OTTO ZIERER
BILD D E R J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 19 EINZEL- UND 11 DOPPELBÄNDEN
IMPERIUM ROMANUM...
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OTTO ZIERER
BILD D E R J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 19 EINZEL- UND 11 DOPPELBÄNDEN
IMPERIUM ROMANUM Das ist der Titel des soeben erschienenen sechsten Bandes der neuartigen Weltgeschichte. Dieser Band behandelt den Sieg Roms über Karthago
Der Triumph über Karthago bedeutet neue — nunmehr rein imperialistische Kriege. Leicht fällt der zerissene, griechische Ost3n als Beute der römischen Legionen. Die Berührung mit den Besiegten verändert de strengen entbahrungsgewohnten Bauernsoldaten Roms. Das besiegte Griechenland wird zur Lehrte Sterin für Schönheit und Lebensgenuß, das vernichtete Kart'iago vererbt seine Ausbsutermethoden den römischen Geldherren. Korruption und Laster halten Einzug in die Hauptstadt der neuen Weltmacht
Auch dieser Band ist in sich vollkommen abgeschlossen und enthält wieder ausgezeichnete Kunstdrucktafeln und zuverlässige historische Karten. Er kostet in der gleichen gediegenen Ausstattung "wie Band 1—5 in der kartonierten Ausgabe mit zweifarbigem, lackiertem Überzug DM 2.95 und in der herrlichen Ganzleinenausgabe mit Rot- und Goldprägung und farbigem Schutzumschlag DM 3.60. Frühere Bändekönnen nachbestellt werden.Prospekt kostenlos vom
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU/MÜNCHEN
KLEINE BIBLIOTHEK DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE HEFTE
ULRICH
KLEVER
Die wunderbare Geschichte vom Regenwurm
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU/MÜNCHEN
Der Regenwurm Stellt Sich VOr
Wir erfahren etwas über wissenschaftliches Arbeiten und warum auch | der Regenwurm den Forschern nicht zu gering ist I
Schon von frühester Jugend — ja, so könnte ich meine Regenwurmgeschichte ohne weiteres beginnen. Denn wie jeder andere Junge hatte ich ihn einst als Angelköder gesucht, mich beim Gartenumgraben über besonders fette Exemplare gefreut und Hühner damit gefüttert. Nun war ich Student der Zoologie, der Regenwurm war für mich „lumbricus terrestris", und ich hatte einiges über Gliederung und Aufbau seines Körpers dazugelernt. Da fragte mich eines Tages mein Professor, ob ich "Lust hätte, eine Arbeit über den Regenwurm zu schreiben — „unter besonderer Berücksichtigung des Geruchs- und Geschmackssinnes". Ich hatte Lust und begann nun für zwei Jahre ein Leben mit Regenwürmern, stand mit ihnen auf und ging mit ihnen zu Bett.
* Wer hatte sich sonst schon mit Regenwürmern befaßt? Ein Blick in die Bibliotheken belehrte mich, daß das Schrifttum über diesen bescheidenen Wurm viel umfangreicher war, als ich erwartet hatte. Da gab es Bücher von Heftumfang bis zum mehrbändigen Lexikon — alle über Regenwürmer. Seit Jahrzehnten schon hatten sich also Wissenschaftler um den Regenwurm bemüht, ohne 2
daß sie zunächst an die praktische Ausnutzung ihrer Studien gedacht hatten. All diese Forscher haben einzig und allein gearbeitet um der Natur eines ihrer vielen Geheimnisse abzulauschen. Sie ließen sich von der gleichen Entdeckerfreude leiten, der kühne Männer die Gebiete, die auf den Landkarten mit weißen Flecken bezeichnet sind, erkunden und vermessen läßt. Es darf eben in der wissenschaftlichen Welt kein „unbekannt" geben. Heute aber, wo die ganze Ernährungslage zu einer Lösung drängt, erregt der Regenwurm nicht mehr nur reines Forschungs-, sondern auch wirtschaftliches Interesse. Und gerade wegen der stillen, in den Bibliotheken fast verstaubenden Arbeiten der Zoologen und Physiologen der letzten hundert Jahre wurde das Problem Regenwurm rasch erkannt und in die Praxis umgesetzt; denn der Regenwurm ist als einer der emsigsten und unentbehrlichsten Helfer der Landwirtschaft erkannt. Der Regenwurm ist heute „aktuell". „Der Pflug ist eine der allerältesten und wertvollsten Erfindungen des Menschen, aber schon lange, ehe er existierte, wurde das Land durch Regenwürmer regelmäßig gepflügt und wird fortdauernd noch immer von ihnen bearbeitet." (Darwin.)
Der Steckbrief des Regenwurmes
Seine Kennzeichen sind: 1. Innere und äußere Gliederung. - 2. -Körperbau hat Zylinderform. - 3. Trägt Borsten als Steigeisen. - 4. Besonderheit: Clitellum
Wenn man ein Tier genau kennenlernen will, dann muß man es betrachten und längere Zeit beobachten. Kleinere Tiere, soweit sie nicht giftig sind, nimmt man am besten zunächst einmal in die Hand. Eine Grundforderung für den Naturfreund ist nämlich die: vor nichts Lebendigem Abscheu zu haben. Schauen wir uns den Regenwurm ganz genau an! Am auffälligsten ist die gleichmäßige Gliederung des Wurmkörpers in Ringe, oder wie sie wissenschaftlich heißen: Segmente. Das ist bei allen* Würmern dieser Ordnung gleich, ob es sich nun um kleine einheimische Arten oder um die bis zu zwei Meter langen tropischen Riesen handelt. Nach ihren Ringgliedern ist sogar die ganze Klasse der Anneliden, zu deutsch Ringelwürmer (annus, lat. — Ring), benannt worden. Zwei Ringe sind immer durch eine kleine Kerbe voneinander getrennt. Im Inneren des Körpers wird die Trennung von einer dünnen Membran besorgt. So gleichförmig der 3
A.n jedem der ringförmigen Regenwurmglieder, die in den Körper eingeschnürt sind, sitzen vier Borstenpaare, die durch besondere Muskeln bewegt werden und zum Festhalten im Boden und als Fortbewegungshilfen dienen. Sie sind aus Chitin, wie der Panzer der Käfer
Wurm außen aufgebaut ist, genau so gleichmäßig ist seine innere Gliederung. Bis auf wenige Abschnitte, die besondere Organe enthalten, ist ein Segment gleich dem anderen. Der Körper des Regenwurms hat die Form einer zylindrischen Röhre, die an der Unterseite etwas abgeplattet ist. Außerdem kann man Rücken und Bauch an der Färbung unterscheiden: wie überall im Tierreich ist die Unterseite heller. Streicht man mit dem Finger von hinten nach vorne über den Regenwurmbauch, so spürt man ein rauhes Kratzen. Es rührt von den Borsten, die zu vier Paaren auf jedem Segment stehen. Unter der Lupe sehen sie wie sanftgeschwungene Zähne eines Kammes aus, sie sind aber nicht aus Hörn, sondern aus Chitin, dem Stoff, aus dem die Insektenpanzer bestehen. Dem Wurm erleichtern die Borsten das Kriechen in einer bestimmten Richtung; da sie durch eigene Muskeln auch bewegt werden können, bedient er sich ihrer bei seinen Wanderungen durch das Erdreich so, wie es die Alpinisten mit den Steigeisen machen. Das erste Segment des Wurmes, genauer: das Segment, das an der spitzeren Seite sitzt, ist die Oberlippe, die die Mundöffnung bedeckt. Sie ist besonders empfindlich gegen äußere Reize, was ja auch verständlich ist. Von der Mundhöhle zieht sich schnurgerade durch den ganzen Wurmkörper das Darmrohr, das im letzten Segment in dem After wieder nach außen mündet. Im vorderen Drittel — wer genau ist, wird das 29. «nd 37. Segment auszählen — fällt dem Betrachter eine starke Verdickung der Haut auf. Dieser „Gürtel", wir Zoologen nennen ihn das Clitellum, hat bei der Fortpflanzung wichtige Aufgaben zu erfüllen. Bei den Regenwürmern ist es nicht so wie bei den Fliegen. Denn kleine Fliegen sind keineswegs Kinder, sondern ganz andere Arten. Fliegen wachsen nicht, sie kommen so, wie sie ihr ganzes Leben bleiben, aus den Puppenhüllen. Bei den Regenwürmern ist das anders. 4
Die jungen Tiere sind zart und -Oberlippe durchscheinend, sie sind nur zwanzig Segmente lang, das sind 3—5 Zentimeter. Veteranen mit 180 Segmenten, die vierzig Zentimeter Länge hatten, haben schon in meinen Zuchtküsten gewohnt. Die verschiedenen Regenwurmfamilien, die hei uns vorkommen, kann man nur an ihrer Färbung und der ganz anderen Kopflappenform unterscheiden. Aber das ist für NichtSpezialisten uninteressant und bedeutungslos. Für ihre Größe erreichen sie ein beachtliches Alter. Tiere mit zwei bis drei Menschenjahren auf dem Rücken sind keine Seltenheit. Sie sind aber bei Haltung in Terrarien leicht Epidemien und Pilzbefall ausgesetzt; in freier Wildbahn können sie dagegen aus Gegenden, die für sie gesundheitsschädlich werGliederung des Regenwurms den, schnell auswandern. Von außen kennen wir den Wurm jetzt zur Genüge. Bevor wir aber sein Inneres erforschen, müssen wir uns mit einigen Hilfsmitteln vertraut machen, die wir benötigen: es sind das Mikroskop, das Mikrotom und die erforderlichen Vorbereitungsmethoden. Dazu werden wir etwas weiter ausholen. Aus Staubkölnehen werden Ungeheuer, Filtrierpapier wird gefressen und Fleisch wird gehärtet. Ein Aufschnitt für die Wissenschaft Haar kann man iünfzigmal spalten, aber man braucht schon eine Maschine dazu Der Jäger benutzt bei der Hochwildpirsch ein Fernglas. Denn durch die sechs- bis achtfach vergrößernden Linsen kann er das Wild auch über große Entfernungen ausmachen, bei denen sein Auge*versagen würde. Die Optiker haben für den Wissenschaftler, der sich
mit kleinsten Objekten befaßt, ein Fernrohr anderer Art geschaffen, mit dem er in die Bereiche des „Unsichtbaren" hineinschauen kann: das Mikroskop. Da sind die Entfernungen aber viel weiter, das heißt, die Dinge sind so klein, daß der Forscher eine viel stärkere Vergrößerung braucht, um sie überhaupt erkennbar zu machen. Für unseren Regenwurm kommen wir mit achtzig- bis fünfhundertfacher Vergrößerung aus, je nachdem, was für Geheimnisse wir ihm entreißen wollen. Es ist eine überraschende Welt, in die wir da hineinschauen. EinStäubchen wird plötzlich ein bizarres, daumengroßes Ungeheuer, und ein kleiner, kaum sichtbarer Punkt von Lebewesen erweist sich als schauerliches, gepanzertes Fabeltier. Wenn wir nun voller Erwartungen ein Stückchen Regenwurm auf den ObjektLUMBRICUS träger legen und durch das Okular (die TERR. dem Auge [lat. oculus] zugewandte Mikroskopseite, die dem Objekt zugekehrte heißt Objektiv) schauen, dann sehen wir . .. nichts. Das heißt, eine formlose, dunkle, verschwommene Masse, aus der noch keine Einzelheiten hervortreten. Der Wurm muß also besonders vorbereitet werden, damit wir in seine inneren Feinheiten eindringen können. Die VorEISEN1A MALM. bereitungen sind zeitraubend, wie alles in der Wissenschaft, und können unsere Geduld auf eine harte Probe stellen. Regen wurmköpfe Auf dem großen, weißgelackten Tisch des Laboratoriums haben wir in einer Glasschale, die durch einen Deckel gegen das Licht abgeschirmt wurde, einige Regenwürmer mit feuchtem Filtrierpapier gefüttert. Acht Tage wurde das Gefäß peinlich sauber gehalten; endlich haben wir Würmer, in deren Darm auch kein einziges Sandkörnchen mehr zu finden ist. Denn das ist ungeheuer wichtig; ist doch das MikrotomMesser, mit dem wir nachher den tausendstelmillimeter feinen Aufschnitt herstellen wollen, sehr empfindlich und außerdem teuer. Nun werden die so sorgsam gefütterten Tiere kurz und schmerzlos in Jodalkohol getötet. Die Leiche teilt man in Stücke, weil so 6
ein ganzer Regenwurm sich schlecht auf einmal verarbeiten läßt. Das frische Fleisch kann man aber noch nicht ohne weiteres schneiden, es ist zu weich. Es wird deshalb zunächst durch Bäder in den verschiedensten Chemikalien gehärtet. Dafür gibt es besondere sedruckte Anleitungen, in denen die Mischungsverhältnisse und Sorten genau aufgeschrieben sind. Da braucht man also nicht mehr herumzuprobieren, das haben schon andere vorher für uns besorgt. Man schlägt nun unter Tierart und einzelnen Organen nach; denn es gibt verschiedene Behandlungsmethoden, je nachdem, ob man Muskeln oder Nerven besonders gut sehen will, entsprechend wählt man unter den aufgeführten Rezepten das Zutreffende aus. Wir stellen heute nur ein sogenanntes „Übersichtspräparat" her, denn wir wollen ja keine Spezialforschungen treiben. Haben wir durch die Chemikalien das Fleisch gehärtet und durch Alkohol und Benzolbäder alles Wasser entfernt, dann bringen wir es in einen Brutschrank und legen es dort in Paraffin. Diese Masse ist für unseren Zweck der idealste Stoff, er ist weich und gleichzeitig doch hart genug, um dem Messer genügenden Widerstand zu leisten. Bei einer gleichmäßigen Temperatur von 60° durchdringt das Paraffin allmählich das, was von unserem Regenwurm übriggeblieben ist. Die ganzen Vorbereitungen gehen aber auch bei größter Übung längst nicht so schnell von der Hand, wie man sie hier liest. Ungefähr zwei Tage dauert es, bis wir mit dem Schneiden beginnen können. Wir müssen während der ganzen Zeit im Labor verweilen. Ungefähr alle zwei Stunden wird nämlich die Flüssigkeit gewechselt, das Stückchen Wurm wandert immer höher die Alkoholkette hinauf bis zum lOOprozentigen, und nichts darf schiefgehen, denn beim kleinsten Versagen wäre alles umsonst. Erst in der letzten Nacht, wenn sich die Brutschranktür geschlossen hat, kommen wir zur wohlverdienten Ruhe. Am nächsten Morgen nehmen wir die Paraffinsehale heraus, auf deren Grund das Wurmstückchen liegt. Es ist dunkel und unansehnlich geworden. Wenn nun das Paraffin erkaltet ist, schneiden wir rings um das Fleischstückchen einen rechteckigen Block der Masse heraus. Den kleben wir auf dem Mikrotomtisch fest. Das Mikrotom ist eine Art Superbrotschneidemaschine, bei der das Messer auf einer Schiene beweglich geführt werden kann. Was man mit dem Gerät schneiden will, kann durch feine Schrauben jeweils bis eintausendstel Millimeter gehoben werden und wird nun Scheibchen um Scheibchen vom Messer abgesäbelt. Das ist eine kniffelige Arbeit. Schnauft man, so fliegen die unvorstellbar dünnen 7
Blättchen davon, atmet man zu stark, dann backen sie am Messer fest. Man muß sich klar darüber sein, was ein tausendstel Millimeter eigentlich ist. Wir können z. B. ein Haar der Länge nach in fünfzig Scheiben schneiden, dann ist jede Scheibe ein tausendstel Millimeter dick. Mit einem feinen Pinsel nimmt man die Scheibchen vom Messer und legt sie der Reihe nach auf einen Objektträger. Wenn man es richtig versteht, hängen die einzelnen Scheiben wie ein Filmstreifen aneinander, und man kann dann unter dem Mikroskop alle Einzelheiten in den aufeinanderfolgenden Schnitten verfolgen. Jetzt sieht man mit dem Mikroskop zwar durch den Schnitt durch, aber erkennen kann man noch immer nichts. Wir müssen färben. Dadurch werden die verschiedenen Organe voneinander unterschieden. Viel Scharfsinn und unendliche Geduld haben Forscher daran verwendet, um für jede Zellart, für jedes Gewebe, für Nerven und Drüsen den geeigneten Farbstoff zu finden. Wir entfernen das Paraffin durch Lösungsmittel, färben mit allerhand Farbstoffen und, wenn die Farben wasserlöslich waren, hetzen wir den Wurm nochmal durch die Alkoholreihe, und endlich, wenn alles geklappt hat, dürfen wir das in Kanadabalsam gebettete „Dauerpräparat" unter das Mikroskop legen und den „Querschnitt durch den Regenwurmkörper" betrachten; er erstrahlt in leuchtendem Tiefrot und Blau.
Innenansicht eines R e g e n w u r m e s
Ein sehr „dickfelliges" Tier. Zehn Herzen schlagen den Takt dazu. Nerven wie eine Strickleiter. Jedem Segment seine Niere!
Als erstes fällt uns die unverhältnismäßig dicke Haut auf. Sie umschließt den Körper des Regenwurms von allen Seiten, das Ganze sieht so ähnlich aus wie ein Schnitt durch einen Autoreifen. Dieser Hautmuskelschlauch hat im Körperganzen bei weitem das Übergewicht, er ist gleichzeitig das Skelett des Wurmes und besteht aus einer innigen Vereinigung der Haut mit den darunterliegenden Ring- und Längsmuskelschichten. In der Haut liegen auch die zahlreichen Schleimzellen, deren Aussonderung für die Fortbewegung und zum Schutz des Tieres außerordentlich wichtig ist. Zieht der Wurm die Längsmuskeln an, so verkürzt sich sein Körper, zieht er die Ringmuskeln zusammen, so wird der Leib langgestreckt und dünn. Beim Kriechen kann man diese abwechselnden Einschnürung 8
Langsmuskeln „ Ruckengefäß Kinne
Der innere Aufbau des Regenwurms, der auch aus der Abbildüng Seite 2 deutlich wird. Der Querschnitt auf Abb. 2 ist um das 25fache vergrößert
Darm Bduchtjefdli Ringmuskeln
— Haut gen und Dehnungen wie Wellen über den Körper laufen sehen. Fast genau so gewichtig ist das in der Leiheshöhle liegende Darmrohr, das dicht von einer Schicht grünlich-gelber Zellen bedeckt ist. Sie sondern eine Flüssigkeit ab, die für die Verdauung unerläßlich ist. In den Darm stülpt sich eine Rinne ein, eine Falte, die sich bis zum After hinzieht. Auf diese einfache Art wird die verdauende Oberfläche um das Doppelte vergrößert. Wenn wir genau hinschauen, sehen wir oben auf der Darmrinne und unter dem Darm je einen blauen Punkt. Das sind die Blutgefäße. Der Regenwurm ist nämlich schon so hochentwickelt, daß das Blut nicht frei in der Leibeshöhle zirkuliert, sondern in festen Bahnen verläuft. Nun hat er aber kein blaues Blut, sondern rotes wie wir, mit richtigen Blutkörperchen darin (das Blau in unserem Versuchsstück stammt von den Chemikalien, die besonders die Blutgefäße färben). In der Rückenader fließt das Blut von hinten nach vorne. Ein eigentliches Herz, das durch rhythmische Zusammenziehung den Blutstrom bewegt, gibt es nicht. Dafür sind im Vorderteil fünf Paar Schleifen, die sich zusammenziehen können und da« Blut in das Bauchgefäß pressen. Diese „Seitenherzen" kann man hei jungen, noch durchscheinenden Regenwürmern sehr schön schlagen sehen. Ganz unten, fast auf dem Hautmuskelschlauch liegend, ist ein dickerer schwarzer Fleck zu erkennen, das Bauchmark. Mit den Krebsen und Insekten hat der Regenwurm das Strickleiternervensystem gemeinsam. Wie es aussieht, geht öchon aus dem Namen hervor: Ein doppelter Nervenstrang mit paarweisen Knoten (Ganglien) in jedem Segment, die jedesmal durch Querverbindungen ähnlich den Leitersprossen gekoppelt sind. Von jedem Ganglion laufen Nervenäste in die Sinneszellen, in den Hautmuskelschlauch und die Seg9
gen Gangenden zu dicken K l u m p e n gehallt in der Winterstarre und warten auf die ersten w ä r m e n d e n Sonnenstrahlen. Da die Tageswärme aher keinesfalls his in diese T i e f e n vordringen kann, müssen die Würmer vom März an Bohrversuche in die Frostzone machen. Ist die Frostschicht zu hart, wird weiter gewartet, hat es aber schon getaut, so zieht man bald in h ö h e r e Erdschichten um. Aus großen B l u m e n g e f ä ß e n mit e i n e m Durchmesser von einem Meter bauen wir uns einen Garten, in dem man bei künstlicher Verdunkelung auch am Tage beobachten kann. Der Tag-Nachtzyklus der Tiere läßt sich nämlich schnell u m w e r f e n . H ä l t man diese Gefäße in dauernder D u n k e l h e i t , so arbeiten die Würmer Tag und Nacht an der Erdoberfläche herum u n d g ö n n e n sich überhaupt keine R u h e mehr. Sie lieben eben die Lichtlosigkeit. Ein Forscher wollte die Lichtempfindlichkeit der R e g e n w ü r m e r näher untersuchen. Mit allen A r t e n Licht bestrahlte er seine Versuchstiere, ließ sie durch angefeuchtete Glasröhren kriechen, die durch verschiebbare B l e n d e n an jeder beliebigen Stelle abgedunkelt oder beleuchtet werden k o n n t e n . Es ergab sich, daß die Würmer fast j e d e n Lichtreiz w a h r n e h m e n ; und doch hat noch kein Mensch einem R e g e n w u r m in die A u g e n geschaut. Mit welchem Organ empfinden sie das Licht? Da müssen wir wieder einmal durch das Mikroskop beobachten. Wir entdecken über die Wurmoberfläche verteilt in der Haut einzeln liegende Sinneszellen, die am K o p f und am Schwanzende besonders zahlreich sind; sie sehen genau so aus wie die Sinneszellen in den
Links: Im Gewebe sitzen am ganzen Wurmkörper die Lichtsinneszellen; der lichtempfindliche große Binnenkörper ist von einem dichten Nervennetz umsponnen. — Mitte: In die Haut treten überall feine Nerven ein, die nicht in Sinneszellen, sondern frei enden; man glaubt, diese freien Nervenendigungen vermitteln die Druck- und Tastempfindungen. — Rechts: über die ganze Oberfläche verteilt sind auch die Sinnesknospen, Organe des chemischen Sinnes, der den Wurm vor schädlichen Bedingungen in seiner Umwelt warnt 12
Augen anderer Tiere. Nur sind' die Zellen im Auge in Mengen beieinander und mit Hilfsmitteln versehen, wie der Linse und den schwarzen Pigmentzellen, die den Lichteinfall von der falschen Seite abschirmen. Beim Regenwurm gibt es nichts dergleichen; hier ist nur die einzelne Sinneszelle mit dem dazu gehörenden großen Binnenkörper vorhanden, der von einem feinen Nervennetz umsponnen ist. Dieses einfachste aller Augen steht mit dem Nervensystem in Verbindung. Wird es nun durch einen Lichtstrahl gereizt, so gibt das Nervensystem den Befehl: Flucht! Je mehr solcher „Augen" getroffen werden, um so schneller macht sich der Wurm auf und davon. Auf das langwellige Rotlicht sprechen die Zellen aber nicht an. Es gibt ja manche Geschöpfe in der Natur, die manches nicht sehen können, was andere wahrnehmen, weil ihnen die entsprechenden organischen Einrichtungen fehlen. Beim Regenwurm kommt uns diese Empfindungslosigkeit gegenüber dem roten Licht sehr zugute. Wir brauchen uns nur rote Lampen zu besorgen, wie man sie in der photographisehen Dunkelkammer benutzt. Die Würmer lassen sich bei diesem Licht beobachten, denn für sie herrscht ja im Schein der roten Lampe tiefste Finsternis. Der Regenwurm frißt sich durch die Erde. Seine Speisekarte. Der Maulwurf bellt m**- D e r Regenwurm singt und hamstert Blätter. Die kiugen Amseln. Hier irrte Darwin
Bergmann des Ackers
Um zu erfahren, was der Wurm in der Erde treibt, legen wir zwei Glasplatten so übereinander, daß ein Abstand von einer Wurmdicke verbleibt, füllen Erdreich dazwischen und können nun durch das Glas den Wurm bei seiner Arbeit verfolgen. Zuerst zieht er die Ringmuskeln seiner „Halspartie" zusammen: dadurch wird der Kopf spitz, und mit diesem Keil stößt er in den Boden hinein. Nun ziehen sich seine Längsmuskeln zusammen, der Körper wird breit und dick und drückt dadurch die Erde nach links und rechts beiseite. Die abwechselnden Dehnungen und Einschnürungen laufen bis zum Hinterende des Wurms und schieben ihn langsam nach vorn. So verschwindet er nach und nach im Boden. Aber er sperrt noch zusätzlich sein Maul auf und fängt an zu fressen. Er frißt sich durch den Boden hindurch wie die Leute im Schlaraffenland durch den Berg mit Reisbrei. Die eingespeichelte Erdmasse, die hinten wieder herauskommt, schiebt er mit dem abgeplatteten Hinterende durch den Röhrengang ins Freie. Sie erstarrt an der Erdoberfläche zu den Wurmhäufchen, die wir überall an Wegen 13
und auf Wiesen finden können. Aber eine Menge von dem Brei bleibt auch an den Wanden haften, wird dort hart, wodurch die Röhren verputzt und befestigt werden. So ist der Regenwurm ein Bergmann im Gefilde des Ackerbodens, zugleich auch König in einem Reich kleiner Lebewesen. Denn der Boden steckt voller Leben. Ganze Heerscharen von Tausendfüßlern, kleinen Käfern, Springschwänzen und winzigen Steinkriechern bevölkern ihn. Kleine blutrote Würmer und winzige, schnelle weiße bohren sich durch die obersten Schichten. Tagsüber sind sie alle verborgen in den zahllosen Spalten und Ritzen, die ein guter Fruchtboden haben soll; zu ihrer Vermehrung wird eben geackert, geeggt. gehackt und geharkt. In der Nacht kann man sie alle in ihrer eifrigen Tätigkeit belauschen. Da sind sie voller Unrast und verzehren unersättlich Erde. In dieser Erde leben und werken außerdem, für das bloße Auge unsichtbar, Myriaden von Blau- und Kieselalgen: Wurzelfüßler und Infusorien schlüpfen hin und her. Und der Regenwurm ist nicht nur der größte Verzehrer in dieser Welt, er gönnt auch den andern „Mitessern" im Boden ihr tägliches Brot und sorgt sogar für ihre Vermehrung. Denn in dem, was er hinterläßt, leben die ganz Kleinen auf das vortrefflichste. Ja, nur in diesen vom Darmschleim des Regenwurms angefeuchteten, in lauter winzigste Körnchen aufgelösten, meist dunkelbraun oder tiefschwarz durchverdauten Erdmassen fühlen sich viele Bodentiere wirklich wohl. Sie selbst wiederholen vielfach das Werk des Regenwurms und zersetzen verrottende Pflanzen, verwesende Tierreste, lösen zusammengebackene Erdklümpchen. Aber das ist noch nicht alles. Aus ihren Gängen kommen die Regenwürmer bei Dunkelheit an die Oberfläche, um sich mit verfaulenden Pflanzenstücken, Blättern und ähnlicher Nahrung zu versorgen; denn immer nur Erdeintopf, danke! Sie bleiben aber stets mit ihrem Hinterende in der Röhre sitzen, um bei Gefahr schnell verschwinden zu können. Es ist fast unmöglich, ein Tier aus der Röhre herauszuziehen, ohne es dabei zu zerreißen. Es hakt sich nämlich mit den Borsten, die wir an seiner Bauchseite beobachtet haben, wie mit Widerhaken in der Erde fest. Wenn man aber einen Wurm zerreißt, dann stirbt er deswegen noch lange nicht. Die beiden Teile kriechen höchst lebendig weiter. So sind plötzlich aus einem ,Individuum' zwei geworden. Das ist nicht so verwunderlich, wie es zuerst erscheint; denn der Regenwurm hat, auch das haben wir in seinem Steckbrief erfahren, fast in jedem Segment alle Organe, die er zum Leben braucht. So 11
kann er sich aus einem Teilstück verhältnismäßig leicht wieder zu einem neuen vollständigen Tier heranbilden. Dieser Ersatz verlorener Körperteile ist bei niederen Tieren deshalb möglich, weil sich nicht alle Zellen ihres Körpers auf bestimmte Aufgaben spezialisiert haben. Neben den Muskel-, Sinnes-, Nerven- und Drüsenzellen bleiben beim Heranwachsen viele Zellen erhalten, die gleichsam als Reserve bereitstehen und noch über alle Möglichkeiten des Form- und Leistungswandels verfügen. Sie wandern an die Wundstellen und bilden dort neu, was verlorengegangen ist. Wir machen also den Versuch sorgfältiger und halten die beiden getrennten Wurmstücke unter günstigen Bedingungen. Nach einiger Zeit beobachten wir, daß sich an jedem der durchtrennten Teile die
Regenwurmregeneration in drei Stufen
Wunde sehließt, und daß an der Schnittstelle ein kegelförmiger Zapfen hervorwächst, der länger und länger wird. Zunächst sieht er noch ungegliedert aus, aber mit einer Lupe können wir die feine Ringelung schon erkennen. Er gleicht ganz genau einem jungen Wurm und gestaltet allmählich innen und außen die Teile, die abhanden gekommen sind, vollständig neu. Die Wissenschaftler nennen diesen wundersamen Vorgang Regeneration, Wiedererzeugung. Alle fehlenden Stücke werden ergänzt; denn ohne Mundöffnung könnte das hintere Ende ebensowenig besteben wie das Vorderteil ohne Darm und After. Jedes der beiden Schnittstücke schafft sich also neu, was fehlt, so daß zum Schluß zwei Tiere entstanden sind, die man von unverletzten gar nicht oder nur kaum unterscheiden kann. Die Organe, die im normalen Leben allezeit eine Einheit dargestellt haben, stellen sich also um und treten in den Dienst zweier Einheiten, die es in dieser Form bisher nicht gegeben hat. Daß die Amputation dem Tiere gar nicht einmal so unsympatisch zu sein braucht, beweist ein verletzter Regenwurm, der sich selber des kranken Körperteiles entledigt; er schnürt den Leib dicht vor der Wunde ab und wirft das verletzte Stück einfach von sich. 15
Das ist aller noch längst nicht der erstaunlichste Fall von Regeneration. Bei den kleinen Strudelwürmern unserer Bäche — sie sind sehr weitläufig mit den Regenwürmern verwandt — kann sich noch der 279ste Teil des ein Zentimeter langen Körpers wieder zu einem vollständigen Tier entwickeln. . . . Doch zurück zum Versuchsgarten! Es ist vor allem wichtig, daß man sich beim Belauschen des Wurms auf seiner nächtlichen Leckerbissenjagd vorsichtig bewegt; denn er ist in hohem Maße empfindlich gegen Erschütterungen. Wir können auf Trillerpfeifen flöten, im Nebenraum mit lautem Krach Glasplatten auf den Boden werfen lassen, das alles stört die Regenwürmer bei ihrer überirdischen Tätigkeit nicht im geringsten. Aber wenn wir nur ein wenig an den Blumentopf rühren oder mit dem Stuhl scharren, dann sind all unsere Versuchsobjekte wie der Blitz in ihren Röhren verschwunden. Dieser Erschütterungssinn ist für sie ja auch wichtiger als das Gehör; denn ihr Hauptfeind, der Maulwurf, bellt nicht, sondern erschüttert nur den Boden. Aus diesem Grund wirkt der alte Trick mit der Schaufel immer, wenn man einmal schnell ein paar Regenwürmer braucht. Man stößt einen Spaten in den Boden und bewegt ihn ruckweise hin und her. Dann ist Großalarm im Regenwurmreich: Der Maulwurf kommt! Und überall kriechen sie aus ihren Röhren an die Oberfläche, um sich ein paar Meter weiter wieder einzugraben. Bei dieser Flucht kann man sie fassen. Und doch muß der Regenwurm auch einen Gehörsinn haben, vielleicht für Töne, die für uns unerfaßbar sind. Der Mensch selbst nimmt ja nur einen Teil aus der Skala der Schallwellen wahr. Jedenfalls können sich die Würmer untereinander verständigen. Wenn es ganz ruhig ist, kann man seltsame Laute vernehmen, von denen die tieferen sieh wie Zungenschnalzen anhören. Sie ertönen in Folgen, die gleiche Tonhöhe haben. Es kann klingen wie: di di di di di di oder: da da da di - - di - - di di - - di oder: di di di - da - - da - di di Es ist auffallend, daß sich die Klangfarbe innerhalb der Folgen nicht verändert. Durch den bestimmten, immer wiederkehrenden Rhythmus ist die Möglichkeit, daß diese Laute beim Fressen entstehen, ausgeschlossen. Bis heute konnte aber noch niemand das Verhalten der Tiere bei ihren Gesängen erkunden. Aber nun zurück zum Wurm bei der Futtersuche. Er sitzt mit dem Hinterende in seiner Röhre, und das freie Ende seines Körpers pen16
Schon bei 25facher Vergrößerung zeigen sich interessante Einzelheiten des Regenwurmkörpers. Am Kopf erkennt man, wie Lippenrand und vorgestülpter Schlund sich auf ein Blatt pressen und es mit dem so gebildeten Saugnapf festhalten delt hin und her. Trifft er auf ein Blatt, so betastet er es mit seiner runden Mundöffnung, stülpt auf einmal das Maul etwas vor und preßt es so fest auf die Blattfläche, daß ein luftverdünnter Raum entsteht; dann versucht er seine Beute mit Hilfe dieses improvisierten Saugnapfes in die Röhre zu ziehen. Dabei entwickeln die Tiere erstaunliche Kräfte, wie das folgende Beispiel zeigt: Ein großer Wurm hatte seinen Körper dreißig Zentimeter aus der Röhre hervorgestreckt, ein mächtiges Lindenblatt angesaugt und das Blatt dann mit einem blitzschnellen Ruck über die Gangmündung gezogen. Die Unebenheit des Bodens verlangte dabei noch zusätzlich von ihm, daß er das Blatt beim Zurückschnellen hochstemmte, damit es sich nicht an Steinchen oder Erdschollen verhaken konnte. Der ganze Transport dauerte knapp zehn Minuten. Es ist also gar nicht verwunderlich, daß ein einziger Regenwurm im Verlauf einer Nacht bis zu vierzig Blätter über seiner Höhle aufstapelt. An diesem Vorrat wird von unten her auch den Tag über gefressen. Das machen sich die Amseln zunutze, deren Leibspeise die Regenwürmer sind. Sie warten still und geduldig, bis sich die Blatthaufen bewegen, stoßen dann ihren Schnabel hinein, werfen mit einem Ruck die Blätter auseinander und ziehen den überrumpelten und verdutzten Wurm aus seiner Röhre heraus. 17
Darwin hatte den Regenwürmern einen gewissen Grad von Intelligenz zugesehrieben; denn er hatte bei Versuchen, die er mit dem Einziehen von Blättern und Papierdreiecken anstellte, beobachtet, daß Blätter und Papierstücke vom Wurm immer in zweckmäßigster Weise in die Röhren gezogen wurden. „Zweckmäßig" — das heißt bei Blättern: hereinziehen mit der Spitze, bei Kiefernnadelpaaren: mit dem nicht sperrigen Ende und bei den Papierdreiecken: mit dem spitzesten Winkel der- Papierfläche. Darwin glaubte nicht an instinktives Handeln, da sich ein Instinkt in der erdgeschichtlich kurzen Zeit, seitdem es Bäume in England gibt, und vor allem bei der völlig neuartigen Aufgabe, sich mit Papierdreiecken zu beschäftigen, nicht habe entwickeln können. Aber hier irrte Darwin. Natürlich, ein Instinkt war es nicht. Wir können jedoch beobachten, daß die Würmer so lange an den Blättern herumprobieren, bis sie die günstigste Angriffs«teile erwischt haben, an der sie das Blatt unter geringstem Widerstand in ihre Gänge hereinziehen können. Kann man Regenwürmer dressieren? Das „Seelenleben"
Abstecher in d i e T i e r p s y c h o l o g i e
d
es Regenwurmes
Großes Geschmacksexamen. Regenwürmer sind wählerisch Die Tierpsychologen nennen die folgende Methode „Versuch und Irrtum". Sie gehört vor allem beim Studium der niederen Tiere, bei deren Handeln die Zielstrebigkeit fehlt und der Zufall eine große Rolle spielt, zu der Tagesordnung des Tierforschers. Vor ungefähr dreißig Jahren wurde von dem Amerikaner Yerkes einer der grundlegenden Versuche der Tierpsychologie, auf den sich ein großer Teil dieser noch sehr jungen Wissenschaft aufbaute, mit dem Regenwurm unternommen. Unter dem Titel „Dressur von Re- I genwürmern in einer T-förmigen Versuchsanordnung" ist das Ex- jf periment in die Literatur eingegangen. Der Wurm wird in den Kriechgang A gesetzt (s. Abbildung) und j wandert in den Fußteil des schwarz gezeichneten T. An der Gabel- j stelle kann er sich entweder nach links wenden, wo er nach kurzem j Vordringen zur Strafe einen leichten elektrischen Schlag erhält, oder M er kann nach rechts kriechen und durch den rechten Arm des T in 1 den mit Erde gefüllten Kasten B gelangen, der sein üblicher Auf- I enthaltsort ist. Der Erfolg war rasch erreicht. Bei täglich fünf Versuchen haben 1 18
Einrichtung zur Dressu von Regenwürmern
sich die beiden Tiere vom vierten Tag an sofort nach rechts, dem richtigen Ausgang zugewandt. Was erlebt und behält nun der Regenwurm bei diesen Versuchen? Ohne Zweifel wird das Tier durch die unnatürliche Umgebung erregt, aber es besteht nicht die geringste Ursache, anzunehmen, daß der Regenwurm an den mit Erde gefüllten Aufenthaltskasten denkt und deshalb loskriecht. Jedoch besteht die Möglichkeit, daß dem Wurm am Scheideweg die früher rechts und links erlebten Wahrnehmungen wieder einfallen; so erinnert er sich bei der linken Seite an den Sträfreiz, was schon eine Rechtswendung veranlassen könnte. Aber auch das ist zweifelhaft. Vor der Stelle, an der der elektrische Schlag erfolgt., wurde nämlich gewissermaßen als Vorwarnung ein Stückchen Glaspapier angebracht, über das der Wurm kriechen muß. Schon an dieser Warnstelle trat der erste Lernerfolg ein, noch bevor der Wurm auf „Rechts um!" gedrillt worden war. Das hatte auf die Dauer aber nichts mit dem elektrischen Strafreiz zu tun; denn als die Würmer das „Rechts um!" beherrschten, hinderte sie auch nicht das Stück Glaspapier, das jetzt vor den rechten Gang gelegt wurde, ohne daß dahinter der elektrische Schlag erfolgte, an ihrem einmal erfaßten Drill. Ohne an das Ende zu „denken", marschierte der Regenwurm stur nach rechts. Es ist also anzunehmen, daß die Leistung der Dressurtiere nur eine Erinnerung an die Wegform ist, die jedes Nachdenken ausschließt. Das war ein kurzer Einblick in die schwierige Arbeit der Tier. 19
Psychologen. Für uns ist er wichtig, wenn wir noch einmal überprüfen, wie die Würmer ihre Blätter einziehen. Es kommt nämlich vor, daß ein Wurm ein Blatt, das er betastet hatte, liegen ließ. dann aber weitersuchte und ein anderes Blatt nach gründlicher Prüfung in den Gang zog. Wir müssen deshalb vermuten, daß die Regenwürmer wählerisch sind und irgendeinen geschmacklichen Reiz verspüren. Wir wollen sie also einem Geschmacksexamen unterwerfen, um festzustellen, ob unsere Beobachtungen stimmen. Mit ausgestreuten Blättern allein können wir nicht arbeiten, weil man damit irgendwelche Bevorzugungen und Unterscheidungen nur ungenau ermitteln kann. Es gibt aber ein genial einfaches Verfahren, das uns der Regenwurm selber gezeigt hat: Wir wählen als Geschmacksstoffträger Kiefernnadeln, die wir in Alkohol auskochen, damit sie ihren Eigengeschmack verlieren. Sechs von ihnen werden jeweils gebündelt und durch doppelte Fäden an einem Ende kenntlich gemacht. Dann lösen wir zunächst in einem Becherglas Chinin in Gelatine auf, in einem anderen Glas Zucker, ebenfalls in Gelatine gelöst, und tauchen die Enden der Kiefernnadeln ein; jedes Bündel trägt jetzt an der doppelfädigen Seite den erstarrten Überzug von Chiningelatine, an dem anderen Ende den Überzug von Zuckergelatine. Die Bündel werden abends im-Terrarium ausgestreut, und dann müssen wir die Nacht abwarten. Am anderen Morgen sind 48 von den Bündelchen eingezogen worden, sie stecken mehr oder weniger senkrecht in den Regenwurmlöchern. Und wenn wir nun auszählen, dann sehen wir, daß 47 Enden mit dem Doppelfaden, dem Chininende, in die Luft ragen, während die gezuckerten Spitzen in die Röhren hineingezogen sind. Der Regenwurm kann also sehr gut bitter von süß unterscheiden. Die eine Ausnahme sagt nichts, es gibt ja auch unter den Menschen Leute mit einem seltsamen Geschmack. Das nächste Mal schlagen wir eine Nacht über die Ohren und beobachten die Würmer bei der Geschmacksprüfung, um zu sehen, wie sie auf das ihnen nicht schmeckende Chininende reagieren. Einer der Würmer dort ist bei seinen Such- und Pendelbewegungen auf ein Kiefcrnbündel gestoßen. Er saugt es ungefähr in der Mitte an, eben an der Stelle, an der er es erstmalig berührt. Blitzschnell schnurrt sein Körper in die Rohre zurück, aber das lange Bündel will nicht so wie der Wurm; es legt sich quer vor den Eingang und federt zurück. Nun, das Tier läßt den Mut nicht sinken, es tastet weiter nach rechts, zieht wieder an, das Bündel legt sich schräg, 20
sperrt aber immer noch. Weiter suclit der Kopf nach rechts, jetzt ist er in den Zuckerbereich gelangt, mit vermehrter Kraft zieht er an. und nach vielen Versuchen steckt endlich das Bündel in der Röhre. Ein anderer Wurm — die Vorgeschichte ist die gleiche wie beim vorigen Versuch — war zuerst an die Chininseite gekommen. Heftig zuckte er zurück, spuckte eine Menge Schleim ans, wartete einen Augenblick — so ein Regenwurmaugenblick dauert ein bis zwei Minuten! — prüfte wieder, war noch immer im Chininbereich, erschrak wieder, arbeitete aber solange weiter, bis er endlich zur Zuekerseite kam. Bündel, die an beiden Seiten Chiningelatine trugen, wurden schweren Herzens liegengelassen. Vor schwächeren Chininlösungen, die dem Menschen noch sehr bitter vorkommen, stießen die Regenwürmer nicht zurück. Das kam daher, daß die meisten Blätter eine gehörige Quantität Bitterstoffe in sich haben, an die die Regenwürmer schon gewöhnt sind, so daß ihnen ein bißchen bitteres Chinin nichts ausmacht. Nun gibt es in der Natur aber keine Blätter und Pflanzenstücke, die nur nach Zucker oder Chinin schmecken. Die verschiedenen Blattsorten enthalten soviel gemischte Geschmacks töne, daß wir sie uns unmöglich künstlich herstellen oder beschaffen können, wie etwa Chinin oder Zucker. Wozu auch? Wenn wir die Blätter fein zerstoßen und pulverisieren, können wir Sie in Gelatine aufschwemmen. Mit einer solchen Linden-, Eichen- oder Kirschengötterspeise überziehen wir wieder unser Kiefernnadelbündel. Dann ist es nicht mehr allzu schwer, die Leibspeise des Regenwurms festzustellen. Aber wir müssen uns von vornherein klar darüber sein, daß es eine zeitraubende Arbeit ist. Es müssen nämlich tausende und tausende Versuche gemacht werden in allen möglichen Zusammenstellungen. Das ist in der mit Experimenten arbeitenden Biologie immer so. Da können zehn oder hundert Versuche tadellos verlaufen, aber gesagt ist damit noch gar nichts; denn der Versuchspartner ist ein Lebewesen, eine Einzelpersönlichkeit, die nicht ausschließlich nach mathematisch erfaßbaren Regeln und Gesetzen handelt. Erst, wenn eine Unzahl von Experimenten alle Fehlerquellen ausgeschlossen hat, dann können wir sagen: so müßte es sein. Wenn dann aber auf einmal ein anderer kommt, dessen Versuchsmethode besser ist und ein anderes Ergebnis hat, dann müssen wir uns bescheiden und einsehen, daß unsere Ergebnisse unrichtig waren. Denn alle, die an der Erforschung des Lebens und seiner Erscheinungen arbeiten, stehen im Dienst einer großen Sache, hinter der der Einzelne zurücktreten 21
muß. Viel Idealismus gehört dazu, noch mehr Geduld und auch viel Liebe zu den Versuchsobjekten, den Tieren. Nach dieser kleinen Abschweifung zurück zum Regenwurm! Wir wollen uns die ganzen Versuche mit den verschiedenen Blattsorten schenken. Hier geben wir uns einmal mit den Ergebnissen zufrieden, die ein anderer in mühevoller Kleinarbeit für uns gefunden hat. Der Regenwurm mag lieber Weiden- als Eiehenblätter und zieht Lindenblätter dem Buchenlaub vor; vermodert sind sie seine Leibspeise. Für frische Blätter, zart, saftig und grün, hat er gar nicht viel übrig, und als Trockengemüse frißt er es nur in der größten Not. Zieht man eingezogene Blätter nach ein paar Stunden aus der Röhre, so sehen sie ganz verändert aus. Sie sind wie ausgekocht und haben die ursprüngliche Farbe fast verloren. Meist sind fast nur noch die Blattrippen wie ein feines Filigran vorhanden, das Parenchym, die Zellmasse, fehlt vollkommen. Der Wurm kann nämlich riesige Mengen von Speichel produzieren, mit ihm erweicht er die Blätter, die außerdem vorverdaut werden. Den halbflüssigen Brei schlürft er dann auf. Ist das alles so wichtig? Was ist Humus? Liebigs Kunstdün-
TAn K a p i t e l vom H u m u s
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wurm, unser Ernährer. 130 000 Regenwürmer in einem Hektar Vielleicht wird sich trotz unserer einleitenden Worte zu Beginn dieses Heftes mancher Leser fragen: wozu das alles? In den Bibliotheken wächst die Regenwurmliteratur dank dieser Erkenntnisse Zentimeter um Zentimeter weiter. Sie wird aber wieder nur von Leuten gelesen, die sie auf Grund dieser Vorstudien selber erweitern wollen. Ist es nicht letzten Endes doch nur Neugier, die Tausende von Forschern sich ihr Leben lang mit den kleinsten Einzelheiten der Tier- und Pflanzenwelt beschäftigen läßt? Interessant mag das sein — gewiß! Auch Briefmarken- oder Streichholzschachtelsammeln ist interessant für den, der es mag. Macht es einen glücklicher, besser, gläubiger, wenn man Stückchen um Stückchen aus dem Schleier herausreißt, der die Geheimnisse der Schöpfung verhüllt, und wenn man doch von vornherein weiß, daß man auf den Grund dieser Geheimnisse niemals gelangen wird? Gibt es nicht tausendmal wichtigere Aufgaben von unmittelbarem Nutzen für die Menschheit? Der reine Forscher arbeitet zunächst nur um der Forschung willen, ohne seine Arbeit von den Tagesforderungen beeinflussen zu 22
# lassen. Aber zumeist kommt sein entsagungsvolles Forschen doch wieder der Gesamtheit zugute. So haben z. B. viele Generationen von Naturwissenschaftlern sich mit den Mücken und all ihren unendlich vielen Spielarten befaßt. Bände wurden vollgeschrieben und verschwanden in den Bibliotheken der Institute. Da entdeckte im vorigen Jahrhundert der französische Mediziner Alphonse Laveran den Erreger der Malaria, der Engländer Ross und der Italiener Grassi fanden in der Anophelesmücke den Überträger dieses furchtbaren Parasiten. Und im Handumdrehen wurden die Werke über Mücken aus den Rjegalen geholt, die Erkenntnisse längst vergessener Diener der Wissenschaft waren mit einem Schlage zu ganz zeitnaher Bedeutung gelangt. Daß inzwischen auch die früheren Arbeiten und Untersuchungen über den Regenwurm Beachtung gefunden haben, wird durch die neuesten Erkenntnisse der landwirtschaftlichen Forschung und Bodenkunde bewiesen. Die Erneuerung des Humus, der nährstoffreichen Bodenschicht, ist ein Weltproblem und eine Menschheitsfrage geworden. Was hat der Regenwurm damit zu tun? Um seine Rolle in der Humusbildung zu verstehen, müssen wir zunächst einmal feststellen, was überhaupt Humus ist. Als zweites bleibt uns nicht erspart, noch einmal das Innere des Regenwurms unter die Lupe zu nehmen. Humus ist keinesfalls nur eine Angelegenheit für Gärtner und Bauern. Es ist sehr schwer, genau zu sagen, was Humus eigentlich ist. Die Meinungen der verschiedenen Fachwerke und Lexika gehen in der Erklärung und Beschreibung weit auseinander. Am besten können wir ihn so kennzeichnen: Humus ist die lebendige Erde, die aus pflanzlichen und tierischen Stoffen entsteht. Sein Gegenteil ist der Wüstenboden, in ihm gibt es nur anorganische Bestandteile, nur Sand der verschiedensten Arten. Und doch sind auch im Humus die vierzehn toten Baustoffe unserer Erdrinde vorhanden: Kieselsäure, Kalk, Kohlensäure, Tonerde, Kali, Natron, Phosphorsäure, Schwefelsäure, Chlor, Magnesia, Eisenoxydul, Eisenoxyd, Mangandioxyd und Wasser. Außerdem ist der Humus das riesengroße Reservoir, das alles aufgebrauchte Leben aufnimmt und neugeformt wieder zurückgibt. Man kann also sagen: Ohne Leben kein Humus, ohne Humus kein Leben. Denn das Tier kann notfalls fressen, was es will, die Pflanze aber nicht. Sie ist auf den Humus angewiesen, und von der Pflanze hängt alles übrige Leben auf der Erde ab. Es sind gerade hundert Jahre her, daß der Chemiker Justus Liebig, der humorvoll von sich behauptete, daß er nie etwas mit der Land23
Wirtschaft zu tun gehabt habe —, dato dieser Chemiker die gesamte Düngerwirtschaft der Welt in neue Bahnen wies. Er erbrachte den Beweis, daß die Pflanzen sich auch, losgelöst vom Boden, mit einer Lösung von mineralischen Salzen in Wasser ernähren lassen. Neueste Versuche mit dem „Hydroponicverfahren", dem „Chemischen Garten", der äußersten Fortentwicklung der Liebigschen Entdeckungen, haben sogar bewiesen, daß eine ausschließliche Kali-, Stickstoff-, Phosphor- und Kalkernährung wesentlich bessere Ertragsergebnisse zeitigen kann, als durch das Wachstum im Boden. Diese Ansicht ist richtig, aber über das Zeitalter, in dem man die Chemie für die alleinseligmachende Wissenschaft und die Pflanzen für chemische Fabriken hielt, sind wir heute hinaus. Als Liebig seine Forschungsergebnisse bekannt gab und sich daraus die großmächtige Kunstdüngerindustrie entwickelte, war die Meinung vorherrschend, daß die Höhe der Ernte, die man von einem Ackerboden gewinnt, nur davon abhänge, wieviel von den obengenannten Grundnährstoffen sich im Boden befänden. Heute wissen wir aber, daß die Dinge nicht ganz so einfach liegen. Es hängt nämlich nicht nur von einem kräftigen Griff in den Kunstdüngersack ab, ob man allezeit gleichmäßig hohe Erträge von seinem Boden erhält. Immer mehr häufen sich die Beweise, daß die mineralischen Bestandteile eines Bodens, die man um eine bestimmte Summe Geldes aus dem nächsten Lagerhaus ergänzen kann, nicht allein der Grund für die Fruchtbarkeit eines Stück Landes sind. Viel wichtiger ist die Unzahl von kleinen und winzigenLebewesen, die den Boden bevölkern. Es ist schon so: Lehen kommt doch nur vom Lebendigen und nicht von toten mineralischen Salzen. Je mehr Leben in einem Boden ist, je mehr es in ihm krab- 1, belt, kriecht, huscht und atmet, desto mehr Leben wird auch aus i ihm wachsen und über ihm gedeihen. Diese ganze Welt von fast unsichtbaren Wesen kann nur in einem guten, krümeligen Humusboden gedeihen. Deshalb nimmt jeder, der etwas davon versteht, vor einem Landkauf die Erde in die Hand, befühlt ihre Beschaffenheit und Eigenart. Es ist nicht so wichtig, ob man in einer „Bodenanalyse" den Boden auf seine chemischen Bestandteile hin untersuchen läßt. Viel besser wäre es — und heute ist es auch schon vielfach so der Brauch — einen sachkundigen Naturforscher herbeizurufen, der sich mit Erdbohrer, Tüllnetz, einigen Gläsern und Mikroskop hinsetzt, einen Tag lang geduldig Probe um Probe durchmustert, bis er sagen kann: Im Kubikzentimeter dieses Bodens sind ungefähr achtzigtausend Kleinlebewesen vorhanden, die Milliardenschar der Bodenbakterien 24
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gar nicht mitgerechnet! Aber es Werden noch weit mehr nützliche Tiere sein! Je nach dem Befund wird der Naturforscher anraten, das Land zu kaufen oder vom Kauf abzusehen. Er wird sogar den Boden abschätzen können und seinen Geldwert bestimmen. Ein amerikanischer Bodenforscher hat einmal ausgerechnet, daß auf einer Wiese genau soviel Gewicht an Rindern ernährt werden kann, als Gewicht an Regenwürmern und anderem Getier unter der Wiese im Boden lebt. Als wir Versuche anstellten, um zu sehen, wie der Regenwurm seine Gänge in der Erde bohrt, nannten wir ihn König im unterirdischen Reich des Ackerbodens. Und dieser Bergmann des Ackers ist tatsächlich ein König. Er ist das wichtigste und größte dieser Untertagetiere, und deshalb hängt das ganze Leben dort unten fast ausschließlich von ihm ab. Ja, er ist sogar für das Wachstum über der Erde verantwortlich und nicht aus unseren Böden fortzudenken. Um das ganz zu verstehen, müssen wir nochmals in den Wurm hineinschauen. Wenn sich der Wurm durch die Erde frißt, so siebt er sie zunächst, da er größere Steinchen nicht schlucken kann. Die feinere Erde wird in dem sehr muskulösen Schlund eingespeichelt. Diesen Schlund — Pharynx nennen ihn die Zoologen — kennen wir vom Blättereinziehen her, er ist wesentlich an der Saugnapfbildung beteiligt. Er kann nämlich vom Wurm etwa einen Zentimeter weit vorgestülpt werden und ist wie der „Kolben" in einer „Kopf saugpumpe". Gleichzeitig werden im Pharynx mit dem Speichel Verdauungssäfte unter den Erdbrei gemischt und das Ganze in einem Kropf gespeichert. Am Kropf liegen die verhältnismäßig großen Kalkdrüsen, die reinen Kalk in feinen Schüppchen unter den Nahrungsbrei mengen, damit die im Erdreich und den halbzersetzten Blättern vorhandenen Humussäuren abgeschwächt und unschädlich werden und im Darm das chemische Gleichgewicht erhalten bleibt. Diesen Kalkdrüsen wird außerdem noch die Arbeit von Lungen oder inneren Kiemen zxigesehrieben; denn der Wurm hat keinerlei äußeren Atmungsorgane. Aber er atmet doch. Bei der Atmung entsteht Kohlensäure, die das mit Kohlensäure immer sehr angereicherte Erdreich nicht aufnehmen kann. Nun würde sich die ausgeatmete Kohlensäure in den engen Kriechröhren und -gangen ansammeln und das Leben des Wurms erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Die Natur aber weiß sich immer zu helfen und scheidet die Atmungskohlensäure in fester Form in den Kalkdrüsen des Regenwurmkropfes ab.
Der gut vorbereitete Nahrungsbrei gelangt aus dem Kropf in den mit sehr kräftigen Muskeln versehenen Magen und wird hier durch angesammelte winzige Steinchen geknetet und zerrieben und dann in das eigentliche Darmrohr entlassen. Die für die Ernährung verwertbaren Bestandteile, Pilze, Pflanzenreste, Algen usw. nehmen die Darmwände auf, der Rest und die Erde werden durch die Leibesöffnung nach draußen gebracht. Das Ergebnis dieser immerwährenden Tätigkeit sieht man dann am anderen Morgen in den kleinen Wurmhäufchen, die nach feuchten Nächten überall auf dem Erdboden liegen. Diese Koterde ist für den Boden ungeheuer wertvoll. Sie ist ganz fein gesiebt, mit vielen pflanzlich-tierischen Resten durchsetzt und kalkhaltig, ist hochgradig mit Enzymen, Hormonen und Vitaminen versehen — sie stammen aus den Drüsensäften —, kurz und gut: es ist kostbarster Kompost. Die Wurmerde enthält siebenmal soviel Stickstoff, dreimal soviel Kali, doppelt soviel Phosphor, doppelt soviel Kalk und sechsmal soviel Magnesia wie allerbeste Gartenerde. Wenn wir die Probe aufs Exempel machen und solche Wurmhäufchen sammeln und sie dann in einem Blumentopf um die Wurzeln einer Primel «der eines Alpenveilchens tun, werden wir erstaunt sein und zunächst unseren Augen nicht trauen, wie prächtig sich die Pflanze entwickelt, wie sie größer und kräftiger wird, wie ihre Farben stärker leuchten. Das Wichtigste an dieser Wundererde aber ist, daß der Humus in ihr Dauerhumus ist, eine Form, die sich in Jahrzehnten und Jahrhunderten nicht verändert. Ein Humus, der nicht müde wird und den kein Regen auswaschen kann. Er zieht zusätzlich noch alle in der Erde gelösten Nährstoffe an sich und hält sie mit unvorstellbarer Kraft fest. Er gibt sie nur an die feinen Härchen der Pflanzenwurzeln ab, die dann zuguterletzt wieder den Menschen und Tieren dienlich sind. Wissenschaftliche Versuche haben dagegen ergeben, daß Stallmist innerhalb von drei Jahren aus dem Acker wieder vollkommen ausgewaschen wird. Wir können getrost behaupten, der Darm des Regenwurms, arbeitet nicht nur für seine eigene, sondern pausenlos auch für unsere Ernährung. Eine Masse von Bakterien, die die Wanderung durch den Darm mitgebracht haben, wirkt in dem ausgeschiedenen Kot weiter an der Zersetzung seiner mineralischen Bestandteile. Sie bilden daraus Nährlösungen, die von den Pflanzen mit ihren Wurzelhärchen aufgesogen werden, sie bilden auch Kohlensäure daraus, die ständig aus dem Boden aufsteigt und durch die unzähligen feinen 26
Spaltöffnungen an der Unterseite der Blätter aufgenommen und so den Pflanzen nützlich wird. Sie stellen aus ihr mit Hilfe des Sonnenlichts Stärke und Zucker her und bauen damit neue Pflanzenmasse, neue Ernte auf. Durch seine Gänge, die ein bis zwei Meter tief — tiefer als der größte Pflug reicht —, das Erdreich durchziehen, sorgt der Regenwurm für ausreichende Durchlüftung des Bodens und damit für genügend Sauerstoff, um die Kleinstlebewesen dort unten zu erhalten. Dort gibt es auch eine Unzahl von Algen und Kleinpilzen, die in dichten Gespinsten die einzelnen Erdbröckchen aneinanderheften und gleichzeitig voneinander entfernt halten. Eine so vom Bodenleben durchsetzte Ackererde ist locker und duftig, dadurch auch warm, sie kann große Mengen von Regen- und Schmelzwasser aufnehmen und auch festhalten. Sie verkrustet nicht, das Wasser kann sie nicht wegwaschen und der Wind nicht verwehen. Die ganze Bedeutung dieser Bergmannsarbeit des Regenwurms wird erst richtig offenbar, wenn man die Gesamtarbeitsleistung erfährt. Auf Grund von Bodenproben hat man berechnet, daß in einem Hektar Land 130 000 Regenwürmer leben. Das sind acht Zentner Regenwürmer, die in einem Jahr fünfhundert Zentner Erde zu Kompost verarbeiten. Diese Menge hat einen Düngewert von 48 Fuhren Stallmist. Ein Bauer bringt auf ein Hektar, also vier Morgen oder drei Tagwerk, bei sehr guter Düngung jährlich 24 Fuhren Mist. Während die Natur fünfhundert bis tausend Jahre braucht, um eine kaum drei Zentimeter dicke Schicht Humus zu produzieren, kann das Gleiche unter günstigen Bedingungen eine genügende Anzahl von Regenwürmern in fünf Jahren schaffen. Hier gibt es Regeawürmer zu kaufen. Im Sommer hält der Regenwurm Hochzeit. BauDer Regenwurm wird berühmt ernweisheit. Raubbau am Boden. Regenwürmer wandern aus. Noch einma*! in das Labor Endlich hat die praktische Landwirtschaft die hervorragende Bedeutung der Regenwürmer erkannt, und in Amerika sind sogar findige Leute daran gegangen, Regenwürmer für den Verkauf zu züchten. In den Gartenzeitschriften stehen seitenweise die Anzeigen, in denen Regenwurmfarmen ihre Erzeugnisse anbieten: 500 Regenwürmer kosten drei Dollar, bei Großabnahme gelten besondere Bedingungen. 27
Am bekanntesten ist die Farm von Dr. Thomas Barett in Kalifornien. Er hält für den eigenen Bedarf ungefähr eine Million Würmer in einem anderthalb Morgen großen Grundstück und zieht dort Obst und Gemüse, das weithin wegen seiner Güte und Größe berühmt ist. Außerdem hat er einen Regenwurmberatungsdienst eingerichtet, an den viele tausend Gärtner und Landwirte angeschlossen sind. Wie züchtet man Regeuwürmer? Ja, hier müssen wir den letzten Abstecher zurück zum einzelnen Tier machen und uns vergewissern, wie der Regenwurm sich fortpflanzt. Zur Zucht selber brauchen wir nur große, richtig angelegte Komposthaufen. Darin fühlen sich die Tiere wohl und werden stark und gesund, so daß sie im Juni und Juli eifrig Hochzeit halten. Die Regenwürmer sind Zwitter, d. h. jeder Wurm ist sowohl männlich wie weiblich und kann weibliche wie auch männliche Keimzellen hervorbringen. Nun machen sie es aber nicht wie andere Zwitter, die sich selbst genügen; sie kriechen an die Oberfläche und befruchten sich gegenseitig. In warmen Nächten schwillt der Gürtel, das Clitellum, den wir schon aus dem „Regenwurmsteckbrief" kennen, mächtig an und sondert große Schleimmengen ab, die an der Luft erhärten und die Tiere wie mit einem Mantel umschließen. Nach der Vereinigung zerreißen die Tiere ihre gemeinsame Umhüllung, und jedes kriecht seiner Wege. Beide Mütter wandern in den Boden zurück und legen in ein paar Tagen die Eier unter der Erde in einen Schleimbeutel ab, der schon bald zäh wie Leder wird. Nach zwei bis drei Wochen schupfen die Jungen, acht bis zehn an der Zahl, noch klein, aber im Aufbau völlig fertig, aus den erbsengroßen Kokonwaus. Der.Nestor der amerikanischen Regenwurmfarmer hat seine erste Anregung, sich mit Regenwürmern zu beschäftigen, aus dem Krieg mit heimgebracht. Er hatte nämlich einen alten französischen Bauern beobachtet, der sich beim Einsammeln von Regenwurmhäufchen nicht einmal durch einen plötzlichen Artilleriebeschuß stören ließ. Auf die Frage, ob denn diese Erde so kostbar sei, hatte der alte Mann geantwortet: „Der liebe Gott weiß, wie gute Erde entsteht, und er hat dem Regenwurm das Geheimnis mitgeteilt." Dieses Wort ist wahr; denn dort, wo der Regenwurm aus dem Boden auswandert, fällt die gewaltige Hilfe, die er dem Landmann leistet, fort, es erlischt nach und nach auch alles Kleinlehen, der Boden wird tot und unfruchtbar. Die Ausnutzung des Bodens in der modernen Landwirtschaft enthält nun in gewissem Sinne 28
einen Widerspruch. Die Aufbaustoffe, die von den Anbaufrüchten aus dem Boden herausgezogen werden, wie Kalk, Stickstoff Phosphor usw. können durch Stalldung allein nicht mehr ersetzt werden. Sie werden dem Boden durch künstliche Düngung wieder zugeführt, ohne die, darüber gibt es keinen Zweifel, unsere heutige Ernährung in Frage gestellt wäre. Aber der Zusatz dieser nicht gerade angenehmen chemischen Düngemittel stört den Regenwurm in seiner Behaglichkeit. Und der Regenwurm merkt Veränderungen in seiner Umwelt sehr schnell. In die Haut des Regenwurmes treten nämlich viele freie Nervenendigungen, die ihm mechanische Reize übermitteln. Außerdem sind über seine gesamte Hautoberfläche buckelartig gewölbte Sinnesknospen verteilt, aus denen eine Menge feiner Stifte in die Luft ragt. Das sind die Organe des chemischen Sinnes, der den Wurm vor schädlichen Bedingungen in seiner Umgebung warnt. Sie registrieren genau den Säuregehalt des Bodens und alarmieren das Nervenzentrum, wenn der Gehalt an Säure die Zuträglichkeitsgrenze überschreitet. Der Wurm wandert dann aus. Aber manchmal kann er das nicht mehr. So zeigen ungare Böden, die nicht mehr imstande sind, den ihnen Sinnesknospe in der Haut des verabreichten Dünger durch HumusRegenwurms bildung zu verarbeiten, in hartverbackenen Erdschollen immer wieder verhungernde Regenwürmer. Die Tiere liegen auch im Sommer in einer Erdhöhle, so wie sie bei Bodenfrost zu überwintern pflegen. Sie sind zwirnsartig aufgerollt, sehr mager und blaß und mindestens scheintot, meist aber zu Hunderten und Tausenden verendet. Außerhalb dieser „Schutzräume" findet sich kein einziger tätiger Wurm. Dieses traurige Bild, bei dem der Kreislauf der Humusbildung jäh abgerissen ist, kann man heute in fast allen Ländern und Kontinenten beobachten. Wenn nicht zu große Gebiete befallen sind, gelingt es dem Regen2')
wurm, auf besseren Boden auszuwandern. Das kann jeder Landwirt erleben, der sich für gutes Geld in einer Regenwurmfarm eine Menge Würmer kauft, sie daheim auf seinem schlechten Acker aussetzt und dann nach einigen Tagen feststellen muß, daß seine „Haustiere" alle auf den guten Boden des Nachbarn abgewandert sind. Der Bauer, dem so übel mitgespielt wurde, merkt aber, daß die Würmer nicht planlos und überstürzt geflüchtet sind. Weiß dieser erstaunliche Regenwurm zu all seinen übrigen Fähigkeiten auch noch, wohin er wandern muß, um eine zusagende Heimat zu finden? Diese Frage stellten sich einige Wissenschaftler und prüften den Regenwurm nach allen Regeln der Kunst auch auf seinen Richtungssinn. Im Laboratorium haben wir den Wurm näher kennen und schätzen gelernt, im Laboratorium verabschieden wir uns jetzt auch von ihm. Alle Versuche haben die erstaunliche Tatsache bestätigt, daß der Wurm weiß, wohin er wandern muß, wenn ihm die gewohnte Umgebung ungemütlich geworden ist. Das stellte man durch ganz einfache Experimente fest: In lange Holzkisten wurden jeweils drei Bodensorten gefüllt. So entstanden in einer Kiste immer drei fast quadratische Miniaturfelder. Die Regenwürmer wurden in dem mittleren Acker mit sauerem, für die Tiere sehr ungünstigem Boden ausgesetzt. Wenn die Tiere nun abwandern wollten, hatten sie zwei Möglichkeiten. Auf der einen Seite lag mittelgute, auf der anderen Seite sehr gute Erde. Man ließ ihnen drei Tage Zeit. Wenn man dann nachschaute, fand man fast alle Tiere im besten Boden. An den Gangrichtungen konnte man genau feststellen, daß kein Wurm auf seinem Weg umgekehrt war, daß sie die Richtung also mit Bedacht gewählt hatten. Die wenigen Würmer, die an den Rand der weniger guten Erde geraten waren, hatten eben Pech. Ihnen erschien diese Erde besser, sie krochen in sie hinein. Aber im Gesamtergebnis waren diese Tiere mit schlechterem Geschmack nur ganz geringe Ausnahmen. Die Flucht aus dem schlechten Boden erfolgte also keineswegs planlos; denn dann hätte bei der großen Zahl von angestellten Experimenten nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung ungefähr die Hälfte auf jedem Seitenfeld verteilt sein müssen. Das war aber, wie die Versuche bewiesen, nicht der Fall. Vielleicht witterten die Tiere auf größere Entfernungen, wo der beste Boden zu finden war. Es ist auch möglich, daß sie sich irgendwie untereinander verständigten, wie es die Bienen tun. Wir denken dabei an die belauschten ,di di di 30
da - da'-Gesänge. Vielleicht ist in ihnen aber auch ein Sinn wirksam, den wir noch gar nicht kennen. Das zu klären, bleibt späterer Forschung überlassen. Sicher ist vorläufig nur, daß sich die Masse der Regenwürmer immer ohne Umweg dem für sie günstigsten Boden zuwendet.
Aufgaben für die Zukunft So tauchen ständig neue Fragen und Probleme auf, die im Letzten immer wieder mit der Bodenwirtschaft zusammenhängen. Wir wissen, daß es bei der Frage d«r zureichenden Ernährung der Menschheit nicht nur auf mehr Land und mehr Raum ankommt, sondern auf mehr und auf besseren Humus. Wir wissen heute auch ungefähr, welche Bodenbedingungen die praktische Landwirtschaft schaffen muß, damit sich möglichst viele Regenwürmer ansiedeln und den drohenden Humusverlust aufhalten. Hier bedarf vor allem die Frage des Kunstdüngers und die Flucht des Regenwurms vor manchen Kunstdüngerarten noch eingehender Überlegungen. Theoretische Forscherarbeit und dringende Fragen der Gegenwart und Zukunft treffen so zusammen. Notwendig ist die Wiederherstellung des natürlichen Gleichgewichts, da wo es durch menschliches Eingreifen zerstört wurde. Dieses Gebot der Natur zu erkennen, Teilgebiete zu erforschen, um zum Bild des Ganzen zu kommen, ist die vordringliche Aufgabe der Wissenschaft — auch der lehrreichen und so bedeutungsvollen Wissenschaft vom Regenwurm.
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