Fabian Lenk
Marco Polo und der Geheimbund
Die Zeitdetektive 11
scanned 08/2008 corrected 09/2008
Kambalu in der Mong...
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Fabian Lenk
Marco Polo und der Geheimbund
Die Zeitdetektive 11
scanned 08/2008 corrected 09/2008
Kambalu in der Mongolei – 1275 nach Christus. Der Entdecker Marco Polo wird Opfer eines Giftanschlags. Wem ist seine Ankunft im Reich des Kublai Khans ein Dorn im Auge? Die Zeitdetektive decken ein finsteres Komplott auf und bringen sich dabei selbst in Lebensgefahr. ISBN: 3473345288 Verlag: Ravensburger Buchverlag Erscheinungsjahr: 2008 Umschlaggestaltung: Almud Kunert
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Fabian Lenk
Die Zeitdetektive
Marco Polo und der Geheimbund Band 11 Mit Illustrationen von Almud Kunert
Ravensburger Buchverlag
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
12 3 4 11 10 09 08 © 2008 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH Umschlag und Innenillustrationen: Almud Kunert Lektorat: Anne Brügmann Printed in Germany ISBN 978-3-473-34528-1 www.ravensburger.de
Inhalt Kim, Julian, Leon und Kija – die Zeitdetektive ............................................ 6 Ernste Zweifel ................................................ 8 In der Karawanserei ..................................... 19 Der Sturm .................................................... 37 Der Herr der Leoparden .............................. 49 Auf dem Sklavenmarkt ................................ 61 Die Falle ....................................................... 71 Jäger in der Nacht ........................................ 80 Gift im Wein ................................................ 95 Ungebetener Besuch .................................. 103 Das dunkle Tor .......................................... 109 Der Geheimbund ...................................... 121 Im Verlies ................................................... 127 Das goldene Kettchen ............................... 138 Einfach unbezahlbar ................................. 153 Marco Polo:Kaufmann und Abenteurer ... 156 Glossar ....................................................... 161
Kim, Julian, Leon und Kija – die Zeitdetektive
Die schlagfertige Kim, der kluge Julian, der sportliche Leon und die rätselhafte, ägyptische Katze Kija sind vier Freunde, die ein Geheimnis haben … Sie besitzen den Schlüssel zu der alten Bibliothek im Benediktinerkloster St. Bartholomäus. In dieser Bücherei verborgen liegt der unheimliche Zeit-Raum ‚Tempus‘, von dem aus man in die Vergangenheit reisen kann. Tempus pulsiert im Rhythmus der Zeit. Er hat tausende von Türen, hinter denen sich jeweils ein Jahr der Weltgeschichte verbirgt. Durch diese Türen gelangen die Freunde zum Beispiel ins alte Rom oder nach Ägypten zur Zeit der Pharaonen. Immer wenn die Freunde sich für eine spannende Epoche interessieren oder einen mysteriösen Kriminalfall in der Vergangenheit wittern, reisen sie mithilfe von Tempus dorthin.
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Tempus bringt die Gefährten auch wieder in die Gegenwart. Die Freunde müssen nur an den Ort zurückkehren, an dem sie in der Vergangenheit gelandet sind. Von dort können sie dann in ihre Zeit zurückreisen. Auch wenn die Zeitreisen der Freunde mehrere Tage dauern, ist in der Gegenwart keine Sekunde vergangen – und niemand bemerkt die geheimnisvolle Reise der Zeitdetektive …
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Ernste Zweifel
Tebelmanns Augen leuchteten. „Heute, meine Lieben“, sagte der Geschichtslehrer feierlich, „heute wollen wir den letzten Schultag mit etwas Besonderem ausklingen lassen – mit einem Diavortrag.“ Einige Schüler stöhnten. In der Klasse wurde es unruhig. Nach dieser Stunde begannen die Sommerferien, die Schüler standen bereits in den Startlöchern, um ins Freibad zu stürmen. Beschwichtigend hob Tebelmann seine Hände. „Ruhe!“, bat er. „Ich kann euch versprechen, dass es ein höchst unterhaltsamer und spannender Vortrag wird. Wir werden es gleich mit einem sehr berühmten Entdecker zu tun haben.“ Der Lehrer machte eine bedeutungsvolle Pause. Leon, Kim und Julian warfen sich Blicke zu. Wen könnte der Lehrer meinen? „Handelt es sich um Kolumbus?“, fragte Julian. „Daneben!“, rief Tebelmann. „Auch wenn Kolum8
bus sicher mehr als nur einen Dia-Vortrag verdient hat. Nein, meine Lieben, wir werden uns heute mit Marco Polo beschäftigen.“ Wieder gab es jede Menge Getuschel. „Wer ist denn das?“, wollte jemand wissen. Tebelmann verzog schmerzhaft sein Gesicht und drückte einen Knopf am Projektor. An der weißen Wand neben der Tafel erschien das Bild eines streng dreinblickenden Mannes mit einem dunklen Vollbart, sorgenvoll gefurchter Stirn, stechenden, klaren Augen und einer spitzen Nase. „Bitteschön: Marco Polo!“, stellte Tebelmann den Herrn vor. „So hat ihn einst ein Künstler gemalt. Wie kaum ein anderer steht Marco Polo für Reisen, Abenteuer und Entdeckungen!“ Julian blinzelte zu Kim hinüber. Das Mädchen reckte den Daumen nach oben. Ein mutiger Entdecker – das interessierte sie natürlich. Auch Leons Interesse war offenkundig geweckt. Er hing förmlich an den Lippen des Lehrers. „Im Jahr 1271 begab sich Polo von Venedig aus auf eine ausgesprochen gefährliche Reise. Damals war er gerade mal siebzehn Jahre alt“, fuhr Tebelmann fort. „Mit seinem Vater und seinem Onkel folgte Polo der Seidenstraße, bis er ins mongolische Großreich 9
von Kublai Khan gelangte. Insgesamt vierundzwanzig Jahre war Polo unterwegs, bevor er …“ „So lange?“, platzte Kim heraus. „Du hast richtig gehört“, entgegnete der Lehrer und drückte abermals auf einen Knopf. Nun erschien eine Karte, auf der der Verlauf der Seidenstraße eingezeichnet war. „Aber es hat sich gelohnt. Marco Polo kehrte nicht nur als reicher Mann zurück, sondern verfasste auch den berühmtesten Reisebericht der Geschichte – über Länder, die nie zuvor beschrieben worden waren. Marco Polo nannte diesen Bericht ,Die Beschreibung der Welt’.“ Tebelmann deutete auf die Karte. „Marco Polo hat eine unglaubliche Strecke zurückgelegt. Und ebenso unglaublich ist das, was er alles erlebt hat.“ „Was ist das, die Seidenstraße?“, fragte Leon. „Oh, entschuldigt bitte“, sagte Tebelmann. „Das könnt ihr schließlich nicht wissen. Also, die Seidenstraße verband im Mittelalter die Länder am Mittelmeer mit China. Auf dieser Straße wurden Gold, Edelsteine, Gewürze und vor allem Seide transportiert – daher der Name. Die Straße war viele Tausend Kilometer lang. Sie führte durch heiße Wüsten und schlammige Täler sowie über eisige Höhen. Und überall lauerten Banditen. Ich sage euch: Wer sich damals auf die Sei10
denstraße begab, riskierte viel – sogar sein Leben. Aber wem es gelang, in seine Heimat zurückzukehren, der war oft ein gemachter Mann.“ Inzwischen hatte es der Lehrer geschafft, sämtliche Schüler für den Stoff zu faszinieren. Nach und nach zeigte er weitere Fotos und Karten von den Stationen der Polo-Reise. Nach einer Viertelstunde stand Vanessa, die neben Kim saß, auf und sagte: „Das stimmt doch alles gar nicht!“ Verdutzt schaute Tebelmann sie an. „Was hast du da gerade gesagt?“ Alle Blicke waren jetzt auf Vanessa gerichtet. Sie wurde rot. „Marco Polo war ein Betrüger“, sagte Vanessa mit fester Stimme. Leon blies die Backen auf. „Vanessa lehnt sich ganz schön weit aus dem Fenster“, flüsterte er Julian zu. Sein Banknachbar nickte. „Wie kommst du denn da drauf, Vanessa?“, fragte der Lehrer. Das Mädchen hob die Schultern. „Mein Vater kennt sich auch gut in Geschichte aus. Und er sagt, dass Marco Polo nie bei Kublai Khan gewesen ist! Es gibt viele Ungereimtheiten in seinem Bericht.“ 11
Augenblicklich entbrannte eine Diskussion in der Klasse. Nur mit einiger Mühe konnte Tebelmann für Ruhe sorgen. „Ich kenne diese Zweifel natürlich“, rief er. „Einige Historiker glauben, dass Marco Polo zumindest Teile seiner Geschichte erfunden hat. Aber es gibt auch viele Wissenschaftler, die Marco Polo glauben. Und das tue ich auch. Warum hätte er diese Geschichten erfinden und aufschreiben sollen? Damals gab es kaum jemanden, der lesen konnte. Die Chinesen haben zwar schon Bücher gedruckt, aber erst zweihundert Jahre später wurde der Buchdruck auch in Europa populär. Also gab es zu Polos Zeiten kaum Bücher. Damit will ich sagen, dass Marco Polo mit einer Lügengeschichte kaum Geld verdienen konnte!“ Tebelmann fuhr fort, Marco Polo in einer flammenden Rede zu verteidigen. So wurde diese letzte Geschichtsstunde vor den Ferien noch unterhaltsamer. Als Kim, Leon und Julian später durch ihr hübsches Heimatstädtchen Siebenthann nach Hause trabten, diskutierten sie das Thema weiter. „Mich würde schon interessieren, ob Polo das alles nur erfunden hat“, sagte Leon. „Das kann ich mir nicht vorstellen“, entgegnete Julian. „Vor Kurzem habe ich noch einen großen Be12
richt über Marco Polo in National Geographic gelesen. Da war von diesen Zweifeln keine Rede!“ Leon kickte einen Kiesel über das Kopfsteinpflaster. „Dennoch, völlig aus der Luft gegriffen können diese Bedenken doch auch nicht sein.“ Abrupt blieb er stehen und grinste seine Freunde an. „Was haltet ihr davon, wenn wir der Sache auf den Grund gehen?“ „Eine kleine Zeitreise mit Tempus?“, flüsterte Julian mit großen Augen. Entschlossen nickte Leon. Doch Kim zierte sich. „Schon wieder zu den Mongolen? Da will mich bestimmt wieder einer heiraten!“ Nur zu gut erinnerte sie sich an ihr erstes Abenteuer in der Mongolei, das sie in die gefährliche Welt des Dschingis Khan geführt hatte. Damals hatte Kim nicht nur einen Heiratsantrag bekommen … „Keine Sorge, wir passen auf dich auf!“, versprach Julian. „Dich geben wir nicht so leicht her!“ Leon wiegte den Kopf. „Kommt ganz drauf an, wie viele Kamele für Kim geboten werden …“ „Mistkerl!“, Kim lachte und boxte ihm spielerisch in die Seite. „Aua!“, jammerte Leon grinsend. „Aber was ist denn jetzt: Sollen wir der Sache nachgehen?“ 13
„Klar“, sagte Julian. „Ich würde allerdings vorschlagen, dass wir zunächst noch ein paar Fakten über Marco Polo in unserer Bibliothek sammeln.“ Kim zögerte einen Moment, aber dann nickte sie. Zwei Stunden später hockten die Freunde in der Bibliothek des uralten, ehrwürdigen Bartholomäusklosters. Am Freitagnachmittag war die Bibliothek geschlossen. Doch die Freunde hatten schließlich einen Schlüssel zum Reich der Bücher. Inzwischen waren sie zu viert, denn Kim hatte die rätselhafte und ungewöhnlich kluge Katze Kija mitgebracht, die sich gerade auf ihrem Lieblingsplatz, der Fensterbank, niedergelassen hatte. Dort lag sie nun, die smaragdgrünen Augen halb geschlossen und die Ohren leicht nach vorn gedreht. Nur wer Kija nicht kannte, hätte glauben können, dass die Katze döste. Dem Tier entging absolut nichts. Unterdessen brüteten Leon, Julian und Kim an Lesepulten über Geschichtsbüchern, um sich auf ihre Reise vorzubereiten. „Hört mal, Jungs!“, rief Kim gerade. „Hier steht, dass Marco Polo im Jahr 1275 am Hof des gefürchteten Mongolenherrschers Kublai Khan in der Stadt 14
Kambalu ankam. Diese Stadt hatte der Khan von den Chinesen erobert. Aber Marco Polo war nicht allein. Er wurde von seinem Vater Niccolo, seinem Onkel Maffeo und zwei Mönchen begleitet.“ „Zwei Mönchen?“ „Ja!“, bestätigte Kim. Ihr rechter Zeigefinger huschte über die Zeilen. „Niccolo und Maffeo waren bereits viele Jahren zuvor schon einmal beim Khan gewesen. Und damals soll er ihnen einen Brief an den Papst mitgegeben haben, in dem er darum bat, dass die Polos bei ihrem nächsten Besuch Öl aus dem Jesusgrab und möglichst viele Mönche mitbringen. Denn der Khan hatte Gefallen am christlichen Glauben gefunden und wollte ihn unter seinen Untertanen verbreiten lassen.“ Julian schüttelte den Kopf. „Das wundert mich. Ich dachte immer, die Mongolen hätten damals an viele verschiedene Götter geglaubt und nicht an einen einzigen.“ „Das ist wirklich sehr ungewöhnlich“, stimmte Leon ihm zu. „Ich finde, das Jahr 1275 ist genau der richtige Zeitpunkt, um Marco Polo zu besuchen. Was meint ihr?“ Kim war sofort einverstanden. Doch Julian bestand darauf, erst noch mehr Informationen zu sammeln. 15
Und so wälzten er und Leon eine weitere Stunde verschiedene Bücher und Zeitschriften, während Kim einen der beiden Bibliotheksrechner hochgefahren hatte und im Internet recherchierte. Doch die Freunde wurden nicht schlauer. Auch wenn es in gängigen Lexika keine Zweifel an Polos Glaubwürdigkeit gab, stießen sie doch immer wieder auf kritische Stimmen in der Fachliteratur. „Kommt, lasst uns hinreisen!“, drängte Leon. „Gebongt!“, rief Kim und schaltete den Computer aus. Auch Julian gab die Nachforschungen auf. Kija war die Aufbruchsstimmung nicht entgangen. Sie erhob und streckte sich ausgiebig. Dann sprang die Katze von der Fensterbank und sauste voraus Richtung Tempus. Maunzend erreichte Kija das unscheinbare Bücherregal, hinter dem sich der Zeit-Raum verbarg. Gemeinsam schoben die Freunde das auf einer Schiene befestigte Regal zur Seite. Dahinter erschien die Tür zu Tempus, die kunstvoll verzierte Pforte zu Abenteuern in der Geschichte. Leon schlüpfte als Erster durch das Tor, dann folgten Julian und Kim, die Kija auf den Arm genommen hatte. Wie immer waberte blauer Nebel durch den Raum, der kein Ende und keinen Anfang zu haben 16
schien. Im schwachen Licht konnten die Kinder die Tausenden von Türen, über denen je eine Jahreszahl stand, nur erahnen. Aus den Türen drangen seltsame, beunruhigende Töne. Von irgendwoher war ein eintöniger Singsang zu hören, der immer wieder durch laute Kampfschreie und dumpfe Gongschläge unterbrochen wurde. Die Jahreszahlen waren in keiner logischen Reihenfolge angeordnet, sodass den Freunden nichts anderes übrig blieb, als auf gut Glück zu suchen. Leon tastete sich über den im Rhythmus der Zeit pulsierenden Boden zur nächsten Tür und entzifferte die Jahreszahl: 1928 – vollkommen daneben. Weiter ging die Suche. Dabei kam es Leon so vor, als würde das Herz von Tempus heute langsamer schlagen als sonst. Ganz entspannt, ganz ruhig. Die Freunde liefen weiter, von Tür zu Tür. Plötzlich setzte der Puls aus. Es war merkwürdig still. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte Julian ängstlich. „Weiß nicht“, gab Leon zurück. Der Nebel lichtete sich für einen Moment und gab den Blick auf eine weitere Tür frei. „Das ist die richtige Tür! 1275!“ Leon rannte los. Gerade, als er das Tor erreichte, begann Tempus wieder zu atmen. Jetzt jagte sein Puls. Es war, als habe 17
der Zeit-Raum nur für einen Moment die Luft angehalten. Die Freunde fassten sich an den Händen und konzentrierten sich ganz auf Marco Polo. Denn nur so konnte Tempus sie an den richtigen Ort bringen. Mit geschlossenen Augen traten sie durch das Tor – und fielen in ein schwarzes Nichts.
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In der Karawanserei Halbdunkel empfing sie. Unsicher schauten sich die Freunde um. „Ein Karren!“ Kim war verblüfft. „Wir sind in einem Karren gelandet. Jungs, prägt ihn euch gut ein, er ist unsere Rückfahrkarte nach Siebenthann.“ „Na klar“, erwiderte Julian nur, während er von dem zweiachsigen Holzkarren stieg. Er sah sich um. Zweifellos befanden sie sich in einem Stall. Pferde wieherten, Kamele blökten. Ein riesiger Yak scheuerte seine Hörner an einem Balken. Es roch nach Heu und Mist. „Ihr seht übrigens hübsch aus“, sagte Julian grinsend zu Kim und Leon. „Du aber auch“, erwiderte Leon. Alle drei trugen Lederstiefel, grobe, weite Hosen, gewebte, dunkelbraune Hemden und auf den Köpfen Mützen mit einem Rand aus Fell. „Der letzte Schrei“, kommentierte Kim, während sie Kija auf den Boden ließ. „Aber wo sind wir hier eigentlich? Und wo ist Marco Polo?“ 19
In diesem Moment betrat ein Mann mit einer auffallend platten Nase und leicht schräg stehenden Augen den Stall. Er hatte eine Mistgabel geschultert. Als der Mongole die Gefährten erblickte, wurden seine Augen schmal. „Was habt ihr denn hier verloren?“, knirschte er. „Wir haben niemanden verloren, wir suchen jemanden“, antwortete Julian höflich.
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„Ach ja?“, erwiderte der Mann und rammte die Mistgabel unmittelbar vor Julian in den Boden, wo sie federnd stecken blieb. Erschrocken wichen die drei Kinder einen Schritt zurück. „Habt Angst, was?“, sagte der Mongole lauernd. „Das solltet ihr auch. Denn wir mögen hier keine Diebe. Bestimmt wolltet ihr Vieh stehlen!“
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„Nein, niemals!“, riefen die Freunde. „Wir suchen wirklich jemanden. Er heißt Marco Polo.“ Der Mann stutzte. Dann kratzte er ausgiebig seine Bartstoppeln. Langsam wich das Misstrauen aus seinem runden Gesicht. „Polo? Diesen Namen habe ich doch schon mal gehört … Bin mir aber nicht sicher. In einer solchen Jamb ist schließlich ein ständiges Kommen und Gehen.“ „Eine Jamb?“, fragte Kim. Der Mongole sah sie überrascht an. „Wie, das weißt du nicht? Eine Jamb ist eine Poststation, Mädchen, und zugleich eine Karawanserei. Hat unser gottvoller Kublai Khan eingerichtet. Woher kommst du denn, beim großen Köke Tngri?“ „Ach so, eine Jamb, natürlich“, sagte Kim schnell, „ich hatte gerade etwas Falsches verstanden.“ Der Mann riss die Mistgabel aus dem Boden. „Wer so ahnungslos ist wie ihr, ist bestimmt zu dumm, um Vieh zu stehlen.“ Kim nickte. Sollte er das doch glauben. Hauptsache, der Mann verdächtigte sie nicht länger, Diebe zu sein! „Ja, so eine Jamb ist wirklich eine gute Sache“, fuhr der Mongole jetzt fort. „Die Stationen liegen alle nur einen Tagesritt auseinander. Die Boten des Khans können wichtige Dokumente von Jamb zu Jamb 22
transportieren. Dort warten immer frische Pferde und ausgeruhte Kuriere. Übernachten können die Boten in der Karawanserei, wie auch die vielen durchreisenden Händler. Und für mich gibt es hier stets Arbeit und Lohn als Stallbursche!“ „Wo können wir Marco Polo finden?“, fragte Julian. Der Mann hob die Schultern. „Vielleicht in der Karawanserei.“ Er deutete mit dem Daumen zum Tor. „Da lang. Und jetzt verschwindet hier.“ Rasch verließen die Freunde den Stall. Die Dämmerung hatte gerade eingesetzt. Eine matte Sonne schickte ihre letzten Strahlen über eine weite Ebene mit sanften Hügeln. Hüfthohes Gras bedeckte das Land, ein grünes Meer, aus dem vereinzelt Maulbeerbäume herausragten wie die Masten von Schiffen. Wildblumen sorgten für seltene Farbtupfer im grünen Einerlei. Über den Köpfen der Gefährten zog ein Falke seine Bahnen. Unmittelbar neben der Jamb stemmte sich ein einsames, zweigeschossiges Holzhaus gegen den heftigen, kalten Wind, der über die Ebene fegte und das Grasland peitschte. Die Karawanserei wirkte alles andere als einladend. Sie war aus dunklem, fast schwarzem Holz errichtet worden, ihre Tür war schmucklos und niedrig und die kleinen Fenster glichen glanzlosen Augen in einem verlebten Gesicht. 23
Hinter dem Gebäude zeichneten sich am Horizont weitere Hügel ab – doch diese waren nicht grün, sondern gelb. Es handelte sich um mächtige Sanddünen. Auf einem schnurgeraden Weg ritten aus dieser Richtung ein paar einsame Gestalten mit ihren hoch beladenen Kamelen auf die Karawanserei zu. „Die Seidenstraße“, sagte Julian beeindruckt. „Das muss sie sein!“ Aus der Karawanserei drang Musik, eine seltsame Mischung aus dumpfen Trommeln, zischenden Zimbeln und grellen Trompetenstößen. Die Töne klangen so schräg, dass Kija auf Kims Arm zurücksprang. „Es geht nicht anders“, sagte Kim bedauernd. „Da müssen wir jetzt wohl rein.“ Trotz der heftigen Proteste der lärmempfindlichen Katze betraten die Freunde das finstere Haus. Hitze und wilde Trommelrhythmen schlugen ihnen entgegen. Die Kinder standen in einem großen Raum mit einer niedrigen rußgeschwärzten Decke. Dort drängten sich etwa hundert Menschen. Sie aßen, tranken und feierten. Archi und Chorz, die beiden beliebtesten alkoholischen Getränke, flossen in Strömen. An der Stirnseite des Schankraums war ein Tresen. Dahinter loderte ein Feuer in einem offenen Kamin. Ein völlig verschwitzter Küchenjunge drehte ei24
nen Spieß mit einer halben Hammelhälfte über dem Feuer. Jetzt knallte ein grimmig dreinblickender Mann randvolle Krüge auf den Tresen, dass die Tropfen nur so flogen. Sofort griffen einige Gäste gierig danach. Lachend zogen sie gleich darauf mit ihrer Beute zu einem Tisch, auf dem eine junge, schöne Frau barfuß tanzte. Sie trug einen durchsichtigen Schleier, eine knallrote Schärpe und um die Hüften ein goldfarbenes Tuch. Um sie herum standen Männer und klatschten im Rhythmus der Trommeln. Die Musiker hockten an der rechten Seite des Raums auf einem kleinen Podest und gaben ihr Bestes. Unter ihnen war auch ein Mann, der eine Sheng blies, eine Mundorgel mit siebzehn Pfeifen. Kija maunzte gequält und Kim begann die Katze zu streicheln. „Ob Marco Polo wirklich hier ist?“, rief Julian. Verzweifelt ließ er seinen Blick über die dicht gedrängte Schar gleiten. Die Gäste schienen aus allen möglichen Ländern und Schichten zu kommen. Manche trugen teure Hemden mit Pelzbesatz, andere elegante Seidenanzüge. Doch es gab auch Männer, die nur noch fadenscheinige Lumpen am Leib hatten und deren Gesichter vor Dreck starrten. Fast alle im Raum waren bewaffnet. Sie trugen kurze Dolche, Krummschwerter 25
oder lange Messer am Gürtel. Julian schluckte. Besonders gemütlich fand er den Laden nicht. „Wir müssen uns durchfragen!“, brüllte Leon Julian und Kim zu und versuchte sein Glück bei einem Mann, über dessen gerötetes Gesicht sich eine große Narbe zog. Doch der Mann zuckte nur mit den Schultern. Kim hatte kurz darauf mehr Erfolg. Der dicke Kerl, den sie gefragt hatte, deutete in eine besonders düstere Ecke. Unter Einsatz ihrer Ellbogen schoben sich die Freunde dorthin. Um einen niedrigen Tisch gruppierten sich mehrere Bänke. Fünf Männer hatten sich dort um Platten voller Fleisch, Brot und Obst versammelt. Kims Herz schlug höher. Zwei der Männer trugen Mönchskutten! Und das Gesicht des Mannes, der in der Mitte saß, zierte ein dichter, gepflegter Vollbart. Die Nase war gerade, aber etwas zu lang, die braunen Augen wirkten klug und wachsam, jedoch auch listig. Dieser Herr sah genauso aus wie der Mann, den Tebelmann ihnen während seines Diavortrages gezeigt hatte! „Marco Polo?“, fragte Kim aufs Geratewohl. Der Bärtige schaute sie an. Er wirkte belustigt, aber zugleich neugierig. „Du kennst mich?“, fragte er und spießte mit seinem Messer ein Stück Hami auf. Kim deutete eine Verbeugung an. „Ja, wir haben Euch gesucht. Wir …“ Sie überlegte, wie sie fortfahren 26
sollte, und entschied sich für eine kleine Notlüge. „Wir haben gehört, dass Ihr fleißige Knechte und Mägde sucht.“ „Ja! Und wir wollten fragen, ob wir in Eure Dienste treten dürfen“, sprang Julian ihr bei und erzählte seine Standardgeschichte für solche Situationen: „Wir haben unsere Eltern bei einem Überfall von Räubern verloren und sind nun leider ganz allein und mittellos.“ Bedauernd nickte Marco Polo. Dann flüsterte er seinem Nebenmann etwas ins Ohr. Die Kinder warteten gespannt. Dabei wurde Kija in Kims Armen immer unruhiger. „Tut uns leid“, rief Marco Polo schließlich. Er hatte große Mühe, die Trommeln zu übertönen. „Wir brauchen niemanden. Aber ihr könnt mit uns essen.“ Mit einer einladenden Geste deutete er auf die Platten mit den Speisen. „Es gibt feines Dal-Fleisch, Mach mit viel Zwiebeln und Eintopf: Char Soi.“ Doch Kim winkte ab. Besonders appetitlich wirkten die Speisen nicht. „Vielen Dank, aber wir sind nicht hungrig. Oder, Jungs?“ Leon und Julian schüttelten die Köpfe. Marco Polo hob die Schultern. „Mehr kann ich nicht für euch tun …“ Dann wandte er sich wieder seinen Begleitern zu. 27
Bedrückt verließen die Freunde die Karawanserei. Draußen wurden die Schatten immer länger. Der Wind war eisig kalt. „Und jetzt?“, fragte Kim mit düsterer Miene, während sie Kija auf den Boden ließ. Offenbar erleichtert sprang die Katze um Kims Beine herum. „Gute Frage“, sagte Leon und seufzte. „Uns bleibt meiner Meinung nach nur eine Möglichkeit“, sagte Julian. „Wir reisen den Polos hinterher und suchen uns am Hof des Khans Arbeit. Dort sind unsere Chancen sicher besser. Und heute Nacht müssen wir eben irgendwie im Stall unterkommen. Da ist es wenigstens warm.“ Kim und Leon waren einverstanden. Und so schlüpften die Freunde in einem unbeobachteten Moment in den Stall. Dieser wurde inzwischen von einigen Laternen spärlich beleuchtet. Der plattnasige Knecht saß an einer der Tierboxen, hatte die Arme um die angezogenen Knie gelegt und schnarchte. Vorsichtig schlichen die Freunde an ihm vorbei. Über eine wacklige Holzleiter gelangten sie auf den Heuboden, wo sie es sich einigermaßen gemütlich machten. Kija ging mit weit geöffneten Augen sofort auf Mäusejagd. „Tja, Kija ist Selbstversorger“, wisperte Kim. Und 28
während sie das sagte, bekam sie Hunger. Ihr dämmerte, dass sie vorhin doch lieber Marco Polos Einladung hätten annehmen sollen. Stunden später waren auch die Freunde eingeschlafen. Nur Kija wachte. Für sie war dieser Stall mit seinen vielen Winkeln und Balken ein einziger großer Spielplatz und zudem ein wunderbares Jagdrevier. Ständig raschelte irgendwo etwas. Geheimnisvolle Geräusche, die Kijas Jagdtrieb weckten. Auf samtenen Pfoten glitt die Katze nun durch das Stroh. Gerade als Kija an dem schlafenden Knecht vorbeiflitzte, öffnete sich nahezu geräuschlos das Stalltor und eine Gestalt huschte herein, die das Gesicht unter einer Kapuze verborgen hatte. Zielstrebig ging der nächtliche Besucher auf eine der Tierboxen zu und machte sich dort an den Stricken zu schaffen, mit denen die Pferde angebunden waren. Kija sprang die Leiter hinauf und stupste Kim so lange mit der Nase an, bis das Mädchen hochschreckte. Schlaftrunken sah Kim die Katze an, deren smaragdgrüne Augen weit geöffnet waren. Kim kannte das Mienenspiel des Tieres bestens, sie konnte geradezu in Kijas Augen lesen. Irgendetwas schien nicht zu stimmen. Vorsichtig spähte sie vom Heuboden hi29
nunter und sah die vermummte Gestalt, die sich in der Box zu schaffen machte. Ein Pferdedieb! Und der Knecht, der eigentlich aufpassen sollte, schlief! Schnell weckte Kim ihre Freunde. Sie legte einen Finger auf ihre Lippen und deutete zur Box. Gemeinsam beobachteten sie den Verdächtigen. Jetzt hatte er das erste Pferd losgebunden. Die Gefährten nickten sich zu. Dann gingen sie zum Angriff über. „Ein Dieb!“, schrie Kim. „Er klaut die Pferde!“ Der Vermummte fuhr herum und schaute zu den Freunden hoch. Zorn sprühte aus seinen Augen. Dann ging alles blitzschnell. Er ließ den Strick los und rannte Richtung Stalltor. Doch der Knecht war aufgewacht und rappelte sich gerade auf. Als der Vermummte an ihm vorbei wollte, schlug er ihm vor die Schulter, sodass der Dieb strauchelte. Er kam jedoch erstaunlich rasch wieder auf die Beine und rannte weiter. Der Knecht nahm die Verfolgung auf. Inzwischen waren die Kinder die Leiter hinuntergesaust und sahen, wie der Knecht den Dieb einholte. Die Männer begannen, sich zu prügeln. Schreie und Flüche wurden laut. Dem Dieb gelang es, den Knecht mit einem gut platzierten Faustschlag niederzustrecken und durch das Tor zu schlüpfen. 30
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„Er darf nicht entkommen!“, rief Julian. „Auf keinen Fall!“ Leon schnappte sich einen hölzernen Wassereimer. Die Freunde rannten nach draußen. Der Dieb überquerte gerade den Platz vor der Karawanserei. Kim und Julian schrien um Hilfe, während Leon die Augen zusammenkniff und zielte. Dann schleuderte er den Eimer. Volltreffer! Leon hatte die Beine des Fliehenden getroffen. Ein Schmerzensschrei ertönte und der Mann ging zu Boden. Im selben Moment flog die Tür zur Karawanserei auf und mehrere Männer erschienen. „Was ist hier los?“, riefen sie. „Ein Pferdedieb!“, schrien die Gefährten und deuteten auf den Mann. Sogleich wurde der Vermummte überwältigt. Alles brüllte durcheinander. Auch der Knecht tauchte auf. Er rieb sein offenbar schmerzendes Kinn. „Seht mal, da ist auch Marco Polo!“, rief Kim. Der Mann mit dem Vollbart trat heran und ließ sich informieren. „Es waren Eure Pferde, die der Dieb stehlen wollte“, sagte der Knecht jetzt zu Marco Polo. „Ach wirklich? Dann bin ich dir zu Dank verpflichtet, dass du den Diebstahl verhindern konntest“, sagte Marco Polo. 32
Da meldete Kim sich zu Wort. „Ehrlich gesagt, ohne uns wäre er entkommen!“ Marco Polo sah sie überrascht an. Er kniff die Augen zusammen. „Seid ihr nicht die Kinder mit der Katze?“ „Ja“, bestätigte Kim. „Wir haben uns im Stall versteckt, weil wir keine andere Unterkunft finden konnten. Dann kam der Dieb und wir haben gleich Alarm geschlagen!“ „Stimmt das?“, fragte Marco Polo den Knecht. Dieser nickte unwirsch. Dann blaffte er die Kinder an: „Aber dass ihr euch heimlich in meinen Stall geschlichen habt, hat noch ein Nachspiel.“ Marco Polo machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mach dich nicht wichtig, Knecht. Ich bin froh, dass diese Kinder den Diebstahl verhindern konnten! Wahrscheinlich hast du geschlafen, als der Täter kam!“ „Stimmt!“, rief Kim und erntete erneut einen bösen Blick des Knechts. „Kija hat mich geweckt und ich habe meine Freunde alarmiert!“ Marco Polo lächelte Kim an. „Du und deine Freunde wart sehr mutig“, sagte er und bückte sich zur Katze hinunter. „Und du, wunderschönes Tier, warst es sicher auch!“ 33
Dann zog er unter seinem Hemd ein dünnes, vergoldetes Kettchen hervor und hängte es Kim um den Hals. „Das schenke ich dir. Denn ohne die Pferde wären wir nicht weit gekommen!“ „Vielen Dank“, antwortete Kim und schaute Marco Polo mit großen Augen an. Insgeheim gestand sie sich ein, dass ihr der venezianische Kaufmann imponierte. Er wirkte verwegen und war anscheinend sehr großzügig. „Aber noch schöner wäre es, wenn wir Euch doch begleiten dürften“, ergänzte sie, um die Gunst des Moments zu nutzen. „Wir können uns bestimmt in vielerlei Hinsicht nützlich machen.“ Marco Polo legte den Kopf in den Nacken und lachte. „Nun gut, so sei es. Das Schicksal scheint uns zusammengeführt zu haben. Haltet euch bereit. Gleich morgen brechen wir auf. Ihr könnt euch um unsere Pferde und Packtiere kümmern.“ Die Freunde tauschten begeisterte Blicke. Nun wandte sich Marco Polo an den Dieb, der von zwei anderen Männern festgehalten wurde, und riss ihm die Kapuze vom Kopf. „Wer bist du?“, fragte er scharf. Der Dieb spuckte auf den Boden. „Das geht dich gar nichts an!“, polterte er. 34
„Was erlaubst du dir?“, schrie Marco Polo. Hasserfüllt schaute der Dieb den Kaufmann an. „Die Frage ist doch viel eher, was ihr euch erlaubt, beim Sülde Tngri. Du, deine Verwandten und diese Mönche hier!“ Verwundert schüttelte Marco Polo den Kopf. „Ich weiß nicht, was du meinst, Elender!“ Jetzt lächelte der Dieb verschlagen. „Ja, und das ist auch besser so! Ihr werdet nicht mehr weit kommen, das verspreche ich dir! Verflucht seid ihr!“ „Werft den Kerl in den Kerker!“, rief Marco Polo wütend. „Ich kann dieses Gerede nicht mehr ertragen.“ Der Dieb wurde abgeführt. Dabei stieß er übelste Verwünschungen gegen Marco Polo aus. „Ihr müsst nicht länger im Stall schlafen“, meinte Marco Polo zu den Gefährten. „Ich werde dafür sorgen, dass ihr eine Kammer in der Karawanserei bekommt.“ Die Freunde bedankten sich. Dann liefen sie hinter Marco Polo in die Herberge, in der es inzwischen ruhiger zuging. „Komisch“, sagte Kim leise zu Julian und Leon. „Ich habe das Gefühl, dass der Kerl kein normaler Pferdedieb war …“ 35
„Wieso?“ „Er hat Marco Polo verflucht und ihn bedroht. Mir kam es so vor, als habe der Dieb Marco Polo und seine Leute aus irgendwelchen Gründen unbedingt stoppen wollen. Um sie daran zu hindern, nach Kambalu zu gelangen.“ Julian zuckte nur die Schultern und gähnte. „Vermutlich wollte sich der Mann nur wichtigmachen.“ „Das glaube ich nicht“, erwiderte Kim. „Habt ihr denn nicht den Hass in seinen Augen gesehen? Ich sage euch: Wir müssen auf der Hut sein und mit weiteren unangenehmen Überraschungen rechnen.“
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Der Sturm
Am nächsten Morgen lud Marco Polo die Freunde an seinen Tisch zum Frühstück ein. Bei warmer Eseg, Obst und frischem Fladenbrot stellte er ihnen gut gelaunt seine Begleiter vor, wobei er bei einem stattlichen Mann mit Schnurrbart und deutlich abstehenden Ohren begann: „Das hier ist mein Vater Niccolo. Er ist bereits zum zweiten Mal in diesem Land. Genau wie mein Onkel Maffeo.“ Marco Polo deutete auf einen kleinen rundlichen Mann mit einem heiteren Gesichtsausdruck und unzähligen Lachfältchen um die Augen. Maffeo nickte und sagte: „Stimmt. Wir waren bereits vor zwei Jahren Ehrengäste am Hof des großen Kublai Khan. Dort haben wir sogar seine Sprache gelernt. Nun haben wir sie auch Marco beigebracht. Tja, und bei unserer jetzigen Reise haben wir einen Spezialauftrag von Kublai Khan persönlich.“ „Sehr richtig“, bestätigte Marco Polo. „Deshalb haben wir zwei Mönche dabei: Angelo und Francesco.“ 37
Die beiden Glatzköpfe in ihren Kutten nickten. „Wir sind im Namen des Herrn in dieses Land gereist“, sagte der eine. „Wir wollen den Ungläubigen das Wort Gottes nahebringen.“ „Genau darum hat uns der Khan gebeten“, ergänzte Marco Polo. „Der Khan scheint ein weiser Mann zu sein. Er ist tolerant und interessiert sich für andere Religionen. Das Christentum hat es ihm wohl angetan. Er möchte mehr darüber erfahren. Und wir sollen dafür sorgen, dass auch sein Volk unseren Gott kennenlernt. Die Mönche sollen das Wort Gottes verkünden. Und der Khan wollte unbedingt etwas Öl aus der Lampe, die als ewiges Licht über dem Grab von Jesus Christus in Jerusalem brennt. Das haben wir ihm besorgt.“ Julian runzelte die Stirn. „Ihr habt die Reise nur wegen der Verbreitung des Christentums angetreten?“ „Wir schon!“, riefen die Mönche. „Und ihr?“, wandte sich Julian an die drei Polos. Niccolo Polo blies die Backen auf. „Nun ja, in erster Linie schon. Aber natürlich kostet eine solche Reise auch ein kleines Vermögen und deshalb wollen wir auch, wie soll ich sagen …“ Er warf seinem Sohn einen Hilfe suchenden Blick zu. „Rede nicht um den heißen Brei herum“, raunzte Marco Polo seinen Vater an, während er nach einem 38
Apfel griff. „Wir wollen Geschäfte machen, natürlich. Daran ist nichts Verwerfliches. Schließlich sind wir Edelsteinhändler. Und vom Wort Gottes allein kann niemand leben.“ „Wir schon“, sagten die Mönche erneut. „Stimmt, aber auch nur deshalb, weil ihr Spenden bekommt!“, rief Marco Polo. „Daran ist auch nichts Verwerfliches“, entgegneten die Mönche leicht beleidigt. Marco Polo stöhnte leise auf. Dann richtete er seinen Blick auf die Kinder. „Edelsteine“, sagte er leise. „Wir werden Edelsteine kaufen. Nirgendwo gibt es so schöne wie im Reich des Khans.“ In seinen Augen blitzte ein starkes Verlangen auf. Er lächelte listig. „Und so erschwingliche … Wir werden als reiche Männer nach Venedig zurückkehren.“ „Habt Ihr denn keine Angst, dass man Euch auf der Reise überfällt?“, wollte Leon wissen. „Ihr seid doch nur zu fünft!“ Erneut lächelte Marco Polo. „Richtig, und zwei davon sind Söhne Gottes, die nicht zum Schwert greifen würden, wenn es nötig sein sollte. Aber uns wird nichts passieren. Denn wir haben ja weder Gold noch Silber dabei.“ „Wie wollt Ihr die Edelsteine dann bezahlen?“ 39
Marco Polo schaute sich um, ob man sie beobachtete. Im Gastraum war ein ständiges Kommen und Gehen. Immer wieder warfen finstere, bewaffnete Gestalten sehr interessierte Blicke auf die gut gekleideten Kaufleute. Leon schätzte, dass auf einen Kaufmann mindestens ein Räuber kam, der in der Karawanserei sein nächstes Opfer aussuchte. Keine besonders angenehme Vorstellung. Leon begann sich mulmig zu fühlen. Er schaute zu Kim und Julian. Denen schien es auch nicht besser zu ergehen. Marco Polo sprach sehr leise, als er fortfuhr: „Wir haben etwas dabei, was genauso viel wert ist wie Gold: Safran!“ „Ein Gewürz?“ „Ja!“, rief Marco Polo und begann zu lachen. „Das wird im Reich des Khans mit Gold aufgewogen. Dieses Gewürz gilt hier als absolute Delikatesse, als nahezu unbezahlbar. Und wir haben viel Safran dabei, gepresst und als Samen. Völlig unauffällig. Jeder dumme Räuber wird es übersehen!“ „Vergiss bitte nicht den Brief des Kublai Khan“, ergänzte Maffeo schmatzend. Mit einer großen Geste zog er ein Stück Pergament aus seiner Jacke. „Der Khan hat uns eine Art Schutzbrief ausgestellt. Nie40
mand darf sich an uns vergreifen. Wir sind schließlich in seinem Namen unterwegs.“ Marco Polo verzog das Gesicht. „Darauf würde ich nicht so viel geben, Onkelchen. Welcher Räuber kann schon lesen? Und jetzt sollten wir los. Auf zum Hof des Khans!“ Er erhob sich. Gemeinsam verließen sie den Gastraum. Draußen traf sie der kalte Wind. Gewaltige Wolken trieben am Himmel. Nun liefen sie zum Stall, wo der Knecht bereits ihre Pferde gesattelt hatte. Niccolo Polo schnippte dem Knecht eine Münze zu, die dieser geschickt auffing. „Ihr könnt euch auf die Packtiere setzen“, rief Marco Polo den Kindern zu. „Oder auf den Karren.“ Leon, Julian und Kim warfen sich erleichterte Blicke zu. Das war genau der Karren, den Tempus ausgewählt hatte, um sie in die Mongolei zu schicken! „Ein Glück, jetzt haben wir unsere Rückfahrkarte immer dabei!“, flüsterte Leon seinen Freunden zu und sprang als Erster auf den Karren, der von zwei äußerst mürrisch dreinblickenden Maultieren gezogen wurde und mit Zelten und Decken beladen war. Julian folgte, dann kletterten auch Kim und Kija hinauf. Der Katze schien die Sache nicht ganz geheuer zu sein. Ihr Schwanz peitschte unruhig hin und her. Kija wirkte nervös. 41
Marco Polo hob die Hand und deutete in Richtung der Dünen. „Folgen wir der Seidenstraße!“, rief er. „Bitte wartet, mein Herr!“, ertönte in diesem Moment eine Stimme. Die Gefährten drehten sich um und erblickten einen uralten Mann mit einem dunklen, faltigen Gesicht, das an eine schrumplige Rosine erinnerte. Der Greis ritt auf einem struppigen Pony heran und zog seine Pelzmütze. „Mein Name ist Qortschi“, sagte er mit krächzender Stimme. „Ich werde ebenfalls die Seidenstraße bereisen und biete an, euch zu begleiten.“ „Wir brauchen keinen Schutz, wenn du das meinst, alter Mann“, erwiderte Marco Polo hochmütig. „Oder hast du zwanzig berittene Bogenschützen dabei?“ Qortschi lächelte nachsichtig. „Du bist jung und unerfahren, Marco Polo. Ich habe vielleicht keine Reiter bei mir, aber ich kenne die Gegend wie kein anderer.“ Marco Polo war nicht beeindruckt. „Wir werden der Straße folgen. Sie führt direkt nach Kambalu. Wir können kaum in die Irre reiten.“ „Das geht schneller, als du denkst“, belehrte Qortschi ihn. „Gut möglich, dass es bald ein Unwetter gibt. Und dann wirst du nichts mehr von der Straße sehen, mein Freund.“ 42
Für einen Moment wirkte Marco Polo unschlüssig. „Vielleicht sollten wir in der Karawanserei bleiben, bis das Wetter besser ist“, schlug Julian vor. „Nein“, erwiderte Marco Polo. „Wir reiten los. Jetzt sofort! Und du, Qortschi, darfst uns begleiten.“ Den Freunden blieb nicht verborgen, dass ein dünnes Lächeln über Qortschis Gesicht huschte. Es war ein seltsames Lächeln, berechnend und wissend. Und so zog die kleine Karawane los, während sich über ihr der Himmel immer dunkler färbte. Vorn ritt Qortschi, hinter ihm folgten seine beiden Packtiere. Dann kamen die Polos und die Freunde auf dem Karren. Das Schlusslicht bildeten die beiden Mönche. Nach wie vor war Kija sehr unruhig. „Sie scheint irgendetwas zu ahnen“, mutmaßte Kim. „Aber was könnte es sein?“ „Sie spürt die Gefahr, in der wir uns befinden“, sagte Julian. „Das Wetter wird immer schlechter. Wir hätten nicht aufbrechen sollen!“ Darauf sagte niemand etwas. Jede Unterhaltung verstummte. Wie ein Band aus Stein zog sich die Seidenstraße durch die wilde, unberührte Hügellandschaft. Das Steppengras wirkte jetzt nicht mehr grün, sondern grau. Nach und nach wich es zurück und machte einer 43
kargen, wüstenähnlichen Landschaft Platz. Die Seidenstraße führte in eine steinige Ebene mit vereinzelten Felsblöcken. Der Wind steigerte sich jetzt rasch zum Sturm. Regenschwere, dickbäuchige Wolken hetzten über den Himmel, schoben sich ineinander und türmten sich zu unheimlichen Gebirgen auf. Unverdrossen ritt Qortschi voran. Er begann sogar zu singen. „Klingt ein bisschen wie eine Ziege“, lästerte Kim. Leon kicherte. Nur Julian blieb ernst. Sorgenvoll richtete er einmal mehr seinen Blick zum Himmel. Dann schaute er wieder auf die Straße. „Oh nein“, stieß Julian hervor. „Der Weg ist kaum noch zu sehen.“ Erschrocken erkannten Kim und Leon, dass Julian Recht hatte. Der Sand hatte die Seidenstraße teilweise unter sich begraben. Dessen ungeachtet ritt Qortschi in zügigem Tempo weiter. „Ist vielleicht doch gut, dass Qortschi dabei ist“, sagte Kim. „Er scheint den Weg auch so zu kennen.“ Doch der Sturm blies immer mehr Sand heran, der den Pferden um die Beine pfiff. Die Tiere begannen zu wiehern und zu scheuen. Die Freunde drehten dem Sturm den Rücken zu. Dennoch waren die feinen Körner plötzlich überall. 44
In ihren Haaren, den Augen, sogar in Nase und Mund. Kim begann zu husten, während sie ihre Jacke aufknöpfte, damit Kija hineinschlüpfen konnte. Der Himmel über ihnen war jetzt von einem giftigen, diffusen Gelb. Der von dem Wind aufgepeitschte Sand raste, pfiff und schmirgelte über die karge Landschaft, als wolle er sie neu formen. Leon erinnerte sich an einen Fachartikel, den er mal gelesen hatte. Manchmal trugen solche Stürme ihre sandige Fracht aus Afrika bis weit nach Europa. Unvermittelt blieb ihr Karren stehen. Leon wagte es, über die Seitenwand zu schauen. Mit zusammengekniffenen Augen sah er Marco Polo, der auf die Maultiere einbrüllte. Doch die Tiere bewegten sich keinen Millimeter. Sie schienen in eine Art Streik getreten zu sein. Ein Stimmengewirr erhob sich. Die Männer brüllten durcheinander, Chaos brach aus. Eines der Pferde stieg hoch und warf seinen Reiter ab. Es war Maffeo, der sich fluchend aufrappelte. „He, was ist das?“, rief Leon und stupste Kim und Julian an, die nach wie vor zusammengekauert auf der Ladefläche hockten. Nur widerwillig spähten sie aus ihrer Deckung hervor. „Was denn? Ich sehe nichts!“, beschwerte sich Kim ungehalten. 45
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„Da waren gerade zwei Reiter!“ „Wo denn?“ „Da vorn, auf dem Kamm der Düne!“, antwortete Leon. „Kann nicht sein. So weit kannst du doch gar nicht sehen“, entgegnete Julian und ging mit Kim und Kija wieder in Deckung. Ärgerlich schüttelte Leon den Kopf. Gerade, als er etwas sagen wollte, tauchten wieder Schemen im Sturm auf. Aber jetzt waren es nicht mehr nur zwei, sondern bestimmt zehn. Wie viele es genau waren, ließ sich schwer sagen, weil die Gestalten immer wieder im Sandsturm verschwanden – wie Geister. In einem Punkt jedoch war sich Leon sicher: Sie kamen genau auf sie zu! Leons Augen brannten, aber er starrte weiter in den Wind. Und dann waren sie plötzlich ganz nah: vermummte Reiter mit Säbeln, Pfeil und Bogen! Schlagartig wurde Leon bewusst, dass sie angegriffen wurden! „Alarm!“, schrie er. Schreie gellten und ein Pfeil surrte dicht über den Karren. „Runter!“, rief Leon und sprang. Mit seinen Freunden suchte er Schutz unter dem Wagen. Kija miaute kläglich. 47
Um sie herum wogte der Kampf. Plötzlich erklang ein scharfes Kommando. Pferdehufe donnerten davon. Dann herrschte gespenstische Stille. „Sind sie … weg?“, fragte Kim. Die Freunde ließen zwei Minuten verstreichen. Dann trauten sie sich aus ihrem Versteck hervor. Ein Mann wankte ihnen entgegen – es war Angelo, der Mönch. „Wo ist Francesco?“, schrie er ängstlich. Jetzt kamen die drei Polos hinzu. Sie alle waren unverletzt. „Auch Qortschi ist nicht mehr da“, stellte Marco Polo düster fest. Gemeinsam riefen sie die Namen der beiden. Doch weder Qortschi noch der Mönch antworteten. Trotz des Sturms suchten sie die nähere Umgebung ab – umsonst. „Vielleicht sind sie in Panik geraten und weggelaufen“, vermutete Julian. Leon sah Julian nachdenklich an. „Nein, ich glaube eher, dass Francesco und Qortschi entführt worden sind. Warum sonst hätten die Angreifer plötzlich von uns ablassen sollen? Sie hatten das, was sie wollten und sind mit ihren Opfern geflohen.“
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Der Herr der Leoparden
Einige Zeit später hatte sich der Sturm wieder gelegt und Marco Polo gab das Signal zum Aufbruch. Mit einiger Mühe konnten sie nun die halb zugewehte Seidenstraße erkennen. Bedrückt zog die Karawane weiter. Die Polos stellten alle möglichen Vermutungen an, wo Francesco und Qortschi geblieben sein könnten. „Weshalb sollte jemand einen Mönch entführen?“, überlegte Marco Polo laut. „Ein Mönch ist doch mittellos.“ „Vielleicht wollen die Täter ihn als Sklaven verkaufen“, sagte Kim. Marco Polo blickte das Mädchen skeptisch an. „Ich weiß nicht … Francesco ist weder besonders jung noch kräftig.“ Das Gespräch verstummte. Später sagte Kim leise zu ihren Freunden: „Wir müssen die beiden wiederfinden, das ist ja wohl klar!“ 49
„Das sehe ich auch so“, stimmte ihr Leon zu. „Vielleicht finden wir in der Stadt eine Spur von ihnen.“ „Ja“, ergänzte Julian. „Bestimmt gibt es dort einen Sklavenmarkt. Womöglich sind Francesco und Qortschi dorthin verschleppt worden!“ Stunde für Stunde zogen sie auf der Seidenstraße dahin. Unterwegs trafen sie weitere Händler, die ebenfalls auf dem Weg nach Kambalu, der großen, alten chinesischen Stadt waren, die der Mongolenherrscher Kublai Khan erobert und zu seiner Hauptstadt gemacht hatte. Die Händler hatten alles Mögliche dabei: feine Glaswaren vom Mittelmeer, kostbares Meersalz aus dem fernen Indien und Pelze aus dem Norden der Mongolei. Auch Handwerker, Bauern und Hirten mit ihren Yaks oder Kamelen bevölkerten die Straße. Schließlich verwandelte sich der staubige Weg in eine akkurat gepflasterte Allee, die auf ein mächtiges Stadttor in einer dicken Mauer zuführte. Rechts und links der Allee hockten Händler vor ihren Zelten und boten Glücksbringer, Salben, Lederschuhe oder Felljacken feil. Andere verkauften Süßigkeiten, warmes Fladenbrot oder kleine Fleischspieße. Der kurze Tross durchquerte das Stadttor und kam an den ersten typisch chinesischen Häusern vorbei. 50
„Seht mal, die schönen Schnitzereien!“, rief Kim begeistert. Die meisten der Gebäude hatten einen rechteckigen Grundriss, waren einstöckig und aus dunklem Holz errichtet worden. Das Besondere war das spitzgiebelige Dach. Wie eine zu große Mütze thronte es auf dem Erdgeschoss. Die Enden der geschwungenen Dachsparren deuteten nach oben und glichen einem kunstvoll frisierten Schnurrbart. An den Spitzen hockten Furcht einflößende Holzfiguren: Tiere mit langen Schnauzen, spitzen Eckzähnen und gierig aufgerissenen Augen, die das Haus vor bösen Geistern beschützen sollten. Schnitzarbeiten verzierten die tragenden Balken und den Hauseingang. Zu sehen waren Drachen, Blüten und Bäume. Auf die Türen waren Säbel schwingende Kämpfer gemalt, die das Haus bewachen sollten. Fast an jedes Wohngebäude grenzte eine Werkstatt an. Die Kinder sahen Zimmerleute, Schmiede und Gerber bei der Arbeit. Niccolo Polo wies nach vorn. „Da ist der Palast!“ Zu sehen war zunächst nur eine weitere Mauer, hinter der goldene Kuppeln und Zinnen aufblitzten. „Der Palast des großen Kublai Khan!“, ergänzte Maffeo Polo ehrfurchtsvoll. 51
Die Freunde beschlich eine leichte Nervosität. Diese nahm noch zu, als sie das Tor erreichten, über dem eine große, weiße Fahne wehte, die mit einer roten Sonne und einem gelben Mond verziert war. Soldaten mit langen Speeren und scharf geschliffenen Shimshirs verwehrten der Karawane den Weg. Doch als Marco Polo das Pergament des Khans vorzeigte, durften sie sofort passieren und gelangten in einen riesigen Hof. Staunend erkannten die Freunde, dass dieser Palast eine Stadt innerhalb der Stadt zu sein schien. Denn hier tummelten sich Hunderte von Händlern und Lieferanten, die ihre Waren abluden. Beamte wuselten zwischen den Wagen und Packtieren hindurch und gaben Kommandos. Ein Diener in einem hellgrünen Seidenanzug eilte auf die Polos zu und verneigte sich mehrfach. „Ich bringe euch zum Herrn der Herren!“, sagte er mit einer merkwürdig hellen Stimme zwischen all den Verbeugungen. „Er erwartet euch bereits.“ Die Polos und der Mönch stiegen von den Pferden und übergaben sie Stallknechten, während die Gefährten vom Wagen sprangen. „Eure Tiere und den Wagen werden wir in den Stallungen unterbringen“, sagte der Diener. Kim prägte sich das genau ein. Immerhin brauch52
ten sie den unscheinbaren Karren für die Rückreise nach Siebenthann. „Hoffentlich kann uns der Khan helfen, die beiden Vermissten wiederzufinden“, sagte Leon. „Wenn es einer kann, dann er“, antwortete Kim. Mit kurzen Schritten trippelte der Höfling im Seidenanzug vor den Gästen her und führte sie immer tiefer in die Palastanlage hinein. Die Freunde liefen durch Arkaden, an deren Decken rote Lampions hingen, schritten durch Bogengänge mit aufwendigem Schnitzwerk, überquerten Höfe mit Springbrunnen und zierlichen Pavillons, an denen farbenprächtige Pflanzen und Wein hinaufrankten und gingen über Terrassen mit sauber geharktem, weißem Kies. Dann kamen sie an Teichen mit Lotosblumen und an Tiergehegen vorbei, in denen Pfaue auf und ab stolzierten. Windspiele drehten sich in der Brise, die sanft über den Palast strich. Schließlich liefen die Gäste staunend durch einen breiten Gang, in dem lackierte Wandschirme mit Drachenmustern und gewaltige Vasen aus Jade mit duftenden Schnittblumen standen. Unvermittelt verengte sich der Gang nun wie ein Flaschenhals, er wurde so schmal, dass die Gefährten hintereinandergehen mussten. Gerade als Julian, der 53
direkt hinter dem Höfling ging, die schmale Stelle passierte, flog von links ein gewaltiger Schatten auf ihn zu. Julian schrie gellend, als der Tiger mit einem fürchterlichen Brüllen gegen die Gitterstäbe prallte, die ihn von dem Jungen trennten. Julian stand da, zitternd und unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen. Jede Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. „Der Herr aller Herren liebt wilde Katzen“, erläuterte der Höfling gelassen. „Manchmal sind sie eben ein wenig zu wild, beim Köke Tngri. Aber euch wird nichts geschehen. Das Gitter ist ziemlich stabil, glaube ich.“ Leon schob Julian vorwärts. „Beruhige dich, das ist nur ein entfernter Verwandter von Kija.“ „Sehr komisch“, sagte Julian, der nun die Sprache wiedergefunden hatte. Sein Herzschlag hämmerte in seinen Ohren. Ängstlich warf er einen Blick auf den Tiger, der ihn durch die Gitterstäbe fixierte und sich das riesige Maul leckte. Julian schluckte. Dann setzte er sich wieder in Bewegung. Der Gang wurde breiter und führte schnurgerade auf ein großes, goldenes Portal zu. Ein Künstler hatte dort zwei Raubkatzen eingraviert, die fauchend aufei54
nander zusprangen. Bis an die Zähne bewaffnete, hünenhafte Soldaten bewachten regungslos den Eingang. Sie gehörten zur Kasitan, der Leibwache des Khans. „Dort residiert der Herrscher“, erklärte Marco Polo leise den Kindern. „Ab jetzt redet ihr nur noch, wenn ihr dazu aufgefordert werdet.“ „Sehr richtig“, quäkte der Höfling mit seiner schriller Fistelstimme. „Auf unerlaubtes Reden steht die Todesstrafe.“ Erneut musste Julian schlucken. Der Höfling rief den Wachen etwas zu. Einer der Muskelmänner verschwand durch die goldene Tür und winkte sie kurz darauf heran. „Nicht auf die Bosog treten“, mahnte Marco Polo. „Auch darauf steht die Todesstrafe!“ Die Gefährten nickten. Das wussten sie noch von ihrem ersten Abenteuer in der Mongolei. Die Mongolen glaubten, dass es großes Unglück bringen würde, wenn man auf eine Türschwelle trat. „Auf die Knie!“, war Marco Polos nächster Befehl. „Und Köpfe runter!“ Folgsam knieten sich die Freunde nieder. Der Boden schien aus purem Gold zu bestehen. Aus den Augenwinkeln erkannte Kim, dass sie in einer gewaltigen Halle waren. Irgendwo hörte sie Wasser plätschern. 55
„Schon gut, erhebt euch“, dröhnte nun eine Stimme durch den Raum. Langsam hoben die Freunde die Köpfe. Und was sie jetzt erblickten, verschlug ihnen den Atem. Überall blitzten Gold und Edelsteine. Auf dem goldenen Boden lagen feinste Seidenteppiche in zartem Hell- und Dunkelblau. Die Wände waren überzogen mit weinrotem, kostbarem Leder. Kunsthandwerker hatten Äste aus Kirschholz geschnitzt, die über das Leder rankten. An diesen Ästen hingen Früchte, und als Kim genau hinschaute, erkannte sie, dass diese Früchte blitzten, weil sie aus vielen kleinen Edelsteinen zusammengesetzt waren. Aus mehreren Springbrunnen plätscherten goldene Flüssigkeiten. Aus Kristallschalen stiegen schwere, blumige Düfte auf. Unauffällig standen überall Diener herum, die offenbar die Befehle des Khans erwarteten. Und in der Mitte der Halle saß er, der Kublai Khan, auf einem fein geschnitzten Thron. Sein Gesicht war rund und faltig. Die schmale Oberlippe zierte ein imposanter Schnurrbart. Streng fixierten die grauen Augen die Gäste. Auf dem Kopf trug der Khan eine goldene Krone, die wegen ihrer runden Form und dem Nackenschutz mehr wie ein Helm aussah. In der Mitte der Krone erhob sich ein kleines Dreieck mit einer Sonne, 56
die aus einem gewaltigen Rubin bestand. Der Khan trug einen Mantel aus schwarzer Seide mit silbernen und goldenen Stickereien, einen breiten, mit Diamanten besetzten Gürtel und weiche Lederstiefel. Rechts und links neben dem Herrscher ruhten zwei Leoparden, deren Augen kalt und wachsam auf Kija gerichtet waren. Diese machte einen Buckel und fauchte leise. Ganz schön mutig, dachte Kim insgeheim. „Ihr dürft sprechen“, erlaubte der Khan großmütig und winkte seine Gäste näher zu sich heran. Freundlich begrüßten die Polos den Khan und stellten den Mönch sowie Kim, Leon, Julian und Kija vor. Rasch kamen sie auf den Überfall zu sprechen. Der Khan war entsetzt und versprach, sofort nach den beiden Vermissten suchen zu lassen. „Wer es wagt, sich an meinen Gästen zu vergreifen, hat sein Leben verwirkt“, sagte der Khan gereizt. „Diese Schurken sind so gut wie tot. Cenku soll sich darum kümmern. Er ist meine rechte Hand.“ Der Khan ließ Cenku herbeirufen und stellte ihn als seinen Minister für Glaubensfragen, Recht und Ordnung vor. Cenku, ein ernster, hagerer Mann, verneigte sich kurz. „Schön, dass ihr einen Mönch dabeihabt“, rief der Khan. „Und wie sieht es mit dem Öl aus?“ 57
Mit einer großen Geste zog Marco Polo ein Fläschchen unter seinem Mantel hervor und reichte es dem Khan. „Ich danke euch“, sagte der Khan. „Das ist etwas ganz Besonderes für mich. Denn wie ihr wisst, schätze ich euren Glauben sehr. Der Mönch soll die Botschaft eures Gottes in mein Land tragen. Es wird Zeit, dass wir uns von der Welt der Geister und vielen Götter und Götzen verabschieden.“ „Nun, mein Herr aller Herren“, wagte Cenku einzuwenden, „immerhin waren es unsere alten Götter, die deine Herrschaft so gut gedeihen ließen.“ „Willst du damit sagen, dass ich ohne göttlichen Beistand versagt hätte, Cenku?“, fragte der Khan scharf. Sofort senkte Cenku seinen Blick. „Nein, natürlich nicht, mein Herr aller Herren.“ „Na also“, raunzte der Khan ihn an. „Und nun, meine Gäste, will ich mehr über euren allmächtigen Gott erfahren. Außerdem habe ich Hunger. Wollt ihr mit mir speisen?“ „Aber ja!“, riefen die Polos. Der Khan bedachte Julian, Kim und Leon mit einem leicht herablassenden Blick. „Und eure kleinen Diener können sich dabei gleich in der Palastküche nützlich machen. Geht zu Bolgara. Sie ist die beste 58
Köchin meines Landes und kennt sich zudem auch noch sehr gut mit Kräutern aus.“ Erneut fauchte Kija und Kim schloss für einen Moment die Augen. Doch der Khan runzelte nur kurz die Stirn und begann mit den anderen Erwachsenen eine Diskussion über Glaubensrichtungen. Ein Diener brachte die Freunde in die Küche, eine gewaltige Halle mit mehreren Herdstellen. Eine Heerschar von Köchen war damit beschäftigt, verschiedene Speisen zuzubereiten. Überall dampfte und brutzelte es. Der Diener lief zu einer schlanken Frau mit pechschwarzen Haaren und honiggelben Augen und sprach leise auf sie ein. Die Frau nickte und begrüßte die Gefährten lächelnd. „Ich bin Bolgara und habe hier das Sagen. Und ihr sollt mir helfen, habe ich soeben gehört.“ Dann deutete sie zu einem länglichen Tisch. „Dort ist meine Tochter. Wuhan, komm doch mal her!“ Ein Mädchen, das etwa so alt sein musste wie die Freunde, kam auf sie zu. Wuhan hatte eine Stupsnase und schöne, mandelförmige Augen. „Willkommen!“, rief sie. „Wollt ihr mir helfen? Ich muss Pilze klein schneiden.“ Die drei Freunde erhielten Messer und machten 59
sich mit Wuhan an die Arbeit, während Kija mit großen Augen zuschaute. Von einem anderen Tisch holte Wuhan einen kleinen Fisch und steckte ihn Kija zu. Die Katze maunzte zufrieden. Bei der Küchenarbeit erzählten die Freunde von der Entführung. „Sag mal, gibt es hier auch einen Sklavenmarkt?“, fragte Leon. „Ja“, erwiderte Wuhan ernst. „Er liegt im Zentrum der Stadt. Wollt ihr etwa dorthin?“ „Kann sein“, erwiderte Leon ausweichend. „Womöglich finden wir da eine Spur der beiden Entführten.“ Wuhan legte das Messer beiseite. „Das würde ich mir an eurer Stelle gut überlegen. Der Sklavenmarkt wird von Kogatai beherrscht. Viele halten ihn für den gefährlichsten Mann der Stadt. Und noch etwas: Wenn ihr nach Sonnenuntergang auf der Straße von den Wachen erwischt werdet, gibt es zwanzig Stockhiebe.“ Julian erschrak. „Wie bitte?“ Wuhan nickte. „So ist es. Kambalu ist eine schöne Stadt. Aber auch eine sehr gefährliche. Nehmt euch vor allem vor Kogatai in Acht!“ Nachdenklich schnitt Leon einen Pilz klein. Auch wenn es gefährlich war: Sie mussten zu dem Sklavenmarkt. Wo sonst sollten Francesco und Qortschi sein? 60
Auf dem Sklavenmarkt
Die Nacht verbrachten Julian, Kim, Leon und Kija in einer einfachen, sauberen Kammer am Rande des Palastgeländes. Das Zimmer lag in einem zweigeschossigen Bau, in dem Hunderte von Angestellten des Khans wohnten. Wuhan weckte die drei Freunde bei Tagesanbruch. „Kommt!“, rief sie fröhlich. „Es wartet Arbeit auf uns!“ Gähnend folgten die Gefährten ihr zur Küche. Dort erfuhren sie, dass sie das Frühstück für die Polos zubereiten sollten. Mit voll beladenen Tabletts liefen Kim, Julian und Leon kurz darauf zu den Kaufleuten aus dem fernen Venedig. „So mag ich das!“, rief Marco Polo, als er die Kinder erblickte. Offensichtlich hungrig machte er sich über das Frühstück her. Er wirkte ausgesprochen unternehmungslustig. „In der Stadt soll es einen Sklavenmarkt geben, der 61
von einem gewissen Kogatai regiert wird“, wagte sich Leon vor. „Womöglich sind die Entführten dort. Was haltet Ihr davon, wenn wir uns da mal etwas umsehen?“ „Vortreffliche Idee“, lobte Marco Polo ihn kauend. „Gleich nach dem Frühstück werde ich dort hingehen.“ „Dürfen wir mit?“ Marco Polo schaute Leon überrascht an. Seine Miene verfinsterte sich. „Bitte“, sagte Leon, bevor Marco Polo Nein sagen konnte. „Immerhin waren wir es, die das in Erfahrung gebracht haben!“ Nun lächelte Marco Polo. „Ihr gefällt mir, weil ihr nicht lockerlasst. Also, von mir aus: Ihr dürft mitkommen!“ Die Freunde flitzten in die Küche und meldeten sich dort ab. „In Ordnung“, sagte Bolgara, „aber gegen Mittag seid ihr wieder hier. Ich kann jede Hand gebrauchen!“ Eine halbe Stunde später verließen die Gefährten mit Marco Polo die Palastanlage. Ein Kind wies ihnen die Richtung. Schritt für Schritt tauchten Kim, Leon und Julian in die verwinkelte Stadt ein. Fast an jeder Ecke gab es kleine Garküchen, wo billige Mahlzeiten 62
angeboten wurden – zumeist Nudel- und Reisgerichte mit viel Knoblauch oder Ingwer, die die Kunden mit ihren Essstäbchen verzehrten. Aber auch andere Gerüche stiegen den Freunden in die Nase: Es roch nach Fisch, gebratenem Öl, süßen Parfüms, scharfen Gewürzen und aus einer fünfstöckigen Pagode nach Weihrauch. Reiter auf kurzbeinigen Pferden, Händler mit ihren Karren und Sänftenträger bahnten sich den Weg durch die dicht bevölkerten Gassen. „Seht mal, hier gibt es sogar Putzkolonnen!“, rief Kim überrascht. Und tatsächlich: Mehrfach begegneten die Freunde Reinigungstrupps, die alle möglichen Abfälle von den Straßen einsammelten. Marco Polo hatte die Führung übernommen. Immer wieder blieb er an Ständen stehen und warf prüfende Blicke auf die dort feilgebotenen Waren. Doch nichts schien ihm besonders zu gefallen. Allmählich wurden die Gassen immer schmaler, das Gedränge noch schlimmer. Sie gelangten in ein Viertel, wo es keine Putzkolonnen mehr gab. Die Häuser waren ärmlich, oft nur Bretterverschläge. Misstrauische Blicke folgten ihnen. Kija war extrem wachsam. Ihre Ohrmuscheln waren nach vorne gedreht, die Augen weit geöffnet. 63
Julian entging nicht, dass ein Mann in Lumpen den gut gekleideten Marco Polo sehr genau musterte. „Sollen wir nicht lieber zum Palast zurückkehren?“, fragte er besorgt. „Ich glaube, hier gibt es jede Menge Gauner …“ „Das glaube ich auch. Aber ich bin ja nicht allein hier. Ich habe schließlich das dabei“, erwiderte Marco Polo kühn und deutete auf seinen Gürtel, an dem ein langer Dolch hing. „Wenn du gute Geschäfte machen willst, musst du überall zurechtkommen.“ Julian schluckte. „Ich dachte, wir suchen nach den beiden Entführten.“ Marco Polo lächelte kühl. „Das tun wir auch. Aber das eine schließt das andere doch nicht aus …“ Vorsichtshalber sagte Julian nichts mehr. Jetzt fragte Marco Polo eine junge Frau nach Kogatai. Die Frau zog die Augenbrauen hoch und deutete mit dem Daumen auf ein Gebäude, das in weit besserem Zustand war als seine Nachbarn. Zwei Männer kauerten vor dem Eingang und starrten die Fremden drohend an. Völlig unbeeindruckt ging Marco Polo auf sie zu und wechselte ein paar Worte mit ihnen. Die Wachen nickten und zeigten in das Hausinnere. Marco Polo gab Julian, Kim und Leon ein Zeichen, ihm zu folgen. 64
Durch einen Gang gelangten sie zu einem Raum, der im Halbschatten lag. Auf einer Liege ruhte ein sehr großer, dicker Mann. Er war unrasiert. Mit seinen hervorquellenden Augen musterte er die Neuankömmlinge abschätzend. Vor ihm dampfte eine Schale mit Cha. Marco Polo stellte sich kurz vor. „Sei gegrüßt, Kaufmann aus Venedig“, sagte Kogatai. „Was hast du zu bieten? Die Kinder und das Katzenvieh?“ Kija machte einen Buckel und fauchte. „Die Kinder könnte ich verkaufen“, meinte Kogatai ungerührt. „Was willst du für sie haben?“ Die Freunde warfen sich entsetzte Blicke zu. Marco Polo deutete ein Lächeln an. „Sie sind nicht verkäuflich. Aber sag mir: Hast du von zwei Männern gehört, die sich gestern, sagen wir mal, in der Wüste verlaufen haben? Es gibt Stimmen, die sagen, dass du sie gefunden haben könntest, um sie zu verkaufen. Es handelt sich um einen Priester aus meinem Land und einen Händler namens Qortschi.“ Kogatai strich sich über seinen mächtigen Bauch. „Den Menschen, die so etwas sagen, sollte man die Zungen abschneiden. Nein, von diesen beiden Männern habe ich nichts gehört.“ 65
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„Sicher nicht?“, hakte Marco Polo nach. „Willst du mich beleidigen?“, fuhr Kogatai auf. Er schnippte mit den Fingern und wie aus dem Nichts tauchten vier Männern mit langen Säbeln auf. Beschwichtigend hob Marco Polo die Hände. „Nein, natürlich nicht. Aber du bist ein einflussreicher Mann, Kogatai. Du weißt, was in diesem Viertel läuft …“ Der Sklavenhändler machte eine wegwerfende Handbewegung. „Spar dir das, Polo. Willst du nun Geschäfte machen, oder nicht?“ „Ja“, entgegnete Marco Polo zur Überraschung der Freunde. „Ich suche Edelsteine und biete dafür Safran.“ „Safran? Sehr gut, beim Köke Tngri. Alle sind ganz wild danach“, sagte Kogatai gierig. „Ich kann dir derzeit keine Steine bieten. Aber ich habe feinste Seide und ganz junge Sklaven.“ „Keine Seide, ich suche Edelsteine“, beharrte Marco Polo. „Dann klappt es vielleicht ein anderes Mal mit unseren Geschäften. Du findest mich im Palast des Khans.“ Mit diesen Worten zog sich Marco Polo zurück. Die Freunde folgten ihm und waren unendlich erleichtert, als sich ihnen niemand in den Weg stellte. 67
„Dass Marco Polo mit so einem Fiesling Geschäfte machen will, finde ich echt daneben“, sagte Kim draußen leise zu ihren Freunden. „Und ich glaube diesem Kogatai kein Wort. Bestimmt weiß er, wo Francesco und Qortschi sind.“ Sie liefen weiter hinter Marco Polo her und erreichten einen großen Basar, wo neben Fellen vor allem Seide und Kleidung angeboten wurden. Auch hier herrschte dichtes Gedränge. Eine Menschentraube hatte sich um einen Märchenerzähler versammelt, der mit großen Gesten von den Abenteuern eines verwunschenen Drachen berichtete. Auch die Freunde lauschten einen Moment und verloren prompt Marco Polo aus den Augen. „Und jetzt?“, fragte Kim, während sie Kija auf den Arm nahm. „Suchen“, antwortete Julian. „Falls wir ihn nicht finden, laufen wir einfach zum Palast zurück.“ Die drei Freunde schauten sich gründlich um, doch Marco Polo fanden sie nicht. Dafür sahen sie an einem Stand mit Seide eine andere ihnen vertraute Gestalt. Der Mönch Angelo war in ein Gespräch mit einem Händler vertieft. Ganz offensichtlich wollte Angelo etwas kaufen, denn plötzlich hatte er Geldscheine in der Hand. 68
„Seltsam“, sagte Leon. „Ich dachte, dass die Priester kein Geld haben. Schließlich dienen sie nur Gott und sind an Besitz nicht interessiert … eigentlich.“ Kim grinste. „Fragen wir ihn doch mal!“ Als er die Kinder erblickte, ließ Angelo die Scheine blitzartig unter seiner Kutte verschwinden. „Guten Tag“, sagte er zu den Freunden. „Sind das nicht schöne Stoffe?“ „Oh ja“, erwiderte Kim. „Für welche Farbe habt Ihr Euch entschieden?“ „Entschieden? Aber nein“, wehrte der Mönch ab. „Ich bin ein Diener Gottes. Meine Kutte reicht mir völlig. Außerdem habe ich überhaupt kein Geld.“ „Ach so“, sagte Kim gedehnt. „Ja, so ist es. Und jetzt muss ich weiter“, sagte Angelo und lächelte gequält. Schon war er im Gedränge untergetaucht. „Warum lügt Angelo?“, überlegte Julian laut. „Irgendwie ist hier einiges nicht so, wie es sein sollte …“ „Seht mal her!“, rief Kim in diesem Moment. „Da, am Nachbarstand. Dort hängt eine Kutte!“ Die Freunde erschraken. Diese Kutte sah genauso aus wie die, die Francesco getragen hatte! Sie gingen zu dem Stand und taten so, als wollten sie sich die Kutte ansehen, um sie dann zu kaufen. 69
Eine offenbar nicht sehr geschäftstüchtige Verkäuferin ließ sie gewähren und unterhielt sich lieber mit einer anderen Frau. Plötzlich bekam Kim große Augen. „Das ist wirklich die Kutte von Francesco. Hier am Saum sind seine Initialen eingestickt. Und da knistert außerdem etwas.“ Das Mädchen sah genauer hin. Der Saum war am linken Ärmel aufgetrennt worden. Rasch schaute Kim, ob die Verkäuferin sie beobachtete. Doch die Frau schwatzte immer noch mit ihrer Freundin. Rasch griff Kim in das Futter der Kutte. Ihre Hände ertasteten etwas, was sich anfühlte, als wäre es aus festem Papier. Kim zog es heraus – es war ein kleiner Geldschein!
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Die Falle
„Von wegen arme Mönche“, murmelte Kim aufgeregt. „Angelo und Francesco haben sehr wohl Geld dabei!“ „Ja, und deswegen wurde Francesco sicher entführt. Womöglich haben die Täter irgendwie herausgefunden, dass er viel Geld dabeihat“, ergänzte Julian. „Die Entführer haben das Geldversteck in der Kutte entdeckt und vermutlich nur diesen einen Schein übersehen!“ Kim nickte. „Jetzt wird es Zeit, dass wir Marco Polo wiederfinden. Das wird ihn interessieren!“ Nach einer halben Stunde hatten sie endlich Glück: Sie fanden Marco Polo an einer Garküche. Neben ihm stand Angelo. Auch er vertilgte gerade eine Portion Nudeln. „Wo habt ihr denn gesteckt?“, fragte Marco Polo freundlich. Kim, Leon und Julian berichteten, dass sie die Kut71
te gefunden hatten. Sie erwähnten auch, dass Geld in der Kutte gewesen war. Marco Polo zog die Augenbrauen hoch. „Geld? Das ist merkwürdig …“ Augenblicklich lief er zum Stand, an dem die Kutte angeboten wurde, und stellte die Verkäuferin zur Rede. Aber die Frau versicherte ihm, dass sie die Kutte heute Morgen von einem fahrenden Händler gekauft habe. Wo dieser Mann sei, wisse sie nicht. Unvermittelt trat Angst in ihre Augen. Ihr Blick war auf einen Punkt hinten den Freunden gerichtet. Kim, Leon und Julian fuhren herum. Kogatai und zehn seiner schwer bewaffneten Männer bauten sich hinter ihnen auf. „Was ist hier los?“, zischte Kogatai. „Stellt ihr wieder Fragen, statt etwas zu kaufen?“ Er schnippte mit den Fingern. Sogleich wurden zehn Säbel gezückt. Unwillkürlich drängten sich die Freunde aneinander. „Alles in Ordnung“, sagte Marco Polo ohne eine Spur von Angst in der Stimme. „Das hoffe ich für dich, Fremder. Bedenke: Auch du bist nicht unsterblich“, sagte Kogatai. „Ich stehe unter dem Schutz des Khans“, erwiderte Marco Polo. Kogatai grinste schief. „In seinem Palast bestimmt, 72
aber hier herrsche allein ich! Hier mache ich die Gesetze, hier bestimme ich über Leben und Tod. Hast du das verstanden?“ Marco Polo nickte. Dann spazierte er zwischen den Bewaffneten hindurch, als seien sie Luft. Die Kinder und der Mönch folgten ihm eilig. Ängstlich schaute Julian zurück. Kogatai und seine Männern warfen ihnen drohende Blicke hinterher, griffen aber nicht an. Julian atmete auf. „Und jetzt?“, fragte er. „Zum Palast?“ „Nein“, entgegnete Marco Polo. „Erst will ich noch nach Edelsteinen suchen.“ Seufzend begleiteten die Freunde den Kaufmann und den Mönch. „Kogatai hat bestimmt etwas mit der Entführung zu tun“, flüsterte Leon seinen Freunden zu. „Er …“ „Was hast du?“, fragte Kim. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich habe gerade Qortschi gesehen“, flüsterte Leon. „Wie bitte?“ „Ja, da vorn. Aber jetzt ist er wieder weg.“ „Du hast dich bestimmt geirrt“, sagte Julian. Leon zuckte nur die Schultern. Doch während er weiterlief, hielt er die Augen offen. Und wieder glaub73
te er, eine kleine Gestalt zu erblicken, die Qortschi verblüffend ähnelte. Erneut drehte ihm der Mann den Rücken zu und so war sich Leon abermals nicht sicher. Keinen Zweifel gab es dagegen, dass jemand anderes in ihrer Nähe blieb. Kogatai und seine Männer tauchten immer wieder in der Menge auf. „Die verfolgen uns!“, rief Kim mit leichter Panik in der Stimme. „Mag sein“, erwiderte Marco Polo nüchtern. „Aber Kogatai wird es nicht wagen, sich an uns zu vergreifen.“ „Na, hoffentlich …“, sagte Kim nur. „Oh, was für eine wunderschöne Pagode“, bemerkte Angelo in diesem Moment und deutete auf ein sechsgeschossiges Gebäude. „Die will ich mir einmal näher ansehen.“ Auch Julian war sofort Feuer und Flamme. Schließlich hatte er noch nie eine Pagode von innen gesehen. „Dürfen wir mit?“, fragte er. „Auf keinen Fall“, winkte Angelo ab. „Ihr stört da nur. Ich gehe allein. Oder willst du mit, Marco?“ „Nein, lass nur, ich suche lieber nach einem Edelsteinhändler“, antwortete Marco Polo und ging eilig auf einen Laden zu, während die Freunde unschlüssig zurückblieben. Trotzig verschränkte Julian die Arme vor der Brust. 74
„Angelo hat überhaupt kein Recht, uns den Zutritt zu verbieten.“ „Das sehe ich auch so“, sagte Kim. „Wir warten noch eine Minute, dann gehen wir einfach hinein.“ Die Freunde schauten sich die Pagode begeistert von außen an. Das turmähnliche, etwa zwanzig Meter hohe Gebäude stand auf einem Fundament aus Stein. Alle Stockwerke waren aus dunklem Holz errichtet worden und hatten je ein weit überstehendes Dach mit seitlich hochgezogenen Sparren, sodass die Dächer an ausgebreitete Flügel erinnerten. Das oberste Dach wurde von einer spitzen Lanze gekrönt, die sich in den blassblauen Himmel über Kambalu zu bohren schien. „Sieht ein bisschen aus wie ein Weihnachtsbaum“, sagte Kim leise. Leon grinste. „Stimmt. Und mit Religion hat die Pagode auch zu tun. Oder, Julian?“ Der Gefragte nickte. „Drinnen gibt es bestimmt ein Bildnis von Buddha. Denn Kambalu ist schließlich eine alte chinesische Stadt und keine mongolische. Kublai Khan hat sie erobert. Und die meisten Chinesen glauben seit jeher an Buddha. Die Minute ist jetzt bestimmt um. Lasst uns reingehen.“ Und so marschierten Kim, Leon und Julian ungehindert in die Pagode. Sie kamen in einen quadrati75
schen, in ein angenehmes Halbdunkel getauchten Raum, in dem zahllose Räucherkerzen brannten. Die Freunde versteckten sich hinter drei gewaltigen, bauchigen Vasen, um nicht von Angelo entdeckt zu werden. Vorsichtig linsten sie aus ihrem Versteck hervor. In der Mitte des Raums thronte ein dicker, goldener Buddha auf einem Podest, der die Gefährten entspannt anlächelte. Davor stand Angelo, der den Kopf in den Nacken gelegt hatte und in ehrfürchtiges Schweigen versunken war. Ein Geräusch ließ Julian jäh aufhorchen. Es war von rechts gekommen. Dort, wo es besonders dunkel war. Nun huschte etwas gebückt an der Wand entlang. Ein Schatten, der augenblicklich wieder verschwunden war. Julian wollte gerade Kim und Leon darauf aufmerksam machen, als auf der gegenüberliegenden Seite jemand ebenfalls lautlos heranglitt. Hinter ihm schlichen weitere Gestalten. Julian bekam eine Gänsehaut – sie waren vermummt und hatten Dolche in der Hand! Sie kamen von hinten auf den Mönch zu, der nach wie vor ahnungslos den Buddha bestaunte. Doch bevor Julian Angelo warnen konnte, griffen die Vermummten an. Sie packten den Mönch von hinten, einer hielt ihm den Mund zu, ein anderer be76
drohte ihn mit dem Dolch. Als Angelo sich wehrte, traf ihn eine Faust unter dem Kinn und er brach zusammen. Die Vermummten schleiften ihn durch den Hintereingang hinaus. Lautlos schlichen ihnen die Gefährten hinterher. Draußen warteten Pferde. Wie ein Sack wurde Angelo über den Rücken eines der Tiere gelegt. Dann stoben die Täter davon. „Hinterher!“, rief Julian. „Wir müssen sehen, wohin sie reiten!“ Die Freunde rannten den Entführern nach, die sich rücksichtslos ihren Weg durch die Gassen bahnten. Niemand wagte es, die vermummten Gestalten aufzuhalten. Verzweifelt flitzten Leon, Julian und Kim weiter, aber der Abstand zu den Tätern wurde immer größer. Ihre Lungen brannten, die Beine wurden ihnen schwer. Schließlich gaben sie auf. „Mist, alles umsonst!“ Kim lehnte sich schwer atmend gegen eine Hauswand. „Da steckt bestimmt Kogatai dahinter, dieser Menschenhändler!“, rief Julian wütend. „Wir müssen schnell zu Marco Polo und zum Khan!“ Da meldete sich Kija mit einem energischen Miauen. Die Freunde blickten zu ihr hinab. „Einspruch?“, fragte Kim. Die Katze stupste sie an, lief zu einem Brunnen, 77
sprang auf die Brüstung und schaute unverwandt in eine Richtung. Die Freunde folgten ihrem Blick. „Ich hab’s doch gewusst!“, stieß Leon unvermittelt hervor. „Da vorne ist Qortschi!“ Er deutete auf eine Schmiede. „Gut gemacht, Kija!“ Leon rannte los, die anderen im Schlepptau. Erst, als die Kinder nur noch zehn Schritte von ihm
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entfernt waren, bemerkte Qortschi sie. Seine Augen wurden groß. Blitzartig wandte er sich um und rannte weg. Geschickt schlängelte er sich durch die Menge. Aber die Freunde blieben an ihm dran und sahen, wie er in einem finsteren Gasthaus verschwand. Davor lungerten zwei ungemütlich wirkende Männer in Lumpen herum. Einer von ihnen schenkte Kim ein zahnloses Lächeln und winkte. „Da gehen wir besser nicht rein“, sagte Julian. „Aber warum ist Qortschi geflohen, als er uns gesehen hat?“ Kim kam ein böser Verdacht. „Vielleicht steckt er mit den Entführern unter einer Decke“, flüsterte sie. „Womöglich hat er unsere kleine Karawane in einen Hinterhalt gelockt. Dann hat er sich mit entführen lassen, um jeden Verdacht von sich zu lenken! Vermutlich hat er in der Karawanserei irgendwie bemerkt, dass unsere beiden Mönche keineswegs so arm sind, wie sie vorgeben!“
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Jäger in der Nacht
Sie liefen zurück zur Pagode und fanden Marco Polo kurz darauf bei einem Juwelenhändler. Rasch informierten sie ihn. Augenblicklich brach der Venezianer die Geschäftsverhandlungen ab. Dann fragten sie sich zum Palast durch. Der Mongolenherrscher empfing sie umgehend. Während die Gefährten und Marco Polo berichteten, verfinsterte sich die Miene des Khans immer mehr. „Jetzt reicht’s!“, schrie Kublai Khan, als seine Gäste fertig waren. Er ließ seinen höchsten Wachoffizier antreten und erteilte ihm den Befehl, die ganze Stadt nach Angelo abzusuchen. Außerdem ordnete er an, Qortschi in der Herberge festnehmen zu lassen. „Um welches Gasthaus handelt es sich?“, wollte der Khan von den Freunden wissen. Kim, Leon und Julian erklärten es, so gut sie konnten. Doch ihre Beschreibung war nicht allzu genau, schließlich gab es keine Straßennamen. 80
„Hm, ich hoffe, dass meine Soldaten das Haus finden“, sagte der Khan düster. „Qortschi kann uns sicher sagen, wo die beiden Mönche sind. Wir werden sie aus den Händen der Entführer befreien, das schwöre ich!“ Dann blickte er Marco Polo milde an. „Ich erwarte, dass du, Maffeo und Niccolo heute Abend trotz allem meine Gäste sein werdet. Ich werde für euch ein besonderes Essen zubereiten lassen.“ Marco Polo verneigte sich. „Gern, mein Gebieter.“ Die Freunde wurden wieder in die Palastküche geschickt. Dort weihten sie Wuhan und Bolgara ein. Die beiden waren ebenso entsetzt wie der Khan. Die nächsten Stunden verbrachten die Kinder mit Feuerholz holen, Gemüse schneiden und anderen Hilfsarbeiten. Am frühen Abend machte eine ernüchternde Nachricht die Runde im Palast: Die Wachen hatten bisher keine Spur der Mönche gefunden und auch Qortschi war nicht verhaftet worden. Die Soldaten hatten mehrere Gasthäuser auf den Kopf gestellt, Qortschi jedoch nicht aufspüren können. „Vielleicht hat Qortschi die Wachen anrücken sehen und sich versteckt“, vermutete Kim. „Oder die Wachen haben die falschen Gasthäuser durchsucht. Lasst es uns heute Nacht selbst probieren.“ 81
„Aber es gibt doch eine Ausgangssperre!“, wandte Julian ein. „Na und? Wir müssen nur vorsichtig sein“, zerstreute Kim seine Bedenken. Bei Einbruch der Dunkelheit begann das Festessen im großen Speisesaal. Als die Freunde, beladen mit Tabletts, die Halle betraten, wären ihnen die Speisen fast aus den Händen gefallen. Der Raum war von märchenhafter Schönheit. Die Wände waren mit goldgelbem Samt verkleidet und mit Seidenteppichen dekoriert, auf denen Jagdszenen zu sehen waren. Die Decke aus edelstem Mahagoniholz wurde von fein gedrechselten Säulen getragen, in denen Edelsteine um die Wette blitzten. In die Decke selbst waren unzählige goldene Mosaiken eingelassen, die wie ein Sternenhimmel auf die Betrachter herabstrahlten. Fackeln warfen zuckende Lichter an die Wände. Der Khan thronte am Kopf einer gewaltigen Tafel. Neben ihm saß Cenku, sein Minister. Die Polos hatten Ehrenplätze oben an den Stirnseiten des Tisches. Weitere Gäste saßen an einem anderen Tisch. An ihrer teuren Kleidung war unschwer zu erkennen, dass es sich um hohe Würdenträger handelte. Mit gesenkten Köpfen servierten die Freunde ein 82
paar Appetithäppchen – gefüllte Wachteln und Taubenbrüstchen. Die Gäste beachteten die kleinen Diener überhaupt nicht. Arrogantes Volk, dachte sich Kim insgeheim, hütete aber ihre Zunge. Stattdessen lauschte sie lieber unauffällig, worüber sich der Kublai Khan mit seinen Gästen unterhielt. Leon und Julian gingen in die Küche. „Ihr habt diese Stadt erobert, sie aber nicht zerstört, wie es scheint“, sagte Marco Polo gerade. „Ihr habt also Milde walten lassen. Warum?“ Der Khan trank einen Schluck Reiswein, bevor er antwortete: „Das stimmt so nicht ganz, mein Freund. Dort, wo eine kleine Lektion des Siegers, also von mir, erforderlich war, dort wurde sie auch erteilt. Aber ich halte es für klüger, meinem unterlegenen Gegner Raum zum Leben zu lassen. Wenn du den Besiegten bloß unterdrückst und ihm alles nimmst, wird er sich irgendwann gegen dich erheben. Und Aufstände bedeuten nur Ärger.“ „Sehr weise von Euch, großer Khan“, sagte Marco Polo beeindruckt. „Deswegen stehen wohl auch noch die Pagoden mit den Buddha-Statuen, nicht wahr?“ „Ja, leider“, rief Cenku dazwischen. „Unsere Götter wie der große Köke Tngri sind die einzig wahren!“ 83
„Schweig!“, fuhr der Khan ihn an. „Natürlich lasse ich sie zu ihren Göttern beten. So merken sie gar nicht, dass ich über sie triumphiere.“ Marco Polo lächelte listig. „Nicht schlecht …“ Dann zog er aus seinem Hemd ein kleines Buch hervor. „Das wollte ich Euch zeigen“, sagte er und gab das Buch dem Khan. „Was ist das?“ „Wir nennen es Bibel“, erklärte Marco Polo. „In diesem Buch stehen unsere religiösen Gesetze und unsere religiöse Geschichte.“ Erstaunt zog der Khan die Augenbrauen hoch. „Eure ganze religiöse Geschichte in einem einzigen kleinen Buch. Dieses Buch muss sehr wertvoll sein.“ „Das ist es“, bestätigte Marco Polo. Eingehend begutachteten der Khan und Cenku die Bibel. Nach wie vor schenkte niemand Kim Beachtung, sodass sie die Szene ungehindert verfolgen konnte. „Da kommt mir ein Gedanke“, sagte Kublai Khan schließlich. „Würdest du, falls die Mönche tot sind, ihre Rolle übernehmen und das Wort deines Gottes in meinem Land verbreiten?“ „Ich bin kein Mönch, edler Khan.“ 84
„Aber du hast dieses Buch. Also kannst du es.“ Kim sah, dass Marco Polo zögerte. „Du könntest diesen Auftrag mit deinen Geschäften verbinden“, lockte der Khan nun. „Ich lasse dich gut beschützt durch mein Reich reisen. Du wirst das Wort deines Gottes verbreiten und nebenbei viele Edelsteine kaufen können.“ Ein Lächeln huschte über Marco Polos Gesicht, während er die Bibel wieder einsteckte. „Das klingt erneut äußerst weise. Diesen ehrenhaften Auftrag nehme ich gerne an.“ Kim verdrückte sich leise in die Küche. „Wo hast du gesteckt?“, fragte Julian. „Ich habe ein bisschen zugehört“, erwiderte Kim und berichtete, was sie gerade erfahren hatte. „Marco Polo ist wirklich durch und durch Geschäftsmann“, sagte Leon wenig begeistert. Als sich die Nacht über Kambalu gesenkt hatte, schlichen die vier Freunde in den Stall, wo der Karren der Polos abgestellt war. Dort fanden sie das, was sie suchten: ein Seil. Damit liefen sie zur Mauer. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass man sie nicht beobachtete, kletterte Kim, die sich das Seil wie ein Bergsteiger umgebunden hatte, auf Leons Schultern. Von dort sprang sie hoch, packte die Kante der Mauer 85
und zog sich hinauf. Oben befestigte sie das Seil an einem Pfeiler. Nun kletterten Julian und Leon, in dessen Jacke Kija hockte, hinterher. Dann ließen sie das Seil auf der anderen Seite hinunterhängen und kletterten daran hinab. Heimlich hatten die Freunde die Palastanlage verlassen. „Hoffentlich finden wir dieses Gasthaus wieder …“, flüsterte Kim. Doch da sah sie, wie Kija zielstrebig in eine bestimmte Richtung davonlief. Kim lächelte. „Ich glaube, jetzt haben wir ein Problem weniger!“ „Gut möglich“, sagte Julian, „aber mir machen die Nachtwachen ohnehin mehr Sorgen. Denkt nur an die zwanzig Stockhiebe!“ Leon legte einen Finger auf die Lippen. „Dann lasst uns jetzt den Mund halten und Qortschi suchen.“ Geräuschlos huschten die Kinder durch die sternenklare Nacht. Ein fahler Mond hing am Himmel und spendete etwas milchiges Licht. Die Freunde hielten sich im Schatten der Häuser. Aus einigen Fenstern schimmerte Licht. Auf den Straßen zeigte sich jedoch niemand. Nur ab und zu tauchte eine andere Katze auf. Doch Kija hatte keine Augen für ihre Artgenossen, sondern führte Kim, Leon und Julian zunächst zur Pagode, wo Angelo entführt worden war. Dort 86
bog sie in eine verwinkelte Gasse ab, und plötzlich standen sie vor der gesuchten Schenke. „Ohne dich wären wir mal wieder aufgeschmissen gewesen“, sagte Kim leise zu Kija. Die Katze miaute zufrieden. „Da brennt noch Licht“, sagte Leon. „Was meint ihr: Sollen wir einfach reinmarschieren?“ „Klar“, erwiderte Kim, als sei das selbstverständlich. Julian schlucke. „Äh, ja klar“, sagte auch er. Im Schankraum verbreiteten Kerzen ein schummriges Licht. Die grob gezimmerten Tische waren nur zur Hälfte besetzt. Ausschließlich Männer hockten dort, tranken oder waren ins Würfelspiel vertieft. Einige argwöhnische Blicke trafen die Kinder, die sich suchend umschauten. „Da ist er ja!“, hauchte Kim. „Hinten links!“ Und tatsächlich: Qortschi hockte dort ganz allein vor einem Becher. Jetzt sah er hoch und erkannte die Gefährten. Sofort sprang er auf und warf einen gehetzten Blick zur Tür. „Der will abhauen!“, sagte Julian. Doch Qortschi schien es sich anders zu überlegen. Er setzte sich wieder hin und rang sich ein falsches Lächeln ab. Die Freunde zögerten einen Moment. 87
„Was meint ihr: Sollen wir hingehen?“, fragte Julian. „Ja“, sagte Leon. „Hier in der voll besetzten Schenke kann er uns nicht einfach angreifen. Es gäbe zu viele Zeugen!“ Und so setzten sich Julian, Kim und Leon mit klopfenden Herzen zu Qortschi. „Hallo, Qortschi“, begrüßte Kim ihn. „Die Palastwachen suchen dich überall.“ Nervös spielte Qortschi mit dem Becher. „Ach ja? Warum?“ „Das weißt du sehr gut“, sagte Kim. „Der Khan will wissen, wo die Mönche geblieben sind. Du bist zusammen mit Francesco entführt worden. Der Mönch ist verschwunden, aber du sitzt hier. Irgendwie seltsam …“ „Ich habe damit nichts zu tun“, beteuerte Qortschi. „Aber ich wüsste nicht, weshalb ich euch überhaupt etwas sagen sollte. Was bildet ihr euch ein?“ Kim erhob sich. „Dann werden wir den Khan alarmieren.“ Qortschi packte Kim am Arm und zog sie auf ihren Stuhl zurück. „Langsam, Mädchen, so nicht.“ Er warf unruhige Blicke durch den Schankraum. „Ich kann dem Khan 88
nichts sagen, denn ich habe mit der Sache nichts zu tun.“ „Was ist dort im Sturm vorgefallen, wer hat euch entführt?“ Qortschi hob die Schultern. „Ich weiß es nicht, ich schwöre es. Die Täter waren vermummt. Sie haben den Mönch und mich in ein Gebäude verschleppt und dort ausgeraubt. Den Mönch haben sie vermutlich als Sklaven verkauft.“ Kim wirkte nicht sehr überzeugt. „Und du? Warum bist du frei?“ „Sieh mich an“, entgegnete Qortschi. „Ich bin alt und schwach und tauge nicht viel als Sklave. Die Entführer haben mich davongejagt. Da ich die Gesichter der Männer nicht gesehen habe, können sie davon ausgehen, dass ich sie niemals wiedererkennen würde. Und jetzt bin ich hier im Gasthaus, weil ich andere Händler suche, die mit mir ziehen. In der Gruppe reist es sich nun mal sicherer.“ Kim warf ihren Freunden einen Blick zu. Konnten sie Qortschi glauben? Leon und Julian wirkten eher unschlüssig. Kim dachte scharf nach. Qortschis Geschichte klang einigermaßen logisch und das Gegenteil konnten sie ihm nicht beweisen. Aber dieser Bericht brachte sie nicht weiter. Sie brauchten irgendei89
nen Anhaltspunkt, um die Suche nach den Mönchen fortsetzen zu können. „Wie sah das Haus aus, in das ihr verschleppt wurdet?“, fragte Kim. Hastig trank Qortschi einen Schluck. „Keine Ahnung“, sagte er dann. „Man verband uns die Augen und verlud uns wie Säcke auf einen Karren. Als der Karren anhielt, habe ich Hammerschläge gehört, also war wohl eine Schmiede in der Nähe. Außerdem hörte ich einen Händler, der Gebäck anpries.“ Kim runzelte die Stirn. Das war doch schon mal etwas! „Weiter!“, forderte sie. „Na ja“, fuhr Qortschi fort. „Man zerrte uns vom Karren und schob uns auf ein Haus zu. Und dann …“ „Wieso weißt du das?“, unterbrach Kim den Händler. „Deine Augen waren doch verbunden!“ „Stimmt, aber die Binde verrutschte ein bisschen. Ich sah gerade noch, dass die Tür zu diesem Gebäude mit einem gekrönten Reiter verziert war, der Pfeil und Bogen trug. Da kontrollierte einer der Entführer meine Augenbinde. Tja, dann wurde es wieder dunkel. Mehr kann ich euch wirklich nicht sagen.“ Erneut blickte Kim ihre Freunde an. Julian und Leon nickten ihr zu. 90
„Gut“, sagte Kim, „wir müssen dir wohl glauben.“ Qortschi lächelte listig. „Es wird euch nichts anderes übrig bleiben.“ Grußlos verließen die Freunde das Gasthaus. „Immerhin haben wir jetzt ein paar Anhaltspunkte, in welchem Gebäude die Mönche festgehalten werden könnten“, sagte Kim. „Aber womöglich sind sie schon längst als Sklaven verkauft worden“, sagte Julian. „Apropos Sklaven“, sagte Kim. „Ich glaube, dass der Sklavenhändler Kogatai hinter allem steckt. Schließlich ist er hier in der Stadt der berüchtigtste Menschenhändler. Das Haus, von dem Qortschi gesprochen hat, könnte ja ihm gehören! Womöglich hält Kogatai dort die Mönche gefangen! Wir sollten Kogatai noch einmal vorsichtig unter die Lupe nehmen. Vielleicht finden …“ „Achtung!“, unterbrach Leon sie. „Ich höre Stimmen. Das sind bestimmt die Wachen!“ Mit einem Satz war Leon hinter einem Brunnen verschwunden. Kim, Julian und Kija folgten ihm in Windeseile. Schon bog ein Trupp Soldaten um die Straßenecke, der von einem hünenhaften Offizier angeführt wurde. „Halt!“, befahl der Riese jetzt. „Mir war so, als hät91
te ich gerade Kinderstimmen vernommen. Da verstößt jemand gegen das Verbot, nachts draußen herumzulaufen!“ Den Freunden stockte der Atem. „Sucht den Platz ab!“, ordnete der Offizier an. „Ausschwärmen!“ „Wir schwärmen am besten auch aus! Los!“, wisperte Leon. Die Freunde rannten davon, bevor die Wachen den Brunnen erreicht hatten. „Ihnen nach!“, brüllte der Offizier. Eine nächtliche Jagd begann. Julian, Kim und Leon rannten, so schnell sie konnten. Aber die Soldaten blieben ihnen auf den Fersen, erkannte Leon mit einem kurzen Blick über die Schulter. Mehr als hundert Meter Vorsprung hatten die Freunde nicht. Sie mussten sich irgendetwas einfallen lassen, denn früher oder später würden die trainierten Wachen sie einholen. Zwanzig Stockhiebe waren ihnen dann sicher, und zwar pro Nase. Die Gefährten bogen in eine winzige Gasse ab und glaubten bereits, die Verfolger abgehängt zu haben. Doch hinter der nächsten Ecke folgte die Ernüchterung: Sie standen vor einer Mauer. Sackgasse! „Zurück“, rief Julian. „Nein, warte“, stoppte Leon ihn. Er spähte um die Ecke. 92
„Mist!“, zischte er. „Da kommen zwei Soldaten auf uns zu!“ In Julians Augen stand Panik. „Und jetzt?“ „Schnell, eine Räuberleiter!“, herrschte Leon seine zu Salzsäulen erstarrten Freunde an. Rasch stellte er sich mit dem Rücken an die Wand. Kim trat in seine gefalteten Hände, Leon hob sie hoch und schon stand das Mädchen auf der Mauer. Julian und Kija folgten. „Jetzt du!“, rief Kim Leon zu und beugte sich nach unten. „Da sind sie, jetzt haben wir sie!“, erklang eine raue Stimme. Mit Entsetzen erkannten die Kinder, dass sie entdeckt worden waren. Leon streckte den Freunden seine Hände entgegen. Mit vereinten Kräften zogen Kim und Julian ihn hinauf. In buchstäblich letzter Sekunde, denn der erste Soldat war nur noch wenige Meter entfernt. Die Kinder sprangen von der Mauer und entkamen im finsteren Gassengewirr Kambalus. Mithilfe von Kija gelangten sie unbehelligt zur Palastanlage zurück. Das Seil hing noch an der Mauer. Unbemerkt überwanden die Freunde das Hindernis und schlichen in ihr Zimmer. Dort sanken Leon und Julian hundemüde auf ihre Lager. Nur Kim war noch eine Weile wach. Nachdenklich 93
spielte sie mit dem hübschen Kettchen, das ihr Marco Polo geschenkt hatte. In dieser Nacht hatten sie noch mal Glück gehabt. Vielleicht war die Kette ja so etwas wie ein Glücksbringer. Kims rechte Hand schloss sich fest um das vergoldete Schmuckstück.
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Gift im Wein
Die Freunde schliefen ungestört, bis sie am nächsten Morgen wie gewöhnlich von Wuhan geweckt wurden. Kim, Julian und Leon waren unendlich erleichtert, dass ihr nächtlicher Ausflug wohl ohne Folgen blieb. In der Palastküche wartete wieder jede Menge Arbeit auf sie. Bolgara beschäftigte sie ohne Unterbrechung, und so gelang es den drei Kindern nicht, sich davonzustehlen, um weitere Nachforschungen bei Kogatai anzustellen. Am Abend stand ein weiteres üppiges Mahl für zweihundert Gäste auf dem Programm. „Die feiern wohl jeden Tag.“ Leon stöhnte. „Kein Wunder, dass in der Küche immer Stress herrscht.“ Bolgara hatte ein achtgängiges Menü mit mehreren Vor- und Nachspeisen geplant. „Als Hauptgang gibt es einen Kräuterlammbraten in Stutenmilch“, verriet sie strahlend. Kurz darauf trugen die Freunde die Speisen auf, 95
wie üblich mit gesenkten Köpfen. Dennoch entging ihnen nicht, dass auch die Polos an dem Festessen teilnahmen. Erneut durften die drei Kaufleute ganz in der Nähe von Kublai Khan und Cenku tafeln. Während des Essens traten leicht bekleidete Tänzerinnen zu rasenden Trommelwirbeln auf. Und auch Akrobaten und Jongleure zeigten ihr Können. Die Stimmung unter den Gästen war ausgelassen. Doch plötzlich gellte ein Schrei durch den Saal. „Ein Arzt, schnell!“ Die Freunde, die gerade einen der Tische abräumten, sahen, dass Maffeo Polo aufgesprungen war und wild gestikulierte. „Oh nein, Marco Polo ist zusammengebrochen!“, rief Leon. Die Gefährten liefen zu seinem Tisch, wo sich bereits eine Menschentraube gebildet hatte. „Wo bleibt der Arzt?“ Diesmal war es die schneidende Stimme von Kublai Khan. Der große Herrscher kümmerte sich persönlich um seinen Gast. Marco Polos Gesicht war aschfahl, auf seiner Stirn stand Schweiß. „Er ist vergiftet worden“, schrie sein Vater. „Es war Gift im Wein! Ich habe es genau gesehen: Marco hat aus seinem Becher getrunken, dann ist er plötzlich zusammengebrochen!“ 96
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Ein Stimmengewirr erhob sich nun. Mit einer energischen, ärgerlichen Geste brachte der Khan alle zum Schweigen. Ein Arzt stürmte heran und fühlte den Puls von Marco Polo. Besorgt ordnete er an, dass der Kaufmann sogleich auf die Krankenstation gebracht werden solle. „Unglaublich, ein feiger Mordanschlag und das in meinem Palast!“, tobte der Khan, sobald der Kranke abtransportiert worden war. „Dahinter kann eigentlich nur eine stecken, mein edler Gebieter“, sagte jetzt Cenku. „Ach ja?“, fragte der Khan gereizt. „Nun, es muss jemand gewesen sein, der die Speisen und Getränke zubereitet hat“, führte Cenku seinen Gedanken weiter. „Ich bin dafür, dass wir Bolgara herholen.“ „So sei es“, knurrte der Khan. „Bolgara?“, wisperte Kim entsetzt. „Warum sollte sie Marco Polo vergiften wollen? Das glaube ich nicht!“ Keine zwei Minuten später wurde Bolgara von den Palastwachen hereingezerrt. Wuhan wich nicht von ihrer Seite. Sofort warfen sich die beiden vor dem Khan auf den Boden. „Bitte, mein Herr aller Herren, glaubt mir“, flehte Bolgara. „Ich habe mit dem Anschlag nichts zu tun!“ 98
„Aber der Wein muss in deiner Küche vergiftet worden sein!“, zischte der Khan böse. „Du bist persönlich verantwortlich für all das, was dort geschieht. Und du haftest dafür mit deinem Leben, Bolgara!“ In die Augen der Köchin traten Tränen. „Ich war es nicht“, flüsterte sie. „So glaubt mir doch!“ „Ha!“, stieß in diesem Augenblick Cenku hervor. „Wahrscheinlich hat man dir Geld oder Schmuck gegeben!“ Der Minister sprang auf, zog Bolgara auf die Füße und durchsuchte ihre Kleidung. „Was haben wir denn da?“, rief er. Triumphierend zeigte er mehrere Goldstücke herum. „Das war wohl der Lohn für den Anschlag! Eine Köchin wie du würde nie über solche Reichtümer verfügen.“ „Die … die gehören nicht mir“, stammelte Bolgara fassungslos. „Hör auf zu lügen!“, schrie der Khan sie an. Dann gab er rasch den Wachen ein Zeichen. „Werft sie in den Kerker!“ Später in der Küche versuchten die Freunde, Wuhan zu trösten. „Wir werden die wahren Täter finden“, versprach ihr Kim. „Deine Mutter war es bestimmt nicht.“ „Ja, warum auch? Hoffentlich können wir ihre Un99
schuld beweisen.“ Wuhan schluchzte. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper. „Außerdem müssen wir Marco Polo retten. Der Arzt hat nicht so viel Ahnung. Aber vielleicht kann ein Pulver meiner Mutter ihm helfen. Folgt mir!“ Wuhan führte die Freunde in eine Nebenkammer der Küche, in der Gewürze und allerlei Kräuter aufbewahrt wurden. Ihre Augen huschten über die Regale. Dann zog Wuhan ein kleines Tongefäß heraus. „Das hier“, sagte sie überzeugt, „wird ihm guttun.“ „Was ist das?“, fragte Julian. „Ich weiß nur, dass da Fenchel, Anis und Ingwer drin sind“, erklärte Wuhan. „Und ich habe beobachtet, wie meine Mutter es einmal bei meinem Vater benutzt hat, als er krank war. Da hat es sehr gut gewirkt.“ Sie drückte das Gefäß Julian in die Hand. „Bring es zu Marco Polo, lös das Pulver in Wasser auf und lass ihn diesen Trank trinken. Mach schnell!“, drängte sie. Dann beschrieb Wuhan den Freunden, wo die Krankenstation war. Sofort machten sich Leon, Kim und Julian auf den Weg. Doch vor dem Zimmer, in dem Marco Polo jetzt untergebracht war, stand ein Soldat und wollte sie nicht durchlassen. „Wenn Marco Polo ansprechbar ist, dann sage ihm 100
bitte, dass seine Freunde aus der Karawanserei da sind“, bat Kim. Widerwillig gab der Wächter nach und verschwand im Zimmer. Kurz darauf erschien er wieder und winkte die Kinder herein. Marco Polo lag auf einem Bett. Nach wie vor sah er elend aus. Mühsam hob er die Hand. Kija sprang auf das Bett und ließ sich von dem Kaufmann unter dem Hals kraulen. „Das ist ein gefährliches Land“, sagte er schwach. „Sogar im Palast des großen Kublai Khan ist man nicht sicher.“ „Ihr lebt und Ihr werdet auch wieder gesund“, sagte Kim leise. Sie hatte das Gefühl, dass man sie beobachtete. Vor dem offenen Fenster war gerade jemand abgetaucht, als Kim dorthin geschaut hatte. Marco Polo verzog das Gesicht. „Gesund? Das wäre schön. Möchte nur wissen, was in diese verfluchte Köchin gefahren ist …“ Julian trat dicht an das Krankenlager heran. „Sie war es ganz sicher nicht“, sagte er. Auch er hatte das Gefühl, dass man sie beobachtete. Sie mussten Marco Polo den Trank heimlich verabreichen! Also nahm Julian schnell einen Becher, der neben dem Bett stand, und füllte ihn mit Wasser aus einem Krug. 101
Dann bückte er sich und kauerte sich hinter das Bett. Niemand außer Kim und Leon konnte ihn jetzt sehen. Er ließ etwas von dem Pulver aus Bolgaras Gefäß in den Becher rieseln und reichte ihn Marco Polo. „Trinkt das“, sagte er laut. „Denn Ihr habt Fieber. Da muss man immer viel Wasser trinken.“ Widerstrebend gehorchte Marco Polo. „Und nun ruht Euch aus“, empfahl Julian. Marco Polo schloss die Augen. Wenige Minuten später ging sein Atem regelmäßig. „Er schläft“, wisperte Kim. „Sollen wir gehen?“ „Ich wüsste zu gerne, ob der Trank wirkt“, entgegnete Julian ebenso leise. Und so warteten sie gespannt, bis Marco Polo eine halbe Stunde später erwachte. „Ich fühle mich etwas besser“, sagte er zur Freude der Gefährten. Nun beugte sich Julian ganz dicht an sein Ohr. „Das war kein normales Wasser, es war ein Trank, der Euch geholfen hat.“ „Danke“, flüsterte Marco Polo. „Aber ich habe den bösen Verdacht, dass ich in diesem Palast nicht sicher bin. Man wird erneut versuchen, mich zu töten.“
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Ungebetener Besuch
„Wir können ihn dort nicht allein lassen“, sagte Julian, als sie wieder Richtung Küche liefen, um zu fragen, ob es noch Arbeit für sie gebe. „Das sehe ich auch so.“ Leon blieb stehen. „Aber was sollen wir tun?“ Kim schnippte mit den Fingern. „Das Fenster! Vielleicht kann einer von uns hindurchklettern und sich in Marco Polos Zimmer verstecken.“ „Gute Idee“, sagte Julian. „Ich übernehme das.“ „Falls nötig, bleibe ich in der nächsten Nacht bei ihm“, schlug Leon vor. „Und dann bist du dran, Kim.“ Und so liefen Leon, Kim und Kija in die Küche, während Julian zurück Richtung Krankenstation schlich. Kurz vor Marco Polos Zimmer bog er auf gut Glück in einen Gang ab. Er gelangte zu einer Tür, stieß sie auf und stand plötzlich in einem Garten, der von einigen wenigen Lampions beleuchtet wurde. 103
Niemand war zu sehen. Vorsichtig blickte sich Julian um. Links von ihm verlief eine Wand mit einem Fenster. Mit klopfendem Herz schlich Julian hin und spähte hinein. Ein wenig Licht fiel in den Raum und Julian erkannte ein Bett mit einer bärtigen Gestalt darauf. Das musste Marco Polo sein! Julian warf einen Blick über die Schulter. Dann kletterte er durch das offene Fenster und glitt in den Raum. Er lauschte. Leises Schnarchen war zu hören. Offenbar schlief Marco Polo. Julian beugte sich über ihn. Marco Polo atmete ruhig und regelmäßig. Die Medizin schien zu wirken! Julian kauerte sich hinter einem hohen Wandschirm so auf den Boden, dass er jederzeit um die Ecke schauen konnte. Dann überlegte er, ob er sich ein Nickerchen erlauben durfte. Würde er es hören, wenn jemand ins Zimmer kam? Sicherheitshalber beschloss Julian, wach zu bleiben. Doch das erwies sich als gar nicht so einfach. Die Zeit schien unendlich langsam zu vergehen. Julian hatte keine Ahnung, wie spät es war. Er legte den Kopf an die Wand. Nur mal kurz die Augen zumachen. Nur mal ganz kurz … Ein leises Quietschen weckte ihn. Julian schreckte hoch. Einen Moment lang wusste er nicht, wo er war. Doch dann fiel ihm sein Auftrag ein. 104
Wieder das Quietschen. Julian hielt die Luft an. Ganz vorsichtig schaute er aus seinem Versteck hervor. Ein Mann mit einer gedrungenen, kräftigen Figur hatte den Raum betreten. Julians Herz hämmerte. Was hatte der Mann vor? Würde er gleich ein Messer ziehen und sich auf Marco Polo stürzen? Sollte er um Hilfe schreien? Doch jetzt tat der Mann etwas Unvorhergesehenes. Er ging auf den Stuhl zu, der neben dem Fenster stand. Dort lag Marco Polos Kleidung. Der Mann durchsuchte sie gründlich und hielt plötzlich ein kleines Büchlein in den Händen. Julians Augen wurden groß – das musste Marco Polos Bibel sein! Schnell ließ der Mann sie unter seinem Hemd verschwinden und schlich nun aus dem Zimmer. Julian wagte sich hinter dem Wandschirm hervor und folgte dem Mann. Dabei fragte er sich, wieso der Dieb nur die Bibel gestohlen hatte und nicht etwa Geld. Außerdem wunderte er sich, dass der Täter ungehindert in das Zimmer hatte kommen können. Als er auf den Gang trat, bekam er die Antwort: Der Wachmann hockte zusammengesunken an der Wand und war eingeschlafen. Julian legte die Hände trichterförmig um den Mund und schrie um Hilfe. 105
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Der Wachsoldat schreckte jäh hoch und starrte den Dieb, der an ihm vorbeirannte, einen Moment an, bis er begriff, was vor sich ging. Dann rappelte er sich schwerfällig auf und verfolgte den Fliehenden, der den Gang hinunterlief. Julian blieb den beiden dabei dicht auf den Fersen. Jetzt bekam der Soldat den Mantel des nächtlichen Besuchers zu fassen. Etwas riss und Julian sah ein Stück Pergament zu Boden segeln. Der Soldat zog weiter am Mantel, der Dieb geriet aus dem Gleichgewicht und fiel. Augenblicklich stürzte sich der Soldat auf ihn. Die Männer rollten über den Boden und schlugen aufeinander ein. Stimmen wurden laut, Türen flogen auf und weitere Soldaten stürmten heran. Es verging keine Minute, bis sie den Dieb überwältigt hatten. „Was hast du bei Marco Polo gewollt?“, herrschten sie den Unbekannten an. Doch der Mann schwieg verbissen. „Wir haben Mittel, deine Zunge zu lösen“, sagte einer der Soldaten drohend. „Bringen wir ihn zum Khan. Unser edler Herrscher soll entscheiden, was mit dem Kerl geschieht. Der Herr aller Herren wird zufrieden sein, dass wir den Dieb geschnappt haben.“ Julian bückte sich und hob das Pergament auf. „Der Mann hat etwas verloren“, sagte er. 107
Einer der Soldaten warf einen kurzen Blick auf das Schriftstück. „Na und? Ich kann sowieso nicht lesen. Wird schon nicht so wichtig sein.“ Dann führten die Wachmänner den Dieb ab und ließen Julian einfach stehen. Der Junge grinste. Eigentlich hätten sich die Soldaten fragen müssen, was er im Zimmer von Marco Polo verloren hatte. Aber offenbar wollten sie so schnell wie möglich mit ihrer Festnahme vor dem Khan glänzen. Auch gut, dachte Julian, schaute sich das Pergament genauer an – und staunte. Das musste er unbedingt seinen Freunden zeigen! Er rollte das Schriftstück flink zusammen und steckte es in seinen Hosenbund. Dann flitzte er zu ihrem gemeinsamen Zimmerchen. Leon und Kim waren sofort hellwach, als Julian von seinem nächtlichen Abenteuer berichtete. „Aber das Beste kommt jetzt“, sagte Julian geheimnisvoll und entrollte das Pergament.
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Das dunkle Tor
Neugierig beugten sich Kim und Leon über den Text, der aus großen Schriftzeichen bestand. „Das ist ja eine ziemlich böse Hetzschrift gegen Jesus Christus und das Christentum ganz allgemein“, sagte Kim überrascht, als sie fertig mit Lesen war. „Genau das“, bestätigte Julian. „Für mich sieht das wie ein Flugblatt aus. Der Verfasser will Stimmung gegen das Christentum machen!“ Leon zupfte sich am Ohrläppchen. „Wer könnte der Urheber sein? Vielleicht der Dieb selbst?“ „Möglich“, antwortete Julian. „Und ich habe mich auch schon gefragt, warum der Kerl nur die Bibel gestohlen hat. Womöglich war in Marco Polos Kleidung auch ein Geldbeutel.“ Kim runzelte die Stirn. „Habt ihr eigentlich schon die Symbole hier unten am Rand des Pergaments bemerkt? Da ist so ein Reiter mit Krone, Pfeil und Bogen abgebildet!“ 109
„Von diesen Symbolen haben wir doch schon einmal gehört“, rief Leon. „Qortschi hat sie erwähnt. Sie befinden sich über dem Tor zu dem Haus, in das er und die beiden Mönche verschleppt wurden!“ „Der gekrönte Reiter …“, murmelte Julian vor sich hin. „Wir müssen dieses Haus finden! Bestimmt gehört es Kogatai. Der Sklavenhändler hat garantiert etwas mit dem Fall zu tun. Und dann können wir endlich die wahren Täter entlarven und Bolgara retten. Wie es ihr wohl geht?“ Bedrücktes Schweigen war die Antwort. „Wir machen uns gleich morgen auf die Suche. Irgendwann können wir bestimmt aus der Küche entwischen“, schlug Kim schließlich vor, während sie sich wieder auf ihr Bett legte. „Aber jetzt muss ich noch ein wenig schlafen. Komm, Kija!“ Früh, viel zu früh wurden sie am nächsten Morgen von Wuhan aus dem Schlaf gerissen. „Hast du etwas von deiner Mutter gehört?“, fragte Leon als Erstes. „Ja“, sagte Wuhan traurig. „Sie wollen ihr in den nächsten Tagen den Prozess machen. Ich habe solche Angst um sie! Sie hat doch überhaupt nichts getan!“ 110
Kim legte einen Arm um das Mädchen. „Das wissen wir. Und wir werden die wahren Täter finden!“ Wuhan sah überrascht hoch. „Ihr?“ Kim lächelte sie zuversichtlich an. „Wir werden es auf jeden Fall versuchen. Und wir haben mit so etwas schon ein wenig Erfahrung …“ „Ich verstehe ehrlich gesagt kein Wort“, antwortete Wuhan. „Aber man erzählt sich hier die verrücktesten Sachen über euch. Stimmt es, dass ihr heute Nacht dabei wart, als ein Dieb an Marco Polos Bett verhaftet wurde?“ „Das spricht sich ja schnell herum“, sagte Julian. „Aber es stimmt.“ „Erzähl doch mal“, rief Wuhan. Und während sie zur Küche liefen, berichteten die Freunde, was sich in den vergangenen Stunden alles ereignet hatte. Auch Wuhan hatte Neuigkeiten für sie: Das Verhör des Diebs hatte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Im Palast wurde gerätselt, warum der Täter ausgerechnet die Bibel hatte stehlen wollen. Gegen Mittag konnten sich die Freunde aus der Küche verkrümeln. Sie liefen auf dem schnellsten Weg zu Kogatais Haus, doch die Ernüchterung folgte auf dem Fuß. Nirgendwo an dem Gebäude war ein be111
waffneter Reiter mit einer Krone zu sehen. Als Nächstes schauten sich die Kinder die umliegenden Häuser und schließlich den Basar an. Doch auch hier fanden sie nichts Verdächtiges. „So eine Pleite!“, murmelte Leon enttäuscht. „Ich glaube, wir sollten uns auf den Rückweg machen.“ Er stapfte los. Doch Kija hatte anderes im Sinn. Sie flitzte in die entgegengesetzte Richtung. „Kija, komm her!“, rief Leon. „Warte mal“, bremste Kim ihn. „Vielleicht sollten wir ihr besser folgen. Wäre ja nicht das erste Mal, dass Kija etwas entdeckt, was uns weiterhilft.“ Also rannten Kim, Leon und Julian der Katze hinterher. Die war gerade in eine Gasse geschlüpft, die nur etwa einen Meter breit war. Rasch hatten sie Kija eingeholt, die an einem kleinen Platz auf sie wartete. „Psst“, sagte Julian, „hört ihr das auch?“ Leon und Kim spitzten die Ohren. „Ja!“, stieß Leon hervor. „Hammerschläge! Und irgendjemand preist Waren an. Aber woher kommen die Geräusche?“ Sie musterten die Umgebung genau. Doch hier war niemand. „Warmes Gebäck, kauft warmes Gebäck!“, erklang 112
eine Stimme aus einer anderen Gasse, die auf den kleinen Platz zuführte. „Hammerschläge und ein Süßwarenverkäufer: Das sind genau die Geräusche, die Qortschi gehört hat!“, rief Kim begeistert. „Kija, du bist die Beste!“ Dann liefen die Freunde in die Gasse, aus der die Stimme gekommen war. Nach wenigen Metern und einer scharfen Kurve standen sie vor einem alten Mann, der in seinem Bauchladen kleine Kuchen feilbot. Ihm gegenüber lag die Werkstatt eines Schmieds. „Hier muss es irgendwo sein!“, stieß Kim hervor. Ihre Augen suchten die Fassaden der umliegenden Häuser ab. „Da!“, rief sie plötzlich. „Das zweite Haus rechts neben der Schmiede. Schaut euch das schwarze Tor an!“ Kim hatte Recht: In der Mitte des Torbogens thronte ein Reiter mit Krone, Pfeil und Bogen! „Das muss es sein“, flüsterte Julian atemlos. „Aber jetzt können wir da nicht rein“, gab Leon zu bedenken. „Man würde uns sehen. Also kommen wir heute Nacht wieder.“ Julian spürte einen Kloß im Hals. „Heute Nacht?“ „Wann sonst?“
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Es war bereits nach Mitternacht, als drei Kinder und eine Katze erneut in dieser kleinen, nun vollkommen verlassenen Gasse aufkreuzten. Den Nachtwachen waren sie geschickt ausgewichen. Und nun standen sie im Mondlicht vor dem schwarzen Tor. Mutig drückte Kim die Klinke herunter. Aber die Tür war abgeschlossen. „War ja klar“, sagte Kim leise. „Irgendwie müssen wir da rein. Hat einer von euch eine Idee?“ Leon entdeckte, dass es zwischen dem Haus mit dem schwarzen Tor und dem Nachbargebäude einen kaum schulterbreiten Spalt gab. Neugierig glitt er hinein und seine Freunde folgten ihm. Nach wenigen Schritten wurde es stockduster. Leon streckte die Hände aus und tastete sich an den Häuserwänden entlang. Und plötzlich spürte er eine Art Holzrahmen. Der Junge untersuchte das Ding und ahnte, dass er vor einem Fenster stand. Schließlich bekam er einen Beschlag zu fassen und zog daran. Quietschend schwang ein Fensterladen auf und ein Lichtschimmer fiel auf Leons Gesicht. Zufrieden lächelnd wandte sich Leon an Kim und Julian: „Darf ich bitten?“ Mit klopfenden Herzen kletterten die Kinder in das Haus. Sie gelangten in eine einfache Kammer mit ei114
nem Bett und einer Truhe, wie sie im schwachen Licht erkennen konnten. Auf Zehenspitzen schlichen sie durch die Tür der Kammer und standen in einem weiteren, jedoch größeren Raum. Und hier wartete die Quelle des Lichtschimmers auf sie: Auf einem Tisch, auf den ein schnarchender Mann seinen Kopf gebettet hatte, standen neben einer fast leeren Weinkaraffe zwei flackernde Kerzen. Leon schlich zum Tisch und griff nach einer der Kerzen. Dabei stieß er gegen das Tischbein. Der Schlafende grunzte einmal laut auf und Leons Herzschlag setzte aus. Doch der Mann schlief weiter. Eilig verließen die Freunde den Raum. Sie folgten einem Gang und erreichten eine Treppe, die in ein Gewölbe zu führen schien. Kim blieb stehen. Es war ihr so, als habe sie schwache Klagelaute gehört. „Ob das vielleicht die Mönche sind?“, hauchte sie. Leon winkte ab. „Ach was, das ist bestimmt nur der Wind, der hier durchs Haus pfeift.“ Und tatsächlich, ein Windstoß ließ das Kerzenlicht unruhig flackern. „Na, ich weiß nicht“, sagte Julian. „Es ist doch gut möglich, dass die Mönche dort unten eingeschlossen sind. Lasst uns nachsehen.“ Vorsichtig schlichen Leon, Kim und Julian die Treppe 115
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hinab. Kija sprang voran. Unten war es feucht und kalt. Es roch modrig und nach Räucherstäbchen. Leon hielt die Kerze hoch über dem Kopf. Der zuckende Lichtschein fiel auf einen Altar aus dunklem Holz. Die Freunde prallten zurück. Der Sockel des Altars war über und über mit dämonischen Fratzen verziert. An vielen Stellen klebte Blut. Kleine Knochen lagen herum. Auf dem Altar stand eine goldene Reiterskulptur vor einer Schale, in der etwas Undefinierbares schwamm. Fliegen surrten. „Tieropfer“, flüsterte Kim angewidert. „Hier wurden einem Gott Tieropfer gebracht!“ Die Gefährten drehten sich um und entdeckten ein solides Gestell aus Holz, vor dem jede Menge Pergament gestapelt war. Neugierig nahmen die Freunde die Schriftstücke unter die Lupe. „Das ist wieder die Hetzschrift gegen die Christen!“, sagte Julian. „Und das da“, er deutete auf das Gestell, „könnte eine Druckerpresse sein.“ Daneben lagerten auf einem weiteren Gestell mehrere Holztafeln mit erhaben geschnitzten, spiegelverkehrten Schriftzeichen, feine Pinsel, Gefäße mit roter und schwarzer Farbe und unbedrucktes Pergament. Julian ahnte, wie dieser einfache Buchdruck funktionierte. Man musste wahrscheinlich die Schriftzeichen 117
mit Farbe bestreichen, die Tafeln in die Presse klemmen und diese dann auf das darunter eingespannte Pergament drücken. Dieser Vorgang ließ sich beliebig oft wiederholen, sofern man die Farbe regelmäßig erneuerte. Mit dieser Presse waren offenbar die Zettel gegen das Christentum gedruckt worden. „He, was ist denn das?“ Kim riss ihn aus seinen Gedanken. „Hier liegen verkokelte Pergamentreste!“ Im Kerzenschein beugten sich die drei nun über Kims Fund. „Das sind die Überbleibsel einer Bibel“, sagte Kim. „Hier steht das Wort ,Gott’ und dort kann ich das Wort ,Moses’ lesen.“ Sie sah ihre Freunde verwirrt an. „Was wird hier eigentlich gespielt?“ Doch eine Antwort erhielt sie nicht, denn über ihnen wurden derbe Flüche laut. Offenbar wurde der schlafende Mann gerade unsanft geweckt. „Mist!“, zischte Leon. „Jetzt kommen wir hier nicht mehr raus!“ Schon dröhnten schwere Schritte auf der Treppe. „Wir müssen uns verstecken!“, flüsterte Leon, während er die Kerze auspustete. Er ging hinter der sperrigen Druckerpresse in Deckung. Kim und Julian kauer118
ten sich neben ihn und hielten die Luft an. Das Mädchen spürte Kijas drahtigen Körper an ihren Knien. Beruhigend strich Kim der Katze über das samtweiche Fell. Dann spähten sie durch das Gestell der Presse zur Tür. Jetzt polterten mehrere Männer in den Raum. Der Erste, ein kleiner Dicker, hielt ein Öllämpchen in der Hand. Die Männer hockten sich in der Nähe des Altars auf den Boden und wandten den Freunden den Rücken zu. Ein Krug machte die Runde. „Wann wollte unser Herr kommen?“, fragte einer unvermittelt. „Eigentlich müsste er schon da sein“, erwiderte der mit dem Öllämpchen. Der andere spielte mit den Enden seines Bartes. „Es wird Ärger geben. Der Herr wird nicht zufrieden sein, dass wir die Bibel von diesem Marco Polo nicht bekommen haben. Wie hat das nur passieren können?“ „Was weiß denn ich?“, knurrte nun der kleine Dicke. „Wir hatten alles gut vorbereitet. Aber irgendetwas ist schiefgelaufen … Die nächsten Schritte müssen wir mit dem Meister beraten.“ Das Gespräch verstummte. Unterdessen dachte Leon scharf nach. Wer war mit 119
dem „Meister“ gemeint? Plötzlich fiel ihm siedend heiß etwas ein. Ein kleines, aber entscheidendes Detail. Und nun wusste Leon, wer der Anführer der unheimlichen Gruppe war! Nur einer kam infrage …
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Der Geheimbund
Leon brannte darauf, Julian und Kim über seinen Verdacht zu informieren. Aber er war zum Schweigen verdammt, solange die Männer noch im Raum waren. Doch da bekam er unerwartet Hilfe. Wieder waren Schritte zu hören. Erschrocken sprangen die Männer auf. „Der Herr!“, rief der kleine Dicke. „Das muss er sein. Wir sollten ihn empfangen.“ Schon rauschte er zur Treppe und war verschwunden. Die anderen stürzten ihm hinterher. „Cenku!“, stieß Leon hervor, als sie allein waren. „Ich sage euch, der Anführer der Männer ist niemand anderes als der Minister!“ Julian und Kim sahen ihren Freund verblüfft an. „Einer der Kerle hat doch gerade die Bibel von Marco Polo erwähnt“, erklärte Leon. „Von dieser Bibel haben nur zwei Männer gewusst: der Khan und 121
Cenku. Einer von ihnen muss also den Auftrag gegeben haben, Marco Polo zu bestehlen!“ Kim nickte langsam. „Marco Polo hat seine Bibel beim letzten Festmahl nur diesen beiden Männern gezeigt …“ „Genau!“, rief Leon. „Und meines Erachtens scheidet der Khan als Täter aus. Denn er schätzt den christlichen Glauben. Er hat sich doch sogar dafür eingesetzt, dass er in seinem Reich verbreitet wird. Ich frage mich nur, welches Motiv Cenku hat.“ „Seid leise, ich höre Schritte!“, wisperte Kim und machte sich wieder so klein es ging. Die Katze rollte sich auf ihrem Schoß zusammen. Wiederum betrat eine Gruppe Männer den unheimlichen Raum mit dem Altar und der Druckerpresse. Voran ging – Cenku. Mit mürrischer Miene entzündete er ein Räucherstäbchen. Der intensive Geruch nach Kräutern nahm den Freunden in dem fensterlosen Raum fast den Atem. Julian musste sich beherrschen, um nicht zu niesen. Das Kribbeln in seiner Nase war entsetzlich stark. Die Männer begannen zu beten. Sie hoben die Arme zur Decke und murmelten etwas vor sich hin, was die Kinder nicht verstanden. Dann brachte Cenku sie mit einer gebieterischen Geste zum Schweigen. 122
„Ich bitte dich, großer Gott Sülde Tngri, um deinen Beistand“, sagte Cenku feierlich. „Du bist der Gott der Jagd und du trägst die Krone. Du, und nur du bist unser Ernährer. Denn du ernährst unsere Körper und unseren Geist. Aber es sind dunkle Wolken aufgezogen am Himmel der Erkenntnis.“ Cenku machte eine Pause und schaute seine Mitstreiter düster an, bevor er sich wieder dem Altar zuwandte. „Ein Mann namens Marco Polo ist gekommen und mit ihm vier andere Männer. Und sie wollen einen Glauben in unserem Reich verbreiten, der dich unterjocht. Sie haben ein Buch namens Bibel dabei, das sie vervielfältigen und unters Volk bringen wollen. Und sie haben einen eigenen Gott, den sie allmächtig nennen, aber in Wirklichkeit ist er ein Nichts im Vergleich zu dir, großer Sülde Tngri. Und wir werden es nicht zulassen, dass man dich zurückdrängt, demütigt und herabwürdigt. Um dich zu verteidigen, haben wir unseren geheimen Bund gegründet. Und wir werden nicht ruhen, bis diese Männer mit ihrem Gott und ihrer Bibel verschwunden sind oder tot.“ Cenku lachte heiser. Die Freunde tauschten beunruhigte Blicke. Jetzt war ihnen klar, warum die Flugblätter mit dem Bild des Jagdgottes gedruckt worden waren! Vermutlich 123
hatte Cenku auch Angst, seinen Einfluss am Hof des Khans zu verlieren, sobald der alte Glaube, dem er als hoher Minister für Glaubensfragen angehörte, an Bedeutung verlor. „Ja“, sinnierte Cenku jetzt. „Marco Polo wird der Erste sein, der stirbt. Denn unserem verblendeten Khan scheint es zu gefallen, diesen Polo als Botschafter des Christentums durch unser Land zu schicken. Das werden wir unterbinden, beim Sülde Tngri!“ Cenku verneigte sich noch einmal vor dem Altar. Dann setzten sich alle im Kreis hin. Julian hielt sich die Nase zu. Immer noch kribbelte es furchtbar. Der Junge hoffte inständig, dass jemand auf die Idee kam, das glimmende Ende des Räucherstäbchens zu löschen. Aber nichts dergleichen geschah. „Was willst du als Nächstes tun, edler Cenku?“, fragte der kleine Dicke jetzt. „Abwarten“, erwiderte der Minister kalt. „Das Gift wird bald seine Wirkung zeigen und Marco Polo wird daran sterben.“ Wieder schauten sich die Freunde an. Wie gut, dass Cenku und seine Komplizen nichts von dem Gegenmittel wussten, das die Gefährten Marco Polo gegeben hatten! 124
„Bist du dir da so sicher?“, fragte der kleine Dicke nach. „Dieser Polo lebt für meinen Geschmack ein wenig zu lang …“ Cenku lächelte in sich hinein. „Geduld, mein Freund, hab nur Geduld. Es ist ein langsamer Tod, aber ein sicherer. Mir macht eher Kopfzerbrechen, wie wir an diese verfluchte Bibel herankommen. Zunächst muss ich herausfinden, wo sie überhaupt ist. Zweifellos wird man nun besser auf sie aufpassen. Das macht es noch schwerer für uns.“ Julian biss die Zähne zusammen. Das Verlangen zu niesen, war jetzt unermesslich stark. In diesem Moment polterte jemand in den Raum. Der Mann hatte Schweißperlen auf der Stirn, sein Atem ging stoßweise. „Ich komme aus dem Palast“, keuchte er und verbeugte sich tief vor Cenku. „Und ich fürchte, ich bringe keine gute Kunde. Diesem Marco Polo scheint es besser zu gehen.“ Der Neuankömmling blickte Cenku unterwürfig und zugleich fragend an. Knurrend sagte der Minister: „Jetzt reicht es. Marco Polo wird diese Nacht nicht überleben. Wir werden ihm noch mehr von dem Gift verabreichen. Jemand muss sich als Krankenpfleger an sein Bett schleichen. Es wird dasselbe Gift sein, damit alle 125
weiterhin Bolgara verdächtigen, mit der Sache zu tun zu haben.“ Leon schüttelte sich. Was für ein teuflischer Plan! Den mussten sie unbedingt vereiteln! Da fiel sein Blick auf Julian, der sich die Hände vor Mund und Nase presste. Oh nein, dachte Leon, der wird doch jetzt wohl nicht … Aber Julian konnte nicht anders. Wie ein Donnerhall dröhnte sein Niesen durch den kalten Raum. Cenku und seine Männer schossen herum und entdeckten die Freunde in ihrem Versteck.
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Im Verlies
„Ja, wen haben wir denn da?“, grollte Cenku, während er auf die Freunde zukam. „Euch kenne ich doch. Ihr seid die kleinen Diener von diesen elenden Polos! Was habt ihr hier zu suchen?“ Die Gefährten schwiegen zitternd vor Angst. Nur Kija sprang hinter der Presse hervor, machte einen Buckel und fauchte Cenku an. „Oh, ich bin wirklich sehr beeindruckt!“, höhnte der Minister. „Du kleines Mistvieh kannst ja den Leoparden von Kublai Khan Konkurrenz machen.“ Er lachte laut und falsch. Doch schlagartig wurde Cenku gefährlich leise. Er zog einen Dolch. „Kommt sofort hinter der Presse hervor!“, herrschte er Kim, Julian und Leon an. Widerstrebend gehorchten die Freunde. Julian hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Dieser verdammte Niesreiz! Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Was würde die Bande mit ihnen machen? Und wie sollten sie jetzt Marco Polo und Bolgara retten? 127
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Julian, Kim und Leon standen mit gesenkten Köpfen vor Cenku und seinen Männern. „Habt herumgeschnüffelt, was?“, fragte Cenku lauernd. „Wolltet euch wohl beliebt machen bei den Polos oder vielleicht sogar beim Khan! Aber daraus wird nichts, das verspreche ich euch! Denn hier hat unser Geheimbund das Sagen.“ Julian schluckte. Er warf schuldbewusste Blicke zu Kim und Leon. Kim nickte ihm aufmunternd zu. Noch sind wir nicht verloren, sollte das wohl heißen. „Und jetzt raus mit der Sprache!“, forderte Cenku. „Was wolltet ihr hier? Und wer hat euch geschickt?“ „Niemand“, entgegnete Kim. „Wir selbst sind Euch auf die Spur gekommen. Das war gar nicht so schwer. Der Dieb, der Marco Polos Bibel stehlen sollte, hat sich nicht sehr geschickt angestellt.“ Der Minister wollte Einzelheiten wissen und notgedrungen berichtete Julian, was sich in der Nacht abgespielt hatte. Als er geendet hatte, schnaufte Cenku wütend. „In der Tat, unser Mann hat sich tölpelhaft angestellt. Aber dennoch wird Marco Polo sterben.“ Versonnen spielte der Minister an einem goldenen Ring mit einem großen, roten Edelstein. Dann zog er ihn vom Finger und zeigte ihn den Freunden. 129
„Der Stein ist nur eine Attrappe, es handelt sich um eine Kapsel“, erklärte er und drehte daran. Jetzt schwang der Stein zur Seite und gab den Blick auf einen kleinen Hohlraum frei. „Darin kann ich Gift verstecken und es bei Bedarf unbemerkt einsetzen“, sagte Cenku. „So habe ich beim Festessen auch das Gift in Marco Polos Weinbecher rieseln lassen, als ich ihm etwas nachschenkte!“ „Und dann hast du den Verdacht auf die arme Bolgara gelenkt!“, zischte Kim außer sich. Cenku bedachte sie mit einem selbstgefälligen Lächeln. „Du sagst es, meine Kleine! Anschließend …“ „Ich bin nicht deine Kleine!“, brach es jetzt aus Kim hervor. Der Minister zog die Augenbrauen hoch. „Was für ein beachtliches Temperament! Aber kommen wir zurück zu Bolgara. Ja, ich habe den Verdacht auf sie gelenkt“, fuhr er genüsslich fort. „Als ich ihre Kleidung untersuchte, schob ich ihr die Goldstücke unter, die ich in meiner Hand verborgen hatte und dann – schwupp – hervorzauberte!“ Cenku gluckste. „Das ist einfach nur widerlich!“ Kim ballte ihre Fäuste, was dem Minister nicht entging. „Komm nicht auf dumme Ideen“, drohte er. „Es wäre schade um deinen hübschen Hals. Wir müssen un130
seren Glauben vor diesen neuen, lächerlichen Strömungen schützen. Unsere Gesellschaft würde in ihren Grundfesten erschüttert, wenn sich dieser Unfug verbreiten würde. Es gäbe eine große Unsicherheit, ein schlimmes Durcheinander, ein göttliches Chaos. Niemand wüsste mehr, was richtig und was falsch ist.“ „Und du, Cenku, würdest deinen Einfluss verlieren“, mischte sich jetzt Leon ein. „Denn du stehst für den alten Götzenglauben! Ich glaube, dass das dein wahres Motiv ist!“ Zornesröte trat jetzt in Cenkus Gesicht. „Halt den Mund!“, fuhr er Leon an. „Es geht allein um unseren Glauben! Deswegen haben wir unseren Geheimbund gegründet. Unser Zeichen ist der göttliche Sülde Tngri und als Treffpunkt dient uns mein bescheidenes Haus hier.“ Von Cenkus Komplizen kam nur zustimmendes Gemurmel. „Dann wart ihr es, die in der Karawanserei versucht haben, die Pferde der Polos zu stehlen, nicht wahr?“, fragte Julian. „Stimmt. Wir wollten dafür sorgen, dass die Polos und die Mönche Kambalu erst gar nicht erreichen. Aber dieser Plan schlug leider fehl.“ „Später habt ihr uns im Sturm überfallen …“ 131
„Wieder richtig“, entgegnete Cenku. „Dummerweise schnappten meine Männer diesen unnützen Qortschi statt des zweiten Mönchs. Na ja, in der Pagode konnten wir auch Angelo festnehmen, damit er seinen falschen Glauben nicht in die Welt hinausposaunt! Wir haben ihnen die Bibeln und die Kutten abgenommen, die Symbole ihres Glaubens.“ Kim nickte. Deshalb hatte sie Francescos Kutte auf dem Basar entdecken können. Cenku hatte sie einfach verkauft! „Was habt ihr mit den Mönchen gemacht?“, wollte Kim wissen. „Habt ihr sie etwa umgebracht?“ Der Minister schüttelte den Kopf. „Nein, wir werden sie morgen an Kogatai verkaufen.“ „Also gehört auch er zu eurer Bande!“, stieß Julian hervor. Cenku verzog das Gesicht. „Bande? Was für ein hässlicher Ausdruck! Und gänzlich falsch. Wir sind ein Geheimbund mit ehrbaren Zielen. Und Menschen wie Kogatai passen nicht zu uns. Nein, er gehört nicht zu unserem Bund. Aber er ist Sklavenhändler und hat sicher Verwendung für die Mönche.“ Er schenkte den Freunden ein wölfisches Lächeln. „Und auch für euch. Er wird euch gleich morgen mit einer Karawane aus Kambalu bringen.“ 132
„Sollen wir sie nicht besser beseitigen?“, fragte einer von Cenkus Gefolgsleuten. Den Freunden gefror das Blut in den Adern. „Mal sehen“, erwiderte Cenku und gab seinen Komplizen einen Wink. „Werft sie erst einmal ins Verlies zu den Mönchen!“ Die Männer stießen die Kinder grob aus dem Raum, trieben sie einen kurzen Gang hinunter und schubsten sie in eine düstere Kammer, in der ein einsames Öllämpchen brannte. Eine Tür mit einem massiven Metallgitter schloss sich hinter den Freunden. In einer Ecke des Verlieses kauerten zwei in Lumpen gekleidete Menschen auf einigen Bündeln Stroh. Sie hatten die Köpfe gesenkt. „Angelo, Francesco?“, rief Kim fragend. Die Männer rappelten sich auf und traten ins Licht. „Ihr seid es wirklich!“, sagte Kim erleichtert. „Und ihr seid die Kinder mit der Katze!“, entgegnete Angelo. Er wirkte besorgt. „Aber warum hat man auch euch eingesperrt?“ Ausführlich berichteten die Freunde, was sich alles ereignet hatte, nachdem auch Angelo verschleppt worden war. „Wir sind so froh, dass ihr lebt!“, sagte Julian zum Abschluss. 133
„Leben?“ Francesco runzelte die Stirn. „Na ja, was man so leben nennt. Wir vegetieren hier im Dreck, bekommen nur schimmeliges Brot und schales Wasser. Und lausig kalt ist es hier auch. Aber du hast Recht: Das Leben haben sie uns gelassen – bisher. Doch sonst haben sie uns alles genommen. Sogar unsere Kutten. Ohne unseren Glauben wären wir verloren. Gott gibt uns die Kraft, hier auszuharren und die Hoffnung nicht zu verlieren.“ „Wir werden wohl bald hier rauskommen“, setzte Leon an, „aber …“ Mit großen Augen unterbrach Angelo den Jungen. „Rauskommen? Wie schön! Ich wusste, dass die Sache ein gutes Ende nimmt. Immerhin sind wir im Auftrag des Herrn in diesem Land!“ „Freut euch nicht zu früh“, sagte Leon bedrückt. „Cenku hat angekündigt, uns morgen als Sklaven zu verkaufen.“ „Als Sklaven?“, brauste Francesco nun auf. „Niemals! Wir dienen nur einem Herrn, und zwar unserem allmächtigen Gott!“ Jemand schlug mit einer Stange gegen das Gitter und die Gefangenen fuhren herum. Cenku lehnte an der Tür. „Das werden wir ja sehen, wem du ab morgen dienen wirst, Mönchlein“, 134
höhnte er. „Dein neuer Herr wird deinen Widerstand brechen und du wirst Demut und Gehorsam lernen.“ Wütend stapfte Francesco zum Gitter. Die Freunde sahen, dass den Mönch ein wahrlich heiliger Zorn ergriffen hatte. „Ich weiß, was Demut und Gehorsam bedeuten“, zischte er in das Gesicht des Ministers. „Und ich weiß auch, was Respekt vor Menschen bedeutet. Dieses Gefühl geht dir gänzlich ab, Cenku! Du bist nur ein machtverliebter, mieser Verbrecher!“ „Was erlaubst du dir?“, brüllte Cenku. „Er sagt die Wahrheit!“, rief Kim. „Psst!“, flüsterte Leon und ergänzte so leise, dass Cenku ihn nicht hören konnte: „Wir sollten den Mistkerl nicht reizen, sonst überlegt er es sich noch anders.“ Kim sah ihn an. „Na und? Was soll er sich anders überlegen?“ „Es steht in seiner Macht, uns töten zu lassen“, fuhr Leon im Flüsterton fort. „Vergiss das nicht, Kim!“ Betroffen schluckte das Mädchen. Cenku machte auf dem Absatz kehrt und stapfte aus dem Verlies. „Wir müssen hier raus!“, sagte Kim ernst und entschlossen, als der Minister verschwunden war. Angelo lachte auf. „Na klar, nur wie?“ 135
Kim schlenderte zu einem der Heuhaufen und ließ sich darauf fallen. Kija tänzelte heran und ließ sich neben ihr nieder. Versonnen kraulte das Mädchen die Katze hinter den Ohren. Aus dem Heu stieg Kim ein fauliger, feuchter Geruch in die Nase. Sie schaute sich in ihrem muffigen Gefängnis um. Die Gitterstäbe würden sie niemals auseinanderbiegen können. Das Türschloss machte ebenfalls einen stabilen Eindruck. Nun suchten Kims Augen die Wände ab, auf denen sich grüner Schimmel breitgemacht hatte, der sich anschickte, die Kritzeleien der Verzweifelten zu überwuchern, die hier zuvor gelitten hatten. Es gab kein einziges Fenster in diesem trostlosen Verlies. Von der Decke tropfte es an zwei Stellen unablässig. Auch hier gab es kein Schlupfloch, eine womöglich vergessene Luke oder Ähnliches. Kim zog die Knie an und ließ den Kopf darauf sinken. Es war wirklich ziemlich aussichtslos. Sie würden als Sklaven enden und vermutlich sogar getrennt werden … Ein kalter Windzug ließ Kim frösteln. Kija stupste Kim mit ihrem Naschen an und miaute leise. Das Mädchen sah wieder hoch. Als sie in die Richtung schaute, aus der der kalte Windhauch kam, fiel 136
ihr Blick auf etwas, was sie gerade offenbar übersehen hatte! Kims Puls begann sich zu beschleunigen. Das war eine Möglichkeit! Kim wusste plötzlich, dass sie doch eine Chance hatten, aus dem Verlies zu entkommen. Die Chance war nicht groß, aber es gab sie.
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Das goldene Kettchen
„Das Gitter“, hauchte Kim. Die anderen blickten sie nur an, als hätte sie eine Schraube locker. „Na und?“, fragte Julian. Kim antwortete nicht. Sie war aufgesprungen und hockte mit Kija vor dem Gitter. „Klasse“, wisperte sie. Nun kamen Leon und Julian zu ihr. „Was soll das?“, fragte Leon. „Da passt keiner von uns durch.“ Kim schüttelte den Kopf. „Irrtum! Eine passt da sehr wohl durch.“ Sie strich der Katze über den Kopf. Ein neugieriger Ausdruck trat nun in Leons Gesicht. „Was hast du vor?“ Mit einem triumphierenden Lächeln nahm Kim das goldene Kettchen ab, das ihr Marco Polo in der Karawanserei geschenkt hatte. „Das werde ich Kija umhängen. Dann muss Kija zum Palast laufen, Maf138
feo und Niccolo alarmieren und hierherführen, damit sie uns befreien.“ Zweifelnd sah Leon sie an. „Und du glaubst, dass das funktioniert?“ Kim verdrehte die Augen. „Ich weiß es nicht, Leon. Aber die Möglichkeit besteht doch immerhin, oder nicht? Hast du eine bessere Idee?“ Leon schwieg. Jetzt meldete sich Angelo zu Wort. „Ich bewundere deinen Glauben in dieses Tier. Aber sie ist nun mal nur eine Katze.“ „Kija ist keine gewöhnliche Katze.“ „Wie meinst du das?“ „Das wirst du gleich merken“, erwiderte Kim und hängte dem Tier das Kettchen um. Sie befestigte es so dicht an Kijas Hals, dass es fast im Fell verschwand und sich unterwegs nicht irgendwo verfangen konnte. Dann beugte sich Kim ganz dicht an Kijas Ohr und begann zu flüstern. Während Kim das tat, versteifte sich der grazile Körper der Katze. Es schien, als würde sie angestrengt lauschen. Als Kim fertig war, zwängte sich Kija durch die Gitterstäbe und schlich auf Samtpfoten zur Treppe, die nach oben führte. Verblüfft schauten sich die Mönche an. „Hoffentlich geht das gut“, murmelte Julian besorgt. 139
„Ja“, sagte Kim nur. Sie wusste, dass ihr Plan riskant war, vor allem für Kija. Würde es ihr gelingen, sich an den Wachen vorbeizumogeln? Andererseits: Sie war ja scheinbar bloß eine Katze. Cenkus Männer konnten nicht ahnen, mit welchem Spezialauftrag das kluge Tier unterwegs war. Aber auch wenn Kija die Flucht aus dem Haus mit dem dunklen Tor gelingen sollte: Es war keinesfalls sicher, dass die Katze auch wirklich zum Palast gelangte. Und wer konnte sagen, ob Kija in der Lage war, Maffeo und Niccolo auf ihre Notlage aufmerksam zu machen? Kim schloss die Augen und verdrängte die bösen Gedanken aus ihrem Kopf. Dann begann das Warten. Niemand sprach ein Wort. Kim bedauerte, dass sie keine Uhr hatte. Wie viel Zeit mochte vergangen sein, seitdem die Katze verschwunden war? Eine Viertelstunde, vielleicht sogar schon eine halbe? Später kam ein Wächter vorbei. Er lächelte dümmlich und warf ein paar grünliche Brotreste durch das Gitter. „Lasst es euch schmecken“, rief er höhnisch, bevor er wieder verschwand. „So etwas Feines gibt es nicht mehr, wenn ihr versklavt seid!“ Kim atmete auf. Der Mistkerl hatte Kija mit keiner Silbe erwähnt! Offenbar war zumindest der erste Teil des Plans geglückt: Kijas Flucht aus dem Haus. 140
Kim begann, die Tropfen zu zählen, die von der Decke fielen. Sie schätzte, dass sie ziemlich genau im Sekundenrhythmus auf dem Boden zerplatzten. Sie zählte und zählte. Nach ihrer neuen Zeittropfenrechnung waren etwa weitere zwanzig Minuten vergangen, als es plötzlich über ihnen laut wurde. Alle sprangen auf und drängten zum Gitter. Ein Poltern, dann Schreie und derbe Flüche. „Klingt so, als würde gekämpft!“, stieß Julian mit zitternder Stimme hervor. „Ja, unsere Retter greifen an!“, rief Kim. Die Gefangenen begannen jetzt, aus Leibeskräften zu rufen: „Hier sind wir! Holt uns raus!“ Als Erstes kam eine Katze mit bernsteinfarbenem Fell und smaragdgrünen Augen angesaust. Sie zwängte sich durch die Gitterstäbe und sprang in Kims Arme. „Oh, was würden wir nur ohne dich machen?“, rief Kim überglücklich. Sie strich dem Tier über das weiche Fell und stellte fest, dass das Kettchen nicht mehr an seinem Platz war. „Sie hat es geschafft, ich habe es gewusst“, sagte Kim strahlend. Doch die Freude währte nicht lange. Drei Männer stürmten auf sie zu. Aber es waren nicht Maffeo, Nic141
colo oder Mitglieder der Elitesoldateneinheit Kasitan, es waren Cenku, der einen großen Shimshir gezückt hatte, und einige seiner Komplizen! Cenkus Gesicht war nur noch eine Fratze des Hasses. „Großer Gott!“, entfuhr es Angelo, der totenbleich wurde. „Dein Gott wird dir nichts mehr nützen, Mönchlein“, zischte Cenku, während er einen Schlüssel ins Schloss rammte. Schon schwang die vergitterte Tür auf. „Raus!“, giftete der Minister. „Beeilt euch!“ Leon nahm all seinen Mut zusammen. „Was habt ihr mit uns vor?“ „Das werdet ihr gleich sehen, wir haben keine Zeit zum Reden!“ Cenku kam drohend auf Leon zu, der sofort ein paar Schritte zurückwich. „Meine tapferen Männer halten die Schergen des Khans auf, und wir werden jetzt durch den Hinterausgang fliehen, hast du verstanden?“ Leon warf seinen Freunden einen raschen Blick zu. Sie nickten ihm zu. Widerstand war zwecklos, sollte das wohl heißen. Aber Leon rührte sich keinen Millimeter. Da packte Cenku ihn grob am Arm und stieß ihn aus dem Verlies. „Beeil dich, du störrischer, kleiner Dummkopf!“ 142
Der Minister und seine Männer trieben ihre Gefangenen einen Gang hinunter, während von oben immer noch Kampflärm erklang. Offenbar leisteten Cenkus Männer erbitterten Widerstand. Leon war überzeugt, dass die Soldaten des Khans rasch die Oberhand gewinnen würden. Aber das nützte alles nichts, wenn es Cenku gelingen sollte, mit seinen Geiseln zu fliehen. Leon musste sich irgendetwas einfallen lassen. „Schneller, schneller!“, blaffte Cenku ihn an und trat ihm von hinten in die Beine, sodass Leon ins Stolpern geriet. „Aua, mein Bein“, rief er unvermittelt und sank auf dem Gang zusammen. „Was soll das?“, schrie Cenku. „Komm hoch!“ „Ich … ich kann nicht. Du hast mich verletzt!“, jammerte Leon, dem in Wirklichkeit überhaupt nichts wehtat. Aber so konnten sie vielleicht Zeit gewinnen! „Unsinn!“, bellte der Minister. Schweiß lief ihm über die Stirn. „Steh gefälligst auf!“ Leon schüttelte nur den Kopf. „Es tut doch so weh!“ Mit einem Fluch legte Cenku den Shimshir beiseite und streckte Leon beide Hände entgegen, um ihm auf die Füße zu helfen. 143
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„Vielen Dank“, sagte Leon und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an Cenkus ausgestreckte Arme. Prompt verlor der Minister das Gleichgewicht und landete neben Leon auf dem Boden. Das wirkte wie ein Startsignal. Kija sprang Cenku auf den Rücken und biss zu, während die beiden Mönche auf die überraschten Komplizen von Cenku einschlugen. Der Minister brüllte auf und griff nach hinten, um die Katze loszuwerden. Als Antwort verpasste ihm Kija einen blitzschnellen, sauber platzierten Hieb mit der rechten Pfote, wobei die messerscharfen Krallen weit ausgefahren waren. Cenkus Geschreie, eine Mischung aus Zorn und Schmerz, hallte durch den Gang. Während er mit der Katze rang, kam Leon wieder auf die Füße. Er schnappte den Shimshir und warf ihn weit weg. Mit Kim und Julian kam er dann den Mönchen zu Hilfe. Francesco und einer von Cenkus Männern umkreisten sich lauernd, während Angelo gerade ein wunderbarer Aufwärtshaken geglückt war, der den Gegner zu Boden gestreckt hatte. Verblüfft schaute Angelo auf seine Faust. „Großer Gott, ich wusste gar nicht, was in mir steckt!“, rief er glücklich. 145
„Achtung!“, warnte Julian, der aus dem Augenwinkel eine verdächtige Bewegung wahrgenommen hatte. Cenku hatte Kija abschütteln können und stürmte auf Angelo zu. Kim stellte dem Minister ein Bein und Cenku krachte hin. „Das wirst du mir büßen!“, schrie der Minister. „Das wird sie nicht!“, widersprach ihm eine dunkle Stimme. Alle fuhren herum. Hinter ihnen tauchte Maffeo auf. Ihm folgten Niccolo und einige schwer bewaffnete Soldaten, die die Mitglieder des Geheimbunds sofort festnahmen. Es dauerte keine zwei Minuten, bis Cenku und seine Leute gefesselt waren. „Wie schön, euch wiederzusehen!“, riefen Maffeo und Niccolo und schlossen die Mönche sowie die Gefährten in die Arme. Wütend zerrte Cenku an den Fesseln. Die Freunde beeilten sich, das düstere Kellergewölbe zu verlassen. „Zunächst wussten wir nichts mit eurer Katze anzufangen“, gestand Maffeo, als sie die Treppe hinaufgingen. „Aber dann entdeckte Niccolo das Kettchen.“ „Ja“, ergänzte nun Niccolo, während er das Kettchen aus der Tasche zog und Kim zurückgab. „Und mir war klar, dass das irgendetwas zu bedeuten hatte. Aber ich kam nicht direkt dahinter, was genau es war. 146
Eure Kija hat uns schließlich geholfen. Sie gebärdete sich ganz wild und machte immer wieder Anstalten, davonzulaufen.“ Jetzt hatten sie das Erdgeschoss erreicht. Der Raum war völlig verwüstet, das Mobiliar zerstört. Überall lagen Waffen herum. Kasitan-Soldaten führten gerade einige Männer ab, von denen zwei verwundet waren. „Wir erkannten, dass Kija uns etwas zeigen wollte“, fuhr Niccolo fort. „Sicherheitshalber nahmen wir ein paar Soldaten mit. Zum Glück, wie sich herausgestellt hat. Denn eure Katze hat uns auf dem schnellsten Weg hierhergebracht. Was für ein bemerkenswertes Tier!“ „Oh ja!“, stimmten die Freunde zu. Wenig später hatten sie den Palast des Kublai Khan erreicht. Die Wachen führten die Gefährten und die Mönche sofort zum mächtigen Herrscher. Der Khan war nicht allein. Zu ihrer Überraschung erblickten die drei Freunde Marco Polo bei ihm. Der Kaufmann war zwar etwas bleich, wirkte aber ansonsten gesund. Er blinzelte ihnen vergnügt zu. Kublai Khan empfing sie in einem Saal, in dem die Farbe Weiß dominierte. Die Wände waren mit schneeweißem Samt verkleidet. In der Mitte des Raums stand ein silberner Fantasievogel, der einem 147
riesigen Kolibri ähnelte und den Kunstschmiede aus Silber gefertigt hatten. Sein prächtiges Federkleid war, wie die Freunde beim näheren Hinsehen staunend feststellten, aus unzähligen Edelsteinen zusammengesetzt worden. Ein unsichtbares Räderwerk sorgte dafür, dass der Kolibri seine Flügel ausbreitete und wieder zusammenfaltete. Unter der Decke hingen weiße Stoffbahnen. Zwischen den Bahnen hatten Künstler farbenprächtige, täuschend echte Holzvögel aufgehängt. Zwei weitere allerdings lebendige Tiere hockten rechts und links des Throns aus Elfenbein, in dem der Khan in seinem blütenweißen Seidenanzug saß: Es waren die beiden Leoparden, deren Augen sich sofort verengten, als sie Kija sahen. Doch die Katze beachtete die großen Verwandten überhaupt nicht. Wie die Kinder schaute sie gebannt auf einen Artisten, der gerade in einem atemberaubenden Tempo mit Schwertern und Fackeln jonglierte, während im Hintergrund ein Mann auf einer Morin Khow spielte und dazu sang. Eine winzige Handbewegung des Khans brachte ihn zum Schweigen. Auch der Artist stoppte seine Vorführung. Der Khan breitete seine Arme aus. „Meine Freunde sind wieder da. Was mir jedoch fehlt, sind Informa148
tionen.“ Er wandte sich an Marco Polo. „Dir wird es ähnlich gehen, nicht wahr?“ Marco Polo nickte. „So ist es, mein edler Herrscher. Was ist passiert?“ Maffeo und Niccolo übernahmen die Aufgabe, den Khan und Marco Polo ins Bild zu setzen. Als die beiden fertig waren, schwieg der Khan eine Zeit lang betroffen. „Mein eigener Minister hat mich verraten“, sagte der Herrscher schließlich. „Er hat gegen mich gearbeitet, weil er das Neue fürchtete, weil er sich nicht vorstellen kann, dass verschiedene Religionen nebeneinander in einem Land existieren können. Aber in erster Linie wird Cenku Angst um seine eigene Macht gehabt haben. Das wird ihn den Kopf kosten.“ Dann ruhte der Blick des Herrschers auf den Kindern. Es war ein Blick, der sie mühelos zu durchdringen schien. Julian kam es so vor, als würde der Khan ihm direkt ins Herz schauen. „Ihr seid klug und mutig“, sagte der Khan. „Wie kann ich mich bei euch bedanken?“ „Lasst bitte Bolgara gehen, großer Herrscher!“, rief Julian schnell. „Sie ist völlig unschuldig.“ Der Khan nickte und erteilte den entsprechenden Befehl. 149
„Mich wundert eure Bescheidenheit“, sagte er dann. „Ihr könnt auch Gold, Silber oder Edelsteine haben.“ Kim verneigte sich tief. „Danke, großer Herrscher. Die Freiheit von Bolgara ist uns Lohn genug.“ „Wie ihr wollt“, antwortete der Khan. „Aber jetzt soll dafür gesorgt werden, dass die Mönche vernünftig gekleidet werden. Später wird es ein Festessen geben.“ Marco Polo lachte. „Na, dann werden diese Kinder und ihre Katze heute Abend wohl die Ehrengäste sein! Und das haben sie auch verdient! Denn sie haben nicht nur diesen Cenku zur Strecke gebracht, sondern mich auch geheilt. Dank der Medizin geht es mir wieder viel besser.“ „Bedankt Euch bei Bolgara“, sagte Julian. „Sie hat das Pulver hergestellt, das Euch geholfen hat!“ Darauf gab Kublai Khan dem Akrobaten und dem Musiker ein Zeichen, und die Darbietungen begannen von Neuem. Die Freunde rannten in die Küche zu Wuhan und brachten sie auf den neuesten Stand. Kurz darauf kam auch Bolgara hinzu. Weinend fielen sich Mutter und Tochter in die Arme. 150
„Tausend Dank“, flüsterte Wuhan nur mit tränenerstickter Stimme. „Es war uns wirklich eine Ehre“, sagte Julian, weil ihm nichts Besseres einfiel. „Und jetzt ruhen wir uns ein wenig aus.“ „Ja, natürlich“, sagten Bolgara und Wuhan. „Und wir werden schon mal mit den Vorbereitungen für das Festessen beginnen. Wir sehen uns später!“ „Ja“, erwiderte Kim. Sie schaute Leon und Julian an und ahnte plötzlich, dass es kein Wiedersehen geben würde. „Vielleicht …“, fügte sie dann hinzu. Bolgara und Wuhan sahen sie etwas verwundert an, stürzten sich dann aber in die Arbeit. Seufzend verließen Kim, Julian und Leon die Küche. „Sieht nach Abschied aus, oder?“, fragte Kim. „Ja“, erwiderte Leon. „Wir haben den Fall schließlich gelöst. Die Mönche sind wieder frei, Cenku und seine Leute wurden verhaftet und Marco Polo ist wieder gesund. Was meinst du, Julian?“ Der Junge nickte. „Irgendwie habe ich auch Lust auf Siebenthann. Nichts gegen diese mongolische Küche, aber einen großen Eisbecher in unserer Eisdiele Venezia fände ich jetzt auch sehr verführerisch …“ Schweigend gingen sie zum Stall, wo die Pferde 151
und Packtiere der Polos untergebracht waren. Nach kurzer Suche fanden die Freunde den Karren aus Holz, durch den Tempus sie ins Reich des Kublai Khan geschickt hatte. „Na dann“, sagte Kim leise, nahm das Kettchen ab und hängte es an einen Pfosten. Die Freunde fassten sich an den Händen und gingen auf den Karren zu. Sie trafen nicht auf festes Holz, sondern schritten durch den Wagen hindurch, als wäre er aus Luft. Eine warme Dunkelheit empfing sie. Tempus holte sie heim in ihre Welt der Gegenwart, ins hübsche Siebenthann.
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Einfach unbezahlbar
Am nächsten Tag saßen die Freunde in der definitiv besten Eisdiele Deutschlands, vermutlich sogar der ganzen Welt: im Venezia. Vor ihnen standen drei Becher, in denen vor etwa zehn Minuten noch jeweils mehrere Eiskugeln gelegen hatten. Kija ruhte auf Kims Schoß und hatte die Augen halb geschlossen. „Das war wieder mal sehr gut.“ Julian seufzte zufrieden. „Vielleicht sogar besser als das Festessen beim Khan.“ Leon leckte seinen Löffel ab. „Kublai Khan, die Polos und die Mönche werden sich bestimmt gefragt haben, wo wir geblieben sind.“ „Tja, manchmal lösen wir nicht nur Rätsel, sondern geben auch welche auf“, sagte Kim. „Aber dafür haben wir herausgefunden, wer die Mönche entführt hat und wer für den Giftanschlag auf Marco Polo verantwortlich war. Cenkus Plan ist nicht aufgegangen.“ „Allerdings“, ergänzte Julian. „Ich war gestern noch 153
mal in der Bibliothek des Klosters. Und da habe ich gelesen, dass sich das Christentum tatsächlich stark in der Mongolei ausgebreitet hat, nachdem Marco Polo dort war. Kublai Khan soll wirklich sehr tolerant gegenüber anderen Religionen gewesen sein, auch wenn er selbst an seine alten Götter wie Köke Tngri glaubte. Er ließ den Buddhismus ebenso zu wie den christlichen Glauben. Es gab sogar zahlreiche Bischöfe in seinem Land!“ Kim strich über den Kopf der Katze. „Das ist wirklich erstaunlich. Vielleicht hat der Khan begriffen, dass es einfacher ist, ein Land zu regieren, in dem jeder seinen eigenen Glauben haben darf. Wenn man den Glauben unterdrückt, kommt es ja auch leicht zu Aufständen und Unruhen. Aber jetzt, Jungs, muss ich allmählich nach Hause. Ich muss noch meine MatheHausaufgaben erledigen …“ „Ich auch.“ Julian kramte sein Portmonee hervor. „Marco Polo hätte bestimmt mit einer Prise Safran bezahlt“, fügte er hinzu. „Vermutlich“, sagte Leon grinsend. „Beim Thema Bezahlen fällt mir ein, dass wir in Kambalu überhaupt kein vernünftiges Angebot für Kim bekommen haben …“ „Red jetzt lieber nicht weiter, Leon“, warnte Kim ihn. 154
Aber Leon war nicht zu stoppen. „Niemand hat auch nur ein einziges lumpiges Kamel für dich geboten, Kim!“ Das Mädchen bewarf ihn mit dem kleinen Papierschirmchen, das ihren Eisbecher geziert hatte. „Ich bin eben nicht käuflich, Leon“, rief Kim lachend. „Und das wissen die Menschen dort – im Gegensatz zu dir!“ Leon lächelte. „War nur ein Scherz. Dass du einfach unbezahlbar bist, wissen wir doch alle!“
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Marco Polo:Kaufmann und Abenteurer
Marco Polo ist zweifellos eine der schillerndsten Figuren unter den Entdeckern und Abenteurern. In den meisten Geschichtsbüchern und Lexika wird der Kaufmann, der im Jahr 1254 in Venedig zur Welt kam und dort 1324 starb, als tollkühner Draufgänger gefeiert, dem die ersten exakten Berichte über eine neue Welt – die Welt der Chinesen und Mongolen – zu verdanken seien. Grundlage sind Polos Reiseaufzeichnungen mit dem Titel „Die Beschreibung der Welt“, die 1298 zunächst in Italien und Frankreich veröffentlicht und später in einige andere Sprachen übersetzt wurden. Die darin enthaltenen Entfernungsangaben waren so genau, dass Geografen sie dazu verwendeten, Landkarten zu zeichnen. Noch Kolumbus benutzte Marco Polos Angaben bei seinen Reisen.
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Laut seinem Bericht brach Marco Polo mit seinem Vater Niccolo und seinem Onkel Maffeo (beide waren Juwelenhändler aus Venedig) im Jahr 1271 zum Mongolenherrscher Kublai Khan auf, um Edelsteine zu kaufen. Marco Polo war damals erst siebzehn Jahre alt. Im Gepäck hatten sie Briefe und Geschenke des Papstes, darunter Öl aus dem Jesusgrab in Jerusalem. Um dieses Geschenk hatte Kublai Khan gebeten, als Niccolo und Maffeo im Jahr 1266 bereits schon einmal an seinem Hof gewesen waren – auch damals, um Edelsteine zu kaufen. Der Khan interessierte sich für den christlichen Glauben und bat die Polos ferner, hundert Mönche mit in sein Land zu bringen, um das Evangelium zu verbreiten. Nur zwei Mönche brachen mit den Polos gemeinsam auf, verließen sie aber bereits nach wenigen Tagen – aus Angst vor Überfällen. Die in diesem Buch genannten beiden Mönche sind also erfunden. Im Jahr 1275 erreichten die Polos auf der Seidenstraße das Machtzentrum des mächtigen Khans – die alte chinesische Stadt Kambalu, die er erobert hatte. Laut Marco Polo nahm der Herrscher sie begeistert auf. Er soll den jungen Marco Polo zu seinem Sondergesandten ernannt haben. Im Auftrag des Khans reiste Marco Polo in den kommenden Jahren durch 157
das riesige Reich. Was er dort alles erlebt haben will, fasste der Abenteurer in seinem berühmten Reisebericht zusammen. Darin schwärmt Marco Polo von gewaltigen Palästen und öffentlichen Warmbädern, von stark befestigten Häfen, gut ausgebauten Straßen, flinken Postkurieren und sagenhaften Schätzen aus Gold und Edelsteinen. Erst 1291 traten die Polos die Rückreise an, diesmal auf dem Seeweg. Mit vierzehn Schiffen und sechshundert Passagieren begann die gefährliche Fahrt, nur ein einziges Schiff und siebzehn Menschen erreichten vier Jahre später das Ziel Venedig. In ihrer Heimat wurden die Polos zunächst von niemandem wiedererkannt – schließlich waren sie vierundzwanzig Jahre weg gewesen. Man hatte sie für tot gehalten. Nur nach und nach begriffen die Verwandten, wer dort vor ihnen stand. Kurz darauf nahm Marco Polo an einem Seekrieg teil, den die Venezianer gegen die Stadt Genua führten. Dabei wurde er festgenommen und ins Gefängnis geworfen. Dort traf er den Schriftsteller Rusticello da Pisa, der ihn auf die Idee brachte, seine Reiseerlebnisse niederzuschreiben. Und so diktierte Marco Polo dem Autor seine Erinnerungen. 1299 wurde Marco Polo aus der 158
Haft entlassen. Er heiratete, hatte drei Töchter und war ein sehr erfolgreicher Kaufmann. Als er 1324 starb, hinterließ er seiner Familie 70 kg Gold. Schon zu Marco Polos Lebzeiten kamen erhebliche Zweifel an seinen Berichten auf. Als Marco Polo im Sterben lag, soll ihn ein Priester gedrängt haben, die Lügen zu beichten. Doch laut dem zeitgenössischen Biografen Jacopo de’Acupui soll Marco Polo auf dem Sterbebett erwidert haben: „Ich habe nicht die Hälfte dessen erzählt, was ich gesehen habe.“ Auch heute gibt es Historiker, die Polos Bericht als Märchen oder Schwindel abtun. Sie äußern den Verdacht, dass Polo nur die Erzählungen anderer Reisenden aufschrieb und dann als eigene Erlebnisse ausgab. Diese Kritiker begründen ihren Verdacht unter anderem damit, dass Marco Polo einige Dinge nicht erwähnt hat, die er eigentlich auf seinen Reisen durchs Land des Khans hätte sehen (und folglich auch hätte erwähnen) müssen: die bereits damals verwendeten Essstäbchen oder die Chinesische Mauer, von der bereits Teile errichtet waren. Doch was hätte Marco Polos Motiv für diese Geschichtsfälschung sein können? Reich werden konnte er mit seinem spektakulären Reisebericht in Buchform nicht. In der damaligen Zeit gab es in Europa 159
noch keinen Buchdruck (der wurde erst um 1450 dank Johannes Gutenberg populär). Außerdem konnte ohnehin kaum jemand lesen. Einen finanziell interessanten Bestseller konnte der Kaufmann Polo also nicht veröffentlichen. Bliebe als Grund noch reine Geltungssucht. Demnach müsste Marco Polo andere Abenteurer besucht und interviewt haben und deren Erlebnisse anschließend dem Schriftsteller Rusticello da Pisa diktiert haben, um diese als seine eigenen Erlebnisse auszugeben. Das klingt reichlich aufwendig für ein bisschen Ruhm. Es wird sich vielleicht nie ganz klären lassen, ob Marco Polos Reisebericht, den es heute als Taschenbuch gibt, vom Autor selbst mit viel Fantasie angereichert wurde. Der Historiker Prof. Detlev Brennecke urteilt, wie folgt: „Was immer es ist, Dichtung oder Sachbuch: Es versetzt uns beim Lesen oder Zuhören in Verwunderung und frohe Stimmung. Und macht uns reiselustig …“
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Glossar
Archi ein alkoholisches Getränk aus Sauermilch und stark vergorenem Joghurt Biograf/Biografie Eine Biografie ist die Lebensbeschreibung einer Person – ein Biograf ist also jemand, der eine solche Lebensgeschichte verfasst. Bosog Türschwelle. Nach dem Glauben der mittelalterlichen Mongolen lebten die Hausgeister in der Türschwelle. Deshalb durfte sie nicht mit den Füßen betreten werden. Buddha wörtlich „Erleuchteter“ oder auch „Erwachter“. Ein Buddha ist ein Wesen, das aus eigener Kraft die Reinheit und Vollkommenheit seines Geistes erreicht und somit eine grenzenlose Entfaltung aller „seiner“ Potenziale erlangt hat: vollkommene Weisheit und unendliches Mitgefühl mit allem Lebendigen. Cha Tee, der in China und der Mongolei bereits seit dem zweiten Jahrhundert vor Christus angebaut 161
wird. Die Teezubereitung hat sich in China im Laufe der Jahrhunderte zu einer Kunst entwickelt. Char Söl mongolische Spezialität; ein scharfer, fettiger Lammeintopf Chorz Getränk mit hohem Alkoholgehalt Dal mongolische Spezialität; Fleisch aus dem Schulterblatt des Lamms Dschingis Khan berühmter und berüchtigter Mongolenherrscher (1167-1227); eroberte Nordchina mit Peking und große Teile des heutigen Russlands Eseg Stutenmilch Hami Melonenart aus der Mongolei Jade grünlicher Schmuckstein Jamb Poststation. Zu Kublai Khans Zeiten waren etwa 100000 Reiter und 200000 Pferde im Post- und Informationsdienst eingesetzt. Der Khan war dadurch in seinem riesigen Reich immer auf dem Laufenden. Kambalu Stadt in China, bereits im Jahr 1000 v. Chr. unter dem Namen Ji (= Schilf) gegründet. Schon damals wichtige Handelsstadt. Um 200 v. Chr. hieß sie Yanjing, um 800 n. Chr. Youzhou und nach der Eroberung durch die Mongolen schließlich Kambalu oder auch Dadu (= die große Hauptstadt) wie auch Khanbaliq (= Stadt des Khans). Heute heißt diese geschichtsträchtige Stadt Peking. 162
Karawanserei Herberge, Gasthaus für Händler, die mit einer Karawane zogen Kasitan die Leibwache und Elitesoldaten des Kublai Khan Köke Tngri mongolischer Gott, der „Himmlische“, der alles erschaffen hat. Auch Mond und Sonne sind ihm nach dem Glauben der Mongolen Untertan. Kolumbus, Christoph (1451-1506), italienischer Seefahrer in Diensten der Spanier, Entdecker Amerikas (Christoph Kolumbus erreichte 1492 die Inselgruppe der Bahamas). Kublai Khan mächtiger Mongolenherrscher (12151294), Enkel von Dschingis Khan Lotosblume Seerosengewächs; eine Wasserpflanze mit großen Blättern und Blüten. Symbol für Reinheit und ewiges Leben Mach mongolische Spezialität; deftiges Lammfleischgericht mit Zwiebeln Morin Khow geigenähnliches Saiteninstrument aus der Mongolei National Geographic führende Fachzeitschrift für Geografie Pagode typisches Bauwerk der chinesischen Architektur; frei stehender Tempel. Er besteht aus einer quadratischen Plattform, einem Kuppelgewölbe, 163
einer Reliquienkammer und einer Spitze. In einer Pagode wurden Messen gefeiert und oftmals auch Reliquien eines Heiligen aufbewahrt. Pergament Vorläufer des Papiers; hergestellt aus ungegerbten, geschabten und geölten Tierhäuten Polo, Marco Entdecker und Kaufmann aus Venedig (1254-1324) Reliquien körperliche Überreste (oft eines Heiligen) Safran gelber Pflanzenfarbstoff aus den Blütennarben des Safran-Krokus. Geeignet zum Gelbfärben, vor allem aber als Gewürz (auch heute noch sehr teuer). Seidenstraße wichtige Handelsstraße im Mittelalter, die das Mittelmeer und China miteinander verband. Seide war das außergewöhnlichste Handelsgut, das auf dieser Straße von Karawanen transportiert wurde. Sheng Mundorgel aus siebzehn Bambuspfeifen, in China seit über dreitausend Jahren bekannt. Durch Hineinblasen brachte der Musiker die Pfeifen zum Klingen. Shimshir krummer Säbel; Hieb- und Stichwaffe der Mongolen im Mittelalter Sülde Tngri mongolischer Gott der Jagd, dargestellt als Mann mit Pfeil und Bogen 164
Yak langhaariges, schwarzes Rind aus Asien. Es liefert Milch, Fleisch und Fell. Der Kot dient als Brennmaterial. Zimbel Schlaginstrument; kleine Becken, die man aufeinanderschlägt
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