STEFAN WUL
Inferno Mond Höllenqualen eines Freiwilligen
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)
Zwar hat man die Todes...
28 downloads
719 Views
5MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
STEFAN WUL
Inferno Mond Höllenqualen eines Freiwilligen
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)
Zwar hat man die Todesstrafe auf der Erde abgeschafft, aber man überläßt es dem Schicksal, ob die Verurteilten noch einige Jahre das Licht der Sonne erblicken. – Die Luft der Heimaterde ist ihnen versagt. In Kleinstraumern – äußerlich sehen sie nur wie klobige Raumanzüge aus – werden die Verbrecher zum Mond deportiert, und gemeinsam mit einem unschuldig Verurteilten erleben wir im folgenden Roman die Hölle der Überfahrt und der Ankunft. Hinrichtung Der Richter erhob sich. Sein langes Gewand aus mit silbernen Fäden durchwirktem Purpur ließ ihn größer erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Er nahm die Hände von den Armlehnen seines Sessels und winkte einem Assessor. Auf seiner Brust funkelte ein Schild mit dem Wappen der Justizbehörde des Erdballs. Der Assessor reichte ihm ein Pergament. Der Richter ergriff es und las mit gewichtiger Stimme: „Da der Bürger Jal Benal die Verantwortung trägt für die Katastrophe, die ein Viertel der Stadt Lepolvi vernichtet hat, und ihm keine mildernden Umstände zuzubilligen sind, verurteilen wir als oberster Richter des Hohen Gerichtshofs der Erde den Bürger Jal Benal zum Tode.“ Auf der Anklagebank saß Jal Benal und erstaunte, daß er bei diesen Worten keine besondere Erregung empfand. Eine Sekunde lang hielt er dem Blick des Richters stand. Dann ließ er seine Augen im Saal umherschweifen. Die bunt zusammenge5
würfelte Menge blieb stumm. Jal Benal sah in feindselig starre Gesichter und in andere, die Erschrecken verrieten. Sein Blick haftete an einem rosafarbenen Fleck. Es war die Tunika einer jungen Frau in der ersten Reihe der Zuschauer. Benal betrachtete sie genauer. Sie sah sehr anmutig aus, doch ihr Gesicht war totenblaß, und in ihren Augen standen Tränen. Benal lächelte ihr ermutigend zu. Da senkte sie die Augenlider, und ihre Unterlippe zuckte in verhaltenem Weinen. Eine feste Hand legte sich auf den Arm des Verurteilten. Er wandte sich dem Gefängniswärter zu, dessen Gesicht keinerlei Ausdruck trug. Ein stummes Zeichen mit dem Kopf, und Benal ließ sich von ihm fortführen. Als er an der Menge vorüberschritt, hörte er eine Stimme rufen: Mörder! Vor der jungen Frau, die Mitleid mit ihm zu haben schien, blieb er plötzlich stehen. Der Wärter, der ihn an den magnetischen Handschellen hinter sich herzog, geriet ins Stolpern. Über Benals Züge huschte ein Lächeln: „Sie gestatten doch“, sagte er zum Wärter. Tief neigte er sein Haupt hinunter zu der jungen Frau, so daß ihre Blicke ineinandertauchten. „Ich hätte Sie gern früher gekannt.“ Er wartete einen Augenblick und fügte leise hinzu: „Ich danke Ihnen.“ Dann gab er dem Wärter das Zeichen, daß er bereit sei. Wie alle Gefangenen trug er eine lange gelbe, in der Taille zusammengehaltene Tunika. Doch trotz der militärischen Haltung seines im blitzenden Küraß prunkenden Begleiters schien es Benal zu sein, der hier kommandierte. Es sah aus, als gäbe der Wärter ihm nur das Ehrengeleit. Sie bogen zusammen in einen langen zu den Zellen führenden Korridor. Schließlich blieb der Wärter vor einer Tür stehen. Er zog aus seiner Tasche einen Stab und berührte damit das Schloß, das nur wie ein kleiner auf die Tür gemalter gelber Kreis aussah. Man hörte ein Schnappen und die Tür schob sich geräuschlos in 6
die Wand. Der Wärter löste die magnetischen Handschellen und ließ Benal eintreten. Dann berührte er das gelbe Schloß mit dem anderen Ende der kleinen blitzenden Metallröhre und die Tür schloß sich wieder. Keine Macht der Erde hätte sie auch nur einen Spalt öffnen können. Mit dem Rücken an die Tür gelehnt, hörte Benal die Schritte des Wärters im Korridor verhallen. In seinen Augen leuchtete es spitzbübisch auf. „Nach einem solchen Schock“, sagte er laut, „habe ich wohl einen Drinil verdient!“ Mit ruhigen Schritten ging er hinüber zu einem vergitterten Schalter in der linken Wand. Er trommelte nervös mit den Fingern. Sofort leuchtete oberhalb der Bar eine kleine Lampe auf. Benal schob das Gitter hoch und ergriff einen kleinen Becher: „Setzen Sie das auf meine Rechnung, Herr Wirt!“ Gleichzeitig dachte er: Ich erlaube mir hier Witzeleien, die meiner nicht würdig sind. Ich bin nicht in Form. Die Verhandlung hat mich doch mitgenommen. Er ließ sich in einen Sessel fallen und goß in einem Zuge die klare, blaue Flüssigkeit hinunter, die der Becher enthielt. Er schloß die Augen. Sein Gesicht entspannte sich und eine ruhige Heiterkeit prägte sich darin aus. Es geht doch nichts über ein Gläschen Drinil, ging es ihm durch den Kopf. Das unglaubliche, abenteuerliche Geschehen, das ihn hierhergeführt hatte, rollte in Gedanken noch einmal vor ihm ab. Er, Jal Benal, Direktor der Laboratorien für Atomforschung, die wenige Kilometer von Lepolvi entfernt lagen, hatte inmitten hochwichtiger Experimente seinen Arbeitsplatz verlassen, um in Staleve, der Hauptstadt Afrikas, seine kranke Mutter zu besuchen. Am Tage nach seiner Abreise hatte er in den Zeitungen den Bericht über die furchtbare Explosion gelesen. Sofort wurde 7
er verhaftet, weil er seinen Posten verlassen hätte. Das war wenigstens die offizielle Darstellung der Angelegenheit. – Die Wirklichkeit allerdings sah anders aus. Jal Benal hatte seine Mutter nur von einem leichten Unwohlsein befallen vorgefunden, Mit ihren einhundertsiebzig Jahren erfreute sie sich einer verhältnismäßig recht guten Gesundheit. Aber der Arzt, der an ihrem Bett saß, hatte den jungen Mann gebeten, mit ihm in das Zimmer nebenan zu gehen. „Sie haben sicher begriffen, daß die Krankheit Ihrer Mutter nur ein Vorwand war, Sie hierherzulocken.“ „Ein Vorwand? Ich verstehe nicht …“ „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Hauptmann Lero von der Abwehr. Herr Benal. wir brauchen dringend Ihre Hilfe.“ „Hauptmann, ich bin Wissenschaftler. Ich verstehe nichts von Ihren …“ „Ganz recht. Aber setzen wir uns. Lassen Sie mich der Reihe nach erklären. Während Ihrer Abwesenheit werden Ihre Laboratorien in die Luft fliegen.“ Jal Benal wollte aufspringen, aber der falsche Arzt wehrte mit einer Handbewegung ab. „Beunruhigen Sie sich nicht. Wir haben alle Vorsichtsmaßregeln getroffen. Das Ergebnis Ihrer Forschungen ist sichergestellt. Ihre Arbeiten werden vor der Vernichtung bewahrt. Unterbrechen Sie mich bitte nicht mehr. Der südwestliche Stadtteil von Lepolvi wird durch diese Explosion zerstört werden. Das betrifft nur alte Häuser aus dem Jahre 2300, die als gesundheitsschädliche Wohnbauten galten und schon seit langem abgerissen werden sollten. Es wird kein Menschenleben zu Schaden kommen. Alles ist indessen so geplant, daß die Bewohner der Erde an eine furchtbare, viele Todesopfer fordernde Katastrophe glauben müssen, an der Sie allein schuld sind. Sie werden vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Sie wissen, wo man Sie hinschicken wird. Und nun 8
beginnt Ihre eigentliche Arbeit im Dienste der Gegenspionage. Die Bewohner des Mondes, ausschließlich Kapitalverbrecher, die man seit 200 Jahren dorthin geschickt hat, planen nämlich …“ „Gestatten Sie“, unterbrach Jal Benal diese Ausführungen, „das geht mir zu schnell. Die Bewohner des Mondes? Was ist denn das für eine unglaubliche Geschichte? Der Mond ist eine Wüste und es ist unmöglich, daß menschenähnliche Wesen dort leben können!“ „Nein! Allerdings sind die Lebensbedingungen sehr schwierig. Wir haben allen Grund zu glauben, daß eine ganze Anzahl der abgeurteilten Verbrecher am Leben geblieben ist. Ja, sie haben sich sogar vermehren können und eine Zivilisation gegründet, die augenblicklich unsere Erde mit Vernichtung bedroht. Jahrhundertelang haben unsere Vorfahren sich in der Hoffnung gewiegt, den Mond kolonisatorisch auszubeuten. Das hat sich als undurchführbar erwiesen und versprach keinen praktischen Nutzen. So dient uns nun der Mond als Schuttabladestelle. Wir schicken die auf der Erde unerwünschten Elemente dorthin, seitdem die Todesstrafe aufgehoben ist. Nun, was wir nicht schafften, sie haben es fertiggebracht. Sie haben auf dem Mond einen uns feindlich gesonnenen Machtstaat begründet, der uns gefährlicher ist als die Feinde vom Mars, die ums ja nur alle zwei Jahre ein paar schlecht gezielte Geschosse herüberschicken. Die Mondbewohner sind ihrem Ursprung nach Erdmenschen. Sie haben Grund, uns zu hassen, denn sie alle sind Geächtete oder Nachkommen von Geächteten. Sie haben sich bisher gehütet, Lebenszeichen von sich zu geben, aber wir wissen, daß sie vorhaben, in etwa fünf Jahren die Erde zu überfallen.“ „Na, zum Donnerwetter: Sprengen wir sie doch einfach vorher in die Luft!“ „Ganz richtig! Dazu brauchen wir die Nachrichten, die Sie uns verschaffen sollen. Ein Angriff ins Blaue hinein könnte 9
fehlschlagen und eine vernichtende Gegenaktion auslösen.. Wir müssen mit einem starken Gegner rechnen. Der vom Mond entwichene Verbrecher, der uns gewarnt hat, ist leider gestorben, bevor er uns viel berichten konnte. Aber soviel wissen wir: Die Mondbewohner sind uns überlegen.“ „Was Sie nicht sagen!“ „Nach dem großen Konflikt von 2123 schickten wir ihnen auch noch die Kriegsverbrecher hinauf. Unter ihnen waren Gelehrte, die der Forschung erheblichen Aufschwung gaben.“ „Mir steht der Verstand still!“ Der Hauptmann legte Benal freundschaftlich die Hand auf die Schulter: „Wir brauchen Ihre Hilfe, Benal. Wir müssen einen Spion zum Mond schicken, und es muß glaubhaft erscheinen, daß er eines Verbrechens wegen verurteilt worden ist. Ihr Ruf als hervorragender Wissenschaftler hilft Ihnen bestimmt. Man wird Sie begeistert empfangen und Wert darauf legen, Ihre Fähigkeiten an höchster Stelle einzusetzen. So finden Sie Gelegenheit, viele Dinge zu beobachten und streng geheimgehaltene Pläne auszukundschaften. Dürfen wir auf Sie rechnen? Sagen Sie zu!“ Benal senkte den Kopf. „Gut!“ In den Augen des Abwehroffiziers leuchtete Triumph. „Ich danke Ihnen, Benal, im Namen der Erde. – Weitere Instruktionen erfolgen später.“ Noch einmal durchlebte Benal in seiner Todeszelle alle Einzelheiten dieses Abenteuers. Dann aber wirkte der blaue Trank, und der Todeskandidat schlief ein. * Es schien Jal Benal, als habe er eben erst die Augen zugemacht, da riß ihn eine schrille Klingel aus tiefem Schlaf. „Ja?“ gähnte er. 10
Eine aus dem Nichts kommende Stimme sprach in das Zimmer hinein: „Benal, Besuch für Sie!“ Der Atomforscher kleidete sich hastig an und wartete gespannt. Eine der gläsernen Wände seiner Zelle trübte sich, wie von einer Wolke überzogen. Allmählich löste sich, der Dunst auf, und die Wand wurde kristallklar und durchsichtig. Jal erkannte das vertraute Antlitz der Frau aus dem Gerichtssaal. Auch jetzt trug sie ihre rosafarbene Tunika. „Sie sind es? Welche Überraschung!“ „Erkennen Sie mich nicht wieder?“ „Doch! Sie waren doch unter den Zuhörern im Gerichtssaal.“ „Das meine ich nicht. Wir haben uns schon früher mal gesehen. Viel früher.“ Benal dachte angestrengt nach. Sie half ihm: „Vor zehn Jahren waren Sie mein Mathematiklehrer. Damals in Staleve! Ich war noch ein Kind. Kaum dreißig Jahre alt. Ein kleines Mädchen, hatte gerade in den Naturwissenschaften promoviert. Die Mathematik war nicht mein Fall. Aber Sie haben mir Mut gemacht. Einmal, nach der Stunde, haben Sie mir die logarithmische Ableitung der Funktion B erklärt.“ „Mein Gott! Flora! Nicht wahr?“ „Jawohl! Flora Steval –“ bestätigte sie lächelnd. „Mein Gott!“ Benal machte große Augen. „Sie sind ein Held, daß Sie einen solchen Auftrag übernommen haben. Sie sind in meiner Achtung noch mehr gestiegen. Haben Sie gemerkt, daß seit fünf Minuten die Scheibe zwischen uns verschwunden ist? Ich genieße gewisse Vorrechte! Ich bin von der Regierung beauftragt, Ihnen die letzten geheimen Instruktionen zu übermitteln.“ Flora trat ganz nahe an Jal heran. Da schloß er sie in seine Arme. 11
* Der Ansager flüsterte in das Mikrofon: „Wir stellen hier in dem langen Korridor, der von dem Staatsgefängnis zur Richtstätte führt. In wenigen Minuten, Bürger, wird sich die Tür am hinteren Ende des Ganges öffnen und, mit dem gelben Raumanzug bekleidet, wird der Verurteilte erscheinen. In diesem Augenblick hinter der Tür prüft der dem Hinrichtungskommando beigegebene Ingenieur den Anzug zum letzten Mal. Wie Sie alle wissen, ist dieser Anzug ein Kleinstraumer, der dien Verurteilten nach menschlichem Ermessen sicher zum Mond bringen kann. Jetzt hören Sie das Klingelzeichen. Die Tür öffnet sich – das ist der Mann – sehen Sie sich ihn genau an – der Mann, dessen Nachlässigkeit Tausenden seiner Mitbürger den Tod brachte.“ Millionen saßen oder standen vor den Fernsehschirmen der Erde und wurden Zeugen dieser Szene. Der Ansager fuhr fort: „Links und rechts von dem Todeskandidaten steht je ein Wachsoldat, hinter ihm der Scharfrichter. Er trägt in der Hand den durchsichtigen Helm, den er dem Verurteilten auf den Schultern festschrauben wird. Mit langsam abgezählten Schritten kommt die Gruppe auf uns zu. In dumpfen Klängen schlägt die Todesglocke dien Takt zum letzten Marsch. Benals Gesicht ist leichenblaß. Immer noch schreitet er vorwärts. Fünfzig Meter trennen ihn jetzt von dem steil in den Himmel ragenden Abschußrohr, das ihn emporschleudern soll zur Hölle des Mondes. Vierzig Meter – noch immer tönt die Glocke. Dreißig Meter – zwanzig – Jetzt klettert er die metallene Leiter empor, hinter ihm der Scharfrichter. Man sieht nur noch die vom Raumanzug verhüllten Beine. Niemals wird man je wieder das Gesicht die12
ses Menschen erblicken: Ein von der Erde auf ewig Verbannter.“ * Jal Benal trat in die Kabine ein und wandte sich nach dem Scharfrichter um, der sich anschickte, ihm den Helm aufzusetzen. „Sagen Sie mir offen, welche Chance ich habe, das zu überstehen!“ „Dreißig zu hundert. Aber nach dem Bericht des Arztes äst Ihr Organismus außergewöhnlich widerstandsfähig. Ich denke, Sie werden lebendig oben ankommen.“ „Das sagen Sie wohl allen zum Trost!“ Der Scharfrichter zuckte mit den Achseln. Er setzte Benal den Helm auf und begann, ihn festzuschrauben. „Auf Wiedersehen!“ Die Stimme Jals klang, als käme sie aus einer Grotte. „Arme und Beine fest andrücken!“ schrie der Scharfrichter. Jal gehorchte. Die Arme des Raumanzuges paßten genau in die seitlichen Ausbuchtungen des Rumpfes, die Beine lagen eng aneinandergepreßt. Der ganze Körper nahm so eine ovale Form an. Jal versuchte, einen Arm abzuheben, aber das war unmöglich. Die Gliedmaßen wurden magnetisch in ihrer Lage festgehalten. Wieder hörte er wie von fern die Stimme des Scharfrichters: „In drei Tagen können Sie sich wieder frei bewegen. Alles ist darauf eingestellt.“ Dann schlug die Tür der Kabine zu, und Jal war allein in völliger Finsternis. Sein Herz hämmerte. Eiskalter Schweiß lief über seinen Rücken. Dann ein pfeifendes Geräusch. Jetzt saugen sie um mich herum die Luft ab, dachte er. Er 13
wartete, alle Nerven angespannt. Im nächsten Augenblick schon fühlte er sich sanft emporgehoben. Vielleicht stieg er schon seit einigen Minuten, so allmählich, daß er es gar nicht gemerkt hatte. Rund um sich herum spürte er ein leises Zischen. Ich bin schon im Abschußrohr. Der Raumanzug reibt sich an der Innenwand, Er stieg schneller, mit der Geschwindigkeit eines Fahrstuhls. Dann noch schneller … Ihm wurde übel. Er kämpfte mit Gewalt gegen eine Ohnmacht an und klammerte sich an den Funken von Bewußtsein, der ihm noch blieb. Das ist das Ende – war sein letzter Gedanke, ehe er eintauchte in die Nacht des Vergessens. Qualvolle Landung Als er wieder zu sich kam, sah er sich von einem fahlen Schein umgeben. Er wollte sich bewegen, aber im Innern des Raumanzuges gab es nur einen kleinen Spielraum für seine Glieder. Plötzlich erinnerte er sich dessen, was geschehen war. Er begriff, daß der Schein von dem Kondenswasser herrührte, das den Helm innen mit einer Eisschicht bedeckte. Er neigte den Kopf nach hinten, drückte damit auf einen Knopf und setzte die Auftauvorrichtung in Tätigkeit. Das Eis begann zu schmelzen, und das unangenehm kalte Wasser floß ihm in den Hals. Allmählich wurde die Scheibe wieder durchsichtig. Welch ein Schauspiel! Zu seinen Füßen sah er die Erde schweben wie einen riesigen Ballon, der fast den ganzen Raum füllte. Es war ihm, als brauche er nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Er wandte den Kopf nach vom, dem Monde zu. Von seiner dunklen Masse hob sich am Rande eine helleuchtende Sichel ab. Um ihn herum erglänzte das Heer der Sterne, die so groß wie Untertassen erschienen. Jal hörte plötzlich ein Geräusch, als ob sein Raumanzug au14
ßen durch den kosmischen Staub wie mit Sandpapier abgerieben würde. Er konnte die Flammen nicht sehen, die aus den Düsen unterhalb seiner Füße herausschossen, aber er fühlte ein leichtes Vibrieren in der ganzen Länge seiner Beine. Es war zwar unbequem, sich nicht bewegen zu können, aber sonst fühlte er sich jetzt ganz wohl, fast so mollig wie in seinem Bett. Da er Hunger verspürte, wandte er den Kopf zur Seite und nahm das Ende einer Plastiktube in den Mund. Drei Pillen hochkonzentrierter Nahrung rollten ihm über die Zunge. Er spülte sie mit einem Schluck Drinil aus einer anderen Tube hinunter. Ein wohliges Behagen durchströmte seinen Körper. Welch ein Abenteuer! Er vergaß für einen Augenblick seine Mutter, seinen Auftrag, Flora und die Erde. Das Schlimmste war überstanden. Er trällerte vor sich hin. In ungefähr vierundzwanzig Stunden würde er auf dem Mond ankommen. Diese Aussicht erfüllte ihn mit Begeisterung. Alles schien ihm nun ein aufregendes Erlebnis zu sein. Dann aber ebbte die heitere Stimmung ab und machte jähem Entsetzen Platz. Ein Fieber rann durch seine Adern. Er fühlte, wie seine Ohren brannten. Ein furchtbarer Gedanke durchzuckte sein Hirn. Versagte sein Sauerstoffapparat? Planeten, Erde, Mond und Sterne tanzten vor seinen Augen. Sein Kopf flog hin und her und schlug gegen das Plexiglas des Helmes. Einige Minuten lang war er ganz benommen. Erst allmählich kam er wieder zu sich. Plötzlich überfiel ihn eine entsetzliche Angst. Der Mond, nun so groß wie die Erde, schwebte jetzt zu seiner Linken und die Erde zu seiner Rechten. Jal merkte, daß er von seinem Kurs abgelenkt worden war. Das taumelige Gefühl von vorhin mußte durch das Vorbeirasen von Meteoriten hervorgerufen worden sein, die ihn aus seiner Flugbahn gedrängt hatten. Ein Glück bei allem Unglück: Sein Sauerstoffapparat funktionierte wieder normal. 15
Nach langen, angstvoll durchwachten Stunden stellte er fest, daß die Erde und der Mond zusehends kleiner wurden. Seine Besorgnis stieg. Er kämpfte darum, die Augen offen zu halten. Aber die Müdigkeit übermannte ihn. Er sank in einen tiefen Schlaf. * Heftige Kopfschmerzen weckten Jal Benal auf. Er öffnete die Augen, schloß sie aber sogleich wieder vor dem unerträglich hellen Licht, das ihn blendete. Er zog mit den Zähnen an einer Schnur, die fünf Zentimeter vor seinem Munde hing. Augenblicklich färbte sich das Plexiglas des Helmes grün, und er konnte die Augen offenhalten, ohne daß sie tränten. Das helleuchtende Antlitz des Mondes lag vor ihm mit den Rurodgebirgen, den Kratern und den tiefen Rissen. Wie hatte er bloß so nahe kommen können? Als er einschlief, war er doch von ihm fortgetrieben. Zwei Erklärungen boten sich an. Entweder hatten andere Meteoriten ihn wieder in die alte Bahn gedrängt, oder die Düsen hatten die Abweichung automatisch korrigiert. Ein Kitzeln in der Nase ärgerte ihn. Instinktiv hob er die Hand, um sich zu kratzen, aber er stieß nur mit dem am linken Ärmel des Raumanzuges befestigten Magneten an die Außenseite des Helmes. Er mußte lachen und drückte die Nase kräftig an die Scheibe. Und plötzlich begriff er. Er hatte einen Arm bewegen können! Während seines Schlafes hatte die magnetische Kraft aufgehört, seine Glieder gefangenzuhalten. Hatte ihm nicht der Scharfrichter versichert, daß ihre Wirkung auf drei Tage begrenzt war? So lange jagte er also schon im Raum dahin. Benal besaß kein Mittel, um das nachzuprüfen. Er hatte Gott weiß wie lange geschlafen. Ein Glück, daß er nicht am Mond 16
vorbeigerast war, einem unbestimmten Ziel entgegen. Das hatte er sicher dem automatischen Piloten zu verdanken, der – für ihn unsichtbar – unter seinen Füßen befestigt war. Jetzt stand ihm nur noch die Landung auf dem Mond bevor. Seiner Position nach fürchtete Jal allerdings, daß ihn der Erdsatellit zu seinem eigenen Satelliten gemacht haben könnte, denn er befand sich nicht mehr auf der Bahn von der Erde zum Mond, sondern überflog eben die erdabgewandte Seite des Mondes. Nur eine Erklärung war da möglich: Er umkreiste das Gestirn in einem weiten Bogen. Langsam zog Benal die Beine an sich, so daß sie mit seinem Körper einen rechten Winkel bildeten. Sofort überschlug er sich dreimal. Ihm wurde ganz schwindlig. Er streckte schnell die Beine wieder aus und beschloß, klüger zu Werke zu gehen. Er legte die Arme nach vorn und neigte sich abwärts. Sein Rumpf stand nun in einem stumpfen Winkel zu seinen Oberschenkeln. Er drehte sich vorsichtig, so daß sein Kopf in Taucherstellung auf den Mond hin gerichtet war. Nun gelang es den Düsen langsam, die Zentrifugalkraft zu überwinden. Stundenlang wagte er nicht, weitere Bewegungen zu machen. Nach und nach traten die Einzelheiten der Mondoberfläche deutlicher in Erscheinung. Auf einmal kam es ihm so vor, als ob er stillstünde. Das grandiose Rundgebirge, das er sich als Richtungspunkt gewählt hatte, verschob sich langsam nach links, aber er schien dem Satelliten keinen Meter näher zu kommen. Er blickte hinunter und sah zu seinem Schrecken, daß der Treibsatz zu seinen Füßen nicht mehr arbeitete. * In der Mondstation Desperado saß ein Beamter vor seinem Radarschirm. Er beobachtete gespannt einen winzigen leuchtenden 17
Punkt und drehte an einem Knopf, bis er ihn in die Mitte der Bildfläche, in den Schnittpunkt der zwei sich kreuzenden Linien gerückt hatte. Er stellte scharf ein und wartete noch einige Minuten. Dann nahm er das um seinen Hals hängende Mikrofon vor den Mund: „Hier Desperado, hier Desperado. Ein Verurteilter der Erde setzt zur Landung an. Energie total erschöpft. Position: 47-221200. Richtung 20-25. Geschwindigkeit: 3 km pro Sekunde. Soll ich ihn abfangen?“ Eine Stimme näselte in seinen Hörern: „Nein. Er mag sich selbst aus der Patsche ziehen. Es ist Jal Benal, ein zum Tode verurteilter Atomphysiker. Wir sind durch unsere Agenten im Bilde. – Wo wird er voraussichtlich landen?“ „Einen Augenblick“, sagte der Beamte. Er drückte auf einen Knopf, ein paar Lampen leuchteten auf, und drei Lochkarten fielen in ein Schubfach. Er nahm sie und steckte sie in drei verschiedene Schlitze einer Maschine, die mit Tasten und Rheostatstöpseln gespickt war. Dann zog er an einem Handgriff. Ein kurzes Surren, und aus der Öffnung sprang eine bedruckte Karte. Der Beamte hob sie auf und las vor: „Einfallstelle Nordflanke des Mont Circe. Zeit: In sieben Stunden – zehn Minuten – fünfundvierzig Sekunden.“ Er grinste. „Da kann er sich gratulieren! Zehnmal wird er in einer Spiralbahn unseren guten Trabanten umkreisen und dann mit voller Geschwindigkeit die Oberfläche treffen. Da muß er schon ein Kerl sein, um das durchzuhalten. Dabei hat er noch Schwein, denn der Mont Circe ist ein Schwammberg.“ Er dachte einen Augenblick nach, dann fuhr er fort: „Sagen Sie mal, Chef, ich habe den Namen doch schon gehört. Jal Benal, Atomphysiker. Ein ganz großes Tier! Das wäre doch was für uns. Können wir 18
gebrauchen. Soll ich ihn nicht lieber abfangen? Der Mont Circe wimmelt von Gors. Selbst ein Übermensch hätte da keine Chance.“ „Davon kann keine Rede sein! Es ist ein unumstößliches Gesetz: Jeder, der hier ankommt, muß sich erst einmal vierzehn Erdentage lang ohne Hilfe aus eigener Kraft durchschlagen. Die Schwachen gehen dabei drauf. Die Besten überstehen es. Deshalb sind wir Mondmenschen eine natürliche Auslese, die künftigen Herren der Erde, die zähesten widerstandsfähigsten Männer im Sol-System. Ich gebe zu, auch für unsere Tapfersten wäre es eine harte Nuß, vierzehn Tage lang in dieser Schwammhölle von Circe um das Leben zu kämpfen. Vielleicht hat das Schicksal für Benal die grauenhafteste Gegend ausgesucht, um aus ihm einen Helden zu machen. Wenn er durchkommt, wird man ihn besonders als Wissenschaftler an sehr hoher Stelle einsetzen. Aber ich glaube nicht, daß er mit den Gors fertig wird. Trotzdem will ich dem Hohen Rat Bericht erstatten.“ * Jal Benal sah unter sich die phantastische Landschaft vorübergleiten, Gebiete, von denen er so viel gehört und gelesen hatte. „Na, bist du nun zufrieden, mein Junge? Da ist er also, dein Mond. Jetzt hast du Zeit, ihn dir gründlich anzusehen. Nütz das aus! Essen und Trinken reicht noch sechs Monate. Vielleicht stirbst du auch schon vorher an Schwäche. Immer die blöden Kreise ziehen um den verdammten Dreckkloß! Kann einem Mann auch den Verstand rauben. Sicher verreckst du, ehe die Vorräte aufgebraucht sind.“ Seine Fluggeschwindigkeit schien zuzunehmen. Wieder überflog er die Nachtseite des Trabanten. Er litt unter der eisigen Kälte, obwohl er die Heizung voll aufgedreht hatte. Er 19
schluckte einige Pillen und trank ein wenig Drinil, um wieder zu Kräften zu kommen. Tiefschwarze Dunkelheit umfing ihn. Es half nicht, daß er die Sonnenschutzfärbung des Helmes abstellte. Benal schaltete den Scheinwerfer an, um wenigstens seine ausgestreckten Arme sehen zu können. Er sehnte sich nach irgend etwas Sichtbarem, um sich daran festzuklammern. Aber der Mond war zu weit entfernt, als daß er darauf irgend etwas erkennen konnte. So schaltete er die Lampen wieder aus und bemühte sich, an nichts zu denken, einfach abzuwarten, was mit ihm geschehen würde. In weiter Ferne schienen die Sterne mit erbarmungslosen Augen auf seinen Tod zu lauern. Nach einer Zeit, die ihm endlos erschien – wenn er einschlief, quälten ihn wirre Träume – sah er bläulich umschimmert die Erde wieder auf tauchen. Ein tröstlicher Anblick. Wie auf einer riesengroßen Landkarte konnte er die Kontinente erkennen. Sehnsüchtig hefteten sich seine Blicke auf eine bestimmte Gegend: „Afrika! Staleve. Da ist meine Mutter! Da sind meine Freunde.“ Dann fiel ihm ein, daß er ja in den Augen der meisten Bewohner der Erde ein gemeiner Verbrecher war. Welch eine grauenvolle Ungerechtigkeit! Er war am Ende seiner Nervenkraft und hatte Lust, zu weinen wie ein Kind. Mit großem Schrecken stellte er fest, daß die Geschwindigkeit, mit der er flog, in unerhörter Weise zugenommen hatte. Er begriff, daß er nun immer schneller den Mond umkreiste und ihm dabei ständig näher kam. Der Aufprall mußte ihn zu Staub zermalmen. Er hatte ja keine Möglichkeit mehr, seinen Fall abzubremsen, da seine Düsen nicht mehr arbeiteten. Vielleicht war ein schneller Tod besser als ein qualvoll langsames Sterben in diesem fliegenden Sarg, überlegte er. Wie oft er den Mond umflog, wie viele Male er in höllischen 20
Kreisen aus der brennenden Hitze der sonnenbestrahlten Tagseite eintauchte in die eisige Kälte der Nacht, er hätte es nicht sagen können. Und jetzt fiel er wirklich. Er fiel mit den Füßen voran, gezogen vom Gewicht der nutzlos gewordenen Düsen. Er sah, wie der Boden näherkam, immer näher. Dieser Mond, der von der Erde aus gesehen so glatt erscheint, er breitete sich aus wie eine Landschaft aus Dantes Hölle mit Gipfeln, Schluchten und tiefen Spalten. Benal stürzte mit wahnsinniger Geschwindigkeit auf einen hochragenden, in tiefer Nacht blendend weiß schimmernden Berg zu, dessen Gipfel sich seltsam gezackt nach vorn neigte wie der Zipfel einer Nachtmütze. Da gab ihm die Verzweiflung einen Gedanken ein. Er spreizte die Beine und schlug mit aller Kraft die Hacken aneinander. Und das kaum erhoffte Wunder geschah. Ein winziges Ende Kupferdraht, das oxydiert war und den Motor blockiert hatte, glitt ein paar Zentimeter nach unten, und die rechte Düse spuckte eine lange rote Flamme aus. Ein harter Stoß durch den ganzen Körper, aber der Fall verlangsamte sich. Jal verfluchte sein Mißgeschick. Wäre er doch bloß eher auf diese Idee gekommen! Der Boden flog ihm zusehends entgegen und die Geschwindigkeit war immer noch beträchtlich. Nach zwei langen Minuten erlosch der Feuerstrahl. Vergebens wiederholte Jal das Manöver und schlug die Füße in wilder Verzweiflung immer wieder gegeneinander. Der Motor rührte sich nicht. Da warf er sich mit letzter Kraft herum, um noch einmal die Erde zu sehen – vor seinem Ende. * Der erwartete Stoß beim Aufschlagen war seltsamerweise kaum zu spüren. Nur ein betäubendes Krachen drang durch den Helm 21
an seine Ohren, so, als breche er durch Tausende von hintereinander aufgestellten mit Papier bespannten Reifen. Eine qualvolle Minute lang stürzte er so in die dunkle Tiefe. Dann ließ das Krachen nach und hörte schließlich ganz auf. Einen Augenblick fragte sich Jal, ob er tot sei. Vorsichtig tastete er seine Umgebung ab. Überall trafen seine Arme auf eine elastische Masse. Aber wozu hatte er denn seinen Scheinwerfer! Er schaltete ihn ein, und fast hätte er laut gelacht. Ich stecke in einem Schweizer Käse! ging es ihm durch den Kopf. Wo er hinblickte, sah er Löcher in der Masse, von der Größe einer Erbse bis zu der eines Fußballs. Jal Benal versuchte, sich aus der Rückenlage in die Sitzstellung aufzurichten, aber immer wieder drückte ihn die poröse, gummiartige Masse nieder. So blieb er schließlich erst einmal liegen. Er wurde von einem Lachkrampf geschüttelt. Ein Schweizer Käse! Ein Schweizer Käse! Schön weich liegt man hier. Die Löcher tanzten auf und ab. Schließlich beruhigte er sich. Wie es ihm der Ingenieur des Hinrichtungskommandos gezeigt hatte, befreite sich Benal von den schweren Treibsätzen an seinen Füßen und dem automatischen Piloten. Dann drückte er auf eine Feder, und aus seinem rechten Handschuh sprang eine scharfe Klinge. Er schnitt zunächst um sich herum eine Höhlung, so daß er aufrecht stehen konnte, und dann hieb er nach oben einen Schacht, in dem er langsam emporkletterte. Immer noch mußte er lachen, wenn er an den Schweizer Käse dachte. Schwamm, sagte er sich, ein sehr loser und weicher Schwamm ist es. Er arbeitete in der Richtung des Kanals, den sein Einsturz gerissen hatte. Die Aufgabe war schwierig, denn der ungeheure Schwamm hatte seine Wunden sofort wieder geschlossen. Überdies ermüdete ihn der Aufstieg über alle Maßen. Er benutzte die Löcher als Stufen, aber dann sank er bis an die Knie 22
ein, und die meiste Kraft verbrauchte er, um die abgetrennten Schwammstücke in seitliche Löcher zu stopfen. So schaffte er in dreiviertel Stunden kaum einen Meter. Schließlich war er so erschöpft, daß er innehalten mußte. Er lehnte sich an die weiche Wand, nahm einen Schluck Drinil und beschloß, eine Ruhepause einzulegen. Nachdem er mehr als drei Tage in trostloser Einsamkeit durch den Weltraum geflogen war und Augenblicke unerträglicher Angst durchlebt hatte, fühlte er sich jetzt in völliger Sicherheit. Seine gefährliche Mission schien ihm nicht mehr so schwierig, ein Kinderspiel gegen die durchstandenen Qualen der Reise. Gewiß, er war eng eingeschlossen in eine fremdartige Materie, aber er konnte sie mit den Händen greifen, und das war wie ein seelisches Heilmittel für die Übelkeit, die er in der grauenhaften Leere des Raumes verspürt hatte. Er fühlte sich beinahe wie zu Hause. Schließlich übermannte ihn der Schlaf. Die 14-Tage-Hölle Ein großer, überaus magerer, uralter Mann, dessen Gesicht von tiefen Furchen durchzogen war, lag ausgestreckt in einer durchsichtigen Hängematte. Seine nackten Arme und Beine waren durch winzige Metallplatten geschützt, die sich den Gelenken genau anpaßten, wie etwa die Hülsen, mit denen man ganz junge Baumstämmchen stützt. Eine goldgelbe Tunika verhüllte seinen Oberkörper bis zu den Hüften. Ein leiser Gongschlag. Der Greis richtete sich langsam auf und betrachtete die gegenüberliegende Wand. Sie schien einen Augenblick zu zittern wie ein lose hängendes weißes Tuch. Dann zeichnete sich auf ihr das Bild eines Mannes ab, der sich tief verneigte. Von dem glattrasierten Kopf bis zu den hohen Schuhen war er nur mit einem enganliegenden Trikot bekleidet. 23
Es war durchsichtig wie ein Seidenstrumpf, so daß es aussah, als sei er völlig nackt bis auf eine kleine rote Badehose. „Was gibt’s?“ fragte Corvin, der älteste Verurteilte. „Verehrter Ahnherr“, wieder verneigte sich der Besucher, „unsere Beobachter melden uns die Ankunft Benals. Er ist auf dem Mont Circe eingefallen.“ „Was weiter?“ „Der Hohe Rat hat beschlossen, Euer Gnaden zu bitten, mit Benal eine Ausnahme zu machen, denn er kann uns sehr nützlich sein. Da seine Düsen nicht mehr arbeiteten, ist es schon ein Wunder, daß er, ohne Schaden zu nehmen, landen konnte. Zur Zeit steckt er zweihundert Meter unter der Oberfläche in der Tiefe der Schwammschicht. Aber er hat keine Aussicht, den Kampf mit den Gors lebendig zu überstehen.“ Die Züge des Alten blieben versteinert. Langsam und trocken fielen die Worte von seinen dünnen Lippen. „Ich bin erstaunt, daß der Hohe Rat auch nur eine Sekunde lang in Erwägung ziehen konnte, das Gesetz zu brechen. Nur den Hirnen von Einfältigen kann ein solcher Gedanke entspringen. Dieser Benal muß seine Prüfung durchmachen wie alle anderen. Ich will nicht, daß der Mond von nutzlosen Kreaturen bevölkert wird. Der intellektuelle und physische Wert dieses Menschen interessiert mich überhaupt nicht, solange er keine Veranlagung zum Glückhaben zeigt. Wir, die ersten Verurteilten, haben sie in hohem Maße besessen, sonst hätten wir unser Leben hier unter den damals noch furchtbareren Bedingungen nicht organisieren können. Und ich muß für Glückszufälle empfänglicher sein als alle anderen, denn ich bin der einzige Überlebende aus jenen heroischen Zeiten und anscheinend dazu bestimmt, eure Geschicke zu leiten. – Wenn dieser Benal stirbt, beklage ich den Verlust nicht. Ich hätte dann nur wieder einmal 24
vergebens gehofft, daß außer mir noch jemand die drei wichtigen Eigenschaften in sich vereint: Intelligenz, Kraft und Glücksempfänglichkeit. Ich weiß, der Ort seiner Landung ist der ungastlichste auf dem Mond. Sein persönliches Pech. – Als ich vor 197 Jahren hier ankam, stürzte ich in die Ebene der Rass. Ein Beweis, daß ich immer Glück habe, denn dort waren die Chancen zu überleben größer. Und doch mußte ich zwei Jahre lang kümmerlich mein Leben fristen, ehe es mir gelang, eine einen Hektar große Zufluchtstätte abzuschirmen, wo ich das Elendsdasein eines Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts führen konnte. Die Gefährten, die ich aufnahm, die ich vom Untergang rettete, haben mich alle enttäuscht. Damals faßte ich den Entschluß, keinem zu helfen, der sich nicht erst einen Monat lang allein durchgeschlagen hat. Diese Zeitspanne ist aus anderen Gründen auf vierzehn Erdentage herabgesetzt worden. Und diese vierzehn Tage, selbst in der Hölle des Mont Circe, sind nicht zu vergleichen mit dem, was ich zwei Jahre lang durchmachen mußte!“ Eine verabschiedende Handbewegung des Alten, und der Abgesandte des Hohen Rates verneigte sich tief und verschwand. Die Wand sah aus wie zuvor. * Als Jal Benal aufwachte, fühlte er sich frisch und spannkräftig. Sogleich machte er sich wieder an die Arbeit. Der Raumanzug hinderte ihn beim Aufstieg. Lange Zeit schnitt er sich so den Weg nach oben, riß Fetzen des gelben Schwammes heraus und warf sie hinter sich. Auf einmal traf die Klinge einen festen Körper und brach ab. Benal erstarrte. Das Herz schlug ihm bis in die Schläfen. Er ließ aus der Faust eine Ersatzklinge heraus25
springen und versuchte, vorsichtig tastend, den harten Stein herauszulösen, der ihm den Weg versperrte. Er legte eine felsige Plattform frei und drängte sich an ihr vorbei. Fast eine Stunde verbrachte er damit, längs ihrer rechten Seitenkante einen Tunnel vorzutreiben. Dann versuchte er es links. Schon nach drei Metern stieß er auf den Rand. Das Ganze war eine zehn Zentimeter dicke Platte. Er schnitt ein Loch in das Schwammgewebe über sich, zwängte sich hindurch und schwang sich nach oben. Er stand nun auf dem festen Boden eines ungeheuren Saales. Die dreißig Meter hohen Wände waren durchbrochen von zahllosen kleineren Blasen, die bis zum Deckengewölbe hinauf viele Stockwerke von Logen und Nischen bildeten. Es wurde Benal schwindlig bei dem Anblick. Er tastete sich vorsichtig an den Wänden entlang und entdeckte mehrere Gänge, die den gleichen festen Steinboden aufwiesen und von dem Mittelsaal aus sternförmig nach allen Richtungen führten. Endlich, endlich! dachte er. Es sieht zwar alles öde und verlassen aus. Aber dieser Dom und die Gänge müssen von menschlichen Wesen gebaut worden sein. Ich brauche nur auf gut Glück weiterzugehen und werde schon zu ihnen hinfinden. Er entschied sich für einen Tunnel und trat ein. Bei jedem Schritt schwankte die seltsame Steinbrücke ein wenig. Aber Benal machte sich jetzt nicht mehr allzuviel Sorgen um sein Schicksal. Er hatte für sechs Monate genug zu essen und auch zu trinken. Die Ladung seines Atomelements reichte sogar für zwanzig Jahre. Zwanzig Jahre lang konnte er also selbst den Strom erzeugen für seinen Sauerstoffapparat, den Scheinwerfer und den Magneten. Er dachte aber gar nicht daran, zwanzig Jahre lang auf dem Mond zuzubringen. Zum ersten Mal seit einer Woche fühlte er sich innerlich ru26
hig und konnte seine Gedanken auf weniger lebenswichtige, normale Bedürfnisse richten. Wie gräßlich schmutzig war er am ganzen Leibe! Er drückte auf einen in Brusthöhe angebrachten Knopf. Das tat wohl: Tausend feine Strahlen einer schmutzlösenden Flüssigkeit peitschten die Haut vom Kopf bis zu den Füßen. Das verbrauchte Wasser entwich durch zwei an den Unterschenkeln angebrachte Ventile. Plötzlich stand Benal still und stellte die Dusche ab. Was war das? Er lauschte angestrengt. Tiefe Stille. Er rief: „Ist da jemand?“, und wartete. Er wollte gerade noch einmal rufen, da hörte er dicht hinter sich eine Stimme. Es klang wie „Gor.“ Benal wandte sich mit einem Ruck um und ließ seinen Scheinwerfer über die Löcher in den Wänden fegen. Nichts rührte sich. „Hallo! Ist dort jemand?“ Schweigen. Doch dann wieder ein Stöhnen: „Gor.“ Dieses Mal kam es von links. Jal Benal drehte sich um und sah etwas in eine Nische springen und darin verschwinden. Er stürzte auf die Öffnung zu und langte mit dem Arm hinein, doch die Höhlung war zu tief, und das Geschöpf war nicht mehr zu greifen. Er hörte ein Geräusch, das sich entfernte. Klatsch, Klatsch, tönte es aus Benals Hörer, als schlüge jemand einen nassen Lappen gegen eine Mauer. Der elastische Eingang zur Nische zitterte ein wenig. Jal rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was er jemals über die auf dem Mond lebenden Geschöpfe gelesen hatte. Ein Rass? Nein? Ein Rass hätte er sofort erkannt. Als Kind schon hatte ihn seine Mutter alle Woche in den Zoo mitgenommen und ihm die Rass in ihren Glaskäfigen gezeigt. Das waren rote Tiere, viel größer und vor allem stumm. Ein Rass hätte sich niemals durch einen so engen Gang zwängen können. War es etwa ein Slop? Man nannte die Mondgeschöpfe nach den Schreien und Geräuschen, die ihnen eigen waren. Die Slops, diese langen, rosa27
farbenen, blaugefleckten Schlangen, verdankten ihren Namen dem Geräusch, das entstand, wenn sie ihre Zunge mit einem einzigen Ruck herausschießen ließen. Die Rass wiederum schütteten bei niedrigem Gasstand ganze Lawinen von Kies in die Sauerstofftümpel, um das Niveau wieder bis zur Höhe ihrer Baue ansteigen zu lassen, und das klang wie ein lautes Rasseln. Aber niemals hatte Jal von Wesen gehört, die man nach ihrem Schrei hätte „Gor“ nennen müssen! Als seine erste Überraschung vorüber war, ging er ruhig Schritt für Schritt weiter. Das Unbekannte barg ja immer Schrecken, flößte Furcht ein. Aber auf dem Mond gab es seines Wissens nur zwei Arten von Tieren, die den Menschen angriffen. Die überaus gefährlichen Riesenuntiere und die Wuß, kleine Fliegen, deren Stich eine drei Tage lang dauernde Tollwut hervorrief. Die Größe des unbekannten Tieres, das er nur schattenhaft hatte vorbeihuschen sehen, beunruhigte ihn überhaupt nicht. Ein Tier von der Größe einer Katze konnte einem Menschen nichts anhaben, der in einer gegen alle Gefahren der Weltraumfahrt gesicherten Rüstung steckte! Benal marschierte weiter, bog in unzählige Gänge ein und durchschritt mehrere Säle. Hin und wieder zwangen ihn ein paar Sackgassen, wieder umzukehren. Das machte müde, und so setzte er sich, um auszuruhen, bequem in eine Wandnische, die gerade die richtige Höhe hatte. Plötzlich merkte er, wie die Decke über ihm zitterte. Er blickte empor und sah ein überaus häßliches Gesicht auf sich herunterstarren. Ein beinahe menschliches Gesicht, grünlich, mit zwei Augen, Nase und einer Mundspalte. Die funkelnden Augen lagen ganz tief in den unnatürlich groß erscheinenden Höhlen. Die Nase oder vielmehr die Nüstern waren einfach zwei runde Löcher. Zwei weitere Löcher schienen die Ohren vorzustellen, und in dem breiten, grinsenden Maul bleckten 28
spitze Haifischzähne. Das Tier sah schauderhaft aus. Ein richtiger Totenschädel. Jal unterdrückte sein Entsetzen. „Du bist aber gar nicht hübsch, armes Kerlchen.“ Er streckte seine Hand aus: „Komm, gib Herrchen dein Pfötchen!“ Das Tier schien zu verstehen, schlüpfte aus seinem Versteck heraus und ließ sich zu Boden fallen. Jal war ganz verblüfft. Außer dem Kopf gab es nicht mehr viel zu sehen. Was man als Körper bezeichnen konnte, war ein wenige Zentimeter hoher Sockel, auf dem der Schädel thronte. So, als hätte man einen Ballon auf ein Mundspülglas gesetzt und unten noch zwei Entenpfoten angebracht. Das Tier hüpfte mit zwei, drei Sprüngen wie eine Krähe auf Jal zu. Klatsch, klatsch, klatsch – Das war also das Geräusch, das er vorhin schon gehört hatte. Einen Meter vor Jal machte es halt und stieß einen Laut aus, der wie „Gor“ klang. Der Ton kam aus der Tiefe des Maules, das weit geöffnet war, so daß man die weißen feuchten Schleimhäute sehen konnte. Speichel tropfte auf die Erde. „Gor?“ fragte Jal. „Das soll wohl ‚Guten Tag’ heißen? Guten Tag, also! Aber komm mir nicht zu nahe, Kleiner! – Nanu!“ Jal zog unwillkürlich das Bein zurück. Gor wiegte sich auf einer Pfote und hatte die andere nach Benal ausgestreckt. Sie wurde immer länger wie ein herausziehbares Fernrohr und betastete schließlich Jals Knie. Der Wissenschaftler rang danach, unbewegt zu erscheinen. Aber bei der Berührung verspürte er eine kaum zu unterdrückende Übelkeit. Mit einem Ruck stand er auf und marschierte im Geschwindschritt in den nächsten Gang hinein. Er hörte, wie der Gor im Dunkeln hinter ihm her watschelte. Nach dreißig Metern hielt er es nicht mehr aus. Er wandte sich, um und schrie: „Machst du endlich, daß du fortkommst!“ Der Gor wiegte sich von einer Pfote auf die andere. „Du bist ja ganz anhänglich, aber jetzt los. Verzieh dich!“ Er 29
tat so, als ob er dem Geschöpf einen Fußtritt versetzen wollte. Der Gor richtete sich auf beiden spindeldürren Pfoten hoch und machte einen Satz rückwärts. Jal blieb noch eine Wedle stehen, um ihn zu beobachten. Er konnte im Dunkeln nur noch die beiden tückischen Augen funkeln sehen. „Abhauen, hab ich gesagt!“ schrie er noch einmal. Er drehte sich um, aber schon nach zwei Schritten blieb er wie angewurzelt stehen. Drei Gors versperrten ihm den Weg. Instinktiv griff er nach der Pistole an seiner Hüfte. Enttäuscht ließ er die Hand fallen. Schade, daß die Beherrscher der Erde den Verurteilten keine Energiewaffen mitgaben! Er ließ die scharfe Klinge aus seinem rechten Handschuh hervorschnellen und drückte auf den Knopf, der den im linken Handschuh eingebauten Magneten in Tätigkeit setzte. Er zielte damit auf den Gor, der ihm am nächsten stand. Sofort wurde das Tier vom Boden hochgerissen, flog auf den Magneten zu und blieb daran kleben. „Aha, Bursche! Das kommt dir komisch vor, was? Du hast Eisen im Blut, siehst du, und wenn es auch noch so wenig ist. Auf fünf Meter hole ich dich heran!“ Der Gor blieb unbeweglich und starrte dem Menschen in die Augen. Jal zögerte, ihm den Todesstoß zu versetzen. Das konnte die anderen in Weißglut bringen. Was für Kampfmittel standen den Gors überhaupt zur Verfügung? Er hatte keine Ahnung. Er entschloß sich, das Tier wieder freizulassen. Als er den Magneten abschaltete, wurde es fortgeschleudert. Aber nun war der ganze Tunnel bis weit nach hinten voll von funkelnden Augen. Ihm wurde schwindlig. Er wollte nach der anderen Richtung fliehen. Aber seine Füße versagten ihm den Dienst. Ohne es zu wollen, machte er zwei, drei Schritte in Richtung auf die grünlich leuchtenden Augen des Gors. Vergebens bot er seine ganze 30
Energie auf, um der magischen Anziehungskraft dieser Augen zu widerstehen. Vergebens auch versuchte er, seine Augen zu schließen. Eine furchtbare Gewalt hielt sie offen. Er machte noch ein paar Schritte, taumelte. Dann aber wandelte er langsam dahin wie im Schlaf. Er hatte keineswegs das Bewußtsein verloren. Die Schweine, dachte er, können mich also auch hinter sich herziehen und zwar ganz ohne Magnet. Meine Gliedmaßen gehorchen nicht mehr den Befehlen meines Hirns. Es wimmelte jetzt förmlich um ihn von Gors, die ihm das Geleit gaben. Von Zeit zu Zeit stand einer still und hüpfte dreimal auf der Stelle. Klatsch, klatsch, klatsch. Das macht er sicher aus lauter Freude. Hurra, wir haben einen Menschen gefangen! Jetzt werden wir ihn – Tja, was wollen sie eigentlich mit mir anfangen? Willenlos folgte er den Gors. Sie schienen genau zu wissen, wohin sie ihn führen wollten. Sie durchquerten einen noch unvollendeten Tunnel, in dem eine Gruppe von Gors eine feuchte Masse mit ihren Pfoten feststampfte. Andere bissen Höhlungen in die schwammigen Wände. Jal begriff, daß er es mit intelligenten Wesen zu tun hatte. Alle diese Gänge und Säle waren von Gors und nicht von Menschen geschaffen, wie er zuerst geglaubt hatte. Überall, wo er vorbeikam, hörten die Arbeiter einen Augenblick auf zu bauen und fingen erst wieder an, nachdem sie ihrer Freude durch klatschendes Hüpfen Ausdruck gegeben hatten. Schließlich kam Benal in einen Saal, der einem mächtigen Dom glich. In der Mitte loderte ein Feuer, das den Riesenraum bis zum Deckengewölbe erhellte. Ein Höllenlärm von Klatschen und Gor-Gor-Geschrei grüßte den Gefangenen bei seinem Eintritt. Er wurde in eine Nische geführt, die nach dem Saal zu offen war, und einem Dutzend Gors zur Bewachung anvertraut. 31
Vergebens versuchte er, gegen die hypnotisierende Gewalt der auf ihn gerichteten Augen anzukämpfen. Wie gebannt hockte er in seinem schwammigen Gefängnis und beobachtete, was in der Höhle vorging. Fünf oder sechs Gors hüpften dicht an das Feuer heran, streckten jeder eine Pfote in die Flammen und holten mit raschem Griff eine braun geröstete Masse heraus. Sie zerrten die Beute abseits und begannen sie gierig zu verschlingen. Jetzt erkannte er auch, was sie aus dem Feuer gezogen hatten: Das war ein Rass. Die Gors mußten schon sehr kräftig sein, sonst hätten sie selbst zu sechst ein so großes Tier nicht so leicht bewältigen können. Zwischen den Erwachsenen liefen kleine Gors herum, nicht größer als Champagnerpfropfen, und erbettelten sich ihren Anteil von dem Leckerbissen. Jal blickte in eine andere Richtung, und plötzlich überfiel ihn ein Zittern. Neben einem zweiten gut durchgebratenen Rass, den gierige Kiefern zerfetzten. schimmerte etwas Metallisches. Er erkannte Teile eines Raumanzuges. Ringsherum lagen Menschenknochen. Nun wußte Jal, was ihm blühen würde. Er wollte aufspringen, wurde aber sofort durch hundert auf ihn gerichtete Augen gebändigt. „Ihr seid ekelhafte Biester!“ Gor – Gor – Gor – Klatsch – Klatsch – tönte es zur Antwort zurück. „Ihr haltet mich hier fest, daß ich mich nicht rühren kann. Aber ich kann euch trotzdem sagen, was ich von euch denke“, heulte Jal. „Ich habe niemals etwas so Abstoßendes gesehen wie eure Affengesichter. Der grinsende Totenschädel des armen Kerls, den ihr zerfleischt habt, ist mir tausendmal lieber.“ Ein ungeheurer Lärm erstickte seine Stimme. Ein Dutzend Gors umringten ihn und brüllten im Chor mit weit offenen Mäulern, Jal vergaß jetzt alle Angst und schrie ihnen wütend ins Gesicht: 32
„Vielleicht versteht ihr nicht, was ich sage. Aber ihr seid häßliche Teufelsfratzen, Menschenfresser, gemeine.“ Es tat ihm wohl, seine Peiniger mit den übelsten Schimpfworten zu benennen. Und er meinte es wirklich. Er hob drohend die Faust, mußte sie aber gleich wieder ohnmächtig sinken lassen unter den haßfunkelnden Blicken der grauenhaften Ausgeburten der Hölle. Erschöpft hüllte er sich in Schweigen. Er fragte sich, wie wohl die Gors seinen toten Gefährten hatten überwältigen können und fand keine Erklärung. Zwangen sie etwa ihre menschlichen Opfer, selbst den Panzer abzulegen, der sie schützte? Er dachte über seine Lage nach, während die meisten Gors zu ihrem Festmahl zurückkehrten. Ein noch vager, aber sehr bedeutsamer Gedanke wollte ihn nicht loslassen. Eben hatte er sie mit Schimpfreden überschüttet. Sie hatten mit wütendem Geheul geantwortet, aber er hatte ihnen die Faust gezeigt, sich also für einen Augenblick frei bewegen können. Was war daraus, zu schließen? Die in ihm kochende Wut hatte einen Augenblick lang ihre Suggestionsfähigkeit außer Kraft gesetzt. „Wartet, ihr Biester. Jetzt sollt ihr was erleben!“ Er dachte angestrengt nach. Dann ließ er gegen seine Feinde eine förmliche Kanonade von Schimpfwörtern los. Er stellte seinen Lautsprecher auf höchste Stärke ein, so daß das Gewölbe widerhallte vom Donner seiner Worte und tobte wie ein Wahnsinniger. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Die Gors heulten wieder im Chor und fletschten wütend die spitzen Zähne. Als der Lärm seinen Höhepunkt erreicht hatte, sprang Jal über seine Wächter hinweg mitten hinein in eine Gruppe ihrer winzigen Ableger, die er mit seinen schweren Sohlen zertrampelte. Ein zweiter gewaltiger Sprung, den er auf der Erde nicht hätte ausführen können, ließ ihn mitten im Feuer landen. 33
Schnell stellte er die Gefriervorrichtung seines Raumanzuges ein, und nun verwandelte er im Umsehen die Glut in ein blendendes Feuerwerk. Die Funkengarben sprühten nach allen Richtungen, Mit Füßen und Fäusten um sich stoßend, entfachte er eine wahre Hölle spritzender Flammen, in der die Gors tanzten wie Dämonien. Nur nicht aufhören! Haß und Selbsterhaltungstrieb liehen ihm Riesenkräfte. Er ließ den Gors gar nicht die Zeit, zur Besinnung zu kommen. Da stürzten sie in wilder Flucht in die Gänge. Als Jal sich alleine sah, sprang er aus dem Feuer heraus und lief in großen Sätzen hinter seinen Peinigern her. Bei seinem Herannahen flüchteten sich die Gors in Seitengänge. Er überlegte nicht lange, welche Richtung er einschlagen sollte. Nur so weit wie möglich fort von diesem verfluchten Ort.
34
Lange Zeit irrte er in einem Labyrinth von Tunneln umher. Schließlich gelangte er auf eine Steinbrücke, die an einer Steilwand hoch über einem Abgrund entlangführte. Er neigte sich über den Rand und versuchte, die Tiefe mit seinen Blicken zu durchdringen. Er stellte fest, daß der Boden der Schlucht zweihundert Meter entfernt war und aus der gleichen schwammigen Masse bestand. Für einen Mann, der schon einen Sturz von mehreren hundert Kilometern ohne Schaden überstanden hatte, schien ein Sprung dort hinunter kein übergroßes Wagnis zu sein, denn die Gors waren ihm noch auf den Fersen! Er ließ sich also fallen, durchstieß den Boden der Schlucht und sank zwanzig Meter tief in den Schwamm ein. Dort fühlte er sich geborgen, fast wie zu Hause in seinem Bett. Erst einmal leistete er sich eine Reinigungsdusche, um den Angstschweiß von seiner Haut abzuspülen. Dann schluckte er zwei Vitaminpastillen und schlürfte aus der Tube einen ordentlichen Zug Drinik.
35
Die eiförmige Blase, die er sich zur Behausung erkoren hatte, war halbvoll von der verbrauchten, schmutzigen Flüssigkeit. Das hatte zwar keine Bedeutung, da er noch immer im Raumanzug steckte. Aber es war ihm doch unangenehm, Werde mal das Badewasser ablassen, dachte er und schlug mit der Faust ein Loch in den Boden der Blase. Das schmutzige Wasser floß ab wie aus einer Badewanne. „Sehr praktisch!“ lachte er, dann streckte er bequem die müden Glieder, schaltete den Scheinwerfer aus und schloß die Augen. Von Ferne hörte er dumpfes Gor-Geschrei. Es lief ihm kalt über den Rücken, aber er murmelte: „Sucht nur, sucht nur, meine Lämmchen!“, legte sich auf die Seite und versuchte zu schlafen. Aber da war es wieder: Plock, plock, wie ein Trappeln von hundert Füßen. Also doch! Die Gors hatten seine Spur gefunden. Er schaltete den Scheinwerfer ein, aber das war das Verkehrteste, was er tun konnte. Das Geheul verstärkte sich. Das Licht schien durch die dünnen Wände der Blase und verriet seinen Verfolgern, wo er lag. Die Gors hatten sicher von der überhängenden Straße aus am Grunde der Schlucht einen hellen Schimmer gesehen und gingen wieder zum Angriff über. Kurz entschlossen durchschnitt Benal den Boden der Blase, die ihm Zuflucht gewährt hatte, und fiel tiefer hinunter. Hier unten fand Jal die Blasen dichter gesät als oben. Jede Zelle war von der benachbarten durch eine dünne, durchsichtige Haut getrennt, so daß das Ganze wie Seifenschaum aussah. Jal wiederholte seinen Trick noch mehrmals und brach in immer tiefere Schichten durch. Dabei war er seinen Verfolgern gegenüber im Vorteil wegen seines größeren Gewichts. Plötzlich aber stockte er. Was war das? Von unten drang ein seltsamer Schimmer herauf. Er hörte auch Gor-Schreie, die 36
ebenfalls von dort unten zu kommen schienen. Er entschloß sich, ein kleines Loch in die Trennungswand zu stechen, um einen Blick in die untere Blase werfen zu können. Sie war leer. Vorsichtig erweiterte er das Loch und stieg hinunter. Als er aber nun wieder ein Guckloch in den Boden bohrte, sah er zu seinem Schrecken, daß er über einem Saal stand. Er glich genau dem anderen, aus dem er unter so großen Schwierigkeiten entkommen war. Um ein mächtiges Feuer hockten auch hier Gors, aber sie waren dicker als seine Verfolger und nicht grün, sondern schneeweiß. Nur eine dünne Haut trennte Jal Benal von der neuen Gefahr. Langsam richtete er sich auf. Er wollte versuchen, wieder in die oberen Blasen hinaufzuklettern, aber aus Versehen trat er mit seinem schweren Metallstiefel in den Sehschlitz, und sofort brach das ganze Bein durch die Decke des Saales. Jal suchte vergebens Halt. Der Riß wurde immer größer. Unter ihm heulten die weißen Gors, während er wie ein Hampelmann über dem Feuer hing. Er blickte in hundert gierig aufgesperrte Mäuler. In seiner Verzweiflung beschloß er, alles auf eine Karte zu setzen. Er ließ sich fallen und landete mitten in dem Feuer. Wieder versuchte er es mit der Methode, die sich schon einmal bewährt hatte, und schleuderte die Glut nach allen vier Ecken des Saales. Die weißen Gors flüchteten zu den Ausgängen wie vorher ihre grünen Brüder. Jal sprang aus dem Feuer und lief auf einen Tunnel zu. Doch entsetzt blieb er stehen. Die weißen Gors hielten alle Gänge besetzt und starrten ihn aus ihren rotfunkelnden Augen an. Dazwischen hüpften ein paar grüne in einem seltsam abgemessenen Rhythmus, als ob sie den weißen ihr Verhalten vorschreiben wollten. Sie kennen eine Art Morsealphabet, die verdammten Biester. Die weißen scheinen zu begreifen, daß sie nicht die Nerven verlieren sollen. 37
Er wollte zum Feuer zurückweichen. Vergebens! Er konnte sich nicht rühren. Er fluchte wieder in den wildesten Ausdrücken. Aber diesmal hatte es keine Wirkung. Die Gors fletschten zwar die Zähne, aber wandten nicht die Blicke von ihm ab. Tief in den schwarzen Augenhöhlen funkelte es von unersättlichem Haß. „Sie wollen, sie wollen …“ murmelte Jal. Langsam hob sich sein linker Arm und griff nach seiner rechten Achsel. Verzweifelt versuchte er sich zu sträuben, aber er fühlte sich unwiderstehlich gezwungen, mit dem Magneten den dort angebrachten Schlüssel abzuheben und ihn langsam, langsam zum Hals des Panzers zu führen. Unter dem feindseligen Schweigen begann er, den Helm abzuschrauben. Er hörte nur das triumphierende, klatschende Hüpfen. Schon lockerte sich ein Bolzen, da erfüllte ein furchtbares Donnern den ganzen Saal. Ein ungeheurer Fangarm riß eine Wand in Fetzen und peitschte hinein in den Haufen der heulenden Gors. Jal hörte das Sausen, sprang in eine Nische und drückte sich so weit wie möglich hinein. Wie gelähmt starrte er auf das, was sich jetzt abspielte. Der Arm war eher eine Röhre, ein Rüssel, der die Gors einfing wie ein Staubsauger die Staubkörner. Krachend brachen noch zwei weitere Rüssel durch die Wand, und eine mächtige hornbewehrte Klaue tappte mitten in die Glut, die ihr anscheinend nichts anhaben konnte. Als Jal sich von dem Schrecken erholt hatte, stürzte er sich sofort in den nächsten Gang, ohne sich um die Gors zu kümmern, die er niedertrampelte. Er wußte, wem er seine Rettung zu danken hatte. Oft genug hatte er als Kind in dem Museumsgarten eine Nachbildung bestaunt. Das war das größte und gefährlichste Lebewesen des Mondes: Das furchtbare Riesenuntier. Wie ein Ameisenbär einen Ameisenhaufen zerstört, so war 38
über die Stadt der Gors die Vernichtung hereingebrochen. Jal lief noch mehrere Kilometer durch die Gänge, ehe er eine Wand durchschnitt, um wieder tief in die schwammige Masse einzudringen. Er suchte sich eine besonders geräumige Höhlung aus, duschte wieder und füllte die umliegenden Blasen mit Schmutzwasser, Vielleicht bot das etwas Schutz gegen die Gors. Zur Vorsicht schaltete er den Scheinwerfer ab, und von Müdigkeit überwältigt sank er in tiefen Schlaf. * Plötzlich war es ihm, als müsse er ersticken. Er öffnete die Augen. Es war zum Umkommen heiß. Schnell stellte er die Kühlvorrichtung an. Er blickte um sich. Woher kam die merkwürdige Helligkeit? Der Scheinwerfer? Aber der war schon abgeschaltet. Er erkannte den Ort nicht wieder, wo er eingeschlafen war. Die Blase erschien ihm jetzt viel größer, und es sah so aus, als wüchse sie noch immer. Jal wollte aufstehen, aber in diesem Augenblick gab es einen lauten Knall, und die Blase war geplatzt. Er rollte einen steilen Bergabhang hinunter. Benommen richtete er sich auf und sprang in großen Sätzen zu Tal. Jedesmal, wenn seine Füße den Boden berührten, platzte eine Sauerstoffblase. Doch er kam ohne Schaden unten auf festem Boden an. Die Helligkeit blendete ihn so, daß er nichts um sich herum erkennen konnte. Er mußte die Sehscheibe des Helmes verdunkeln. Dann hob er den Kopf und blickte hinauf zu dem Berg, dem er glücklich entronnen war. Jetzt begriff er, was da vorging. Die Hitze und der die Blasen umgebende luftleere Raum bewirkten, daß der eingeschlossene Sauerstoff sich ausdehnte, die 39
dünnen, elastischen Häute sprengte und ins Freie entwich. Überall sah man die Blasen platzen. Der ganze Berg schien zu kochen. Aber dort, wo Jal stand, hörte man nichts von den Explosionen, da sich im luftleeren Raum der Schall nicht fortpflanzt. Woher stammte diese schwammige Masse? Jal bedauerte, kein Geologe zu sein. In der Tiefe enthielten die uralten Meere ohne Zweifel ungeheure Mengen von flüssigem gelöstem Silizium. Dieser leichte Schaum mochte durch Einwirkung kosmischer Strahlen fester und somit schwammartig geworden sein. Tag für Tag schob er sich wohl ein wenig mehr der Oberfläche zu. So mußte der Augenblick kommen, da die Welt der Gors dem Untergang preisgegeben war. Das wäre wohl kein Verlust. Aber diese Bodenbewegung dauerte nun schon Tausende von Jahren und würde wahrscheinlich noch weitere Tausende in Anspruch nehmen. In großen Sätzen sprang Jal Benal den felsigen Abhang des Berges hinunter. Seine Füße wirbelten um ihn einen glitzernden Staub auf. Das Tal ähnelte einem ausgetrockneten Flußbett, das in der Ferne durch einen von den Rass aufgeworfenen Damm abgeschlossen war. Bald hörte Jal auch das laute „Rass, Rass“, das unverkennbare Geräusch, das diese Tiere verursachten, wenn sie mit ihren Hinterpfoten das Geröll fortkratzten. Aha! Er befand sich also in einem Sauerstoffmoor! Mehrere Beobachtungen schienen diese Vermutung zu bestätigen. Hier und da war der Boden mit mageren Flechten und Moosen bewachsen. Sogar ein rosa und blau gefleckter Slop suchte das Weite, als Jal ihm zu nahe kam. In einer Senke wimmelte es von Wuß. Er war froh, daß er seinen Raumpanzer anhatte. Endlich sah er auch die Rass und versteckte sich hinter einem Felsen, um sie zu beobachten. Die Rass waren die Biber des Mondes. Sie verstanden es, auf alle erdenkliche Weise Sauerstoff aufzuspeichern und dadurch 40
in den öden Tälern das Leben möglich zu machen. Sie bauten Steinwälle und überzogen sie mit Firnis, den ihre Speicheldrüsen absonderten und den sie mit der Zunge auftrugen. Was man auf dem Mond großsprecherisch „Sauerstoff“ nannte, war allerdings nur ein Gasgemisch, das kaum zehn Prozent dieses kostbaren Lebensspenders enthielt. Aber auf dem Mond gab es sogar Lebewesen, die mehrere Stunden lang ohne Sauerstoffzufuhr auskommen konnten, sofern sie nur den aufgespeicherten Vorrat von Zeit zu Zeit ergänzen konnten. Jal sah einen Rass in den Grund des Tales hinablaufen. Geräuschvoll sog er mit seinem Rüssel das Gas ein, so daß er anschwoll wie ein Weinschlauch. Dann kletterte er wieder höher hinauf und blies den Sauerstoff in eine Höhle. Das Manöver wiederholte er mehrmals, bevor er endgültig in seinem Loch verschwand. Er war kaum so groß wie ein Kalb. Plötzlich löste sich eine schattenhafte Gestalt aus einer dunklen Ecke und folgte dem Rass in das Innere des Baues. Jal war zu weit entfernt, um genau erkennen zu können, worum es sich handelte. Er wartete einige Minuten. Jetzt kam der Raas wieder heraus, und hinter ihm her hüpfte ein Tier, das Jal nur zu bekannt war; ein Gor! Der arme Rass wandte sich von Zeit zu Zeit um. Anscheinend wollte er in die Höhle zurück. Aber die auf ihn gehefteten tückischen Blicke zwangen ihn sofort, gefügig den Hang hinaufzuklettern. Verdammtes Biest, dachte Jal. Ihm tat der Rass leid. Schnell hob er einen faustdicken Stein auf und näherte sich vorsichtig den beiden. Dann zielte er sorgfältig und schleuderte das Wurfgeschoß mit aller Kraft dem Gor mitten in die Fratze. Das scheußliche Tier taumelte, fiel um und regte sich nicht mehr, während der Rass flüchtete, so schnell er konnte. Aber schon hörte Jal wieder das dumpfe, verhaßte Gor, Gor. Er wandte sich um. Kaum fünfhundert Meter entfernt hüpften 41
ein paar Dutzend katzengroße Gestalten den Abhang hinunter. Einige waren schon im Tal angelangt. Jal kletterte hastig das gegenüberliegende Ufer hinauf, hinaus aus dem Sauerstofftümpel und rannte im Dauerlauf querfeldein. Von Zeit zu Zeit blickte er sich um. Ein Haufen Gors bemühte sich, ihn einzuholen. Aber der Abstand zwischen ihnen und ihrer Beute vergrößerte sich zusehends, und so gaben sie es schließlich auf. Jal sah zu seiner Erleichterung, daß sie umkehrten. Zuversichtlich setzte er seinen Geschwindmarsch fort. In der weißen Wüste wirbelte er Wolken leuchtenden Staubes auf. * „Hier Kalypso – hier Kalypso – Neuankömmling Nr. C. S. 177 hat Mont Ciroe verlassen – augenblicklicher Standort 109-27 – Aschenebene – marschiert in Richtung 113-32 – Plutogebirgskette.“ „Danke Kalypso! Gebe die Meldung sofort an die Zentrale weiter. – Zentrale! Zentrale! – Es spricht 100 – es spricht 100 – Kalypso meldet Position des C. S. 177: zur Zeit 109-27, Marschrichtung; 113-32.“ Der junge Mann in der Zentrale legte seine Stirn in ernste Falten und antwortete kurz: „Danke!“ In der Mitte des Raumes stand ein Mondglobus von zwei Meter Durchmesser. Der junge Beamte wandte sein Gesicht der Kugel zu und sprach scharf akzentuierend die Zahlen: „Einhundertneun – siebenundzwanzig!“ Sofort drehte sich der Globus, und auf der nördlichen Hemisphäre erschien ein leuchtender Punkt. Der junge Mann wiegte bedenklich den Kopf: „Ja, in der Aschenebene. Da ist er noch nicht raus aus dem Dreck! Ich frage mich bloß, warum ihnen so 42
viel an dem Kerl liegt.“ Ein Glockenzeichen ließ ihn herumfahren. „Ja?“ „Hier Hoher Rat. Nun? Habt ihr ihn geortet?“ „Jawohl, Exzellenz! In der Aschenebene.“ „Gut! Alle weiteren Meldungen direkt nach hier.“ Der junge Mann hob das Mikrofon vor den Mund: „Station 100, bitte kommen! Hier Zentrale! Kommen!“ „Hier spricht 100, Was gibt’s?“ „Bitte, alle weiteren Meldungen über C. S. 177 direkt an den Rat, Ende.“ * Gorvin, der Herrscher des Mondstaates, lag bequem ausgestreckt in seiner Hängematte. Im Vorzimmer warteten drei Männer. „Kommt herein, Bürger.“ Die Glaswand verschwand völlig, die Besucher traten näher und legten sich in die Hängematten, die ihnen der Herrscher mit einer Handbewegung anwies. Der Greis räusperte sich. „Bürger“, sagte er, „ich habe euch in einer sehr ernsten Angelegenheit hierher beschieden. In den letzten acht Tagen sind zwei Verurteilte auf dem Mond eingetroffen. Der eine ist gleich gestorben. Er interessiert uns also nicht. Der andere hat sich durch den Mont Circe hindurchgekämpft. Drei Tage brauchte er dazu. Das wird ihm nicht leichtgefallen sein.“ Die Besucher sperrten Mund und Nase auf. Einer von ihnen ergriff das Wort: „Hat er es ganz allein, ohne Hilfe, geschafft?“ „Allerdings! Und das beweist, daß er – ähnlich wie ich – eine besondere Veranlagung hat, Glückszufälle auf sich zu lenken. – Dieser Mensch aber ist gar kein wirklicher Verbrecher, sondern 43
ein von der Erde ausgeschickter Spion. Hört dazu den Bericht des Bürgers Tem. Bitte, Tem.“ Der Mondagent, den der Herrscher schon eingehend verhört hatte, ehe er die Mitglieder des Rates einließ, begann seinen Bericht. „Gleich nach der Verurteilung des Jal Benal, eines hervorragenden Atomwissenschaftlers, der angeklagt war, aus Nachlässigkeit in der Stadt Lepolvi ein folgenschweres Explosionsunglück verschuldet zu haben, erhielt ich den Auftrag, über den Neuankömmling genaueste Erkundigungen einzuholen. Mir gelang eine unbeachtete Landung auf der Erde, und ich habe folgendes feststellen können: Kein Todesopfer ist zu beklagen. Die von der Katastrophe betroffenen Wohnviertel der Stadt Lepolvi waren schon lange dazu bestimmt, aus hygienischen Gründen abgerissen zu werden. Die wertvollen Instrumente und die wichtigsten Akten aus Benals Laboratorium sind schon vor der Explosion in Sicherheit gebracht worden.“ „Ihr seht, Bürger“, fügte der Herrscher hinzu, „es spricht alles dafür, daß Jal Benal ein Spion ist.“ Die Bürger blickten den Herrscher sprachlos und betroffen an, aber der Greis ließ sich nicht stören. „Ich mache deshalb mit Benal eine Ausnahme. Ich habe euch vier ausgewählt, weil ich eure Fähigkeiten kenne und schätze. An euch ist es nun, alles daranzusetzen, Jal am Leben zu erhalten und ihn in dem Glauben zu bestärken, daß er mit uns auf ganz natürliche Weise in Verbindung getreten ist. Ihr werdet Jal Benal abfangen und retten.“ „Warum laßt Ihr ihn nicht sterben, Ahnherr, wenn er ein Spion ist? Er verdient den Tod.“ Der Greis lächelte hinterhältig. „Wir werden den Spieß umdrehen und Benal dazu benutzen, die Erde zu täuschen.“ *
44
Jal konnte nur mühsam seinen Weg fortsetzen. Das war kein Sand mehr unter seinen Füßen, sondern eine lose Masse, eine graue Asche, in die er manchmal bis zu den Schultern einsank. Streckenweise ging er wieder zurück auf seiner eigenen Spur und suchte im Zickzack marschierend in der Wüste Stellen, wo die Asche ihm nur bis zu den Knien reichte und er etwas leichter vorankam. Todmüde mußte er sich alle fünfhundert Schritte eine kurze Rast gönnen. So näherte er sich nur auf großen Umwegen der hohen Gebirgskette, die am Horizont aufragte. Immer wieder sackte er tief ein in die mit Asche gefüllten Löcher. Aber allmählich schienen die Berge doch näher zu kommen. Immer häufiger stieß er im Aschenmeer auf felsige Klippen. Er beschloß, am Fuße des ersten Hügels eine Ruhepause einzulegen. Der Schweiß brach ihm aus den Poren und durchtränkte die Kleider, die er unter dem Raumpanzer trug. Er kam sich vor, als ob er vom Kopf bis zu den Füßen in nasse Tücher eingewickelt sei. Als er um einen Felsen herumgehen wollte, stolperte er und fiel auf den Rücken. Er blieb ausgestreckt liegen mit hämmernden Schläfen und keuchendem Atem. Aber was war das? Einer von den Sternen am Himmel schien seinen Platz zu wechseln. Zusehends wurde er größer und größer. Wahrhaftig, eine Rakete! Der Apparat flog in geringer Höhe gerade über ihn hinweg. Mühsam richtete sich Benal auf und suchte sich durch Winken bemerkbar zu machen. In diesem Augenblick ließ ein grollender, aus der Tiefe kommender Donner seinen Raumpanzer in allen Gelenken zittern. Der Boden schlug Wellen wie ein Meer. Jal konnte sich nicht mehr auf den Füßen halten, und ein Aschenregen ergoß sich über ihn. Ein hoher Felsblock bebte in seinen Grundfesten und schlug 45
um. Die Rakete flog gerade über den Kamm des Gebirges, als eine mächtige Feuersäule in den Raum emporschoß und sie hin und her schüttelte. Aus einer anderen Kuppe drang eine Fontäne flammender Gase und neben ihr noch eine! Die ganze Kette von Vulkanen trat jetzt in Aktion. Rings um Jal herum prasselten mächtige Steinblöcke zu Boden. Die Sonne verfinsterte sich. Ehe es tiefschwarze Nacht wurde, konnte Jal gerade noch sehen, wie ein Berghang sich öffnete und einen Strom rotglühender Lava ausspie. Angstvoll gebückt unter dem Steinhagel, suchte er den Weg zurückzufinden, den er gekommen war. Nur weg von diesem Ort des Grauens! Jal sah nicht, wie der Lavastrom hinter ihm herfloß. Jetzt holte er den Fliehenden ein und trug ihn mit sich fort wie einen Strohhalm.
* Mox gebärdete sich wie wild vor einer kompliziert aussehenden Maschine mit unzähligen Metalltasten. Schließlich drückte er eine Taste nieder. „Was? Ein Vulkanausbruch? Die Rakete verloren?“ Einen Blick warf er auf seinen Globus. Vor der Plutonkette glitzerte ein leuchtender Punkt. „Schickt die Raketen X 4 und X 5 nach Osten. Wir müssen ihn lebendig haben, verstanden? Setzt mich in Funkverbindung mit den Raketen. Gut. Ich warte.“ Eine Stimme näselte in seinen Hörern. „Fliegen über das Höllental. Mont Circe in Sicht. – Aschenebene in Sicht. – Völlige Dunkelheit, unmöglich mit bloßem Auge die Plutonkette zu erkennen. Gehen hinunter auf 500 m, 200 m, 100 m. Landen im Augenblick unmöglich. Alles von Lava überschwemmt.“ 46
Mox hieb mit der Faust auf den Apparat. „Zum Donnerwetter! Zieht die Raumpanzer an und springt ab, möglichst nahe dem Punkt …“ – er warf einen Blick auf den Globus „– Punkt 110/19. – Schickt X 6 und X 7 zur Verstärkung nach Süden, sollen direkte Funkverbindung mit mir aufnehmen.“ Wieder näselte es in den Hörern. „Was? 110/19 total überschwemmt? Ist die Lava noch flüssig? Also gut, taucht hinein und nehmt die Suche auf!“ Mox drückte mit der Fußspitze auf einen unter dem Tisch angebrachten Knopf. „Step, kommen Sie sofort her zu meiner Vertretung!“ Mox stand auf. Ein junger Mensch trat ein, und ohne ein Wort zu sagen, setzte er sich auf den freigewordenen Stuhl vor dem Apparat. „Ich nehme X 8. Muß selbst nach dem Rechten sehen!“ sagte Mox. Er verließ das Zimmer. Draußen stand der durchsichtige Flugkörper. Mox kletterte hinein. Kaum hatte er seinen Sitz eingenommen, als das seltsame Ding sich schwerelos erhob. Automatisch öffnete sich die Decke des Gebäudes, und der Kunststoffzylinder flitzte hinaus in den Raum. Nach zwei Minuten landete er auf einem flachen Dach, das sich ebenfalls sofort öffnete, ihn einließ und sich hinter ihm wieder schloß. Mox rief dem herbeieilenden Mechaniker zu: „X 8 fertigmachen! Aber dalli!“ Mit langen Schritten lief er voraus zu einem in die Wand eingelassenen Schaltbrett. Der Beamte drückte auf einen Hebel mit der Aufschrift „X 8“. Fast im selben Augenblick öffnete sich ein Fahrstuhl, und vor Mox stand eine drei Meter hohe, eiförmige Rakete aus blitzendem Metall. Er stieg ein, und schon schoß sie hinaus in den Raum. Start, öffnen und Schließen der Decke waren das Werk von Sekunden. 47
Mit rasendem Tempo gewann die Rakete an Höhe und nahm Kurs auf Nord-West. So kompliziert das Instrumentenbrett aussah, so einfach war die Bedienung. Mox hing flach auf dem Bauch liegend in magnetischen Gurten. Er steuerte mit Hilfe einer einfachen Metallstange, die an der Kabine befestigt war und sich in einem Kugellager drehte. Vor ihm schimmerten in grünlichem Licht eine Unzahl von Zifferblättern und Skalen jeder Größe, auf die er von Zeit zu Zeit einen schnellen Blick warf. Plötzlich wurde der Apparat durch von unten kommende Stöße heftig hin und her geschüttelt. Mox zog den Steuerknüppel, und sofort schoß die Rakete steil in die Höhe. In der Tiefe glühten die roten Feuer der Plutonvulkane. Mox beobachtete gespannt, wie sich auf dem runden Radarschirm zwei leuchtende Punkte immer näher kamen. In dem Augenblick, wo sie sich deckten, stieß er den Steuerknüppel nach vorn. Die Rakete tauchte hinab, jagte der Oberfläche des Mondes entgegen und landete unbegreiflicherweise völlig reibungslos. Sobald sie Stillstand, ließ Mox den Steuerhebel los und zog sich schnell einen Schutzanzug über, einen lose ansitzenden Overall, der ihn vom Kopf bis zu den Füßen einhüllte. Der Stoff bestand aus einem vierfachen Gewebe haarfeiner Hohlfäden. In Ihnen zirkulierte dauernd eine Flüssigkeit, die entsprechend der Außentemperatur Wärme oder Kälte automatisch regulierte. Vor dem Gesicht war der Stoff dichter, aber völlig durchsichtig. Die notwendige Energie lieferte ein auf der Brust hängendes Element von der Größe einer Taschenlampenbatterie. Da der Anzug dem Körper in vollkommenster Weise angepaßt war, konnte sich der Träger darin frei bewegen. Mox ergriff ein Gerät, das die Form und Größe einer Weinflasche hatte, und stieg aus. Sein Anzug blähte sich auf, da der Raum um ihn gänzlich 48
luftleer war. Schon bei den ersten Schritten sank er bis zu den Knien in die graue Asche ein. Er hielt die seltsame Flasche so, daß ihr Hals auf den Boden zeigte. Am anderen Ende zeigte ein Radarschirm zwei leuchtende Punkte. Wich Mox nach rechts von seiner Marschrichtung ab, so entfernten sich die Punkte voneinander, bei jeder Abweichung nach links rückten sie wieder näher zusammen. Er kam nur langsam voran. Bald mußte er über Felsen klettern, bald versank er in einem tiefen, mit Asche gefüllten Loch. Er mußte den Radarschirm dicht vor die Augen halten, um darauf überhaupt etwas erkennen zu können. Die beiden Punkte rückten immer noch aufeinander zu. Die Asche verwandelte sich jetzt in eine klebrige Masse, aus der er bei jedem Schritt mühsam seine Beine herausziehen mußte. Das war schon die zähflüssige Lava, in der er dahinpatschte. Sie ging ihm bis an die Hüften, und er ruderte weit und ausholend mit den Armen, um wenigstens etwas schneller voranzukommen. Hinter ihm klaffte eine rote Furche in dem glühenden Schlamm. Die beiden Punkte auf dem Schirm berührten sich fast. Da sah er vor sich Scheinwerfer. Ein Dutzend Männer waren damit beschäftigt, die Lava zu durchwühlen. Er wartete nicht, bis er sie erreichte, sondern rief ihnen schon von weitem zu: „Habt ihr ihn?“ Einer der Männer antwortete. Man sah, wie sich seine Lippen hinter der Gesichtsscheibe bewegten. Aber Mox hörte nichts. Da erst merkte er, daß er in der Eile seinen Kopfhörer vergessen hatte. Er deutete fragend auf den Boden. Der andere nickte, und Mox tauchte nun selbst seine Arme in die Lava. Sie floß hier über einen felsigen Untergrund. Mox betrachtete nachdenklich seinen Radarschirm. Es war 49
nur noch ein leuchtender Punkt zu sehen. „Er ist also hier, in dem Lavastrom unter unseren Füßen. Und er lebt, denn seine Lebenswellen kommen immer noch auf unseren Empfängern an! Ich kann das nicht verstehen!“ * Jal war hineingerollt in einen höllischen Strom schmelzenden Gesteins. Er fühlte, wie er fortgerissen wurde. Er hatte gerade noch die Zeit gehabt, seine Klimaanlage auf Eis zu stellen. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme herrschte im Innern des Raumpanzers eine erstickende Hitze. Vor ihm war sicherlich nie ein Mensch in solch eine verzweifelte Lage versetzt worden, zumindest aber hatte wohl niemand das Abenteuer überlebt. Jal kam sich vor, als stecke er mitten im Feuerloch eines zur Weißglut erhitzten Ofens. Um ihn herum vollführten helleuchtende Steine, sich lautlos aneinander reibend und zerkrümelnd, einen wahnsinnigen Tanz, während er selbst im Strudel sich drehte wie die Planke eines Wracks im Meer. Plötzlich schien der Strom schneller dahinzuschießen, und Jals Raumpanzer zitterte unter einem heftigen Stoß. Jal fühlte sich von der fließenden Lava gegen eine harte Wand gedrückt. Als er mit den Armen um sich tastete, griff er an eine Felsspalte. Er richtete sich auf, so hoch er konnte, stieß aber mit seinem Helm an eine Steindecke. Er war also gegen eine überhängende Felswand getrieben worden. Nun, nur nicht die Ruhe verlieren! Sein Mund verzog sich zu einem matten Lächeln, als er laut vor sich hin sprach: „Kein Grund, sich aufzuregen. Mein Panzer ist ein Kleinstraumer, ein Wunder der Technik. Mir kann nichts passieren. Bin gespannt, wie das weitergeht!“ Die Lava floß immer noch mit großer Gewalt an ihm vorbei. 50
So sehr er sich auch anstrengte, es war ihm nicht möglich, gegen die Strömung anzukämpfen. Er saß gefangen In einer Grotte. Es blieb ihm nichts übrig, als abzuwarten. So hockte er sich nieder auf den harten Boden. Die Stunden rannen dahin und dehnten sich ihm zu Ewigkeiten. Endlich schien die brennende Masse langsamer zu fließen und schließlich stillzustehen. Jal wagte sich vorsichtig hinein in die Hölle, indem er sich mit hochgehobenem Handschuh an der Decke seines Gefängnisses entlangtastete. Sie schien immer höher zu werden. Jal nahm an, daß er auf einem Felsenband lief. Es erwies sich als unmöglich, nach oben aufzusteigen. Die immer zäher werdende Lava hielt den mit dem schweren Panzer Bekleideten unten fest. So konnte er nur auf dem Grunde des Stromes weiterschreiten. Vornübergebeugt setzte er die Sohlen fest auf, während er mit den Armen im Zeitlupentempo Schwimmbewegungen ausführte. Da kam ihm ein gräßlicher Gedanke. Wenn die Lava erstarrte, was wurde dann aus ihm? Gewiß, die Schnelligkeit des Stromes, der ihn fortgerissen hatte, war ein Zeichen dafür, daß die basische Lava lange flüssig bleiben würde. Aber wenn in dieser Gegend des Mondes die Nacht hereinbrach, so konnte bei einer Temperatur von weit unter 100 Grad die Oberfläche gefrieren. Und dann war Benal dazu verurteilt, in einer Feuertasche unter einer Felsdecke einem langsamen Tode zum Opfer zu fallen. Wahrlich, ein herrliches Fundstück für künftige, nach Versteinerungen suchende Generationen. Unter dem Einfluß der Müdigkeit wurden seine Bewegungen immer langsamer. Er bildete sich ein, daß die Lava sich in eine teigartige Masse verwandelte und kämpfte mit der Kraft der Verzweiflung darum, schneller voranzukommen und doch noch einen Ausweg zu finden. 51
Hinter ihm bildeten sich in seinen Fußstapfen Strudel und Blasen, die mit Gas gefüllt waren, zweifellos Schwefelwasserstoff, und an seinen Beinen emporstiegen. Bald hörte er auch über seinem Kopf die Blasen platzen und schloß daraus, daß die Oberfläche nicht weit sein könne. Das verdoppelte seinen Eifer. Es gelang ihm, einen im Strombett liegenden Felsen zu erklettern, und endlich – endlich tauchte sein Helm auf ins Freie. Doch schien an dieser Stelle die Lava besonders schwerflüssig zu sein und hielt ihn von allen Seiten fest umschlossen. Es kostete ihn eine unendliche Anstrengung, sich aus dem klebrigen Teig herauszuwinden. Mit kraftvollen Schlägen durchbrach er schon erstarrte Teile der Kruste, und so gelang es ihm schließlich in einem letzten verzweifelten Durchbruch, sich aus der toddrohenden Umklammerung zu befreien. Eine erfrischende Kühle drang durch den Panzer, die jedoch sofort in schneidenden Frost umschlug. Jal stellte schnell die Kältezufuhr ab, die ihm eben noch so gute Dienste erwiesen hatte. Dann streckte er sich in mehreren Metern Entfernung von dem Teufelsstrom der Länge nach aus, um erst wieder zu sich zu kommen. Als sich sein keuchender Atem etwas beruhigt hatte, sog Jal in durstigen Zügen an der Drinilröhre und schluckte zwei Pillen. Dann setzte er sich aufrecht. hin und schaltete den Scheinwerfer ein, um die Umgebung abzuleuchten, denn um ihn war stockdunkle Nacht. Eine bittere Enttäuschung! Wieder hielt ihn eine weiträumige Höhle gefangen. . Das Schicksal schien ihn immer wieder in die Unterwelt des Mondes zu verbannen, während er doch nichts sehnlicher wünschte, als endlich an die Oberfläche zu gelangen. Er betrachtete die Lava, der er glücklich entronnen war. Sie schien den Eingang der Höhle wie mit einem Pfropfen zu ver52
schließen. Und noch etwas fiel ihm auf. Die Blasen stiegen nicht nur aus dem Lavastrom empor, sondern auch aus dem Ufergelände. Jal begriff, daß er in eine Wassertasche vorgedrungen war und nicht in einen sauerstoffgefüllten oder gar leeren Raum. Wenn nun das Wasser zusammentraf mit der überhitzten Masse, die der Vulkan ausspie, so würde es zum Kochen kommen. Es war klar, daß die Lava eine mit Gasen gefüllte Höhle ohne Schwierigkeit gefüllt hätte, während das Wasser einen wirksamen Schutzwall bildete. Jal mußte alles versuchen, um hier herauszukommen. Die Wände der Höhle schienen zerklüftet genug zu sein, um den Aufstieg zu ermöglichen. Jal kletterte langsam hinauf, indem er die geringsten Unebenheiten ausnutzte. Stellenweise ging es verhältnismäßig leicht. Dann kamen wieder glatte Partien, wo er beinahe den Halt verlor und in Gefahr war abzustürzen. Es kam ihm so vor, als ob die ihn umgebende Flüssigkeit eine grünliche Farbe annahm und immer undurchsichtiger wurde. Er fragte sich bestürzt, ob er vielleicht in einer Petroleumtasche gelandet sei. Tastend setzte er seinen Aufstieg fort. Die Undurchsichtigkeit des Öls und die Tatsache, daß es die Felswand glitschig machte, brachten neue Gefahren. Endlich tauchte Jal auf ins Freie. Aber ein letztes Mal streckte das Schicksal die Knochenhand aus, um ihn zu vernichten. Eine furchtbare Explosion aus der Tiefe erschütterte die Oberfläche des Mondes. Zusammen mit großen Steinbrocken stürzte Jal zurück in das Öl. Er fühlte, wie er herumgewirbelt wurde. Dann erfaßte ihn ein aufwärts ziehender Sog, und mit unwiderstehlicher Gewalt wurde er hinausgeschleudert in den Raum. Wie eine Feder riß ihn der spritzende Strahl empor, und aus 53
einer Höhe von dreißig Metern stürzte er in die seinen Fall dämpfende Asche hinunter. Noch zwei- oder dreimal wurde der Boden durch das Beben erschüttert. Aber Jal spürte dabei keine Angst mehr. Er war durch schlimmere Prüfungen gegangen, die ihn gegen die Furcht gefeit hatten. Zu seinem Erstaunen jedoch sah er sich von lebenden Wesen umgeben, die ballonartig aufgeblasene Schutzanzüge trugen. Nur einen Augenblick war er beunruhigt, dann erkannte er hinter der durchsichtigen Masse der Helme menschliche Gesichtszüge. Er hob grüßend die Hand und wollte sich aufrichten. Doch vor Schmerz stöhnend sank er zurück. Sein linkes Bein trug ihn nicht mehr. Er merkte noch, wie man ihn in einen seltsamen eiförmigen Apparat trug. Dann verlor er das Bewußtsein. Mikrobenjäger Professor Kam trat aus seinem Büro, bog in einen langen Gang ein und machte halt vor der Tür eines kleinen Zimmers, die sich sofort automatisch öffnete. Dort lag sein Patient Jal Benal in einer durchsichtigen Hängematte. Es stand schlecht um den Neuankömmling, aber er wußte es noch nacht. „Nun, mein Freund, wie geht’s uns heute?“ „Ganz gut, Professor. Sie haben mir irgend eine Spritze gegeben. Ich fühle mein Bein überhaupt nicht mehr.“ Der Professor drückte seine Fingerspitzen auf das Knie des Kranken. „Tut’s weh?“ „Ganz und gar nicht!“ Die Fingerspitzen glitten ein wenig höher. „Und hier?“ „Auch nicht!“ 54
„Gut, gut! Also vor allem Ruhe, mein Lieber. Machen Sie sich keine Gedanken!“ „Das fällt mir schwer! Ihr verdammter magnetischer Stillegungsapparat! Von den Knien aufwärts kann ich mich überhaupt nicht mehr bewegen. Ich bin ein Mensch, der nicht leben kann, ohne etwas zu tun. Kranksein ist nichts für mich!“ „Sie müssen gehorchen, wenn Sie gesund werden wollen.“ „Hören Sie mal, Professor! Warum kann man hier so einen Bruch nicht behandeln, wie wir das auf der Erde machen? Einen einfachen Gipsverband, und man läuft damit wieder herum. – Ich will ja die Mediziner hier auf dem Mond nicht schlechtmachen. Das magnetische Dingsda, oder wie Sie das nennen, ist eine ganz witzige Erfindung – aber daß man erst nach acht Tagen aufstehen darf …“ „Lieber Freund, offene Brüche hier auf dem Mond sind manchmal mit ernsten Komplikationen verbünden. Wir haben unsere Gründe für unsere Vorsicht. Glauben Sie mir!“ Der Arzt zog eine Glasröhre aus der Tasche seines enganliegenden Trikots und entnahm ihr eine Pille. „Hier! Schlucken Sie das. Sie werden schöne Träume haben und alle Sorgen vergessen.“ Er winkte freundlich mit der Hand. Dann ging er zurück in sein Büro, setzte sich an den Schreibtisch und drückte sofort auf einen Knopf. Er hatte Benal nicht sagen können, daß er ein Todeskandidat war. Und vielleicht, vielleicht gab es wirklich noch eine Chance. Der Herrscher Gorvin hatte befohlen, Benal zu retten. Befohlen! Ein böses Lächeln umspielte die Mundwinkel des Professors. Im Hörer ertönte eine Stimme: „Hier Mikro-Labor.“ „Professor Terol, bitte.“ Nach kurzer Zeit meldete sich der Physiker. „Hier Professor Kam. Ich brauche wieder einige Kabinen. 55
Diesmal wird es ernst. Ich habe Befehl von oben, einen Patienten am Leben zu erhalten, der an Trichostie erkrankt ist.“ Terol schwieg und starrte den Kollegen vom Bildschirm her ernst und fragend an. Endlich sagte er zweifelnd: „Und die Mannschaft?“ „Können wir unter vier Augen sprechen?“ fragte Kam ausweichend. „Gerne, Kam! Kommen Sie herüber!“ „Danke, lieber Kollege. Ich bin gleich da.“ * In dem halbrunden Hörsaal mit stufenförmig aufsteigenden Sitzen waren fünfzig Studenten versammelt. Beim Eintritt des Professors erhoben sie sich achtungsvoll von den Plätzen. Kam sah angegriffen aus. Zwei Nächte hindurch hatte er mit dem Physiker Terol gearbeitet, um die Pläne für eine neue Kabine fertigzustellen. „Setzt euch“, sagte Kam mit leiser Stimme. Man sah ihm heute an, daß er uralt war. Die Studenten gehorchten. Der Professor, neben seinem Pult stehend, ließ seine Blicke über die Reihen schweifen, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich begann er: „Liebe, junge Freunde. Ich habe euch unter den Begabtesten meiner Schüler ausgewählt, weil ich auf eure Hilfe vertraue in einer ganz besonderen Angelegenheit. Ich habe für euch eine Arbeit, die ganz aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fällt. Eine Arbeit, die euren vollen Einsatz erfordert. Ihr alle kennt meine Versuche mit bemannten Mikro-Kabinen. Bisher habe ich nur mit wenigen Assistenten gearbeitet und die Kabinen in gesunde Organismen eingeführt. Diesmal gilt es, einen Kranken zu retten. Macht euch mit dem Gedanken vertraut, daß ich aus euch 56
einen Vortrupp, ja eine Kampfgruppe bilden will. Wie die Ritter des Mittelalters sollt ihr mit furchtbaren Ungeheuern kämpfen. Nehmt das bitte wörtlich. Die Mannschaften, die ich diesmal brauche, werden nicht nur erforschen, sondern kämpfen. Selbstverständlich wähle ich nur Freiwillige aus, denn dieser Auftrag ist ein Todeskommando. – Die Ungeheuer, mit denen ihr kämpfen und die ihr töten sollt, sind wahre Riesen von Mikroben. Das Schlachtfeld ist der Körper eines Mannes, den Gorvin nicht sterben lassen will. Der Patient leidet an Trichostie!“ Ein Raunen ging durch den Hörsaal, dann wurde es totenstill. „Ihr kennt die Krankheit, deren die Wissenschaft noch nicht Herr geworden ist. Ihr wißt auch den Grund für dieses Versagen. Der Erreger der Trichostie ist gegen die Angriffe der Leukozyten, der weißen Blutkörperchen, durch eine fetthaltige, nicht verseifbare Membrane geschützt. Andererseits produziert er selbst einen chemischen Abwehrstoff, den die Leukozyten wie die Pest fürchten. Sie fliehen und überlassen den Trichos das Feld. Es gibt eine im Laboratoriumsversuch leicht durchzuführende Methode. Man muß die Membrane, die die Mikroben schützt, durchlöchern, so daß die Leukozyten angreifen können.“ Die Gesichter seiner Zuhörer wurden immer gespannter. Als Kam seinen Vortrag beendet hatte und um die Freiwilligen bat, meldeten sich sämtliche anwesenden Studenten. „Ihr werdet in fünf Gruppen zu je zehn Mann aufgeteilt“, erklärte Kam weiter. „Jeder Gruppe steht ein von Professor Terol konstruiertes Kabinenboot zur Verfügung, das von einem Physiker gesteuert wird. Diese fünf Kabinen mitsamt ihrer Besatzung werden – wie schon von früheren Versuchen bekannt – auf zwei Tausendstel Millimeter verkleinert. In der Blutbahn des Patienten beginnt dann euer Kampf gegen den Erreger. Ich 57
werde euch nun zeigen, wie der Feind aussieht, mit dem ihr es zu tim habt. Professor Terol ist es gelungen, einen Tricho auf das Zweitausendfache zu vergrößern. Das Verhältnis entspricht also dem, was ihr nach eurer Verkleinerung in der Blutbahn vorfinden werdet.“ Der Professor ging voran, hinter ihm die Studenten, deren innere Erregung sich in einem lauten Stimmengewirr Luft machte. Die Gruppe sammelte sich in einem großen Saal, in dessen Mitte auf einem Sockel ein riesiges Aquarium aufgestellt war. Einige Physiker standen herum und hörten zu. „Dies ist der vergrößerte Erreger“, erklärte Kam und deutete auf den Behälter. In einer goldgelben Flüssigkeit schwamm ein furchterregendes Untier, eine zehn Meter lange und ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter dicke, geringelte Schlange, deren Kopf in eine scharfe Spitze auslief. Sichtlich gereizt, wand und drehte sie sich nach allen Seiten und stieß gegen die Glaswände, so daß sie klirrten. „Hier seht ihr also in zweitausendfacher Vergrößerung einen Tricho in einem Tropfen Lymphe. So wird er euch im Körper des Kranken gegenübertreten. Ein furchtbarer Gegner! Als einzige Waffen stehen euch Schwerter zur Verfügung. Moderne Kampfmittel könnten im Körper des Kranken Unheil anrichten.“ Der Professor trat näher an das Aquarium heran. „Auf dem Boden des Bassins könnt ihr zwei tote Leukozyten sehen!“ Dort lagen wirklich zwei gallertartige Massen, in denen man deutlich je einen großen runden Kern von fast sieben Meter Durchmesser erkennen konnte. „Und jetzt, liebe junge Freunde, halte ich es für meine Pflicht, euch mit gutem Beispiel voranzugehen.“ 58
Zu dem Fakultätsdiener gewandt, sagte Kam: „Leblanc, bringen Sie mir bitte einen Taucheranzug!“ Einer der Studenten protestierte: „Nein, Herr Professor! Sie dürfen sich der Gefahr nicht aussetzen! Ihre Aufgabe ist es, nur der Wissenschaft zu dienen, gewissermaßen im Generalstab den Schlachtplan zu entwerfen, aber nicht in vorderster Linie mitzukämpfen.“ „Gut gemeint, mein Junge! Aber moralisch fühle ich mich verpflichtet, euch dieses Schauspiel eines Kampfes mit dem Drachen vorzuführen. Ich kann euch nicht begleiten, aber ich muß euch durch die Tat beweisen, daß ich würdig bin, die Kommandogewalt auszuüben.“ Langsam zog er sich den Schutzpanzer über und ließ sich eine lange Stahlklinge reichen, wie sie beim Fechtsport der Universität benutzt wurde. Prüfend wog er sie in der Hand. „Das ist eine sehr primitive Waffe“, sagte er. „Damit haben die Menschen auf der Erde lange Zeit ihre Kämpfe ausgetragen.“ Er kletterte die an das Bassin gelehnte Leiter empor und ließ sich in die gelbe Flüssigkeit fallen. Überrascht zog sich der Tricho in eine Ecke seines Gefängnisses zurück. Dann schob er langsam seinen spitzen Kopf auf Kam zu, der ihn mit hocherhobenem Schwert erwartete. Plötzlich ging das Scheusal zum Angriff über und versetzte seinem Gegner einen heftigen Stoß mitten auf die Brust. Kam taumelte hintenüber, jedoch nicht ohne mit der scharfen Schneide die Stelle zu treffen, wo der Kopf des Tieres an dem Rumpf angesetzt war. Der Tricho wich zurück, was dem Professor Zeit ließ, sich auf einem Knie wieder aufzurichten. In dieser Stellung, mit gesenktem Haupt, erwartete er den zweiten Angriff, der auch sofort dem ersten folgte. Wieder schnellte der Tricho seine furchtbare Waffe nach vorn, aber die Spitze glitt 59
an dem Helm ab und stieß drei Meter weit über den Knienden hinaus. Kam sah so den ganzen langen, geringelten Körper in Reichweite neben sich. Er erhob sich mit Blitzesschnelle, faßte die Waffe mit beiden Händen – ein kraftvoller Hieb – und zwei zuckende Teile des Schlangenleibes sanken auf den Boden des Bassins. Die Studenten begrüßten den Ausgang des Kampfes mit einem lauten Hurra und zogen mit nervigen Fäusten den verehrten Meister aus dem Glaskasten heraus. Kam nahm seinen Helm ab. Sein Gesicht war totenbleich. Er atmete schwer. „Solche Zirkusspiele sind nichts mehr für mich. Ich bin zu alt dazu. Doch“, meinte er lächelnd, „ich freue mich, daß ihr alle mit dieser Waffe umgehen könnt. Bisher war es Sport für euch, jetzt werdet ihr damit einen Menschen retten.“ Kam zog den Anzug aus, dann sprach er weiter. „Ich habe mich sorgfältig gehütet, die Wände des Bassins zu berühren. Ihr müßt genauso vorsichtig sein, denn eure Kämpfe spielen sich ja in den Blutgefäßen eines lebenden Menschen ab. Ihr braucht nun keineswegs alle Trichos zu töten. Verwundet sie nur, und dann werden die Leukozyten ihnen den Rest geben. Die weißen Blutkörperchen sind eure Verbündeten. Eure Panzer sind mit einer dünnen Schicht Protoplasma überzogen, das ihrer eigenen Formel entspricht, und ihr habt also von ihnen nichts zu befürchten. Wenn jemand zurücktreten möchte, meldet er sich bei mir. Ich nehme das keinem übel.“ Niemand sagte etwas, und deshalb verabschiedete Kam seine Schüler. „Es ist überaus wichtig, daß jeder von euch heute noch Gelegenheit hat, mit einem Riesentricho zu kämpfen. Das ist eine gute Vorübung, und ihr verliert dann nicht die Nerven, wenn es ernst wird. 60
61
Unsere Kollegen Physiker werden euch, einen nach dem andern, einem solchen Untier vorwerfen. Morgen früh gebe ich letzte Instruktionen, dann können wir mit der Verkleinerung beginnen.“ * In dem weiten Saal standen fünf große, eiförmige Glaskörper, aufgereiht in gleichen Abständen voneinander. Vor jedem Apparat wartete ein in einen Tauchanzug gekleideter Physiker, den Helm in der Hand. Der Physiker Terol ging nervös vor ihnen auf und ab. In einer Ecke machten sich mehrere Ingenieure an einem riesigen metallenen Tisch zu schaffen, an dem im rechten Winkel aufragend ein großer Schirm befestigt war. Terol trat zu ihnen. „Wie lange noch?“ „Noch zehn Minuten“, sagte einer von ihnen aufblickend. In diesem Augenblick tat sich die Tür auf, und Kam trat ein. Auch er gab seinen Studenten letzte Anweisungen: „Denkt daran, daß ihr nicht in ein Blutgefäß einfahren dürft. Ihr würdet sonst durch die Zirkulation wer weiß wohin mitgerissen werden.“ Er drückte auf einen Knopf und auf dem Schirm erschien helleuchtend das lebensgroße transparente Bild eines Menschen. Deutlich zeichnete sich das komplizierte Netz der Blutgefäße und der Nerven ab. „Auf diesem Schirm erscheint jeder von euch als leuchtender Punkt. Ich kann euren Weg genau verfolgen und euch Anweisungen geben. Ich werde allerdings nur mit den fünf Führern der Mannschaften in Sprechverbindung stehen. Ihre Stimmen höre ich über Spezialsender.“ Er hielt, in Gedanken verloren, ein paar Minuten inne. Dann sagte er: „Die Kabinen I, II und III begeben sich in die Gefäße, die zu den Leistenganglien führen. Die Kabinen IV und V su62
chen auf entsprechenden Bahnen die Krummdarmganglien zu erreichen. Ihr habt genug Licht zum Arbeiten, denn der Körper des Kranken wird taghell durchleuchtet.“ Professor Terol nahm seinen Platz vor den Kabinen ein. „Einsteigen! Helme aufsetzen!“ Die Männer gehorchten. „Wand herunterlassen!“ Ein Ingenieur drehte an einer Kurbel. Von der Decke herab senkte sich eine dicke Glasscheibe. Ihr unterer Rand paßte in eine Nute des Fußbodens. Nun gab Terol seine Befehle durch ein Mikrofon. „Achtung! Re – du – zieren!“ Um die Kabinen breitete sich ein orangenfarbener Schimmer, und sie wurden zusehends immer kleiner. Bald waren sie nur noch so groß wie Straußeneier, dann wie Hühnereier, dann wie Spatzeneier. „Halt!“ befahl der Professor. „Wand hochkurbeln!“ Die Glasscheibe hob sich, und der Gelehrte trat dicht an die zerbrechlichen kleinen Kugeln heran. Er bückte sich und hob vorsichtig eine von ihnen ans Auge. Im Innern saßen elf winzige, in Schutzpanzer gekleidete Männlein. Er redete sie durch das an seiner Brust hängende Mikrofon, an. „Nun, Mannschaft I, alles in Ordnung?“ Aus dem Lautsprecher Nr. I zwitscherte eine Stimme. Man hörte den Ton erst eine geraume Weile, nachdem die Lippen des Zwergleins aufgehört hatten, sich zu bewegen. „Es geht leidlich. Nur das Atmen fällt etwas schwer. Nichts Ernsthaftes.“ Terol setzte die verkleinerte Kabine wieder ab und ließ die Wand herunterkurbeln. „Weiter reduzieren!“ befahl er. Die fünf mit dem bloßen Auge kaum noch sichtbaren Kabinen wurden mit winzigen Magnetgreifern behutsam in kleine 63
Löcher transportiert, die an einem Ende des Operationstisches ausgespart waren. Kam drückte auf einen Knopf und sprach in den Hausapparat: „Den Kranken hereinbringen, bitte.“ Augenblicke später schob ein Krankenwärter eine fahrbare Trage in den Saal, auf der Jal Benal im tiefsten Narkoseschlaf lag. Zwei andere Wärter hoben den leblosen Körper geschickt auf den Operationstisch. Einer von ihnen betupfte die Leistengegend und die verkleinerten Kabinen mit einer blauen Flüssigkeit. „Ist nicht nötig!“, sagte Terol. „Die Strahlung sterilisiert alles.“ „Sie haben recht“, sagte Kam. „Machen wir bloß aus übertriebener Vorsicht. Gorvin will diesen Mann lebendig, und mit ihm ist nicht zu spaßen.“ Kam zog sich bis zu den Ellenbogen reichende Gummihandschuhe über und trat an den Tisch heran: „Skalpell, bitte!“ Ein Krankenwärter reichte ihm das Instrument. Professor Kam machte in die Haut einen schrägen Einschnitt von einem Millimeter Tiefe. „Pinzette!“ Er faßte vorsichtig die Kabinen I und II und setzte sie auf die Wunde. „Kabine I!“ „Ja, Professor?“ tönte es aus dem Lautsprecher. „Ist der Einschnitt tief genug, daß ihr hindurchgleiten könnt?“ „Vollkommen! Die Hornschicht und die Keimschicht der Oberhaut sind offen.“ Der Professor wandte sich nach Terol um und gab ihm ein Zeichen. „Also los!“ sagte Terol. Ein Physiker deckte die Stelle samt der Kabine mit einer 64
Glasglocke ab, in die zwei Drähte eingeschmolzen waren. „Re – du – zieren!“ Die Kabine wurde klein wie ein Stecknadelkopf und noch kleiner. Schließlich verschwand sie ganz und gar. „Kabine I! Alles in Ordnung?“ „In Ordnung. Wir sind auf den Grund des Einschnittes hinabgeglitten. Die Haut sieht aus wie eine Steilküste mit geologischen Schichten. Überall liegen riesige tote Kugelbakterien herum, dazwischen blaue, pyramidenförmige, aus der keimtötenden Lösung stammende Kristalle. Wir sind jetzt schon mitten im Bindegewebe.“ „Langsam weiterfahren“, sagte Kam. „Und berichtet laufend!“ „Vor uns eine neue Zellenschicht! Wir fahren um eine Talgdrüse herum, zwischen sternförmigen Zellen hindurch. Da – die ersten Leukozyten schwimmen um uns herum. Kommen uns vor, als ob wir auf dem Boden eines rosafarbenen Meeres dahinglitten. Vorbei an einer Faser des Bindegewebes. Beinahe wären wir gegen ein Krausekörperchen gestoßen! Achtung! Die Arterie! Ja, das ist ein Schlagäderchen. Eine einzigartige Gelegenheit, seine anatomischen Kenntnisse aufzufrischen! – Aha! Muskelfasern. Wir winden uns zwischen ihnen hindurch. Noch mehr Bindegewebe. Die Leukozyten werden immer zahlreicher. Wieder Muskelfasern, aber diesmal enger aneinanderliegend.“ Kam heftete seine Blicke auf den Schirm. Ein leuchtender Punkt bewegte sich langsam vorwärts. „Ihr seid jetzt in dem kleinen Anziehmuskel. Hört ihr mich?“ „Sehr gut! Ein wunderbares Schauspiel! Alles um uns erstrahlt in hellrotem Licht! – Halt! Ein Lymphstrom!“ Und mit gedämpfter Stimme sagte der Mannschaftskapitän zum Piloten: „Siehst du dieses Gewirr von hellen Zellen? Fahr langsam bis zur Kreuzung. Dort müssen wir vorbei!“ 65
66
Alle Anwesenden starrten auf den Schirm. Der leuchtende Punkt schien fast stillzustehen. „Die Zellen weichen auseinander. Wir fahren hindurch.“ Der leuchtende Punkt bewegte sich wieder ein wenig schneller. „Angelangt, Professor! So – wir sind an einer Gefäßklappe verankert!“ „Gut! Bleibt dort und wartet. Ich schicke euch jetzt die Kabine II.“ Kam hob die Glasglocke an und setzte die zweite Kabine an die gleiche Stelle wie die erste. Dann stülpte er die Glasglocke wieder darüber. „Re – du – zieren!“ befahl Terol. Nach einer Stunde angespannter Arbeit waren alle fünf Kabinen verschwunden. Fünf leuchtende Punkte bewegten sich auf dem Schirm in der linken Leistengegend und im Bauche des Patienten. Professor Kam beugte sich über den Kranken. Der grüne Streifen – das sichere Zeichen für Trichostie – zog sich nun schon hinauf bis zur Hüfte. „Achtung! Achtung! An alle Kabinen! Steigt aus und marschiert in dem Lymphstrom entlang. Laßt die Kabinen, wo sie sind. Aber bleibt in Verbindung mit eurem Steuermann. Die einzelnen Gruppen bleiben beisammen. Mannschaftskapitän I bitte allein sprechen! Ihr anderen redet nur im äußersten Notfall!“ Jeder leuchtende Punkt teilte sich in elf kleinere. Fünf – die Kabinen – blieben unbeweglich an demselben Fleck, die anderen Punkte wanderten langsam weiter in der Richtung des Lymphstroms. „Hier, Chef Kabine I! Professor, da sind sie schon! Ich sehe drei Trichos, die sich gerade durch eine Klappe winden. Wir greifen an!“ Auch der Lautsprecher III mischte sich jetzt ins Gespräch: „Trichos in Sicht, Professor. Wir greifen an!“ 67
Kam nahm wieder das Wort: „Hallo! Alles herhören! Die Gruppen I und III sind im Gefecht. Bald werden alle in der gleichen Lage sein. Tut euer möglichstes, um zu verhindern, daß die Scheusale bis zu den hinter euch liegenden Ganglienknoten vordringen. Chef Gruppe I! Bitte melden!“ „Jawohl! Ich … Verzeihung, Professor! Da – da – wieder einer erledigt. Wir richten ein wahres Gemetzel an. Mein Kamerad zur Rechten wälzt sich auf dem Boden im Nahkampf mit einem Trichozyten. Er schlägt ihn mit dem Schwert in Stücke. Die anderen kann ich schlecht erkennen. Ich werde angegriffen. Ich schlage zu …“ „Mut! Mut! Bravo! Nur weiter so! Chef Gruppe III! Melden!“ „Hier Chef Gruppe III. Wir müssen zurückweichen. Es sind hier zu viel Trichos. Ich … Professor! Professor! Eine gute Nachricht: Die Leukozyten fliehen nicht mehr. Sie sammeln sich um die zerhauenen Körperteile der Trichos und verleiben sie sich ein. Ich … Jetzt – jetzt – greifen die Leukozyten an! Zehn oder zwanzig klammern sich zugleich an einen Gegner, so daß er sich nicht rühren kann. Sie greifen sogar unverwundete Trichos an. In der umgebenden Blutflüssigkeit müssen sich Antikörper gebildet haben. Jetzt weichen die Trichos zurück. Die Leukozyten leisten wundervolle Arbeit. Von allen Seiten strömen sie herbei. Sie dringen durch die Gefäßwände. Sie verbreiten sich nach allen Richtungen. Ein Tricho kommt auf mich zu. Er windet sich hin und her, um sich von einem Leukozyten zu befreien, der sich an. ihn gehängt hat. Ich schlage zu. – Ach! Da habe ich den Leukozyten verwundet!“ „Überlaßt die Arbeit ruhig den Leukozyten“, rief Kam in sein Mikrofon. „Ich glaube, daß wir es geschafft haben. Führt die Kameraden zurück zur Kabine. – Gruppe I: Wie steht’s bei euch?“ 68
„Wir können uns kaum bewegen in dem Gedränge der Leukozyten. Sie greifen an.“ „Ich weiß! Ich weiß! Zurück zur Kabine! Gruppe II?“ „Leukozyten im Angriff, Professor!“ „Kampf abbrechen! Zurück zur Kabine! – Gruppe IV und V?“ „Gleiche Lage, Professor!“ „Zurück zu den Kabinen!“ Man kümmert sich um Jal Zwei Zentimeter unterhalb des Leistenbandes senkte Kam die Kanüle in den Oberschenkel des Kranken. Die durchsichtige Röhre füllte sich langsam mit Blut, das er in ein Reagenzglas laufen ließ. Er entnahm noch Blutproben an verschiedenen anderen Stellen, in der Gegend der Leber, der Nieren, des Herzens, in den Achselhöhlen. Als das Reagenzglas voll war, hängte er es in einen Apparat, der mit einer Pumpvorrichtung versehen war. Man konnte sie mit dem Fuße betätigen. Als Kam auf das Pedal trat, tauchte ein kleines Röhrchen in das Reagenzglas und pumpte das Blut langsam in die Höhe. Auf einem Leuchtschirm beobachtete Kam, wie das Blut Jal Benals vorüberfloß. Der Professor betrachtete den Vorgang mit gespannter Aufmerksamkeit. Als der Schirm erlosch, wandte er sich zu dem Kranken. „Nun, junger Freund? Jetzt sind wir vollkommen geheilt! Sie kommen von weit her, nicht wahr?“ „Wem sagen Sie das. Professor? Die Gors, die Slops, die Vulkane – und jetzt die Trichodinger.“ „Glauben Sie mir, die waren am gefährlichsten.“ „Ich bin Ihnen unendlich dankbar, Professor!“ Kam zuckte nur mit den Schultern und blickte ins Leere. „Sie werden uns nun verlassen und müssen versuchen, sich 69
an eine Lebensweise zu gewöhnen, die Ihnen recht seltsam vorkommen mag.“ Der Professor reichte Benal ein Papier. „Was ist das?“ fragte Jal. „Zeigen Sie das am Ausgang vor. Das ist Ihr Paß!“ Der alte Mann gab ihm die Hand. Jal drückte sie heftig. Dann ging er auf die Tür zu. Im letzten Augenblick wandte er sich noch einmal um. „Sagen Sie, Professor. Ihrem Alter nach zu urteilen, können Sie doch kaum ein gebürtiger Mondbewohner sein. Warum hat man Sie eigentlich von der Erde verbannt?“ Es zuckte in dem Gesicht des Greises, und er wurde rot. Er zögerte mit der Antwort, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Dann lächelte er. „Mein Gott! Mir sind so viele Dinge gleichgültig geworden. Ich könnte es Ihnen nicht sagen. Aber auf dem Mond tut man das nicht. Es steht alles auf meinem Personalblatt, das in dem Geheimarchiv des Hohen Rates aufbewahrt wird. Sonst weiß es niemand. Stellen Sie nie solche peinliche Fragen. Das verstößt hier auf dem Mond gegen die guten Sitten. Man wird auch Ihnen bald einen Fragebogen vorlegen, auf dem Sie – streng vertraulich – den Grund Ihrer Verbannung angeben müssen. Aber dann wird Sie niemand mehr mit irgendwelchen Fragen belästigen.“ Jal Benal schaute verlegen zu Boden. „Verzeihen Sie bitte Herr Professor. Das habe ich nicht gewußt.“ Kam winkte ab. Jal verbeugte sich kurz und ging hinaus. Die Tür zum Nebenzimmer stand offen. Eine junge Frau forderte ihn durch eine Handbewegung auf hereinzukommen. Er gehorchte und stellte fest, daß sie genauso gekleidet war wie die 70
Männer, mit einem enganliegenden Trikot, das durchsichtig wie ein Seidenstrumpf war. Zum Glück war ihr Kopf nicht glattrasiert. Ihr Haar fiel frei über die wohlgeformten Schultern. „Haben Sie jedes Haar einzeln durch die Maschen des Trikots gezogen?“ fragte Jal, und die Frau brach in schallendes Gelächter aus. „Aber nein. Neuer. Meine Haare sind ganz natürlich durch die Maschen hindurchgewachsen.“ „Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie das Trikot niemals gewechselt haben?“ „Doch. Erstaunt Sie das etwa?“ „Ja, wie macht ihr das denn mit dem Waschen?“ „Mit dem Waschen? Aber ihr zieht doch auch nicht die Haut ab, wenn ihr euch waschen wollt! Dieses Trikot ist eine künstliche Haut. Sie wird einem gleich nach der Geburt angepaßt, wächst mit, wenn der Körper wächst, schützt vor Frost, Hitze und den Mikroben, wäscht sich ebenso leicht wie die natürliche Haut, deren Unreinlichkeiten sie aufsaugt, und die sie mit Sauerstoff versorgt.“ Sie ging hinaus. Als sie wiederkam, warf sie ihrem Besucher ein Trikot zu. „Ziehen Sie das an!“ Jal befühlte den seidenweichen, elastischen Stoff. „Woraus ist das gemacht?“ „Das ist ein enges Gewebe aus feinsten HohlfädenNeoderma.“ „Neoderma?“ „Ja. In den Fäden kreist eine Flüssigkeit. die man Superplasma nennt. Fragen Sie mich nicht zu viel, ich bin kein Wissenschaftler!“ „Neoderma – Superplasma. Da kann ich mir schon etwas darunter vorstellen.“ 71
„Ihr seid wohl auf der Erde noch weit zurück?“ „Wieso?“ „Na, weil ihr keine Trikots tragt.“ Jetzt mußte Jal lächeln. „Auf der Erde haben wir das nicht nötig!“ Sie sah ihn ungläubig an. „Die Erde hat nämlich eine Atmosphäre“, erklärte Jal. „Was ist eine Atmosphäre? Ich bin eine Frau und habe nicht studiert. Hier auf dem Mond haben nur die Männer das Recht auf eine höhere Bildung. Eine Kameradin hat mir zwar gesagt, beim Hohen Rat gäbe es sogar Frauen, die lesen könnten. Aber ich kann das nicht glauben. Es ist streng verboten.“ „Sie können nicht lesen?“ fragte Jal ganz verdutzt. „Natürlich nicht! Bürger, Sie fragen zuviel. Ziehen Sie lieber das Trikot über und vergessen Sie nicht: Es ist verboten, es wieder auszuziehen.“ Sie verschwand, und Jal folgte ihren Anweisungen. Er zog sich den Slip und das Trikot über. Es saß wie angegossen. Nur im Nacken bauschte sich der Stoff. „Heda!“ schrie er. Die junge Frau kam zurück. Er deutete auf seinen Hals. „Wie macht man das hier?“ „In zehn Minuten paßt sich das an.“ Jal stand vom Stuhl auf. Zu seiner Verblüffung fuhr die Frau mit einem feuchten Schwamm über sein Gesicht und den Schädel. „Was machen Sie denn da?“ „Ihre Haare und Ihr Bart fangen schon wieder an zu wachsen. Sie müssen sich monatlich einmal mit Depil abreiben.“ Sie trat ein paar Schritte zurück und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „So, jetzt sehen Sie gut aus! Sogar sehr gut!“ Sie gab ihm den Paß. 72
„Danke“, sagte Jal und dachte: Wenn sie hier alle so komisch sind – das kann ja gut werden! * Jal folgte den Pfeilen, die den Weg zum Ausgang anzeigten. Sie führten zu einem runden Vorraum. Zwei Männer traten auf ihn zu. Sie trugen am Gürtel einen Stab aus glänzendem Metall, auf dessen Spitze eine kleine Kugel saß. Das Ganze ähnelte einem Florett. Später erfuhr er, daß man mit der Waffe nur auf einen Menschen zu zielen brauchte, um ihn völlig zu lähmen. „Ihren Paß, Bürger!“ Jal gab ihnen das gewünschte Dokument. „Sie können passieren! Dieser Bürger wird Sie begleiten.“ Jal drehte sich um. Neben ihm stand ein dritter Mann, den er bisher noch nicht bemerkt hatte. „Sie sind Jal Benal?“ Jal nickte, und der Mann reichte ihm die Hand. „Mein Name ist Las Tem. Ich soll Ihnen helfen, sich in den neuen Verhältnissen zurechtzufinden. Wollen Sie mir bitte folgen.“ Zu beiden Seiten der Allee, in die sie einbogen, standen schön gewachsene Bäume. „Mein Gott“, sagte Jal, „das sind doch Linden!“ „Wir haben in der Stadt viele Bäume“, lächelte Tem. Jal blickte zum Himmel empor. Auf tiefschwarzem Hintergrund um die mächtige Erde herum erstrahlten in märchenhaftem Glanz riesige Sterne. Die Linden warfen klar gezeichnete Schatten. „Aber dies ist doch der Weltraum!“ sägte Jal. „Das stimmt nicht!“ widersprach sein Führer. „Die Stadt liegt in einem ungeheuren runden Krater, der von einem durch73
sichtigen Glasdom überwölbt wird. Sein Radius beträgt drei Kilometer. In der Mitte wird dieser Dom durch eine große Säule gestützt. Sie können sie dahinten erkennen. Hier könnten wir sogar ohne Trikot herumlaufen, denn um uns ist sauerstoffhaltige Luft.“ Jal schüttelte den Kopf. „Da muß ich von Grund auf umlernen!“ „Möglich. Benal. – Bitte, hören Sie mich an! – Ich habe es mit List und Tücke bewerkstelligt, daß man mich ausgewählt hat, Sie hier auf dem Mond zu führen. Ich wollte schon immer brennend gern einen Erdbewohner meines Alters kennenlernen. Die Alten hier berichten ja nicht von ihrer Vergangenheit. Wenn Sie mir etwas erzählen könnten … wie sich das Leben auf der Erde abspielt …“ „Sie sind hier geboren?“ „Ja.“ „Ach, mein Lieber, ich kann noch nicht über die Erde sprechen. Ich bin noch ganz benommen, von meinen Abenteuern und von all dem Neuen!“ „Gewiß, gewiß! Es braucht ja nicht heute zu sein. Ich wollte nur mal fragen. ob es Ihnen nicht lästig ist, wenn ich Sie von Zeit zu Zeit besuche. Dann könnten wir uns unterhalten und über die Erde sprechen.“ „Gerne, so oft Sie wollen!“ „Danke, Benal! Und jetzt fragen Sie mich, was Sie wissen wollen.“ „Es schwirrt mir so viel im Kopf. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wo gehen wir jetzt hin?“ fragte Jal Benal. „In die Wohnung, die Ihnen zugewiesen ist.“ „Ist es noch weit?“ „Wir sind schon fast aus dem Regierungsviertel heraus. Es wird nicht mehr lange dauern.“ 74
Jetzt bogen sie in eine belebtere Straße ein. Männer und Frauen eilten zwischen den beiden Steilwänden der Häuser hin und her. Die Glasdome und Terrassen stiegen zu verschiedener Höhe auf. Aus Tausenden von kleinen Fenstern blitzten die Lichter. Seltsam, kein Fahrzeug war zu erblicken. Mitten auf der Straße standen mächtige Kastanienbäume. Hin und wieder sah man über den Häusern wunderliche kleine Glaskästen schweben. Tem bemerkte, daß Jal sie anstaunte. „Sie bekommen natürlich auch eine“, sagte er. „Eine … was?“ Tem zeigte mit dem Finger nach oben. „Eine Antige.“ „Was ist eine – eine Antige?“ fragte Jal. „Ein Flugkörper.“ „Damit fliegt ihr überall umher, auch im Raum?“ „Das wäre möglich, aber es ist verboten, die Antige außerhalb der Stadtgrenzen zu benutzen. Sie sind zu leicht gebaut und können den Aufprall von Meteoriten nicht aushalten, Aufprallende Meteoriten würden sie zertrümmern. Zum Fliegen im Raum nehmen wir schwerere Apparate, solche, mit denen wir Sie, Benal, aus der Plutonkette herausgeholt haben.“ Plötzlich ertönte eine Glocke. Tem faßte seinen Schützling am Arm. „Die Stunde des Gebetes!“ sagte er. „Richten Sie sich ganz nach mir.“ Tem starrte in die Luft. In der Straße standen alle Leute still und richteten ihre Blicke zur Erde empor. Von der Menge stieg ein leidenschaftliches Gemurmel zum Himmel auf. „Erde, die du uns versagt bist“, murmelten die Stimmen, „wir hungern nach dir, wie nach einer Frucht am Baum des Lebens. Erde, der Tag ist nahe, an dem wir dich erobern werden. Dann wollen wir deine Wonnen kosten, die wir so lange entbehrt haben.“ 75
Jal beobachtete Tem verstohlen aus den Augenwinkeln. Er schien völlig gleichgültig den Text herunterzuleiern. „Bewohner der Erde! Bald werden wir kommen und über euch herrschen und euch verachten und unterjochen. Und unsere Rache wird furchtbar sein, denn wir haben lange gewartet.“ Die Menge wogte wieder auf und ab. Tem zog Benal mit sich fort. „Nun. wie finden Sie das?“ fragte er. „Es ist ein ergreifendes Klagelied“, sagte Jal. Tem sah ihn mißtrauisch an und lächelte. „Das ist nicht Ihre wahre Meinung!“ „Doch! Doch!“ beteuerte Benal. „Nein, geben Sie doch offen zu, daß Sie den Bewohnern der Erde gegenüber gar keinen so großen Haß empfinden, trotz allem, was sie Ihnen angetan haben!“ „Wie? Aber …“ Tem ergriff freundschaftlich Beftals Arm. „Hören Sie, ich glaube, daß ich Ihnen Vertrauen schenken kann. Sie haben jetzt gesehen, wie sie ihren Hymnus an die Erde herunterplärrten. Nun, ich will Ihnen bekennen, was ich im innersten Herzen darüber denke. Die Hälfte von ihnen – und ich gehöre dazu – machen sich über diese Komödie lustig. Sie sind auf dem Mond geboren und fühlen sich hier ganz wohl. Ein Viertel der Betenden glaubt wirklich das, was die Lippen sprechen. Und das letzte Viertel, das sind die wirklich zur Verbannung Verurteilten. Leute wie Sie. Man muß zugeben, die meisten von denen sind Galgenvögel, auf die kein Verlaß ist. Abfallprodukte! Die Erde tut ganz recht daran, sie abzuschieben.“ Jal mußte lächeln. Tem zwinkerte mit den Augen und fuhr fort: „Ihre Reaktion beweist mir, daß ich Sie ganz richtig eingeschätzt habe. Wenn ich zu einem anderen so offen geredet hätte, er wäre mir an die Gurgel gesprungen. Sie sind nicht mit diesen 76
Leuten zu vergleichen. Sie sind sich Ihrer Stärke viel zu sicher, als daß Sie …“ „Weiter!“ bat Jal. „Ich meine, man hat den Eindruck, daß Sie nur durch Zufall, etwa infolge eines Justizirrtums, hierhergeschickt worden sind.“ Benal erhob warnend die Finger: „Sie reden zu viel, mein Lieber! Wenn ich nun ein Lockspitzel wäre?“ Tem sah ihm voller Vertrauen in die Augen: „Nein! Das ist ganz ausgeschlossen! Aber Sie haben recht. Für heute mag es genug sein. Wir werden gelegentlich auf das Thema zurückkommen. Man sollte sich wirklich nicht auf offener Straße über diese Dinge unterhalten.“ Tem zog seinen Gefährten hinüber auf die linke Straßenseite, und sie stiegen eine Rampe empor, die zu dem Eingang eines Gebäudes führte. Sie traten ein. Der Boden einer mächtigen runden Halle war mit Basaltfliesen belegt, während sich ihre Decke in schwindelnder Höhe zu verlieren schien. Es kam Jal vor, als stehe er auf dem Grunde eines Brunnenschachtes. Tem stellte sich mit seinem Begleiter auf eine in der Mitte des Fußbodens eingelassene Metallplatte. Dann sagte er nur ein einziges Wort: „Vierundzwanzig.“ War es zu glauben? Jal fühlte zu seiner Überraschung, wie er und Tem in dem Brunnenschacht emporschwebten! Sie wurden nicht etwa durch die Platte hochgehoben. Als Jal nach unten blickte, sah er, daß ihre Füße auf keiner Unterlage standen. „Schwerkraft wird aufgehoben!“ erklärte Tem. „Geniale Erfindung!“ mußte Jal zugeben. Sie hielten vor einer Öffnung in der Wand und gingen einen Flur entlang, an dessen Ende zwei Türen einander gegenüberlagen. 77
„Sie wohnen links – ich rechts. Treten wir erst einmal bei Ihnen ein.“ Sie stellten sich vor die linke Tür. Von innen kam ein perlendes Klingelzeichen, und eine sanfte Stimme rief: „Herein!“ Wie durch Zauber verschwand die Tür, um die Besucher einzulassen. Eine reizende, junge Blondine lächelte ihnen schüchtern zu. „Das ist Nira Slid, A. E. 712“, sagte Tem. „Gefällt sie Ihnen?“ „Ich … ja, gewiß. Sie ist sehr – schön!“ „Das ist also dein Herr und Gebieter, Nira. Eben erst angekommen auf dem Mond. Kümmere dich um ihn!“ Tem wandte sich an Jal: „Wenn Sie noch irgend einen Wunsch haben – zögern Sie nicht, kommen Sie zu mir! Auf Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen!“ An der Tür drehte Tem sich noch einmal um: „Wenn Nira Ihnen nicht zusagt, kann ich Ihnen jederzeit eine andere Dienerin besorgen.“ Er ging hinaus und ließ den leicht verwirrten Jal Benal allein mit der entzückenden jungen Dame. Als das verlegene Schweigen peinlich wurde, brach es Nira mit einem aufmunternden Lächeln: „Haben Sie irgend einen Wunsch, Gebieter?“ Jal suchte seine Gefühle unter einem leicht gereizten Ton zu verbergen: „Jawohl! Nennen Sie mich nicht Gebieter. Ich heiße Jal Benal, C. S. 177. Sagen Sie einfach Jal zu mir.“ Niras Augen umflorten sich: „Ich gefalle Ihnen also nicht?“ „Doch! Was soll die Frage? Ich finde Sie sehr hübsch. Sie sehen sogar sehr anziehend aus. Aber ich kann das alberne Getue nicht leiden. Das ist einfach lachhaft!“ „Ich werde es niemals wagen, Sie mit Jal anzureden.“ 78
„Aber ich verlange das, Nira!“ „Nun gut – Jal.“ „Na also!“ „Mein Geb… Jal, Sie sind über sehr vieles hier auf dem Mond noch nicht unterrichtet. Darf ich Sie auch um etwas bitten?“ „Was?“ „Duzen Sie mich, bitte. Man muß seine Dienerin immer duzen.“ „Wenn dir das Spaß macht, gern. Aber du mußt mich dann auch duzen.“ „Nein, das ist ganz unmöglich!“ „Ich verlange es, hörst du?“ Nira schlug die Augen nieder. „Nun gut, Jal, aber niemals in der Öffentlichkeit. Vergiß bitte nicht, wenn andere zuhören, muß ich dich immer mit Sie und mein Gebieter anreden.“ Benal zuckte mit den Achseln. „Meinetwegen! Wenn es durchaus sein muß!“ Er blickte sich um in seiner Behausung. Das Zimmer war zwar klein und kahl, aber trotzdem wirkte es recht wohnlich. Der federnde Fußboden, die seidigen Wände, von denen ein mildes, weißes Licht ausstrahlte, bequeme Stühle, kurz: alles tat dem Auge und der tastenden Hand überaus wohl. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand zeichnete sich eine Tür ab. Jal schritt hindurch. Nira folgte ihm. Ein zweites Zimmer schloß sich an. Es war geräumiger. In der Mitte stand ein großer Tisch. An den Wänden hingen vier aus plastischem Material gefertigte Hängematten. Von drei weiteren Türen führten zwei in kleinere Kammern, die dritte in ein mit Spiegelwänden ausgestattetes Bad. Das war alles. „Da wohnen wir auf der Erde aber besser. Hier ist alles so eng.“ 79
„Ja, weil es reduziert ist“, sagte Nira. „Was heißt reduziert?“ Ohne zu antworten, drückte Nira auf einen Knopf. So wie ein Ballon sich ausdehnt, wenn man ihn aufbläst, wurde auch die ganze Wohnung etwa viermal so groß wie zuvor. Jal staunte und versank in tiefes Nachdenken. „Das ist praktisch, wenn zum Beispiel viele Freunde zu Besuch kommen.“ „Aber was wird aus unseren Nachbarn? Wir müssen doch ihre Wohnungen zurückdrücken, wenn wir uns so ausdehnen. Ich verstehe nicht …“ „Nein! Vielleicht hat in diesem Augenblick ein Nachbar ebenfalls sein Zimmer erweitert. Aber wir sehen ihn nicht, er uns auch nicht. Er kann uns so wenig berühren wie wir ihn. Die Wohnungen werden abwechselnd auf vier verschiedenen Ebenen gebaut.“ „Aha! Das ist sicher eine Anwendung der Kernformel auf die n-Dimensionen!“ Nira machte große Augen. „Das weiß ich nicht. Ich bin doch eine Frau. Ich hab bloß gehört, daß es sich da um Interpenetration handelt.“ Jal schüttelte mißbilligend den Kopf. „Du kannst also auch nicht lesen?“ „Nein! Das ist den Frauen streng verboten!“ Jal betrachtete sie mit Wohlgefallen. Ihre von dem enganliegenden Trikot kaum verhüllte Schönheit benahm ihm ein wenig den Atem. Regelmäßige Züge, große, sprechende Augen, harmonisch ausgeglichene Linien, zierliche Gelenke. Er lächelte ihr zu. Nira blickte ihn schüchtern an. Sie schien nicht zu wissen, was sie tun sollte, um ihm zu gefallen. Jal stand auf. „Ich habe Hunger“, sagte er. „Was eßt ihr hier auf dem Mond?“ „In deinem Zimmer“, sagte Nira, „ist ein Verteiler.“ 80
Jal ging in das linke Zimmer. Nachdenklich betrachtete er einen seltsamen Apparat, der neben der Hängematte angebracht war und aus dem zwei wie Schwanenhälse gebogene Röhren herausragten. Er rief Nira. „Ist das der Verteiler? Wie funktioniert der dann?“ „Die linke Röhre ist für das Getränk. Die rechte für die Paste. Du brauchst bloß das Ende des Schlauches in den Mund zu nehmen. Bei der Berührung mit dem Speichel beginnt die Nahrung automatisch herauszufließen. Wenn man genug hat, zieht man den Mund zurück. Ganz einfach!“ „Aber das Trikot geht doch über mein Gesicht. Das ist dabei furchtbar hinderlich.“ „Nein! Du brauchst nur ein wenig zu drücken, dann gleiten die Maschen auseinander, und der Schlauch geht ganz leicht hindurch.“ Jal schien nicht begeistert zu sein. „Ist das hier die einzige Möglichkeit, Nahrung zu sich zu nehmen?“ „O nein! Es gibt auch tragbare Verteiler. Sie sind kleiner und brauchen nur alle Monate einmal gefüllt zu werden. Aber wir benutzen sie nur bei Ausflügen in den Raum.“ Jal stieß einen Seufzer aus und näherte seine Lippen der linken Tube. Als er sie an den Mund drückte, drang sie wirklich ganz leicht durch die Maschen des Gewebes, und sein Mund füllte sich mit einer leicht süßlichen Paste. Er stieß die Tube gleich wieder zurück und zog ein Gesicht. „Das Zeug schmeckt scheußlich“, schimpfte er. „Das ist ja dasselbe, was sie mir in der Klinik gegeben haben. Ich dachte, das wäre eine Diätkost! Ich hoffe doch, daß die Speisekarte etwas mehr Abwechslung bietet.“ „Die Speisekarte?“ 81
„Ich meine, man bekommt doch mal etwas anderes zu essen.“ Nira sah ganz verdutzt aus. „Warum sollen wir etwas anderes essen?“ „Du willst doch nicht etwa sagen, daß du dein ganzes Leben lang nur dieses Zeug geschluckt hast?“ „Aber gewiß! Bei uns auf dem Mond ißt kein Mensch jemals etwas anderes.“ Jal wurde es ganz schwach. Er mußte sich setzen. „Mehr als drei Wochen habe ich mich nun schon von Pillen ernährt, und nun soll ich an der Tube lutschen? Gräßlicher Gedanke, und diese Flüssigkeit – was ist denn das?“ „Man nennt es einfach Getränk.“ Jal probierte es mit der anderen Tube. „Das schmeckt beinahe wie Drinil. Immerhin nicht ganz so übel.“ * In dem Nebenzimmer erstattete Tem seinen Bericht. Er sprach in ein Mikrofon. „Bis jetzt ist alles gutgegangen. Ich glaube, daß es mir gelungen ist, sein Vertrauen zu gewinnen. Er hält mich für einen Pazifisten, der keinerlei Groll gegen die Erdbewohner hegt. In diesem Augenblick ist er in seiner Wohnung, allein mit Nira Slid. Sie schien ihm zu gefallen. Ich glaube, es wird ihr nicht schwerfallen, ihn an der Nase herumzuführen! – Ende!“ Geständnis An einem der folgenden Tage erhielt Jal die Aufforderung, sich im Gebäude des Hohen Rats einzufinden, um die Formalitäten zu erfüllen, die von allen Neulingen verlangt wurden. Man legte ihm einen fünf Seiten langen Fragebogen vor. 82
Überdies sollte er eine klare und eingehende Darstellung seines Lebens auf der Erde einreichen. Jal sah, daß die dreißig ihm vorgelegten Fragen nichts unbeachtet ließen. Er versiegelte das Schriftstück, übergab es einer Angestellten und wartete eine gute halbe Stunde, ehe man sich weiter mit ihm beschäftigte. Schließlich kam die Frau wieder zurück und überreichte ihm einen neuen Bogen, auf dem wieder eine Unmenge Fragen gestellt wurden. Diesmal sollte er bis ins einzelne gehende Auskunft über seine wissenschaftliche Tätigkeit geben. Man wollte wissen, an welcher Stelle man seine Kenntnisse am besten einsetzen könnte. Jal antwortete nach bestem Wissen, und die Frau nahm auch den zweiten Fragebogen in Empfang. Kaum fünf Minuten. später ertönte eine Lautsprecherstimme: „Bürger Jal Benal, C. S. 177, begeben Sie sich bitte durch den Flur 5 zum Zimmer B!“ Jal blickte sich um, entdeckte den betreffenden Flur und ging hinein. Er brauchte nicht lange nach dem Zimmer B zu suchen. An der Tür stand ein Mann, der ihm zuwinkte. „Sie sind Jal Benal?“ fragte er. „Bitte, treten Sie ein.“ Der Unbekannte ließ Jal auf einer Hängematte Platz nehmen und bot ihm ein Glas „Getränk“ an. Dann betrachtete er seinen Gast zwei Minuten lang, ohne ein Wort zu sagen. „Was wollen Sie von mir wissen?“ fragte Jal etwas gereizt. Der Mann lächelte. „Ich möchte wissen, ob Sie der König der Spaßvögel sind!“ „Wieso?“ „Sie sind Mathematiker, nicht wahr?“ Er blickte auf das von Jal zuletzt ausgefüllte Formular. „Fünfundfünfzig Jahre alt. Ein sehr junger Mathematiker. Und Sie behaupten, Sie hätten das Steroproblem gelöst? Sie wollen sich wohl über uns lustig machen!“ Jal lächelte. „Ich vermute, daß Sie auch Mathematiker sind?“ 83
„Natürlich. Ich bin da, um den Wissenschaftlern, die uns die Erde schickt, auf den Zahn zu fühlen. Ich muß bekennen, daß ich selten genug dazu Gelegenheit habe. Die meisten Neulinge sind geistig zurückgebliebene Verbrecher.“ Forschend blickte der Experte Jal an. „Wie steht’s also mit dem Problem Stero?“ „Wenn Sie vom Bau sind, macht das die Sache einfach. Kennen Sie die gegebenen Größen? Kennen Sie die Funktion Z?“ Der Experte nickte. „Gut! Also vor drei Jahren habe ich bewiesen, daß die Funktion Z wirklich existiert. Sie ist das Minimum eines Integrals.“ Der Experte dachte angestrengt nach. Endlich tat er den Mund auf. „Seit vielen Jahren rennen sich unsere besten Mathematiker an dieser Mauer die Köpfe ein. Wenn Sie nicht bluffen, bedeuten Ihre Arbeiten eine radikale Umwälzung auf dem Gebiet unserer naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Erklären Sie mir das bitte genauer.“ Jal biß sich auf die Lippen. Er hatte den Fragebogen zu offenherzig ausgefüllt und den Wissenschaftlern des Mondes ein streng gehütetes Geheimnis preisgegeben. Das konnte ihrer Forschung neuen Auftrieb geben, was für die Erde äußerst gefährlich war. Jal nahm einen Stift, der auf dem Schreibtisch des Experten herumlag, und fing an, ein Stück Papier mit Formeln und Gleichungen zu bedecken. Über den Schreibtisch geneigt, arbeiteten die beiden Männer lange Zeit. Jal spielte ein gewagtes Spiel. Er bemühte sich, den Experten zu überzeugen, fälschte aber gleichzeitig die Berechnungen, damit der irdischen Überlegenheit nicht geschadet wurde. Nach mehreren Stunden stand der Experte auf und sagte: „Ich kann nicht mehr. Sie sind mir überlegen. Ich bin nicht in 84
der Lage, Ihren Gedankengängen bis in die äußersten Konsequenzen zu folgen. Sie müssen uns aber die Beweisführung vollständig vorlegen. Sie wird dann von unseren Spezialisten geprüft. Auf alle Fälle haben Sie mich von Ihren Fähigkeiten überzeugt. Sie sind ein Mathematiker von Rang. Wir werden Sie an hoher Stelle einsetzen. Inzwischen müssen Sie aber noch einen Monat lang einen Schnellkursus durchmachen.“ „Einen Schnellkursus? Wozu?“ „Man wird Ihnen die Kenntnisse beibringen, die für jeden Mondbewohner unerläßlich sind. Trotz Ihrer hohen Intelligenz wissen Sie die einfachsten Dinge nicht. Auf dem Mond sind Sie wie ein Kind in einer neuen Welt. Selbst die dümmste Frau weiß mehr über Mondkunde oder über Mondrecht als Sie. Sie müssen hier erst wieder mündig werden. Sie sind ein Kind, solange Sie noch einen Führer nötig haben.“ * Einen Monat lang setzte sich Jal gehorsam auf die Schulbank. Er erfuhr, daß die Stadt, in der er jetzt lebte, Ptol hieß. Sie war zwar Sitz der Regierung, aber die anderen riesigen Städte waren viel bedeutender, z. B. Fram in der Wolkenebene oder selbst Dav, dessen Lichter man in der Nacht am Horizont schimmern sah. Er lernte auch das Geheimnis der Antigen kennen, jener seltsamen fliegenden Glaskästen. Kurz: er mußte sich mit allen Einzelheiten des Lebens auf dem Mond vertraut machen. Von den Fortschritten der Technik war er geradezu geblendet. Er bangte um das Schicksal der Erde. Beruhte doch ihre einzige Überlegenheit auf seinen eigenen Forschungsarbeiten über die Funktion Z. Er sah mit Schrecken, welche Folgen deren Kenntnis für die Entwicklung der Technik auf dem Mond 85
haben könnte. Tag und Nacht arbeitete Jal, um Berechnungen aufzustellen, die nur scheinbar richtig waren, und deren Nachprüfung durch die Mathematiker des Mondes viele Monate dauern mußte. Oft wiederholte Jal in Gedanken die Instruktionen, die ihm Flora Steval in der Todeszelle übermittelt hatte. Erstens: Mit allen Mitteln sich eine Schlüsselstellung in der Regierung des Mondes verschaffen. Zweitens: Alles auskundschaften über die Kampfmittel, mit denen der Mond die Erde angreifen will. Drittens: Eine ausgedehnte Sabotageorganisation schaffen, die es ermöglicht, mit einem Schlage die feindliche Offensivkraft lahmzulegen. Viertens: Falls alle Anstrengungen in diesen drei Richtungen fehlschlagen sollten, wieder möglichst unbemerkt zur Erde zurückzukehren und dort über die Zustände auf dem Mond Bericht erstatten. Fünftens: Wenn die Rückkehr unmöglich sein sollte – sich an die auf dem Mond geborenen Abkömmlinge wenden, denen ja die Regierung der Erde nichts nachzutragen hat. Im Notfall auch den vor mehr als fünfzig Jahren Verbannten einen Straferlaß versprechen. Auf jede Weise versuchen, die öffentliche Meinung der Mondbevölkerung zu spalten und eine Revolte herbeizuführen. – Sinnlose Instruktionen, wie sie nur kindliche Gehirne aushecken konnten. Wie war das möglich, daß die Regierenden der Erde auf so lächerliche Ideen verfielen? Phantastereien von Romanschreibern fünften Ranges! Man hielt Jal zweifellos für einen Übermenschen. Jal ahnte natürlich nicht im entferntesten, daß er als Spion erkannt war, und daß man seine wissenschaftlichen Kenntnisse 86
so weit wie irgend möglich ausnutzen wollte, um die Entwicklung der Technik auf dem Mond voranzutreiben. Er wußte auch nicht, daß Tem und Nira beauftragt waren, alle seine Bewegungen zu überwachen und jede verdächtige Äußerung sofort nach oben zu melden. Es kam ihm auch nicht in den Sinn, daß der Mann, der sich ihm als sein künftiger Privatsekretär vorgestellt hatte, ebenfalls ein Spitzel der Mondregierung war. * Einige Monate später hatten sich Jal Benals Lebensumstände völlig verändert. Er war in die Industriestadt Dav umgesiedelt und wohnte in einem wahren Palast. Das Gebäude war mit drei Kuppeln gedeckt, und dis Kellergeschoß hatte man als Garten ausgebaut. Vier Antigen standen zu Jals persönlicher Verfügung. Jeder Apparat konnte ihn in zwei Minuten zu der Waffenfabrik bringen, in der seine Laboratorien lagen. Wenn er Entspannung suchte, flog er bis vor die Tore der Stadt und vertauschte die Antige mit einer Rakete, die ihn in den Weltraum trug. Er wurde nicht müde, die phantastischen Mondlandschaften unter sich dahingleiten zu sehen. Allerdings gab man ihm stets, trotz seiner wiederholten Proteste, einen Piloten zur Begleitung mit, unter dem Vorwand, Jal sei noch nicht genügend vertraut mit einem Raumer. Diese Schikane machte ihn stutzig. Er war sich dessen bewußt, ein sehr guter Pilot zu sein, und seine Reaktionsfähigkeit auf Gefahrenmomente ließ nichts zu wünschen übrig. Und warum unterwarf man die Verbannten, die nach ihm hier angekommen waren, nicht den gleichen Beschränkungen? Man gab ihm zur Antwort: „Ihre wissenschaftlichen Kenntnisse sind für den Staat so wertvoll, daß wir Ihre Persönlichkeit nicht der Gefahr eines Unfalls aussetzen dürfen!“ Aber eine solche 87
Ausrede befriedigte Benal nicht. Er begann, seine Umgebung mit Mißtrauen zu betrachten. Ein Vorfall bestärkte ihn in seinem Argwohn. Als er eines Tages früher als gewöhnlich nach Hause kam, überraschte er Nira beim Lesen! Sie konnte also doch lesen! Er tat so, als sei ihm nichts aufgefallen. Aber er erinnerte sich an eine Bemerkung jener Sekretärin beim Einwohnermeldeamt. „Eine Freundin hat mir gesagt, beim Hohen Rat gäbe es sogar Frauen, die lesen könnten.“ Als sich Jal ein paar Stunden später heimlich das Buch ansah, in dem Nira gelesen hatte, fand er, daß es keineswegs eine alltägliche leichte Lektüre war. Es war eine Abhandlung über Parapsychologie. Um das zu verstehen, dazu gehörte schon etwas! Warum hatte ihm Nira ihre Kenntnisse verheimlicht? Es fielen ihm nun gewisse Einzelheiten im Benehmen Niras auf, die, jede für sich betrachtet, unbedeutend erschienen, aber zusammengenommen doch dazu beitrugen, seinen Verdacht erheblich zu verstärken. Seltsamerweise litt er darunter. Bisher hatte er in dieser Frau nur eine angenehme Gefährtin gesehen. Er hatte sich damit begnügt, ihr gelegentlich Beweise seiner Freundschaft und seiner kameradschaftlichen Gefühle zu zeigen. Erst als er sich nun gezwungen sah, Nira mit Argwohn zu betrachten, merkte er, daß er sie wirklich liebte. Der Flirt mit Flora Steval im Gefängnis hatte für ihn eine vage, rasch vorübergehende Zuneigung bedeutet. Der Gedanke aber, daß Nira ihn von Anfang an belogen hatte, erschien ihm unerträglich, und er fühlte sich einsamer als je zuvor. Benal änderte sein Benehmen ihr gegenüber gründlich. Er, der bisher ein so nachsichtiger und zuvorkommender Vorgesetzter gewesen war, zog jetzt andere Seiten auf. Nira merkte es natürlich. Um ihn zu beruhigen, war sie liebenswürdiger und rücksichtsvoller als je. Sie machte es jedoch dadurch nur 88
schlimmer. Jal sah darin nur einen weiteren Beweis ihrer Doppelzüngigkeit. Eines Tages warf sich Nira weinend in seine Arme. Das war noch nie vorgekommen. Nira, die sonst immer ehrfurchtsvoll und zurückhaltend war, ließ sich gehen. Jal, ganz überrascht, drückte zuerst den vom Weinen geschüttelten Körper der jungen Frau leidenschaftlich an sich. Dann aber wurde er wütend, löste sich aus der heuchlerischen Umarmung und stieß Nira so heftig von sich, daß sie mit dem Kopf gegen den Pfosten einer Hängematte schlug und ohnmächtig zu Boden sank. Von widerspruchsvollen Gefühlen hin- und hergerissen, beugte er sich über sie, hob sie auf und legte sie in eine Hängematte. Er versuchte, sie wieder aufzuwecken und flüsterte die zärtlichsten Kosenamen in ihr Ohr. Endlich schlug sie die Augen auf. Sie nahm Jals Kopf in beide Hände und zog ihn zu sich herunter. „Liebster, ich kann unter diesem furchtbaren Alpdruck nicht weiterleben. Ich muß dir etwas gestehen.“ Jals Herz schlug schneller vor Hoffnung. Was würde er jetzt erfahren? „Ich bin eine Agentin“, bekannte Nira. „Aber es ist mir unmöglich, dich weiter zu hintergehen. Du hast mich ganz an dich gefesselt. Ich will mit dem Hohen Rat und seiner Politik nichts mehr zu tun haben. Der Mond und die Erde – deren Geschicke sind mir gleichgültig. Für mich zählt nur meine Liebe zu dir. Ich weiß, daß du ein Spion der Erde bist. Sie wissen das alle. Aber ich glaube, du kämpfst für eine gerechte Sache. Ich weiß jetzt, wie beschränkt die Gedankengänge und Anschauungen der Mondbewohner sind, nur vom Haß diktiert. Du mußt mir Glauben schenken. Ich meine es aufrichtig und will es dir beweisen. Von heute an helfe ich dir, so gut ich kann.“ Vor Freude schier außer sich, nahm Jal sie wieder fest in seine Arme. Er fühlte sich stärker als je. Nun war er nicht mehr allein. 89
Die Bombe In der ungeheuren Fabrik schien alles zu schlafen. In den großen, vom Dunkel der Nacht überfluteten Sälen sahen die riesigen Maschinen aus wie regungslose Tiere der Vorzeit. Jal wand sich vorsichtig zwischen ihnen hindurch, indem er das Geräusch seiner Schritte soviel wie möglich dämpfte. Am Ende eines langen Korridors leuchtete ein Lichtschimmer auf. Jal versteckte sich schnell hinter einer Maschine. Kam dort jemand? Der Lichtschein wurde heller. Wahrhaftig! Ein Mann, an der Stirn die Blendlaterne, am Gürtel den Immobilisator, den Magnetstab, mit dem er jeden Gegner sofort zur Unbeweglichkeit verdammen konnte. Es war ein Wachsoldat. Er warf einen flüchtigen Blick auf Jals Versteck und verschwand durch eine andere Tür. Jal trat zurück auf den Gang und schlug die Richtung ein, aus der der Wächter gekommen war. An der Wand hing ein Plan. Jal prägte ihn sich genau ein und schritt durch eine zum Treppenhaus führende Tür. Er tastete sich hinunter ins Erdgeschoß. Dort standen genau ausgerichtet Seite an Seite die ungeheuren Raumschiffe und vor ihnen aufeinandergetürmt schwere Metallkästen. Jal zog aus der Tasche seines Trikots einen kleinen leuchtenden Metallstab. Er berührte mit dessen Ende das Schloß einer Kiste. Sofort sprang der Deckel auf. Reihenweise lagen darin rote Zylinder in Flaschengröße. Jal nahm einen an sich und schloß die Kiste wieder. In aller Eile schlich er die Treppe hinauf, rannte durch den Maschinensaal und sprang durch ein Fenster ins Freie. Er stürzte zehn Meter hinab in den Hof und dankte seinem Schöpfer, daß er dieses Kunststück nicht unter normaler Gravi90
tation ausführen mußte. Sorgfältig jeden Schatten ausnutzend, schlich er auf die Umfassungsmauer zu. Dort hing noch der Strick, den er benutzt hatte, um in die Fabrik einzusteigen. Drei, vier Griffe, und schon saß er rittlings auf der Mauer und ließ sich ohne Bedenken in die Straße hinabfallen. Er rollte den Strick um seinen Leib und schritt schnell durch die menschenleeren Gassen, um nach Hause zurückzukehren. Glücklicherweise lief er keinem Wachtposten in die Hände. Vor seinem Palast angekommen, entrollte er wieder den Strick und zielte mit dem magnetischen Haken auf das Gitter des Dachgartens. Als er losließ, flog der Strick davon bis zum Sims des Gebäudes. Jal kletterte hinauf, warf einen schnellen Blick um sich und stieg durch ein Fenster des dritten Stockwerkes in sein Haus. Er ging sofort in Niras Zimmer. Sie wartete gespannt und stand auf, als er eintrat. „Alles gutgegangen?“ fragte sie angstvoll. Jal zeigte ihr den roten Zylinder, den er erbeutet hatte. „Niemand hat dich gesehen?“ „Wenn mich jemand gesehen hätte, wäre ich nicht hier, Liebling.“ In diesem Augenblick klingelte es. Ein Zeichen, daß jemand vor der Tür des Korridors stand. Benal fuhr hoch. Nira legte einen Finger auf ihre Lippen, und Jal schloß sich in seinem Schlafzimmer ein. „Wer ist da?“ fragte Nira den unbekannten Besucher. „Hast du niemanden gesehen, Bürgerin?“ flüsterte eine Stimme durch die Tür. „Nein! Warum?“ „Es schien mir, als hörte ich ein Geräusch im Korridor.“ „Ach! Das war ich! Ich habe mir ein Schlafmittel geholt. Ich kann nicht einschlafen.“ 91
Die Stimme murmelte: „Ist Jal Benal in seinem Zimmer?“ „Natürlich! Ich glaube wenigstens. Warte mal! – Ja, er schläft wie ein Baby mit geballten Fäusten.“ „Sehr gut! Entschuldige, Bürgerin. Schlaf gut.“ „Danke, Kowo!“ Schritte entfernten sich in dem langen Korridor. Jal kam in Niras Zimmer zurück. „Verdammter Kerl! Er nimmt die Sache ernst. Manchmal könnte man verrückt werden. Jeder in diesem Haus wird dafür bezahlt, mich zu überwachen.“ Nira küßte ihn zärtlich auf die Wange. „Geduld, Jal. Alles nimmt ein Ende!“ Jal schwenkte den roten Zylinder. „Das ist der Anfang vom Ende“, sagte er mit einem triumphierenden Lächeln. „Diese Bombe wird Kinder bekommen! Ich bin sehr stolz, Meinen Arbeiten über die Funktion Z verdanken es die Erdbewohner, daß sie den Vervielfältiger konstruieren konnten.“ „Bist du sicher, daß der Apparat, den du hier zusammengebaut hast, wirklich funktioniert?“ fragte Nira zweifelnd. „Der funktioniert! Diese Bombe wird uns hundert weitere liefern. Und jede von diesen hundert neuen Bomben kann wieder hundert produzieren und so fort bis ins Unendliche.“ „Und niemand hat einen Augenblick Verdacht geschöpft, als du deinen Vervielfältiger bautest?“ „Nein, ich habe ihn so getarnt, daß er völlig unkenntlich ist. Sie glauben, ich baue einen Sender für Omegastrahlen. Das stimmt auch in gewissem Sinne. Ich habe sie geblendet, als ich neulich auf zehn Kilometer Entfernung einen Felsen zum Schmelzen brachte. Ich habe ihnen versprochen, die Leistung noch zu verbessern, und nun lassen sie mich ruhig arbeiten.“ 92
„Aber wenn du 10 000 Bomben hast“, fragte Nira, „wo willst du sie verstecken?“ „Dazu brauche ich Hilfe. Und du mußt mir das Material liefern. Kannst du Einblick nehmen ln die geheimen Personalakten von Professor Kam und Professor Terol?“ „Ich habe zwar Verbindungen zum Hohen Rat, aber es wird nicht einfach sein.“ Jal legte beide Hände auf Niras Schultern. „Liebling, ich weiß, daß ich dich in ein gefährliches Spiel verstricke, und das tut mir weh. Aber von der Kenntnis dieser Geheimakten hängt der ganze Erfolg unseres Unternehmens ab.“ „Mach dir keine Sorgen, Jal. Ich werde mich schon aus der Patsche ziehen. Morgen abend sollst du die gewünschte Auskunft haben. Morgen muß ich nämlich sowieso dem Hohen Rat meinen monatlichen Bericht erstatten.“ Jal schwieg einen Augenblick. Dann sagte er schlicht: „Ich danke dir, Nira.“ * Am folgenden Tag wurde Nira vom Abwehrchef empfangen. Der dicke Mann blätterte zerstreut in dem Bericht der jungen Frau. „Ich habe das alles gelesen“, sagte er unwirsch. „Wenn ich euch jeden Monat einmal herrufe, sollt ihr mir nicht einfach wiederholen, was ich schon weiß, sondern ihr sollt mir sagen, welchen Gesamteindruck ihr von der Persönlichkeit gewonnen habt, die zu überwachen ist.“ Abwehrchef Tax schob die Unterlippe vor und durchbohrte Nira mit Blicken. „Mein Gesamteindruck, Exzellenz, läßt sich in wenigen Worten zusammenfassen. Die Vermutung, daß Jal Benal ein von der Erde hergeschickter Spion sei, ist zur Gewißheit geworden. Aber die scheinen keinen besonders geschickten Ver93
treter mit dieser Aufgabe betraut zu haben. Jal begnügt sich damit, Anspielungen darauf zu machen, wie glücklich die Leute auf der Erde lebten. Zaghaft versucht er, die geheime Sinnesart der Leute seiner Umgebung zu ergründen. Vielleicht sucht er Rebellen. Benal mag ein großer Gelehrter sein, aber als Spion gibt er eine lächerliche Figur ab. Er macht einen hilflosen Eindruck. Aber wenn ich ihn zum Reden bringen will, schweigt er. Er ist äußerst mißtrauisch, Aber Euer Exzellenz dürfen zu mir Vertrauen haben. Ich werde sicher herausbekommen, nach welchen geheimen Instruktionen Benal vorgeht. Es scheint auch, daß er sich immer mehr in mich verliebt.“ Nira schwieg und mußte lächeln, wenn sie daran dachte, daß nur der letzte Satz der Wahrheit entsprach. Der dicke Abwehrchef rieb sich das Kinn. „Wann kannst du mir endlich berichten, daß Jal Benal dir alles eingestanden hat und dir sein volles Vertrauen schenkt?“ Niras Stimme klang sehr sicher, als sie antwortete: „In einem Monat!“ „Kennst du das so genau voraussagen?“ „Ich kann mich auf mich verlassen!“ Abwehrchef Tax lächelte. „Das will heißen, du kannst dich auf deine Reize verlassen.“ Sein Blick funkelte, „Wenn diese Geschichte vorüber ist, nehme ich dich zur Frau. Ist mal eine Abwechslung nach all den Dummchen, die ich bisher gehabt habe. Aber nun mach, daß du fortkommst.“ Nira wurde tiefrot vor Zorn, als sie der Tür zuschritt, aber das schien Tax Spaß zu machen. Bevor sie hinausging, drehte sie sich noch einmal um: „Exzellenz“, sagte sie wie beiläufig, „ich möchte gern in Jal Benals geheime Personalakte Einblick nehmen.“ „Wende dich an meinen Sekretär, schöne Staatsdienerin!“ 94
Die junge Frau wandte ihm wütend den Rücken zu und ging in das Büro des Sekretärs. Die Stimme des Abwehrchefs näselte im Sprechapparat: „Nira Slid darf Einsicht nehmen in die Geheimakte von Jal Benal. Sie muß sie gründlich studieren.“ „Sehr wohl, Exzellenz“, antwortete der Sekretär. Er winkte Nira und führte sie in einen kleinen Saal, in dem ein Bildschirm stand. Dann beugte er sich über ein Mikrofon und befahl: „Streifen C. S. 177 durchlaufen lassen!“ Fast im selben Augenblick leuchtete der Schirm auf, und langsam glitt ein Text vorüber. C. S. 177 – Jal Benal – angekommen am 27. 3. 3692. Gerettet am 13. 4. 3692. Fünfundfünfzig Jahre. Geboren in Staleve, Afrika. Im Alter von dreiundvierzig Jahren beauftragt mit Vorlesungen an der naturwissenschaftlichen Fakultät von Staleve. Hervorragender Mathematiker. – Nira hielt ihre Augen auf den Schirm gerichtet, ohne mitzulesen. Sie kannte das auswendig. Wie konnte sie aber an die Geheimakten von Kam und Terol kommen? In diesem Augenblick sprach sie der Sekretär an: „Entschuldigen Sie mich, bitte. Ich habe zu arbeiten, und diese Akte hier ist besonders lang,.“ Er trat an den Apparat heran: „Den Befehlen der Bürgerin Nira Slid ist Folge zu leisten.“ Dann ging er fort. Nira jubelte innerlich. Klopfenden Herzens stürzte sie sich auf die Registraturkästen und suchte verzweifelt nach den Kennziffern der Professoren Kam und Terol. Unglücklicherweise waren die Karten nach den Kennziffern geordnet und 95
nicht nach den Namen. Sie blätterte und blätterte, während auf dem Bildschirm der gleiche Text zum fünften Male vorüberrollte. Endlich fand sie den Namen des Professors Kam. Sogleich sprach sie in das Mikrofon. „Stop! Genug von der Akte C. S. 177. Jetzt A. A. 32 durchlaufen lassen!“ Der Bildschirm erlosch. Zwei Minuten später leuchtet er wieder auf, und ein anderer Text rollte ab: A. A. 32 Bob Kam, angekommen am 7: 2. 3570 – Gerettet am 23. 2. 3570. Alter 152 Jahre. Geboren in Frise, Nordamerika, Arzt, Herzspezialist. Zur Verschickung verurteilt wegen Tötung eines unheilbar Kranken. In diesem Augenblick glaubte Nira, jemand kommen zu hören. Sie rief schnell ins Mikrofon: „Anhalten! Danke!“ Der Schirm erlosch gerade, als der Sekretär ins Zimmer zurückkam. „Was machen Sie denn noch hier? Sie studieren die Akte nun schon eine halbe Stunde.“ „Ich traue meinem Gedächtnis nicht“, antwortete Nira. „Deshalb habe ich alles auswendig gelernt.“ Am gleichen Abend berichtete Nira dem Freund von dem halben Erfolg ihrer Bemühungen. „Ich gehe noch einmal hin, um nach der Kennziffer Terols zu suchen.“ „Nein“, sagte Jal. „Das ist zu gefährlich. Einstweilen genügt, was wir über Kam wissen.“ Er überlegte einen Augenblick. „Professor Kam hätte längst begnadigt werden müssen! Er war ja kein gewöhnlicher Verbrecher. Übrigens, nach einer so langen Verbannungszeit hätte er sowieso automatisch begnadigt werden müssen. Wann ist er verurteilt worden?“ „Im Jahre 3570!“ 96
„122 Jahre Verbannung.“ Jal schien in Gedanken versunken. „Warum interessierst du dich eigentlich so für Kam?“ „Ich will ihn zu meinem Verbündeten machen.“ „Glaubst du, daß er darauf eingehen wird?“ „Er ist abgeklärt und weise und ein Feind aller Gewalttätigkeit. Ich habe den Eindruck, daß die offizielle Propaganda keinerlei Wirkung auf ihn ausübt. Er hat die Entstehung dieser Propaganda miterlebt. Er glaubt nicht daran. Er ist einer der ersten Gefährten des ‚Ahnherrn’ Gorvin. Er hat ihn noch im heroischen Zeitalter gekannt, als Gorvin noch nicht vom Machttaumel berauscht war. Wie wir, weiß er sehr wohl, was für eine starke Persönlichkeit der Alte ist, aber von Rachsucht geblendet und, um es offen zu sagen, ein gefährlicher, tollwütiger Narr.“ „Glaubst du das wirklich?“ „Ich bin dessen ganz sicher. Jedesmal, wenn Kam sieht, daß sich alle Häupter neigen, wenn der Name Gorvin genannt wird, dann neigt auch er sein Haupt. Aber ich habe bei solcher Gelegenheit mehr als einmal beobachtet, daß sein Gesicht einen gequälten Ausdruck zeigte.“ „Und Terol? Was willst du von ihm?“ „Unglücklicherweise hast du seine Personalakte nicht lesen können. Aber er ist ein Freund Kams und ich habe den Eindruck, daß beide die gleichen Ansichten vertreten. Wir werden sehen, ob ich mich täusche.“ Er unterbrach Sich. „Nira, fehlt dir etwas? Du bist so eigenartig heute. Was machst du für ein Gesicht? Und deine Finger! Du hältst sie keine Sekunde ruhig.“ Nira sprang auf. Sie wurde ganz rot. „Ich habe dir noch nicht alles gesagt“, murmelte sie. „Exzellenz Tax will mich zu seiner Frau machen.“ Jals Augen wurden ganz klein und funkelten wie die Lichter eines Wolfes. „Erzähle!“ forderte er knapp. 97
„Er hat gesagt: ‚Wenn diese Geschichte zu Ende ist, nehme ich dich zu meiner Frau, Das ist mal eine Abwechslung nach all den Dummchen.’ – Oh, wie ich Tax hasse!“ „Ist das alles?“ „Ja.“ „Er hat dich nicht angerührt?“ „Nein! Aber was sollen wir bloß tun, Jal?“ Benal ballte die Fäuste. „Dieser widerliche Kerl! Versuche, ihn dir vom Leibe zu halten, bis …“ Nira zuckte hilflos mit den Schultern. „Du redest wie ein Erdbewohner. Wie soll ich mir ein Mitglied des Hohen Rates vom Leibe halten? Tax ist allmächtig.“ Jal ging mit langen Schritten im Zimmer auf und ab. Er blieb vor einer Hängematte stehen und zerriß mit vor Wut zitternden Händen die Stoffbespannung. Nira warf sich ihm in die Arme. „Jal, ich werde ihn zum Glück vor Ablauf eines Monats nicht wiedersehen. In einem Monat kann viel geschehen.“ Jal beruhigte sich. Er strich ihr liebkosend über die blonden Locken. „Du hast recht“, sagte er. „Und deshalb muß ich so schnell wie möglich mit Kam zusammentreffen.“ * Professor Kam war die Güte in Person. Man hatte ihn ja verbannt, weil ihn die Leiden seiner Mitmenschen quälten, als sei er selbst der Patient; weil er die Pein eines unheilbar Kranken beendet hatte, als er ihm die tödliche Injektion gab. Er hatte sich widerspruchslos dem Urteil gefügt, ja, sich sogar selbst mutig dazu bekannt, den Todesqualen des Opfers einer Explosionskatastrophe ein Ende gemacht zu haben. 98
Er hatte es für seine Pflicht gehalten, in diesem Fall wider das Gesetz zu handeln. Aber er scheute nicht zurück davor, die Folgen auf sich zu nehmen. Das war eine alte, sehr alte Geschichte. Seither hatte er selbst gegen die Auswüchse der Euthanasie auf dem Mond Stellung genommen. Hier lief sie praktisch darauf hinaus, sich aller unnützen Münder auf bequeme Weise zu entledigen. Kam war dieserhalb mit dem unversöhnlichen Alten mehrfach in Konflikt geraten. Er hatte sich sogar in offener Ratsversammlung kategorisch geweigert, Menschenleben zu opfern. Sein eigenes Leben verdankte er nur der Tatsache, daß er als Wissenschaftler unentbehrlich war. Der alte Professor war geradezu versessen darauf, dem Staat alle die Unglücklichen streitig zu machen, die er retten konnte, und diese Leidenschaft hatte zu sensationellen Entdeckungen geführt, die die Lebensdauer der Menschen ganz beträchtlich verlängert hatten. – Der Besuch Jal Benals schien dem Professor Vergnügen zu bereiten. Jal war entschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Er drückte dem alten Herrn die Hand und ließ dabei zwischen dessen Fingern einen Zettel, auf dem die Worte standen: „Ich habe mit Ihnen zu reden. Sind Sie sicher, daß uns niemand hören kann?“ Erstaunt ließ er Benal in sein Privatbüro eintreten. Sie legten sich in die Hängematten. „Nun, schießen Sie los“, sagte Kam. „Professor, ich bin ein Spion der Erde.“ „Warum erzählen Sie mir das?“ „Weil ich Ihre Hilfe nötig habe, um die Erde mit Ihrem Satelliten auszusöhnen. Ich bin hier allein auf mich gestellt. Die Regierung der Erde hat mir Instruktionen; erteilt, die schwierig durchzuführen sind. Ich weiß, daß Sie ein guter Mensch sind und hoffe, daß Sie mich nicht anzeigen werden, wenn ich Ihnen 99
vorschlage, an einem Werk des Friedens und der Versöhnung mit mir zusammenzuarbeiten.“ „Mein armer Freund“, sagte der Professor, „ich brauche Sie gar nicht mehr anzuzeigen. Was Ihre Persönlichkeit anlangt, so ist der Hohe Rat darüber längst im Bilde.“ „Das weiß ich, Professor. Aber der Hohe Rat ahnt nichts von dem Zweck meines Besuches bei Ihnen. Er weiß wohl über meine Persönlichkeit Bescheid, doch meine Pläne und Absichten kennt er nicht.“ Kam schien in Nachdenken versunken. „Was soll ich Ihnen nützen? Ich bin Arzt. Mein Einfluß auf die Entscheidungen des Rates und des Alten ist gleich Null. Sie zeigen mir schon lange die kalte Schulter.“ „Und Terol?“ „Ah! Der ist ein guter alter Freund von mir. Aber ich gestehe, ich kenne seine Ansichten nicht. Wir haben niemals über Politik gesprochen. Er ist auch ganz von seinen wissenschaftlichen Arbeiten in Anspruch genommen.“ Jal legte seine Hand auf Kams Arm. „Haben Sie Grund zu glauben, daß er auf unserer Seite stehen würde, wenn er alles wüßte?“ „Ich möchte fast sagen: ja. Aber warum liegt Ihnen so viel an seiner Mitarbeit?“ „Wegen seiner Verkleinerungserfindung!“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Wenn wir einen Physiker vom Rang Terols auf unserer Seite haben, ist alles gerettet. Ich beabsichtige, die Rüstungsfabriken und die Waffendepots in die Luft zu sprengen. Ich verfüge über jede beliebige Anzahl Bomben und kann sie durch Fernauslösung zur Explosion bringen. Die einzige Schwierigkeit ist. sie an den vorgesehenen Stellen niederzulegen. Da käme mir solch eine Verkleinerungsglocke gelegen. Ich würde meine Bomben 100
verkleinern. Hunderttausend nähmen nicht mehr Raum ein als eine Handvoll roten Sandes, den ich überall verstreuen könnte Jedes kleine Körnchen stellt eine ungeheure Explosivkraft dar. Aller Angriffswaffen beraubt, muß ja dann die Kriegslüsternheit der Mondherrscher verpuffen.“ „Aber wie können Sie sich denn einen so ungeheuren Vorrat an Bomben beschaffen?“ „Ihr habt auf dem Mond nicht das Monopol für verblüffende Erfindungen. Die Erdbewohner haben einen Apparat konstruiert, den man Multiplikator genannt hat. Es ist mir gelungen, hier ein Modell nachzubauen. Ich habe im Erdgeschoß meiner Fabrik eine Bombe entwendet. Ich kann daraus sofort zehn machen, tausend, eine Million …“ Der Professor rieb sich das Kinn. „Aber wenn diese Bomben einmal reduziert sind, dann ist doch auch ihre Explosivkraft im gleichen Verhältnis reduziert.“ „Das macht nichts“, antwortete Jal, „wenn wir sie an den Stellen niederlegen können, wo sie am wirksamsten sind. Wir streuen zum Beispiel fünfhundert Mikrobomben – das heißt eine Prise Sand – in das Kerngehäuse eines Motors. Wenn die explodieren, was meinen Sie wohl, was das für eine Wirkung hat? – Und nun stellen Sie sich solche Explosionen vor in einem Arsenal.“ Kam erhob sich und ging auf und ab. Schon die Tatsache, daß er sich auf eine Diskussion über diese Dinge einließ, war für Jal beruhigend. Er hatte gewonnenes Spiel, wenigstens was das Moralische anging. Endlich stand der Professor still vor dem jungen Menschen: „Es war sehr gewagt, mir alles dies einzugestehen!“ Jal lächelte. „Eines Tages mußte ich sowieso ein großes Risiko eingehen. Ich habe es nie für möglich gehalten, daß Sie sich einer dem Frieden dienenden Aktion widersetzen könnten.“ 101
„Sie waren Ihrer selbst sehr sicher!“ „Ich habe eine gewisse Begabung, Menschen richtig einzuschätzen.“ Nun mußte der Professor auch lächeln. Er reichte Jal die Hand. „Ich werde mit Terol sprechen. Ich glaube, daß ich mit ihm das gleiche Risiko eingehen kann, das Sie mir gegenüber auf sich genommen haben. Besuchen Sie mich nicht mehr. Die Polizei könnte Verdacht schöpfen. Ich werde Sie wissen lassen, ob Sie auf unsere Hilfe rechnen können.“ * Benals Spitzelsekretär erschien zum Bericht bei Exzellenz Tax. „Nun, alter Freund“, fragte der dicke Minister, „was hat denn unser Bürger alles angestellt inzwischen?“ „Gestern hat er den Professor Kam besucht.“ „Das wissen wir schon. Unsere Polizei wäre nichts wert, wenn wir erst darauf warten müßten, daß Sie uns solche weltbewegenden Dinge mitteilen. Er hat bei seinem sogenannten ‚Lebensretter’ einen Höflichkeitsbesuch gemacht.“ „Glauben Sie das wirklich?“ erkundigte sich der falsche Sekretär. „Was wir glauben, geht euch gar nichts an. Ihr habt eine ganz bestimmt umrissene Aufgabe: nämlich die Tätigkeit Benals in der Fabrik zu überwachen. Die Wissenschaft auf dem Mond soll soviel wie irgend möglich von seinen Kenntnissen und Fähigkeiten profitieren. Gleichzeitig muß man ihm geschickt eine ganz falsche Vorstellung von unseren Machtmitteln beibringen. Glaubt er nun wirklich, sich frei bewegen zu können, in alle unsere Geheimnisse eingeweiht und über den Stand unserer Technik völlig im Bilde zu sein?“ 102
„Sicherlich. Er verbringt seine Zeit damit, uns Vorlesungen zu halten und trägt dabei eine Überlegenheit zur Schau, die mir schon auf die Nerven fällt. Er ist ganz und gar davon überzeugt, daß wir hier auf dem Mond im Vergleich zu den Erdbewohnern die reinen Kinder sind. Er ahnt nicht, daß die Davwerke von untergeordneter Bedeutung sind und verhältnismäßig primitive Maschinen herstellen.“ Exzellenz Tax schnitt ihm die Rede ab. „Nur in einer Beziehung sind uns die Forscher auf der Erde überlegen, nämlich was die vielfachen Verwendungsmöglichkeiten des Problems Stero betrifft. Sobald unsere Mathematiker die Berechnungen Benals nachgeprüft haben, fehlt uns nichts mehr. Mich wundert bloß, daß er sein Geheimnis so ohne weiteres preisgegeben hat.“ Der Sekretär knirschte mit den Zähnen. „Manchmal hätte ich große Lust, ihn mit nach Num zu nehmen und ihm alles zu zeigen: Sieh mal, was wir auf dem Mond fertiggebracht haben. Das und das und das! So was habt ihr bestimmt nicht auf eurer Erde, wie? Und jetzt brauchst du dich nicht mehr so aufzuplustern.“ Tax lächelte. „Ja, das könnte einen reizen! Aber es wäre gegen alle unsere Pläne. Wenn er zur Erde zurückkehrt, muß er von unserer Unterlegenheit durchdrungen sein. Wir machen uns seine Kenntnisse soweit wie irgend möglich zunutze und schicken ihn dann mit einem Sonderauftrag zur Erde zurück. Er wird sich als ein besonders gerissener Doppelagent vorkommen, und die Regierung der Erde wird mach den von ihm gelieferten Auskünften uns für gänzlich unfähig halten, einen ernsthaften Angriffskrieg zu beginnen.“ *
103
Einen Monat lang arbeitete Jal im geheimen. Er baute in die Bombe eine Vorrichtung ein, die es gestattete, sie aus der Entfernung zur Explosion zu bringen. Eines Tages fand er zu Hause einen Brief vor, in dem ihm Kam mitteilte, daß Professor Terol mit allem einverstanden sei. In nächster Zeit werde ein Arzt bei ihm vorsprechen unter dem Vorwand, das Bein noch einmal untersuchen zu müssen, und dem solle er die Bombe übergeben. Kurz darauf bat Jal offiziell um die Erlaubnis, Professor Terol einen Besuch abstatten zu dürfen. Er brauchte seine Mitarbeit, um ein neuartiges Raumschiff fertigzustellen. Exzellenz Tax setzte den Physiker ins Bild und schärfte ihm ein, Jal in Unkenntnis zu lassen über die Fortschritte der Technik auf dem Mond. Der Minister achtete nicht auf das ironische Aufleuchten im Auge des Gelehrten. Der Agent der Erde, und der Physiker des Mondes verhandelten eine gute Stunde lang ganz ernsthaft. Jeder war von einer Anzahl Ingenieuren umgeben, und natürlich war auch der Spitzelsekretär zugegen. Die Wechselreden machten einen durchaus harmlosen Eindruck. Jal versuchte alles mögliche, um die Zeugen zum Hinausgehen zu bewegen. Es war vergebene Liebesmüh. Schließlich verabschiedete sich Terol mit den Worten: „Ich stehe immer zu Ihrer Verfügung. Betrachten Sie meine Wissenschaft als etwas, das ich Ihnen zum Geschenk mache. Mit Ihren Kenntnissen werden Sie das Vielfache an Nutzen daraus ziehen können.“ Jal war etwas verwundert über diese rätselhafte Art, sich auszudrücken, aber als er Terol die Hand gab, spürte er, wie dieser ihm einen kleinen Gegenstand zuspielte. Sobald er allein war, sah er sich das Ding genauer an. Es war eine zylindrische Hülse. Sie war in ein Stück Papier eingewickelt, das Jal sorgsam entfaltete. Darauf standen die Worte: „Das ist Ihre Bombe. Vorsicht, man kann sie leicht verlieren, denn sie 104
ist nur zwei Millimeter lang. Sie sieht etwas anders aus. Ich mußte sie vor der Verkleinerung mit einem Mantel aus Stillit umkleiden. Viel Glück!“ Jal ging in seine Wohnung zurück und nahm Nira mit sich in das geheime Laboratorium, das er sich in einer Grotte seines Privatgartens eingerichtet hatte. Klopfenden Herzens öffnete er die kleine Büchse. Sie enthielt ein kleines leuchtendes Körnchen. Vorsichtig verschloß er es in einer Kapsel. Diese legte er in den Vervielfältiger und stellte den Strom an. Nach einer Viertelstunde war die Kapsel mit einem feinen Sand gefüllt, der aus gut tausend Körnern bestand. „Fertig!“ sagte Jal. „Jetzt brauche ich nur noch das an den richtigen Stellen auszustreuen und kann die Operation wiederholen, so oft es mir notwendig erscheint.“ Nira wandte ein: „Es wird bloß sehr schwierig sein, den Sand zu den richtigen Stellen hinzubringen. Sie wissen, wer du bist. Und du glaubst doch nicht etwa, daß sie dich in alles hineinschauen lassen.“ „Wieso?“ „Du kannst vielleicht einige weniger wichtige Arsenale in die Luft sprengen, aber die Hauptrüstungsindustrie, die vor allem der Stadt Num gehört?“ Jal lächelte. „Mach dir keine Sorgen um Num, Ich weiß, Sie werden mich da niemals hinlassen. Aber ich brauche ja nur Terol zu bitten, die Bomben dort auszustreuen. Er gehört der Kontrollkommission an, die alle Vierteljahre dorthin geschickt wird. Nichts ist einfacher, als ihm den Explosivsand mitzugeben. Die Wunder der Technik in der Stadt Num werden in die Luft gesprengt, wann immer ich will … Und dann habe ich noch eine ganz andere Idee.“ Jal zeigte ihr eine Metallkugel von der Größe einer geballten 105
Faust, die mit zwei flachen Flügeln ausgestattet war. „Weißt du, was das ist?“ fragte er. „Bei dir muß man auf alles gefaßt sein“, lächelte Nira. „Nun, das ist nichts Außergewöhnliches. Du wirst enttäuscht sein!“ „Noch eine Bombe?“ „Keineswegs! Ein einfacher, aber sehr widerstandsfähiger Radioapparat.“ „Was willst du damit anfangen?“ Jal legte seinen Arm um Niras Schulter. „Dasselbe, was wir mit den Bomben gemacht haben, nur noch in viel größere Maßstabe. Wir werden auch diesen Apparat, verkleinern und ihn dann vervielfältigen. Das ergibt ganze Tonnen von Staub, und jedes Körnchen ist ein Sender. Und wenn ich spreche, wird man meine Stimme überall hören. Sie kommt scheinbar aus dem Nichts, in Wirklichkeit aus Milliarden jener winzigen, unsichtbaren Staubkörner.“ Jal drückte Nira an sich. „Ich werde Sätze auf Band sprechen, die die wohlwollende Einstellung der Erde gegenüber den Bewohnern des Mondes beteuern und ständig wiederholt werden. Die Stimme soll ganz leise sein, so daß sie kaum gehört werden kann, denn ich werde den Sender auf Minimalstärke einstellen. Aber dieses dauernde eindringliche Reden vom Frieden wird von allen Bewohnern des Mondes unbewußt aufgenommen werden. Diese psychologische Waffe ist wirksamer als die Bomben, die ich nur im äußersten Notfall zur Explosion bringen werde.“ „Aber Jal“, sagte, Nira, „das erfordert doch eine unendliche Arbeit und viel, viel Zeit, um Tonnen und Tonnen solcher winzigen Sender herzustellen.“ Triumphierend und glücklich brach Jal in ein zuversichtliches Lachen aus. 106
„Nira, Liebste, du hast noch nicht alles gesehen … Schau einmal her!“ Er wies mit einem Finger auf den kleinen Kugelsender und drehte an einer Kurbel. Nira sah neben der ersten Kugel eine zweite erscheinen. Dann hüllte sich jede von diesen in einen Schimmer, und schon wurden zwei weitere Kugeln sichtbar. Auch diese verdoppelten sich im Umsehen, so daß auf dem Tisch schon acht Kugeln lagen, von denen zwei auf den Fußboden rollten. Jal drehte schnell die Kurbel rückwärts. „Was sagst du dazu?“ Nira war ganz verblüfft. „Wie hast du das bloß gemacht?“ „Jeder Sender ist sein eigener Vervielfältiger, das heißt, ein einziger Sender in jeder Stadt kann sich unbegrenzt vervielfältigen und genügt, um den Mond mit Propaganda zu überschwemmen. Dieser Staub wird überall eindringen wie die Mikroben einer Epidemie. Ich brauche den Staub kaum woanders auszustreuen als in der Stadt Dav. Die Menschen werden ihn an den Sohlen ihrer Schuhe überallhin verschleppen. Ich habe sehr gearbeitet, um dies Resultat zu erreichen. Du hast wohl gemerkt, daß ich die Kurbel nicht tief hineingestoßen habe. Sonst hätten wir flüchten müssen vor der überwältigenden Masse von Tausenden von Kugeln, die sich mit Blitzesschnelle vermehrt hätten. Diese Gefahr besteht nicht mehr, wenn wir die Kugeln erst auf Staubkorngröße reduziert haben.“ „Warum machst du es nicht ebenso mit den Bomben?“ „Das wäre zu gefährlich. Staub kann man nicht mehr unter Kontrolle halten. Alles würde in die Luft fliegen. Ein fürchterliches Massensterben. Wenn irgend möglich, wollen wir den Frieden ohne Gewaltanwendung sichern.“
107
Stimme der Erde Es geschah unmittelbar nach der Stunde des Gebets. Kaum war der letzte Satz der Anrufung von der Menge nachgesprochen worden, als plötzlich überall eine freundliche, wohlwollende Stimme ertönte. Sie füllte die Straßen und Häuser, die Amtsräume, die Gärten und Parks, ja, erklang selbst in den Flugapparaten und den Raketen. Allgegenwärtig richtete sie an alle Mondbewohner die folgende Ansprache: „Bewohner des Mondes! Ihr habt es nicht nötig, die Erde zu erobern. Sie bietet euch ihre Freundschaft an. Eure Führer haben euch belogen. Die Erde hegt keinerlei kriegerische Absichten. Dennoch wäre es für sie ein leichtes, eure Angriffswaffen zu zerstören und euch zu vernichten. Verlaßt die Arsenale, meidet die Industriestädte, denn wenn eure falschen Führer ihre kriegerischen Absichten verwirklichen wollen, werden wir gezwungen sein, alle Rüstungswerke in die Luft zu sprengen. Die Erde ist nicht euer Feind. Die Erde bietet euch die Freiheit an. Die Erde ist nicht euer Feind. Die Erde bietet euch …“ Die Stimme wurde immer leiser, schien schließlich ganz zu verstummen. In Wirklichkeit fuhr sie fort, kaum vernehmbar mit den letzten Sätzen auf das Unterbewußtsein der Hörer einzuwirken. Die Menschenmenge, die sich nach dem Gebet schon wieder in Bewegung gesetzt hatte, schien plötzlich wie erstarrt. Alle Gesichter richteten sich empor zu dem gewaltigen Ball der Erde, der über ihnen im Himmel schwebte. Nachdem das erste verblüffte Staunen abgeklungen war, begannen die Leute, ihre Meinungen auszutauschen. Sie lehnten sich aus allen Fenstern und fragten sich, was denn eigentlich los sei. In der ganzen Stadt schien es aufgeregt zu summen wie in 108
einem Bienenkorb. Übelgelaunte Polizisten forderten ständig die Menge auf, nicht stehenzubleiben und weiterzugehen. Aber die Menge gehorchte nicht mehr. Es bildeten sich Gruppen, die untereinander diskutierten. Erst als dicht mit Polizisten besetzte Flugboote eingesetzt wurden, gelang es, die Ansammlungen zu zerstreuen. Die gleichen Szenen spielten sich in allen Städten des Mondes ab. * In diesem Augenblick landeten drei Polizeiflugboote mit heulenden Sirenen und sperrten die Straße in der ganzen Breite. Die Wachsoldaten sprangen heraus und trieben die Menge vor sich her auf die Schleuse zu. Einer von ihnen stand Jal gegenüber und richtete blitzenden Auges die Waffe auf ihn. Doch Jal war schneller. Er schoß und sprang über den Leichnam, Nira bei seiner Flucht mit sich reißend. Sie rannten in eine Seitenstraße, traten in ein Gebäude und ließen sich durch den magnetischen Aufzug bis in das oberste Stockwerk tragen. „Man hat mich erkannt. Man sucht mich“, sagte Jal. „Wir müssen unbedingt zurück zum Palast. Dort ist der einzige Ort, wo man mich nicht vermutet.“ Er blickte vorsichtig durch ein Fenster. Die Straße wimmelte von Wachsoldaten, die schon anfingen, die Häuser zu durchsuchen. Nach dem ersten Durcheinander schien die Regierung wieder Herr der Lage zu sein. Jal winkte Nira, ihm zu folgen und trat auf eine Terrasse hinaus, auf der fünf Flugboote standen. Sie bestiegen eines davon und flogen auf das Zentrum der Stadt zu. Benal steuerte mit einer Hand, sah nach der Uhr und sprach in seinen Sender. 109
„Bewohner des Mondes! Die Stunde hat geschlagen. Wir geben euch noch eine Frist von dreißig Minuten. Verlaßt die Arsenale! Heraus aus den Industriestädten. Die Erde ist euch freundlich gesonnen. Die Erde bietet euch die Freiheit an.“ Jal warf einen Blick nach unten. Seine Züge entspannten sich. Er mußte lächeln, als er sah, wie die Menge ehrfürchtig und angstvoll zur Erde emporstarrte. Das Flugboot landete mitten im Regierungsviertel auf einer Terrasse in unmittelbarer Nähe des Palastes. Nira und Jal legten die schweren Schuhe ab, sprangen über die Straße und klammerten sich am Dach des großen Gebäudes fest. Nira, die die Örtlichkeit gut kannte, gab Jal ein Zeichen. Sie kletterten durch ein Fenster und schlichen durch einen langen Korridor. Schließlich machte die junge Frau vor einer Tür halt und nannte laut ihren Namen. Die Tür wurde durchsichtig und löste sich auf. Sie blickten in eine Flucht von großen Zimmern. Die Wände bestanden aus numerierten Regalen, die bis zur Decke mit metallenen Spulen gefüllt waren. „Manche Spulen enthalten Tonbänder.“ „Das sind die Archive“, erklärte Nira. „Die meisten enthalten einen geschriebenen Text, dessen Worte auf einem Bildschirm vorübergleiten.“ Sie zog Jal mit sich in einen Saal, der kleiner war als die anderen. „Hier wird uns niemand suchen. Ich habe früher in der Archivabteilung gearbeitet. In zwei Jahren hat man aus diesem Raum nur ein einziges Mal eine Spule angefordert.“ „Welche Sektion ist das hier?“ „Keine Ahnung. Man verlangt die Spulen nach den Nummern. Dann gleiten sie in eine magnetische Rohrleitung und steigen empor zu einer oberen Etage. Das ist alles. Nach Einsichtnahme kommen sie auf demselben Wege zurück.“ „Wie kommt es, daß wir hier niemandem begegnet sind?“ Nira lächelte: „Alles vollzieht sich hier ganz automatisch.“ 110
Sie nahm Jals Arm und zeigte ihm, was gerade in dem benachbarten Raum vorging. „Sieh genau hin!“ Er wandte den Kopf und sah, wie zwei Spulen langsam aus ihren Fächern herausrollten, von einem laufenden Band erfaßt wurden und von selbst in die magnetische Rohrleitung hineinglitten. Jal sah nach der Uhr. Er wurde bleich und legte einen Finger auf seine Lippen. Dann sprach er in das Mikrofon an seinem Handgelenk. „Bewohner des Mondes! Die Erde wird euch zeigen, über welche gewaltigen Machtmittel sie verfügt. Achtung: Die Arsenale und die Fabriken werden gesprengt!“ Er griff nach dem Auslöser unter seiner Achsel und legte den kleinen Hebel um. Nira preßte die Lippen zusammen und schloß die Augen. Dann sah sie Jal lächeln. Er warf den Auslöser in eine Ecke. „Es ist geschehen! Das Ding ist nun überflüssig. Du wartest wohl darauf, eine furchtbare Detonation zu hören?“ Nira nickte. „Kleines Dummchen!“ sagte Jal und zog sie an sich. „Du weißt doch, daß es in Ptol keine Fabriken gibt. Aber Num, Dav und Sacram sind jetzt nur noch rauchende Trümmerhaufen.“ Er nahm wieder seinen Sender zur Hand. „Bewohnern des Mondes! Eure Regierung verfügt nicht mehr über interplanetarische Waffen, und es dauert Monate, bis sie wieder Ferngeschosse herstellen kann. Die Regierung ist euch auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Vergeßt nicht, daß die Erde euch freundlich gesonnen ist. Die Erde bietet euch die Freiheit an.“ *
111
An der Hauptzugangsstraße zum Regierungspalast wurde die Menge durch eine starke Polizeitruppe aufgehalten. Sie versuchte, durch eine Nebenstraße zum Palast vorzudringen. Neue Sperre! Der Sitz der Regierung war durch einen Gürtel bis an die Zähne bewaffneter Soldaten gesichert. Als die Menge zögernd zum Angriff vorging, wurde sie zurückgeworfen. In den Straßen lagen die Leichen der Gefallenen. Plötzlich ließ sich die Stimme der Erde wieder vernehmen: „Bewohner des Mondes! Eure Regierung muß abdanken. Sucht ihren Fall nicht mit Gewalt zu erzwingen. Das ist nicht eure Aufgabe. Geht in eure Wohnungen. Jeder Bürger, der dazu in, der Lage ist, soll Flüchtlinge bei sich aufnehmen. Habt keine Angst! Die Erde wacht über euer Wohlergehen. Bald wird die Erde Truppen schicken, die die Ordnung wiederherstellen. Nur noch wenige Tage Geduld! Die Erde ist euch freundlich gesonnen. Die Erde bietet euch die Freiheit an.“ Nachdem er gesprochen, betrachtete Jal nachdenklich die Menge, die Freudenschreie ausstieß und allmählich auseinanderging. Nur die Wachsoldaten verharrten in ihrer feindseligen Haltung. Jal trat vom Fenster zurück. Seinen Mund verzog ein trauriges Lächeln. „Wenn sie die Wahrheit wüßten!“ sagte er. „Was meinst du damit?“ „Wenn sie wüßten, daß all dies von einem einzigen Menschen ausgeht, der sich wie ein Verbrecher verbergen muß. Ich frage mich: Was kann ich bloß tun, um die Erde in Kenntnis zu setzen, was hier auf dem Mond vorgeht? Es ist ein Unglück, daß es unmöglich ist, mit der Erde in Funkverbindung zu treten. Die Erde wartet darauf, daß ich zurückkomme und Bericht er112
statte. Ich muß unbedingt eine Möglichkeit finden, zur Erde zu starten. Weißt du, wo wir ein Raumschiff finden könnten?“ „Du hast sie ja alle zerstört!“ „Ich habe nur die Raumkriegsschiffe zerstört.“ Nira dachte angestrengt nach. „Warte“, sagte sie. „Da ist noch der Flugplatz auf dem Dach des Palastes. Aber er wird sicher scharf bewacht. Dort stehen kleine Apparate, die höchstens drei Personen aufnehmen können. Sie werden benutzt, um Spione zur Erde zu schicken. Tem hat mir davon erzählt. Er ist mehrmals mit einem Sonderauftrag zur Erde geflogen.“ „Wunderbar!“ rief Jal. „Mehr brauchen wir ja nicht. Ein kleiner Apparat ist sogar besser. Man kann ihn am Himmel nicht so leicht ausmachen. Du mußt mich hinführen.“ „Das ist eine gewagte Sache, Jal!“ „Es ist unsere einzige Chance. Wir müssen es versuchen! Wir wollen doch nicht ewig hier auf dem Mond bleiben! Aber erst will ich noch einmal die Bandaufnahme meiner Ansprache kontrollieren!“ Sie gingen in den kleinen Saal, in dem Jal hinter den Spulen in einem Regal den Elektronenapparat versteckt hatte. Mit Niras Hilfe war es ihm gelungen, einen Schrank zu finden, in dem Ersatzteile und unbesprochene Spulen lagen. Jal hatte sofort auf ein Band einen Text gesprochen. Kaum hörbar wurden dauernd die Worte des Friedensangebotes wiederholt. Alle vier Stunden wurde die Stimme lauter: „Bewohner des Mondes! Nur noch wenige Tage Geduld. Die Erde wacht über euer Wohlergehen!“ So weit war Jal beruhigt. Er konnte fortgehen, ja selbst zur Erde zurückkehren. Die Worte reiner Propaganda würden dennoch unaufhörlich den Bewohnern des Mondes in den Ohren dröhnen. Er prüfte noch einmal, ob der Apparat einwandfrei funktio113
nierte. Dann stellte er ihn an und versteckte den kleinen Sender, den er am Handgelenk trug, in einer Nische. Jal und Nira gingen in den großen Saal zurück. Jal stand einen Augenblick still vor den Regalen mit den Tausenden von Spulen. Von Zeit zu Zeit rollte eine auf eine Schiene, kam bei der magnetischen Rohrleitung an und stieg empor zu der oberen Etage. Andere kamen auf dem umgekehrten Wege zurück. „Sie arbeiten immer noch da oben“, sagte er. „Wenn ich das alles hier zerstöre, würden sie schön in der Klemme sitzen.“ Eine Spule glitt an ihm vorbei. Er streckte die Hand nach ihr aus. Doch Nira hielt ihn zurück. „Du bist verrückt“, sagte sie. „Wenn das nicht funktioniert, kommen sie sofort herunter, um zu sehen, was los ist. Willst du etwa, daß sie deinen Elektronenapparat entdecken?“ „Du hast recht“, sagte Jal. Er ließ die Spule weiterrollen. Sie glitt langsam auf die Rohrleitung zu und verschwand nach oben. Jal sah ihr nach mit einem Gefühl des Unbehagens. Dann zuckte er mit den Schultern und steckte einen Todesstrahler in den Gürtel, nahm einen anderen in die Hand und reichte Nira einen dritten. „Vielleicht wird alles schiefgehen“, sagte er. „Gib mir einen Kuß, Liebste.“ Sie umarmten sich. Jal sah Nira in die Äugen. „Ich habe richtig Angst gehabt“, sagte er. „Aber wir werden es schon schaffen. Komm, Nira, zeige mir den Weg.“ Lebenswellen Die Spule, nach der Jal die Hand ausgestreckt hatte, kam in der oberen Etage an. Ein Beamter nahm sie in die Hand und prüfte die Nummer. Dann steckte er sie wieder in eine andere Rohrleitung, die sie in eine noch höhere Etage beförderte. Dort legte sie ein anderer Beamter in einen Apparat. 114
Die Spule rollte langsam ab, und der Text erschien auf dem Bildschirm im Büro des Abwehrchefs. Vor den Augen des Dicken glitten die Worte vorüber: „C. S. Jal Benal, angekommen am 27. 3. 3692. Gerettet am 13. 4. 3692. Alter: 55 Jahre – geboren in Staleve.“ Ungeduldig mit den Fingern trommelnd, wartete Exzellenz Tax auf die Fortsetzung. Endlich las er das, worauf es ihm ankam. „Lebenswellenlänge: 87 Typus A 2.“ Er machte sich eine Notiz und sprach in das Mikrofon: „Genug! Danke!“ Der Schirm erlosch. Hastig riß der Dicke die Tür auf, die zum Büro seines Sekretärs führte. Wütend mußte er feststellen, daß die Hängematte leer war. „Verräter! Man muß alles selbst machen!“ murmelte er. Er trat vor einen an der Wand befestigten Plan der Stadt, blickte auf seine Notiz und drückte erst einen schwarzen mit A 2 bezeichneten Knopf, danach zwei rote Knöpfe: 8 und 7. In der Mitte des Plans leuchtete ein Punkt auf. Exzellenz Tax fuhr hoch, stürzte zum Mikrofon und brüllte aufgeregt hinein: „Generalalarm! Der Mann, den wir suchen, ist im Palast verborgen. Achtung! Achtung! Lebenswellenlänge 87 – Typ A. Wiederholen!“ Er stampfte ungeduldig mit dem Fuß: „Hallo! Hört denn niemand?“ Er schlug mit der Faust auf das Mikrofon: „Hallo, Mox! Was ist denn los?“ Eine Stimme näselte: „Verzeihung, Exzellenz! Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Die Hälfte meiner Leute fehlt.“ „Die Verräter!“ tobte der Dicke. „Generalalarm! Jal Benal ist im Palast. Lebenswellenlänge: 87 – A 2. Er muß schnellstens gefunden werden, und vor allem, nehmt ihn nur gefangen. Der Alte will ihn unter allen Umständen lebendig haben! Damit 115
kein Malheur passiert, bewaffnet euch vorsichtshalber nur mit den Lähmstrahlern!“ * Jal und Nira rannten einen langen Korridor entlang, der kein Ende nehmen wollte. Endlich kamen sie an einem magnetischen Schacht an und ließen sich zehn Etagen nach oben tragen. Dort hielt sie ein Wachsoldat an. Nira Slid rief ihm zu. „Sonderauftrag! Sind die Raumschiffe startbereit?“ „Jawohl“, sagte der Mann und trat zurück. „Bitte, Bürgerin!“ Er sah Jal mit verlorenem Blick an. In diesem Augenblick ertönte ein Klingelzeichen. Der Wächter hob den Hörer des Fernsprechers ab: „Jawohl!“ sagte er, „verstanden!“ Sofort lief er hinter Nira und Jal her, die schon weitergegangen waren. „Halt!“ schrie er, und die Flüchtlinge standen still. „Tut mir leid, Bürger“, sagte er und schritt auf Jal zu. „Es ist Generalalarm befohlen!“ Er musterte Jal argwöhnisch von oben bis unten, legte seine Hand an die Waffe und wandte sich an Nira. „Sie scheinen es beide eilig zu haben. Zeigen Sie mir bitte Ihren Sonderausweis!“ Jal zögerte einen Augenblick. Dann stieß er dem Wächter den Lauf seines Todesstrahlers in den Leib, so daß er auf den Rücken fiel. Doch ging die Waffe des Soldaten von selbst los, und Jal spürte ein wahnsinniges Brennen am linken Ohr. Es entfuhr ihm ein Schmerzensschrei, und er griff unwillkürlich mit der Hand nach der Wunde, Das machte sich der Wächter zunutze, umklammerte Jals Beine, so daß er hinstürzte, und suchte nach seiner Waffe. Aber schon richtete Nira drohend ihren Todesstrahler auf 116
ihn. Der Mann wurde blaß. Jal stand auf und versetzte ihm mit dem Kolben einen Schlag hinter das Ohr. Der Wächter sackte zusammen, Jal stürzte sich auf ihn, nahm ihm den Helm und den Brustpanzer ab und streifte beides über. Nira winkte ihm und zog ihn mit sich auf die Terrasse, Dort schritt ein zweiter Wächter gravitätisch auf und ab. „Sonderauftrag!“ log Nira wieder. „Ich bin die Agentin Nira Slid.“ „Den schriftlichen Befehl, Bürgerin, wir haben Generalalarm.“ „Sie hat ihn mir schon gezeigt“, sagte Jal im Brustton der Überzeugung. Aber der Wächter blieb mißtrauisch. Er wandte sich an Jal: „Wo kommst du denn her? Ich kenne dich ja gar nicht!“ „Ich bin erst seit einer Woche in der Wachkompanie.“ Der Mann kniff die Augen zusammen. „Ich denke, heute hat Dol Dienst in der unteren Etage?“ „Er ist krank. Deshalb mußte ich einspringen. Also, machst du nun endlich das Abschußrohr auf? Ja oder nein?“ Der Wächter zuckte die Achseln und holte den magnetischen Schlüssel aus der Tasche. Er schritt auf eine metallene Tür zu. Jal ging an seiner Seite. Plötzlich stand der Mann still. Er hatte bemerkt, daß Jals Ohr blutete. Er trat einen Schritt zurück und sagte: „Ich muß unbedingt euren Sonderausweis sehen!“ Seine Hand tastete nach der Waffe. Jal sprang vor und wollte ihm einen Kolbenhieb versetzen, verfehlte jedoch sein Ziel, Sein Gegner war mit katzenartiger Behendigkeit ausgewichen. Durch den Schwung fortgerissen, flog Jal in seine Arme. Beide stürzten zu Boden, und es entspann sich ein verzweifelter Ringkampf. Keiner konnte seine Waffe benutzen, und auch Nira wagte nicht zu schießen. Der Soldat war sehr kräftig. Als er unter Benal lag, stieß er 117
ihm das Knie in den Leib. Jal rollte zur Seite und unterdrückte ein Stöhnen. Sofort richtete sich der andere auf, warf sich über Jal und packte ihn an der Gurgel. Jal schlug ihm mehrmals mit der Handkante ins Genick. Die würgenden Fiiger lockerten sich. Noch ein Fausthieb gegen den Hals, und der Mann fiel hintenüber zu Boden. Er blieb wie leblos liegen. „Schnell, schnell!“ keuchte Jal. „Den Schlüssel!“ „Zu spät“, sagte Nira mit müder Stimme. „Er ist bei eurem Kampf über das Geländer gefallen. Ich habe es genau gesehen.“ Da stürzten auch schon fünf Männer auf die Terrasse und richteten ihre Lähmungsstrahler auf die beiden jungen Leute. Jal und Nira waren unfähig, auch nur den kleinen Finger zu heben. Das ist genauso wie bei den verfluchten Gors, dachte Jal noch. * In Erwartung weiterer Befehle schloß man die beiden erst einmal in ein kleines Zimmer ein. Jal nahm Nira in die Arme. „Ich glaube, dieses Mal ist das Spiel endgültig verloren. Es wäre besser gewesen, wenn du mich niemals kennengelernt hättest.“ „Jal, Liebling.“ Benal fühlte, wie Niras Hände, sich verkrampften. Er sah ihr ins Gesicht. Ihre Augen waren angstvoll aufgerissen. „Was gibt es, Liebste?“ „Oh, Jal, dein Ohr!“ „Das ist doch bloß eine Schramme!“ „Dein Ohr ist ganz grün!“ Jal fuhr hoch. „Gerechter Himmel! Trichostie!“ 118
„Man muß sofort den Professor Kam holen. Sonst bist du verloren.“ „Kam?“ Jal hielt den Atem an. „Gewiß, Kam hat mir schon einmal das Leben gerettet. Er wird es wieder tun.“ Sein Herz schlug schnell. Er sah Nira an und lächelte. Nira öffnete den Mund. Ihre Augen wurden ganz klein. „Ich glaube“, sagte Jal, „wir haben denselben Gedanken gehabt.“ „Ja“, hauchte Nira. „Vielleicht können wir mit Kam zusammen nach dieser Operation doch noch etwas unternehmen.“ Niras Gesicht hellte sich auf. Sie führte ihre Hand zum Mund und biß hinein, bis das Blut aufspritzte. Jal war ganz bestürzt. „Du bist wohl verrückt? Du blutest ja!“ Sie berührte Jals Ohr mit dem verletzten Finger. Jal wich zurück. „Nira, was soll das?“ „Das siehst du ja!“ Damit rieb sie sich Jals Blut in die Wunde an ihrem Finger. „Ich impfe mir Trichostie ein!“ „Du bist wahnsinnig!“ „Nein! Es ist das einzige Mittel, um zu erzwingen, daß sie uns beisammen lassen. Wenn die Operation mißlänge, würde ich dich niemals wiedersehen. Wenn sie gelingen, und Kam dir zur Flucht verhelfen würde, flögst du allein zur Erde zurück, und Gott weiß, wann wir uns wiedersehen. Glaube mir: Das, was ich getan habe, ist die einzige Lösung.“ „Und wenn sie uns sterben lassen?“ Nira schüttelte den Kopf. „Sie brauchen uns, um uns zum Reden zu bringen. Sonst hätten sie uns schon gleich wie tolle Hunde niederschießen lassen. Sie werden uns sicher sofort in Kams Behandlung ge119
ben.“ Sie betrachtete ihren Finger und unterdrückte einen Freudenlaut. „Sieh nur, Jal!“ Er neigte sich über ihre Hand. Rings um die Wunde hatte sich schon ein schmaler, grünlicher Kranz gebildet. Rakete ab „Meine Kranken brauchen Ruhe!“ entrüstete sich Professor Kam. „Ich stehe für nichts ein, wenn man ihnen in ihr Zimmer einen Wachposten setzt.“ Das Gesicht des Anklagevertreters Mox zeigte auf dem Bildschirm einen verärgerten Ausdruck. „Nun gut, Professor. Tun Sie, was Sie für richtig halten. Ich werde meine Leute anweisen, den Korridor zu bewachen. Aber Sie müssen wissen, daß Gorvin gerade an diesen beiden Gefangenen außerordentlich viel liegt.“ „Ich weiß, ich weiß. Keine Angst“, sagte Kam. „Auf Wiedersehen, junger Mann!“ Damit löste er die Verbindung und ging hinüber zu dem Zimmer, in dem Jal und Nira gemeinsam untergebracht waren. Zwei Soldaten hielten Wache an ihren Betten. Der Professor trat ein und sagte: „Ich habe eben mit Mox gesprochen. Ihr könnt euch die Beine im Korridor vertreten.“ „Der Befehl lautet, daß wir in diesem Zimmer bleiben sollen“, wandte einer von beiden ein. „Wir haben noch keinen ausdrücklichen Gegenbefehl.“ „Laßt mich jetzt mit den Kranken allein, verstanden? Schließt hinter mir die Tür.“ Die Soldaten sahen sich an, zögerten noch ein wenig, gingen dann aber doch hinaus. 120
Professor Kam trat an die Betten heran. „Nun, Professor“, meinte Jal. „Jetzt werden wieder die kleinen Ritter auf den Plan müssen.“ „Nein“, lächelte Kam. „Denkt ihr denn, wir hätten seit jener Operation geschlafen? Jetzt haben wir ein Serum zu unserer Verfügung. Eine Spritze in die Hüfte, und die Trichos sind erledigt.“ Er senkte die Stimme. „Es war nicht leicht, die Wachposten loszuwerden. Wir müssen euch also heute abend zum Schein operieren. Ich werde euch eine Spritze geben unter dem Vorwand, euch einzuschläfern. In Wirklichkeit spritzen wir euch das Serum ein. Ihr müßt dann so tun, als läget ihr in tiefem Schlaf. Sowie ihr dann erst im Mikro-Labor seid, werdet ihr verkleinert und verschwindet. Die Wachsoldaten finden euch dann nicht mehr. Ihr könnt euch auf mich verlassen.“ Er legte den Finger auf die Lippen und ging hinaus. * „Dieser Bengel hat uns alle an der Nase herumgeführt“, sagte Exzellenz Tax. „Man hat seine Berechnungen der Funktion Z nachgeprüft. Sie sind mit voller Absicht gefälscht. Wann kann Benal vernommen werden?“ „Morgen“, antwortete Professor Kam. „Augenblicklich liegen er und seine Helferin in der Narkose. Wir wollen gerade operieren.“ „Rettet sie um jeden Preis, Professor. Ich muß Ihnen offen sagen: Die letzte Hoffnung für das Weiterbestehen unserer Zivilisation beruht auf Ihrer Geschicklichkeit. Wir müssen unbedingt alle Gedanken erfahren, die sich noch im Hirn dieses Spions verbergen.“ 121
„Ich werde sie retten“, sagte Kam mit zweideutigem Lächeln. „Sie sind nicht zu schwach, um eine Gehirndurchleuchtung zu ertragen?“ „Keinesfalls! Darüber können Sie Gorvin beruhigen.“ Er trennte die Verbindung. Das fette Gesicht des Abwehrchefs verschwand. Der Bildschirm wurde wieder undurchsichtig. Kam verließ sein Büro und begab sich in den Operationssaal. Die Tür wurde von Polizisten bewacht. Kam bedeutete ihnen durch einen Wink, daß sie im Korridor zu bleiben hätten und machte die Tür hinter sich zu. Im Saal drängten sich die Studenten. Jal und Nira lagen auf zwei Operationstischen. Als die Tür geschlossen worden war, ließ Kam die beiden in einem Flugboot Platz nehmen, das hinter der Trennwand des riesigen Labors gestanden hatte. Die beiden scheinbar narkotisierten Patienten gehorchten Kams Anweisungen. Der Physiker Terol stieg mit ihnen ein, um den Apparat zu steuern. „Nun, Kam, noch einmal! Wollen Sie uns wirklich nicht begleiten?“ „Nein“, sagte Kanu. Er deutete mit der Hand auf die Studenten. „Ich will nicht, daß diese jungen Menschen der Mitwisserschaft verdächtigt werden. Wenn wir angeklagt werden, nehme ich allein die ganze Verantwortung auf mich. – Beeilt euch jetzt!“ Er drückte den dreien bewegt die Hände und schloß die Kabine. Der Glasschirm senkte sich. Die Hälfte des Saales schien in ein orangefarbenes Licht getaucht, und die Kabine schrumpfte zusehends zusammen. Als sie nur noch so groß wie eine Streichholzschachtel war, hob sich der Glasschirm wieder. Kam 122
nahm das kleine Ding vorsichtig in die Hand und betrachtete es genau. Er winkte den drei winzigen Insassen zum Abschied zu und setzte das Flugboot auf das Sims eines offenen Fensters. Es schwirrte davon wie ein seltsames Insekt und verschwand. Professor Kam wandte sich an die Studenten: „Nach Ansicht der Regierung ist Terol ein Verräter, der unseren Argwohn eingeschläfert hat, um mit den Gefangenen zu entfliehen. Ich hoffe, daß die Bewohner der Erde uns zu Hilfe kommen, bevor die Polizei hier ihre Untersuchungen zu weit vorgetrieben hat.“ Kam ergriff einen Gegenstand, der einem Kinderball ähnlich sah und warf ihn auf den Boden, wo er explodierte. Es entwickelte sich ein grünliches Gas. Alle im Saal Anwesenden und auch Kam selbst fielen um und versanken in einen todesähnlichen Schlaf. Vor Ablauf von drei Tagen würde es unmöglich sein, sie zu vernehmen. Als sie die Explosion hörten, stürmten die Wachsoldaten in den Operationssaal und gaben sofort das Zeichen zum Generalalarm. * Das kleine Flugboot gewann an Höhe. Es erhob sich bis zur letzten Terrasse des Palastes, wo die Abschußrohre für die interplanetarischen Raketen montiert waren. Der Apparat landete dicht vor der metallenen Tür zu dem Hangar der Raumschiffe. Jal wollte aussteigen. „Warten Sie“, bat Terol. „Erst den Schutzanzug anziehen.“ Er deutete mit: der Hand auf drei Weltraumpanzer, die er vorsichtshalber mitgenommen hatte. Seine Gefährten gehorchten. Wohlausgerüstet kletterten die drei Liliputaner aus dem Minia123
turflugboot. Sie bückten sich, und konnten so durch die Türritze kriechen. Als sie sich in dem Hangar wieder aufrichteten, ließ ein donnerähnliches Geräusch sie erschreckt zusammenfahren. Es kam von der Terrasse. Jal blickte durch den Türspalt. Da stand ein riesiger Wachsoldat, faul an das Geländer gelehnt, und scharrte aus Langeweile mit den Füßen. Er schien dreihundert Meter groß zu sein. Er gähnte laut. Es hörte sich an wie das Brüllen eines vorweltlichen Untiers. Als Jal merkte, daß der Riese, zu ihm herschaute, wich er unwillkürlich zurück. Dann aber überlegte er: Ein so winziges Männchen im Schatten der Tür stand nicht in Gefahr, entdeckt zu werden. Plötzlich machte, der Mann große Augen. Jal folgte der Richtung seines Blickes, und das Herz begann ihm zu schlagen. Der Riese hatte das kleine Flugboot entdeckt. Er schritt schwerfällig darauf zu, so daß der Zementfußboden der Terrasse erzitterte, und bückte sich. Jal sah, wie er das winzige Ding in seine riesige behaarte Hand nahm. „Donnerwetter! Was ist denn das?“ grölte er, daß Jals Ohren schmerzten. . Er betrachtete das kleine Flugboot von allen Seiten. „Ein hübsches Spielzeug! Ein hübsches Spielzeug. Das gehört sicher Sled. Der hat einen kleinen Jungen.“ Er steckte das Ding in seine Tasche und lehnte sich wieder an die Brüstung. Jal gab seinen Gefährten ein Zeichen. Die Gefahr war vorüber. „Ich glaube, daß wir ruhig miteinander reden können“, meinte Terol. „Selbst wenn wir mit aller Kraft brüllen würden, wären unsere Stimmen zu schwach, als daß sie ein Mensch normaler Größe vernehmen, könnte. Die einzige Gefahr ist, daß man aus 124
Versehen auf uns tritt oder uns sieht. Aber auf drei so kleine Flöhe wird man nicht weiter achten.“ „Oh, sieh einmal, Jal!“ rief Nira. Eine Wolke von hundert kleinen mit Flügeln versehenen Kugeln zog über ihnen dahin. Sie schwebten langsam zu Boden, prallten aber wie Seifenblasen wieder hoch, sobald ein leichter Luftzug durch die Türspalte wehte. „Das sind eure Miniatursender“, sagte Terol. „Wir sind eben schon durch Schwärme von Tausenden hindurchgeflogen.“ Er lächelte. „Aber ihr wart zu sehr miteinander beschäftigt, um darauf zu achten.“ Er betrachtete nachdenklich die riesigen Raumschiffe. „Und da sollen wir Zwerge nun einsteigen?“ „Wie, frage ich mich“, sagte Jal. „Die Schleusentür liegt mindestens zwanzig Meter über unseren Köpfen. Oder besser gesagt: zwanzig Millimeter.“ Sie gingen auf ein Raumschiff zu. „Wir müssen klare Köpfe behalten“, mahnte Jal; „Warum steigen wir nicht gleich in den Apparat, der schon im Abschußrohr hängt?“ „Richtig!“ nickte Terol. „Mein Denkvermögen scheint gelitten zu haben. Also hin zu dem Abschußrohr! Mit unseren kleinen Beinen brauchen wir mindestens eine halbe Stunde.“ „Bewohner des Mondes! Noch einige Tage Geduld! Die Erde wacht über euer Wohlergehen!“ Die drei Gefährten preßten ihre Hände auf die Ohren. „Gütiger Himmel!“ stöhnte Jal. „Mir platzt das Trommelfell!“ Jal griff eine in der Nähe vorbeihuschende Kugel bei den Flügeln. Als er sie ans Ohr hielt, hörte er es summen: „Die Erde ist euch wohngesinnt. Die Erde bietet euch die Freiheit an.“ „Sie funktionieren tadellos“, freute er sich. Dann runzelte er die Stirn. „Aber das ist komisch!“ 125
„Was?“ fragte Nira. Jal wies auf eine Kugel. „Eben schienen sie noch so groß wie ein Kinderball, und diese da ist doch viel kleiner. Sollte die Reduktion nicht gleichmäßig vonstatten gegangen sein?“ Terol warf einen Blick auf die Uhr. Dann betrachtete er verschiedene andere Kugeln, die im Luftzug auf und ab tanzten. „Nein“, sagte er. „Die Kugeln sind einander völlig gleich. Aber wir selbst werden allmählich wieder größer. Ich hatte es meiner Meinung nach so berechnet, daß wir in drei Tagen wieder unsere normale Größe erreichen sollten. Mir muß da wohl ein Fehler unterlaufen sein.“ „Wie? Sie haben von vornherein bestimmen können?“ „Ja. Wir brauchen keine Vergrößerungsglocken, um unsere natürliche Größe wiederzuerlangen. Wir haben die Energie so vermindert, daß die Verkleinerung nicht mehr endgültig ist, sondern auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt werden kann.“ „Da wird der Wachsoldat auch bald merken, daß das Ding in seiner Tasche immer größer wird“, lachte Nira. „Ja“, meinte Terol, „wir dürfen keine Zeit verlieren. Gefährlich wird die Sache für uns, wenn wir so groß werden, daß wir nicht mehr unbemerkt bleiben können und doch noch nicht groß genug sind, um uns verteidigen zu können.“ Inzwischen waren sie bei dem Abschußrohr angekommen. Jal staunte. Von weitem sah das Metall vollkommen glatt aus, und jetzt erschien die Oberfläche so rauh, daß man mit Händen und Füßen jeden gewünschten Halt fand, um zur Schleusentür emporzuklettern. „Wie die Ameisen“, flüsterte Nira. „Die können auch an einer senkrechten Wand emporlaufen.“ „Wie sollen wir bloß die Tür aufkriegen?“ fragte Jal. „Da habe ich schon vorgesorgt“, beruhigte Terol, indem er triumphierend einen. Gegenstand hochhielt. „Ich habe einen 126
Magnetschlüssel. Wenn wir damit den roten Punkt des Schlosses berühren, springt es auf.“ Sie begannen den Aufstieg zur Schleusentür. Je höher sie kamen, desto schwieriger erwies sich das Klettern. Die Unebenheiten des Metalls boten immer weniger Halt. Jal bemerkte es zuerst. „Wir müssen uns beeilen“, sagte Terol. „Ich glaube, der Grund für die wachsende Schwierigkeit beim Klettern ist die Tatsache, daß wir immer größer werden. Wenn wir auf halbem Wege haltmachen, fallen wir wieder runter und brechen uns die Knochen.“ „Wir sind doch wahrhaftig Idioten“, erklärte Jal. „Ihr hättet unten bleiben können, und mich allein zu dem verdammten Schloß emporklimmen lassen sollen. Geben Sie mir den Schlüssel, Terol.“ „Nira, wir warten hier und verlassen uns vertrauensvoll auf den Athleten vom Dienst.“ Nira konnte ihre Unruhe nicht verbergen. „Nimm dich in acht, Lieber.“ „Macht euch meinetwegen keine Sorge.“ Jal setzte seinen Weg allein fort. Er sah seine Gefährten zurückbleiben wie am Steilabhang eines Berges. Er blickte nach oben. Im Verhältnis zu seiner eigenen Größe war das Schloß nur noch etwa fünfzig Meter entfernt. Aber die Unebenheiten wurden immer kleiner. Er berechnete, wenn er mit der gleichen Schnelligkeit an Größe zunahm, würde er sein Ziel nicht mehr rechtzeitig erreichen können. Er blickte verzweifelt um sich und – schalt sich einen Dummkopf. Wenige Meter weiter links sah er nämlich die Gummidichtung der Tür. Der Gummi bot doch viel besseren Halt! Jal machte sich eine Querspalte in der Oberfläche zunutze und hangelte sich so schnell wie möglich nach links hinüber. 127
Endlich erreichte er den Rand der Tür. Er atmete erleichtert auf. Der Aufstieg vollzog sich nun bedeutend schneller. In kürzester Zeit kam er in Höhe des Schlosses an. Er mußte jedoch feststellen, daß es ihm nun ganz unmöglich war, auf der glatten Metalltür noch Halt zu. finden. Kurz entschlossen setzte er alles auf eine Karte und warf den Magnetschlüssel nach dem roten Punkt am Schloß. Der kleine Metallstab verfehlte zwar sein Ziel, streifte jedoch im Fallen den äußersten unteren Rand des Schlosses. Mit einem Ruck öffnete sich die Tür. Jal hätte durch den Stoß beinahe das Gleichgewicht verloren. Er beeilte sich, einzusteigen. Die äußere Schleusentür war offen. Jetzt ging es darum, auch die innere Tür zu öffnen. Als Jal wieder bei Nira und Terol angelangt, war, fühlte er sich völlig erschöpft. Er mußte sich erst einmal hinsetzen. Wie in einem Traum merkte er. daß es seinen Gefährten ebenso zu gehen schien. Er verfiel in einen Zustand halber Bewußtlosigkeit. Nach einer Zeit, die ihm unendlich vorkam, öffnete er die Augen und sah, wie sich Terol bemühte, die leblose Nira wieder aufzuwecken. Jal half ihm dabei. Endlich schlug Nira die Augen auf. „Was ist denn mit uns geschehen?“ fragte sie. „Seht euch mal gegenseitig an“, forderte Terol. „Dieses Erstickungsgefühl ist ein natürliches Symptom. Wir sind zu schnell gewachsen.“ Jal verglich seine eigene Größe mit der Höhe der Tür. „Es scheint mir, ich bin schon wieder zehn Zentimeter groß!“ „Ja, und wir müssen uns mächtig beeilen, wenn sie uns nicht doch noch abfangen sollen. Verdammt noch mal …!“ „Was?“ „Beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen.“ Terol wühlte fieberhaft in seiner Tasche. Endlich fand er eine kleine Schachtel und schüttelte ihren Inhalt in seine Hand. 128
Er reichte den beiden anderen kleine weiße Pillen. „Schnell! Schluckt jeder eine“, befahl er hastig. Jal gehorchte zwar, konnte sich aber nicht enthalten zu fragen: „Wozu?“ „Unglücklicher! Tarnung der Lebenswellen! Es ist ein Wunder, daß sie uns noch nicht gefunden haben!“ „Ihr denkt doch an alles!“ staunte Nira. Jal kletterte in die Schleuse, die anderen folgten ihm. Jetzt war es fast ein Kinderspiel, die zweite Tür in der gleichen Weise zu öffnen. Bald standen sie im Innern der Rakete. „Wir müssen warten, bis wir noch größer geworden sind. Ich hätte nicht die Kraft, den Startknopf niederzudrücken.“ Terol lehnte sich an die Wand. „Wir sind müde von dem, was wir durchlebt haben“, sagte Jal, „Ich schlage vor, wir suchen uns jetzt ein Versteck und warten dort ab, bis der Augenblick zum Handeln gekommen ist.“ Jal glitt unter das Armaturenbrett. „Denkt daran“, warnte Terol, „daß ihr auch während des Schlafes wachst. Ihr riskiert, da eingeklemmt zu werden. Ich glaube, es ist besser, daß wir abwechselnd wachen. Ich werde damit anfangen. Wenn ihr so sehr wachst, daß es gefährlich wird, wecke ich euch.“ Jal protestierte. Er wollte die erste Wache übernehmen. Aber Terol überzeugte ihn schließlich davon, daß er nach der anstrengenden Kletterpartie ein Recht darauf hätte, sich erst einmal gründlich auszuruhen. * Der Wachsoldat auf der Terrasse schritt auf und ab. Von Zeit zu Zeit kratzte er sich an der Hüfte. Etwas schien ihn dort zu stören. Er lehnte sich an die Brüstung. Plötzlich stieß er einen 129
kleinen überraschten Schrei aus. Zwischen ihm und dem Geländer eingeklemmt, hatte ihn eine scharfe Kante des Flugbootes empfindlich gedrückt. Er faßte in seine Tasche und zog das Spielzeug heraus. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten. Er war doch nicht blind! Das Ding, das er da gefunden hatte, war nicht größer als eine Streichholzschachtel gewesen, und nun zerriß es beinahe seine Tasche! Er setzte das Flugboot auf den Boden und betrachtete es mit mißtrauischen Blicken. Seine Überraschung steigerte sich. Das Ding schien ja zusehends immer größer zu werden. Er zwang sich, fünf Minuten lang die Augen zuzukneifen. Als er sie wieder aufmachte und von neuem hinsah, war das Flugboot schon zwanzig Zentimeter lang. Er pfiff durch die Zähne, verließ seinen Posten, ging hinunter in den Palast und drückte eine Taste, des Sprechgerätes. „Hier Wachposten auf der Terrasse. Verbinden Sie mich mit dem Bürger Mox. Was? Beschäftigt? Dann geben Sie mir seinen Sekretär. Es ist dringend!“ Inzwischen warf er wieder einen Blick auf das Flugboot. Es wurde immer größer. „Ja? Sind Sie es selbst? Ich habe hier vor kurzem ein kleines Flugboot gefunden. Dachte, es sei ein Spielzeug. Seitdem wird das Ding ständig größer. Ist jetzt schon mindestens einen Meter lang.“ Eine ärgerlich aufgeregte Stimme näselte im Hörer. „Aber wenn ich es Ihnen doch sage!“ protestierte der Wachsoldat übellaunig. „Ich bin ja nicht verrückt! – Gut! Ich warte auf Sie!“ Er schaltete ab und ging zurück auf die Terrasse. Jetzt schien das mysteriöse Wachsen des Flugbootes aufgehört zu haben. Er setzte sich auf die Brüstung und ließ das Ding nicht aus den Augen. 130
Nach einigen Minuten erschien ein Beamter, der von zwei Wachoffizieren begleitet wurde. Er betrachtete nachdenklich das kleine Flugboot und ließ sich über den Vorfall berichten. Endlich kam er zu einem Entschluß. „Folgt mir“, sagte er zu seinen Begleitern. „Und du machst den Hangar auf!“ Sie durchsuchten den Schuppen sorgfältig, ohne etwas Verdächtiges zu finden. Schließlich standen sie vor der Schleusentür des startbereiten Raumers. „Aufmachen!“ befahl der Beamte. * „Was ist los?“ rief Jal noch schlaftrunken. Doch sogleich schwieg er erschrocken. Terol hatte den Finger auf die Lippen gelegt. Er sah ernst aus. „Sie kommen!“ flüsterte er. „Wir wollen uns im Gepäckraum verstecken.“ Die drei Freunde sprangen durch eine Luke in das untere Stockwerk der Rakete. Sie preßten sich in die dunkelsten Ecken des kleinen Raumes. Bald hörten sie die Schleusentür zuschlagen. Dann ließen schwere Schritte die metallenen Wände der Rakete erzittern. Nachdem die Männer ein paar Minuten die Steuerkabine durchsucht hatten, näherten sich ihre Schritte dem Gepäckraum. Die Flüchtlinge richteten ihre Todesstrahler auf die Öffnung an der Decke. Über ihnen erschien ein Gesicht mit gespanntem Ausdruck, und der Strahl einer Blendlaterne schwenkte über den Fußboden. „Niemand hier“, sagte der Mann. „Ich …“ Er unterbrach sich und richtete die Laterne auf einen be131
stimmten Punkt. Nira fühlte sich von einem hellen Schein getroffen. Sie schoß augenblicklich. Der Kopf des Mannes sank über den Lukenrand. Sein Helm polterte zu Boden. „Da sind sie!“ rief eine Stimme. Die anderen Soldaten zogen den reglosen Körper heraus, und die Öffnung war wieder frei. „Sie sind bewaffnet! Zeigt euch nicht! Und du gibst sofort Generalalarm!“ befahl dieselbe Stimme. Jal warf einen kurzen Blick auf Terol, dann stürzte er auf die metallene Leiter zu. Er war zu klein, um sie wie sonst zu erklettern. Durch zwanzig Klimmzüge hob er sich von Sprosse zu Sprosse. Auf der letzten kauerte er sich nieder und richtete sich langsam auf. Dann schob er seinen Strahler über seinen Kopf und schoß aufs Geratewohl. Ein Schrei, danach ein dumpfer Fall. Plötzlich wurde die ganze Rakete von einem furchtbaren Stoß erschüttert. Jal flog hintenüber und verlor das Bewußtsein. * Als erster kam Benal wieder zu sich. Er überzeugte sich zuerst davon, daß Nira nichts geschehen war und bettete sie bequem. Sie war noch bewußtlos, aber sonst außer Gefahr. Terols Gesicht war unter der durchsichtigen Maske blutüberströmt. Jal beeilte sich, ihm den Helm abzunehmen. Dann erstarrte er. Kein Atemzug hob Terols Brust, kein Herzschlag war zu spüren. Tiefbewegt drückte Jal dem Freund die Augen zu. Dann kletterte er, so schnell er konnte, die Leiter hinauf, die in das Obergeschoß führte. Drei Männer lagen ausgestreckt auf dem Fußboden. Zwei waren tot, einer aber atmete noch schwach. 132
133
Jal sammelte sofort alle Waffen ein und brachte sie im Gepäckraum in Sicherheit. Nira war inzwischen aufgestanden. Sie taumelte noch hin und her. „Ruh dich aus, Liebling. Die Gefahr ist vorüber. Wir fliegen auf die Erde zu“, tröstete Jal. „Ich … ich … Es geht mir schon besser. War das ein furchtbarer Stoß!“ Sie sah den ausgestreckten Körper des Professors. „Was ist mit Terol?“ Jal neigte langsam den Kopf. Die Augen der jungen Frau umflorten sich. „Armer Terol!“ „Liebling“, sagte er, „wenn Terol uns sehen und zu uns reden könnte, ich weiß, was er sagen würde: Kümmert euch nicht um mich. Beeilt euch und erfüllt eure Aufgabe. Warnt die Erde, so schnell wie möglich, damit nicht noch mehr Menschenleben geopfert werden.“ Nira trocknete ihre Tränen. „Du hast recht“, sagte sie. „Ist oben wirklich nur noch einer am Leben?“ „Ja, und ich habe ihn schon entwaffnet. Obwohl wir so klein sind, bleiben wir die Herren an Bord der Rakete. Hilf mir jetzt den Mann in Schach zu halten.“ Sie stiegen schnell wieder nach oben. Der Wachsoldat hatte sich halb aufgerichtet und hielt sich den schmerzenden Kopf. Er warf auf die kleinen Wesen, die ihre Todesstrahler auf ihn gerichtet hielten, einen ratlosen Blick. „Aufstehen!“ befahl Jal. Der Mann gehorchte und stand mühsam auf. „Jetzt hilf uns, die Toten hier dem Raum zu übergeben. Mach die Abwurftür auf! Nira, laß ihn nicht aus den Augen!“ 134
Die beiden Toten verschwanden im Raum. Von Terols sterblicher Hülle wollte sich Jal nicht trennen. „Wir werden ihn auf der Erde bestatten“, sagte er. „Drei Tage lang können wir den Toten ruhig bei uns behalten. – Jetzt setze dich ans Steuer und vergiß nicht, daß wir jede deiner Bewegungen überwachen.“ Der Soldat gehorchte widerwillig. „Ihr glaubt vielleicht, aus allem heraus zu sein“, spottete er. „Aber Gorvin kennt den Typ eurer Lebenswellen, und er wird euch töten, wenn er sieht, daß ihr für ihn sowieso verloren seid.“ „Irrtum, mein Lieber“, lächelte Jal. „Wir haben schon die große X-Zone passiert. Jetzt kann uns der Mondstaat nichts mehr anhaben. Mach das Sendegerät klar, ich will mit der Erde sprechen.“ Der Soldat gehorchte, von Niras Todesstrahler bedroht. Wenige Minuten später hatte Jal Benal Verbindung mit der Abwehrzentrale der Erde. In aller Kürze erstattete er Bericht. Und die Antwort lautete: „Sechs Kriegsraumer starten in diesem Augenblick in Richtung Mond. Und Sie, Benal, kommen schleunigst ins Hauptquartier. Die Öffentlichkeit wird bereits über die Hintergründe Ihres Auftrages informiert. Unsere Propagandaabteilung ist dabei, aus dem Verbannten Benal den Staatshelden Nr. 1 zu machen. Und Sie können sich denken, was Sie auf dem Raumhafen erwartet.“ Jal Benal bestätigte den Spruch und schaltete ab. Dann wandte er sich seufzend an Nira. „Und dabei hätten wir ein wenig Ruhe so nötig.“ „Bald, Liebling“, lächelte sie ihm zu, ohne den Todesstrahler zu bewegen, den sie noch immer auf den unfreiwilligen Piloten richtete.
135
James Elton
Todessturz Auf Mars warten die Mörder Central-City ist die neue Hauptstadt der Erde nach dem Untergang des Ersten Imperiums. Noch sind die Trümmer der alten Hauptstädte von Radioaktivität verseucht, und jeder, der sie betritt, findet einen qualvollen Tod. Aber auch in den neuen Siedlungen der Menschen lauert der Tod. Räuber und Mörder treiben ihr Unwesen, denn kein Gesetz, keine Polizei fahndet nach den Verbrechern. In diese Welt wagt sich Shan Karogan, der Sucher. Und überall begegnet man ihm mit angstvollem Respekt, denn die hartgesottenen Männer der Nachkriegszeit kennen die geheimen Mächte des Suchers. Doch auf Mars scheint der Weg für Shan beendet. Der grausame Herrscher Marvan fordert das Leben der Suchers, und seine Krieger folgen ihm in blindem Gehorsam.
Titelbild: Wie eine Feder riß ihn der spritzende Strahl empor? (Seite 25) Ein Verzeichnis aller noch lieferbaren Bände ist in Band 240 erschienen U T O P I A • Zukunftsroman erscheint wöchentlich im Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden) Pabel-Haus. – Mitglied des Remagener Kreises e. V. – Einzelpreis 0,60 DM – Anzeigenpreis laut Preisliste Nr 10. – Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel Rastatt (Baden). – Verantwortlich für die Herausgabe und Inhalt in Österreich: Eduard Verbik. Alleinvertrieb und -auslieferung in Österreich: Zeitschriftengroßvertrieb Verbik & Pabel KG – alle in Salzburg Gaswerkgasse 7. – Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. – Gewerbsmäßiger Umtausch. Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. – Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. – Printed in Germany. – Scan by Brrazo 10/2011 L/B: Ge
136