoring’ und ‚Privat-Public-Partnership’ führte dazu, dass sich der Staat zunehmend selbst der Fähigkeit beraubte, als zentraler und aktiver Akteur gestalterisch agieren zu können. Die Leerräume, die der Staat zurückließ, wurden von nicht-öffentlichen Interessen gefüllt und waren nunmehr für die demokratische Öffentlichkeit nicht mehr verhandelbar, sie waren ihr förmlich entzogen. Die enger werdenden Handlungsspielräume der Politik wurden – so Crouch – durch ein Mehr an politischer Kommunikation und Personalisierung kompensiert, die wiederum durch professionelle PR-Experten so stark kontrolliert wurden, dass öffentliche Debatten zu einem reinen Spektakel verkamen, in der die Mehrheit der Bürger nur noch eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle spielte. Der demokratische Substanzverlust führte dazu, dass soziale Gruppen ihren politischen Ort in der Gesellschaft verloren, an dem sie ihre Interessen artikulieren konnten, und nun dauerhaft mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert waren. „Damit haben vor allem linke
701 702
D. Sandbrook 2009 C. Crouch 2008
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Parteien zu kämpfen, die früher jene Gruppen vertraten, die heute an die Ränder der politischen Szenerie gedrängt werden“703. Auch wenn Colin Crouchs Gleichsetzung ‚wirklicher’ Demokratie mit einer bestimmten historischen Phase der Demokratie, nämlich den westlichen Nachkriegsjahrzehnten, recht problematisch ist, da diese sich zwar durch wirksame staatliche Regulations- und Umverteilungspolitiken und hohen gewerkschaftlichen und parteilichen Organisationsgrad, aber auch durch z. B. traditionelle Familien- und Geschlechtsverständnisse, starre soziale Klassenschranken oder eine spezifische technologische Entwicklung auszeichneten. Die ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen, technologischen und medialen Veränderungen seitdem stellen nicht nur Beschränkungen der Demokratie dar, sondern bergen grundsätzlich auch vielfältige Chancen für eine demokratisch qualitative Weiterentwicklung bzw. Vertiefung704. Gleichwohl lassen sich – bei methodisch kritischem Gebrauch – die empirischen Befunde der Postdemokratie-These als analytisches Raster der Bewertung des New Labour-Diskurses nutzen. Denn die Blair-Jahre stehen für die Privatisierung bzw. Vermarktlichung des öffentlichen Sektors, für das expressive Kümmern um die Belange einer Handvoll Wirtschaftsführer, „deren spezielles Interesse dann höflich in die Sprache der Leitlinien der öffentlichen Politik übersetzt werden“705, für die Schwächung der Labour Partei als eigengewichtiger politischer Akteur und deren gleichzeitige (und erfolgreiche) Ausrichtung auf Spendengelder von Unternehmen sowie eine exzessive PR- und ‚Spin’Orientierung706. Für die hier vorgenommene Fragestellung fallen weniger die von Crouch hervorgehobenen sozial- und wirtschaftspolitischen Makroentwicklungen sowie zunehmende sozioökonomische Ungleichheit ins Gewicht (die ja selbst Inhalt des Reformdiskurses sind), als vielmehr eine zunehmende Kommodifizierung und Privatisierung weiterer Lebenswelten wie z. B. Kultur und Bildung. Kommodifizierung meint hier, dass immer mehr gesellschaftliche Sphären in die Hände nicht-öffentlicher Interessen geraten und somit für die demokratische Öffentlichkeit nicht mehr politisch gestaltbar sind. Die PR-Form der öffentlichen Diskursführung New Labours selbst ebenso wie die massive Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes sind unter anderem Bestandteile eben jener rückläufigen demokratisch-diskursiven Partizipation, die Crouch mit dem Begriff ‚Postdemokratie’ zu erfassen versucht. Es ist zu befürchten, dass im Zuge fortschreitender Postdemokratisierung die Legitimation eines sozialdemokratischen und realistischen politischen Projekts langfristig in Zweifel gezogen und von populistischen Stimmungen und Eruptionen verdrängt707 wird.
703
C. Crouch 2008: 43 Für eine kritische Betrachtung und Einordnung der ‚Postdemokratie’ vgl. T. Meyer 2009: 195ff. Auf die Beziehung ‚Postdemokratie’ und ‚öffentlicher Reformdiskurs’ wird in Kap. 6.2: ‚Der ideologische Diskurs der Sozialdemokratie’ nochmals eingegangen. 705 C. Crouch 2008: 34. Vgl. auch A.Giddens 2002a: „Ich war immer der Meinung, dass New Labour eine etwas zu starke ‚Liebesaffäre’ mit Wirtschaftsführern hat. Natürlich muss man die Unternehmen unterstützen, sonst hat man keine florierende Wirtschaft. Aber das ist etwas anderes als die unkritische Bewunderung für erfolgreiche Unternehmer“. 706 So bemerkt Peter Mandelson selbstkritisch an, dass die Blair-Regierung mit ihrer exzessiven Medienorientierung zu weit gegangen ist. Journalisten würden bei Policy-issues mehr über die Taktik und den „Spin“ der Regierungskommunikation diskutieren als über deren tatsächlichen Inhalt. Die Regierung untergrabe damit ihre Glaubwürdigkeit, weil alle ihre Äußerungen vorab skeptisch als Medieninszenierungen wahrgenommen würden. Vgl. P. Mandelson 2002: XLIIIf. 707 P.A. Perger 2007 704
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
5.2 Schweden: Die diskursive Neubestimmung des schwedischen Modells In der wissenschaftlichen wie politischen Debatte existiert der Begriff des ‚Schwedischen Modells’708 seit Jahrzehnten und die Besonderheit des öffentlichen Reformdiskurses der 1990er Jahre bestand darin, dass die Diskurse über den wohlfahrtsstaatlichen Rück- bzw. Umbau dieses Modells weit mehr als in den Vergleichsländern den programmatisch identitären Kern der schwedischen Sozialdemokratie selbst berührten. Denn der schwedische Wohlfahrtsstaat ist die historische Ausformung der Hegemonie der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) seit 1932, die ihre programmatischen Vorstellungen und Ziele – Gleichheit zwischen den sozialen Klassen und Geschlechtern und Vollbeschäftigung bei hohem Beschäftigungstand709 – weitgehend durchsetzen und darüber langfristig politische, wirtschaftliche und institutionelle Arrangements herstellen konnte, deren inhärente Handlungslogiken sich wiederum in den Werte- und Einstellungsmustern der Bevölkerung verankerten. Das sozialdemokratische Projekt entgrenzte sich auf diese Weise zu einem Projekt einer Nation710. Als seit den 1980er Jahren allenthalben die Erosion der ökonomischen und sozialen Fundamente eines spezifischen sozialdemokratischen Modells konstatiert wurde, ging es nachfolgend nicht allein um wohlfahrtspolitisch-technische Problemlösungen, sondern auch um die viel grundsätzlichere Frage, ob sozialdemokratische Gestaltungsprinzipien, Politikinstrumente und Wohlfahrtsziele in das neue Zeitalter der Globalisierung, Wissensökonomie und Individualisierung überhaupt noch hinüber gerettet werden können711. Vor allem wurde deutlich, dass in eben jener post-fordistischen Ökonomie zwei essentielle Bestandteile sozialdemokratischer Politik in einen spannungsreichen Widerspruch zueinander gerieten: Die egalitäre und die Vollbeschäftigungspolitik. Eine egalitäre Politik schien zunehmend Schwierigkeiten zu haben, die Arbeitslosigkeit wesentlich und nachhaltig zu reduzieren, zugleich erzeugte eine dynamische und wissensbasierte Dienstleistungsökonomie, die für die Entstehung von Arbeitsplätzen notwendig war, hohe Lohndifferenzen712. Vor diesem Hintergrund ging es in den Reformdiskursen der 1990er Jahre nicht allein um die rein funktionale und bestandserhaltende Anpassungsfähigkeit – nämlich das Prinzip der Universalität – an eine veränderte ökonomische und soziokulturelle Umwelt, sondern auch darum, ob die notwendigen Reform-Policies über einen normgestützten sozialdemokratischen Diskurs legitimiert werden konnten; also um die Frage, ob das schwedische Modell auch nach seiner Neujustierung weiterhin als sozialdemokratisches Modell713 gelten konnte, ob die Policy-Veränderungen selbst und die Reformrichtung kognitiv und vor allem normativ als sozialdemokratisch gerahmt werden konnten. Trotz oder gerade wegen dieser einzigartigen Symbiose zwischen programmatischem Partei-, parteigestütztem Regierungs- und nationalem Wohlfahrtsstaatsdiskurs, vollzog sich der schwedische Reformdiskurs in der zweiten Hälfte der 1990er Jahren eher im öffentlichen Windschatten von Tony Blairs New Labour-Diskurs – im Vergleich zu diesem weitgehend unberücksichtigt von politischer, journalistischer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Die sozialdemokratischen Modernisierer Europas – besonders in Deutschland – waren vor allem von Tony Blairs Reform-Enthusiasmus fasziniert und machten seine 708
R. Meidner/ A. Hedborg 1984 W. Korpi 1983; K. Hinrichs/ W. Merkel 1987 710 H. Heclo/ H. Madsen 1987 711 Zum Beispiel J. Pontussen 1992; A. Kjellberg 1992; M. Ryner 2002; J. Fulcher 1994; J.E. Lane 1995 712 T. Iversen 1998; G. Therborn 1991 713 A. Lindbom 2001 709
5.2 Schweden
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Hyper-Innovation714 zum Referenzpunkt scheinbar zeitgemäßer sozialdemokratischer Policy-Reformen, während die schwedischen Reformen vielfach als Beleg für das unausweichliche Ende sozialdemokratisch imprägnierter makroökonomischer Organisation und Wohlfahrtsstaatsarrangements in Zeiten der Globalisierung und des Postfordismus angeführt wurden. Die schwedischen Sozialdemokraten ihrerseits betrachteten den marktzentrierten New Labour-Diskurs der späten 1990er Jahre aus einer sehr kritischen Distanz. Zum einen weil aktive Arbeitsmarktpolitik, lebenslanges Lernen oder ‚Employability’ immer schon wichtige Instrumente sozialdemokratischer Politik gewesen waren und als integraler Bestandteil des umverteilenden Wohlfahrtsstaats, nicht als Ersatz für ‚alte’ sozialdemokratische Politik betrachtet wurden. Zum anderen betonte der schwedische sozialdemokratische Diskurs seine Skepsis gegenüber den Kräften des Marktes715. Erst zu Beginn der 2000er Jahre, nachdem Schweden seinen Haushalt konsolidiert und die Arbeitslosigkeit reduziert, sich zudem zu einer führenden IT-Ökonomie716 entwickelt und in PISA-Studien717 vergleichsweise gut abgeschnitten hatte und dabei zugleich einen (wenn auch modifizierten) wohlfahrtsstaatlichen Universalismus aufrecht erhalten konnte718, rückten die schwedischen Wohlfahrtsstrukturen wie auch die diese stabilisierenden Reform-Policies der 1990er und 2000er Jahre wieder ins Zentrum der politischen wie auch wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Obwohl die Identitätskrise des schwedischen Modells in Folge der Wirtschaftskrise zu Beginn der 1990er Jahre schwerwiegend war und die sozial- und arbeitmarktpolitischen Reformen in eine ‚britische’ Richtung wiesen und zum Teil – aufgrund eines sehr hohen Ausgangsniveaus – weitreichender waren als die britischen Reform-Policies (Abwendung vom Keynesianismus und Hinwendung zu monetaristischen Politiken, Dezentralisierung der industriellen Beziehungen, Aktivierungsprogramme, Leistungskürzungen usw.), stand der schwedische Diskurs zur Legitimierung der Reformen dem britischen in mehreren Hinsichten diametral gegenüber. In der Gegenüberstellung des schwedischen und britischen öffentlichen Reformdiskurses wird deutlich, dass die Reformkommunikation unausweichlicher Wohlfahrtsstaatsreformen – jenseits der unterschiedlichen institutionellen Diskursressourcen – normativ-inhaltlich höchst unterschiedlich konzeptualisiert werden konnte.
Der schwedische ‚Dritte Weg’: Programmatische Neubestimmung in den 1980er Jahren Betrachtet man den Reformdiskurs der schwedischen Sozialdemokratie, dann fällt auf – vor allem im Vergleich zu New Labour –, dass es einen spektakulären Bruch, eine diskursive Betonung der eigenen ideologischen Neubestimmung bzw. eine rhetorische Abwendung von traditionellen Wertbeständen nicht gegeben hat. Dies ist insofern bemerkenswert, da 714
M. Moran 2003 C. Svensson 2001 716 E. Gurgsdies 2006: 103f. 717 Programme for International Student Assessment-Studien der OEDC sind international vergleichende Schulleistungsuntersuchungen, die seit dem Jahr 2000 in dreijährigem Turnus in den meisten Mitgliedsstaaten der OECD und einer zunehmenden Anzahl von Partnerstaaten durchgeführt werden und die zum Ziel haben, alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten 15-jähriger Schüler zu messen. Vgl. OECD 2001, 2004 718 Vgl. J. Lindvall/ B. Rothstein 2004; J. Schmid 2002: 218ff.; M. Kautto/ J. Fritzell/ B. Hvinden/ J. Kvist/ H. Uusitalo 2001; D. Sainsbury 1999 715
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sich das schwedische Modell seit den 1970er Jahren in einigen Bereichen fundamental verändert hat719. Auf makroökonomische und soziokulturelle Veränderungen hat die SAP auch mit neuen normativen Zielbestimmungen sowie mit der grundlegenden Neujustierung ihrer Politik-Instrumente reagiert. Die programmatische Modernisierung der SAP setzte bereits in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren ein, als vor dem Hintergrund der (Welt)Wirtschaftskrisen deutlich wurde, dass das ‚schwedisches Modell’ an seine politökonomischen Grenzen gestoßen war und dass der Übergang von fordistischen zu postfordistischen Produktionsweisen neue politische Regulationsmechanismen verlangte. Der programmatische Bruch bestand vor allem darin, dass der weitere Ausbau des Wohlfahrtsstaats und die Vertiefung der materiellen Gleichheit zugunsten der Bewahrung des Erreichten aufgeben wurde. Angesichts der Tatsache, dass der Wohlfahrtsstaat im Selbstverständnis der hegemonialen Sozialdemokraten in den 1960er und 1970er Jahren noch als ein dynamisches Instrument einer graduellen sozialistischen Transformation galt720, war diese Kehre durchaus ein fundamentaler Bruch mit den Postulaten der sozialdemokratischen Nachkriegsideologie. Nachdem sich die Krisen eines industriezentierten ‚schwedischen Modells’ in den 1970er Jahren immer weiter auftürmten und die Sozialdemokraten 1976 nach 44jähriger Regierungsbeteilung abgewählt wurden, schrieb die SAP 1981 ein Krisenprogramm, in der eine Modernisierungsagenda für die 1980er und frühen 1990er Jahre erarbeitet wurde. Dieses Programm wurde– fünfzehn Jahre vor der britischen Labour Party – als ein ‚Dritter Weg’ formuliert. Das ‚Dritte’ des schwedischen Weges war die Mitte zwischen der traditionellen keynesianistischen Makrosteuerung, die in den 1970er Jahren an ihre Grenzen gestoßen war und ein hohes Maß an Instabilität verursacht hatte721, und dem Monetarismus Thatcheristischer Prägung722. Der schwedische ‚Dritte Weg’, der nach der erneuten sozialdemokratischen Machtübernahme 1982 auch Regierungsprogramm wurde, umfasste eine ganzes Bündel von (teilweise auch weiterhin traditionellen) Policy-Maßnahmen, wie die Abwertung der schwedischen Krone, Lohnzurückhaltung, Ausgabensenkungen, Kostenreduktion und Rationalisierung des öffentlichen Sektors sowie die Zulassung privater Anbieter von Sozialdienstleistungen723, die allesamt eine fundamentale Abkehr von zentralen Politikvorstellungen seit den 1930er Jahren darstellten, wonach öffentliche Ausgaben- und Wohlfahrtsstaatspolitiken per se ein produktives Instrumente einer florierenden Wirtschaft seien. Die meisten dieser Instrumente, die in den 1980er Jahren zur Bewahrung des schwedischen Wohlfahrtsstaats entwickelt wurden, um das ‚Modell’ an die neue Welt pragmatisch anpassen zu können – vor allem Kostenreduktion und Rationalisierung der öffentlichen Sektors – waren auch die zentralen finanz- und wirtschaftspolitischen Instrumente der Reformen der 1990er Jahre. Der schwedische Ministerpräsident Olof Palme gab nach der erneuten Machtübernahme 1982 die Richtung vor, in die die Sozialdemokraten steuern
719
Vgl. Kap. 4.2.1: ‘Schweden: Sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime und national koordinierte Marktwirtschaft’ 720 M. Ryner 1999 721 Die negativen Erfahrungen einer expansiven keyensianistischen Geldpolitik durch die französischen Sozialisten 1981/82 und den berühmte U-Turn 1983 haben ebenfalls dazu beigetragen, dass die schwedischen Sozialdemokraten auf kritische Distanz zu einer keynesianistischen Globalsteuerung gingen. 722 M. Benner/ T. Bundgaard Vad 2000: 417ff. 723 J. Callaghan 2000: 122f.; M. Ryner 2002; M. Benner/ T. Bundgaard Vad 2000
5.2 Schweden
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würden: „The social democrats want to continue on the welfare construction, but it has to be at a pace the economy can handle. We promise no new cost-demanding reforms“724. Für die Betrachtung des schwedischen Reformdiskurses ist jedoch vor allem wichtig, dass diese Neubestimmung von Instrumenten innerhalb der SAP vor allem ein pragmatisches Krisenprogramm zur Wiederherstellung von Vollbeschäftigung und Preisstabilität war. Im Gegensatz zum späteren britischen ‚Dritten Weg’ ist dieser Pragmatismus selbst allerdings keineswegs Bestandteil eines ideologischen Diskurses; die normative Zielsetzung sozialdemokratischer Politik wird – zumindest rhetorisch – nicht durch einen Pragmatismus des Machbaren abgelöst. Der schwedische ‚Dritte Weg’ in den 1980er Jahren kennzeichnet sich zudem durch die Abwesenheit einer neuen gerechtigkeits- oder gar demokratietheoretischen Argumentation und intellektuellen Debatte725 und durch die eher stille Umsetzung konkreter Reform-Policies innerhalb eines gegebenen diskursiven Rahmens sozialdemokratischer Kontinuität. Das politische und diskursive Leitmotiv der Bewahrung des wohlfahrtsstaatlich Erreichten begründet und legitimiert in den folgenden Jahren eine praxisorientierte und kontinuierliche Anpassungspolitik – mitunter Veränderungen auch mancher Ziele – an die veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die später auch das Krisenmanagement in der sozialpolitischen Umbauphase in den 1990er Jahren prägt. An dieser Stelle soll nicht bewertet werden, ob Ausmaß der Reformen und die Veränderungen der Politikinstrumente das schwedische sozialdemokratische Modell im Kern erhalten oder es nachhaltig verändert haben, wichtig ist hier vielmehr, dass der sozialdemokratische Reformdiskurs der 1990er Jahre an die Kontinuitätsrhetorik anknüpft, die bereits die Reformkommunikation der 1980er Jahre prägte. Die programmatische Maxime, den weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaats zugunsten seiner Bewahrung aufzugeben, die sich in der SAP in den 1980er Jahren zunehmend durchsetzte, bedeutete jedoch nicht, dass die Partei damit ideologisch stillgelegt worden wäre. Im Gegenteil: Die 1970er und 1980er Jahre kennzeichneten sich durch eine partielle Radikalisierung innerhalb der schwedischen Arbeiterbewegung. Denn erstens bot das politische Ziel, den universalistischen Wohlfahrtsstaat zu erhalten und an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, genügend Raum für die Diskussion unterschiedlicher Ausgestaltungsvorstellungen und unterschiedlicher Wege zur Erlangung dieses Ziels. Und zweitens reichten noch verschiedene politische Projekte aus den 1970er Jahren – vor allem die von dem Gewerkschaftsökonom Rudolf Meidner entwickelten Arbeitnehmerfonds – in die 1980er hinüber und führten zu Spannungen zwischen pragmatischen Modernisierern und Gewerkschaftslinken innerhalb der SAP wie auch zwischen der SAP und den Gewerkschaften (als ehemaliges ideologisches Kraftzentrum der Arbeiterbewegung), die ‚Krieg der Rosen’ genannt wurden726. Doch auch die Modernisierer, vor allem jene Gruppe junger Ökonomen, die das Krisenprogramm 1981 schrieben und die Reformpolitik der 1990er Jahre entscheidend prägen sollten, führten einen ausschließlich kognitiven, fast technizistischen und ‚visionslosen’ Policy-Diskurs und keinen normativen Programmdiskurs. Der diskursiv-programmatische Rahmen ‚der Bewahrung’, den die Sozialdemokraten in den späten 1970er und 1980er Jahren ausbildeten, stellte für den öffentlichen Reformdiskurs der 1990er Jahre weit weniger eine – wie man auf den ersten Blick annehmen könnte – 724 725 726
O. Palme, 1982: 24. Zitiert und übersetzt in J. Hinnfors 2006: 78 J. Andersson 2006: 440 P. Whyman 2003: 93f.; D. Arter 1994; H. Kitschelt 1994: 171
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diskursive Restriktion dar, als vielmehr eine flexible kommunikative Ressource, um beispielsweise von der traditionellen Vollbeschäftigungsmaxime kurzfristig abzurücken oder Leistungskürzungen im sozialen Sicherungssystem zu legitimieren727. Nicht die diskursive Betonung des Bruchs, sondern die der Kontinuität eröffneten den Akteuren Spielräume für pragmatische Policy-Veränderungen (auch wenn sie in ihrer Auswirkung mitunter eher einen fundamentalen Bruch mit dem keynesianistischen ‚schwedischen Modell’ der Nachkriegszeit darstellten). Während Vivien A. Schmidt Ende der 1990er Jahre noch betonte, dass den schwedischen Reformen ein liberaler Reformdiskurs fehle, der die notwendigen Reformen des Wohlfahrtssystems vorantreibe und legitimiere728, scheint es vielmehr umgekehrt gewesen zu sein, dass erst durch die Kontinuität des sozialdemokratischen Grundwertediskurs sich die kommunikativen Ressourcen generierten, durch die der tiefgreifende Wandel diskursiv legitimiert werden konnte. Kurzum: Der programmatische Reformdiskurs der schwedischen Sozialdemokratie pendelte sich zwischen den Parteiflügeln in den 1980er und 1990er Jahren auf das rhetorische wie auch politisch-pragmatische Leitmotiv der ‚Bewahrung des Erreichten’ ein. Ein revisionistischer Diskurs, der bestimmte sozialdemokratische Werte und Ideen grundsätzlich überprüfte, neu interpretierte oder gar verwarf wie in Großbritannien, fand hingegen nicht statt. Dies zeigte sich auch in der personalen Kontinuität: Ingvar Carlsson gehörte bereits in den 1970er Jahren der Regierung an, wurde 1986 – nach dem Mord an Olof Palme – Parteivorsitzender und Ministerpräsident, führte die Partei von 1991 bis 1994 auch in den Oppositionsjahren und wurde 1994 wieder zum Ministerpräsidenten gewählt, der die sozial- und wirtschaftspolitischen Krisenpakete durchsetzte.
5.2.1 SAPs interaktiver Diskurs Die Handlungsfreiheit des koordinierten Diskurses Das politische System Schwedens stattet die Regierung zwar mit weitreichenden Handlungskompetenzen aus, so dass ein kommunikativer Diskurs zwischen Regierung und Volk als kommunikative Machtressource – vor allem in Blockadesituationen – prinzipiell möglich ist, doch haben sich in der politischen Kultur und Geschichte des Landes komplexe korporative Entscheidungsprozesse ausgebildet, die die Akteure zu einem elaborierten koordinierten Diskurs wenn schon nicht zwingen, so doch drängen729. Während in manchen Polities (wie beispielsweise in Deutschland) der institutionalisierte Zwang zum koordinierten Diskurs mit unterschiedlichen Policy-Akteuren leicht zu Blockaden und diskursiven Patt-Situationen führen kann, die eine inhaltlich klare und vorwärtsdrängende diskursive Legitimation von Policy-Reformen verhindern, eröffnet die schwedische Tradition intensiver Konsultationsprozesse mit Sozialpartnern, politischen Gegnern und der Öffentlichkeit730 Handlungsspielräume sowohl für einen inhaltlich-diskursiven Pragmatismus als auch für sachpolitisch angemessene Reaktionen.
727
O. Wintermann 2005 V.A. Schmidt 2000b: 266 729 V.A. Schmidt 2002 730 Vgl. Kap. 4.1.3: ‚Input-Filter: Das politische System. Schweden’. 728
5.2 Schweden
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Betrachtet man den schwedischen Reformdiskurs der 1990er Jahre, dann müssen ferner zwei, miteinander verzahnte Besonderheiten hervorgehoben werden, die den Diskursverlauf und seine inhaltlich ‚flexible Konsistenz’ entscheidend prägen. Erstens die Schockwirkung der heftigen und plötzlichen Wirtschaftskrise zu Beginn der 1990er Jahre. Die Arbeitslosenquote sprang von 1,6% 1989 auf ein Nachkriegshoch von 8% 1993 und brachte dem Land die schwerste Beschäftigungskrise seit den 1930er Jahren. Das Bruttosozialprodukt schrumpfte bei Inflationsraten, die doppelt so hoch als der europäische Durchschnitt lagen. Spiegelbildlich zum Schrumpfen der gesamtwirtschaftlichen Produktionsleistung und zur Verfünffachung der Arbeitslosigkeit verwandelte sich der öffentliche Finanzierungsüberschuss von 4,2% 1989 in ein Rekorddefizit von 12,3% des Bruttoinlandsprodukts 1993731. Auch wenn die Wirtschaftskrise durch eine weltweite Rezession, eine Bankenkrise und einige wirtschafts- und finanzpolitische politische Fehlentscheidungen Ende der 1980er Jahre verschärft wurde, so wurde dennoch – auch zunehmend in der Öffentlichkeit – deutlich, dass ihre Ursachen vor allem auch struktureller Natur waren732. Die mentale Lage der Nation war beeinflusst von einer Krisendramatik, die eine gewisse Offenheit für die Notwendigkeit von Reformen erzeugte. Angesichts des Krisenfalls kann die schnelle und effektive Entscheidungsfindung nur als ‚Top-down’-Prozess vollzogen werden, welcher erst nachträglich von innerparteilicher und verbandlicher Willenbildung legitimiert wird. Auch sind akute Krisenprogramme weniger von parteilicher Programmatik oder ‚historischen Wahrheiten’ geprägt. Die Krisenpakete sowohl der sozialdemokratischen als auch der bürgerlichen Vier-Parteien-Regierung zwischen 1991 und 1994 – an deren Ausarbeitung auch die SAP und der Gewerkschaftsdachverband LO mitwirkten – kennzeichnen sich durch sozial- und wirtschaftspolitischen Pragmatismus und dem gleichzeitigen Fehlen einer ‚Blame-Avoidance’ (was die Sozialdemokraten 1991 und die bürgerlichen Parteien 1994 mit dem Verlust ihrer Regierungsmehrheit, die Sozialdemokraten 1998 mit massiven Stimmenverlusten bezahlten)733. Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischer Krisenreaktionen wurde Anfang der 1990er Jahre ein distinktiver parteipolitischer und gar visionärer Diskurs der schwedischen Sozialdemokraten in vielen Policy-Bereichen ausgesetzt und kehrte erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre – nach Jahren der eingeschränkten Perspektive auf finanzpolitische Haushaltsanierung – langsam in seine traditionellen (nunmehr allerdings modifizierten) Bahnen zurück und wagte diskursiv wieder zukunftsorientierte Überlegungen hinsichtlich eines schwedischen Modells734. Zweitens die Rolle von Minderheitsregierungen735: Sie eröffnen den handelnden Akteuren einerseits eine sachliche und diskursive Flexibilität, andererseits bieten sie den Oppositionsparteien starken Einfluss auf die Regierung und erzeugen somit eine größere Legitimität der politischen Entscheidungen. Im Kontext konsensueller und kooperativer Politikstile – wie man sie in Schweden vorfindet – zwingt die Notwendigkeit, sich ständig neue Mehrheiten zur Verabschiedung von Reformprogrammen zu suchen, die Regierung zu einem kontinuierlichen koordinierten Diskurs mit den politischen Gegnern, bietet zugleich über wechselnde Mehrheiten politische und letztlich auch diskursive Handlungsfreiheiten. 731
E. Gurgsdies 2006: 77f. M. Benner/T. Bundgaard Vad 2000: 425 733 O. Wintermann 2005: 278ff. 734 J. Andersson 2006: 441 735 Vgl. Kap. 4.1.3: ‚Input-Filter: Das politische System. Schweden’ 732
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
So suchten sich beispielsweise die Sozialdemokraten nach 1994 für die Belastung der Einnahmeseite die Linkspartei als Partner und kurz danach bei der politisch heiklen Kürzung von Leistungen die liberale Volkspartei.
Der kommunikative Reformdiskus In Schweden spielt der koordinierte Reformdiskurs für den gesetzgeberischen sowie inhaltlichen Reformpragmatismus der 1990er Jahre also eine zentrale Rolle. Der koordinierte Diskurs zwischen Policy-Akteuren bringt es mit sich, dass er ein hohes sachliches und problembezogenes Argumentationsniveau aufweist, dass er weniger konfrontativ und polemisch ist und dass er schließlich Policy-Entscheidungen auf eine breite Legitimationsbasis stellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Reformdiskurs gänzlich depolitisiert war. Im sozialdemokratischen Reformdiskurs waren sowohl Parteibasis als auch Gewerkschaften diskursive Akteure, die die sozialdemokratischen Haupt-Diskursprotagonisten zu kommunikativen Diskursen zwangen: mit der Parteibasis (um Beschlüsse abzusegnen), mit den Gewerkschaften (um sich ihre Unterstützung zu sichern) oder schließlich mit den Wählern (um sich in den Verhandlungen kommunikative Machtressourcen zu sichern). Als ein Beispiel für das notwendige und komplementäre Spannungsverhältnis zwischen den beiden Diskursdimensionen kann man die Rentenreform anführen, die weithin als großes und gelungenes Reformprojekt betrachtet wird736. Wie in anderen Ländern auch drohte dem schwedischen Rentensystem mit Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter und niedrigen Geburtsquoten eine Unterfinanzierung. In den Jahren 1991-1994 erarbeiteten die bürgerliche Regierung und die oppositionellen Sozialdemokraten eine grundlegende Reform der Rentensysteme. Im Jahr 1994 beschloss der schwedische Reichstag die Grundlinien der Reform737. Der Regierungswechsel wenige Monate später brachte zwar die Sozialdemokraten – nicht zuletzt über die Wahlbotschaft, wohlfahrtsstaatliche Traditionen zu bewahren – wieder an die Macht, hatte aber für die weitere Arbeit der Experten wenig Bedeutung. Die sozialdemokratische Führung hielt an der blockübergreifenden gemeinsamen Arbeit fest und war gewillt, den erarbeiteten Mehr-Parteien-Kompromiss durchzusetzen. Das Problem eines derartigen Eliten-Kompromisses ist, dass die kommunikative Diskursdimension im Vergleich zu der kognitiven dünn ist. In einem komplexen Politiksystem, im dem Konsensorientierung, Absprachen, Gremien und überparteiliche Verhandlungen den Diskurs bestimmen, besteht immer das Risiko, dass über zu viel technokratische Gemeinsamkeit der Policy-Akteure in Reformfragen ein kommunikativer Diskurs mit der Bevölkerung zu kurz kommt, diese nicht von der Reformnotwendigkeit, -richtung und kohärenz überzeugt ist und sich schlimmstenfalls politikverdrossen abwendet. In der modernen Mediengesellschaft (in der von Parteitagen und -veranstaltungen umfassend berichtet wird) ist ein kommunikativer Diskurs der Parteiführung mit der eigenen Parteibasis immer auch ein kommunikativer Diskurs mit der Wahlbevölkerung; in einem tiefgreifenden Transformationsprozess formulieren sich in einer Volkspartei stellvertretend eben jene Bedenken, die sich auch in der Wahlbevölkerung finden und die der Parteiführung im innerparteilichen Kommunikationsprozess unmittelbarere Reaktionen abverlangen. 736 737
Zum Beispiel J. Palme 2003 Für die Inhalte der Reform vgl. u. a. C. Henkes 2006: 303ff; E. Gurgsdies 2006: 77f.
5.2 Schweden
245
Wenn ein Reformprojekt die Parteiprogrammatik grundlegend berührt und wenn die Zustimmung der Partei als eigenständiger Akteur vonnöten ist, dann ist es diskursstrategisch unklug, die Parteibasis nicht über einen umfassenden kommunikativen Diskurs einzubinden. Entsprechend fühlte sich die sozialdemokratische Parteibasis von der Parteiführung übergangen und vom politischen Gestaltungsprozess ausgeschlossen. Die ATP-Rente (allmän tilläggspension – eine einkommensbezogene Zusatzrente) war seit 1959 „eines der zentralen identitätsstiftenden Elemente der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung. ATP stand für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität – aber auch für den Sieg über das bürgerliche Lager“738, so dass ein kaum kommunizierter Rentensystemwechsel fast zwangsläufig auf innerparteilichen Widerstand treffen musste. Die Parteiführung war von der harschen Kritik der Basis an der Rentenreform und an dem undemokratischen Verfahren, mit dem diese durchgesetzt werden sollte, überrascht. Der selbst geschaffene prozedurale Zeitdruck wie auch der (wahl)strategische Zwang, die Zusammenarbeit mit den anderen Parteien nicht aufkündigen zu können, wurden in der Partei als undemokratische Druckmittel wahrgenommen. Letztlich führte das ursprüngliche Fehlen eines kommunikativen Diskurses zu einer zeitlichen Verzögerung der Reform und zwang die Parteiführung am Ende doch zu einem extensiven kommunikativen Diskurs mit der eigenen Parteibasis. Zwar kündigte die sozialdemokratische Regierung/ Parteiführung den Parteienkompromiss nicht auf und verabschiedete 1998 die Reformgesetze, machte aber 1997 der Parteibasis noch einige Zugeständnisse. Im Gegensatz zu der tendenziellen Stillegung der Labour Party und der Medialisierung und Präsidentialisierung des kommunikativen Reformdiskurses unter Tony Blair blieb die SAP-Basis neben ihrer Führung ein eigenständiger Diskurs-Akteur. Auch wenn die Parteien in Schweden – so auch die sozialdemokratische – in den 1990er Jahren stark an Mitgliedern verloren739, die Meinungsbildung der schwedischen Bevölkerung sich zunehmend über die Medien als wichtigste Informationsquelle vollzog, die Parteiidentifikation ab- und die Volatilität zunahm740 und schließlich seit den 1980er Jahren auch die SAP eine massive Verschiebung der internen Machtbalance zugunsten professioneller Parteieliten erfuhr741, wurde die sozialdemokratische Partei trotz alledem weit weniger als in anderen entwickelten Demokratien zu einer professionellen Medienpartei umgebaut (und somit blieb ihr latentes Veto-Potential). In der modernen lebensweltlich individualisierten und medialisierten Gesellschaft musste auch die sozialdemokratische Regierung/ Parteiführung versuchen, diskursive Schwerpunkte professionell zu setzen und Inhalten einen kognitiv wie normativ passenden ‚spin’ zu geben. Doch bei einer Partei, die auf dem historischen Erbe einer Volksbewegungspartei basiert742, kann eine zu weitgehende Kommunikationsprofessionalisierung zu Glaubwürdigkeitsverlusten führen und folglich in eine diskursive Defensive zwingen. Trotz der Tatsache, dass auch in Schweden die Professionalisierung der politischen Kommunikation voranschritt, blieb die Ansicht weitverbreitet, dass die politische Informationstätigkeit, allein durch diejenigen zu erfolgen habe, die verantwortlich und inhaltlich kompetent sind. Im 1994er Wahlkampf löste die Nachricht, dass die SAP Kom738
R.G. Fröhlich/ K. Scheel 2006: 438 Die SAP hat von 1990 (in dem Jahr in dem die Doppelmitgliedschaft in SAP und Gewerkschaften abgeschafft wurde) bis 2003 ca. 70.000 Mitglieder verloren. Jedoch mit 2,38% der Wahlberechtigten immer noch eine sehr hohe Mitgliederdichte im Vergleich zu SPD 1,2% und Labour 1,37%. Vgl. K. Grabow, 2005: Tab. 8.1., 165 740 K. von Beyme 2000 741 J. Callaghan 2000: 186 742 J. Schmid 2002: 208 739
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
munikationsberater aus den USA beschäftigt habe, eine aufgeregte Medienberichterstattung und demokratieethisch imprägnierte öffentliche Debatten aus, die schließlich dazu führten, dass Göran Persson zu Beginn des Wahlkampfes 1998 versprach, dass es keine weiteren ‚amerikanischen Berater’ mehr geben werde743. Zwar näherten sich schwedische Parteien in ihren Professionalisierungsbestrebungen den Parteien anderer liberaler Demokratien zunehmend an744, dieser Prozess wurde aber mehr als in anderen Ländern – nicht zuletzt aufgrund demokratienormativer Vorbehalte – sehr skeptisch betrachtet. Den politischen Reformdiskurs folglich auf einige führende Diskursakteure zu beschränken – so wichtig dies für die Kohärenz des Diskurses gewesen wäre – konnte in Schweden nur bis zu einem bestimmten Grenzwert vollzogen werden, dessen Überschreitung sich diskursstrategisch in sein Gegenteil verkehrt hätte. Als Reaktion auf die Herausforderungen rückläufiger Wahlbeteiligung, schwindender Bereitschaft zu politischer Partizipation und zunehmendem politischen Zynismus in der Bevölkerung wurden in der SAP Konzepte zur Stärkung der ‚Volkspartei’, der Mitgliedschaft und demokratischen Partizipation diskutiert745. Dennoch: ein kommunikativer Reformdiskurs zeichnet sich – vor allem in der heutigen entideologisierten Publikumsgesellschaft – durch eine klare inhaltliche Stoßrichtung, Zielstrebigkeit und Führung aus; die inhaltliche Ausrichtung und argumentative Klarheit des Diskurses würde sonst zwischen Diskursakteuren und Meinungen zerrieben. Der kommunikative Diskurs mit den Wählern, der Parteibasis und zuweilen mit anderen PolicyAkteuren wird also weniger diskutiert, als vielmehr ‚geführt’. Gerade weil über die Reformen eingespielte Verfahren verändert, erstarrte Strukturen und Erwartungshaltungen aufgebrochen werden und dadurch politische Gewissheiten an (diskursiver) Prägekraft verlieren, muss der kommunikative Diskurs durch den/die Haupt-Diskursprotagonisten in einer spezifischen kommunikativen Mischung aus Sach- und Problemlösungskompetenz als ‚Chefsache’ geführt werden. Der kommunikative Reformdiskurs durch den HauptdiskursProtagonisten vollzieht sich gleichermaßen auf der medien-, partei- und verhandlungsdemokratischen Handlungsebene. Die disparaten Sub-Diskursstränge müssen sich – mitunter medial inszeniert – bei den politischen Entscheidern zusammenfügen. So wichtig der kognitive Diskurs einerseits und die diskursive Eigenständigkeit der Partei andererseits für den schwedischen Reformdiskurs insgesamt auch gewesen sein mögen, sie wurden durch einen starken kommunikativen Diskurs des Regierungschefs und Parteivorsitzenden Göran Persson gesteuert, kanalisiert und vorangetrieben. Persson agierte als ‚väterlich’-autoritärer, zuweilen ungeduldiger Kommunikator: Ein koordinierter Diskurs mit verschiedenen Policy-Akteuren wenn möglich, ein kommunikativer Diskurs mit der Bevölkerung – um Blockaden aufzubrechen – wenn nötig. Dabei spielte ein gewisses Maß an Populismus als Regierungsstil eine nicht zu unterschätzende Rolle. Persson rühmte sich gerne mit seinem populistischen Führungsstil – auch angesichts eines absehbar schlechten Wahlergebnisses – und betonte, dass man in der Reformpolitik ‚rüde, ehrlich und schnell’ sein müsse746. Dieser, auch bewusst telegenen Selbstinzenierung als Führungsperson entsprachen seine Spitznamen in der schwedischen Öffentlichkeit: ‚Machiavelli aus Katrineholm’, aber vor allem ‚Han som bestämmer’ (er, der bestimmt). 743 743
R.G. Fröhlich/ K. Scheel 2006: 442 K. Asp/ P. Esaiasson 1996 745 L. Stjernkvist 2001 746 Der Spiegel 2000 744
5.2 Schweden
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Göran Perssons autoritäre Diskursführung und seine Führungspragmatik des politischen wie medialen Augenblicks darf jedoch nicht mit Ideologiefreiheit verwechselt werden (wie dies beispielsweise häufig Gerhard Schröder vorgeworfen wurde); die Fähigkeit, die Partei und die Bevölkerung diskursiv durch die Reformen zu führen, resultierten auch daher, dass er sich – trotz schmerzhafter Policy-Veränderungen – ideologisch nicht von der sozialdemokratischen Programmatik entfremdete bzw. immer auch eine ‚normativmoralische’ Dimension des SAP-Selbstverständnisses zu bedienen verstand.
5.2.2 Der ideenbegründete Diskurs: Bewahrung im Angesicht der Zukunft „Derjenige, der Schulden hat, ist nicht frei“ Der schwedische öffentliche Reformdiskurs der 1990er Jahre war in einen nationalen Diskurskontext ausgeprägt koordinierter und konsensorientierter Diskurse einerseits und einem akuten politischen Handlungsdruck andererseits eingebettet. Beide Bedingungen des Diskurskontextes führten dazu, dass die kognitive Dimension des Diskurses sehr ausgeprägt war. Die kognitiven Argumente des sozialdemokratischen Diskurses betonten die Notwendigkeit, die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren und den Staatshaushalt zu konsolidieren. Vor allem in der ersten Hälfte der 1990er Jahre war der Diskurs durch die Themen Staatsverschuldung und Haushaltskonsolidierung wesentlich bestimmt. Diese Themen gerieten besonders im sozialdemokratischen Diskurs in ein Spannungsverhältnis zu einem weiteren Hauptthema dieser Jahre: die Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit. Während die SAP ihre Politik immer schon auf das Vollbeschäftigungsgebot hin ausrichtete und dabei in ihrer Geschichte bis in die 1980er Jahre hinein auf keynesianistische Instrumente wie die Abwertungen der Schwedischen Krone oder den Ausbau des öffentlichen Sektors zurückgriff, musste sie nun mögliche, zumindest kurzfristige ‚Trade-offs’ zwischen den Politikzielen der Haushaltskonsolidierung einerseits und der Reduktion der Arbeitslosigkeit andererseits kommunizieren. Obgleich die SAP in ihrem Wahlmanifest von 1994, im Wahlkampf und über die ganze erste Regierungsperiode nach der Wiederwahl die Gleichwertigkeit der Politikziele betonte747, wurde doch vor allem der kognitive Diskurs der Notwendigkeit der Reduzierung der öffentlichen Ausgaben dominant. „Derjenige, der Schulden hat, ist nicht frei“ war eine Formulierung, die Göran Persson – erst als Finanzminister und ab 1996 als Ministerpräsident – unablässig wiederholte748. Der Haupt-Reformdiskurs einer Bewahrung des Erreichten wurde durch diesen kognitiven Konsolidierungsdiskurs durchaus gestützt, denn die notwendige Reduktion der öffentlichen Ausgaben wurde mit dem Erhalt der Leistungsfähigkeit des schwedischen Modells begründet. Die Stålbadspolitiken – ein Mix aus Ausgabenkürzungen und Einnahmeerhöhungen – zur Sanierung des Staatshaushalts wurde als Voraussetzung sozialdemokratischer Politikgestaltung und als eine pragmatische, zeitlich befristete (was bei einigen Maßnahmen sogar der Wahrheit entsprach), aber nicht als ideologisch motivierte Notwendigkeit kommuniziert: „Auf sieben magere Jahre, folgen
747
„The Party aimed to cut back unemployment, rescue the welfare state, boost investments for the future and restabilise public finances“; SAP 1994 Mats Benner: Antwort in e-Mail-Befragung (10.10 2006)
748
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sieben fette“749. Mehr noch: Der SAP-Reformdiskurs – verdichtet vor allem in der Person Göran Persson – konzeptualisierte die Konsolidierungspolitik als originär sozialdemokratisch. Umverteilung, Vollbeschäftigung und ein universeller Wohlfahrtsstaat würden von jeher auf einem ausgeglichenen Haushalt basieren und die schwedische Maxime sei immer ‚First growth than redistribution’ gewesen750. In dem nach-keynesianistischen Diskurs verschob sich zwar auch die Kommunikation sozialdemokratische Politikziele markant: weg von der Betonung des Jobsaufbaus im öffentlichen Sektor hin zu einer des Unternehmertums751. Auch die, durch die bürgerlichen Vorgängerregierung implementierte, Öffnung des öffentlichen Sektors für private Anbieter sowie wachsende Einkommensunterschiede in einem zunehmend deregulierenden Arbeitsmarkt wurden stillschweigend akzeptiert. Doch insgesamt blieb der, dem kognitiven Konsolidierungsdiskurs vorgelagerte sozialdemokratische Werte- und Gerechtigkeitsdiskurs erstaunlich konstant. Die Konsolidierungspolitik wurde diskursiv allein über die Verteidigung des schwedischen Modells legitimiert; das Modell selbst – obwohl in jenen Krisenjahren auch ideologisch von z. B. den Arbeitgeberverbänden, bürgerlichen Parteien und manchen Medien als ‚Auslaufmodell’ unter Druck gesetzt – wurde im sozialdemokratischen Reformdiskurs zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Während aus polit-ökonomischer Sicht die Frage zentral ist, inwieweit Schweden zu Beginn der 2000er Jahre – nach zum Teil tiefgreifenden Reformen – noch dem entspricht, was das schwedische Modell in den 1970er Jahren spezifisch kennzeichnete und von anderen Ländern unterschied, ist aus diskursanalytischer Sicht entscheidend, dass der Reformdiskurs als Kontinuitätsdiskurs geführt wurde und dass selbst PolitikVeränderungen dritter Ordnung als Notwendigkeit zur Bewahrung des Erreichten diskursiv legitimiert wurden. Zum Ende der 1990er Jahre schließlich rühmten sich sozialdemokratische Politiker in der Öffentlichkeit zunehmend damit, die institutionellen Formen des Nachkriegsmodells erhalten zu haben.
Der normative Diskurs: Anpassungsreformen als Bewahrung Der kognitive Reformdiskurs der schwedischen Sozialdemokraten artikulierte sich als kurzfristiges und pragmatisches Krisenmanagement, in dem die Veränderung der Politikinstrumente vor allem darüber legitimiert wurden, dass sie den schwedischen Wohlfahrtsstaat in seiner Substanz erhielten. Dennoch brauchte der Reformdiskurs eine normative Dimension, durch die das, was vor dem Hintergrund eines allgegenwärtigen ökonomischen und soziokulturellen Wandels bewahrt werden sollte, als diskursiv-normativer Bezugspunkt verortet werden konnte. Denn wenn Policy-Anpassungen kognitiv damit argumentiert werden, dass sie etwas erhalten wollen, dann muss der normative Diskurs das zu Erhaltende begründen, da dem Reformdiskurs sonst eine klare argumentative Handlungs- und Zielperspektive fehlt. Während New Labours diskursive Zielperspektive in einer ‚heroischen’ Zukunft lag, führte die schwedische SAP ihren Reformdiskurs eher über eine normative Verankerung mit der Vergangenheit. Beide Diskurse gründen somit auf unterschiedlichen Konzeptionen von Kontinuität und Wandel. Neue politische und ökonomische Modernisierungsherausfor749 750 751
Mats Benner: Antwort in e-Mail-Befragung (10.10 2006) J. Potusson 1992: 331 M. Benner 1997
5.2 Schweden
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derungen zwangen zwar in beiden Ländern objektiv zu Reformen, doch welche diskursive Position gegenüber ‚der Modernisierung’ akzentuiert wurde – eine euphorische oder kritische –, hing von der normativen Diskursdimension ab. In dem einen Fall wurde der diskursiv kommunizierte Idealzustand erst durch Modernisierung erreicht, in dem anderen Fall wurde dieser trotz Modernisierung verteidigt. Während New Labour einen Diskurs ‚Modernisierung durch Erneuerung’ führte, betonte der SAP-Reformdiskurs die ‚Modernisierung durch Bewahrung’752. Alle Debatten über Reformprogramme begannen mit der Versicherung der Akteure, das historisch Erreichte zu bewahren (‚slå vakt om’). Die Anforderungen der Globalisierung und Wissensökonomie zwangen zwar zu tiefgreifenden Reformen und wohlfahrtsstaatlichen Umstrukturierungen, doch alle Modernisierungskonzepte waren rhetorisch mit der Vergangenheit und – ab Mitte der 1990er Jahre wieder, nachdem sie zur Zeit der akuten Krisenpakte diskursiv in den Hintergrund gedrängt wurden – mit der Idee des ‚Volksheims’ verbunden. Im schwedischen Reformdiskurs wurde Modernisierung also nicht als Bruch mit bestehenden Werten und Strukturen konzeptualisiert, sondern als deren Sicherung und Anpassung beschrieben.
‚Volksheim’: Das Schwedische in den Stürmen der Globalisierung Das Volksheim ist gleichermaßen ein die schwedische Gesellschaft identifizierender Begriff wie auch eine politische Bezeichnung für den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat. Der Begriff ‚Volksheim’ verbindet Vorstellungen von der gerechten Gesellschaft mit dem Aufstieg Schwedens zu einer führenden Industrienation im 20. Jahrhundert. In der Betrachtung des schwedischen Reformdiskurses ist ferner wichtig, dass der Begriff ‚Volksheim’ ein zentrales Element der schwedischen Identität und des Selbstverständnisses ist. Die schwedische Politik und Kultur definiert sich häufig in expliziter und scharfer Abgrenzung zu der konservativen, kompetetiven und individualistischen angelsächsischen Kultur753. Der sozialdemokratische Reformdiskurs aktivierte somit normativ über den begrifflichen Verweis auf das ‚Volksheim’ letztlich ‚das Schwedische’, welches als von jeher solidarisch und gemeinwohlorientiert konzeptualisiert war. Ebenso wie New Labour ihre marktorientierten Reformen über ur-britische, liberale Eigenschaften normativ legitimierte, begründeten die schwedischen Sozialdemokraten ihren ‚Diskurs der Bewahrung’ mit spezifischen Normen und Werten des ‚Schwedischen’. Im schwedischen Reformdiskurs ging es nicht – wie in Großbritannien – um einen Bruch mit der jüngeren Vergangenheit, um den Sprung in eine positive Zukunft zu wagen, sondern um die Bewahrung einer historischen Konstruktion vor einer ungewissen Zukunft. Das ‚schwedische Modell’ war keine Last, kein Relikt, sondern eine historische Errungenschaft, die vor der Globalisierung, aber auch vor neoliberalen Apologeten überall in Europa geschützt werden musste. Selbst die Veränderungen im Zuge der ‚New Economy’, der Dienstleistungsökonomie und lebensweltlichen Individualisierung waren im schwedischen Reformdiskurs in die Werte des historischen Modells eingebettet. Modernisierung war im schwedischen Diskurs kein Wert an sich, sondern allein ein Instrument der Anpassung, um den ‚Wohlfahrtsstaat’ zu bewahren. Und so schwang auch stolzer Trotz mit, als Göran 752 753
J. Andersson 2006 S. Driver 2002
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Persson den schwedischen Wohlfahrtsstaat 1997 auf der ‚Zukunftskonferenz’ der SAP Sundsvall mit einer Hummel verglich: „With its heavy body and its frail wings ist shouldn’t fly. Yet it does... We have high taxes und a big public sektor - and yet Sweden flies. And we fly in a way that many look upon with envy“.754
Diskurskontextuelle Gründe für SAPs Bewahrungsnarrativ War die sozialdemokratische Volksheim-Metapher in seiner ursprünglichen Konnotation in den 1930er Jahren eindeutig und klar auf eine Zukunft und eine neue gesellschaftliche Ordnung bezogen, indem sie eine politische Vision mit den seinerzeitigen sozialen Bedingungen und demokratischen Widersprüchen kontrastierte755, so wandelte sich diese Metapher im sozialdemokratischen Diskurs der 1990er und 2000er Jahre zu einem normativen Bezugspunkt, der wesentlich in der Vergangenheit lag. Es war zwar unbestreitbar, dass Schweden sowohl ökonomisch als auch soziokulturell eines der modernsten Länder der Welt und demzufolge zwingend aufgeschlossen gegenüber Modernisierungsprozessen war, dennoch wurde ‚Zukunft’ im schwedischen Diskurs weit kritischer und weniger simplizistisch kommuniziert als beispielsweise im britischen Reformdiskurs. Die diskursive Betonung der ‚Bewahrung des Bestehenden’ im sozialdemokratischen Diskurs ergab sich wesentlich aus den Bedingungen des nationalen Diskurskontextes. Erstens: Für die SAP war jüngere Geschichte und hegemonialer Volksheim-Diskurs eine kommunikative Machtressource im Parteienwettbewerb. Das Volksheim oder das ‚schwedische Modell’ wurde einerseits mit sozialdemokratischer Politik identifiziert. Das schwedische Selbstverständnis und Selbstbewusstsein, die vermeintliche Essenz des ‚Schwedischen’ war nicht von der sozialdemokratischen Geschichte im 20. Jahrhundert zu trennen. Aus der positiven Identifikation von Wohlfahrtsstaat und Sozialdemokratie – eine Art Wohlfahrtsnationalismus als mentaler Baustein des Selbstverständnisses756 – ergab sich andererseits, dass es allein die Sozialdemokraten sind, die das schwedische Modell zu bewahren imstande seien. Die politisch kommunizierte Behauptung der SAP, alleiniger Garant historischer Kontinuität zu sein, war folglich ein zentrales Element des strategischen Parteiendiskurses auf dem Wählermarkt. Denn die Etablierung eines Wertekonsenses um den Universalismus herum schützte den Wohlfahrtsstaat einerseits vor ideologischen Attacken, verstärkte aber andererseits auch das Selbstbildnis der SAP als ein einziger Manager der Errungenschaften der Vergangenheit und war die zentrale kommunikative Machtressource der sozialdemokratischen Hegemonie. Zweitens: Die schwedische Nachkriegsgeschichte wurde von den allermeisten Schweden als Erfolgsgeschichte wahrgenommen, die zum einen zu individuellem und kollektivem Aufstieg geführt, und zum anderen aus Schweden – so zumindest die Selbstwahrnehmung – die demokratischste und sozial gerechteste Nation der Welt gemacht habe. Diese nationale Geschichte war keine, die es zu überwinden oder hinter sich zu lassen galt, sondern zu bewahren und zu schützen. Das ‚Folkhem’ war zudem ein sozialdemokratisches Projekt 754
Eröffnungsrede auf der SAP-Parteikonferenz. Vgl. G. Persson 2000. Zitiert und übersetzt in J. Andersson, 2006: 439 755 Zur politischen Metaphorik vgl. F. Rigotti 1994 756 L. Trägårdh 2002
5.2 Schweden
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und die ‚Gegenwart’ folglich das Resultat jahrzehntelanger sozialdemokratischer Politik, so dass ein diskursiver Bruch mit einer jüngeren schwedischen Geschichte durch die Sozialdemokraten eine retrospektive Negation ihrer eigenen Politik bedeutet und sie für die Zukunft überflüssig oder ersetzbar gemacht hätte. Ein Diskurs einer ‚neuen Sozialdemokratie’ war für die SAP nicht möglich. Schweden betrachtete sich selbst in den 1990er Jahren als vielleicht letzte Bastion gegen Neoliberalismus, Konservatismus, Hierarchie und Ungleichheit, welche sich allesamt gefährlich in Europa ausbreiteten757. Der Beitritt zur Europäischen Union 1995 war – so Nina Witoszek und Lars Trägårdh – für weite Teile der Bevölkerung weniger das Ergebnis einer enthusiastischen Zustimmung zu einem innovativen politischen Projekt, sondern vielmehr die Kapitulation vor dem Unausweichlichen. Vor diesem Hintergrund wurde ‚Zukunft’ nicht als etwaige politische Befreiung von den politischen und sozialen Defiziten der Gegenwart wahrgenommen, sondern als Prozess eines unausweichlichen Abbaus des Erreichten und der negativen Anpassung an Europa758. Drittens: Der schwedische Reformdiskurs brauchte zudem keinen neuen (historischen) Nullpunkt, an dem ein versöhnender, die Gräben zuschüttender Neubeginn hätte starten sollen. Während New Labour als Reaktion auf Thatcherismus, eine tief gespaltene Gesellschaft, ideologische Polarisierungen und dichotome soziale Strukturen die Aussöhnung über den Neubeginn rhetorisch betonte, spielte im schwedischen Diskurs eine solche Betonung des Ausgleichs keine Rolle, da es in der konsensualen und egalitären politischen Kultur solche Polarisierungen, politischen Gräben, sozialen Widersprüche und gesellschaftlichen Trennungen schlicht nicht gab.
‚Zurück in die Zukunft’: Die Modernisierung des universalistischen Wohlfahrtsstaats Der normative Reformdiskurs der schwedischen SAP betonte die Kontinuität, den kognitiven Diskurs bestimmten nur ökonomische Argumente, die zu diesen bestehenden Normativitätsvorstellungen nicht in Widerspruch standen. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren, nachdem die akute Wirtschaftskrise überwunden und das schwedische Modell – trotz vieler Veränderungen – intakt geblieben war759, öffnete sich der sozialdemokratische Diskursraum erneut für die zukunftsgerichtete Fragestellung nach der inhaltlich-politischen Ausgestaltung des schwedischen Modells. Dass der universalistische Wohlfahrtsstaat erhalten werden musste, stand außer Frage, doch wie – unter den Bedingungen der globalisierten Wissensökonomie – wohlfahrtsstaatliche Universalität und Redistribution der Einkommen neu bestimmt und legitimiert werden konnte760, stellte die grundlegende Herausforderung für den sozialdemokratischen Diskurs dar. Auf so genannten Zukunfts-Konferenzen und in einer Vielzahl von Seminaren diskutierte die SAP die Belastbarkeit des schwedischen Modells und die Beziehung zwischen Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftswachstum. Zugleich waren die Möglichkeiten der SAP, über die Zukunft nachzudenken, durch die Vorgabe normativ bestimmt, diese Überlegungen zu den historischen Erfahrungen des ‚Volksheims’ in Beziehung zu setzen. Für die SAP ging es darum, in die Zukunft zu schauen, dabei aber gleichzeitig die Errungenschaf757
B. Stråth 2001 N. Witoszek/ L. Trägård 2002: 9 759 J. Lindvall/ B. Rothstein 2004 760 R. Ladrech 2000: 67 758
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ten der Vergangenheit zu erhalten. Jenny Andersson bezeichnet den programmatischen Diskurs der SAP jener Jahre als Versuch, einen Weg ‚zurück in die Zukunft’ zu finden761. Dieser Weg kennzeichnete sich entscheidend dadurch, dass der Wohlfahrtsstaat nicht als Hindernis für Modernisierung, sondern vielmehr als deren Voraussetzung definiert wurde. Somit blieb der sozialdemokratische Diskurs in seiner traditionellen Bahn, in welcher Sozialpolitik immer schon über ein produktivistisches Argument hergeleitet wurde. Schon seit den 1930er Jahren betonten Sozialdemokraten den produktiven Aspekt von Solidarität und Sicherheit und verwiesen auf die ökonomische Ineffizienz einer zu ungleichen Gesellschaft wie auch der immensen sozialen und ökonomischen Kosten von Unsicherheit und sozialen Risiken762. Trotz vielfältiger und tiefgreifender Veränderungen der Policy-Instrumente in den 1990er Jahren – also auf der Ebene der kognitiven Argumentation einer angemessenen und zielführenden Krisenpolitik –, bestand die Kontinuität des schwedischen Reformdiskurses vor allem in der normativ-diskursiven Begründung des universalistischen Wohlfahrtsstaats selbst, in der die Ideen von Produktivität und Effizienz immer mit den Normen der Solidarität, Gleichheit und sozialen Sicherheit konzeptionell verbunden sind. Auch das schwedische Modell legitimierte sich traditionell über das Konzept einer produktiven Sozialpolitik, allerdings wurden hier die Ursprünge sozialer Probleme in der strukturellen Logik kapitalistischer Marktwirtschaften verortet, so dass die moralische Handlungspflichtung beim Staat blieb763. Eine Unterscheidung zwischen produktiven Investitionen und ineffizienten Kosten, wie sie in New Labours ‘New Contract on Welfare’ vollzogen wurde, fand somit im schwedischen Diskurs nicht statt, da Sozialausgaben bzw. soziale Sicherheit per se als Investitionen betrachtet wurden. In seiner normativen Dimension brach der sozialdemokratische Diskurs der 1990er und 2000er Jahre nicht mit der ‚alten Sozialdemokratie’764, sondern legitimiert die Modernisierung mit traditionellen Ideen von Gerechtigkeit, Solidarität und Sicherheit.
Universalität oder Chancengerechtigkeit? Durch diese normative Konzeption produktiver Sozialpolitik begründete die SAP nicht nur die Verteidigung der sozialen Sicherheit, der sozialen Grundrechte und der Institutionen des universalistischen Wohlfahrtsstaats, sondern widerstand auch der Idee, dass Sozialpolitik ein ökonomischer Kostenfaktor sei und dass somit die Last sozialen Risikos und Sicherheit funktional stärker auf das selbstverantwortliche Individuum verlagert werden müsse. Während der New Labour-Diskurs soziale Investitionen an der Markfähigkeit der Individuen bemaß, betonte die Metapher ‚Folkhem’ im schwedischen Diskurs eher bedingungslose Werte wie Solidarität, soziale Rechte und Gerechtigkeit und weniger die Reziprozität einer vertraglichen Idee, in der Staat und Individuum ihre jeweiligen Rechte und Pflichten bestimmen. Der Wohlfahrtsstaat behindere nicht ökonomisches Wachstum, sondern sei im Gegenteil ein zentrales Element einer modernen Ökonomie, da er die soziale Sicherheit
761
J. Andersson 2006: 441 G. Esping-Andersen 1985 763 B. Stråth 2000 764 Vgl. C. Svensson 2001: 221 762
5.2 Schweden
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bereitstelle, die mutige Individuen erst erzeuge und die es Menschen ermögliche, sich auf ökonomische, technologische und soziale Veränderungen einzustellen. Als Gastredner auf der Wahlkampf-Abschlussveranstaltung der deutschen SPD 2002 in Dortmund betonte Göran Persson diese Position, indem er sagte: „Eine moderne Politik für Entwicklung muss Maßnahmen für Gerechtigkeit und Geborgenheit enthalten – denn nur sichere Menschen wagen etwas Neues, etwas Unbekanntes. Nur sichere Menschen gründen Unternehmen. Nur sichere Menschen bauen Häuser, wechseln die Branche und wollen Kinder haben”765.
Im SAP-Diskurs wurde Gerechtigkeit somit nicht auf ‚Chancengerechtigkeit’ – und folglich die Aufgabe des Wohlfahrtsstaats nicht auf ihre Herstellung – reduziert. Durch die betonte diskursive Kontinuität lag der Akzent des schwedischen Diskurses nicht auf der neu-sozialdemokratischen Idee der Markfähigkeit (‚Employability’) – und die dahinter liegende Vorstellung eines rationalen, nutzenmaximierenden Individuums –, sondern blieb auf den traditionellen sozialdemokratischen Werten wie Solidarität und Gleichheit (in denen die Chancengerechtigkeit immer schon eingeschlossen war). Dieser Ansatz wird besonders im Bildungsdiskurs deutlich. Schweden hatte mit seinem integrierten Bildungssystem, seinen – im internationalen Vergleich – hohen Ausgaben für Wissenschaft und Forschung und seiner expansiven Erwachsenenbildung ‚einen hohen Ausschöpfungsgrad seines Begabtenpotentials erreicht’766 und war in der globalen Wissensökonomie sehr konkurrenzfähig. Im sozialdemokratischen Reformdiskurs wurden Bildung, Forschung und Wissen jedoch weniger als ökonomische, sondern vielmehr als soziale Güter kommuniziert. Die moderne Wissensgesellschaft wurde in der Rhetorik der SAP als Bestandteil und Resultat einer hochgradig egalitären Gesellschaft artikuliert. Bildung war nicht primär eine treibende Kraft der ökonomischen Modernisierung, sondern ein Schutzmechanismus der Demokratie und der Prinzipien des ‚Volksheims’. So begründete Persson den Wert von Bildung über ihre Bedeutung für Demokratie und Solidarität: „Knowledge frees human beings and gives them new horizons. Knowledge gives human beings power und deepens democracy. The strength of reason leads away from superstition ... it leads to fact, truth, and empirical knowledge. When we see reality as it really is, we also see how society can be improved and developed. In this way, human knowledge encourages creativity and strength. Love and solidarity are developed. Solidarity and cooperation gain in scope. Through the development of knowledge, we understand how to explore infinite human potential“767.
Durch diese Betonung der sozialen Dimension von Bildung – als ein Gestaltungsprinzip von Solidarität und Kooperation – wurde Bildung weniger als eine Marktressource konkurrierender Individuen kommuniziert, sondern – so Jenny Andersson – eher als Medium einer bestimmten sozialen Ethik, die sich grundsätzlich von Marktmechanismen unterschied. Die rhetorischen Verweise auf die Tradition der Arbeiterbildungsbewegung im 19. Jahrhundert betonten den Aspekt der Selbstbildung, die nicht nur eine Rekrutierungs- und Mobilisierungsstrategie der Arbeiterbewegung war, sondern vor allem auch wichtige Demokratisie-
765 766 767
G. Persson 2002 E. Gurgsdies 2006: 122 G. Persson 1999. Zitiert und übersetzt in J. Andersson 2006: 447
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rungskräfte freisetzte768. Dass die SAP vor dem Hintergrund einer postmodernen, individualisierten Gesellschaft, einer globalen Wissensökonomie und nicht zuletzt der Explosion von Kommunikations- und Informationstechnologien auf diese Tradition verwies, gab dem schwedischen Bildungsdiskurs eine spezifisch andere Konnotation als dem britischen. Denn obwohl die schwedische Bildungspolitik zweifellos eine starke Arbeitsmarktorientierung hatte, wird sie diskursiv eher über das Ziel der individuellen Selbst-Befähigung und der Lebensqualität und weniger über Begriffe wie ‚Employability’ oder Wettbewerbsfähigkeit legitimiert. Persson sagte: „Wir müssen Bildung nicht ökonomisieren, im Gegenteil: Wissen als Ganzes wächst, wenn es geteilt wird“769. Hier wird deutlich, dass der normative Bezugspunkt des Bildungsdiskurses nicht ökonomisches Wachstum und Wettbewerb war, sondern die Demokratie. Während New Labours Reformdiskurs häufig die Metapher des ‚Wettlaufs’ verwendete, formulierte sich die Vorstellung des kollektiven Aspekts von Wissen als eine soziale Ressource bei den schwedischen Sozialdemokraten über die Metapher des ‚Fahrstuhls’770, der alle mitnimmt und jeden hochhebt.
Die Risiken der Wissensökonomie Der sozialdemokratische Bildungsdiskurs der 1990er und 2000er Jahre in Schweden stand sinnbildlich für eine spezifische diskursive Interpretation von Risiko, Chancen und individueller Sicherheit angesichts der Herausforderungen von Globalisierung und postindustrieller Wissensökonomie, die sich von der in Großbritannien und – wie im folgenden gezeigt wird – Deutschland markant unterschied. Der Unterschied bestand im wesentlichen darin, dass der schwedische Diskurs stärker auf Risiken und weniger auf Chancen der ökonomischen und kulturellen Veränderungen verwies. Der schwedische Blick in die Zukunft war ambivalent. Die Möglichkeiten und Chancen der Wissensgesellschaft wurden zwar durchaus benannt, aber – ganz im Gegensatz zu Tony Blairs simplistischen Zukunftsvision einer, alle sozialen Widersprüche auflösenden globalen IT-Revolution – wurde hier betont, dass die Globalisierung und der beschleunigte Wandel zu einer ‚Furcht vor der Zukunft’ führten, die die Menschen von der Realisierung ihrer Potentiale und der Ausschöpfung ihrer Kreativität und Ambitionen abhielten. Die Ökonomie hatte sich im globalen Maßstab zwar radikal verändert, doch die dem Kapitalismus inhärenten prinzipiellen Widersprüche hätten sich auch in der ‚New Economy’ deshalb nicht aufgelöst. Die wissensgestützte Dienstleistungsökonomie wurde im neuen Parteiprogramm der SAP von 2001 daher auch mit bemerkenswert alt-sozialdemokratischen Formulierungen und Begriffen beschrieben und analysiert: „But the new order of production changes the factor of labour as well as the factor of capital, and it effects the character of class patterns... The importance of skills and competence increases in production. The success of companies is becoming increasingly dependent on the skills of the employees... From a classical socialist point of view this means that workers can re-
768
J. Andersson 2006: 446 G. Persson 1999. Zitiert und übersetzt in J. Andersson 2006: 447 770 Kunskapslyftet (Bildungsfahrstuhl) heißt ein 1997 implementiertes Programm der Erwachsenenbildung, vor allem zur Förderung von Langzeitarbeitslosen und niedrigqualifizierten Arbeitnehmern. 769
5.2 Schweden
255
gain control of their own work and thereby strengthen their position in economic life. The power relation is changed and the position of labour is strengthened. But the development is fragmented because strongly proletarian groups with weak links to labour and a clear exclusion form society emerge alongside this development... The gap between the marginalised and the most privileged groups in the labour market is large and growing. Between them are broad and growing layers of groups with a secure position in economic and working life. Some of them have both capital in the form of knowledge, which is of importance today, and a shareholder interest in the finance sector. The development can be described as a tripartite class related division. It can involve the risk of the so called Two Thirds Society, i.e. the class of capital owners and the favoured middle levels in society form an alliance against those who have weak positions in the labour market or are completely excluded.“771
Während der britische Reformdiskurs betonte, dass der Modernisierungszwang durch Globalisierung und Wissensökonomie eine Neubestimmung und -organisation sowohl wohlfahrtsstaatlicher Leistungen als auch individueller Erwartungen und Einstellungen verlange und dass sich das alte sozialdemokratische Postulat der Gleichheit allenfalls noch als Gleichheit der Chancen realisieren ließe, beharrte der schwedische Diskurs der ‚Modernisierung durch Bewahrung’ darauf, dass die Modernisierung sozial und ökonomisch nur bewältigt werden könne, wenn der universalistische Wohlfahrtsstaat und vor allem auch seine normativen Grundlagen wie Sicherheit, Gleichheit und Solidarität erhalten blieben. Im SAP-Diskurs formulierte sich Skepsis und Sorge hinsichtlich der Effekte des strukturellen Wandels der neuen Ökonomie auf das ‚gute’ Leben des Einzelnen und seine soziale Sicherheit. Wenn im Zuge ökonomischer und soziokultureller Modernisierungsprozesse Unsicherheit und Risiko zunehmen und sich ehemals feste berufliche und private Bindungen auflösen772, dann dürfe es gerade nicht darum gehen, die Verantwortung für soziale Sicherheit auf den Einzelnen zu übertragen, sondern vielmehr müsse es Aufgabe des Wohlfahrtsstaats sein, strukturelle Orientierungspunkte bereitzustellen, die es den Menschen ermöglichen, nicht ‚von der Hand in den Mund’ leben zu müssen, sondern auch an Bindungen, Entwicklungen und Familiengründen usw. denken zu können. Dazu gehöre auch, nicht immer wieder bei Null anfangen zu müssen. Das gestaltende, flexible und aktive Individuum bedürfe sozialstaatlicher Ressourcen, die den Wandel abfedern. Im SAP-Parteiprogramm 2001 wurde zwar hervorgehoben, dass die Wohlfahrtsstaatsreformen der 1990er Jahre von zentraler Bedeutung für seine Leistungsfähigkeit und für die Effizienz der schwedischen Wirtschaft gewesen seien, der ideologische Kernbestand des Wohlfahrtsstaats wurde zugleich vehement verteidigt: „Critics asserted that welfare systems took away people’s responsibility and weakened their power of in initiative and that the costs involved weakend the national economy... It is capitalist mythmaking to maintain that people’s ability to act increases, if they are disadvantaged and that the economy is strengthened, if its most important ressource, people, are worn out and weakened...“773.
771 772 773
SAP 2001 Vgl. Kap. 4.3: ‚Output-Filter: Politische Kultur’ SAP 2001
256
5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
Der schwedische Reformdiskurs ging in seiner normativen Dimension somit auch auf Distanz zu den Modernisierungsvokabeln des britischen ‚Dritten Weges’, indem Sozialdemokratie und der Wohlfahrtsstaat gerade nicht diskursiv auf neue normative und moralische Grundlagen gestellt wurden. Auf der ‚Progressive Governance Conference’ 2004 in Budapest verteidigte Göran Persson offensiv den generösen Wohlfahrtsstaat und – in klarer Abgrenzung zu New Labours ‚Workfare’-Diskurs – vor allem auch großzügige Arbeitslosenunterstützungen: „...there is a way to combine solidarity and development, redistribution and growth. Those who believe that well-developed public services, subsidies, redistribution, and security systems cannot be maintained because of globalization are wrong. These things are productive because they are needed to remove the sense of insecurity created by change, an insecurity that prevents people from developing their potential...“ Und: „A high level of unemployment benefits is desired both to make sure people are not forced to take jobs far below their levels of competence and because of the value economic security has in itself“774.
5.2.3 Die Stabilisierung des schwedischen Diskurskontexts Das schwedische Modell ist im Zuge der wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen der 1990er und 2000er Jahre massiven Veränderungen unterworfen gewesen. Sozialleistungen sind teilweise drastisch gekürzt und der Verantwortungsbereich des Wohlfahrtsstaats ‚begrenzt’ worden, so dass der Universalismus inzwischen auf einem niedrigeren Dekommodifizierungsniveau stattfindet775. Die Frage, ob und inwieweit der schwedische Wohlfahrtsstaat seine Einzigartigkeit in Europa eingebüßt hat, muss hier offen bleiben, es lässt sich jedoch zweifellos feststellen, dass die schwedischen Reformpolitiken mit denen der restlichen europäischen Ländern konvergierten. Die diskursive Legitimation dieser Reformen allerdings divergierte dahingehend, dass die normativen Geltungsgrundlagen des Wohlfahrtsstaats selbst diskursiv nicht verändert wurden. Es gab keine diskursive Neubestimmung der prinzipiellen Handlungsverpflichtungen des Staates, keinen sozialmoralischen Armutsdiskurs oder etwa eine Prononcierung der ‚Leistungsgerechtigkeit’ gegenüber der ‚Bedarfsgerechtigkeit’. Auch wenn es in der SAP alte Flügelkämpfe und neue Spannungen zwischen Modernisierern und Traditionalisten über Ausmaß, Form und Richtung gegeben hat, formulierte sich dennoch der sozialdemokratische Diskurs insgesamt nicht in Abgrenzung und Distanz zu der eigenen ideologischen Tradition. Die argumentative Kommunikation der Reformen vollzog sich in der kognitiven Diskursdimension als notwendige politische – den Herausforderungen entsprechende und angemessene – Anpassungsreaktion auf eine akute und überdeutliche Krise, die in der normativen Dimension jedoch durch die Bewahrung der wohlfahrtsstaatlichen Werte und Prinzipien gestützt wurde. Für die hier vorgenommene Betrachtung ist die Tatsache bedeutsam, dass tiefgreifende und liberale Reformen nicht über einen ökonomie- und effizienz-, vor allem marktorien-
774 775
G. Persson 2004 J. Schmid 2002: 220; J. Lindvall 2006
5.2 Schweden
257
tierten Reformdiskurs776 legitimiert wurden, sondern im Gegenteil über einen sozialdemokratischen Bewahrungsdiskurs. Zudem wurden die Veränderungen, die sich im Zuge der Globalisierung und einer wissensbasierten Dienstleistungsökonomie ergaben, nicht als Auflösung prinzipieller politischer und sozialer Gegensätze beschrieben. Entgegen dem britischen Reformdiskurs wurde in Schweden die Zukunft nicht als technologie- und wissensgestützte ‚Post-Politik’ konzeptualisiert, in der sich soziale Widersprüche und politische Spannungen auflösen bzw. mittels eines modernen Politikmanagements nur noch moderiert werden müssen, sondern als eine Fortsetzung alter Verteilungskämpfe unter veränderten Vorzeichen. Dass sich die gesellschaftlichen Bruchlinien in der wissensbasierten Dienstleistungsökonomie auch in Schweden massiv verschoben und verändert haben oder gar vielfältiger geworden sind, veranlasste die schwedischen Sozialdemokraten nicht dazu, sich von ihrer Herkunft als Arbeiterpartei zu distanzieren. Aber gerade dies ermöglichte es der SAP, einen kognitiven Reformdiskurs zu führen, der weitreichende Einschnitte in das Wohlfahrtssystem legitimierte und dabei zugleich als ‚Bewahrungsdiskurs’ auf die Differenzierung von Instrumenten und Zielen insistierte. Der schwedische Diskurskontext war vor den Reformen der 1990er Jahre für die Kommunikation sozialdemokratischer Werte und Politiken sehr günstig, nicht zuletzt durch die jahrzehntelange Dominanz der Sozialdemokratie selbst. Die SAP hat sich förmlich einen diskursiven Rahmen geschaffen, in dem ihre Politik auf entgegenkommende Werte und Sinnorientierungen, Akteurskonstellationen und Institutionen trafen. Da im Zuge der Reformen jedoch mit verschiedenen eingespielten und traditionellen Erwartungen, Strukturen, Handlungsstrategien und Institutionen gebrochen werden musste, wäre es denkbar gewesen, diese Veränderungen über eine normativ begründete Mobilisierung von Individualität, Selbstverantwortung, Flexibilität oder Freiheit zu kommunizieren. Wahrscheinlich hätte eine solche Reformkommunikation den schwedischen Handlungsakteuren sogar noch mehr Reformspielräume eröffnet, hätte aber auch den nationalen Diskurskontext nachhaltig in eine liberalere Richtung verschoben, was wiederum die zukünftige politische Kommunikation spezifisch sozialdemokratischer Politikziele erschweren würde. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Wohlfahrtsstaatsreformen das schwedische Modell zwar verändert haben, dass aber der diese Reformen legitimierende Diskurs den nationalen Diskurskontext stabilisiert hat. Die Stabilisierung des schwedischen Diskurskontextes brachte sich auch, aber nicht nur über die weiterhin hohe Legitimität der Wohlfahrtstaatsinstitutionen zum Ausdruck, die ausdrücklich auch eine Akzeptanz des Finanzierungssystems über hohe Steuern mit einschlossen777, sondern vor allem in der diskursiven Nachhaltigkeit normativer Werte und Ziele. Die Politik-Instrumente mussten modernisiert werden – wie der politische Pragmatismus der SAP angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise der 1990er zeigte – doch die Aufrechterhaltung traditioneller Politikziele zeugte von der Stabilität des diskurspolitischen Kontextes. Ferner zeigte sich die Stabilität des nationalen Diskurskontexts auch bei den Sozialdemokraten selbst, die – als eine Partei mit klarer ‚Office-Seeking’Orientierung – auf ihrer traditionellen Programmatik und Rhetorik beharrten, eine ‚solidarische Gesellschaft in Gleichheit und Freiheit’ anstrebten und sich weiterhin als eine ‚Inter-
776 777
W.Merkel 2000b S. Svallfors 1996. Zitiert nach: E. Gurgsdies 2006: 89. Vgl. auch: S. Svallfors 1999
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
essenvertretung der Arbeit’ und als ‚antikapitalistische Partei’ verstanden778. Die SAP hätte diese Positionen wohl nicht so sehr betont, wenn ihre ideologischen Grundwerte und Visionen in der sie umgebenden Gesellschaft auf keine diskursiv-kulturelle Entsprechung mehr getroffen wären.
Diskurskontext und Parteidiskurs Im schwedischen Diskurskontext sind die sozialdemokratischen Ideen und Werte oder auch entsprechende Konnotationen und Interpretationen historisch verwurzelt, so dass die Stabilisierung des nationalen Diskurskontextes zweifellos auch zukünftig der SAP gute Voraussetzungen bietet, ihre Politikvorstellungen und -konzepte politisch in die Gesellschaft hinein zu kommunizieren. Ein nationaler Diskurskontext ist aber bei weitem nicht identisch mit einem Politikdiskurs einer Partei. Auch wenn schwedische Sozialdemokraten darauf hoffen können, dass sich ihre Politik- und Wertediskurse in einem für sie vorteilhaften Diskurskontext leichter in die Gesellschaft verlängern, da sie auf gegebene Werteorientierungen, Erwartungen, Kommunikationstraditionen und institutionelle Strukturen treffen, die diese leichter widerklingen lassen, streiten dennoch auch in diesem Diskurskontext mehrere Politikdiskurse miteinander um Hegemonie. Mehr noch: Normativ ähnlich ausgerichtete Diskurse in ein und derselben Gesellschaft können sich verselbstständigen, einen bestimmten Parteidiskurs überflügeln oder diesen – mit der gleichen oder ähnlichen diskursiven Stoßrichtung – gar in die Defensive drängen. Ein Diskurskontext, der aufgrund seiner ideengenerierten Institutionen, akteurspolitischen und medialen Struktur und seiner politisch-kulturellen Ausrichtung für sozialdemokratische Reformdiskurse günstig scheint, sagt also noch nichts über die tatsächlichen Wahl- oder Kommunikationserfolge einer sozialdemokratischen Partei aus. Hier ist eine Vielzahl weiterer alltags- und kommunikationspolitischer sowie personaler Komponenten bedeutsam. Der sozialdemokratische Reformdiskurs ist daher in seinem nationalen Diskurskontext kein Selbstläufer. So gewann die SAP bei Reichtagswahlen 1998 – nachdem viele, gerade auch für die Kernklientel der Sozialdemokraten schmerzhafte Reformen implementiert waren, die ökonomischen Kennziffern jedoch diese Veränderungen (noch) nicht widerspiegelten – nur 36,4% der Stimmen (minus 8,8 Punkte gegenüber 1994), was ihr schlechtestes Ergebnis seit den 1920er Jahren darstellte. Zugleich konnte die Linkspartei ihren Stimmenanteil verdoppeln779. Die SAP reagierte auf die Forderungen nach öffentlichen Investitionen ihrer Konkurrenz von links, indem sie diesen nachkam, den Diskurs über Staatsaufgaben aber zugleich über die Betonung verantwortungsvoller, gezielter Investitionen, beispielsweise in den Bildungsbereich, wieder an sich zog. Bei der Wahl 2002 konnte die SAP die verlorenen Stimmen von der Linkspartei wieder zurückgewinnen780. Dass sich in einem nationalen Diskurskontext eigenwillige politische Diskursenergien ergeben, die die politischen Akteure immer wieder vor neue Kommunikationsherausforderungen stellen, zeigt sich ferner in der ausgeprägten Europaskepsis der Schweden. Für die Kritiker der EU ist der Beitritt Schwedens zur Europäischen Union im Januar 1995 und die 778 779 780
C. Henkes 2006: 312 T. Möller 1999 P. Nuder 2007
5.2 Schweden
259
damit einhergehende Anpassung an EU-Richtlinien eine der Hauptursachen für den Rückbau des schwedischen Modells. Das nationale Selbstbewusstsein, das sich wesentlich auch über die Abgrenzung zu den in Europa vorherrschenden liberalen oder konservativen Wohlfahrtsstaatsmodellen herleitet, sieht in der Europäisierung der schwedischen Politik eine Unterminierung des schwedischen Wohlfahrtsstaats. In der Volksabstimmung zur Einführung des Euro 2003 erlitt die SAP-Parteiführung, die einstimmig für weitere Integrationsschritte plädierte, eine empfindliche politische Niederlage (55,6% der Schweden lehnten die Einführung ab), nicht zuletzt weil sie gegen das eigene politische Lager kämpfen musste. Insbesondere die Linkspartei stellte sich strikt gegen die weitere Integration Schwedens in die Europäische Union, ebenso waren die Grünen mehrheitlich integrationsskeptisch. Und selbst die SAP-Basis und die Gewerkschaften lehnten eine Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion ab781.
Opfer des eigenen Erfolgs? Die Wahlniederlage von 2006 Die Stabilität des schwedischen Diskurskontextes zeigt sich paradoxerweise sehr deutlich in der Wahlniederlage der SAP bei Reichtagswahlen 2006. Nachdem die größte Oppositionspartei, die konservative Moderata samlingspartiet, als profiliert neoliberale Steuersenkungspartei 2002 eine schwere Niederlage erlitten hatte, forcierte der neue Parteivorsitzende Fredrik Reinfeldt in den folgenden Jahren eine programmatische Umkehr seiner Partei. Denn mit ihrer traditionell wertkonservativen und neoliberalen Programmatik schienen die Moderaten strukturell in einer Minderheitenposition gefangen zu sein. Ähnlich wie New Labour in Großbritannien wurde die konservative Partei in Ny moderaterna umbenannt. Die traditionellen Ziele weitreichender Steuersenkungen und Privatisierungen ließ die Partei fallen, die politische Rhetorik wurde entschärft und klassische sozialdemokratische Themen wie Beschäftigungs- und Sozialpolitik, zusätzliche Ausgaben in der Bildungs- und Familienpolitik, eine kinderfreundliche Gesellschaft oder die Förderung alternativer Energien782 wurden in die eigene Programmatik integriert. Reinfeldt selbst spitzte diese Veränderung in der Aussage zu, die konservative Partei sei jetzt die ‚neue Arbeiterpartei’783. Zudem gelang es Reinfeld, den traditionell zersplitterten bürgerlichen Block zu einer Wahlplattform ‚Allianz für Schweden’ zu verpflichten (bestehend aus Moderaten, Christdemokraten, Volkspartei und Zentrumspartei), die die politischen Differenzen hinter das Ziel der Machtablösung der Sozialdemokraten zurückstellte. Die bürgerliche Blockbildung wurde dadurch begünstigt, dass die sozialdemokratische Minderheitenregierung in der Legislaturperiode 2002-2006 nicht mit wechselnden Mehrheiten regierte, sondern sich auf eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei und den Grünen festlegt hatte. Jedoch übersetzt sich eine prinzipielle Wählbarkeit noch nicht in Wahlstimmen. Der Wahlsieg der Bürgerlichen im September 2006 wurde durch Schwächen der Sozialdemokraten zusätzlich begünstigt. Zum einen wirkte ihr Spitzenkandidat Göran Persson amtsmüde und machte keinen Hehl daraus, kaum noch eine ganze Legislaturperiode weitermachen zu wollen. Zum anderen geriet die sozialdemokratische Regierung im Zusammenhang 781 782 783
S. Jochem 2006 M. Ertel 2006: 154 S. Jochem 2006
260
5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
mit der Tsunami-Katastrophe Weihnachten 2004, bei der über 500 Schweden ums Leben kamen, für ihr Krisenmanagement massiv in die Kritik784. Bo Rothstein vertrat die These, dass sich in der Wahlniederlage der SAP letztlich der ‚historische Triumph’ der schwedischen Arbeiterbewegung widerspiegle, da die bürgerlichen Parteien den sozialdemokratischen Sozialstaatskonsens endlich akzeptiert hatten785. Die Wahlen waren für die Bürgerlichen nur zu gewinnen, indem sie ihren Reformdiskurs an der Hegemonie sozialdemokratischer Werte ausrichteten (Abb 5.). Abbildung 5:
Diskurskontextverschiebung Schweden
Allerdings ist ein öffentlicher Diskurs (zumal in Form von Wahlrhetorik) das eine, Regierungshandeln das andere. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Regierung Reinfeld weitreichende Veränderungen durchsetzt, die das ‚schwedische Modell’ in seiner institutionellen Substanz bedrohen786. Hier ist vor allem die Beitragserhöhung und Zugangserschwerung der freiwilligen, einkommensabhängigen und von den Gewerkschaften organisierten Arbeitslosenversicherung (neben der staatlichen Grundsicherung bei Arbeitslosigkeit). Gründete sowohl die Gestaltungsmacht wie auch die gesamtökonomische Verantwortungsbereitschaft der schwedischen Gewerkschaften nicht zuletzt auf ihrer Trägerschaft der Arbeitslosenversicherungen (‚Ghent-System’), so werden mit dem neuen Gesetz nicht nur die Gewerkschaften selbst, sondern das Gleichgewicht des schwedischen Korporatismus geschwächt787. Die aus dem neuen Ungleichgewicht resultierenden neuen politischen und 784
W.A. Perger 2005 B. Rothstein 2006. Zitiert und übersetzt in S. Jochem 2006 786 R. Hällhag 2007 787 A. Kuhlmann 2008 785
5.3 Deutschland
261
sozioökonomischen Interessen und Konfliktlinien werden wahrscheinlich auch den nationalen Diskurskontext nachhaltig verändern. Noch erzeugen die Widersprüche zwischen dem bürgerlichen Reformdiskurs, dem Diskurskontext und den tatsächlichen Reform-Policies massive Spannungen, die die bürgerliche Regierung in eine politische wie diskursive Defensive drängen. Diese Inkohärenz des bürgerlichen Diskurses wird von den Sozialdemokraten im politischen Wettbewerb hervorgehoben, was zugleich betont, dass ihr Politikdiskurs dem ‚Schwedischen’ viel mehr entspricht788. Es spricht viel für die fortwährende Dominanz sozialdemokratischer Werte und Orientierungen im schwedischen Diskurskontext. Dies garantiert allerdings keine sozialdemokratischen Wahlerfolge. Nachdem die Sozialdemokraten in den Umfragen 2008 bei Werten von ca. 40% lagen (bei gleichzeitig stabilen Werten für Linkspartei und Grüne)789, konnte die bürgerliche Regierung Reinfeld besonders durch die politische Bewältigung der Finanzkrise wieder an Zustimmung gewinnen. Dabei setzte die konservative Partei der ‚Moderaten’– wie schon im Wahlkampf 2006 – erneut auf eine linke Rhetorik: Sie warf den Banken ihre ‚maßlose Gier’ vor, geißelte überzogene Managergehälter, drohte, dass Rettungsmaßnahmen für Banken nicht umsonst zu haben seien und forderte Regulierungen790. In der größten Legitimationskrise neoliberaler Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung konnte mit den ‚Moderaten’ gerade die Partei kommunikative Geländegewinne verzeichnen, die in den letzten 30 Jahren am stärksten die neoliberale Ideologie artikuliert hatte. Die Stärke des ‚sanft-konservativen’791 Politikdiskurses angesichts der Erosion des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus (hier ähnelt Reinfelds Diskurs dem von Angela Merkel, Nicolas Sarkozy oder David Cameron), der meist die individuellen Exzesse der Bereicherung und Spekulation anklagte, dabei strukturellen Defizite verschwieg und ein modifiziertes Zurück zum Ausgangpunkt forderte, resultierte nicht unwesentlich auch aus der Schwäche des sozialdemokratischen Politikdiskurses, der nach Jahren der ideologischen Entkernung sich seines eigenen (kapitalismus)kritischen und kreativen Denkens entledigt hatte und somit historisch Neues, Alternatives und Zukunftsweisendes kaum mehr glaubhaft kommunizieren konnte. Die relative Stärke der schwedischen Sozialdemokraten – zumindest im Vergleich zu ihren Schwesterparteien – gründet auf der Tatsache, dass sie in ihrer Reformkommunikation der 1990er und 2000er Jahre ihre traditionellen Grundbegriffe (auch als Instrumentarium kritischer Reflexion) nicht aufgegeben haben. Aus diesem Grund besetzt der sozialdemokratische Diskurs große Teile eines weiterhin großen linken Diskursterrains im schwedischen Diskurskontext.
5.3 Deutschland: Der unentschlossene, geliehene und verspätete Reformdiskurs Der britische und der schwedische sozialdemokratische Reformdiskurs begründeten ähnlich ausgerichtete Policy-Veränderungen über unterschiedliche diskursive Konzeptionen der Herausforderungen wie auch der Chancen der reformbedingenden Veränderungen und 788
S. Jochem 2009: 71 Der Durchschnitt der monatlichen Umfragewerte für die SAP von Januar 2008 bis Februar 2009 liegt bei 41,43%. Vgl. SIFO Research International/ Svenska Dagbladet: Väljarbaromtern, www.sifo.se/Public/Reports/Barometer.aspx (14.3.2009). 790 P. Larsson 2009 791 W.A. Perger 2008 789
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
Rahmenumstände, unterschiedlicher Interpretationen der zu bewahrenden Vergangenheit und der zu gestaltenden Zukunft und somit letztlich der normativ begründeten Reformziele. So unterschiedlich – jenseits der ohnehin differenten Ausgangslagen und Policy-Inhalte – die öffentlichen Reformdiskurse in beiden Ländern auch waren, sie kennzeichnen sich jeweils durch eine relativ kohärente kognitive und normative Argumentation. Diese jeweilige Diskurskohärenz resultiert wesentlich in einer sicheren ideologischen Selbstverortung der wesentlichen Diskursprotagonisten und einer, den Bedingungen des nationalen Diskurskontextes entsprechenden Diskursführung. Die britische Labour Party – 18 Jahre gänzlich von der Politikgestaltung ausgeschlossen – legitimierte sich als ‚Überwindung’ der sozialen Ungerechtigkeiten der Ära Thatcher und ihre Reformen über die Betonung grundsätzlicher neuer Bedingungen der globalisierten Wissensökonomie; die schwedische SAP – Begründer eines nun zu reformierenden Wohlfahrtsstaats und jahrzehntelang dessen gestaltende Kraft – hingegen legitimierte sich über die ‚Bewahrung’. Betrachtet man die britischen und schwedischen Ausgangsbedingungen und die entsprechenden Reformdiskurse als zwei entgegengesetzte Pole, zwischen denen sich sozialdemokratische Diskurse sinnvoll verorten können, dann befanden sich die deutschen Sozialdemokraten bei der Machtübernahme 1998 genau in der Mitte: Erstens waren die deutschen Sozialdemokraten – wie die britische Labour Party – lange Zeit in der Opposition, waren jedoch im Gegensatz zu Labour im föderalen System, über Länderregierungen und den Bundesrat nicht gänzlich von Politikgestaltung und zentralen politischen Kommunikationskanälen abgekoppelt792. Eine grundlegend programmatische, personelle und organisatorische Neuerfindung als Partei war in dieser partiellen, eine gewisse Kontinuität voraussetzende Regierungsverantwortung (nämlich in den Ländern) nur sehr begrenzt möglich. Zweitens hatte Deutschland – im Gegensatz zu Großbritannien – keine radikal neoliberalen Reformen hinter sich, deren Gerechtigkeitsdefizite es zu überwinden galt. Es gab zwar einen, in Politik und Medien kommunizierten ‚Reformstau’, doch – ähnlich wie in Schweden – war die vorherrschende Erwartung der Bevölkerung eher eine im Kern bewahrende Anpassung der bestehenden Systeme als deren grundlegende Veränderung. Die SPD konnte sich – aus der Opposition kommend – weder als Hüter und Bewahrer ihrer eigenen Politik inszenieren, noch als radikaler Erneuerer eines ihr politisch fremden Sozialsystems, an deren Gestaltung sie nicht mitgewirkt hatte. Drittens bot das Objekt des Reformdiskurses – das deutsche konservative Wohlfahrtsstaatsmodell – neben den eigentlichen reformbedingenden Funktionsdefiziten im Zeitalter der Globalisierung und Wissenökonomie für einen normativen sozialdemokratischen Reformdiskurs einen ambivalenten Bezugspunkt: Einerseits wies das deutsche Modell nicht derart massive soziale Verwerfungen auf wie das residuale britische Modell (vor allem nach den Jahren konservativen Rückbaus), andererseits zeigten sich im deutschen Modell im Vergleich zum universalistischen schwedischen Modell (aus sozialdemokratischer Perspektive) Gerechtigkeitsdefizite. Ein diskursives Spannungsverhältnis zwischen ‚Bewahrung’ und ‚Erneuerung’ resultierte nicht unwesentlich aus diesem ambivalenten Referenzpunkt. Diesen Ausgangsbedingungen entsprechend gruppierte die SPD ihre Wahlkampfkommunikation in der Bundestagswahl 1998 erfolgreich um den bipolaren Wahlkampfslogan: ‚Innovation und Gerechtigkeit’. Dieser Slogan verband geschickt den ‚Modernisie792
In den 16 Oppositionsjahren konnte die SPD sogar ihre Machtbasis kontinuierlich ausdehnen: 1982, in dem Jahr, in dem Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, führte sie 4 von 11 Länderregierungen, zu Beginn des Jahres 1999 13 von 16 Länderregierungen.
5.3 Deutschland
263
rungs- mit dem Bewahrungsdiskurs’; die notwendige Modernisierung der politischen Ökonomie und des Wohlfahrtsstaats einerseits, die Bewahrung des bestehenden Niveaus der Sozialleistungen andererseits. Für die argumentative Kohärenz eines Reformdiskurses ist der mittlere Weg zwischen zwei entgegengesetzten Positionen nicht notwendig der beste. Auch wenn man nicht immer mit ausreichender Sicherheit entscheiden kann, welche der beiden Diskursoptionen im jeweils gegebenen Diskurskontext die richtige ist, gibt es nicht selten Fälle, in denen jedenfalls klar ist, dass die mittlere falsch ist. Der deutsche Reformdiskurs pendelte in seiner normativen wie kognitiven Argumentation allzu häufig zwischen den Polen des schwedischen und britischen Diskurses hin und her – und verhungerte letztlich diskursiv wie Buridans Esel.
Modernisierung: Aufbruch oder Zwang Eine weitere Inkohärenz des deutschen sozialdemokratischen Reformdiskurses ergab sich dadurch, dass zwei, sich teilweise bedingende, sich teilweise inhaltlich überlagernde und teilweise aber auch latent in Widerspruch zueinander geratene Modernisierungsnarrative diskursiv aktiviert wurden: Zum einen galt es für die rot-grüne Regierung – nach 16 Jahren christlich-liberaler Regierung – eine längst überfällige gesellschaftspolitische Modernisierung gegenüber gesellschaftlichen Realitäten nachzuholen, die die Vorgängerregierungen aufgrund ihrer konservativen Klientelverstrickung nicht zu bewältigen imstande waren: eine bürgerrechtliche Liberalisierung (rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften) und minderheitensensible Politik (Staatsbürgerrecht), Umweltschutz und Atomausstieg, eine ethische und antimilitaristische Außenpolitik793. Dieses Modernisierungsnarrativ war teilweise mit postmaterialistischen und kulturellen Politikerwartungen der späten 1960er und 1970er Jahre verhaftet, so dass Rot-Grün häufig als generationelles ‚Projekt’ beschrieben wurde794. Auch wenn diese Themen in den 1970er und 1980er Jahren Einzug in die sozialdemokratische Programmatik gefunden hatten795, waren es doch originär oder zumindest mehrheitlich ‚grüne Themen’, denen Teile der traditionellen sozialdemokratischen Wählerschaft distanziert, wenn nicht gar ablehnend gegenüber standen796. Dieses gesellschaftspolitische Modernisierungsnarrativ – vor allem zu Beginn der ersten Legislaturperiode – spiegelte tatsächlich ein vergleichsweise liberales Gesellschaftsklima und eine Aufbruchsstimmung wider797. Der gesellschaftspolitische Modernisierungsdiskurs war zwar nicht von den wirtschafts- und sozialpolitischen Reformdiskursen vollständig abgekoppelt – so wurde beispielsweise die ökologische Modernisierung (ökologische Steuerreform) als Problemlösung sowohl der strukturellen Arbeitslosigkeit als auch der Umweltzerstörung kommuniziert und ein ‚Bündnis für Arbeit’ neu aufgelegt –, doch lag der diskursive Akzent noch auf einer Modernisierung als ‚Aufbruch’ aus veralteten soziokulturellen und -politischen Strukturen. Gewachsene sozial- und arbeitsmarktpolitische Erwartungshaltungen der Bevölkerung wagte der modernisierende Aufbruch-Diskurs aller793
Dieser Anspruch war jedoch gleich im ersten Regierungsjahr durch den Kampfeinsatz der Bundeswehr im Kosovo-Krieg mit einer komplexen Realität konfrontiert. 794 Vgl. C. Egle/ T. Ostheim/ R. Zohlnhöfer 2003 795 T. Meyer 1999b 796 C. Egle / C. Henkes 2003: 79ff. 797 R. Meng 2002: 218
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dings nicht herauszufordern. Unmittelbar nach dem Wahlsieg machte die Regierung sogar einige der schmerzlichsten sozialpolitischen Reformen wieder rückgängig798. Das diskursive Leitmotiv einer eher unpolitischen Modernisierung verstärkte sich ferner durch einen weiteren futuristischen ‚Aufbruch’-Akzent zum Ende der 1990er Jahre: Die New Economy. Die ökonomische Relevanz der Erzeugung und Verwertung hypervernetzter Informationsflüsse via Internet war zwar vor allem ehr ein euphorisch gefeiertes Medienphänomen (und eine ‚Blase’ wie sich bald herausstellen sollte) als ein tatsächlicher Paradigmenwechsel in der Wirtschaft, doch der New-Economy-Optimismus gab dem ‚Modernisierungsdiskurs’ jener Jahre eine spezifische Prägung, die sich auch in die Policy-Sphäre verlängerte. Der ‚Neue Markt’, die Versteigerung der UMTS-Linzenzen799 und der publikumswirksame Börsengang der ‚Deutschen Telekom’ rahmten diskursiv die zunehmenden internationalen und globalen Finanzmarktbeziehungen und Anteilsentflechtungen deutscher Unternehmen800 und Veränderungen des Aktienmarktes in Deutschland selbst801. Die Steuerreform der rot-grünen Bundesregierung 2000 und darin besonders die Regelung, dass Kapitalbeteiligungen steuerfrei veräußert werden können, verstärkte über tiefgreifende Veränderungen am Aktienmarkt und im Aktienbesitz die sich im Zuge der Globalisierung ohnehin vollziehenden Auflösungserscheinungen der so genannten ‚Deutschland AG’802. So wurde die Steuerreform vom linken politischen Spektrum als eine Anpassung an den ‚Shareholder-Kapitalismus’ bezeichnet803. Als medienwirksame diskursive Verbindung zwischen einer zeitgemäßen Migrationspolitik und einem wirtschaftstechnologischen Aufbruch zählte die überraschende Ankündigung Gerhard Schröders auf der Computermesse CeBIT 2000, eine deutsche ‚Green Card’ für ausländische High-Tech-Spezialisten einzuführen. Abgesehen von der Suggerierung von Modernität und Pragmatismus sollte dieser Vorstoß vor allem das Image des Bundeskanzlers als einem wirtschaftsfreundlichen und pragmatischen ‚Macher’ befördern804. Der Modernisierungsdiskurs als ‚Aufbruch’ betonte eine eher ‚unpolitische’ Modernität als solche, die wirtschafts- und sozialpolitische Anpassungen eher als rein funktionaltechnisch und weniger als normativen ‚Wertekonflikt’ eingelebter Verteilungsgewohnheiten kommunizierte. Vor allem Kanzler Gerhard Schröder inszenierte sich nicht als sozialdemokratisch, sondern als modern, als moderner Politikmanager einer neuen Sorte. Dieser Diskurs hatte – in Abgrenzung zum eher spröden Politikstil seines Vorgängers Helmut Kohl – viele symbolische und ästhetische Komponenten: ein neuer Umgang mit Medien, ein eher 798
Vgl. u. a. R. Zohlnhöfer 2003b; S. Blanke / J. Schmid 2003; E. Rose 2003 Die rund 100 Milliarden für die UMTS-Lizenzen kamen nicht zuletzt wegen der optimistischen Wachstumsprognosen für den „Neuen Markt“ zustande. 800 J. Beyer 2002; H. Hirsch-Kreinsen 1999 801 R. Dore 2000 802 M. Höpner 2000; T. Sablowski/ J. Rupp 2001. Vgl. auch Kap. 4.2.3: ‚Deutschland: konservativer Wohlfahrtsstaat und koordinierte Marktwirtschaft’. Die Entflechtung der „Deutschland AG“ war auch erklärtes Ziel. Auf der Web-Site des Bundesfinanzministeriums hieß es seinerzeit: „Durch die Unternehmenssteuerreform wird sowohl die Flexibilität im Unternehmungssektor im Ganzen als auch die Bildung effizienter Unternehmensstrukturen im Detail gefördert. Ausländische Investoren erhalten Gelegenheit, sich an deutschen Unternehmen zu beteiligen, weil Aktienpakete auf den Markt kommen, die zuvor aus steuerlichen Gründen nicht veräußert worden sind. Ordnungspolitischer Nebeneffekt ist die Chance einer Entzerrung des in Deutschland auf einige wenige Großkonzerne konzentrierten Beteiligungsgeflechts.“ http://www.bundesfinanzministerium.de/wwwroot-BMF/BMF-.336.12228/.htm# (12.10.2002) 803 R. Hickel 2000 804 H. Kolb 2005 799
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hedonistischer Lebensstil, ein weniger autoritärer und patriarchaler Kommunikationsstil und ein medial inszenierter populistischer Pragmatismus. Zum anderen der Reformdiskurs als Modernisierungszwang: Risse im Fundament des deutschen Wirtschaftsmodells waren schon Mitte der 1980er Jahre zu beobachten805, die jedoch durch den Vereinigungsboom nochmals kurzfristig überdeckt wurden. In der zweiten Hälfte der ersten rot-grünen Regierungsperiode wurde immer deutlicher, dass neuartige ökonomische Herausforderungen und strukturelle Probleme des deutschen Wohlfahrtsstaats grundlegender Reformen bedürfen und dass ein nunmehr politischer Reformdiskurs vonnöten sei, d.h. ein Diskurs, der den Prozess des Umbaus des Wohlfahrtsstaats über die normative Herleitung neuer Gerechtigkeitsvorstellungen sowohl in Bezug auf die Referenzsysteme als auch auf typische Trägergruppen legitimiere806. Die Reformen in der Wirtschaftsund Sozialpolitik ließen sich nicht mehr über den bloßen Verweis auf eine (letztlich inhaltsleere) Modernität diskursiv legitimieren, dazu waren die Herausforderungen und politischen Veränderungen zu gravierend. Die Modernisierung des deutschen Wohlfahrtsstaats musste über einen Reformdiskurs legitimiert werden, der Modernisierungsinhalt und richtung nun ausformulierte. Einem solchen Reformdiskurs – auf den die hier vorgenommene Betrachtung fokussiert – fehlte jedoch eine zuvor erarbeitete normative Grundlage, so dass sich vor dem Hintergrund offensichtlicher Inkohärenz zwischen programmatischer Beschlusslage und implementierter Politik diskursive Spannungen auftürmten, die sich vor allem im Diskurs um die ‚Agenda 2010’ in der zweiten Regierungsperiode der Regierung Schröder entluden. Die programmatischen Umrisse eines solchen sozialdemokratischen Reformdiskurses zeichneten sich zwar schon wesentlich früher ab – so z. B. in dem Buch von Schröders erstem Kanzleramtsminister Bodo Hombach „Aufbruch. Die Politik der Neuen Mitte“807 oder dem Schröder-Blair-Papier – doch wurde dieser Diskurs nicht durch weitere kognitive und normative Argumente gefüllt und vor allem nicht nachhaltig gegen Widerstände und unter Einbringung des politischen Gewichts der wichtigsten Diskursprotagonisten geführt, sondern allenfalls angedeutet. Der modernisierende Aufbruch-Diskurs und der modernisierende Zwang-Diskurs lassen sich inhaltlich wie auch in ihrer zeitlichen Abfolge nicht eindeutig von einander trennen; der eine Diskurs bestand schon als noch der andere dominant war, ebenso blieb dieser bestehen, während jener dominant wurde. Auch standen beide Reformdiskurse nicht in einem grundsätzlichen Widerspruch zu einander, befruchteten sich sogar mitunter. Gleichwohl stellte der gesellschaftspolitische und futuristische Aufbruch-Diskurs für den späteren sozial- und wirtschaftspolitischen Modernisierungszwang-Diskurs eine nachhaltige Beschränkung dar: Erstens litt der Reformdiskurs des Modernisierungszwangs darunter, dass er durch die Regierung Schröder nicht von Anfang an geführt wurde. Die kognitiven wie normativen Argumente, die vor dem Hintergrund einer akuten Wirtschaftskrise und den hohen Arbeitslosenquoten in der ersten Hälfte der 2000er Jahre vorgebracht wurden, besaßen hinsichtlich der strukturellen Defizite und der Herausforderungssituation zwei, drei Jahre zuvor auch schon Gültigkeit. Dadurch, dass sie erst mit einer zeitlichen Verzögerung diskursiv aktiviert wurden, verloren eben diese Argumente an Glaubwürdigkeit. Zweitens übertünchten die emphatisch betonten Chancen der Veränderung im Aufbruch-Diskurs vielfach die Herausforderungen, die dann wiederum im Modernisierungszwang-Diskurs 805 806 807
W. Streeck 1997 L. Leisering 2004 B. Hombach 1998
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betont wurden. Während die politisch kommunizierten Chancen des Aufbruch-Diskurses die bestehenden Wertideen des deutschen Wohlfahrtsstaats zu ergänzen schienen, wurden durch die Herausforderungen des Modernisierungszwangs die Wertideen selbst diskursiv herausgefordert. Die verspätete diskursive Betonung der Herausforderungen bewirkte jedoch, dass die Wahlbevölkerung und vor allem die Partei(basis) mit dem neuen öffentlichen Reformdiskurs relativ unvorbereitet konfrontiert wurden. Drittens verlangen beide Diskurse einen sehr unterschiedlichen Diskursstil. Während der Aufbruch-Diskurs die (auch generationelle) Überwindung alter, ‚verknöcherter’ Strukturen über die Inszenierung der Modernität herleiten und dabei weitgehend auf eine normative Diskursdimension verzichten konnte, musste der Modernisierungszwang-Diskurs seine Ernsthaftigkeit und Angemessenheit über die normative Neubestimmung von Wertideen diskursiv begründen. Mehr noch: Die stilistisch-kommunikative Modernisierung des einen Diskurses begrenzte, oder zumindest hemmte die Kommunikationsmöglichkeiten der normativen Dimension des anderen Diskurses. Denn Gerhard Schröders Diskursstil einer expressiven Modernität, die ‚gutes Regieren’ (‚Good Governance’) als allenfalls moderierende Prozessgestaltung einer im Prinzip alternativlosen historischen Entwicklung und Modernität als invariant kommunizierte (und dabei eine spezifische Form der Wirtschaftsnähe inszenierte), machte es nachfolgend schwer, sich bei der diskursiven Neubestimmung von Gerechtigkeitsnormen als legitimer Bewahrer sozialdemokratisch programmatischen Kernbestands darzustellen. Und vor allem viertens gründen beide Diskurse auf unterschiedlichen Modernisierungskonnotationen: Während der Aufbruchs-Diskurs Zukunft als eine positive und futuristische Vision kommunizierte, beschrieb der Modernisierungszwang-Diskurs Zukunft als eine ernste und den erreichten Lebensstandard gefährdende Herausforderung, die es zu bewältigen gelte und welche sich schließlich in dem fordernden und wenig hoffnungsfrohen Motto ‚Mut zur Veränderung’ verdichtete. Dadurch, dass beide Modernisierungsnarrative nur begrenzt ineinander auslegbar waren, fehlte dem Reformdiskurs zum Umbau der Sozialsysteme nachfolgend ein positiver Begriff als eine Art Herzstück der Reformanstrengungen. Das diskursive Spannungsverhältnis zwischen einer politisch-kulturellen Modernisierung bei gleichzeitiger Bewahrung der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und Strukturen einerseits (in der ersten Jahren) und einer notwendigen wirtschafts- und sozialpolitischen Modernisierung eben dieser Institutionen und Strukturen andererseits (ab spätestens 2000) hat seine Ursache darin, dass – wie im folgenden gezeigt werden soll – sich die SPD hinsichtlich der politischen und ideologischen Ausgangsbedingungen genau zwischen den britischen und schwedischen verortet war und sie sich programmatisch deshalb nie recht klar war, was zum einen die zentralen Reformherausforderungen waren und zum anderen in welche Richtung sie das Land modernisieren wollte. Diese Unklarheit führte zu einer spezifischen Desintegration zweier Modernisierungsnarrative, die wiederum die Fähigkeit der programmatischen Neuorientierung behinderten.
5.3.1 Der Interaktive Diskurs Kommunikative Diskursdimension Deutschland ist ein komplexes Politiksystem, in dem Policy-Veränderungen von einer Vielzahl von Vetospielern ausgehandelt werden und ein öffentlicher Reformdiskurs durch
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mehrere wichtige und konkurrierende Diskurs-Akteure gleichzeitig geführt wird808. Durch die starke, auch institutionalisierte Stellung unterschiedlicher Policy- bzw. Diskurs-Akteure (Ministerpräsidenten, öffentlich-rechtlicher Wohlfahrtsverbände, Tarifautonomie, Koalitionsparteien usw.) sind einerseits die politischen Kommunikationskanäle für kommunikative Reformdiskurse vielfältig und zwingen andererseits zu koordinierten Diskursen zwischen diesen Veto-Akteuren809. Obwohl die politischen Durchsetzungsressourcen des deutschen Bundeskanzlers im internationalen Vergleich somit sehr beschränkt sind, bietet das Amt – je nach persönlichem Regierungsstil und politischer Konstellation – durchaus beachtliche formelle und informelle kommunikative Machtressourcen. Die Kommunikationsressourcen des Bundeskanzlers ergeben sich weniger aus den tatsächlichen Machtspielräumen als vielmehr aus der zentralen Position im politischen System, an der die unterschiedlichen Konfliktlinien zusammenlaufen und aus dem Bundeskanzler eine Art Chef-Moderator oder Kompromissmanager machen810. Für den öffentlichen Reformdiskurs in Deutschland bedeutet dies zweierlei: Zur Durchsetzung eines Reformprogramms bedarf es in vielen Policy-Feldern erstens eines koordinierten Diskurses, der durch den Bundeskanzler – als primus inter pares – initiiert, überragt und zusammengehalten wird. Da dieser allerdings kaum Sanktionsmittel hat, bedeutet dies jedoch nicht, dass die Verhandlungen auch wirklich zu einem Ergebnis kommen. Durch seine exponierte Stellung kann der Bundeskanzler zweitens über den direkten kommunikativen Diskurs mit der Bevölkerung die unterschiedlichen Policy-Akteure des koordinierten Diskurses unter Druck zu setzen. Dieser Druck lässt sich aber nur dann aufbauen, wenn es gelingt, die öffentliche Meinung im eigenen Sinne nachhaltig zu beeinflussen. Wie nun die kommunikativen Machtressourcen des Bundeskanzlers eingesetzt werden, hängt wesentlich von der akteurspolitischen Konstellation ab. Helmut Kohl beispielsweise, dessen Position in der CDU unumstritten war, nutzte seine Kommunikationsressourcen, seine mediale (Selbst)Darstellung von Entscheidungskompetenz hauptsächlich für die reibungslose Prozessabwicklung von Politikvorhaben innerhalb des Regierungsapparats, der Fraktion und der Partei. In der Großen Koalition, einem Zweckbündnis ohne Vorgaben und Ziel, sicherte sich Angela Merkel ihre Machtposition, indem sie so gut wie keinen Diskurs führte. Da die gleichgroßen Koalitionsparteien nur kleine programmatische Schnittmengen hatten, sich macht- und diskurspolitisch neutralisierten und nicht über ein gemeinsames Projekt zusammengehalten wurden und Angela Merkel zudem innerhalb der CDU über keine klassische Hausmacht verfügte, führte sie keinen akzentuierten Diskurs, hielt sich aus inhaltlichen Kontroversen heraus, ließ eher die Minister streiten und inszenierte sich abwartend als konsensorientierte Vermittlerin und Moderatorin. Gerhard Schröder, dem die Partei als verlässliche Machtbasis nie zur Verfügung stand811, nutzte seine Kommunikationsressourcen, um diese fehlende innerparteiliche Macht zu kompensieren und die SPD, indem er sie entscheidungs- und darstellungspolitisch umging, vor vollendete Tatsachen zu stellen812. Gerade in einem komplexen Politiksystem, in dem sich koordinierte Policy-Diskurse zwischen mächtigen Akteuren blockieren 808
V.A. Schmidt 2002, 2005; C.M. Randelli/ V.A. Schmidt 2004 Vgl. Kap. 4.1.3: ‚Input-Filter: Das politische System- Deutschland’ 810 E. Schuett-Wetschky 2004 811 K.R. Korte 2007: 171 812 K.R. Korte 2004: 212 809
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und mitunter durch Spezialisierung und Interessenorientierung von der Öffentlichkeit entfremden können, bietet das Amt des Bundeskanzlers über direkte Ansprachen oder auch symbolische Maßnahmen mehrere diskursive Optionen, das Wählerpublikum für sich zu gewinnen. Gleichwohl steht der Bundeskanzler auch mehr als alle anderen Policy-Akteure im Fokus negativer öffentlicher Wahrnehmung, wenn sich Politikblockaden nicht auflösen lassen. Auch wenn der kommunikative Reformdiskurs in allen hier untersuchten Ländern (als modernen Mediendemokratien) notwendig als ‚Top-down’-Diskurs und maßgeblich durch den Regierungschef selbst geführt wurde und es in allen sozialdemokratischen Parteien ein gewisses Maß an Dissenz und diskursiver Abweichung gegeben hat, unterschied sich der deutsche sozialdemokratische Reformdiskurs in der ersten Hälfte der 2000er Jahren von diesen dadurch, dass die beiden zentralen sozialdemokratischen Diskurs-Akteure – die Partei als eigenständiger, aktiver oder widerspenstiger Diskursakteur und der sozialdemokratische Bundeskanzler – diskursanalytisch differenziert werden müssen. Während in Großbritannien Tony Blair- und New Labour-Diskurs sowie in Schweden Göran Perssonund SAP-Diskurs mit einer gewissen Berechtigung über weite Strecken als kohärent betrachtet werden konnten (ohne dabei quasi natürliche ideologische Spannungen auch in diesen Ländern/ Parteien zu übersehen), artikulierte sich der sozialdemokratische Reformdiskurs in Deutschland wesentlich in einem Spannungsfeld zwischen Bundeskanzler und zeitweiligen Parteivorsitzenden (sowie den Vertretern seiner Politik in der Partei) und der Parteilinken bzw. Parteibasis. Die Tatsache, dass der entschiedenste Widerstand gegen das zentrale Reformprojekt der zweiten Amtszeit Schröders, der ‚Agenda 2010’ nicht von der parlamentarischen Opposition kam, sondern aus der eigenen Partei, verdeutlicht, dass der deutsche sozialdemokratische Reformdiskurs (bis zum heutigen Tag) in einem diskursiven Spannungsverhältnis zwischen einem Modernisierungsdiskurs der Reformnotwendigkeit und einem Abwehrwehrdiskurs sozialdemokratischer Tradition, zwischen Parteibasis und führung gefangen war. Somit hatte der kommunikative Reformdiskurs von Bundeskanzler Schröder häufig eine zusätzliche Funktion: Im eigentlichen Sinne richtete er sich an die Wähler, um sie von der Notwendigkeit und Angemessenheit der Reformen zu überzeugen, darüber hinaus richtete er sich – teilweise über den Umweg der direkten Wähleransprache – an die eigene Partei, auf deren Unterstützung Schröder angewiesen war, um die Macht zu erhalten. Das bedeutete, dass im kommunikativen Diskurs die normative Diskusdimension unterschiedlich akzentuiert wurde: In die Partei hinein wurden – auch durch Schröder selbst – eher traditionelle Werte der Sozialdemokratie und der ‚Wandel durch Bewahrung’ hervorgehoben, in der Gesamtöffentlichkeit eher die Herausforderungen der Globalisierung, des Standortwettbewerbs und der ‚Wandel durch Erneuerung’. Obwohl beide normativen Diskursakzente in beiden Diskursarenen anzutreffen waren, litt der sozialdemokratische Diskurs insgesamt unter einer fehlenden Kohärenz, vor allem weil diese Verzahnung von einem nach innen gerichteten programmatischen Parteidiskurs und einem nach außen gerichteten Machterhaltungsdiskurs gleichermaßen eine ‚situationsbezogene Konkretisierung’813 der sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verlangten und in ihrer unterschiedlichen Neudefinition ebendieser Grundwerte zwangsläufig vielstimmig waren. 813
T. Meyer 2001a: 13
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Programmatischer Dualismus: Die halbherzige Modernisierung der SPD Die zeitliche Überlagerung zweier unterschiedlich akzentuierter Modernisierungsnarrative im deutschen sozialdemokratischen Reformdiskurs, die politische Konzeptlosigkeit der ersten Regierungsjahre und vor allem die ideologische Orientierungskrise und der innerparteiliche Widerstand gegen das Reformprogramm der ‚Agenda 2010’ resultierten wesentlich aus einer programmatischen Unbestimmtheit der SPD zum Zeitpunkt der Machtübernahme und den nachfolgenden Jahren in Regierungsverantwortung. Angesichts neuer Herausforderungen und grundsätzlich veränderter politischer Handlungsbedingungen in Zeiten der Globalisierung ließ sich aus dem ‚Berliner Programm’ von 1989, welches mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks in weiten Teilen bereits zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung überholt schien, kein zusammenhängender Politikentwurf mehr ableiten. Der Beschluss des Parteivorstandes der SPD, Ende 1999 ein neues Grundsatzprogramm auszuarbeiten (dessen Erarbeitung sich mit weiteren Unterbrechungen ganze acht Jahre hinzog) bedeutete, dass der Programm-Diskurs nun unter den StressBedingungen der Regierungs- bzw. Reformpolitik geführt werden musste. Der Reformdiskurs der sozialdemokratisch geführten Regierung musste sich somit – um seine eigene argumentative Kohärenz zu bewahren – häufig von dem parallel geführten Parteidiskurs distanzieren, was seine Überzeugungskraft gegenüber der Öffentlichkeit schmälerte. Inspiriert und angespornt von amerikanischen und britischen Erfolgen fing die SPD Ende der 1990er Jahre an, ihre Organisations- und Kommunikationsstrukturen zu modernisieren814. Während die Modernisierung der Parteistrukturen und der Parteizentrale vorerst noch begrenzt blieb, erregte die Modernisierung der Wahlkommunikation hingegen große mediale Aufmerksamkeit. Unter der Leitung des Bundesgeschäftsführers Franz Müntefering und seinem Büroleiter und Koordinator der Wahlkampagne Matthias Machnig richtete die SPD mit der ‚Kampa 98’ einen Steinwurf vom Erich-Ollenhauer-Haus entfernt eine erstaunlich moderne Wahlkampfzentrale ein. Die Ausgliederung der ‚Kampa 98’ aus der Parteizentrale war bereits Teil des Imagewechsels; das Großraumbüro, der ‚War Room’, die Experten und professionellen Dienstleister sowie neu angeheuerte junge Mitarbeiter kontrastierten das Image der alten ‚Funktionärs- und Ideologiepartei’. Die SPD setzte massiv amerikanische Wahlkampfmethoden ein (Demoskopie, zentrale Medienplanung, Koordination der werblichen Mittel und Wahlbotschaften, ‚Corporate Design’, Gegnerbeobachtung bis hin zur mediengerechten Inszenierung des Wahlparteitags in Leipzig im April 1998)815. Machnigs ‚Kampa 98’ repräsentierte ein Modernisierungsverständnis, das auf eine völlig neue, auf die Mediengesellschaft ausgerichtete Form der Kampagnenfähigkeit setzte und den „tradierten Ortsvereinssozialismus nur noch als beschäftigungstherapeutisches Randphänomen”816 zuließ. Die Beflissenheit, mit der die Medien mehr über die Wahlkampfzentrale bzw. kampagne selbst als über die politischen Inhalte berichteten, war Bestandteil der Kampagnenstrategie, und die in der Berichterstattung häufig betonte Parallelität zu den Kampagnen von Bill Clinton und Tony Blair war dabei durchaus erwünscht, weil man sich auf diese 814
Vorschläge, die SPD strukturell zu modernisieren und geschlossene Kommunikationszirkel zu öffnen, wurden freilich schon Anfang der 1990er Jahre unter dem Bundesgeschäftsführer Karlheinz Blessing (1991-1993) und der Projektgruppe „SPD 2000“ erarbeitet, die allerdings nicht weiter verfolgt wurden. 815 H. Thörmer/ E. Einemann 2007: 98; K. Kamps 2002: 84 816 R. Meng 2002: 126
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Weise an die Seite moderner und erfolgreicher Politik gestellt sah817. Denn die Wahlstrategen der SPD versuchten gezielt, auch Schröder als Gegenentwurf zu Amtsinhaber Kohl zu inszenieren: jung, dynamisch, unverbraucht818. Die Modernisierung der Kommunikationsorganisation zielte auf eine Profilierung durch Imagewandel: von einem rückwärtsgewandten ‚Betriebsrat der Nation’819 hin zu einer Partei, die Aufbruch und Zukunftsorientierung vermittelte. Mit der ‚Kampa 98’ war die SPD endgültig und erfolgreich in der individualisierten Mediendemokratie angekommen, in der die kommunikative Kompetenz vor allem darin besteht, selbst zum Medienakteur zu werden. Doch während die politische-strategische Erneuerung von New Democrats und New Labour ein Modernisierungsprozess sich wechselseitig bedingender politisch-kommunikativer, organisatorischer und inhaltlichprogrammatischer Modernisierungselemente war, blieb die ‚Kampa 98’, wie auch die Parteireform ‚Netzwerkpartei’ im Jahr 2000820 im wesentlichen auf die Modernisierung der Kommunikations- und einiger Organisationsinstrumente beschränkt. Die Modernisierung der Wahlkampfkommunikation hatte jedoch innerparteilich keine programmatische Diskursentsprechung; es handelte sich förmlich um eine ideologisch entkernte Modernisierung. Ein solch eindimensionaler Modernisierungsbegriff, der den Abschied vom Industriezeitalter allzu euphemistisch verkündete und Bedenken, Rückfragen und Selbstzweifel als schlicht unmodern abtat821, sollte sich für den späteren öffentlichen Reformdiskurs als problematisch erweisen, weil er für die eben aus dem Modernisierungsprozess selbst resultierenden neuen sozialen Fragen kein sozialdemokratisch normatives Begriffsystem mehr bereit stellte und im politischen Diskurs folglich keine spezifisch linke Identität artikulieren konnte. Eine grundlegende programmatische Neubestimmung fand in dieser Phase nicht statt. So notwendig die kommunikative Anpassung der Parteien an ein verändertes Wahlkampfumfeld auch ist, in welchem sich Parteibindungen enttraditionalisiert haben und Öffentlichkeit eine massenmedial hergestellte Öffentlichkeit ist, so ist die alleinige Professionalisierung der politischen Kommunikation, die gleichzeitig nicht oder nur kaum durch eine inhaltlich-programmatische Politikmodernisierung gestützt ist, für einen kohärenten Reformdiskurs mittel- und langfristig problematisch. Eine leere ‚Modernisierung’ auf symbolischer und medialer Ebene, die versucht ohne normgestützte Zweckbestimmung auszukommen, kann bei Wählern und Mitgliedern leicht auf ihre (tatsächlichen oder unterstellten) taktischen Aspekte reduziert werden, was wiederum zu Zynismus, Entfremdung und 817
A. Müller 1999: 39 E. Noelle-Neumann 1999: 33 819 F. Walter 2000 820 M. Machnig 1999, 2001a, 2001b 821 Als vielleicht besonders sinnbildlich für diese Modernisierung als de-politisierter Selbstzweck kann die Politik und der diese begleitende Diskurs des NRW-Ministerpräsidenten und späteren ‚Superministers’ Wolfgang Clement angeführt werden. Bereits 1998 schrieb DIE ZEIT: „Clement will Bedenkenträger, die er für ökonomisch unmodern hält, aus dem Tempel jagen”. Wolfgang Clement inszenierte sich als Manager des Politischen. In einer NRW-Verwaltungsreform sollten Behörden und Ämter "verschlankt" und zu "Dienstleistungszentren" umgebaut werden. Die Zusammenlegung des Innen- und Justizressorts musste jedoch wieder zurückgenommen werden, da – wie Richterverband und Anwaltskammern gleichermaßen kritisierten – die Judikative autonom bleiben müsse. Clements Modernisierungsprojekte hatten vor allem symbolischen Wert: Der wirtschaftlich äußerst fragwürdige Umzug der Staatskanzlei ins Düsseldorfer „Stadttor“ ("Symbol für die Moderne des Landes NRW" - Clement-), ein unkritisches Buhlen um Medienimperien (Bertelsmann, RTL, VOX und Köln als Medienstadt, der Subventions-Skandal um das Medienprojekt "High Definition Oberhausen") oder das Projekt Magnetschwebebahn Transrapid. Vgl. G. Hofmann 1998: 15; S. Husic 2003: 4 818
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Verdrossenheit gegenüber der Politik im allgemeinen und einem durchzusetzenden Reformprojekt im speziellen führt. Denn ein Politik- und Kommunikationsansatz, der nicht länger auf stabilen kollektiven Identitäten aufbaut, bringt zwangläufig einen Mangel an ‚Klarheit’ der politischen Positionen mit sich, und Politiker, die sich allein auf eine unbestimmte Wählermasse in der Mitte ausrichten, eröffnen Populisten die Möglichkeit, die ‚liegen gebliebenen’ kollektiven Identitäten politisch zu aktivieren822. Für eine Wahlkampagne hingegen kann ein ‚leerer’ Modernisierungsbegriff überaus hilfreich sein, da er eine optimale Projektionsfläche höchst unterschiedlicher Assoziationen und Vorstellungen bietet. Im Wahlkampf gelang es der SPD, aus der Not eine Tugend zu machen und eine fehlende programmatische Klarheit produktiv zu nutzen: Das Leitmotiv ‚Innovation und Gerechtigkeit’, das Tandem Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder und die Politik der ‚Neuen Mitte’, die traditionelle SPD-Wähler aus den Arbeiterschichten mit Teilen einer neuen Mittelschicht zusammenbrachte, erzeugte eine Synergie aus zwei ansonsten eher gegensätzlichen Politikdiskursen. Und schließlich wurde die Frage der sozialen Gerechtigkeit in den letzten Jahren der Kohl-Regierung in der Öffentlichkeit zu einem vorherrschenden und auch für potentielle Wechselwähler wahlentscheidenden Thema823; die SPD konnte das Thema zwar kommunikativ aufgreifen, doch die politische Ausgestaltung dieser Frage blieb offen. Die ‚Neue Mitte’ wurde im SPD-Wahlprogramm als „hochqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vorausschauende und engagierte Manager und Unternehmer, innovative und flexible Mittelständler, Handwerker und Freiberufler, mutige Existenzgründer, hervorragend ausgebildete InformatikerInnen, ÄrztInnen und IngenieurInnen, erfindungsreiche Techniker und Wissenschaftler“ charakterisiert. ‚Neue Mitte’ wurde zu einem Schlagwort, das Modernität und Nähe zum New Labour-Projekt suggerieren sollte, das allerdings kaum mehr als ein wahlstrategisches Instrument war. Vor allem, weil sich die ‚Neue Mitte’ empirisch nicht nachweisen ließ (sowohl was die traditionellen SPD-Milieus als auch die neubürgerliche Milieus betraf – ‚Leistungsindividualisten’ und ‚kritische Bildungseliten’824–), weil polarisierende Dynamiken innerhalb der Mitteschichten ignoriert wurden, weil der unbestreitbare technologische und soziokulturelle Wandel nicht nur gut verdienende Expertengruppen und Angestellte in den IT-Branchen, sondern auch ein neues Dienstleistungsproletariat und neue soziale Fragen hervorgebracht und schließlich weil es eben nicht gelang, die unterschiedliche Interessen in einem integrierenden Diskurs und ideologischen Konzept zusammenfassen. Ein spannungsreicher Dualismus von Programmatik und praktischer Politik ist in ihrer 140jährigen Geschichte von jeher ein wesentliches Charakteristikum der SPD gewesen825, welches im ‚Godesberger Programm’ 1959 erstmals aufgelöst wurde, und sich in den 1980er und 1990er Jahren allerdings wieder verschärfte. Es ist bemerkenswert, wie wenig die SPD die Oppositionszeit nutzte, um ihre Programmatik vor dem Hintergrund der politischen und sozialökonomischen Veränderungen neu zu bestimmen826. Dabei resultierte die programmatische Erstarrung nicht allein aus der innerparteilichen Stärke selbst ernann822
Vgl. C. Crouch 2008: 40f. U. Eith/ G. Mielke 2000 824 G. Neugebauer 2007. Vgl. auch M. Vester 2000 825 H. Potthof/ S. Miller 2002; F. Walter 2002 826 A. Gohr 2001 823
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ter Bewahrer sozialdemokratischer Traditionen, die in der Abkehr von bestimmten programmatischen Beständen sogleich die Aufgabe der Sozialdemokratischen selbst sahen827, sondern auch aus dem Desinteresse der Modernisierer und Pragmatiker am programmatischen Diskurs (im Gegensatz beispielsweise zu den Protagonisten des Wandels in der Labour Party, die offensiv eine programmatische Erneuerung vorantrieben), den sie „für ihre Arbeit bestenfalls als irrelevant, schlimmstenfalls als ein massives Hindernis betrachteten“828. So sehr sich der Dualismus im Wahlkampf 1998 noch als höchst produktiv und elektoral erfolgreich erwies, weil er gleichermaßen Stammwähler mobilisierte und Wechselwähler gewann, so deutlich wurde gleich nach der Regierungsübernahme auch, dass diese Wahl- und Kommunikationsstrategie tiefer liegende programmatische Friktionen innerhalb der Sozialdemokratie nur oberflächlich übertünchte, die dann umso heftiger aufbrachen (und bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nachwirken).
Zick-Zack-Diskurs Die programmatischen Widersprüche und Gegensätze zwischen Parteiwillen und Regierungssteuerung, die sich auch in der Konkurrenz zwischen dem SPD-Parteivorsitzenden und Finanzminister Oskar Lafontaine und dem Bundeskanzler Gerhard Schröder personifizierten, schienen sich mit dem Rücktritt Lafontaines (der Führungsfigur der Parteilinken) und der Übernahme des Parteivorsitzes durch Schröder im März 1999 aufzulösen. Mit der Klärung der Führungsfrage und dem Disziplinierungsdruck der Regierungsverantwortung bestand nun seit langem die Möglichkeit, einen normativ wie kognitiv kohärenten sozialdemokratischen Reformdiskurs zu führen, der gleichermaßen in die Partei hinein wie auch nach außen in die breite Wähleröffentlichkeit ausstrahlt. Die Möglichkeit, einen in sich geschlossenen kommunikativen Reformdiskurs zu führen, wird häufig durch vielschichtige Zwänge der politischen Alltagskommunikation, offener Verhandlungssituationen oder fehlender Durchsetzungsmacht beschränkt. In dieser Phase jedoch bot sich Schröder ein Zeitfenster (das sich durch den Spendenskandal der Union im Jahr 2000 und ein relativ günstiges ökonomisches Umfeld sogar noch weiter öffnete), einen programmatischen Diskurs zu führen, der seine Reformpolitik legitimieren und in einen größeren politischen Sinnzusammenhang hätte einfügen können. Doch Schröder führte diesen Diskurs nicht. Das berühmte Schröder-Blair-Papier, das im Juni 1999 wenige Wochen nach Lafontaines Rücktritt veröffentlicht wurde und das eine Art ‚Versuchsballon’ auch für die eigenen Reihen darstellte, war ein erster diskursiver Vorstoß, das sozialdemokratische Grundverständnis einer gerechten Gesellschaft einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Die Partei jedoch reagierte auf dieses Papier mit entschiedener Ablehnung. Vielmehr wurde das Strategie-Papier, das ohne vorherige innerparteiliche Diskussion und kommunikative Vorbereitung in die Öffentlichkeit quasi ‚geworfen’ wurde und die Partei völlig unvorbereitet traf, von weiten Teilen der Partei als Provokation aufgefasst. Doch nachdem diese kommunikativ ungeschickte Provokation nun einmal formuliert war, blieb ein nachhaltiger und lebendiger Diskurs zur Klärung des politischen Kurses, der sich aus einem solchen Vorstoß 827 828
Vgl. A. Gamble/ T. Wright 1999: 4 T. Meyer, Thomas 2007b: 54.
5.3 Deutschland
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hätte ergeben können, dennoch aus, da Schröder den einmal angestoßenen Diskurs abrupt wieder beendete. „Die wütende Empörung, die das Schröder-Blair-Papier hervorgerufen hatte, veranlasste Schröder, den Weg einer diskursbasierten Politik sofort wieder zu verlassen“829. Obwohl die negativen innerparteilichen Reaktionen auf die Form und den Inhalt des Papiers sowie die Art seines Zustandekommens bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar waren, schreckte Schröder gerade in dem Moment, in dem eine stringente und auch herausfordernde Diskurs-Führung nötig und möglich gewesen wäre, vor eben diesen Reaktionen zurück. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, wie Schröder in seinen Memoiren die Diskussion um das Schröder-Blair-Papier rückblickend selbst einschätzt. So schreibt er: „Das Papier enthielt in Ansätzen vieles von dem, was dann später in der ‚Agenda 2010’ erneut aufgegriffen werden sollte. Denn um genau diese Fragen ging und geht es auch bei deren Umsetzung. Die allseitige Entrüstung über Blairs und meinen Vorschlag verhinderte eine inhaltliche Debatte. Wieder einmal!, bin ich versucht zu sagen. Ich habe das Schöder-Blair-Papier erneut gelesen. Die Grundanalyse halte ich nach wie vor für richtig, auch wenn einige Instrumente noch nicht ausgereift waren“830.
Als der zentrale Diskursprotagonist (in seiner Funktion als Bundeskanzler und Parteivorsitzender) wäre es gerade seine Aufgabe gewesen, die im Papier formulierten Erkenntnisse, Grundannahmen und Ziele – auch gegen Widerstände – diskursiv zu verteidigen, und auf diese Weise der Partei einen Politikdiskurs, der sich aus ihr selbst ohne Anstoß nicht generieren konnte, aufzuzwingen. Der ‚Kommunikations-Unfall’831 des Schröder-Blair-Papiers motivierte zwar den SPD-Parteivorstand zum Ende des selben Jahres den oben erwähnten Auftrag zur Erstellung eines neuen Grundsatzprogramms zu erteilen, doch ein Programmdiskurs, der die Regierungspraxis in einen neuen programmatischen und begrifflichen Begründungszusammenhang einzubetten fähig gewesen wäre, kam in den nächsten Jahren nicht in Gang, geschweige denn, dass er dem Schröderischen Regierungsdiskurs eine gleichzeitig normgestützte wie wohlfahrtsstaatsmodernisierende Richtung gab und so in die Gesamtöffentlichkeit ausstrahlte. Stattdessen schwenkte Schröder auf einen kommunikativen öffentlichen Diskurs um, der nun eher traditionalistische Elemente betonte. Bei der ‚feindlichen’ Übernahme von Mannesmann durch Vodafone, vor allem bei der Insolvenz der Philipp Holzmann AG Ende 1999 führte Schröder einen ‚Bewahrungsdiskurs’, in dem es um die Verteidigung des deutschen Modells eines ‚Rheinischen Kapitalismus’ ging. Mit der Regierungs-Intervention bei Holzmann und nunmehr klassischer sozialdemokratischer Rhetorik übernahm Schröder den vakanten Lafontaine-Part des sozialdemokratischen Dualismus. Dieser diskursive Schwenk und die rein situative Erfolgsaura bescherte Schröder zwar große Zustimmung in der SPD, bedeutete aber zugleich, dass sein Modernisierungsdiskurs jegliche Kontur verlor. Schröders ohnehin ideologisch dünnes und relativ unbestimmtes Modernisierungsnarrativ war nun eines klaren inhaltlichen Kerns beraubt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ließ sich aus Schröders Modernisierungsbegriff kein politischer Kurs mehr ableiten, der die Partei, deren
829 830 831
T. Meyer 2007b: 54. G. Schröder2007: 276f. T. Meyer 2007a: 83.
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
unterschiedliche Strömungen und Akteure und nicht zuletzt die Öffentlichkeit hätte überzeugen können. Der nachlassende Problemdruck in den Jahren 2000-2001 führte zudem dazu, dass die Regierung ihre Reformtätigkeit abschwächte, anstatt die günstige Gelegenheit zu nutzen und kurzfristig unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen832. Bis zum Beginn des Diskurses um die ‚Agenda 2010’ wurde kein kommunikativer Reformdiskurs mehr geführt. Obwohl sich bereits im Jahr 2002 die makroökonomischen Rahmendaten schon wieder erheblich verschlechterten, die Arbeitslosigkeit wieder über die 4-Millionengrenze stieg und die rot-grüne Bilanz wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Reformen mager war, konnte sich Rot-Grün äußerst knapp in eine zweite Amtszeit retten833. Im Wahlkampf spielte – neben der Flutkatastrophe und einem möglichen Irak-Krieg – ein, diesmal allerdings defensiv formulierter modernisierender ‚Aufbruch’-Diskurs nochmals eine wichtige Rolle. Im Zuge eines immer offensichtlicher werdenden Lager-Wahlkampfs wurde von Rot-Grün die politisch-kulturelle Differenz zu dem konservativ-liberalen Lager hervorgehoben und die Gefahr eines ‚Roll-back’ vor allem in der Umwelt- und Gesellschaftspolitik betont. RotGrün stand für das neue weltoffene, europäische, kultivierte, sympathische Deutschland. Der Lagerwahlkampf 2002, der in einer gemeinsamen Veranstaltung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer vor dem Brandenburger Tor in Berlin mündete, konnte zwar die enttäuschten SPD- und Grünen-Wähler mobilisieren, die eine Regierung Edmund Stoiber verhindern wollten, aktivierte dabei wahltaktisch aber einen politisch-kulturellen Reformdiskurs, der sich eigentlich schon in der zweiten Hälfte der ersten Regierung Schröder politisch überlebt hatte. Die Sozialdemokraten (sich auf Rot-Grün festlegend) fokussierten ihre Wahlkampfkommunikation nochmals relativ erfolgreich auf die sozio-kulturelle Konfliktdimension, obwohl angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich war, dass die sozio-ökonomische Spaltungslinie in den kommenden Jahren und besonders für ihre eigenen Parteimitglieder und Anhänger eine weit größere politische Relevanz besaß. Kurzum: Am Vorabend der ‚Agenda 2010’ gab es keinen kohärenten sozialdemokratischen Reformdiskurs. Es gab verschiedene Diskursimpulse, sich teilweise widersprechende diskursive Versatzstücke und symbolische Inszenierungen, isolierte Policy-Reformen (z. B. die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung 2000-2001) und auch medial kommunizierte Problemlösungsansätze (z. B. ‚Bündnis für Arbeit’, ‚Hartz-Kommission’), unterschiedliche Modernisierungsnarrative, die Zukunftsherausforderungen und -chancen sehr unterschiedlich gewichteten. Einen in sich geschlossenen sozialdemokratischen Reformdiskurs allerdings, der eine Brücke von einer angemessenen Beschreibung der globalökonomischen Herausforderungssituation hin zu einer gleichermaßen problemlösungsorientierten und sozialdemokratisch normgestützten Reformpolitik hätte schlagen können, gab es nicht. Ebenso wenig waren die Spannungen des sozialdemokratischen ProgrammPraxis-Dualismus gelöst.
832
C. Egle/ T. Ostheim/ R. Zohlnhöfer 2003: 18f. Die Mandatsmehrheit der Regierungskoalition war sehr dünn. Hatte die rot-grüne Regierung 1998 noch 21 Mandate Vorsprung vor den Oppositionsparteien, lag sie 2002 nur noch mit neun Stimmen vorn. Das bedeutete, dass schon fünf Gegenstimmen aus der Koalition genügten, um der Regierung die Mehrheit im Bundestag zu verweigern.
833
5.3 Deutschland
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‚Agenda 2010’: Der nachgereichte Reformdiskurs Vor dem Hintergrund stagnierender Wirtschaftsdaten, verfestigter Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau, unzureichender Steuereinnahmen und explodierender Sozialausgaben, schien Anfang 2003 ein Paradigmenwechsel in der Regierungspolitik unvermeidlich. In seiner Regierungserklärung mit dem Titel ‚Mut zum Frieden und zur Veränderung’ am 14. März leitete Gerhard Schröder eine Phase tiefgreifender Reformpolitiken ein – und um den Begriff ‚Agenda 2010’ herum eine neue Phase eines öffentlichen Reformdiskurses. Die ‚Agenda 2010’ beinhaltete einen Katalog verschiedener Maßnahmen: von Arbeitsmarkt- und Sozialreformen (Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln für die Arbeitsaufnahme, Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, Förderung von Zeit- und Leiharbeit sowie Mini-Jobs, Herausnahme des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung der Krankenkassen) über das Vorziehen der Steuerreform (weitreichende Steuersenkungen einschließlich der Spitzensteuersätze) bis hin zur Liberalisierung der Handwerksordnung. Die politischen Maßnahmen der ‚Agenda 2010’ können hier nicht im Einzelnen betrachtet und diskutiert werden834, für die diskursanalytische Betrachtung reicht die Tatsache, dass sie in weiten Teilen eine Abkehr von bis dahin gültigen sozialdemokratischen Grundanschauungen (vor allem die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Einschnitte) bedeuteten und daher sofort energischen Widerspruch innerhalb der SPD und der Gewerkschaften erregten. Für den deutschen kommunikativen Reformdiskurs im Zuge der ‚Agenda 2010’ müssen folgende Eigenschaften hervorgehoben werden: Erstens: Die Reform-‚Agenda 2010’ wurde unter erheblichem und scheinbar abgestimmtem Druck von Seiten eines breiten Spektrums führender liberaler Printmedien835 und einer Gruppe von Alpha-Journalisten836 erarbeitet, die einen eigenständigen öffentlichen Diskurs vorantrieben, in dem der historische soziale Kompromiss der Nachkriegszeit in Zweifel gezogen, ‚veraltete Besitzstände’ als Ursache für Deutschlands wirtschaftliche Schwäche beschrieben und der „Abbau des Wohlfahrtsstaats längst unter den Orwell’schen Begriffen ‚Umbau’ und ‚Modernisierung’ thematisiert“837 wurde. Wirtschafts- und sozialpolitische Problembeschreibungen, -analysen und -lösungsansätze kursierten en masse im öffentlichen Raum. Die neoliberale Stoßrichtung dieser veröffentlichten Meinung gipfelte in Arnulf Barings Polemik in der FAZ, die mit dem Titel „Bürger auf die Barrikaden! Deutschland auf den Weg zu einer westlichen DDR“838 überschrieben war. Im diskursiven Kontext dieser eigenwilligen und sich gegenseitig befeuernden medialen Reform-Agenda war Schröders kommunikativer Reformdiskurs, wie er durch die Regierungserklärung in Gang gesetzt wurde, letztlich ein gehetzter Diskurs. Die rot-grüne Regierung reagierte auf den Reformdiskursiven Überdruck, der sich nach Jahren der politischen und auch diskursiven Stagnation aufgebaut hatte, und der Bundeskanzler versuchte, die noch aus der ersten Amtszeit stammende Metapher von der ‚ruhigen Hand’ zu überwinden und wieder politische und kommunikative Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Das Problem eines gehetzten und reagierenden Reformdiskurses ist jedoch, dass es ihm aufgrund des 834
Bundesregierung 2003; W. Jann/ G. Schmid 2004; H. Schierholz 2005 T. Meyer 2007b.Vgl. auch die – allerdings einen späteren Untersuchungszeitraum betreffende – Studie U. Müller/ H. Klein 2006 836 S. Weichert/ C. Zabel 2007 837 A. Heise 2003 838 A. Baring 2002: 33 835
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Außendrucks kaum gelingen kann, eigene Reformbegriffe und -ideen zu formulieren und exklusiv zu besetzten oder eine Zielvision jenseits der reinen Problemlösung zu entwickeln; man besitzt nur teilweise die Diskurs-Hoheit über den eigenen Diskurs. Zweitens: Die ‚Agenda 2010’-Reformen bzw. -Rede wurde in einem kleinen Kreis weniger führender Akteure (Bundeskanzleramt, Willy-Brandt-Haus und einiger Ministerien) vorbereitet, in dem das Bundeskanzleramt als zentrale ‚Regie-Institution’ die inhaltliche und prozessuale Aufsicht behielt839. Es gab im Vorfeld keine offene Debatte über das Reformprogramm, da Schröder befürchtete, dass eine solche das Reformprojekt zerreden und so insgesamt gefährden würde. Ebenso wie beim Schröder-Blair-Papier wurde die SPD von Gerhard Schröders diskursivem Vorstoß zur ‚Agenda 2010’ völlig überrascht. Nicht nur, dass dieser ‚überfallartige’ Vorstoß sinnbildlich für Schröders eher machtinstrumentelles Verständnis gegenüber seiner eigenen Partei stand, er kehrte auch die zeitliche Abfolge von Reformdiskurs und Reformpolitik komplett um. Während anderswo die Neuinterpretation sozialdemokratischer Kernbegriffe und Leitvorstellungen, die zuvor in einem nach innen- und nach außen-gerichteten programmarischen Parteidiskurs erarbeitet wurde, in eine entsprechende Reformpolitik mündete, wurde in Deutschland umgekehrt der legitimierende Diskurs zur einer bereits veränderten Regierungspolitik nachgereicht. Das Besondere des deutschen sozialdemokratischen Reformdiskurses war also, dass der Diskurs Begriffe, Normen und Ideen nachträglich zu modifizierten versuchte, die im Zuge der ‚Agenda 2010’-Politik längst modifiziert worden waren. Durch diese umgekehrte Abfolge der einzelnen Diskursschritte beim gleichzeitigen Druck der Regierungsverantwortung (die Schröder zudem durch Rücktrittsdrohungen betonte), blieb der Partei kaum anderes übrig, als die Veränderungen ihres ideologischen Kernbestandes abzusegnen. Vor dem Hintergrund gewachsener Diskussionsstrukturen in der SPD, die von ihrer ganzen Geschichte her eine mit sich ringende Programmpartei ist, musste Schröders Alleingang, das sozialdemokratische Wirtschafts- und Sozialverständnis zu verändern, zwangsläufig innerparteilichen Widerstand erregen. Doch selbst dieser nachgereichte kommunikative Diskurs wurde Gerhard Schröder erst durch die Partei abgerungen. Erst nachdem sich der Widerstand (bis hin zu einem, letztlich nicht erfolgreichen Mitgliederbegehren) in der Partei nachdrücklich und öffentlichwirksam formiert hatte, stimmte Schröder einem Sonderparteitag am 1. Juni 2003 zu, auf dem der Reformkurs nach durchaus kontroverser Diskussion mehr oder minder widerstrebend, jedoch mit großer Mehrheit gebilligt wurde. Gleichwohl brach der innerparteilich reformkritische Diskurs dadurch nicht ab. Denn die inhaltlich-normative, also orientierungstiftende Dimension des Parteidiskurses wurde gerade durch seine Nachreichung entscheidend begrenzt: Zum einen durch die ‚There is no alternative’-Argumentation, die gemessen an der offensichtlichen Notwendigkeit einer Wohlfahrtstaatsreform durchaus sinn- und gehaltvoll war, jedoch dadurch, dass sie eine, bereits in ein Policy-Programm gegossene neue Gerechtigkeitsbegrifflichkeit nur bestätigen sollte, kaum mehr Raum für eine reflexive und auch selbstbewusste programmatische Neubestimmung ließ. Zum anderen durch die Machterhaltungs-Argumentation. Schröder selbst erklärte die Durchsetzung ‚Agenda 2010’ zum Testfall für die Regierungsfähigkeit der Partei840. Das Prinzip ‚Machterhalt gegen Loyalität’ konnte zwar die Partei zur Zustimmung zwingen, aber kaum überzeugen. 839 840
A. Gumny 2006: 61 G. Schröder 2003a:
5.3 Deutschland
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Ein kommunikativer Reformdiskurs, der sowohl auf die Partei als auch auf die Gesamtöffentlichkeit gerichtet war, wurde durch die Partei- und Regierungsspitze also erst als Reaktion auf die Kritik gegen ‚Agenda 2010’ geführt. Doch auch dieser nachgereichte Diskurs kennzeichnet sich durch kommunikationspolitische Inkohärenz. Erstens weil sich führende Sozialdemokraten (u. a. Ministerpräsidenten) immer wieder öffentlich von der Reformpolitik der Regierung distanzierten. Zweitens, weil es nicht gelang, den grundsätzlichen Hauptdiskurs (Reformnotwendigkeit, ein der Problematik angemessenes und wirksames Policy-Programm und eine reformpolitische Zukunftsvision) mit seinen sektoralen Subdiskursen zu verweben. So wurde zwar das Argument eines ‚sozialpolitischen Schwerpunktwechsels’ angeführt, doch ein entsprechender Bildungsreformdiskurs (der im deutschen Föderalismus ohnehin schwer zu führen ist) beispielsweise fehlte. Ein Jahr nach den heftigen Auseinandersetzungen um Gerechtigkeit und Teilhabe wurde 2004 zwar zum bildungspolitischen ‚Jahr der Innovationen’ ausgerufen841; es muss allerdings zweifelhaft erscheinen, ob eine die Öffentlichkeit bestimmende Debatte über deutsche Eliteuniversitäten und Exzellenz-Initiativen (auch wenn sie nur einen Teil der gesamten Bildungsprogrammatik darstellten842), der verunsicherten sozialdemokratischen Identität neue ideologische Sicherheit vermitteln konnte. Drittens, weil Bundeskanzler Schröder als überparteiliche Institution zu agieren versuchte und auf eine Reformnotwendigkeit verwies, die alle Parteien zu einer rein sachorientierten und neutralen, letztlich aber entpolitisierten Reformpolitik zusammenbringen sollte. Dies brachte nicht den erhofften ‚Burgfrieden’ mit den Oppositionsparteien, verunsicherte aber zusätzlich die grundwerteorientierte politische Identität des eigenen Lagers. Schröders kommunikativer Vorstoß ‚Erst das Land, dann die Partei’ schwächte den eigenen Reformdiskurs zudem dadurch, dass er die Interessen der gesellschaftlich Schwächeren, die traditionell von der Sozialdemokratie wahrgenommen und artikuliert wurden, als nicht (oder nicht mehr) legitime Partikularinteressen kommunizierte. Parteien in einer Demokratie sind Ausdruck historisch gewachsener Interessenvertretungen und eine – dem eigenen Verständnis entsprechend – linke Partei kennzeichnet sich folglich durch ein anderes Verständnis von Gemeinwohl und damit auch von Gesellschaft ganzer als eine rechte Partei. Wird dieser Unterschied in einem öffentlichen Diskurs ignoriert, ist die Partei ihres identitären Kerns beraubt. Viertens – am wichtigsten wohl – weil diejenigen sozialdemokratischen Akteure, die den kommunikativen Diskurs vorantrieben bzw. ihn durch neue Werteorientierung zu untermauern versuchten, unkoordiniert und teilweise isoliert agierten und vor allem in kritischen Momenten von dem entscheidenden Diskursprotagonisten Schröder nicht die nötige Rückendeckung erhielten. Thomas Meyer führt hierfür als prominentes Beispiel die Versuche des SPDGeneralsekretärs Olaf Scholz an, dem innerparteilichen und öffentlichen Diskurs durch die kritische Hinterfragung traditioneller Begrifflichkeiten eine neue, der Reform-Politik entsprechende normative Ausrichtung zu geben. Nicht zuletzt auch in seiner Funktion als Koordinator der Programmarbeit war Scholz bestrebt, die sozialdemokratischen Grundwerte an die neuen Herausforderungen der Zeit anzupassen. Um den kommunikativen Diskurs anzustoßen und somit die im Zuge der ‚Agenda 2010’-Politik immer problematischer wer841
C. Egle/ R. Zohlnhöfer 2007: 16 F. Wolf/ C. Henkes 2007. Auch dem Bildungsdiskurs fehlte eine klare programmatische Zielrichtung, der Modernisierungsbegriff war auch hier ideologisch entkernt. Hermann Glaser schrieb in der FAZ: „Da ist eine Bildungs- und Forschungsministerin, die ‚Schulen ans Netz“ propagiert und dabei Mittel und Ziele verwechselt; ‚Schulen an Ideen“ hätte das Motto sein müssen“. H. Glaser 2004
842
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
dende Lücke zwischen Programm und Praxis zu schließen, reflektierte er öffentlichwirksam über allzu statische ‚Gerechtigkeitskonzeptionen’843 oder die nur noch ‚geringe Aussagekraft’ des Begriffs des ‚demokratischen Sozialismus’844. Auch wenn diese Vorstöße kommunikationspolitisch zum Teil auch ungeschickte Provokationen der ohnehin schon programmatisch verunsicherten Partei darstellten, so wiesen sie doch den Weg eines ideengestützen Diskurses, der der Reformnotwendigkeit der ‚Agenda 2010’ angemessen und Policyentsprechend gewesen wäre. Entscheidend ist, dass Bundeskanzler Schröder weder Scholz’ Bemühungen in dieser Hinsicht unterstützte, noch seine Argumentation in seinen öffentlichen Reden übernahm845. Da Schröder diesen entscheidenden kommunikativen Diskurs seinem Generalsekretär überließ und als der zentrale Diskursprotagonist den Reformdiskurs in entscheidenden Momenten nicht führte, gab es in der deutschen Sozialdemokratie gleich mehrere Reformdiskurse unterschiedlicher Geschwindigkeit und unterschiedlicher normativer Begründungen, so dass Scholz’ diskursive Ansätze notwendig verpuffen mussten. Der nachgereichte Reformdiskurs konnte den Vorwurf nicht entkräften, dass die ‚Agenda 2010’ Kernbestände Sozialer Demokratie abbaue; auch weil sich in einem nachgereichten, verspäteten Reformdiskurs die verschiedenen Phasen des nach innen wie nach außen gerichteten Diskurses überlagerten und so den persuasiven Kommunikationsdruck der Akteure in spezifischer Weise verstärkten. Die Zusammendrängung der Phasen des deutschen sozialdemokratischen Reformdiskurses war es gerade, die eine Ausgestaltung der normativen und kognitiven Diskursdimension behinderte. Auf die starken Mitgliederverluste, einer tiefen Entfremdung von den Gewerkschaften und die öffentlichen Proteste reagierte Gerhard Schröder, indem er den Parteivorsitz im Februar 2004 an Franz Müntefering abgab. Hinter diesem Schritt stand die Hoffnung, über die Person Münteferings – einem traditionellen Sozialdemokraten und bodenständigen Westfalen – den Modernisierungsdiskurs in der Tradition wieder zu verankern. Was Müntefering in bei Parteibasis glaubwürdig machte, war die Tatsache, dass mit er sich bei der begonnenen Reformpolitik ‚sichtlich quälte’. Gerade diese ‚Verkörperung des sozialen Anspruchs’846 schien den kalten, technokratischen Reformdiskurs Schröders und der Modernisierer zu kompensieren. Es ging bei dem Wechsel im Parteivorsitz offensichtlich darum, dass Selbstbewusstsein der Partei über eine ‚sanfte’ Konfrontation zur RegierungSchröder zu befriedigen. Diskurspolitisch war dieser Schritt allerdings problematisch, da er die Kluft zwischen Partei und Regierung, zwischen Programmatik und Alltagspraxis wieder vergrößerte. Denn entweder war die Reformpolitik der ‚Agenda 2010’ richtig, dann musste der, diese Politik legitimierende Diskurs durchgehalten werden; oder sie war – gemessen an den sozialdemokratischen Grundwerten – falsch, dann wäre allerdings die rot-grüne Regierung insgesamt diskreditiert. Dieses Diskurs-Dilemma zeigte sich im April 2005 in Münteferings kapitalismuskritischen Vorwurf, manche ‚Private-Equity’-Gesellschaften, besonders ‚Hedge-Fonds’ seien mit ihren kurzfristigen oder überzogenen Renditeerwartungen wie ‚Heuschreckenplagen’847, die sich für langfristige soziale Kosten nicht interessierten und das Gleichgewicht der sozialen Marktwirtschaft empfindlich stören würden. Diese Position sprach den meisten 843
Zum Beispiel O. Scholz 2003a, 2000b Zitiert in G. Bannas 2003 845 T. Meyer 2007b 846 R. Meng 2004 847 F. Müntefering 2005a. Vgl. auch F. Müntefering 2005b 844
5.3 Deutschland
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SPD-Mitgliedern und -Sympathisanten zwar aus dem Herzen (und dies war – einen Monat vor der für die Sozialdemokraten wichtigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen – auch die wahltaktische Intention), konstruierte aber zugleich eine weitere kommunikative Diskurslinie. Während der Schröder’sche Reformdiskurs die Reformen über die unausweichliche Ausdehnung und Betonung von Marktprinzipien und über die Unhintergehbarkeit der globalen Integration der Finanzmärkte (die in Deutschland nicht zuletzt durch eine rotgrüne Steuerreform sowie die Förderung der kapitalgestützten Altersvorsorge vorangetrieben wurde) positiv zu kommunizieren versuchte, betonte hingegen der Müntefering’sche Diskurs negativ das gesellschaftlich Zerstörerische eben dieser unbeschränkten Vermarktlichung848. Auf das inhaltlich-begriffliche Spannungsverhältnis dieser beiden Diskurse wird unten bei der Betrachtung der normativen Diskursdimension nochmals zurückzukommen sein; an dieser Stelle ist für die Betrachtung öffentlicher Reformdiskurse entscheidend, dass der kommunikative sozialdemokratische Diskurs einen weiteren Schwenk machte, was weder zur Orientierung der Parteimitglieder, noch zur Richtungsbestimmung der Regierungspartei und erst recht nicht zur Legitimation und Glaubwürdigkeit sozialdemokratischer Politik beitrug849. Auch wurde die diskursive Chance, die sich aus Münteferings Vorstoß ergab, die eigene Reformpolitik auch gerade vor dem Hintergrund eines globalen finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zu kommunizieren, sozialdemokratische Grundwerte und Politikgestaltungsansprüche unter den Bedingungen entgrenzter Märkte zu betonen und die Reformnotwendigkeit und -Policies in einen größeren politischen Zusammenhang zu stellen, nicht genutzt. Stattdessen wurden die Reformen weitgehend ohne Abstriche und ohne neue kognitive und normative Begründungen durchgesetzt. „Offenbar sollte die Standhaftigkeit, mit der an ihnen auch gegen die Widerstände festgehalten wurde, die Wähler überzeugen. Der politische Diskurs dagegen blieb überwiegend traditionell sozialdemokratisch, sodass insgesamt das Bild einer Reformpolitik mit schlechtem Gewissen dominierte“850. Der kommunikative Reformdiskurs der zweiten Regierung Schröder endete schließlich in einem weiteren überraschenden Kommunikationscoup: Die Ankündigung von Bundeskanzler Schröder und SPD-Chef Müntefering am Wahlabend der verlorenen Landtagswahl von Nordrhein-Westfalen, dem so genannten ‚Stammland der Sozialdemokratie’, vorgezogene Neuwahlen für den Herbst 2005 anzustreben. Auch dieser kommunikative Vorstoß wurde in einem sehr kleinen Kreis wichtiger Akteure erdacht und wiederum überfallartig vollzogen. Nicht nur die Öffentlichkeit und die Oppositionsparteien, sondern auch die SPD selbst sowie die meisten ihrer Führungspersönlichkeiten wurden von dieser Ankündigung überrascht. Dieser Kommunikationscoup hatte eher machtstrategische Gründe, da die Begründung das ‚strukturelle Patt zwischen Bundestag und Bundesrat’ überwinden zu wollen (Müntefe-
848
Problematisch war zudem, dass der Parteivorsitzende Müntefering den von ihm angestoßenen Diskurs programmatisch nicht weiter führte und wohl auch nicht weiter führen wollte. Der Verweis auf die demokratienormative wie wirtschafts- und sozialpolitische Problematik entgrenzter Märkte, die sich dem Zugriff der Politik entziehen, hätte logischerweise eine Diskussion über eine Re-Regulierung von Märkten nach sich ziehen müssen. Dass diese Diskussion nicht folgte, charakterisierte das Dilemma eines ideologisch entwurzelten sozialdemokratischen Diskurses. 849 T. Meyer 2007a: 91 850 R. Zohlnhöfer 2007: 145f.
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ring), ‚seltsam unglaubwürdig’ wirkte851, angesichts von elf zum Teil dramatisch verlorener Landtagswahlen seit 2002 und der Tatsache, dass auch eine gewonnene NRW-Wahl die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nicht verändert hätte. Und so sollte wohl erstens die Union, die sowohl programmatisch als auch personell noch recht unbestimmt war, durch einen früheren Wahltermin unter (Zeit)Druck gesetzt und somit in ihrer Kampagnefähigkeit behindert werden. Zweitens sollte eine vorgezogene Bundestagswahl dem Zusammenschluss von PDS und WASG (Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit) zuvorkommen und eine gesamtdeutsche Konkurrenzpartei links von der SPD verhindern. Und drittens sollten die zentrifugalen Kräfte, die aufgrund der ‚Agenda 2010’-Reformpolitik auf die eigene Partei wirkten, durch den Mobilisierungs- und Disziplinierungsdruck eines Wahlkampfes abgeschwächt werden. Die Strategie der Neuwahlen war zumindest partiell erfolgreich und die SPD konnte sich – nicht zuletzt aufgrund der überraschenden Schwäche der CDU/CSU – nach den Wahlen 2005 in die große Koalition retten; die Entstehung einer weiteren linken Partei konnte sie jedoch ebenso wenig verhindern wie die innerparteilichen politisch-programmatischen Spannungen entschärfen852. Gerhard Schröder begründete die politische ‚Flucht nach vorn’ in seiner öffentlichen Erklärung an jenem 22. Mai mit den Worten: „Für die aus meiner Sicht notwendige Fortführung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen gerade jetzt für erforderlich“853. Dieser kommunikative Verstoß, sich gleichsam eine plebiszitäre Legitimierung für die ‚Agenda 2010’ zu beschaffen854, verwies auf ein vermeintliches Interesse der Mehrheit der Bevölkerung sowie auf das allgemeine Interesse Deutschlands. Dieser Verweis auf ein ‚allgemeines Interesse’ konstruierte einerseits eine neutrale Herausforderung jenseits ‚natürlicher’ Interessenantagonismen und baute andererseits auf die charismatische Führungspersönlichkeit Schröders selbst, die Mehrheiten zu mobilisieren imstande sei. Der Versuch eines legitimierenden Reformdiskurses brach an dieser Stelle jedoch ab. Der Wahlkampf und die damit einher gehende Dominanz medialer Vermittlungsregeln entsprach Gerhard Schröders Medienkompetenz und übertünchte vorerst den Verlust einer grundwerteorientierten sozialdemokratischen Identität. Die Reformen waren politisch durchgesetzt, der Reformdiskurs jedoch weitgehend gescheitert. Die hektische und rein funktionale Nachreichung des Diskurses führte zu einer diskursiven Vernachlässigung der gesellschaftspolitischen Wertedimension und zum Verlust kulturkritischer Reflexion, zur Entpolitisierung sozialökonomischer Interessen und zur Überbetonung der Sachzwänge, so dass sich die SPD am Ende der Regierung Schröder weitgehend ideologisch-programmatisch entkernt wiederfand und ihren Ort im politischen Koordinatensystem verloren zu haben schien. Durch die Neuwahlen blieben Reformen in der SPD diskursiv unreflektiert und die ‚Agenda 2010’ wurde in den nachfolgenden Jahren zum konfliktorischen Bezugspunkt der politischen wie programmatischen Auseinandersetzung sowie des öffentlichen Diskurses: Debatten über Politikprogramme wurden vielfach von der rückwärtsgewandten Frage überlagert, wie das ‚Agenda 2010’-Erbe zu bewerten
851
T. Schubert 2006: 69 Vgl. B. Kornelius/ D. Roth 2007; F. Brettschneider 2005; H. Schoen/ J. Falter 2005; T. Bosch 2006 853 Zitiert in M.F. Feldkamp 2006: 20f. 854 R. Zohlnhöfer/ C. Egle 2007: 19 852
5.3 Deutschland
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und damit umzugehen sei und in welchem Verhältnis die unterschiedlichen politischen Akteure zu diesem Erbe stehen.
5.3.2 Koordinierte Diskursdimension Wie bereits bemerkt wurde, ist Deutschland – der kategorialen Unterscheidung Vivien A. Schmidts entsprechend – ein komplexes Politiksystem, das sich durch eine hohe Anzahl institutioneller Akteure kennzeichnet, die die Handlungsmacht der Regierung beschränken und für eine komplizierte Aushandlungskonstellation sorgen. Aus diesem Grund ist häufig ein koordinierter Reformdiskurs zwischen unterschiedlichen Policy-Akteuren vonnöten, da die Machtbeschränkungen der Regierung eine konsensorientierte Einbindung mächtiger Policy-Akteure zur Politikdurchsetzung voraussetzen. Dieser koordinierte Diskurs findet jedoch in unterschiedlichen, genau zu unterscheidenden Diskursarenen statt: Zum einen in semi-institutionalisierten oder informellen Diskursarenen, in der Policy-Akteure, Experten und organisierte Interessen Reform-Policies erarbeiten und vorschlagen, aber politisch nicht durchsetzten (Kommissionen, ‚runde Tische’ usw.). Zum anderen in institutionalisierten Diskursarenen, in denen sich Akteure mit effektiver Durchsetzungs- bzw. Blockademacht gegenüberstehen und in der die tatsächlichen Reformgesetze ausgehandelt werden (Koalitions-, Vermittlungsausschüsse usw.). Beide Diskursarenen sind auf vielfältige Weise verschränkt. Die informellen Diskursarenen versuchen die institutionalisierten hinsichtlich inhaltlicher und personeller Spannungsfelder widerzuspiegeln, um mögliche Konflikte zu antizipieren und Policy-Lösungen zu erarbeiten, die in den institutionalisierten Diskursarenen eine reale Chance auf Zustimmung haben. Ferner sind die Diskussionsgrundlagen der institutionalisierten Diskursarena vielfach Reformvorschläge, die zuvor in der informellen arbeitet wurden und meist in der Öffentlichkeit bereits diskutiert werden. Und schließlich kann die etwaige öffentliche Legitimität überparteilicher Expertenrunden dazu dienen, die Akteure der institutionalisierten Diskursarena gezielt unter Druck zu setzen und so erstarrte Machtblockaden aufzubrechen. Mitunter werden solche semi-institutionellen Expertenrunden gezielt mit eben dieser Absicht installiert, den eigenen Handlungsspielraum in der institutionalisierten Diskursarena diskurspolitisch zu vergrößern. Wie sich koordinierte Reformdiskurse in den beiden Diskursarenen ausgestalten, welches jeweilige kommunikationspolitische Gewicht sie erlangen und wie sie interagieren, hängt von einer Vielzahl inhaltlicher und zeitgeschichtlicher, akteurs- und medienpolitischer Faktoren und nicht zuletzt vom Regierungs- und Kommunikationsstil des Bundeskanzlers ab. Gerhard Schröders koordinierter Reformdiskurs kennzeichnet sich wesentlich dadurch, dass er das Fehlen eines stringenten und inhaltlich kohärenten kommunikativen Reformdiskurses teilweise zu kompensieren strebte. Die überparteiliche Erarbeitung von PolicyProgrammen mittels ‚Runder Tische’, Räte und Kommissionen855 gehörte zu den regelrechten Markenzeichen des Schröder’schen Regierungsstils. Die besondere Bedeutung des koordinierten Reformdiskurses in vorpolitischen und semi-institutionellen ebenso wie institutionellen Diskursräumen ergab sich einerseits aus 855
Bündnis für Arbeit, Nationaler Ethikrat, Hartz-Kommission („Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“), Rürup-Kommission („Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssystem“), Süßmuth-Kommission (Unabhängige Kommission „Zuwanderung“), Weizsäcker-Kommission („Zukunft der Bundeswehr“).
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Schröders Regierungsverständnis und andererseits aus der konkreten Machtkonstellation, in die er eingebunden war: Schröder inszenierte sich häufig und gerne als Bundeskanzler, der jenseits eines kleinteiligen Parteienstreits die Probleme der Zeit ‚anpackt’. Die ‚Chefsache’ als kommunikationspolitisches Allheilmittel gründete wesentlich auf einem politischen Amtsverständnis, das sich abzugrenzen versuchte von den Niederungen der parteipolitischen Auseinandersetzung. Diese Art Inszenierung schien den Anforderungen der Medien- wie auch der ideologisch fragmentierten Publikumsdemokratie zu entsprechen, indem sich Darstellungspolitik und Entscheidungspolitik fast ununterscheidbar überlagerten. Die Einrichtung von Kommissionen oder Räten durch die Regierung, also die Institutionalisierung eines vorpolitischen koordinierten Reformdiskurses einer vermeintlich überparteilichen Problemlösung wurde häufig als das ‚Durchschlagen des gordischen Knotens’ einer erstarrten Verhandlungsdemokratie inszeniert. Dies entsprach dem Regierungsstil und -verständnis Gerhard Schröders, der das Amt des Kanzlers häufig in kommunikativer Abgrenzung zu seiner eigenen Partei, ja mitunter zu seinem eigenen Kabinett ausgestaltete (und auch gerade deshalb eine gewisse Popularität erlangte). Schröders Führungsrolle erwuchs weniger aus dem Urgrund der Parteiendemokratie, als vielmehr aus der Ausschöpfung sehr unterschiedlicher Machtinstrumente der Verhandlungsdemokratie, und deren gleichzeitige mediale Darstellung. Der semi-institutionelle koordinierte Reformdiskurs erweiterte Schröders Handlungsräume des Regierens, indem durch Experten oder unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte und Interessen mit einer gewissen Autorität Themen und Begriffe in den öffentlichen Diskurs eingeführt und besetzt wurden, die nachfolgend auch die Diskurse der Parteien-, Verhandlungs- und Mediendemokratie bestimmten. In diesem Sinne konnte der koordinierte Diskurs den öffentlichen Gesamtdiskurs hinsichtlich gewisser Problemstellungen zweifellos vorantreiben. Und so nutzte Gerhard Schröder den semi-institutionellen koordinierten Diskurs auch als kommunikative Machtressource; vor allem auch gegenüber seiner Partei, die er mit den Ergebnissen jener koordinierten Expertendiskurse häufig vor vollendete Tatsachen stellte. Allerdings konnte der koordinierte Diskurs mit seiner Betonung eher technokratischer Problemlösungen den kommunikativen und eher normativ begründeten Diskurs niemals ersetzten, da der koordinierte Diskurs seinerseits vorangetrieben werden musste. Dieser normative Reformdiskurs fehlte aber über weite Strecken. Das Fehlen eines kohärenten und vor allem nachhaltigen Reformdiskurses galt im Machtsystem Schröders allerdings nicht als Defizit. Gerhard Schröder richtete seine kommunikativen Bemühungen wesentlich auf die Momente aus, in denen machtpolitische Geländegewinne und somit Veränderungen möglich waren. Er versuchte nie, eine Leitperspektive seiner Politik zu explizieren, einen Begründungsbogen über seine Alltagspolitik zu spannen856. Ein stringenter Reformdiskurs hätte – so die Schröder’sche Einschätzung – einen aufs Situative ausgerichteten Regierungspragmatismus unnötig behindert. Der koordinierte Diskurs übernahm häufig die Funktion, Stichworte und Ideen in die Öffentlichkeit zu werfen, die der Kanzler situativ aufgriff und zielgruppenorientiert und an die Medien adressiert vermarktete. Dass das Fehlen eines eigenen kommunikativen Diskurses jedoch tatsächlich ein Defizit war, wurde z. B. beim ‚Bündnis für Arbeit’ deutlich, das kurz nach dem Wahlsieg 1998 aufgelegt wurde und danach mehrere Jahre ergebnislos verhandelte. Aus diskursanalyti856
T. Meyer 2007a
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scher Sicht litt dieser semi-instiutionelle koordinierte Diskurs weniger darunter, dass sich Arbeitgeber und Gewerkschaften über das Festhalten an jeweils erstarrten Leitbildern blockierten, noch dass die Bundesregierung – im Gegensatz zu anderen europäischen Regierungen – keine Sanktionen im Falle des Scheiterns androhen konnte, sondern wesentlich darunter, dass der koordinierte Diskurs nicht durch einen kommunikativen Diskurs gerahmt war. Die Regierung Schröder gab in der ersten Regierungsperiode weder der Gesamtöffentlichkeit noch den Akteuren des ‚Bündnisses’ eine klare diskursive Stoßrichtung hinsichtlich der Arbeitsmarktreformen vor. In Ermangelung eines eigenen distinktiven Reformdiskurses der sozialdemokratisch geführten Regierung wurde der koordinierte Diskurs des ‚Bündnisses für Arbeit’ mit der Aufgabe überfrachtet, die Beharrungstendenzen fest gefügter Besitzstände aufzubrechen, was schon aufgrund der Eigenlogik dieser bipolaren Verhandlungsarena nicht möglich war. Ein eindeutiger kommunikativer Reformdiskurs seitens der Regierung hätte stattdessen in das Gewirr konfligierender Botschaften eine Schneise schlagen können und die handelnden Akteure unter zumindest öffentlichmedialen Druck setzen können. Nach dem Scheitern des ‚Bündnisses’ fehlte nicht nur ein koordinierter, sondern auch ein kommunikativer Diskurs, der fähig gewesen wäre, eine Policy-Reform kognitiv und normativ neu zu rahmen857. Der zweite kommunikative Vorstoß zur Arbeitsmarktreform wurde – wiederum ohne klare diskurskommunikative Rahmung – erneut an eine Kommission delegiert: Die Hartz-Kommission, eine Expertenkommission unter der Leitung des VW-Personalvorstands Peter Hartz. Deren Vorschläge sedimentierten sich schließlich weitgehend in der Reformpolitik der ‚Agenda 2010’. Der Versuch einer zusammenhängenden und legitimierenden Reformkommunikation mit der Gesamtöffentlichkeit sowie der sozialdemokratischen Partei durch die Bundesregierung bzw. Parteiführung setzte allerdings erst nach der Bekanntgabe des Reformprogramms ein. Der bewusste Verzicht auf einen eigenen stringenten kommunikativen Diskurs kennzeichnete auch Schröders machtkommunikatives Verhältnis zu den institutionalisierten Diskursarenen. Auch hier schien es Schröder sinnvoll, sich den eigenen politischen Handlungsspielraum nicht durch allzu klare diskursive (und auch politische) Festlegungen zu versperren. Gerhard Schröder verstand politische Führung weniger als Verwirklichung politischer Konzepte, deren praktische Umsetzung diskursiv-legitimierender Leitplanken bedürften, sondern eher als situative Mobilisierung und Konsenssicherung. Nicht mit einem eindeutigen und nachhaltigen Reformdiskurs identifiziert zu werden, schien es Schröder zu ermöglichen, verschiedene Diskursarenen (Koalitions- und Vermittlungsausschüsse, Partei und Fraktion) tagespolitisch gegeneinander auszuspielen. Die Verabschiedung der rot-grünen Steuerreform 2000 im Bundesrat gilt als ein Beispiel dafür, wie die Regierung Schröder strategisch geschickt den Oppositionsblock spaltete, indem sie sich einige Stimmen des neutralen Blocks der ‚C-Länder’ (einschließlich der Landesregierungen, in denen die FDP oder die CDU als Koalitionspartner eingebunden waren), durch bilaterale Finanzierungszusagen gleichsam erkaufte858. Da ein distinktiver kommunikativer Regierungs-Diskurs bei der Opposition notwendig einen ebenfalls recht distinktiven Gegendiskurs generiert und eine daraus folgende Diskurs-Polarisierung politisch-strategische Austauschprozesse behindert, ist es recht wahrscheinlich, dass je eindeutiger sich der sozialdemokratische Reformdiskurs öffentlich artikuliert hätte, es umso schwieriger gewesen wäre, die Oppositionsphalanx aufzubrechen. Der Abstimmungserfolg 857 858
V.A. Schmidt 2005 W. Merkel, Wolfgang 2003a, 2000b: 171ff.
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im Bundesrat schien der Schröder’schen Strategie eines unideologischen Pragmatismus des Augenblicks Recht zu geben. Für die sozialdemokratische Kommunikation der ‚Agenda 2010’-Reformen hingegen erwies sich die fehlende (bzw. verspätete) Rahmung des koordinierten Diskurses in den institutionellen Verhandlungsarenen durch einen kommunikativen Regierungsdiskurs als verheerend. Und zwar nicht primär wegen der Tatsache, dass die Zugeständnisse an innerparteiliche und innerkoalitionäre Reform-Kritiker im Vermittlungsausschuss durch die CDU/CSU-Opposition sogleich wieder aufgehoben bzw. verschärft wurden (Zugeständnisse an den politischen Gegner sind in der Verhandlungsdemokratie die Regel und das nun ausgehandelte Reformprogramm schien in einigen Punkten sogar eher der ursprünglichen Modernisierer-Intention zu entsprechen). Verheerend wirkte sich die Verspätung eines ohnehin eher widerwilligen kommunikativen Diskurses Schröders vielmehr dahin gehend aus, dass sich ein normativer sozialdemokratischer Reformdiskurs nicht von den Reformergebnissen der koordinierten Diskursarenen eindeutig abgrenzen konnte. Die politiklegitimierende Funktion eines Reformdiskurses besteht darin, die Reformnotwendigkeit mit normgestützten Reformzielen zu verbinden. Da nun der technokratische Policy-Diskurs der koordinierten Diskursarena nur sehr eingeschränkt durch einen kohärenten und nachhaltigen sozialdemokratischen kommunikativen Diskurs gerahmt war, brach eine diskursive Zielvision über weite Strecken weg (die auch eine Differenz zwischen sozialdemokratischen Reformzielen und den Kompromissen mit einer Oppositionsmehrheit im Bundesrat hätte deutlich machen können). Da der Bundeskanzler weniger einem programmatischen Diskurs als vielmehr seiner ‚medialen Überzeugungskraft vertraute’859, blieb sodann ein Reformpaket übrig, das sich hauptsächlich über den wirtschafts- und sozialpolitischen Handlungsdruck und weniger über Gerechtigkeitsfragen öffentlich legitimierte. Indem sich ein originär sozialdemokratischer Reformdiskurs, der die offenkundige Reformnotwendigkeit mit einem sozialdemokratischen Reformziel verband, von dem Hintergrund eines koordinierten Policy-Diskurses mit der Union nie recht absetzen konnte, ging die Wählerverärgerung gegenüber der unpopulären Maßnahmen (von denen einige von CDU/CSU durchgesetzt waren) in erster Linie zu Lasten der SPD. So verschlechterte sich beispielsweise nochmals die politische Stimmung gegenüber den Regierungsparteien, als die Zahl der Arbeitslosen im Januar 2005 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik über die 5Millionen-Marke gestiegen war. Dieser starke Anstieg hatte hauptsächlich statistische Ursachen, da im Zuge der Arbeitsmarktreformen viele Sozialhilfeempfänger nun in die Arbeitslosenstatistik hineingerechnet wurden. Dass die Meldung der Arbeitslosenzahlen jedoch eine solche öffentlich-mediale Erregung auslöste, lag auch daran, dass die Bürger von den technokratischen Policy-Details des koordinierten Diskurses verunsichert waren und vor allem daran, dass eben diese Policy-Details nicht durch einen kommunikativen Diskurs flankiert waren, der grundsätzlich die Reformrichtung kognitiv erläutert und normativ hergeleitet hätte.
5.3.3 Der ideenbegründete Diskurs So wichtig Form, Zeitpunkt und Verlauf des Gesagten auch sind, entscheidend für die öffentliche Wirkung eines Diskurses ist sein Inhalt. 859
Wolfgang Merkel: Antwort auf e-Mail-Befragung (04.10.2006)
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Als sich im Zuge der ‚Agenda 2010’-Reformen zahlreiche Menschen und – noch dramatischer – auch Mitglieder von der SPD abwandten, wurde von sozialdemokratischen Schlüsselakteuren immer wieder erklärt, dass die Reformen richtig und alternativlos seien und nur falsch kommuniziert worden wären860. Eine solche Erklärung ging davon, dass der Inhalt der Reformen und seine diskursive Vermittlung schicht zu trennen wären. Tatsächlich sind aber Reformideen einerseits das verdichtete Ergebnis gesellschaftlicher Diskurse und legitimierende Reformdiskurse können sich andererseits gesellschaftlich nur dann sedimentieren, wenn die darin kommunizierten Ideen und Werte an die Rahmenbedingungen des jeweils gegebenen Diskurskontextes anknüpfen können. Im Gegensatz zu politischer PR, die durch geschicktes ‚Agenda-Setting’ oder ‚Agenda-Framing’ öffentlichmediale Aufmerksamkeit und Stimmung kurz- und allenfalls mittelfristig steuern und manipulieren kann, knüpfen öffentliche Diskurse – selbst wenn sie Veränderungen kommunizieren – notwendig an historisch gewachsene, eher statische politische Sinnorientierungen, Grundwerte und Bedeutungssysteme an. Die kommunikative und ideenbegründete Dimension eines öffentlichen Diskurses sind zwingend aufeinander bezogen: Was man in einem öffentlichen Diskurs sagt, ist wesentlich dadurch bestimmt, wie und wann man es sagt. So ist auch der kognitive und normative Inhalt des deutschen Reformdiskurses maßgeblich von seiner Verspätung, hektischen Nachreichung sowie der Zusammendrängung unterschiedlicher Diskursphasen geprägt. Vor den ‚Agenda 2010’-Reformen gab es keinen zusammenhängenden, sowohl wertebegründeten wie problemlösungsorientierten Reformdiskurs; allenfalls diskursive Versatzstücke oder geborgte Diskurselemente (‚Dritter Weg’, New Labour). Der ‚Medienkanzler’ Schröder konzentrierte sich auf ‚Tageskompetenz’, sah sich selbst als modernen Pragmatiker und konnte einer – aus seiner Sicht altbackenen – Programmarbeit kaum etwas abgewinnen. Doch „ständige, tägliche Reaktionen (...) verwischen die eigenständige, der jeweiligen Partei zugewiesene Kompetenz, ihre Alleinstellungsmerkmale bis hin zu Beliebigkeit. Der rote Faden im Handeln einer Regierung oder einer Partei ist nicht mehr zu erkennen“861. Ein perspektivisch angelegter Gestaltungswille zur Durchsetzung genuin sozialdemokratischer Werte und Steuerungsinteressen standen zu keiner Zeit im Vordergrund des Schröder’schen Regierungshandelns. Dies wurde vor allem für die Sozialdemokratie ein Problem, da sich die praktische Reformpolitik von der Parteiprogrammatik und traditionellen Grundwerten offensichtlich entfernte. Mit der ‚Agenda 2010’ vollzog die Sozialdemokratie einen in ihrer Geschichte ‚beispiellosen Paradigmenwechsel’862, welcher ohne diskursiv-kommunikative Vorbereitung und normative Zielbestimmung zwangsläufig technokratisch und erratisch wirken und in der Partei Widerstand erregen musste.
Der kognitive Diskurs Als das zentrale Problem des deutschen Wohlfahrtsstaats wurde bereits in den 1990er Jahren die strukturelle Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit identifiziert863, die bereits seit Anfang der 1980er Jahre massiv anstieg und fortan auf hohem Niveau verharrte. Das Be860
Vgl. F. Pilz 2004: 227 H. Thörmer/ E. Einemann 2007: 108 862 T. Meyer 2004b: 7 863 G. Esping-Andersen 1996 861
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schäftigungsproblem stand in einem inneren Zusammenhang mit der Struktur des deutschen Wohlfahrtsstaats: Die Arbeitslosigkeit war Ursache zunehmender Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme und die Finanzierungsstrukturen des Sozialstaats waren wiederum Kern der strukturellen Unterbeschäftigungsproblematik864. Daher war das Problem der Arbeitslosigkeit Ausgangs- und Bezugspunkt aller politischen Reformdiskurse der 1990er Jahre: von neoliberalen bis hin zu linkstraditionalistischen und gewerkschaftlichen Diskursen. Auch Gerhard Schröder verwies in seiner ersten Regierungserklärung 1998 angesichts der Arbeitslosigkeit auf den sich daraus ergebenen politischen Handlungsdruck. „Unser drängendstes und auch schmerzhaftestes Problem bleibt die Massenarbeitslosigkeit. Sie führt zu psychischen Zerstörungen, zum Zusammenbruch von Sozialstrukturen. Dem einen nimmt sie die Hoffnung, und dem anderen macht sie Angst. Die Bundesregierung ist sich völlig im Klaren darüber, dass sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung verdankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu können“865.
In der ersten Regierung Schröder blieben tiefgreifende Arbeitsmarktreformen jedoch aus; einige Deregulierungen des Arbeitsmarktes, die die Regierung Kohl noch vorgenommen hatte, wurden sogar – der Parteiendifferenzthese folgend – zurückgenommen (Kündigungsschutzbedingungen, Eindämmung der Scheinselbstständigkeit, Sozialversicherungspflicht für Geringverdiener), das tripartistische ‚Bündnis für Arbeit’ erwies sich über weite Strecken handlungsunfähig oder gar -unwillig. Zugleich gab es auch aktivierende PolitikAnsätze, die den klassischen Pfad verließen: das ‚Job-AQTIV’-Gesetz zur Reform und Intensivierung der Arbeitsvermittlung, Gutscheine für private Arbeitsvermittler und eine vorsichtige Umorientierung in der Finanzierung zur Senkung der Lohnnebenkosten via der ökologischen Steuerreform. Eine umfassende Reform des Sozialsystems und Arbeitsmarktes – wie sie zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit notwendig gewesen wäre – kam jedoch in der ersten rot-grünen Regierung ebenso wenig in Gang wie ein, solcherart Reformen legitimierender öffentlicher Diskurs. Es gab nach dem Regierungswechsel 1998 – beeinflusst vom britischen ‚Dritter Weg’-Diskurs – zwar durchaus politische Konzeptionen eines aktivierenden Wohlfahrtsstaats, wie sie unter anderem vom damaligen Kanzleramtsminister Bodo Hombach öffentlich skizziert wurden866 und auch das Thema ‚Arbeitslosigkeit’ verschwand nie gänzlich aus der öffentlichen Debatte (auch wenn es im Zeitverlauf unterschiedlich stark Aufmerksamkeit erregte), doch in der öffentlichen Auseinandersetzung weigerten sich die zentralen Diskursprotagonisten – allen voran Gerhard Schröder selbst – zu den systemstrukturellen, ökonomischen, technologischen Wurzeln der Arbeitslosigkeit argumentativ vorzustoßen, weil dies zugleich einen Diskurs über lang eingespielte Verteilungsmechanismen, ‚Selbstverständlichkeiten’ und Rechte und nicht zuletzt über Gerechtigkeitsnormen bedeutet hätte. Die Vorlage, einen solchen Diskurs zu führen, verschaffte sich Bundeskanzler Schröder 1999 mit dem Schröder-Blair-Papier selbst – und als eine solche Vorlage war das Papier auch konzipiert. Mit diesem Strategiepapier versuchten Schröder und mit ihm die Modernisierer innerhalb der SPD die Generalrevision traditioneller Glaubenssätze sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik nachzuholen, die Tony Blair und die Labour Party 864 865 866
Vgl. u. a. S. Leibfried/ H. Obinger 2003; P. Manow/ E. Seils 2000; F.W. Scharpf 1999, 2004 G. Schröder 1998 B. Hombach 1998, 1999
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nach einem programmatischen Diskussionsprozess längst vollzogen hatten. Für den Reformdiskurs in seiner kognitiven Dimension wurden im Schröder-Blair-Papier zwei Argumentationsstränge gezeichnet: Zum einen die Notwendigkeit neuer sozialdemokratischer Politikinstrumente und ‚realitätstauglicher Antworten’ in ‚objektiv veränderten Realitäten’. „In einer Welt immer rascherer Globalisierung und wissenschaftlicher Veränderungen müssen wir Bedingungen schaffen, in denen bestehende Unternehmen prosperieren und sich entwickeln und neue Unternehmen entstehen und wachsen können“. Und: „Neue Technologien ziehen radikale Veränderungen der Arbeit sowie eine Internationalisierung der Produktion nach sich“. Das Schröder-Blair-Papier vermittelte die klare Botschaft, dass auch Sozialdemokraten keine andere Wahl bliebe, als den Wohlfahrtsstaat an die Zwänge der offenen Weltmärkte anzupassen867. Zum anderen das Beschäftigungshindernis im (deutschen) Wohlfahrtsstaat selbst. „Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muss reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett der Eigenverantwortung umwandeln“868. Das Schröder-Blair-Papier lieferte keine gänzlich neuen Politik-Konzepte, führte aber – später als in anderen europäischen Wohlfahrtsstaaten – in den deutschen gesamtgesellschaftlichen, vor allem aber in den innersozialdemokratischen Diskurs ‚Employability’Argumente ein; ‚Fördern und Fordern’ sowie ‚aktivierende Sozialpolitik’ waren fortan Begriffe auch des deutschen Reformdiskurses, die aber von Schröder nach Widerständen in der SPD oder den Gewerkschaften schnell wieder fallen gelassen und erst im Zuge der ‚Agenda 2010’-Politik wieder aktiviert wurden. Der diskursive Vorstoß des Papiers, nämlich einen sozial-pragmatischen Weg in die Globalisierung zu weisen, war weniger wegen seiner argumentativen Originalität brisant, als vielmehr wegen der Tatsache, dass Sozialdemokraten ihre Politikinstrumente an die Funktionslogik integrierter Märkte anzupassen versuchten. Die argumentative Kohärenz des Papieres – zumindest im deutschen Diskurskontext – wurde zudem dadurch unterlaufen, dass einige darin geäußerte Forderungen in einem diametralen Gegensatz zu der praktizierten Politik der rot-grünen Regierung standen. So klangen Formulierungen, wie „Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser als gar keine Arbeit, denn sie erleichtern den Übergang von der Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung“, vor dem Hintergrund eines zuvor beschlossenen ‚630-Mark-Gesetzes’ oder dem ‚Gesetz zur Scheinselbstständigkeit’ wohlfeil. Neben dem offensichtlichen kommunikativen Defizit, dass das Schröder-Blair-Papier völlig unvorbereitet in die öffentliche Debatte geworfen wurde, litt es auch unter der argumentativen Schwäche, eine britische ‚New Labour’-Programmatik, die für den deutschen polit-ökonomischen wie diskursiven Kontext nur bedingt anwendbar war, übernommen zu haben. Indem die, im angloamerikanischen Raum praktizierte Politik, ‚Welfare’ durch ‚Workfare’ zu ersetzen, schlicht auf die deutsche koordinierte Marktwirtschaft übertragen wurde, in der regulierte Arbeitsmärkte, Tarifautonomie und eine gut verdienende Facharbeiterschaft komplementäre Bedingungen darstellen, musste – unabhängig von der möglichen Richtigkeit – allein der positive Verweis auf einen Niedriglohnsektor, die lakonische Betonung des Endes langfristiger Arbeitsplatzsicherheit und der Pflichten der Arbeitslosen in der SPD und bei der eigenen Klientel Widerstand erregen. Das rabiate diskursive Vor867 868
K. Dörre 1999 G. Schröder/ T. Blair 1999
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preschen des Schröder-Blair-Papiers einerseits und der nachfolgende Entschluss Schröders andererseits, den von ihm selbst angestoßenen Diskurs nicht zu führen, verhinderten für Jahre einen konstruktiven Reformdiskurs zur Neukonzeption der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die unter dem Schlagwort vom ‚aktivierenden Staat’ hätte firmieren können. Als 2003 der politische Handlungsdruck unausweichlich wurde, legte Schröder mit der ‚Agenda 2010’-Rede eine erneute Reformperspektive zur Überwindung der strukturell hohen Arbeitslosigkeit dar, die zur Legitimierung einen Diskurs entfaltete, der auf das selbe aktivierende Ideen-Raster mit ‚Eigeninitiative’, ‚Rechte und Pflichten’ oder ‚Fördern und Fordern’ zurückgriff, das vier Jahre zuvor noch verworfen wurde. Die Verspätung des Reformdiskurses allerdings prägte seinen Inhalt. Der ‚Agenda 2010’-Reformdiskurs hatte in seiner kognitiven Dimension eine volkswirtschaftliche und individuelle Argumentationsebene: Die wirtschaftsbezogene Argumentation verwies auf die kollektiven Kosten der Arbeitslosigkeit als ökonomisches Phänomen und dass es insgesamt „rationaler und effizienter sei, Menschen für den Arbeitsmarkt zu aktivieren als nur passiv zu unterstützen“, die individuumsbezogene Argumentation verwies auf die Arbeitslosigkeit als individuelles Schicksal der „vom Arbeitsmarkt ausgegrenzten und deshalb auch in der Gesellschaft marginalisierten Arbeitslosen“869. Auch wenn sich beide Argumentationen in ihrer normativen Herleitung überschnitten, lag – durch den medial-öffentlichen Außendruck angesichts der Arbeitslosenquoten und schlechten Wirtschaftsdaten als auch durch die diskursive Nachreichung der Reformlegitimation – der Schwerpunkt bei der wirtschaftsbezogenen Argumentation aus der sich die individuumsbezogene ableitete. In der ‚Agenda 2010’-Rede betonte Schröder, dass „die Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit deutlich verbessert werden“, und dass „durchgreifende Veränderungen vonnöten seien, um den Sozialstaat in seiner Substanz zu erhalten“. „Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft. Oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen“870. Auf der zentralen DGB-Veranstaltung zum 1. Mai 2003 in Neu-Anspach, betonte Schröder, dass die Agenda 2010 der Bundesregierung ein einziges Ziel habe: Das Land für die enormen Herausforderungen und Veränderungen fit zu machen, denen Deutschland heute ausgesetzt sei. Die Agenda 2010 solle Deutschland darauf einstellen, dass die Veränderungen in der wirtschaftlichen Basis der Gesellschaft auch politische Konsequenzen haben müssten. Es genüge nicht mehr, am Erreichten festzuhalten871. Und auch Olaf Scholz schreibt in seiner kurzen Einleitung zum Beschluss des Sonderparteitags am 1. Juni 2003: „Damit es in Deutschland wieder voran geht, braucht unser Land mehr Bewegung: in der Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen und in der Bürokratie“872.
Der normative Diskurs Die ‚Agenda 2010’ markierte in der deutschen Sozialdemokratie nicht nur eine Veränderung zweiter Ordnung, also eine Anpassung der Politikinstrumente, sondern auch einen Paradigmenwechsel dritter Ordnung, d. h. eine Veränderung der sozialdemokratischen 869
Wolfgang Merkel: Antwort auf e-Mail-Befragung vom (04.10.2006) G. Schröder 2003b 871 SPD 2003 872 O. Scholz 2003c 870
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Zielhierarchie873: Der Zielpunkt der Arbeitsmarkt- und Sozialreformen war nicht länger die Sicherung eines einmal erreichten Lebensstandards, sondern die Gewährung einer Grundsicherung. Die Reformen leiteten folglich einen Systemwechsel des konservativen Wohlfahrtsstaats ein, der zwingend mit einem Wechsel der wohlfahrtstaatsbegründenden normativen Wertideen einhergehen musste. Mehr als in den anderen Ländern, die zwar auch radikale, aber im Wesentlichen systemkonforme Veränderungen vorgenommen haben, mussten sich die deutschen Reformen folglich durch eine starke normative Diskursdimension begründen. Der deutsche sozialdemokratische Reformdiskurs kennzeichnete sich jedoch dadurch, dass die Reform-Policies nicht durch einen normativen Diskurs vorbereitet wurden, sondern dieser nachgereicht wurde. Auch wenn bestehende normative Werteideen des deutschen Wohlfahrtsstaats im Laufe der 1990er Jahre im öffentlichen Diskurs massiv herausgefordert wurden, was einige Autoren gar als neoliberale Hegemonie thematisierten874, und auch wenn die Debatte des britischen ‚Dritten Weges’ von der deutschen Sozialdemokratie durchaus aufgegriffen wurde875, fehlte bis zu den ‚Agenda 2010’-Reformen ein kohärenter normativer Diskurs der deutschen Sozialdemokratie, der einen Reformprozess – jenseits der rein funktionalen Bedingungen – in ein nationales wie parteipolitisches Raster aus Werten und Vorstellungen gleichermaßen hätte einbetteten können. Neue politische Ideen bzw. die Neuinterpretation alter politischer Ideen allein konstituieren noch keinen öffentlichen Diskurs; diese müssen von Diskurs-Akteuren in die Öffentlichkeit hinein kommuniziert werden, die gleichermaßen politische Durchsetzungsmacht und -willen besitzen876. So fanden sich zwar in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und auch nach der rot-grünen Regierungsübernahme eine Vielzahl von unterschiedlichen Reformideen und sozialdemokratischen Selbstverortungsversuchen, doch ein nach innen wie nach außen gerichteter originär sozialdemokratischer Reformdiskurs kam nicht in Gang.
Schröder-Blair-Papier Einen ersten Versuch, die deutsche Sozialdemokratie über einen normativen Reformdiskurs neu zu definieren, stellte das Schröder-Blair-Papier von 1999 dar. Ebenso wie bei den kognitiven Ideen war das Schröder-Blair-Papier in seiner normativen Neubestimmung sozialdemokratischer Werte ein wichtiger diskursiver Ansatz, der allerdings schnell abgebrochen und erst wieder mit der ‚Agenda 2010’ aufgegriffen wurde. Auch wenn dieser diskursive Vorstoß wesentlich an seiner kommunikationspolitischen Fehlkonzeption scheiterte, dass nämlich das ‚Papier’ plötzlich in die öffentliche Arena geworfen wurde, so wurden darin auch inhaltliche Positionen formuliert, die im deutschen Diskurskontext Widerspruch erregen mussten. Der diskursive Vorstoß des Schröder-Blair-Papiers ist aus diskursanalytischer Sicht in zweierlei Hinsicht gescheitert: Zum einen wurde es versäumt, über einen kontinuierlichen Diskurs einen Bogen von der Neudefinition der sozialdemokratischen Grundwerte hin zu 873
P.A. Hall 1993 C. Butterwegge/ R. Hickel/ R. Ptak 1998 875 Vgl. Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD 1999 876 Vgl. Kap. 2.3: ‚Was ist ein öffentlicher Reformdiskurs?’ 874
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den Reform-Policies zu schlagen. Stattdessen setzte der normative Diskurs zur ‚Agenda 2010’ argumentativ an genau der Stelle von neuem an, an welchem der Diskurs des Schröder-Blair-Papier abgebrochen wurde. Zum anderen verschwanden bereits formulierte inhaltliche Positionen und Neudefinitionen des abgebrochenen Diskurses wieder aus der öffentlichen Diskursarena, was die Möglichkeit für Jahre behinderte, einen realistischen wie werteorientierten Diskurs zugunsten einer Modernisierungspolitik in zentralen Feldern der politischen Ökonomie zu beginnen. Das Scheitern des Diskurses infolge des SchröderBlair-Papiers wurde in keiner Weise programmatisch oder kommunikationspolitisch nachbereitet, so dass der öffentliche Reformdiskurs 2003 im Zuge der ‚Agenda 2010’ auf genau denselben normbegründeten Widerstand in der SPD, den Gewerkschaften und Teilen der Bevölkerung stieß, den vier Jahre zuvor das Schröder-Blair-Papier erregt hatte. Auch wenn Gerhard Schröders Versuch, den diskursiven Spielraum in der SPD für eine konsequente Modernisierungspolitik auszuloten, natürlich vor allem daran scheiterte, dass ein Revisionismusdiskurs, der aus dem Schröder-Blair-Papier hätte abgeleitet werden können, gar nicht erst geführt wurde, so wirkte sich die Tatsache diskurspolitisch negativ aus, dass Neudefinitionen des britischen sozialdemokratischen Diskurses übernommen und in einen deutschen Diskurskontext implementiert wurden. Erstens wurde in dem Papier unentwegt von ‚modernen Sozialdemokraten’ gesprochen. Dies entsprach dem britischen New Labour-Diskurs der Erneuerung und der Abgrenzung gegenüber ‚Old Labour’. Im deutschen Diskurskontext – in dem die innerparteiliche Neubestimmung noch ausstand – musste der implizite Vorwurf eines Antimodernismus in der SPD als Provokation aufgefasst werden. Die im Papier konstruierte Dichotomie von ‚modernen’ und ‚unmodernen’ Sozialdemokraten erzeugte einen forschen, fordernden und mitunter arroganten Gesamtduktus, der kommunikationspolitisch ungeschickt ‚das Kind mit dem Bade ausschüttete’ und zwangsläufig innerparteilichen Widerspruch erregen musste. Zweitens wurde in dem Papier behauptet, dass in der ‚alten Sozialdemokratie’ die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit mit der Forderung nach ‚Gleichheit im Ergebnis’ verwechselt wurde. Historisch trifft dies weder für die Labour Party noch für die SPD zu: Materielle Umverteilung und soziale Absicherung im ‚sozialdemokratischen’ Wohlfahrtsstaat wurden immer als Voraussetzung für Chancengleichheit betrachtet und nicht als egalitärer Selbstzweck. Auch wenn das Wohlfahrtsstaatsmodell, das sich in den Nachkriegsjahren ausgebildete hatte, aufgrund veränderter Makro-Bedingungen in eine Finanzierungsund Leistungskrise geraten war, schmälert dies nicht seinen historischen Erfolg des sozialen Ausgleichs und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Während diese ahistorische Kritik an einer vermeintlich sozialdemokratischen Politik der Gleichmacherei und Leistungsfeindlichkeit im britischen Kontext als Bestandteil einer doppelten historischen Abgrenzung zur eigenen Vergangenheit wie auch zum Thatcherismus die symbiotische Neuerfindung als ‚New Labour’ erst ermöglichte, untergrub sie im deutschen Kontext die Legitimität sozialdemokratischer Politik, die wesentlich auf der Kontinuität eines grundwertegenerierten Politikanspruchs gründete. Drittens hatte das Papier einen gesellschaftskulturellen Charakter, der eher der politischen Kultur Großbritanniens denn Deutschlands entsprach. Wenn behauptet wurde, dass „...die Verantwortung des einzelnen in Familie, Nachbarschaft und Gesellschaft ... nicht an den Staat delegiert werden“ kann und dass es in der ‚alten’ Sozialdemokratie „eine über-
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proportionale Ausweitung von Verwaltung und Bürokratie“877 gegeben habe, dann artikulierte sich darin eine negative Attribution von Staatlichkeit, die in einer Staatskultur wie Deutschland zumindest befremdlich wirken musste. Auch wenn das Argument hinsichtlich der deutschen Herausforderungen grundsätzlich richtig war, dass es die Verantwortung des Individuums zu stärken und einen rein etatischen Politikansatz zurückzudrängen gelte, so schoss der kommunikative Verweis auf einen individualistischen Leistungswillen im deutschen Diskurskontext argumentativ über das Ziel hinaus und schwächte somit das Argument insgesamt. Im Schröder-Blair-Papier zeichnete sich bereits schemenhaft das diskursive Dilemma des deutschen sozialdemokratischen Reformdiskurses der folgenden Jahre ab: Der deutsche Diskurs war ein geliehener Diskurs. Die gewichtigen kognitiven wie normativen Argumente des Papiers stammen allesamt aus dem britischen ‚Dritter Weg’- bzw. New LabourDiskurs. Der britische Diskurs war aber ein Post-Reformdiskurs, in dem das Soziale nach den neoliberalen Reformen des Thatcherismus re-konstruiert wurde, während der deutsche Reformdiskurs einen notwendigen Rück- bzw. Umbau der Sozialsysteme erst noch kommunizieren musste. Auch wenn Gerhard Schröder 1999 den kommunikativen wie politischen Versuch schnell wieder abbrach, eine ‚Neue SPD’ nach dem Vorbild von ‚New Labour’ zu formen, führte das Schröder-Blair-Papier gleichwohl einen ‚normativen Pfadwechsel’ in den deutschen sozialdemokratischen Diskurs ein, auf dem dann auch die ‚Agenda 2010’Reformen normativ argumentiert werden sollten. Der geliehene Diskurs, den das Schröder-BlairPapier allerdings im deutschen Diskurskontext darstellte, musste – jenseits seiner argumentativen Richtigkeit im britischen Ursprungskontext – kommunikative Dissonanzen erzeugen. Unabhängig von den eigentlichen argumentativen Kernpunkten des Papiers, die für einen deutschen Reformdiskurs den Problemen angemessen und den Reformprogrammen entsprechend gewesen wären, ergaben sich die kommunikativen Dissonanzen dadurch, dass Begriffe und Werte eingeschleust wurden, die dem deutschen Diskurskontext wesensfremd waren.
Der normative ‚Agenda 2010’-Diskurs: ‚Mut zur Modernisierung’ und Neubestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs Bundeskanzler Schröders ‚Agenda 2010’-Rede im März 2003 leitete einen plötzlichen politischen Kurswechsel ein, mit dem die strukturellen Probleme des deutschen Wohlfahrtsstaats über zum Teil tiefgreifende Reformen gelöst und endlich Reformblockaden aufgelöst werden sollten. Da die rot-grüne Politik im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den ersten vier Regierungsjahren eher zögerlich und teilweise widersprüchlich agierte, musste die rhetorische Vehemenz878 überraschen, mit der die Wohlfahrtstaatsreformen als nun unausweichliche Notwendigkeit kommuniziert wurden. Nachdem ein kohärenter und problemorientierter sozialdemokratischer Reformdiskurs über Jahre fehlte und diese Leerstelle in der Regierungspolitik Schröders meist von medienzentrierter Kommunikation, dem Einsatz öffentlichkeitswirksamer ‚symbolischer Maß877
G. Schröder/ T. Blair 1999 Gerhard Schröder in seiner „Agenda 2010“-Rede: „Aber ich bin entschlossen, nicht mehr zuzulassen, dass Probleme auf die lange Bank geschoben werden, weil sie kaum überwindbar erscheinen“. Vgl. G. Schröder 2003b
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nahmen’ und allenfalls unverbindlichen ‚Einwürfen’ von Diskursfragmenten zur Legitimation der Regierungspolitik kompensiert wurde, wurde nun sehr schnell deutlich, dass sich die ‚Agenda 2010’ mit den herkömmlichen sozialdemokratischen Gerechtigkeitskriterien nicht stützen ließ und der immer schon latente Widerspruch zwischen Parteiprogrammatik und Regierungspraxis nun wieder offen zutage trat879. Nicht die Tatsache also ist bemerkenswert, dass angesichts dieses offensichtlichen Widerspruchs und der sehr weitreichenden Kürzungen von Sozialleistungen880 ein umfassender und breiter Begründungsdiskurs der Regierungspraxis vonnöten gewesen wäre, als vielmehr sein nahezu gänzliches Fehlen. Die ‚Agenda 2010’-Politik war zu dem Zeitpunkt ihrer öffentlichen Präsentation weder diskursiv vorbereitet noch normativ gerahmt. Der öffentliche Diskurs musste die Reform-Policies einerseits über die Reformnotwendigkeit und andererseits von der Richtigkeit die Reformrichtung normativ legitimieren. Die Reformnotwendigkeit wurde – jenseits der reinen und funktionalen PolicyArgumente – aus einem allgemeinen Modernisierungsdefizit hergeleitet. Deutschland sei im Wettlauf der Nationen zurückgefallen und müsse sich nun wieder auf seine Stärken besinnen, um im globalen Wettrennen mithalten zu können. Der Modernisierungszwang, der sich aus den Bedingungen der Globalisierung und Wissensökonomie ergab, wurde zu einem zentralen Ausgangspunkt des Reformdiskurses. Auf dem Parteitag wurde das allgemeine Modernisierungsargument durch Gerhard Schröder betont: „‚Die Agenda 2010’ ist nicht einfach nur ein Programm, ein notwendiges Programm zum Umbau des Sozialstaates. Nein, sie ist mehr: Die ‚Agenda 2010’ ist ein umfassendes Modernisierungsprogramm. Wir erneuern die alten Strukturen nicht um der Strukturen und der Erneuerung willen, sondern weil wir damit neue Gestaltungsräume und Gestaltungsmöglichkeiten für eine fortschrittliche Politik schaffen. (...) An dem innovativen Charakter unserer Gesellschaft entscheidet sich auch unsere Zukunftstauglichkeit. Innovation, das ist der Erfindergeist einerseits und die Anwendung andererseits“881.
Wie der britische Reformdiskurs betonte der deutsche Diskurs fortan den Modernisierungszwang. Doch im Gegensatz zum britischen Diskurs, der diesen ‚Zwang’ argumentativ kohärent von dem frühen, in die Partei hinein gerichteten Revisionismusdiskurs über den Wahlkampf- bis hin zum Regierungsdiskurs herleitete, fehlte dem deutschen Diskurs eben diese argumentative Kohärenz. Denn spätestens seit Mitte der 1990er Jahre war die politische Debatte Deutschlands von allgegenwärtigen ‚Reformstaus’ bestimmt882 und auch die erste rot-grüne Regierung nahm für sich in Anspruch, das Land angesichts vielfältiger externer und interner Herausforderungen zu modernisieren. Doch während sozialdemokratische Politikdiskurse in jenen Jahren ihren programmatischen Kernbestand von jener ‚Modernisierung’ noch unberührt ließen, diente der Modernisierungszwang der Globalisierung und der demographischen Veränderungen nun plötzlich als Legitimation für weitreichende Einschnitte in die Sozialsysteme. Die verspätete Kommunikation des Modernisierungszwang-Arguments schwächte seinen inhaltlichen Gehalt.
879
T. Meyer 2004a, 2004b, 2007 R. Soldt 2004: 3 881 G. Schröder 2003c 882 M. Seeleib-Kaiser 2001 880
5.3 Deutschland
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Während der britische Reformdiskurs ‚Modernisierung’ als Überwindung eines unerwünschten Zustandes und der schwedische Diskurs ‚Modernisierung’ als Bewahrung eines erwünschten Zustandes diskursiv konzeptualisierte, konnte der deutsche Reformdiskurs in seiner normativen Dimension die Stoßrichtung der Modernisierung nie klar und selbstsicher verorten. Im deutschen Reformdiskurs schien sich eine verändernde oder auch bewahrende ‚Modernisierung’ nie recht als eine aus der Gegenwart abgeleitete Zwangsläufigkeit artikulieren zu können. Die langjährige programmatische Unbestimmtheit der SPD erzeugte angesichts eines politisch tiefgreifenden Reformprogramms jene innerparteilichen Widerstände, die wiederum einen sozialdemokratisch ‚dynamischen’ Reformdiskurs blockierten. Im deutschen Reformdiskurs ging es nicht allein darum, ‚Modernisierung’ als Mittel zur Erreichung eines politischen Ziels zu konzeptualisieren, sondern das Instrument der Modernisierung selbst gegenüber beharrenden Institutionen, Verfahren, Üblichkeiten oder gar Problemverleugnung883 zu legitimieren. So wurde der Beschluss auf dem SPD-Sonderparteitag am 1. Juni 2003 zur ‚Agenda 2010’-Politik mit dem Slogan ‚Mut zur Veränderung’ überschrieben. Gerhard Schröder betonte in seiner Rede auf diesem Parteitag: „Was wir heute beweisen müssen, ist der Mut, Neues zu wagen. Daher werden wir uns von manchem, was uns lieb – und leider auch: teuer – geworden ist, verabschieden müssen“884. Die Rhetorik des ‚Mutes zur Veränderung’ allerdings ließ den politischen Zielpunkt in der Zukunft jenseits der Reformzwänge noch relativ unbestimmt. Es wurde auf die ‚Notwendigkeit einer Erneuerung’ verwiesen und betont, dass es keine vernünftige Alternative zur ‚Agenda 2010’ gebe, um ‚Deutschland fit für die Zukunft’ zu machen885. Die Mut-Rhetorik betonte einerseits die Reformnotwendigkeit in der Gegenwart, doch andererseits schwang in eben dieser Rhetorik mit, dass diese Zukunft wegen oder trotz der Reformen für den einzelnen mehr Unsicherheit und Schwierigkeiten bedeuten würde. Während der sozialdemokratische Politikdiskurs mehr als ein Jahrhundert lang, eine ‚strahlende Zukunft’ proklamierte, die besser als die Gegenwart zu sein versprach, und aus diesem Versprechen Lebendigkeit, Tatkraft und Selbstbewusstsein ableitete, konzeptionalisierte der Slogan ‚Mut zur Veränderung’ die Zukunft eher als etwas, dem man sich mutig zu stellen habe und weniger als etwas, das man kraftvoll gestalten möchte. Dabei spielt hier keine Rolle, dass die Implikation der Policy-Reformen tatsächlich eher der Mut-Rhetorik entsprachen, sich ‚reale Politik’ in der Rhetorik ‚wahrhaftig’ artikulierte. In seiner normativen Dimension braucht ein öffentlicher Reformdiskurs stattdessen eine euphorische Überhöhung und einen positiven nationalen Referenzpunkt. In den nachfolgenden Monaten versuchte vor allem der Generalsekretär der SPD Olaf Scholz das Diskursdilemma zu überwinden, indem er in Interviews, Aufsätzen und Artikeln, innerparteilichen Reden und einer erneuten Intensivierung der lange brachliegenden Grundsatzprogrammdebatte die Reformrichtung hin zu einer ‚aktivierenden Sozialpolitik’ über die Neubestimmung des sozialdemokratischen Gerechtigkeitsbegriffs zu begründen versuchte; ein Gerechtigkeitsbegriff, der nicht mehr im Widerspruch zu den zu implementierenden Reform-Policies stand. Scholz bemühte sich, die Partei und ihre Grundwerte den realen Bedingungen der Regierungspolitik anzupassen und somit den alten Dualismus zwi883
Die Milieus innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie, in denen die Herausforderungen der Globalisierung oder der Bevölkerungsentwicklung grundsätzlich geleugnet wurden, gründeten beispielsweiese als Reaktion auf die ‚Agenda 2010’ die WASG. 884 G. Schröder 2003d 885 O. Scholz 2003c
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schen Praxis und Programmatik zu überwinden. Der traditionelle Gerechtigkeitsbegriff, der zu sehr auf Verteilungsgerechtigkeit bezogen sei, sollte stärker im Sinne der Teilhabe erweitert werden. Die gleichheits- und bedarfsorientierten Bestandteile innerhalb des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit sollten zurückgedrängt, der Leistungsgedanke hingegen prononciert werden. In den 13 Thesen für die Umgestaltung des Wohlfahrtsstaats und die Zukunft sozialdemokratischer Politik, die Olaf Scholz unter der Überschrift ‚Gerechtigkeit und Solidarische Mitte im 21. Jahrhundert’ am 16. Juli 2003 beim ‚Programmdialog Gerechtigkeit’ im Berliner Willy-Brandt-Haus präsentierte, heißt es: „Gerecht ist, was Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es selbst gerne gestalten möchten. Deshalb bedingen sich Freiheit und Gerechtigkeit wechselseitig...“. Und „Unter dem Gesichtspunkt der Teilhabe und der Chancen ist selbst schlecht bezahlte und unbequeme Erwerbsarbeit besser als transfergestützte Nichtarbeit“886
In gleicher Weise argumentierte Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Gerecht ist, was Menschen in Erwerbsarbeit bringt, damit sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen können (...). Gerecht ist es die Sozialversicherungen so umzugestalten, dass sie die Menschen auch in Zukunft noch gegen die großen Lebensrisiken absichern können. Oberstes Ziel einer Politik der Gerechtigkeit also ist es zu verhindern, dass Menschen aus Arbeit und Gesellschaft ausgeschlossen werden. Aber auch nicht zuzulassen, dass sie dauerhaft von staatlicher Unterstützung abhängig werden“887.
Die kognitiven ‚Agenda 2010’-Argumente der Arbeitsmarktinklusion wurden auf diese Weise durch die normativen Argumente der Teilhabegerechtigkeit logisch gerahmt: Die Verschiebung des argumentativen Akzents von der ‚Verteilungs-’ zur ‚Teilhabegerechtigkeit’ ging einher mit der Betonung der ‚Chancen-’ statt ‚Ergebnisgleichheit’ sowie der ‚Eigenverantwortung’. In seinen Thesen begründete Olaf Scholz die programmatische und politische Neuausrichtung: „Nur ein auf Prävention und Chancengleichheit setzender Sozialstaat kann unter den veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Gerechtigkeit gewährleisten“888. Auch die Leistungsgerechtigkeit gewann an Gewicht; sowohl innerhalb der Wohlfahrtssysteme (‚Welfare to work’) wie als marktdefinierte Leistungsgerechtigkeit (vermehrte private Daseinsvorsorge)889. Der normative Diskurs der Teilhabegerechtigkeit, mit dem die ‚Agenda 2010’-Politik begründet werden sollte, lief auf die ‚arbeitsgesellschaftliche Erfüllung von Grundbedürfnissen hinaus’ und an die Stelle ‚einer umfassenderen Gerechtigkeit’ trat nunmehr das Ziel der ‚basalen sozialen Inklusion’890. Die veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – auf die Scholz hier verwies – zwängen ferner zu einem produktivistischen Gerechtigkeitsverständnis, das mehr auf die dynamische Erhöhung des Gesamtwohlstandes ziele. Die normativen Argumente, mit denen die Modernisierer in der SPD die deutsche Reformpolitik zu begründen versuchten, waren allesamt – weit mehr noch als die kognitiven – vom ‚Dritten Weg’-Diskurs übernommen bzw. abgeleitet. Die diskursive Stoßrichtung im deutschen Reformdiskurs zielte wie im britischen Diskurs auf die Veränderung des sozial886
O. Scholz 2003d G. Schröder 2003d 888 O. Scholz 2003d 889 L. Leisering 2004: 54 890 R. Forst 2005: 30 887
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demokratischen Gerechtigkeitsparadigmas sowie auf die Re-Referentialisierung wohlfahrtsstaatsbegründender Wertideen: relative Entkollektivierung einerseits und die verstärkte Betonung individueller Verantwortlichkeiten, Leistungen und Chancen andererseits. Zudem schien ein neu gewichteter Gerechtigkeitsbegriff, der weniger auf soziale Umverteilung und mehr auf Teilhabe im Sinne des Zuganges zum Arbeitsmarkt abstellte, genau der Kernherausforderung des deutschen konservativen Wohlfahrtsstaats zu entsprechen, nämlich der strukturellen Massenarbeitslosigkeit. Dennoch: Im Gegensatz zu New Labour gelang es den Modernisieren in der SPD nie, die Neubestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs und die Revision programmatischer Werte positiv, zukunftsweisend und hoffnungsfroh zu kommunizieren oder wie die schwedische SAP eine originär sozialdemokratische Reformperspektive891 zur Überwindung der akuten Wirtschaftskrise und hohen Arbeitslosigkeit zu entwickeln. „Es gelang der linken Opposition, mehr die vermeintlich unsoziale Seite der Hartz-Reform zu thematisieren, als der Regierung, ihr Gerechtigkeitsargument durchzubringen. Kürzungen, soziale Härten dominierten den Diskurs mehr als die Begriffe und Ideen der Aktivierung und gesellschaftlichen Integration“892.
Diskurskontexuelle Diskrepanzen Neben den oben angeführten Fehlern des kommunikativen Reformdiskurses (Inkohärenz, Verspätung, unklare programmatische Begründung, fehlende Abstimmung von Hauptdiskurs und Subdiskursen, Zusammendrängung und Überlagerung unterschiedlicher Diskursphasen etc.), scheiterte der deutsche sozialdemokratische Diskurs ferner daran, dass er sich auch in seiner normativen Dimension zu unkritisch am britischen ‚Dritten Weg’-Diskurs ausrichtete. Dadurch entstand in seiner normativen Dimension eine Diskrepanz zwischen dem deutschen Reformdiskurs und dem ihn umgebenen Diskurskontext in zweifacher Hinsicht. Erstens: In der Neufassung des Grundwertes Gerechtigkeit wurde ein neuer Leistungsbegriff eingeführt, der andere und ältere Vorstellungen von Leistung abwertete. Der deutsche Wohlfahrtsstaat, seine Prinzipen des Statuserhalts und seine Aufstiegskanäle gründeten von jeher auf Leistungsdenken und Selbstverantwortung vor allem in der arbeitnehmerischen Mitte der Gesellschaft. Individueller Aufstieg auf der Basis von Leistung und die Sicherung des einmal erreichten Lebensstandards wurden gemeinhin als legitimatorischer Kern des deutschen Wohlfahrtsstaatsmodells betrachtet und genossen in der Gesellschaft große Zustimmung. Die ‚Agenda 2010’ wurde von großen Teilen der Bevölkerung und vor allem von den Kernmilieus der Sozialdemokratie als Aufkündigung dieses Leistungsversprechens und direkte Bedrohung ihrer sozialen Sicherheit betrachtet. Bereits die Herausforderungen, die sich durch die Veränderungen der post-industriellen Arbeitswelt ergaben, haben zu einer vielschichtigen Entgrenzung sozialer Risiken und Unsicherheitserfahrungen geführt, ebenso wie zur Wahrnehmungserkenntnis, dass ‚Leistung’ im Sinne guter Qualifikation und ordentlicher Erfüllung von Arbeitspflichten immer weniger sicheren Status garantierte. Vor diesem Hintergrund sahen große Bevölkerungskreise das zentrale Grundversprechen des deutschen Modells – nämlich Teilhabe gegen Leistung – als nicht 891 892
Vgl. u .a. M. Kautto/ J. Fritzell/ B. Hvinden/ J. Kvist/ H. Uusitalo, Hanno 2001; S. Kuhnle 2000 Wolfgang Merkel: Antwort auf eMail-Befragung (04.10. 2006)
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mehr erfüllt an und nahmen somit die Sozialreformen der rot-grünen Regierung, die diese Unsicherheit noch vergrößerten – vor allem Verkürzung der Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld I, die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Verschärfung der Kriterien zumutbarer Arbeit – als ungerecht wahr: als eine Verletzungen des zentralen Grundsatzes, dass die durch eigene Leistung ermöglichte Lebensweise auch in der Not fortgesetzt werden kann. Die Entfremdung traditioneller sozialdemokratischer Unterstützermilieus, der ‚kleinen’ Leute gegenüber der Reformpolitik einer SPD-geführten Regierung konnte durch den begründenden und legitimierenden Reformdiskurs nicht aufgehalten werden. Im Gegenteil: Teilweise verschärfte der Reformdiskurs sogar den Entfremdungsprozess. Denn die neue und harsche Betonung von Eigenverantwortung und Leistung als Abgrenzung gegen vermeintliche alte Beharrungskräfte und überzogenes Anspruchsdenken musste in eben jenen Mittelschichtmilieus, in denen von jeher Eigenverantwortung und ‚‚es’ durch eigene Leistung zu etwas gebracht zu haben’, eine zentrale Stütze des Selbstwertes war, als Angriff auf ihr berufliches und lebensweltliches Ethos verstanden werden893. Der britische Diskurs artikulierte sich in einem residualen Wohlfahrtsstaat, in dem die Mittelschichten zur Sicherung ihres Lebensstandards ohnehin und immer schon individuell und privat vorsorgen mussten. New Labours ‚Leistungs- und Inklusionsdiskurs’ zielte sozialpolitisch auf die Unterschichten und konnte dabei diskurspolitisch auf die Unterstützung der Mittelschichten bauen. In Deutschland zielte derselbe Reformdiskurs normativ ebenfalls auf die gesellschaftlich exkludierten Unterschichten, traf allerdings in seinen sozialpolitischen Auswirkungen auch die Mittelschichten, die sich in nun einem sehr ‚prekären Wohlstand’894 oberhalb herkömmlicher Armutsgrenzen wiederfanden. Die Legitimationsschwierigkeiten der Reformen ergaben sich wesentlich daraus, dass im deutschen legitimierenden Diskurs traditionelle Leistungs- und Verantwortungsbegriffe – nämlich über lange Zeiten in Sozialversicherungssysteme eingezahlt und so für soziale Risiken vorgesorgt zu haben – durch die normative Re-Referentialisierung zentraler Gerechtigkeitsbegriffe diskreditiert wurden und sich somit in den meisten Milieus der Eindruck verfestigte, dass die Grundprinzipien der Leistungsgerechtigkeit und Statussicherung aufgegeben wurden895. Das Dilemma des deutschen Reformdiskurses bestand also darin, dass er das normative Argumentationsraster des britischen Post-Reformdiskurses eines Wohlfahrtsstaatsmodells, das sich durch staatliche Minimalsicherung für die untersten Schichten und private Selbstvorsorge der mittleren Schichten kennzeichnete, schlicht auf ein konservatives Wohlfahrtsmodell übertrug, das sich durch die Betonung von Leistungsgerechtigkeit und dem ständischen Prinzip der Statussicherung charakterisierte. Zweitens: Dem deutschen sozialdemokratischen Reformdiskurs gelang es zu keinem Zeitpunkt – im Gegensatz zum britischen und schwedischen –, die Wohlfahrtsstaatsreformen an historisch gewachsene nationale Werte und kollektive Identitäten anzuknüpfen. Der Reformrichtung fehlte ein normativer Referenzpunkt, der sich aus der deutschen Geschichte und politischen Kultur herleitete und den sozialpolitischen Wandel in eine Kontinuität übergeordneter nationaler Werte und Ideale einbettete. Ein normativer Referenzpunkt – vergleichbar dem ‚Folkhem’ oder der ‚viktorianischen Ära’ – hätte den Policy-Wandel nicht nur durch die Zwänge der Gegenwart, sondern auch durch die Anrufung ‚ursprüngli893 894 895
M. Vester/ P. von Oertzen/ H. Geiling/ T. Herman/ D. Müller 2001: 96ff. W. Hübinger 1999 M. Vester 2006: 13f.
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cher’ nationaler Normen, Vorstellungen und Ideale und tief verwurzelter Strukturen legitimieren können896. Dadurch jedoch dass ein solcher diskursiver Referenzpunkt fehlte, pendelte der deutsche öffentliche Reformdiskurs zwischen den Modernisierungsnarrativen einerseits der Erneuerung (Globalisierung und demographischer Wandel haben dem alten Wohlfahrtsstaat die Grundlagen entzogen) und andererseits der Bewahrung (die Reformen sind notwendig, um die Systeme zu erhalten) hin und her. Nachdem die Stoßrichtung der Reformen 2003 mit dem technokratisch klingenden Verweis auf einen ‚präventiven und investiven Sozialstaat’897 noch eher erneuernd beschrieben wurde, versuchte die SPD 2005 mit dem nun vermehrt in Anspruch genommenen Begriff der ‚Sozialen Marktwirtschaft’898 die Reformen als bewahrend zu konzeptualisieren. Die ‚Soziale Marktwirtschaft’ zum normativen Referenzpunkt zu machen, schien den sozialdemokratischen Reformdiskurs tatsächlich an einen ‚höheren’ nationalen Begriff anzudocken, der in der deutschen Öffentlichkeit gemeinhin positive Assoziationen erzeugte und gleichermaßen für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und politische Identität stand. Zudem ließ sich der deutsche Reformdiskurs nur auf die historische Epoche der Nachkriegszeit beziehen, da alle früheren Epochen und wirtschaftskulturelle Referenzpunkte, die für die gegenwärtige Situation hätten aktiviert werden können, wegen der Besonderheit der deutschen Geschichte politisch kontaminiert waren. Somit konnten die deutschen Sozialdemokraten im Gegensatz zu den britischen keinen idealisierten Referenzpunkt einer historisch weit zurück liegenden Ära verwenden, der wegen seiner Ferne zur Gegenwart fernab der aktuellen politischen Konfliktlinien lag. Soziale Marktwirtschaft war die wirtschaftsund sozialpolitischen Leitidee der frühen Bundesrepublik Deutschland und wurde mehr als andere politische Begriffe jener Jahre zum Inbegriff des deutschen ‚Wirtschaftswunders’. Diesen bundesdeutschen Erfolgsmythos für einen sozialdemokratischen Reformdiskurs zu aktivieren war jedoch in dreifacher Hinsicht problematisch: 1) ‚Soziale Marktwirtschaft’ gehörte historisch eher zum politischen Wortschatz der Christdemokratie 2) Soziale Marktwirtschaft und konservativer Wohlfahrtsstaat stellten komplementäre Dimensionen des deutschen Modells dar, das historisch von der Sozialdemokratie wegen seiner inhärenten Gerechtigkeitsdefizite (Insider-/Outsider-Problematik; relative Reproduktion von Marktungleichheiten in den Sozialsystemen usw.) bekämpft wurde und das im Zuge der Reformen (weniger Beitrags-, mehr Steuerfinanzierung; weniger passive, mehr aktivierende Unterstützung usw.) transformiert werden sollte. Indem die SPD versuchte, sich den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft kritiklos zu Eigen machen, gab sie zudem ihr eigenes historisch gewachsenes, ökonomie-kritisches Vokabular auf899. 3) Der Begriff ‚Soziale Marktwirtschaft’ war bereits seit den frühen 2000er Jahren unterschiedlichen Versuchen einer ideologischen Neubestimmung ausgesetzt. So verfolgte beispielsweise eine vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall gegründete und finanzierte ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft’ seit dem Jahr 2000 das Ziel, über Publikationen, Forschungsarbeiten und breit 896
Vgl. Kap. 2.4: ‚Funktions- und Wirkungsweisen des öffentlichen Diskurs’ O. Scholz 2003d 898 Zum Beispiel Franz Müntefering in einer Rede auf dem 3. Programmforum der SPD „Demokratie. Teilhabe, Zukunftschancen, Gerechtigkeit“ am Mittwoch, dem 13. April 2005: „Deshalb wollen wir soziale Marktwirtschaft und nicht Marktwirtschaft pur“. Oder auf der Konferenz der SPD-Bundestagsfraktion am 13. Juni 2005 zur „Zukunft der sozialen Marktwirtschaft“, auf der Gerhard Schröder betonte, dass die soziale Marktwirtschaft kein Auslaufmodell sei, sie sei ein Modell für globales Wirtschaften. 899 H. Schui 2005 897
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angelegte PR-Kampagnen einen neoliberalen Diskurs in der deutschen Öffentlichkeit zu verankern900. Auch die CDU versuchte in den frühen 2000er Jahren, den Mythos ‚Soziale Marktwirtschaft’ neu zu konzeptualisieren und sich als originäre Hüterin dieser Tradition zu inszenieren. In der Debatte um ein neues Grundsatzprogramm setzte sich im Jahr 2006 – also erst nach der Regierungszeit Gerhard Schröders – schließlich der Begriff ‚Vorsorgender Sozialstaat’ durch901. Mit diesem Leitbegriff gelang es der SPD endlich, die Reformanstrengungen positiv zu rahmen. Zudem wurde mit dem ‚Vorsorgenden Sozialstaat’ die Reformkomplexität ebenso wie die Programmatik des ‚Dritten Weges’ auf eine klare Formel gebracht: Durch sozialpolitische ‚Investitionen’ sollte die gesellschaftliche Teilhabe der Menschen ausgebaut werden, so dass Exklusionsprobleme gar nicht erst aufkommen würden. Der ‚Vorsorgende Sozialstaat’ grenzte sich ferner vom nachsorgenden Sozialstaat ‚alter’ Prägung ab und legitimiert über diese neue qualitative Ausrichtung der Sozialpolitik die Wohlfahrtsstaatsreformen. Der normative Referenzpunkt des ‚Vorsorgenden Sozialstaats’ gründete einerseits auf einem positiven Bekenntnis zum Wohlfahrtsstaat und legitimierte andererseits die ‚Agenda 2010’. Der Begriff ‚Sozialstaat’ verankerte die Reformen in der Kontinuität des deutschen Wohlfahrtsstaatsprinzips, durch den Zusatz ‚vorsorgend’ wurde die Richtung der Reformen, also der Veränderung, kommuniziert. Durch den Begriff ‚Vorsorgender Sozialstaat’ gelang es der deutschen Sozialdemokratie zwar die programmatische Transformation (wenn auch innerparteilich nicht unumstritten) zu versinnbildlichen, doch konnte das neue Schlagwort den Reformdiskurs nicht an ‚ursprüngliche’ nationale Ideen und Werte koppeln und auf diese Weise die Reformrichtung und -bereitschaft nicht in einen natürlichen und überparteilichen Einklang mit der deutschen politischen Kultur und Geschichte kommunizieren. Ohne an dieser Stelle auf die unterschiedlichen inhaltlichen Gehalte der jeweiligen Leitbegriffe eingehen und diese politisch-theoretisch bewerten zu können, fällt diskursanalytisch vor allem die Tatsache ins Auge, dass alle drei Versuche, die Stoßrichtung der Reformen über normative Referenzpunkte diskursiv zu legitimieren, erst nach der ‚Agenda 2010’-Reforminitiative entwickelt wurden. Die fehlende Kohärenz des deutschen Reformdiskurses erklärte sich wesentlich aus der Unklarheit des normativen Referenzpunktes. Denn durch das Hin- und Herschwenken zwischen unterschiedlichen Leitideen blieb im öffentlichen Diskurs sowohl die Reformzukunft als auch die Abgrenzung zur politischen Vergangenheit diffus. Hier überschnitten sich die Defizite der Diskursführung mit denen der Diskursinhalte. Die Zusammendrängung der unterschiedlichen Diskursphasen und ein schließlich aufgezwungener und hektischer Diskurs nach Gerhard Schröders ‚Agenda 2010’-Rede, nötigten den Diskurs-Protagonisten programmatisch erratische Verortungen ab, die in der Parteiund Gesamt-Öffentlichkeit eher als konstruierte denn als zwingende Herleitungen der Reformen wahrgenommen werden mussten. Auch dass die SPD die Oppositionszeit nicht genutzt hatte, um ihr ureigenes Politikfeld konzeptionell weiterzuentwickeln, in eine zeit900
R. Speth/ T. Leif 2006 Vgl. SPD-Parteivorstand 2006: „Leitsätze auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm“ (vorgestellt vom designierten SPD-Parteivorsitzenden Kurt Beck am 24. April 2006). Der Begriff ‚Vorsorgender Sozialstaat’ wurde unter dem Parteivorsitz von Matthias Platzeck erarbeitet, erfuhr unter seinem Nachfolger Kurt Beck einen neuen, eher traditionell sozialdemokratischen Akzent. Gleichwohl bliebt er ein wesentliches Leitbild in dem Ende 2007 beschlossenen „Hamburger Programm“.
901
5.3 Deutschland
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gemäße Politik zu übersetzen und Werte begrifflich neu zu bestimmen und zu kommunizieren, dass ein Begründungsdiskurs zu den Reform-Policies erst nachgereicht wurde und dass der Programm-Praxis-Dualismus zum Zeitpunkt der Reformimplementierung innerhalb der Sozialdemokratie nicht aufgelöst war, führte notwendig dazu, dass ein kohärentes Raster an normativen Referenzpunkten, auf die sich die Reformen in die Zukunft hin ausrichten und die sich aus der nationalen Vergangenheit herleiten, nicht zur Verfügung stand. Dem deutschen Reformdiskurs fehlten spezifisch deutsche Wertideen und -begriffe. Nimmt man den ‚Vorsorgenden Sozialstaat’ als programmatischen Leitbegriff, der die Richtung sozialdemokratischer Reformpolitik in einer öffentlichen Diskursarena normativ positioniert, dann wird das Dilemma des deutschen Reformdiskurses deutlich: Die Entwicklung eines positiven Leitbegriffs kam viel zu spät. Erst drei Jahre nach der ‚Agenda 2010’ wurde begrifflich ein positives Leitbild der Reformanstrengungen aufgestellt. Das bedeute im Umkehrschluss, dass der sozialdemokratische Reformdiskurs in Deutschland drei Jahre ideologisch-programmatisch und inhaltlich unbehaust und ohne klare Ordnungsbegriffe geführt wurde.
5.3.4 Verschiebung des deutschen Diskurskontextes Die weitreichenden Reformen der ‚Agenda 2010’, die die Regierung Schröder Deutschland (und der SPD) verordnete, haben das Land verändert. Dabei haben sich naturgemäß auch die den Diskurskontext konstituierenden Faktoren verschoben. Dies allerdings in uneinheitliche Richtungen. Unterschiedliche Diskursprotagonisten sind mit ihren öffentlichen Diskursen in Deutschland fortan mit veränderten Rahmenbedingungen konfrontiert; und für die Sozialdemokraten scheinen sich diese Diskursbedingungen eher verschlechtert zu haben. Erstens hat der neoliberale Modernisierungs- und Krisendiskurs, der seit Beginn der 1980er Jahre vor allem durch Medien- und Wirtschaftseliten einen ‚Umbau des Sozialstaats’ forderte und unmittelbar vor den ‚Agenda 2010’-Reformen seinen Höhepunkt erreichte, die wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen und Haltungen der Bevölkerung nicht grundlegend verändert902. Auch die deutsche Sicht auf den Staat, dem weitgehende Lösungs- und Regelungskompetenzen zugesprochen und von dem Dienstleistungen erwarten werden, hat sich in allen gesellschaftlichen Schichten erhalten – auch wenn sich zunehmend die Meinung durchsetzt, dass im Zuge der Globalisierung die Eingriffsmöglichkeiten des Staates geringer geworden sind. Und schließlich werden die Wertideen der sozialen Gerechtigkeit und Sicherheit weiterhin eher im traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Sinne als umfassende Absicherung durch den Staat definiert – auch hier: nicht nur in den unteren, sondern auch in den mittleren und teilweise gehobenen Schichten903. Die Reformpolitiken und -diskurse haben die Einstellungen, Haltungen und Erwartungen der Bevölkerung weniger verändert, als man dies hätte annehmen können; die ererbten politischen-kulturellen und institutionellen Strukturen, die sich in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 und 1980 ausgeprägt hatten, erwiesen sich als außerordentlich stabil. Gleichwohl sprachen sich 2005/2006 43% der Deutschen für eine Fortführung der Reformen aus und 30% sogar für eine Steigerung des Reformtem902 903
E. Roller 2000 G. Neugebauer 2007; D. Fuchs/ E. Roller 2006
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pos904.Es gab und gibt angesichts der vielfältigen Herausforderungen eine grundsätzliche Reformbereitschaft, doch – so zeigen die relativ stabilen Grundeinstellungen zum Wohlfahrtsstaat – sollen die Reformen die Struktur und den idellen Kern des deutschen Wohlfahrtssystem bewahren. Dieser latent widersprüchlichen Erwartungshaltung hätte ein, dem schwedischen Reformdiskurs einer ‚Modernisierung durch Bewahrung’ ähnlicher Diskurs, eher entsprochen. Der deutsche Reformdiskurs akzentuiert jedoch gerade auch in seiner normativen Dimension einen Bruch mit dem gewachsenen Wohlfahrtsstaatsverständisses anstatt die in den Reformen ohnehin angelegten sozialen und politischen Spannungen kommunikativ aufzufangen und zu entschärfen. Zweitens hat sich seit und durch die Reformpolitik die Parteienlandschaft nachhaltig verändert. Das seit den 1980er Jahren relativ stabile Parteiensystem (mit einigen spezifischen Besonderheiten in den Ländern, vor allen den ostdeutschen) mit einem bürgerlichen Block aus CDU/CSU und FDP sowie einem linken Block aus SPD und Grünen wurde mit dem gesamtdeutschen Erstarken der Linkspartei aufgebrochen. Die widersprüchlichen Reformerwartungen und -haltungen spiegeln sich im Wahlergebnis der Bundestagswahl 2009 wider. Erlitt die CDU bei der Bundestagswahl 2005 mit ihrer auf dem Leipziger Parteitag 2003 beschlossenen wirtschaftsliberalen Ausrichtung noch eine herbe Niederlage905, betonte sie 2009 ihre sozialen Wurzeln, ihre familienpolitische und ökologische Modernität (was von einigen in der Union als ‚Sozialdemokratisierung’ kritisiert wird) und angesichts der globalen Wirtschaftskrise ein vorsichtiges ‚Weiter so’. Die FDP hingegen forderte Steuersenkungen und einen weiteren Rückbau des Staates, weitreichende Privatisierungen des Gesundheitssystems, will Kündigungsschutz und die Mitbestimmung abbauen. Die schwarz-gelbe Mehrheit 2009 wurde dadurch erreicht, dass die CDU/CSU den Wahlstrategen der SPD keine Angriffsfläche einer Politik der ‚sozialen Kälte’ bot, die 2005 noch erfolgreich kommuniziert werden konnte, wenngleich um den Preis nicht unerheblicher Abwanderungen zu FDP. Die schwarz-gelbe Mehrheit beruht auf gegenteiligen Erwartungen ihrer Wähler in zentralen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Zudem zeigen Umfragen, dass die Mehrheit der Bevölkerung bei wichtigen Themen wie Mindestlohn, Rente mit 67 oder Nutzung der Kernenergie den Positionen der schwarz-gelben Koalition nicht folgt. Dass die Sozialdemokratie aus diesem politischen wie wahlkommunikativen Dilemma keinen Profit schlagen konnte, sondern vielmehr mit 23% der Stimmen förmlich abstürzte, ist nicht allein darin begründet, dass es Angela Merkel und der Union gelang, brisante und schwierige Themen aus dem Wahlkampf herauszuhalten und „Grundfragen der ökonomischen Zukunftssicherung als einziges wichtiges Thema in den Vordergrund zu stellen“906, sondern vor allem darin, dass die SPD mit ihrem Reformdiskurs gescheitert ist. Die deutsche Parteienlandschaft, wie sie sich nach der Bundestagswahl darstellt, verdeutlicht die kommunikative Schwäche der Sozialdemokratie nach ihrem gescheiterten Diskurs: auf der linken Seite konnte sich die Partei Die Linke als Stimme der Reform- und Modernisierungsverlierer etablieren, auf der rechten Seite entsprach das Solidarversprechen der Bundeskanzlerin der Sehnsucht vieler bürgerlicher Wähler nach einer Orientierung in 904 905 906
G. Neugebauer 2007: 107. Vgl. J. Schmid 2008: 76; O. Niedermayer 2006 M. Jung/ Y. Schroth/ A. Wolf 2009: 14
5.3 Deutschland
301
der tiefsten ökonomischen Krise des Kapitalismus seit 80 Jahren, dem die SPD nicht mehr viel glaubhaft, authentisch und normativ entgegen setzen konnte. Drittens zeigten die Reformen Wirkung. Die sichtbaren Ergebnisse der Reformen kommunizierten erneut die Motivation, die am Anfang der Reformen stand, die Ergebnisse mussten wiederum über einen neuen sozialdemokratischen Politikdiskurs als ‚gewünschte’ Ergebnisse legitimiert werden. Über die Auswirkungen der Reformen hätte der sozialdemokratische Diskurs nachträglich neue Legitimität generieren können. Doch die Ergebnisse waren – vor allem gemessen an sozialdemokratischen Werten – zwiespältig. Anfang 2005 setzte ein Wirtschaftsaufschwung ein, der sich als sehr dauerhaft und nachhaltig erwies und erst mit der weltweiten Wirtschaftskrise im August/September 2008 zusammenbrach. Bis Mitte 2008 wuchs das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in 14 Quartalen um kumuliert 8,2%907. Seit dem Herbst 2005 verringerte sich die Arbeitslosigkeit um über ein Drittel. Mehr als 1,5 Millionen neue Jobs wurden geschaffen. Zudem ging erstmals seit den 1970er Jahren die Sockelarbeitslosigkeit zurück. Die Arbeitsmarktreformen haben dazu beigetragen, dass die Beschäftigungswirkung der konjunkturellen Belebung schneller und stärker ihren Niederschlag am Arbeitsmarkt gefunden hat, als dies in früheren Aufschwungphasen zu beobachten war908. Die Arbeitsmarktreformen hatten auch negative Nebenwirkungen (bzw. verstärkten ohnehin problematische Entwicklungen im Arbeitsmarkt): Dadurch dass der Druck auf den Einzelnen erhöht wurde, auch einen schlecht bezahlten Job anzunehmen, dass festangestellte Arbeitnehmer für unbegrenzte Zeit durch billige Leiharbeiter ersetzt werden konnten und dass der Staat schlecht bezahlte ‚Minijobs’ förderte, wurde die Gehalts- und Beschäftigungsstruktur des deutschen Arbeitsmarkts insgesamt erheblich unter Druck gesetzt. Zum einen nahm der Anteil der Personen in einem Normalarbeitsverhältnis innerhalb des Zeitraums zwischen 1997 und 2007 um 8% ab, während der Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse entsprechend stieg und nun mittlerweile ein Viertel aller Arbeitsverhältnisse ausmacht909. Zum anderen kennzeichneten sich die Veränderungen des deutschen Arbeitsmarkts durch die enorme Zunahme der Niedriglohnbeschäftigung. In nur elf Jahren – von 1995 bis 2006 – wuchs der Anteil der zu Niedriglöhnen Beschäftigten von 15 auf 22,2%910. Während Deutschland als eine koordinierte Marktwirtschaft, als viel beschworenes Modell der ‚diversifizierten Qualitätsproduktion’ mit starken Gewerkschaften, geregelten Lohnverhandlungen und einem schützenden Wohlfahrtsstaat, lange Zeit für seine ausgeglichene Einkommensstruktur bekannt war und die ‚nivellierte Mittelstandsgesellschaft’ den Kern der deutschen wohlfahrtsstaatlichen Identität darstellte, veränderte sich die deutsche Beschäftigtenstruktur tendenziell immer stärker in Richtung auf US-amerikanische Verhältnisse, wo jeder Vierte zu den Geringverdienern gehört. In Deutschland war es 2006 jeder Fünfte. Für die Masse der prekär Beschäftigten wird Flexibilisierung zur Flexpoitation’911. Der Abbau der Arbeitslosigkeit steht direkten Zusammenhang mit der Ausdehnung prekärer Beschäftigung. Die Veränderungen am Arbeitsmarkt in Richtung Prekarisierung und Niedriglohnbeschäftigung haben schließlich dazu geführt, dass auch die Einkommensverteilung zuneh907
Im Vergleich dazu wuchs im Aufschwung 1999-2001 die Wirtschaf in acht Quartalen um 5,8 %. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2008. 908 Bundesministerum für Arbeit und Soziales 2008 909 Statistisches Bundesamt 2008 910 T. Kalina/ C. Weinkopf 2008 911 Vgl. P. Bourdieu 2004
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
mend auseinanderdriftet. So sind die realen Stundenlöhne im unteren Beschäftigungsviertel (zu dem nicht nur Minijobber und Teilzeitbeschäftigte gehören, sondern auch Geringverdiener in klassischen Vollzeitjobs) von 1995 bis 2007 um 13,7% (3,2% unteres Mittelfeld) zurückgegangen, während Beschäftigte mit überdurchschnittlichem Gehalt im selben Zeitraum reale Einkommenszuwächse von 3,5% (oberes Viertel) bis 4,8% (oberes Mittelfeld) verzeichnen konnten912. Auch die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung in Deutschland ist weiter gewachsen. Das wohlhabendste Zehntel der Bevölkerung im Jahr 2007 über 61,1% des privaten Vermögens. 2002 waren es noch 57,9%. Auf das reichste Hundertstel konzentrieren sich allein knapp 23% des Nettovermögens. Dagegen besaßen die weniger wohlhabenden 70% der Erwachsenen 2007 nur knapp 9% des gesamten Nettovermögens - rund 1,5 Prozentpunkte weniger als 2002913. Die Prekarisierung der Arbeit und Niedriglöhne haben viele unterschiedliche Ursachen: der Druck des Marktes, die postindustrielle Veränderung von Arbeit und ihre Globalisierung, der Abbau von Schutzmechanismen. Die ‚Agenda 2010’-Reformen und darin vor allem die Hartz IV-Gesetze haben jedoch den Arbeitsmarkt in Richtung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und elender Bezahlung weiter verschoben und eine dem postindustriellen Arbeitsmarkt bereits angelegte Tendenz verschärft. Der deutsche sozialdemokratische Reformdiskurs verstand es zu keinem Zeitpunkt zu vermitteln, dass Flexibilisierung, Reregulierung und auch Prekarisierung der Preis für den Abbau der Arbeitslosigkeit waren. Diskurspolitisch ist dies vor allem problematisch, weil die Prekarisierung der Arbeitsgesellschaften als neue soziale Frage des 21. Jahrhunderts angesehen wird914. An dieser Stelle können die komplexen Policy-Implikationen und -Ergebnisse der rotgrünen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen nicht detailliert diskutiert werden; sie liegen außerhalb der hier vorgenommenen Fragestellung. Die Frage ist vielmehr, wo und wie sich die SPD und vor allem ihr zukünftiger programmatischer Politikdiskurs nach den ‚Agenda 2010’-Verschiebungen des nationalen Diskurskontexts neu positioniert. Angesichts der Tatsache, dass die SPD bei der Bundestagswahl nur noch 23% der Stimmen gewann, gleichwohl der Wohlfahrtsstaat, ökonomische Regulierung und soziale Sicherheit weiterhin große Zustimmungswerte in der Bevölkerung erzielen, muss diese Diskrepanz dahin gehend interpretiert werden, dass die SPD nicht mehr als Hüter des Wohlfahrtsstaats und für viele Bevölkerungs- und klassische Wählergruppen nicht mehr als natürlicher Anwalt ihrer Interessen wahrgenommen wird. Bei der Betrachtung nationaler Reformdiskurse ist Form und Verlauf des Diskurses ebenso bedeutsam wie die tatsächliche Problemlösungskapazität der im Diskurs kommunizierten Reform-Policies. Die rabiate und verspätete Reformkommunikation, die plötzliche Aufkündigung alter Gewissheiten, die Verschiebung des diskursive Rahmens von der alten Partei der ‚kleinen Leute’ zu einer neuen der ‚Chancengerechtigkeit’, die distanzierte und jungforsche, produktivistische und technokratische Sprache haben allesamt die SPD in ihrem identitären Kern derart erschüttert, dass es nachfolgend sehr schwer wurde, eine ideologisch fundierte, angemessene und attraktive Programmatik zu entwerfen und zu kommunizieren. Zudem hat der ‚Agenda 2010’-Diskurs die SPD selbst im nationalen Dis912 913 914
G. Bosch/ T. Kalina/ C. Weinkopf 2008; R. Zwiener/ C. Logeay 2008 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 2009 R. Castel 2000; K. Dörre 2007
5.3 Deutschland
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kurskontext nach rechts verschoben; da sich der Diskurskontext selbst nicht mit der SPD entsprechend mitverlagert hat (was idealer Weise bei einem überzeugenden und kohärenten Reformdiskurs der Fall gewesen wäre), haben die Sozialdemokraten auf ihrer linken Seite, links der gesellschaftlichen Mitte, ein diskursiv offenes Feld zurückgelassen, in das die Partei ‚Die Linke’ vorstoßen konnte. (Schaubild 5.4). Auch wenn sich die SPD durch ihre grundsätzliche Koalitionsfähigkeit nach allen Seiten in dem neuen Fünf-Parteien-System und ihrer relativen Größe in einer nahezu pivotalen Position wieder findet, ist der strategische Verlust des Diskursraumes links der Mitte langfristig dramatisch. Dadurch verliert die Sozialdemokratie auch das diskursives Terrain, vom dem aus Schlüsselbegriffe und Erklärungen, positive Werte, Gestaltungsziele und rhetorische Identifikationsfiguren in die gesamtgesellschaftlichen Debatten eingeschleust werden. Die SPD kann zwar weiter einen kognitiven Diskurs über Policies führen und in die Mediengesellschaft hinein kommunizieren, doch die Kommunikation eines spezifisch sozialdemokratischen und wirkungsmächtigen normativen Diskurses wird ihr fortan sehr viel schwerer fallen, von hegemonialen Begriffs- und Ideenprägung ganz zu schweigen. Dem Verlust des linken Diskursterrains und der damit einher gehenden ideologischen Sprachunfähigkeit entspricht die Tatsache, dass die SPD unter massiven Mitgliederschwund leidet und personell ausblutet. 2006 galten nur noch 34 Ortsvereine als ‚vital’, indem sie seit 2001 jährlich mindestens 10% Neumitglieder warben 915. Die SPD fühlt sich auch nach Jahren zerrissen von einer Reformpolitik, die ein sozialdemokratischer Bundeskanzler zu spät und unvorbereitet eingeleitet hatte.
915
Spiegel Online 2006
304 Abbildung 6:
5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse Diskurskontextverschiebung Deutschland
Neben seiner Verspätung und der daraus resultierenden kommunikativen Widersprüchlichkeit fehlten dem deutschen sozialdemokratischen Reformdiskurs starke normative Begründungen der eingeschlagenen sozialdemokratischen Reformrichtung. So zwingend die kognitive Argumentation der Reformen auch gewesen sein mag (und – wie die oben genannten Daten zeigen – auch die Mehrheit der Deutschen überzeugte), angesichts eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels und der immensen Anpassungsherausforderungen, denen das Individuum ausgesetzt ist, reicht eine ‚kalte’, rein technokratische Argumentation nicht aus. Hier wären ‚weiche’ und ‚warme’ Begriffe wie Mitgefühl, Zuwendung oder Nachsicht angemessen gewesen. Vor allem scheint im und durch den ‚Agenda 2010’-Reformdiskurs die traditionell zentrale normative Dimension sozialdemokratischer Politikdiskurse verletzt worden zu sein: Soziale Gerechtigkeit. Auch hier ist für die Fragestellung irrelevant, inwieweit programmatische Modernisierungen und Policy-Anpassungen an veränderte Bedingungen das sozialdemokratische Gerechtigkeitsverständnis tatsächlich beschädigt haben. Entscheidend ist, dass es der SPD offensichtlich nicht gelungen ist, die Reformen über einen neuen/ alten Gerechtigkeitsbegriff normativ herzuleiten. Der neu-sozialdemokratische Diskurs der Chancengerechtigkeit konnte den Verlust des alten Diskurses der sozialen Gerechtigkeit im Sinne von Sicherheit, Verlässlichkeit und auch Gleichheit in einer breiten gesellschaftlichen Mitte nicht kompensieren. Dies lag wesentlich daran, dass die neuen Sozialdemokraten die aus Großbritannien entlehnte sozialliberale Chancenrhetorik im deutschen Diskurskontext zu inkorporieren versuchten, die der deutschen Situation kaum angemessen war.
5.3 Deutschland
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Die ‚Neue Mitte’ sollte beispielsweise die deutsche programmatische und kommunikationspolitische Entsprechung zu New Labour sein. Man versuchte sich von der schrumpfenden Basis der traditionellen Arbeiterschicht und deren Hoffnung auf materielle Umverteilung zu lösen und stattdessen ‚jenseits von rechts und links’ auf die neuen Dienstleistungsschichten setzen. Im Gegensatz zu Großbritannien aber, das bis in die 1980er Jahre von traditionellen Klassengegensätzen geprägt war, gab es Deutschland bereits eine breite soziale Mitte. Diese soziale Mitte war einerseits dem deutschen Modell einer koordinierten sozialen Marktwirtschaft, mit gut ausgebildeten und verdienenden Facharbeitern, und andererseits den Bildungsreformen der 1960er und 1970er Jahre geschuldet. Während der sozial-liberale Chancendiskurs im britischen Kontext durchaus ein soziales Aufstiegsversprechen kommunizierte, sahen sich die deutschen Mittelschichten durch eben denselben Diskurs mit drohender Abstiegsgefahr konfrontiert, da eine Nichtnutzung der Chancen eine Bedrohung des einmal erreichten Status bedeutet kann916. Aus eben diesem Grund erzeugt der Chancendiskurs als Bildungsdiskurs im deutschen statuskonservativen Kontext notwendig eine andere Wirkung als im britischen liberalen Kontext. Dies vor allem, weil der Chancendiskurs ausschließlich als Kompensation und weniger als Ergänzung für den älteren Gleichheitsdiskurs dient. Die kontinentaleuropäischen und skandinavischen Demokratien legitimieren sich wesentlich über ihre breite soziale Mitte und ihre ebenso breiten und verhältnismäßig planbaren sozialen Aufstiegskanäle. Die liberalen angelsächsischen Demokratien hingegen haben weniger breite Aufstiegskanäle, allerdings ermöglichen diese schmaleren Kanäle einen weit größeren sozialen Sprung (‚vom Tellerwäscher zum Millionär’). In Deutschland gründet das legitimierende Aufstiegsversprechen viel stärker auf einem intergenerationellen Aufstieg der kleinen Schritte innerhalb einer relativ egalitären Mitte: vom Facharbeiter zum Lehrer, vom Polizisten zum Amtsrat, vom Drucker zum Ingenieur. Vor diesem Hintergrund war der sozialdemokratische Bildungsdiskurs der 1960er Jahre ein Chancenangebot. In dem Moment, in dem der Diskurs der Chancengleichheit vom sozialdemokratischen Diskurs sozialer Verteilungsgerechtigkeit entkoppelt oder gar gegenüber gestellt wird, wird die Chancengleichheit zum rigiden Zwang der Chancenwahrnehmung und zum allgegenwärtigen Chancenwettbewerb. In einem kompetitiven (Arbeits)Marktsystem verkennt der neusozialdemokratische ‚Chancen durch Bildung’-Diskurs die Tatsache, dass ein breiterer sozialer Zugang zu Bildungsabschlüssen und -zertifikaten immer wieder zu einer Neubewertung und teilweise sogar zur relativen Entwertung der Abschlüsse und Zertifikate führt917. So verlangen beispielsweise bestimmte Lehrberufe heute Abitur, deren Zugangsvoraussetzungen noch vor zehn oder zwanzig Jahren der Hauptschulabschluss war; garantierte in den 1960er Jahren ein Hochschulstudium eine Beschäftigung im Staatsdienst, so müssen Hochschulabsolventen heute eine Vielzahl weiterer Qualifikationen vorweisen, um sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Diese Entwicklung ist nur zu einem Teil veränderten Anforderungsprofilen geschuldet; entscheidend ist vielmehr, dadurch dass die Konkurrenz um Stellen und die Anzahl qualifizierter Bewerber größer wird, verlieren durchschnittliche Qualifikationen an zunehmend an Bedeutung. Chancengleichheit in einer ansonsten hoch ungleichen Gesellschaft bedeutet Selbstbehauptung in einem dauerhaften Wettbewerb, eine Ökonomisierung auch sozialer Beziehungen und eine Verwertungslogik, die nach Sinn und Qualität von 916 917
T. Fischermann 2007 Vgl. H.E. Tenorth 2008
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5 Verlauf öffentlicher Reformdiskurse
individuellen Leistungen jenseits eines rein (arbeits)marktlichen Verständnisses gar nicht mehr fragt. Die Möglichkeiten des konkurrenz-individuellen Erfolgs aber auch des Scheiterns in der Chancengesellschaft entsprechen den Erfahrungsräumen liberaler Gesellschaftskulturen viel eher als den kontinentaleuropäischen oder skandinavischen Modellen, in denen sich andere kollektive Erwartungshorizonte ausgebildet haben. Der deutsche sozialdemokratische Chancendiskurs (ganz im Gegensatz zum schwedischen) schwenkt auf das liberale Modell um. Dies führt gerade bei den Mittelschichten, die die SPD als ‚Neue Mitte’ zu gewinnen hoffte, zu erheblichen sozialen und vor allem auch politischen Verwerfungen. Auf bemerkenswerte Weise zeigt eine Studie aus dem Jahr 2008, dass sich Eltern in Deutschland vielfältigem Druck (Leistung im Beruf, Erfolg der Kinder in der Schule) ausgesetzt sehen und angesichts dieses Drucks und der hohen Erwartungen verunsichert und gestresst sind und sich von der Politik alleingelassen fühlen918. Denn die Mittelschichten sind sich der Abstiegsgefahr bewusst und auch, dass wenn an einem Punkt des Lebens bestimmte Weichenstellungen in der Bildungskarriere nicht gelingen, die hoch-dynamische Chancengesellschaft schnell Chancenlosigkeit bedeutet. Daher versuchen Eltern für ihre Kinder die scheinbar lebensentscheidenden Gelegenheiten zu nutzen, um diese Weichen für künftige Karrieren zu sichern. In der Wettbewerbsgesellschaft wird die Chancenverwertung zu einer Materialschlacht (Nachhilfe919, Bildungsmaterial, Sprachreisen, Ermöglichung von Hobbies usw.), die die Unterschichten von vornherein ausschließt und die Mittelschichten an die Grenzen ihrer psychischen und finanziellen Belastbarkeit führt. Die kommunikative Schwäche des sozialdemokratischen Chancendiskurses besteht nicht darin, die soziale Bedeutung von Bildung und Qualifikation als Voraussetzung für einen Zugang zum Arbeitsmarkt und zu gesellschaftlicher Teilhabe sowie als volkswirtschaftliche Ressource in der globalen Wissensökonomie zu betonen, sondern darin, dass sich der sozialdemokratische Diskurs auf den ‚Chancen durch Bildungs’-Diskurs reduziert. Dieser Diskurs ist aber nur ein Rudiment eines ursprünglich viel komplexeren sozialdemokratischen Politikdiskurses. Von Beginn an stellte ‚Bildung’ im Politikdiskurs der Sozialdemokratie ein integrales kognitives wie normatives Argument dar. Daher ist es wichtig und richtig, Bildung und Qualifikation in Zeiten der postindustriellen Wissensökonomie politisch neu konzeptualisieren. Der deutsche Reformdiskurs verkennt im Gegensatz zum schwedischen, dass ein hohes Maß an Gleichverteilung von materiellen Gütern, d. h. an sozialer Verteilungsgerechtigkeit die entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass möglichst viele Bürger die Möglichkeit zu Integration und Partizipation haben. Die SPD hat auf diese Weise im deutschen nationalen Diskurskontext ihren angestammten Ort verloren. Ein solcher historischer Diskurs-Ort meint, Ideen und Begriffe im nationalen Diskurskontext glaubhaft und originär kommunizieren zu können. Bemerkenswert ist, dass, obwohl die SPD in vielen Policy-Fragen und Rhetoriken wieder auf Vor‚Agenda 2010’- Positionen zurückzukehren versucht, der einmal verlassene Diskurs-Ort nicht ohne weiteres wieder zu besetzen ist. Zum einen weil die Linkspartei diesen Ort nun 918
Sinus-Institut 2008 Hatten 2002 nur 18 % der Schüler Nachhilfe, waren es 2007 bereits 23 %. Schätzungen bemessen das Gesamtvolumen, das jährlich für außerschulische Hilfe ausgegeben wird, auf 4,5 Milliarden Euro. Vgl. K. Tritier 2008
919
5.3 Deutschland
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besetzt, zum anderen – viel wichtiger noch – weil die historisch gewachsene und intellektuelle Strahlkraft des sozialdemokratischen Politikdiskurses in vielerlei Hinsicht abgebrochen wurde. Aus diesem Grund wirken Forderungen von SPD-Akteuren z. B. nach höherer Besteuerung von Besserverdienenden, Marktregulierungen oder dem Ausbau der Kleinkinderbetreuung, die allesamt vor dem ‚Agenda 2010’-Diskurs glaubhaft als Instrumente eines in sich geschlossenen sozialdemokratischen Politikentwurfs zu kommunizieren gewesen wären, heute nur wie ein bloß taktischer Versuch, verlorene Wählergruppen wieder zurückzugewinnen. Dies mag über geschickte politische (Wahl)Kommunikation sogar begrenzt möglich sein, doch die moralische, kulturelle und intellektuelle Kraft und Hegemoniefähigkeit eines sozialdemokratischen Politikdiskurses wird so schnell nicht wieder zu rekonstruieren sein.
6 Schlussbetrachtung und Ausblick
Das Ziel des Ländervergleichs war es, sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatsreformdiskurse in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, Ressourcen und Begrenzungen, ebenso wie in ihren unterschiedlichen Optionen und Strategien zu erfassen. Sehr ähnliche sozialpolitische Herausforderungen im postindustriellen und globalen Zeitalter und die Tatsache, dass diese entsprechenden Anpassungsreformen die Programmatik sozialdemokratischer Parteien in gleicher Weise normativ herausfordern, ließen vermuten, dass auch legitimierende Reformdiskurse sozialdemokratischer Regierungen auf eine Art Idealdiskurs sowie einen prototypischen zeitlichen Diskursablauf konvergieren. Gleiche Problemstrukturen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, aber auch bei der ‚postmodernen’ Kampagnenführung920 oder der Regierungskommunikation bedingen ähnliche Konzepte der politischen wie auch (wahlkampf- und medien-)kommunikativen Problemlösung, zumal sich sozialdemokratische Parteien seit den 1990er Jahren in internationalen Organisationen und Netzwerken diesbezüglich gezielt austauschen (Progressive Governance, Forum Scholars for European Social Democracy, Party of European Socialists PES usw.). In dem vorliegenden Buch wurde jedoch herausgearbeitet, dass die Imitations- oder Übernahmemöglichkeiten erfolgreicher Reformdiskurse durch andere sozialdemokratische Parteien bzw. Regierungen sehr begrenzt sind, auch wenn die jeweils zu kommunizierenden Reform-Policies die gleiche politische Stoßrichtung aufweisen (wie z.B. Arbeitsmarktaktivierung und -deregulierung, sozialpolitische Leistungskürzungen, Umbau der Steuersysteme usw.). Denn die nationalen Diskurskontexte determinieren über ihre historisch gewachsenen institutionellen Strukturen und eine spezielle kommunikative Erwartungshaltung der Bürger die öffentlichen Reformdiskurse sehr viel stärker, als es die transnationalen programmatischen Gemeinsamkeiten sozialdemokratischer Parteien tun. Dies bedeutet im Umkehrschluss allerdings nicht, dass ein sozialdemokratischer Politikdiskurs etwa von einer programmatischen Neubestimmung der Grundwerte entkoppelt werden kann. Im Gegenteil: Wenn ein Reformdiskurs allein auf der Kommunikation einer ‚entpolitisierten’ Problemlösung gründet und seine Argumente für die Reformen weder theoretisch-konzeptionell noch normativ herleitet, dann verliert der Diskurs seinen Ort im politischen Spektrum und somit seine Kohärenz, erscheint willkürlich und zufällig. So können Versuche, diskursiv eine post-politische Reform- oder Krisensituation zu erzeugen, in der sich Diskursprotagonisten in Verantwortung fürs ‚Ganze’ – Volkswirtschaft oder Nation – jenseits eines Parteien- und Interessenkonflikts zu inszenieren versuchen, erfolgreich sein, wenn die Bürger von der Krisenhaftigkeit der Situation überzeugt sind. Solche Versuche können aber auch leicht als abgehobene Elitendiskurse wahrgenommen werden, die langfristig eher Politikverdrossenheit und Zynismus erzeugen. So litt beispielsweise der deutsche Reformdiskurs darunter, dass Gerhard Schröder sich in seiner zweiten Amtszeit 920
Phasen von Wahlkampftechniken vormodern (parteien- und printzentriert), modern (TV-zentriert) und postmodern (multimediale Kanalvielfalt). Vgl. F. Plasser 2003: Schaubild 1.1, 27
6 Schlussbetrachtung und Ausblick
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zwar als Reformer inszenierte, der das Notwendige auch gegen Widerstände (in der eigenen Partei) durchsetzte, dies jedoch diskurspolitisch viel zu spät und ohne klare ideologische Ausrichtung und theoretische Reflexion tat. Als Gegenbeispiel könnte man Margaret Thatcher anführen, die in ihrem Reformdiskurs die Ausnahmesituation der Wirtschaftskrise als Rechtfertigung für ihr konfrontatives, polarisierendes und kompromissloses Handeln kommunizierte, ihre Reform-Policies jedoch nicht allein als Problemlösung, sondern auch als Bestandteil einer über konkrete Sachprobleme hinausreichenden ideologischen Agenda diskursiv legitimierte. Sowohl Identifizierung der Probleme als auch Reformrichtung waren hier in einen kohärenten Politikdiskurs eingebettet. Aus diesem Grund war der untersuchungsleitende Bezugsrahmen der Arbeit durchgängig zweidimensional: Zum einen ging es um die Bedingungen, Ressourcen und Restriktionen der nationalen Diskurskontexte für die jeweiligen reformenlegitimierende Diskurse, zum anderen um sozialdemokratische Grundwertediskurse vor dem Hintergrund gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Veränderungen. Die vergleichende Analyse bestätigte, dass beide Diskurse unabdingbar aufeinander bezogen und nicht zu trennen sind. Sowohl der britische als auch der schwedische Reformdiskurs (so unterschiedliche sie in ihrer Ausprägung auch waren) legitimierten ihre Reform-Policies jeweils über einen klaren und eindeutigen Grundwertediskurs. Dem deutschen Reformdiskurs hingegen fehlte lange der programmatische Rahmen; die normative Legitimation der Reformen wurde nachgereicht921. Zudem zeigte der deutsche Fall deutlich, dass – trotz Mediokratie, Individualisierung oder des vermeintlichen Endes großer politischer Ideen – ein ideologisch entkernter Diskurs bzw. das Fehlen eines nach innen, in die Partei gerichteten programmatischen Grundwertediskurses den Gesamtdiskurs in eine Schieflage bringen und bloß organisatorische Kommunikationsmodernisierungen diskursiv notwendig ins Leere läuft. Der Vergleich zwischen Schweden und Großbritannien wiederum zeigte, dass ähnliche Reformen mittels gegensätzlicher sozialdemokratischer Grundwertediskurse kommuniziert wurden. Offenbar stellte der britische ‚Dritte Weg’-Diskurs, der in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die europäische Sozialdemokratie so nachhaltig inspirierte und beflügelte, nur eine Option einer programmatisch modernisierten Sozialdemokratie unter vielen anderen dar. In der Zäsur der gegenwärtigen weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise wird sich die Frage nach einer zeitgemäßen sozialdemokratischen Programmatik erneut stellen und dabei auch die unkritische Akzeptanz so genannter ‚Facts of Life’ jener Jahre neu bewerten. So kann als erstes Fazit hervorgehoben werden, dass die schwedischen Sozialdemokraten, die in den 1990er und 2000er Jahren ihre Reformen nicht über die explizite Aufgabe ideologischen Kernbestands legitimierten, heute angesichts der Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus auf verhältnismäßig sicherem diskursiven Grund stehen, während die britische Labour Party, die sich in ihrem Diskurs nahezu aller kapitalismuskritischer Elemente als nicht mehr zeitgemäß entledigt hatte, nun programmatisch relativ ‚sprachlos’ ist. Trotz der methodischen Zweidimensionalität der Analyse, nämlich der besonderen Bedingungen nationaler Diskurskontexte und der konkreten Reformdiskurse in ihrer not921
So ergab eine Umfrage des Instituts Infratest dimap im Juni 2004 – also ein gutes Jahr nach der ‚Agenda 2010’Rede des Bundeskanzlers –, dass bemerkenswerte 75 % der Deutschen der Meinung sind, die Reformen, wofür sie notwendig seien und wohin sie führen sollen, seien nicht ausreichend begründet. Vgl. Frankfurter Rundschau 2004.
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6 Schlussbetrachtung und Ausblick
wendigen Differenz einerseits sowie eines abstrahierten, gemeinsamen ideologischen Reformdiskurses in der postindustriellen und globalisierten Welt andererseits, können die beiden Analyse-Dimensionen in der Realwelt nicht eindeutig unterschieden werden: Sozialdemokratische Grundwerte fließen notwendig in die gesamtgesellschaftliche Reformargumentation ein, und parteipolitische Grundwertediskurse können nicht die Reformnotwendigkeiten, veränderten Handlungsbedingungen und Erwartungen ignorieren. Dennoch waren die beiden Analyse- bzw. Betrachtungsrahmen angesichts der Komplexität und schwierigen begrifflichen wie zeitlichen Begrenzbarkeit des Analysegegenstandes notwendig, da nur auf diese Weise das Wechselverhältnis des national Besonderen und des ideologisch Allgemeinen sozialdemokratischer Diskurse evaluiert werden konnte. Mehr noch: Im Lichte der gewonnenen Erkenntnisse lässt sich mit einiger Berechtigung sagen, dass für die zukünftige Diskursfähigkeit sozialdemokratischer Parteien oder sozialdemokratisch geführter Regierungen die verschiedenen Schnittstellen zwischen dem allgemeinen und dem besonderen Diskurs von zentraler Bedeutung sind. Es wird entscheidend sein, wie Sozialdemokraten programmatische Antworten auf die Herausforderungen der Zeit in ihre jeweiligen nationalen Diskurskontexte (rück)übersetzen. Gleichwohl ist in der Untersuchung deutlich geworden, dass eine solche ‚Diskursübersetzung’ sehr viel mehr bedeutet, als bloße Policy-Adaptionen und die Übernahme politischer Kommunikationstechniken.
6.1 Welcher öffentliche Reformdiskurs unter welchen nationalen Bedingungen? Unterschiedliche nationale Diskurskontexte machen einen einheitlichen sozialdemokratischen Reformdiskurs unmöglich; und zwar inhaltlich nicht nur im Hinblick auf konkrete Reform-Policies (was aufgrund unterschiedlicher Sozialsysteme, Produktionsregimes, Ausbildungssysteme oder Gesetzgebungsverfahren usw. augenscheinlich ist), sondern vor allem auch hinsichtlich rhetorisch aktivierter Normen und historischer Referenzpunkte. Der Vergleich nationaler Diskurse zeigte, dass der Erfolg der jeweiligen Reformdiskurse maßgeblich davon abhing, wie die Diskurse mit den diese jeweils rahmenden Diskurskontexten korrespondierten. Die britischen und die schwedischen Reformen waren als Antworten auf die Reformzwänge, die sich aus ihren Wohlfahrstaatsystemen ergaben (Armut in Großbritannien, Finanzierungsprobleme in Schweden), jeweils weitgehend systemkonform. So blieb Schweden – trotz massiver Einschnitte im sozialpolitischen Leistungskatalog – dem Prinzip des wohlfahrtsstaatlichen Universalismus verhaftet. In Großbritannien wiederum wurden Wohlfahrts-Dualismus, Residualität, Bedürftigkeitsprüfungen oder die Ausrichtung der politischen Ökonomie auf Finanzdienstleistungen nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Einen Systembruch stellen hier weniger die Anpassungsreformen selbst dar als vielmehr ihre nach innen gerichteten parteiprogrammatischen Begründungen. In Deutschland hingegen brach das ‚Hartz IV’-Gesetz konzeptionell mit dem konservativen Wohlfahrtsstaatprinzip der Statussicherung. Auch wenn es für diesen Politikbruch objektiv eine Vielzahl sozial- und wirtschaftspolitischer wie auch normativer Argumente gab, wurde er von vielen Bürgern und vor allem auch vom Kernklientel der Sozialdemokratie subjektiv als eklatante Ungerechtigkeit wahrgenommen; insbesondere die Tatsache, dass Ältere nach nur 12 Monaten Arbeitslosigkeit ihre Rücklagen aufbrauchen mussten und auf
6.1 Welcher öffentliche Reformdiskurs unter welchen nationalen Bedingungen?
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Sozialhilfe-Niveau abrutschten. In der analytischen Betrachtung des deutschen Reformdiskurses ist dabei unerheblich, dass dieses verbreitete Ungerechtigkeitsgefühl in der Bevölkerung vielfach auf falschen Auffassungen gründete, da die Arbeitslosenversicherung keine ansparende Lebensversicherung, sondern immer schon eine solidarische Risikoversicherung war und es schon bei der Arbeitslosenhilfe, die zusammen mit der Sozialhilfe den Vorläufer der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende (ALG II) darstellte, Bedürftigkeitsprüfungen gab (bei allerdings längerem Anspruchszeiten). Stattdessen ist in der vorgenommen Betrachtung vielmehr entscheidend, dass der Wohlfahrtsstaat notwendig auf jenen kollektiven Erwartungen, Vertrauen und Gerechtigkeitsvorstellungen gründet, die durch die Reformen scheinbar verletzt wurden. Angesichts bestimmter Reformherausforderungen ist es möglich und mitunter geboten, aus den starren Begrenzungen einer institutionellen Pfadabhängigkeit auszubrechen. So wurde durch den Vergleich der nationalen Reformdiskurse deutlich, dass die deutschen Reformen auch weniger unter der sozialpolitischen Pfadabweichung litten als vielmehr unter der fehlenden normativen Begründung eben dieser Pfadabweichung. Aufgrund der Art der Reformen (weniger deren Ausmaß) wäre in Deutschland ein komplexerer normativer Grundwertediskurs notwendig gewesen als in beiden anderen Ländern, doch gerade in Deutschland war der normative Diskurs vergleichsweise dünn. In der interaktiven Diskursdimension waren sowohl der schwedische als auch der britische Diskurs kontextkonform. Beide Diskurse schöpften die Kommunikationsressourcen, die sich in ihren nationalen Diskurskontexten boten, geschickt aus. Insbesondere der britische Reformdiskurs verfeinerte über professionelle Kommunikationsmodernisierungen die Möglichkeiten, die das einfache Politiksystem vor allem dem öffentlichen Regierungsdiskurs bereitstellt, um einen stringenten, auf zentrale Botschaften ausgerichteten und auf wenige Akteure zentrierten Diskurs zu führen. Allerdings verleiteten diese großen Kommunikationsressourcen und die parteipolitische Wettbewerbskonstellation des liberal konkurrenzorientierten Diskurskontexts die Regierung Blair dazu, ihren Diskurs nahezu ausschließlich als ‚postdemokratische’ Medienkommunikation zu führen, die einerseits eine ‚Präsidentialisierung’ des Premierminister-Amtes wie auch eine Aufwertung von Elitendiskursen und privatwirtschaftlicher Interessenskommunikation und andererseits eine Abwertung der klassischen Mitgliederpartei und sogar des Parlaments brachte. Diese massive Zurückdrängung partizipativer öffentlicher Kommunikationsformen war letztlich kontraproduktiv, da die weitgehende Ausrichtung eines Diskurses auf Medien- und Marketingbotschaften zu zynischen Abstumpfungs- und Abwehrreaktionen sowohl bei Journalisten als auch bei Bürgern führte. Die allgemeine Skepsis gegenüber Medieninszenierungen und ‚Spin’ steigerte sich zudem durch die Entpolitisierung des Diskursinhalts über seine Entkoppelung von sozioökonomischen Interessen. Auch die schwedischen Sozialdemokraten nutzten die Rahmenbedingungen des nationalen Diskurskontexts, um ihren Diskurs im Zentrum des politischen Spektrums geschickt zu platzieren und auf diese Weise die Hegemonie sozialdemokratischer Werte über die Wirtschafts- und Wohlfahrtsstaatskrise hinaus zu bewahren. Der Parteiführung gelang es – erst unter Carlsson, dann unter Persson – über einen komplexen koordinierten Diskurs mit den Gewerkschaften (zunehmende programmatische Loslösung, aber kein Bruch), mit dem politischen Gegner (Krisenprogramme, Rentenreform) und mit der Partei zum einen die Notwendigkeit des Reformhandelns und zum anderen die Notwendigkeit wohlfahrtsstaatlicher Kontinuität in die Wahlbevölkerung hinein zu kommunizieren. Durch die lö-
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6 Schlussbetrachtung und Ausblick
sungsorientierte Zusammenarbeit in verschiedenen institutionellen und informellen Gremien und korporativen Foren des schwedischen Systems konnte sich die SAP einerseits als wichtiger und gesellschaftlich zentraler Problemlöser und andererseits als verantwortungsvoller und integrierender Akteur darstellen, dem das staatspolitische Ganze wichtiger ist als parteipolitische Geländegewinne. Bei der Rentenreform arbeiteten die oppositionellen Sozialdemokraten mit der Regierung zusammen, da eine Blockade vor dem Hintergrund der Probleme verantwortungslos gewesen wäre, bei der Problemlösung wich die SAP auch einem Konflikt mit den Gewerkschaften nicht aus. Durch eine solche parteipolitisch entgrenzte Lösungsorientierung und -kompentenz, ohne dabei politische Interessen und sozioökonomische Widersprüche zu ignorieren, gelang es dem sozialdemokratischen Reformdiskurs in gewisser Weise, den gesamtgesellschaftlichen schwedischen Reformdiskurs in sich zu inkorporieren, so dass das Schwedische und das Sozialdemokratische sich überlappten. Zugleich nutzte Göran Persson – wenn nötig – die Durchsetzungsressourcen des schwedischen Politiksystems, setzte sich über Akteursblockaden hinweg und schmückte sich dabei mit einem populistischen Führungsstil, der im Zuge der allgemeinen Mediatisierung des Politischen den Reformdiskurs über die direkte Aktivierung der Öffentlichkeit entscheidend vorantrieb. Der schwedische Reformdiskurs nutzte also die Kommunikationsressourcen des gleichheitsorientiert konsensualen Diskurskontexts, bediente aber auch die in ihm vorherrschenden Erwartungshaltungen. Der deutsche Reformdiskurs hob sich von den beiden anderen Diskursen auf bemerkenswerte Weise ab: dies jedoch weder wegen der pfadabweichenden Stoßrichtung der Reformen, die eine sehr starke normative Begründung notwendig gemacht hätte – die zum Teil viel zu spät nachgereicht wurde und zum Teil gar nicht stattfand –, noch wegen des politiksystemischen Verhandlungszwangs des fragmentiert konsensualen Diskurskontexts, der eine diskursiv ideologische Abgrenzung erfordert hätte922 – die ebenfalls nicht stattfand. Sondern der Reformdiskurs der Regierung Schröder unterschied sich von den anderen Diskursen vor allem, weil er in seiner interaktiven Dimension entgegen den kontextlogischen Kommunikationsbedingungen geführt wurde. Gerhard Schröder führte eher den Reformdiskurs eines einfachen als den eines komplexen Politiksystems und vertraute dabei wesentlich auf seine Medienpräsenz. Anstatt durch strategische Moderation und Steuerung eines elaborierten koordinierten Diskurses so viele Diskursprotagonisten wie möglich auf seine Seite zu ziehen – wie es dem komplexen Politiksystem entsprechend gewesen wäre –, überrumpelte er durch kommunikative Vorstöße Diskurspartner und zerstörte mögliche Diskursallianzen. Bei Diskurspartnern oder -allianzen geht es nicht primär um politische Machtallianzen der realen Policy-Durchsetzung, sondern vor allem um Policy-Akteure und auch gewichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die Themen und Begriffe in der öffentlichen Diskursarena im Sinne der Reformrichtung debattieren. Solche Diskursallianzen brechen politische Blockaden auf und vergrößern somit die realen Durchsetzungsressourcen der Regierung. In einem fragmentiert konsensualen Diskurskontext kann es für wichtige Diskursakteure immer wieder hilfreich sein, den koordinierten Diskurs zu umgehen und sich kommunikativ direkt an die Wähler zu wenden. Doch gerade der kommunikative Reformdiskurs verlangt mehr normative Begründungen und klare Leitperspektiven der Reformpolitik. Das Dilemma des deutschen Reformdiskurses bestand also darin, dass, nachdem der ‚Medienkanzler’ Schröder eher dem kontextfremden kommunikativen Dis922
Vgl. Kap. 4.5: ‚Nationale Diskurskontexte’
6.1 Welcher öffentliche Reformdiskurs unter welchen nationalen Bedingungen?
313
kurs vertraute, ihm dafür jedoch der notwendige, über die Kommunikation des Regierungspragmatismus und -alltags hinausreichende programmatische Begründungsdiskurs fehlte. Der schwache und verspätete normative Diskurs schwächte sich noch dadurch zusätzlich, dass er über weite Strecken Politik-Ideen und Werte des britischen ‚New Labour’-Diskurses rhetorisch aktivierte, die dem deutschen Kontext häufig wesensfremd waren. Aufgrund eines fehlenden normativen und ideengestützten Begründungsrahmens, der auch die verschiedenen Subdiskurse umfasste, kam es ferner im deutschen Reformdiskurs in seiner kognitiven Dimension zu Kakophonie und kommunikativen Widersprüchen, so dass der Diskurs insgesamt zu keinem Zeitpunkt Notwendigkeit und Angemessenheit der Reformen überzeugend vermitteln konnte. Der Vergleich machte deutlich, dass öffentliche Reformdiskurse kommunikativ wie programmatisch sehr unterschiedlich mit ihren nationalen Diskurskontexten interagieren müssen, um eine tatsächliche transformative Reformwirkung zu erzielen. Gleichwohl haben für Parteien wie auch andere Akteure – auch dies wurde durch den Vergleich herausgearbeitet – öffentliche Diskurse immer Auswirkungen: Durch einen gelungenen Reformdiskurs können sich Parteien im Parteienspektrum verbessert positionieren, durch einen gescheiterten aus einer komfortablen gesellschaftlichen Mitte herauskatapultieren, ein erfolgreicher, nach außen gerichteter Refomdiskurs kann die gesamtgesellschaftlichen Werteorientierung stärker an die programmatischen Werte der Partei heranführen und ein nach innen ausgerichteter die Partei politisch und organisatorisch modernisieren und Traditionsblockaden auflösen, ein schwacher Reformdiskurs kann hingegen latente innerparteiliche Widersprüche noch verschärfen und eine Parteiprogrammatik gesamtgesellschaftlich marginalisieren, weil sie nicht mehr als relevante und zeitgemäße Antwort auf die Herausforderungen der Zeit wahrgenommen wird. In diesem Spannungsfeld aus Beschränkungen, Möglichkeiten und Auswirkungen zwischen Reformdiskurs und Diskurskontext positionierten sich die drei sozialdemokratischen Reformdiskurse strategisch recht unterschiedlich:
Die britische Labour Party entsprach mit ihrem kommunikationsprofessionellen Diskurs einer marktzentrierten ‚Modernisierung durch Wandel’ passgenau den Bedingungen und Möglichkeiten des britischen Diskurskontextes. Jedoch wurden im Diskurs die Modernisierungsprozesse und -herausforderungen fast nur affirmativ kommuniziert und sozioökonomische Interessen und Widersprüche entweder ignoriert oder als problemlos durch managerialistische Politikkonzeptionen zu lösende Sachfragen dargestellt (was ebenfalls normativ weitgehend auf die liberale politische Gesellschaftskultur ausgereichtet war), so dass es für das originär ‚Sozialdemokratische’ zunehmend schwierig wurde, sich vor dem Hintergrund des liberal konkurrenzorientierten Diskurskontexts diskursiv abzusetzen und diesen somit zu verändern. Das Dilemma des britischen öffentlichen Reformdiskurses bestand darin, dass er sich so weit an die Bedingungen seines Diskurskontexts angepasst hatte, dass er zwar auf diese Weise machtpolitisch erfolgreich war, aber – trotz seines fulminanten Aufbruchs – diskurspolitisch kaum Spuren hinterlassen hat. In Schweden bediente die SAP mit ihrem ‚Modernisierung durch Bewahrung’-Diskurs ebenfalls sehr genau die Anforderungen des schwedischen Diskurskontexts. Das ‚schwedische Modell’ war im Reformdiskurs stets normativer Bezugspunkt. Obwohl das politökonomische und wohlfahrtsstaatliche ‚Modell’ ganz offensichtlich massiven
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6 Schlussbetrachtung und Ausblick Veränderungen unterworfen war, wurde der diese Veränderungen legitimierende Reformdiskurs als normativer Kontinuitätsdiskurs geführt. Die Wohlfahrtsstaatsreformen wurden hier über die fortwährende Gültigkeit sozialdemokratischer Werte und politischer Gestaltungsprinzipien kommuniziert, die es nicht trotz, sondern gerade wegen der Veränderungen der postindustriellen Arbeitswelt, der Globalisierung oder der Individualisierung zu behaupten gelte. Indem die Modernisierung als substanzieller Bestandteil der Bewahrung eines sozialdemokratisch geprägten Gesellschaftsmodells kommuniziert wurde, gelang es den schwedischen Sozialdemokraten den gleichheitsorientiert-konsensualen Diskurskontext zu stabilisieren. Im schwedischen Reformdiskurs wurde Modernisierung nicht als Wert an sich artikuliert; technologische, mediale und soziokulturelle Veränderungen wurden nicht nur affirmativ als Chance, sondern sehr kritisch auch als Gefahr beschrieben. Der deutsche Reformdiskurs der SPD entsprach überwiegend nicht den spezifischen Rahmenbedingungen des deutschen Diskurskontexts. Die Modernisierungserzählung wurde mal als Überwindung, mal als Bewahrung, mal als alternativlose Herausforderung, mal als chancenreicher Aufbruch konzeptualisiert. Dass der deutsche Reformdiskurs so wenig auf die Bedingungen und Möglichkeiten seines Kontextes einging, war vor allem in der Tatsache begründet, dass die Sozialdemokraten zu Zeitpunkt der Machtübernahme und auch danach keinen eindeutigen und spezifisch deutschen Reformdiskurs hatten. Es gab in Gerhard Schröders Amtszeit mehrere sich überlagernde, sich teilweise widersprechende Teildiskurse, die sich zwischen den Polen einer ideologisch entkernten Modernisierung mit einer Vielzahl britischer Fremdanleihen einerseits und einem sozialdemokratischen Traditionalismus andererseits aufspannten. Aus diesem Grund fehlte dem reformlegitimierenden Diskurs ein klarer Bezugspunkt. In der Mediendemokratie vertraute Gerhard Schröder vor allem seiner Mediengewandtheit und -kompetenz, die allerdings – vor dem Hintergrund der Reformherausforderung – allzu oft zu Lasten der diskursiven Neubestimmung einer grundwerteorientierten sozialdemokratischen Identität ging. Die professionalisierte medienzentrierte Kommunikation der ‚Tageskompetenz’ war bis zur ‚Agenda 2010’ und sogar noch danach von einem allumfassenden Reformdiskurs entkoppelt, so dass die Stärke kurzfristiger kommunikativer Geländegewinne die Schwäche eines fehlenden kohärenten Gesamtdiskurses langfristig nicht ausgleichen konnte. Die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen wurden zwar durchgesetzt, doch durch ihre schwache diskursive Legitimation entwurzelte sich im deutschen Diskurskontext nachfolgend der sozialdemokratische Politikdiskurs massiv.
Forschungsperspektive In den letzten Jahren hat die komparative Wohlfahrtsstaatsforschung Ziele, Instrumente und Ergebnisse der verschiedenen sozialpolitischen Rück- und Umbaupolitiken ausgiebig untersucht und dabei höchst unterschiedliche institutionelle Bedingungen und Machtressourcen, Akteure, Willensbildungen und politische Prozessverhältnisse identifiziert. Neben diesen unterschiedlichen politischen Reformvoraussetzungen muss man den öffentlichen Reformdiskurs als einen zentralen Faktor bei der Durchsetzung von Reformen betrachten. In der vorliegenden Arbeit wurde Vivien A. Schmidts Ansatz somit bestätigt, dass der öf-
6.1 Welcher öffentliche Reformdiskurs unter welchen nationalen Bedingungen?
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fentliche Diskurs ein dynamisches und mediatisierendes Machtinstrument in unterschiedlichen nationalen Institutionensystemen und Akteurskonstellationen darstellt, nicht zuletzt deshalb, weil gerade über den Diskurs die ansonsten starren Strukturen der Entscheidungsfindung zumindest zeitweise fluide werden. Der diskursive Institutionalismus, der den Diskurs in einem gegebenen institutionellen Setting als variablen Interaktionsfaktor zwischen kollektiven Akteuren und der Öffentlichkeit analysiert923, ist ein wichtiger methodischer Ansatz zur Erklärung einerseits von Reformprogrammen, -implementierung und -outcomes und andererseits der Wiederwahlchancen von Politikern und Parteien. Es wurde ferner gezeigt, dass sich über den diskursiven Institutionalismus zudem die dynamischen und unabschließbaren Spannungen einer diskursiven Parteienkonkurrenz legen, die sich dadurch auszeichnet, dass Parteien in der Reformpolitik und darüber hinaus nach politisch-kultureller Hegemonie ihrer Werte und ihrer strukturierenden und sinnstiftenden Weltinterpretation streben. Das Entfaltungspotential eines nationalen Reformdiskurses ist also gleichermaßen durch sein institutionelles Setting wie auch durch seine parteipolitische Ausrichtung determiniert. Aus diesem Sachverhalt konnten folgende forschungsrelevante Schlüsse gezogen werden. Erstens: Der Reformdiskurs stellt im Prozess wohlfahrtsstaatlicher Rückbau- bzw. Umbaubemühungen eine wichtige Machtressource dar. Um den Widerstand der Wähler, die auf sozialpolitische Kürzungen grundsätzlich relativ stärker negativ als auf Expansion positiv reagieren, aufzubrechen und sie von der Notwendigkeit und Richtigkeit der Reformen zu überzeugen, bedarf es eines starken Begründungsdiskurses, der die Reformen einerseits mit nationalen Werten unterfüttert und andererseits mögliche BlockadeKonstellationen der Diskursakteure vor dem eigentlichen Policy-making verändert. Zweitens: In ein und demselben nationalen Diskurskontext finden sich notwendig parteipolitisch unterschiedliche und konkurrierende Reformdiskurse. Drittens: Öffentliche Reformdiskurse gleicher parteipolitischer Herkunft unterscheiden sich notwendig entsprechend ihres jeweiligen nationalen Diskurskontexts. Viertens: Auch wenn für alle Parteien Reformherausforderungen und -inhalte gleich sind, können parteipolitischen Reformdiskurse in den gegebenen Diskurskontexten nicht aus ihrer ideologischen Tradition ausbrechen. Fünftens: Die parteipolitische Herkunft umfasst auch kollektive Formen eines moralischen Überzeugtseins, die weniger argumentativ hergestellt wurden, sondern historisch gewachsen sind. Hier könnte man von einer ‚kollektiven Moralität’ der Parteimitglieder und -sympathisanten sprechen. Die Glaubwürdigkeit eines öffentlichen Diskurses hängt wesentlich davon ab, ob die Diskursprotagonisten dieser Moralität entsprechen und diese artikulieren können. Sechstens: Die an politischen Mehrheiten orientierten Führungsspitzen der Parteien und/oder Regierungen müssen notwendig Reforminhalte kommunizieren und dabei so viele Wähler wie möglich überzeugen wie auch die allgemeinen Wertorientierungen der Parteimitglieder im Blick haben. Dieses prinzipielle Spannungsverhältnis hat sich unter dem zunehmenden Kommunikationsdruck der Mediendemokratie in den letzten Jahrzehnten in allen Ländern und allen Parteien massiv verstärkt. 923
V.A. Schmidt 2003
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6 Schlussbetrachtung und Ausblick
Siebtens: Nationale Diskurskontexte eröffnen den parteipolitischen Diskursprotagonisten strategisch eine Bandbreite von sowohl normativen als auch interaktiven Diskursoptionen. Achtens: Nationale Reformdiskurse können sich diskurskontextkonform oder -fremd artikulieren, die parteipolitische Herkunft des Diskurses betonen oder verschweigen, eher normative Werte oder eher Sachprobleme kommunizieren. Neuntens: Sowohl Reform-Policies als auch parteiprogrammatische Revisionen müssen analytisch im Hinblick auf ihre diskurspolitische Aktivierbarkeit im jeweils gegebenen Diskurskontext betrachtet werden. Zehntens: Reformdiskurs und Diskurskontext (insgesamt sowie seine jeweiligen Inputund Output-Filter) sind dynamisch aufeinander bezogen. Indem Parteien einen Reformdiskurs in ihrem Diskurskontext führen, verändern sie immer wieder den Kontext und somit die Ausgangsbedingungen für zukünftige Diskurse positiv oder negativ.
Populismusherausforderung Diese Erkenntnisse öffnen eine breitere analytische Perspektive auch auf sozialdemokratische Reformpolitik und Parteien: Der Reformdiskurs selbst stellt nämlich aufschlussreiche Verbindungen zwischen ähnlichen Reformherausforderungen und -instrumenten sowie programmatischen Neubestimmungen auf der einen und höchst unterschiedlichen Wahlerfolgen sozialdemokratischer Parteien auf der anderen Seite her. Es ist in den letzten zehn Jahren deutlich geworden, dass für sozialdemokratische Parteien in ganz Europa eine vielleicht größere Herausforderung von rechts- oder linkspopulistischen Parteien924 ausgeht, als von der bürgerlichen Konkurrenz in der gesellschaftlichen Mitte. Der Populismus kann längst nicht mehr als kurzfristiges Protestphänomen beschrieben werden, das in einer Demokratie immer mal wieder aufbricht, aber auch schnell wieder verschwindet. In nahezu allen europäischen Parteiensystemen haben sich populistische Parteien dauerhaft etabliert, die vor allem auch Stimmen aus dem traditionell sozialdemokratischen Wählerreservoir abschöpfen925. Aus diskursanalytischer Sicht ist hier weniger ein personencharismatischer, partei- oder bewegungsorganisatorischer Populismus interessant sondern ein diskursiver Populismus, der die Vernachlässigung der nachindustriellen Konfliktstruktur im sozialdemokratischen Reform- und Politikdiskurs offen legt und ausnutzt. Ob populistische Protestparteien sich erfolgreich auf Kosten der Sozialdemokratie profilieren können, hängt augenscheinlich auch davon ab, ob es sozialdemokratischen Parteien ihrerseits gelingt, sich als echte und wahre Alternative zu einer als ungerecht empfundenen Gegenwart, als Garant für historisch-politisch und persönlich Erreichtes und als Sicherheit in unsicheren Zeiten darzustellen. Diese mitunter widersprüchlichen Erwartungen werden in heterogenen Gesellschaften durch heterogene und pragmatische Politikprogramme, ge-
924
Rechts- und linkspopulistische Parteien werden hier allein als Konkurrenten für sozialdemokratische Parteien gleichgesetzt, die sich dabei auf ein vergleichbares Wählerklientel ausrichten. Auch wenn es bekanntermaßen vor allem in kulturellen Fragen eine Schnittmenge zwischen rechts- und linkspopulistischen Parteien gibt („working class authoritarianism“), müssen diese dennoch programmatisch sehr genau unterschieden werden. 925 Vgl. F. Decker 2006
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schickte Kampagnen und charismatische Politiker bedient, doch erst der öffentliche Politikdiskurs fügt dies normativ zu einem glaubwürdigen Ganzen zusammen. Es fällt in der vergleichenden Betrachtung auf, dass der schwedische Reformdiskurs linken und rechten Populismus aus der Reformdebatte weitgehend raushalten konnte. In der Reichtagswahl vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise 1991 konnte zwar die rechtspopulistische Ny Demokrati vor allem mit der Thematisierung von Immigrationsproblematiken aus dem Stand 6,7% der Stimmen erreichen, doch 1994 konnte sie nicht wieder ins Parlament einziehen und verschwand ebenso schnell wieder, wie sie aufgetaucht war. Und auch die Vänsterpartiet (Linkspartei), die bis 1992 noch als Sveriges kommunistiska parti bzw. Vänsterpartiet kommunisterna fungierte, konnte zwar – nachdem sie seit dem Zweiten Weltkrieg bei Wahlen konstant zwischen 4 und 6% der Stimmen erreichte – 1998, nach Jahren massiven sozialpolitischen Rückbaus 12% der Stimmen gewinnen. Doch 2002 schon fiel ihr Stimmenanteil wieder auf 8% und 2006 mit 5,5% wieder auf ein Normalmaß926. Dass sich die politischen Ränder in Schweden nicht nachhaltig auf Kosten der Sozialdemokraten profilieren konnten, ist außerordentlich bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass sich das schwedische Modell, das so sehr auf sozialdemokratischer Programmatik gründete, in den 1990er Jahren in einer System- und Legitimationskrise befand, der Umbau des Wohlfahrtsstaats soziale Leistungseinbußen vor allem auch bei der sozialdemokratischen Kernklientel brachte und die rasante volkswirtschaftliche Transformation in Richtung Wissens- und Dienstleistungsökonomie eine neue Verteilung sozialer Risiken und folglich neue Risiko- und Verlierergruppen erzeugte. Der schwedische Reformdiskurs, der – im Gegensatz zu den Diskursen der Schwesterparteien – wohlfahrtsstaatliche Modernisierung gerade nicht über die programmatische Neudefinition sozialdemokratischer Werte wie Gerechtigkeit und Gleichheit legitimierte und neue Verteilungskrisen nicht als längst überwundenes Phänomen der industriellen Vergangenheit abtat, scheint dem diskursiven Populismus anti-systemische Angriffsflächen ‚verbaut’ zu haben. Ferner scheint für den Erfolg des schwedischen Diskurses zu sprechen, dass die Sorgen über wachsende Desintergrations- und Fragmentierungsprozesse, über arbeitsmarktliche Flexibilisierung und Prekarisierung und postmoderne Identitäts- und Sinnkrisen in den eigenen Diskurs integriert wurden. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass wohlfahrtsstaatliche Anpassung an interne und externe Veränderungen und Herausforderungen nur über die diskursive Neubestimmung zentraler politisch-kultureller Werte und gesellschaftlicher Erwartungen und Einstellungen zu erzielen sei, vollzogen die schwedischen Sozialdemokraten weitreichende Reformen über die diskursive Versicherung, dass die normativen Grundlagen und die politischen Handlungsprinzipien des universalistischen Wohlfahrtsfahrtsstaats gerade nicht verändert werden. Wohlfahrtsstaatliche ‚Modernisierung’ wurde als politisches Gestaltungsinstrument kommuniziert, mit dem man diesen neuen Herausforderung begegnen müsse; in den anderen Ländern wurde ‚Modernisierung’ eher als eine Art Naturereignis beschrieben und die Politik die daraus folgenden sozialen Verwerfungen nicht verhindern, allenfalls abfedern könne. Waren in Deutschland die teilweise beachtlichen Wahlerfolge rechtspopulistischer (Republikaner, Statt-Partei, Schill-Partei) und rechtsextremer Parteien (DVU, NPD) bei
926
Auch in den Umfragen pendelte sich die Vänsterpartiet im Jahr 2008 auf einen Wert von 5-6 % ein. Vgl. www. sifo.se/Public/Reports/Barometer.aspx (14.03.2009)
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6 Schlussbetrachtung und Ausblick
Landtags- und Kommunalwahlen927 ab den frühen 1990er Jahren Ausdruck eher allgemeiner ökonomischer Modernisierungskrisen und kulturell eher diffuser Identitäts- und postdemokratischen Repräsentationskrisen, die in fast allen europäischen Ländern ähnliche Ursachen haben und ähnliche Reaktionen erzeugen, so war die spektakuläre Formierung eines neuen Linksbündnisses 2005 aus der ostdeutschen PDS und der westdeutschen SPDAbspaltung WASG eine unmittelbare Reaktion auf die Reformpolitik der Regierung Schröder. Der deutsche Reformdiskurs ist also in dieser Hinsicht gescheitert: Nicht nur, dass es ihm nicht gelang, die für populistische Parteien anfälligen Wählermilieus (abstiegsbedrohte Mittel- und Unterschichten) wieder in die institutionell-prozessualen und kommunikativen Mechanismen der liberalen Demokratie einzubinden und so für Parteien des demokratischpluralistischen Mainstreams zurückzugewinnen (ein Anspruch, der – zumindest kurzfristig – ohnehin vermessen gewesen wäre), sondern die Integrationsdefizite des öffentlichen Diskurses aufgrund fehlender nationaler Referenzpunkte sowie seine fehlenden normativen Grundlagen und fehlende kognitive Klarheit hinsichtlich der Reformnotwendigkeit und -richtung erzeugten eine öffentliche Stimmung, die erst die Gelegenheitsstruktur für eine gesamtdeutsche Partei links von der SPD schuf. Paradoxerweise steigerte Schröders BastaRhetorik den diskursiven Populismus dadurch, dass auch berechtige und rationale Einsprüche gegen bestimmte Reformprojekte mit einem Populismus-Vorwurf belegt wurden. Denn in eben diesem Moment generierte der Reformdiskurs seinerseits ein kommunikatives Spannungsverhältnis von ‚Reform-Establishment’ und ‚reformunwilligem Volk’ und einen politischen Dezisionismus eines finalen ‚Dafür’ oder ‚Dagegen’, welche eigentlich Kennzeichen eines diskursiven Populismus sind. In Großbritannien ist die Gefahr, die von populistischen Protestparteien für die Labour Party ausgehen, aufgrund des Mehrheitswahlrechts gering. Zudem bietet das einfache Politiksystem – ganz im Gegensatz zu komplexen und ‚kommunikationslangsamen’ Konsensdemokratien – eine Vielzahl direkter Kommunikationskanäle, die britische Premierminister nutzen, um den Wählern ihre unmittelbare Verbundenheit zu vermitteln. Das britische Politiksystem erzeugt, mehr als die beiden anderen Politiksysteme mit ihren häufig elitären Aushandlungsdiskursen, auf diese Weise einen latenten Regierungspopulismus. So stellte Tony Blair in seinen Reden und Statements immer wieder heraus, dass er sich auf der Seite der Mehrheit der Bevölkerung wähne und nur deren Interessen und nicht die von partikularen Interessensorganisationen vertrete oder durchsetze928. Die Professionalisierung des politischen Marketings in der Regierungszentrale, die De-Politisierung des Reformdiskurses, die kommunikative sowie realpolitische Entmachtung der Partei, alles um Regierungs‚Botschaften’ auf Linie zu halten, eröffneten der Regierung Blair ferner eine Bandbreite von Möglichkeiten der charismatischen Selbstdarstellung und schnellen Hinwendung auf Stimmungen in der Bevölkerung, so dass einem diskursiven Populismus bereits frühzeitig begegnet werden konnte. Doch auch in Großbritannien wurden xenophobe, chauvinistische und nationalistische Eruptionen wie auch populistische Establishment- und Systemkritik zunehmend zur Belastung des sozialdemokratischen Politik- bzw. Regierungsdiskurses929. 927
Den Republikaner gelang 1992 mit 10,9 % der Sprung in baden-württembergische Landtag, 1992 wurde die DVU bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein mit 6,3 % drittstärkste Partei, die Statt-Partei erhielt bei der Hamburger Bürgerschaftswahl aus den Stand 5,6 %, die Schill-Partei 2001 ebenfalls in Hamburg 19,4 %. Die DVU 1998 erhielt in Sachsen-Anhalt 12,9 %, 1999 in Brandenburg 5,3 % der Stimmen. Die NPD zog 2004 in Sachsen mit 9,2 % und 2006 in Mecklenburg-Vorpommern mit 7,3 % in die jeweiligen Landtage ein. 928 U. Jun 2006 929 W.A. Perger 2007
6.2 Der ideologische Diskurs der Sozialdemokratie
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6.2 Der ideologische Diskurs der Sozialdemokratie In der vergleichenden Analyse wurde ferner deutlich, dass parteiliche Reformdiskurse immer das inhaltliche Resultat von Reformzwängen und Reform-Policies einerseits und programmatischen Grundwerten, einer ideologischen Herkunft und Verlaufsgeschichte sowie einer Reaktion auf konkurrierende Positionen andererseits sind. Auch wenn Reformzwänge eine grundlegende Neubestimmung der Politikinstrumente und mitunter auch der Politikziele verlangen, bleiben Partei- und parteigestützte Regierungsdiskurse doch stets in ihre jeweiligen ideologischen Grundwertediskurse eingebettet. Die diskursive Herausforderung besteht also darin, die politischen Veränderungen so zu kommunizieren, dass sie sich aus der Kontinuität der immer schon geltenden ideologischen Werte ableiten. Mehr noch: Reformen müssen die fortwährende Gültigkeit der jeweiligen Grundwerte bestätigen. Ein parteigestützter Reformdiskurs kann sich zwar von seinen historischen Vorläufern markant unterscheiden, dennoch muss er ein ideologisch spezifischer Reformdiskurs bleiben, der sich von konkurrierenden Diskursen sowohl in seinen Inhalten als auch in seiner kommunikativen Argumentation und Rhetorik unterscheidet und abgrenzt. Dies gilt für alle politischen Parteien; das diskursive Spannungsverhältnis zwischen der Kontinuität der Grundwerte und der zu kommunizierenden Politikveränderungen ist allerdings bei den Parteien je nach ideologischer Herkunft und Politikfeld unterschiedlich stark. Während beispielsweise Reformen der Integrationspolitik eher bei konservativen Parteien diskursive Spannungen erzeugen, berührt die Reform des Wohlfahrtsstaats stärker den historisch gewachsenen programmatischen Kernbestand sozialdemokratischer Parteien. Sozialdemokratische Reformdiskurse sind zwar in jeweils unterschiedliche nationaler Diskurskontexte inhaltlich und kommunikativ eingebettet und mit ihnen dialektisch verschränkt, gleichwohl müssen – zwecks notwendiger Selbstverortung – konkretpragmatische Inhalte sozialdemokratischer Regierungspolitik zugleich mit einem ideologischen Politikdiskurs verbunden sein. Wo kann sich die Sozialdemokratie nach zwei Jahrzehnten der programmatischen und politischen Neubestimmung diskursiv platzieren? In der Untersuchung wurde deutlich, dass es problematisch ist, einen Policy-Reformdiskurs aus seiner parteipolitischen Herkunft herauszulösen und allein mit Hilfe kommunikationsorganisatorischer Modernisierungen führen zu wollen. Ferner wurde herausgearbeitet, dass ein Politikdiskurs real-praktisch wie auch normativ nicht von den Bedingungen getrennt werden kann, unter denen er geführt wird: sowohl die Bedingungen des nationalen Diskurskontexts als auch die der gesellschaftlichen, kulturellen und medialen Veränderungen. Für den Diskurs bedeutet dies, dass die jeweiligen Bedingungen einer je spezifischen ideologischen Antwort bedürfen. Zwar verlangen z. B. Individualisierung oder Mediokratisierung neue Formen der politischen Kommunikation, doch zugleich verstärken häufig die darauf reagierenden Strategien des politischen Marketings und der Kundenpräsentationen die darin angelegte Tendenz der Entpolitisierung und Fragmentierung. Das heißt, dass ein Politikdiskurs, der nur affirmativ auf veränderte Bedingungen reagiert, langfristig selbst hinter den Veränderungen verschwindet. Um in einer modernen liberalen Demokratie einen Politikwechsel zu kommunizieren und zu legitimieren, braucht ein Reformdiskurs – neben der pragmatischen Kommunikation der konkreten Reform-Policies – notwendig eine normativ begründete Argumentation, die sich sowohl auf den nationalen Diskurskontext (kollektive Erfahrungen, Erwartungen und Werte) als auch auf den jeweiligen Diskursprotagonisten bezieht. Der Reformdiskurs ist
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6 Schlussbetrachtung und Ausblick
dabei niemals der Parteienkonkurrenz enthoben. Das bedeutet, dass ideologische Argumentationen zwar immer wieder an veränderte Rahmenbedingungen und Wählererwartungen angepasst und verändert werden müssen, es aber nicht möglich ist, einen Diskurs ohne jegliche ideologische Verortung auf der Rechts-links-Skala zu führen. Hier stellt sich die Frage nach dem ideologischen Diskurs der Sozialdemokratie: Was ist die differentia specifica der zu kommunizierenden Inhalte, Werte und Ideen vor dem Hintergrund vielfältiger Reformzwänge. Nur zehn Jahre nach der Euphorie der Wahlerfolge einer neuen dynamischen und modernen europäischen Sozialdemokratie, die Ende der 1990er Jahre mit Begriffen wie ‚Dritter Weg’ und ‚Neue Mitte’ in 11 von 15 Mitgliedsstaaten der EU die Regierung stellte, finden sich sozialdemokratische Parteien heute überwiegend in der Opposition wieder. Auch wenn es immer wieder erfolgreiche Ausreißer gibt (z. B. die spanische PSOE), muss insgesamt konstatiert werden, dass die Sozialdemokratie heute im Vergleich zum Aufbruch der späten 1990er Jahre fast überall in Europa ideologisch ausgebrannt, konzeptionell verschlissen, unentschlossen und verwirrt und politisch-kulturell sprach- und leidenschaftslos wirkt. Dabei hatten sozialdemokratisch geführte Regierungen nach den gängigen Kennziffern in den 1990er und 2000er Jahren durchaus Erfolge aufzuweisen: Sie sanierten die Staatshaushalte, hielten die Inflationsraten niedrig, deregulierten die (Arbeits-)Märkte, bauten weder den öffentlichen Sektor aus noch erhöhten sie die Steuern, schufen gute Investitionsbedingungen und reduzierten auf diese Weise die Arbeitslosigkeit und stabilisierten strukturell die Wohlfahrtssysteme. Die neue Sozialdemokratie verfolgte in klarer Abgrenzung zu ihren vermeintlichen alten Vorstellungen etatischer Steuerung und regulierender Intervention eine nunmehr nüchterne und wirtschaftsfreundliche Politik, die mit dem Begriff ‚nononsense’ treffend charakterisiert ist. Die vergleichende Analyse öffentlicher Reformdiskurse erklärt diese Diskrepanz zwischen Politik- und Wahlerfolg mit der fehlenden Kohärenz der kognitiven und (parteiprogrammatisch eingebetteten) normativen Diskursdimension. Jeder Politikdiskurs gründet – ganz im Gegensatz zu bloß politischer Alltagskommunikation – auf einem historisch gestützten Narrativ, das in einer komplexen Verknüpfung von Interessen, Argumenten, Symbolen, Werten und Ideen Sinn und Zweck politischen Handelns und somit der Reformanstrengungen legitimiert. Aus eben diesem Grund ist die parteipolitische Herkunft der Diskursprotagonisten nicht vom Diskursinhalt zu trennen. Gerät die kognitive Argumentation, also die Kommunikation der Policy-Inhalte in Widerspruch zu dem Partei-Narrativ, verliert der Reformdiskurs seine innere argumentative Stabilität und Glaubwürdigkeit. Der Versuch des ‚Dritte Wegs’, sich der mit der alten Sozialdemokratie assoziierten Übel wie hohe Steuern und Haushaltsdefizite, Bürokratisierung und Bevormundung zu entledigen, war häufig so konsequent, dass auch der identitäre Kern, also ein historisch gewachsenes Narrativ der Sozialdemokratie über Bord geworfen wurde. „Was den europäischen Sozialdemokratien fehlt, was verloren ging, ist die ‚große Erzählung‘ von der Humanisierung der Gesellschaft, von der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Egalität, von der sozialen Gerechtigkeit“930. Die europäische Sozialdemokratie war den weit überwiegenden Teil ihrer Geschichte auf die pragmatische Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in einem realistischen Rahmen des Machbaren ausgerichtet. Doch die traditionelle sozialdemokratische Reform930
P. Lösche 2003: 212
6.2 Der ideologische Diskurs der Sozialdemokratie
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politik war immer auch von normativ begründeten Visionen einer gerechteren oder anderweitig zu bevorzugenden Gesellschaft motiviert.
Das Verschwinden des sozialdemokratischen Narrativs Mit dem ‚Dritten Weg’ verschwinden aus dem sozialdemokratischen Diskurs nicht nur diese normativ begründeten Visionen, sondern auch ein spezifisches Narrativ. Deshalb fehlt dem öffentlichen Reformdiskurs eine ideologisch kommunikative Klammer: Die Politik erscheint als permanentes Krisenmanagement, die mit der Bewältigung von akuten Alltagsproblemen überbeschäftigt ist, und als unzusammenhängende Reihe einzelner Reformen. Im Diskurs gibt es für „mitreißende, den Nahbereich des Gegenwärtigen überschreitende Ideen keinen Platz mehr“. Unter dem Ansturm des akut Bearbeitungsbedürftigen gerät die Zukunft aus dem Blick931. Das diskursive Defizit der Sozialdemokraten in den 1990er und 2000er Jahren bestand nicht darin, dass sie historisch überholte und unrealistische Visionen aufgaben, sondern dass sie es versäumten, zeitgemäße Nachfolgevisionen für die Visionen zu formulieren, die im 20. Jahrhundert ihren Erfolg gesichert hatten. Stattdessen disqualifizierten und diskreditierten moderne Sozialdemokraten im Namen des Pragmatismus-Paradigmas jeden Versuch, einen Gestaltungsanspruch über den Status quo hinaus zu formulieren, als politisch und intellektuell naiv und inkompetent. Dabei übersahen die Modernisierer vielfach, dass ein öffentlicher Politikdiskurs – um erfolgreich sein zu können – notwendig über die engen kommunikativen Grenzen der reinen Policy-Vermittlung hinausweisen muss. Denn jenseits der rein technischen Erläuterung der Reformzwänge müssen die reformrichtungsmotivierenden Werte und Ideen im Politics-Feld Überschussenergien freisetzen, die inhaltlich ähnlich ausgerichtete bzw. analoge Diskurse und Praktiken stimulieren. Das sozialdemokratische Narrativ lieferte über 150 Jahre ‚Vokabulare’ und ‚Sprachspiele’, komplexe Instrumentarien kritischer Reflexion und intellektueller Deutung. Die dialektische Schwäche des ‚Dritten Weg’-Diskurses resultierte aus der expressiven Anerkennung immer kleiner werdender politischer Gestaltungsspielräume, gerade in dem historischen Moment, wo die Rückeroberung des Politischen im Sinne der Ausdehnung politischer Räume vonnöten gewesen wäre. So haben die sozialdemokratischen Reformdiskurse Europas die Herausforderungen, die zweifellos aus der Globalisierung resultierten, allzu oft als eine Art apolitisches ‚Naturgesetz’ und die sozialdemokratische Politik-Agenda quasi als säkularisierte Anerkennung eben dieser Gesetze der Natur kommuniziert. Zugleich wurden die negativen Konsequenzen des Globalisierungsprozesses nicht angemessen diskutiert, häufig sogar ignoriert. Der Reformdiskurs wurde dadurch einseitig: Politik und Gesellschaft müssen sich der Globalisierung anpassen. Umgekehrt fehlte jedoch eine vergleichbare Erzählung, wie die ‚Globalisierung’ an die Bedürfnisse der Menschen und Gesellschaften angepasst werden sollte. Im neu-sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsdiskurs wurde Sozialpolitik häufig allein über ihre ökonomische Funktion bestimmt; der Wohlfahrtsstaat hingegen als Instrument der Durchsetzung unhintergehbarer und vor allem bedingungsloser sozialer Staatsbürgerrechte wurde im Diskurs argumentativ immer stärker an den Rand gedrängt. Ein universeller politischer Gestaltungsanspruch, der über gutes wirtschaftspolitisches Management hinaus reicht, fehlte gänzlich. 931
C. Offe 2004: 31f.
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6 Schlussbetrachtung und Ausblick
Dabei ist die postindustrielle Risikogesellschaft voll von sozialen Fragen, rasant wachsenden Ungleichheiten und neuen Verteilungskämpfen. Das Unvermögen der Sozialdemokratie, diese heute zu artikulieren und sich ihrer anzunehmen, ist vielleicht das problematischste Erbe des ‚Dritte Weg’-Diskurses der 1990er Jahre. Denn in diesem Diskurs wurde der Kapitalismus nicht nur als gegeben akzeptiert (das hatte die Sozialdemokratie europaweit schon spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg getan), sondern kapitalistische Märkte wurden nunmehr mit einer positiven normativen Konnotation versehen und als gesamtgesellschaftliches Gestaltungsprinzip erhöht. Das bedeutete, dass soziale Widersprüche, Interessen und Spannungen oder auch tief verwurzelte Unsicherheitsgefühle nicht mehr als strukturelle Fragen des Kapitalismus behandelt wurden, sondern nur noch als Sachprobleme, denen mit managerialistischen und pragmatischen win-win-Konzeptionen sinnvoll begegnet werden könnte. Dieser neusozialdemokratische Diskurs ermöglichte in seiner Sterilität erstens keinerlei politische Identifikationen und erzeugte zweitens – neben der realen sozioökonomischen – eine diskursive Insider/Outsider-Problematik, da der Umbaudiskurs ein politisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich relativ einstimmiger Elitendiskurs war, in dem die vom sozialpolitischen Rückbau am stärksten Betroffenen meist sprachlos waren. In der Mediendemokratie hat sich jene öffentliche Kaste herausgebildet (Politiker, Journalisten, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler), die eine Veränderungs- und Risikobereitschaft reklamiert, die von ihr selbst sehr viel weniger verlangt als von den ‚kleinen Leuten’ und für sie selbst weit weniger risikoreich ist als für die immer größer werdende Anzahl der Menschen in prekären Beschäftigungs- und Lebensverhältnissen. Reformdiskurse sind Top-down-Diskurse. Dies ist diskursanalytisch an sich noch nicht problematisch; um erfolgreich zu sein, muss die, den Diskurs anstoßende Top-downKommunikation in einem zweiten Schritt auf eine ihr entgegenkommende Bottom-upKommunikation treffen, diese aufgreifen und inkorporieren. Dies ist ein sich stetig wiederholender Prozess, durch den sich sowohl der normative wie auch der kognitive Diskurs rückkoppeln und laufend korrigieren können. So sehr der öffentliche Diskurs eine zentrale Ressource im demokratischen Machtbildungs- und Durchsetzungsprozess sein kann, so sehr kann er – wenn er nicht auch auf Bottom-up-Impulse reagiert – zum sinnbildlichen Ausdruck einer, in der modernen Mediendemokratie latenten Gefahr der Oligarchisierung werden. In einem solchen Fall schlagen die Machtbildungsressourcen des öffentlichen Diskurses in ihr Gegenteil um und erzeugen eine politisch-kulturelle Entfremdung zwischen den Diskursprotagonisten und Diskursrezipienten. In der von Colin Crouch beschriebenen ‚Postdemokratie’932, in der konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte kontrollieren, demokratisch nicht legitimierte Experten und Lobbyisten Diskursinhalte bestimmen, Medien die politische Auseinandersetzung als Unterhaltungsspektakel inszenieren und die öffentliche Sphäre für privatwirtschaftliche Interessen geöffnet wird, spielt die Mehrheit der Bürger nur noch eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle. Nimmt der Einfluss privilegierter Eliten zu, ist in der Folge das egalitäre Projekt ‚Demokratie’ zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert. Ein großer Teil der Bevölkerung hat den Eindruck, die Kontrolle 932
Auch wenn Colin Crouchs argumentative und empirische Herleitung des Begriff „Postdemokratie“ über weite Strecken plausibel und für die hier vorgenommene Betrachtung aufschlussreich ist, so ist jedoch jede analytische Bestimmung die über die Beschreibung von Entwicklungstendenzen hinausreicht, also einen neuen Demokratietypus entdecken zu haben meint, problematisch. Vgl. auch Kap. 5.1.4: ‚Verschiebung des nationalen Diskurskontexts. Die Labour Party - Zurück zum Ausgangspunkt’ und für eine kritische Betrachtung der ‚Postdemokratie’ vgl. T. Meyer 2009: 195ff.
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über den demokratischen Prozess verloren zu haben. Die tendenziellen Entwicklungen hin zu einer Postdemokratie stellen eine immense Herausforderung für alle politischen Parteien und gesellschaftlichen Kräfte dar, besonders aber für linke Parteien, Organisationen und Bewegungen, deren historische Ursprungserzählung der Umverteilung von Wohlstand auch auf die demokratischen Begrenzung der Konzentration privater Macht und die Eindämmung des Einflusses mächtiger Interessengruppen zielte933. Der Begriff ‚Postdemokratie’ ist für die analytische Betrachtung von Reformdiskursen insofern hilfreich, weil er das Verhältnis der Diskurs-Inhalte (die eigentlichen ReformPolicies) und der Diskurs-Orte (Medien, kommerzialisierte Öffentlichkeit, PR-Management usw.) problematisiert. Die Diskurs-Inhalte und -Ideen können im Hinblick auf die Problemlösung richtig sein, doch wenn sie in einem nicht-partizipativen und nicht-egalitären Kommunikationsprozess kaum gesellschaftliche Rückkoppelung erfahren und als bloße Inszenierung erscheinen, verlieren die Argumente insgesamt ihre persuative Kraft. Ob ein Argument glaubwürdig in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, hängt wesentlich auch davon ab, ob Diskurs-Ort und -Sprecher als glaubwürdig und relevant wahrgenommen werden. Wenn Reformdiskurse nur einseitig an die postdemokratischen Veränderungen der Öffentlichkeit, der zivilgesellschaftlichen Teilhabeaktivitäten, Willensbildungsprozesse und politischen Interessensartikulation kommunikationspolitisch anpasst werden, anstatt diese Veränderungen als inhaltlichen Bestandteil in den gesamten Reformdiskurs kritisch mit einzubeziehen, verlieren die Diskursprotagonisten gerade jene glaubwürdigen und authentischen Räume und Orte, die eine zentrale Voraussetzung für legitimierende ReformKommunikation sind. Ein sozialdemokratischer Reformdiskurs, der die politische Kommunikation der Wohlfahrtsstaatsreformen weitgehend von den Veränderungen des sie umgebenen demokratischen Settings abkoppelt und auf die strukturellen Macht-Verschiebungen allein organisations- und kommunikationspolitisch reagiert, erzeugt fast zwangsläufig populistische Reaktionen derer, die sich von den Veränderungen überrannt fühlen. Wenn zudem die Reformnotwendigkeit und -richtung von politischen und akademischen Autoritäten als alternativlos kommuniziert werden, dann erzeugt ein solcher Elitendiskurs bei jenen, denen die Alternativlosigkeit ihrer sozial-ökonomischen Situation nicht erstrebenswert ist, notwendig Abwehrreaktionen.
Sozialdemokratische Modernisierung, modernisierte Sozialdemokratie Für die Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie ist es also von zentraler Bedeutung, dass sie einen zeitgemäßen Politikdiskurs findet, der weiterhin auf ihrem historischen Narrativ gründet: Sie muss wissen und erklären, wozu sie da ist. Diese Modernisierungsherausforderung gilt in ihrem ideologischen Kern für alle sozialdemokratischen Parteien gleichermaßen. Doch in den Randbereichen bieten die jeweiligen nationalen Diskurskontexte eine Bandbreite begrifflicher und konzeptioneller Modifikationen des ideologischen Kernbestandes an. Im analytischen Vergleich scheint die schwedische SAP mit ihrem Diskurs und der nachhaltigen Stabilisierung des sozialdemokratischen Diskurskontexts deshalb erfolgreich gewesen zu sein, weil es ihr gelang, die traditionelle kollektivistische und solidarische sozialdemokratische Erzählung in das neue individualistische Jahrhundert hinübergerettet zu haben. Die ökonomischen, sozialen und 933
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kulturellen Veränderungen machen die Sozialdemokratie gerade nicht obsolet: Sozialdemokratische Werte wurden als zeitgemäße Antwort auch im Hinblick auf die postmodernen und postindustriellen Herausforderungen kommuniziert. Die britische Labour Party schien mit ihrem ‚Dritten Weg’-Diskurs in einem liberalen, ‚Post-Reform’-Diskurskontext eine erfolgversprechende Antwort gefunden zu haben; schließlich gelang es New Labour drei Unterhaus-Wahlen hintereinander zu gewinnen. Allerdings passte sich dieser Reformdiskurs so sehr seinem neoliberal geprägten Diskurskontext an, dass er ihn nicht nachhaltig verändern konnte und sich als sozialdemokratischer Politikdiskurs in Großbritannien langfristig wahrscheinlich geschwächt hat. Denn ein sozialdemokratischer Diskurs, der die Gerechtigkeitsfrage vor allem funktionalistisch und weniger normativ rahmt und die Transformationsprozesse des gegenwärtigen Kapitalismus hauptsächlich positivistisch beschreibt, verschwindet in letzter Konsequenz als eigenständiger Diskurs aus der Geschichte. Der deutsche Reformdiskurs schließlich war – wegen einer Vielzahl nationaler Restriktionen und diskurspolitischer Fehler seiner Protagonisten – vor allem durch seine inhaltliche Inkonsistenz geprägt. Es gelang den deutschen Diskursprotagonisten zu keinem Zeitpunkt, die Reformpolitik über eine eindeutige zeitgenössische Selbstvergewisserung sozialdemokratischer Werte und Ideen zu kommunizieren. Es mangelte der sozialdemokratischen Regierungs- und Parteikommunikation an einleuchtenden Leitperspektiven. Die drei hier untersuchten sozialdemokratischen Reformdiskurse zeigen insgesamt und jeweils in sich eine offene oder nur latente, jedenfalls unaufgelöste ideologische Polarisierung, die die europäische Sozialdemokratie wie auch die gesamte europäische Linke seit spätestens den 1990er Jahren prägt. Sozialdemokratische Parteien und Politiker versuchen sich diskursiv und wahltaktisch meist zwischen den beiden Polen zu platzieren – mal näher an dem einen, mal näher an dem anderen Pol –, doch da beide Diskurs-Pole links der Mitte ideologisch kaum ein, auch in der gesellschaftlichen und kulturellen Breite wirksames und über die alltägliche Politikgestaltung hinausreichendes Diskursmaterial bereit stellen, zeugt der politische oder auch nur rhetorische Versuch, sich zwischen den beiden Polen zu bewegen, von programmatischer Unsicherheit und ideologischer Sprachlosigkeit. Es scheint, dass erst die Überwindung dieser Polarisierung es sozialdemokratischen Parteien wieder ermöglichen wird, einen progressiven Politikdiskurs zu führen, in die Gesellschaft ideologisch auszustrahlen, auf diese Weise Diskursenergien auch im Politics-Feld zu erzeugen und schließlich die politische Debatte voranzutreiben anstatt ihr defensiv zu folgen. New Labour und ‚Dritte Weg’-Programmatik repräsentieren den einen Pol: ein fast grenzenloses Vertrauen in das ‚einwandfreie Spiel der Marktkräfte’, die weitgehend unkritische Akzeptanz einer gegebenen kapitalistischen Wirklichkeit934 und der Globalisierung; keine politische Vision, die über pragmatische Gestaltung des Hier und Jetzt hinausweist, stattdessen technokratisches Politikmanagement. Einen nachhaltigen, auch gesellschaftlich und kulturell relevanten linken Reformdiskurs konnte die Programmatik des ‚Dritten Weges’, in der es kein alternativer Gesellschaftsentwurfs mehr fand (wofür es realpolitisch gute Gründe gab), nicht etablieren. Gerade vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise wurde das Defizit eines fehlenden kritischen Begriffs- und Ideensystems des ‚Dritten Weges’ überdeutlich. 934
Die britische Modernisierungsvariante der Sozialdemokratie verteidigte sogar offensiv den angloamerikanischen, deregulierten und finanzmarktzentierten Kapitalismustyp, als das zeitgemäßere, anpassungsfähigere und globalisierungstauglichere Modell.
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Eine nostalgische Linke repräsentiert den anderen Pol: Sie umfasst Teile der Gewerkschaften, Anti-Globalisierungsbewegungen wie attac, Linksparteien und häufig auch die linken Flügel sozialdemokratischer Parteien. Einem vermeintlich marktradikalen Modernisierungsdruck wird hier mit Abwehrreflexen begegnet, die einen sozial-politischen Zustand zu einem früheren Zeitpunkt rückblickend nostalgisch verklären. An diesem imaginierten Zeitpunkt in der Geschichte waren die Grenzen noch geschlossen, die Gewerkschaft noch stark, die Produktion noch massenindustriell und die kleinfamiliären Strukturen noch intakt. Die gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte werden vor allem als Verlust einer scheinbar gerechteren und widerspruchsfreieren Vergangenheit kommuniziert. Dieser nostalgische Anti-Neoliberalismus-Diskurs kennzeichnet sich meist durch die unreflektierte Empörung gegen die Anpassungszwänge und pessimistisch-defensive und rückwärtsgewandte Weinerlichkeit. Dieser Diskurs bietet weder erneuerte Analysemodelle der Gegenwartsbeschreibung noch zukunftsweisende und praktikable programmatische Alternativen, die den gesamtgesellschaftlichen öffentlichen Diskurs prägen könnten. Die Polarisierung führte letztlich zum Verblassen des eigenen Diskursprofils und die Sozialdemokratie in die Entpolitisierungsfalle. Ein ideengestützter Modernisierungsdiskurs der Sozialdemokratie scheint gegenwärtig in dieser Polarisierung gefangen zu sein: Einerseits Modernisierung als totale Anpassung an die ökonomischen Zwänge der Globalisierung und gesellschaftskulturellen Veränderungen und gleichzeitiger Rückzug auf die allerletzte historische Bastion, nämlich die Verteidigung gewisser sozialer Standards; andererseits nostalgische Modernisierungsverweigerung. Die Herausforderung der Sozialdemokratie der nächsten Jahre besteht darin, mit einem originären sozialdemokratischen Politikdiskurs diese Polarisierung zu überwinden. Ein Diskurs jedoch, der allein auf pragmatische Policy-Problemlösungen und auf deren professionelle politische Kommunikation setzt, also eine technokratische Version von Sozialdemokratie, vermag weder die zentrifugalen Kräfte der Gesellschaft zu binden, noch politische Hoffungen zu erzeugen. Es geht darum, die vorhandene Ideen und Werte neu zu erfinden und in der individualistischen Risiko- und Konsumgesellschaft mit neuen symbolischen Inhalten und Referenzen auszustatten. In welchem Spannungsrahmen sich eine solche diskursive Neuorientierung der Sozialdemokratie vollziehen muss, lässt sich mittels der in der vorliegenden Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse skizzieren. Erstens: Die Sozialdemokratie darf Modernisierung diskursiv nicht gegen ihr eigentliches Wesen kommunizieren: entweder realistische Modernisierung oder Bewahrung der wahren sozialdemokratischen Werte. Um einen progressiven sozialdemokratischen Diskurs zu führen, muss die Dichotomie von Modernisierung als ausschließliche Anpassung an externe ‚Facts of Life’ und defensiver Bewahrung überwunden werden. Zweitens: Der rein affirmative Verweis auf sozio-kulturelle oder ökonomische Veränderungen verkennt die politische Natur der jeweiligen Veränderungen, depolitisiert entsprechende Policy-Lösungen und degradiert sie zu rein technischen Anpassungsprozessen. Drittens: Um einen zeitgemäßen Politikdiskurs zu führen, der auch nachhaltig Profil und Identität erzeugt, muss die Sozialdemokratie als gesamtgesellschaftliche Inspiration und Vision wirken. Dies steht nicht im Gegensatz zum politischen Alltagsgeschäft, sondern fügt die kleinteilige, komplexe und technische Policy-Kommunikation in einen größeren Sinnzusammenhang ein. Dies ist nur möglich, wenn der Gestaltungs- und Begründungsdiskurs den eigen Diskurskontext kognitiv und normativ mit einschließt. Die Bedingungen,
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unter denen Politik gemacht und ein Reformdiskurs geführt wird, müssen Teil des Diskurses sein. Viertens: Je stärker sich die Gesellschaft individualisiert und enttraditionalisiert, desto stärker gewinnt die kulturelle und symbolische Diskurskomponente an Bedeutung. Um Politikverdrossenheit und Postdemokratie zu begegnen, muss ein sozialdemokratischer Diskurs den reinen Policy-Diskurs in den gesellschaftlich-kulturellen Diskurs verlängern. Dies setzt voraus, dass verschiedene Politics- und Kultur-Akteure in die Diskurskommunikation eingebunden und starre Organisationsstrukturen überwunden werden. Bei dieser diskursiven Öffnung geht es um innovative theoretische und praktische Inhalte, nicht um eine einseitige kommunikations- und organisationsmodernisierende Orientierung politischer Eliten auf eine ‚Konsumdemokratie’ hin. Fünftens: Ein sozialdemokratisches Narrativ – einmal verloren gegangen –, das gleichermaßen die Hoffnung auf politische Gestaltbarkeit, ein begriffliches Raster der Politikerklärung sowie konkrete Politikprogramme sinngebend überspannt, kann nicht einfach rekonstruiert werden, indem die Sozialdemokratie auf der Policy-Achse mehr nach ‚links’ oder mehr nach ‚rechts’ rückt. Ein solches Narrativ muss qualitativ neu begründet werden. In einer solch diskursiv-qualitativen Neubestimmung liegt aber auch eine Chance, sich vom links- und rechtspopulistischen Konkurrenten an den Ränder, wie auch von bürgerlichen in den gesellschaftlichen Mitte abzusetzen. Im 21. Jahrhundert finden sich – wie globale Finanz- und Klimakrise zeigen – Herausforderungen, die ein gänzlich neues Verständnis von Politikgestaltung und -anspruch verlangen. Ein Politikdiskurs, der die sozialdemokratischen Grundwerte und den Anspruchs einer allmählichen „Zivilisierung des Kapitalismus durch Reformpolitik’ historischen neu begründet, kann diesen Herausforderungen durchaus gerecht werden und ein sozialdemokratisches Narrativ im Zentrum von Gesellschaft und Kultur neu platzieren. Dies gelingt wahrscheinlich nur, wenn ein sozialdemokratischer Politikdiskurs sich wieder in größeren historischen Dimensionen und nicht bloß in Richtung affirmativer Anpassung an ein Hier und Jetzt artikuliert, mit einer normativen Neuordnung der Beziehungen von Politik, Staat und Ökonomie intellektuell führt und nicht nur auf Veränderungen reagiert, tragfähige Alternativen zu den Wachstumsdogmen der Wirtschaftslehre und Überlegungen zu einem Postproduktivismus präsentiert, und schließlich neue Vorstellungen von Gerechtigkeit, Solidarität und Lebensglück der Menschen kommuniziert, die über die Sachzwänge und Selbstbegrenzungen gegenwärtigen Politikverständnisses hinausweisen. -..-..-..-..-..-..-..-..-..-..-..-..
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