Kurt Vonnegut ------------------------------------------------------------------------------------------------
Schlacht...
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Kurt Vonnegut ------------------------------------------------------------------------------------------------
Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug
Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug von Kurt Vonnegut jr., einem Deutschamerikaner der vierten Generation, der jetzt in angenehmen Verhältnissen in Cape Cod lebt (und zuviel raucht), der vor langer Zeit als Angehöriger eines Infanteriespähtrupps kampfunfähig als Kriegsgefangener Zeuge des Luftangriffs mit Brandbomben auf Dresden, »dem Elb-Florenz«, war und ihn überlebte, um die Geschichte zu erzählen. Dies ist ein Roman, ein wenig in der telegrafisch-schizophrenen Art von Geschichten von dem Planeten Tralfamadore, von wo die fliegenden Untertassen herkommen. Friede.
Verlag Volk und Welt Berlin
Titel der Originalausgabe: SLAUGHTERHOUSE-FIVE OR THE CHILDREN'S CRUSADE erschienen bei Delacorte Press, New York Aus dem Amerikanischen von Kurt Wagenseil Oberes Titelbild: Getötete Dresdener werden zur Massenverbrennung aufgeschichtet. Unteres Titelbild: Besatzung eines Lancaster-Bombers.
Scan, Titelgestaltung und Nachwort von c0y0te. Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht zum Verkauf bestimmt! 1.Auflage Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin 1976 für die Deutsche Demokratische Republik ©1970 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Slaughterhouse-Five or The Chlldren's Crusade: © 1969 Kurt Vonnegut jr. L. N. 302, 410/115/76 Printed in the German Democratic Republic Lichtsatz: GG Interdruck Leipzig Druck und Einband: Sachsendruck Plauen LSV733l Bestell-Nr.6470l55 EVP 6,20
Für Mary O'Hare und Gerhard Müller
Das Rind muht, Das Kind erwacht, Aber der kleine Herr Jesus Kein Geschrei macht.
l Alles das hat sich mehr oder weniger zugetragen. Jedenfalls entsprechen die Abschnitte, die den Krieg betreffen, durchaus der Wahrheit. Ein Mann, den ich wirklich gekannt habe, wurde in Dresden erschossen, weil er einen Teekessel, der ihm nicht gehörte, an sich genommen hatte. Ein anderer, den ich auch wirklich gekannt habe, hat gedroht, er werde seine persönlichen Feinde nach dem Krieg durch gedingte Mörder umbringen lassen. Und so weiter. Ich habe alle Namen geändert. Ich bin tatsächlich im Jahre 1967 mit Geld von der Guggenheim-Stiftung (Gott segne sie) nochmals nach Dresden gereist. Es sah ganz wie Dayton, Ohio, aus, nur daß es mehr offene Plätze als Dayton hatte. Es muß dort Tonnen von menschlichem Knochenmehl im Erdboden geben. Mit Bernard V.O'Hare, einem alten Kriegskameraden, bin ich dorthin zurückgegangen, und wir haben mit einem Taxifahrer Freundschaft geschlossen, der uns nach dem Schlachthof brachte, wo wir für eine Nacht als Kriegsgefangene eingesperrt waren. Er hieß Gerhard Müller. Er erzählte uns, daß er eine Zeitlang in amerikanischer Gefangenschaft gewesen war. Wir wollten von ihm wissen, wie es war, unter dem Kommunismus zu leben, und er sagte uns, daß es zuerst schrecklich gewesen sei, weil jedermann so hart arbeiten mußte und weil es fast keine Wohnungen gab, kein Essen und keine Kleidung. Aber jetzt hätten sich die Dinge gebessert. Er habe eine hübsche kleine Wohnung, und seine Tochter werde eine vorzügliche Ausbildung erhalten. Seine Mutter sei in der Dresdner Feuersbrunst umgekommen. So geht das. 7
Zu Weihnachten sandte er O'Hare eine Postkarte, auf der folgendes stand: »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie, ebenso wie Ihrem Freund, fröhliche Weihnachten und ein gutes neues Jahr. Ich hoffe, daß wir uns in einer Welt des Friedens und der Freiheit (im Taxi) wieder begegnen, wenn es der Zufall will.« Es gefällt mir sehr gut, dieses »wenn es der Zufall will«. Nur ungern möchte ich euch sagen, was mich dieses lausige kleine Buch an Geld, Besorgnis und Zeit gekostet hat., Als ich vor dreiundzwanzig Jahren vom zweiten Weltkrieg heimkam, glaubte ich, es würde mir nicht schwerfallen, über die Zerstörung von Dresden zu schreiben, denn alles, was ich zu tun hätte, wäre zu berichten, was ich gesehen hatte. Und ich glaubte auch, daß es ein Meisterwerk werden oder mir wenigstens eine Menge Geld einbringen würde, da das Thema so großartig war. Aber mir fielen damals nicht viele Worte zu Dresden ein — jedenfalls nicht genug für ein Buch. Und nicht viele kommen mir in den Sinn, jetzt, wo ich ein alter Furz mit seinen Erinnerungen, seinen Fall Mails und seinen völlig erwachsenen Söhnen geworden bin. Ich denke daran, wie nutzlos der Dresdner Teil meiner Erinnerungen gewesen ist und wie verlockend es dennoch war, über Dresden zu schreiben, und wie ich mir den berühmten Nonsensvers ins Gedächtnis rief: Ein junger Mann aus Stambul klagte Im Selbstgespräch über seine Nudel, als er sagte: »Ich bin starr. Du hast mich all mein Geld gekostet, 8
Durch dich ist meine Gesundheit verrostet, Und jetzt willst du nicht Pipi machen, du alter Narr.« Und ich werde auch an den Reim erinnert: Ich heiße Yon Yonson, Ich arbeite in Wisconsin, Ich arbeite in einem Sägewerk dort. Die Leute, die ich sehe, wenn ich über die Straße gehe, Sagen: »Wie heißt du?« Und ich sage: »Ich heiße Yon Yonson, Ich arbeite in Wisconsin ...« Und so weiter bis in alle Ewigkeit: Im Lauf der Jahre haben Leute, die ich kennengelernt habe, mich oft gefragt, woran ich arbeite, und ich habe gewöhnlich geantwortet, daß es hauptsächlich ein Buch über Dresden sei. Ich sagte das einmal zu Harrison Starr, dem Filmproduzenten, und er runzelte die Brauen und erkundigte sich: »Ist es ein Antikriegsbuch?« »Ja«, sagte ich. »Ich nehme es an.« »Wissen Sie, was ich zu den Leuten sage, wenn ich höre, daß sie Antikriegsbücher schreiben?« »Nein. Was sagen Sie, Harrison Starr?« »Ich sage: ›Warum schreibt ihr statt dessen nicht ein Anti-Gletscher-Buch?‹« Was er meinte, war natürlich, daß es immer Kriege geben würde und daß ihnen ebenso leicht Einhalt zu gebieten war wie Gletschern. Das glaube auch ich. Und sogar wenn Kriege nicht weiterhin kamen wie Gletscher, so würde es immer noch den gewöhnlichen alten Tod geben. 9
Als ich noch etwas jünger war und an meinem berühmten Buch über Dresden arbeitete, fragte ich einen alten Kriegskameraden namens Bernhard V. O'Hare, ob ich ihn besuchen könnte. Er war Bezirksstaatsanwalt in Pennsylvania. Ich war Schriftsteller in Cape Cod. Im Krieg waren wir gewöhnliche Soldaten, Infanterieaufklärer, gewesen. Wir hatten nie erwartet, nach dem Krieg zu Geld zu kommen, aber es ging uns ganz gut. Ich beauftragte die Bell-Telefongesellschaft, ihn für mich ausfindig zu machen. Sie ist darin wundervoll. Manchmal spät nachts bin ich in dem ungesunden Zustand, der Alkohol und das Telefon einschließt. Ich betrinke mich und verjage meine Frau mit einem Atem wie Senfgas und Rosen. Und dann spreche ich gesetzt und elegant ins Telefon hinein und bitte die Telefonistinnen, mich mit diesem oder jenem Freund zu verbinden, von dem ich seit Jahren nichts mehr gehört habe. Auf diese Weise bekam ich O'Hare an den Apparat. Er ist kleinwüchsig, und ich bin groß. Wir waren Pat und Patachon im Krieg. Wir wurden zusammen im Krieg gefangengenommen. Ich sagte ihm, wer am Telefon war. Er hatte keine Schwierigkeit, es zu glauben. Er war noch auf. Er las. Alle anderen in seinem Haus schliefen. »Hör zu«, sagte ich, »ich schreibe dieses Buch über Dresden. Ich hätte gerne, daß du mir mit Erinnerungsmaterial hilfst. Ich möchte gern wissen, ob ich dich besuchen kann, wir könnten dann etwas trinken, miteinander plaudern und uns erinnnern.« Er war nicht begeistert. Er meinte, er könne sich nicht an viel erinnern. Trotzdem forderte er mich auf, ich solle zu ihm kommen. »Ich glaube, der Höhepunkt des Buches wird die 10
Hinrichtung des armen, alten Edgar Derby sein«, sagte ich. »Die Ironie ist so überwältigend. Eine ganze Stadt wird in Schutt und Asche gelegt, und Tausende und aber Tausende von Menschen werden getötet. Und dann wird dieser eine amerikanische Fußsoldat in den Ruinen verhaftet, weil er einen Teekessel an sich genommen hat. Und es findet eine richtige Gerichtsverhandlung gegen ihn statt — und dann wird er von einem Exekutionskommando erschossen.« »Hm«, meinte O'Hare. »Glaubst du nicht, daß wirklich dort der Höhepunkt sein sollte?« »Ich weiß nichts davon«, erwiderte er. »Das ist deine Sache, nicht meine.« Als Hökerer in »Höhepunkten« und Schauergeschichten, in Charakterisierungen, wundervollen Dialogen, Spannungen und Konfrontationen hatte ich die Dresden-Geschichte oftmals in groben Zügen umrissen. Die beste oder jedenfalls die hübscheste Geschichte, die ich jemals davon gemacht habe, stand auf der Rückseite einer Tapetenrolle. Ich benutzte die Buntstifte meiner Tochter, jeweils eine andere Farbe für jede handelnde Hauptperson. Am einen Ende der Tapete war der Anfang der Geschichte, und das andere Ende enthielt den Schluß, und dann gab es diesen ganzen mittleren Teil, der die Mitte war. Und die blaue Linie traf mit der roten und dann mit der gelben Linie zusammen, und die gelbe Linie hörte auf, denn die durch die gelbe Linie verkörperte Person war tot. Und so fort. Die Vernichtung Dresdens wurde durch eine senkrechte Gruppe orangefarbener Kreuzschraffierungen dargestellt, und alle Linien von noch Lebenden gingen durch sie hindurch und kamen an der andern Seite heraus. 11
Das Ende, wo alle Linien aufhörten, war ein Zukkerrübenfeld an der Elbe. Regen strömte herunter. Der Krieg in Europa war seit zwei Wochen zu Ende. Russische Soldaten bewachten uns, als wir in Reih und Glied antreten mußten — Engländer, Amerikaner, Holländer, Belgier, Franzosen, Kanadier, Südafrikaner, Neuseeländer, Australier, Tausende von uns, die jetzt nicht länger Kriegsgefangene sein sollten. Und auf der anderen Seite des Feldes tummelten sich Tausende von Russen, Polen, Jugoslawen und so weiter, bewacht von amerikanischen Soldaten. Ein Austausch wurde dort im Regen vorgenommen rMann für Mann. O'Hare und ich kletterten mit vielen anderen hinten auf einen amerikanischen Lastwagen. O'Hare hatte keinerlei Andenken. Fast jeder andere hatte welche. Ich hatte einen Ehrendolch der Luftwaffe, habe ihn noch. Der rabiate kleine Amerikaner, den ich in diesem Buch Paul Lazzaro nenne, hatte eine ganze Handvoll Brillanten, Smaragde, Rubine und so weiter. Er hatte sie den Toten in den Kellern von Dresden abgenommen. So geht das. Ein geistesschwacher Engländer, der irgendwo alle seine Zähne eingebüßt hatte, verstaute seine Andenken in einem Segeltuchsack. Der Sack lag auf dem Rist meines Fußes. Der Engländer guckte von Zeit zu Zeit in den Sack, rollte die Augen und drehte seinen mageren Hals in dem Versuch, jemanden dabei zu ertappen, wie er habgierig auf seinen Sack schaute. Und er knallte den Sack auf den Rist meines Fußes. Ich glaubte, dieses Hinknallen sei unbeabsichtigt. Aber ich irrte mich. Er mußte einfach jemandem zeigen, was in dem Sack war, und er war zu dem Schluß gekommen, daß er mir vertrauen konnte. Er hielt meinen Blick fest, zwinkerte mir zu, öffnete den 12
Sack. In ihm war ein Gipsmodell des Eiffelturms. Es war vergoldet. Eine Uhr war daran angebracht. »'ne tolle Sache«, meinte er. Und wir wurden in ein Erholungslager nach Frankreich geflogen, wo wir Malzmilchgetränke mit Schokolade und andere reichhaltige Kost bekamen, bis wir überall Babyspeck angesetzt hatten. Dann schickte man uns nach Hause, und ich heiratete ein hübsches Mädel, das auch Babyspeck angesetzt hatte. Und wir bekamen Babys. Und sie sind jetzt alle erwachsen, und ich bin ein alter Furz mit seinen Erinnerungen und seinen Fall Mails. Ich heiße Yon Yonson, arbeite in Wisconsin, in einem Sägewerk. Manchmal versuche ich spätabends, nachdem meine Frau zu Bett gegangen ist, alte Freundinnen anzurufen. »Fräulein von Amt, könnten Sie mir vielleicht die Nummer von einer Frau Soundso geben. Ich glaube, sie wohnt da und da.« »Bedaure, mein Herr. Sie steht nicht im Verzeichnis.« »Danke, Fräulein. Jedenfalls besten Dank.« Und ich lasse den Hund hinaus oder lasse ihn herein, und wir reden ein wenig miteinander. Ich gebe ihm zu verstehen, daß ich ihn mag, und er gibt mir zu verstehen, daß er mich auch mag. Ihn stört der Geruch nach Senfgas und Rosen nicht. »Du bist in Ordnung, Sandy«, sage ich zu dem Hund. »Weißt du das, Sandy? Du bist okay.« Manchmal drehe ich das Radio an und lausche auf ein Vortragsprogramm aus Boston oder New York. Ich kann Schallplattenmusik nicht ausstehen, wenn ich ziemlich viel getrunken habe. Früher oder später gehe ich zu Bett, und meine Frau 13
fragt mich, wieviel Uhr es ist. Sie muß immer die Zeit wissen. Manchmal weiß ich es nicht und sage: »Was weiß ich!« Ich denke mitunter an meinen Bildungsgang. Nach dem zweiten Weltkrieg besuchte ich eine Zeitlang die Universität von Chicago. Ich war Student der Anthropologie. Damals lehrte man, daß überhaupt kein Unterschied zwischen irgend jemand bestehe. Das lehren sie vielleicht noch immer. Etwas anderes, was sie lehrten, war, daß niemand lächerlich ober böse war. Kurz bevor mein Vater starb, sagte er zu mir: »Weißt du, du hast nie eine Geschichte mit einem Bösewicht darin geschrieben.« Ich erwiderte ihm, das sei eines der Dinge, die ich nach dem Krieg im College gelernt habe. Während ich studierte, um Anthropologe zu werden, war ich auch als Polizeiberichterstatter für das berühmte Chicago-City-News-Büro für achtundzwanzig Dollar in der Woche tätig. Einmal versetzte man mich von der Nacht- zur Tagschicht, so daß ich sechzehn Stunden durcharbeitete. Wir wurden von allen Zeitungen der Stadt, der Associated Press, der United Press und alledem unterstützt. Und wir berichteten über die Gerichtsverhandlungen, die Polizeistationen, die Feuerwehr und die Küstenwache am Michigansee und all das. Wir standen in Verbindung mit den Institutionen, die uns mit Rohrpost, deren Rohrleitungen unter den Straßen von Chicago herliefen, unterstützten. Die Reporter sagten Stenografen, die mit Kopfhörern ausgerüstet waren, telefonisch ihre Geschichten durch, und die Stenografen übertrugen den Text auf einen Vervielfältigungsapparat. Die Geschichten 14
wurden abgezogen und in die Blech- und Samtpatronen gesteckt, welche die Rohrleitungen aufnahmen. Die abgebrühtesten Reporter und Stenografen waren Frauen, die den Posten von in den Krieg geschickten Männern übernommen hatten. Und die erste Geschichte, die ich berichtete, mußte ich durchs Telefon einem dieser ekligen Mädchen diktieren. Sie handelte von einem jungen ehemaligen Frontkämpfer, der eine Stellung in einem Geschäftshaus angenommen hatte, wo er einen altmodischen Aufzug bediente. Die Aufzugstür im ersten Stock bestand .aus einem verzierten Eisengitter. Eiserner Efeu wand sich in und aus den Öffnungen. Es gab einen eisernen Zweig mit einem darauf sitzenden eisernen unzertrennlichen Vogelpärchen. Der ehemalige Kriegsteilnehmer wollte sein Fahrgestell ins Kellergeschoß fahren, er schloß die Tür und startete nach unten, aber sein Ehering verfing sich in all den Verzierungen. So wurde er in die Luft gehoben, und der Boden des Auf zugs ging nach unten, wich unter ihm weg, und der obere Teil zerquetschte ihn. So geht das. Ich sagte das also telefonisch durch, und die Frau, die die Rohfassung machen sollte, fragte mich: »Was sagte seine Frau!« »Sie weiß es noch nicht«, antwortete ich. »Es ist gerade erst passiert.« »Rufen Sie sie an und machen Sie einen Bericht.« »Was?« »Sagen Sie, Sie seien Polizeihauptmann Finn. Sagen Sie, Sie hätten eine traurige Nachricht. Teilen Sie ihr die Nachricht mit und warten Sie ab, was sie sagt.« Das tat ich. Sie sagte ungefähr das, was man in einem solchen Fall von ihr erwarten würde. Es sei ein Baby da. Und so fort. 15
Als ich in die Redaktion zurückkam, fragte mich die Stenografin, nur eben zu ihrer eigenen Information, wie der zerquetschte Mann ausgesehen habe, als er zerquetscht worden war. Ich sagte es ihr. »Ging es Ihnen an die Nieren?« wollte sie wissen. Sie aß dabei eine Drei-Musketiere-Schokoladenstange. »Teufel nein, Nancy«, sagte ich. »Ich habe viel Schlimmeres als das im Krieg gesehen.« Sogar damals schrieb ich angeblich ein Buch über Dresden. Es war nun, wo ich wieder in Amerika war, kein berühmter Luftangriff. Nicht viele Amerikaner wußten beispielsweise, wieviel schlimmer er gewesen war als Hiroshima. Ich wußte das auch nicht. Es war nicht viel an die Öffentlichkeit gedrungen. Ich erzählte einem Professor von der Universität Chicago bei einer Cocktailparty von dem Luftangriff, wie ich ihn gesehen hatte, von dem Buch, das ich schreiben würde. Er war Mitglied einer Sache, die sich »Komitee für soziales Denken« nannte. Und er erzählte mir von den Konzentrationslagern und wie die Deutschen Seife und Kerzen aus dem Fett toter Juden gemacht hatten und so fort. Alles, was ich sagen konnte, war: »Ich weiß, ich weiß, ich weiß.« Der zweite Weltkrieg hatte jedenfalls jedermann sehr hart gemacht. Und ich wurde ein Public-Relation-Mann für General Electric in Schenectady, Staat New York, und ein freiwilliger Feuerwehrmann in dem Dorf Alplaus, wo ich mein erstes Haus kaufte. Mein Chef dort war einer der abgebrühtesten Burschen, denen ich hoffentlich je begegnet bin. Er 16
war Pressechef für Public Relations in Baltimore gewesen. Während ich in Schenectady war, trat er der niederländischen reformierten Kirche bei, die tatsächlich eine sehr strenge Kirche ist. Er pflegte mich manchmal höhnisch zu fragen, warum ich kein Offizier gewesen sei, als hätte ich etwas Unrechtes getan. Meine Frau und ich hatten unseren Babyspeck verloren. Es waren unsere mageren Jahre. Wir hatten eine Menge magerer ehemaliger Kriegsteilnehmer und ihre mageren Frauen zu Freunden. Die nettesten Kriegsteilnehmer in Schenectady, so fand ich, die freundlichsten und ulkigsten, diejenigen, die den Krieg am meisten verabscheuten, waren jene, die wirklich gekämpft hatten. Ich schrieb damals an die Luftwaffe und bat um Einzelheiten über den Angriff auf Dresden — wer ihn befohlen hatte, wie viele Maschinen daran teilgenommen hatten, warum er gemacht worden war, welche wünschenswerten Ergebnisse er gehabt hatte und so weiter. Ich bekam Antwort von einem Mann, der wie ich im Dienst der öffentlichen Meinungsforschung stand. Er sagte, es täte ihm leid, aber diese Informationen seien noch streng geheim. Ich las diesen Brief meiner Frau vor und sagte: »Geheim? Mein Gott — wem gegenüber?« Wir waren damals Vereinigte-Welt-Föderalisten. Ich weiß nicht, was wir jetzt sind. Telefonierer, nehme ich an. Wir telefonieren viel — oder ich jedenfalls tue es, spät nachts. Vierzehn Tage später rief ich meinen alten Kriegskameraden Bernard V. O'Hare an, ich fuhr auch wirklich zu ihm. Das muß im Jahr 1964 oder so gewesen sein — oder was immer das letzte Jahr der New17
Yorker Weltausstellung war. Eheu, fugaces labuntur anni. Ich heiße Yon Yonson. Ein junger Mann aus Stambul. Ich nahm zwei kleine Mädchen mit, meine Tochter Nanny und ihre beste Freundin Allison Mitchell. Sie waren nie zuvor aus Cape Cod hinausgekommen. Wenn wir einen Fluß sahen, mußten wir anhalten, damit sie an seinem Ufer stehen und eine Weile über ihn nachdenken konnten. Sie hatten nie vorher Wasser in dieser langen und schmalen, salzlosen Form gesehen. Der Fluß war der Hudson. Es gab Karpfen darin, und wir sahen sie. Sie waren groß wie Atomunterseeboote. Wir sahen auch Wasserfälle, von den Felsen in das Tal des Delaware abstürzende Wildbäche. Es gab viele Dinge, um anzuhalten und zu schauen — und dann war es Zeit zu gehen, immer war es Zeit zu gehen. Die kleinen Mädchen hatten weiße Sonntagskleider und schwarze Lackschuhe an, so daß Fremde sofort wissen würden, wie nett sie waren. »Zeit zu gehen, Mädchen«, mahnte ich. Und wir gingen. Und die Sonne ging unter, und wir aßen in einem italienischen Lokal zu Abend, und dann klopfte ich an die Eingangstür des schönen Steinhauses von Bernard V. O'Hare. Ich trug eine Flasche irischen Whisky im Arm wie eine Glocke, mit der man zu Tisch läutet. Ich lernte Mary, seine nette Frau, kennen, der ich dieses Buch widme. Ich widme es auch Gerhard Müller, dem Dresdner Taxifahrer. Mary O'Hare ist eine Diplomkinderschwester, was für eine Frau eine hübsche Sache ist. Mary bewunderte die beiden kleinen Mädchen, die ich mitgebracht hatte, brachte sie mit ihren eigenen Kindern zusammen, schickte sie alle nach oben zum 18
Spielen und zum Fernsehen. Erst nachdem die Kinder gegangen waren, hatte ich das Gefühl, daß Mary mich oder etwas an dem Abend nicht mochte. Sie war höflich, aber kühl. »Es ist ein reizvolles, gemütliches Haus, das Sie hier haben«, sagte ich, und das war es wirklich. »Ich habe ein Eckchen zurechtgemacht, wo ihr miteinander sprechen könnt und nicht gestört werdet«, meinte sie. »Das ist gut«, sagte ich und stellte mir zwei Ledersessel am Kaminfeuer in einem getäfelten Zimmer vor, wo zwei alte Soldaten trinken und plaudern konnten. Aber sie führte uns in die Küche. Sie hatte zwei steiflehnige Stühle an einen Küchentisch mit einer weißen Porzellanplatte gerückt. Diese Tischplatte schrie von dem reflektierten Licht einer grellen Zweihundertwattbirne, die über ihr hing. Mary hatte einen Operationsraum hergerichtet. Sie stellte nur ein einziges Glas darauf, das für mich bestimmt war. Sie erklärte, O'Hare könne seit dem Krieg das scharfe Zeug nicht mehr trinken. Wir setzten uns also. O'Hare war verlegen, aber er wollte mir nicht sagen, was nicht stimmte. Ich konnte mir nicht vorstellen, was an mir war, das Mary so auf die Palme gebracht hatte. Ich war ein häuslicher Mann. Ich war nur einmal verheiratet gewesen. Ich war kein Trinker. Ich hatte ihrem Mann im Krieg nichts Gemeines angetan. Sie schenkte sich ein Glas Coca-Cola ein und machte viel Lärm, indem sie das Blech mit den Eiswürfeln in das blank geputzte Ausgußbecken knallte. Dann ging sie in einen anderen Teil des Hauses. Aber sie konnte nicht stillsitzen. Sie ging durchs ganze Haus, öffnete und schloß Türen, rückte sogar Möbel, um ihrem Ärger Luft zu machen. 19
Ich fragte O'Hare, was ich denn getan oder gesagt hätte, daß sie sich so benahm. »Kümmere dich nicht darum«, erwiderte er. »Mach dir nichts draus. Es hat nichts mit dir zu tun.« Das war freundlich von ihm. Er log. Es hatte alles mit mir zu tun. Also versuchten wir, Mary zu ignorieren und uns an den Krieg zu erinnern. Ich goß zwei Gläser von dem Gesöff, das ich mitgebracht hatte, hinter die Binde. Wir kicherten oder grinsten manchmal, als fielen uns wieder Kriegsgeschichten ein, aber keiner von uns konnte sich etwas Gescheites ins Gedächtnis rufen. O'Hare erinnnerte sich an einen Burschen, der sich in Dresden vor dem Luftangriff mit Wein hatte vollaufen lassen, und wir mußten ihn in einem Schubkarren heimbringen. Das war nicht viel, um ein Buch darüber zu schreiben. Ich erinnerte mich an zwei russische Soldaten, die eine Uhrenfabrik geplündert hatten. Sie hatten ein Pferdefuhrwerk voll Uhren. Sie waren glücklich und betrunken. Sie rauchten riesige Zigaretten, die sie aus Zeitungspapier gedreht hatten. Das war so ungefähr alles, was wir an Erinnerungen hatten, und Mary machte noch immer Krach. Schließlich kam sie wieder in die Küche, um sich noch eine Cola zu holen. Sie nahm eine weitere Blechschale mit Eiswürfeln aus dem Kühlschrank und knallte sie in den Ausguß, obwohl bereits eine Menge Eis vorhanden war. Dann wandte sie sich mir zu, ließ mich merken, wie ärgerlich sie war und daß der Ärger mir galt. Sie hatte mit sich selbst gesprochen, was sie sagte, war das Bruchstück eines viel umfangreicheren Gesprächs. »Ihr wart damals nicht viel mehr als kleine Kinder!« sagte sie. 20
»Was? fragte ich. »Ihr wart nur kleine Kinder im Krieg — genau wie die im oberen Stockwerk!« Ich nickte zustimmend. Wir waren törichte, jungfräuliche Männer im Krieg gewesen, gerade am Ende der Kindheit angelangt. »Aber Sie werden es nicht so schreiben, nicht wahr!« Das war keine Frage. Es war eine Anklage. »Ich — ich weiß nicht«, sagte ich. »Nun, aber ich weiß es«, sagte sie. »Ihr werdet vorgeben, Männer statt Kinder gewesen zu sein, und eure Rolle wird in den Filmen von Frank Sinatra und John Wayne oder sonst einem anderen dieser bezaubernden, kriegsbegeisterten, dreckigen alten Männer gespielt werden. Und der Krieg wird einfach wundervoll aussehen, so daß wir eine Menge anderer Kriege haben werden. Und sie werden von Kindern wie unsere Kinder oben ausgefochten werden.« Da verstand ich. Es war der Krieg, der sie so zornig machte. Sie wollte nicht ihre Kinder oder jemandes anderen Kinder im Krieg getötet sehen. Und sie glaubte, Kriege würden teilweise durch Bücher und Filme ermutigt. Also hob ich meine rechte Hand hoch und machte ihr ein Versprechen. »Mary«, sagte ich, »ich glaube nicht, daß dieses mein Buch jemals vollendet wird. Ich muß inzwischen fünftausend Seiten geschrieben und sie alle weggeworfen haben. Wenn ich es jedoch jemals fertig schreibe, gebe ich Ihnen mein Ehrenwort: Es wird keine Rolle für Frank Sinatra oder John Wayne enthalten ... Ich sage Ihnen etwas«, setzte ich hinzu. »Ich werde es ›Der Kinderkreuzzug‹ nennen.« Danach wurden wir Freunde. O'Hare und ich gaben es auf, uns zu erinnern, ginGen ins Wohnzimmmer und unterhielten uns über 21
andere Dinge. Wir wurden neugierig auf den wirklichen Kinderkreuzzug, also schlug O'Hare darüber in einem Buch, das er hatte, nach: Ungewöhnliche volksumfassende Wahnvorstellungen und die Verrücktheit der Massen von Charles Mackay, Doktor der Rechte. Es war erstmalig in London 1841 erschienen. Mackay hatte eine geringe Meinung von allen Kreuzzügen. Der Kinderkreuzzug dünkte ihn nur um weniges scheußlicher als die zehn Kreuzzüge Erwachsener. O'Hare las diesen hübschen Passus laut vor: Die Geschichte lehrt uns in ihrer feierlichen Chronik, daß die Kreuzritter nichts anderes waren als unwissende und wilde Männer, daß ihre Motive einem blinden Fanatismus entsprangen und ihr Weg mit Blut und Tränen gezeichnet war. Die romantische Dichtung andererseits verbreitet sich über ihre Frömmigkeit und ihr Heldentum und malt in ihren glühendsten und leidenschaftlichsten Farben ihre Tugend und ihren Edelmut, die unvergängliche Ehre, die sie sich erwarben und die großen Verdienste, die sie der Christenheit leisteten. Und dann las O'Hare folgendes: Was war nun das große Ergebnis aller dieser Anstrengungen? Europa verausgabte Millionen seiner Reichtümer und das Blut von zwei Millionen seiner Menschen. Und eine Handvoll streitsüchtiger Ritter hielt Palästina an die hundert Jahre im Besitz. Mackay berichtete uns, daß der Kinderkreuzzug im Jahre 1213 begann, als zwei Mönche auf die Idee kamen, in Deutschland und Frankreich Heere von Kindern aufzustellen und sie in Nordafrika als Sklaven zu verkaufen. Dreißigtausend Kinder meldeten sich freiwillig, im Glauben, daß sie nach Palästina 22
kämen. Sie waren zweifellos arbeitsscheue und verlassene Kinder, lasterhaft und wagemutig, wie sie sich gewöhnlich in Großstädten herumtreiben und zu allem bereit sind, sagte Mackay. Papst Innozenz III. glaubte gleichfalls, daß sie nach Palästina gingen, und war begeistert. »Diese Kinder sind wach, während wir schlafen!« sagte er. Die meisten Kinder wurden von Marseille verschifft, und ungefähr die Hälfte von ihnen ertrank bei Schiffbrüchen. Die andere Hälfte gelangte nach Nordafrika, wo sie als Sklaven verkauft wurden. Durch ein Mißverständnis meldeten sich einige Kinder in Genua zum Dienst, wo keine Sklavenschiffe warteten. Sie wurden dort durch gute Menschen freundlich verpflegt, untergebracht und ausgefragt — dann gab man ihnen ein wenig Geld und viele gute Ratschläge und schickte sie schließlich wieder heim. »Hurra für die guten Leute von Genua«, sagte Mary O'Hare. Ich schlief in dieser Nacht in einem der Kinderschlafzimmer. O'Hare hatte für mich ein Buch auf den Nachttisch gelegt. Es war Dresden, Geschichte, Theater und Gemäldegalerie von Mary Endell. Es war 1908 erschienen, und sein Vorwort begann: Es ist zu hoffen, daß dieses Büchlein sich nützlich erweist. Es versucht, einem englischlesenden Publikum ein Bild von Dresden aus der Vogelschau zu vermitteln, wie es kam, daß Dresden sein heutiges architektonisches Gesicht erhielt, wie es sich musikalisch durch das Genie von einigen Männern zu seiner gegenwärtigen Blüte entwickelte — und warum es die Aufmerksamkeit auf bleibende Denkmäler der Kunst lenkt, die seine Galerie zum Ziel derjenigen machen, die bleibende Eindrücke suchen. 23
Einige Seiten weiter las ich etwas Geschichtliches: Im Jahre 1760 wurde Dresden von den Preußen belagert. Am fünf zehnten Juli begann die Beschießung der Stadt. Die Bildergalerie geriet in Brand. Viele Bilder waren nach Königstein gebracht worden, aber einige wurden ernstlich von Granatsplittern beschädigt — besonders Francias »Taufe Christi«. Außerdem stand der schlanke Turm der Kreuzkirche, von dem aus die Bewegungen des Feindes Tag und Nacht beobachtet worden waren, in Flammen. Er stürzte später ein. In starkem Gegensatz zu dem traurigen Schicksal der Kreuzkirche stand die Frauenkirche, von deren Rundungen des steinernen Kirchenschiffs die Granaten der Preußen wie Regen abprallten. Friedrich mußte schließlich die Belagerung aufgeben, als er den Fall von Glatz erfuhr, des kritischen Punktes seiner neuen Eroberungen. » Wir müssen fort nach Schlesien, damit wir nicht alles verlieren.« Die Verwüstung der Stadt war grenzenlos. Als Goethe Dresden als Student besuchte, fand er noch immer traurige Ruinen: »Von der Kuppel der Frauenkirche sah ich diese leidigen Trümmer zwischen die schöne städtische Ordnung hineingesät; da rühmte mir der Küster die Kunst des Baumeisters, welcher Kirche und Kuppel auf einen so unerwünschten Fall schon eingerichtet und bombenfest erbaut hatte. Der gute Sakristan deutete mir alsdann auf Ruinen nach allen Seiten und sagte bedenklich lakonisch: Das hat der Feind gethan!« Die zwei kleinen Mädchen und ich überquerten am nächsten Morgen den Delaware an der Stelle, wo George Washington ihn überquert hatte. Wir gingen zu der New-Yorker Weltausstellung und sahen, wie die Vergangenheit in den Augen der Ford-Automo24
bil-Gesellschaft und von Walt Disney ausgesehen hatte und wie die Zukunft laut General Motors sein würde. Und ich fragte mich hinsichtlich der Gegenwart: wie weit reichte sie wohl, wie tief war sie, wieviel davon war an mir, um es zu bewahren. Danach lehrte ich zwei Jahre in der berühmten Schriftstellerwerkstatt an der Universität von Iowa schöpferische Schriftstellerei. Ich geriet in eine wahrhaft wundervolle Patsche, kam aus ihr wieder heraus. Ich lehrte nachmittags. Vormittags schrieb ich. Ich wollte nicht gestört werden. Ich arbeitete an meinem berühmten Buch über Dresden. Und irgendwo damals schloß ein netter Mann namens Seymour Lawrence einen Vertrag über drei Bücher mit mir ab, und ich sagte: »Okay, das erste von den dreien wird mein berühmtes Buch über Dresden sein.« Die Freunde von Seymour Lawrence nennen ihn »Sam«. Und ich sage nun zu Sam: »Sam — hier ist das Buch.« Es ist so kurz, wirr und schrill, Sam, weil über ein Blutbad sich nichts Gescheites sagen läßt. Von jedermann wird angenommen, daß er tot ist, nie wieder etwas sagt oder etwas will. Man erwartet, daß nach einem Blutbad alles sehr still ist — und das ist es auch, abgesehen von den Vögeln. Und was sagen die Vögel? Alles, was über ein Blutbad zu sagen ist, Dinge wie »Ki-witt, Ki-witt«? Ich habe meinen Söhnen gesagt, daß sie unter keinen Umständen an Massakern teilnehmen sollen und daß sie die Nachricht von einem Blutbad des Feindes nicht mit Befriedigung oder Freude erfüllen soll. Ich habe ihnen auch gesagt, daß sie nicht für Firmen 25
arbeiten sollten, die Massenvernichtungsmittel herstellen, und daß sie der Verachtung für Leute Ausdruck geben, die der Ansicht sind, daß wir eine solche Maschinerie brauchen. Wie gesagt: Ich ging unlängst mit meinem Freund O'Hare noch einmal nach Dresden. Wir fanden millionenfachen Grund zum Lachen in Hamburg und Westberlin und Ostberlin, in Wien und Salzburg und Helsinki und auch in Leningrad. Das war sehr gut für mich, denn ich sah eine Menge authentischer Hintergründe für erfundene Geschichten, die ich später schreiben will. Eine davon wird Russisches Barock und eine andere Küssen verboten heißen, und wieder eine andere Dollarbar und noch eine andere Wenn der Zufall es will und so weiter. Und so weiter. Es gab eine Lufthansa-Maschine, die von Philadelphia nach Boston und Frankfurt flog. O'Hare sollte in Philadelphia und ich in Boston an Bord gehen, und dann würden wir losfliegen. Aber Boston fiel aus, daher flog die Maschine von Philadelphia direkt nach Frankfurt. Und ich wurde eine Unperson in dem Bostoner Nebel, und die Lufthansa setzte mich mit einigen anderen Unpersonen in eine Limousine und brachte uns für eine Unnacht in ein Motel. Die Zeit wollte nicht vergehen. Jemand spielte mit den Uhren und nicht nur mit den elektrischen Uhren, sondern auch mit denen zum Aufziehen. Der zweite Zeiger meiner Uhr ruckte einmal, und ein Jahr verging, und dann ruckte er noch einmal. Es gab nichts, was ich dagegen hätte tun können. Als ein Erdenbewohner mußte ich glauben, was Uhren — und Kalender sagten. 26
Ich hatte zwei Bücher bei mir, die ich im Flugzeug lesen wollte. Eines war Worte für den Wind von Theodore Roethke, und folgende Stelle fand ich darin: Ich erwache aus dem Schlaf und fasse langsam Fuß. Ich fühle mein Geschick in dem, was ich nicht fürchten kann. Ich lern, indem ich gehe, wohin ich gehen muß. Mein anderes Buch war Erika Ostrowskys Céline und seine Vision. Céline war ein tapferer französischer Soldat im ersten Weltkrieg — bis er eine Kopfverletzung erlitt. Danach konnte er nicht schlafen und hörte Geräusche in seinem Kopf. Er wurde Arzt, behandelte tagsüber arme Leute und schrieb die ganze Nacht hindurch ausgefallene Romane. Keine Kunst ist möglich ohne einen Tanz mit dem Tod, schrieb er. Die Wahrheit ist der Tod, heißt es bei ihm. Ich habe wacker gegen ihn gekämpft, solange ich konnte ... habe mit ihm getanzt, ihn mit Girlanden geschmückt ... bin mit ihm herumgewalzt ... habe ihn mit Papierschlangen verziert ... ihn gekitzelt... Er zeigte sich von der Zeit besessen. Erika Ostrowsky erinnerte an die bestürzende Szene in Tod auf Kredit, wo Céline der Geschäftigkeit einer Menschenmenge auf der Straße Einhalt tun will. Er schreit auf dem Papier: Haltet sie auf ... laßt sie sich überhaupt nicht mehr bewegen... Friert sie ein... ein für allemal ...So daß sie nicht mehr verschwinden! Ich sah die Gideon-Bibel in meinem Motelzimmer nach Erzählungen von großen Verheerungen durch. Und die Sonne war aufgegangen auf Erden, da Lot gen Zoar einkam. Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen von dem Herrn vom Himmel herab auf Sodom 27
und Gomorrha. Und kehrte die Städte um, und die ganze Gegend, und alle Einwohner der Städte, und was auf dem Lande gewachsen war. So geht das. Die Menschen in diesen beiden Städten waren schlecht, was allgemein bekannt ist. Die Welt war besser dran ohne sie. Und es wurde Lots Frau natürlich gesagt, sie solle nicht dorthin zurückschauen, wo alle diese Leute und ihre Wohnungen gewesen waren. Aber sie tat es doch, und dafür liebe ich sie, denn es war so menschlich. Also wurde sie in eine Salzsäule verwandelt. So geht das. Die Leute sollen nicht zurückschauen. Ich werde es jedenfalls nicht mehr tun. Ich habe jetzt mein Kriegsbuch beendet. Das nächste, das ich schreibe, soll lustig werden. Dieses ist ein Mißerfolg und mußte es sein, da es von einer Salzsäule geschrieben wurde. Es fängt so an: Hört: Billy Pilgrim hat sich von der Zeit losgelöst. Es endet folgendermaßen: »Ki-witt, Ki-witt?«
2 HÖRT: Billy Pilgrim hat sich von der Zeit losgelöst. Billy ist als ein seniler Witwer schlafen gegangen und an seinem Hochzeitstag erwacht. Er ist 1955 durch eine Tür geschritten und 1941 durch eine andere herausgekommen. Er ist durch diese Tür zurückgegangen, um sich im Jahre 1963 wiederzufinden. Er habe viele Male seine Geburt und seinen Tod gesehen, sagt er, und stattet allen dazwischenliegenden Ereignissen aufs Geratewohl Besuche ab. So sagt er. Billy ist spastisch in bezug auf die Zeit, hat keine Kontrolle darüber, wohin er als nächstes geht, und die Ausflüge sind nicht notgedrungen lustig. Er ist in einem ständigen Zustand von Lampenfieber, sagt er, weil er nicht weiß, welche Rolle seines Lebens er als nächste wird spielen müssen. Billy wurde 1922 in Ilium, im Staat New York, als einziges Kind eines dortigen Friseurs geboren. Er war ein komisch aussehendes Kind, das ein komisch aussehender junger Mann wurde—groß und schwach, und mit einer Gestalt wie eine Coca-Cola-Flasche. Er absolvierte die höhere Schule von Ilium und besuchte dann ein Semester die Abendkurse der Iliumer Schule für Brillenoptik, bevor er zum Militärdienst im zweiten Weltkrieg eingezogen wurde. Sein Vater war bei einem Jagdunfall während des Krieges ums Leben gekommen. So geht das. Billy diente bei der Infanterie in Europa und Wurde von den Deutschen gefangengenommen. Nach seiner ehrenvollen Entlassung aus der Armee im 29
Jahre 1945 ließ sich Billy noch einmal in die Iliumer Optikschule einschreiben. Während seines letzten Studienjahres dort verlobte er sich mit der Tochter des Gründers und Eigentümers der Schule und erlitt dann einen leichten nervösen Zusammenbruch. Er wurde in einem Krankenhaus für ehemalige Kriegsteilnehmer in der Nähe von Lake Placid mit Schocks behandelt und entlassen. Er heiratete seine Verlobte, beendete sein Studium und wurde von seinem Schwiegervater in Ilium ins Geschäft aufgenommen. Ilium ist ein besonders günstiger Ort für Optiker, denn dort hat die Allgemeine Schmiede- und Gießereigesellschaft ihren Sitz. Von jedem Angestellten wird verlangt, daß er eine Schutzbrille besitzt und sie im Fabrikationsbereich trägt. AS & G hat achtundsechzigtausend Angestellte in Ilium. Das erfordert eine Menge Linsen und eine Menge Gestelle. Gestelle sind, wo das Geld ist. Billy wurde reich. Er hatte zwei Kinder, Barbara und Robert. Zur gegebenen Zeit heiratete Barbara einen anderen Optiker, und Billy brachte ihn ins Geschäft. Billys Sohn Robert hatte viel Schwierigkeiten in der höheren Schule, aber dann trat er der berühmten Elitetruppe, den »Green Berets«, bei. Er fing ein geordnetes Leben an, wurde ein anständiger junger Mann und kämpfte in Vietnam. Anfang 1968 charterte eine Gruppe von Optikern, unter ihnen Billy, ein Flugzeug, um von Ilium zu einer internationalen Tagung von Optikern nach Montreal zu fliegen. Die Maschine zerschellte am Gipfel des Sugarbushberges in Vermont. Aller außer Billy wurden getötet. So geht das. Während Billy sich in einem Krankenhaus in Ver30
mont erholte, starb seine Frau an einer zufälligen Kohlenmonoxidvergiftung. So geht das. Als Billy schließlich nach dem Flugzeugunglück nach Ilium heimkam, verhielt er sich eine Zeitlang ruhig. Er hatte eine schreckliche Narbe quer über die Schädeldecke. Seine Tätigkeit nahm er nicht mehr auf. Er hatte eine Haushälterin. Seine Tochter kam fast jeden Tag zu ihm herüber. Und dann, völlig unerwartet, ging Billy nach New York und trat dort in einem die ganze Nacht währenden Vortragsprogramm im Rundfunk auf. Er erzählte, wie er den Zeitbegriff verloren hatte. Auch behauptete er, er sei 1967 von einer fliegenden Untertasse entführt worden. Die fliegende Untertasse stammte von dem Planeten Tralfamadore, sagte er. Man brachte ihn nach Tralfamadore, wo er nackt in einem Zoo zur Schau gestellt wurde, sagte er. Er wurde dort mit einem ehemaligen Filmstar von der Erde namens Montana Wildhack gepaart. Einige Nachteulen in Ilium hörten Billy am Radio, und eine von ihnen rief Billys Tochter Barbara an. Barbara war ganz aus der Fassung gebracht. Sie und ihr Mann reisten nach New York und brachten Billy nach Hause. Billy bestand freundlich darauf, daß alles, was er im Rundfunk gesagt habe, wahr sei. Er sagte, er sei von den Tralfamadorianern in der Hochzeitsnacht seiner Tochter entführt worden. Er sei nicht vermißt worden, setzte er hinzu, weil die Tralf amadorianer ihn durch einen Zeitverzerrer hindurchgeschickt hätten, so daß er sich Jahre in Tralfamadore aufhalten und sich dabei nur eine Mikrosekunde von der Erde entfernen konnte. Ein weiterer Monat verging ohne Zwischenfall, und 31
dann schrieb Billy einen Brief an den News Leader in Ilium, den dieses Blatt veröffentlichte. Er beschrieb die Geschöpfe von Tralfamadore. In dem Brief hieß es, daß sie sechzig Zentimeter groß und grün — und, wie »die Freunde von Klempnern« gestaltet waren. Ihre Saugnäpfe ruhten auf dem Boden, und ihre Stiele, die äußerst biegsam waren, deuteten gewöhnlich zum Himmel. Oben an jedem Stiel befand sich eine kleine Hand mit einem grünen Auge in der inneren Handfläche. Die Geschöpfe waren freundlich, und sie vermochten in vier Dimensionen zu sehen. Sie bedauerten die Erdbewohner, daß sie nur in drei sehen konnten. Sie hatten den Erdbewohnern viele wundervolle Dinge zu lehren, besonders was die Zeit betraf. Billy versprach, in seinem nächsten Brief zu sagen, worin einige dieser wundervollen Dinge bestanden. Billy arbeitete gerade an seinem zweiten Brief, als der erste veröffentlicht wurde. Der zweite begann folgendermaßen: »Das Wichtigste, was ich auf Tralfamadore gelernt habe, war, daß eine Person, wenn sie stirbt, nur zu sterben scheint. Sie ist noch sehr lebendig mit der Vergangenheit verknüpft, es ist daher sehr töricht von den Leuten, wenn sie bei ihrer Beerdigung weinen. Alle Augenblicke — Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — waren immer vorhanden, werden immer vorhanden sein. Die Tralfamadorianer vermögen alle verschiedenen Augenblicke ganz so zu betrachten, wie wir zum Beispiel einige Bergzüge der Rocky Mountains betrachten können. Sie können sehen, wie Augenblicke fortdauern, und jeden Augenblick beobachten, der sie interessiert. Es ist nur eben eine Illusion, die wir hier auf der Erde haben, daß ein 32
Augenblick dem anderen folgt wie Perlen auf einer Schnur und daß, wenn ein Augenblick vorbei ist, er für immer vorbei ist. Wenn ein Tralfamadorianer eine Leiche sieht, ist alles, was er denkt, daß der Tote in diesem besonderen Augenblick in einem schlechten Zustand ist, aber daß die gleiche Person in vielen anderen Augenblicken ganz einfach in bester Verfassung ist. Wenn ich jetzt höre, daß jemand tot ist, zucke ich einfach die Schultern und sage, was die Tralfamadorianer über die Toten sagen, nämlich: ›So geht das.‹« Und so weiter. Billy arbeitete an diesem Brief in dem Hobbyraum im Kellergeschoß seines leeren Hauses. Es war der freie Tag seiner Haushälterin. In dem Hobbyraum stand eine alte Schreibmaschine. Sie war ein richtiges Ungetüm. Sie wog ebensoviel wie eine Akkumulatorbatterie. Billy fiel es schwer, sie weit zu tragen, deshalb schrieb er in dem Hobbyraum statt anderswo. Die Ölheizung funktionierte nicht mehr. Eine Maus hatte die Isolierung eines zum Thermostat führenden Drahtes durchgenagt. Die Temperatur im Haus war auf fünfzehn Grad gesunken, aber Billy hatte es nicht gemerkt. Er war auch nicht warm angezogen. Er war barfuß und noch in seinem Schlafanzug und im Bademantel, obschon es spät am Nachmittag war. Seine nackten Füße waren blau und elfenbeinfarben. Billys Herzfalten waren jedenfalls glühende Kohlen. Was sie so heiß machte, war Billys Glaube, daß er so viele Menschen mit der Wahrheit über die Zeit trösten würde. Das Glockenspiel oben an seiner Tür hatte geläutet und geläutet. Es war seine Tochter Barbara, die herein wollte. Jetzt verschaffte sie sich 33
mit einem Schlüssel Einlaß, er hörte ihre Schritte über seinem Kopf. Dann rief sie: »Vater? Papi, wo bist du?« Und so weiter. Billy gab ihr keine Antwort, so daß sie fast hysterisch wurde in der Erwartung, ihn als Leiche vorzufinden. Und dann warf sie einen Blick in den allerletzten Raum, in den man noch schauen konnte—nämlich in den Hobbyraum. »Warum hast du mir keine Antwort gegeben, als ich gerufen habe?« wollte Barbara wissen, während sie auf der Schwelle zu dem Hobbyraum stand. Sie hatte die Nachmittagszeitung bei sich, in der Billy seine Freunde von Tralfamadore schilderte. »Ich habe dich nicht gehört«, erwiderte Billy. Die Instrumentierung des Augenblickes war folgende: Barbara war erst einundzwanzig Jahre alt, aber sie glaubte, ihr Vater sei senil, obwohl er erst sechsundvierzig war — senil infolge seines Gehirnschadens bei dem Flugzeugunglück. Auch hielt sie sich für das Familienoberhaupt, seitdem sie sich um die Beerdigung ihrer Mutter hatte kümmern müssen und eine Haushälterin für Billy besorgt hatte und alles andere. Auch mußten Barbara und ihr Mann Billys Geschäftsinteressen, die beträchtlich waren, wahrnehmen, da Billy sich keinen Pfifferling mehr um das Geschäftliche zu kümmern schien. Alle diese Verantwortung in so jungen Jahren machten sie zu einem geschwätzigen Frauenzimmer. Und Billy versuchte derweilen, seine Würde zu wahren, Barbara und alle anderen zu überzeugen, daß er alles andere als senil war und sich im Gegenteil einer Berufung widmete, die weit höher war als nur das Geschäft. Er tat jetzt nichts Geringeres, dachte er, als irdi34
schen Seelen Korrekturlinsen zu verschreiben. So viele dieser Seelen waren unglücklich und verloren, dachte Billy, weil sie nicht ebenso gut wie seine kleinen grünen Freunde von Tralfamadore sehen konnten. »Lüge mich nicht an, Vater«, sagte Barbara, »ich weiß sehr genau, daß du mich gehört hast, als ich dich rief.« Sie war ein recht hübsches Mädchen, außer daß sie Beine wie ein Konzertflügel aus der Zeit Eduards VII. hatte. Nun machte sie ihm einen Höllenkrach wegen des Briefes in der Zeitung. Sie sagte, er mache sich und seine ganze Umgebung lächerlich. »Vater, Vater, Vater«, sagte Barbara, »was sollen wir denn mit dir machen? Wirst du uns zwingen, dich dahin zu bringen, wo deine Mutter ist?« Billys Mutter lebte noch. Sie war bettlägerig in einem Altersheim am Rande von Ilium, das »Pine Knoll« hieß. »Alles das ist einfach verrückt. Nichts davon ist wahr!« »Es ist alles wahr.« Billys Ärger wurde nicht größer als der ihre. Er wurde nie über etwas wütend. In dieser Beziehung war er wundervoll. »Es gibt keinen Planeten, der Tralfamadore heißt.« »Von der Erde aus kann er nicht entdeckt werden, wenn es das ist, was du meinst«, erklärte Billy. »Auch die Erde kann nicht vom Tralf amadore aus gesichtet werden, was das betrifft. Beide sind sehr klein. Sie sind sehr weit voneinander entfernt.« »Wo hast du denn einen verrückten Namen wie Tralfamadore her?« »So nennen ihn die Geschöpfe, die dort leben.« »O Gott«, rief Barbara und wandte ihm den Rücken zu. Sie gab ihrer Verärgerung dadurch Ausdruck, daß 35
sie in die Hände klatschte. »Darf ich dir eine einfache Frage stellen?« »Aber gewiß.« »Warum hast du nie etwas davon vor dem Flugzeugabsturz erwähnt?« »Ich hielt die Zeit nicht für reif dafür.« Und so fort. Billy sagt, er habe das Zeitgefühl erstmals 1944 verloren, lange vor seiner Reise nach Tralfamadore. Die Tralfamadorianer hätten nichts damit zu tun, daß er sich von der Zeit loslöste. Sie konnten ihm nur Einblicke in das geben, was wirklich vor sich ging. Billy verlor das Zeitgefühl erstmalig, nachdem der zweite Weltkrieg begonnen hatte. Billy war im Krieg der Helfer eines Geistlichen. Der Helfer eines Geistlichen ist gewöhnlich eine komische Figur bei der amerikanischen Armee. Billy war keine Ausnahme. Er war machtlos, dem Feind zu schaden oder seinen Freunden zu helfen. Tatsächlich hatte er keine Freunde. Er war Diener eines Predigers, erwartete keine Beförderungen oder Auszeichnungen, trug keine Waffen und hatte einen demütigen Glauben an die Liebe Jesu, die die meisten Soldaten verderblich fanden. Während der Manöver in South Carolina spielte Billy Kirchenlieder, die er seit seiner Kindheit kannte — er spielte sie auf einer kleinen schwarzen Orgel, die wasserdicht war. Sie hatte neununddreißig Tasten und zwei Register — Vox humana und Vox celeste. Billy mußte auch einen tragbaren Altar betreuen, einen graugrünen Koffer mit ausziehbaren Beinen. Er war mit karmesinrotem Plüsch ausgeschlagen, und in diesen grellen Plüsch eingebettet waren ein mit Oxidschicht überzogenes Aluminiumkreuz und eine Bibel. 36
Altar und Orgel waren von einer Staubsaugergesellschaft in Camden, New Jersey, hergestellt — und das stand auch darauf. Einmal, bei einer größeren Truppenübung, spielte Billy das Kirchenlied »Ein feste Burg ist unser Gott« mit Musik von Johann Sebastian Bach und Text von Martin Luther. Es war ein Sonntagmorgen. Billy und sein Geistlicher hatten eine Gemeinde von etwa fünfzig Soldaten an einem Berghang in Carolina versammelt. Ein Schiedsrichter erschien. Überall gab es Schiedsrichter, Männer, die sagten, wer die theoretische Schlacht gewann oder verlor, wer lebte und wer tot war. Der Schiedsrichter brachte komische Nachrichten. Die Versammlung war theoretisch aus der Luft von einem theoretischen Feind gesichtet worden. Theoretisch waren sie jetzt alle tot. Die theoretischen Leichen lachten und verzehrten eine herzhafte Mittagsmahlzeit. Als er sich Jahre später an diese Episode erinnerte, war Billy überrascht, was das für ein tralfamadorianisches Abenteuer mit dem Tod gewesen war, tot zu sein und gleichzeitig zu essen. Gegen Ende der Manöver bekam Billy einen Sonderurlaub nach Hause, weil sein Vater, ein Friseur in Ilium, im Staat New York, von einem Freund bei der Rotwildjagd erschossen worden war. So geht das. Als Billy von seinem Urlaub zurückkam, erhielt er den Befehl, nach Übersee zu gehen. Er wurde im Hauptquartier eines in Luxemburg kämpfenden Infanterieregimentes benötigt. Der Helfer des Regimentsgeistlichen war während seiner Amtsausübung getötet worden. So geht das. 37
Als Billy bei dem Regiment eintraf, wurde es gerade von den Deutschen in der berühmten Ardennenoffensive vernichtet. Billy lernte nicht einmal den Geistlichen kennen, dem er assistieren sollte, bekam nie auch nur einen Stahlhelm und Kampf Stiefel ausgehändigt. Das war im Dezember 1944 während des letzten großen deutschen Angriffs. Billy überlebte, aber er war ein verwirrter Wanderer weit hinter den neuen deutschen Linien. Drei andere Wanderer, nicht ganz so verwirrt wie er, erlaubten Billy, sich ihnen anzuschließen. Zwei von ihnen gehörten einer Kampfpatrouille an, und einer war ein Panzerabwehr schütze. Sie waren ohne Essen und ohne Landkarten. Während sie die Deutschen umgingen, drangen sie in immer tiefere ländliche Stille ein. Sie aßen Schnee. Sie gingen im Gänsemarsch. Zuerst kamen die Männer des Spähtrupps, gewitzt, gewandt und still. Sie hatten Gewehre. Dann folgte der Panzerabwehrschütze, schwerfällig und beschränkt, der sich die Deutschen mit einem automatischen Colt 45 in einer Hand und einem Nahkampfmesser in der ändern vom Leibe hielt. Zuletzt kam Billy Pilgrim, mit leeren Händen, traurig, bereit zu sterben. Billy war lächerlich — ein Meter siebenundachtzig groß, mit einer Brust und Schultern wie eine Streichholzschachtel. Er hatte keinen Helm, keinen Mantel, keine Waffe und keine Stiefel. Seine Füße steckten in billigen Zivilhalbschuhen, die er zur Beerdigung seines Vaters gekauft hatte. Billy hatte einen Absatz verloren, was ihn auf und ab hüpfen ließ, auf und ab. Dieser unfreiwillige Tanz auf und ab, auf und ab machte seine Hüftgelenke wund. Billy hatte eine dünne Feldbluse an, ein Hemd und eine Hose aus kratzender Wolle und eine lange, ver38
schwitzte Unterhose. Er war der einzige von den vier Männern, der einen Bart hatte. Es war ein ungepflegter, borstiger Bart, und einige Borsten waren weiß, obwohl Billy erst einundzwanzig Jahre alt war. Auch begann sich sein Haar schon zu lichten. Wind, Kälte und harter Dienst hatten sein Gesicht hochrot werden lassen. Er sah überhaupt nicht wie ein Soldat aus. Sondern wie ein schmutziger Flamingo. Und am dritten Tag der Wanderung schoß jemand auf die vier aus weiter Ferne — schoß viermal, als sie eine schmale, gepflasterte Straße überquerten. Ein Schuß galt den Spähtruppmännern. Der nächste war für den Panzerabwehrschützen, der Roland Weary hieß. Die dritte Gewehrkugel war für den schmutzigen Flamingo bestimmt, der mitten auf der Straße stehenblieb, als die, todbringende Hornisse an seinem Ohr vorbeisummte. Billy stand höflich da und gab dem Scharfschützen noch mal eine Möglichkeit. Es war seine verschrobene Auffassung von den Regeln der Kriegführung, daß dem Schützen eine zweite Chance geboten werden sollte. Der nächste Schuß verfehlte Billys Kniescheiben um Haaresbreite. Roland Weary und die Spähtruppmänner hatten sich in einem Graben in Sicherheit gebracht, und Weary knurrte Billy an: »Geh runter von der Straße, du doofer Mutterficker!« Das letzte Wort war im Jahre 1944 noch eine Neuheit in der Redeweise von Weißen. Es war neu und erstaunlich für Billy, der nie jemanden gefickt hatte — und es erfüllte seinen Zweck: Es rüttelte ihn auf und brachte ihn von der Straße herunter. 39
»Ich habe noch mal dein Leben gerettet, du blöder Hund«, sagte Weary zu Billy in dem Graben. Tagelang rettete er daraufhin Billys Leben, indem er ihn verfluchte, ihm Fußtritte versetzte, ihn schlug, ihn in Trab brachte. Es war unbedingt notwendig, daß man Grausamkeit anwandte, denn Billy wollte nichts tun, um sich zu retten. Billy wollte fort. Ihn fror, er war hungrig, verstört und unfähig. Jetzt am dritten Tag konnte er kaum zwischen Schlaf und Wachsein unterscheiden und fand keine großen Unterschiede zwischen Gehen und Stillstehen. Er wollte nur von jedermann in Frieden gelassen werden. »Geht ihr Jungens ohne mich weiter«, wiederholte er immer wieder. Für Weary war der Krieg so neu wie für Billy. Auch er war ein Ersatzmann. Als Kanonier hatte er geholfen, im Zorn einen Schuß aus einem 5,7-cm-Panzerabwehrgeschütz abzufeuern. Das Geschütz machte ein Ratschgeräusch, ähnlich dem Öffnen eines Reißverschlusses am Hosenlatz Gottes des Allmächtigen. Das Geschütz wühlte Schnee und Gestrüpp mit einem zehn Meter langen Feuerstreifen auf. Die Flamme ließ einen schwarzen Pfeil auf dem Boden zurück und zeigte den Deutschen genau, wo das Geschütz verborgen war. Der Schuß ging fehl. Was er verfehlt hatte, war ein Tigerpanzer. Dieser schwenkte seine 8,8-Zentimeter-Schnauze schnuppernd herum und machte den Pfeil auf dem Boden ausfindig. Er feuerte. Er tötete jedermann von der Geschützmannschaft, außer Weary. So geht das. Roland Weary war erst achtzehn, am Ende einer unglücklichen Kindheit, die er meistenteils in Pittsburgh, Pennsylvania, verbracht hatte. Er war in Pittsburg unbeliebt gewesen. Er war unbeliebt gewesen, 40
weil er dumm, dick und kleinlich gewesen war und nach Speck roch, ganz gleich wieviel er sich wusch. Er wurde in Pittsburgh immer unbeachtet gelassen von Leuten, die nichts mit ihm zu tun haben wollten. Es brachte Weary auf die Palme, wenn man ihn unbeachtet ließ. Wenn Weary unbeachtet blieb, suchte er jemanden, der sogar noch unbeliebter war als er und zog eine Weile mit ihm herum, indem er so tat, als sei er ihm freundlich gesinnt. Und dann fand er irgendeinen Vorwand, ihn fürchterlich zu verprügeln. Es war immer dasselbe. Weary knüpfte mit Menschen eine verrückte, sexuelle und mörderische Beziehung an und verdrosch sie schließlich. Er erzählte ihnen von seines Vaters Sammlung von Gewehren, Säbeln, Folterinstrumenten und Fußeisen und so fort. Wearys Vater, der ein Installateur war, sammelte tatsächlich solche Dinge, und seine Sammlung war mit viertausend Dollar versichert. Er tat das nicht allein. Er gehörte einem großen Klub an, der aus Leuten bestand, die solche Dinge sammelten. Wearys Vater gab einmal Wearys Mutter eine gebrauchsfähige spanische Daumenschraube als — Briefbeschwerer in der Küche. Ein anderes Mal schenkte er ihr eine Tischlampe, deren Fuß eine dreißig Zentimeter hohe Nachbildung der berühmten »Eisernen Jungfrau« von Nürnberg war. Die wirkliche Eiserne Jungfrau war ein mittelalterliches Folterwerkzeug, eine Art von Behälter, der außen wie eine Frau geformt — und innen mit Eisenspitzen versehen war. Die Vorderseite der Frau bestand aus zwei aufklappbaren Türen. Die Idee war, einen Verbrecher hineinzustecken und dann die Türen langsam zu schließen. Es gab zwei besondere Stacheln dort, wo 41
seine Augen sein würden. Im Boden war eine Rinne angebracht, um all das Blut abfließen zu lassen. Weary hatte Pilgrim von der Eisernen Jungfrau, von der Rinne in ihrem Boden und wozu sie diente, erzählt. Er hatte mit Billy über Dumdumgeschosse gesprochen. Er erzählte ihm von der DerringerPistole seines Vaters, die man in die Westentasche stecken konnte und die doch in einem Menschen ein Loch zu machen vermochte, »durch das eine Fledermaus durchfliegen konnte, ohne mit einem ihrer Flügel anzustreifen«. Weary wettete einmal verächtlich mit Billy, daß er nicht einmal wisse, was eine Blutrinne war. Billy glaubte, es sei die Abflußrinne am Boden der Eisernen Jungfrau, aber das war falsch. Eine Blutrinne, so erfuhr Billy, war die flache Hohlkehle an der Seite der Klinge bei einem Säbel oder einem Seitengewehr. Weary erzählte Billy von raffinierten Foltern, von denen er gelesen oder die er in Filmen gesehen oder von denen er im Rundfunk gehört hatte, und anderen raffinierten Torturen, die er sich selbst ausgedacht hatte. Eine solche Erfindung war, dem Betreffenden einen Zahnarztbohrer ins Ohr zu stecken. Er fragte Billy, was dieser für die schlimmste Hinrichtungsart hielt. Billy hatte keine Meinung. Die richtige Antwort lautete, wie sich herausstellte: »Man bindet einen Menschen neben einem Ameisenhaufen in der Wüste an einen Pfahl — verstehst du? Er steht mit dem Gesicht nach oben, und man streicht Honig über seine Eier und seinen Pint und schneidet ihm die Augenlider ab, so daß er in die Sonne starren muß, bis er stirbt.« So geht das. 42
Als er nun mit Billy und den beiden Aufklärern im Graben lag, nachdem man auf ihn geschossen hatte, ließ Weary seinen Kameraden Billy sein Nahkampfmesser ganz genau betrachten. Es war nicht von der Regierung zur Verfügung gestellt worden. Sondern ein Geschenk seines Vaters. Es hatte eine fünfundzwanzig Zentimeter lange, im Querschnitt dreieckige Klinge. Der Griff bestand aus Schlagringen, war eine Reihe von Ringen, durch die Weary seine kurzen, dicken Finger steckte. Es waren keine gewöhnlichen Ringe. Sie starrten von Eisenspitzen. Weary legte die Spitzen an Billys Wange, strich mit ihnen wie mit einem Zahnrädchen mit angeregt liebevoller Zurückhaltung darüber. »Wie würde es dir gefallen, damit einen Schlag zu bekommen — hm? Hmmmmm?« wollte er wissen. »Das möchte ich nicht«, meinte Billy. »Weißt du, warum die Klinge dreieckig ist?« »Nein.« »Sie macht eine Wunde, die sich nicht schließt.« »Ach!« »Macht ein dreiseitiges Loch in dem Betreffenden. Sticht man ein gewöhnliches Messer in einen Burschen — es macht nur einen Schnitt. Stimmt's? Ein Schnitt schließt sich. Stimmt's?« »Das stimmt.« »Scheiße! Was weißt du eigentlich? Was zum Teufel bringt man euch im College bei?« »Ich war nicht sehr lange dort«, sagte Billy wahrheitsgetreu. Er hatte nur sechs Monate lang das College besucht, und das College war nicht einmal ein reguläres College gewesen. Es waren die Abendkurse der Iliumer Schule für Optik gewesen. »Keine Schule des Lebens«, sagte Weary spöttisch. 43
Billy zuckte die Achseln. »Vom Leben lernt man mehr, als was in Büchern steht«, meinte Weary. »Das wirst du auch noch herausfinden.« Billy gab auch darauf keine Antwort, denn e. r wollte nicht, daß das Gespräch länger als nötig dauerte. Er war jedoch irgendwie versucht zu sagen, daß er das eine oder andere über Stichverletzungen wußte. Billy hatte schließlich Folterung und häßliche Wunden am Anfang und Ende fast jeden Tages seiner Kindheit vor Augen gehabt. Billy hatte ein ungewöhnlich grauenvolles Kruzifix an der Wand seines kleinen Schlafzimmers in Ilium hängen. Ein Militärarzt hätte die klinische Treue der Wiedergabe aller Wunden Christi durch den Künstler bewundert — der Lanzenwunde, der Dornenwunden, der Löcher, die von den eisernen Spitzen gemacht wurden. Billys Christus starb auf schreckliche Weise. Er war bemitleidenswert. So geht das. Billy war kein Katholik, ob schon er mit einem schauderhaften Kruzifix an der Wand aufgewachsen war. Sein Vater hatte keine Religion. Seine Mutter war eine Aushilf sorganistinfür verschiedene Kirchen in der Stadt. Sie nahm Billy immer mit, wenn sie spielte, brachte ihm auch ein wenig zu spielen bei. Sie sagte, sie wolle einer Kirche beitreten, sobald sie entschieden habe, welche die richtige war. Sie entschied sich nie. Sie entwickelte aber eine schreckliche Sehnsucht nach einem Kruzifix. Und sie kaufte eines in einem Geschenkladen in Santa Fé auf einer Reise, die die kleine Familie während der großen Depression machte. Wie so viele Amerikaner versuchte sie, ein sinnvolles Leben aus Dingen aufzubauen, die sie in Geschenkläden fand. 44
Und das Kruzifix erschien an der Wand von Billy Pilgrim. Die zwei Spähtruppmänner, die die Walnußholzkòìben ihrer Gewehre in den Graben gesenkt hatten, flüsterten, es sei an der Zeit, wieder herauszuklettern. Zehn Minuten waren vergangen, ohne daß jemand gekommen war, um nachzusehen, ob sie getroffen worden waren oder nicht, und um sie endgültig zu erledigen. Wer immer geschossen hatte, war offenbar weit weg und ein Einzelgänger. Und die vier kletterten aus dem Graben heraus, ohne wieder das Feuer auf sich zu lenken. Sie krochen in einen Wald wie große, unglückliche Säugetiere, die sie waren. Dann richteten sie sich auf und begannen schnell zu gehen. Der Wald war dunkel und alt. Die Kiefern waren in Reih und Glied gepflanzt. Es gab kein Unterholz. Zehn Zentimeter unberührter Schnee bedeckten den Boden. Den Amerikanern blieb keine andere Wahl, als Spuren im Schnee zu hinterlassen, die ebenso unzweideutig waren wie schematische Darstellungen in einem Buch über Tänze bei Bällen — Schritt, gleiten, stillstehen — Schritt, gleiten, stillstehen. »Schließ eng auf und bleib dicht hinter uns!« warnte Roland Weary den hinter ihm folgenden Billy Pilgrim, als sie auf eine Lichtung traten. Weary sah wie eine für den Kampf ausgerüstete Witzblattfigur aus. Er war klein und dick. Er trug jedes Ausrüstungsstück, das ihm jemals zugeteilt worden war, und jedes Geschenk, das er jemals von daheim bekommen hatte: Helm, Helmüberzug, Wollhaube, Schal, Wollhandschuhe, baumwollenes Unterhemd, wollenes Unterhemd, Woll45
hemd, Pullover, Feldbluse, Jacke, Mantel, baumwollene Unterhose, Baumwollsocken, Wollsocken, Kampfstiefel, Gasmaske, Feldflasche, Eßgeschirr, Verbandpäckchen, Nahkampfmesser, Decke, Zeltbahn, Regenmantel, kugelfeste Bibel, eine Broschüre mit dem Titel »Kenne deinen Feind« sowie eine andere Sammlung deutscher, in englischen Sprachlauten wiedergegebener Sätze, die Weary in die Lage versetzen würden, den Deutschen Fragen zu stellen wie »Wo ist euer Hauptquartier?« und »Wie viele Haubitzen habt ihr?«, oder ihnen zu sagen: »Ergebt euch. Eure Lage ist hoffnungslos« und so fort. Weary hatte einen Balsaholzblock, der als Deckung für ein Schützenloch dienen sollte. Er verfügte über eine prophylaktische Ausrüstung, die zwei feste Präservative »Nur zur Verhinderung von Krankheit« enthielt. Er besaß ein Pfeifchen, das er erst jemandem zeigen sollte, wenn er zum Korporal befördert wurde. Er hatte ein anstößiges Bild von einer Frau, die Geschlechtsverkehr mit einem Shetlandpony versuchte. Er hatte Billy Pilgrim dieses Bild mehrmals bewundern lassen. Die Frau und das Pony waren vor Samtdraperien postiert, die mit Wollbällchen eingesäumt waren. Sie waren von dorischen Säulen flankiert. Vor einer Säule stand eine Topfpalme. Das Bild, das Weary hatte, war ein Abzug der ersten obszönen Fotografie der Geschichte. Das Wort Fotografie wurde erstmals im Jahre 1839 gebraucht, und es war auch in diesem Jahr, daß Louis J. M. Daguerre vor der Französischen Akademie die Enthüllung machte, daß ein Bild auf einer Silberplatte, die mit einer dünnen Schicht Jodsilber überzogen war, mit Hilfe von Quecksilberdämpfen entwickelt werden konnte. 46
Nur zwei Jahre später, 1841, wurde ein Mitarbeiter Daguerres, Andre Le Fèvre, in den Tuileriengärten verhaftet, weil er versucht hatte, einem Herrn ein Bild von der Frau und dem Pony zu verkaufen. Dort, in den Tuilerien, war es, wo auch Weary sein Bild gekauft hatte. Le Fèvre machte den Einwand geltend, das Bild sei hohe Kunst und es sei seine Absicht, die griechische Mythologie zum Leben zu erwecken. Er sagte, die Säulen und die Topfpalme bewiesen das. Als man ihn fragte, welchen Mythus er habe darstellen wollen, antwortete Le Fèvre, es gebe tausend solche Mythen, bei denen die Frau eine Sterbliche und das Pony ein Gott war. Er wurde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Er starb dort an Lungenentzündung. So geht das. Billy und die Männer vom Spähtrupp waren hagere Gestalten. Roìand Weary hatte Fett zu verbrennen. Er war ein glühender Schmelzofen unter allen seinen Schichten von Wolle, Gurten und Segeltuch. Er hatte so viel Energie, daß er sich zwischen Billy und den Spähtruppmännern geschäftig hin und her bewegte und dämliche Botschaften überbrachte, die niemand geschickt und die zu empfangen niemand erfreut war. Auch fing er jetzt an zu glauben, er sei, weil er soviel emsiger war als jeder andere, der Truppführer. Tatsächlich war ihm so heiß, und er war so fest eingepackt, daß er kein Gefühl für die Gefahr hatte. Seine Vorstellung von der Außenwelt war auf das beschränkt, was er durch einen schmalen Schlitz zwischen dem Rand seines Helms und seinem Schal von daheim, der sein Babygesicht von seinem Nasenrücken an abwärts verbarg, sehen konnte. Ihm war so behaglich dort drin zumute, daß er sich vormachen 47
konnte, er sei zu Hause in Sicherheit, nachdem er den Krieg überlebt hatte, und erzähle seinen Eltern und seiner Schwester eine wahre Kriegsgeschichte — während die wahre Kriegsgeschichte noch in vollem Gang war. Wearys Version von der wahren Kriegsgeschichte lautete folgendermaßen: Es kam ein großer deutscher Angriff, und Weary und seine Kameraden von der Panzerabwehr kämpften wie die Teufel, bis jedermann außer Weary getötet war. So geht das. Und dann tat Weary sich mit zwei Spähtruppmännern zusammen, und sie wurden sofort enge Freunde und beschlossen, sich zurück zu ihren eigenen Linien durchzuschlagen. Sie wollten schnell vorankommen. Verdammt wollten sie sein, wenn sie sich jemals ergaben. Sie schüttelten einander die Hände. Sie nannten sich »Die drei Musketiere«. Aber dann fragte dieser verdammte Collegebengel, der so schwächlich war, daß er überhaupt nicht bei der Armee hätte sein sollen, ob er mitkommen könnte. Er hatte sogar nicht einmal ein Gewehr oder ein Messer. Ja, er hatte nicht einmal einen Helm oder eine Mütze. Er konnte nicht einmal richtig gehen — hüpfte auf und ab, auf und ab, machte jedermann verrückt, verriet ihre Stellung. Es war bedauernswert. Die drei Musketiere schoben, trugen und schleppten den Collegebengel den ganzen Weg zu ihren Linien zurück, so lautete Wearys Geschichte. Sie retteten ihm seine gottverdammte Haut. Im wirklichen Leben lenkte Weary seine Schritte zurück und versuchte herauszufinden, was mit Billy geschehen war. Er hatte den Spähtruppmännern gesagt, sie sollten warten, während er zurückging, um den Collegebastard zu suchen. Er ging jetzt unter einem niedrigen Ast durch. Dieser streifte die Spitze 48
seines Helmes mit einem Kling. Weary hörte es nicht. Irgendwo bellte ein großer Hund. Weary hörte auch das nicht. Seine Kriegsgeschichte war an einem sehr aufregenden Punkt angelangt. Ein Offizier beglückwünschte die drei Musketiere, sagte ihnen, er werde sie für den Bronzestern vorschlagen. »Kann ich sonst noch etwas für euch Jungens tun?« fragte der Offizier. »Ja, Sir«, sagte einer der Spähtruppmänner. »Wir würden gerne für den Rest des Krieges beisammenbleiben, Sir. Gibt es eine Möglichkeit, wie Sie das machen können, damit nie jemand die drei Musketiere trennt?« Billy Pilgrim hatte im Wald haltgemacht. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich an einen Baum. Sein Kopf war zurückgebogen und seine Nasenflügel blähten sich. Er war wie ein Dichter im Pantheon. Das war, als Billy zum erstenmal das Zeitgefühl verlor. Seine Aufmerksamkeit begann sich grandios durch den vollen Bogen seines Lebens zu schwingen, einzugehen in den Tod, der violettes Licht war. Es war niemand anders oder etwas anderes da. Nur eben violettes Licht — und ein Brausen. Und dann schwenkte Billy wieder ein ins Leben, ging zurück bis zu dem Vorgeburtszustand, der rotes Licht und brodelnde Geräusche war. Und dann schwenkte er erneut ins Leben zurück und hielt inne. Er war ein kleiner Junge, der zusammen mit seinem behaarten Vater im Verein Christlicher Junger Männer in Ilium ein Brausebad nahm. Er konnte Chlor vom Schwimmbecken nebenan riechen, hörte das Dröhnen des Sprungbretts. Der kleine Billy war erschrocken, denn sein Vater hatte gesagt, er werde ihm nach der Methode »Schwimm oder geh unter« das Schwimmen bei49
bringen. Sein Vater würde Billy in das tiefe Wasser werfen, und Billy würde verdammt gut schwimmen. Es war eine Hinrichtung. Billy war wie erstarrt, als sein Vater ihn von dem Duschraum zu dem Schwimmbecken trug. Seine Augen waren geschlossen. Als er sie öffnete, lag er auf dem Boden des Beckens, und überall ertönte schöne Musik. Er verlor das Bewußtsein, aber die Musik ging weiter. Erfühlte undeutlich, daß ihn jemand rettete. Billy ärgerte sich darüber. Von dort reiste er zeitlich zu dem Jahr 1965. Er war einundvierzig Jahre alt und besuchte seine hinfällige Mutter in Pine Knoll, einem Altersheim, in dem er sie erst einen Monat zuvor untergebracht hatte. Sie hatte sich eine Lungenentzündung zugezogen, und man erwartete nicht, daß sie diese überleben würde. Sie lebte aber noch Jahre danach. Sie konnte kaum mehr sprechen, so daß Billy, um sie zu verstehen, sein Ohr ganz nahe an ihre papierdünnen Lippen bringen mußte. Sie hatte offenbar etwas sehr Wichtiges zu sagen. »Wie ...?« fing sie an und hielt dann inne. Sie war zu müde. Sie hoffte, daß sie den übrigen Satz nicht würde sagen müssen, daß Billy ihn für sie beenden würde. Aber Billy hatte keine Ahnung, was sie beschäftigte. »Wie was, Mutter?« drängte er. Sie schluckte mühsam, vergoß ein paar Tränen. Dann raffte sie aus ihrem ganzen zerstörten Körper Energie zusammen, sogar aus ihren Zehen und Fingerspitzen. Schließlich hatte sie genug gesammelt, um diesen vollständigen Satz zu flüstern: »Wie bin ich so alt geworden?« 50
Billys altehrwürdige Mutter starb, und Billy wurde von einer hübschen Krankenschwester aus dem Zimmer geführt. Die Leiche eines alten Mannes, mit einem Leintuch bedeckt, wurde gerade in dem Augenblick vorbeigefahren, als Billy auf den Gang trat. Der Mann war zu seiner Zeit ein berühmter Marathonläufer gewesen. So geht das. Das war, bevor Billy seine Kopfverletzung bei einem Flugzeugunglück davontrug — nebenbei bemerkt, bevor er so redselig hinsichtlich der fliegenden Untertassen und Reisen in der Zeit wurde. Billy setzte sich in ein Wartezimmer. Er war noch kein Witwer. Er fühlte etwas Hartes unter dem Kissen seines übermäßig gepolsterten Stuhles. Er holte es hervor und entdeckte, daß es ein Buch war: Die Hinrichtung des Soldaten Slovik von William Bradford Huie. Es war ein Tatsachenbericht von dem Tod des Soldaten Eddie D. Slovik, 368964 15, vor einem amerikanischen Exekutionskommando, des einzigen amerikanischen Soldaten, der seit dem Bürgerkrieg wegen Feigheit erschossen wurde. So geht das. Billy las die Ansicht eines Stabsrichters und Strafrechtsverteidigers, der den Fall Slovik untersuchte. Sie endete folgendermaßen: Er hat die Autorität der Regierung direkt herausgefordert, und die zukünftige Disziplin hängt von einer entschlossenen Erwiderung auf diese Herausforderung ab. Wenn jemals die Todesstrafe für Desertion verhängt wird, sollte es in diesem Fall geschehen, nicht als Strafmaßnahme oder als Vergeltung, sondern zur Aufrechterhaltung der Disziplin, auf Grund deren allein eine Armee gegen den Feind erfolgreich sein kann. Es gab bei dem Fall keinen Grund, Milde zu empfehlen, und es wird hier auch keine empfohlen. So geht das. 51
Billy kniff 1965 die Augen zu, reiste zeitlich nach 1958. Er war bei einem Bankett zu Ehren einer Mannschaft der Little League, der sein Sohn Robert als Mitglied angehörte. Der Trainer, der nie verheiratet gewesen war, hielt eine Rede. Er war ein chronischer Alkoholiker. »Auf mein Wort«, sagte er, »ich würde es schon als eine Ehre betrachten, nur der Wasserträger für diese Jungens zu sein.« Billy kniff 1958 die Augen zu, reiste zeitlich nach 1961. Es war Silvesterabend, und Billy war schmählich betrunken bei einer Party, bei der jedermann in der Optik tätig oder mit einem Optiker verheiratet war. Billy trank gewöhnlich nicht viel, denn der Krieg hatte ihn magenkrank gemacht, aber bestimmt hatte er jetzt den Kanal voll und war zum ersten und einzigen Mal seiner Frau Valencia untreu. Irgendwie hatte er eine Frau überredet, in das Bügelzimmer des Hauses zu kommen und sich dann auf den eingeschalteten Gastrockner zu setzen. Die Frau war selbst sehr betrunken, und sie half Billy, ihren Hüfthalter herunterzubekommen. »Was war es, worüber Sie sprechen wollten?« fragte sie. »Es ist schon gut«, meinte Billy. Er glaubte ehrlich, alles sei gut. Er konnte sich nicht an den Namen der Frau erinnern. »Wie kommt es, daß man Sie Billy statt William nennt?« »Geschäftliche Gründe«, erklärte Billy. Das war wahr. Sein Schwiegervater, dem die Iliumer Schule für Optik gehörte und der Billy zu einem guten Start verholfen hatte, war ein Genie in dieser Hinsicht. Er sagte Billy, er sollte die Leute dazu ermutigen, ihn Billy zu nennen — denn das blieb ihnen im Gedächtnis 52
haften. Er würde dann auch als ein wenig ausgefallen scheinen, da es keine anderen erwachsenen Billys in der Gegend gab. Auch würde es die Leute dazu bringen, daß sie an ihn sogleich als an einen Freund dachten. Irgendwo dort drin gab es eine schreckliche Szene, bei der die Leute ihrem Abscheu vor Billy und der Frau Ausdruck gaben, und Billy fand sich draußen in seinem Auto, wie er versuchte, das Steuerrad zu finden. Die Hauptsache war jetzt, das Steuerrad zu finden. Zuerst fuchtelte Billy mit den Armen wie mit Windmühlenflügeln umher, in der Hoffnung, es durch Zufall zu finden. Als das nicht klappte, wurde er methodisch und ging so vor, daß ihm das Steuer nicht entgehen konnte. Er setzte sich neben die linke Tür und durchsuchte jeden Quadratzoll der Fläche vor ihm. Als es ihm nicht gelang, das Steuer zu finden, rückte er fünfzehn Zentimeter hinüber und suchte wieder. Erstaunlicherweise geriet er schließlich dicht an die rechte Tür, ohne daß er das Steuer gefunden hatte. Er folgerte, jemand müsse es gestohlen haben. Das ärgerte ihn, bis er die Besinnung verlor. Er befand sich auf dem Rücksitz seines Wagens, darum konnte er das Steuerrad nicht finden. Nun rüttelte jemand Billy wach. Billy fühlte sich noch betrunken, war noch immer verärgert über das gestohlene Steuerrad. Er war wieder zurück im zweiten Weltkrieg, hinter den deutschen Linien. Der Mann, der ihn wachrüttelte, war Roland Weary. Weary hielt Billys Feldbluse vorn mit seinen Händen umklammert. Er bumste Billy gegen einen Baumstamm, zog ihn dann weg, stieß ihn in die Richtung, die er aus eigener Kraft einschlagen sollte. 53
Billy blieb stehen, schüttelte den Kopf. »Geht nur weiter«, sagte er. »Was?« »Geht ihr Jungens nur ohne mich weiter. Ich bin in Ordnung.« »Was bist du?« »Ich bin okay.« »Du lieber Himmel — ich möchte niemanden leiden sehen«, sagte Weary durch fünf Schichten des feuchten Schals von daheim hindurch. Billy hatte nie Wearys Gesicht gesehen. Er hatte es sich einmal vorzustellen versucht, hatte sich eine Kröte in einem Aquarium vorgestellt. Weary stieß und schob Billy vierhundert Meter vor sich her. Die Spähtruppmänner warteten an der Böschung eines vereisten kleinen Flusses. Sie hatten den Hund gehört. Sie hatten auch Menschen durcheinander rufen hören — rufen wie Jäger, die ziemlich genau wußten, wo ihre Beute war. Die Uferböschungen des Flüßchens waren so hoch, daß die Spähtruppmänner aufstehen konnten, ohne daß sie gesehen wurden. Billy stolperte die Böschung hinunter. Es sah komisch aus. Hinter ihm drein kam Weary, klappernd, klirrend, scheppernd und erhitzt. »Da ist er, Jungens«, sagte Weary. »Er will nicht mehr leben, wird aber doch leben. Wenn er hier herauskommt, wird er bei Gott sein Leben den drei Musketieren zu verdanken haben.« Das war das erste Mal, daß die Spähtruppmänner gehört Hatten, daß Weary von sich und ihnen als von den drei Musketieren dachte. Billy Pilgrim, dort in dem Flußbett, dachte er, Billy Pilgrim würde sich schmerzlos in Dampf auflösen. Wenn jedermann ihn nur eben ein Weilchen in Frie54
den lassen wollte, dachte er, würde er niemandem mehr zur Last fallen. Er würde sich in Dampf auflösen und zwischen den Baumwipfeln hochschweben. Irgendwo bellte wieder der große Hund. Mit Hilfe der Angst, des Echos und der Winterstille klang die Stimme dieses Hundes wie ein großer bronzener Gong. Roland Weary, achtzehn Jahre alt, zwängte sich zwischen die beiden Spähtruppmänner, legte jedem einen Arm schwer auf die Schulter. »Was tun die drei Musketiere jetzt?« wollte er wissen. Billy Pilgrim hatte eine köstliche Halluzination. Er hatte trockene, warme, weiße Wollsocken an den Füßen und fuhr Schlittschuh auf einem Ballsaalboden. Tausende jubelten ihm zu. Das war kein Reisen in der Zeit. Es hatte nie stattgefunden, würde nie stattfinden. Es war die Verrücktheit eines sterbenden jungen Mannes, mit seinen Schuhen voll Schnee. Einer der Spähtruppmänner ließ den Kopf hängen und Speichel von seinen Lippen tropfen. Sie untersuchten die kleinwinzigen Auswirkungen von Spucke auf Schnee und die Ereignisse. Sie waren kleine, geschmeidige junge Leute. Sie waren schon zuvor mehrere Male hinter den deutschen Linien gewesen — hatten wie Geschöpfe des Waldes gelebt, von einem Augenblick zum anderen in zweckmäßiger Angst, hirnlos mit ihrem Rückenmark denkend. Nun machten sie sich von Wearys liebevollen Armen frei. Sie sagten Weary, er und Billy täten besser daran, jemanden zu finden, dem sie sich ergeben konnten. Die beiden Spähtruppmänner würden nicht mehr auf sie warten. 55
Und sie ließen Weary und Billy in dem Flußbett im Stich. Billy Pilgrim fuhr weiter Schlittschuh, machte in Wollsocken Kunststücke — Kunststücke, welche die meisten Menschen für unmöglich halten würden: Pirouetten, Stehenbleiben auf einem Zehn-CentStück großen Fleck und so fort. Der Jubel ging weiter, aber der Ton änderte sich, als die Halluzination von Reisen in der Zeit abgelöst wurde. Billy hörte auf, Schlittschuh zu laufen, und fand sich an einem Frühnachmittag im Herbst 1957 an einem Podium in einem chinesischen Restaurant in Ilium, New York. Er wurde im Lion's Club mit Ovationen überschüttet. Er war gerade zum Klubvorstand gewählt worden, und man erwartete von ihm, daß er eine Ansprache hielt. Er war völlig verstört, glaubte er doch, daß ein schrecklicher Irrtum unterlauf en sei. Alle diese wohlhabenden, soliden Männer dort unten würden nun entdecken, daß sie einen lächerlichen Ausgestoßenen gewählt hatten. Sie würden seine kratzige Stimme hören, wie er sie im Krieg gehabt hatte. Er schluckte, wußte er doch, daß alles, was er hatte, um sich Gehör zu verschaffen, ein aus einer Weidenrute geschnitztes Pfeifchen war. Schlimmer noch — er hatte nichts zu sagen. Die Menge beruhigte sich. Jedermann war in Hochform und strahlte. Billy öffnete den Mund, und heraus kam ein tiefer, nachklingender Ton. Seine Stimme war ein prächtiges Instrument. Sie erzählte Witze, die bei seinen Zuhörern Lachstürme entfesselten. Sie wurde ernst, erzählte wieder Witze und endete in einem bescheidenen Ton. Die Erklärung des Wunders war: Billy hatte an einem Rednerkurs teilgenommen! 56
Und dann steckte er wieder im vereisten Flußbett. Roland Weary war gerade dabei, ihn fürchterlich zu verprügeln. Weary war von einem tragischen Zorn entbrannt. Wieder war er im Stich gelassen worden. Er schob seine Pistole in ihren Halfter. Steckte sein Messer in die Scheide. Mit seiner dreieckigen Klinge und Blutrinnen auf allen drei Schneiden. Und dann schüttelte er Billy mit Leibeskräften, rüttelte sein ganzes Skelett, warf ihn gegen eine Böschung. Weary belferte und wimmerte durch die Schichten seines Schals von daheim. Er sprach unverständlich von den Opfern, die er Billy zuliebe gebracht hatte. Er ließ sich über die Anhänglichkeit und das Heldentum der drei Musketiere aus, malte ihre Tugend und ihren Edelmut in den glühendsten und feurigsten Farben, schilderte die unvergängliche Ehre, die sie für sich selbst erwarben, und die großen Leistungen, die sie für die Christenheit vollbrachten. Es war einzig und allein Billys Schuld, daß diese Kampforganisation nicht mehr existierte, das war Wearys feste Überzeugung, und Billy sollte ihm dafür bezahlen. Weary gab Billy einen tüchtigen Kinnhaken, stieß ihn vom Ufer herunter und auf das schneebedeckte Eis des Flusses. Billy kniete auf allen vieren auf dem Eis, und Weary versetzte ihm einen Tritt in die Rippen und kippte ihn dann auf die Seite. Billy versuchte sich zu einer Kugel zusammenzurollen. »Du solltest nicht einmal bei der Armee sein«, wetterte Weary. Billy gab unwillkürlich krampfhafte Laute von sich, die genau wie Lachen klangen. »Du hältst es wohl für komisch, he?« ärgerte sich Weary. Er ging um Billys Rücken herum. Billys Jacke, Hemd und Unterhemd 57
waren durch die Gewaltanwendung um seine Schultern hinaufgerutscht, so daß sein Rücken nackt war. Da, nur einige Zentimeter von den Spitzen von Wearys Kampf stiefeln entfernt, lockten die jammervollen Wirbel von Billys Rückgrat. Weary zog seinen rechten Stiefel zurück, und um der Wirbelsäule einen Tritt zu versetzen, zielte er gegen die Röhre, die so viele von Billys wichtigen Drähten in sich vereinte. Weary war im Begriff, diese Röhre zu zerschmettern. Aber dann sah Billy, daß er eine Zuhörerschaft hatte. Fünf deutsche Soldaten und ein Polizeihund an einer Leine schauten in das Flußbett hinunter. Die blauen Augen der Soldaten waren von einer einfältigen, zivilen Neugier erfüllt, warum ein Amerikaner einen anderen so weit fort von seiner Heimat zu ermorden versuchte und warum das Opfer lachte.
3 Die Deutschen und der Hund waren dabei, eine militärische Operation auszuführen, die eine belustigende, selbsterklärende Bezeichnung hatte, ein menschliches Unternehmen, das selten im einzelnen geschildert wird, dessen Bezeichnung allein, wenn sie als Neuigkeit oder als geschichtliches Ereignis berichtet wird, vielen Kriegsbegeisterten eine Art von postkoitaler Befriedigung gewährt. Es ist, in der Phantasie von begeisterten Kampfanhängern, das himmlisch teilnahmslose Liebesspiel, das dem Orgasmus des Sieges folgt. Es wird als »Säuberung vom Feind« bezeichnet. Der Hund, der so grimmig in der winterlichen Weite geklungen hatte, war eine deutsche Schäferhündin. Sie zitterte. Ihr Schwanz war zwischen die Beine geklemmt. Sie war an diesem Morgen von einem Bauern ausgeliehen worden. Nie zuvor war sie im Kriegseinsatz gewesen. Sie hatte keine Ahnung, was hier gespielt wurde. Sie hieß Prinzessin. Zwei von den Deutschen waren Jungen im frühen Teenager alter. Zwei waren klapprige alte Männer — Sabberer, zahnlos wie Karpfen. Sie gehörten irregulären Truppen an, waren nur fragmentarisch bewaffnet und bekleidet mit Zeug, das sie wirklichen Soldaten, die kurz zuvor gefallen waren, abgenommen hatten. So geht das. Sie waren Bauern aus einer nicht weit entfernten Gegend, gerade jenseits der deutschen Grenze. Ihr Befehlshaber war ein Obergefreiter in mittleren Jahren — mit geröteten Augen, hager, zäh wie getrocknetes Rindfleisch, ein Mann, der den Krieg satt hatte. 59
Er war viermal verwundet, wieder zusammengeflickt und zurück an die Front geschickt worden. Er war ein sehr guter Soldat — im Begriff, den Dienst zu quittieren, auf der Suche nach jemandem, dem er sich ergeben konnte. Seine Säbelbeine steckten in goldbraunen Reitstiefeln, die er einem toten ungarischen Oberst an der russischen Front abgenommen hatte. So geht das. Diese Stiefel waren fast alles, was er in dieser Welt besaß. Sie waren sein Zuhause. Eine Anekdote: Eines Tages beobachtete ihn ein Rekrut, wie er diese goldbraunen Stiefel putzte und blank rieb, und er hielt einen davon dem Rekruten hin und sagte: »Wenn du tief genug hineinschaust, siehst du Adam und Eva.« Billy Pilgrim hatte diese Anekdote nicht gehört. Aber dort auf dem dunklen Eis liegend, starrte er in die Patina der Stiefel des Obergefreiten und sah in den goldbraunen Tiefen Adam und Eva. Sie waren nackt. Sie waren so unschuldig, so verwundbar, so darauf bedacht, sich anständig zu benehmen. Billy Pilgrim gewann sie richtig lieb. Neben den goldbraunen Stiefeln waren zwei in Lumpen gewickelte Füße. Sie waren kreuzweise mit Leinenstreifen umwunden und steckten in abgetragenen Holzpantinen. Billy blickte zu dem Gesicht auf, das zu den Pantinen gehörte. Es war das Gesicht eines blonden Engels, eines fünfzehnjährigen Jungen. Der Junge war so schön wie Eva. Billy wurde von dem reizenden Jungen, dem himmlischen Androgynen, auf die Beine geholfen. Und die anderen kamen näher, um Billy den Schnee abzuklopfen, und dann durchsuchten sie ihn nach Waffen. Er hatte keine. Der gefährlichste Gegenstand, den sie bei 60
ihm fanden, war ein fünf Zentimeter langer Bleistiftstummel. Drei harmlose Pengs ertönten von weit weg. Sie kamen von deutschen Gewehren. Die zwei Männer vom Spähtrupp, die Billy und Weary im Stich gelassen hatten, waren gerade erschossen worden. Sie hatten nach Deutschen auf der Lauer gelegen. Sie waren entdeckt und von hinten erschossen worden. Jetzt starben sie im Schnee, ohne etwas zu fühlen, und unter ihnen färbte sich der Schnee zu der Farbe eines Himbeersorbetts. So geht das. So war Roland Weary der letzte von den drei Musketieren. Und Weary, mit angstvoll hervorquellenden Augen, wurde entwaffnet. Der Obergefreite gab Wearys Pistole dem hübschen Jungen. Er staunte über Wearys grausames Nahkampfmesser und sagte auf deutsch, Weary würde zweifellos gern das Messer gegen ihn gebrauchen, um ihm mit den mörderischen Stacheln das Gesicht aufzureißen und ihm die Klinge in den Leib oder den Hals zu stoßen. Er sprach kein Englisch, und Billy und Weary verstanden kein Deutsch. »Nette Spielsachen hast du da«, sagte der Obergefreite zu Weary und reichte das Messer einem alten Mann. »Ist das nicht ein hübsches Ding? Hmm?« Er riß Wearys Mantel und Feldbluse auf. Messingknöpfe flogen wie Maiskörner. Der Obergefreite griff in Wearys klaffende Brust, als wollte er ihm sein klopfendes Herz herausreißen, brachte aber statt dessen Wearys kugelfeste Bibel zum Vorschein, die so klein ist, daß man sie in die Brusttasche eines Soldaten, über dem Herzen, stecken kann. Sie ist mit Stahl umkleidet. Der Obergefreite fand das obszöne Bild von der 61
Frau und dem Pony in Wearys Hüfttasche. »Was für ein glückliches Pony, was?« meinte er. »Hm? Hm? Möchtest du nicht dieses Pony sein?« Er reichte das Bild dem anderen alten Mann. »Kriegsbeute! Es gehört dir, ganz dir, du Glückspilz.« Dann ließ er Weary sich in den Schnee setzen und seine Kampfstiefel ausziehen, die er dem schönen Jungen gab. Er warf Weary die Holzpantinen des Jungen zu. So waren Weary und Billy nun beide ohne anständige militärische Fußbekleidung und mußten meilenweit — Weary mit seinen Pantinen klappernd und Billy auf und ab, auf und ab hüpfend — marschieren, wobei dieser von Zeit zu Zeit mit Weary zusammenprallte. »Verzeihung«, sagte dann Billy oder »Entschuldige bitte«. Schließlich wurden sie in ein Häuschen an einer Weggabelung gebracht. Es war eine Sammelstelle für Kriegsgefangene. Billy und Weary wurden hineingeführt, wo es warm und verraucht war. Ein Feuer zischte und paffte im Kamin. Das Heizmaterial war das Mobiliar. Es gab noch etwa zwanzig andere Amerikaner dort drinnen, die mit dem Rücken zur Wand auf dem Fußboden saßen und in die Flammen starrten — dabei dachten sie, was es zu denken gab, nämlich nichts. Keiner sprach. Niemand hatte irgendwelche gute Kriegsgeschichten zu erzählen. Billy und Weary fanden einen Platz, wo sie sich hinsetzen konnten, und Billy schlief mit dem Kopf auf der Schulter eines Hauptmanns ein, der nichts dagegen einzuwenden hatte. Der Hauptmann war ein Militärgeistlicher. Ein Rabbi. Ihm war durch die Hand geschossen worden. Billy verreiste in die Zeit, öffnete die Augen und 62
fand, daß er in die Glasaugen einer jadegrünen mechanischen Eule schaute. Die Eule hing verkehrt herum an einem rostfreien Stahlseil. Die Eule war Billys Optometer in seinem Büro in Ilium. Ein Optometer ist ein Instrument, um Fehler in dem Refraktionsvermögen der Augen festzustellen — um korrigierende Linsen zu verschreiben. Billy war eingenickt, während er eine Patientin untersuchte, die auf der anderen Seite der Eule auf einem Stuhl saß. Schon vorher war er bei der Arbeit eingeschlafen. Zuerst war es komisch gewesen. Jetzt aber fing Billy an, sich darüber Gedanken zu machen — über seine geistige Verfassung im allgemeinen. Er versuchte, sich zu erinnern, wie alt er war, brachte es aber nicht fertig. Dann wollte er sich ins Gedächtnis rufen, welches Jahr es war. Aber auch daran konnte er sich nicht erinnern. »Doktor — «, sagte die Patientin zaghaft. »Ja?« sagte er. »Sie sind so still.« »Verzeihung.« »Sie haben so lebhaft gesprochen — doch dann wurden Sie so still.« »Hm.« »Haben Sie etwas Schlimmes gesehen?« »Schlimmes?« »Eine Krankheit in meinen Augen?« »Nein, nein«, wehrte Billy ab, der weiterschlummern wollte. »Ihre Augen sind in Ordnung. Sie brauchen nur eine Brille zum Lesen.« Er sagte ihr, sie solle über den Gang gehen — dort könne sie sich eine reiche Auswahl an Gestellen ansehen. Als sie gegangen war, zog Billy die Vorhänge auf und war nicht klüger in bezug auf das, was draußen 63
war. Der Blick war noch immer durch eine Sonnenjalousie versperrt, die er klappernd hochzog. Helles Sonnenlicht strömte herein. Es gab Tausende von geparkten Autos dort draußen, die wie auf einem großen See schwarzer Dächer flimmerten. Billys Büro war innerhalb eines Vorstadteinkaufszentrums. Gerade vor dem Fenster stand Billys eigener Cadillac El Dorado Coupe de Ville. Er las die Aufklebezettel an der Stoßstange. »Besucht Ausable Chasm«, lautete einer. »Unterstützen Sie Ihre Polizeidienststelle«, besagte ein anderer. Es gab einen dritten: »Zieh Earl Warren zur Rechenschaft«, lautete er. Die Zettel über die Polizei und Earl Warren stammten von Billys Schwiegervater, einem Mitglied der John-BirchGesellschaft. Das Datum auf dem Nummernschild war 1967, womit Billy Pilgrim vierundvierzig Jahre alt war. Er fragte sich: »Wo sind nur alle diese Jahre hingekommen?« Billy wandte seine Aufmerksamkeit seinem Schreibtisch zu. Auf dem eine aufgeschlagene Nummer der Zeitschrift für Optik lag. Sie war bei einem Leitartikel aufgeschlagen, den Billy jetzt mit sich leise bewegenden Lippen las. Was im Jahre 1968geschieht, wird das Schicksal der europäischen Optiker für mindestens fünfzig Jahre bestimmen! las Billy. Mit dieser Warnung drängt Jean Thiriart, der Schriftführer der Nationalen Vereinigung belgischer Optiker auf die Bildung einer »Europäischen Optikergesellschaft«. Die Alternative, sagt er, wird die Zubilligung eines Berufsstatuts oder bis 1971 eine geringere Rolle der Brillenverkäufer sein. Billy Pilgrim versuchte angestrengt, der Sache Beachtung zu schenken. Eine Sirene ertönte und erschreckte ihn furchtbar. Er erwartete jeden Augen64
blick den Ausbruch des Weltkriegs Nummer drei. Die Sirene zeigte nur zwölf Uhr mittags an. Sie war in einer Kuppel zuoberst auf einer Feuerwache gegenüber von Billys Büro angebracht. Die Amerikaner, mit Billy unter ihnen, stellten sich draußen auf der Straße zu einem Narrenappell auf. Ein Fotograf, ein deutscher Kriegsberichterstatter mit einer Leica, war anwesend. Er machte Aufnahmen von Billys und Roland Wearys Füßen. Das Bild wurde zwei Tage später in Großformat als ermutigender Beweis veröffentlicht, wie jammervoll ausgerüstet die amerikanische Armee häufig war—trotz ihres Rufes, im Überfluß zu schwelgen. Der Fotograf wollte jedoch etwas Lebendigeres, ein Bild von einer tatsächlichen Gefangennahme. Die Wachmannschaften stellten also eines für ihn. Sie stießen Billy ins Gebüsch. Als Billy daraus hervorkam, sein Gesicht in törichter Gutwilligkeit verzerrt, bedrohten sie ihn mit ihren Maschinenpistolen, so als nähmen sie ihn gerade gefangen. Billys Lächeln, als er aus dem Gebüsch herauskam, war mindestens ebenso seltsam wie das der Mona Lisa, denn er war gleichzeitig 1944 zu Fuß in Deutschland und 1967 in voller Fahrt in seinem Cadillac. Deutschland trat in den Hintergrund, und statt dessen wurde 1967 hell und heiter, frei von der Einwirkung einer anderen Zeit. Büly war unterwegs zu einem Lunch der Versammlungsteilnehmer im Lion's Club. Es war ein heißer August, aber Billys Wagen war mit einer Klimaanlage versehen. Er wurde von jemandem mitten im schwarzen Ghetto von Ilium gestoppt. Die Menschen, die hier wohnten, verabscheuten es so sehr, daß sie einen Monat zuvor einen großen Teil von 65
ihm niedergebrannt hatten. Es war alles, was sie besaßen, und doch hatten sie es vernichtet. Die Umgebung erinnerte Billy an einige Städte, die er im Krieg gesehen hatte. Die Randsteine und Bürgersteige waren an vielen Stellen aufgerissen und zeigten, wo die Panzerwagen und Schützenpanzer der Nationalgarde gewesen waren. »Blutsbrüder«, besagte eine mit rosa Farbe an die Front eines zerschossenen Kolonialwarenladens gemalte Botschaft. Jemand klopfte an die Scheibe von Billys Wagen. Ein Schwarzer stand draußen. Er wollte über etwas sprechen. Das Licht der Verkehrsampel hatte sich geändert. Billy tat das Einfachste. Er fuhr einfach weiter. Billy fuhr durch einen Schauplatz von sogar noch größerer Trostlosigkeit. Er sah aus wie Dresden nach dem Brandbombenangriff—wie die Mondoberfläche. Das Haus, in dem Billy aufgewachsen war, lag früher dort, wo es jetzt so leer war. Das war städtische Neuplanung. Ein neues Iliumer Regierungszentrum, ein Pavillon der Künste, eine Friedenslagune. Appartementhochhäuser sollten hier in Kürze entstehen. Das war, was Billy Pilgrim betraf, schön und gut. Der Wortführer bei der Versammlung im Lion's Club war ein Major von der Marineinfanterie. Er sagte, den Amerikanern bleibe keine andere Wahl, als in Vietnam zu kämpfen bis zum Sieg oder bis die Kommunisten erkannten, daß sie ihre Lebensweise nicht einfach schwachen Ländern auf zwingen konnten. Der Major war auf zwei Dienstreisen dort gewe66
sen. Er erzählte von vielen schrecklichen und vielen wundervollen Dingen, die er gesehen hatte. Er war für vermehrte Bombenangriffe. Man sollte Nordvietnam zurück ins Steinzeitalter bombardieren, wenn es sich weigerte, Vernunft anzunehmen. Billy fühlte sich nicht bewogen, gegen die Bombenangriffe auf Nordvietnam zu protestieren, ihn schauderten nicht die scheußlichen Dinge, die er selbst durch einen Bombenangriff hatte anrichten sehen. Er aß einfach zu Mittag im Lion's Club, dessen früherer Präsident er nun war. Billy hatte ein gerahmtes Gebet an der Wand seines Büros hängen. Es drückte seine Methode aus, durchzuhalten, obwohl er nicht begeistert vom Leben war. Eine Menge Patienten, die das Gebet an Billys Wand sahen, versicherten ihm, daß es auch ihnen geholfen habe, durchzuhalten. Es lautete: Gott gebe mir die gelassene Gemütsruhe, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und immer die Weisheit, den Unterschied zu erkennen. Unter den Dingen, die Billy Pilgrim nicht ändern konnte, waren die Vergangenheit, die Gegenwart und, die Zukunft. Nun wurde er dem Marineinfanteriemajor vorgestellt. Der Betreffende, der die Vorstellung besorgte, sagte dem Major, daß Billy ein ehemaliger Kriegsteilnehmer sei und einen Sohn habe, der Sergeant bei den »Green Berets« gewesen war — in Vietnam. 67
Der Major sagte Billy, die »Green Berets« leisteten Großes, und er sollte stolz auf seinen Sohn sein. »Das bin ich auch. Das bin ich bestimmt«, beteuerte Billy Pilgrim. Er ging nach Hause zu einem Nickerchen nach dem Essen. Der Arzt hatte ihm verordnet, jeden Tag ein Schläfchen zu machen. Der Arzt hoffte, daß das die Beschwerden lindern würde, die Billy hatte: Immer wieder fand Billy Pilgrim sich ohne ersichtlichen Grund weinen. Niemand hatte Billy jemals dabei ertappt. Nur der Arzt wußte davon. Billy weinte äußerst leise und nicht sehr tränennaß. Billy besaß in Ilium ein schönes Haus im Stil Georgs IV. Er war reich wie ein Krösus — etwas, was er nie, nicht in einer Million Jahren erwartet hatte. Fünf andere Optiker arbeiteten für ihn in der Verkaufsstelle am Marktplatz, und er steckte einen Reingewinn von über sechzigtausend Dollar im Jahr ein. Außerdem gehörten ihm ein Fünftel von dem neuen Ferienhotel an der Überlandstraße 54 und die Hälfte von drei Tastee-Freeze-Ständen. Tastee-Freeze war eine Art von gefrorenem Pudding aus Milch und Eiern. Es war genau so köstlich wie Eis, nur daß es weicher und nicht so scheußlich kalt war. Billys Haus war leer. Seine Tochter Barbara stand kurz vor der Heirat, und sie und seine Frau waren in die Innenstadt gegangen, um Muster für ihre Glaswaren und das Tafelsilber auszuwählen. Ein Zettel, der ihn davon unterrichtete, lag auf dem Küchentisch. Es gab keine Dienstboten im Haus. Die Leute waren einfach nicht mehr an Stellungen im Haushalt interessiert. Auch kein Hund war da. 68
Es hatte einen Hund namens Spot gegeben, aber er war gestorben. So geht das. Billy hatte Spot sehr gern gehabt, und Spot hatte ihn gern gemocht. Billy ging die mit einem Läufer belegte Treppe hinauf und in sein und seiner Frau Schlafzimmer. Der Raum hatte eine geblümte Tapete. Es gab darin ein Doppelbett mit einem Radiowecker auf dem Tisch daneben. Gleichfalls auf dem Tisch waren eine Regulierungsvorrichtung für die elektrisch heizbare Bettdecke und ein Schalter, um einen sanften Vibrator einzuschalten, der mit der Matratzenfederung verbunden war. Die Handelsbezeichnung des Vibrators war »Magische Finger«. Auch der Vibrator war eine Idee des Arztes. Billy legte seine Trifokalbrille, seinen Mantel, seinen Schal und seine Schuhe ab, schloß die Jalousien, dann die Vorhänge und legte sich auf die Bettdecke. Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Statt dessen kamen ihm Tränen. Sie rannen ihm über die Wangen. Billy schaltete die »Magischen Finger« an, und er wurde weinend in den Schlaf gewiegt. Die Türklingel erklang. Billy stieg aus dem Bett und schaute durch ein Fenster hinunter auf die Stufe vor der Haustür, um zu sehen, ob jemand Wichtiges gekommen war. Dort unten stand ein verkrüppelter Mann ebenso spastisch im Raum wie Billy Pilgrim in der Zeit. Krämpf e bewirkten, daß der Mann die ganze Zeit flatterte, seinen Gesichtsausdruck ständig änderte, so als versuchte er, verschiedene berühmte Filmstars nachzuahmen. Ein anderer Krüppel läutete an einer Türklingel auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Er ging auf Krücken. Er hatte nur ein Bein. Er war so eingeengt 69
zwischen seinen Krücken, daß seine Schultern seine Öhren verbargen. Billy wußte, was die Krüppel trieben: Sie verkauften Abonnements für Zeitschriften, die nie geliefert wurden. Die Leute bestellten sie, weil sie Mitleid mit den Vertretern hatten. Billy hatte von diesem Schwindel vierzehn Tage zuvor von einem Redner im Lion's Club — einem Mann vom Better Business Bureau — gehört. Der Mann hatte gesagt, daß jedermann, der in seinem Umkreis einen Krüppel als Zeitschriftenwerber arbeiten sieht, die Polizei verständigen sollte. Billy schaute die Straße hinunter und erblickte einen neuen Buick Riviera, der ungefähr einen halben Häuserblock entfernt parkte. Ein Mann saß darin, und Billy nahm mit Recht an, daß er derjenige war, der die Krüppel dazu angestellt hatte, die Sache zu machen. Billy weinte immer noch, als er die Krüppel und ihren Arbeitgeber betrachtete. Sein Türglockenspiel machte einen Höllenlärm. Er schloß die Augen und öffnete sie wieder. Er weinte noch immer, aber er war jetzt wieder zurück in Luxemburg. Er marschierte mit einer Menge anderer Gefangener. Es wehte ein Winterwind, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Die ganze Zeit, seitdem Billy einem Bild zuliebe ins Gebüsch gestoßen worden war, hatte er Elmsfeuer gesehen, eine Art von elektronischem Strahlenkranz um die Köpfe seiner Kameraden und der Begleitmannschaft. Es war auch auf den Baumwipfeln und den Dachfirsten von Luxemburg. Es war schön. Billy marschierte mit hinter dem Kopf verschränkten Händen, und dasselbe taten alle die anderen Amerikaner. Billy hüpfte auf und ab, auf und ab. Jetzt 70
prallte er zufällig in Roland Weary hinein. »Verzeihung«, sagte er. Auch Wearys Augen standen voll Tränen. Weary weinte wegen der schrecklichen Schmerzen in seinen Füßen. Die abgetragenen Holzpantinen verwandelten seine Füße in Blutpudding. An jeder Wegkreuzung gesellten sich zu Billys Kolonne mehr Amerikaner, die Hände hinter ihren von einem Lichtschein umgebenen Köpfen verschränkt. Billy hatte für alle ein Lächeln. Sie bewegten sich wie Wasser, immer bergab, und sie flossen schließlich zu einer Autobahn in einer Talsohle. Durch das Tal ergoß sich ein Mississippi gedemütigter Amerikaner. Zehntausende von Amerikanern schleppten sich ostwärts, mit hinter ihrem Kopf verschränkten Händen. Sie ächzten und stöhnten. Billy und seine Gruppe vereinigten sich mit dem Strom der Demütigung, und die Spätnachmittagssonne kam hinter den Wolken hervor. Die Amerikaner hatten die Straße nicht für sich allein. Die nach Westen führende Bahn wogte und dröhnte von Fahrzeugen, die deutschen Nachschub an die Front brachten. Der Nachschub bestand aus kräftigen, vom Wind gebräunten, rauhen Männern. Sie hatten Zähne weiß wie Klaviertasten. Sie waren mit MG-Patronengurten behängt, rauchten Zigarren und soffen Schnaps. Gierig bissen sie große Stücke von Würsten ab, fuhren mit Handgranaten, die wie Kartoffelpressen aussahen, über ihre schwieligen Handflächen. Ein Soldat in schwarzer Uniform verzehrte oben auf seinem Panzer ganz für sich allein den Picknickvorrat eines betrunkenen Helden. Er spuckte auf die Amerikaner. Die Spucke traf Weary an der Schulter, 71
gab ihm eine fourragère von Rotz, Blutwurst, Tabaksaft und Schnaps. Billy fand den Nachmittag brennend aufregend. Es gab soviel zu sehen — Panzersperren, Vernichtungsmaschinen, Leichen mit nackten Füßen, die blau und elfenbeinfarben waren. So geht das. Auf und ab, auf und ab hüpfend strahlte Billy zärtlich ein blaßlila getünchtes Bauernhaus an, das von den Einschlägen der MG-Kugeln genarbt war. In seinem schiefen Türrahmen stand ein deutscher Oberst. Neben ihm war seine Hure, die nicht angemalt war. Billy prallte gegen Wearys Schulter, und Weary rief schluchzend: »Geh doch richtig! Geh doch richtig!« Sie erstiegen jetzt eine sanfte Anhöhe. Als sie oben ankamen, waren sie nicht mehr in Luxemburg. Sie waren in Deutschland. Eine Filmkamera war an der Grenze aufgestellt — um den fabelhaften Sieg festzuhalten. Zwei Zivilisten in dicken Soldatenpelzmänteln lehnten an der Kamera, als Billy und Weary vorbeikamen. Ihnen war vor Stunden das Filmmaterial ausgegangen. Einer von ihnen richtete seine Aufmerksamkeit einen Augenblick auf Billys Gesicht, dann konzentrierte er sich wieder auf die Unendlichkeit. Eine kleine Rauchfahne schwebte über der Unendlichkeit. Dort tobte eine Schlacht. Menschen starben dort. So geht das. Die Sonne ging unter, und Billy fand sich an Ort und Stelle in einem Rangierbahnhof auf und ab hüpfen. Wartend standen dort Reihen um Reihen geschlossener Güterwagen. Sie hatten Nachschub an die Front gebracht. Jetzt würden sie Gefangene ins Innere Deutschlands bringen. 72
Der Schein von Taschenlampen tanzte wie besessen. Die Deutschen sortierten die Gefangenen ihrem Rang nach aus. Sie stellten Sergeanten zu Sergeanten, Majore zu Majoren und so fort. Eine Gruppe von besternten Obersten hatte sich unweit von Billy aufstellen müssen. Einer von ihnen hatte eine doppelseitige Lungenentzündung, hohes Fieber und Schwindelanfälle. Als der Rangierbahnhof um den Oberst tanzte und schwankte, versuchte er, sich im Gleichgewicht zu halten, indem er in Billys Augen starrte. Der Oberst hustete und hustete, und dann fragte er Billy: »Sind Sie einer von meinen Leuten?« Er war ein Mann, der ein ganzes Regiment eingebüßt hatte, an die viertausendfünfhundert Mann — viele davon tatsächlich noch Kinder. Billy gab keine Antwort. Die Frage schien ihm sinnlos. »Was war Ihr Haufen?« sagte der Oberst. Er hustete und hustete. Jedesmal, wenn er Luft holte, raschelten seine Lungen wie Fettpapiertüten. Billy konnte sich nicht an die Einheit erinnern, von der er war. »Sind Sie vom Vier-einundfünfzigsten?« »Vom Vier-einundfünfzigsten was?« wollte Billy wissen. Eine Stille trat ein. »Infanterieregiment«, sagte der Oberst schließlich. »Ach so«, sagte Billy Pilgrim. Wieder trat eine lange Stille ein, während der Oberst starb und immer mehr starb, indem er ertrank, wo er stand. Dann rief er durchnäßt aus: »Ich bin's, Jungens! Der Wilde Bob!« So hatte er immer gewollt, daß seine Truppe ihn nennen sollte: »Wilder Bob«. 73
Keiner der Leute, die ihn hören konnten, war tatsächlich von seinem Regiment, außer Roland Weary — und Weary hörte nicht hin. Alles, woran Weary denken konnte, war der heftige Schmerz in seinen Füßen. , Aber der Oberst bildete sich ein, er spreche zum letzten Male zu seiner geliebten Truppe, und er versicherte seinen Leuten, daß es nichts gebe, dessen sie sich schämen müßten, und daß tote Deutsche über das ganze Schlachtfeld zerstreut lägen, die zu Gott gewünscht hätten, sie würden nie etwas von dem Viereinundfünfzigsten gehört haben. Er sagte, er werde nach dem Krieg ein Regimentstreffen in seiner Heimatstadt Cody, Wyoming, veranstalten. Er werde ganze Ochsen im Freien braten lassen. Er sagte alles das, während er Billy in die Augen starrte. Dem armen Billy brummte das Innere seines Schädels von dem unsinnigen Geschwätz. »Gott sei mit euch, Jungens!« rief er — und das hallte wider und hallte wider. »Wenn ihr jemals nach Cody, Wyoming, kommt, dann fragt nur nach dem Wilden Bob!« Ich war dort. Und das war auch mein alter Kriegskamerad Bernard V. O'Hare. Billy Pilgrim wurde mit vielen anderen Soldaten in einen Güterwâggon gesteckt. Er und Roland Weary wurden getrennt. Weary wurde in einen anderen Waggon im gleichen Zug verladen. Es gab schmale Luftklappen in den Ecken der Waggons, unter den Dachrinnen. Billy stand bei einer solchen Luke und, da die Menge sich gegen ihn drückte, stieg er halb an einer schrägen Eckbremse hinauf, um mehr Platz zu machen. Seine Augen kamen dabei auf gleiche Ebene mit der Luke, so daß er 74
etwa zehn Meter entfernt einen anderen Zug sehen konnte. Mit blauer Kreide schrieben Deutsche die Zahl der Personen in jedem Waggon, ihren Rang, ihre Nationalität und das Datum, an dem sie verladen worden waren. Andere Deutsche sicherten die Riegel an den Waggontüren mit Draht, Stiften und anderm Eisenbahnkram. Billy konnte jemanden an seinen Waggon schreiben hören, aber er konnte nicht sehen, wer es war. Die meisten Soldaten in Billys Waggon waren sehr jung — gerade der Kindheit entwachsen. Aber mit Billy in die Ecke gepfercht war ein ehemaliger Landstreicher, der vierzig Jahre alt war. »Ich war schon hungriger als diesmal«, sagte der Landstreicher zu Billy. »Ich war an schlimmeren Orten als hier. Dies ist nicht so übel.« Ein Mann in einem Güterwagen auf der anderen Seite rief durch die Luke, daß dort drinnen gerade ein Mann gestorben war. So geht das. Vier Wachtposten hörten ihn. Die Nachricht regte sie nicht weiter auf. »Jo, jo«, sagte einer und nickte verträumt. »Jo, jo.« Und die Wachmannschaft machte sich nicht die Mühe, den Waggon mit dem Toten zu öffnen. Statt dessen öffneten sie den nächsten Wagen, und Billy Pilgrim war entzückt von dem, was er darin sah. Es war wie im Himmel. Es gab Kerzenlicht, und da waren Schlafkojen mit darauf gestapelten Stepp- und Wolldecken. Da war ein Kanonenofen mit einem dampfenden Kaffeetopf obendrauf. Da gab es einen Tisch, auf dem eine Weinflasche, ein Brotlaib und eine Wurst waren. Da standen vier Suppenteller. An den Wänden hingen Bilder von Schlössern und 75
Seen und hübschen Mädchen. Es war das rollende Heim der Begleitmannschaft des Zuges, deren Aufgabe für immer darin bestand, die von hier nach dort beförderte Fracht zu bewachen. Die vier gingen hinein und schlossen die Tür. Kurz darauf kamen sie, Zigarren rauchend, wieder heraus und sprachen zufrieden in dem weichen, tieferen Tonfall der deutschen Sprache. Einer von ihnen erblickte Billys Gesicht an der Luke. Er drohte ihm freundlich warnend mit dem Finger und hieß ihn brav sein. Die Amerikaner auf der anderen Seite berichteten den Wachleuten noch einmal von dem Toten in ihrem Waggon. Die Wachen holten eine Tragbahre aus ihrem eigenen gemütlichen Wagen, öffneten den Waggon mit dem Toten und stiegen hinein. Der Waggon mit dem Toten war durchaus nicht überfüllt. Es waren nur eben sechs lebende Obersten—und ein toter darin. Die Deutschen trugen die Leiche hinaus. Die Leiche war der Wilde Bob. So geht das. In der Nacht begannen einige Lokomotiven einander zuzututen und dann loszufahren. Die Lokomotive und der letzte Wagen jedes Zuges waren mit einer orange und schwarz gestreiften Fahne gekennzeichnet, um anzuzeigen, daß der Zug kein lohnendes Ziel für Flieger war — sondern Kriegsgefangene beförderte. Der Krieg war fast zu Ende. Als der Dezember zur Neige ging, begannen die Lokomotiven ostwärts zu fahren. Der Krieg würde im Mai beendet sein. Deutsche Gefängnisse waren überall völlig überfüllt, und für die Kriegsgefangenen gab es nichts mehr zu essen und kein Heizmaterial, um sie warm zu halten. Und 76
doch — aber hier kamen noch mehr Gefangene. Billy Pilgrims Zug, der längste von allen, rührte sich zwei Tage nicht von der Stelle. »Ist nicht weiter schlimm«, meinte der Landstreicher am zweiten Tag zu Billy. »Das macht überhaupt nichts.« Billy schaute durch die Luftklappe hinaus. Der Rangierbahnhof war jetzt eine Wüste, mit Ausnahme eines mit dem roten Kreuz gekennzeichneten Lazarettzugs auf einem weit entfernten Nebengleis. Seine Lokomotive pfiff. Die Lokomotive von Billy Pilgrims Zug pfiff zurück. Sie sagten einander »Hallo«. Obschon Billys Zug sich nicht in Fahrt setzte, blieben seine Waggons fest verschlossen. Niemand durfte vor dem endgültigen Bestimmungsort heraus. Für die Begleitmannschaft, die draußen auf und ab ging, wurde jeder Waggon ein einzelner Organismus, der aß und trank, und durch seine Luken seine Notdurft ausschied. Er sprach oder schrie auch manchmal durch diese Luken. Wasser, Schwarzbrotlaibe, Wurst und Käse wurden hineingereicht, und heraus kamen Scheiße, Pisse und Schimpfworte. Die Menschen dort drinnen verrichteten ihre Notdurft in Stahlhelme, die den Leuten an den Luken gereicht wurden, die sie auskippten. Billy gehörte zu den Auskippern. Die Menschen reichten auch Feldflaschen hinaus, die die Wachmannschaften mit Wasser füllten. Wenn Essen hereinkam, waren die Menschen still, vertrauensvoll und friedfertig. Sie teilten es untereinander. Die Menschen dort drinnen lösten sich darin ab, daß sie standen oder sich hinlegten. Die Beine derer, die standen, waren wie Zaunpfähle in eine warme, spru77
delnde, furzende, seufzende Erde gerammt. Die seltsame Erde war wie ein Mosaik von Schläfern, die sich eng wie Löffel aneinander schmiegten. Jetzt begann der Zug in östlicher Richtung zu kriechen. Irgendwo dort drinnen war Weihnachten. Billy Pilgrim kuschelte sich in der Weihnachtsnacht wie ein Löffel mit dem Landstreicher zusammen, und er schlief ein und reiste zeitlich wieder in das Jahr 1967 — zu der Nacht, als er von einer fliegenden Untertasse nach Tralfamadore entführt wurde.
4 Billy Pilgrim konnte in der Hochzeitsnacht seiner Tochter keinen Schlaf finden. Er war vierundvierzig. Die Hochzeit hatte an diesem Nachmittag in einem lustig gestreiften Zelt in Billys Hinterhof stattgefunden. Die Streifen waren orange und schwarz. Billy und seine Frau Valencia lagen wie Löffel aneinander geschmiegt in ihrem breiten Bett. Sie wurden von den »Magischen Fingern« gewiegt. Valencia brauchte nicht in Schlaf gewiegt zu werden. Valencia schnarchte wie eine Bandsäge. Die arme Frau hatte keine Eierstöcke und Gebärmutter mehr. Sie waren von einem Chirurgen herausgenommen Worden — von einem von Billys Partnern bei dem neuen Ferienhotel. Es war Vollmond. Billy stieg in der vollen Flut des Mondlichtes aus dem Bett. Er fühlte sich gespenstisch und erleuchtet, so als sei er in kühles Pelzwerk gehüllt, das voll statischer Elektrizität war. Er schaute auf seine nackten Füße hinunter. Sie waren elfenbeinfarben und blau. Billy schlurfte die Diele im ersten Stock entlang. Er wußte, daß er im Begriff war, von einer fliegenden Untertasse entführt zu werden. Die Diele war von der Dunkelheit und der Flut des Mondlichts zebraartig gestreift. Das Mondlicht drang in die Diele durch die Türspalten der leeren Zimmer von Billy s Kindern, die jetzt keine Kinder mehr waren. Sie waren für immer fort. Billy war von Angst und Angstlosigkeit beseelt. Das Angstgefühl sagte ihm, wann er stehenbleiben sollte. War es nicht mehr vorhanden, dann wußte er, daß er wieder weitergehen konnte. Er blieb stehen. 79
Er ging in das Zimmer seiner Tochter. Ihre Schubladen waren ausgeräumt. Ihr Wandschrank war leer. In der Mitte des Zimmers waren all die Hab Seligkeiten aufgehäuft, die sie nicht auf die Hochzeitsreise mitnehmen konnte. Sie hatte ihren eigenen telefonischen Nebenanschluß auf dem Fenstersims. Sein winziges Nachtlicht starrte Billy an. Und dann läutete es. Billy hob den Hörer ab. Am anderen Ende war ein Betrunkener. Billy konnte beinahe seinen Atem riechen — Senfgas und Rosen. Es war eine falsche Nummer. Billy legte auf. Eine Flasche alkoholfreies Getränk stand auf dem Fensterbrett. Ihr Etikett rühmte sich, daß sie keinerlei Nährstoff enthielt. Billy Pilgrim tappte auf seinen blauen und elfenbeinfarbenen Füßen die Treppe hinunter. Er ging in die Küche, wo im Mondlicht eine halbe Flasche Champagner auf dem Küchentisch — alles, was von dem Empfang im Zelt übriggeblieben war — seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Trink mich«, schien sie zu sagen. Also entkorkte Billy sie mit dem Daumen. Sie machte kein knallendes Geräusch. Der Champagner war schal. So geht das. Büly blickte auf die Uhr am Gasherd. Er mußte eine Stunde totschlagen, bis die Untertasse kam. Er ging ins Wohnzimmer, wobei er die Flasche wie eine Tischglocke schwang, und schaltete den Fernsehapparat an. Er war ein wenig losgelöst von der Zeit, sah den letzten Film rückwärts, dann wieder vorwärts. Es war ein Film über amerikanische Bombenflugzeuge im zweiten Weltkrieg und die tapferen Männer, die sie flogen. Rückwärts von Billy gesehen, spielte sich die Geschichte folgendermaßen ab: Amerikanische Flugzeuge, voll von Einschüssen, 80
Verwundeten und Leichen, starteten rückwärts von einem Flugplatz in England. Über Frankreich flogen einige deutsche Kampfflugzeuge rückwärts auf sie zu, saugten Geschosse und Granatsplitter von einigen Flugzeugen und den Besatzungen auf. Sie taten dasselbe bei abgestürzten amerikanischen Bombern auf dem Boden, und diese Flugzeuge stiegen rückwärts auf, um sich zu ihrem Verband zu gesellen. Der Verband flog rückwärts über eine in Flammen stehende deutsche Stadt. Die Bomber öffneten ihre Bombenklappen, wandten einen wunderbaren Magnetismus an, der die Feuer eindämmte, sammelten sie in zylindrische Stahlbehälter und hievten die Behälter in das Fahrwerk der Flugzeuge. Die Behälter wurden sorgfältig in Gestelle verstaut. Die Deutschen unten hatten ihre eigenen wundersamen Vorrichtungen, die lange Stahlrohre waren. Sie benutzten sie, um noch mehr Bruchstücke von den Besatzungmannschaften und den Flugzeugen aufzusaugen. Es blieben aber noch ein paar verwundete Amerikaner, und einige Bomber waren in schlechtem Zustand. Über Frankreich stiegen jedoch wieder deutsche Kampfflugzeuge auf und machten alles und jedermann so gut wie neu. Als die Bomber zu ihrem Stützpunkt zurückkamen, würden die Stahlzylinder aus den Gestellen genommen und zurück in die Vereinigten Staaten von Amerika verfrachtet, wo Fabriken Tag und Nacht damit beschäftigt waren, die Zylinder zu demontieren und den gefährlichen Inhalt in Mineralien zu scheiden. Rührenderweise waren es hauptsächlich Frauen, die diese Arbeit verrichteten. Die Mineralien wurden dann zu Spezialisten in abgelegenen Gebieten verschifft. Es war ihre Aufgabe, sie im Boden zu 81
vergraben, sie geschickt zu verstecken, so daß sie niemandem mehr Schaden zufügen konnten. Die amerikanischen Flieger gaben ihre Uniform ab, wurden wieder Hochschüler. Und Hitler verwandelte sich in ein Baby, vermutete Billy Pilgrim. Das kam im Film nicht vor. Billy stellte weitere Berechnungen an. Jedermann verwandelte sich in ein Baby, und die ganze Menschheit, so mutmaßte er, tat sich biologisch zusammen, um zwei vollendete Menschen, Adam und Eva, hervorzubringen. Billy sah die Kriegsfilme rückwärts und dann vorwärts — und jetzt war es Zeit, auf seinen Hof hinauszugehen, um die fliegende Untertasse zu erwarten. Er ging hinaus, seine blauen und elf enbeinf arbenen Füße zertraten den nassen Salat des Rasens. Er blieb stehen, nahm einen Schluck von dem schalen Champagner. Er schmeckte wie Limonade. Er wollte nicht die Augen zum Himmel heben, obgleich er wußte, daß eine fliegende Untertasse von Tralfamadore dort droben war. Er würde sie nur allzubald sehen, innen und außen, und er würde auch allzubald sehen, woher sie kam — nur allzubald. Über sich hörte er den Schrei dessen, was eine wohlklingende Eule hätte sein können, aber es war keine wohlklingende Eule. Es war eine fliegende Untertasse von Tralfamadore, die sowohl im Raum wie in der Zeit navigierte, weshalb es Billy Pilgrim schien, als sei sie ganz plötzlich aus dem Nichts gekommen. Irgendwo bellte ein großer Hund. Die Untertasse maß dreißig Meter im Durchmesser, mit Bullaugen rings um ihren Rand. Das Licht aus den Bullaugen war ein pulsierendes Purpurrot. Das einzige Geräusch, das sie machte, war der Eulengesang. 82
Sie kam herunter, um über Billy zu schweben und ihn in einen Zylinder pulsierenden purpurnen Lichtes zu hüllen. Nun hörte man das Geräusch wie von einem Kuß, als ein luftdichter Deckel der Einstiegluke im Boden der Untertasse geöffnet wurde. Herunter schlängelte sich eine Leiter, die sich wie ein Riesenrad in hübschen Lichtern vom Himmel abhob. Billys Wille war gelähmt durch einen Hinterlader, der aus einem Bullauge auf ihn gerichtet war. Es wurde unumgänglich, daß er die unterste Sprosse der sich schlangelnden Strickleiter ergriff, was er auch tat. Die Sprosse war elektrisch geladen, so daß Billys Hände fest daran haftenblieben. Er wurde in die Luftschleuse gezogen, und mit einem Mechanismus schloß sich die Bodenluke. Erst dann gab ihn die Leiter, die um eine Winde in der Luftschleuse gewunden war, wieder frei. Erst dann fing Billys Hirn wieder zu arbeiten an. Es gab zwei Gucklöcher in der Luftschleuse — mit gelben Augen, die an sie gepreßt waren. Es gab ein Sprachrohr an der Wand. Die Tralfamadorianer hatten keine Sprechfunkanlagen. Sie tauschten ihre Gedanken telepathisch aus. Sie konnten mit Billy mittels eines Computers und einer Art von elektrischer Orgel sprechen, die jeden irdischen Sprechton nachahmen konnte. »Willkommen an Bord, Mr. Pilgrim«, tönte es aus dem Lautsprecher. »Haben Sie irgendwelche Fragen?« Billy befeuchtete sich die Lippen, dachte eine Weile nach und erkundigte sich schließlich: »Warum ich?« »Das ist eine sehr irdische Frage, Mr. Pilgrim. Warum Sie? Warum wir, was das betrifft? Warum 83
irgendwas? Einfach weil dieser Augenblick ist. Haben Sie jemals in Bernstein eingeschlossene Insekten gesehen?« »Ja.« Billy hatte tatsächlich einen Briefbeschwerer in seinem Büro, der aus einem polierten Bernsteinklumpen mit drei darin eingeschlossenen Marienkäfern bestand. »Nun, da haben wir's, Mr. Pilgrim: im Bernstein dieses Augenblicks gefangen. Es gibt kein Warum.« Sie mischten jetzt ein Betäubungsmittel in die Billy umgebende Luft und schläferten ihn ein. Sie trugen ihn in eine Kabine, wo er auf ein gelbes Sofa geschnallt wurde, das sie in einem Sears & RoebuckWarenhaus gestohlen hatten. Der Lagerraum der Untertasse war mit anderen gestohlenen Waren vollgestopft, die dazu benutzt werden sollten, Billys künstlichen Lebensraum in einem Zoo in Tralfamadore aufzubauen. Die schreckliche Beschleunigung der Untertasse, als sie die Erde verließ, verkrümmte Billys schlummernden Körper, verzerrte sein Gesicht, brachte ihn aus dem Zeitmaß und versetzte ihn zurück in den Krieg. Als er wieder zu Bewußtsein kam, war er nicht in der fliegenden Untertasse. Er war wieder in einem Deutschland durchquerenden Güterwagen. Einige Leute standen vom Boden des Wagens auf, und andere legten sich nieder. Billy hatte vor, sich auch niederzulegen. Es würde eine Wonne sein zu schlafen. Es war dunkel im Waggon und dunkel außerhalb des Waggons, der mit etwa drei Stundenkilometern zu fahren schien. Der Waggon schien nie schneller zu fahren. Es verging eine lange Zeit zwischen den Klicks, 84
zwischen den Verbindungsstellen der Schienen. Es machte Klick, und dann verging ein Jahr, und dann machte es wieder Klick. Der Zug hielt häufig, um wirklich wichtige Züge aufheulen und vorbeirasen zu lassen. Etwas anderes, das er tat, war, daß er an Nebengleisen in der Nähe von Gefängnissen hielt und dort einige Waggons zurückließ. So kroch er durch ganz Deutschland, wobei er immer kürzer wurde. Und Billy ließ sich — ach, so allmählich jetzt — nieder und hängte sich an das schräge Balkenkreuz in der Ecke, um fast gewichtlos für diejenigen zu erscheinen, zu denen er sich auf dem Boden gesellen wollte. Er wußte, es war wichtig, daß er sich fast geisterhaft dünn machte, wenn er sich niederlegte. Er hatte vergessen, warum, aber schon wurde er daran gemahnt. »Pilgrim«, sagte jemand, an den er sich gerade anschmiegen wollte, »bist du‘s?« Billy sagte nichts, sondern schmiegte sich sehr höflich an und schloß die Augen. »Gottverdammt«, schimpfte der andere. »Du bist es doch, nicht wahr?« Er setzte sich auf und tastete Billy grob mit den Händen ab. »Du bist's. Scher dich hier raus, zum Teufel!« Nun setzte auch Billy sich auf, unglücklich, den Tränen nahe. »Scher dich hier raus! Ich will schlafen!« »Halt die Klappe«, sagte jemand anders. »Ich halte sie, wenn Pilgrim hier weggeht.« Also stand Billy wieder auf, hielt sich an dem Balkenkreuz fest. »Wo kann ich schlafen?« fragte er ruhig. »Nicht bei mir.« »Nicht bei mir, du Hundesohn«, mischte sich ein 85
anderer ein. »Du schreist. Du strampelst mit den Füßen.« »Tu ich das?« »Du hast gottverdammt recht, daß du das tust. Und wimmerst.« »Tu ich das?« »Bleib um Himmels willen fort von hier, Pilgrim.« Und jetzt setzte ein bissiges Madrigal ein, in das Stimmen aus allen Teilen des Wagens einfielen. Offenbar hatte fast jeder eine Greuelgeschichte von etwas zu melden, was Billy ihm in seinem Schlaf angetan hatte. Jedermann sagte Billy Pilgrim, er solle sich zum Teufel scheren. Also mußte Billy Pilgrim im Stehen schlafen oder überhaupt nicht. Und Essen kam keines mehr durch die Lüftungsklappen herein, und die Tage und Nächte wurden die ganze Zeit kälter. Am achten Tag sagte der vierzigjährige Landstreicher zu Billy: »Es ist nicht so schlimm. Ich kann es mir überall bequem machen.« »Kannst du das?« fragte Billy. Am neunten Tag starb der Landstreicher. So geht das. Seine letzten Worte waren: »Du glaubst, es sei schlimm? Es ist nicht schlimm.« Es war etwas am Tod und dem neunten Tag. Es gab einen Tod am neunten Tag auch im Waggon vor Billys Waggon. Roland Weary starb — an Brand, der in seinem wunden Fuß begonnen hatte. So geht das. Weary, in seinem fast ununterbrochenen Delirium, erzählte immer wieder von den drei Musketieren, räumte ein, daß er sterben mußte, und gab viele Botschaften, die an seiner Familie in Pittsburgh bestellt werden sollten. Vor allem wollte er gerächt 86
werden, daher sagte er wieder und immer wieder den Namen des Menschen, der an seinem Tod schuld war. Jedermann in dem Waggon prägte sich das gut ein. »Wer hat mich umgebracht?« fragte er. Und jedermann kannte die Anwort, die lautete: »Billy Pilgrim.« Hört — in der zehnten Nacht wurde der Pflock aus dem Verschluß von Billys Güterwagentür herausgezogen und die Tür geöffnet. Billy Pilgrim lag zusammengesunken, selbst gekreuzigt, auf der Bremse in der Ecke und hielt sich dort mit einer blauen und elfenbeinfarbenen Klaue fest, die er über den Balken der Lüftungsklappe gehakt hatte. Billy hustete, als die Tür geöffnet wurde, und als er hustete, schiß er dünnen Schleim. Das entsprach dem dritten Bewegungsgesetz der Mechanik laut Sir Isaac Newton. Dieses Gesetz sagt uns, daß es auf jede Aktion eine Reaktion gibt, die gleich und in der Richtung entgegengesetzt ist. Das kann nützlich für die Raketenwissenschaft sein. Der Zug war auf einem Nebengleis bei einem Gefängnis angekommen, das ursprünglich als ein Vernichtungslager für russische Kriegsgefangene errichtet worden war. Die Wachen lugten eulenhaft in Billys Wagen, gurrten beruhigend. Sie hatten es nie zuvor mit Amerikanern zu tun gehabt, aber sie wußten freilich mit dieser allgemeinen Art von Fracht Bescheid. Sie wußten, daß sie im wesentlichen eine Flüssigkeit war, die dazu gebracht werden konnte, daß sie sich langsam in Richtung auf das Gurren und das Licht ergoß. Es war Nacht. 87
Das einzige Licht kam von einer einzigen Glühbirne, die hoch und weit entfernt an einer Stange hing. Alles war draußen still, ausgenommen die Wachen, die wie Tauben gurrten. Und die Flüssigkeit begann sich zu ergießen. Schleimklumpen davon bildeten sich in der Türöffnung, plumsten auf den Boden. Billy war der vorletzte, der die Tür erreichte. Der Landstreicher war der letzte. Der Landstreicher konnte sich nicht ergießen, konnte nichts plumpsen lassen. Er war nicht mehr flüssig. Er war Stein. So geht das. Billy wollte sich nicht von dem Waggon auf den Boden herunterfallen lassen. Er glaubte im Ernst, er würde wie Glas zerbrechen. Also halfen ihm die Wachen, noch immer gurrend, herunter. Sie setzten ihn hin, mit dem Gesicht zum Zug. Es, war jetzt ein so kleiner, niedlicher Zug. Da gab es eine Lokomotive, einen Tender und drei kleine Güterwagen. Der letzte Güterwagen war der Himmel auf Rädern der Eisenbahnbegleitmannschaft. Wieder war — in diesem Himmel auf Rädern— der Tisch gedeckt. Das Essen aufgetragen. Am Fuß der Stange, von der die brennende Glühbirne herabhing, befand sich etwas, was wie drei Heuhaufen aussah. Die Amerikaner wurden beschwatzt und gedrängt, zu diesen drei Haufen hinüberzugehen, die gar nicht aus Heu bestanden. Es waren Mäntel, die man toten Gefangenen abgenommen hatte. So geht das. Es war der nachdrückliche Wille der Wachen, daß jeder Amerikaner ohne Mantel einen nehmen sollte. Die Mäntel waren mit Eis zusammenzementiert, daher benutzten die Wachen ihre Bajonette als Eis88
pickel, hackten Kragen, Säume, Ärmel und so weiter los, schälten dann Mäntel ab und verteilten sie aufs Geratewohl. Die Mäntel waren steif und gerundet geformt, da sie sie sich ihrem Stapel angepaßt hatten. Der Mantel, den Billy Pilgrim bekam, war in einer Weise zerknittert und gefroren und so klein, daß er nicht ein Mantel, sondern eine Art von großem schwarzem Dreispitz zu sein schien. Auch waren klebrige Flecke daran, wie Motorenöltropfen oder alte Erdbeermarmelade. Ein totes Pelztier schien an ihm angefroren zu sein. Das Tier war in Wirklichkeit der Pelzkragen des Mantels. Billy warf stumpfsinnig einen Blick auf die Mäntel seiner Nachbarn. Auf allen Mänteln staken Messingknöpfe oder Lametta, oder Litzen, oder Nummern, oder Streifen, oder Adler, oder Monde, oder Sterne, die von ihnen herunterbaumelten. Es waren Soldatenmäntel. Billy war der einzige, der einen Mantel von einem toten Zivilisten hatte. So geht das. Und Billy und die übrigen wurden Angetrieben, um ihren niedlich zusammengeschmolzenen Zug herum und ins Gefangenenlager zu latschen. Dort gab es nichts Warmes oder Lebendiges, was für sie ansprechend gewesen wäre — nur zahllose langgestreckte, niedere, schmale Baracken, ohne Licht darin. Irgendwo bellte ein Hund. Mit Hufe der Angst, des Echos und der Winterstille hatte der Hund eine Stimme wie ein großer bronzener Gong. Billy und die übrigen wurden durch eine Sperre nach der anderen geschleust, und Billy sah seinen ersten Russen. Der Mann war ganz allein in der Nacht — ein Lumpenbündel mit einem runden, flachen Gesicht, das wie ein Leuchtzifferblatt schimmerte. 89
Billy ging in einer Entfernung von einem Meter an ihm vorüber. Zwischen ihnen war Stacheldraht. Der Russe winkte, sprach auch nicht, sondern schaute unmittelbar in Billys Seele mit freundlicher Hoffnungsfreudigkeit, Billy könnte Nachrichten für ihn haben — Nachrichten, die er vielleicht zu stupide war, um sie zu verstehen, aber trotzdem gute Nachrichten. Billy verlor vorübergehend das Bewußtsein, als er durch eine Sperre nach der anderen ging. Er kam wieder zu sich in einem Gebäude, das, wie er glaubte, auf Tralfamadore hätte sein können. Es war grell beleuchtet und mit weißen Fliesen ausgelegt. Es war jedoch auf der Erde. Es handelte sich um eine Entlausungsstation, durch die alle neu eingelieferten Gefangenen hindurch mußten. Billy tat, wie ihm gesagt wurde: Er zog seine Kleider aus. Das war das erste, was man ihn auch auf Tralfamadore zu tun geheißen hatte. Ein Deutscher maß Billys rechten Oberarm zwischen seinem Daumen und Zeigefinger und fragte einen Kameraden, was das denn für eine Armee war, die einen solchen Schwächling an die Front schickte. Sie schauten nun die Körper der anderen Amerikaner an und wiesen noch auf eine ganze Anzahl weitere hin, die fast ebenso schlecht dran waren wie Billy. Einen der besten Körper hatte bei weitem der älteste Amerikaner, ein Hochschullehrer aus Indianapolis. Er hieß Edgar Derby. Er war nicht in Billys Güterwagen gewesen. Sondern in dem Waggon mit Roland Weary, hatte Wearys Kopf in seinen Armen gewiegt, als dieser starb. So geht das. Derby war vierundvierzig Jahre alt. Er war so alt, daß er bereits einen Sohn hatte, der Angehöriger des amerikanischen 90
Marinekorps auf dem pazifischen Kriegsschauplatz war. Derby hatte politische Beziehungen spielen lassen, um in seinem Alter noch zum Heer zu kommen. Das Thema, über das er in Indianapolis Vorlesungen gehalten hatte, waren »Zeitgenössische Probleme der westlichen Zivilisation«. Er war auch Trainer der Tennismannschaft und hielt seinen Körper nach bestem Vermögen fit. Derbys Sohn sollte den Krieg überleben. Derby tat es nicht. Sein durchtrainierter Körper wurde achtundsechzig Tage später von einem Exekutionskommando in Dresden durchlöchert. So geht das. Der elendste amerikanische Körper war nicht einmal der von Billy. Vielmehr gehörte er einem Autodieb aus Cicero, Illinois. Er hieß Paul Lazzaro. Er war ungewöhnlich klein, und nicht nur seine Knochen und Zähne waren verfault, auch seine Haut war ekelerregend. Lazzaro war überall mit Zehncentstück großen Narben übersät. Er war oft von Furunkeln geplagt worden. Auch Lazzaro war in Roland Wearys Güterwagen gewesen und hatte Weary sein Ehrenwort gegeben, daß er Mittel und Wege finden würde, Billy Pilgrim für Wearys Tod bezahlen zu lassen. Er blickte jetzt um sich und fragte sich, welcher nackte Mensch wohì Billy war. Die nackten Amerikaner nahmen ihre Plätze unter vielen Duschen längs einer weißgekachelten Wand ein. Es gab keine Wasserhähne, die man einstellen konnte. Sie konnten nur warten, was kam. Ihr Penis war eingeschrumpft und ihre Hoden hatten sich zurückgebildet. Fortpflanzung war nicht die Hauptbeschäftigung des Abends. 91
Eine unsichtbare Hand schaltete ein Hauptventil an. Aus den Brauseanlagen rauschte heißer Regen. Der Regen war wie eine Lötlampe — er wärmte nicht. Er pulverte Billys Haut auf und reizte sie, ohne aber das Eis im Mark seiner langen Knochen aufzutauen. Inzwischen wurden die Kleider der Amerikaner durch Giftgas desinfiziert. Kleiderläuse, Bakterien und Flöhe starben zu Milliarden. Und Billy kehrte in die Zeit seiner Kindheit zurück. Er war wieder ein Baby, das gerade von seiner Mutter gebadet worden war. Nun hüllte ihn seine Mutter in ein Badetuch und trug ihn in ein rosa Zimmer, das von Sonnenschein durchflutet war. Sie wickelte ihn aus, legte ihn auf das kitzelnde Badetuch, puderte ihn zwischen den Beinen, scherzte mit ihm, tätschelte sein wabbliges, dickes Bäuchlein. Ihre Handfläche machte patschende Geräusche auf seinem dicken Bäuchlein. Billy gluckste und gurrte. Und dann war Billy wieder ein Optiker in mittleren Jahren, der diesmal — an einem strahlenden Sonntagvormittag im Sommer — Golf spielte. Billy ging nie mehr in die Kirche. Er spielte mit drei anderen Optikern. Mit sieben Schlägen war Billy im Umkreis des Loches, und nun war die Reihe an ihm einzulochen. Es war ein fast Drei-Meter-Einlochschlag — und er gelang ihm. Er beugte sich hinunter, um den Ball aus dem Loch zu nehmen, und die Sonne trat hinter eine Wolke. Billy fühlte sich einen Augenblick schwindelig. Als er wieder zu sich kam, war er nicht mehr auf dem Golfplatz. Er war auf einen der Körperform angepaßten gelben Stuhl geschnallt, in einem weißen 92
Raum an Bord einer fliegenden Untertasse, die unterwegs nach Tralfamadore war. »Wo bin ich?« wollte Billy Pilgrim wissen. »Auch in einem Bernsteinklumpen eingeschlossen, Mr. Pilgrim. Wir sind da, wo wir jetzt gerade sein müssen — dreihundert Millionen Meilen von der Erde entfernt, unterwegs in einem Zeitverzerrer, der uns in Stunden statt in Jahrhunderten nach Tralfamadore bringen wird.« »Wie ... wie bin ich hierhergekommen?« »Es wäre ein anderer Erdbewohner nötig, um es Ihnen zu erklären. Die Erdbewohner sind die großen Erklärer, die erklären, warum dieses Ereignis so geartet ist, wie es ist, und einem sagen, wie andere Ereignisse sich zutragen oder vermieden werden können. Ich bin ein Tralfamadorianer, der jede Zeit so sieht, wie Sie vielleicht ein Stück der Rocky Mountains sehen. Jede Zeit ist jede Zeit. Sie ändert sich nicht. Sie eignet sich nicht zu Warnungen oder Erklärungen. Sie ist einfach da. Nimmt man sie Augenblick um Augenblick, so wird man finden, daß wir alle, wie ich gesagt habe, Insekten im Bernstein sind.« »Das klingt für mich, als glaubten Sie nicht an einen freien Willen«, bemerkte Billy Pilgrim. »Wenn ich nicht soviel Zeit darauf verwendet hätte, die Erdbewohner zu erforschen«, sagte der Tralfamadorianer, »dann hätte ich keine Ahnung, was mit ›freiem Willen‹ gemeint ist. Ich habe einunddreißig bewohnte Planeten im Weltall besucht und die Berichte über weitere hundert studiert. Nur auf der Erde wird von freiem Willen geredet.«
5 Billy Pilgrim sagt, daß das Weltall für die Wesen von Tralfamadore nicht wie eine Menge heller kleiner Punkte aussieht. Die Geschöpfe dort können sehen, wo jeder Stern gewesen ist und wohin er geht, so daß der Himmel von dünnen, leuchtenden Spaghettis erfüllt ist. Und die Tralfamadorianer sehen die Menschen auch nicht als zweibeinige Wesen. Sie sehen sie als große Tausendfüßler — »mit Babybeinen am einen Ende und den Beinen alter Leute am anderen«, erklärte Billy Pilgrim. Billy bat um etwas zum Lesen auf dem Flug nach Tralfamadore. Seine Häscher besaßen fünf Millionen irdischer Bücher auf Mikrofilm, hatten aber keine Möglichkeit, sie in Billys Kabine vorzuführen. Sie hatten nur ein einziges richtiges englisches Buch, das in ein tralfamadorianisches Museum gebracht werden würde. Es war Tal der Puppen von Jacqueline Susann. Billy las es und fand es stellenweise recht gut. Die Menschen darin hatten jedenfalls ihr Auf und Ab, Auf und Ab. Aber Billy wollte nicht immer wieder von demselben Auf und Ab lesen. Er fragte, ob es nicht, bitte, einen anderen Lesestoff hier gebe. »Nur tralfamadorianische Romane, die Sie, wie ich fürchte, gar nicht erst verstehen könnten«, sagte der Lautsprecher an der Wand. »Lassen Sie mich trotzdem einen ansehen.« Also sandten sie ihm mehrere hinein. Es waren kleine Dinger. Ein Dutzend von ihnen mochte vielleicht den Umfang von Tal der Puppen mit all seinem Auf und Ab, Auf und Ab gehabt haben. — 94
Billy konnte natürlich nicht Tralfamadorianisch lesen, aber er konnte wenigstens sehen, wie die Bücher angelegt waren — in kurzen Zusammenballungen von Symbolen, getrennt durch Sterne. Billy machte die Bemerkung, die ,Zusammenballungen könnten vielleicht Telegramme sein. »Ganz recht«, sagte die Stimme. »Sind es denn Telegramme?« »Es gibt keine Telegramme auf Tralfamadore. Sie haben recht: jede Zusammenballung von Symbolen ist eine kurze, dringliche Botschaft — die eine Situation, eine Szene beschreibt. Wir Tralf amadorianer lesen sie alle gleichzeitig, nicht eine nach der anderen. Es besteht keine besondere Beziehung zwischen all den Botschaften, außer daß der Verfasser sie sorgfältig ausgewählt hat, so daß sie — wenn alle gleichzeitig gesehen werden — ein Bild des Lebens hervorbringen, das schön, überraschend und tief ist. Es gibt keinen Anfang, keine Mitte, kein Ende, keine Ungewißheit, keine Moral, keine Beweggründe, keine Wirkungen. Was wir in unseren Büchern lieben, sind die Tiefen vieler wunderbarer Augenblicke, alle gleichzeitig gesehen.« Einige Augenblicke später trat die Untertasse in eine Zeitverzerrung ein, und Billy wurde in seine Kindheit zurückversetzt. Er war zwölf Jahre alt und zitterte, als er mit seinen Eltern am Bright Angel Point am Rande des Grand Canyon stand. Die kleine Menschenfamilie starrte auf den Grund des Canyons hinunter, der eine Meile senkrecht abfiel. »Nun«, sagte Billys Vater und beförderte männlich mit einem Tritt einen Kieselstein in den Raum, »da wären wir also.« Sie waren mit dem Automobil an 95
diesen berühmten Ort gekommen. Unterwegs hatten sie sieben Reifenpannen gehabt. »Es lohnt die Fahrt«, meinte Billys Mutter hingerissen. »O Gott — es hat sich wahrhaftig gelohnt.« Billy verabscheute den Canyon. Er war sicher, daß er hineinfallen würde. Seine Mutter berührte ihn, und er machte sich die Hose naß. Auch andere Touristen schauten in den Canyon hinunter, und ein Forstaufseher war da, um Fragen zu beantworten. Ein Franzose, der den ganzen Weg von Frankreich hergekommen war, fragte den Aufseher in gebrochenem Englisch, ob viele Leute Selbstmord durch Hinunterspringen begingen. »Ja, Sir«, sagte der Aufseher. »Etwa drei Leute im Jahr.« So geht das. Und Billy machte eine sehr kurze Reise durch die Zeit, machte einen ganz kleinen Sprung von nur zehn Tagen, so daß er noch immer zwölf Jahre alt war, noch immer den amerikanischen Westen mit seiner Familie bereiste. Nun befanden sie sich in den Karlsbader Höhlen, und Billy betete zu Gott, er möge ihn hier wieder herauskommen lassen, ehe die Decke einstürzte. Ein Aufseher erklärte, die Höhlen seien von einem Hüten entdeckt worden, der eine riesige Wolke von Fledermäusen aus einem Loch im Boden herauskommen sah. Und dann sagte er, er werde jetzt alle Lichter ausschalten, und vermutlich sei es das erste Mal im Leben der meisten anwesenden Leute, daß sie in totaler Finsternis waren. Die Lichter gingen aus. Billy wußte nicht einmal, ob er noch am Leben war oder nicht. Und dann schwebte etwas Gespenstisches zu seiner Linken in 96
der Luft. Es waren Zahlen darauf. Sein Vater hatte seine Taschenuhr herausgezogen. Die Uhr hatte ein Leuchtzifferblatt. Billy kam aus der totalen Dunkelheit in totales Licht, fand sich wieder zurück im Krieg, zurück in der Entlausungsstation. Das Duschbad war zu Ende. Eine unsichtbare Hand hatte das Wasser abgedreht. Als Billy seine Kleider zurückerhielt, waren sie um nichts sauberer, aber alle die kleinen Tiere, die darin gelebt hatten, waren tot. Und sein neuer Mantel war jetzt aufgetaut und geschmeidig. Er war viel zu klein für Billy. Er hatte einen Pelzkragen und war mit rotem Seidenstoff gefüttert und offenbar für einen Impresario gemacht worden, der ungefähr so groß war wie der Affe eines Drehorgelspielers. Er hatte zahlreiche Schußlöcher. Billy Pilgrim zog sich wieder an. Er schlüpfte auch in den kleinen Mantel hinein. Er platzte am Rücken und in den Schultern, die Ärmel waren viel zu kurz. So verwandelte sich der Mantel zu einer Weste mit Pelzkragen. Er hätte sich um den Leib seines Besitzers bauschen sollen, aber er bauschte sich unter Billys Achselhöhlen. Die Deutschen fanden ihn zum Schreien komisch, mehr als alles, was sie im ganzen zweiten Weltkrieg gesehen hatten. Sie Jachten und lachten. Und die Deutschen sagten allen anderen, sie sollten sich in Fünferreihen aufstellen, mit Billy als ihrem inneren Flügelmann. Dann ging die Parade hinaus ins Freie und wieder durch eine Sperre nach der anderen. Es gab noch mehr verhungernde Russen mit Gesichtern wie beleuchtete Zifferblätter. Die Amerikaner waren jetzt lebendiger als zuvor. Das Auf97
putschen mit heißem Wasser hatte ihre Lebensgeister wieder geweckt. Und sie kamen zu einer Baracke, wo ein Unteroffizier mit nur einem Arm und nur einem Auge den Namen und die fortlaufende Nummer jedes Gefangenen in ein großes, rotes Hauptbuch schrieb. Jedermann war jetzt ordnungsgemäß am Leben. Bevor ihre Namen und Nummern in dieses Buch eingetragen worden waren, galten sie als vermißt und wahrscheinlich tot. So geht das. Als die Amerikaner darauf warteten, weiterzugehen, brach in ihrer hintersten Reihe ein Streit aus. Ein Amerikaner hatte etwas gemurmelt, was einem Wachtposten mißfiel. Der Wachtposten verstand Englisch und zerrte den Amerikaner aus der Reihe und schlug ihn nieder. Der Amerikaner war verblüfft. Wackelig auf den Beinen, rappelte er sich hoch und spuckte Blut. Zwei Zähne waren ihm ausgeschlagen worden. Er hatte offenbar nichts Böses beabsichtigt mit dem, was er gesagt hatte, und keine Ahnung gehabt, daß der Wachsoldat es hören und verstehen würde. »Warum ich?« fragte er den Wachsoldaten. Der Wachsoldat schob ihn in die Kolonne zurück. »Varum du? Varum irgendver?« sagte er. Als Billy Pilgrims Name in das Hauptbuch des Gefangenenlagers eingeschrieben war, bekam auch er eine Nummer, die in eine eiserne Hundemarke eingestanzt war. Ein Zwangsarbeiter aus Polen hatte die Prägung gemacht. Er war jetzt tot. So geht das. Billy wurde gesagt, er solle sich diese Blechmarke zusammen mit seinen amerikanischen Erkennungsmarken um den Hals hängen, was er auch tat. Die 98
Blechmarke war in der Mitte durchlocht wie ein Salzcracker, so daß ein kräftiger Mann sie mit bloßen Händen entzweibrechen konnte. Falls Billy starb — was er nicht tat —, würde die eine Hälfte der Marke seine Leiche und die andere sein Grab bezeichnen. Nachdem der arme Edgar Derby, der Hochschullehrer, später in Dresden erschossen worden war, erklärte ihn ein Arzt für tot und zerbrach seine Blechmarke in zwei Teile. So geht das. In das Hauptbuch eingeschrieben und mit einer Blechmarke versehen, wie es sich gehört, wurden die Amerikaner wieder durch eine Sperre nach der anderen geführt. In nunmehr zwei Tagen würden ihre Angehörigen durch das Internationale Rote Kreuz erfahren, daß sie noch am Leben waren. Nach Billy kam der kleine Paul Lazzaro, der versprochen hatte, er werde Roland Weary rächen. Lazzaro dachte nicht an Rache. Er dachte an diese schrecklichen Leibschmerzen. Sein Magen war zu der Größe einer Walnuß zusammengeschrumpft. Dieser trockene, ausgedörrte Hautsack war wund wie ein Geschwür. Nach Lazzaro kam der arme, dem Untergang geweihte alte Edgar Derby mit seinen amerikanischen und deutschen Kennmarken, die er über seiner Kleidung wie eine Halskette zur Schau trug. Er hatte erwartet, daß er wegen seiner Klugheit und seines Alters Hauptmann oder Kompanieführer werden würde. Jetzt war er hier um Mitternacht an der tschechoslowakischen Grenze. »Halt!« befahl ein Wachsoldat. Die Amerikaner machten halt. Sie standen unbeweglich da in der Kälte. Die Baracken, zwischen denen sie standen, sahen nach außen hin wie tausend 99
andere aus, an denen sie vorbeigekommen waren. Es bestand jedoch ein Unterschied: Die Baracken hatten blecherne Ofenrohre, und aus den Ofenrohren wirbelten ganze Sternbilder von Funken. Ein Wachsoldat klopfte an eine Tür. Die Tür wurde von innen aufgestoßen. Licht loderte durch die Tür heraus, mit 186 000 Meilen Geschwindigkeit in der Sekunde dem Gefängnis entronnen. Heraus marschierten fünfzig Engländer mittleren Alters. Sie sangen »Hail, Hail, the Gang's All Here« aus Die Piraten von Penzance. Diese rüstigen, rotbackigen Sänger gehörten zu den ersten englischsprechenden Gefangenen aus dem zweiten Weltkrieg. Jetzt sangen sie fast bis zum Ende. Vier Jahre oder noch länger hatten sie weder Frau noch Kind gesehen. Auch keine Vögel. Nicht einmal Spatzen verirrten sich in das Lager. Die Engländer waren Offiziere. Jeder von ihnen hatte mindestens einmal versucht, aus einem anderen Lager zu entfliehen. Jetzt waren sie hier, am toten Punkt in einem Meere von sterbenden Russen. Sie konnten unterirdische Gänge graben, soviel sie wollten. Unausweichlich würden sie innerhalb eines mit Stacheldraht umzäunten Rechtecks wieder an die Oberfläche kommen und sich teilnahmslos begrüßt finden von sterbenden Russen, die kein Wort Englisch sprachen, die kein Essen oder nützliche Informationen oder eigene Fluchtpläne hatten. Sie konnten sich soviel ausdenken, wie sie wollten, um sich auf einem Fahrzeug zu verstecken oder eines zu stehlen, aber nie kam jemals ein Fahrzeug in ihr Lager. Sie konnten sich krank stellen, wenn sie wollten, aber auch damit kamen sie um keinen Schritt weiter heraus. Das einzige Lazarett im Lager war eine sechs100
bettige Angelegenheit im britischen Gefangenenlager selbst. Die Engländer waren sauber, begeisterungsfähig, anständig und stark. Sie sangen gut und mit Hingabe. Jahrelang hatten sie jeden Abend zusammen gesungen. Die Engländer hatten auch Jahre hindurch Gewichte gestemmt und Klimmzüge gemacht. Ihre Bäuche waren flach wie Waschbretter. Die Muskeln ihrer Waden waren wie Kanonenkugeln. Auch waren sie alle Meister im Damespiel, Schach, Bridge, Cribbage, Domino, bei Anagrammen, Silbenrätseln, Pingpong sowie Billard. - Sie gehörten, was Lebensmittel anbetraf, zu dem wohlhabendsten Volk Europas. Ein Schreibfehler zu Anfang des Krieges, als Nahrungsmittel noch an die Gefangenen durchkamen, hatte das Rote Kreuz veranlaßt, jeden Monat fünfhundert statt fünfzig Pakete an sie zu senden. Die Engländer hatten diese so geschickt gehortet, daß sie jetzt, als der Krieg zu Ende ging, über drei Tonnen Zucker, eine Tonne Kaffee, elfhundert Pfund Schokolade, siebenhundert Pfund Tabak, siebzehnhundert Pfund Tee, zwei Tonnen Mehl, eine Tonne eingedostes Rindfleisch, zwölfhundert Pfund Büchsenbutter, sechzehnhundert Pfund Büchsenkäse, achthundert Pfund Milchpulver und zwei Tonnen Orangenmarmelade verfügten. Sie hielten alles das in einem fensterlosen Raum aufbewahrt. Sie hatten ihn gegen Ratten abgesichert, indem sie ihn mit flach geklopften Konservendosen auskleideten. Sie wurden von den Deutschen restlos bewundert, weil diese der Ansicht waren, sie seien genau so, wie 101
Engländer sein sollten. Sie ließen den Krieg als stilvoll, vernünftig und als eine heitere Angelegenheit erscheinen. Daher überließen ihnen die Deutschen vier Baracken, obwohl sie alle in einer Platz gehabt hätten. Und gegen Kaffee, Schokolade oder Tabak tauschten die Deutschen mit ihnen Farben, Holz, Nägel und Stoff, um die Dinge einigermaßen in Ordnung zu bringen. Schon seit zwölf Stunden hatten die Engländer gewußt, daß amerikanische Gäste unterwegs waren. Sie hatten nie zuvor Gäste gehabt und machten sich jetzt an die Arbeit wie Heinzelmännchen, fegten, wischten, kochten, backten — fertigten Matratzen aus Stroh und Sackleinwand an, deckten Tische mit einem Festgeschenk an jedem Platz. Nun sangen sie ihren Gästen in der Winternacht ihren Willkommensgruß. Ihre Kleider dufteten nach dem Fest, das sie vorbereitet hatten. Sie waren halb zum Kampf, halb für Tennis und Krocket gekleidet. Sie waren so freudig erregt durch ihre eigene Gastfreundschaft und alle die Naschereien, die drinnen warteten, daß sie sich ihre Gäste nicht genau ansahen, während sie sangen. Und sie stellten sich vor, daß sie für frisch aus der Schlacht kommende Offizierskameraden sangen. Sie drängten die Amerikaner liebevoll zu der Barakkentür, wobei sie die Nacht mit viel männlichem Geschwätz und brüderlichen Großsprechereien erfüllten. Sie nannten sie »Yank«, sagten ihnen, sie hätten »eine gute Figur gemacht«, versprachen ihnen, »Jerry sei am Davonlaufen«, und so fort. Billy Pilgrim fragte sich, ein wenig schwer von Begriff, wer Jerry war. 102
Jetzt war er in der Baracke, neben einem kirschrot glühenden eisernen Kochherd. Dutzende von Teekannen kochten dort. Manche hatten Pfeifvorrichtungen. Und da stand ein Hexenkessel voll goldgelber Suppe. Die Suppe war dick. Urzeitliche Blasen stiegen mit lethargischer Würde an die Oberfläche, während Billy Pilgrim starrte. Lange Tische waren für ein Festmahl aufgestellt. An jedem Platz stand ein Eßnapf, der aus einer Konservenbüchse gemacht war — sie hatte einmal Milchpulver enthalten. Eine kleinere Büchse war eine Tasse. Eine größere, schmalere diente als Trinkglas. Jedes Glas war mit warmer Milch gefüllt. An jedem Platz lagen ein Rasierapparat, ein Seiflappen, ein Päckchen Rasierklingen, ein Riegel Schokolade, zwei Zigarren, ein Stück Seife, zehn Zigaretten, ein Streichholzbüchlein, ein Bleistift und eine Kerze. Nur die Kerzen und die Seife waren deutschen Ursprungs. Sie hatten eine gespenstische, opalisierende Ähnlichkeit. Die Briten hatten keine Möglichkeit, es zu wissen, aber Kerzen und Seife waren aus dem ausgelassenen Fett von Juden, Zigeunern, Homos, Kommunisten und anderen Staatsfeinden hergestellt. So geht das. Der Festsaal war von Kerzenlicht beleuchtet. Es standen Berge von frisch gebackenem Weißbrot, Klumpen von Butter und Töpfe voll Marmelade auf den Tischen. Da gab es Platten von Rindfleischscheiben aus Dosen. Suppe, Rühreier und mit Marmelade gefüllte heiße Pasteten sollten danach kommen. Und am weit entfernten Ende der Baracke sah Billy rosa Dachbalken, zwischen denen himmelblaue Vorhänge hingen, und eine riesige Uhr, und zwei goldene 103
Throne, und einen Eimer mit einem Scheuerlappen. Vor diesem Hintergrund fand die Abendvorstellung statt, eine musikalische Version von Aschenbrödel, der beliebtesten jemals erzählten Geschichte. Billy Pilgrim war zu nahe an den glühenden Ofen gekommen. Der Saum seines kleinen Mantels fing zu brennen an. Es war eine ruhige, geduldige Art von Feuer — wie das Glimmen von Zunder. Billx fragte sich, ob es hier irgendwo ein Telefon gab. Er wollte seine Mütter anrufen und ihr sagen, daß er am Leben und wohlauf war. Stille war jetzt eingetreten, als die Engländer erstaunt die ungepflegten Gestalten betrachteten, die so fröhlich hereingetanzt waren. Einer der Engländer sah, daß Billys Mantel brannte. »Sie sind zu nahe an den Ofen gekommen, mein Junge!« sagte er und zog Billy vom Ofen weg und löschte mit seinen Händen die Funken aus. Als Billy daraufhin keine Bemerkung machte, fragte ihn der Engländer: »Können Sie sprechen? Können Sie hören?« Billy nickte. Der Engländer tastete ihn da und dort prüfend ab, aus mitleidigem Herzen. »Mein Gott — was hat man mit Ihnen gemacht, Junge? Das hier ist ja kein Mensch. Es ist ein zerbrochenes Wrack. Sind Sie wirklich ein Amerikaner?« fragte der Engländer. »Ja«, sagte Billy. »Und Ihr Dienstgrad?« »Gemeiner.« »Was wurde aus Ihren Stiefeln, Junge?« »Ich kann mich nicht mehr erinnern.« »Soll dieser Mantel ein Witz sein?« 104
»Sir?« »Wo haben Sie so was her?« Billy mußte angestrengt darüber nachdenken. »Man hat ihn mir gegeben«, sagte er schließlich. »Hat Jerry ihn Ihnen gegeben?« »Wer?« »Die Deutschen haben ihn Ihnen gegeben?« »Ja.« Billy gefielen die Fragen nicht. Sie waren ermüdend. »Oh, oh, Yank, Yank, Yank!« rief der Engländer aus. »Dieser Mantel war eine Beleidigung.« »Sie?« »Es war ein vorsätzlicher Versuch, Sie zu demütigen. Sie müssen so etwas von Jerry nicht zulassen.« Billy Pilgrim fiel in Ohnmacht. Er kam wieder zu sich auf einem vor der Bühne stehenden Stuhl. Irgendwie hatte er etwas gegessen, und jetzt sah er sich Aschenbrödel an. Ein Teil von ihm hatte offenbar schon eine ganze Weile an der Aufführung Gefallen gefunden. Billy lachte herzhaft. Die Frauen in dem Stück waren natürlich in Wirklichkeit Männer. Die Uhr hatte gerade Mitternacht geschlagen, und Aschenbrödel klagte: »Die Stunde schlug, so hart und barsch — O weh, mein Glück, es ist im Arsch.« Billy fand das Couplet so komisch, daß er nicht nur lachte — er schrie vor Lachen. Er schrie so lange, bis er aus der Baracke hinaus und in eine andere getragen wurde, wo das Lazarett war. Dort gab es keine änderen Patienten. Billy wurde ins Bett gebracht und festgeschnallt, und er bekam eine Morphiumspritze. Ein anderer 105
Amerikaner erklärte sich freiwillig bereit, ihn zu bewachen. Dieser Freiwillige war Edgar Derby, der Hochschullehrer, der später in Dresden erschossen wurde. So geht das. Derby saß auf einem dreibeinigen Hocker. Man gab ihm ein Buch zum Lesen. Das Buch war Das rote Siegel von Stephen Crane. Derby hatte es schon einmal gelesen. Nun las er es noch einmal, während Billy in ein Morphiumparadies eintrat. Unter der Einwirkung des Morphiums hatte Billy einen Traum von Giraffen in einem Garten. Die Giraffen gingen Kiespfade entlang und blieben stehen, um Zuckerbirnen von den Baumwipf ein zu naschen. Billy war auch eine Giraffe. Er aß eine Birne. Sie erwies sich als hart. Sie wehrte sich gegen seine mahlenden Zähne. Sie schwappte in saftigem Protest. Die Giraffen ließen Billy als einen der Ihren gelten, als ein harmloses, ebenso absurd spezialisiertes Geschöpf wie sie. Sie näherten sich ihm von der entgegengesetzten Seite, lehnten sich an ihn. Sie hatten lange, muskulöse Oberlippen, die sie wie die Schalltrichter von Waldhörnern formen konnten. Sie küßten ihn damit. Es waren weibliche Giraffen—kremfarben und zitronengelb. Sie hatten Hörner wie Türgriffe. Die Griffe waren mit Samt überzogen. Warum? Es wurde Nacht in dem Giraffengarten, und Billy Pilgrim schlief eine Zeitlang traumlos, und dann reiste er in der Zeit. Er erwachte mit dem Kopf unter einer Decke in einer Krankenstation für harmlose geisteskranke Patienten in einem Krankenhaus für ehemalige Kriegsteilnehmer unweit von Lake Placid im Staat New York. Es war Frühling 1948, drei Jahre nach Kriegsende. 106
Billy befreite seinen Kopf von der Decke. Die Fenster der Station standen offen. Draußen zwitscherten Vögel. »Ki-witt, Ki-witt?« fragte ihn einer. Die Sonne stand hoch. Neunundzwanzig andere Patienten waren der Station zugeteilt, aber sie hielten sich alle im Freien auf und genossen den Tag. Es stand ihnen frei, nach Belieben zu kommen und zu gehen, sogar nach Hause zu gehen, wenn sie wollten — und das galt auch für Billy Pilgrim. Sie waren freiwillig hergekommen, beunruhigt über die Außenwelt. Billy hatte sich in der Mitte seines Abschlußjahres an der Iliumer Schule für Optik in Behandlung begeben. Kein anderer sonst argwöhnte, daß er verrückt werden würde. Jeder fand, daß er gut aussah und sich ganz normal betrug. Jetzt war er in der Klinik. Die Ärzte stimmten überein: er wurde tatsächlich verrückt. Sie glaubten nicht, daß es etwas mit dem Krieg zu tun hatte. Sie waren sicher, Billy habe einen Zusammenbruch, weil sein Vater ihn in das tiefe Ende des Schwimmbeckens im Christlichen Verein Junger Männer geworfen hatte, als er ein kleiner Junge war, und weil er ihn dann an den'Rand des Grand Canyon geführt hatte. Der Mann, dem das Bett neben Billy zugeteilt war, hieß Eliot Rosewater, ein ehemaliger Infanteriehauptmann. Rosewater hatte es gründlich satt, die ganz Zeit betrunken zu sein. Rosewater war es, der Billy in die Science-FictionRomane und insbesondere in die Schriften von Kilgore Trout einführte. Rosewater hatte eine riesige Sammlung von Taschenbüchern wissenschaftlicher Romanliteratur unter seinem Bett. Er hatte sie in einem Schiffskoffer ins Krankenhaus gebracht. Diese geliebten, wunderlichen Bücher gaben einen Geruch 107
von sich, der die ganze Station durchdrang — wie ein Flanellschlafanzug, der einen Monat nicht gewechselt worden war, oder wie Irish stew. Kilgore Trout wurde Billys lebender Lieblingsautor, und Science Fiction wurde die einzige Art von Erzählungen, die er lesen konnte. Rosewater war zweimal so tüchtig wie Billy, aber er und Billy setzten sich mit ähnlichen Krisen in ähnlicher Weise auseinander. Sie hatten beide das Leben sinnlos gefunden, zum Teil wegen der Dinge, die sie im Krieg gesehen hatten. Rosewater zum Beispiel hatte einen vierzehn Jahre alten Feuerwehrmann erschossen, da er ihn für einen deutschen Soldaten hielt. So geht das. Und Billy hatte das größte Blutbad in der europäischen Geschichte gesehen, nämlich den Bombenangriff auf Dresden. So geht das. Also versuchten sie, sich und ihr Weltall neu zu erfinden. Der utopische Roman war dabei eine große Hilfe. Rosewater sagte einmal etwas Interessantes zu Billy über ein Buch, das nicht Science Fiction war. Er sagte, daß alles, was im Leben wissenswert sei, in dem Roman Die Brüder Karamasow von Fjodor Dostojewski enthalten sei. »Aber das genügt nicht mehr«, setzte Rosewater hinzu. Ein anderes Mal hörte Billy, wie Rosewater zu einem Psychiater sagte: »Ich glaube, ihr Ärzte müßt mit einer Menge wundervoller neuer Lügen daherkommen — oder die Leute wollen ganz einfach nicht mehr weiterleben. 108
Auf Billys Nachttisch gab es ein Stilleben: zwei Pillen, einen Aschenbecher mit drei lippenstiftgezeichneten Zigarettenstummeln darin, von denen einer noch brannte, und ein Glas Wasser. Das Wasser war schal. So geht das. Luft versuchte aus diesem schalen Wasser zu entweichen. Bläschen hefteten sich an die Wand des Glases, zu schwach, um zu entströmen. Die Zigaretten gehörten Billys kettenrauchender Mutter. Sie war auf die Damentoilette gegangen, die sich in der Nähe der Abteilung für das Frauenkorps, den Hilfsdienst für die von der Luftwache und solche von der Küstenwache befand, die alle übergeschnappt waren. Sie würde jeden Augenblick zurück sein. Billy bedeckte wieder seinen Kopf mit der Decke. Er bedeckte immer den Kopf, wenn seine Mutter ihn in der Geisteskrankenstation besuchen kam — er wurde immer viel kränker, bis sie wegging. Nicht daß sie häßlich war oder einen schlechten Atem oder ein unangenehmes Wesen gehabt hätte. Sie war eine durchaus nette, normale, braunhaarige weiße Frau mit Hochschulbildung. Sie brachte Billy einfach dadurch aus dem Gleichgewicht, daß sie seine Mutter war. In ihrer Anwesenheit kam er sich verlegen, undankbar und schwach vor, weil es sie solche Mühe gekostet hatte, ihm das Leben zu schenken und dieses Leben in Gang zu halten, während Billy in Wirklichkeit das Leben überhaupt nicht mochte. Billy hörte Eliot Rosewater hereinkommen und sich niederlegen. Rosewaters Sprungfedern berichteten eingehend davon. Rosewater war ein großer, aber nicht sehr kräftiger Mann. Er sah so aus, als ob er aus Glaserkitt gemacht sein könnte. 109
Und dann kehrte Billys Mutter von der Damentoilette zurück und setzte sich auf einen Stuhl zwischen Billys Bett und dem von Rosewater. Rosewater begrüßte sie mit wohlklingender Herzlichkeit und erkundigte sich, wie sie sich heute fühlte. Er schien entzückt, zu hören, daß es ihr gut ging. Er stellte damit Experimente an, daß er gegenüber jedermann, dem er begegnete, eine innige Teilnahme bezeugte. Er glaubte, das könnte die ganze Welt zu einem etwas angenehmeren Ort machen, um darin zu leben. Er nannte Billys Mutter »meine Liebe«. Er probte aus, jedermann »Lieber« zu nennen. »Eines Tages«, versprach sie Rosewater, »werde ich hierherkommen, und Billy wird seinen Kopf entblößen, und wissen Sie, was er dann sagen wird?« »Nein. Was wird er dann sagen, meine Liebe?« »Er wird sagen: ›Hallo, Mami‹ und wird lächeln. Er wird sagen: ›Donnerwetter, es ist schön, dich zu sehen, Mami. Wie ist es dir ergangen?‹« »Dieser Tag könnte heute sein.« »Ich bete jede Nacht.« »Das zu tun ist eine gute Sache.« »Die Leute wären überrascht, wenn sie wüßten, wieviel auf dieser Welt dem Gebet zu verdanken ist.« »Sie haben nie ein wahreres Wort gesprochen, meine Liebe.« »Kommt Ihre Mutter oft, um Sie zu besuchen?« »Meine Mutter ist tot«, sagte Rosewater. So geht das. »Verzeihung!« »Wenigstens hatte sie ein glückliches Leben, solange es währte.« »Das ist jedenfalls ein Trost.« »Ja.« 110
»Billys Vater ist tot, wissen Sie«, sagte Billys Mutter. So geht das. »Ein Junge braucht einen Vater.« Und weiter und weiter ging dieses Duett zwischen der dummen betenden Dame und dem großen unaufrichtigen Mann, der so voll liebevoller Echos war. »Er war Primus seiner Klasse, als das passierte«, sagte Billys Mutter. »Vielleicht hat er zu anstrengend gearbeitet«, meinte Rosewater. Er hielt ein Buch in der Hand, das er lesen wollte, aber er war viel zu höflich, um zu lesen und gleichzeitig zu reden, so leicht es auch war, Billys Mutter befriedigende Antworten zu geben. Das Buch war Wahnsinnige in der vierten Dimension von Kilgore Trout. Es ging darin um Leute, deren Geisteskrankheiten nicht behandelt werden konnten, weil ihre Ursachen sämtlich in der vierten Dimension lagen und die dreidimensionalen, erdgebundenen Ärzte diese Ursachen überhaupt nicht erkennen oder sie sich nicht einmal vorstellen konnten. Eine Sache, die Trout sagte und die Rosewater sehr beeindruckte, war, daß es tatsächlich Vampire, Werwölfe, Kobolde, Engel und so weiter gab, aber daß sie in der vierten Dimension waren. Das war nach Trouts Worten auch William Blake, Rosewaters Lieblingsdichter. Dasselbe galt für Himmel und Hölle. »Er ist mit einem steinreichen Mädchen verlobt«, sagte Billys Mutter. »Das ist gut«, erwiderte Rosewater. »Geld kann manchmal äußerst beruhigend sein.« »Das kann es wirklich.« »Bestimmt kann es das.« »Es ist nicht sehr lustig, wenn man jeden Pfennig umdrehen muß.« 111
»Es ist nett, ein wenig Platz zum Schnaufen zu haben.« »Ihrem Vater gehört die Schule für Optik, die Billy besucht hat. Es besitzt auch sechs Büros in unserem Teil des Staates. Er hat sein eigenes Flugzeug und einen Sommer sitz am Lake George.« »Das ist ein schöner See.« Billy schlief unter seiner Decke ein. Als er wieder aufwachte, fand er sich erneut an sein Bett im Lazarett des Gefangenenlagers angeschnallt. Vorsichtig öffnete er ein Auge und sah den armen, alten Edgar Derby bei Kerzenlicht das Buch Das rote Siegel lesen. Er schloß dieses eine Auge, sah in seiner Erinnerung der Zukunft den armen, alten Edgar Derby vor einem Exekutionskommando in den Ruinen von Dresden. Dieses Kommando bestand nur aus vier Männern. Billy hatte gehört, daß gewöhnlich einem Mann in jedem Exekutionskommando ein mit einer Platzpatrone geladenes Gewehr gegeben wurde. Billy glaubte nicht, daß bei einem so kleinen Trupp und in einem so alten Krieg eine Platzpatrone zur Verfügung gestellt würde. Nun kam der ranghöchste Engländer ins Lazarett, um nach Billy zu sehen. Er war ein Oberst der Infanterie, der in Dünkirchen in Gefangenschaft geraten war. Er war es, der Billy Morphium gegeben hatte. Es gab keinen wirklichen Arzt in dem Gefangenenlager, daher mußte er die Behandlung übernehmen. »Wie geht es dem Patienten?« fragte er Derby. »Er ist tot für die Welt.« »Aber nicht wirklich tot.« »Nein.« »Wie schön — nichts zu fühlen, und es doch voll und 112
ganz als Verdienst angerechnet zu bekommen, daß man am Leben ist.« Derby nahm jetzt eine klägliche Habachtstellung ein. »Nein, nein ... bitte ... bleiben Sie wie bisher. Mit nur zwei Mann für jeden Offizier können wir, glaube ich, ohne das übliche Getue zwischen Offizieren und Mannschaften auskommen.« Derby blieb stehen. »Sie scheinen älter zu sein als die übrigen«, meinte der Oberst. Derby sagte ihm, daß er vierundvierzig sei—mithin zwei Jahre älter als der Oberst. Der Oberst sagte, die anderen Amerikaner hätten sich jetzt alle rasiert, und Billy und Derby seien die einzigen zwei, die noch Barte hätten. Und er setzte hinzu: »Wissen Sie — wir mußten uns den Krieg hier vorstellen, und wir haben uns vorgestellt, daß er von älteren Männern wie wir ausgefochten würde. Wir hatten vergessen, daß Kriege von Kindern ausgefochten werden. Als ich diese frisch rasierten Gesichter sah, war das ein Schock. ›Du lieber Himmel‹, sagte ich mir, ›es ist der reinste Kinderkreuzzug.‹« Der Oberst fragte den alten Derby, wie er in Gefangenschaft geraten sei, und Derby erzählte eine Geschichte, wie er mit hundert anderen in Panik versetzten Soldaten in einem Gehölz gesteckt hatte. Fünf Tage hatte die Schlacht gedauert. Die hundert Mann waren von Panzern in das Wäldchen getrieben worden. Derby schilderte das unvorstellbare künstliche Gewitter, das Erdbewohner manchmal für andere Erdbewohner entfesselten, wenn sie nicht wollen, daß diese anderen die Erde länger bewohnen. Granaten platzten in den Baumwipfeln mit schrecklichem Getöse, sagte er, und ließen einen Hagel von Messern, 113
Nadeln und Rasierklingen niedergehen. Kleine Bleiklumpen in Kupfermänteln schwirrten kreuz und quer beim Explodieren der Granaten durch das Gehölz — weit schneller als die Schallgeschwindigkeit. Eine Menge Menschen wurde verwundet oder getötet. So geht das. Dann hörte das Granatfeuer auf, und ein unsichtbarer Deutscher mit einem Lautsprecher forderte die Amerikaner auf, sie sollten ihre Waffen niederlegen und mit auf dem Kopf verschränkten Händen aus dem Wald herauskommen — sonst würde das Granatfeuer wieder aufgenommen. Es würde nicht eher aufhören, als bis jedermann dort drin tot war. Die Amerikaner legten daher ihre Waffen nieder und kamen mit auf dem Kopf verschränkten Händen aus dem Gehölz heraus, denn sie wollten weiterleben, wenn möglich. Billy reiste zeitlich wieder zu dem Krankenhaus für ehemalige Kriegsteilnehmer zurück. Die Decke hatte er über den Kopf gezogen. Außerhalb der Decke war es still. »Ist meine Mutter fort?« wollte Billy wissen. »Ja.« Billy lugte unter seiner Decke hervor. Seine Verlobte war jetzt da, sie saß auf dem Besucherstuhl. Sie hieß Valencia Merble. Valencia war die Tochter des Besitzers der Iliumer Schule für Optik. Sie war reich. Sie war so dick wie ein Faß, weil sie nicht anders konnte, als ständig zu essen. Sie aß auch jetzt. Sie aß eine Drei-Musketiere-Schokoladenstange. Sie trug trifokale Augengläser in einem Harlekingestell, und das Gestell war mit Bergkristallen geschmückt. Das Glitzern der Kristalle fand sein Gegenstück in dem Glitzern des Brillanten ihres Verlobungsringes. Der Brillant war mit achtzehnhundert Dollar versichert. 114
Billy hatte diesen Brillanten in Deutschland gefunden. Er war eine Kriegsbeute. Billy wollte die häßliche Valencia nicht heiraten. Sie gehörte zu den Symptomen seiner Krankheit. Er wußte, daß er den Verstand verlieren würde, als er sich ihr einen Heiratsantrag machen hörte und sie bat, den Brillantring von ihm anzunehmen und seine Lebensgefährtin zu werden. Billy sagte »Hallo« zu ihr, und sie fragte ihn, ob er etwas von der Schokoladenstange haben wolle, und er erwiderte: »Danke, nein.« Sie erkundigte sich nach seinem Befinden, und er sagte: »Es geht viel besser, danke.« Sie sagte, jedermann in der Optikschule bedauere, daß er krank sei, und hoffe, er werde bald wieder wohlauf sein, und Billy sagte: »Wenn du sie siehst, sag ihnen ›Hallo‹.« Sie versprach, das sie das tun würde. Sie fragte ihn, ob es etwas gebe, was sie ihm von draußen mitbringen könnte, und er sagte: »Nein, ich habe wohl so ziemlich alles, was ich brauche.« »Wie steht's mit Büchern?« fragte Valencia. »Ich habe eine der größten Privatbibliotheken der Welt gerade neben mir«, sagte Billy und meinte damit Eliot Rosewaters Sammlung von utopischen Romanen. Rosewater lag lesend in dem Bett nebenan, und Billy zog ihn ins Gespräch und wollte wissen, was er diesmal las. Daher sagte es ihm Rosewater. Es war Das Evangelium von dem äußeren Weltraum von Kilgore Trout. Es handelte von einem Besucher aus dem äußeren Raum, der, nebenbei bemerkt, viel Ähnlichkeit mit einem Tralfamadorianer hatte. Der Besucher aus dem äußeren Raum studierte aufmerksam das Christen115
tum, um nach Möglichkeit in Erfahrung zu bringen, warum es die Christen so leicht fänden, grausam zu sein. Er kam zu dem Schluß, daß zumindest zum Teil das Erzählen schlüpfriger Geschichten im Neuen Testament schuld daran war. Er nahm an, daß es die Absicht der Evangelien war, die Leute unter anderem zu lehren, daß sie barmherzig sogar zu den Niedrigsten der Niedrigen waren. Aber die Evangelien lehrten in Wahrheit dies: Bevor du jemand umbringst, versichere dich ganz genau, daß er keine einflußreichen Beziehungen hat. So geht das. Der Fehler in den Christus-Geschichten, sagte der Besucher aus dem äußeren Weltraum, war, daß Christus, der nicht nach viel aussah, in Wirklichkeit der Sohn des mächtigen Wesens im Universum war. Die Leser verstanden das, wenn sie daher zu der Kreuzigung kamen, dachten sie natürlich, was Rosewater nun wieder laut vorlas: Junge! Junge! Diesmal haben sie bestimmt den Falschen ausgesucht, um ihn hinzurichten! Und dieser Gedanke hatte einen Bruder: »Es gibt die richtigen Menschen zum Hinrichten.« Welche? Leute ohne gute Beziehungen. So geht das. Der Besucher aus dem äußeren Weltraum machte der Erde ein neues Evangelium zum Geschenk. Darin war Jesus wirklich ein Niemand und ein Ärgernis für viele Leute mit besseren Beziehungen, als er sie hatte. Noch immer hat er alle die hübschen und verwirrenden Dinge zu sagen, die er in den anderen Evangelien sagte. Also belustigte sich das Volk eines Tages damit, ihn an ein Kreuz zu nageln und dieses Kreuz in den Boden 116
zu pflanzen. Hier konnten keine Rückwirkungen entstehen, dachten die Totschläger. Der Leser würde auch das glauben, da ihm das neue Evangelium immer wieder einhämmerte, was für ein Niemand Jesus gewesen war. Und dann, gerade bevor dieser Niemand starb, öffneten sich die Himmel, und es donnerte und blitzte. Gottes Stimme kam zerschmetternd herunter. Er sagte dem Volk, daß er den Landstreicher als seinen Sohn annehme und ihm die vollen Machtbefugnisse und Vorrechte als dem Sohn des Schöpfers des Universums für alle Ewigkeit einräume. Gott sagte: Von diesem Augenblick an wird Er jeden schrecklich bestrafen, der einem Landstreicher, der keine Beziehungen hat, Böses antut! Billys Verlobte hatte ihre Drei-Musketiere-Schokoladenstange aufgegessen. Jetzt aß sie Milky-WaySchokolade. »Denken wir nicht mehr an Bücher«, sagte Rosewater und warf das fragliche Buch unter sein Bett. »Zum Teufel mit ihnen!« »Dieses hat interessant geklungen«, meinte Valencia. »Du lieber Himmel — wenn Kilgore Trout nur schreiben könnte!« rief Rosewater aus. Seiner Absicht nach verdiente Kilgore Trout seine Unbeliebtheit. Seine Prosa war schauderhaft. Nur seine Ideen waren gut. »Ich glaube nicht, daß Trout jemals aus Amerika herausgekommen ist«, setzte Rosewater hinzu. »Mein Gott — er schreibt die ganze Zeit über Erdbewohner, und sie sind alle Amerikaner. Praktisch ist niemand auf Erden ein Amerikaner.« 117
»Wo lebt er?« wollte Valencia wissen. »Niemand weiß es«, erwiderte Rosewater. »Ich bin der einzige, der jemals von ihm gehört hat, soviel ich weiß. Keine zwei von seinen Büchern sind bei demselben Verleger erschienen, und jedesmal, wenn ich ihm an die Adresse eines Verlegers schreibe, kommt der Brief zurück, weil der Verleger Pleite gemacht hat.« Er änderte jetzt das Thema und beglückwünschte Valencia zu ihrem Verlobungsring. »Danke«, sagte sie und hielt ihn ihm hin, so daß Rosewater ihn genau betrachten konnte. »Billy bekam diesen Brillanten im Krieg.« »Das ist das Reizvolle am Krieg«, meinte Rosewater. »Einfach jedermann bekommt ein kleines Etwas.« Was den Aufenthaltsort von Kilgore Trout betrifft, so wohnte er tatsächlich in Ilium, Billys Heimatstadt, freundelos und verachtet. Billy sollte ihn bald kennenlernen. »Billy —«, sagte Valencia Merble. »Hm?« »Möchtest du über unsere Silbermuster reden?« »Aber gewiß.« »Ich habe mich so ziemlich entweder für ›Königlich Dänisch‹ oder für ›Kletterrose‹ entschieden.« »Kletterrose«, sagte Billy. »Es ist nicht etwas, was wir überstürzen sollten«, meinte sie. »Ich meine — wofür wir uns auch entscheiden, damit werden wir für den Rest unseres Lebens zusammen leben müssen.« Billy sah sich die Abbildungen an. »›Königlich Dänisch‹«, sagte er schließlich. 118
»›Koloniales Mondlicht‹ ist auch »Ja, das stimmt«, sagte Billy Pilgrim.
hübsch.«
Und Billy reiste zeitlich zu dem Zoo auf Tralíamadore. Er war vierundvierzig Jahre alt und wurde unter einem geodätischen Kuppelbau zur Schau gestellt. Er streckte sich auf der Chaiselongue aus, die während seiner Reise durch den Raum sein Liegestuhl gewesen war. Er war nackt. Die Tralfamadorianer interessierten sich für seinen Körper — alle seine Einzelheiten. Tausende von Zuschauern standen draußen und hielten ihre kleinen Hände hoch, damit ihre Augen ihn sehen konnten. Billy war jetzt schon seit sechs irdischen Monaten auf Tralfamodore. Er war an die Menge gewöhnt. Entkommen kam nicht in Frage. Die Atmosphäre außerhalb des Baues bestand aus Zyanid, und die Erde war 446 120 000 000 000 000 Meilen entfernt. Billy war dort im Zoo in einem nachgemachten irdischen Lebensraum zur Schau gestellt. Die Einrichtung war zumeist aus dem Warenhaus Sears & Roebuck in der Stadt Iowa, im Staate Iowa, gestohlen worden. Es gab einen Farbfernseher und eine Couch, die in ein Bett verwandelt werden konnte. Es standen Wandtische, mit Lampen und Aschenbechern darauf, neben der Couch. Es gab eine Hausbar und zwei Hocker. Ein Billardtisch war gleichfalls vorhanden. Der Boden war durchgehend mit förderalistischem Gold ausgelegt, außer im Umkreis der Küche und des Badezimmers und über dem eisernen Deckel des Einstiegloches in der Mitte des Bodens. Es gab einen Stereoplattenspieler. Die Stereoanlage funktionierte. Das Fernsehgerät nicht. Das Bild 119
eines Cowboys, der einen ändern umbringt, war auf den Fernsehschirm geklebt. So geht das. Es waren keine Wände in dem Rundbau, es gab keinen Ort, wo Billy sich hätte verstecken können. Die pfefferminzgrüne Badeanlage lag offen allen Blicken da. Billy stand jetzt von seiner Couch auf, ging ins Badezimmer und wusch sich. Die Menge war völlig aus dem Häuschen. Billy bürstete auf Tralfamadore seine Zähne, klammerte sein Teilgebiß fest und ging in seine Küche. Sein Flaschengasbehälter, sein Kühlschrank und seine Geschirrspülmaschine waren gleichfalls pfefferminzgrün. Auf die Tür des Kühlschrankes war ein Bild gemalt. Der Kühlschrank war daher vom Verkauf ausgenommen worden. Es war ein Bild von einem Paar aus den fröhlichen neunziger Jahren auf einem Tandem. Billy sah jetzt dieses Bild an, versuchte, sich über dieses Paar Gedanken zu machen. Nichts fiel ihm ein. Es schien überhaupt nichts zu geben, was man über diese zwei Menschen hätte denken können. Billy verzehrte ein gutes Frühstück aus Dosen. Er spülte Tasse und Teller, Messer, Gabel, Löffel und die Pfanne ab und räumte alles weg. Dann machte er Leibesübungen, die er beim Heer gelernt hatte — Grätschsprünge, tiefe Kniebeugen, aufrecht sitzen und aufspringen. Die meisten Tralfamadorianer konnten überhaupt nicht wissen, daß Billys Gesicht und Körper nicht schön waren. Sie hielten ihn für ein Prachtexemplar. Das hatte eine unangenehme Wirkung auf Billy, der sich seines Körpers zum erstenmal angenehm bewußt wurde. Nach seinen Übungen duschte er sich ab und 120
schnitt sich die Zehennägel. Er rasierte sich und besprühte seine Achselhöhlen mit einem Desodorant, während draußen auf einer erhöhten Plattform ein Zooführer erklärte, was Billy tat — und warum. Der Führer .hielt seinen Vortrag telepathisch, indem er einfach dastand und Gedankenwellen zu der Menge sendete. Neben ihm auf der Plattform stand das kleine Tasteninstrument, mit dem er Fragen von der Menge an Billy weitergab. Jetzt kam die erste Frage — aus dem Lautsprecher am Fernsehgerät: »Sind Sie hier glücklich?« »Ungefähr so glücklich, wie ich es auf der Erde war«, sagte Billy Pilgrim, was der Wahrheit entsprach. Auf Tralfamadore gab es fünf verschiedene Geschlechter, von denen jedes einen zur Schaffung eines neuen Individuums nötigen Schritt ausführte. Für Billy sahen sie alle gleich aus — denn ihre Geschlechtsunterschiede waren alle vierdimensional. Eine der größten moralischen Bomben, die Billy von den Tralfamadorianern ausgehändigt wurden, hatte beiläufig mit dem Sex auf Erden zu tun. Sie sagten, die Besatzungen ihrer fliegenden Untertassen hätten nicht weniger als sieben Geschlechter auf der Erde festgestellt, von denen jedes zur Fortpflanzung unbedingt notwendig war. Wiederum: Billy konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was fünf von diesen sieben Geschlechtern mit der Zeugung eines Babys zu tun hatten, denn sie waren nur in der vierten Dimension sexuell tätig. Die Tralfamadorianer versuchten Billy Anhaltspunkte zu geben, die ihm helfen würden, sich Sex in den unsichtbaren Dimension vorzustellen. Sie versicherten ihm, es könnte keine irdischen Babys ohne 121
männliche Homosexuelle geben. Es konnte aber Babys ohne weibliche Homosexuelle geben. Auch ohne Frauen, die über fünfundsechzig Jahre alt waren, konnte es keine Babys geben. Es konnte sie aber ohne Männer über fünfundsechzig geben. Und es konnte keine Babys geben ohne andere Babys, die eine Stunde oder weniger nach der Geburt gelebt hatten. Und so weiter. Für Billy war es verworrenes Zeug. Es gab eine Menge Dinge, von denen Billy sagte, es sei auch für die Tralfamadorianer wirres Zeug. Sie konnten sich nicht vorstellen, wie die Zeit für ihn aussah. Billy hatte es aufgegeben, das zu erklären. Der Führer draußen mußte das übernehmen, so gut er konnte. Der Führer forderte die Menge auf, sich vorzustellen, sie blicke an einem strahlend schönen und klaren Tag über eine Wüste auf eine Bergkette. Sie konnten auf einen Gipfel oder einen Vogel oder eine Wolke oder auch auf einen Stein gerade vor ihnen oder sogar hinunter in eine Schlucht hinter ihnen blicken. Aber in ihrer Mitte war dieser arme Erdbewohner, und sein Kopf war in eine Stahlkugel eingeschlossen, die er nie abnehmen konnte. Sie hatte nur ein Guckloch, durch das er zu schauen vermochte, und an dieses Guckloch war eine Röhre mit einer Länge von einem Meter achtzig angeschweißt. Das war nun der Anfang von Billys bildlich ausgedrückten Miseren. Er wurde auch an ein Gitterwerk festgeschnallt, das an einem offenen Güterwagen auf Schienen mit Bolzen befestigt war, und es gab keine Möglichkeit, daß er den Kopf drehen oder die Röhre berühren konnte. Das entfernte Ende der Röhre ruhte auf einem zweibeinigen Gestell, das auch mit dem 122
flachen Güterwagen vernietet war. Alles, was Billy sehen konnte, war der kleine Punkt am Ende der Röhre. Er wußte nicht, daß er sich auf einem Güterwagen befand, ja, er wußte nicht einmal, daß etwas Eigenartiges an seiner Lage war. Der Güterwagen kroch manchmal, dann wieder fuhr er wieder äußersi; schnell, hielt häufig — fuhr bergauf, bergab, um Kurven herum, geradeaus. Was immer der arme Billy durch die Röhre sah, ihm blieb keine andere Wahl, als sich zu sagen: »Das ist das Leben!« Billy erwartete, daß die Tralfamadorianer durch alle die Kriege und andere Formen des Mordens auf Erden verwirrt und beunruhigt waren. Er erwartete, sie befürchteten, daß die irdische Mischung von Grausamkeit und imposanter Bewaffnung schließlich einen Teil oder vielleicht sogar die Gesamtheit des unschuldigen Universums vernichten würde. Die Science-Fiction-Romane hatten ihn darin bestärkt, daß er das erwartete. Aber das Thema Krieg kam nie auf, bis Billy es selbst zur Sprache brachte. Jemand aus der Menge im Zoo fragte ihn durch den Vortragenden, was das Wertvollste war, das er bis jetzt in Tralfamadore gelernt hatte, und Billy gab zur Antwort: »Wie die Bewohner eines ganzen Planeten in Frieden leben können! Wie ihr wißt, stamme ich von einem Planeten, der vom Anfang aller Zeiten an in sinnloses Gemetzel verwickelt war. Ich habe selbst die Leichen von Schulmädchen gesehen, die bei lebendigem Leib in einem Wasserturm von meinen eigenen Landsleuten verbrüht wurden, die damals stolz darauf waren, daß sie das ausgesprochen Böse bekämpften.« Das war wahr. Billy sah die verbrühten Körper 123
in Dresden. »Und ich habe mir meinen Weg in meinem Gefängnis nachts mit Kerzen aus dem Fett von Menschen erleuchtet, die von den Brüdern und Vätern der verbrühten Schulmädchen geschlachtet wurden. Die Erdbewohner müssen der Schrecken des Universums sein! Wenn anderen Planeten jetzt noch nicht Gefahr von der Erde droht, so wird das bald kommen. Deshalb sagt mir das Geheimnis, damit ich es zurück zur Erde bringen und uns alle retten kann: Wie kann ein Planet in Frieden leben?« Billy fühlte, daß er in höheren Regionen schwebend gesprochen hatte. Er war verwirrt, als er die Tralfamadorianer ihre kleinen Hände über den Augen schließen sah. Er wußte aus früherer Erfahrung, was das bedeutete: Er war dumm. »Würden... würden Sie etwas dagegen haben, mir zu sagen«, wandte er sich, sehr klein und häßlich geworden, an den Führer, »was daran so dumm war?« »Wir wissen, wie das Universum endet«, erklärte der Führer, »und die Erde hat damit nichts zu tun, außer daß auch sie ausgetilgt wird.« »Wie ... wie endet das Universum?« wollte Billy wissen. »Wir sprengen es in die Luft beim Experimentieren mit neuen Treibstoffen für unsere fliegenden Untertassen. Ein tralfamadorianischer Testpilot drückt auf einen Startknopf — und das ganze Universum verschwindet.« So geht das. »Wenn ihr das wißt«, meinte Billy, »gibt es denn keine Möglichkeit, es zu verhindern? Könnt ihr nicht den Piloten davon abhalten, auf den Knopf zu drükken?« 124
»Er hat immer darauf gedrückt und wird es immer tun. Wir lassen ihn immer und werden ihn das immer tun lassen. Der Augenblick ist so strukturiert.« »Demnach«, sagte Billy vorfühlend, »nehme ich an, daß der Gedanke, Krieg auf Erden zu vermeiden, gleichfalls dumm ist.« »Natürlich.« »Ihr habt hier doch einen friedlichen Planeten.« »Heute ja. An anderen Tagen haben wir Kriege, die ebenso schrecklich sind wie irgendeiner, den Sie jemals gesehen oder von dem Sie gelesen haben. Es gibt nichts, was wir gegen sie tun können, also lassen wir sie einfach unbeachtet. Wir ignorieren sie. Wir verwenden die Ewigkeit, um angenehme Augenblicke zu betrachten — wie heute im Zoo. Ist es nicht ein hübscher Augenblick?« »Ja.« »Das ist etwas, was die Erdbewohner lernen könnten, wenn sie es ernsthaft genug versuchten: Die schrecklichen Zeiten zu ignorieren und sich auf die guten zu konzentrieren.« »Hm«, sagte Billy Pilgrim. Kurz danach legte er sich in jener Nacht schlafen. Billy reiste zeitlich zu einem anderen Augenblick, der recht nett war: seiner Hochzeitsnacht mit der gebürtigen Valencia Merble. Seit einem halben Jahr hatte er das Krankenhaus für ehemalige Kriegsteilnehmer verlassen. Es ging ihm recht gut. Er hatte sein Studium an der Iliumer Schule für Optik abgeschlossen— als dritter seiner Klasse von siebenundvierzig. Nun war er mit Valencia im Bett in einer bezaubernden Atelierwohnung, die am Ende eines Kais auf Cape Ann, Massachusetts, lag. Auf der anderen Seite 125
des Wassers konnte man die Lichter von Gloucester sehen. Billy lag auf Valencia und gab sich dem Schauer echter Lust hin. Ein Ergebnis dieser Tat würde die Geburt von Robert Pilgrim sein, der auf der Hochschule ein Problem werden, sich dann aber zu einem Mitglied der berühmten »Green Berets« entwickeln würde. Valencia war keine In-der-Zeit-Reisende, aber sie verfügte über lebhafte Phantasie. Während Billy in sie eindrang, stellte sie sich vor, sie sei eine historisch berühmte Frau. Sei Königin Elisabeth die Erste von England — und Billy Christoph Kolumbus. Billy machte ein Geräusch wie eine kleine rostige Türangel. Er hatte gerade seinen Samen in Valencia entleert, hatte sein Teil zu den »Green Berets« beigetragen. Gemäß den Tralfamadorianern allerdings würden die »Green Berets« insgesamt sieben Elternteile haben. Nun wälzte er sich von seiner riesigen Frau herunter, deren hingerissener Ausdruck sich auch nicht änderte, als er sich von ihr löste. Er lag mit den Knoten seiner Wirbelsäule am Matratzenrand, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Er war jetzt reich. Er war dafür belohnt worden, daß er ein Mädchen geheiratet hatte, das niemand, der im Besitz seiner fünf Sinne war, geheiratet hätte. Sein Schwiegervater hatte ihm einen neuen Buick Roadmaster und ein mit allen elektrischen Geräten ausgerüstetes Heim geschenkt und ihn zum Leiter seiner erfolgreichsten Filiale, des Iliumer Büros, gemacht, wo Billy erwarten konnte, mindestens dreißigtausend Dollar im Jahr zu verdienen. Das war gut. Sein Vater war nur Friseur gewesen. Wie seine Mutter sagte: »Die Pilgrims bringen es in der Welt zu etwas.« 126
Die Flitterwochen spielten sich vor dem Hintergrund des bittersüß-geheimnisvollen Spätsommers in New England ab. Die Wohnung der beiden Liebenden hatte eine romantische Wand, die ganz aus großen Glastüren bestand. Sie öffneten sich auf einen Balkon und darüber hinaus auf den ölig schimmernden Hafen. Ein grünes und orangefarbenes Schleppboot, schwarz in der Nacht, brummte und knatterte an ihrem Balkon vorbei, keine zehn Meter von ihrem Ehebett entfernt. Es stach in See, nur von seinen Positionslichtern beleuchtet. Sein leerer Laderaum dröhnte, und der Gesang der Maschinen ertönte kräftig und laut. Der Kai begann dasselbe Lied zu singen, und dann sang auch das Kopf brett am Bett der Flitterwöchner. Und es sang noch lange, nachdem der Schlepper verschwunden war. »Ich danke dir«, sagte Valencia schließlich. Das Kopfbrett sang einen Mückengesang. »Gern geschehen.« »Es war nett.« »Das freut mich.« Dann fing sie zu weinen an. »Was ist denn los?« »Ich bin so glücklich.« »Das ist schön.« »Nie hätte ich geglaubt, daß mich jemand heiraten würde.« »Hm«, sagte Billy Pilgrim. »Dir zuliebe werde ich an Gewicht abnehmen«, sagte sie. »Was?« »Ich will eine Diät einhalten. Ich will schön für dich werden.« »Ich hab dich gern — gerade so wie du bist.« 127
»Stimmt das wirklich?« »Wirklich«, sagte Billy Pilgrim. Dank seiner Reisen in der Zeit hatte er bereits yiel von ihrer Ehe gesehen, und er wußte, daß sie wenigstens durchaus erträglich sein würde. Die Scheherezade, eine große Motorjacht, glitt nun am Ehebett vorbei. Der Gesang ihrer Motoren war ein sehr tiefer Orgelton. Alle ihre Lichter brannten. Zwei schöne Menschen, ein junger Mann und eine junge Frau in Abendkleidung, standen an der Reling des Hecks, liebten einander und ihre Träume und das Kielwasser. Auch sie verlebten ihre Flitterwochen. Es waren Lance Rumfoord aus Newport, Rhode Island, und seine Braut, die ehemalige Cynthia Landry, die eine Jugendfreundin von John F. Kennedy in Hyannis Port, Massachusetts, gewesen war. Hier kam ein kleiner Zufall ins Spiel. Billy Pilgrim sollte später im Krankenhaus ein Zimmer mit Rumfoords Onkel, Professor Bertram Copeland Rumfoord von der Harvarduniversität, dem ofiziellen Historiker der US-Luftwaffe, teilen. Als die beiden schönen Menschen vorbeigefahren waren, fragte Valencia ihren komisch aussehenden Mann über den Krieg aus. Für eine Erdenbürgerin war es eine ganz arglose Sache, Sex und zauberischen Glanz mit dem Krieg zu verbinden. »Denkst du jemals an den Krieg?« fragte sie und legte die Hand auf seinen Schenkel. »Manchmal«, sagte Billy Pilgrim. »Ich sehe dich manchmal an«, sagte Valencia, »und habe das komische Gefühl, daß du ganz einfach voller Geheimnisse bist.« 128
»Das bin ich nicht«, sagte Billy. Das war natürlich eine Lüge. Er hatte niemandem von all seinen Reisen in die Zeit, die er unternommen hatte, von Tralfamadore und so weiter erzählt. »Du mußt Geheimnisse über den Krieg haben. Oder nicht Geheimnisse, meine ich, sondern Dinge, über die du nicht sprechen möchtest.« »Nein.« »Ich bin stolz darauf, daß du Soldat warst. Weißt du das?« »Lieb von dir.« »War es schrecklich?« »Mitunter.« Ein verrückter Gedanke ging Billy nun durch den Kopf. Alles war schön, und nichts tat weh. Die Wahrheit davon bestürzte ihn. Das würde eine gute Grabschrift für Billy Pilgrim — und auch für mich — abgeben. »Würdest du jetzt über den Krieg sprechen, wenn ich es von dir wollte!« fragte Valencia. In einer kleinen Höhlung in ihrem großen Leib baute sie das Material für einen »Green Beret« zusammen. »Es würde wie ein Traum klingen«, meinte Billy. »Anderer Leute Träume sind gewöhnlich nicht sehr interessant.« »Ich hörte einmal, wie du Vater von einem deutschen Erschießungstrupp erzählt hast.« Sie meinte die Erschießung des armen, alten Edgar Derby. »Hum.« »Ihr mußtet ihn begraben?« »Ja.« »Hat er euch mit euren Schaufeln gesehen, bevor er erschossen wurde?« »Ja.« »Hat er irgend etwas gesagt!« 129
»Nein.« »Hatte er Angst?« »Sie hatten ihn unter Drogen gesetzt. Seine Augen waren glasig.« »Und sie befestigten eine Zielscheibe an ihm?« »Ein Stück Papier«, erklärte Billy. Er stieg aus dem Bett, sagte: »Entschuldige!« und ging in die Dunkelheit des Badezimmers, um Wasser zu lassen. Er tastete nach dem Licht, merkte, als er die rauhe Wand fühlte, daß er wieder zurück ins Jahr 1944 in das Gefangenenlazarett gereist war. Die Kerze im Lazarett war erloschen. Der arme, alte Edgar Derby war auf dem Feldbett neben Billy eingeschlafen. Billy stand auf und tastete sich an einer Wand entlang beim Versuch, einen Ausgang zu finden, denn er mußte so nötig pinkeln. Plötzlich fand er eine Tür, die sich öffnen und ihn in die Gefängnisnacht hinaustaumeln ließ. Billy war von dem Reisen in der Zeit und dem Morphium völlig benommen. Er lieferte sich einem Stacheldrahtzaun aus, wo er an einem Dutzend Stellen festhakte. Billy versuchte loszukommen, aber die Stacheln wollten ihn nicht freigeben. Also vollführte Billy einen dummen kleinen Tanz mit dem Zaun, machte einen Schritt dahin, dann dorthin und kehrte schließlich wieder zu seiner Anfangsstellung zurück. Ein Russe, selbst draußen in der Nacht, um auszutreten, sah — von der anderen Seite des Zaunes — Billy tanzen. Er trat an die wunderliche Vogelscheuche heran, versuchte freundlich mit ihr zu sprechen, fragte sie, aus welchem Land sie war. Die Vogelscheuche achtete nicht darauf, sondern tanzte weiter. Also löste der Russe eine verhakte Stelle nach der anderen, und die Vogelscheuche tanzte wieder in die Nacht hinaus, ohne ein Wort des Dankes. 131
Der Russe winkte ihm und rief ihm auf russisch »Lebe wohl!« nach. Billy zog dort in der Gefängnisnacht seinen Specht heraus und pinkelte und pinkelte auf den Boden. Dann steckte er ihn wieder mehr oder weniger weg und stellte Betrachtungen über ein neues Problem an: Von woher war er gekommen, und wo sollte er jetzt hingehen? Irgendwo in der Nacht ertönten jammervolle Schreie. Da er nichts Besseres zu tun hatte, schlenderte Billy in die Richtung. Er fragte sich, welche Tragödie so viele dazu gebracht haben konnte, unter freiem Himmel zu wehklagen. Billy näherte sich, ohne daß er es merkte, der Rückseite der Latrine. Diese bestand aus einer Querstange mit zwölf Kübeln darunter. Die Stange war auf drei Seiten von einer Schutzwand aus Gerumpel und flachgeklopften Konservendosen abgeschirmt. Die offene Seite lag der geteerten Pappwand der Baracke gegenüber, in der das Fest stattgefunden hatte. Billy ging an der Schutzwand entlang und erreichte die Stelle, wo er eine frisch auf die Pappwand gepinselte Botschaft sehen konnte. Die Worte waren mit derselben rosa Farbe gemalt, die das Bühnenbild von Aschenbrödel verschönt hatte. Billys Wahrnehmungsvermögen war so wenig zuverlässig, daß er die Worte wie in der Luft hängend sah, vielleicht auf einen transparenten Vorhang gemalt. Und hübsche silberne Punkte glitzerten auf dem Vorhang. In Wirklichkeit waren es Nagelköpfe, mit denen die Dachpappe an der Baracke festgemacht war. Billy konnte sich nicht vorstellen, wie der Vorhang im Leeren gehalten wurde, und er nahm an, daß der magische Vor132
hang und das theatralische Wehklagen zu einer religiösen Zeremonie gehörten, von der er nichts wußte. Das war die Botschaft
Billy schaute in die Latrine hinein. Das Jammern kam von dort drinnen. Der Ort war überfüllt mit Amerikanern, die ihre Hose heruntergelassen hatten. Das Willkommensfest hatte sie so krank wie Vulkane gemacht. Die Eimer waren voll oder umgestoßen worden. Ein Amerikaner in Billys Nähe klagte, daß er alles von sich gegeben habe, außer seinem Hirn. Augenblicke später setzte er hinzu: »Da geht es dahin, da geht es dahin!« Er meinte sein Hirn. Das war ich. Ich war das. Das war der Verfasser dieses Buches. Billy wankte von seiner Vision der Hölle weg. Er kam an drei Engländern vorbei, welche die Scheißorgie aus einiger Entfernung beobachteten. Sie waren wie erstarrt vor Ekel. »Knöpf deine Hose zu!« rief einer, als Billy vorbeiging. Also knöpfte Billy seine Hose zu. Zufällig geriet er an die Tür des kleinen Lazaretts. Er ging durch die 133
Tür und befand sich wieder in den Flitterwochen, wie er in Cape Ann aus dem Badezimmer zurück ins Bett zu seiner Braut ging. »Du hast mir gefehlt«, sagte Valencia. »Du hast mir auch gefehlt«, sagte Billy Pilgrim. Billy und Valencia schliefen ein, eng aneinander geschmiegt wie Löffel, und Billy reiste in der Zeit zurück zu der Bahnfahrt, die er 1944 von den Truppenübungen in South Carolina zum Begräbnis seines Vaters in Ilium gemacht hatte. Damals hatte er weder Europa noch Kampfhandlungen gesehen. Es war noch zur Zeit der Dampflokomotiven. Billy mußte häufig den Zug wechseln. Alle diese Züge waren langsam. In den Wagen stank es nach Kohlenrauch, rationiertem Tabak, rationiertem Schnaps und den Fürzen von Leuten, die eine kriegszeitgemäße Ernährung hatten. Die Polsterung der eisernen Sitze war rauh, und Billy konnte nicht viel schlafen. Vor dem Eingang zum vollbesetzten Speisewagen fiel er, die Beine gespreizt, in gesunden Schlaf, als er nur mehr drei Stunden von Ilium entfernt war. Der Schaffner weckte ihn, als der Zug in Ilium ankam. Billy wankte mit seinem Segeltuchsack davon, und dann stand er auf dem Bahnsteig neben dem Schaffner und versuchte, wach zu werden. »Ein gutes Nickerchen gemacht, was?« fragte der Schaffner. »Ja«, sagte Billy. »Menschenskind«, sagte der Schaffner, »Sie hatten aber einen Ständer!« Um drei Uhr morgens, in Billys Morphiumnacht im Gefängnis, wurde ein neuer Patient von zwei kräftigen Engländern ins Lazarett gebracht. Er war unge134
wöhnlich schmächtig. Es war Paul Lazzaro, der mit Wundnarben gesprenkelte Autodieb aus Cicero, Illinois. Er war ertappt worden, als er Zigaretten unter dem Kopfkissen eines Engländers stehlen wollte. Der Engländer hatte im Halbschlaf Lazzaros rechten Arm gebrochen und ihn bewußtlos geschlagen. Der Engländer, der das getan hatte, half jetzt Lazzaro hereintragen. Er hatte flammend rotes Haar und keine Augenbrauen. In dem Theaterstück hatte er Aschenbrödels verhängnisvolle Stiefmutter gespielt. Jetzt stützte er einen Teil von Lazzaro mit einer Hand, während er mit der anderen die Tür hinter sich schloß. »Wiegt nicht mal soviel wie ein Küken«, meinte er. Der Engländer, der Lazzaros Füße trug, war der Oberst, der Billy die K.o.-Spritze verpaßt hatte. Die verhängnisvolle Stiefmutter war verlegen und auch ärgerlich. »Wenn ich gewußt hätte, daß ich es mit einem Küken zu tun hatte«, sagte er, »hätte ich nicht so fest zugeschlagen.« »Hm.« Die verhängnisvolle Stiefmutter sprach offen davon, wie widerlich alle diese Amerikaner waren. »Schwächlinge, übelriechend und sich selbst bemitleidend — eine Bande von rotznasigen, dreckigen, diebischen Saukerlen«, sagte er. »Sie sind noch schlimmer als die russischen Schmarotzer.« »Scheinen wirklich ein schäbiger Haufen zu sein«, pflichtete der Oberst bei. Jetzt kam ein deutscher Major herein. Er betrachtete die Engländer als vertraute Freunde. Er besuchte sie fast täglich, machte Spiele mit ihnen, hielt ihnen Vorträge über deutsche Geschichte, spielte auf ihrem 135
Klavier und gab ihnen deutschen Konversationsunterricht. Er sagte ihnen oft, daß er ohne ihre gebildete Gesellschaft verrückt geworden wäre. Sein Englisch war einwandfrei. Er bat um Nachsicht, daß die Engländer die amerikanischen Unteroffiziere und Mannschaften bei sich aufnehmen mußten. Er versprach ihnen, daß sie nicht mehr als ein paar Tage damit behelligt werden würden, die Amerikaner kämen schon bald als Vertragsarbeiter nach Dresden. Er hatte eine Monographie bei sich, die von der deutschen Vereinigung der Gefängnisbeamten veröffentlicht worden war. Es handelte sich dabei um einen Bericht über das Verhalten amerikanischer Mannschaften als Kriegsgefangene in Deutschland. Ein ehemaliger Amerikaner, der im deutschen Propagandaministerium einen hohen Posten erlangt hatte, hatte ihn verfaßt. Er hieß Howard W. Campbell jr. Später erhängte er sich, als ihm als Kriegsverbrecher der Prozeß gemacht wurde. Während der britische Oberst Lazzaros gebrochenen Arm einrichtete und Gips für den Verband anrührte, übersetzte der Major laut Stellen aus Howard W. Campbells jr. Monographie. Campbell war seinerzeit ein ziemlich bekannter Bühnenschriftsteller gewesen. Seine einleitenden Zeilen lauteten: Amerika ist die wohlhabendste Nation der Erde, aber seine Bevölkerung ist in der Hauptsache arm, und arme Amerikaner werden dazu getrieben, sich selbst zu verabscheuen. Um den amerikanischen Humoristen zu zitieren: »Es ist keine Schande, arm zu sein, aber es könnte ebensogut eine sein.« Es ist tatsächlich ein Verbrechen für einen Amerikaner, arm zu sein, und zwar obschon Amerika eine Nation von Armen ist. Jede andere Nation hat Volksüberlieferungen von 136
Menschen, die arm, aber äußerst klug und tugendhaft und deshalb achtbarer waren, als irgendwer mit Macht und Gold. Solche Erzählungen gibt es nicht unter den amerikanischen Armen. Sie spotten ihrer selbst und verherrlichen die ihnen finanziell Überlegenen. Das schäbigste Eß- oder Trinklokal, das einem Mann, der selbst arm ist, gehört, hat höchstwahrscheinlich ein Plakat an der Wand hängen, auf dem die grausame Frage gestellt wird: »Wenn du so schlau bist, warum bist du dann nicht reich ?« Auch wird eine amerikanische Flagge, nicht größer als eine Kinderhand, an einem Lutschbonbonstöckchen befestigt sein und von der Registrierkasse wehen. Von dem Verfasser der Monographie, einem Mann aus Schenectady, New York, behaupteten einige, er habe den höchsten Intelligenzquotienten von allen Kriegsverbrechern gehabt, denen ein Tod am Galgen bevorstand. So geht das. Die Amerikaner glauben, wie die Menschen überall, viele Dinge, die offensichtlich unwahr sind, hieß es in der Monographie weiter. Ihre verderbliche Unwahrheit ist, daß es für jeden Amerikaner sehr leicht sei, Geld zu verdienen. Sie wollen nicht zugeben, wie schwer es in Wirklichkeit ist, zu Geld zu kommen, und deshalb geben sich diejenigen, die kein Geld haben, immerfort selbst die Schuld. Dieses innere Sich-selbstdie-Schuld-Geben war ein Schatz für die Reichen und Mächtigen, die öffentlich und privat weniger für ihre Armen haben tun müssen als jede andere herrschende Klasse seit — sagen wir — den napoleonischen Zeiten. Viele Neuheiten sind aus Amerika gekommen. Die alarmierendste von ihnen, eine noch nie dagewesene Sache, ist eine Masse von unrühmlichen Armen. Sie 137
mögen einander nicht, weil sie sich selbst nicht mögen. Sobald man das begriffen hat, hört das schöne Betragen amerikanischer Unteroffiziere und Mannschaften in deutschen Gefängnissen auf, ein Rätsel zu sein. Howard W. Campbell jr. sprach dann über die Uniform des im zweiten Weltkrieg eingezogenen Amerikaners: Jede andere Armee in der Geschichte, ob wohlbestallt oder nicht, hat versucht, sogar ihren niedrigsten Soldaten so zu kleiden, daß er auf sich und andere den Eindruck eines flotten Fachmanns im Trinken, Begatten, Plündern und gewaltsamen Tod macht. Die amerikanische Armee aber schickt ihre Mannschaften zum Kämpfen und Sterben in einem abgewandelten Straßenanzug, der ganz offensichtlich für einen anderen Mann gemacht wurde — ein sterilisiertes, aber ungebügeltes Geschenk von einer sich die Nase zuhaltenden Wohlfahrtsorganisation, die Kleidung an Trunksüchtige in den Slums verteilt. Wenn ein schneidig gekleideter Offizier das Won an einen derart altmodisch aufgemachten Landstreicher richtet, staucht er ihn zusammen, wie es ein Offizier in jedem Heer tun muß. Aber die Verachtung des Offiziers ist nicht, wie bei anderen Armeen, onkelhaft theatralisch. Sie ist der echte Ausdruck von Haß gegen die Armen, die niemand haben, dem sie die Schuld an ihrem Elend geben können, als sich selbst. Ein Gefängnisverwalter, der zum erstenmal mit gefangenen Amerikanern aus dem Mannschaftsstand zu tun hat, sollte gewarnt sein: Man darf keine brüderliche Liebe, nicht einmal zwischen Brüdern, erwarten. Es wird keinen Zusammenhalt zwischen den einzelnen geben. Jeder wird wie ein mürrisches Kind sein, das sich oft wünscht, es wäre tot. 138
Campbell berichtete, welche Erfahrung die Deutschen mit amerikanischen Mannschaften gemacht hatten. Überall seien sie als die Kriegsgefangenen bekannt, die sich am meisten bemitleiden, am unkameradschaftlichsten und gemeinsten sind, sagte Campbell. Sie waren unfähig, gemeinsam zu ihrem eigenen Besten zu handeln. Sie verachteten jeden Führer aus ihren eigenen Reihen, weigerten sich, ihm zu folgen oder ihn auch nur anzuhören, mit der Begründung, daß er nicht besser sei als sie selbst und aufhören solle, sich aufzuspielen. Und so weiter. Billy Pilgrim schlief ein und erwachte als Witwer in seinem leeren Haus in Ilium. Seine Tochter Barbara machte ihm Vorwürfe, daß er lächerliche Briefe an die Zeitung schrieb. »Hast du gehört, was ich sagte?« wollte Barbara wissen. Es war wieder 1968. »Natürlich.« Er hatte gedöst. »Wenn du dich wie ein Kind benimmst, werden wir dich einfach wie ein Kind behandeln müssen.« »Das geschieht nicht als nächstes«, meinte Billy. »Wir werden ja sehen, was als nächstes geschieht.« Die große Barbara verschränkte jetzt die Arme. »Es ist schrecklich kalt hier drin. Ist die Heizung angestellt?« »Die Heizung?« »Die Ölfeuerung—das Ding im Kellergeschoß — das Ding, das heiße Luft erzeugt, die aus diesen Apparaten da herauskommt. Ich glaube nicht, daß sie angestellt ist.« »Vielleicht nicht.« »Frierst du denn nicht?« »Ich habe es nicht gemerkt.« »Oh, du meine Güte, du bist wirklich ein Kind! 139
Wenn wir dich hier allein lassen, wirst du erfrieren, wirst verhungern.« Und so weiter. Es war sehr aufregend für sie, ihn unter dem Vorwand der Liebe aller Würde zu entkleiden. Barbara telefonierte den Ölheizungsmann an und veranlaßte Billy, ins Bett zu gehen und zu versprechen, daß er unter der elektrisch gewärmten Decke blieb, bis 0ie Heizung wieder funktionierte. Sie schaltete die Regulierung der Bettdecke auf die höchste Stufe ein, wodurch Billys Bett so heiß wurde, daß man Brot darin hätte backen können. Als Barbara wegging und die Tür hinter sich zuwarf, reiste Billy zeitlich wieder zum Zoo in Tralfamadore. Gerade war ihm eine Gefährtin von der Erde zugeführt worden. Es war Montana Wildhack, ein Filmstar. Montana stand unter starken Beruhigungsmitteln. Tralfamadorianer mit Gasmasken brachten sie herein, legten sie auf Billys Couch und zogen sich durch das Luftventil zurück. Die dichte Menge draußen war entzückt. Alle Besucherrekorde des Zoos waren gebrochen worden. Jedermann auf dem Planeten wollte die Erdbewohner sich paaren sehen. Montana war nackt, und natürlich war das auch Billy. Er hatte, nebenbei bemerkt, einen gewaltigen Schwanz. Man weiß nie, wer so einen bekommt. Jetzt flatterten ihre Augenlider. Ihre Wimpern waren wie Peitschenschnüre. »Wo bin ich denn?« fragte sie. »Alles in Ordnung«, sagte Billy freundlich'. »Bitte, haben Sie keine Angst.« Montana war während ihrer Reise von der Erde 140
besinnungslos gewesen. Die Tralfamadorianer hatten nicht mit ihr gesprochen, sich ihr nicht gezeigt. Das letzte, woran sie sich erinnerte, war, wie sie sich in einem Schwimmbecken in Palm Springs, Kalifornien, gesonnt hatte. Montana war erst zwanzig Jahre alt. Um den Hals hatte sie eine silberne Kette mit einem herzförmigen Medaillon hängen, das zwischen ihren Brüsten baumelte. Jetzt wandte sie den Kopf, um die Myriaden von Tralfamadorianern außerhalb des Kuppelbaues zu sehen. Sie spendeten ihr dadurch Beifall, daß sie ihre kleinen grünen Hände schnell öffneten und schlossen. Montana schrie und schrie. Alle die kleinen grünen Hände schlossen sich fest, denn Montanas schreckliche Angst war so unerquicklich anzusehen. Der Hauptzoowärter befahl einem Kranführer, der dabeistand, einen marineblauen Baldachin über die Kuppel zu breiten, um so im Innern kdische Nacht zu simulieren. Wirkliche Nacht wurde es im Zoo in Abständen von jeweils zweiundsechzig Stunden nur eine irdische Stunde lang. Billy knipste eine Bodenlampe an. Das Licht von dieser einzigen Quelle zeichnete die barocken Konturen von Montanas Körper in scharfem Relief ab. Billy wurde an den phantastischen Baustil Dresdens erinnert, bevor es zerbombt wurde. Nach und nach fand sich Montana bereit, Billy Pilgrim zu lieben und ihm zu vertrauen. Er rührte sie erst an, als sie ihm zu verstehen gab, daß sie das von ihm wollte. Nachdem sie bereits eine irdische Woche lang in Tralfamadore gewesen war, fragte sie ihn schüchtern, ob er nicht mit ihr schlafen wollte. Was er tat. Es war himmlisch. 141
Und Billy reiste zeitlich von diesem köstlichen Bett zu einem Bett im Jahre 1968. Es war sein Bett in Ilium, und die elektrische Decke war bis auf höchste Stärke geschaltet. Er war in Schweiß gebadet und erinnerte sich halb betäubt, daß seine Tochter ihn ins Bett gesteckt und ihm gesagt hatte, darin zu bleiben, bis die Ölheizung in Ordnung gebracht war. Jemand klopfte an seine Schlafzimmertür. »Ja?« sagte Billy. »Der Mann für die Ölheizung.« »Ja?« »Es fließt jetzt wieder richtig. Die Wärme kommt herauf.« »Gut.« »'ne Maus hat den Draht vom Thermostat durchgenagt.« »Verflixt noch mal!« Billx zog schnuppernd die Luft ein. Sein heißes Bett roch wie ein Champignonkeller. Er hatte einen nassen Traum von Montana Wildhack gehabt. Am Morgen nach diesem nassen Traum beschloß Billy, zurück an die Arbeit in seinem Büro am Marktplatz zu gehen. Das Geschäft blühte wie gewöhnlich. Seine Mitarbeiter wickelten es reibungslos ab. Sie waren überrascht, als sie ihn sahen. Seine Tochter hatte ihnen gesagt, das er wohl nie mehr seinen Beruf würde ausüben können. Aber Billy ging unbeschwert in sein Untersuchungszimmer und bat, daß man den ersten Patienten hereinschickte. Also schickte man ihm einen herein — einen zwölfjährigen Jungen, der von seiner verwitweten Mutter begleitet wurde. Sie waren Fremde, neu in der Stadt. Billy fragte die beiden ein wenig über sie aus und erfuhr, daß der Vater des Jungen in Vietnam 142
gefallen war — in der berühmten fünftägigen Schlacht um den Hügel 875 bei Dakto. So geht das. Während er die Augen des Jungen untersuchte, erzählte Billy ihm sachlich von seinen Abenteuern auf Tralfamadore, versicherte dem vaterlosen Jungen, daß sein Vater noch sehr lebendig sei in Augenblikken, die der Junge immer wieder sehen würde. »Ist das nicht tröstlich?« fragte Billy. Und irgendwo dort drinnen lief die Mutter des Jungen hinaus und sagte der Sprechstundenhilfe, daß Billy offensichtlich verrrückt geworden sei. Billy wurde nach Hause gebracht. Seine Tochter fragte ihn wieder: »Vater, Vater, Vater — was sollen wir nur mit dir machen?«
6 Hört zu: Billy Pilgrim sagt, er sei am Tag nach seiner Morphiumnacht im britischen Revier inmitten des Vernichtungslagers für russische Kriegsgefangene nach Dresden gefahren. Billy wachte an jenem Januartag gegen Morgengrauen auf. Es gab kein Fenster in dem kleinen Lazarett, und die gespenstischen Kerzen waren erloschen. Daher kam das einzige Licht von den nadelstichgroßen Löchern in den Wänden und einem sich undeutlich abzeichnenden Rechteck, das die unvollkommen passende Tür umriß. Der kleine Paul Lazzaro mit seinem gebrochenen Arm schnarchte auf seinem Bett. Edgar Derby, der Hochschullehrer, der schließlich erschossen wurde, schnarchte auf einem anderen. Billy setzte sich im Bett auf. Er hatte keine Ahnung, was für ein Jahr es war und auf welchem Planeten er sich befand. Wie immer der Planet hieß, er war kalt. Aber nicht die Kälte hatte Billy geweckt. Es war ein animalischer Magnetismus, der ihn zittern ließ und kribbelig machte. Er verursachte in ihm tiefe Muskelschmerzen, als habe er lange Zeit Leibesübungen gemacht. Der animalische Magnetismus kam von irgendwoher hinter ihm. Hätte Billy seine Quelle erraten sollen, dann hätte er gesagt, eine Vampirfledermaus hängte mit dem Kopf nach unten an der Wand hinter ihm. Billy rutschte ans Fußende seines Feldbettes hinunter, bevor er sich umdrehte, um nachzusehen, was es war. Er wollte nicht, daß das Tier herab und ihm ins Gesicht fiel, möglicherweise ihm die Augen auskratzte oder seine große Nase abbiß. Dann drehte er 144
sich um. Die Quelle des Magnetismus glich wirklich einer Fledermaus. Es war Billys Impresariomantel mit dem Pelzkragen. Er hing an einem Nagel. Billy kroch jetzt wieder zu ihm zurück, sah ihn über sein Schulter an und fühlte den Magnetismus stärker werden. Dann wandte er ihm, auf seinem Feldbett kniend, das Gesicht zu und wagte ihn da und dort zu berühren. Er suchte die genaue Quelle der Ausstrahlungen. Er fand zwei kleine Quellen — zwei knapp drei Zentimeter voneinander entfernte und im Futter versteckte Klümpchen. Eines war wie eine Erbse geformt. Das andere wie ein winziges Hufeisen. Billy empfing eine Botschaft durch die Strahlungen. Ihm wurde gesagt, er solle nicht herausfinden wollen, was die Klümpchen waren. Er wurde angewiesen, sich mit dem Wissen zufriedenzugeben, daß sie Wunder für ihn bewirken konnten, vorausgesetzt, er bestand nicht darauf, ihr Wesen zu ergründen. Das war Billy Pilgrim recht. Er war dankbar. Er war froh. Billy döste, nachdem er wieder im Geîängnislazarett erwacht war. Die Sonne stand hoch. Draußen waren an Golgatha erinnernde Geräusche von starken Männern zu hören, die Löcher für aufgerichtete Balken in einen steinharten Boden gruben. Die Engländer bauten sich eine neue Latrine. Sie hatten ihre alte den Amerikanern überlassen — ebenso ihr Theater, den Ort, wo sich die Willkommensfeier abgespielt hatte. Sechs Engländer stapften durch das Lazarett mit einem Billardtisch, auf den ein Stapel Matratzen gehäuft war. Sie trugen ihn zu den Wohnquartieren neben dem Lazarett. Hinter ihnen drein ging ein 145
Engländer, der seine Matratze und eine Zielscheibe zum Werfen mit Pfeilen trug. Der Mann mit dem Wurfspiel war die böse Stiefmutter, die den kleinen Paul Lazzaro verwundet hatte. Er blieb an Lazzaros Bett stehen und erkundigte sich, wie es ihm ging. Lazzaro sagte ihm, er werde ihn nach dem Krieg umbringen lassen. »Oh?« »Sie haben einen großen Fehler begangen«, meinte Lazzaro. »Jeder der mich anrührt, würde mich besser umbringen — oder ich lasse ihn umbringen.« Die böse Stiefmutter verstand etwas vom Töten. Sie bedachte Lazzaro mit einem vorsichtigen Lächeln. »Noch ist es Zeit für mich, Sie umzubringen«, versetzte der Engländer, »wenn Sie mich wirklich davon überzeugen, daß dies das vernünftigste ist.« »Warum trollen Sie sich nicht und ficken sich selber?« »Glauben Sie nicht, daß ich es nicht schon versucht habe«, erwiderte die böse Stiefmutter. Die böse Stiefmutter ging mit belustigter und gönnerhafter Miene davon. Als der Engländer gegangen war, kündigte Lazzaro Billy und dem armen, alten Edgar Derby an, daß er sich rächen werde und daß Rache süß sei. »Sie ist das Süßeste, was es gibt«, setzte Lazzaro hinzu. »Die Leute springen mir ins Gesicht«, sagte er, »und beim Allmächtigen, sie werden es verdammt bereuen. Ich lache wie der Teufel. Mir ist es gleich, ob es ein Kerl oder ein Weibsbild ist. Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten mir was antäte, würde ich es ihm sauber heimzahlen. Ihr hättet sehen sollen, was ich einmal mit einem Hund angestellt habe.« 146
»Einem Hund?« fragte Billy. »Dieses Hundevieh hat mich gebissen. Also besorgte ich mir ein Steak und nahm aus einer Uhr die Feder heraus. Ich zerschnitt diese Feder in kleine Stücke. Spitzte die Enden der Stücke zu. Steckte sie in das Steak — tief hinein. Und ging zu dem Hund, der angebunden war. Er wollte mich wieder beißen: ›Komm, Hündchen — wir wollen Freunde sein. Laß uns nicht mehr Feinde sein. Ich bin nicht mehr böse.‹ Er glaubte mir.« »Wirklich?« »Ich warf ihm das Steak hin. Er verschlang es auf einen Sitz. Ich wartete zehn Minuten.« Jetzt zwinkerte Lazzaro mit den Augen. »Blut begann aus seinem Maul zu fließen. Er fing zu heulen an und wälzte sich auf dem Boden, als steckten die Messer außen an ihm statt in seinem Inneren. Dann versuchte er, seine eigenen Eingeweide herauszubeißen. Ich lachte und sagte zu ihm: ›Jetzt bist du auf den richtigen Geschmack gekommen. Reiß deine eigenen Gedärme heraus, Junge. Das bin ich dort drinnen mit allen diesen Messern.‹« So geht das. »Wenn dich jemand fragt, was das süßeste im Leben ist«, erklärte Lazzaro, »es ist Rache.« Als Dresden später zerstört wurde, frohlockte Lazzaro, nebenbei bemerkt, nicht. Er habe nichts gegen die Deutschen, versicherte er. Auch sagte er, er nehme seine Feinde gern einzeln aufs Korn. Er war stolz, daß er nie einem unbeteiligten Zuschauer etwas getan hatte. »Kein einziges Mal hat es Lazzaro einem besorgt, der es nicht verdient hat«, fügte er hinzu. Der arme, alte Edgar Derby, der Hochschullehrer, mischte sich jetzt ins Gespräch. Er fragte Lazzaro, 147
ob er beabsichtige, die böse Stiefmutter mit Uhrenfedern und Steak zu füttern. »Scheiße«, sagte Lazzaro. »Er ist ein ziemlich großer Mann«, meinte Derby, der allerdings selbst ein ziemlich großer Mann war. »Körpergröße hat nichts zu besagen.« »Werden Sie ihn erschießen?« »Ich werde ihn erschießen lassen« sagte Lazzaro. »Er wird nach dem Krieg heimkehren, Er wird ein großer Held sein. Die Weiber werden sich alle auf ihn stürzen. Er wird sich irgendwo niederlassen. Ein oder zwei Jahre werden vergehen. Und dann, eines schönen Tages, wird es an seine Tür klopfen. Er wird die Tür öffnen, und draußen wird ein Fremder stehen. Der Fremde wird ihn fragen, ob er der Soundso ist. Wenn er ja sagt, wird der Fremde sagen: ›Paul Lazzaro hat mich geschickt.‹ Und er wird einen Revolver ziehen und ihm seinen Schwanz wegschießen. Der Fremde wird ihn ein paar Sekunden darüber nachdenken lassen, wer Paul Lazzaro ist und wie das Leben ohne einen Schwanz sein wird. Dann wird er ihn einmal in den Bauch schießen und weggehen.« So geht das. Lazzaro sagte, daß er jedermann in der Welt für tausend Dollar nebst Reisespesen töten lassen könne. Er habe eine Liste im Kopf, sagte er. Derby fragte ihn, wer alles auf der Liste stehe, und Lazzaro erwiderte: »Sei verdammt vorsichtig, daß du nicht darauf kommst. Komm mir bloß nicht in die Quere, das ist alles.« Ein Schweigen trat ein, und dann fügte er hinzu: »Und komme auch meinen Freunden nicht in die Quere.« »Haben Sie Freunde?« wollte Derby wissen. »Im Krieg?« sagte Lazzaro. »Jawoll — ich hatte einen Freund im Krieg. Er ist tot.« So geht das. 148
»Das ist wirklich schlimm.« Lazzaros Augen blinzelten wieder. »Jawoll. Er war mein Kumpel im Güterwagen. Er hieß Roland Weary. Er ist in meinen Armen gestorben.« Jetzt deutete er mit einer beredten Hand auf Billy. »Er starb wegen dieses dummen Pintsaugers hier. Daher habe ich ihm versprochen, daß ich diesen dummen Pintsauger nach dem Krieg erschießen lassen würde.« Mit einer Handbewegung wischte Lazzaro alles weg, was Billy Pilgrim vielleicht hätte sagen wollen. »Denk einfach nicht daran, Jungchen«, meinte er. »Genieße das Leben, solange du kannst. Nichts wird für vielleicht fünf, zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre passieren. Aber laß mich dir einen guten Rat geben: Wann immer die Türglocke läutet, laß jemand anders die Haustür öffnen.« Billy Pilgrim sagt jetzt, daß er wirklich auf diese Art und Weise sterben wird. Als ein Reisender in der Zeit hat er seinen eigenen Tod oftmals gesehen und ihn auf Tonband beschrieben. Das Tonband ist mit seinem Testament und anderen Wertsachen in seinem Tresorfach in der Iliumer Merchants National Bank of Trust aufbewahrt, sagt er. »Ich, Billy Pilgrim«, beginnt das Tonband, »werde sterben, bin gestorben und werde immer am 13. Februar sterben.« Zum Zeitpunkt seines Todes, sagt er, ist er in Chicago, um zu einer dichten Menschenmenge über das Thema der fliegenden Untertassen und das wahre Wesen der Zeit zu sprechen. Sein Zuhause ist noch immer in Ilium. Er hat drei internationale Grenzen überschreiten müssen, um Chicago zu erreichen. Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden balkanisiert, in zwanzig kleine Nationen aufgeteilt, so daß sie 149
nie wieder eine Bedrohung des Weltfriedens sein werden. Über Chicago wurden von zornigen Chinesen Wasserstoffbomben abgeworfen. So geht das. Die Stadt ist ganz funkelnagelneu. Billy spricht zu einer aufnahmebereiten Zuhörerschaft in einem Baseballpark, der von einer geodätischen Kuppel überdacht ist. Die Landesfahne weht hinter ihm. Sie ist ein Herefordstier auf einem grünen Feld. Billy sagt seinen eigenen Tod innerhalb einer Stunde voraus. Er lacht darüber und fordert die Menge auf, mit ihm zu lachen. »Es ist höchste Zeit, daß ich tot bin«, sagt er. »Vor vielen Jahren«, fährt er fort, »gelobte ein gewisser Mann, daß er mich umbringen lassen wolle. Er ist jetzt ein alter Mann, der nicht weit von hier wohnt. Er hat alle Reklame, die mit meinem Auftauchen in eurer schönen Stadt zusammenhängt, mitgekriegt. Er ist geisteskrank. Heute abend wird er sein Gelöbnis halten.« Es werden Proteste aus der Menge laut. Billy Pilgrim weist sie zurück. »Wenn ihr protestiert, wenn ihr glaubt, der Tod sei etwas Schreckliches, dann habt ihr kein Wort von dem, was ich gesagt habe, verstanden.« Nun beendet er seine Rede, wie er das jedesmal getan hat, mit den Worten: »Lebt wohl, hallo, lebt wohl, hallo!« Er ist von Polizei umgeben, als er das Podium verläßt. Sie ist da, um ihn vor dem Druck der Popularität zu schützen. Keine Anschläge auf sein Leben sind seit 1945 gemacht worden. Die Polizei bietet an, bei ihm zu bleiben. Sie ist gern bereit, die ganze Nacht mit gezogenen Dienstpistolen in einem Kreis um ihn herumzustehen. »Nein, nein«, sagt Billy ruhig. »Es ist Zeit für euch, daß ihr zu euren Frauen und Kindern heimgeht, und Zeit für mich, eine kleine Weile tot zu sein—und dann 150
wieder zu leben.« In diesem Augenblick ist Billys hohe Stirn im Fadenkreuz einer höchst wirksamen Laserstrahlkanone. Sie ist aus der verdunkelten Presseloge auf ihn gerichtet. Im nächsten Augenblick ist Billy Pilgrim tot. So geht das. So erlebt Billy eine Zeitlang den Tod. Einfach violettes Licht und ein Brausen. Niemand anders ist da. Nicht einmal Billy Pilgrim ist da. Dann schwingt er wieder ins Leben zurück, den ganzen Weg zurück zu einer Stunde nach 1945, als Lazzaro sein Leben bedroht hatte. Man hat ihm gesagt, er solle aus seinem Lazarettbett aufstehen und sich anziehen, er sei jetzt gesund. Er, Lazzaro und der arme Edgar Derby sollten sich zu ihren Kameraden im Theater gesellen. Dort würden sie in geheimer Wahl und freier Abstimmung ihren Vertrauensmann für sich wählen. Billy, Lazarro und der arme Edgar Derby überquerten jetzt den Gefängnishof zum Theater. Billy trug sein Mäntelchen, als wäre es ein Damenmuff. Es war mehrfach um seine Hände gewickelt. Er war der Clown im Mittelpunkt der unbewußten Travestie des berühmten Ölgemäldes »Der Geist von '76«. Edgar Derby schrieb im Geist Briefe nach Hause, in denen er seiner Frau mitteilte, daß er am Leben und wohlauf war, sie sollte sich keine Sorgen machen, der Krieg sei fast zu Ende, und er werde bald daheim sein. Lazarro sprach mit sich selbst über Leute, die er nach dem Krieg umbringen lassen würde, und von dunklen Machenschaften, die er unternehmen, und von Frauen, die er zwingen würde, sich von ihm fikken zu lassen, ob sie wollten oder nicht. Wäre er ein 151
Hund in einer Stadt gewesen, so hätte ihn ein Polizist erschossen und seinen Kopf ins Laboratorium geschickt, um festzustellen, ob er die Tollwut hatte. So geht das. Als sie sich dem Theater näherten, stießen sie auf einen Engländer, der mit seinem Stiefelabsatz eine Furche in die Erde hackte. Er markierte die Grenzlinie zwischen dem amerikanischen und dem englischen Abschnitt des Gefangenenlagers. Billy, Lazzaro und Derby brauchten nicht erst zu fragen, was die Linie bedeutete. Sie war ein von Kindheit an vertrautes Symbol. Das Theater war gepflastert mit amerikanischen Leibern, die dicht wie Löffel nebeneinander lagen. Die meisten Amerikaner starrten stumpf vor sich hin oder schliefen. Ihre ausgetrockneten Eingeweide rumorten. »Mach die verdammte Tür zu«, sagte jemand zu Billy. »Bist du in einem Stall geboren?« Billy schloß sie, zog eine Hand aus seinem Muff und befühlte einen Ofen, der eiskalt war. Noch immer war die Bühne für Aschenbrödel hergerichtet. Himmelblaue Vorhänge hingen von knallig rosafarbenen Deckenbalken. Da standen goldene Throne und die Uhrattrappe, deren Zeiger auf Mitternacht standen. Aschenbrödels Pantoffeln — die versilberten Schuhe eines Fliegers—lagen umgekippt nebeneinander unter einem Thron. Billy, der arme alte Edgar Derby und Lazzaro waren gerade im Lazarett gewesen, als die Engländer Decken und Matratzen ausgaben, daher hatten sie keine. Sie mußten improvisieren. Der einzige für sie verfügbare Platz war auf der Bühne, und sie gingen 152
dort hinauf, rissen die himmelblauen Vorhänge herunter und bauten sich Nester. Billy, in seinem himmelblauen Nest zusammengerollt, fand sich auf Aschenbrödels silberne Stiefel unter dem Thron starren. Und dann fiel ihm ein, daß seine Schuhe kaputt waren, daß er dringend Schuhe brauchte. Nur ungern verließ er sein Nest, zwang sich aber dazu. Er kroch auf allen vieren zu den Stiefeln und probierte sie an. Sie paßten vorzüglich. Billy Pilgrim war Aschenbrödel — und Aschenbrödel war Billy Pilgrim. Irgendwo dort drinnen wurde von dem höchstrangigen Engländer ein Vortrag über persönliche Gesundheitspflege gehalten, und danach fand eine freie Wahl statt. Wenigstens die Hälfte der Amerikaner döste während alledem weiter. Der Engländer stieg auf die Bühne, klopfte mit seinem Offiziersstöckchen auf die Armlehne eines Throns und rief: »Jungs, Jungs, wollt ihr mir bitte eure Aufmerksamkeit schenken?« Und so weiter. Was der Engländer über das Überleben sagte, war folgendes: »Wenn man aufhört, Wert auf seine äußere Erscheinung zu legen, wird man sehr bald sterben.« Er sagte, er habe verschiedene Männer auf folgende Weise sterben sehen: »Sie hielten sich nicht mehr gerade, rasierten oder wuschen sich dann nicht mehr, danach brachten sie nicht mehr den Willen auf, aus dem Bett zu steigen, dann hörten sie zu sprechen auf — und schließlich starben sie. Man kann jedenfalls soviel sagen: Es ist offensichtlich ein sehr einfacher schmerzloser Weg, aus dem Leben zu scheiden.« So geht das. Der Engländer sagte, daß er nach seiner Gefangennahme folgendes Gelübde abgelegt habe: Seine 153
Zähne täglich zweimal zu bürsten, sich einmal täglich zu rasieren, sein Gesicht und seine Hände vor dem Essen und nachdem er zur Latrine gegangen war zu waschen, seine Schuhe zweimal am Tag zu putzen, jeden Morgen mindestens eine halbe Stunde Leibesübungen zu machen und dann seinen Darm zu entleeren und häufig in den Spiegel zu schauen, um seine Erscheinung, besonders wegen seiner Haltung, kritisch zu beurteilen. Billy Pilgrim hörte alles das, während er in seinem Nest lag. Sein Blick fiel nicht auf das Gesicht des Engländers, sondern auf seine Fußknöchel. »Ich beneide euch, Jungs«, sagte der Engländer. Jemand lachte. Billy fragte sich, was daran witzig war. »Ihr Jungs geht heute nachmittag nach Dresden ab — eine, wie man mir sagt, schöne Stadt. Ihr werdet nicht zusammengepfercht sein wie wir. Ihr werdet draußen sein, wo es Leben gibt, und das Essen ist sicher reichlicher als hier. Wenn ich eine persönliche Bemerkung einwerfen darf: Es ist jetzt fünf Jahre her, seitdem ich einen Baum oder eine Blume oder eine Frau oder ein Kind — oder einen Hund oder eine Katze oder ein Unterhaltungslokal oder einen Menschen gesehen habe, der eine nützliche Arbeit irgendwelcher Art verrichtet. Ihr braucht euch, nebenbei bemerkt, keine Sorgen wegen Bomben zu machen. Dresden ist eine offene Stadt. Sie ist unbefestigt, und es gibt dort keine Kriegsindustrien oder Truppenkonzentrationen von irgendwelcher Bedeutung.« Irgendwo dort drinnen wurde der alte Edgar Derby zum Vertrauensmann der Amerikaner gewählt. Der Engländer wollte Nominierungen von den Versam154
melten hören, und es kamen keine. Also ernannte er Derby, pries ihn ob seiner Reife und seiner langen Erfahrung im Umgang mit Menschen. Es gab keine anderen Nominierungen — also wurde die Nominierung angenommen. »Sind alle dafür?« Zwei oder drei Leute riefen: »Jawohl.« Dann hielt der arme alte Derby eine Ansprache. Er dankte dem Engländer für seinen guten Rat und sagte, er beabsichtigte, ihn genau zu befolgen. Er sagte, er sei sicher, daß alle die anderen Amerikaner dasselbe tun würden. Er versicherte, seine wichtigste Verantwortung sei nun, verdammt dafür Sorge zu tragen, daß jedermann wohlbehalten in die Heimat zurückkam. »Leck mich doch am Arsch«, murmelte Paul Lazzaro in seinem himmelblauen Nest. »Verkrümel dich und laß uns in Ruh!« Die Temperatur stieg erstaunlich an diesem Tag. Um die Mittagszeit war es mild. Die Deutschen brachten Suppe und Brot in zweiräderigen Karren, die von Russen geschoben wurden. Der Engländer sandte Bohnenkaffee, Zucker, Marmelade, Zigaretten und Zigarrren herüber, und die Türen des Theaters wurden offen gelassen, damit die Wärme hereinkommen konnte. Die Amerikaner begannen sich jetzt viel besser zu fühlen. Sie konnten ihr Essen bei sich behalten. Und dann war es Zeit, nach Dresden aufzubrechen. Die Amerikaner marschierten leidlich stramm aus dem britischen Lager. Billy Pilgrim führte wieder den Zug an. Er hatte jetzt silberne Stiefel, einen Muff und ein Stück himmelblauen Vorhang, das er wie eine Toga trug. Billy hatte noch einen Bart. Ebenso der arme alte 155
Edgar Derby, der neben ihm ging. Derby schrieb im Geist Briefe nach Hause, seine Lippen arbeiteten zitternd: Liebe Margaret — wir brechen heute nach Dresden auf. Mach dir keine Sorgen. Es wird nie bombardiert werden. Es ist eine offene Stadt. Heute mittag fand eine Wahl statt, und rätst du was ? Und so weiter. Sie kamen wieder zum Gefängnisrangierbahnhof. In nur zwei Wagen waren sie angekommen. Sie würden weit bequemer in vier abfahren. Sie erblickten den toten Landstreicher wieder. Steif gefroren lag er im Unkraut neben den Schienen. In der Stellung eines Fötus; sogar im Tod versuchte er, sich eng wie ein Löffel an andere anzuschmiegen. Jetzt waren aber keine anderen da. Er schmiegte sich an dünne Luft und Asche. Jemand hatte seine Schuhe genommen. Seine nackten Füße waren blau und elfenbeinfarben. Sein Zustand des Totseins war irgendwie ganz in Ordnung. So geht das. Die Fahrt nach Dresden war ein Spaß. Sie dauerte nur zwei Stunden. Geschrumpfte kleine Mägen waren voll. Sonnenschein und milde Luft drangen durch die Lüftungsklappen herein. Es gab viel zu rauchen, dank den Engländern. Die Amerikaner kamen um fünf Uhr nachmittags in Dresden an. Die Türen der Güterwaggons wurden aufgerissen, und die Türöffnungen rahmten die bezauberndste Stadt ein, welche die meisten Amerikaner jemals gesehen hatten. Die sich am Himmel abhebende Silhouette mit ihren Kuppeln und Spitztürmen war üppig, zauberisch und absurd. Es sah für Billy Pilgrim wie ein Bild des Himmels aus der Sonntagsschule aus. 156
Jemand hinter ihm in dem Güterwagen sagte: »Wie im Freilichtkino.« Das war ich. Das war der meinige. Die einzige andere Stadt, die ich jemals gesehen hatte, war Indianapolis, Indiana. Jede andere Großstadt in Deutschland war grausamen Luftangriffen ausgesetzt gewesen und in Brand geschossen worden. Dresden hatte noch nicht einmal so viel wie eine zerbrochene Fensterscheibe erleiden müssen. Die Sirenen ertönten jeden Tag, heulten höllisch, und die Leute gingen in die Keller hinunter und warteten dort auf die Entwarnung. Die Flugzeuge hatten immer einen anderen Ort zum Ziel — Leipzig, Chemnitz, Flauen, Orte wie diese. So geht das. Fröhlich pfiffen noch Dampfheizungskörper in Dresden. Straßenbahnen ratterten. Telefone klingelten und wurden beantwortet. Lichter gingen an und aus, wenn Schalter betätigt wurden. Es gab Theater und Restaurants. Es gab einen Zoo. Die Hauptindustrien der Stadt bestanden in der Herstellung von Medikamenten, Nahrungsmitteln und Zigaretten. Die Leute gingen jetzt am Spätnachmittag von der Arbeit heim. Sie waren müde. Acht Dresdner überquerten die Stahlspaghetti des Rangierbahnhofs. Sie trugen neue Uniformen. Am Tag zuvor waren sie zum Militärdienst vereidigt worden. Es waren halbe Kinder und Männer, die über das mittlere Alter hinaus waren, und zwei Kriegsteilnehmer, die man in Rußland zuschanden geschossen hatte. Ihre Aufgabe bestand darin, hundert amerikanische Kriegsgefangene zu bewachen, die als Akkordarbeiter eingesetzt werden sollten. Ein Großvater und sein Enkel befanden sich unter der Wachmannschaft. Der Großvater war ein Architekt. 157
Die acht machten finstere Mienen, als sie sich den Güterwagen mit ihren Häftlingen näherten. Sie wußten, wie sehr sie selbst den Eindruck von elenden und närrischen Soldaten machten. Einer von ihnen hatte sogar ein künstliches Bein und trug nicht nur ein geladenes Gewehr, sondern auch einen Stock. Trotzdem — man erwartete von ihnen, daß sie Gehorsam und Achtung von den großen, herausfordernden, mörderischen amerikanischen Infanteristen ernteten, die geradewegs von all dem Töten an der Front gekommen waren. Und dann erblickten sie den bärtigen Billy Pilgrim in seiner blauen Toga und den silbernen Schuhen, mit den Händen in einem Muff. Er sah wie mindestens sechzig Jahre alt aus. Neben Billy stand der kleine Paul Lazzaro mit einem gebrochenen Arm. Er schäumte wie tollwütig. Neben Lazzaro war der arme, alte Hochschullehrer Edgar Derby, traurig erfüllt von Patriotismus, mittlerem Alter und imaginärer Weisheit. Und so weiter. Die acht lächerlichen Dresdner stellten fest, daß diese hundert lächerlichen Geschöpfe wirklich amerikanische Kämpfer frisch von der Front waren. Sie lächelten — und dann lachten sie. Ihre Furcht löste sich auf. Hier gab es nichts zu befürchten. Hier waren noch mehr invalide Menschen, noch mehr Narren wie sie selbst. Es war das reinste Operettentheater. So marschierte das Operettentheater aus dem Tor des Rangierbahnhofs und in die Straßen Dresdens hinaus. Billy Pilgrim war die Hauptnummer. Er führte den Zug an. Tausende von Menschen waren auf den Bürgersteigen und gingen von der Arbeit nach Hause. Sie waren aufgeschwemmt und wächsern, da sie 158
während der vergangenen zwei Jahre hauptsächlich Kartoffeln gegessen hatten. Sie hatten, außer dem milden Tag, keine Freuden erhofft. Plötzlich gab es nun hier diesen Ulk. Billy erhaschte nicht viele von den Blicken, die ihn so spaßig fanden. Er war entzückt von dem Baustil der Staat. Heitere Amoretten wanden Girlanden über Fenster. Schelmische Faune und nackte Nymphen guckten von Gesimsen, die mit Blumengewinden verziert waren, auf Billy herunter. Steinerne Affen tollten zwischen Schnörkelverzierungen, Muscheln und Bambus umher. Billy mit seinen Zukunftserinnerungen wußte, daß die Stadt in etwa dreißig weiteren Tagen in Schutt und Asche gelegt würde. Er wußte auch, daß die meisten der ihn beobachtenden Leute bald nicht mehr am Leben sein würden. So geht das. Und Billy vergrub beim Marschieren seine Hände tief im Muff. Seine Fingerspitzen, die in der warmen Dunkelheit des Muffs wühlten, wollten wissen, was die zwei Klümpchen im Futter des Impresariomantels waren. Die Fingerspitzen drangen in das Futter ein. Sie befühlten die Klümpchen, das erbsengroße und das hufeisenförmige Ding. Der Zug mußte an einer verkehrsreichen Ecke halten. Die Verkehrsampel zeigte rotes Licht. Dort an der Ecke, in der vorderen Reihe der Fußgänger, stand ein Chirurg, der den ganzen Tag operiert hatte. Er war ein Zivilist, aber seine Haltung war militärisch. Er hatte in zwei Weltkriegen gedient. Billys Anblick beleidigte ihn, besonders nachdem er von der Begleitmannschaft erfahren hatte, daß Billy ein Amerikaner war. Es schien ihm, daß Billy eine abscheuliche Geschmacklosigkeit beging, denn er 159
nahm an, Billy habe sich viel dumme Mühe gemacht, um sich so zu kostümieren. Der Chirurg sprach Englisch und sagte zu Billy: »Ich nehme an, Sie finden den Krieg eine sehr komische Sache.« Billy sah ihn verständnislos an. Er hatte im Augenblick aus den Augen verloren, wo er sich befand oder wie er dort hingeraten war. Er hatte keine Ahnung, daß die Leute glaubten, er spiele den Hanswurst. Es war natürlich das Schicksal, das ihn kostümiert hatte — das Schicksal und ein schwacher Überlebenswille. »Haben Sie erwartet, daß wir lachen?« fragte ihn der Chirurg. Der Chirurg verlangte eine Art von Satisfaktion. Billy war verwirrt. Billy wollte freundlich sein, helfen, wenn er konnte, aber seine Mittel waren bescheiden. Seine Finger hielten jetzt die zwei Gegenstände aus dem Mantelfutter. Billy beschloß, dem Chirurgen zu zeigen, was sie waren. »Sie glaubten, daß wir Vergnügen daran finden würden, uns verspotten zu lassen?« sagte der Chirurg. »Und sind Sie stolz darauf, Amerika so zu vertreten, wie Sie es tun?« Billy zog eine Hand aus dem Muff und hielt sie dem Chirurgen unter die Nase. Auf seinem Handteller lag ein zweikarätiger Diamant und ein Stück von einer Zahnprothese. Die Prothese war ein häßliches kleines Kunstprodukt.— aus Silber, Perle und Mandarine. Billy lächelte. Der Zug tänzelte, wankte und taumelte zum Tor des Dresdner Schlachthofes und ging dann hinein. Der Schlachthof war kein geschäftiger Ort mehr. Beinahe alle Huftiere in Deutschland waren von Menschen — 160
meist Soldaten — getötet, gegessen und ausgeschieden worden. So geht das. Die Amerikaner wurden zum fünften Gebäude hinter dem Tor geführt. Es war ein einstöckiger Zementwürfel mit Schiebetüren vorn und hinten. Er war als Aufenthaltsraum für zum Schlachten bestimmte Schweine erbaut worden. Jetzt sollte er als Heim fern der Heimat für hundert amerikanische Kriegsgefangene dienen. Es waren Schlafstellen darinnen, zwei dickbäuchige Öfen und ein Wasserhahn. Dahinter gab es eine Latrine, die aus einer Querstange mit Kübeln darunter bestand. Über der Tür des Gebäudes stand eine große Zahl. Die Zahl war fünf. Bevor die Amerikaner hineingehen konnten, sagte ihnen ihr einziger englischsprechender Wachmann, sie sollten sich ihre einfache Adresse einprägen für den Fall, daß sie sichln der großen Stadt verliefen. Ihre Adresse lautete: »Schlachthof 5«.
7 Fünfundzwanzig Jahre danach stieg Billy Pilgrim. in Ilium in eine Chartermaschine. Er wußte, daß das Flugzeug abstürzen würde, wollte sich aber nicht lächerlich machen, indem er das sagte. Es sollte Billy und achtundzwanzig andere Optiker zu einer Tagung in Montreal bringen. Valencia, seine Frau, stand draußen, und sein Schwiegervater, Lionel Merble, hatte sich auf dem Platz neben ihm angeschnallt. Lionel Merble war eine Maschine. Die Tralf amadorianer sagen allerdings, daß jedes Geschöpf und jede Pflanze im Weltall eine Maschine ist. Es belustigt sie, daß so viele Erdenbürger beleidigt sind bei dem Gedanken, daß sie Maschinen sind. Außerhalb des Flugzeugs verzehrte die Maschine namens Valencia Merble-Pilgrim eine Peter-PaulMound-Konfektstange und winkte zum Abschied. Das Flugzeug startete ohne Zwischenfall. Der Augenblick war so strukturiert. Es gab ein Amateurgesangsquartett an Bord. Sie waren auch Optiker, nannten sich »Die Väbs«, was eine Abkürzung für »Die vieräugigen Bastarde« war. Als das Flugzeug sichere Höhe erreicht hatte, bat die Maschine, die Billys Schwiegervater war, das Quartett, sein Lieblingslied zu singen. Sie wußten, welches Lied er meinte, und sangen es: Sie haben mich ins Gefängnis geschmissen, Mit meiner Hose vollgeschissen, Und meine Eier schleifen am Boden. Und ich seh das blöde Pack, 162
Als es mich biß in den Sack, Ach, nie mehr f ick ich ein' Polack. Billys Schwiegervater lachte und lachte immer wieder darüber, und er bat das Quartett, ein anderes polnisches Lied, das er so gern hatte, zu singen. Daher sangen sie ein Lied aus den Kohlenbergwerken von Pennsylvania, das begann: Ich und Mike, vir verken im Berg. Heiliger Scheiß, es gett uns gutt. Einmal die Voche Zahltag im Verk. Heiliger Scheiß, nächsten Tag die Arbeit ruhtt. Da gerade von Leuten aus Polen die Rede ist: Billy Pilgrim sah etwa drei Tage, nachdem er nach Dresden gekommen war, zufällig, wie ein Pole öffentlich gehängt wurde. Billy ging gerade mit einigen anderen kurz nach Sonnenaufgang zur Arbeit, und sie kamen an einen Galgen und eine kleine Volksmenge vor einem Fußballstadion. Der Pole war ein Landarbeiter, der gehängt wurde, weil er mit einer deutschen Frau geschlechtlich verkehrt hatte. So geht das. Billy, der wußte, daß das Flugzeug ziemlich bald abstürzen würde, schloß die Augen und reiste zeitlich zurück in das Jahr 1944. Es befand sich wieder in dem Wald von Luxemburg — mit den drei Musketieren. Roland Weary schüttelte ihn, bumste ihm den Kopf an einen Baum. »Geht ihr Jungens ohne mich weiter«, bat Billy Pilgrim. Das Amateurquartett in dem Flugzeug sang gerade »Wait Till the Sun Shines, Nelly«, als die Maschine gegen den Gipfel des Sugarbushberges in Vermont 163
prallte. Alle Insassen, mit Ausnahme von Billy, wurden getötet. So geht das. Die Leute, die als erste zur Absturzstelle kamen, waren junge österreichische Skilehrer von dem berühmten Wintersportplatz unten. Sie sprachen deutsch miteinander, als sie von einer Leiche zur anderen gingen. Sie trugen schwarze Windmasken mit zwei Schlitzen für die Augen und einer roten Quaste obendrauf. Sie sahen aus wie groteske schwarze Puppen, wie Weiße, die sich für Schwarze ausgaben, um Gelächter zu erregen. Billy hatte einen Schädelbruch, war aber noch bei Bewußtsein. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Seine Lippen arbeiteten, und eine der Groteskpuppen legte sein Ohr dicht an sie, um zu hören, was wohl seine letzten Worte waren. Billy glaubte, die Groteskpuppe habe etwas mit dem zweiten Weltkrieg zu tun, und er flüsterte ihr seine Adresse ins Ohr: »Schlachthof 5.« Billy wurde auf einem Schlitten vom Sugarbushberg hinuntergebracht. Die Puppen lenkten den Schlitten mit Stricken und jodelten melodisch, um freie Bahn zu haben. Unweit der Talsohle schwang die Bahn um die Pfeiler eines Sessellifts. Billy schaute hinauf zu all den jungen Leuten in ihrer grellen, elastischen Kleidung, in riesigen Skistiefeln und mit schneebeschlagenen Schutzbrillen, wie sie in gelben Sesseln durch die Luft schwebten. Er nahm an, daß sie zu einer erstaunlichen neuen Phase des zweiten Weltkrieges gehörten. Es sollte ihm recht sein. Billy war so ziemlich alles recht. Er wurde in ein kleines Privatkrankenhaus gebracht. Ein berühmter Gehirnchirurg kam von Boston 164
und operierte an ihm drei Stunden lang. Danach war Billy zwei Tage bewußtlos und träumte Millionen Dinge, einige davon wahr. Die wahren Dinge waren Reisen in der Zeit. Eines der wahren Dinge war sein erster Abend im Schlachthof. Er und der arme, alte Edgar Derby schoben einen leeren, zweirädrigen Karren einen ungepflasterten Weg zwischen leeren Viehverschlägen entlang. Sie gingen zu einer Volksküche, um das Abendessen für alle zu holen. Sie wurden von einem sechzehnjährigen Deutschen namens Werner Gluck v bewacht. Die Achsen des Karrens waren mit dem Fett toter Tiere geschmiert. So geht das. Die Sonne war gerade untergegangen, und ihr Abendglanz erleuchtete die Stadt, die niedrige Klippen um den idyllischen leeren Raum zu den unbenutzten Viehställen bildete. Die Stadt war verdunkelt, da Bombenflugzeuge kommen könnten, so sah Billy Dresden nicht eines der freundlichen Dinge tun, die eine Stadt tun kann, wenn die Sonne untergeht — nämlich ihre Lichter eines nach dem anderen aufflammen zu lassen. Es gab einen breiten Fluß, um diese Lichter widerzuspiegeln; er hätte ihr nächtliches Flimmern besonders reizvoll gemacht. Das war die Elbe. Werner Gluck, der junge Wachsoldat, war ein Dresdner Junge. Er war nie zuvor im Schlachthof gewesen, daher war er nicht sicher, wo die Küche war. Er war hochaufgeschossen und schwach wie Billy, er hätte ein jüngerer Bruder von ihm sein können. Tatsächlich waren sie entfernte Vettern, was sie nie herausgefunden haben. Gluck war mit einer unglaublich schweren Muskete bewaffnet, einem Mu165
seumsstück mit nur einer Patrone im Magazin und einem achtkantigen, glatten Lauf. Er hatte sein Seitengewehr aufgepflanzt. Es war wie eine lange Stricknadel. Es hatte keine Blutrillen. Gluck führte sie zu einem Gebäude, von dem er glaubte, daß darin die Küche sein könnte, und öffnete die Schiebetür an der Seite. Es war jedoch keine Küche drin. Vielmehr gab es eine Umkleidekabine, die an einen gemeinschaftlichen Duschraum voller Dampf angrenzte. In den Dampfwolken standen an die dreißig sehr junge Mädchen. Sie waren deutsche Flüchtlinge aus Breslau, das unter schweren Bombenangriffen gelitten hatte. Auch sie waren gerade in Dresden angekommen. Dresden war vollgestopft mit Flüchtlingen. Da standen diese Mädchen, alle ihre intimen Körperteile entblößt, für jedermann sichtbar. Und dort in der Türöffnung standen Gluck, Derby und Pilgrim — der kindliche Soldat, der arme, alte Hochschullehrer und der Hanswurst in seinen silbernen Schuhen—und starrten. Die Mädchen kreischten. Sie bedeckten sich mit ihren Händen, drehten den Rücken zu und so weiter — und machten sich äußerst schön. Werner Gluck, der nie zuvor eine nackte Frau gesehen hatte, schloß die Tür. Billy hatte ebenfalls noch nie eine gesehen. Für Derby war es nichts Neues. Als die drei Narren die Volksküche fanden, deren Hauptaufgabe es war, das Mittagessen für die Arbeiter im Schlachthof zu bereiten, war jedermann heimgegangen, ausgenommen eine Frau, die ungeduldig auf sie gewartet hatte. Sie war eine Kriegerwitwe. So geht das. Sie hatte bereits Hut und Mantel an. Auch sie wollte heimgehen, obwohl dort niemand war. Ihre 166
weißen Handschuhe lagen nebeneinander auf der Zinkplatte des Tisches für die Speisenausgabe. Sie hatte zwei große Kannen mit Suppe für die Amerikaner hergerichtet. Sie kochte bei kleiner Flamme auf dem Gasring. Sie hatte auch eine Menge Schwarzbrotlaibe. Sie fragte Gluck, ob er nicht schrecklich jung sei, um beim Heer zu sein. Er gab zu, daß er das sei., Sie fragte Edgar Derby, ob er nicht schrecklich alt sei, um beim Heer zu sein. Er sagte, ja, das sei er. Sie fragte Billy Pilgrim, was er vorstellen sollte. Billy antwortete, er wisse es nicht. Er versuchte nur eben, sich warm zu halten. »Alle echten Soldaten sind tot«, sagte sie. Das war wahr. So geht das. Eine andere wahre Sache, die Billy während seiner Bewußtlosigkeit in Vermont sah, war die Arbeit, die er und die anderen in dem Monat, bevor die Stadt zerstört wurde, zu verrichten hatten. Sie putzten Fenster, fegten Fußböden, machten Klosetts sauber, verpackten Einmachgläser in Kisten und versiegelten Pappkartons in einer Fabrik, die Malzsirup herstellte. Der Sirup war mit Vitaminen und Salzen angereichert. Er war für schwangere Frauen bestimmt. Der Sirup schmeckte wie dünner, mit Hickoryrauch versetzter Honig, und jedermann, der in der Fabrik arbeitete, aß ihn heimlich den ganzen Tag löffelweise. Sie waren nicht schwanger, aber sie brauchten auch Vitamine und Salze. An seinem ersten Arbeitstag löffelte Billy keinen Sirup, aber viele andere Amerikaner taten es. An seinem zweiten Tag löffelte Billy ihn. Über die ganze Fabrik verteilt waren Löffel versteckt, auf Dachsparren, in Schubladen, hinter Heizkörpern und 167
so fort. Sie waren hastig versteckt worden von Personen, die Sirup gelöffelt hatten und irgend jemand hatten kommen hören. Löffeln galt als ein Verbrechen. An seinem zweiten Tag machte Billy hinter einem Heizkörper sauber und fand einen Löffel. Hinter ihm stand ein Faß mit Sirup zum Abkühlen. Der einzige Mensch, der Billy und seinen Löffel sehen konnte, war der arme, alte Edgar Derby,, der draußen ein Fenster putzte. Der Löffel war ein Eßlöffel. Billy steckte ihn in das Faß, drehte ihn um und um und machte ein pappiges Lutschbonbon in Stäbchenform daraus. Er steckte es in den Mund. Ein Augenblick verging, und dann erschütterte jede Zelle in Billys Körper ihn mit heißhungriger Dankbarkeit und mit Beifall. Es klopfte ein paarmal an die Fabrikfensterscheibe. Derby war dort draußen, er hatte alles gesehen. Er wollte auch etwas von dem Sirup. Also machte Billy ein Lutschbonbon für ihn. Er öffnete das Fenster und steckte es in des armen, alten Derbys aufgesperrten Mund. Ein Augenblick verging — und dann brach Derby in Tränen aus. Billy schloß das Fenster und versteckte den klebrigen Löffel. Jemand kam.
8 Die Amerikaner im Schlachthof hatten zwei Tage lang, bevor Dresden zerstört wurde, einen sehr interessanten Besucher. Es war Howard W. Campbell jr., ein Amerikaner, der ein Nazi geworden war. Campbell war es, der die Monographie über das erbärmliche Verhalten der amerikanischen Kriegsgefangenen geschrieben hatte. Er stellte nun keine weiteren Untersuchungen über Kriegsgefangene an. Er war in den Schlachthof gekommen, um Leute für eine deutsche militärische Einheit, »das amerikanische Freikorps« genannt, zu rekrutieren. Campbell war der Erfinder dieser Einheit, die seiner Befehlsgewalt unterstellt war und die nur an der russischen Front kämpfen sollte. Campbell war ein durchschnittlich aussehender Mann, aber er war extravagant mit einer von ihm selbst entworfenen Uniform kostümiert. Er trug einen weißen Zehngallonenhut und schwarze, mit Hakenkreuzen und Sternen verzierte Cowboy Stiefel. Er war in ein blaues Strumpfkleid eingehüllt, das gelbe Streifen hatte, die von seinen Achselhöhlen bis zu den Fußknöcheln verliefen. Auf seiner Achselklappe war die Silhouette von Abraham Lincolns Profil auf hellgrünem Feld zu sehen. Campbell trug eine breite rote Armbinde mit einem blauen Hakenkreuz in einem weißen Kreis, Er erklärte jetzt diese Armbinde in dem Zementblock von Schweinestall. Billy Pilgrim spürte ein heftiges Sodbrennen, denn er hatte den ganzen Tag lang bei der Arbeit Malzsirup gelöffelt. Pas Sodbrennen ließ ihm Tränen in die Augen steigen, so daß sein Bild von Campbell durch schwankende Salzwasserlinsen verzerrt war. 169
»Blau ist für den amerikanischen Himmel«, erklärte Campbell. »Weiß für die Rasse, die den Kontinent erschlossen hat, die die Sümpfe entwässert, die Wälder gerodet und die Straßen und Brücken gebaut hat. Rot ist für das Blut amerikanischer Patrioten, das in den vergangenen Jahren so freudig vergossen wurde.« Campbells Zuhörerschaft war schläfrig. Sie hatte in der Sirupfabrik hart gearbeitet und war dann einen langen Weg in der Kälte zurückmarschiert. Sie war abgemagert und hohläugig. Auf ihrer Haut begannen sich kleine entzündete Stellen zu bilden. Dasselbe geschah mit Mund, Hals und Darm. Der Malzsirup, den sie in der Fabrik löffelten, enthielt nur ein paar von den Vitaminen und Salzen, die jeder Erdbewohner nötig hat. Campbell bot jetzt den Amerikanern Essen — Steaks mit Kartoffelbrei, Bratensauce und Fleischpastete — an, wenn sie in das amerikanische Freikorps einträten. »Sobald die Russen geschlagen sind«, fuhr, er fort, »werdet ihr über die Schweiz in eure Heimat entlassen werden.« Es kam keine Antwort. »Früher oder später werdet ihr gegen die Kommunisten kämpfen müssen«, erklärte Campbell. »Warum das nicht gleich hinter sich bringen?« Und dann stellte sich heraus, daß Campbell schließlich nicht ohne eine Antwort weggehen wollte. Der arme, alte Derby, der dem Untergang geweihte Hochschullehrer, rappelte sich zu dem vielleicht schönsten Augenblick seines Lebens auf die Beine. Es gibt fast keine Charaktere und fast keine dramatischen Gegenüberstellungen in dieser Erzählung, weil die meisten 170
Leute in ihr so angeekelt und so sehr das teilnahmslose Spielzeug von gewaltigen Kräften sind. Eine der Hauptwirkungen des Krieges ist schließlich, daß die Menschen entmutigt werden, Eigenpersönlichkeiten zu sein. Aber der alte Derby war jetzt eine solche Eigenpersönlichkeit. Seine Haltung war die eines von Faustschlägen aufgeputschten Kämpfers. Er hielt den Kopf gesenkt. Seine Fäuste waren vorgestreckt, warteten auf die Belehrung und den Schlachtplan. Derby hob den Kopf, nannte Campbell eine Schlange. Er verbesserte das. Er sagte, Schlangen könnten nichts dafür, daß sie Schlangen waren, und Campbell, der anders hätte sein können, als was er war, sei etwas viel Niedrigeres als eine Schlange oder eine Ratte — oder sogar eine mit Blut vollgesogene Zecke. Campbell lächelte. Derby sprach eindrucksvoll von der amerikanischen Regierungsform, mit Freiheit, Gerechtigkeit, Möglichkeiten und ehrlichem Spiel für alle. Er sagte, dort gebe es keinen Menschen, der nicht freudig für diese Ideale sterben würde. Er sprach von der Brüderlichkeit zwischen dem amerikanischen und dem russischen Volk und wie diese zwei Nationen die Seuche des Nazismus, welche die ganze Welt anstecken wollte, austilgen würden. Die Alarmsirenen von Dresden heulten traurig. Die Amerikaner, ihre Bewachungsmannschaften und Campbell suchten Schutz in einem hallenden Fleischkellergewölbe, das man in den lebenden Felsen unter dem Schlachthof gegraben hatte. Es gab eine eiserne Treppe mit eisernen Türen oben und unten. 171
Unten im Keller hingen ein paar Rinder, Schafe, Schweine und Pferde von den Fleischerhaken. So geht das. Der Keller hatte leere Haken für noch Tausende mehr. Hier war es auf Grund der Umstände kühl. Es gab keine Kühlanlage. Kerzenlicht brannte. Der Keller war weiß getüncht und roch nach Karbol. An einer Wand standen Bänke. Die Amerikaner gingen zu ihnen hin und wischten Spritzer von Tünche weg, bevor sie sich setzten. Howard W. Campbell jr. blieb ebenso wie die Wachen stehen. Er unterhielt sich mit den Wachen in vorzüglichem Deutsch. Er hatte seinerzeit viele beliebte deutsche Theaterstücke und Gedichte geschrieben und eine berühmte deutsche Schauspielerin namens Resi North geheiratet. Sie war jetzt tot, war ums Leben gekommen, während sie in einem Fronttheater auf der Krim für die Wehrmacht spielte. So geht das. Nichts ereignete sich in dieser Nacht. Erst in der nächsten Nacht mußten etwa hundertdreißigtausend Menschen in Dresden sterben. So geht das. Billy döste in dem Fleischkeller vor sich hin. Er fand sich wieder Wort für Wort, Geste um Geste in den Streit mit seiner Tochter verwickelt, womit diese Geschichte begann. »Vater«, sagte sie, »was sollen wir nur mit dir machen?« und so Weiter. »Weißt du, wen ich einfach umbringen könnte?« »Wen könntest du umbringen?« fragte Billy. »Diesen Kilgore Trout.« Kilgore Trout war und ist bekanntlich der Verfasser von Science Fiction. Billy hat nicht nur Dutzende von Trouts Büchern gelesen — sondern ist auch Trouts Freund geworden, soweit man überhaupt mit Trout 172
befreundet sein kann, der ein verbitterter Mensch ist. Trout wohnt in einer gemieteten Kellergeschoßwohnung in Ilium, ungefähr drei Kilometer von Billys hübschem weißem Heim entfernt. Er hat selbst keine Ahnung, wie viele Romane er geschrieben hat — möglicherweise fünfundsiebzig von den Schmökern. Nicht einer davon hat Geld eingebracht. Daher hält Trout als Vertriebsleiter der Ilium Gazette notdürftig Leib und Seele zusammen, überwacht die Zeitungsausträger, tyrannisiert, schmeichelt und beschwindelt kleine Jungen. Billy begegnete ihm zum erstenmal im Jahre 1964. Billy fuhr seinen Cadillac ein Hintergäßchen in Ilium entlang und fand den Weg durch Dutzende von Jungen und ihre Fahrräder versperrt. Eine Versammlung wurde gerade abgehalten. Ein Mann mit Vollbart richtete eine leidenschaftliche Ansprache an die Jungen. Er war feige und gefährlich und offenbar sehr tüchtig in seinem Beruf. Trout war damals zweiundsechzig Jahre alt. Er sagte den Gören, sie sollten ihre Starrheit aufgeben und ihre täglichen Kunden dahin bringen, daß sie auch die gottverdammte Sonntagsausgabe abonnierten. Er sagte, wer immer während der nächsten zwei Monate die meisten Sonntagsabonnements verkaufte, würde für sich und seine Eltern eine kostenlose Reise zum gottverdammten Martha's Vineyard für eine Woche bekommen, ohne für irgendwelche Ausgaben aufkommen zu müssen. Und so weiter. Einer der Zeitungsjungen war in Wirklichkeit ein Mädchen. Sie war völlig aus dem Häuschen. Trouts paranoides Gesicht kam Billy schrecklich vertraut vor, da er es auf den Schutzumschlägen so 173
vieler Bücher gesehen hatte. Aber als er diesem Gesicht plötzlich in einem Gäßchen seiner Heimatstadt begegnete, konnte Billy nicht erraten, warum ihm das Gesicht bekannt war. Billy glaubte, daß er diesen übergeschnappten Messias irgendwo in Dresden gekannt habe. Trout sah zweifellos wie ein Kriegsgefangener aus. Und dann hielt das Zeitungsmädchen seine Hand hoch. »Mr. Trout«, sagte sie, »wenn ich gewinne, kann ich dann auch meine Schwester mitnehmen?« »Zum Teufel, nein«, sagte Kilgore Trout. »Glaubst du denn, das Geld wächst auf den Bäumen?« Trout hatte übrigens ein Buch über einen Geldbaum geschrieben. Der Baum hatte Zwanzigdollarscheine als Blätter. Seine Blüten waren Pfandbriefe der Regierung. Seine Früchte waren Diamanten. Er zog die Menschen magisch an, die einander rings um die Wurzeln umbrachten und einen sehr guten Dünger abgaben. So geht das. Billy Pilgrim parkte seinen Cadillac in dem Gäßchen und wartete auf das Ende der Versammlung. Als die Versammlung aufgelöst wurde, blieb ein Junge noch zurück, mit dem sich Trout auseinandersetzen mußte. Der Junge wollte aufhören, weil die Arbeit so hart, die Arbeitsstunden so lang und die Bezahlung so gering waren. Trout war beunruhigt, denn wenn der Junge seine Arbeit wirklich aufgab, .würde er den Kundenkreis des Jungen selbst beliefern müssen, bis er einen anderen Einfaltspinsel finden konnte. »Was bist du?« fragte Trout den Jungen zornig. »Eine Art von Wunder ohne Eingeweide?« Das war auch der Titel eines Buches von Trout: Das 174
eingeweidelose Wunder. Es handelte von einem Roboter, der einen schlechten Atem hatte und der beliebt wurde, nachdem sein übler Mundgeruch geheilt war. Aber die Geschichte wurde, da sie schon 1932 geschrieben war, dadurch bemerkenswert, daß sie die weitverbreitete Anwendung von Flammöl gegen Menschen voraussagte. Es wurde auf sie aus Flugzeugen abgeworfen. Das besorgten Roboter. Sie hatten kein Gewissen und keine Leitungen, die es ihnen ermöglicht hätten, sich vorzustellen, was mit den Leuten auf dem Boden geschah. Trouts führender Roboter sah wie ein menschliches Wesen aus und konnte sprechen, tanzen und so weiter, ja sogar mit Mädchen ausgehen. Und niemand machte ihm zum Vorwurf, daß er Flammöl auf Leute abwarf. Aber sie fanden seinen üblen Mundgeruch unverzeihlich. Doch dann brachte er das in Ordnung und wurde von der Menschheit willkommen geheißen. Trout zog den kürzeren bei seinem Streit mit dem Jungen, der kündigen wollte. Er erzählte dem Jungen von den Millionären, die in ihrer Jugend Zeitungen ausgetragen hatten, und der Junge antwortete: »Tja, ja — aber ich wette, daß sie es nach einer Woche aufgegeben haben, es ist ein so fürstlicher Hungerlohn.« Und der Junge ließ seine volle Zeitungstasche vor Trouts Füßen stehen, mit der Abonnentenliste obendrauf. Es war jetzt Trouts Sache, diese Zeitungen auszuliefern. Er hatte keinen Wagen. Er besaß nicht einmal ein Fahrrad und hatte eine Todesangst vor Hunden. Irgendwo bellte ein großer Hund. Als Trout traurig die Tasche um seine Schulter hängte, trat Billy an ihn heran. »Mr. Trout — ?« 175
»Ja?« »Sind — sind Sie Kilgore Trout?« »Ja.« Trout nahm an, Billy habe eine Beschwerde über die Art, wie ihm die Zeitungen zugestellt wurden. Er dachte nicht an sich als an einen Schriftsteller, aus dem einfachen Grund, weil die Welt ihm nie gestattet hatte, in dieser Weise an sich zu denken. »Der — der Schriftsteller?« fragte Billy. »Der was?« Billy war sicher, daß er sich geirrt hatte. »Es gibt einen Schriftsteller namens Kilgore Trout.« »Ja, wirklich?« Trout machte ein törichtes und verwirrtes Gesicht. »Haben Sie nie etwas von ihm gehört?« Trout schüttelte den Kopf. »Niemand — kein Mensch hat das je.« Billy half Trout, seine Zeitungen auszutragen, indem er ihn in dem Cadillac von Haus zu Haus fuhr. Billy übernahm es, die Häuser zu suchen und sie abzuhaken. Trouts Gedanken waren in Aufruhr. Nie zuvor war er einem Bewunderer begegnet, und Billy war ein so beflissener Bewunderer. Trout versicherte ihm, daß er nie eines seiner Bücher angezeigt, besprochen oder zum Verkauf angeboten habe. »Alle diese Jahre«, sagte er, »habe ich das Fenster geöffnet und meine Liebe in die Welt verstreut.« »Sie müssen Briefe bekommen haben«, meinte Billy. »Ich hatte oft das Gefühl, daß ich Ihnen schreiben sollte.« Trout hielt einen einzigen Finger hoch. »Einen.« »War er begeistert!« 176
»Er war verrückt. Er schrieb, ich sollte Präsident der Welt werden.« Es stellte sich heraus, daß der Betreffende, der diesen Brief geschrieben hatte, Eliot Rosewater war, Billys Freund in dem Veteranenkrankenhaus in der Nähe von Lake Placid. Billy erzählte Trout von Rosewater. »Mein Gott — und ich glaubte, er sei so etwas wie vierzehn Jahre alt«, sagte Trout. »Ein ausgewachsener Mann — ein Hauptmann im Krieg.« »Schreiben tut er wie ein Vierzehnjähriger«, meinte Kilgore Trout. Billy lud Trout zu seinem achtzehnten Hochzeitstag ein, der in zwei Tagen war. Jetzt hatte die Party bereits begonnen. Trout war in Billys Eßzimmer und verschlang Appetithäppchen. Den Mund voll Philadelphiakäse und Lachsrogen, unterhielt er sich mit der Frau eines Optikers. Jeder von den Gästen hatte irgendwas mit Optik zu tun, außer Trout. Und er allein hatte keine Brille. Er war ein Bombenerfolg. Jedermann war begeistert, einen richtigen Schriftsteller bei der Party zu haben, obwohl sie nie seine Bücher gelesen hatten. Trout sprach zu einer gewissen Maggie White, die ihre Stellung als Assistentin eines Zahnarztes aufgegeben hatte, um die Haushälterin eines Optikers zu werden. Sie war sehr hübsch. Das letzte Buch, das sie gelesen hatte, war Ivanhoe. Billy Pilgrim stand als Zuhörer dabei. Er fummelte an irgend etwas in seiner Tasche. Es war ein Geschenk, das er jetzt seiner Frau überreichen wollte — ein weißes Satinetui, das einen Sternsaphirring enthielt. Der Ring war achthundert Dollar wert. 177
Die Lobhudelei, die Trout zuteil wurde, stieg ihm, geistlos und analphabetisch, wie sie war, gleich Marihuana zu Kopf. Er war glücklich, laut und dreist. »Ich fürchte, ich lese nicht so viel, wie ich sollte«, sagte Maggie. »Wir fürchten alle etwas«, antwortete Trout. »Ich fürchte mich vor Krebs, Ratten und Dobermannpinschern.« »Ich sollte es wissen, aber ich weiß es nicht, deshalb muß ich Sie fragen«, sagte Maggie, »was ist von dem, was Sie jemals geschrieben haben, am berühmtesten?« »Es handelte von einem Begräbnis für einen großen französischen Küchenchef.« »Das klingt interessant.« »Alle großen Küchenchefs der Welt sind anwesend. Es ist eine schöne Feier.« Trout dachte sich das aus, während er fortfuhr: »Gerade bevor der Sarg geschlossen wird, streuen die Trauernden Petersilie und Paprika auf den Verstorbenen.« So geht das. »Hat sich das wirklich zugetragen?« fragte Maggie White. Sie war eine dumme Person, aber eine sensationelle Aufforderung, Babys zu machen. Die Männer schauten sie an und wollten ihr sofort ein Baby machen. Bisher hatte sie noch kein einziges Baby gehabt. Sie benutzte Verhütungsmittel. »Natürlich hat es sich zugetragen«, erklärte ihr Trout. »Würde ich etwas schreiben, was sich nicht wirklich zugetragen hat, und versuchen, es zu verkaufen, dann konnte ich ins Gefängnis kommen. Das ist Betrug.« Maggie glaubte ihm. »Daran hatte ich nie zuvor gedacht.« »Denken Sie jetzt daran.« 178
»Es ist wie bei der Werbung. Man muß bei Zeitungsanzeigen die Wahrheit sagen, oder man bekommt Schwierigkeiten.« »Genau. Da gelten die gleichen Gesetze.« »Glauben Sie, daß Sie vielleicht einmal uns in einem Buch bringen?« »Ich bringe in Büchern alles, was ich erlebe.« »Ich glaube, ich gebe lieber acht auf meine Worte.« »Das Stimmt. Ich bin nicht der einzige, der zuhört. Gott hört auch mit. Und beim Jüngsten Gericht wird er Ihnen alle die Dinge vorhalten, die Sie gesagt und getan haben. Wenn sich herausstellt, daß es böse statt guter Dinge sind, so ist das sehr schlimm für Sie, denn Sie werden für immer und ewig im Fegefeuer schmoren. Das Schmoren im Fegefeuer hört nie auf, weh zu tun.« Die arme Maggie wurde ganz grau. Sie glaubte auch das und war bestürzt. Kilgore Trout lachte schallend. Ein Lachsei flog aus seinem Mund und landete in Maggies Ausschnitt. Jetzt bat ein Optiker um Aufmerksamkeit. Er schlug vor, auf das Wohl von Billy und Valencia zu trinken, die ihren Hochzeitstag hatten. Wie vorgesehen, sang das Amateurquartett von Optikern, »Die Väbs«, während die Leute tranken und Billy und Valencia die Arme umeinander legten und einfach strahlten. Die Augen aller Anwesenden leuchteten. Das Lied war »Diese meine alte Bande«. Donnerwetter, so lautete das Lied, ich würde alles drum geben, diese meine alte Bande zu sehen. Und so fort. Ein wenig später ging es weiter: Lebt wohl denn für immer, alte Burschen und Mädels, lebt wohl für immer, alte Geliebte und Kumpels — Gott segne sie .... Und so fort. 179
Unerwarteterweise fand Billy Pilgrim sich durch das Lied und die Veranstaltung aus dem Gleichgewicht gebracht. Er hatte nie eine alte Bande, alte Geliebte und Kumpels gehabt, aber er vermißte das jedenfalls, als das Quartett gedehnte, quälende Versuche mit Akkorden machte — absichtlich mißtönenden, noch mißtönenderen, unerträglich mißtönenden Akkorden —, und dann ein Akkord, der atemraubend wohlklingend war, und dann wieder einige mißtönende. Die wechselnden Akkorde lösten bei Billy starke psychosomatische Reaktionen aus. Sein Mund füllte sich mit dem Geschmack von Limonade, und sein Gesicht wurde verzerrt, als werde er in Wirklichkeit auf dem als Streckbrett bekannten Folterwerkzeug aus allen Gelenken gerenkt. Er sah so eigenartig aus, daß mehrere Leute sich besorgt darüber äußerten, als das Lied zu Ende war. Sie glaubten, er habe vielleicht einen Herzanfall gehabt, und Billy schien das dadurch zu bestätigen, daß er zu einem Stuhl ging und sich verstört setzte. Stille trat ein. »Du meine Güte«, sagte Valencia, über ihn gebeugt. »Billy — bist du sicher, daß du in Ordnung bist?« »Ja.« »Du siehst so schrecklich aus.« »Wirklich — ich bin okay.« Und das war er auch, außer daß er keine Erklärung dafür finden konnte, warum das Lied ihn so übermäßig beeindruckt hatte. Jahrelang hatte er angenommen, daß er keine Geheimnisse vor sich selber hatte. Hier war der Beweis, daß er irgendwo innerlich ein großes, brennendes Geheimnis hatte — und er konnte sich nicht vorstellen, was es war. 180
Die Leute zerstreuten sich jetzt wieder, als sie die Farbe in Billys Wangen wiederkehren und ihn lächeln sahen. Valencia blieb bei ihm, und Kilgore Trout, der am Rand der Gästeschar gestanden hatte, trat interessiert und verschmitzt näher. »Du sahst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen«, sagte Valencia. »Nein«, erwiderte Billy. Er hatte nichts gesehen, außer was wirklich vor ihm war — die Gesichter der vier Sänger, dieser vier gewöhnlichen, kuhäugigen, hirnlosen und liebedienernden Männer, als sie von Wohlklang zu Mißton und wieder zu Wohlklang wechselten. »Darf ich eine Vermutung aussprechen?« warf Kilgore Trout ein. »Sie haben durch ein Zeitfenster geblickt.« »Ein was?« fragte Valencia. »Er hat plötzlich die Vergangenheit oder die Zukunft gesehen. Habe ich recht?« »Nein«, sagte Billy Pilgrim. Er stand auf, schob die Hand in seine Tasche und fand darin das Etui, das den Ring enthielt. Er zog es heraus und reichte es geistesabwesend Valencia. Er hatte es ihr am Ende des Liedes geben wollen, als jedermann zusah. Jetzt war nur Kilgore Trout da, um es zu sehen. »Für mich?« fragte Valencia. »Ja.« »O du meine Güte«, sagte sie. Dann sagte sie es noch lauter, damit andere Leute es hören konnten. Sie sammelten sich um sie, und sie öffnete das Etui und schrie fast, als sie den Saphir mit einem Stern darin sah. »O du meine Güte«, sagte sie noch einmal. Sie gab Billy einen heißen Kuß. Sie sagte: »Dank dir, dank dir, dank dir.« 181
Es wurde viel darüber geredet, was für wundervolle Schmucksachen Billy seiner Frau Valencia im Lauf der Jahre geschenkt hatte. »Mein Gott«, sagte Maggie White, »sie hat bereits den größten Brillanten bekommen, den ich, außer im Film, gesehen habe.« Sie sprach von dem Brillanten, den Billy aus dem Krieg heimgebracht hatte. Das Stückchen Zahnprothese, daß er zufällig innen in seinem kleinen Impresariomantel gefunden hatte, befand sich in der Schachtel mit seinen Manschettenknöpfen in der Schublade seines Toilettentisches. Billy hatte eine wundervolle Sammlung von Manschettenknöpfen. Es war bei der Familie üblich, ihm an jedem Vatertag Manschettenknöpfe zu schenken. Er hatte jetzt Vatertagmanschettenknöpfe an. Sie hatten über hundert Dollar gekostet. Sie waren aus antiken römischen Münzen gemacht. Er hatte im oberen Stockwerk ein Paar, das aus kleinen Rouletterädern bestand, die sich regelrecht drehen ließen. Er hatte ein anderes Paar mit einem richtigen Thermometer in dem einen Knopf und einem richtigen Kompaß im anderen. Billy bewegte sich jetzt unter den Gästen — nach außen hin normal. Kilgore Trout beschattete ihn, darauf bedacht, herauszubringen, was Billy vermutet oder gesehen hatte. Die meisten Romane von Trout handelten schließlich von Zeitverzerrungen, übersinnlichen Wahrnehmungen und anderen unerwarteten Dingen. Trout glaubte an derlei Dinge und wallte unbedingt ihr Vorhandensein bewiesen sehen. »Haben Sie jemals einen lebensgroßen Spiegel auf den Boden gelegt und dann einen Hund darauf gestellt?« wollte Trout von Billy wissen. »Nein.« 182
»Der Hund wird hinunterschauen und ganz plötzlich merken, daß nichts unter ihm ist. Er glaubt, er stehe auf dünner Luft. Er wird eine Meile weit springen.« »Ja, wirklich?« »So schauten Sie drein — als ob Sie ganz plötzlich merkten, daß Sie auf dünner Luft standen.« Das Amateurquartett sang wieder. Billys Gefühle wurden erneut aufgewühlt. Das Erlebnis war eindeutig mit diesen vier Männern und nicht mit dem, was sie sangen, verbunden. Hier ist, was sie sangen, während Billy innerlich zerissen wurde: Elf Cent Zwirn, vierzig fürs Fleisch nicht
vergessen, Wie in der Welt kann ein armer Mann essen? Bete um Sonnenschein, denn es kommt Regen, Alles wird schlechter, auf nichts ruht ein Segen. Hab eine Bar gebaut, bemalt und bieder, Kam ein Gewitter auf und brannt' sie nieder. Zwecklos zu sagen, was jeder muß tragen, Mit elf Cent Zwirn und vierzig für den Magen. Elf Cent Zwirn und eine Wagenladung Steuer, Die Last ist zu schwer, sie ist ungeheuer ... Und so weiter. Billy floh nach oben in sein hübsches weißes Heim. Trout wäre mit ihm nach oben gekommen, wenn Billy ihm nicht gesagt hätte, das nicht zu tun. Dann ging Billy in das obere Badezimmer, das dunkel war. Er schloß und verriegelte die Tür. Er ließ es dunkel 183
und merkte allmählich, daß er nicht allein war. Sein Sohn hielt sich darin auf. »Paps?« sagte sein Sohn in der Dunkelheit. Robert, der zukünftige Green-Beret-Soldat, war damals siebzehn. Billy hatte ihn gern, kannte ihn aber nicht sehr gut. Billy hatte unwillkürlich den Verdacht, daß es nicht viel über Robert zu wissen gab. Billy schaltete das Licht an. Robert saß mit seiner Pyjamahose um seine Fußknöchel auf der Toilette. Er hatte eine elektrische Gitarre bei sich, die an einem Band um seinen Nacken hing. Er hatte die Gitarre gerade an diesem Tag gekauft. Er konnte nicht auf ihr spielen und lernte es auch nie. Ihre Farbe war von einem perlmuttartigen Rosa. »Hallo, Sohn«, sagte Billy Pilgrim. Billy ging in sein Schlafzimmer, obwohl unten Gäste waren, die unterhalten werden wollten. Erlegte sich auf sein Bett und schaltete die »Magischen Finger« an. Die Matratze vibrierte und trieb einen Hund unter dem Bett hervor. Der Hund war Spot. Der gute, alte Spot war damals noch am Leben. Spot legte sich wieder in eine Ecke. Billy dachte angestrengt über die Wirkung nach, die das Quartett auf ihn gehabt hatte, und fand dann eine Gedankenverbindung zu einem Erlebnis, das er vor langer Zeit gehabt hatte. Er reiste nicht zeitlich zu dem Erlebnis. Er erinnerte sich nur verschwommen daran — wie folgt: Er war unten in dem Fleischkeller in jener Nacht, als Dresden zerstört wurde. Oben waren Geräusche wie von riesigen Schritten. Es waren Reiheneinschläge hochexplosiver Bomben. Die Riesen schritten und schritten. Der Fleischkeller war ein sehr sicherer 184
Unterstand. Alles, was dort unten geschah, war ein gelegentlicher Schauer von Kalkbewurf. Die Amerikaner, vier ihrer Wachleute und einige ausgeweidete Tierkadaver waren dort unten — und niemand anders. Die übrigen Wachmannschaften waren, bevor der Luftangriff begann, zu den Annehmlichkeiten ihres eigenen Zuhause s in Dresden gegangen. Sie wurden alle, zusammen mit ihren Familien, getötet. So geht das. Die jungen Mädchen, die Billy nackt überrascht hatte, wurden auch alle in einem viel weniger tief gelegenen Keller in einem anderen Teil des Viehhofs getötet. So geht das. Ein Wachmann ging immer wieder die Steinstufen hinauf, um nachzusehen, wie es draußen aussah, dann kam er herunter und flüsterte mit den anderen Wachen. Draußen herrschte eine Feuersbrunst. Dresden war eine einzige große Flamme. Eine Flamme, die alles Organische verzehrte, alles, was brennbar war. Es war bis zum Mittag des nächsten Tages nicht gefahrlos, den Unterstand zu verlassen. Als die Amerikaner und ihre Wachmannschaft schließlich hinausgingen, war der Himmel schwarz von Rauch. Die Sonne war wie ein zorniger Stecknadelkopf. Dresden war jetzt wie der Mond, nichts als Mineralien. Die Steine waren heiß. Alle anderen im weiteren Umkreis waren tot. So geht das. Die Wachen drängten sich instinktiv zusammen, sie verdrehten die Augen. Sie erprobten einen Gesichtsausdruck und dann einen anderen, sagten nichts, obwohl ihre Münder oft weit aufgerissen Waren. Sie 185
sahen aus wie in einem Stummfilm von einem Amateurquartett. »Lebt wohl denn für immer«, hätten sie singen können, »alte Burschen und Mädels, lebt wohl, alte Lieben und Kumpels — Gott segne sie —« »Erzähl mir eine Geschichte«, sagte einmal Montana Wildhack im tralfamadorianischen Zoo zu Billy Pilgrim. Sie lagen nebeneinander im Bett. Sie waren ungestört. Das Schutzdach bedeckte die Kuppel. Montana war jetzt im sechsten Monat schwanger, sie war dick und rosig und verlangte träge von Zeit zu Zeit kleine Gunstbezeigungen von Billy. Sie konnte Billy nicht wegschicken, um Eis oder Erdbeeren zu holen, denn, die Atmosphäre außerhalb des Kuppelbaus bestand aus Zyanid — und die nächsten Erdbeeren und das nächste Eis waren Millionen Lichtjahre entfernt. Sie hätte ihn zu dem Kühlschrank schicken können, der mit dem ausdruckslosen Paar auf dem Tandem verziert war — oder wie jetzt konnte sie ihn schmeichelnd bitten: »Erzähl mir eine Geschichte, Billy, mein Junge.« »Dresden wurde in der Nacht zum 14. Februar 1945 zerstört«, begann Billy Pilgrim. »Wir kamen am nächsten Tag aus unserem Luftschutzkeller hervor.« Er erzählte Montana von den vier Wachsoldaten, die in ihrem Erstaunen und ihrem Kummer einem Amateurquartett ähnelten. Er erzählte ihr von den Viehhöfen, bei denen alle Umfriedungen, Dächer und Fenster verschwunden waren — erzählte ihr von scheinbaren kleinen Holzklötzen, die umherlagen. Es waren Menschen, die in die Feuersbrunst geraten waren. So geht das. Er erzählte ihr, was aus den Gebäuden geworden war, die Klippen um die Viehhöfe gebildet hatten. Sie 186
waren eingestürzt. Ihr Holz war verbrannt, und ihre Steine waren krachend heruntergesaust, kunterbunt gegeneinander gefallen, bis sie sich schließlich zu niedrigen und anmutigen Hügeln zusammenfanden. »Es war wie auf dem Mond«, fügte Billy Pilgrim hinzu. Die Wachen sagten den Amerikanern, sie sollten sich zu Viererreihen aufstellen, was sie taten. Dann ließen sie die Amerikaner zu dem Schweinestall zurückmarschieren, der ihre Behausung war. Seine Mauern standen noch, aber seine Fenster und sein Dach waren weg, und im Innern war nichts als Asche und Klumpen geschmolzenen Glases. Da wurde man sich bewußt, daß weder Lebensmittel noch Wasser vorhanden waren, und die Überlebenden, wenn sie weiter am Leben bleiben wollten, würden über einen Hügel nach dem ändern auf der Mondoberfläche klettern müssen. Was sie denn auch taten. Die Hügel waren nur aus der Entfernung gesehen sanft. Die Leute, die sie erstiegen, merkten bald, daß sie trügerische, zackige Dinger waren — heiß bei der Berührung, häufig unsicher, drauf und dran, falls gewisse wichtige Blöcke berührt wurden, weiter einzustürzen, um niedrigere, festere Hügel zu bilden. Niemand sprach viel, als die Expedition die Mondlandschaft überquerte. Es gab nichts Angemessenes zu sagen. Eines war klar: Man nahm einfach von jedermann in der Stadt an, daß er tot war, gleichviel um wen es sich handelte, und daß jemand, der sich in ihr bewegte, einen Fehler im Muster darstellte. Es sollte überhaupt keine Mondmenschen geben. 187
Amerikanische Kampfflieger stießen im Rauch herunter, um zu sehen, ob sich etwas bewegte. Sie sahen Billy und die übrigen sich dort unten bewegen. Die Flugzeuge berieselten sie mit MG-Salven, aber die Kugeln gingen fehl. Dann sahen sie andere Leute am Flußufer entlanggehen und schossen auf sie. Sie trafen einige von ihnen. So geht das. Es sollte das Kriegsende beschleunigen. Billys Geschichte endete sehr merkwürdig in einer von teuer und Explosionen unberührten Vorstadt. Die Wachsoldaten und die Amerikaner kamen bei Einbruch der Nacht zu einem Gasthaus, das offen und zum Geschäft bereit war. Es brannte Kerzenlicht. In drei offenen Kaminen loderte unten Feuer. Leere Tische und Stühle warteten auf jeden, der kommen würde, und oben gab es leere Betten mit aufgeschlagenen Decken. Es gab einen blinden Gastwirt und seine sehende Frau, welche die Küche besorgte, und ihre beiden jungen Töchter, die als Serviererinnen und Zimmermädchen tätig waren. Diese Familie wußte, daß Dresden zerstört worden war. Die mit Augen hatten es an allen Ecken und Enden brennen sehen und begriffen, daß sie jetzt am Rande einer Todeswüste lebten. Trotzdem hatten sie den Betrieb geöffnet, die Gläser poliert, die Uhren aufgezogen, und die Feuerstellen geschürt und warteten und warteten, um zu sehen, wer kommen würde. Es kam kein großer Zustrom von Flüchtlingen aus Dresden. Die Uhren tickten weiter, die Feuer knisterten, die durchsichtigen Kerzen tropften. Und dann klopfte es an die Tür, und herein kamen vier Wachsoldaten und hundert amerikanische Kriegsgefangene. 188
Der Gastwirt fragte die Wachen, ob sie aus der Stadt gekommen seien. »Ja.« »Kommen noch mehr Leute?« Und die Wachen erwiderten, auf dem schwierigen Weg, den sie eingeschlagen hatten, hätten sie keine andere lebende Menschenseele gesehen. Der blinde Gastwirt sagte, die Amerikaner könnten diese Nacht in seinem Stall schlafen, und er brachte ihnen Suppe, Ersatzkaffee und ein kleines Bier. Dann kam er heraus in den Stall, um zu hören, was sie sprachen, als sie sich ins Stroh betteten. »Gute Nacht, Amerikaner«, sagte er auf deutsch. »Schlaft gut.«
9 Hier nun, wie Billy Pilgrim seine Frau Valencia verlor. Er lag besinnungslos im Krankenhaus von Vermont, nachdem das Flugzeug am Sugarbushberg abgestürzt war, und Valencia, die von dem Unglück erfahren hatte, fuhr von Ilium in dem Familiencadillac El Dorado Coupe de Ville zum Krankenhaus. Valencia war wie von Sinnen, denn man hatte ihr offen gesagt, daß Billy vielleicht sterben müsse oder, wenn er am Leben blieb, möglicherweise dahinvegetieren würde. Valencia betete Billy an. Sie weinte und jammerte beim Fahren so sehr, daß sie die richtige Abzweigung von der Autostraße übersah. Sie betätigte ihre Servobremsen, und ein Mercedes krachte von hinten in sie hinein. Niemand wurde verletzt, Gott sei Dank, denn beide Fahrer benutzten Sitzgurte. Gott sei Dank, Gott sei Dank! Der Mercedes büßte nur einen Scheinwerfer ein. Aber das hintere Ende des Cadillacs glich dem nassen Traum eines Karosserie- und Kotflügelherstellers. Der Kofferraum und die Kotflügel hatten etwas abbekommen. Der aufgerissene Kofferraum sah aus wie der Mund eines Dorftrottels, der erklärte, daß er nichts über nichts wisse. Die Kotflügel waren verzogen. Die Stoßstange stand reichlich schräg nach links. »Wählt Reagan zum Präsidenten!« besagte ein Aufklebezettel auf der Stoßstange. Das Rückfenster war von Sprüngen geädert. Die Auspuff klappen lagen auf dem Pflaster. Der Fahrer des Mercedes stieg aus und ging zu Valencia, um zu sehen, ob sie in Ordnung war. Sie plapperte hysterisch etwas von Billy und dem Flug190
zeugabsturz, und dann schaltete sie den Gang ihres Wagens ein und überfuhr die Mittellinie, wobei sie ihre Auspuff klappen zurückließ. Als sie am Krankenhaus ankam, liefen die Leute an die Fenster, um zu sehen, woher der ganze Lärm kam. Der Cadillac, bei dem die beiden Auspuffklappen fehlten, hörte sich wie ein schwerer Bomber an, der mit einem Flügel und einem Stoßgebet zurückkam. Valencia stellte den Motor ab, brach aber dann über dem Steuerrad zusammen, während die Hupe dröhnte. Ein Arzt und eine Krankenschwester kamen herausgelaufen, um zu sehen, was los War. Die arme Valencia hatte, von dem Kohlenmonoxid betäubt, das Bewußtsein verloren. Sie war himmelblau angelaufen. Eine Stunde später war sie tot. So geht das. Billy wußte nichts davon. Er träumte weiter und reiste in der Zeit und so fort. Das Krankenhaus war so überfüllt, daß Billy kein Zimmer für sich allein bekommen konnte. Er teilte ein Zimmer mit einem Geschichtsprofessor aus Harvard namens Copeland Rumfoord. Rumfoord konnte Billy nicht sehen, denn dieser war von weißen Leinwandschirmen und Gummirädern umgeben. Aber Rumfoord konnte Billy von Zeit zu Zeit mit sich selber reden hören. Rumfoords linkes Bein war in einem Streckverband. Er hatte es sich beim Skilaufen gebrochen. Er war siebzig Jahre alt, hatte aber den Körper und den Geist eines nur halb so alten Mannes. Er war auf der Hochzeitsreise mit seiner fünften Frau gewesen, als er sich das Bein brach. Sie hieß Lily. Lily war dreiundzwanzig. Gerade um diese Zeit, als die arme Valencia für tot erklärt wurde, kam Lily mit dem Arm voll Büchern 191
in Billys und Rumfoords Zimmer. Rumfoord hatte sie nach Boston geschickt,, damit sie sie holte. Er arbeitete an einer einbändigen Geschichte der amerikanischen Heeresluftwaffe im zweiten Weltkrieg. Die Bücher behandelten Bombenangriffe und Luftschlachten, die sich abgespielt hatten, bevor Lily auch nur geboren war. »Geht ihr Jungens ohne mich weiter«, sagte Billy Pilgrim im Delirium, als die hübsche Lily hereinkam. Sie war ein Go-go-Girl gewesen, als Rumfoord sie sah und beschloß, sie zu seiner Frau zu machen. Sie war von der Hochschule vorzeitig abgegangen. Ihr Intelligenzquotient lag bei 103. »Er erschreckt mich«, flüsterte sie ihrem Mann über Billy Pilgrim zu. »Er langweilt mich zum Verzweifeln!« antwortete Rumfoord brummig. »Er tut im Schlaf nichts anderes als aufstecken, sich ergeben, sich entschuldigen und bitten, daß man ihn in Frieden läßt.« Rumfoord war ein Generalmajor a.D. der Luftwaffenreserve, der offizielle Luftwaffenhistoriker, ein ordentlicher Professor, der Verfasser von sechsundzwanzig Büchern, ein Multimillionär seit seiner Geburt und einer der großen Regattasegler aller Zeiten. Sein populärstes Buch handelte vom Sex und von sportlicher Ertüchtigung für Männer über fünfundsechzig. Jetzt zitierte er Präsident Theodore Roosevelt, dem er in vieler Beziehung ähnelte: »Ich könnte einen besseren Mann aus einer Banane schnitzen.« Eines der Dinge, die Frau Lily auf Rumfoords Bitte hin in Boston besorgen sollte, war ein Xeroxabzug der von Präsident Harry S. Truman an die Welt abgegebenen Erklärung, wonach eine Atombombe auf Hi192
roschima abgeworfen worden war. Rumfoord fragte sie nun, ob sie sie gelesen habe. »Nein.« Sie konnte nicht sehr gut lesen, was einer der Gründe war, warum sie die Hochschule verlassen hatte. Rumfoord forderte sie auf, sich hinzusetzen und das Truman-Schriftstück jetzt zu lesen. Er wußte nicht, daß sie sich mit dem Lesen schwer tat. Er wußte sehr wenig von ihr, außer daß sie einen weiteren öffentlichen Hinweis dafür lieferte, daß er ein Übermensch war. Also setzte sich Lily und gab vor, die TrumanErklärung zu lesen, die lautete: Vor sechzehn Stunden warf ein amerikanisches Flugzeug eine Bombe aufHiroschima ab, einen wichtigen japanischen Armeestützpunkt. Diese Bombe hatte eine größere Energie als 20 000 Tonnen TNT. Ihre Explosionskraft war mehr als zweitausendmal stärker als die britische »Grand Slam«, die größte bisher in der Kriegführung angewandte Bombe. Die Japaner begannen den Krieg aus der Luft in Pearl Harbor. Es ist ihnen vielfältig heimgezahlt worden. Und es ist noch nicht das Ende. Mit dieser Bombe haben wir unsere bewaffneten Streitkräfte um eine neue und umwälzende Zerstörungsmacht bereichert. In ihrer gegenwärtigen Form werden diese Bomben jetzt hergestellt und noch viel gewaltigere Formen entwickelt. Es ist eine Atombombe. Es ist eine Nutzbarmachung der Fundamentalkraft des Universums. Die Kraft, aus der die Sonne ihre Energie bezieht, wurde gegen diejenigen Kräfte eingesetzt, die den Krieg in den Fernen Osten brachten. Vor 1939 glaubten die Wissenschaftler fest daran, daß es theoretisch möglich sei, atomare Energie freizu193
setzen. Aber niemand kannte eine praktische Methode, dies auszuführen. Im Jahre 1942 jedoch wußten wir, daß die Deutschen fieberhaft bemüht waren, einen Weg zu finden, um durch Atomenergie all die anderen Kriegsmaschinen zu verstärken, mit denen sie die Welt zu versklaven hofften. Aber es gelang ihnen nicht. Wir könnten der Vorsehung dankbar sein, daß die Deutschen die V-1- und V-2-Raketen erst spät und in beschränktem Ausmaß bekamen, und sogar noch dankbarer, daß sie die Atombombe überhaupt nicht bekamen. Die Schlacht in den Laboratorien barg schicksalsschwere Risiken für uns, ganz wie die Schlachten in der Luft, zu Lande und zur See, und wir haben jetzt die Schlacht der Laboratorien gewonnen, so wie wir die anderen Schlachten gewonnen haben. Wir sind nun gerüstet, noch schneller und vollständiger jede Produktionsanlage, welche die Japaner über der Erde in irgendeiner Stadt haben, auszulöschen, sagte Harry Truman. Wir werden ihre Docks, ihre Fabriken und ihre Nachschublinien vernichten. Man darf sich keiner Täuschung hingeben: Wir werden Japans Macht, Krieg zu führen, vollständig vernichten. Und so fort. Eines der Bücher, das Lily Rumfoord mitgebracht hatte, war Der Untergang Dresdens von einem Engländer namens David Irving. Es war eine amerikanische Ausgabe, 1964 bei Holt, Rinehart und Winston erschienen. Was Rumfoord davon haben wollte, waren Teile des Vorworts von seinen Freunden Ira C. Eaker, Generalleutnant a. D. der amerikanischen Luftwaffe, und dem britischen Luftmarschall Sir Robert Saundby, Ritter des Bathordens, Ritter des 194
Ordens vom Britischen Empire, Militärkreuzinhaber, Fliegerkreuz- und Luftwaffenkreuzträger. Mir fällt es schwer, Engländer und Amerikaner zu verstehen, die wegen feindlicher Zivilisten weinen, die getötet wurden, aber keine Träne für unsere tapferen, im Kampf mit einem grausamen Feind umgekommenen Mannschaften vergossen haben, schrieb sein Freund General Eaker unter anderem. Ich glaube es wäre gut für Mr. Irving gewesen, sich zu erinnern, als er uns das schreckliche Bild der in Dresden ums Leben gekommenen Zivilisten vor Augen führte, daß um die gleiche Zeit V-1- und V-2-Raketen auf England fielen und unterschiedslos Männer, Frauen und Kinder der Zivilbevölkerung töteten, wozu sie erdacht waren und abgeschossen wurden. Es wäre vielleicht auch gut, daß man sich an Buchenwald und Coventry erinnerte. Bakers Vorwort endete mit folgenden Worten: Ich bedaure es zutiefst, daß britische und amerikanische Bomber 135 000 Menschen bei dem Angriff auf Dresden getötet haben, aber ich denke daran, werden letzten Krieg angefangen hat, und beklage sogar noch mehr den Verlust von mehr als 5 000 000 Menschenleben bei den Alliierten in dem notwendigen Bemühen, den Nazismus vollständig zu besiegen und restlos zu vernichten. So geht das. Luftmarschall Saundby sagte unter anderem: Daß der Bombenangriff auf Dresden eine große Tragödie war, kann niemand leugnen. Daß es wirklich eine militärische Notwendigkeit war, werden wenige, nachdem sie dieses Buch gelesen haben, glauben. Es war eines dieser schrecklichen Dinge, die manchmal in Kriegszeiten durch eine unglückliche Verknüpfung der Umstände geschehen. Diejenigen, die sie gutgeheißen haben, waren weder böse noch grausam, obwohl 195
es durchaus möglich ist, daß sie zu fern von den rauhen Wirklichkeiten des Krieges waren, um voll und ganz die entsetzliche Zerstörungskraft des Luftangriffs im Frühjahr 1945 zu verstehen. Die Verfechter der nuklearen Abrüstung scheinen zu glauben, daß der Krieg, wenn sie ihr Ziel erreichen könnten, erträglich und anständig werden würde. Sie würden gut daran tun, dieses Buch zu lesen und das Schicksal Dresdens sich vor Augen zu führen, wo 135 000 Menschen nach einem Luftangriff mit konventionellen Waffen starben. In der Nacht zum 10. März 1945 verursachte ein Luftangriff auf Tokio durch schwere amerikanische Bomber, die Brand- und hochexplosive Bomben abwarfen, den Tod von 83 793 Menschen. Die auf Hiroschima abgeworfene Atombombe tötete 71 379 Menschen. So geht das. »Wenn ihr jemals in Cody, Wyoming, seid«, sagte Billy Pilgrim hinter seinen weißleinenen Wandschirmen, »dann fragt nach dem Wilden Bob.« Lily Rumfoord schauderte und tat weiterhin so, als lese sie die Harry-Truman-Sache. Später an diesem Tag kam Billys Tochter Barbara herein. Man hatte sie ganz unter Drogen gesetzt, sie hatte denselben glasigen Blick, den der arme, alte Edgar Derby gerade vor seiner Erschießung in Dresden gehabt hatte. Die Ärzte hatten ihr Pillen gegeben, um sie in Gang zu halten, obwohl ihr Vater zusammengebrochen und ihre Mutter tot war. So geht das. Sie kam in Begleitung eines Arztes und einer Krankenschwester. Ihr Bruder Robert flog von seinem Schlachtfeld in Vietnam nach Hause. »Papi —«, sagte sie zaghaft. »Papi — ?« 196
Aber Billy war zehn Jahre entfernt, zurück im Jahre 1958. Er untersuchte die Augen eines jungen mongoloiden Idioten, um ihm die richtigen Augengläser zu verschreiben. Die Mutter des Idioten war dabei und fungierte als Dolmetscherin. »Wie viele Punkte siehst du?« fragte ihn Billy Pilgrim. Und dann verreiste Billy zeitlich zurück, als er sechzehn Jahre alt war und im Wartezimmer eines Arztes saß. Billy hatte einen infizierten Daumen. Nur noch ein anderer Patient wartete — ein uralter Mann. Der alte Mann wurde von Blähungen gequält. Er furzte fürchterlich und rülpste dann. »Verzeihen Sie«, sagte er zu Billy. Dann tat er es noch einmal. »O Gott«, sagte er, »ich wußte ja, daß es schlimm sein würde, alt zu werden.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wußte nicht, daß es so schlimm sein würde.« Billy Pilgrim öffnete die Augen im Krankenhaus von Vermont und wußte nicht, wo er sich befand. Sein Sohn Robert beobachtete ihn. Robert trug die Uniform der berühmten »Green Berets«. Roberts Haar war kurz — weizenblonde Borsten. Robert war sauber und ordentlich. Er war mit einem Purpurherz, einem silbernen Stern und einem Bronzestern mit zwei Spangen ausgezeichnet worden. Das war ein Junge, der in der Hochschule versagt hatte, der mit sechzehn Alkoholiker gewesen war, zu einer üblen Halbstarkenbande gehört hatte und festgenommen worden war, weil er über hundert Grabsteine auf einem katholischen Friedhof umgestürzt hatte. Jetzt war er ganz anständig geworden. Seine Körperhaltung war wundervoll, seine Schuhe waren 197
spiegelblank poliert, seine Hose tadellos gebügelt, und er war ein Menschenführer. »Paps — ?« Billy Pilgrim schloß wieder die Augen. Billy konnte an der Beisetzung seiner Frau nicht teilnehmen, denn er war noch zu krank. Er war jedoch bei Bewußtsein, als Valencia in Ilium in die Erde gesenkt wurde. Billy hatte nicht viel gesagt, seitdem er wieder zu sich gekommen war, hatte nicht sehr eingehend auf die Nachricht von Valencias Tod und auf Roberts Heimkehr aus dem Krieg und so weiter reagiert — daher glaubte man allgemein, daß er nur dahindämmere. Man sprach davon, daß man später eine Operation an ihm vornehmen wolle, die vielleicht die Blutzirkulation in seinem Gehirn fördern würde. Tatsächlich war Billys äußerliche Teilnahmslosigkeit nur eine Maske. Die Teilnahmslosigkeit verbarg einen Geist, der vibrierend sprühte und leuchtete. Er bereitete Briefe und Vorträge über die fliegenden Untertassen, die Bedeutungslosigkeit des Todes und das wahre Wesen der Zeit vor. Professor Rumfoord sagte schreckliche Dinge über Billy in dessen Hörweite, im Vertrauen darauf, daß Billy überhaupt nicht mehr bei Verstand sei. »Warum läßt man ihn nicht sterben?« fragte er Lily. »Ich weiß nicht«, erwiderte Lily. Rumfoord sprach einmal mit Lily über den Bombenangriff auf Dresden, und Billy hörte das alles. Rumfoord hatte ein Problem wegen Dresden. Seine einbändige Geschichte der Heeresluftwaffe im zweiten Weltkrieg sollte eine leicht lesbare Zusammenfassung 198
der Amtlichen Geschichte der Heeresluftwaffe im zweiten Weltkrieg in siebenundzwanzig Bänden sein. Der Haken war jedoch, daß in den siebenundzwanzig Bänden so gut wie nichts über den Luftangriff auf Dresden enthalten war, obschon er so ein durchschlagender Erfolg gewesen war. Das Ausmaß des Erfolges war viele Jahre nach dem Krieg geheimgehalten worden — geheim vor dem amerikanischen Volk. Es war natürlich kein Geheimnis für die Deutschen oder für die Russen, die Dresden nach dem Krieg besetzten und noch immer in Dresden sind. »Die Amerikaner haben endlich von Dresden gehört«, sagte Rumfoord dreiundzwanzig Jahre nach dem Angriff. »Eine Menge von ihnen weiß jetzt, wieviel schlimmer es war als Hiroshima. Daher muß ich etwas darüber in meinem Buch bringen. Vom offiziellen Standpunkt der Luftwaffe aus wird das alles neu sein.« »Warum wollte man es so lange geheimhalten?« fragte Lily. »Aus Angst, daß eine Menge blutende Herzen«, erklärte Rumfoord, »es vielleicht nicht für eine so wundervolle Sache halten würden, so etwas zu tun.« In dem Augenblick warf Billy Pilgrim vernünftig ein: »Ich war dort.« Es fiel Rumfoord nicht leicht, Billy ernst zu nehmen, da der Professor Billy bisher nur für eine abstoßende, nicht existierende Person angesehen hatte, die weit besser tot wäre. Jetzt aber, als Billy klar und sachlich sprach, wollten Rumfoords Ohren die Worte als eine Fremdsprache abtun, die zu erlernen sich nicht lohnte. »Was sagte er?« erkundigte sich Rumfoord. 199
Lily mußte als Dolmetscherin dienen. »Er sagte, er sei dort gewesen«, erklärte sie. »Er sei wo gewesen?« »Ich weiß nicht«, sagte Lily. »Wo waren Sie?« fragte sie Billy. »In Dresden«, sagte Billy. »Dresden«, sagte Lily zu Rumfoord. »Er spricht einfach Dinge, die wir sagen, nach«, meinte Rumfoord. »Ach«, sagte Lily. »Er hat jetzt eine Echolalie.« »Ach.« Echolalie ist eine Geisteskrankheit, die Leute sofort Dinge nachsprechen läßt, die gesunde Menschen ihrer Umgebung sagen. Aber Billy hatte sie nicht wirklich. Rumfoord bestand lediglich zu seiner eigenen Bequemlichkeit darauf, daß Billy daran litt. Rumfoord dachte in einer militärischen Art: daß ein störender Mensch, dessen Tod man aus praktischen Gründen sehr wünschte, an einer abstoßenden Krankheit litt. Rumfoord beharrte mehrere Stunden lang darauf, daß Billy Echolalie hatte — er sagte den Pflegerinnen und einem Arzt, daß Billy jetzt eine Echolalie habe. Einige Versuche wurden mit Billy angestellt. Ärzte und Pflegerinnen versuchten, Billy dahin zu bringen, etwas nachzuplappern, aber Billy wollte keinen Laut für sie von sich geben. »Er tut es jetzt nicht«, sagte Rumfoord ärgerlich. »Sobald Sie weggehen, wird er es wieder tun.« Niemand nahm Rumfoords Diagnose ernst. Der ganze Mitarbeiterstab hielt Rumfoord für einen ekelhaften, eingebildeten und grausamen alten Mann. Er versicherte ihnen oft, daß Leute, die schwach waren, 200
nichts Besseres verdienten, als zu sterben. Während das Krankenhauspersonal natürlich von dem Gedanken beseelt war, daß schwachen Menschen soviel wie möglich geholfen werde und daß niemand sterben sollte. Dort im Krankenhaus hatte Billy ein Abenteuer, das in Kriegszeiten unter Menschen ohne Machtbefugnis nichts Besonderes an sich hatte: Er versuchte, einem halsstarrig tauben und blinden Feind zu beweisen, daß er interessant anzuhören und anzusehen war. Er blieb stumm, bis abends die Lichter erloschen, und dann, wenn eine lange Zeit der Stille eingetreten war, in der es nichts nachzusprechen gab, sagte er zu Rumfoord: »Ich war in Dresden, als es bombardiert wurde. Ich war Kriegsgefangener.« Rumford seufzte ungeduldig. »Auf Ehrenwort«, sagte Billy. »Glauben Sie mir?« »Müssen wir jetzt darüber reden?« sagte Rumfoord. Er hatte es gehört. Glaubte es aber nicht. »Wir brauchen nie Darüber zu reden«, versetzte Billy. »Ich will nur, daß Sie wissen: ich war dort.« An diesem Abend wurde nicht mehr über Dresden gesprochen, und Billy schloß die Augen, reiste in der Zeit zu einem Mainachmittag, zwei Tage nach Ende des zweiten Weltkrieges in Europa. Billy und fünf andere amerikanische Gefangene fuhren in einem sargförmigen grünen Wagen, den sie verlassen, völlig intakt mit zwei Pferden in einer Vorstadt von Dresden gefunden hatten. Jetzt wurden sie von den trapp, trapp trabenden Pferden durch schmale Gassen gezogen, die durch die mondartigen Trümmer freigelegt worden waren. Sie fuhren zum Schlachthof zurück, um sich Kriegsandenken zu holen. Billy wurde an die 201
Geräusche von Milchkarrenpferden früh am Morgen in Ilium, als er noch ein Junge war, erinnert. Billy saß hinten in dem rüttelnden Sarg. Sein Kopf war zurückgelegt, und seine Nasenflügel blähten sich. Er war glücklich. Ihm war angenehm warm. In dem Wagen gab es Essen und Wein, eine Kamera, eine Briefmarkensammlung, eine ausgestopfte Eule und eine Kaminsimsuhr, die durch den Wechsel des barometrischen Drucks in Gang gesetzt wurde. Die Amerikaner waren in die leeren Vorstadthäuser gegangen, wo sie eingesperrt gewesen waren, und hatten diese und viele andere Dinge mitgenommen. Die Besitzer waren geflohen, als sie hörten, daß sich die Russen mordend, raubend, vergewaltigend und brandstiftend näherten. Aber die Russen waren, sogar zwei Tage nach dem Krieg, noch nicht angekommen. Es war friedvoll in den Trümmern. Billy sah nur einen einzigen anderen Menschen auf dem Weg zum Schlachthof. Es war ein alter Mann, der einen Kinderwagen schob. In dem Kinderwagen waren Töpfe und Tassen, ein Schirmgestell und andere Dinge, die er gefunden hatte. Billy blieb im Wagen sitzen, als sie vor dem Schlachthof vorfuhren, und sonnte sich. Die anderen gingen, um Andenken zu suchen. Später im Leben rieten die Tralfamadorianer Billy, er solle sich auf die glücklichen Augenblicke seines Lebens konzentrieren und die unglücklichen unbeachtet lassen — er sollte nur auf hübsche Dinge schauen, während es der Ewigkeit mißlang, zu vergehen. Wäre eine solche Wahl für Billy möglich gewesen, dann hätte er vielleicht sein sonnendurchtränktes Nickerchen hinten im Wagen als seinen glücklichsten Augenblick gewählt. 202
Billy Pilgrim war bewaffnet, als er sein Schläfchen machte. Es war das erste Mal, daß er seit seiner Grundausbildung bewaffnet war. Seine Kameraden hatten darauf bestanden, daß auch er eine Waffe trug, denn was für Arten von Mordgesellen mochten in den Erdlöchern der Mondoberfläche ihr Unwesen treiben — wilde Hunde, von Leichen fett gewordene Rattenscharen, entflohene Geisteskranke und andere, die das Leben bedrohten, Soldaten, die nie aufhören würden zu töten, bis sie selbst getötet wurden. Billy hatte eine riesige Kavalleriepistole in seinem Gürtel. Sie war ein Überbleibsel vom ersten Weltkrieg. Sie hatte einen Ring in ihrem Kolben und war mit Kugeln von der Größe von Rotkehlcheneiern geladen. Billy hatte sie im Nachttisch eines Hauses gefunden. Das war eines von den Dingen gegen Kriegsende: Einfach jedermann, der eine Waffe haben wollte, konnte eine haben. Sie lagen überall herum. Billy hatte auch einen Dolch. Es war ein Luftwaffenehrendolch. Auf seinen Griff war ein schreiender Adler geprägt. Der Adler trug ein Hakenkreuz und blickte nach unten. Billy fand den Dolch m einem Telegrafenmast steckend. Er hatte ihn aus dem Mast herausgezogen, als der Wagen vorbei-, fuhr. Jetzt wurde sein Schlummer oberflächlicher, als er einen Mann und eine Frau in mitleidigem Tonfall deutsch sprechen hörte. Die Sprechenden drückten jemandem gefühlvoll ihre Teilnahme aus. Bevor Billy die Augen aufschlug, schien es ihm, als hätten es die Töne sein können, die von den Freunden Jesu angeschlagen wurden, als sie seinen zerstörten Leib vom Kreuz abnahmen. So geht das. Billy schlug die Augen auf. Ein Mann und eine Frau 203
mittleren Alters summten gefühlvoll den Pferden etwas vor. Sie hatten etwas bemerkt, was den Amerikanern entgangen war — nämlich, daß die Mäuler der Pferde bluteten, wund durch die Zäume waren, daß die Hufe der Pferde geborsten waren, so daß jeder Schritt eine Qual bedeutete, daß die Pferde wahnsinnig waren vor Durst. Die Amerikaner hatten ihr Transportmittel so behandelt, als sei es nicht empfindlicher als ein Sechszylinder-Chevrolet. Die beiden Pferdebemitleider gingen den Wagen entlang nach hinten, wo sie in herablassendem Vorwürf Billy in Augenschein nehmen konnten — Billy Pilgrim, der so groß, so schwach und so lächerlich in seiner himmelblauen Toga und den silbernen Schuhen war. Sie hatten keine Angst vor ihm. Sie hatten vor nichts Angst. Sie waren Ärzte, beide Geburtshelfer. Sie hatten geholfen, Kinder zur Welt zu bringen, bis die Kliniken verbrannt waren. Nun nahmen sie unweit von der Stelle, wo einmal ihre Wohnung gewesen war, ihre Mahlzeit im Freien ein. Die Frau war von weicher Schönheit, von der langen Kartoffelesserei durchsichtig. Der Mann trug einen Straßenanzug mit Krawatte und allem Drum und Dran. Die Kartoffeln hatten ihn hager gemacht. Er war so groß wie Billy, trug trifokale Augengläser mit Stahlrändern. Dieses so sehr mit Babys beschäftigte Paar hatte sich nie fortgepflanzt, obwohl es das auch gekonnt hätte. Das war eine interessante Stellungnahme zu dem ganzen Fortpflanzungsgedanken. Sie konnten sich in neun Sprachen unterhalten. Bei Billy Pilgrim versuchten sie es zuerst mit Polnisch, da er so clownhaft gekleidet war und weil die unglücklichen Polen die unfreiwilligen Clowns des zweiten Weltkriegs waren. 204
Billy fragte sie auf englisch, was sie wollten, und sie schalten ihn sofort auf englisch aus wegen des Zustands der Pferde. Billy mußte vom Wagen heruntersteigen und sich die Pferde ansehen. Als er den traurigen Zustand seines Beförderungsmittels sah, brach er in Tränen aus. Er hatte über nichts anderes im Krieg geweint. Später, als ein Optiker in mittleren Jahren, pflegte er manchmal still und heimlich zu weinen, gab aber nie laute Hu!-Hu!-Geräusche von sich. Darum ist das Motto dieses Buches der Vierzeiler aus dem bekannten Weihnachtslied. Billy weinte sehr selten, obwohl er oft Dinge sah, bei denen es sich gelohnt hätte, über sie zu weinen. Und wenigstens in dieser Hinsicht ähnelte er dem Christuskind des Liedes: Das Rind muht, Das Kind erwacht, Aber der kleine Herr Jesus Kein Geschrei macht. Billy reiste in der Zeit zurück zu dem Krankenhaus in Vermont. Das Frühstück war verzehrt und weggeräumt worden, und Professor Rumfoord begann sich zögernd für Billy als Menschen zu interessieren. Rumfoord fragte Billy schroff aus und überzeugte sich, daß Billy wirklich in Dresden gewesen war. Er wollte von Billy wissen, wie es gewesen war, und Billy erzählte ihm von den Pferden und dem Paar, das auf dem Mond seine Mahlzeit einnahm. Die Geschichte endete folgendermaßen: Billy und das Arztehepaar spannten die Pferde aus, aber die Pferde wollten nirgendwo hingehen. Ihre Füße schmerzten sie zu 205
sehr. Und dann kamen Russen auf Motorrädern und verhafteten jedermann außer den Pferden. Zwei Tage später wurde Billy den Amerikanern übergeben, die ihn auf einem sehr langsamen Frachter, der Lucretia A. Mott hieß, in die Heimat verschifften. Lucretia A. Mott war eine berühmte amerikanische Suffragette. Sie war tot. So geht das. »Es mußte geschehen«, sagte Rumfoord zu Billy und sprach von der Zerstörung Dresdens. »Ich weiß«, sagte Billy. »Das ist der Krieg!« »Ich weiß. Ich beschwere mich nicht.« »Es muß die Hölle für die Menschen unten gewesen sein.« »Das war es«, stimmte Billy Pilgrim bei. »Ein Jammer für die Menschen, die es tun mußten.« »Sie tun mir auch leid.« »Ihre Gefühle müssen, für Sie dort unten auf dem Boden, recht gemischt gewesen sein.« »War ganz in Ordnung«, meinte Billy. »Alles ist in Ordnung, und jeder muß genau das tun, was er tut. Das habe ich auf Tralfamadore gelernt.« Billy Pilgrims Tochter nahm ihn später an diesem Tag mit nach Hause, brachte ihn in seiner Wohnung zu Bett und schaltete die »Magischen Finger« an. Eine ausgebildete Pflegerin war da. Billy sollte nicht arbeiten oder sogar das Haus nicht einmal für eine Weile verlassen. Er war unter ständiger Beobachtung. Aber Billy stahl sich hinaus, als die Krankenpflegerin nicht aufpaßte, und fuhr nach New York, wo er im Fernsehen aufzutreten hoffte. Er wollte der Welt von den Lehren von Tralfamadore berichten. 206
Billy Pilgrim stieg im Royalton-Hotel in der 44. Straße in New York ab. Er bekam dort ein Zimmer, das einmal George Jean Nathan, der Kritiker und Schriftleiter, bewohnt hatte. Nathan war nach irdischer Auffassung von Zeit schon im Jahre 1958 gestorben. Der tralfamadorianischen Auffassung entsprechend, war Nathan allerdings noch irgendwo am Leben und würde das immer sein. Das Zimmer war klein und einfach, außer daß es im obersten Stockwerk lag und Glastüren hatte, die auf eine Terrasse, so groß wie das Zimmer, führten. Unter der Brüstung der Terrasse befand sich der Luftraum über der 44. Straße. Billy beugte sich jetzt über diese Brüstung und blickte auf alle die sich hin und her bewegenden Figürchen hinunter. Sie waren ruckweise sich bewegende kleine Scheren. Sie waren ein komischer, wimmelnder Haufen. Es war eine frostige Nacht, und Billy kam nach einer Weile herein und schloß die Glastüren. Das Schließen dieser Türen erinnerte ihn an seine Flitterwochen. Solche Glastüren hatte es in dem Liebesnest in Cape Ann während seiner Flitterwochen gegeben, sie waren noch dort und würden immer dort sein. Billy schaltete sein Fernsehgerät ein, drehte den Schaltknopf rund herum. Er suchte ein Programm, in dem er vielleicht hätte erscheinen können. Aber es war zu früh am Abend für Programme, in denen Leute mit eigenwilligen Ansichten sich äußern konnten. Es war erst kurz nach acht Uhr, so daß alles, was gezeigt wurde, sich um dummes Zeug oder Mord drehte. So geht das. Billy verließ sein Zimmer, fuhr mit dem langsamen Lift nach unten, ging hinüber zum Times Square und schaute in das Schaufenster eines geschmacklos 207
aufgemachten Buchladens. In der Auslage gab es Hunderte von Büchern über Ficken, Homosexualität und Mord sowie einen Stadtplan für New York City und ein Modell der Freiheitsstatue mit einem Thermometer daran. Auch lagen in dem Fenster, voller Ruß und Fliegendreck, vier Paperbackromane von Billys Freund Kilgore Trout. Die Tagesnachrichten wurden derweilen in Lichterstreifen auf die Front eines Gebäudes im Rücken von Billy geschrieben. Das Fenster spiegelte die Nachrichten wider. Es ging um Machtkampf, Sport, Zorn und Tod. So geht das. Billy betrat den Buchladen. Ein Anschlag drinnen besagte, daß nur Erwachsene im hinteren Teil Zutritt hatten. Hinten gab es Guckkästen, die Filme von unbekleideten jungen Frauen und Männern zeigten. Eine Minute lang in eine Maschine hineinzuschauen kostete einen Vierteldollar. Es gab dort hinten auch noch Fotografien von nackten jungen Leuten zu kaufen. Die konnte man mit nach Hause nehmen. Die Fotografien waren sehr viel tralfamadorianischer als die Filme, denn man konnte sie betrachten, so oft man wollte, und sie veränderten sich nicht. Zwanzig Jahre weiter, und diese Mädchen würden noch immer jung sein, würden noch immer lächeln oder strahlen, oder einfach dumm mit weitgeöffneten Beinen dreinschauen. Manche von ihnen aßen Lutschbonbons oder Bananen. Sie würden diese noch immer essen. Und die großen Schwänze der jungen Männer würden noch immer halb steif sein und ihre Muskeln sich wölben wie Kanonenkugeln. Aber der hintere Teil des Ladens hatte es Billy Pilgrim nicht angetan. Viel mehr begeisterten ihn die Kilgore-Trout-Romane im vorderen Teil. Die Titel 208
waren alle neu für ihn — oder er hielt sie wenigstens dafür. Jetzt öffnete er einen davon. Es schien durchaus in Ordnung, daß er das tat. Jeder andere im Laden befummelte die Dinge. Der Titel des Buches lautete Die große Wandtafel. Er las ein paar Abschnitte darin und merkte dann, daß er es bereits vor Jahren in dem Veteranenkrankenhaus gelesen hatte. Es handelte von einem irdischen Mann und einer Frau, die von außenweltlichen Wesen verschleppt wurden. Sie wurden in einem Zoo auf einem Plakat namens Zircon-212 zur Schau gestellt. Diese erfundenen Personen in dem Roman hatten eine große Wandtafel, die eine ganze Wand ihrer Behausung einnahm und die wahrscheinlich Börsenkurse und vorteilhafte Warenpreise anzeigte, und einen automatischen Nachrichtenempfänger sowie ein Telefon, das vermutlich mit einer Maklerfirma auf der Erde verbunden war. Die Geschöpfe auf Zircon-212 machten ihren Gefangenen vor, daß sie eine Million Dollar für sie auf der Erde investiert hatten und daß es Sache der Gefangenen sei, sie so zu verwalten, daß sie fabelhaft reich sein würden, wenn man sie zur Erde zurückbrächte. Das Telefon, das große Wandbrett und der Telegraf waren natürlich alles Vortäuschungen. Sie waren nichts wie Reizmittel, damit die Erdbewohner eine lebhafte Vorstellung für die Schaulustigen im Zoo gaben — damit sie auf und ab sprangen und jubelten oder sich ins Fäustchen lachten oder schmollten oder sich die Haare rauften, furchtbare Angst hatten oder sich so zufrieden fühlten wie Kinder in den Armen ihrer Mutter. Die Erdenbürger machten sehr gute Geschäfte auf 209
dem Papier. Das gehörte natürlich mit zur Inszenierung. Und auch die Religion hatte damit zu tun. Der automatische Telegraf erinnerte sie daran, daß der Präsident der Vereinigten Staaten eine Woche zur Nationalen Gebetswoche erklärt hatte und jedermann beten sollte. Die Erdenbürger hatten vordem eine sehr schlimme Woche auf der Börse gehabt. Sie hatten ein kleines Vermögen in Olivenölgeschäften verloren. Also kurbelten sie das Beten an. Es funktionierte. Olivenöl stieg im Kurs. Ein anderes Buch von Kilgore Trout dort in der Auslage handelt von einem Mann, der eine Zeitmaschine baute, so daß er sich zurückversetzen und Jesus sehen konnte. Sie funktionierte, und er sah Jesus, als dieser erst zwölf Jahre alt war. Jesus lernte gerade das Zimmermannshandwerk von seinem Vater. Zwei römische Soldaten kamen in die Werkstatt mit einer mechanischen, auf einer Papyrusrolle angefertigten Zeichnung von einem Gerät, das sie bis Sonnenaufgang am nächsten Morgen gebaut haben wollten. Es war ein Kreuz, das zur Hinrichtung eines Aufrühers benutzt werden sollte. Jesus und sein Vater bauten es. Sie waren froh, daß sie die Arbeit bekamen. Und der Aufrührer wurde daran hingerichtet. So geht das. Der Buchladen wurde von scheinbaren Fünflingen geleitet, von fünf kleinen, kahlköpfigen Männern, die unangezündete, tropfnasse Zigarren kauten. Sie lächelten nie, und jeder von ihnen hatte einen Hocker zum Sitzen. Ihr Geld verdienten sie, indem sie ein Papier-und-Zelluloid-Freudenhaus betrieben. Sie selbst hatten keinen Ständer. Auch Billy Pilgrim nicht. 210
Aber jeder andere hatte einen. Es war ein lächerlicher Laden, alles drehte sich nur um Liebe und kleine Kinder. Die Angestellten forderten gelegentlich jemanden auf, entweder zu kaufen oder hinauszugehen, nicht nur einfach zu gucken und zu gucken und alles zu betasten und anzufassen. Manche Leute guckten einander an — statt die Waren. Ein Angestellter kam zu Billy und sagte ihm, die guten Sachen seien hinten, die Bücher, in denen Billy las, seien nur Schaufensterdekorationen. »Das wollen Sie doch nicht, um Himmels willen«, sagte er Billy. »Was Sie wollen, ist hinten.« Also ging Billy ein wenig weiter nach hinten, aber nicht bis zu dem Teil »Nur für Erwachsene«. Er ging aus zerstreuter Höflichkeit, wobei er ein Trout-Buch mitnahm — und zwar das über Jesus und die Zeitmaschine. Der Zeitreisende in dem Buch ging bis zu den biblischen Zeiten zurück, um besonders eines herauszufinden: ob Jesus wirklich am Kreuz gestorben war oder nicht — oder ob er noch lebendig abgenommen worden war und in Wirklichkeit weitergelebt hatte. Der Held hatte ein Stethoskop bei sich. Billy übersprang die Seiten bis zum Ende des Buches, wo der Held sich unter die Leute mischte, die Jesus vom Kreuz abnahmen. Der Zeitreisende war als erster die Leiter hochgestiegen, in zeitgemäße Gewandung gekleidet, und er beugte sich dicht über Jesus, so daß die Leute ihn nicht das Stethoskop anlegen sahen, und er lauschte. Es war kein Laut innerhalb der ausgemergelten Brusthöhle zu hören, Gottes Sohn war mausetot. So geht das. Der Zeitreisende, der Lance Corwin hieß, maß auch 211
die Körpergröße von Jesus, stellte aber nicht sein Gewicht fest. Jesus war etwa 1,85 Meter groß. Ein anderer Angestellter kam zu Billy und fragte ihn, ob er das Buch kaufen wolle oder nicht, und Billy sagte, er wolle es, bitte, kaufen. Er stand mit dem Rücken zu einem Gestell mit Taschenbüchern über oral-genitalen Geschlechtsverkehr vom alten Ägypten bis zur Gegenwart und so weiter, und der Verkäufer nahm an, er lese eines davon. Daher war er verblüfft, als er sah, worum es sich bei Billys Buch handelte. Er sagte: »Großer Gott, wo haben Sie das denn gefunden?« und so weiter, und er mußte den anderen Angestellten von dem Pervertierten erzählen, der die Schaufensterdekoration kaufen wollte. Die anderen Angestellten wußten bereits Bescheid über Billy. Auch sie hatten ihn beobachtet. Die Registrierkasse, wo Billy auf sein Wechselgeld wartete, befand sich in der Nähe eines Gestells mit Stapeln alter Frauenzeitschriften. Billy blickte auf eine aus dem Augenwinkel und sah auf der Titelseite die Frage: Was ist wirklich aus Montana Wildhack geworden? Also las Billy das. Er wußte natürlich, wo Montana Wildhack wirklich war. Sie war zurück auf Tralfamadore, kümmerte sich um das Baby, aber die Zeitschrift mit dem Titel Mitternachtskätzchen verhieß, sie liege, in einen Zementmantel eingehüllt, sechzig Meter tief in den salzigen Gewässern der Bucht von San Pedro. So geht das. Billy wollte lachen. Die Zeitschrift, die für einsame Männer, die nach einem Kitzel gierten, bestimmt war, brachte die Geschichte so, daß sie die Bilder ver212
öffentlichen konnte, die dem gewagten, von Montana als Teenager gedrehten Film, entnommen waren. Billy sah sich diese nicht genau an. Es waren grobkörnige Bilder, mit Ruß und Kreide. Es hätte irgendwer sein können. Billy wurde wieder in den rückwärtigen Teil des Ladens verwiesen, und er leistete diesmal der Aufforderung Folge. Ein sexübersättigter Seemann ging von einem Filmguckkasten weg, während der Film noch lief. Billy schaute hinein, und da war Montana Wildhack allein auf einem Bett und schälte eine Banane. Das Bild schaltete ab. Billy wollte nicht sehen, was als nächstes passierte, und ein Verkäufer drängte ihn, herüberzukommen und sich wirklich heiße Ware anzusehen, die sie für Kenner unter dem Ladentisch aufbewahrten. Billy war ein klein wenig neugierig, was an einer solchen Stelle verborgen gehalten wurde. Der Angestellte warf ihm einen vielsagenden Blick zu und zeigte es ihm. Es war eine Fotografie von einer Frau und einem Shetlandpony. Sie versuchten den Beischlaf zwischen zwei dorischen Säulen vor einem Hintergrund von Samtvorhängen, die mit Zierbällchen gesäumt waren. An diesem Abend trat Billy nicht im New-Yorker Fernsehen auf, aber er wirkte bei einer Vortragssendung im Rundfunk mit. Es gab eine Rundfunkstation gleich neben Billys Hotel. Er sah ihre flammenden Leuchtbuchstaben über dem Eingang des Rundfunkgebäudes und ging daher hinein. Er fuhr in einem automatischen Auf zug zu dem Studio hinauf, und dort oben warteten noch andere Leute darauf, vorgelassen zu werden. Es handelte sich um Literaturkritiker, und sie hielten Billy auch für einen. Sie wollten darüber 213
diskutieren, ob es mit dem Roman zu Ende war oder nicht. So geht das. Billy setzte sich mit den anderen um einen vergoldeten Eichenholztisch, mit einem nur für ihn bestimmten Mikrophon. Der Produktionsleiter fragte ihn nach seinem Namen und von welcher Zeitung er war. Billy sagte, er sei von der Ilium Gazette. Er war nervös und glücklich. »Wenn du jemals in Cody, Wyoming, bist«, sagte er sich, »frag einfach nach dem Wilden Bob.« Billy hob schon beim ersten Teil des Programms die Hand, aber er wurde nicht sofort aufgerufen. Andere gingen vor ihm hinein. Einer von ihnen sagte, es sei jetzt weiß Gott an der Zeit, den Roman zu begraben— jetzt, wo eine Frau aus Virginia hundert Jahre nach Appomattox Onkel Toms Hütte geschrieben hatte. Ein anderer war der Ansicht, daß die Leute nicht mehr gut genug lesen könnten, um einen gedruckten Text in ihren Schädeln in aufregende Situationen umzuwandeln, so daß die Autoren sich wie Norman Mauer verhalten mußten — nämlich öffentlich das auszuführen, was genau er geschrieben hatte. Der Produktionsleiter forderte die Leute auf, zu sagen, was ihrer Meinung nach die Funktion des Romans in der modernen Gesellschaft war, und ein Kritiker sagte: »Um Farbflecke in einem völlig weißgetünchten Zimmer anzubringen.« Ein anderer meinte: »Um Düsenflugzeuge künstlerisch zu beschreiben.« Und wieder ein anderer sagte: »Um den Frauen von jüngeren Geschäftsführern beizubringen, was sie als nächstes kaufen und wie sie sich in einem französischen Restaurant benehmen sollen.« Und dann durfte Billy sprechen. Er legte mit seiner schön ausgebildeten Stimme los, erzählte von den 214
fliegenden Untertassen, von Montana Wildhack und so weiter. Er wurde sanft während einer Werbesendung aus dem Studio gewiesen. Er ging in sein Hotelzimmer zurück, steckte einen Vierteldollar in die »MagischeFinger«-Maschine, die mit seinem Bett verbunden war, und legte sich schlafen. Er reiste zeitlich zurück nach Tralfamadore. »Wieder mit der Zeit gereist?« fragte Montana. Es war künstlicher Abend im Rundbau. Sie reichte ihrem Kind die Brust. »Hm?« meinte Billy. »Du bist wieder mit der Zeit gereist. Ich seh das immer gleich.« »Um.« »Wohin bist du diesmal gegangen? Es war nicht der Krieg. Auch das seh ich.« »New York.« »Der ›Big Apple‹.« »Hm?« »So pflegt man New York zu bezeichnen.« »Ach.« »Hast du dir Theaterstücke oder Filme angesehen?« »Nein — ich war in der Gegend vom Times Square, habe ein Buch von Kilgore Trout gekauft.« »Das ist ja schön für dich.« Sie teilte seine Begeisterung für Kilgore Trout nicht. Billy erwähnte beiläufig, daß er ein Stück von einem gewagten Film gesehen habe, in dem sie gespielt hatte. Ihre Antwort war nicht weniger beiläufig. Sie war tralfamadorianisch und frei von jedem Schuldgefühl. »Ja«, sagte sie, »und ich habe von dir gehört, was für ein Hanswurst du im Krieg warst. Auch habe ich was über den Hochschullehrer gehört, der er215
schossen wurde. Er drehte einen gewagten Film mit einem Exekutionskommando.« Sie legte das Baby von einer Brust an die andere, denn der Augenblick war so gestaltet, daß sie das tun mußte. Stille trat ein. »Sie spielen wieder mit den Uhren«, sagte Montana, stand auf und schickte sich an, das Baby in sein Kinderbett zu legen. Sie meinte, daß ihre Bewacher die elektrischen Uhren in dem Rundbau schnell, dann langsam, dann wieder schnell gehen ließen und die kleine irdische Familie durch Gucklöcher beobachteten. Montana Wildhack hatte eine silberne Kette um den Hals. An ihr hing zwischen den Brüsten ein Medaillon, das eine Fotografie ihrer alkoholsüchtigen Mutter enthielt — ein grobkörniges Bild, Ruß und Kreide. Es hätte irgendwer sein können. Auf die Außenseite des Medaillons waren die Worte eingraviert:
10 Robert Kennedy, dessen Sommersitz dreizehn Kilometer von dem Heim, in dem ich das ganze Jahr wohne, entfernt ist, wurde vor zwei Nächten erschossen. Er starb in der vergangenen Nacht. So geht das. Martin Luther King wurde vor einem Monat erschossen. Auch er ist gestorben. So geht das. Und jeden Tag gibt mir meine Regierung die Zahl der Toten an, die durch die militärische Wissenschaft in Vietnam zustande gekommen ist. So geht das. Mein Vater ist vor nunmehr vielen Jahren gestorben — natürliche Ursache. So geht das. Er war ein liebenswerter Mensch. Er war auch ein Gewehrnarr. Er hat mir seine Gewehre hinterlassen. Sie verrosten. Auf Tralfamadore, sagt Billy Pilgrim, besteht nicht viel Interesse an Jesus Christus. Für die tralfamadorianische Denkart ist die anziehendste irdische Gestalt, sagt er, Charles Darwin — der lehrte, daß diejenigen, die sterben, zum Sterben bestimmt sind, daß Leichen ein Fortschritt sind. So geht das. Derselbe allgemeine Gedanke taucht in dem Buch Die große Wandtafel von Kilgore Trout auf. Die Geschöpfe von der fliegenden Untertasse, die Trouts Helden gefangennehmen, fragen ihn nach Darwin. Sie fragen ihn auch nach Golf. Wenn das wahr ist, was Billy Pilgrim von den Tralf amadorianern gelernt hat, nämlich daß wir alle ewig leben werden, gleichviel wie tot wir manchmal zu sein scheinen, bin ich nicht übermäßig erfreut. Und 218
doch — wenn ich die Ewigkeit damit verbringen werde, diesen oder jenen Augenblick erneut auszukosten, bin ich dankbar, daß so viele dieser Augenblicke schön sind. Einen der schönsten in letzter Zeit erlebte ich auf meiner Reise zurück nach Dresden mit meinem alten Kriegskameraden O'Hare. Wir nahmen das Flugzeug einer ungarischen Luftverkehrsgesellschaft von Ostberlin. Der Pilot hatte einen Schnurrbart wie eine Fahrradlenkstange. Er sah aus wie Adolph Menjou. Er rauchte eine Havannazigarre, während die Maschine aufgetankt wurde. Als wir abflogen, war keine Rede von Anschnallen mit Sitzgurten. Als wir oben in der Luft waren, servierte uns ein junger Steward Roggenbrot, Salami, Butter, Käse und Weißwein. Das Klapptablett vor mir wollte sich nicht herausziehen lassen. Der Steward ging ins Cockpit, um ein Werkzeug zu holen, und kam mit einem Bierdosenöffner zurück. Er benutzte ihn, um das Tablett herauszustemmen. Es waren nur sechs andere Fluggäste da. Sie sprachen viele Sprachen. Sie verlebten auch eine nette Zeit. Ostdeutschland lag unter uns, und die Lichter brannten. Ich stellte mir vor, wie Bomben auf diese Lichter, diese Dörfer, Großstädte und Städte fielen. O'Hare und ich, wir hatten nie erwartet, einmal Geld zu verdienen — und da waren wir nun, äußerst gut gestellt. »Wenn du jemals in Cody, Wyoming, bist«, sagte ich lässig zu ihm, »dann frag einfach nach dem Wilden Bob.« 219
O'Hare hatte ein kleines Notizbuch bei sich, und darin waren am Schluß Postgebühren und Luftlinienentfernungen, die Höhe von berühmten Bergen und andere wichtige Tatsachen des Lebens gedruckt. Er suchte nach der Bevölkerung von Dresden, die nicht im Notizbuch stand, als er auf folgendes stieß, was er mir zu lesen gab: Im Durchschnitt werden jeden Tag 324 000 neue Kinder in die Welt gesetzt. Während des gleichen Tages verhungern durchschnittlich 10 000 Menschen oder sterben an Unterernährung. So geht das. Zusätzlich sterben 123 000 Personen aus anderen Gründen. So geht das. Damit bleibt an jedem Tag in der Welt ein Bevölkerungszuwachs von 189 000. Das Büro für Bevölkerungszuwachs sagt voraus, daß die Gesamtbevölkerung der Erde sich bis zum Jahre 2000 auf rund 7 000 000 000 verdoppeln wird. »Ich nehme an, sie werden alle ein menschenwürdiges Leben führen wollen«, sagte ich. »Das ist anzunehmen«, meinte O'Hare. Billy Pilgrim reiste inzwischen auch nach Dresden zurück, aber nicht in der Gegenwart. Er kehrte im Jahre 1945 dorthin zurück, zwei Tage nachdem die Stadt zerstört worden war. Nun ließen ihre Bewacher Billy und die übrigen in die Ruinen marschieren. Ich war dort. Auch O'Hare war dort. Wir hatten die zwei vorherigen Nächte im Stall des blinden Gastwirts verbracht. Die Behörden hatten uns dort gefunden. Sie sagten uns, was wir zu tun hatten. Wir sollten uns Pickel und Schaufeln, Brecheisen und Schubkarren von unseren Nachbarn ausleihen. Mit diesen Geräten sollten wir in den Ruinen hierhin und dorthin marschieren, bereit, an die Arbeit zugehen. An den Hauptstraßen, die in die Ruinenfelder führ220
ten, waren Barrikaden errichtet. Hier konnten die Deutschen nicht weiter. Es war ihnen nicht erlaubt, den Mond zu erforschen. Kriegsgefangene aus vieler Herren Ländern kamen an jenem Morgen an einem bestimmten Ort in Dresden zusammen. Eine Anordnung lautete, hier mit dem Graben nach Leichen zu beginnen. Also begann man zu graben. Billy fand sich mit einem Maori zum Graben eingeteilt, der in Tobruk in Gefangenschaft geraten war. Der Maori war schokoladenbraun. Er hatte ein Liniengewirr auf seiner Stirn, und seine Wangen waren tätowiert. Billy und der Maori stießen ihre Schaufeln in das zähe, unnachgiebige Geröll des Mondes. Die Bestandteile waren locker, so daß es dauernd kleine Lawinen gab. Viele Löcher wurden gleichzeitig gegraben. Noch wußte niemand, was man dort finden würde. Die meisten Löcher führten zu nichts — zu Straßenpflaster oder Steinblöcken, die so groß waren, daß sie sich nicht bewegen ließen. Es gab keine maschinelle Hufe. Nicht einmal Pferde oder Maulesel oder Ochsen konnten die Mondlandschaft überqueren. Und Billy, der Maori und andere, die ihnen bei diesem besonderen Loch halfen, stießen schließlich auf eine aus Holz geflochtene Membrane über Felsbrocken, die sich zu einem zufälligen Gewölbe festgekeilt hatten. Sie stießen eine Öffnung in die Membrane. Darunter waren Finsternis und Leere. Ein deutscher Soldat mit einer Stablampe stieg in die Finsternis hinunter und blieb lange Zeit unten. Als er schließlich zurückkam, sagte er einem am Rand der Öffnung stehenden Vorgesetzten, daß Dutzende von 221
Leichen dort unten waren. Sie saßen auf Bänken. Sie waren nicht gekennzeichnet. So geht das. Der Vorgesetzte sagte, daß die Öffnung in der Membrane erweitert und eine Leiter in das Loch hinuntergelassen werden sollte, um die Leichen herausschaffen zu können. So begann das erste Leichenbergwerk in Dresden. Allmählich wurden Hunderte von Leichenbergwerken in Betrieb genommen. Sie rochen zuerst nicht schlecht, waren wie Wachsfigurenmuseen. Aber dann zersetzten sich die Leichen und lösten sich auf, und der Gestank war wie Rosen und Senfgas. So geht das. Der Maori, mit dem Billy zusammengearbeitet hatte, starb in der erstickenden Luft, nachdem man ihm befohlen hatte, in diesen Gestank hinunterzusteigen und dort zu arbeiten. Er riß sich selbst in Stücke, während er nach oben schaffte und immer wieder nach oben schaffte. So geht das. Daher wurde eine neue Arbeitsmethode eingeführt. Die Leichen wurden nicht mehr heraufgebracht. Sondern sie wurden dort, wo sie waren, von Soldaten mit Flammenwerfern eingeäschert. Die Soldaten standen draußen und warfen einfach das Feuer hinein. Irgendwo dort wurde der arme, alte Hochschullehrer Edgar Derby mit einem Teekessel ertappt, den er aus den Katakomben mitgenommen hatte. Er wurde wegen Plünderns festgenommen. Er wurde verurteilt und erschossen. So geht das. 222
Und irgendwo dort war Frühling. Die Leichenbergwerke wurden geschlossen. Die Soldaten gingen alle fort, um gegen die Russen zu kämpfen. In den Vororten hoben die Frauen und Kinder Schützengräben aus. Billy und der Rest seiner Gruppe wurden im Vorortstall eingesperrt. Und dann eines Morgens standen sie auf und entdeckten, daß die Tür nicht versperrt war. Der zweite Weltkrieg in Europa war zu Ende. Billy und die übrigen wanderten auf die schattige Straße hinaus. Die Bäume schlugen aus. Nichts geschah dort draußen, es gab keinen Verkehr irgendwelcher Art. Nur ein einziges Fahrzeug war da, ein im Stich gelassener, von zwei Pferden gezogener Wagen. Der Wagen war grün und sargförmig. Vögel zwitscherten. Ein Vogel sagte zu Billy Pilgrim: »Ki-witt, Kiwitt?«
Nachwort Ich möchte keine Vorschläge haben, wie wir kriegswichtige Ziele im Umland von Dresden zerstören können, ich möchte Vorschläge haben, wie wir 600.000 Flüchtlinge aus Breslau in Dresden braten können. Winston Churchill, 1945 Viele Leute sagen, daß man durch Bombardieren niemals einen Krieg gewinnen kann. Ich sage, es ist noch nie versucht worden, und wir werden sehen. Arthur Harris, Chef der britischen Bomberflotte Ich kann mich an nichts erinnern. Ich dachte, das waren die Amerikaner. Winston Churchill (Rose: Churchill, The Unruly Giant. 1994, S. 338)
... Er war Mitglied einer Sache, die sich »Komitee für soziales Denken« nannte. Und er erzählte mir von den Konzentrationslagern und wie die Deutschen Seife und Kerzen aus dem Fett toter Juden gemacht hatten und so fort. Alles, was ich sagen konnte, war: »Ich weiß, ich weiß, ich weiß.« ... (S.16) Es war eine Lüge. Es hat niemals Kerzen oder Seife aus dem Fett toter Juden gegeben.1 Seit der Veröffentlichung des Buches sind Jahre vergangen und diese und andere Lügen sind zerronnen. Sie waren aus Geld-Gier und Haß geboren und obwohl diese Gier nie genug gestillt und dieser Haß nie genug erfüllt werden konnte, sind sie verblaßt ... still und ohne großes Aufsehen. Die Finder der Wahrheit wurden verfolgt, nicht nur Deutsche - »Es war ihnen nicht erlaubt, den Mond zu erforschen.« (S.221) - sondern auch Engländer wie
David Irving, der als erster den Finger auf die Wunde zu legen wagte. Und die »Komitees für soziales Denken« sind noch immer aktiv und fordern Geld & Haß. Billy Pilgrim geht mit offenen, großen Augen durch eine von zerschmetternder Gewalt erfüllte Welt. Aber wie der Erleber einer anderen durch Zerstörung geprägten Zeit, Simplicius Simplizissimus, kann ihm die Lüge nichts anhaben in seinem Wesen. Nicht Kenntnis und Wahrheit schützen ihn, sondern seine Einfalt. Eben dadurch, daß er nicht einordnet, nicht wertet und nicht das weiß, was wir Nachgeborenen wissen, ist sein Erleben unmittelbarer, direkter und ehrlicher als alle »Historien« der Rumfoords und ihrer Komplizen. Selbst das Korsett von Zeit und Kausalität wird gebrochen durch die Wucht der ihm zugefügten psychischen Schläge, als er in winzigen, persönlichen Facetten den Untergang der Europäischen Kultur miterlebt und sich in Zickzack-Zeitsprüngen seinem schrecklichen Fokus nähert, der Verbrennung Dresdens, der Kunst-Stadt, der Flüchtlings-Stadt, der Stadt am Ende der Zeit. Noch heute liegen die Lügen der Brenner wie Rauch auf dem knochigen Gespenst dieser Stadt, das immer noch Dresden heißt. Niemand darf hier nach der wahren Zahl der Opfer suchen. Der Haß auf die Getöteten kocht immer noch: »Keine Träne für Dresden!« fordert Martin Blumentritt2. Waren es 123 000 - wie Vonnegut glaubte, 35 000 wie es Herr Benz vom Zentrum für Antisemitismusforschung3 versichert, 600 000 - wie Churchill es forderte? Die Zahl ist wichtig, nicht um neuen Haß zu brauen, sondern um die Wahrheit in ihrer Gesamtheit zu sehen. Wenn so viele Menschen in einer schlimmen Nacht und einem schlimmen Tag starben; wo ist dann die Recht-
fertigung ? Befreiung? Kann man jemanden befreien, indem man Flüchtlinge und Kunstwerke mit Weißem Phosphor übergießt? Kann es überhaupt eine Rechtfertigung für die Vernichtung Dresdens geben ? Ist nicht jeder, der ein solches Geschehen vorbereitet, durchführt oder auch nur billigt - geschweige denn versucht, es unter Lügen zu begraben - automatisch auf der Seite des Unheils ? Denn Dresden war nicht das Ende des Mordens - es war erst der Anfang. 4 Alle Zeitlinien des Buches laufen auf diesen Punkt zurück. Dieses Motiv der Zeit-Umkehr kristallisiert sich in Billy's Traum von den zerschossenen amerikanischen Bombenflugzeugen, die rückwärts nach Deutschland fliegen, um die Zerstörung von Städten ungeschehen zu machen und dabei selbst das Wunder der Heilung - des Heils - erfahren. Ein bezwingendes Bild, das auch Michael Jackson in einem seiner letzten Videos, »Heal the World«, beschwor. Kehrt um, oder euer Ziel wird die Hölle sein. -------------------------1 The Daily Telegraph (London 25.4.1990), auch Yehuda Bauer
in: Jerusalem Post, Int. Ausg., 5. Mai 1990, S. 6 Vortrag im Jour Fixe der Initiative Sozialistisches Forum am 18. Juni 2002 3 W. Benz: Legenden Lügen Vorurteile, dtv, München 1992. 4 Über die verdeckte Ermordung von Millionen Deutschen nach 1945 vgl. James Bacque: Der geplante Tod und Verschwiegene Schuld . 2