Henker-Beichte
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 174 von Jason Dark, erschienen am 26.09.1995, Titelbild: Mónica Pasa...
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Henker-Beichte
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 174 von Jason Dark, erschienen am 26.09.1995, Titelbild: Mónica Pasamón
Auguste Cresson war der letzte Henker in einem afrikanischen Terror-Staat. Auf sein Konto gingen unzählige Hinrichtungen, an denen er reichlich verdient hatte. Kurz vor dem Zusammenbruch des Systems hatte er sich nach Paris absetzen können. Jahre später holte ihn die Vergangenheit ein. Aus Afrika kam der mörderische Rächer in der Gestalt und mit dem Gesicht eines längst Hingerichteten. Er wollte Cresson mit seiner eigenen Waffe köpfen. Der Henker konnte fliehen. Unterschlupf fand er bei den Templern. Dort legte er in meinem Beisein seine schreckliche Beichte ab...
Drei Uhr morgens! Selbst eine Stadt wie Paris mußte mal durchatmen, um für den neuen Tag wieder Kraft zu schöpfen, und so war es in der Millionenmetropole an der Seine ziemlich ruhig geworden, was sich aber in den nächsten Stunden rasch wieder ändern würde. Die nächtliche Ruhe breitete sich nicht allein in der Oberwelt aus, auch in der Unterwelt der Stadt herrschte nicht mehr diese Hektik. Die Bahnen fuhren seltener, und wer sich jetzt in den Schächten herumtrieb, gehörte entweder zu den Frühaufstehern oder zu denen, die die Nacht unten in den warmen Schächten verbracht hatten. Geisterhafte Züge rauschten durch die Tunnels, fuhren die Bahnsteige an und wirkten in dieser Leere wie Wesen aus Stahl und Glas, die aus der Zukunft gekommen waren, um zurück in die Vergangenheit zu fahren. In einem der Wagen saß Auguste Cresson! Er hockte zusammengesunken auf der Bank, hatte viel Platz und fühlte sich trotzdem nicht wohl, denn immer wieder hob er den Kopf und schaute sich um. Dabei zuckte er jedesmal zusammen, sein Gesicht verzog sich, und er wirkte sehr ängstlich. Sein Gesicht war schweißnaß. Er fuhr die Stationen ab, wäre gern an einer ausgestiegen und in seine Wohnung gegangen, doch er traute sich nicht mehr nach Hause. Der Fluch hatte ihn eingeholt. Der Ruch seiner Vergangenheit, die für ihn mit Blut und Tod geschrieben worden war. Jetzt war Cresson alt geworden, aber nicht zu alt, um sich schon mit dem Tod abfinden zu können. Er wollte leben! Achtundfünfzig war doch noch kein Alter. Im Spiegel schaute er allerdings wesentlich älter aus. Sein Gesicht schwamm darin. Die Züge blieben nicht klar, Sie verzerrten sich und nahmen plötzlich den Ausdruck einer anderen Person an. Die Haut dunkelte nach, wurde schwarzbraun, und seine Augen weiteten sich. Das Weiße war jetzt deutlicher zu sehen. Gleichzeitig erschien auf der Stirn die bunte Bemalung, und die Lippen nahmen an Dicke sowie an Breite zu. Auch die Nase wurde wulstiger, die Oberlippe drängte sich in die Höhe. Eine Zahnreihe war zu sehen. Sie schimmerte gelblichweiß. Nein, das war nicht er, das war ein anderes Gesicht, das sich im Spiegel abzeichnete. Eine Fratze, die Cresson hatte vergessen wollen, aber nicht vergessen konnte, da der Fluch stärker war und ihn selbst in seinem Heimatland verfolgte. Cresson stöhnte auf. Er hob die Arme an und preßte für einen Moment seine kräftigen Hände gegen das Gesicht. Sehr schnell sanken sie wieder nach unten, und so konnte er abermals in den Spiegel schauen. Die Fratze war verschwunden. Cresson sah wieder sein Gesicht. Alles war okay. Er brauchte keine Furcht mehr zu haben. Das andere Gesicht hatte er sich wohl nur eingebildet, glaubte er. Alles Quatsch! Ich mache
mir was vor, es gibt ihn nicht wirklich, es sind einzig und allein meine bösen Träume, die mich da verfolgen. Ich muß mich zusammenreißen und ruhig bleiben! Er wußte, wie die Dinge standen, und doch brachte er es nicht so fertig, wie er es sich vorgenommen hatte. Denn es gab nicht nur die Tage, es kamen auch die Nächte, und sie waren für ihn schlimm. In der trügerischen Ruhe breiteten sich die Bilder der Vergangenheit aus. Sie wurden immer klarer, beinahe schon brutal klar, so daß der Mann seine Schwierigkeiten hatte, damit zurechtzukommen. Er fröstelte. Er dachte plötzlich an sein Leben, während der Zug in eine Station nahe Montmartre einlief, aber nur einen Fahrgast entließ. Drei Leute stiegen in den ersten Wagen ein. Auguste Cresson war froh darüber, daß sie vorne eingestiegen waren, denn er wollte möglichst allein bleiben. In jedem Mitreisenden sah er einen potentiellen Feind. Er kannte die Stärke seiner Gegner zwar nicht genau, aber er wußte schon, daß sie mit allen Wassern und auch magischen Tricks gewaschen waren, um ihre Rache vollenden zu können. Dabei hatte er gehofft, ihr entgehen zu können, aber die blutigen Jahre in Afrika ließen sich nicht so ohne weiteres wegwischen. Sie waren für sein Leben prägend gewesen und würden es sogar noch bleiben. Der Zug war wieder angefahren und hineingeglitten in den nächsten Tunnel. Wieder erschienen vor den Fenstern die dunklen Schatten, und Cresson wollte nicht mehr hinschauen. Manchmal hatte er den Eindruck gehabt, als wären Lücken in die Schatten hineingerissen worden, in denen sich dann Gesichterzeigten. Die Gesichter der Toten, umrahmt von kleinen Blutseen, in denen sie lagen. Er fluchte. Er wischte über sein Gesicht. Er drehte seinen Körper weg vom Fenster, um in den leeren Mittelgang zu starren. Sein Herz schlug wummernd und wuchtig. Ihm war heiß und kalt zugleich, und eine Schicht aus Eis schien sich auf seine Knochen gelegt zu haben. Hinter seiner Stirn tuckerte es. Irgendwo schien ein kleiner Mann mit einem Hammer zu sitzen, der ihn durch Schläge malträtierte. Der Boden war schmutzig. Zeitungen, Dosen und anderes Zeug wurde umhergewirbelt, rollte mal in die eine Ecke, dann wieder in die andere, je nachdem, wie der Wagen schwankte. Der Schatten war plötzlich da, doch Cresson beschäftigte sich damit nicht, weil er ihn als normal ansah. Licht war gegen eine Stange gefallen, und ihr Schatten malte sich auf dem Boden ab. Nein, das konnte es nicht sein, dann nämlich hätte er den Schatten schon früher sehen müssen.
Er war neu! Cresson atmete schneller, als er den Schatten genauer betrachtete. Er sah den langen Stiel… Ja, genau, einen Stiel, der sogar eine leichte Biegung zeigte, die ihm bekannt vorkam. Plötzlich saß der einsame Mann noch starrer auf seinem Sitz. Er traute sich kaum, den Schatten weiter zu verfolgen, weil er ahnte, was da auf ihn zukam. Trotzdem blickte er hin. Er verfolgte ihn bis zum Ende und entdeckte dort den Wulst, der nach einer Seite hin wegstand und eine bestimmte Form aufwies, die ihm nicht unbekannt war. Bei allen Heiligen, das war kein normaler Wulst. Das war die Klinge eines Beils! Cresson war nahe daran zu schreien. Er wußte, was es bedeutete, denn dieser Abdruck auf dem Boden des Wagens war so verflucht endgültig, denn damit hatte ihn seine Vergangenheit exakt eingeholt. Der Schatten entsprach dem Aussehen der Waffe, die ihn jahrelang begleitet hatte und zu seinem beruflichen Werkzeug geworden war. Dem Beil des Henkers! *** In den folgenden Sekunden war Auguste Cresson nicht fähig, sich zu rühren. Er zuckte nicht mal, er starrte nur auf den Schatten des Beils und wartete darauf, daß dieser wieder verschwand. Er hoffte zudem auf eine Halluzination, wischte über seine Augen, aber als er wieder hinsah, war der Schatten geblieben. Nicht weg, nicht verschwunden! Eine gefährliche Drohung, die sich auf dem Boden abzeichnete und sich im schaukelnden Rhythmus des Wagens bewegte, ohne je wieder zu verschwinden. Er stöhnte auf. Sein Blick bewegte sich. Panik hatte sich darin festgesetzt. Er hoffte, so rasch wie möglich die nächste Station zu erreichen, denn dort wollte er unter allen Umständen raus. Noch rumpelte der Zug durch den Tunnel, noch blieb der Schatten des Beils, aber er verkürzte sich intervallweise, als wäre eine unsichtbare Hand dabei, ihn auszuradieren. Und dann war er weg. Urplötzlich verschwunden, ohne daß Cresson dafür eine Erklärung gehabt hätte. Zugleich rumpelten die Wagen in die nächste Station, wo sie langsamer wurden und ratternd anhielten. Für Cresson war dieser Stopp eine
Fügung des Schicksals. Wenn er es jetzt nicht schaffte, dann nie mehr, und deshalb mußte er so schnell wie möglich raus. Zischend öffneten sich die Türen. Cresson war der einzige, der mit einem langen Schritt auf den Bahnsteig trat, sich dort umschaute und auf der Stelle stehenblieb. Sein Blick war gehetzt. Er suchte den Schatten, der aber nicht zu sehen war. Andere Schatten ignorierte er, zum Beispiel die Wand, vor der drei junge Männer lagen, eingewickelt in mehrere Decken. Ein Hund bewachte sie und knurrte leise zwei arabisch aussehende Typen an, die vorsichtig an den Schlafenden vorbei schlichen. Auguste Cresson wischte über seine Stirn. Danach war die Handfläche so naß, daß die Schweißtropfen abperlten und zu Boden fielen. Keiner griff ihn an. In der Leere der frühen Morgenstunde kam er sich auf dem Bahnsteig verloren vor. Es war kalt und zugig. Das Frühjahr hielt sich auch mit einem Besuch in Paris zurück, und die Witterung schreckte sogar Touristen ab, die diese Stadt längst nicht mehr so stark bevölkerten, wie es in früheren Jahren gewesen war, wo die Sonne geschienen hatte. Cresson war es egal, ob Paris voll oder leer war. Für ihn zählte allein sein Schicksal, das den schwergewichtigen Mann auch äußerlich gezeichnet hatte, denn er ging stets nach vorn gebeugt, wie jemand, der auf seinem Kreuz die Last der Welt zu tragen hatte. Cresson wollte wissen, wo er ausgestiegen war. Auf dem Schild las er den Namen der Station. St. Denis. Dieser Stopp lag zwischen dem Ostbahnhof und der Seine, und seine Bude konnte er durchaus zu Fuß erreichen. Als er daran dachte, fing er an zu zittern. Seine Kehle trocknete aus. Der Schweiß drang stärker aus den Poren, und Cresson störte sich an dessen Geruch. Er zog seine alte Jacke fester um den Körper, als könnte diese ihn schützen. Das war wohl Illusion. Das alte Beil war scharf genug, um alles zu durchdringen. Er wußte es aus Erfahrung, denn es war jahrelang sein Begleiter gewesen. Es hatte kein Mitleid mit den Delinquenten gekannt, ebensowenig wie er selbst. Noch einmal schaute er sich um. Gefahr sah er nicht. Der Boden in seiner Nähe blieb schattenlos. Cresson schaute sicherheitshalber auch zur Decke, doch dort war das verfluchte Beil ebenfalls nicht. Sein Gesicht verzog sich. Jemand hatte ihm mal gesagt, daß er Ähnlichkeit hätte mit dem großen Mimen Jean Gabin, der leider viel zu früh verstorben war. Ob es dem jetzt besser ging als Cresson, darüber dachte der Mann nach. Gabin hatte es zumindest hinter sich, während Cressons Zukunft sehr problematisch werden würde.
Er war im zehnten Arrondissement ausgestiegen. Fragte ein Fremder einen Einheimischen nach dem Reiz dieser Gegend, würde ihn der Pariser auslachen oder nur die Schultern heben, denn mit touristischen Attraktionen war dieser Stadtteil nur dünn gesät. Nord- und Ostbahnhof, das war alles, was die Leute zu diesem Gebiet sagten. Dabei vergaßen sie zumeist eine der erlessensten Schönheiten von Paris, den Canal Saint-Martin, mit seinen Brücken und Schleusen sowie den alten Häusern. Profitgeier schreckten nicht davor zurück, die alte Kulisse zu zerstören. Sie rissen die schönen alten Häuser ab und setzten neue, größere hin. Aber es war noch genug Flair geblieben, auch wenn die Huren in der Rue Saint Denis weniger geworden waren. Cresson wohnte nicht weit von diesen Nachfolgerinnen der Irma la Douce entfernt, deren Probleme er kannte, da er sich oft genug mit ihnen unterhielt. Er würde sich zu Fuß auf den Heimweg machen und wie ein Dieb an den alten Fassaden entlangschleichen. Man kannte ihn hier im Viertel, man wußte, wie er hieß, und man nahm ihm ab, wenn er erzählte, daß er aus dem Südosten stammte und jetzt als Rentner lebte, der sich einiges zusammengespart hatte. Das war tatsächlich der Fall. Als Henker hatte er gut verdient und sein Geld praktisch all die Jahre anlegen können. Wenn er nicht zu aufwendig lebte, würde es bis zu seinem Lebensende reichen, wobei er darüber freudlos lachen mußte, denn sein Leben konnte schon in der nächsten Minute beendet sein. Dann erbte niemand sein Geld, und die Bank-Geier würden noch reicher werden. Mit müden Schritten bewegte er sich auf die Treppe zu. Kalte Luft drang ihm entgegen. Paris atmete aus und war voller Gerüche. Fremde Gewürzmischungen drangen in seine Nase. Es roch nach Knoblauch und auch so wie in Afrika. Deshalb fühlte er sich in diesem Viertel so wohl. Wie lange noch? Cresson stieg die Stufen hoch. An der Wand gegenüber standen zwei Huren und rauchten einen Joint. Sie schauten kurz nach unten, als sie die Gestalt sahen, doch dann erkannten sie den Mann. »Ach, du bist es, Auguste!« Cresson hob die Hand. Die Sprecherin, eine Frau mit blonder Perücke, grinste über den breitgeschminkten Mund. »Kannst du nicht ein paar Kunden herzaubern?« fragte sie. »Ich würde es gerne, Nadine, wenn ich es könnte. War ‘ne miese Nacht, wie?« »Beschissen.« Beide nickten. Cresson hob die Hand. »Dann bis später mal. Ich denke, wir werden uns noch sehen.«
Auguste Cresson war froh darüber, wenig später wieder die Oberwelt betreten zu haben. Der Himmel war finster. Es schimmerte kein Stern. Nur die Laternen boten der Finsternis Paroli. Der Kanal war zu riechen. Stehendes Wasser gab gerade bei tiefem Luftdruck einen fauligen Geruch ab, an den sich die Menschen in dieser Gegend allerdings gewöhnt hatten. Sie nahmen ihn kaum noch wahr. Die Nacht war zudem gnädig. Sie verdeckte die alten Fassaden und zeigte nicht, wie schlimm sie tatsächlich aussahen. In einem dieser Häuser lebte auch der ehemalige Henker. Er bewohnte eine kleine Bude im dritten Stock und hatte sich in einem Zimmer, in der Küche, noch eine Dusche einbauen lassen. Entsprechend eng war es seitdem in der >Küche<. Er ging über das alte Pflaster, ließ seine Blicke ab und zu über die dunkle Kanaloberfläche wandern, die manchmal wie ein gefärbter Spiegel wirkte, auf dem sich hin und wieder Lichtreflexe verloren, als wären einige Sterne durch die Wolken nach unten gerutscht und im schmutzigen Kanalwasser gelandet. Cresson mußte bis zum nächsten Block und war überzeugt, die Gegend selten so leer gesehen zu haben wie in dieser einsamen und kalten Märznacht. Auch die Mädchen waren verschwunden. Kaum ein Fenster zeigte noch Licht. In den Hauseingängen hockten nur wenige Gestalten. Hin und wieder rollte ein Fahrzeug an ihm vorbei, dessen Scheinwerferlicht über das Pflaster glitt. An den Straßenrändern parkten die Autos Stoßstange an Stoßstange. Luxusschlitten waren in dieser Gegend so selten wie Perlen in Austern. Schatten lagen wie dumpfe, dunkle Inseln zwischen den spärlichen Lichtzonen. Vor ihnen brauchte sich Cresson nicht zu fürchten. Und doch bewegte sich einer. Nicht auf der Straße, da hätte Auguste schon nach links schauen müssen. Den Schatten hatte er aus dem rechten Augenwinkel wahrgenommen, und er strich lautlos an der Hauswand entlang. Er wanderte mit ihm und blieb stehen, als auch Cresson verharrte. Der Mann starrte den Schatten an! Cresson hatte sofort das Gefühl, würgen zu müssen, aber er hielt sich noch aufrecht. Kälte durchrieselte ihn, wurde von der Hitze abgelöst, dann schoß wieder die Kälte hinein, und er merkte, wie er sich kaum noch bewegen konnte. Der Schatten! Er atmete heftig. Verdammt noch mal, das war… das war das Beil! Er bewegte sich nicht. Sein Gesicht war zu einer Maske geworden. Er schielte hin, sah den langen Streifen, der den Griff darstellen sollte, und
er sah auch die Klinge, die sich scharf konturiert an der Hauswand abzeichnete. Das Beil des Henkers! Er sagte nichts. Er holte durch die Nase Luft und schwitzte nach wie vor, bis plötzlich eine unangenehme Kälte in ihm hoch kroch. Hastig drehte er sich um. Nein, es war kein Beil zu sehen. Dabei hätte es ihm auffallen müssen, denn wieso konnte ein Schatten entstehen, ohne daß er von einem Gegenstand geworfen wurde? Das wollte ihm nicht in den Kopf. Aber er wurde noch vorsichtiger, als er weiterging. Seine Sohlen schleiften über den Boden, der Mund stand offen. Cresson atmete flach, er schaute sich um. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt. Cresson dachte über eine Bewaffnung nach. Half ihm eine Pistole wirklich? Er glaubte nicht daran. Es war einfach nicht nachvollziehbar, denn hier hatte er es mit einem Geheimnis zu tun, das mit dem Verstand kaum zu lösen war. Er ging den nächsten Schritt, den Kopf nach rechts gedreht. Der Schatten wanderte mit, und es hörte sich an wie Hundegeheul. Er kam mit seinem Leben überhaupt nicht mehr zurecht. So war es ganz natürlich, daß er anfing zu rennen, um so schnell wie möglich seine Wohnung unbeschadet zu erreichen. Cresson gehörte nicht mehr zu den Jüngsten. Zudem hatte er auch kaum Sport getrieben, was sich bei ihm bemerkbar machte, denn sehr schnell geriet er in Atemnot und hörte sein eigenes Keuchen, das ihn begleitete. Wie auch der Schatten! Er verschwand nicht. So schnell Cresson auch lief, der Schatten ließ sich nicht abschütteln. Seine Augen waren weit geöffnet. Nur wirkten sie wie leblose Kugeln aus Glas, die ihm einfach ins Gesicht gepreßt worden waren. Weiter! Das Haus! Seine Burg! Aber auch eine Zone, die mit Erinnerungen vollgestopft war, die er aus Afrika mitgebracht hatte. Wie dem auch sei, er konnte es jetzt nicht mehr ändern und wünschte sich nur, am Leben zu bleiben. Eine so große Angst – es mußte die gleiche Angst sein, die auch seine Opfer überfallen hatte, bevor sie durch sein Beil geköpft worden waren. Das Pflaster war niemals glatt und bildete zahlreiche Stolperfallen. Cresson ging vorsichtig und kam seinem Ziel näher. Er sah die Hausecke, eilte um sie herum - und schrie auf, als er die Gestalt vor sich sah. Er hätte den anderen fast umgerannt, wenn ihm sich der nicht im letzten Augenblick mit vorgestreckten Armen entgegengestemmt hätte.
Beide starrten sich an. Cresson keuchend und fast am Ende seiner Kräfte. Der andere Mann blieb gelassen. Er war ein Schwarzer, jünger als Cresson. Seine Augen schimmerten wie dunkel eingefärbte Diamanten. Cresson glaubte, ein Wissen in ihnen zu lesen, und auch ein gewisser Wiedererkennungswert huschte durch seinen Kopf. Kannte er den Mann? Sicherlich vom Ansehen. Er wohnte illegal in diesem Viertel, wo viele Farbige untergetaucht waren. Allerdings sah dieser Mensch nicht nach einem Illegalen aus. Er entschuldigte sich sogar und gab den Weg für Cresson frei. Der Schwarze war so schnell verschwunden, daß der ehemalige Henker schon an einen Traum glaubte, dann aber den Kopf schüttelte, weil er die Stimme des jüngeren Mannes noch im Ohr hatte. Er schaute wieder um die Ecke. Den Mann sah er nicht mehr. Er hörte auch nicht das Echo der Tritte auf dem Asphalt. Seltsam, so weit konnte er nicht gelaufen sein. Hatte er sich in Luft aufgelöst? Auguste Cresson stöhnte wieder und schüttelte den Kopf. Er wollte nichts, aber auch gar nichts mehr wissen. Es war einfach zu schlimm gewesen, was er durchgemacht hatte. Er wollte endlich nach Hause und… Da fiel ihm etwas ein. Das Gesicht in der Scheibe des fahrenden Wagens, das sich über sein eigenes Abbild geschoben hatte. Hatte dieses Gesicht nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem des Mannes gehabt, den er beinahe umgerissen hatte? Cresson wußte es nicht, aber er schaffte es, klarer über die Begegnung nachzudenken, und ihm fiel ein, daß dieses Gesicht in der Scheibe doch älter gewesen war. Nur war eine gewisse Ähnlichkeit nicht zu übersehen gewesen. Wie sein Leben weitergehen würde, konnte er nicht überblicken, aber die Ruhe der letzten Jahre war vorbei. Die Vergangenheit hatte ihn auf eine furchtbare Art und Weise eingeholt. Der Begriff Zauberei kam ihm in den Sinn, und er dachte noch einen Schritt weiter. Zauberei gab es im Schwarzen Erdteil, ebenso wie Medizinmänner, Magier, und Voodoo-Priester. Afrika war schließlich die Heimat des Voodoo, und die alten Rituale waren nicht vergessen. Man hatte sie in die anderen Länder und Staaten mit übernommen. Nach Amerika und warum nicht auch nach Europa? Zum Voodoo-Zauber hatte er eine zwiespältige Meinung. Er lehnte ihn nicht ganz ab, aber er war auch kein großer Befürworter. Er stand ihm skeptisch gegenüber.
Bis zur Tür waren es nur wenige Schritte. An der Hauswand zeichnete sich kein Schatten mehr ab, was den einsamen Mann nicht unbedingt beruhigte. Er wußte genau, daß er auf der Liste stand. Wie immer war die alte Haustür nicht verschlossen. Sie war auch nicht mehr zu schließen. Das alte Schloß war verrostet, und einen Schlüssel dafür gab es nicht. Der ehemalige Henker schleppte sich in den Flur hinein, in dem der Boden von einem feuchten Film bedeckt war. Elektrisches Licht gab es zwar, aber es funktionierte schon seit einigen Wochen nicht mehr. Wer hier wohnte, der fand sich im Dunkeln zurecht, Auguste Cresson eingeschlossen. Ohne auszurutschen, erreichte er die Treppe mit den ausgetretenen Stufen und dem Geländer, das an zahlreichen Stellen eingerissen war. Cresson schleppte sich in die Höhe. Die dritte Etage, die zweitletzte, ein Loch, nicht mehr. Auf der Etage wohnten noch andere Personen. Zwei Nutten hatten dort ihre Buden, ebenso zwei schwule Künstler, die zusammenlebten, und eine asiatische Familie mit drei Kindern. Seltsamerweise waren diese Nachbarn am ruhigsten. Er war froh, die dritte Etage erreicht zu haben. Die Wohnungstür war mit zwei Schlössern bestückt und rasch geöffnet. Einen Flur gab es in der Bude nicht. Nach dem ersten Schritt schon stand er in der Küche, die zugleich auch Bad war. Die Tür zum Nachbarzimmer hatte er ausgehängt. Sie hätte die Wohnung beim Öffnen nur noch kleiner gemacht, und das konnte er nicht gebrauchen. Er betätigte den altmodischen Drehschalter und machte Licht. An der Lampe klebten Fliegendreck und Staub. Das dunkle Zeug absorbierte einen Teil des Lichts. Die Helligkeit reichte soeben aus, um die Zeitung lesen zu können. Auguste Cresson schloß die Tür zu und auch ab. So fühlte er sich sicherer. Die Küche roch noch nach den Bohnen, die er sich am Mittag zubereitet hatte. Er zog die Jacke aus und betrat das Wohn/Schlafzimmer. Die Jacke hängte er über eine Stuhllehne, dann ging er zum Regal, schaltete die indirekte Beleuchtung ein, deren Schein auf die zahlreichen Flaschen fiel, die dort aufgereiht standen. Nicht daß er zu den Alkoholikern gehörte, aber hin und wieder mußte er einfach einen Schluck haben. Zum Beispiel jetzt. Nach dem, was er hinter sich hatte, war das verständlich. Mit den Fingerspitzen berührte er die Flaschen. Er konnte zwischen hellen und dunklen Getränken wählen, auch solchen aus Afrika, doch damit wollte er nichts zu tun haben. Cresson entschied sich für einen Cognac. Auf ein Glas verzichtete er. Er zerrte den Korken hervor, setzte die Flasche an und ließ das Zeug in seine Kehle gluckern. Es tat ihm gut. Es wärmte ihn durch. Er trank noch einmal, verschloß die Flasche wieder und stellte sie dann weg. Anschließend suchte er in den
tiefen Taschen der über dem Stuhl hängenden Jacke nach den Zigaretten und fand noch ein fast volles Päckchen der Filterlosen. Mit der Zigarette zwischen den Lippen ließ er sich auf das Bett fallen, den Standascher in Reichweite. Eingeschlafen mit der brennenden Zigarette im Mund war er noch nie. Er rauchte, starrte zur Decke und dachte daran, daß er sich gern geduscht hätte. Um diese Zeit war das Wasser, das sowieso nie richtig heiß wurde, noch kälter, und deshalb verzichtete er auch darauf. Nicht mal die Schuhe hatte er ausgezogen, als er die Beine hochnahm und sie auf die Decke legte. Die Zigarette verqualmte zwischen seinen Lippen. Er nahm noch zwei Züge und drückte sie dann aus. In dieser Nacht wollte er das Licht brennen lassen, auch wenn es ihm nicht viel half, denn all seine Masken und Andenken, die auf den Regalbrettern standen, verschwammen zu bösartigen Figuren und unheimlichen Gestalten. Die Augen fielen ihm zu. Das hatte Cresson schon immer gekonnt. In beinahe jeder Lage einzuschlafen. Er träumte nicht mal. Auguste Cresson sackte einfach weg… *** Aber er wachte auch auf und lag plötzlich mit geschärften Sinnen da. Etwas hatte ihn gestört. Er konnte es nicht genau sagen, aber das Geräusch mußte seinem Unterbewußtsein bekannt gewesen sein, denn er kannte es aus seiner afrikanischen Zeit. Da hatte er oft im Freien geschlafen, und die Laute der nächtlichen Natur waren ihm vertraut gewesen. Eine absolute Ruhe hatte es nie gegeben, da waren einfach zu viele Laute zusammengekommen. Hier war es ruhig. Bis auf das Zischen! Wach, sogar hellwach, lag er auf dem Rücken und lauschte, ob sich dieser Laut wiederholte. Es vergingen Sekunden. Dann war es wieder da. Zuerst hatte Cresson ja an eine undichte Stelle in der Gasleitung gedacht. Das verwarf er wieder, denn das Ausströmen von Gas hätte ein kontinuierliches Geräusch hinterlassen und wäre auch nicht unter dem alten Metallbett hervorgekommen. Was konnte da zischen? Es gab einige Schlangen – in Afrika hatte er sie oft genug gehört und auch gesehen. Plötzlich wußte er, daß unter seinem Bett eine Schlange lag.
Cresson wollte sich aufrichten. Nicht zu schnell, sondern einem bestimmten Ritual folgend. Er hob zunächst den Kopf ein wenig an und blickte zu seinen Füßen hin. Was da zischte, war wirklich eine Schlange, deren dunkler Körper plötzlich sehr schnell wurde. Cresson glaubte in diesem Moment, in einem Kühlhaus zu liegen und allmählich einzufrieren. Die Schlange war keine Einbildung. Es gab sie, und sie näherte sich mit geschmeidigen Bewegungen seinem Bauch, wobei sie das rechte Bein nicht verließ. Der Mann blieb liegen. Er wagte nicht mal, mit der Wimper zu zucken. Zu welcher Art die Schlange gehörte, wußte er nicht. Er ging aber davon aus, daß sie giftig war. Ein Biß, und er war verloren. Beide Arme lagen so dicht an seinen Körper gepreßt, daß sie ihn berührten. Cresson bewegte nur seine Augen und war froh, dies getan zu haben, denn so sah er die zweite Schlange, die sich auf sein Bett schob, und zwar von der linken Seite her. Der ehemalige Henker war zu einem Toten geworden. Was der Schwarze Erdteil nicht geschafft hatte, das würde möglicherweise sein Erbe packen, und immer stärker zog sich die Haut auf seinem Rücken zusammen. Er lag wie in der Leichenkammer, während die beiden Schlangen jetzt gemeinsam über seinen Körper krochen und er ihre Bewegungen auch durch den Stoff seiner Kleidung spürte. Sie suchten die Wärme, sie würden auch sein Gesicht suchen, oder seine Hände, oder… Nein, ihr Ziel war die Brust. Die von der rechten Seite heranringelnde Schlange hatte sie als erste erreicht und rollte sich dort zusammen, als läge sie nicht auf einem Körper, sondern in einem warmen Nest. Schlange Nummer zwei glitt noch über seinen Arm hinweg, drückte sich aber zur Seite und schlängelte seiner Brust entgegen, wo sie auch liegenblieb. Jetzt lagen beide zusammen, und Cresson, der verzweifelt nach einem Ausweg suchte, lag unter ihnen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ruhig zu bleiben und zur Decke zu starren, die für ihn zu einem künstlichen und starren Himmel geworden war. Starr? Auguste Cresson hatte plötzlich das Gefühl, von einer heißen Nadel durchbohrt zu werden, denn an der Decke in seinem Zimmer bewegte sich etwas! Der Mann hatte in der letzten Zeit schon zuviel erlebt, um an eine Täuschung zu glauben. Er war in den Bannstrahl einer fremden Kraft geraten, und die hatte sich nicht nur durch die beiden Schlangen in seiner Wohnung etabliert.
Was tanzte da an der Decke? Ein Schatten aus dem Nichts, der von einer Seite zur anderen zuckte, als wollte er ihn davon überzeugen, daß er noch vorhanden war. Aber im Raum befand sich kein Insekt, das in die Nähe des Lichts geflogen wäre, um als verzerrter Schatten über die Decke zu huschen. Es gab überhaupt nichts, was sich zwischen den vier Wänden bewegt hätte. Cresson tat nichts. Auf seinem Bauch lagen die Schlangen, unter der Decke bewegte sich das Schwarze hin und her. Es hatte weder Augen noch einen Körper, es war einfach da, und das Beil hatte er ebenfalls als einen Schatten angesehen. Die Schweißproduktion seiner Drüsen nahm zu. Er fühlte sich matt und starr zugleich, zudem wie eingeölt. Er mußte mit ansehen, wie der Schatten plötzlich zur Ruhe kam. Der Mann versuchte jetzt, die Form zu erkennen, um herauszufinden, um welch einen Gegenstand es sich handelte. Er wollte nicht glauben, daß der Schatten einfach nur abstrakt und unförmig war. Es mußte schon Methode dahinterstecken. Er runzelte die Brauen. Das erlaubte sich Cresson gerade noch, denn er hatte gesehen, wie sich der Schatten wieder bewegte und in die Länge zog. Es entstand – ein Beil! Der Schreck fuhr noch einmal durch seinen Körper. Zum Glück schaffte es Cresson, sich nicht zu bewegen, und so blieben auch die Schlangen auf seiner Brust ruhig. Das Beil! Die Drohung! Sie schwebte über ihm wie ein unheimlicher Rächer, der darauf wartete, daß der Mann seine Sünden beichtete. In seinem Kopf spürte er die Schmerzen, der Hals saß ihm beinahe zu. Er hatte Mühe, Luft zu holen, und seine Augen schwammen in Tränenwasser. Der Schatten an der Decke verschwamm, aber er löste sich nicht auf. Trotz seiner Sehverminderung sah der Mann, wie er sich löste. Dann fiel er nach unten. Cresson hörte ein fauchendes Geräusch, als der Schatten dicht an seinem Gesicht entlang huschte. Er bekam sogar etwas von dem Windstoß mit, der über die Haut fuhr, und in seinem Kopf tanzten plötzlich die Gedanken. Er wollte einfach nicht glauben, daß er den Luftzug eines Schattens gespürt hatte. Es war ihm unerklärlich. Er hätte eigentlich nichts merken müssen, es sei denn, der Schatten wäre kein Schatten mehr gewesen und hätte sich in einen normalen Gegenstand verwandelt. Ein leises Stöhnen konnte er nicht verhindern. Zugleich bemerkte er die Bewegungen der Schlangen auf seinem Körper. Ihre Köpfe drückten sich für einen Moment in die Höhe, als suchten sie nach einer Gefahr. Sie hatten sich bald wieder beruhigt und rollten sich zusammen.
Er atmete auf. Aber die Folter hielt an. Solange sich die Schlangen noch auf seinem Körper zusammengerollt hatten, konnte er nichts unternehmen. Cresson mußte abwarten und darauf hoffen, daß er aus dieser Klemme wieder herauskam. Das Gefühl für Zeit war ihm völlig verlorengegangen, aber nicht seine Sinne. Nach wie vor waren sie geschärft, und er hörte wieder das schreckliche Geräusch. Da kam etwas von der rechten Seite. Das Beil? Er verdrehte nur die Augen und sah dort, wo es ziemlich schattig und finster war, die Bewegung. Das Beil war da! Kein Schatten mehr, sondern ein fester und blinkender Gegenstand, der sich in die Luft erhob und dabei ein pfeifendes Geräusch hinterließ. Cresson verfolgte ihn mit den Augen, und er sah, daß dieser Gegenstand die Form eines alten Henkersbeils angenommen hatte. Er kannte es genau, er wußte auch, warum der Schaft an seinem Ende dunkler war als weiter oben. Immer wieder war bei den Hinrichtungen Blut gespritzt und hatte seine Spuren auf dem Holz hinterlassen. Cresson hatte es nie gesäubert, es war eben sein Image gewesen. Und dann die Klinge. Sehr breit, gut ausgewogen und immer wieder geschärft. So hatte er sein Beil in Erinnerung, so hatte er es auch in diesem verdammten Land gelassen, bevor er wieder nach Frankreich zurückgekehrt war. Nun aber befand sich das Beil in seiner Nähe, und er wußte einfach nicht, wie er damit zurechtkommen sollte. Sein Beil, das durch die Luft schwebte, als wäre es von einer Geisterhand geführt worden. Ihm blieb die Luft weg. Der Atem staute sich in seinem Hals. Kälte durchzog seinen Körper, zugleich stieg die Hitze hoch in seinen Kopf. Er spürte überall den Druck, als hielten ihn unsichtbare Fesseln, und er sah, wie sich das Beil vom Boden her in die Luft erhob und mit tanzenden Bewegungen in seine Richtung glitt. Dann schwebte es bereits über ihm. Cresson stierte nach oben. Sein Mund stand offen. Er kriegte ihn einfach nicht mehr zu. Das Beil hatte sich gedreht, und die Klinge, so scharf und glänzend, schaute wie ein böses Auge in die Tiefe, direkt auf ihn. Ein Killer. Cresson wimmerte leise. Es war ihm jetzt egal, ob er die Schlangen damit aufregte oder nicht. Er kam sich vor wie in einer Falle. Nie zuvor in seinem Leben hatte er eine derartige Angst erlebt. Bisher hatten immer nur die anderen Angst gehabt. Seine Kandidaten, die auf das Beil warteten.
Cresson hatte später aufgehört, sie zu zählen. Es war ihm einfach egal gewesen. Er hatte seinen Job getan und kassiert. Nun erlebte er die Rache. Er würde und sollte die gleichen Qualen erleiden wie seine Opfer. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, was es heißt, Todesangst zu haben. Dabei hatte er sich in Paris sicher gefühlt, aber der Fluch hatte ihn eingeholt. Er dachte wieder an das Gesicht in der Scheibe. Es war das Gesicht eines Menschen gewesen, der durch einen Schlag mit seinem Beil gestorben war. Ein Medizinmann, jemand, der viel zu sagen hatte, ein Stammesführer letztendlich, und der Herrscher des Landes selbst hatte es sich nicht nehmen lassen, bei der Hinrichtung zuzuschauen. Was nach dem Verlassen mit seinem Richtbeil passiert war, wußte der Mann nicht, aber er konnte es jetzt wieder sehen, und er entdeckte auch das Zittern. Noch stand es still. Auch die Schlangen bewegten sich nicht. Dann das Pfeifen! Ein unheimliches Geräusch, als hätte jemand in eine Flöte aus Knochen hineingeblasen. Das Beil fegte mit der spitzen Seite der Klinge zuerst nach unten, und für den liegenden Mann sah es so aus, als sollte sein Kopf in zwei Hälften gespalten werden, wie ein altes Stück Holz. Er verkrampfte sich – und! Der Schmerz war böse und wütend. Der ehemalige Henker wunderte sich, daß er ihn überhaupt hatte empfinden können. Tote erleben doch keine Schmerzen mehr. Dicht neben sich, genau dort, wo sich sein Ohr befand, wurde das Laken feucht. Blut strömte aus einer Wunde. Der Schmerz biß in seinen Kopf, und Cresson riß die Augen voller Panik auf. Die beiden Schlangen auf seinem Körper waren verschwunden, und das Henkersbeil ebenfalls. Er sah es nicht mehr, entdeckte auch keinen Schatten. Der Mann lag wieder allein im Zimmer und hätte sich sagen können, daß er einen schrecklichen Alptraum erlebt hatte. Nur hinterließen Alpträume keine körperlichen Schmerzen. Und genau die malträtierten ihn. Sein rechtes Ohr schien jemand in eine beißende Säure getaucht zu haben. Cresson wagte es endlich wieder, sich zu bewegen. Mühsam zog er den rechten Arm an, um nach dem Schmerzzentrum zu tasten. Das Ohr war noch da. Allerdings nicht mehr ganz. Von der unteren Hälfte hatte das verfluchte Beil ein kleines Stück abgehackt. Zumindest fehlte ihm das Ohrläppchen. Wo es einmal gesessen hatte, spürte er jetzt nur mehr das dicke, ölige Blut, das aus der Wunde rann und die Decke benetzte. Auguste richtete sich auf. Die rechte Hand hielt er dabei gegen sein verletztes Ohr gepreßt. Die Bewegung war heftig gewesen, er merkte
den Schwindel, der ihn erwischte, und er hatte zunächst den Eindruck, einfach wegschweben zu müssen. Im Ohr tuckerte es. Es floß noch immer Blut. Mittlerweile rann es über seine Handfläche dem Ballen entgegen und von dort aus auf das Gelenk. Er stand auf. Dabei schaute er sich um, weil die Angst vor den beiden Schlangen weiterhin präsent war. Cresson sah sie nicht. Entweder hatten sie sich aufgelöst oder sich irgendwo versteckt, denn dunkle Stellen gab es genug im Raum. Er mußte die Wunde sofort verbinden! Durch den halbdunklen Raum taumelte Cresson auf das zweite Zimmer zu. Dort befand sich nicht nur die Dusche, sondern noch ein altes Waschbecken aus grau gewordenem Porzellan. Er drehte den Wasserhahn auf und hielt den Kopf so, daß der Strahl gegen sein verletztes Ohr floß. Cresson wollte die Wunde waschen. Er fluchte und stöhnte zugleich über die Schmerzen, die sich intensiviert hatten. Nach einer Weile drehte er das Wasser wieder ab und griff nach einem Handtuch, das er gegen sein verletztes Ohr preßte. Dann erst schaltete er das Licht ein. Über dem Waschbecken hatte er die Leuchtstoffröhre an der Wand befestigt. Sie flackerte einmal und erhellte den Spiegel unter ihr. Auguste Cresson sah sein Gesicht. Der eigene Anblick erschreckte ihn. Er traf ihn bis ins Mark, weil er das Gefühl hatte, von einem Monster angeglotzt zu werden. Das Blut hatte er auf seinem Gesicht verschmiert. Selbst auf der linken Hälfte klebte es und war von dem Wasser nicht abgespült worden. Sein Ohr blutete ebenfalls, aber er konnte jetzt gut erkennen, wo sich die Verletzung befand. Das Beil hatte sein Ohrläppchen abgehackt; er würde es blutverschmiert auf dem Laken finden. In der Küche gab es einen Verbandskasten. Cresson wußte, daß ihn diese Wunde nicht umbringen würde, wenn er sie rasch verband. Mit zittrigen Fingern suchte er in den Fächern des Schranks nach dem Verbandszeug. Er fand Pflaster, er fand genügend Mull, er fluchte auch und fing dann an, sich zu verarzten, wobei ihm der Spiegel wertvolle Dienste leistete. Er nahm gleich vier Pflaster auf einmal, klebte sie kreuz und quer und hoffte, daß sein Ohr nicht mehr so stark bluten würde. Der Schmerz aber blieb. Er war unangenehm, biß durch seinen Kopf, und Cresson wollte nicht leiden, deshalb holte er die Schachtel mit den Tabletten hervor und schluckte zwei Pillen. Mit Wasser spülte er nach. Dann band er noch ein Handtuch um seinen Kopf und sah aus wie eine Witzfigur, die im Wartezimmer eines Zahnarztes saß.
Er hatte alles getan, was möglich war. Der Rest mußte heilen. Er würde auch heilen, und er nahm das verkrüppelte Ohr liebend gern in Kauf, wenn damit die andere Bedrohung verschwunden war. Daran konnte er nicht glauben. Bevor er seinen Wohnraum betrat, machte er Licht. Unter der Decke wurde die alte Lampe hell, und sofort fiel Cressons Blick auf das Bett. Am oberen Ende hatte sich sein Blut in das Kopfkissen gesaugt und es verschmiert. Das Kissen würde er wegwerfen können. Er schleuderte es in die Ecke und griff wieder zur Hasche, auch wenn der Alkohol beinahe Löcher in seinen Magen brannte. Daß er die beiden Tabletten geschluckt hatte, interessierte ihn nicht. So leicht würden ihn die Dinge, die nicht zusammen paßten, schon nicht umwerfen. Eigentlich hätte er bereits auf hundertachtzig sein müssen, was bei ihm seltsamerweise nicht der Fall war. Statt dessen fühlte er sich müde, kaputt und ausgelaugt. Vielleicht lag es an der Wirkung der Tabletten und der des Alkohols. Natürlich schmerzte sein verletztes Ohr noch. Darin pochte, klopfte und hämmerte es, aber die Schwere seines Körpers überwog alles andere. So wie er war, ließ er sich auf das Bett fallen. »Keine Schlangen«, murmelte er, »keine Schlangen…« Er grinste wie ein Clown, der einen bitterbösen Scherz gemacht hatte. Dann sackte er weg wie ein Stein. Übergangslos schlief der Henker ein. *** Das grausame Erwachen, verbunden mit den Erinnerungen der frühmorgendlichen Stunden hatte er hinter sich. Er hatte das Bett verlassen und war sich dabei vorgekommen wie sein eigener Großvater. Fix und fertig war er durch das Zimmer geschlurft und hatte sich unter die Dusche gestellt. Seine Kleidung lag neben ihm auf dem Haufen. Das Wasser war um diese Zeit wärmer, aber draußen, wo es längst hell geworden war, breitete sich wieder ein Tag aus, der zum Weglaufen war. Grau, neblig und düster. Mit Wolken, die so tief hingen, daß der Eiffelturm in seinem oberen Drittel kaum zu sehen war. Ein beschissenes Wetter, und so fühlte er sich auch. Selbst die Stimmen von der Straße her, deren Schall an der Hauswand hochglitt, waren leiser als sonst. Das Wetter machte alles dumpf und träge, auch der Henker fühlte sich so. Nach der Dusche ging es ihm besser. Tropmaß verließ er die Kabine und griff nach dem größeren Handtuch, um seinen mit grauen Haaren bedeckten Körper abzurubbeln. Das Ohr schmerzte noch immer. Aber
nicht mehr so wild. Er hatte das Pflaster vor dem Duschen entfernt und sich die Verletzung angeschaut. Viel hatte er dabei nicht erkennen können, weil eine rötlichbraune Kruste das untere Drittel des Ohres bedeckte. Hören konnte er völlig normal, was wichtig war. Er räumte nach dem Abtrocknen seine Klamotten in den Schrank, dann zog er einen Pullover an. Die schwarze Jacke hängte er über eine Stuhllehne und kochte sich zunächst einmal Kaffee. Er brachte seine Lebensgeister wieder in Schwung. Die Kaffeemaschine und die Glotze gehörten zu den modernsten Gegenständen in seinem Zimmer. Cresson verspürte auch Hunger, blickte auf die Uhr und ging davon aus, daß er es wagen konnte. Die beiden Nutten auf seiner Etage bekamen jeden Morgen Croissants gebracht. Zumindest so viele, daß sie eines für ihn übrig hatten. Während der Kaffee lief, ging er in den Flur und hämmerte an die Wohnungstür. Die beiden kannten das Signal. Sehr schnell wurde ihm geöffnet. Zwei müde Augen starrten ihn an. »Habt ihr noch was übrig?« »Ja.« Normalerweise wäre die Frau verschwunden, das tat sie an diesem Morgen nicht. Sie blieb stehen und stierte ihren Besucher an. »He, was ist denn mit dir?« »Was soll sein?« »Dein Ohr, Mann!« »Ach so, ja. Ich habe mich verletzt.« Die junge Frau verzog die Lippen. »Sieht aber nicht gut aus. Als hätte einer unserer Zuhälter zugestochen.« »Der war es bestimmt nicht.« »Bon.« Die Frau nickte. Sie verschwand, um das Gewünschte zu holen. Der Mann nahm wenig später eine Tüte entgegen, in der ein Croissant steckte. »Laß es dir schmecken!« »Danke.« »Und gib auf dein zweites Ohr acht.« »Mach ich, danke!« Der Henker ging in seine Wohnung zurück. Er schloß die Tür und schaute nach dem Kaffee. Der war mittlerweile durchgelaufen. Die große Tasse stand schon bereit, und im Gegensatz zu vielen Franzosen trank er das Zeug schwarz, ohne die viele Milch. Er verzichtete auch auf Zucker, aber sein Croissant mußte er essen. Es war frisch und schmeckte gut, obwohl das Essen an diesem Morgen für ihn nicht mehr als ein reiner Automatismus war, seine Gedanken beschäftigten sich mit völlig anderen Dingen. Zum erstenmal nach langer
Zeit kam dem Mann auch wieder zu Bewußtsein, wie allein er in dieser Situation war. Gut, er hatte zahlreiche Bekannte. In diesem Viertel kannte er fast alle. Man grüßte sich, man redete miteinander, es gab hier keine Standesunterschiede, und er gehörte auch zu den Menschen, die sehr gefällig waren. So hatte er schon des öfteren auf die Kinder einer Nachbarfamilie aufgepaßt oder sich um Tiere gekümmert, wenn deren Herrchen oder Frauchen im Krankenhaus lagen. Bekannte ja, aber keine direkten und engen Freunde, denen er sich anvertrauen konnte. Bisher hatte sich Cresson darüber nicht viele Gedanken gemacht, nun aber sah es anders aus. Plötzlich vermißte er einen Menschen, mit dem er über seine Probleme reden konnte, und das Wort >Merde<, das er zwischen zwei, drei Bissen ausstieß, klang sehr echt. Er trank die Tasse leer, aß die letzten Krümel des Halbmondes und lehnte sich zurück. Sein Blick fiel dabei aus dem Fenster. Gegenüber sah er die graue Front eines Hauses und auch einen Teil des nassen Dachs, bei dem einige Pfannen fehlten. Aus dünnen Schornsteinen quoll magerer Rauch und vereinigte sich sehr schnell mit den tief hängenden Wolken, die so aussahen, als wollten sie den Rauch wieder in die Öffnungen zurückdrücken. Die Erlebnisse der vergangenen Nacht konnte er einfach nicht verdrängen. Es hatte sie gegeben, daran biß keine Maus den Faden ab. Er hatte sich nicht geirrt, und er überlegte jetzt, wie er damit fertig werden sollte. Allein? Das mußte er wohl oder übel, was ihm natürlich überhaupt nicht schmeckte. Cresson dachte über das Beil nach. Es war Realität, er hatte es nicht geträumt, sein verletztes Ohr war dafür Beweis genug. Er war mit dem Leben davongekommen, doch Cresson war sicher, daß es nicht bei der einen Attacke blieb. Das Beil würde ihm vielleicht sogar den Kopf spalten. Und die Schlangen? Als Auguste an sie dachte, schielte er durch den Raum. Er schaute sich die Umgebung an, als wären sie auf dem Teppich zu sehen, aber es war nichts zu entdecken. Keine Schlangen, nur der graue Belag, abgetreten wie ein löchriger Wischlappen. Er hatte sein Leben hinter sich. Ein schreckliches Leben, und er gestand sich jetzt ein, Fehler gemacht zu haben. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, über die zahlreichen Opfer nachzudenken, die er auf dem Gewissen hatte. Auch das System in diesem Land war ihm egal gewesen. Totalitär, brutal, grausam. Eine Opposition hatte es nicht
gegeben, und dieser Herrscher war sogar von einigen Großmächten unterstützt worden. Bis zu dem Zeitpunkt, als er durchdrehte und den Blick für die Realitäten verloren hatte. Da war die Revolution dann stärker gewesen, und auch der Henker des Diktators hatte fliehen müssen. Er war soeben noch über die Grenze entwischt. In Frankreich hatte er sich sicher gefühlt und den Zeitungen die weiteren Entwicklungen in dem Land verfolgt, das einmal seine Heimat gewesen war. Viel hatte sich nicht geändert. Das neue Regime, angetreten mit großen Idealen, hatte ziemlich schnell die Praktiken des alten übernommen. Ein Bürgerkrieg tobte, und Cresson war froh gewesen, nicht mehr zwischen die Mahlsteine der beiden Parteien zu geraten. Bis zur letzten Nacht! Er schenkte noch einmal Kaffee nach. Seine Hand zitterte dabei, was ihn ärgerte, er aber nicht ändern konnte. Sein Blick war trübe, als er auf den schwarzbraunen Kaffee starrte. Die Lippen lagen zusammengepreßt, sie wirkten wie zwei graue Schlauchstücke. Wie ging es weiter? Er wußte es nicht. Aber er wollte auch nicht sterben. Er mußte sich etwas einfallen lassen. Freunde wären jetzt gut gewesen. Cresson lachte scharf auf. Ein Mann wie er hatte keine Freunde. Er hatte sie nie gehabt. Weder in seinem ersten, noch in seinem zweiten Leben. Er war immer auf sich selbst gestellt gewesen, und er hatte auch andere Menschen nicht akzeptiert. Wem konnte er sich anvertrauen? Bei wem konnte er beichten? Plötzlich drang ein Lachen aus seinem Mund. Er war über das letzte Wort in seinen Gedanken gestolpert. Beichten… Davon hatte er nie viel gehalten. Beichten war für ihn etwas für Schwächlinge gewesen und nicht für Menschen, die mitten im Leben standen, schon gar nicht für einen Killer wie ihn. Und doch wollte ihm dieses Wort nicht aus dem Sinn. Es hatte sich in seinem Gehirn festgesetzt. Er dachte daran, daß dieser Begriff so etwas wie ein Zeichen war und ihn auf eine ganz bestimmte Spur bringen sollte. Cresson stand auf. Er schob die Hände in die Hosentaschen und begann mit seiner Wanderung durch den Raum. Das tat er stets, wenn er über ein Problem nachdenken mußte. Immer wieder stolperte er gedanklich über dieses Wort. Warum beichten? Wer hämmerte ihm dieses Wort ein? War es sein Gewissen? Bisher hatte er gedacht, so etwas nicht zu kennen, aber auf einmal ließ es ihn nicht los. Ja, ein Gewissen, eine andere Kraft, die sich von irgendwoher gemeldet hatte.
Gott etwa? Beinahe hätte er gelacht, wie er es früher getan hätte. Doch an diesem späten Morgen konnte er darüber nicht lachen. Er hatte den Eindruck, eine Strafe zu bekommen für all die Greueltaten, die er getan hatte. Und Cresson dachte sogar einen Schritt weiter. Möglicherweise kehrte der Schrecken ja wieder zurück, den er über die Menschen gebracht hatte. In seinen Träumen, die sich zu schweren traumatischen Erlebnissen steigerten und ihm den Schlaf raubten. Er fürchtete sich einfach vor der kommenden Nacht. Allerdings nicht wegen des Beils, sondern wegen seiner Träume, die möglicherweise schon auf dem Weg zu ihm waren. Vor dem Fenster blieb Cresson stehen und strich durch sein Haar. Trotz des getrunkenen Kaffees war seine Kehle trocken geworden, aber das Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Was wollte ihm dieses Wort sagen? Cresson überlegte so intensiv, daß er beinahe schon Kopfschmerzen bekam. Es war der Weg, aber er endete noch vor einer verdammten Mauer. Die mußte er erst einreißen. Er ging das Problem von einer anderen Seite her an. Beichten, das war okay. Aber wo konnte er beichten? In einer Kirche, bei einem Pfarrer! Plötzlich zuckten Cressons Augen, und der durch seinen Kopf rasende Gedanke war wie ein Blitzlicht. Pfarrer! Er kannte einen, schlug gegen seine Stirn und ging rückwärts auf einen Stuhl zu. Er setzte sich hin. Dabei hörte er sich selbst lachen, kippte den letzten Rest Kaffee aus der Kanne in die Tasse und sprach mit sich selbst. »Langsam, Auguste, nur nichts überstürzen. Immer erst nachdenken, bevor du eine Entscheidung triffst.« Das Wort beichten war in den Hintergrund gedrängt worden. Dafür zählte jetzt der Pfarrer. Wie hieß der Mann noch, mit dem er vor gut einem Jahr in Paris zu tun gehabt hatte? Cresson zerbrach sich den Kopf, seine Lippen bewegten sich, ohne Worte oder irgendwelche Sätze zu formen, doch die Gedanken waren da. Sie näherten sich dem Ziel, und er murmelte nach einer Weile die erste Silbe. »Clock… Block… oder so ähnlich.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Tasse wackelte, und jetzt war es wie eine Initialzündung. Plötzlich hatte er den Namen. Ja, das war er. Bloch hieß der Mann. Abbé Bloch! Cresson stöhnte auf. Er preßte beide Hände vor sein Gesicht und fühlte sich erleichtert. Die Luft saugte er durch die Nase ein, über die Lippen glitt ein Lächeln, und er dachte daran, daß ihm dieser Mann einmal
erklärt hatte, daß er immer zu ihm kommen konnte, wenn er sich mal in Schwierigkeiten befand. Damals hatte der Henker nur müde darüber gelächelt und den Zettel mit der Adresse, ohne richtig darauf zu schauen, eingesteckt. Er wußte nur, daß der Abbé nicht in Paris lebte, sondern sogar ziemlich weit von dieser Metropole entfernt. Das war Cresson egal, er mußte nach jedem Strohhalm greifen, der sich ihm bot. Er stützte sich für einen Moment mit beiden Händen auf dem Tisch ab und schnellte förmlich in die Höhe. Innerhalb von Sekunden war der Henker zu einer anderen Person geworden. Er spürte wieder so etwas wie die alte Spannkraft seiner Jugend, die ihn jetzt durchwehte. Er sah wieder Land, hatte eine Zukunft vor sich. Dem unheimlichen Spuk mußte ein Ende bereitet werden. Wenn er es nicht schaffte, dann eben ein Helfer. Damals schon hatte er es gespürt, war aber noch so arrogant gewesen, um darüber hinwegzugehen. Die Adresse des Abbes. Verflixt noch mal, ich habe sie doch eingesteckt! Dachte Cresson. Aber wo liegt der Zettel jetzt? Angestrengt schaute er sich im Zimmer um. Es gab einen Platz, wo er seine privaten Dinge aufbewahrte. Nicht hier, sondern im Nebenraum, wo es ein Versteck gab. Tief holte der Henker Luft. Seine Schritte waren wesentlich forscher und wuchtiger als noch vor wenigen Minuten. In einem ziemlich klapprigen Hängeschrank stand das alte, ovale Porzellangefäß, das er auf einem Hohmarkt erstanden hatte. Früher hatten die Menschen darin Heringe oder andere Fische eingelegt. Er hatte es zweckentfremdet und bewahrte dort seine wenigen Unterlagen auf. Cresson holte das Gefäß hervor. Er öffnete den Deckel und starrte auf das Durcheinander. Zettel und Visitenkarten rutschten durch seine Finger, er schleuderte sie weg, und je mehr Zeit verging, um so nervöser wurde er. Hatte er den Zettel mit der Anschrift verloren? Nein, er war da. Natürlich fand er ihn ganz unten. Wie hätte es auch anders sein sollen, nach einer derartig langen Zeit? Inzwischen waren einige Karten hinzugekommen. Er schaute nach, als er das Blatt Papier auseinandergefaltet hatte. Er hielt es an beiden Enden mit leicht zitternden Fingern fest und las den Text halblaut vor. »Alet-les-Bains…« Ja, das war es. Alet-les-Bains. Im Süden des Landes gelegen. In den nördlichen Ausläufern der Pyrenäen. Sogar eine Telefonnummer war notiert. Cresson lächelte, als er mit dem Zettel in der Hand wieder zurück in das andere Zimmer ging, wo er sich in den alten und schon ausgesessenen Sessel fallen ließ. Die Notiz
behielt er in der Hand. Das Telefon stellte er sich auf die Oberschenkel, drückte sich so weit zurück wie möglich, schloß die Augen – ja, die Zeit nahm er sich, denn er wollte die Vergangenheit zurückholen. Wie war das denn noch vor ungefähr einem Jahr, als ihm der Abbé begegnet war? Hier in Paris und auch in diesem Viertel. Damals hatten die Bäume schon das erste Grün getragen. Ostern war früher gewesen, das schöne Wetter hatte die Menschen aus ihren Häusern gelockt. Auch ihn… *** Cressons Erinnerungen Wenn viele Menschen den Kanal Saint-Martin als ein Kleinod bezeichneten, so wollte jemand wie Cresson nicht so recht daran glauben. Für ihn war es eine Grenze, die er nur überschritt, wenn es sein mußte, denn er fühlte sich in diesem nordöstlichen Teil von Paris wohl, obgleich die Zeiten auch nicht ruhig waren und in den letzten Monaten die Anzeichen für eine vermehrte Bandentätigkeit zunahmen. Junge Banden, die sich Apachen nannten. So hießen vor dem Krieg auch die schweren Jungs, die sich im Osten und Norden von Paris ausgebreitet hatten. Zuhälter, Gauner, Diebe, Hehler und andere lichtscheue Gestalten, die allerdings eines gemeinsam hatten: Sie sahen alle ungewöhnlich wild aus für die damalige Zeit. Mit langen Haaren und Indianerkleidung. Weshalb sich die Gangster Apachen nannten, konnte niemand genau sagen. Manche behaupteten, der Name sei ein Überbleibsel aus der Zeit um die Jahrhundertwende, als Buffalo Bill mit seiner Zirkustruppe die Stadt mit einem Besuch beehrt hatte, aber verbürgt war das nicht. Die Apachen traten meist in Kriegsbemalung auf und scherten sich einen Dreck um Gesetz und Ordnung. Das war in den Kriegswirren gewesen, doch es gab sie noch immer. Eine neue Generation. Noch wilder, noch härter und abgezockter, denn den ersten Apachen waren Drogen fremd gewesen. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Die Drogen gehörten heutzutage dazu, entsprechend gefährlicher war die neue Apachengeneration. Cresson, der Einsame, war eigentlich nie mit ihnen in Berührung gekommen. Er sah sie wohl des öfteren, kannte auch einige von ihnen namentlich, aber Kontakt oder sogar Auseinandersetzungen hatte es nicht gegeben. Das sollte sich an diesem Morgen – es war der Gründonnerstag – ändern. Auguste Cresson war ziemlich früh aufgestanden, die Strahlen der Sonne hatten ihn geweckt, und er war losgezogen, um sich über die
Feiertage mit einigen Lebensmitteln einzudecken. Brot, Käse, Butter, drei Haschen Rotwein, das würde reichen. Und wenn nicht, konnte er noch immer nachkaufen. In Paris hatten viele Geschäfte auch sonntags geöffnet. Wie immer war er zu dem Händler um die Ecke gegangen, hatte die Lebensmittel in den Korb gepackt und war zurück zu seiner Wohnung gegangen. Das Wetter war herrlich. Wenn die Sonne schien, dann schimmerte sogar das schmutzige Kanalwasser golden. An seinem Ufer wuchsen die alten Bäume, dazwischen standen Bänke, die zum Ausruhen einluden. Hin und wieder konnte man auch ein Wort mit dem einen oder anderen Angler wechseln. Zumeist saßen die alten Männer mit ihren Ruten vergeblich am Ufer, denn in dieser Brühe überlebten nur wenige Fische, aber für die Männer war es auch Zeitvertreib, bei einer Zigarette und einem Glas Roten. Auguste Cresson sah den einen oder anderen Bekannten. Auch den > Legionär< traf er. Der war nie in der Legion gewesen, aber Jean hatte, ebenso wie er, lange in Afrika gelebt, und wenn die beiden sich trafen, tauschten sie Gedanken aus und sprachen von den alten Zeiten, die sie glorifizierten. Jean war über siebzig, aber noch nicht verbraucht, im Gegensatz zu seinen anderen Mitstreitern. Er lebte zusammen mit einer Frau, die an ihm einen Narren gefressen hatte. Sie war jünger als er, auch schon fünfzig, und er hatte sie aus Korsika mitgebracht. Jean hatte den Henker schon gesehen. Er wußte nicht, welchen Job Cresson in Afrika ausgeübt hatte. Er glaubte noch immer, daß Auguste der Leibwächter eines hohen Tieres gewesen war, und Cresson ließ ihn gern in dem Glauben. »Wie geht es dir, Auguste?« Er winkte ab und ließ sich neben Jean nieder. Dabei setzte er sich auf den Boden. »Wie immer.« »Mal so, mal so – oder?« »Oui.« »Bei mir ist es ähnlich.« »Und was macht deine Frau?« »Zaza? Ha, sie hat mich rausgeworfen. Wollte ihre Ruhe haben, hat sie mir gesagt.« »Du hast wenigstens eine.« Jeans Pergamentgesicht zerknitterte noch mehr, als er lächelte. »Kannst du auch haben, Auguste. Hol dir ein Weib! Du bist doch noch jung, mon ami. Ich kann mir denken, daß viele Weiber gerade Männer wie dich suchen. Das wirst du schaffen.« »Vielleicht will ich das nicht.«
Jean überlegte einen Moment und drückte den Schirm der flachen Mütze nach vorn, um die Augen gegen die Sonne zu schützen. »Kann sein, daß du recht hast. Aber wenn du noch älter wirst, brauchst du jemand. Das solltest du dir überlegen.« »Mal sehen.« Jean lachte. Er nahm einen Schluck Pastis pur, schüttelte sich und zog die Nase hoch. »Ja, ja, ich habe die Zukunft hinter mir, mon ami, was aber nicht heißt, daß ich mit geschlossenen Augen durch die Gegend laufe, wenn du verstehst.« »Noch nicht.« »Sie sind wieder unterwegs.« »Wer?« »Die Apachen natürlich«, erklärte Jean und gab seiner Stimme einen verächtlichen Klang. »Früher habe ich auch zu ihnen gehört, aber die heutigen sind nicht mehr meine Welt. Zu brutal und abgebrüht. Zu viele Drogen und Gewalt.« »Haben sie denn etwas getan?« »Nein, aber ich konnte in ihre Augen schauen. In ihnen habe ich gelesen, daß sie nur auf Opfer warten. Halte die Augen offen!« »Ich wohne hier im Viertel.« »Schon richtig, aber die drei stammen nicht aus unserer Gegend. Sie sind wohl aus dem Norden gekommen. Na ja, ich wollte es dir nur gesagt haben.« »Danke, Jean.« Auguste klopfte dem Angler auf die Schulter und erhob sich. »Ich wünsche dir noch einen guten Fang.« »Merci.« Auguste Cresson nahm seine Korbtasche und setzte seinen Weg fort. Immer am Ufer des Kanals entlang, vor den Bänken, die zum Teil besetzt waren. Zwei Pärchen knutschten herum und fühlten sich unbeobachtet. Hemmungen hatten sie wohl keine… C’est la vie – das ist Paris! Lächelnd ging er weiter. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Sie fand genug Lücken im Astwerk der noch zum Teil kahlen Bäume. Der Wind war sanft, als wollte er streicheln, und Auguste, der sich in Gedanken befand und darüber sinnierte, ob er sich eine Frau nehmen sollte oder nicht, zuckte plötzlich zusammen, als er das laute Gelächter hörte, in das sich einige Stimmen mischten. Er blieb stehen und schaute nach vorn. Jean, der Angler, hatte von den neuen Apachen gesprochen. Auch Cresson kannte sie, und jetzt sah er sie zwei Bänke weiter. Dort umstanden drei von ihnen eine Bank, wobei diese bestimmt nicht unbesetzt war. Nur konnte Cresson nicht erkennen, wer dort saß, da ihm die Körper der Apachen die Sicht nahmen.
Sie hatten ein Opfer gefunden! Auguste schoß das Blut in den Kopf. Er mußte sich jetzt entscheiden. Entweder ignorierte er die Typen, oder er ging hin und mischte sich ein. Auguste hatte seinen guten Tag. Er wollte nicht, daß dieser herrliche, späte Morgen durch ein böses Ereignis befleckt wurde. Und diese drei sahen ihm nicht eben aus, als gehörten sie zu den Preisboxern. Außerdem waren sie noch recht jung. Langsam ging Cresson näher. Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Er konnte jetzt hören und auch sehen, daß es ein Opfer gab. Auf der Bank saß ein Mann, der seine Beine nach vorn gestreckt hatte. »He, Pfaffe, kannst du schwimmen?« »Bitte, laßt mich in Ruhe.« »Scheiße, wir wollen wissen, ob du schwimmen kannst?« »Nein!« Die drei bemalten Gestalten lachten wieder. Ihre langen Haare lagen seitlich auf den Schultern. Sie amüsierten sich über die Antwort des Pfarrers, und einer von ihnen sprang in die Höhe, wobei er seinen Zeigefinger nach vorn streckte und auf den Geistlichen deutete. »Wenn du nicht schwimmen kannst, werden wir dir es beibringen. Heute ist ein toller Tag, um durch den Kanal zu schwimmen. Du kannst auch paddeln wie ein Hund, wenn dir das lieber ist.« »Bitte, lassen Sie mich in Ruhe.« »Packt ihn!« befahl der Anführer. Darauf hatten die beiden anderen gewartet. Sie standen schon rechts und links des Opfers, schoben ihre Hände in die Achselhöhlen des Mannes und zerrten ihn brutal in die Höhe. Wenn jemand nicht schwimmen konnte, sah es für ihn nicht gut aus. Der Kanal wurde an beiden Seiten von Mauern eingerahmt. In gewissen Abständen gab es Leitern, über die man ans Ufer klettern konnte. Cresson war wütend auf die Halbstarken, die sich auf einen Wehrlosen gestürzt hatten. Er ging jetzt schneller, direkt auf die Gruppe zu. Wie würden sie reagieren, wenn er sich einmischte? Würden sie ihn ebenfalls ins Wasser werfen? Der dritte Apache drehte Cresson den Rücken zu. Er hatte nur Augen für seine Kumpane und den älteren Mann zwischen ihnen, der den Kopf schüttelte und sich auch anders zu wehren versuchte, aber gegen die Griffe der Jüngeren nicht die Spur einer Chance hatte. »Laßt ihn los!« Auguste Cresson hatte nicht sehr laut gesprochen, aber seine Stimme reichte aus, um zumindest bei dem Anführer Wirkung zu erzielen, denn der erstarrte zur Salzsäule, und aus seinem Mund drang kein einziges Wort. Dann drehte er sich um.
Auguste stand zwei Schritte von ihm entfernt. Er schaute in das mit roten und schwarzen Farben bemalte Gesicht des Apachen, der seine Waffe, eine Würgekette, offen am Gürtel trug. »Wer bist du denn?« »Der Sheriff!« Der Apache lachte los. Es hörte sich an, als wäre er im Stimmbruch. »He, Krieger!« rief er seinen Freunden zu. »Schaut mal her, wen ich hier habe!« Sie drehten sich um, ohne den alten Mann loszulassen. »Was ist denn?« »Er ist Sheriff, behauptet er.« »Wo hat er denn seinen Stern?« »Den brauche ich nicht!« erklärte Cresson. »Kann ein Sheriff auch schwimmen?« Der Anführer kicherte. »Können wir ja mal ausprobieren. Dann paddeln sie gemeinsam über den Kanal. Ein Pfaffe und ein Sheriff. Ist mal was Neues.« Er kicherte wieder. Und dann kicherte er nicht mehr, denn der Henker hatte ohne Vorwarnung zugeschlagen. Der Anführer kaute plötzlich auf seinen eigenen Zähnen. Er schmeckte das Blut, und seine Lippen platzten auf wie zwei Rosen. Auguste war ein Mensch, hinter dessen Schlägen viel Dampf steckte, schließlich hatte er jahrelang das schwere Beil geschwungen. Der Anführer wußte überhaupt nicht mehr, was überhaupt los war. Er hatte die Orientierung verloren. Er torkelte zurück, anstatt nach vorn zu laufen. Hinter ihm befand sich der Rand. Und darunter das Wasser. Die Warnschreie seiner Kumpane ertönten, als der bemalte Anführer einen Fehltritt machte und in den Kanal klatschte. Einer der beiden Indianer wollte die Schmach nicht auf sich sitzen lassen, ließ den älteren Mann los und rannte auf Cresson zu. Dabei hatte er ein Stilett gezogen. Die Klinge funkelte im Sonnenlicht. Das sah Auguste, als er sich bückte und in den Korb griff. Er riß die Rotweinflasche hervor und schleuderte sie noch aus seiner gebückten Haltung gegen den anrennenden Apachen. Vielleicht war es Zufall, vielleicht auch Können. Jedenfalls erwischte die volle Rotweinflasche genau den Schädel des Mannes. Das dumpfe Geräusch des Aufpralls hörte Auguste, und er sah auch zu, wie der Typ fiel, als wären ihm die Beine unter dem Körper weggerissen worden. Er landete auf dem Rücken, stieß sich dabei hart den Hinterkopf und verabschiedete sich für eine Weile. Der dritte Apache kriegte das große Hosenflattern. Er ließ den Pfarrer los und rannte weg, als wäre der Teufel mit einer Horde Dämonen hinter ihm her.
Cresson schaute auf die Rotweinlache und die Scherben, die sich auf dem Boden verteilten. Dann nahm er seine Korbtasche wieder hoch und trat auf den Fremden zu. Es war ein weißhaariger Mann mit einem sehr klaren Blick in den Augen. »Es hat wohl sein müssen«, sagte Cresson. »Kommen Sie, ich bringe Sie von hier weg.« »Aber sie werden doch überleben?« »Das denke ich schon. Sie sind wie Raubtiere, die im Dschungel der Großstadt ihre Nahrung finden. Sie haben es auch gelernt, ihre Wunden zu lecken. Im Prinzip sind sie mir ja egal, nur hasse ich ungleiche Verhältnisse.« »Merci, Monsieur.« »Keine Ursache. Kommen Sie.« Cresson kannte sich aus. Er führte den Geistlichen, so sah er seiner Kleidung nach zumindest aus, durch eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern der gegenüberliegenden Seite auf einen Hinterhof, in dem Wäsche zum Trocknen aufgehängt war, und dann durch eine weitere Gasse wieder auf eine Straße, in der das Leben pulsierte. »Darf ich Sie denn einladen, Monsieur? Ich bin Abbé Bloch.« »Oh – ein Pfarrer.« »So ähnlich. Stört Sie das?« »Kaum, sonst hätte ich Ihnen nicht beigestanden.« »Apachen?« Bloch krauste die Stirn. »So werden die Typen genannt.« »Gab es die nicht schon mal in Paris?« »Ja, das ist aber lange her.« »Ich war noch ein Kind«, erklärte der Abbé. Die beiden so unterschiedlichen Männer betraten ein kleines Bistro, in dem Auguste bekannt war und auch mit Vornamen begrüßt wurde. Sie setzten sich an einen freien Tisch, wo der Abbé meinte, daß er zwar jetzt den Vornamen wüßte, aber nicht den Nachnamen. »Ich heiße Auguste Cresson.« »Aha, dann habe ich wenigstens den Namen meines Retters erfahren.« Bloch hob die Schultern. »Es ist wohl meine Schuld, daß ich in diese Lage hineingeraten bin. Ich habe mich verlaufen. Ich war in Gedanken. So ist das eben.« Der Patron stand am Tisch, und seine dunklen Augen stellten stumme Fragen. »Was nehmen Sie, Auguste?« »Einen Roten.« »Für mich auch, bitte.« »Gut, zwei Rote.« Der Patron verschwand und gab einer Kellnerin die Anweisung, beide Männer zu bedienen.
Der Wein stand schnell vor ihnen. Sie prosteten sich zu, und der Abbé bedankte sich noch einmal für seine Rettung, was Auguste peinlich war. Er bekam sogar einen roten Kopf. »Hier mag man wohl keine Priester«, sägte Bloch, als er das Glas auf den runden Tisch stellte. »Wie kommen Sie darauf?« »Nun ja, Sie haben mit unserem Beruf oder unserer Berufung auch nicht eben viel am Hut, wie ich Ihren Worten vorhin entnehmen konnte.« »Das kommt Ihnen nur so vor.« »Wirklich?« Bloch war skeptisch. Auguste strich über sein Gesicht. »Ich bin kein Kirchgänger. Ich habe auch mein Leben gelebt und nicht eben nach den Gesetzen der Kirche.« Er grinste, als er an seine Vergangenheit dachte. »Die eine Tat hat gereicht.« »Wie meinen Sie das?« »Sie gleicht vieles aus.« Cresson wußte nicht, ob der Mann es ihm gegenüber ehrlich meinte. Er schaute in dessen Gesicht und entdeckte weder darin noch in den Augen irgendwelchen Argwohn. Dann dachte er wieder an seine Vergangenheit und schüttelte den Kopf. »Für mich nicht.« »War es so schlimm?« Auguste hob sein Glas an und schaute in das Gesicht des Abbés. »Oui, sehr schlimm.« »Möchten Sie darüber sprechen?« Cresson leerte das Glas und schüttelte den Kopf. »Nein, besser nicht, Abbe.« »Das akzeptiere ich. Es ist Ihre Sache. Aber ich möchte Ihnen trotzdem etwas sagen.« »Bitte.« »Wir kennen uns noch nicht lange. Wir sind sicherlich unterschiedlich, aber trotz aller Differenzen stehe ich in Ihrer Schuld, und das werde ich nicht vergessen.« »Das ist Quatsch.« »Für mich nicht.« »Wie Sie wollen.« »Deshalb möchte ich Ihnen vorschlagen, daß Sie sich vertrauensvoll an mich wenden, wenn Sie einmal Hilfe brauchen. Ich lebe zwar nicht in Paris, meine Heimat ist Alet-les-Bains, aber…« »Das ist im Süden, nicht?« »Richtig.« »Was machen Sie dort? Leiten Sie eine Gemeinde?« »So ungefähr. Aber ich schweife ab. Sollten Sie Sorgen und Schwierigkeiten haben, bin ich gern bereit, Ihnen zu helfen. Und denken
Sie daran, daß seelische Sorgen oft stärker sein können als körperliche.« Cresson lächelte. »Das muß ich mir erst mal durch den Kopf gehen lassen, Abbe.« »Tun Sie das.« »Ich nehme noch einen Wein.« »Gern, aber ich nicht.« Während Auguste bestellte, holte der Abbé einen Zettel aus seiner Innentasche und einen Kugelschreiber. In gestochen scharfen Buchstaben schrieb er eine Adresse auf und eine Telefonnummer. Cresson bekam den Zettel gereicht, warf einen flüchtigen Blick darauf und steckte ihn weg. »Verlieren Sie ihn nicht, Auguste.« »Keine Sorge.« Als der Wein serviert wurde, zahlte der Abbé. »Sie wollen schon gehen?« »Ich muß weiter, Auguste. Ich bin hier in Paris mit einem Bruder verabredet.« Er erhob sich, und auch Cresson stand auf. Bloch lehnte eine weitere Begleitung ab, und beide Männer reichten sich die Hände. Bloch lächelte. »Auf ein gesundes Wiedersehen, Auguste.« »Mal sehen.« »Bestimmt.« »Was macht Sie so sicher?« »Wissen Sie«, sagte der Abbé lächelnd. »Manche Dinge hat man eben im Gefühl.« »Wenn Sie das sagen.« »Bestimmt.« An der Tür drehte sich Bloch noch um und winkte. Dann war er verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Auguste blieb noch sitzen. Er nuckelte gedankenverloren an seinem Wein und schrak zusammen, als plötzlich der Patron neben ihm stand. »Das war ja ein komischer Kauz, Auguste. Ich wußte gar nicht, daß du Priester als Bekannte hast.« »Wußte ich vor zwei Stunden auch noch nicht.« »Und?« »Er ist in Ordnung.« »Kommt aber nicht aus dieser Gegend.« »Nein, aus dem Süden.« »Das ist weit weg.« Der Patron nahm wieder seinen Platz hinter der Theke ein. Auguste aber dachte über den Mann nach. Er holte sogar den Zettel aus der Tasche, las noch einmal den Namen, die Anschrift und auch die Telefonnummer. Dann lächelte er, steckte den Zettel wieder weg und nahm zugleich den Geruch der frischen Baguettes wahr. Er bekam Hunger und war der
erste, der eines bestellte. Dazu trank er seinen dritten Roten, denn er war der Meinung, daß er sich diesen Schluck verdient hatte. Außerdem war eine Flasche zerbrochen. Essen und Trinken konnte an manchen Tagen zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehören. So war es auch heute. Nur wunderte er sich darüber, daß ihm der Abbé nicht mehr aus dem Kopf ging. Einen derartigen Eindruck hatte noch nie ein Fremder bei ihm hinterlassen. Selbst in den blutigen, alten Zeiten nicht. Er hob sein Glas an und sagte, bevor er einen weiteren Schluck nahm: »Sante, Abbé…« *** Der Henker wachte auf wie aus einem tiefen Traum. Die Erinnerungen waren schon sehr deutlich gewesen. Als Filmbilder, die immer wieder gestoppt wurden, waren sie vor seinem geistigen Auge erschienen, und er wunderte sich darüber, wie stark er sich an die Einzelheiten doch hatte erinnern können. Zwischen den Fingern seiner rechten Hand hörte er das Knistern des Papiers. Ihm war nicht aufgefallen, daß er den Zettel regelrecht zerdrückt hatte. Cresson strich ihn wieder glatt, damit er jeden Buchstaben und jede Zahl lesen konnte. Der Abbé hatte ihm Hilfe angeboten, für den Fall, daß er mal in Schwierigkeiten steckte. Das war jetzt der Fall. Nur fragte er sich, ob er den Mann damit überhaupt belästigen konnte. Schließlich ging es um Dinge, die unnatürlich waren, sogar übernatürlich. Er hatte einen Spuk erlebt, eine Halluzination gehabt… Nein, das nicht, denn wie auf Kommando meldeten sich wieder die Schmerzen an seinem rechten Ohr. Also keine Halluzination. Alles war echt gewesen. Und wenn das so stimmte, dann steckte er auch in echten Schwierigkeiten. Sein Blick fiel auf das schwarze, altmodische Telefon mit der Wählscheibe. Sollte er anrufen, sollte er es nicht tun? Lief er nicht Gefahr, sich lächerlich zu machen? Er wußte es nicht. Die Nervosität nahm zu, er bekam feuchte Hände, wieder die trockene Kehle. Er starrte die Zahlenreihe an, bis sie vor seinen Augen verschwamm. Er fühlte sich elend – und auch wieder allein. Jean, der Angler, kam ihm in den Sinn. Er hatte ihm geraten, sich eine Frau zu suchen. Das hatte er bisher nicht getan. Ein Fehler? Möglich. Unter Umständen hätte sie ihm raten können. Anrufen oder nicht?
Cressons Gedanken drehten sich um seine Vergangenheit. Wenn er anrief, würde er sich offenbaren und all seine furchtbaren Taten zugeben müssen. Eine schlimme Vorstellung, die nur noch von der des Todes übertroffen wurde. Vernichtet durch das Henkersbeil. Ihn schauderte, wenn er daran dachte. Das Beil war da. Das Beil gab es noch. Er wußte nicht, wieso und weshalb. Es war nicht nur ein Schatten, hervorgehuscht aus der Erinnerung, nein, das Beil war etwas anderes. Es war ein Rächer. Es war aus diesem verdammten Land herausgekommen, und er hatte dafür keine Erklärung. Der Abbé? Es würde ein langes Gespräch werden. Doch die Beichte, in der er alle Einzelheiten preisgab, die würde später folgen. Und er hoffte jetzt schon, daß man ihm verzieh. Mit zitternden Fingern wählte er die Nummer, wobei er sich jede Zahl laut vorsagte, wie ein kleines Kind. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich auch so. Hilflos… *** Der Abbé hatte an diesem Tag etwas geruht, als an seine Zimmertür geklopft wurde. Auf sein schwaches »Herein« betrat einer der jüngeren Templer-Brüder den Raum. Er trug die Tracht der Templer mit dem roten Kreuz auf dem weißen Grund. Bloch richtete sich auf. »Was gibt es?« »Telefon.« »Wer ruft an?« »Jemand aus Paris.« »Einer unserer Vertrauten oder Brüder?« »Nein, jemand, dessen Namen ich nicht kenne, der aber behauptet, dich zu kennen.« »Wie heißt er?« »Auguste Cresson. Er fügte noch hinzu, daß ein Gespräch sehr wichtig für ihn wäre.« Der Abbé dachte nach. Er murmelte den Namen mehrmals vor sich hin, und er mußte zugeben, daß er ihm nicht fremd war. Momentan allerdings konnte er sich nicht erinnern, woher er den Namen kannte. »Der Mann hat gesagt, es schien ihm sogar peinlich zu sein, daß er dir vor gut einem Jahr in Paris einmal das Leben gerettet hat…«
Plötzlich war der Abbé hellwach. Er fiel dem anderen ins Wort. »Natürlich, Auguste Cresson, jetzt weiß ich es wieder. Himmel, wie konnte ich das nur vergessen!« Der Bote lächelte, reichte dem Abbé das tragbare Telefon und zog sich zurück. »Auguste?« »Sie erinnern sich noch?« »Natürlich.« »Das ist allerhand.« Cresson schwieg, weil er einfach zu überrascht gewesen war. »Was kann ich für Sie tun, Auguste?« »Haben Sie mir nicht mal gesagt, daß ich mich an Sie wenden kann, wenn ich Hilfe brauche?« »Das habe ich, und das habe ich auch nicht vergessen.« Er hörte, wie der andere Mann aufstöhnte. »Wunderbar, es ist schon der erste Schritt. Und ich brauche Hilfe, das können Sie mir glauben.« »Sprechen Sie.« »Es wird aber ein langes Gespräch werden.« Bloch lachte leise. »Für andere Menschen sollte man sich immer Zeit nehmen.« »Gut, dann werde ich mal beginnen…« Es wurde ein langes Gespräch, und das Gesicht des Abbés nahm im Laufe der Erzählung immer härtere Züge an. Er glaubte dem Mann, denn Cresson berichtete mit klaren Worten, und er war kein überdrehter Psychopath, die redeten anders. Er sprach auch von einer Verletzung am Ohr, die er sich bestimmt nicht selbst beigebracht hatte. »Lachen Sie mich nicht aus, Abbe!« »Ich lache Sie nicht aus.« »Danke. Und was soll ich jetzt tun? Ich sitze hier in Paris. Ich habe Angst, denn ich kenne hier niemanden, der mir in dieser Angelegenheit zur Seite stehen könnte. Das begreifen Sie doch.« »Selbstverständlich.« »Gibt es denn eine Chance für mich?« »Ja.« »Und welche?« »Sie kommen her!« Cresson schwieg, denn mit diesem Vorschlag hatte er kaum gerechnet, ihn sich höchstens gewünscht. Er mußte sich erst den Kloß aus der Kehle räuspern, bevor er wieder sprechen konnte. »Sie haben keinen Witz gemacht, Abbe?« »Auf keinen Fall, Auguste. Ich spüre, daß Sie in Schwierigkeiten stecken, und ich weiß selbst, daß es gewisse Dinge gibt, die wir uns kaum erklären können, die aber existieren. Das Böse lauert überall, und
immer wieder erleben wir, daß es zuschlägt. Es wird sehr wichtig sein, daß Sie zu uns kommen.« »Dann werde ich bis Toulouse fliegen.« »Das ist gut.« »Morgen bin ich dann bei Ihnen.« »Nehmen Sie sich einen Leihwagen und geben Sie acht, bitte. Vor allen Dingen in der Nacht.« »Ich werde mich bemühen und mir auch ein Hotelzimmer nehmen.« »Das wird vielleicht am besten sein. Gott segne Sie, Auguste.« »Danke.« Damit war das Gespräch beendet, und ein sehr nachdenklicher Abbé Bloch blieb auf der Kante seiner Liege sitzen. Er hatte die Stirn gerunzelt und hing bestimmten Gedanken nach. Er überlegte, ob der Fall so schwerwiegend war, eine weitere Person mit einzubeziehen. Dieser Jemand lebte nicht in Frankreich, sondern in London. Er gehörte zu den besten Freunden des Abbés. Mit Tatsachen konnte Bloch noch nicht aufwarten, doch er hatte ein gewisses Gespür und ging davon aus, daß der Anruf aus Paris eine Lawine ins Rollen gebracht hatte. Bevor die alles verschüttete, wollte er Gegenmaßnahmen ergreifen, und er wählte deshalb eine bestimmte Nummer in London, wie er es schon öfter getan hatte… *** Suko hatte mich zwar nicht gerade für verrückt gehalten, war allerdings auch nicht begeistert gewesen, als ich ihn von meiner bevorstehenden Reise in Richtung Frankreich informierte und ihm auch den Grund nannte. »Glaubst du dem Abbe?« wollte er wissen. »Ja.« »Warum?« »Ich weiß es nicht.« »Mal wieder das Gefühl?« »So ähnlich.« »Ihr habt aber beide nichts Konkretes in der Hand. Ein Mann, der von einem Beil verfolgt wird, das aus dem Nichts entsteht… Ist das nicht zu weit hergeholt?« Ich schaute meinen Freund an und verdrehte die Augen. »Suko, ich weiß nicht, was du hast. Erinnere dich daran, wie oft wir das schon gedacht haben, dann haben sich die Dinge plötzlich zu einem Wunderwerk des Grauens entwickelt. Der Abbé hat mich gerufen, und er hat es sicherlich nicht grundlos getan, wie ich ihn kenne.« »Das weiß ich auch. Aber diesmal hat er nichts in den Händen gehabt. Er ging nur seinem…«
»Schon gut, schon gut, Suko, du schaffst es nicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Und wenn wirklich nichts ist, dann habe ich zumindest einem Freund guten Tag gesagt und werde im Refugium der TemplerBrüder etwas Ruhe haben.« »Stinkt dir London?« »Hin und wieder.« »Mal hören, was Glenda und Jane dazu sagen.« »Du brauchst es ihnen ja nicht unbedingt unter die Nase zu reiben.« »Das muß ich mir noch überlegen.« Auf jeden Fall war ich von London nach Paris geflogen und wartete nun auf die Maschine nach Toulouse, zusammen mit anderen Passagieren hielt ich mich im Warteraum auf. Bis zum Abflug hatte ich noch mehr als eine halbe Stunde Zeit und hatte es mir bequem gemacht. Mit großem Gepäck war ich nicht geflogen. Neben mir stand eine große Aktentasche, die neben den Toilettenartikeln noch genügend Platz für ein Hemd und eine Ersatzhose bot. Die Tasche ging als Bordgepäck durch. So erübrigte sich für mich ein langes Warten am Gepäckband. Ich nahm mir die Zeit, die eintretenden Fluggäste zu beobachten und hing mit meinen Gedanken dem Gespräch nach, das ich mit dem Abbé geführt hatte. Ich wußte im Prinzip, um was es ging. Der im Mittelpunkt stehende Mann hieß Auguste Cresson. Er war mir auch von meinem Freund Bloch beschrieben worden. Viele Maschinen flogen nicht gerade nach Toulouse, so rechnete ich damit, daß wir uns möglicherweise in derselben Maschine befanden. Das wäre prima gewesen, denn von meiner Existenz ahnte Cresson natürlich nichts. Ich behielt den Eingang im Auge, aber bisher war noch niemand eingetroffen, der dem großen Mimen Jean Gabin ähnelte. Die meisten Passagiere zählte ich vom Outfit her zu den Geschäftsreisenden. Nahe Toulouse lag das Zentrum der europäischen Luftfahrtindustrie, und dorthin >pilgerten< viele Firmenrepräsentanten. Ich streckte die Beine aus. Einen Kaffee hatte ich schon getrunken, wollte keinen zweiten und entspannte mich. Ich freute mich auf den Abbé. Er, meine Freunde und ich, wir waren ein Team, das zahlreiche Gefahren zusammengeschweißt hatte. Außerdem stand bei ihm noch der Knochensessel. Ihn wollte ich auch gern wiedersehen. Ich hoffte noch immer darauf, dank seiner Hilfe eines Tages die Nebelinsel Avalon zu erreichen, wo ich dann endlich wieder Nadine Berger traf, die dort ihr Glück gefunden hatte. Das war Zukunftsmusik, ich mußte mich mehr mit der Gegenwart beschäftigen, und die holte mich plötzlich ein, als ich den Mann mit der abgeschabten Reisetasche in den Warteraum eintreten sah. Das mußte Auguste Cresson sein!
Dieser Mann bewegte sich sehr unsicher. Er kam mir beinahe vor wie jemand, der zum erstenmal flog und dabei Furcht vor seiner Reise hatte. Er ging noch nicht weiter, blieb stehen, hielt seine Tasche dabei krampfhaft fest und schaute sich um. Wahrscheinlich suchte er nach irgendwelchen Verfolgern, die nicht zu entdecken waren. Ich folgte seinem Blick, ohne daß es ihm auffiel. Die meisten Passagiere waren männlich, Kinder befanden sich nicht auf dem Flug. Ein junger Neger fiel mir auf. Er trug eine Brille, war elegant gekleidet und strich hin und wieder über die beiden Revers seines dunkelblauen Anzugs, als hätte er Angst davor, daß ihn die Zeitung, die er las, beschmutzte. Cresson stand noch immer an seinem Platz und knetete mit der linken Hand seine Gesichtshaut. Endlich raffte er sich auf, tiefer in den Warteraum hineinzugehen, war sich aber noch unsicher, wo er seinen Platz einnehmen sollte. Schließlich kam er auf die Reihe zu, in der ich saß, aber er setzte sich nicht direkt neben mich. Zwischen ihm und mir blieben drei Sitze frei. Die Tasche klemmte er zwischen die Beine und schaute stur geradeaus. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn anzusprechen. Er schaute nach links und sah mein Lächeln und mein knappes Nicken. Sofort blickte er wieder nach vorn. Dann suchte er in seinen Taschen, fand einen Zettel, schaute darauf, als wollte er sich das, was dort geschrieben stand, einprägen. Er hatte den Zettel kaum weggesteckt, als wir die weibliche Stimme hörten, die uns aufforderte, die Flugkarten bereit zu halten. Gelassen erhoben sich die Passagiere von ihren Plätzen und bewegten sich auf den Ausgang mit der Kontrolle zu. Eine junge Frau stand dort, das Lächeln wirkte wie eingefroren. Auch der Mann, den ich als Auguste Cresson ansah, war aufgestanden. Ich sorgte dafür, daß ich in seine Nähe geriet, aber nicht so dicht an ihn herankam, daß es auffiel. Ich blieb hinter ihm, zwischen ihm und mir ging eine Frau im gelben Kostüm. Bis auf Cresson hielten alle anderen Passagiere die Tickets in den Händen. Er fummelte in den Taschen seiner hellgrauen Windjacke herum. Ich hörte sein heftiges Atmen. Er war nervös. Die Kontrolleurin zeigte sich geduldig, und Cresson atmete auf, als er sein Ticket endlich gefunden hatte. Er konnte passieren, vor mir ging die Frau her, die auf dem Weg zum Bus Cresson überholte, so daß ich wieder direkt hinter ihm war. Ein steifer Wind fegte über das Rollfeld und zupfte auch an meinen Haaren. Hinter uns stiegen noch zwei Passagiere in den Bus, der sofort abfuhr. Die Maschine würde nicht voll werden. So konnte ich die Chance bekommen, einen Platz zu tauschen und mich in die Nähe des Mannes
zu setzen, vorausgesetzt, das Schicksal hatte uns nicht schon > sitzmäßig < zusammengeführt. Cresson hielt sich an einer Haltestange fest, den Bügel der Tasche in der Hand. Ich hatte mich gesetzt und ließ den Mann nicht aus den Augen. Er schaute ins Leere oder wie jemand, der voll und ganz mit seinen eigenen Problemen beschäftigt ist. Eine Viertelstunde später hatten wir längst den Bus verlassen und befanden uns in der Maschine. Die Plätze waren schnell gefunden. Ich saß am Fenster, und Cresson hatte seinen Platz auf der anderen Gangseite eingenommen. Seine Tasche hatte er verstaut, sich angeschnallt und hockte irgendwie gottergeben in seinem Sitz, den Blick auf seine Knie gerichtet. Sein Platz befand sich schräg vor mir. Ich konnte ihn im Auge behalten, wenn ich mich zum Gang hin umsetzte. Keiner der Fluggäste interessierte sich für den anderen. Die meisten Passagiere lasen und ließen sich auch nicht stören, als der Clipper anrollte. Auguste Cresson veränderte seine Haltung nicht. Die Maschine bekam Fahrt, wurde noch schneller und hob dann ab. Steil stieg sie dem blauen Himmel entgegen, wo sie in eine Kurve flog und südlichen Kurs nahm. Der Flug dauerte etwa eine gute Stunde, aber auch in dieser Zeit konnte viel passieren. Ich wunderte mich selbst über diese Gedanken, wartete zunächst ab und schnallte mich los, als wir die Flughöhe erreicht hatten. Auf diesen kurzen Strecken wurde nur ein kleiner Imbiß gereicht. Eine dunkelhäutige Stewardeß mit Mandelaugen schob den Wagen durch den Mittelgang, war zu jedem freundlich, auch zu Cresson, der regelrecht zusammenschrak, als er sich angesprochen fühlte. »Nein, ich möchte nichts.« »Wie Sie wünschen, Monsieur.« Wenig später war ich an der Reihe und entschied mich für Gebäck und Eis. Bei dem Wetter konnte ein Flug nur ruhig verlaufen, und so war es dann auch. Es gab keine Turbulenzen, doch drinnen sollte bald ganz schön was los sein. Dafür war Cresson verantwortlich. Es fing relativ harmlos an. Da es in seiner Umgebung ziemlich ruhig war, hörte ich sein schweres Atmen. Ich schaute zu meinem >Schützling< hin. Cresson bewegte sich ziemlich unruhig. Er ruckte auf seinem Sitz von rechts nach links, schaute mal zur Decke, dann zum Fenster hin und in den Gang, und er machte alles in allem den Eindruck eines Menschen, der schon unter Druck stand oder unter Flugangst litt. Letzteres konnte ich mir bei ihm nicht vorstellen, es schien der Druck zu sein. Plötzlich stand er auf. Er war förmlich in die Höhe geschossen, als hätte jemand mit einer Nadel in seinen Allerwertesten gepiekt. Er drehte sich um. Ich sah den
Schweiß auf seinem Gesicht, den geöffneten Mund, aus dem nur ein Keuchen drang. Der Stewardeß war nichts aufgefallen, sie hatte sich hinter den Vorhang verzogen, aber Cresson senkte den Kopf und starrte mich mit einem irren Blick an. »Was haben Sie?« fragte ich. Er beugte sich vor und umklammerte mit einer Hand den oberen Rand eines Sitzes. »Er ist da!« Sein Verhalten war den anderen Passagieren nicht verborgen geblieben. Einige von ihnen hatten ihre Sitzposition verändert und schauten in die neue Richtung. »Wer ist da?« fragte ich gerade so laut, daß mich der Mann verstehen konnte. »Der Rächer!« »Wo?« »Weiß nicht!« Er hatte wieder geantwortet, dann zuckte er vor mir zurück. »Verdammt, was sage ich da? Was spreche ich überhaupt mit Ihnen, einem Fremden?« »Weil es gut für Sie ist, Monsieur Cresson!« Die Antwort hatte gesessen. Als er seinen Namen aus dem Mund eines Fremden hörte, zuckte er zusammen, als wäre er mit einer Peitsche geschlagen worden. Ich wußte, was er fragen wollte, aber er bewegte zunächst nur seinen Mund. Dann klang es aus ihm hervor. »Sie… Sie… kennen meinen Namen, Monsieur?« »Sicher.« »Wieso?« »Wollen Sie sich nicht erst mal setzen?« Ich erhob mich und rückte einen Platz weiter, wieder hin zum Fenster, damit der Mann neben mir sitzen konnte. Noch zögerte er. Er war sich unschlüssig. Sein Blick zeigte die reine Panik. Er mußte etwas gesehen und gespürt haben, was mir verborgen geblieben war. Ich wollte es ihm erleichtern und erklärte ihm, daß wir einen gemeinsamen Bekannten hätten, zu dem ich ebenfalls unterwegs war. »Wieso?« »Abbe Bloch!« Cresson schnaufte. Dann blickte er sich um, als wollte er sichergehen, daß mich auch niemand gehört hatte. Er beugte den Oberkörper nach vorn und machte zwei tappende Schritte. »Hören Sie, Monsieur…« »Sinclair, John Sinclair.« »Kein Franzose?« »Engländer, aber bitte, nehmen Sie doch Platz. Der Abbé hat mich Ihretwegen alarmiert.«
Das mußte er erst mal verkraften. Wie eine Schlange wand er sich auf den freien Sitz zu. Er stand unter Strom. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Als er neben mir saß, preßte er die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Fühlen Sie sich jetzt besser?« erkundigte ich mich. »Nein.« »Was ist der Grund für Ihr ungewöhnliches Verhalten?« »Sie haben gut reden. Mein Verhalten ist gar nicht so ungewöhnlich, denn er ist noch immer da.« »Von wem reden Sie?« »Ich meine den Feind!« »Den Rächer?« »Ja.« »Den haben Sie gesehen?« Zuerst schluckte er, dann sah ich ihn heftig nicken. »Der Feind ist hier. Ich kann ihn spüren, aber nicht sehen. Ich weiß es nicht. Er kann sich hinter jedem Gesicht verbergen, auch hinter dem Ihrigen Monsieur Sinclair.« Er drückte sich zur Seite, als wollte er bewußt von mir Abstand gewinnen. »Nein, nein, Sie brauchen keine Sorgen zu haben.« Ich holte meinen Ausweis hervor und ließ ihn lesen. »Sie sind Polizist, nicht?« »Scotland Yard.« Cresson schien beruhigt zu sein. »Und der Abbé hat Sie tatsächlich informiert. Das alles wegen mir?« »So ist es.« »Mein Gott.« Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht glauben. Was hat er Ihnen denn alles gesagt?« »Nicht mehr als Sie ihm, aber Ihre Worte müssen bei ihm eingeschlagen haben wie eine Bombe.« »Ja, kann sein, ich habe mich nämlich auch schon gewundert, daß er mich nicht auslachte.« Er strich über seine Stirn. »Und Sie glauben mir und ihm?« »Sonst säße ich nicht hier.« Cresson drehte den Kopf. Starr blickte er in mein Gesicht. »Ich kann es kaum fassen«, flüsterte er. »Eigentlich müßte ich mich besser fühlen, aber ich tue es nicht. Ich habe immer das Gefühl, als würde mich die Klinge des Beils berühren.« »Hat es Sie verletzt?« »Wie kommen Sie darauf?« Ich übergab der Stewardeß meinen noch vollen Eisbecher und deutete auf Cressons rechtes Ohr, als sie sich umgedreht hatte. »Deshalb?« »Ja, es ist das Beil gewesen, und ich kann mir nicht erklären, woher es gekommen ist. Verflucht noch mal, Sinclair, es verfolgt mich. Es ist mir auf der Spur. Nicht nur als Schatten, sondern verdammt echt. Vorhin,
da… da habe ich es wieder gespürt. Da hatte ich das Gefühl, als wäre es in meiner Nähe, und ich habe auch eine Flüsterstimme dicht an meinem verletzten Ohr gehört, obwohl niemand in der Nähe war. Das Beil ist ein Fluch, es ist mein Tod.« »Noch leben Sie!« Er funkelte mich an. »Das ist kein Trost, Sinclair, denn niemand wird es stoppen können.« »Meinen Sie?« »Ich weiß es.« Er senkte den Kopf. »Es ist ein Fluch, ein Fluch aus der Vergangenheit, der auf mir liegt. Meine Zeit in Afrika hat mich eingeholt, Sinclair.« »Darüber sollten Sie berichten. Vielleicht gelingt es uns, das Problem gemeinsam zu lösen.« »Daran glaube ich nicht.« »Warum nicht?« »Nein, nein und nein. Ich kann es nicht glauben. Es ist zu schrecklich. Ich werde Sie damit nicht belasten, sondern nur mit dem Abbé darüber reden. Ich habe es ihm versprochen. Ich werde bei ihm meine Beichte ablegen.« Er nickte. »O ja, das werde ich, und es wird mich erleichtern. Seelisch, meine ich, wenn Sie verstehen.« Dann lachte er. »Nie hätte ich gedacht, daß ich, ausgerechnet ich, einmal einen Priester konsultieren würde, aber so ist es nun mal gekommen, und ich kann es nicht ändern, wobei ich froh bin, daß ich mich zu dem Schritt entschlossen habe.« »Das liegt an Ihnen, Auguste. Ich will Sie nicht drängen. Sie sollen nichts tun, was Sie nicht vor sich selbst verantworten können.« »Danke, ich danke Ihnen.« »Keine Ursache.« Cresson saß noch immer abgespannt und leicht nach vorn gebeugt. Er schnappte nach Luft. Seine Wangen bewegten sich, als würde er auf Gummibärchen kauen. In den letzten Minuten hatte er sich wieder relativ beruhigt, das änderte sich schlagartig, denn plötzlich nahm seine Haltung wieder jene Gespanntheit an, die ich bei ihm schon kannte. Er wirkte wie erstarrt, den Mund behielt er offen, dann aber drehte er den Kopf und suchte seine Umgebung ab. »Was ist mit Ihnen, Auguste?« »Es ist da… es ist da, Sinclair.« »Wer oder was?« »Das Henkersbeil…« Ich hatte die Antwort sehr wohl verstanden, allein mir fehlte der Glaube daran, denn als ich mich in der näheren Umgebung umschaute, sah ich davon nichts. »Pardon, Auguste, ich will Ihnen ja nicht unbedingt widersprechen, aber ein Beil sehe ich nicht.« »Ich spüre es auch nur.«
»Wie denn?« Er flüsterte und bewegte dabei seine Hände. »Es hat bereits das Innere des Flugzeugs erreicht. Es kommt näher und näher. Seine Kraft wird stärker, jemand muß hier sein, der es unter Kontrolle hält. Einer der Passagiere sitzt hier in der Maschine und ist mein Todfeind. Da können Sie sagen, was Sie wollen.« »Ich werde mich hüten.« Er machte mir einen sehr ernsten Vorschlag. »Gehen Sie lieber von mir weg, Sinclair. Setzen Sie sich woanders hin. Es gibt noch genügend freie Plätze.« »Und warum soll ich verschwinden?« »Weil es Sie sonst auch erwischt! Wollen Sie ohne Kopf in Toulouse landen?« »So schlimm wird es schon nicht werden.« »Doch, das ist es aber.« Er holte schnell Luft. Dann schraubte er sich etwas in die Höhe, um sich besser umschauen zu können. Die Augen bewegten sich hektisch, was auch ich wahrnahm, und allmählich begann ich, mir um diesen Mann Sorgen zu machen. Plötzlich zuckte sein rechter Arm hoch. Er streckte auch den Zeigefinger aus. »Da!« keuchte er. »Da ist es ist!« Ich blickte ebenfalls hoch zur Decke. Verdammt, er hatte recht. Ein Schatten zeichnete sich dort ab. Nein, nicht einfach nur ein Schatten. Es war ein Beil! *** Nicht echt, wohl als Schatten zu sehen, aber die Formen des Henkersbeils konnten einfach nicht verdrängt werden. Der lange Griff oder Stiel und dazu das halbrunde Eisen, das sehr scharf sein mußte. Ich sah auch kein echtes Beil, das diesen Schatten hätte werfen können, und für mich sah die Welt plötzlich anders aus. Ich mußte die Aussagen des Mannes aus einem anderen Blickwinkel bewerten. Der Schatten schwebte genau über uns, das heißt, wenn er fiel, dann würde er nicht mich erwischen, sondern meinen Nebenmann. Auguste Cresson verging fast vor Furcht. Er hockte tief in seinem Sitz, hatte die Beine angezogen, die Arme erhoben und an den Körper gelegt und seine Hände rechts und links gegen die Wangen gepreßt. Er schien eine fötale Haltung einnehmen zu wollen, wie im Mutterleib. »Ruhig«, murmelte ich, »bleiben Sie bitte ganz ruhig. Nur so können Sie uns einen Gefallen tun.« Er schwieg.
Ich war nicht aufgestanden, noch nicht, denn ich wollte etwas anderes tun. Ich griff unter mein Hemd und streifte wenig später die Kette über meinen Kopf. Jetzt lag das Kreuz frei, und sehr langsam stemmte ich mich von meinem Sitz hoch. Es war mir egal, was die anderen Passagiere dachten, aber ich mußte es einfach versuchen. Das Kreuz in der rechten Hand hielt ich hoch. Es sollte nur nahe an diesen Schatten herangeführt werden und mir einen bestimmten Beweis liefern. Den bekam ich zu sehen. Plötzlich fing der Schatten an zu zucken. Zuerst nur leicht. Als ich den Arm noch höher schob, wurde aus dem Zucken ein Tanzen. Ich brauchte nicht erst auf den Sitz klettern, um den Schatten zu vertreiben, denn urplötzlich war er weg. Er schien durch das Dach der Maschine in den Himmel gestiegen zu sein. Nur wenige Passagiere hatten meine Aktion mitbekommen. Sie schauten wieder weg, als ich mich setzte. Auguste Cresson saß noch immer in derselben Haltung, ohne sich zu rühren. Erst als ich ihn anstieß, schreckte er auf. »Was ist passiert, Sinclair?« »Der Schatten ist weg!« »Wie bitte?« »Er ist verschwunden«, antwortete ich und lächelte. »Ob Sie es nun glauben oder nicht.« Das konnte er nicht begreifen. Er schaute mich ungläubig an, dann schielte er nach oben, und die Erleichterung erfaßte ihn intervallweise. Cresson wurde beinahe wieder normal. Diesmal wischte er sein Gesicht mit dem Taschentuch trocken. »Aber… aber… Sie haben den Schatten doch auch gesehen, nicht?« »So ist es.« »Wunderbar, dann bin ich zufrieden. Ich habe ihn mir nicht eingebildet. Ich spinne nicht, und ich bin echt froh darüber, daß sich dieser Schatten nicht verändert hat. Sie wissen schon.« Er deutete auf sein verletztes Ohr. »Da hat er mich erwischt, als er kein Schatten mehr war, sondern ein normales Beil.« »Zumindest beweist es uns, daß man Sie verfolgt, Auguste. Sie werden von einer unheimlichen Macht verfolgt.« »Das ist richtig.« »Und diese Verfolgung muß auch einen Grund gehabt haben.« Für einen Moment schaute er mich nur an. Dann nickte er. »Es hat auch einen Grund gegeben, Sinclair, aber ich kann und will Ihnen den nicht nennen.« »Weshalb nicht?« »Ich rede nur mit dem Abbé darüber und mit niemandem sonst. Haben Sie verstanden?«
Ich legte ihm eine Hand auf den Arm. »Beruhigen Sie sich, es ist auch nicht so dringend. Sie sollen selbstverständlich nur dem Abbé beichten. Nur können Sie wahrscheinlich nicht verhindern, daß ich Ihre Beichte erfahre. Es müßte so sein, wenn wir den Fall lösen wollen.« »Kann sein. Sie sind Polizist, nicht?« »Sicher, warum?« »Nur so. War eine Frage, mehr nicht.« Das glaubte ich ihm zwar nicht so recht, aber es spielte auch keine Rolle. Ich wollte sowieso auf etwas anderes hinaus. »Sie haben vorhin davon gesprochen, daß er in der Nähe ist. Haben Sie damit den Schatten gemeint?« »Auch, aber eigentlich nicht.« »Wen denn?« Er hob die Schultern. »Sie werden mich vielleicht auslachen, aber mir ist etwas passiert, als ich in den frühen Morgenstunden mit der U-Bahn durch Paris fuhr.« »Was war es denn?« Er überlegte sich seine Worte. »Schwer zu sagen, Sinclair oder John…« »John ist besser.« »Gut. Ich saß in dem leeren Zug und schaute aus dem Fenster. Dabei sah ich in der Scheibe nicht nur mein Gesicht, das sich darin spiegelte, sondern noch ein anderes.« »Und was für eines?« »Das eines Schwarzen, eines Menschen aus Afrika, das eines Medizinmannes.« »Den Sie kennen oder kannten?« Er nickte betroffen. »Ich kannte ihn. Ich hatte mit ihm zu tun, aber ich will mit Ihnen nicht darüber reden, John. Erst mit dem Abbé, das ist für mich wichtiger.« »Es ist Ihre Entscheidung.« »Danke.« »Wofür?« »Daß Sie mich nicht weiterhin noch mit irgendwelchen Fragen quälen, John.« »Nein, nein, ich will niemanden zwingen, aber bleiben wir trotzdem bei dem Gesicht. Ist der Mann, dem es gehörte, tot?« »Ja!« stieß er so laut hervor, daß sich einige Passagiere zu uns umdrehten. »Gestorben durch Ihre Hand?« Cresson nickte. »Er ist also ein Medizinmann gewesen, und wenn mich nicht alles täuscht, dann sind afrikanische Medizinmänner allein durch ihr geheimnisvolles Wissen sehr mächtig.« »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Ich habe lange Jahre auf diesem Kontinent verbracht.«
»Kennen Sie den Namen des Medizinmannes?« »Nein. Ich wußte ihn mal, habe ihn aber im Laufe der Jahre wirklich vergessen. – Er kannte sich aus, hat bis kurz vor seinem Tod zahlreiche Beschwörungen durchgeführt, die mir Angst einjagten, aber es war eben mein Job, ihn zu töten.« »Waren Sie der Henker?« Cresson schwieg. Er deutete ein Nicken an, er stöhnte und preßte die Hände vor sein Gesicht, als schämte er sich. »Dann haben Sie noch mehr Menschen exekutiert?« Wieder das Nicken. »Warum?« fragte ich. »Warum taten Sie es?« »Man hatte mich eingestellt.« Sein Gesicht wurde zu einer Grimasse, als er den Kopf hin- und herwarf. »Quälen Sie mich nicht so, John. Ich wollte Ihnen das alles nicht sagen.« »Das kann ich gut verstehen, nur liegt bei Ihnen der Schlüssel zur Gegenwart in der Vergangenheit.« »Das weiß ich jetzt auch.« »Aber der Medizinmann ist tot?« »Ja, geköpft durch mein Beil. Nur sah ich plötzlich das Gesicht in der Scheibe. Und vor nicht allzu langer Zeit hatte ich den Eindruck, es wieder zu sehen. Flüchtig nur, aber es war da.« »Auch in einer Scheibe?« »Nein, diesmal nicht.« »Wo dann?« »Sie können mich auslachen, aber ich hatte den Eindruck, dieses Gesicht unter den Passagieren zu sehen. Ein elegant gekleideter Schwarzer mit einer Brille hat eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Medizinmann.« »Den habe ich gesehen.« Er krallte sich an meinem Arm fest. »Und? Was sagen Sie dazu, John? Bitte…« »Nichts.« »Das enttäuscht mich«, flüsterte er. »Moment mal, Auguste. Sie müssen mich verstehen, aber für mich sah der Mann völlig normal aus, wie ein Geschäftsreisender.« »Klar, wenn jemand damit nichts zu tun hat…« »Wissen Sie was?« Ich lächelte ihn an. »Ich werde den Mann jetzt suchen.« »Hinter uns«, gab mir Cresson den Tip. »Gut.« Ich drückte mich schon hoch, aber Cresson blieb noch sitzen. »Und was wollen Sie von ihm? Ihn ansprechen?« »Nein, nicht unbedingt. Ich will feststellen, wie er auf meinen Anblick reagiert.« »Wie sollte er schon reagieren? Normal, wo er Sie nicht kennt.«
»Warten wir es ab.« Ich schob mich in den Mittelgang und ging nach rechts. Da ich mich sehr langsam bewegte, schauten einige Passagiere auf. Sie nahmen mich einfach nur zur Kenntnis, ohne sich großartig zu verändern. Den Schwarzen sah ich an einem Fenster sitzen. Er schaute hinaus und schien das Land tief unter uns mit seinen Blicken absuchen zu wollen. Als ich in seine Nähe geriet, räusperte ich mich bewußt, was er hörte. Er drehte auch den Kopf. Wir sahen uns an. Für einen Moment nur, und hinter den Brillengläsern verengten sich seine Augen. »Monsieur, ist etwas?« »Nein, nein, pardon. Ich habe mich geirrt, denn ich glaubte, in Ihnen einen Bekannten gesehen zu haben. Ein Irrtum. Entschuldigen Sie nochmals, bitte.« »Das kann vorkommen.« Ich kam mir etwas dumm vor, als ich wieder zurückging. Er hatte völlig normal reagiert, und von Cresson wurde ich bereits voller Spannung erwartet. »Nun?« fragte er, als ich mich gesetzt hatte. Ich hob die Schultern. »Es war nichts, alles normal.« »Wie normal?« »Seine Reaktion.« »Ah, verstehe.« Er nickte. »Ist doch klar. Er hat sich nichts anmerken lassen.« Cresson verengte die Augen. »Das ist ein raffinierter Hund, kann ich Ihnen sagen. Der ist wie sein Vater, denn auch der hat es geschafft. Raffiniert und…« Er hob die Schultern. »Jedenfalls wird er uns nicht aus den Augen lassen. Ich bin fest davon überzeugt, daß er mich verfolgen wird. Er beherrscht das Beil. Er hat von seinem Vater den alten Zauber gelernt, ich spüre es.« »Zunächst einmal warten wir ab.« »Das müssen wir ja.« Auguste Cresson dachte wieder etwas normaler. »Sie kennen sich bestimmt aus in Toulouse?« »Wenn Sie fragen wollen, ob ich den Weg von Toulouse nach Alet-lesBains kenne, dann muß ich Ihnen zustimmen. Ich bin die Strecke schon einige Male gefahren.« »Gut. Ich wollte mir einen Leihwagen nehmen und…« »Wir brauchen nur einen.« »Bezahlen Sie ihn?« Ich lächelte knapp. »Der Staat.« »Das ist gut.« Es ging ihm wieder besser, das sah ich meinem Nebenmann an. Er hatte auch wieder eine normale Sitzhaltung eingenommen, die Beine ausgestreckt und fragte dann: »Interessiert es Sie eigentlich, wie ich den Abbé kennengelernt habe?«
»Es würde mich interessieren, Auguste, wenn ich es nicht schon wüßte. Der Abbé hat es mir berichtet. Wir haben lange miteinander telefoniert. Und er war noch heute sehr beeindruckt von Ihnen. Er hat nicht vergessen, was Sie für ihn taten.« »Das war halb so schlimm.« »Sagen Sie das nicht, Auguste. Was Sie gemacht haben, hätte nicht jeder getan, glauben Sie mir das, denn damit kenne ich mich aus.« Cressons Gesicht rötete sich, denn derartige Komplimente war er wohl nicht gewohnt. Dabei hatte ich es ehrlich gemeint. *** Die Landung in Toulouse war ebenso glatt verlaufen wie der Flug. Empfangen wurden wir von einem blauen Himmel und höheren Temperaturen als in Paris. Mein Begleiter sagte zwar nichts, die Nervosität aber war ihm schon anzusehen, denn immer wieder blickte er sich um, suchte mögliche Verfolger und hatte natürlich den Schwarzen mit der Brille nicht aus den Augen gelassen. Der Mann aber gab sich gelassen oder normal. Jedenfalls fiel er nicht auf, und er kümmerte sich auch nicht um Auguste Cresson, zumindest gönnte er ihm nicht mal einen Blick. Im Gegensatz zu uns wurde er abgeholt. Ebenfalls von einem Schwarzen, der ihn sehr herzlich begrüßte. Der neue Mann sah aus wie ein Modellathlet, sicherlich trieb er sich die Hälfte des Tages in irgendwelchen Fitneßstudios herum. Der Mann war lockerer gekleidet als der Passagier. Eine braune Wildlederjacke, darunter trug er einen dunkelblauen Pullover. Beide Männer verschwanden sehr schnell, während wir uns dem Tresen der Leiwagenfirma zuwandten. »Haben Sie besondere Wünsche, was das Fabrikat eines Wagens angeht?« wollte ich von Cresson wissen, der nur den Kopf schüttelte. Ihm war es egal. Die Bedienung war sehr freundlich und erklärte uns, daß bis auf ein Fahrzeug alle anderen schon vermietet waren. Wir hätten vorbestellen sollen. »Solange es kein Lastwagen ist.« »Nein, nein, Monsieur. Es ist ein Renault Laguna.« »Ist mir auch recht.« »Ein schönes Auto«, erklärte die freundliche Dame. »Das sagt sogar der deutsche Formel-1-Weltmeister.« »In der Werbung?« »Wo sonst?« »Sicher. Wo sonst?« Mir wurden die Unterlagen zugeschoben. Ich zahlte mit der Kreditkarte, und uns wurde erklärt, wo der Wagen parkte.
»Merci, den werden wir finden.« Frühling in Südfrankreich. Ein herrliches Gefühl, ins Freie zu treten und endlich mal einen warmen Sonnenschein zu erleben, auf den wir in London so lange gewartet hatten. Bis zu unserem Ziel war es nicht sehr weit. Wir konnten das erste Stück über die Autobahn fahren. »Ich bin froh, daß Sie sich auskennen, John. So brauche ich wenigstens nicht zu steuern.« Ich winkte ab. »Das packen wir schon.« »Haben Sie Verfolger gesehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht.« Dann schnallte ich mich an und startete. »Aber Sie werden darauf achten?« »Immer.« »Das ist gut.« Auguste Cresson war nicht mehr so nervös, wie ich ihn aus dem Flugzeug her kannte. Es ging ihm jetzt besser. Zwar stand er noch unter Druck, aber die Nähe des Abbes und die Hoffnung auf eine schnelle Hilfe hatten ihn doch gelöster werden lassen. Zudem hatte er sich an einem Kiosk noch eine Dose Wasser gekauft, die er trank, während wir den Parkplatz verließen, auf die Umgehungsstraße westlich des Flughafens gerieten und im Südwesten schließlich die Autobahn erreichten. Verkehr herrschte kaum. »Jetzt können Sie entspannen, Auguste«, sagte ich. »Wieso?« »Oder glauben Sie, daß man uns auf der Autobahn attackieren wird?« Er hob die Schultern. »Was ich glauben soll, weiß ich nicht. Mir ist nur klar, daß sie alle Möglichkeiten haben. Einfach alles, verstehen Sie? Das sind doch keine normalen Menschen, verflucht! Das sind… das sind Wesen oder Geister.« Er schaute mich an, als könnte ich ihm die perfekte Erklärung geben. »Wir werden sehen.« »Haben Sie denn keine Vorstellung, was das sein könnte?« »Sollte ich das?« »Jeder macht sich mal Gedanken.« »Stimmt. Sie haben sich mir gegenüber schon teilweise offenbart. Darüber kann ich mir dann Gedanken machen. Die neuen Ereignisse hängen mit einem alten Fluch zusammen, und Sie sind praktisch das Zentrum dieses Fluchs. Hat man Sie denn verflucht?« »Ich weiß es nicht. Dann hätte ich doch etwas hören müssen – oder?« »Kann sein.« »Ist das denn nicht so?« »Ich kann es Ihnen nicht sagen, Auguste. Es gibt da verschiedene Wege. Nur das Gesicht, das Sie in der Scheibe gesehen haben, weist natürlich auf einen Fluch hin. Vorausgesetzt, es stimmt, daß Sie das
Gesicht eines Medizinmannes erkannt haben, der unter Ihrem Beil starb.« »Ich habe es tun müssen«, sagte er leise. »Es war mein Job. Ich bin von der Legion dorthin gekommen. Es war schwer genug, da rauszukommen. Außerdem wurde ich gut bezahlt. Ich hatte alles frei und bekam noch jeden Monat eine Summe auf ein Konto in der Schweiz überwiesen. Davon lebe ich noch heute. Das Geld wird sogar bis zu meinem Lebensende reichen, denke ich mir.« »Dann haben Sie ja vorgesorgt.« »In dieser Hinsicht schon.« Er wechselte das Thema und wollte wissen, wie lange ich den Abbé bereits kannte. »Oh, das sind schon einige Jahre.« »Und Sie beide sind befreundet.« »Das kann man sagen. Wir haben zusammen schon so manchen Fall gelöst, wenn ich mal im Polizeijargon bleiben darf.« »Alles Fälle wie meine?« »In der Tat.« Über die letzte Antwort mußte der Mann erst nachdenken. Ich sah es ihm an, wie schwer es ihm fiel, damit zurechtzukommen. Schließlich meinte er: »Dann sind Sie ein besonderer Polizist, denn die beschäftigen sich sonst nicht mit derartigen Fällen.« »Das kann man so sagen.« »Sie glauben an das Übernatürliche?« Ich lächelte, als ich seine Skepsis aus der Frage hervorhörte. »Ich habe tagtäglich damit zu tun. Ohne den Abbé und mich loben zu wollen, kann ich Ihnen sagen, daß wir beide für Sie genau die richtigen Partner sind. Wir werden Sie von dem Druck befreien. Von Ihrem Gewissen aber können wir Sie nicht befreien. Die Taten müssen Sie schon mit sich selbst ausmachen.« »Das weiß ich«, flüsterte der Mann neben mir und bestätigte es durch ein schwerfälliges Nicken. »Aber es ist komisch. Früher habe ich kein Gewissen gekannt. Heute aber, wo ich älter geworden bin, holt mich meine schreckliche berufliche Vergangenheit ein. Ich… ich… habe es verdammt schwer, aber ich will mich nicht darüber beklagen. Schließlich trage ich den größten Teil der Schuld daran.« »Es ist gut, wenn Sie es so sehen, Auguste. Dann wird es Ihnen leichter fallen, darüber hinwegzukommen.« »Ich hoffe es.« Toulouse und seine Umgebung lagen längst hinter uns, und auch der Verkehr dünnte allmählich aus. Wir kamen zügig voran, wobei ich durch eine bekannte Gegend fuhr und mich trotz aller Sorgen darüber freute, dem Abbé die Hand schütteln zu können. Cressons Wachsamkeit hatte um keinen Deut nachgelassen. In jeden Wagen, den wir überholten, schaute er hinein, auf der Suche nach
irgendwelchen bekannten Personen, die sich auf unsere Fersen geheftet hatten. Er entdeckte keine bekannten Gesichter. Der Afrikaner aus dem Flugzeug war für uns nicht mehr existent. Beruhigt war Cresson trotzdem nicht. Er leerte den Rest Wasser aus der Dose und drückte sie dann zusammen. »Meinen Sie, daß uns dieses Beil auf den Fersen bleibt?« »Keine Ahnung.« »Aber Sie glauben doch daran. Sie haben es gesehen. Den Schatten an der Flugzeugdecke.« »Stimmt.« »Und er kann sich materialisieren, wenn es darauf ankommt. Ich habe es erlebt. Bei jeder Bewegung spüre ich die Schmerzen in meinem rechten Ohr.« »Das wird vergehen.« »Oder ist erst der Anfang.« Ich wußte auch nicht, wie ich diesen Mann trösten sollte. Aber brauchte er wirklich Trost? Einer wie der, ein Henker, der zahlreiche Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Natürlich braucht jeder Mensch irgendwann einmal Trost, das gehört zum Leben, doch es kostete mich bei Cresson schon eine gewisse Überwindung, denn er war ein Mensch, der mir im Prinzip überhaupt nicht lag. Auf der anderen Seite hatte er dem Abbé selbstlos beigestanden und ihn gegen drei Angreifer verteidigt. Das wiederum tat auch nicht jeder. Mich interessierte natürlich das geheimnisvolle Beil, und ich rechnete eher mit einer Verfolgung dieses Killerinstruments, als mit der des Schwarzen, den wir nun wirklich nicht gesehen hatten. »Wenn Sie Hunger haben und etwas essen wollen, können wir anhalten«, schlug ich vor. »Unsere Zeit drängt nicht. Ich habe mit Bloch keinen genauen Zeitpunkt ausgemacht.« »Hunger?« Er lachte. »Nein, John, fahren Sie ruhig. Ich möchte so schnell wie möglich mein Ziel erreichen und mit dem Abbé über alles reden.« Er nickte. »Ich werde beichten. Ich werde eine Henkersbeichte ablegen, und ich hoffe, daß mir der Himmel vergibt. Ich selbst kann es nicht. Nie hätte ich gedacht, daß ich einmal so unter meinem Schicksal leiden würde. Aber das ist die Gerechtigkeit. Irgendwo ist das Leben immer gerecht.« Die Philosophie stimmte. Ich konnte ihm mit keinem Gegenargument antworten. Rechts der Bahn, Richtung Süden, war der Blick frei. Wir schauten über eine einsame, hügelige Landschaft hinweg, sahen hin und wieder einen kleinen Ort in der Ferne, dessen Häuser wirkten, als wären sie in die Landschaft hineingestellt und vergessen worden. Später, wenn wir die Berge südlich von Limoux erreichten und wir auf der Landstraße fuhren, wurde es kurvig.
Der ehemalige Henker wirkte wie ein Bewacher oder Leibwächter meiner Person. Er konnte einfach nicht ruhig sitzen. Immer öfter blickte er in die verschiedenen Richtungen, aber auch in den Himmel hinein, als erwarte er von dort ebenfalls eine Gefahr. Ein Beil, das sich blitzend und schnell aus der Bläue löste und wie ein Raubvogel sein Opfer suchte. Ich hatte Durst und auch Hunger, deshalb schlug ich eine kurze Rast vor. »Wo denn?« »Dort, wo wir abfahren müssen. Bei Carcassonne.« »Wie lange haben wir dann noch vor uns?« »Eine knappe Stunde.« Aus dem Radio, das ich einstellte, dudelte leise Musik. Angenehme Melodien, nichts, was uns aufputschte, denn harten Rock oder Techno konnte ich heute nicht vertragen. Cresson war so erschöpft, daß er trotz der Bedrohung einschlief. Der Körper fordert eben sein Recht, und der Mann hatte verdammt viel durchmachen müssen. Er kippte gegen die rechte Tür und schnarchte leise vor sich hin. Auch wenn mir das Geräusch auf die Nerven ging, ich ließ Cresson schlafen und stellte nur das Radio etwas lauter. Der Laguna fuhr sich gut. Hier im Süden stand alles in voller Blüte. Die Bäume und Sträucher boten eine wahre Pracht für das menschliche Auge, als wollten sie sich gegenseitig übertreffen. Kein Tag, um sich zu fürchten oder dem Grauen zu begegnen. Mehr ein Wetter, um einen Urlaub zu genießen. Ich genoß es, auch wenn ich im Dienst war. An das Beil dachte ich ebenfalls, und meine Gedanken beschäftigten sich auch mit dem Afrikaner. War er so harmlos, wie er sich gegeben hatte? Ich erinnerte mich an das Treffen der beiden Männer in der Flughafenhalle. Der zweite Mann hatte schon gefährlich ausgesehen, wie jemand, der einem Action-Film entstiegen war. Die Pause wollte ich auch nutzen, um kurz mit dem Abbé zu telefonieren. Am Flughafen war ich darüber hinweggekommen. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis ich die Stadt an der linken Seite der Bahn liegen sah. Die Autobahn führte daran vorbei, aber das Rasthaus konnten wir anfahren. Der ehemalige Henker wachte wie auf Kommando auf, als ich auf den Parkplatz rollte. »Schon da?« fragte er und rieb seine Augen. »Am Parkplatz und am Rasthaus.« »Wieso? Wir…« Er winkte ab. »Ich bin ein alter Esel. Wir wollten ja eine Rast einlegen.« »Und telefonieren.« »Mit wem?« Ich gab ihm die Antwort draußen. »Mit unserem gemeinsamen Freund, dem Abbe.« »Das ist gut.«
Telefonzellen gab es in der Nähe. Auf dem Weg dorthin erkundigte sich Cresson, ob ich noch immer Hunger hätte. »Warum?« »Wenn wir lange essen, dann…« »Werden wir nicht. Mir reicht ein Imbiß.« »Mir auch. Soll ich etwas besorgen?« »Das wäre gut.« Eine Telefonkarte hatte ich mir besorgt. Während Cresson verschwand, schob ich die dünne Scheibe in den Schlitz und tippte die Nummer des Refugiums der Templer in Alet-les-Bains ein. Sekunden später hatte ich Bloch an der Strippe. Er lachte laut, als er meine Stimme hörte, und dann sagte er: »Mein Schützling aus Paris ist noch nicht eingetroffen.« »Kann er auch nicht. Wir fahren zusammen.« »Also hat es doch geklappt.« »Wie du hörst, Abbe.« »Wo seid ihr jetzt?« Ich sagte es ihm. »Das ist gut, dann sehen wir uns ja bald. Gab es Probleme?« »Im Prinzip nicht…« »Das hört sich fast beunruhigend an.« »Wie man’s nimmt.« »Erzähl schon, John.« Ich berichtete von meinem Erlebnis im Flugzeug und auch von Cressons Angst. Ich kam auch auf die afrikanische Magie und den Medizinmann zu sprechen und bat den Abbé, die Augen offenzuhalten, weil damit gerechnet werden konnte, daß sich möglicherweise genau dieser Mensch in Alet-les-Bains zeigte, zusammen mit einem zweiten, den ich dem Abbé als Leibwächter verkaufte. »Das ist ja schon was«, sagte er. »Aber es fehlen die Beweise.« »Was sagt dein berühmtes Gefühl, John?« »Nichts.« »Das ist selten.« »Stimmt. Dieser Mann ist entweder ein eiskalter Typ, oder er ist harmlos. Jedenfalls deutet alles auf eine afrikanische Magie hin. Ich denke da an Voodoo.« »Eine Rache?« »Ja. Die Rache eines Menschen, der durch den Henker Cresson geköpft worden ist.« »Mit Logik kommen wir da wohl nicht weiter.« »Nein, aber es gibt eine Lösung, dessen bin ich mir sicher. Wir reden dann später darüber. Ich habe dich nur kurz vorwarnen wollen. In einer Stunde werden wir wohl bei euch sein.« »Wir warten.«
Auguste Cresson stand schon an der Zelle, als ich auflegte und sie verließ. Er hatte zwei Baguettes mit Käse besorgt und auch etwas zu trinken. »Setzen wir uns auf die Bank«, schlug ich vor. »Genau.« Erst als wir saßen, fragte er: »Was hat der Abbé denn so alles gesagt?« »Er freut sich auf uns.« »Danke. Und sonst?« Ich trank den Kaffee aus der Papptasse, von der ich zuvor den Deckel entfernt hatte. Dann schluckte ich den zweiten Bissen und wischte über meine Lippen. »Ich habe ihm natürlich davon berichtet, was uns widerfahren ist.« »Ja, ja… und?« Er wurde plötzlich hektisch. »Der Abbé wird die Augen offenhalten.« »Das heißt, er schaut nach den Schwarzen.« »Ich habe es ihm geraten.« Cresson starrte mich an. Er lächelte, aber nicht freundlich, mehr wissend. »Dann sind Sie mit mir einer Meinung, daß diese beiden Männer nicht ganz einwandfrei sind?« »Wir müssen eben alles im Auge behalten und wachsam sein.« Wir aßen die Baguettes und schwiegen in der restlichen Zeit. Von der Bank aus schauten wir nach Süden, und wir sahen im Licht der Sonne die Landschaft liegen, in die wir hineinfahren mußten. Ein Erdkundelehrer hätte die Ausläufer der Pyrenäen seinen Schülern als Mittelgebirge verkauft. Wir blickten in die Richtung, wo auch der kleine Ort Alet-les-Bains lag und nicht weit davon entfernt die Kathedrale der Angst, eine schmale Felsschlucht, in der das silberne Skelett des Hector de Valois lag, des Mannes, der praktisch in mir wiedergeboren war. Wir stopften die leeren Tassen in einen nahen Papierkorb und gingen wieder zu unserem Wagen zurück. »Der Rest ist ein Kinderspiel«, sagte ich und lächelte. Cresson verzog die Lippen. »Hoffentlich, John.« »Sie sind skeptisch?« »Bin ich immer in den letzten Tagen. Diese Stunden wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht.« Bevor er einstieg, durchsuchte er den Wagen ziemlich genau. »Was ist los?« »Ich habe nur an die beiden Schlangen gedacht, die wie durch Zauberei in mein Zimmer gelangt sind. Könnte ja sein, daß man sie uns auf die Sitze gelegt hat.« »Die sind leer.« »Glücklicherweise.« Wir stiegen ein, ich startete, und als wir vom Parkplatz rollten, wunderte ich mich über Cressons Verhalten. Ich sprach ihn darauf an, und er hob
die Schultern. »Genau erklären kann ich Ihnen das auch nicht, John, aber es ist schon etwas daran. In der letzten Zeit fühle ich mich wirklich unwohl.« »Wie?« »Na ja, es ist schwer zu erklären. Ich habe den Eindruck, als käme da etwas auf uns zu, das wir noch nicht sehen können. Es ist wie eine gewaltige Wolke, die sich noch im Hintergrund hält, aber nicht mehr lange auf sich warten läßt.« »Meinen Sie?« »Ja!« »Wir werden sehen.« Sehr schnell hatte sich die Landschaft verändert. Abgesehen davon, daß die Straße längst nicht mehr so breit war wie die Autobahn, mußte ich den Laguna auch durch zahlreiche Kurven lenken. In Serpentinen ging es hinauf nach Alet-les-Bains. Zunächst lag der größere Ort Limoux vor uns. Die Straße führte direkt hindurch, und wir erlebten das typische Flair des Südens. Diese Leichtigkeit, mit der die Menschen lebten. Die Straßencafes hatten längst geöffnet, und viele Tische waren besetzt. Mit sehnsüchtigen Blicken beobachtete Cresson das bunte Treiben, seufzte hin und wieder, gab aber keinen Kommentar. Wir durchfuhren die Stadt. Wieder dünnte der Verkehr aus. Wir schienen die einzigen zu sein, die den Weg nach Alet-les-Bains suchten. Wer in den Süden wollte, der fuhr Strecken, auf denen er schneller vorankam. Eine herrliche Landschaft präsentierte sich uns. Sie stand in voller Blüte. Bäume zeigten ihr Frühlingskleid, die Luft war warm, der Wind weich, und ich hatte mein Fenster nach unten fahren lassen, um etwas von der frühlingshaften Frische zu genießen. Dabei kannte ich diese Landschaft auch anders. Sowohl im Winter im Schneekleid als auch im Sommer, wo die Sonne gnadenlos schien und den Boden verbrannte, wie jetzt im Süden Spaniens, wo das Trinkwasser bereits knapp geworden war. Hoch über uns blitzte etwas am blauen Himmel, als wären Sonnenstrahlen von einem Flugzeug reflektiert worden. Ich merkte, daß mich Cresson von der Seite her anschaute. »Haben Sie das auch gesehen, John?« »Sie meinen das Schimmern?« »Ja.« »Was sagen Sie?« »Nichts. Zunächst einmal nichts.« »Ich befürchte einiges.« Er rieb seine schweißfeuchten Handflächen gegeneinander. »Was denn?« »Abwarten.«
Wir hatten ein kleines Tal durchfahren und rollten wieder bergauf. Die Gräser zu beiden Seiten der Straße zitterten im Wind, als wollten sie uns Grüße schicken. Ich hatte es meinem Begleiter gegenüber nicht direkt zugeben wollen, aber das Blitzen war für mich schon irritierend gewesen. Ich rechnete damit, daß es sich irgendwann wiederholen würde, vielleicht sogar aus kürzerer Distanz. Wir hatten die kleine Anhöhe erreicht. Der Motor des Laguna schnurrte wie eine zufriedene Katze, und auch wir hätten zufrieden sein können, wäre da nicht das Schimmern gewesen. Diesmal tiefer und auch vor uns. Auguste Cresson beugte sich der Frontscheibe entgegen. Die Stirn hatte er dabei in Falten gelegt. Die Augen lagen wie Kugeln in den Höhlen. Dann schüttelte er langsam den Kopf und flüsterte etwas, das ich nicht verstand. Es verschwand wieder. »Haben Sie das gesehen, John?« »Sicher.« »Sie sind so ruhig.« Ich konnte das Lachen nicht unterdrücken. »Was sollte ich denn tun? In Panik verfallen?« »Nein, ich dachte eher an einen Stopp.« »Beim nächsten mal vielleicht.« »Dann glauben Sie daran, daß es so etwas gibt?« »Natürlich.« Ich hatte Cresson mit meinen Worten alarmiert. Da ich fahren mußte, konnte er sich umschauen. Er duckte sich, als er sich auf dem Sitz drehte und nach draußen starrte, um den Gegenstand zu entdecken, der uns durch sein Schimmern und Blitzen irritiert hatte. Zu entdecken gab es für uns nichts. Blau und seidig präsentierte sich der Himmel. Die Gegend war leicht zu überblicken. Eine blühende Landschaft, erfüllt von einem wunderbaren Frühlingsduft. »Ich wollte, wir wären schon da und hätten alles hinter uns«, sagte der ehemalige Henker. »Ja, da kann ich nur zustimmen.« »Da, John!« schrie er plötzlich. Einen Augenblick später wußte ich den Grund. Es blitzte wieder. Diesmal vor uns, sehr gut zu sehen. Was im Flugzeug für uns nicht mehr als ein Schatten gewesen war, hatte sich nun materialisiert. Vor uns schwebte das Beil des Henkers, und seine blitzende Schneide zielte genau auf die Frontscheibe… ***
Was mir in zwei Sekunden durch den Kopf schoß, war in Worte kaum zu kleiden. Es gab verschiedene Möglichkeiten. Entweder jagte das Beil auf uns zu, um den Wagen und uns gleich mit zu zerstören, oder aber es fegte darüber hinweg, um unsere Furcht wachsen zu lassen, weil es Zeit benötigte für einen heimtückischen Angriff. Ich bremste. Ziemlich hart sogar. Beide wurden wir von den Gurten aufgefangen. Wir waren nicht mit dem Wagen in die Klinge hineingefahren, denn sie richtete sich nach unseren Verhaltensmustern, also wartete sie darauf, daß wir eine Schwäche zeigten. Neben mir wollte Cresson aussteigen. Ich hielt ihn fest und sagte: »Bleiben Sie hier.« »Und dann?« keuchte er. »Das Beil muß angreifen.« »O ja, es muß angreifen. Es muß zuerst den Wagen und dann uns zerhacken, wie?« Cresson gebärdete sich schlimm. »Keine Panik, Auguste.« »Ich erkenne es wieder. Ich erkenne es genau. Es ist mein Beil, mein verfluchtes Beil! Das Beil, mit dem ich getötet habe. Dicht über der Klinge ist es dunkel. Da hat sich etwas in das Holz hineingefressen. Wissen Sie, was das ist? Was diese dunkleren Flecken zu bedeuten haben?« »Blut«, sagte ich. »Ja. Das Blut meiner Opfer.« Er schüttelte sich. »Verdammt noch mal, könnte ich doch alles rückgängig machen!« Ich verstand ihn, aber es war nicht möglich. Zudem hatte es keinen Sinn, darüber zu diskutieren. Tatsache war das verfluchte Beil, das vor uns schwebte. So leicht ließ es sich nicht vertreiben. Es reagierte nach eigenen Gesetzen, nach Befehlen, die uns fremd waren. Ich gab mich gelassen, innerlich herrschte jedoch Alarmstufe eins. »Was tun wir?« »Ich steige aus.« »Und dann?« »Werde ich mich dem Beil stellen.« Cresson lachte. »Das ist Wahnsinn, John! Das schaffen Sie nicht. Es wird Ihnen den Kopf abschlagen! Denken Sie daran, daß es nicht von einer normalen Hand geführt wird, sondern Befehlen gehorcht, mit denen wir nicht zurechtkommen. Hinter ihm steht ein mächtiger Zauber.« »Stimmt«, sagte ich und löste den Gurt. Obwohl es nur ein Beil war, ging ich davon aus, daß es uns – wie auch immer – beobachtete. Cresson stimmte ich zu.
Dieses Beil konnte durchaus der verlängerte Arm einer fremden Kraft sein, die auch durch die Klinge beobachtete. Wie sonst hätte sie uns dann so schnell finden können? Ich stieg aus. Vorsichtig, immer auf dem Sprung, die Hand in der Nähe der Waffe haltend, obgleich ich mit einer Kugel kaum etwas gegen das Henkersbeil würde ausrichten können. Es war wirklich eine gefährliche Mordwaffe. Ich erinnerte mich an einen Fall, der in der Nähe von London, auf einem Grillplatz im Wald, für Furore gesorgt hatte.* Da war ein unheimlicher Henker erschienen, der die Menschen mit einem ähnlichen Beil erschlagen hatte. Ich kam gut aus dem Fahrzeug heraus und drückte die Tür leise hinter mir zu. Stille umgab mich. Auch der Motor lief nicht mehr. Ich hätte gern die frische Frühlingsluft eingeatmet und mich an der Landschaft erfreut, aber ich sah nur dieses verdammte Beil in der Luft schweben und fühlte mich wie von einem Eisblock umgeben. Die Mordwaffe zitterte nicht mal. Sie stand starr in der Luft und schien mich zu belauern. Sie wartete auf einen Fehler, auf eine Bewegung, die ihr nicht gefiel, um dann zuschlagen zu können. Hinter der Scheibe hockte der Henker wie ein graues Gespenst, das sich nicht zu bewegen wagte. Ich hatte einen schnellen Blick auf sein Gesicht erhascht, wo die Augen weit aus den Höhlen gequollen waren und seine Züge verfremdeten. Das Beil wartete. Ich ebenfalls. Aber ich blieb nicht lange starr. Irgend etwas wollte ich tun, zudem trug ich mein Kreuz bei mir, mit dem ich schon einmal den Schatten vertrieben hatte. Würde es mir auch im Kampf gegen das echte Beil helfen? Der Atem floß zischend über meine Lippen. Ich konzentrierte mich auf das Kreuz und hatte den Eindruck, es als großen Druck auf meiner Brust zu spüren. Vorsichtig bewegte ich meinen rechten Arm in die Höhe, um die Kette mit dem Kreuz hochzuziehen. Es tat mir gut, das dünne Metall zwischen den Fingern zu spüren. Einen Moment später wanderte das Kreuz an der Brust in die Höhe, um sich dem Hemdausschnitt zu nähern. Meine Chancen stiegen, so dachte ich.
* Siehe Sinclair-Taschenbuch 73.164: »Totenplatz«
Es war der falsche Gedanke, denn urplötzlich löste sich die Waffe aus ihrer Ruhe. Es war mit keinem Zeichen zuvor zu erkennen gewesen, sie ruckte vor und wischte auf mich zu. Ich flog nach links. Es war ein gewaltiger Sprung gewesen. Ich wischte über die Straße hinweg, der Graben kam näher, und einen Herzschlag später landete ich in dieser schmalen Mulde, hörte rechts von mir ein sausendes Geräusch, das mich warnte. Blitzschnell tauchte ich unter. Der Graben schluckte mich, während dicht über mir das Beil hinwegwischte. Der Schreck ließ mein Herz rasend schnell schlagen. Ich war heilfroh, ihm entwischt zu sein, aber der nächste Angriff würde folgen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Auf allen vieren kroch ich durch den leicht feuchten Graben nach vorn, holte fieberhaft das Kreuz hervor, behielt es in der Hand und kletterte an der der Straße abgewandten Seite aus dem Graben und hielt sofort nach dem Beil Ausschau. Es war noch da und schwebte wie das berühmte Damoklesschwert über dem Dach des Laguna. Das hatte seinen Grund. Aus Alet-les-Bains war ein großer, dunkler Wagen gekommen und hatte in respektabler Nähe unseres Leihwagens gehalten. Ein Mann war ausgestiegen, ein Schwarzer, den ich zum erstenmal auf dem Flughafen gesehen hatte. Er trug noch immer die braune Jacke und das blaue Hemd, aber auch eine Maschinenpistole, deren Mündung auf mich zeigte. Zu sagen brauchte er nichts. Ich verstand die Drohung und schaffte es noch, das Kreuz in die Hosentasche zu schieben. Die Lage wirkte wie eingefroren und änderte sich erst, als der Mann aus dem Flugzeug den Wagen verließ. Er trug die gleiche Kleidung, rückte seine Brille zurecht, schaute auf seinen Leibwächter und deutete mit einem Lächeln an, wie zufrieden er war. Dann sprach er seinen Mann an, und ich verstand kein Wort von der Sprache. Aber die Mündung blieb auf mich gerichtet, auch dann noch, als der Brillenträger einen Bogen schlug und auf mich zukam. Er geriet nie in die Schußlinie hinein und baute sich an der anderen Seite des Grabens auf. Wenn jetzt ein anderes Fahrzeug gekommen wäre, dann wäre kein Platz mehr gewesen, aber wir blieben allein, und alles wirkte wie abgesprochen. »Ich möchte Ihnen meinen Namen sagen, Monsieur. Ich heiße Okuba.« »Und ich John Sinclair.« »Damit wären wir bekannt.« Der Mann hatte eine wohlklingende Stimme, was mir bereits im Flugzeug aufgefallen war. Er redete weiter. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie vorhaben. Ich weiß nicht, wie Sie zu dem
Henker Cresson stehen, aber ich kann Ihnen nur den Rat geben, sich aus diesen Dingen herauszuhalten. Was hier geschieht, ist die Begleichung einer alten Rechnung. Ich habe versprochen, alles in die Wege zu leiten, um den Mörder meines Vaters zu töten. Und ich bin bekannt dafür, daß ich meine Versprechen halte. Er wird durch seine eigene Waffe umkommen, das steht fest.« »Die Sie beherrschen?« »Ja.« »Und wie?« »Nennen Sie es Zauberei, Monsieur Sinclair. Aber Sie sollten auch wissen, daß mein Vater zu den besten Magiern und Medizinmännern gehörte, die es je in diesem Land gab. Seinen Körper zu töten, war ein großer Fehler, der nur aus Nichtwissen begangen werden konnte. Der Geist meines Vaters lebte weiter, und ich habe für eine gewisse Weile sein Erbe übernommen. Es hat lange gedauert, bis ich das Beil fand und später auch den Besitzer der Mordwaffe, aber jetzt ist es soweit. Ich werde mich von niemandem aufhalten lassen.« »Gehorcht Ihnen das Beil?« »Ja!« »Sie können es führen?« »Nicht nur ich, auch der Geist meines Vaters, der den Leib überlebt hat.« »Dann wollen Sie hier einen Mord begehen?« »Nein, nicht hier. Ich denke, Sie haben einen falschen Eindruck von mir bekommen. Wissen Sie, ich habe lange genug Zeit gehabt, um mir einen Plan auszudenken. Ich will es diesem Mörder nicht zu leicht machen. Er ist der Henker gewesen, das weiß er selbst. Er hat getötet, weil man es ihm befahl. Er war wie eine Maschine. Er hat sich nicht an der Angst und den Schreien der Menschen gestört. Er hat genau das getan, was ihm der Diktator befahl, der letztendlich sein Volk ins Elend geführt hat. Ich könnte ihn jetzt auf der Stelle töten, aber ich werde es nicht tun, denn er soll so leiden, wie seine Opfer gelitten haben. Ich werde ihm die Chance geben, um zu bereuen oder an seiner Angst zu ersticken. Aber ich sage hier vor Zeugen, daß ein Mann wie Auguste Cresson den nächsten Sonnenaufgang nicht erleben wird. Irgendwann zwischen dem Abend und dem Morgen wird ihn das eigene Beil erwischen und köpfen. In der Zwischenzeit aber wird er schreien, jammern, zu seinem Gott beten oder was auch immer. Ich habe ihn beobachten lassen, ich war über jeden seiner Schritte informiert, und ich weiß auch, wo er Schutz suchen wird. Aber er kann ihn dort nicht finden. Derjenige, der versucht, ihn zu schützen, wird ebenfalls ein Opfer seiner Mordwaffe werden.« »Gilt das auch für mich?« »Sie haben Glück gehabt.« »Wieso?«
»Wären Sie am Ziel, würde es für Sie gelten. Ich will kein unnötiges Blut vergießen, deshalb habe ich Sie noch einmal gewarnt. Ich hoffe, Sie werden die Chance nutzen.« »Können Sie sich genauer ausdrücken?« »Ja, das kann ich, und ich will Ihnen auch beweisen, wie mir diese Mordwaffe gehorcht.« Okuba erstarrte für einen Moment. Zuvor hatte er den Kopf gegen das Beil gedreht. Die Bügel seiner Brille blitzten, weil sie vom Licht getroffen wurden. Die Augen hinter den Gläsern zuckten, bevor sie sich weiteten, und dann bewegte sich das Beil nach unten. Die Klinge berührte den Lack des Autodachs, blieb für einen Moment in dieser Lage, bewegte sich nach vorn und kratzte über das Dach hinweg. Dann zuckte das Beil in die Höhe, wobei es vor der Windschutzscheibe und dicht über der Kühlerhaube schwebte. »Reicht diese Demonstration, Monsieur Sinclair?« »Mir schon.« »Dann wissen Sie hoffentlich, daß Sie keine Chance haben. Kehren Sie um, es ist besser für Sie.« »Und was ist mit Cresson?« »Er kann weiterfahren. Er will doch einen Besuch machen. Noch einmal, ich will nur ihn und keinen anderen. Sollte sich aber jemand zu stark für ihn engagieren, ist er schon so gut wie tot.« Mir war schon die ganze Zeit über die kultivierte Sprache des Afrikaners aufgefallen, und ich wollte wissen, wer er war und was hinter ihm steckte. Auf meine Frage erntete ich zunächst ein Lächeln. »Sagen wir so, Monsieur Sinclair. Ich bin Diplomat.« Aha. »Und der Typ mit der Waffe…?« »Heißt Drack und ist mir ergeben. Wir haben in etwa das gleiche Schicksal erlitten, auch seine Eltern wurden durch das Regime getötet.« »Aber nicht durch den Henker?« »Nein.« Drack drehte kurz den Kopf. Es war genau der Blick, auf den Okuba gewartet hatte. Er flüsterte ihm einige Worte zu. Drack blickte mich wieder an, nickte und kam auf mich zu. »Was soll das?« rief ich. »Eine Vorsichtsmaßnahme, Monsieur Sinclair. Ich habe für Menschen einen Blick bekommen. Ich kann sie einschätzen, auch Sie, und ich weiß, daß Sie nicht aufgeben werden. Aber ich möchte nicht unbedingt als Schlächter dastehen, dann würde ich mich mit einer Unperson wie Cresson auf eine Stufe stellen. Drack wird sich um Sie kümmern.« Und Drack grinste niederträchtig, als er die Worte seines Chefs vernommen hatte. Er hatte bereits den Graben übersprungen und näherte sich mir mit den geschmeidigen Schritten eines durchtrainierten
Kämpfers. Die MPi hielt er locker, davon allerdings wollte ich mich auf keinen Fall täuschen lassen. Dann stieß er zu! So schnell, daß ich nicht wegkam. Ich war auch überrascht worden, und der Lauf seiner Waffe drückte sich tief in meinen Bauch. Mir wurde übel. Ich würgte, und die Bewegungen meiner Hände waren fahrig. Von oben her, für mich nicht sichtbar, erwischte mich der nächste Schlag. Diesmal traf er meinen Kopf, und es wurde dunkel um mich herum… *** Auguste Cresson kam sich vor wie in einer Sauna. Er schwitzte buchstäblich seine Angst aus. Er war völlig von der Rolle. Ihm war übel, er hatte Angst, geriet in Panik, und er hatte nicht nur das Kratzen der Klinge auf dem Dach gehört, er mußte jetzt auch mit ansehen, wie dieser Leibwächter auf Sinclair zuging. Wegen des offenen Seitenfensters hatte er der Unterhaltung zuhören können und wußte nun Bescheid. Sie wollten ihn, sie würden ihn bekommen, und sie würden ihn fertigmachen, bevor sie ihn ins Reich der Toten schickten. Das war nicht nur die Rache eines Sohnes. Am liebsten hätte Cresson den Wagen verlassen, um zu flüchten. Doch er wußte auch, daß es nicht klappen konnte. Das Beil war immer schneller als er. Im Lauf würde ihm der Kopf abgeschlagen werden. Obwohl er bald sterben sollte oder mußte, konnte er sich nicht zur Flucht entscheiden. Die Luft roch nicht mehr frisch und blumig, sondern nach Tod und Verderben. Er hatte den Eindruck, Moder und Fäulnis einzuatmen, ein Vorbote der endgültigen Vernichtung. Dann sah er zu, wie Sinclair nach dem ersten Schlag zusammensackte. Man hatte ihm die Mündung in den Magen gestoßen. Der zweite Hieb traf seinen Kopf und löschte das Bewußtsein aus. Damit war wieder eine Hoffnung zerplatzt wie die berühmte Seifenblase. Aus und vorbei. Es gab nur noch ihn und seine beiden Todfeinde. Cresson überlegte, er mit dem Laguna einen Fluchtversuch wagen sollte, das wäre wohl schiefgegangen. Er hätte erst wenden müssen, fast ein Ding der Unmöglichkeit. Weitere Zeugen waren noch nicht erschienen, doch im Rückspiegel entdeckte er ein ankommendes Fahrzeug. Diese Tatsache trieb seine Hoffnung wieder in die Höhe, aber auch die Schwarzen hatten den Wagen schon entdeckt, und sie handelten. Okuba war plötzlich am Wagen und riß die Fahrertür des Laguna auf. Blitzschnell stieg er ein, während Drack den dunklen Chrysler enterte und ihn zur Seite fuhr.
»Wie fühlt man sich neben dem Sohn eines Opfers?« flüsterte Okuba. Cresson schwieg. Beide hörten, wie das Beil seitlich über das Dach hinwegschabte und dann zu Boden fiel, wo es auch liegenblieb. Der andere Wagen war jetzt da. Ein gelber, staubiger und ziemlich alter Fiat rollte an ihnen vorbei. Zwei junge Leute saßen darin und schauten verwundert aus den Fenstern. Sie hielten aber nicht an, sondern rollten weiter. Ein Weinkrampf schüttelte den Henker. Er hatte verloren, das wußte er. Die Finger des Schwarzen klemmten sein Kinn ein. »Du heulst wie ein altes Weib, Henker! Früher hast du nie geweint. Du hast niemals Mitleid gehabt. Du hast sie alle getötet. Du bist herzlos gewesen. Es war dir auch egal, wen du getötet hast, selbst zwei Frauen starben unter den Hieben deiner Axt. Und dafür wirst du bezahlen…« »Das ist vorbei!« jaulte Cresson. »Nicht für mich.« Auguste versuchte es trotzdem. »Es waren andere Zeiten.« »Nein, nur andere Menschen. Schau mich an!« Als Cresson nicht gehorchte, drehte Okuba seinen Kopf so, daß er ihn anschauen mußte. Und dabei passierte etwas Unheimliches, denn die Züge des Sohnes alterten in Sekundenschnelle. Wie Cresson es schon in der Scheibe des U-Bahn-Fensters gesehen hatte, so passierte es auch hier. Das Gesicht blieb nicht mehr das gleiche. Ein anderes schob sich darüber, ein älteres und ein bekanntes. Es gehörte dem Medizinmann, das wußte Cresson, denn er war schließlich der Scharfrichter gewesen. Vater und Sohn wurden zu einer Person. Ein Toter und ein Lebender schoben sich zusammen, und etwas Kaltes wehte wie ein Eishauch aus dem Jenseits durch den Wagen. Jemand sprach. Es war nicht Cresson, aber auch nicht Okuba. Eine neue Stimme war entstanden, und auch sie hörte sich an, als wäre sie aus zwei Stimmen zusammengesetzt worden. Vater und Sohn eben… »Ich habe die alten Rituale erlernt und übernommen. Ich wußte, wie man den Tod kontaktiert. Der Weg ins andere Reich, in das Reich der Götter und Geister wurde mir freigemacht, und ich habe den Geist meines Vaters zurückholen können, der keine Ruhe finden konnte. Er wird erst seinen Frieden erhalten, wenn der nicht mehr lebt, der ihn getötet hat. Und das wird bald der Fall sein.« Cresson konnte keine Antwort geben. Er kam sich vor wie jemand, der aus seiner Welt hervorgerissen worden war und irgendwo zwischen den Zeiten schwebte. Wasser floß aus seinen Augen, Schleim aus der Nase, dann spürte er einen Schlag an der Stirn. Mit dem Hinterkopf prallte er gegen die
Seitenscheibe. Verschwunden waren die Kälte, die Stimme, das fremde Gesicht. Er schaute wieder in die Züge des Sohnes. »Du kannst jetzt fahren!« sagte Okuba. »Fahre dorthin, wo man dich erwartet und selbst ein Mann wie du noch Freunde hat. Aber sage ihnen, daß du den nächsten Morgen nicht erleben wirst. Daß wir immer auf dich achtgeben werden. Sage ihnen auch, daß sie dem Beil nicht entkommen können.« Er lachte und verließ den Wagen. Auguste Cresson kam nur langsam zu sich. Er wischte mit einem Taschentuch sein Gesicht trocken, konnte wieder normal sehen und starrte durch die Scheibe. Dort wartete Drack. Seine Maschinenpistole war verschwunden. Er hatte sie mit dem Henkersbeil vertauscht. Nahezu locker hielt er es in der rechten Hand und ließ es wie ein Pendel leicht über den Boden schwingen. Sein flaches Gesicht sah aus wie eine Maske, und die Haut wirkte so, als wäre sie mit alter Asche bestäubt worden. Sein Chef stand bereits am Chrysler. Beide Männer warteten darauf, daß Cresson startete. Das wollte er auch, nur mußte er zuvor den Platz wechseln. Er zitterte noch immer und fragte sich, ob er seelisch und körperlich überhaupt in der Lage war, ein Fahrzeug zu lenken, doch das war jetzt zweitrangig. Er mußte es einfach versuchen, wollte er noch einige Stunden am Leben bleiben. Als er den Motor gestartet hatte, trat Drack locker zur Seite und gab den Weg frei. Er konnte es aber nicht lassen, das Beil einzusetzen. Die Klinge schrammte über die rechte Seite hinweg und hinterließ dort eine weitere Macke. Schweigend und zitternd fuhr Auguste Cresson weiter. Er passierte auch den pechschwarzen Chrysler, der ihm vorkam wie ein rollender Sarg. Okuba war wegen der dunkeln Scheiben nicht zu sehen. Er lauerte wie ein Raubtier im Fond. Dann lagen die beiden hinter ihm. Vor ihm fiel der Blick auf die blühende Landschaft, die dem einsamen Fahrer vorkam wie ein gewaltiger Friedhof… Ich kam wieder zu mir. Irgendwie ging es ja immer weiter. Zwar hatte ich keinen Schädel aus Eisen, aber dieser Drack hatte nicht zu fest zugeschlagen, und auf der anderen Seite mußte es mir auch gelungen sein, den Kopf im letzten Augenblick noch zu drehen, so daß der Schlag teilweise an meinem Schädel abgerutscht war. Wie dem auch sei, man hatte mich ausgeschaltet, und ich lag bäuchlings und mit dem Gesicht im Dreck. Luft hatte ich trotzdem bekommen, denn ich hatte mich mühsam auf den Rücken gewälzt. Nun starrte ich in die blendende Sonne.
Es war zum Heulen. Außerdem war ich mir meiner Sache zu sicher gewesen. Ich hätte schneller und besser reagieren müssen. Statt dessen lag ich neben der Straße auf dem Feld und wußte nicht, ob ich mich gleich übergeben mußte. Verdammt übel war mir jedenfalls. Der Lauf der Waffe hatte sich tief in meinen Magen gebohrt. Später war dann noch der Kopftreffer hinzugekommen. Mein Schädel brummte, mein Magen revoltierte, und ich übergab mich… Danach ging es mir ein wenig besser. Über dem rechten Ohr war die Haut aufgerissen. Die Waffe hatte dort eine lange Schramme hinterlassen, aus der noch immer Blut quoll. Mein Kreislauf war nicht okay. Es war einfach zu warm. Ich kroch ein Stück vor und drehte mich schließlich so, daß ich über den Graben hinweg auf die Straße schauen konnte, die vor mir als graues, leeres Band entlanglief. Einsamkeit umgab mich. Ich kam mir verlassen vor. Ich war reingelegt und ausgeschaltet worden. Da half kein Fluchen, kein Ärgern, es war nun mal so. Aber ich mußte weiter. Ich durfte auf keinen Fall hier liegenbleiben und mich ausruhen. Die Worte des Diplomaten hatte ich nicht vergessen. Er würde sich rächen und den Henker zunächst leiden lassen. Und er würde außerdem all diejenigen töten, die es wagten, Cresson zu beschützen. Davon war ich weit entfernt, nicht aber meine TemplerFreunde. Ich ging davon aus, daß die beiden Afrikaner Cresson hatten fahren lassen. Sie wollten ihn ja quälen und an seiner eigenen Angst vergehen lassen. Und sie waren durch ihre verfluchte Voodoo-Magie so stark, um alle Hindernisse überwinden zu können. Wie viele Kilometer lagen noch vor mir, bis ich Alet-les-Bains erreichte? Ich konnte mir darauf keine Antwort geben und dachte daran, daß es zu viele waren. Dennoch wollte und konnte ich nicht auf diesem verdammten Feld liegenbleiben. Ich mußte mich aufraffen und losziehen. Schwankend, erschöpft, mit Kopf- und Leibschmerzen, aber es blieb mir nichts anderes übrig. Außerdem gab es da noch den Begriff Glück. Die Strecke nach Alet-lesBains war nur wenig befahren. Ich setzte meine Hoffnung trotzdem darauf, daß ein Autofahrer Mitleid bekam und mich einsteigen ließ – wenn er mich sah. Ich raffte mich auf, mußte mich jedoch mehrmals abstützen, sonst wäre ich gefallen. Auf dem unebenen Untergrund blieb ich breitbeinig stehen, schwankend, nach einem Halt suchend, den es nicht gab. Den Graben konnte ich nicht überspringen. Ich durchkletterte ihn und war froh, endlich Asphalt unter den Füßen zu spüren, der mir doch einen gewissen Halt gab. . Erst jetzt kam mir der Gedanke, nach meinen Waffen zu forschen.
Es gab mir Mut, als ich die Beretta fand. Der Leibwächter hatte sie mir nicht abgenommen. Ein Fehler? Darauf hoffte ich, aber noch war es nicht soweit. Die ersten Schritte fielen mir schwer. Ich schaute nach unten und beobachtete zunächst den eigenen Schatten. Dann blickte ich in die Weite vor mir, wo die Luft im Licht der klaren Sonne tanzte, aber die Häuser von Alet-les-Bains waren noch nicht zu sehen. Wie zum Hohn erschien wenig später eine Bushaltestelle. Ich überlegte, ob ich auf den Bus warten sollte, doch das dauerte mir zu lange, deshalb schleppte ich mich weiter. Immer der Straße folgend, in der Hoffnung, bald an das Ziel zu gelangen. Die Beine und Füße waren schwer. Oft genug schleiften sie über den leicht angerauten Straßenbelag, und ich kam mir vor wie ein Bär. So wurden Helden gemacht, aber sehr traurige, wie ich einer war. An die Stille der Landschaft hatte ich mich gewöhnt. Ich lauschte meinem Atem und den Tritten. Fremde Geräusche würden mir sehr schnell auffallen. In der Tat hörte ich eines. Ich baute mich am Straßenrand auf, drehte mich um und schaute einem Wagen entgegen, der in meiner Richtung fuhr. Ich hob beide Hände und hoffte. Vergeblich. Der Wagen rauschte an mir vorbei. Und der Fahrer lachte mir sogar noch zu. Den Fluch, den ich dem Fahrzeug nachschickte, hörte der Fahrer zum Glück nicht. Er hätte ihm bestimmt das Lachen verdorben. Dann kam ich auf die Idee, mal nach der Zeit zu sehen. Die Zeiger der Uhr verschwammen, ich mußte schon genauer hinschauen und stellte fest, daß der Nachmittag weit fortgeschritten war. Die Sonne bewegte sich in Richtung Westen. Ich ging weiter. Immer am Rand der Straße entlang. Ich wollte dabei meine Gedanken ausschalten und einfach nur gehen. Die Beine in Bewegung halten, die mich irgendwann ans Ziel brachten. Ein Dröhnen schreckte mich aus meinem Tran. Sofort hämmerten die kleinen Bohrer in meinem Kopf stärker. Ich drehte mich mühsam um und entdeckte hinter mir ein Ungeheuer, einen modernen Saurier. Dabei war es nur der normale Linienbus. Der Fahrer hatte mich gesehen, und er hatte nicht nur gehupt, er war auch dabei, seine Geschwindigkeit zu senken. Für mich der Beweis, daß er stoppen wollte. ‘ Ich blieb stehen. Der Busfahrer hatte die Bremse bereits betätigt. Ich hörte das Zischen, und dann stoppte der Bus direkt neben mir. Die Tür öffnete sich, ich konnte einsteigen, und die großen Augen des noch jungen Fahrers schauten verwundert zu, wie ich mich in das Fahrzeug hineinquälte. Zum Glück gab mir eine Stange Halt. »Himmel, was ist denn mit Ihnen los?« Ich stöhnte, verzog das Gesicht und gab die Antwort ziemlich krächzend. »Ich glaube, ich habe mich verlaufen.«
»Das ist gut. Wo wollen Sie denn hin?« »Alet-les-Bains.« Ich legte eine Handvoll Kleingeld hin. »Merci.« Der Bus war beinahe leer. Nur im hinteren Bereich saßen zwei ältere Frauen und unterhielten sich leise. Ich suchte mir einen Platz in der Mitte aus und ließ mich erschöpft in den Sitz fallen. Erst als ich saß, startete der Fahrer. Ging es mir gut? Nein, aber es ging mir besser. Ich brauchte nicht mehr zu laufen, und ich konnte darauf hoffen, bei meinen Templer-Freunden die richtige Behandlung zu finden, wobei ich Cresson und eigentlich uns allen die Daumen drückte, daß sich Okuba bisher mit seiner Rache zurückgehalten hatte. Über meine nächsten Gedanken mußte ich selbst grinsen. Im wilden Westen war der Held immer auf einem Pferd in die Stadt geritten. In SFFilmen kam er im Raumschiff oder durch ein Schwarzes Loch, wie auch immer. Ich aber fuhr mit dem Bus, obwohl ich ihn auf dem Fahrplan übersehen hatte. Nun ja, Helden sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren… *** Er hatte es geschafft, aber Cresson hatte sich nur wenig beruhigen können. Zumindest war die große Furcht verschwunden, und er hatte auch das Refugium der Templer gefunden, wo der Abbé ihn schon vor der Haustür begrüßt und auch in die Arme geschlossen hatte. Dann aber hatte er die Frage gestellt, vor der sich Cresson fürchtete. »Wo ist John Sinclair?« Der Henker schaute den Templer an. Er wollte reden, konnte aber nicht. Er schluckte, und Bloch merkte sehr schnell, daß mit seinem Besucher etwas nicht stimmte. »Kommen Sie erst mal rein.« Er führte seinen Gast in den kühlen Flur und dann durch bis zu seinem Arbeitszimmer, wo Cresson auf einem Stuhl Platz fand und ins Leere starrte. Jemand brachte Wasser. Cresson trank, hatte den Kopf dabei angehoben und hätte den Knochensessel sehen müssen, was wahrscheinlich auch der Fall war, aber er schaute einfach hindurch oder an ihm vorbei. Er leerte das Glas, goß nach und trank wieder. »Geht es Ihnen jetzt besser?« »Ja.« »Das ist gut.«
Cresson hob die Schultern. »Wir haben wohl beide versagt, John und auch ich.« »Lebt er denn?« »Das hoffe ich.« Der Abbé blieb ruhig. »Sehr hoffnungsfroh hat das aber nicht geklungen.« »Das weiß ich.« Cresson senkte den Kopf, schüttelte ihn und flüsterte dann. »Ich werde in dieser Nacht sterben.« Bloch hatte die Worte sehr wohl gehört, ging aber nicht auf sie ein, sondern wollte wissen, was auf der Fahrt in den Ort geschehen war, und Auguste antwortete mit einem schlichten Satz: »Wir sind überfallen worden!« »Was? Von wem?« »Von zwei Afrikanern, Abbé. Von denen, die die Rache wollen. Ich war ein Feigling. Ich war nicht mehr so gut wie noch vor einem Jahr, als ich Sie aus dem Wasser fischte. Diesmal habe ich nicht eingreifen können, um John aus der Patsche zu hauen…« »Wissen Sie, Auguste, Sie dürfen das nicht so eng sehen. Es waren sicherlich andere Verhältnisse als damals in Paris.« »Das stimmt«, gab er zu. »Würden Sie mir genau berichten, was Sie auf der Straße erlebt haben?« »Das werde ich.« »Sie können sich Zeit lassen, Auguste, wir sind hier sicher und auch unter uns!« Cresson hob den Kopf. »Sicher?« flüsterte er und gab sich selbst die Antwort. »Nein, wir sind auf keinen Fall sicher, Abbé. Man ist vor dem Beil nie sicher. Wenn die anderen es gewollt hätten, dann wären John und ich schon längst tot.« »Aber sie wollten es nicht?« »So ist es.« »Kennen Sie den Grund?« »Der wurde uns genannt«, murmelte Cresson, »eigentlich mir, weil es mich ja etwas anging. Ich soll nicht sofort sterben, sondern Todesqualen erleiden, wie es meine Opfer damals getan haben. Wenn ich darüber nachdenke, finde ich es sogar irgendwie gerecht. Ich war eine Mordmaschine, ich war ein…« »Bitte, drücken Sie die Emotionen zurück. Bleiben Sie bei der Sache, Auguste.« »Von Beginn an?« »Gern.« Cresson überlegte. Er faltete die Hände zusammen wie jemand, der betet. Während er sprach, schaute er den Abbé nicht an. Er schämte sich, er redete ins Leere und über den Tisch hinweg, aber er ließ keine
Einzelheit aus, und Bloch hörte gespannt zu, später auch weniger sorgenvoll und erleichtert, weil er einfach davon ausging, daß sein Freund John Sinclair nicht tot war. »So, jetzt wissen Sie alles.« »Merci, mon ami, das war sehr gut. Aber Sie entschuldigen mich für einen Moment.« »Wo wollen Sie hin.« »Nur den Freunden Bescheid geben, daß sie sich in den Wagen setzen und John Sinclair suchen sollen. Ich möchte ihn so rasch wie möglich hier bei uns haben.« »Das ist eine gute Idee.« Der Abbé ging nach draußen und ließ seinen Gast allein zurück. Kurz bevor die Tür zuschlug, wehte aus dem Flur noch ein kühler Luftzug durch den Raum und ließ Cresson schaudern. Er schaute schnell zur Tür, entdeckte dort aber nichts Verdächtiges. Es war klar, daß sich seine Gedanken ständig um das tödliche Beil drehten. Er wußte selbst, wie höllisch scharf es war, schließlich hatte er es lange genug benutzt. Sein Mund war vom langen Reden wieder trocken geworden. Er goß Wasser in sein Glas und trank wieder. Es ging ihm rasch besser, und als er einen Blick auf seine Hände warf, da sah er, daß sie nicht mehr so stark zitterten. Es ging ihm besser. Würde es auch so bleiben? Cresson schaute sich endlich richtig um. Er sah die Bücher in den Regalen, er sah auch das spartanische Bett oder mehr eine Liege, auf der sich der Abbé hin und wieder ausruhte, er sah das Fenster, und er sah auch den Sessel. Zum erstenmal nahm ihn der Mann richtig wahr. Er konnte kaum fassen, daß dieser Sessel nicht aus einem normalen Material bestand, wie es üblich war, sondern aus Gebein! Knochen – dunkel und leicht glänzend. Der Sessel bildete einen regelrechten Körper. Die Schultern waren als Lehnen ausgelegt, und in deren Mitte ragte ein Totenschädel hoch. Der Anblick des Knochensessels wühlte den Mann auf. Er war kurz davor, sich in die Höhe zu stemmen, um das Zimmer zu verlassen. Durch den Sessel war es für ihn zu einem Horror-Kabinett geworden, und er fragte sich zwangsläufig, in was er da hineingeraten war. Wie konnte ein so frommer und ausgeglichener Mensch, wie der Abbé es war, sich nur einen derartigen Gegenstand in den Raum stellen? Das wollte ihm nicht in den Kopf. Das war einfach nicht zu fassen. Schon beim Eintreten hatte er den Eindruck gehabt, nicht in ein normales Kloster zu gelangen. Dies hier war etwas anderes. Es war
geheimnisvoller, düsterer und durch die Existenz des Sessels auch erklärbarer geworden. Die dunklen Gebeine hatten keine einheitliche Farbe. Mal changierten sie heller, mal dunkler, und als er den Kopf betrachtete, da hatte er den Eindruck, als läge in den tiefen und leeren Augenhöhlen ein geheimnisvolles und finsteres Leuchten, vergleichbar mit einem unheimlichen Feuer, das seinen Weg von der Hölle her in die normale Welt gefunden hatte. Ein derartiges Sitzmöbel verursachte bei einem sensiblen Menschen Alpträume, und auch Auguste Cresson mußte sich einfach schütteln. Hinter dem Sessel befand sich ein hohes Fenster, groß genug, um einen Schwall Tageslicht in den Raum fallen zu lassen. Das Skelett sah im Licht aus, als wäre es dabei, allmählich ins Leben zurückzukehren. Cresson hatte eine Gänsehaut bekommen, und die wiederum verstärkte sich, als er den Schatten sah. Er war durch das Fenster gedrungen. Ein langer und düsterer Schatten, ein Streifen im Licht des Tages, der sich auch auf dem Boden abzeichnete. Der Schatten des Beils! Auguste Cresson stieß einen jammernden Laut aus. Er wußte plötzlich, daß sie ihn gefunden hatten, daß er nicht mehr allein war. Ihm war klar, daß ihm der Abbé und seine Freunde keinen Schutz bieten konnten. Der Schatten und das verfluchte Henkersbeil überwanden jedes Hindernis. Es war da, aber es materialisierte sich nicht. Das Beil blieb als Schatten bestehen, als wollte es dem starren Zuschauer klarmachen, daß er keine Chance hatte. Auguste zitterte wieder. Seine Hände konnte er nicht ruhig halten. Die Kuppen der Finger trommelten auf die Tischplatte, ohne daß er es bewußt wollte. Er wollte aber auch nicht mehr in diesem Raum bleiben, wo dieser Knochensessel stand und sich der Schatten der Mordwaffe abzeichnete. Es dauerte ihm auch viel zu lange, bis der Abbé zurückkehrte. Wenn er jetzt hiergewesen wäre, dann hätte er sehen können, daß alles keine Hirngespinste waren. Auguste hatte sich endlich überwinden können und sprang auf. Er rutschte für einen Moment an der Tischkante entlang, bekam freie Bahn und stürzte auf die Tür zu, die genau in diesem Moment geöffnet wurde. Zum Glück langsam, sonst wäre sie gegen den Körper des Mannes geschlagen. Im letzten Augenblick konnte Cresson zurückweichen, und dann stand der Abbé vor ihm. »Was ist los, Auguste?« Cresson konnte nicht reden. Der ehemalige Henker mußte erst nach Worten suchen. Dabei schaute er sich scheu um, und Bloch folgte dem Blick des Mannes in Richtung Fenster, wo aber nichts zu sehen war,
abgesehen von dem Knochensessel. Es war möglich, daß ihn dieser Gegenstand erschreckt hatte, aber glauben konnte es der Abbé nicht so recht. »Er… er… war da!« stieß Cresson schließlich hervor. Bloch schloß die Tür. »Wer war da?« »Der Schatten!« »Bitte?« »Ja, ja!« schrie Cresson und schlug mit den flachen Händen auf seine Oberschenkel. »Der Schatten des Beils. Ich habe ihn gesehen. Er drang durchs Fenster in dieses Zimmer. Er hat sich mir gezeigt. Er wollte mir beweisen, daß ich nicht sicher bin. An keinem Platz der Welt. Auch bei euch nicht, verdammt!« Der Abbé schwieg, drückte Cresson aber zurück, so daß sich dieser wieder an den Tisch setzen konnte. Der Raum war leer, es gab keine Schatten, außer den normalen, und Bloch trat an einen schmalen, dunklen Schrank heran, wo er eine Tür öffnete. Er holte eine Flasche und zwei Gläser hervor. Beides stellte er auf den Tisch. Cresson saß in gekrümmter Haltung da, Arme und Kopf auf dem Tisch. Er stöhnte leise vor sich hin und schaute erst hoch, als er das Gluckern hörte, mit dem der Selbstgebrannte in die Gläser lief. »Sie sollten einen Schluck trinken.« »Ha – das hilft auch nichts.« »Man weiß nie.« »Ein Selbstgebrannter Schnaps.« »Bon.« Auguste nahm das Glas. Er schaute kurz hinein und kippte das Zeug in die Kehle, zugleich mit dem Abbé, der ebenfalls einen Schluck vertragen konnte. Beide stellten die Gläser sofort ab und schüttelten sich auch, als hätten sie sich abgesprochen. »Nun?« Cresson hob die Schultern. »Ich bleibe bei meiner Aussage«, flüsterte er. »Der Schatten war hier.« »Das bestreite ich auch nicht.« »Ja«, murmelte der Henker, »warum auch? Ich bin nur froh, daß ich nicht mehr allein hier hocke. Was haben Sie denn erreicht?« »Nun ja, ich habe zwei meiner Brüder losgeschickt, um Sinclair zu suchen. Dann sind einige unterwegs, um den Ort zu durchforsten, denn ein Wagen, so wie Sie ihn beschrieben haben, muß eigentlich auffallen. Niemand fährt hier einen schwarzen Chrysler.« »Er ist bestimmt schon da«, sagte Cresson leise. »Diese Hundesöhne sind schnell. Sie haben ihre Rache von langer Hand vorbereitet – und ich…« Er hob die Schultern. »Verflucht noch mal, ich kann es ihnen nicht mal verübeln. Ich habe Okubas Vater getötet, einen Medizinmann, der mir noch kurz vor seiner Hinrichtung Rache schwor, aber ich habe
damals nur darüber gelacht. Ich nahm ihn nicht für ernst. Ich hielt das alles für primitiven Mist. Jetzt muß ich das ernten, was ich damals gesät habe.« Er drehte seine Hände um und legte sie mit den Handrücken auf die Tischplatte. »Schauen Sie sich die Hände an, Abbé. Schauen Sie bitte genau hin. An ihnen klebt Blut, viel Blut, auch wenn man es ihnen nicht ansieht. Es ist die Wahrheit. Ich habe die Menschen umgebracht, ich habe sie geköpft, und ich bin dafür bezahlt worden. Hätte ich es nicht getan, dann wäre mein Leben vorbei gewesen. Wer nicht in der Stromlinie des selbsternannten Kaisers Bokassa schwamm, der wurde vernichtet.« »Sie haben etwas gesagt, das ich genau verstanden habe, Auguste. Ich bin Ihnen etwas schuldig. Sie haben sich für mich eingesetzt, aber ich kann Ihnen nicht sagen, daß ich Sie verstehe oder Verständnis für Sie habe.« »Das ist vollkommen klar, Abbé, denn uns trennen wirklich Welten.« Er verzog die Lippen. »Sie stehen auf der positiven Seite, ich auf der negativen. Das Leben hat die Karten gemischt, und ich habe die falschen gezogen.« Auch der Abbé hatte sich wieder gesetzt. »Sie haben gesündigt, Auguste, das steht fest. Sie haben das Blut zahlreicher Unschuldiger vergossen, damit müssen Sie fertigwerden. Niemand kann Ihnen dabei helfen und Ihr Gewissen beruhigen, das wissen Sie so gut wie ich. Es ist alles klar, was die Vergangenheit angeht, doch nun sollten wir in die Zukunft schauen, und damit meine ich die nächsten Stunden und die vor uns liegende Nacht, die wir beide überstehen müssen.« »Das schaffen wir nicht!« »Abwarten und Kopf hoch. Denken Sie daran, daß wir nicht allein sind und einen Mann wie John Sinclair…« »Der nicht hier ist, Abbe.« »Er wird kommen!« »Was macht Sie so sicher?« »Ich kenne ihn.« »Er wurde niedergeschlagen. Man weiß nicht, wie schwer er verletzt ist.« »Das wird sich alles herausstellen, aber John Sinclair besitzt eine Waffe, die sehr stark ist. Vielleicht haben Sie schon einen Bück auf sein Kreuz werfen können und…« »Ja, im Flieger.« Er räusperte sich. »Der Schatten ist schnell verschwunden. Ob es allerdings an der Existenz des Kreuzes gelegen hat, weiß ich auch nicht. Es kann auch andere Gründe gegeben haben.« »Ich gebe Ihnen recht, wir wollen darüber nicht weiter diskutieren. Ich möchte noch einmal auf den Schatten zurückkommen. Sie haben ihn gesehen, ohne den Gegenstand entdeckt zu haben, der den Schatten geworfen haben könnte.«
»Das stimmt.« Cresson hob den Finger. »Aber Sie müssen eines bedenken. Der Schatten kann sich zeigen, ohne daß etwas vorhanden ist, das ihn zeichnet. Das ist der Unterschied. Wir haben es hier mit einem nicht erklärbaren Phänomen zu tun, zumindest ist es das für mich. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken…« »Ich nehme es hin.« Cresson schwieg. »Und was werden wir noch unternehmen?« fragte er nach einer Weile. Der Abbé lächelte. »Wissen Sie, mein Lieber, ich bin für einige Zeit blind gewesen. Es war schlimm für mich, aber ich habe auch dabei gelernt, geduldig zu sein. Vielleicht auch demütig, wer kann das schon genau sagen? Jedenfalls müssen wir die Zeit nützen, solange noch nichts passiert ist. Der Schatten wird zurückkehren, dessen bin ich mir sicher, und ich glaube auch daran, daß er sich materialisiert und plötzlich das Henkersbeil über uns schwebt.« »Uns, sagen Sie?« »Ja, warum nicht?« »Aber ich bin gemeint.« »Ich werde an Ihrer Seite sein!« sagte Bloch. Cresson lehnte sich zurück. »Wissen Sie, Abbé, es ist alles so schwer für mich, so schrecklich schwer zu ertragen. Ich komme mit diesen Dingen nicht zurecht. Sie haben mich erwischt wie ein Blitz aus heiterem Himmel, ich kann nur noch versuchen, Reue zu zeigen, bevor ich sterbe.« »Rechnen Sie denn mit Ihrem Tod?« »Ja, Abbé, ja!« Cresson schaute sein Gegenüber fest an. »Damit rechne ich!« »Sie sollten etwas Optimismus zeigen. Klar, ich verlange da viel von Ihnen, aber…« »Bitte, ich möchte noch eines.« »Und was?« Auguste Cresson schluckte erst seine Kehle frei, bevor er eine Antwort gab. »Ich möchte beichten, Abbe«, flüsterte er. »Ja, ich möchte hier bei Ihnen meine Beichte ablegen.« Beinahe flehentlich schaute er den Freund an. »Sind Sie einverstanden?« Bloch brauchte nicht lange, um seine Antwort zu geben, und sie klang auch ehrlich. »Ja, ich bin einverstanden.« »Gut, gut«, flüsterte Cresson. Er faßte an seine Brust. »Der Stein ist weg, und ich möchte Sie bitten, daß wir mit der Beichte beginnen…« »Dem steht nichts im Wege.« ***
Der Bus hatte wieder gehalten, und zwei Typen waren noch zugestiegen. Sie gehörten zur jungen Generation und waren so gekleidet, als wollten sie zum Baseballspiel gehen. Schirmmützen verkehrt herum, sie trugen Jeans, die Löcher und Risse zeigten, hatten auch Sweatshirts übergestreift und benahmen sich cool und lässig, wie man so schön sagt, was im Endeffekt bedeutete, daß sie überhaupt kein Benehmen im eigentlichen Sinne hatten, denn sie gingen durch den Mittelgang und sahen alles, was fest verankert war, als ihre Feinde an. Mit den hohen Schuhen, die Springerstiefeln ähnelten, aber weicher waren, traten sie gegen die Sitze und Stangen. Auch vor mein Schienbein. Ich hatte es im letzten Augenblick noch ein Stück zurückziehen können, so wurde ich nur gestreift. Trotzdem zuckte ich zusammen und schaute in die Höhe. Zwei grinsende Gesichter starrten auf mich nieder. Ich gab keinen Kommentar ab und drückte mich ein Stück zum Fenster hin. Ich wollte keinen Ärger, sondern nur einfach in Ruhe gelassen werden, denn die tat meinem malträtierten Kopf gut und auch dem Magen, der noch unter den Folgen des Treffers zu leiden hatte. Lachend gingen die beiden Typen weiter. Irgendwo hinter mir lümmelten sie sich auf die Sitze. Der Bus war wieder angefahren, und ich kriegte die Unebenheiten der Straße doppelt zu spüren. Immer dann, wenn sie zu stark waren, zuckten Stiche durch meinen Kopf. Wir rollten durch die leere, aber wunderschöne Landschaft, und die am Himmel stehende Sonne hatte allmählich einen anderen Farbton bekommen. Das grelle Gelb war verschwunden und hatte einem satten Eierfarbton Platz geschaffen. Von dem schwarzen Chrysler und den beiden Afrikanern hatte ich bisher nichts gesehen. Sie waren und blieben verschwunden, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Da dies nicht der Fall war, ging ich davon aus, daß sie Alet-les-Bains längst erreicht hatten. Einmal kam uns ein Wagen entgegen, in dem zwei Männer saßen. Ich hatte zwar nur einen flüchtigen Blick auf das Fahrzeug werfen können, glaubte aber, die beiden erkannt zu haben. Sie gehörten zu der Gruppe der Templer, die der Abbé um sich versammelt hatte. Ich überlegte und kam zu dem Schluß, daß sie mich möglicherweise suchten. Sie würden Pech haben. Wenn sie mich nicht fanden, konnten sie sich ihre eigenen Gedanken machen. Als ich nach rechts schaute, fiel mir die Felskette auf, die sich wie ein mächtiger Block aus der Landschaft abhob und eine gewisse Ähnlichkeit mit manchen Stellen in den Dolomiten aufwies. Die Felsen kannte ich, denn dort befand sich auch die Kathedrale der Angst, die schmale Schlucht zwischen den beiden Wänden.
Ich schickte einen stummen Gruß zu dem dort liegenden silbernen Skelett des Hector de Valois und fühlte mich besser, denn von hier aus war es nicht mehr weit bis zum Ziel. Hinter mir lärmten die beiden >coolen< Typen. Ich hörte Papier knistern, und dann hatten sie sich meinen Kopf als Zielscheibe ausgesucht. Die beiden älteren Frauen im Hintergrund waren verstummt. Wenn ich mich recht erinnerte, konnten die jungen Kerle nicht älter als achtzehn sein, aber sie waren mit den Gehirnen von Kindern ausgestattet. Ich kümmerte mich nicht um sie, was ihnen auch nicht recht war, denn einer von ihnen stand auf und kam auf mich zu, was ich an dem durch den Mittelgang wandernden Schatten erkannte. Neben meinem Sitz blieb er stehen. »He du!« »Was ist?« »Da liegt was auf dem Boden.« »Bitte?« Der Knabe zog den Mund in die Breite. »Papier.« »Stimmt, das sehe ich.« »Klasse, Mann. Heb es auf!« »Ich habe es dort nicht hingeworfen.« »Wer dann?« »Du – oder dein Freund.« Auf diese Antwort hatte er gewartet. Seine Hände schössen plötzlich vor, er zerrte mich aus dem Sitz hoch, und mein Kopf schien durch diese heftige Bewegung in Stücke zu fliegen. Vielleicht sah ich auch deshalb rot und hämmerte dem > coolen < Typ die Faust dicht über der Gürtelschnalle in den Leib, daß der Knabe grün wurde und zusammenbrach. Mit einem Tritt beförderte ich ihn weiter im Gang zurück, wo sein Kollege aufgesprungen war. »Willst du auch was?« fragte ich ihn. Er starrte mich eine Weile an, dann schüttelte er den Kopf. »Aber ich will, daß du das Papier aufhebst, und alles andere auch noch.« »Ja, ja, Monsieur!« riefen die beiden Frauen synchron. »So ist es richtig. Zeigen Sie den Leuten mal, daß nicht alles geht. Ihnen gehört die Welt nicht allein.« Der zweite Kerl zog das stöhnende Bündel weiter zurück, damit er freie Bahn hatte. Plötzlich kam auch der Fahrer. Ich hatte nicht bemerkt, daß wir angehalten hatten. »Gut gemacht!« lobte er mich. »Diese Arschgeigen verstehen eben keine andere Sprache.« »Was traurig ist.« »Ja, aber so ist die Welt nun mal.« Da hatte er recht. Oder auch nicht, denn nicht alle jungen Leute waren so.
Wir setzten die Fahrt fort. Da ich die Gegend kannte, wußte ich, daß nach der nächsten großen Kurve der Ort Alet-les-Bains vor uns liegen mußte. In der Tat konnte ich in die Mulde oder den kleinen Talkessel hineinschauen, wo sich die Häuser zusammendrängten. Weiter oben an den Hängen standen die neueren Bauten, die Bungalows der Fremden, die hin und wieder den Urlaub hier verbrachten. Als die nächste Haltestelle in Sicht kam, war der Boden sauber. Ich stieg als erster aus, der Fahrer bedankte sich bei mir, und ich gab den Dank zurück. Ich befand mich bereits in Alet-les-Bains, wo ich fast wie zu Hause war. Ich brauchte auch nicht weit zu gehen, um das Haus der Templer zu erreichen, was natürlich wichtig für mich war. Absolute Priorität jedoch hatten für mich die beiden Afrikaner und natürlich deren Auto. Der Chrysler konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben. Er mußte hier irgendwo abgestellt worden sein, vorausgesetzt, sie hatten ihn nicht vor dem Ort in ein Versteck gefahren. In der Nähe befand sich ein alter Brunnen, der längst kein Wasser mehr führte. Er stand auf einem kleinen Platz, eine alte Eiche wuchs dort, und die untergehende Sonne warf einen rötlichen Schein auf Platz, Baum und Brunnen. Es waren Menschen draußen. So hatten sich um den Baum herum Jugendliche versammelt, die ihre Spaße trieben, aus einem Restaurant klang Musik, und dann sah ich einen Mann über den Platz hasten, der die Kutte der Templer trug. Vom Ansehen her kannte ich ihn. Er kannte mich ebenfalls, schrak aber trotzdem zusammen, als ich ihm in den Weg trat. »Mon Dieu… Sie…?« »Oui.« »Oh, der Abbé hat auf Sie gewartet.« »Hat er denn schon Besuch bekommen?« »Ja.« »Und weiter?« »Er hat zwei meiner Brüder weggeschickt, um nach Ihnen zu suchen, Monsieur Sinclair. Sie sind mit dem Wagen gefahren.« Ich lächelte verkrampft. »Da werden Sie Pech haben. Was anderes noch, Sie sehen mir aus, als hätten Sie ebenfalls einen Auftrag bekommen.« »Wir haben nach einem Wagen gesucht.« »Chrysler? Schwarz?« »Genau nach dem.« »Haben Sie ihn gefunden?«
Plötzlich strahlte er über das ganze Gesicht, und seine Antwort elektrisierte mich. »Sie haben ihn zwar versteckt abgestellt, aber nicht versteckt genug.« »Reden Sie schon!« »Es gibt da eine Gärtnerei, die leersteht. Der Chrysler befindet sich in einem der Gewächshäuser.« »Beschreiben Sie mir den Weg.« Das war in wenigen Sekunden geschehen. Ich gab dem jungen Mann noch mit auf den Weg, dem Abbé zu sagen, wo ich mich befand, und machte mich dann auf die Suche. Vielleicht hatte ich ja Glück und fand beide. Eines nahm ich mir jetzt schon vor. So überraschen wie beim erstenmal würden sie mich bestimmt nicht… *** Das Gelände der Gärtnerei wirkte wie ein verlassener und dabei noch ausgetrockneter Friedhof. Eine breite Zufahrt mündete in einen Parkplatz. Das Fahrzeug in dem Gewächshaus sah verlassen aus. Trotzdem wollte ich vorsichtig bleiben und mich nicht täuschen lassen. Von der linken Seite her schlich ich auf das Haus zu. Eine Umzäunung des Geländes war nicht vorhanden, und es spielten auch keine Kinder auf dem Grundstück. Es war tatsächlich gemieden worden, als hätte sich dort etwas Furchtbares versteckt. Wer immer die Gärtnerei besessen hatte, beim Aufräumen hatte er nicht alle Pflanzen verkauft oder mitgenommen. Es standen noch genügend verödete Bäume herum, die meisten nur kopfhoch, aber sie gaben mir zumindest etwas Schutz. Ich hatte festgestellt, daß ich von der linken Seite aus gut in das Gewächshaus mit dem dort stehenden Chrysler gelangen konnte. Da war das Glas aus seinem Verbund geschlagen worden. Die riesigen Löcher präsentierten sich wie große Mäuler, und ich brauchte beim Betreten nicht mal den Kopf einzuziehen. Eine der breiten Tischreihen, die normalerweise mit Erde und Pflanzen gefüllt waren, stand noch. Sie bildete nicht mehr als ein starres, dunkles Skelett. Von mir aus gesehen hinter ihr ragte die Karosserie des Autos hoch. Der Boden war mit matschigen und verfaulten Resten aus Blättern und kleinen Zweigen bedeckt. In der Luft hing ein Geruch der Fäulnis, die auch der Wind nicht hatte vertreiben können. Ich war stehengeblieben und hatte mich geduckt. Ich lugte über die breite Kante des langen Pflanzentisches hinweg und wartete auf eine Bewegung.
Es war nichts zu sehen. Beide Afrikaner hatten die unmittelbare Nähe ihres Fahrzeugs verlassen. Natürlich waren sie auf der Suche nach dem Opfer. Auch ich hätte zu den Templern gehen sollen, aber ich wollte keine Chance auslassen. Es konnte ja durchaus möglich sein, daß sich die beiden Männer etwas ausgedacht hatten, um sich den Rückweg freizuhalten. Deshalb war ich auch davon ausgegangen, daß möglicherweise einer der beiden am Fahrzeug zurückgeblieben war. Bisher hatte ich keinen gesehen. Ich wollte näher an den Wagen heran, duckte mich und kroch unter den Verkaufstisch hinweg. Geräusche ließen sich nicht vermeiden, hielten sich aber in Grenzen. Der Chrysler war noch warm, wie man so schön sagt. Lange konnte er hier nicht abgestellt worden sein. Er strömte einen bestimmten Geruch aus, und ich schaute durch die Scheiben in das Innere. Leer! Das hatte ich mir gedacht. Langsam richtete ich mich, noch immer neben dem Auto stehend, auf. Ich hatte es irgendwie im Gefühl, ich war mir sicher, daß ich mich nicht allein in diesem alten Gewächshaus befand. Vor dem Henkersbeil fürchtete ich mich nicht, mir ging es mehr um die Menschen, die das Beil kontrollierten. Dann hörte ich ein Geräusch. Keinen Tritt, nichts über den Boden Schleichendes, es war ein Laut, wie er nur aus dem Mund eines Menschen dringen konnte, und ich sah in ihm so etwas wie eine Bestätigung. Meine Hand näherte sich der Waffe, aber jemand anderer hatte die Bewegung bereits gesehen. »Laß sie stecken, Mann! Du wärst sonst tot!« Der Typ hatte nur flüsternd gesprochen. Es hatte für mich ausgereicht, um zu erkennen, wen ich mir da als Gegner ausgesucht hatte. Drack – ausgerechnet Drack, der Leibwächter, die Kampfmaschine aus dem Schwarzen Erdteil oder wie auch immer. Ich blieb gelassen und drehte den Kopf nach links. In dem teilzerstörten Gewächshaus war es nicht finster. Aber es herrschte auch ein ungewöhnliches Licht, denn das schwächer werdende Tageslicht wurde von den schmutzigen Fenstern des Gewächshauses noch gefiltert. Drack mußte geduckt auf mich gewartet haben. Das war nun vorbei, denn er hatte sich in die Höhe geschoben und stand vor mir wie eine gefährliche Gestalt, die etwas in den Händen hielt, auf dem sich Lichtschimmer spiegelten. Ich wußte sofort, daß es seine Maschinenpistole war und sah ein, wie mies meine Chancen waren. Mit dem Inhalt des Magazins konnte er gleich mehrere Menschen töten, wenn er nur richtig streute.
Als er lächelte, schimmerten seine weißen Zahnreihen. Nur traute ich dem Lächeln nicht, und das zu Recht, denn seine Worte bestätigten mich. Die Stimme hatte einen etwas singenden Klang, der mir erst jetzt richtig auffiel. »Du hättest dich an unsere Warnung halten sollen, Meister. Wir haben es ernst gemeint. Es war kein Spaß. Wir haben dir sogar eine Chance geben wollen. Warum hast du sie nicht genutzt?« »Weil es meine Pflicht ist, Menschen vor dem Tod zu retten!« Welch ein Pathos, dachte ich, aber irgendwo stimmte es. Diese Verpflichtung hatte ich übernommen. »Einen hundertfachen Mörder?« »Ja!« »Was ist das für eine Logik? Erkläre sie mir, bevor auch du sterben wirst.« Den letzten Teil der Antwort wischte ich zunächst zur Seite. »Mit meiner Antwort habe ich nicht sagen wollen, daß ich diese Dinge gutheiße, das auf keinen Fall, aber damals herrschten in dem Land der Diktatur und Tyrannei andere Gesetze. Wir können diesen Henker leider nicht vor Gericht stellen, dann müßten eine Menge Politiker und Präsidenten abgeurteilt werden, aber auch Cresson ist ein Mensch, und wie jeder Mensch hat er ein Recht auf sein Leben, mag es zuvor auch noch so schlimm gewesen sein.« »Er selbst hat nie an das Recht der anderen gedacht.« »Das weiß ich.« »Dann müßtest du auf unserer Seite stehen.« »Er wird es büßen!« Drack mußte einfach lachen. »Wie soll er es büßen? Willst du mir das auch erzählen?« »Das werde ich. Er wird es durch sein Gewissen büßen. Er wird nie mehr in seinem Leben Ruhe finden, das kann ich dir versichern. Ich denke, es sollte Bestrafung genug sein. Ich habe ihn leiden sehen, er macht sich wirklich Gedanken. Er quält sich, seine Träume sind unvorstellbar schlimm, und er wird irgendwann seine Strafe finden, aber nicht durch Okuba.« »Du hast recht, Okuba selbst wird ihn nicht töten. Er hat nur das Beil mitgebracht. Cresson wird das gleiche Elend erleben, wie es seinen zahlreichen Opfern widerfahren ist. Er wird vor Angst vergehen, dann erst wird er vernichtet.« »Okuba beherrscht das Beil?« »Ja und nein.« »Wer noch?« Drack kam einen kleinen Schritt näher. Er summte dabei, wurde wieder still und sprach weiter. »Cresson beging einen Fehler, als er Okubas Vater tötete. Einen mächtigen Medizinmann, der unserem Präsidenten
ein Dorn im Auge war. Die Macht des Magiers mußte begrenzt werden. Erst sollte er nicht getötet werden, denn wer einen Zauberer und Magier tötet, den trifft der Fluch. So steht es bei uns geschrieben, aber der Medizinmann gab nicht auf. Er hetzte weiter. Er wollte den Umsturz. Da konnte der Präsident nicht anders. Er mußte handeln und ließ den Zauberer gefangennehmen. In der Gefangenschaft noch versuchte der Herrscher persönlich, den Mann von seinen Absichten abzubringen, aber er zeigte keine Einsicht. Noch in der Gefangenschaft belegte er den Präsidenten mit einem der schlimmsten Flüche. Das war sein endgültiges Todesurteil. Man holte den Henker. Und auch Cresson wurde verflucht. Ihm wurde gesagt, daß der Körper getötet werden konnte, aber nicht der Geist. Ein Geist hat Zeit, ein Geist kann warten, ein Geist vergißt die Sache nie, auch wenn es nach menschlichen Maßstäben Jahre dauert. Cresson hatte den Geist nicht töten können, nur den Körper, und er hatte auch vergessen, daß der Medizinmann einen Sohn hatte, dem viel Wissen übertragen wurde, obwohl der Sohn ein Teil der neuen Zeit war und Diplomat wurde, aber er hat den Schwur und den Fluch nicht vergessen. Und er vergaß auch nie, woher er kam. Was einmal tief in einem Menschen drinsteckt, das bleibt auch bestehen.« »Bekam er Kontakt zu seinem toten Vater?« »Ja, den bekam er, denn er war ein Erbe. Und die Erben haben auch nach dem Tod noch Kontakt. Er war in die geheimen Riten eingeweiht worden. Er kannte die Formeln und Beschwörungen. Er wußte, wie der Geist seines Vaters litt, und er schaffte es auch, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Dabei erfuhr er, wie mächtig der Geist letztendlich noch war, denn seine Kräfte hatten sich in der anderen Welt verändert. Ihm gelang es, in die normale Welt hineinzulenken, was du am Beispiel des Beils genau nach vollziehen kannst.« »Wieso?« Ich tat nur etwas dumm, tatsächlich wußte ich, daß dahinter die Telekinese aus dem Jenseits steckte, und das bekam ich auch sehr bald durch Drack bestätigt. Er erklärte mir, wie mächtig der Verstorbene letztendlich war, daß er es schaffte, die Gegenstände oder den einen wichtigen Gegenstand aus dem Jenseits zu lenken. »Damit hatte er einen erbarmungslosen Verfolger geschaffen und noch etwas mehr, denn es ist ihm gelungen, wieder zurück über die Brücke zu gehen. Cresson sah den Mann plötzlich vor sich, den er umgebracht hat. Er sah sein Gesicht, und er wurde daran erinnert, was er getan hat. Der Geist, das Beil und auch Okuba werden die Rache vollenden.« »Du nicht?« fragte ich. »Nein, ich habe andere Aufgaben.« »Welche?« »Ich werde meinen Freunden den Weg freihalten, das kannst du mir glauben. Ich habe versprochen, ihnen die Steine aus dem Weg zu
räumen. Niemand soll ihnen bei ihrer Rache in die Quere kommen. Pech für den, der es trotzdem tut.« »Damit meinst du mich?« »Einen anderen gibt es nicht!« »Da unterliegst du einem Irrtum.« Drack gab sich sicher. »Womit willst du dich jetzt noch herausreden, um deine Haut zu retten?« »Ich will mich auf diese Art und Weise nicht retten, ich möchte dir nur die Wahrheit sagen.« »Da bin ich gespannt.« »Kannst du auch. Der Grund ist simpel. Warum wollte Auguste Cresson hier in diesen Ort? Weshalb war er darauf bedacht, unbedingt nach Aletles-Bains zu kommen. Nun?« »Ich weiß es nicht.« »Aber ich, und es ist kein Zufall. Selbst ein Mensch wie Auguste Cresson ist nicht nur schlecht. Er hat Freunde hier. Menschen, denen er mal einen Gefallen erwiesen oder vielleicht sogar das Leben gerettet hat. Und diese Menschen vergessen ebenfalls nichts. Nur reagieren sie anders als Okuba. Sie wollen ihn sicher nicht töten, sie gewähren ihm Schutz. Deshalb ist er hier.« »Und du auch?« »Indirekt. Ich habe Cresson erst heute kennengelernt, aber ich bin seinetwegen gerufen worden. Seine Freunde sind auch meine Freunde, und ich werde versuchen, den Mord zu verhindern. Wir leben nicht in einem Zeitalter des Umsturzes und der Revolution, zumindest nicht hier. Woanders mag es nicht so aussehen, doch wer hier lebt, der sollte sich schon nach den Gesetzen richten. Und dieses läßt keinen Mord zu. Außerdem vertrete ich das Gesetz noch.« »Polizei?« »So ist es.« »Und weiter? Glaubst du, ich würde mich dadurch beeindrucken lassen? Auch ich bin einem gewissen Gesetz verpflichtet, und ich glaube, daß es stärker ist.« »Frankreich ist nicht dein Land.« »Stimmt, aber Frankreich hat mein Land damals unterstützt. Es hat diesen Tyrannen hochkommen lassen. Niemand hat etwas gegen ihn unternommen. Er selbst lebte in Saus und Braus und knechtete sein Volk. Diejenigen, die auf seiner Seite standen, haben nichts anderes verdient als den Tod. Du sagst, daß Cresson hier Freunde hat. Ich habe es zur Kenntnis genommen, aber ich werde dir auch darauf eine Antwort geben. Diese Freunde haben Pech gehabt, denn sie suchten sich den falschen Mann als Freund aus. Wenn sie versuchen sollten, ihn zu beschützen, werden sie sterben. So einfach ist die Rechnung, nach der wir vorgehen werden. Du hast einmal
Glück gehabt, wir haben dich gewarnt, aber du hast nicht darauf gehört. Ich hätte dich nicht niederschlagen, sondern niederschießen sollen, aber das kann man nachholen, ich verspreche es dir.« »Es kommt Ihnen auf einen Toten mehr oder weniger nicht an?« »Darum geht es nicht.« »Sondern?« »Um die Sache!« Ja, es ging ihm um die Sache. Wenn ich recht darüber nachdachte, was ich erreicht hatte, dann war es nichts, gar nichts. Ich hatte nicht zu einem Menschen gesprochen, sondern mit einem Betonklotz geredet, und dies wiederum konnte mir nicht gefallen. Wir waren allein, zwischen uns stand nur der Wagen. Drack würde schießen, und ich würde nur mehr das Knattern der Salve hören, wenn er abdrückte. Letzte Eindrücke eines verlöschenden Lebens. Gegen Dämonen zu kämpfen, gehörte zu meinen Aufgaben, aber Killer, die zudem mit einer MPi bewaffnet waren, bereiteten mir schon Sorgen, denn die konnten nicht durch irgendwelche Beschwörungen oder Bannsprüche im Zaum gehalten werden. »Deine Zeit ist vorbei, Sinclair!« erklärte er mir völlig emotionslos, »und es tut mir nicht mal leid um dich.« »Das weiß ich.« Er winkte mit der Waffe. »Du kannst wählen, Sinclair. Wo soll ich dich erschießen? Hier oder draußen? Entscheide dich rasch, denn es muß schnell gehen.« »Warum draußen?« »Da könnte deine Leiche auf weiche Erde fallen…« »Aha.« »Wo also?« Ich wollte antworten, als ich Stimmen hörte. Männerstimmen, und es waren mindestens zwei Personen, die sich dem halbzerstörten Gewächshaus näherten. Sie waren schon so nahe, daß ich einzelne Worte verstehen konnte, und sie sprachen auch meinen Namen aus. »Sinclair muß hier sein.« »Dann gehen wir hinein…« Ich war gespannt wie eine Stahlfeder, und auch Drack wußte im Augenblick nicht, was er tun sollte. Bisher hatte er mich unter Kontrolle gehalten, durch die Stimmen der beiden Männer aber war er abgelenkt worden und schaute nach vorn. Wahrscheinlich sah er die Gestalten schon, sie kamen auf dem normalen Weg, über den leeren Parkplatz vor der Gärtnerei. Er knurrte. Die MPi drehte sich. Ob er die beiden erschießen oder sie nur durch eine Garbe warnen wollte, das wußte ich nicht. Ich konnte auch kein Risiko mehr eingehen, deshalb ging ich in die Knie und riß die Beretta hervor.
Die Maschinenpistole bellte auf. Um mich herum platzten alte Scheiben weg, ich hörte die beiden Männer schreien und kroch über den matschigen Boden auf die Kühlerfront des Chryslers zu. Drack befand sich in Bewegung. Er hetzte von seinem Standort weg in den Hintergrund des Gewächshauses. Dabei lief er schräg, er schoß immer wieder und streute dabei die kurzen Kugelgarben. Die Geschosse hackten den Boden auf, vor der Mündung tanzten kleine, blasse Flämmchen, als wollten sie den Tod sichtbar machen. Ich lag flach auf dem Boden. Direkt vor der Kühlerschnauze. Der Boden war dunkel, er deckte mich, aber ich hatte meinen rechten Arm nach vorn gestreckt und stützte das Handgelenk mit der Linken ab. Drack war verunsichert worden. Er hatte weglaufen wollen und dabei nicht an seine Deckung gedacht. Ob die Männer getroffen worden waren, wußte ich nicht, aber Drack mußte ausgeschaltet werden. Alles war innerhalb weniger Sekunden abgelaufen. Lebensbedrohliche Situationen prägen sich besonders stark ein, was zur Folge hat, daß bei den Betroffenen die Zeit langsamer abläuft. Ich zielte genau, der Finger lag am Abzug der Waffe. Dann schoß ich. Zweimal drückte ich ab, dann noch einmal. Das Ziel war relativ gut zu erkennen. Drack bewegte sich vor der Glaswand wie ein springender Schatten, bei dem ich den Eindruck hatte, daß er in die Kugeln hineinsprang. Ob ihn alle erwischt hatten, wußte ich nicht. Zumindest eine hatte ihn aus der Bahn geworfen, denn freiwillig hätte er diesen krummen Bocksprung nicht getan. Es konnte sein, daß ein Geschoß in sein Bein gejagt war. Er stolperte, er fluchte, dann fiel er hin, schlug auf, aber seine Maschinenpistole ließ er nicht los. Drack benahm sich plötzlich wie eine Puppe, deren Motor nicht mehr rund lief, sondern aus dem Takt gekommen war. Er lag auf dem Rücken und drehte sich auf der Stelle. Dabei feuerte er seine Maschinenpistole ab, als könnten ihn all die Garben retten, die er gegen das Dach jagte. Dort zerstörten die Kugeln das Glas, rissen auch weitere Löcher und fetzten schmutzige Stücke in die Höhe, die dann wieder wie scharfe Messer nach unten fielen. Ich sah, wie einige Scherben auf dem Körper des Mannes landeten, aber er schoß weiter. Dann war das Magazin leer, was Drack nicht wahrhaben wollte, denn er bewegte seine Finger nach wie vor, und ich hörte das Klicken, immer wieder das Klicken, auch dann noch, als ich längst auf den Beinen stand und auf denjenigen zuging, der mich hatte ins Jenseits befördern wollen.
Es war hell genug, um alles zu sehen. Die Waffe in seinen Händen wurde ihm zu schwer, und ich sah, wie seine Arme nach unten sanken. Dabei fiel ihm die Waffe aus den Händen. Als das passierte, hatte ich ihn erreicht. Vor Drack blieb ich stehen, die Beretta zeigte mit der Mündung nach unten, aber Drack war nicht mehr in der Lage, sich zu wehren. Die herabfallenden Splitter hatten seinen Körper und auch sein Gesicht tatsächlich böse erwischt. Aus zahlreichen unterschiedlich großen Gesichtswunden quoll Blut. Ein Stück schmutziger Scheibe steckte sogar noch in seiner Stirn. Unter ihr bewegten sich die Augen. Er hatte mich erkannt. Ich entnahm es seinem Blick, obwohl dieser bereits vom Schleier des Todes getrübt wurde. »Du hast Glück gehabt, Sinclair. Verdammtes, unverschämtes Glück.« »Das stimmt.« Er lachte mich an und hustete dabei. »Und ich habe dich unterschätzt. Mein Fehler.« »Die Rache gelingt nicht.« »Sinclair«, keuchte er, »ich bin nur ein kleines Licht. Okuba und sein Vater sind stärker, viel stärker…« Er hustete noch einmal, zuckte dabei und die in seinem Kopf steckende Scheibe brach auseinander. Sie fiel über seine Augen, als wollte sie die Starrheit des Todes darin abdecken. Drack lebte nicht mehr. Ich stand vor dem Toten und atmete zunächst einmal tief durch. Dabei versuchte ich auch, das Zittern der Knie zu unterdrücken. Was ich erlebt hatte, mußte erst verdaut werden. Es war der natürliche Schock, der stets nach derartigen Ereignissen eintrat. Zumindest bei mir und den meisten Menschen, nicht aber bei Profikillern, die reagieren sich später irgendwie anders ab. Ich wollte den Toten untersuchen und kniete mich deshalb neben ihn. Die auf seinem Kopf liegende Scheibe räumte ich zur Seite, dann sah ich die Schußwunden. In der Brust hatte ich ihn erwischt, aber auch im Bein. Dieser Treffer hatte für seinen Sturz gesorgt, und wahrscheinlich hatte er sich im Fallen den zweiten Treffer zugezogen. Drack hatte es nicht geschafft. Ein kleiner Lichtblick zumindest, aber ich wußte nicht, wie es dem Abbé und Cresson ging. Zudem hatte ich die beiden Männer nicht vergessen. Ich sah sie, als ich aufstand und mich umdrehte. Sie standen jetzt vor mir, schon innerhalb des Gewächshauses, schauten mich an und bekamen auch mit, wie ich das Magazin der Beretta wieder füllte. Ich ging auf die beiden zu und erklärte ihnen, daß sie mir wahrscheinlich das Leben gerettet hatten.
Sie schauten sich an, konnten es nicht begreifen und hoben die Schultern. »Aber wir haben doch nichts getan…« »Doch, das habt ihr. Euer Eintreffen hat den Killer abgelenkt. Nur für kurze Zeit, das hat mir gereicht.« »Ist er denn tot?« »Ja.« Die Männer schwiegen. »Ich habe es nicht gewollt, aber ich mußte mein Leben verteidigen.« »Sicher, das verstehen wir.« »Warum seid ihr gekommen?« »Wir sollten Sie holen. Man hat uns gesagt, wo Sie sind. Sie müssen kommen, der Abbé will es.« »Was ist passiert?« »Wir wissen noch nichts.« »Aber der Besucher, Auguste Cresson, ist da?« »Wenn der Mann, mit dem der Abbé zusammen ist, so heißt, dann stimmt es.« »Gut, lassen Sie uns gehen!« »Und den Toten? Sollen wir ihn hier liegenlassen?« »Zunächst ja. Um ihn können wir uns später kümmern, denn nun sind die Lebenden wichtiger.« Dagegen hatten sie nichts einzuwenden… *** Abbé Bloch fragte sich, wie ein Mensch es schaffte, derartige Laute zu produzieren. Der Henker saß vor ihm! Ein Mensch? War er ein Mensch? Ja und nein. Er war vom Äußeren her ein Mensch, auf der anderen Seite auch ein verzweifeltes Bündel, völlig aufgelöst und so gut wie am Ende seiner Kräfte. Cresson sprach, er beichtete, er mußte reden, um sich von seinem schrecklichen Gewissensdruck zu befreien. Und der Abbé saß ihm gegenüber und hörte zu. Nur einmal waren die beiden Männer gestört worden, als ein Bruder berichtete, daß John Sinclair im Ort war, wobei der Abbé wollte, daß sein Freund aus London so schnell wie möglich kam. Danach waren sie ungestört geblieben. Der Henker redete weiter. Er sprach von seinen Taten, die er fast alle behalten hatte. Sein Gehirn war zu einem Speicher des Bösen geworden. Alles konnte er mühelos abrufen, nur nahm es ihn unwahrscheinlich mit, diese furchtbaren Taten zuzugeben. Eine derartige Beichte hatte es wohl noch nie zuvor in der Welt gegeben, und selbst Bloch war nicht nur überrascht, sondern auch mitgenommen.
Er hatte sich sehr rasch einen Eindruck über das Leben dieser Person verschaffen können. Was Cresson getan hatte, das kam den Taten im finsteren Mittelalter gleich. Er hatte wie eine Maschine gemordet. Der Abbé erfuhr von mehreren Hinrichtungen, die oft an einem Tag stattgefunden hatten, und nie war es dem Henker in den Sinn gekommen, sich auch nur im Ansatz zu weigern. Es war sein >Job<, und er war dafür bezahlt worden. So gut, daß er mit dem Geld bis an sein Lebensende existieren konnte. Der Tyrann hatte ihn als einen seiner Vertrauten angesehen und ihm ein Leben in Luxus finanziert. »Ich hatte in diesem Land alles. Geld, Frauen, meine Freiheit, ich war angesehen, man fürchtete sich vor mir. Man kannte mich. Wenn ich eine Bar betrat, spürte ich den Respekt, den man mir entgegenbrachte, aber es war kein normaler Respekt, wie ich jetzt weiß, es war die nackte Angst.« Er schüttelte den Kopf und erklärte stöhnend: »Ich lebte in meiner Welt und bekam nicht mit, daß diese ganz anders war als die normale. Ich… ich… kam damit nicht zurecht. Ich sah mich als King und habe mir viel herausgenommen. Ich habe alles bekommen, jede Frau, die ich wollte, und ich kann von Glück sagen, daß mich die Geißel der Menschheit dabei nicht erwischt hat.« »Aids?« »Ja. Es war damals noch nicht so stark verbreitet. Aber was soll es? Ich hätte es als Bestrafung angenommen.« Er ließ die Hände sinken, die er bisher gegen seinen Kopf gepreßt hatte, schüttelte den Kopf und griff nach einem Tuch, in das er hineinschneuzte. »Einen Schluck?« »Ja, Abbé, den kann ich jetzt brauchen.« Bloch füllte das Glas des Henkers. Der scharfe Schnaps war schnell in der Kehle des Mannes verschwunden. Er schüttelte sich kaum noch, räusperte sich nur und starrte an Bloch vorbei, zur anderen Seite des Arbeitszimmers hin, wo sich auch das Fenster befand. Die Welt dahinter war dabei, sich zu verändern. Die strahlende Märzsonne war verschwunden. Die Welt tauchte in ein graues Zwielicht, was auch mit den ersten Schatten der Dämmerung zusammenhing, die anfingen, die Welt zu umgarnen. »Es wird bald dunkel werden«, sagte der Henker, und seine Stimme hörte sich an, als spräche er mehr zu sich selbst. »Ich weiß.« »Die Nacht kommt, und ich erinnere mich an das Versprechen, das man mir gab.« »Sie sollten es nicht…« »Nein, Abbé, ich weiß selbst, wie ich darüber denken muß. Dieser Okuba ist der Sohn des mächtigen Medizinmannes, dessen Namen ich nicht mal weiß. Er ist mir tatsächlich entfallen, aber ich wußte von seinem Einfluß. Er war ein Gegenspieler des Tyrannen, er war ein Feind, er wollte ihn stürzen.«
»Dann haben Sie ihn geköpft.« Cressons Blick bekam eine gewisse Leere. »Ja, das habe ich. Ich habe ihn geköpft.« »Und er hat Sie verflucht.« »Auf dem Richtklotz noch hat er mich verflucht. Er hat sogar auf eine Kapuze verzichtet. Er wollte mir in die Augen sehen, und er hat es auch getan. Schon damals wußte ich, daß ich seinen Bück nie würde vergessen können, und nun stemmt sich die Erinnerung wieder in mir hoch. Ich sage Ihnen, mon ami, daß ich seinen Blick nicht vergessen habe. Er kehrt zurück, grausamer als je zuvor, denn er war jahrelang verschwunden. Mit meinen Träumen aber ist er wieder da, und wenn ich mich jetzt daran erinnere, schimmerte in seinen dunklen Augen der Tod. Er war ein Meister gewesen, ein Magier und Zauberer, man hat ihn als einen Voodoo-König angesehen, und ich weiß jetzt, daß dies nicht übertrieben war. Er kannte die alten Riten, denn nicht grundlos – das habe ich später erfahren – kamen Menschen zu ihnen, die Kontakt mit den Verstorbenen aufnehmen wollten.« »Was passierte nach seinem Tod?« wollte der Abbé wissen. »Wenn Sie glauben, daß der Medizinmann in Vergessenheit geriet, so ist das ein Irrtum. Die Menschen vergaßen ihn nicht, sie verehrten ihn, er wurde zu einem Gott. Sie stilisierten ihn hoch, sie waren seine Gemeinde, und ich merkte, wie sich das Klima nach seinem Tod änderte. Es wurde kälter, denn auch die Macht des Präsidenten und Tyrannen schwand allmählich. Er bekam auch keine Unterstützung aus Frankreich mehr. Hier hatte man ihn ebenfalls fallengelassen.« »Was taten Sie?« »Ich hatte die Zeichen der Zeit erkannt und setzte mich vor Einbruch der großen Revolution ab.« »Vergaßen Sie?« »Ich versuchte es, aber ich schaffte es nicht, denn unterschwellig war die Furcht immer da. Ich konnte wirklich nicht vergessen. Die Erinnerungen wurden grausam für mich. Da mußte ich erleben, wie mich die Alpträume plagten, wie die von mir ermordeten Menschen wieder auferstanden und mich quälten. Sie waren nur in meinen Träumen vorhanden und nicht existent, aber sie waren da, als Geister des Schreckens.« Er hob die Schultern. »Dies nach all den langen Jahren.« Abbé Bloch wartete mit seiner Antwort. Dann fragte er: »Geht es Ihnen nach dieser Beichte besser?« »Wie meinen Sie?« »Fühlen Sie sich erleichtert?« Cresson strich über sein graues Haar. »Ja, ich fühle mich auf die eine oder andere Weise erleichtert, aber ich weiß auch, daß das Finale noch bevorsteht.«
»Bei dem Sie nicht allein sein werden. Sie bekommen Hilfe. Nicht nur von mir, sondern auch durch John Sinclair.« »Vergessen Sie ihn, mon ami. Er wurde ausgeschaltet.« Da mußte der Abbé einfach lächeln. In seinen Augen tanzten der Schalk und die Freude. »Nein, nein«, sagte er, »so einfach ist das nicht. Man hat den guten John zwar ausschalten können, aber er ist wieder da. So leicht bringt man ihn nicht aus dem Rennen.« Auguste Cresson überlegte. »Gäbe es denn noch eine Chance für uns – für mich!« »Die gibt es immer.« »Himmel, ich möchte Ihren Optimismus haben, Abbe.« »Vielleicht ist es das, was uns beide unterscheidet. Ich bin ein optimistischer Mensch. Jeder, der glaubt, sollte das sein und nicht in dumpfe Trauer verfallen.« »Das ist einfacher gesagt, als getan. Ich habe wohl den Fehler gemacht, kein großer Optimist zu sein. Wie hätte ich das bei meinem Beruf auch werden können?« »Ihnen hat der Glaube gefehlt.« »Auch das.« »Trotzdem sind Sie kein schlechter Mensch, Auguste. Was ich in Paris mit Ihnen erlebt habe, werde ich auch nicht vergessen. Sie haben, das steht fest, eine sehr große Schuld auf sich geladen. Aber ich bin ein Mensch und kein Richter. Da müssen Sie sich vor einer anderen Macht verantworten. Ich handele wie ein Mensch, denn keiner von uns ist ohne Schuld. Wer das ist, der werfe den ersten Stein. Vergeben kann Ihnen nur Gott, wir aber können Ihnen helfen.« Cresson hatte den Kopf gesenkt und schaute auf seine auf dem Tisch liegenden und wie zum Gebet gefalteten Hände. »Ich habe das alles gehört, Abbe«, sagte er, »und ich frage mich trotzdem, warum Sie das für mich tun.« »Die Antwort ist einfach.« »Bitte…« »Weil Sie ein Mensch sind, Auguste. Ja, Sie sind ein Mensch, und einem Menschen muß geholfen werden. Glauben Sie nur nicht, daß Sie allein privilegiert sind, nein, das auf keinen Fall. Für einen Clochard hätten wir uns ebenso eingesetzt wie für Sie. Es geht uns einzig und allein um den Menschen.« Cresson überlegte. »Danke, daß Sie mir das gesagt haben. Ich fühle mich jetzt nicht mehr ganz so tief in Ihrer Schuld.« »Das brauchen Sie auch nicht.« »Aber wir sitzen hier und reden, wobei die Gefahr noch längst nicht gebannt ist.« »Da haben Sie recht.«
»Darf ich Sie«, er beugte sich vor, »nach einem Plan fragen, Abbé? Haben Sie sich schon etwas ausgedacht?« »Nein.« Bloch sah das Erschrecken in den Augen des anderen Mannes und milderte die Antwort etwas ab. »Wir lassen es einfach auf uns zukommen, das ist wohl am besten.« »Ich… ich soll also warten?« »Nicht allein.« »Aber das Beil wird alle töten. Es steht unter einem unheilvollen Einfluß. Es gibt den Geist des toten Medizinmannes, der es bewegt, und ich spüre allmählich, daß es nicht mehr weit entfernt ist.« Seine Hand schnellte vor und bekam die Finger des Abbés zu fassen. »Glauben Sie mir, es ist nahe, sehr nahe…« »Das wissen Sie genau?« Cresson nickte heftig. »Ja, ja, da tut sich etwas in mir. Das sagt mir mein Gefühl. Es ist so, als würde sich einiges über mir zusammenpressen. Ich komme nicht mehr damit zurecht, selbst das Atmen fällt mir schwer. Abbé, die Gefahr ist da«, hauchte er. »Beruhigen Sie sich, Auguste. Sollte einer meiner Brüder den Schatten oder das Beil selbst sehen, bekommen wir sofort Bescheid.« »Schön, das weiß ich ja. Wenn es soweit ist, was wollen Sie dagegen unternehmen?« »Wir werden uns schon etwas einfallen lassen.« »Das sind doch…« Er stoppte mitten im Satz. Während des Sprechens hatte er den Kopf bewegt. Dann sprang er hoch. »Was ist denn?« Cresson riß auch seine Arme in die Höhe und deutete zur Decke. »Da ist es, Abbé – da!« Bloch schaute ebenfalls hoch – und kriegte eine Gänsehaut. Cresson hatte nicht gelogen. Unter der Decke zeichnete sich tatsächlich der Schatten des Henkersbeils ab… *** Okuba hatte nach einem Versteck gesucht und es auch gefunden. Der Ort war finster und bot Schutz. Alet-les-Bains war immer ein recht verschlafener Ort gewesen und es auch geblieben. Man hatte die alten Bauten so stehenlassen, die Gärten ebenfalls, und es waren nur hin und wieder neue Mauern hochgezogen worden, um die Pflanzen vor den Winden zu schützen. Das Kloster der Templer-Brüder, das so gar nicht wie ein Kloster aussah, sondern eher wie ein kleiner Bauernhof mit verschiedenen Stallungen, befand sich auf dem flachen, normalen Boden. Erst hinter den
Gebäuden stieg das Gelände an, ein schmaler Weg führte einen Hang hoch, und den hatte der Afrikaner benutzt. Er war über eine weiße Mauer geklettert, stand in einem fremden Garten, konnte aber, wenn er wollte, auf das Refugium der Templer hinabschauen. So wartete er. Gleichzeitig wußte er, wer sich hinter den Mauern versteckt hielt. Der Henker hatte Schutz bei irgendwelchen Freunden gesucht, aber er würde ihn nicht bekommen. Nichts konnte ihn mehr vor seiner eigenen Waffe schützen, denn die Kräfte, die gegen ihn standen, waren stärker und mächtiger als er. Okuba spürte den Kontakt, der sich allmählich aufbaute. Er merkte, wie er zunächst innerlich zitterte, es dabei aber nicht blieb und das Zittern seinen gesamten Körper überlief. So war es immer gewesen, so hatte er es gekannt, denn nun stand der Kontakt mit seinem Vater dicht bevor. Er hatte sich am frühen Morgen noch einmal gereinigt. Den Körper als auch die Seele von allen anderen Belastungen befreit, so daß die Rache nun durchgeführt werden konnte. Er mußte einfach so handeln, um das Beil lenken zu können. Noch hielt er es fest. Mit beiden Händen hatte er den Griff gepackt. Es lag waagerecht vor ihm, die scharfe Schneide wies zu Boden. Okuba stand in seiner völligen Erstarrung und hielt den Kopf gesenkt. Er merkte, wie der Geist des Vaters, aus dem Unsichtbaren kommend, Einfluß gewann. Das Sprechen der alten Totenformeln hatte sich gelohnt. Er hatte den vermoderten Körper zwar nicht aus der Grube holen können, aber der Geist war da. Und er drang ein. Der Mann aus Afrika spürte den Druck in seinem Kopf und wußte, daß dies der Anfang war. Das Fremde und das Vertraute zugleich hatten von ihm Besitz ergriffen. Okuba wußte nicht, ob er noch der Sohn oder schon der Vater war. Wahrscheinlich beides. Vater und Sohn in einem. Zusammengeschmolzen zu einer Person, die nur noch ein Ziel kannte. Rache! Rache an dem Menschen, der seinen Vater auf eine derartig unwürdige Weise vom Leben in den Tod befördert hatte. Noch umschlangen seine Finger den Griff des Beils. Okuba wußte, daß die Waffe seine Stütze bald nicht mehr brauchen würde, und er versuchte es. Er ließ das Henkersbeil los! Es fiel nicht zu Boden. So wie er es gehalten hatte, schwebte es in der Luft. Der Schwarze lächelte. Er drehte den Kopf so, daß er gegen den schattigen Himmel schauen konnte, als wäre dort eine Botschaft für ihn verborgen.
Die Augen weiteten sich. Sie nahmen an Glanz zu, der Mund zog sich in die Breite, produzierte ein Lächeln. »Ja«, sagte er, »ja, gehorche ihm und gehorche mir. Finde deinen Weg, um zu töten.« Das Beil bewegte sich. Es stieg in die Höhe – er sah es nur für Sekunden –, dann löste es sich auf. Seine Umrisse verschwanden, dafür entstand der Schatten des Beils, was sehr wichtig war, denn nun gab es weder Mauern noch Wände, die es auf seinem Weg der Rache aufhalten konnten. Okuba war zufrieden. Und mit dieser Zufriedenheit in seinem Innern verließ er den Garten. Er war nicht feige, denn er wollte sich dem Ziel nähern, das er seinem Beil befohlen hatte. Er wollte vor allen Dingen eines: der Tötung des Henkers beiwohnen. *** Ich hatte die beiden Templer weggeschickt, weil ich sie aus Gründen der Sicherheit nicht in meiner Nähe haben wollte. Ich stand auf der Liste weit oben, und die Gefahr war nicht geringer geworden, obwohl es Drack nicht mehr gab. Dafür mußte ich mit Okuba rechnen und natürlich mit seinem Beil. Wie ich es stoppen sollte, wußte ich selbst nicht. Vielleicht mit dem Kreuz, das nicht mehr vor meiner Brust hing, sondern in der Tasche steckte. Dort hatte ich es griffbereit. Alet-les-Bains bereitete sich auf die Nacht vor. Zwar hatte sich das Licht des Tages noch nicht restlos zurückgezogen, aber der Himmel war bereits vom dunklen Glanz überzogen worden, der mich an ölige Asche erinnerte. Die helleren Hecken des Tageslichts verminderten sich immer mehr, und so überwogen die Schatten, was einige Menschen dazu gebracht hatte, in ihren Häusern die Lichter einzuschalten. Aus einigen Kaminen drang noch Rauch hervor, denn die Abende waren weiterhin kühl, auch die Nächte konnten kalt werden. Die Ruhe des nahen Abends lag über dem Dorf, doch mir kam sie wie gespenstisch vor. Einen Toten hatte es schon gegeben, und ich wußte nicht, welch eine Explosion von Gewalt mir noch bevorstand. Das Beil war auf Cresson, den Henker, fixiert. Von Drack aber hatte ich erfahren, daß auch diejenigen zu seinen Opfern werden würden, die auf seiner Seite standen und versuchen wollten, den Fluch zu stoppen. Aus diesem Grunde war ich vorsichtig und lief nicht wie ein Marathonläufer auf das Refugium der Templer zu. Ich schaute mich immer wieder um. Dabei suchte ich nach irgendwelchen unnatürlichen, sich bewegenden Schatten, nur bekam ich keinen zu Gesicht. Die Schatten, die ich sah, waren und blieben auch
normal. Zumeist von Hauswänden auf den Boden gezeichnet oder von Mauern und irgendwelchen Bäumen. Menschen begegneten mir so gut wie gar nicht. Die meisten Bewohner saßen beim Essen in ihren Wohnungen. Hin und wieder dröhnte ein Fahrzeug durch das Dorf. Ein Hund kläffte mich an. Ich ging weiter. Durch das Kläffen war auch ein weiteres Tier aufmerksam geworden und bellte ebenfalls, wobei es von innen gegen ein Gittertor sprang. Kleine Steine bedeckten den Boden. Das Licht und viele Regengüsse hatten sie im Laufe der Zeit ausgebleicht. Vor dem Eingang des Templer-Klosters leuchtete es gelblich auf. Das Licht leuchtete von einer Lampe, die oberhalb der Tür befestigt worden war. Dort verteilte sie ihren Schein, und das Gelb sah aus, als würde es von einer Natriumdampflampe stammen. Am Eingang bewegte sich nichts. Dafür stand der Renault Laguna in der Nähe. Wie sah es hinter den Mauern aus? Hatte es der Abbé geschafft, Auguste Cresson Schutz zu bieten. Einen vorläufigen sicherlich, aber ich wußte nicht, was passieren würde, wenn plötzlich das verfluchte Beil auftauchte, sich zu einer Mordwaffe materialisierte und es durch seine Schnelligkeit und die magischgeistige Führung schaffte, jedes Ziel zu erreichen. Mich jedenfalls hatte die tödliche Waffe noch nicht aufs Korn genommen, in meiner Nähe hatte ich nicht mal ihren Schatten oder Umriß entdeckt. Vor dem Eingang blieb ich zunächst stehen und drehte mich um. Ein Verfolger war nicht zu sehen. Auch die beiden Templer aus dem Gewächshaus hielten sich nicht mehr im Freien auf. Sie würden das schützende Haus längst betreten haben. Schützende Haus? Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher. Ich kannte mich aus, ich war des öfteren schon hineingegangen, so wußte ich auch, daß innerhalb der Mauern schon harte Kämpfe stattgefunden hatten. Aus diesem Grunde bot es keinen absoluten Schutz. Unsere Feinde fanden immer Mittel und Wege, hineinzugelangen, besonders dann, wenn sie – wie das Beil – ein Schatten waren. Für ihn gab es keine Hindernisse. Schatten können durch Mauern und Wände wandern, mochten sie noch so dick sein. Ich stellte mich darauf ein, der Gefahr zu begegnen. Mit diesem Wissen öffnete ich die Tür. Da ich mich eben auskannte, wußte ich auch, wie ich zu gehen hatte, um das Arbeitszimmer des Templer-Führers zu erreichen, in dem auch der Knochensessel stand. Es blieb beim Wollen.
Kaum war ich über die Schwelle getreten und befand mich nun in einem Flur, als ich rechts von mir eine Stimme hörte, die mir verdammt bekannt vorkam. Okuba sprach. Den Abbé mußte ich zunächst vergessen, denn die Worte des Afrikaners hatten mich alarmiert. »Ihr könnt sterben oder leben. Nur wenn sich einer bewegt, ist der Mann vor mir tot. Überlegt es euch. Ich bleibe nicht lange. Das Beil ist unterwegs. In wenigen Minuten wird alles vorbei sein. Also, bleibt ruhig, denn ihr habt mit meiner Rache nichts zu tun. Sie gilt einzig und allein einem brutalen Henker, der gleichzeitig der Mörder meines Vaters ist.« Ich konnte leider nicht sehen, in welch einer Lage sich Okuba und die Templer befanden. Seine Worte hatten mir klargemacht, daß er sich eine Geisel genommen hatte und die anderen Menschen damit unter Druck setzte. Ich blieb von der hellgrau gestrichenen Wand weg, als ich mich nach rechts bewegte. So leise wie möglich trat ich auf. Vor mir sah ich die schwache Lichtquelle. Nicht weit entfernt von der schmalen Treppe. Dort standen die Gestalten wie Puppen. Ich zählte vier Templer, nein fünf, denn einen hatte sich der angebliche Diplomat als Geisel genommen. Er stand hinter ihm, hielt eine Waffe in der Hand und die kalte Mündung gegen den Nacken des Mannes, als wollte er ihn mit einem Genickschuß hinrichten. Ich konnte nur hoffen, daß ich mich durch das Schaben der Kleidung nicht verriet. Der Afrikaner stand unter Spannung. Seine Sinne waren geschärft. Er würde auf jedes Geräusch sofort reagieren. Himmel, warum sprach denn keiner der Templer ein Wort? Dieser Laut wäre mir entgegengekommen. Mein Flehen wurde erhört. »Sie kommen hier nicht raus, wer immer Sie auch sein mögen. Mord war noch nie eine Lösung.« »Das weiß ich. Aber Sie hätten das lieber dem Henker sagen sollen. Er ist derjenige gewesen, der tötete.« »Damit haben wir nichts zu tun!« »Ihr habt ihm Schutz gewährt.« Redet weiter, dachte ich. Verdammt noch mal, redet doch weiter! Nur so komme ich näher. »Sollen wir den Abbé bitten, daß er dir den Henker übergibt, damit du ihn vor ein Gericht stellen kannst?« »Nein, das ist nicht nötig. Ich bin der Richter!« »Kein Mensch kann das sein!« »Ich bin es aber!« Gut – gut! Ich war schon ziemlich nahe an ihn herangekommen. Wunderbar, besser konnte es gar nicht laufen. Mein Herz schlug
schneller. Ich mußte mich zusammenreißen, und ich hoffte, daß Okuba nicht durchdrehte, wenn er merkte, wer hinter ihm war. »Ihr seid Christen, ihr lebt hier in der Gemeinschaft, und ihr müßt die Worte kennen, die da heißen: Auge um Auge – Zahn um Zahn. So werde ich die Rache durchziehen…« Es wurde Zeit für mich, einzugreifen. Mit halblauter Stimme sagte ich in das Schweigen hinein: »Das glaube ich nicht, Okuba…« *** Der Schatten des Beils war da. Er klebte buchstäblich unter der Decke, und zwei Augenpaare starrten hinauf. Das eine Paar entsetzt und angstvoll, das andere etwas neutraler. Das Beil zeichnete sich dort in Originalgröße ab, nicht mal verschwommen, sondern scharf konturiert. Wurde die Waffe richtig geführt, war sie in der Lage, mit einem Schlag den Kopf vom Körper eines Menschen zu trennen. Das wußte auch Cresson, bestimmt sogar am besten, und er war kaum in der Lage zu atmen. Die Furcht umschlang ihn wie eine stramme, brutale Fessel. Der Abbé hatte das Erscheinen des Beils erwartet. Äußerlich wirkte er gelassen, innerlich aber nicht. Er spürte den Bannstrahl des Bösen, der in sein Arbeitszimmer eingedrungen war. Im Gegensatz zu Cresson arbeiteten seine Gedanken fieberhaft, denn er suchte nach einem Ausweg aus dieser Misere. Er wollte nicht sterben, und Cresson sollte ebenfalls am Leben bleiben. Noch war das Beil nur ein Schatten, aber wie lange hielt es sich in diesem Zustand? Wenn es köpfen wollte, dann mußte es sich materialisiert haben. Cresson hatte seine Erstarrung überwunden. Es begann bei ihm mit einem Zittern, dann brach es keuchend aus ihm hervor: »Ich will weg. Ich bleibe nicht mehr hier, ich…« »Sie bleiben, Auguste!« »Aber das Beil…« »Wird Sie überall finden!« »Wollen Sie mich etwa retten?« »Ich werde es versuchen!« Cresson wollte lachen, es erstickte jedoch bereits im Ansatz. Zudem bewegte sich die Waffe. Sie huschte ein Stück nach vorn, und der Schatten nahm auf diesem kurzen Weg ein anderes Aussehen an. Er verdichtete sich, und es entstand genau das Material, aus dem das Henkersbeil tatsächlich gefertigt worden war. Aus Holz und Stahl.
Es war fertig, es kippte, es fiel nach unten, und Cresson konnte den Schrei nicht mehr unterdrücken. Er sprang zur Seite, ebenso wie der Abbé. Genau zwischen ihnen hackte die Schneide in den Tisch. Für einen Moment blieb das Beil in dieser Stellung. Bloch wußte selbst nicht so recht, was er tat. Er handelte einfach, und das ohne Überlegung. Mit beiden Händen umklammerte er den Griff. Dann riß er das Beil mit einer wuchtigen Bewegung aus der Tischplatte hervor und hielt es fest wie eine Beute… *** »Sinclair?« fragte er. »Ja.« Er lachte leise. »Sie haben es also geschafft. Wären Sie ein Freund, dann würde ich Ihnen ein Kompliment machen. So aber haben Sie sich gegen mich gestellt, und ich bin nun mal ein Mensch, der seine Feinde haßt, besonders dann, wenn sie mich von irgendwelchen persönlichen Taten abhalten wollen.« »Vor Mord?« »Nein, es ist kein Mord. Es ist die Gerechtigkeit.« »Ihre Gerechtigkeit, Okuba. Ich habe Ihrem Leibwächter schon gesagt, daß es in unseren Breiten eine andere gibt als damals in Ihrem Land.« »Sie haben was?« keuchte er. »Soll ich es wiederholen?« »Nein. Was ist mit Drack?« »Er wollte mich aufhalten. Ich war um eine Idee schneller. Sie haben verloren, Okuba.« Noch immer drehte er mir den Rücken zu. Ich sah, wie er zitterte. Er holte laut Atem. Er überlegte, ob das stimmen konnte, was ich gesagt hatte, und wahrscheinlich dachte er auch darüber nach, daß Drack nur aufgehalten werden konnte, wenn man ihn tötete. »Sinclair!« hörten wir ihn alle keuchend sagen. »Verflucht noch mal, Sinclair, was ist mit Drack geschehen? Wo befindet er sich?« »Dort, wo Sie den Wagen abgestellt haben. Ich würde sagen…« »Gar nichts würden Sie sagen, gar nichts. Vergessen Sie nicht, daß ich eine Waffe in der Hand halte, die bereit für einen Genickschuß ist. Möchten Sie diesen Mann opfern?« »Nein!« »Sehr schön, sehr schön.« Er sprach und zitterte dabei. »Wenn Sie ihn nicht opfern wollen, dann verschwinden Sie aus diesem Haus! Machen Sie, daß Sie wegkommen…« »Ich werde gehen!« »Dann los!« »Nicht ohne das Beil!«
Mit dieser Antwort hatte er beim besten Willen nicht gerechnet. Für einen Moment bewegte er sich nicht. Er sagte kein Wort mehr, er war einfach überrascht, und wahrscheinlich hatte er auch gezuckt, zumindest seine Hände, denn der Templer, der den Druck der Waffe auf seiner Haut spürte, riskierte alles. Blitzschnell warf er sich nach rechts. Okuba schoß. Ein Schrei folgte. Vielleicht hatte er den Mann noch erwischt, hoffentlich nicht tödlich. Aber auch ich war nicht untätig geblieben. Obwohl mir der Mann den Rücken zudrehte und ich eigentlich niemandem keinen Menschen in den Rücken schießen wollte, drückte ich ab, weil ich es einfach tun mußte. Ich schoß dem Mann in die rechte Schulter, bevor er selbst einen zweiten Schuß abgeben konnte. Der Afrikaner reagierte nicht wie ein Geist oder ein Dämon, der handelte wie ein Mensch. Das geweihte Silber steckte in seiner Schulter, und die Aufprallwucht der Kugel hatte ihn um die eigene Achse gedreht. So war er an der Wand entlang gerutscht. Er starrte mich jetzt an, und sein rechter Arm hing steif wie ein Holzbrett nach unten. Die Waffe hielt er fest, es war eine Luger-Pistole, die in diesem Augenblick zu schwer für seine Hand wurde. Das Zittern der Finger sorgte für eine Entkrampfung der Faust, und die Pistole rutschte an der Handfläche entlang nach unten, wo sie auf dem Steinboden landete und von einem Templer aufgehoben wurde. Der erste Schuß hatte den Bedrohten noch während seines Falls getroffen. Die Verletzung war nicht lebensgefährlich, die Kugel steckte in seinem linken Oberschenkel fest. Der Mann hatte das Bein angezogen, er lag auf der Seite und unterdrückte nur mühsam den Schmerz. Ich hätte mich um ihn gekümmert, wenn nicht – ja, wenn sich nicht bei Okuba etwas abgespielt hätte, das mir und auch den Templern den Atem stocken ließ. Der Afrikaner war nicht zu Boden gefallen. Er hatte sich mit dem Rücken gegen die Gangwand gedrückt, stand sogar im Licht, und wir alle konnten sein Gesicht erkennen. War es noch sein Gesicht? Keiner wußte es, denn aus den Poren seiner Haut kroch etwas hervor, das wie ein altes, zweites Gesicht aussah, eine geisterhafte Botschaft aus der Welt der Toten… *** Für den Bruchteil einer Sekunde spürte der Abbé das Gefühl des Triumphes wie einen Adrenalinstoß durch seinen Körper schießen. Er
hatte es geschafft, er hatte das Beil an sich gerissen, er konnte es führen, und er würde es vernichten. Dieses Gefühl änderte sich radikal. Plötzlich ging er zurück, ohne es zu wollen. Irgend etwas war in sein Gehirn eingedrungen und hatte es ihm befohlen. Er taumelte weiter und näherte sich dem Fenster, und plötzlich blieb er stehen. Auguste Cresson hatte ihn beobachtet und jede seiner Bewegungen mitbekommen. Der Henker konnte nicht begreifen, was sich da vor seinen Augen abspielte. Der kleine Mann hielt das Beil so hoch über seinem Kopf, daß die Klinge beinahe gegen die Decke kratzte. Zudem wirkte diese Waffe in seiner Hand wie ein Fremdkörper, sie gehörte nicht mehr zu ihm, aber auch nicht mehr zu Cresson. Was tat Bloch? Auguste Cresson wurde von einer Unsicherheit gepackt, mit der er nicht zurechtkam. Er hatte fliehen wollen, dann diesen Gedanken wieder verworfen. Jetzt stand er da und starrte einen Mann an, dessen Gesicht dabei war, sich zu verändern. Das war nicht mehr der Abbé, den er kannte. Das war ein anderer geworden, ein Mensch, der unter einen fremden Einfluß geraten war. Was Bloch fühlte und spürte, das zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Es war ein Widerstreit der Gefühle. Für Cresson sah es so aus, als wüßte er nicht, was er noch unternehmen sollte. Seine Stimme schwankte zwischen Rettung und Vernichtung. Das Beil schien für ihn einfach zu schwer geworden zu sein. Er hatte Mühe, es festzuhalten, und Cresson bekam mit, wie die Gestalt des Templers bei jeder Bewegung schwankte. Mal kippte er nach rechts, dann wieder nach links. Es sah so aus, als sollte er jeden Moment fallen, aber er hielt sich noch immer auf den Beinen und folgte den Befehlen des Henkersbeils. Die Waffe spielte mit ihm. Noch immer von den beiden Händen festgehalten, drückte sie den Mann mal zurück, dann wieder nach vorn. Sie trieb ihn nach rechts, auch in die entgegengesetzte Richtung, und plötzlich glaubte Cresson, seinem Verstand und seinen Augen nicht mehr trauen zu können, denn durch den Körper des Mannes war ein Ruck gegangen. Seine Arme drängten sich noch weiter in die Höhe, die Füße hoben plötzlich vom Boden ab, und einen Moment später klirrte der Stahl gegen die Decke. Der Abbé schwebte. Und doch sah es so aus, als wäre seine Gestalt zusammen mit dem Henkersbeil an der Decke befestigt. Es war verrückt und nicht mehr nachzuvollziehen. Der Henker kam sich vor, als hätte man ihn in eine Stahlklemme gesteckt. Er wollte flüchten
auf der einen Seite, auf der anderen aber schaffte er es nicht, sich der Faszination dieser Szene zu entziehen. Wieder erwischte der Ruck die Gestalt. Der Abbé prallte zu Boden. Er war nicht tief gefallen, sackte aber trotzdem in den Knien ein. Und er hielt das Beil fest. Dann schüttelte er den Kopf. Er keuchte. Speichel zeichnete sich blaß auf seinen Lippen ab. Er stammelte Worte, wobei er am häufigsten den Begriff nein benutzte. Er selbst wollte nicht, aber die andere Kraft hielt mit aller Macht dagegen. Was wollte er nicht? fragte sich Cresson. Bloch kämpfte. In seinen Armen zuckte es, was auch seinen Grund hatte, denn er versuchte verzweifelt, das Beil endlich loszulassen. Nur stemmte sich die andere Kraft dabei entgegen, und sie schien immer mehr die Oberhand zu gewinnen. Er taumelte jetzt hin und her. Das Beil schwang mit. Mal kratzte es über den Boden, dann wieder wurde es an der linken oder rechten Seite in die Höhe getrieben, als wollte es über die Wände fahren. Ein ewiges Hin und Her, bei dem noch kein Sieger feststand. Mensch oder Macht? Noch tobte der Kampf auf des Messers Schneide, doch die Entscheidung näherte sich unaufhörlich. Cresson mußte sich eingestehen, daß der Abbé verlor. Er konnte das Beil nicht mehr kontrollieren, er hatte es nie gekonnt, denn es kontrollierte ihn. Sein Gesicht sah furchtbar aus. An ihm zeigte es sich, welche dämonischen Kräfte in ihm tobten, wie brutal sie mit ihm umgingen und wie sie seine eigene Seele zerstörten. Plötzlich brüllte er auf. Es war ein Geräusch, das dem Henker durch Mark und Bein ging. Selbst in seinen schlimmen Zeiten in Afrika hatte er derartige Schreie kaum vernommen. Qual, Angst, Haß – alles dies glaubte Cresson darin zu hören. Und der Henker war jetzt ein anderer geworden. Es war der Abbé, der mit hoch über dem Kopf geschwungenen Beil auf Cresson zustürmte… *** Zwei Gesichter in oder auf einem! Ich wußte nicht genau, wie ich es erklären sollte. Es war einfach vorhanden, und ich mußte daran denken, daß Cresson von einem derartigen Gesicht in der Fensterscheibe der U-Bahn berichtet hatte.
Ein Gesicht mit ebenfalls negroiden Zügen. Grau und aschig, fast schmutzig wirkend, mit Augen, die leer waren und die von denen des Jüngeren Besitz ergriffen hatten. Er stand noch immer. Das Gesicht bewegte sich ebenso wie seines, und es sah so aus, als würde das echte Gesicht gegen das andere ankämpfen, um keinem einen Freiraum zu gewähren. Jemand sprach. Zumindest hörte es sich an, als würde jemand sprechen, obwohl die Worte aus dem Mund des Afrikaners drangen, aber es war nicht mehr genau seine Stimme. Sie konnte zwar noch herausgehört werden, nur hatte sie einen anderen Klang bekommen. Sie hörte sich rauher an, auch älter, obwohl er flüsterte. »Ich werde sterben, Sinclair, ja, ich werde sterben. Nicht durch deine Kugel, sondern durch meinen eigenen Vater. Ich habe ihm versprochen, daß ich zu ihm gehe, wenn ich es nicht schaffe, Cresson zu töten. Und ich will dir gestehen, daß ich es nicht geschafft habe.« Er schnappte zweimal nach Luft, dann sprach er weiter. »Aber denke nur nicht, daß du gewonnen hast, weil ich es nicht schaffte. Das Beil existiert noch. Es gehorcht anderen Gesetzen. Mein Vater hat es für die Rache geschliffen. Es ist noch da, es ist stärker als du und ich. Ich weiß es. Du hast einen Fehler gemacht, du hättest dich nicht einmischen sollen, und das wirst du auch erleben, Sinclair…« Er kicherte und schüttelte den Kopf, als wollte er das zweite Gesicht von seinem eigenen wegschleudern. »Was werde ich erleben?« Als Antwort sackte Okuba in die Knie. Dann setzte er sich, wir starrten auf ihn hinab, und er hob den Kopf ein wenig an, um in unsere Gesichter schauen zu können. »Ihr habt verloren!« »Das denke ich nicht!« »Doch, ich werde nicht mehr sein, aber ihr habt trotzdem verloren, das mußt du mir glauben.« Allmählich gingen mir die Worte doch unter die Haut. Ich dachte an das Beil, das ich bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Zumindest nicht in diesem Haus, und plötzlich wurde mir eiskalt. Ich wollte weg, aber der Ruf eines Templers bannte mich auf der Stelle. »Da, sieh doch!« Er stand zu weit weg, um eingreifen zu können. Ich war zwar nahe an Okuba, aber nicht schnell genug. Er hatte seine Hand gegen den offenen Mund gepreßt. Ob er ein oder zwei Gesichter hatte, das war mir egal, jedenfalls hatte er sich etwas zwischen die Zähne gestopft, und als meine Hand vorzuckte, da hörten wir bereits das häßlich klingende Knirschen von Glas. Er hatte die Kugel zerbissen, die zuvor mit Gift gefüllt worden war. Es war so einfach.
Er starrte mich an. Er grinste, und dieses Grinsen wurde starr, denn er nahm es mit hinein in den Tod… Ich richtete mich auf. Ich war bleich geworden, das spürte ich, und ich spürte auch die Blicke der anderen Templer. »Okay«, sagte ich, »okay, ich werde dann…« Weiter sprach ich nicht. Ich schaute auch nicht mehr auf das normale Totengesicht des Afrikaners, ich war - ebenso wie die Templer – durch einen grauenhaften Schrei alarmiert worden. Trotz dieses alptraumhaften Lautes wußte jeder von uns, wer ihn ausgestoßen hatte. Abbé Bloch! Das Beil, das verfluchte Beil. Es beherrscht mich. Es hat mein eigenes Ich zurückgedrängt. Es kennt keine Moral, es kennt keine Gnade, es kennt nur den Tod, den Tod… Diese Gedanken schössen durch den Kopf des Abbes. Gleichzeitig verfluchte er die Waffe. Er hätte sie für sein Leben gern fortgeschleudert, was aber nicht möglich war, denn sie klemmte zwischen seinen Händen fest, als wären diese zu Stahlklammern geworden. Nichts ging mehr bei ihm. Nichts lief mehr. Die andere Macht hatte voll und ganz die Kontrolle übernommen, und er sah nur ein Ziel. Es war der Henker, der vor ihm stand, der sich erhoben hatte, in dessen Gesicht sich die schrecklichen Ahnungen zeigten, die ihn durchschossen. Er wußte Bescheid, was Bloch dachte. TÖTE IHN! TÖTE IHN! Es waren Gedanken, die Bloch nicht kannte. Er hatte bisher nach sehr menschlichen Gesetzen gelebt, in denen ein Menschenleben auch zählte, doch nun war dieser Befehl durch sein Gehirn gejagt, wie mit dem Messer gestochen. TÖTE IHN! Schrecklich, furchtbar, so hart, so brutal und menschenverachtend . Bloch knurrte. Speichel rann aus beiden Mundwinkeln und hinterließ eine nasse Spur auf der Haut. Er fühlte sich leer und trotzdem überhäuft von grausamen Gedanken. TÖTE IHN! Nein! Ein stummer Hilfeschrei in seinem Innern. Die andere Kraft stand dagegen. TÖTE IHN!
Und Bloch schrie. Er hatte sich noch nie zuvor so schreien hören. Es war auch nicht er, der so geschrieen hatte, es war das andere in ihm, das ihn antrieb wie ein Motor. Er rannte los. Er schwang das verfluchte Beil hoch über seinem Kopf. Nein, nicht er schwang es, es war der Geist, das böse Omen, der Killer in seinem Schädel, wie auch immer. Und er schrie weiter. Seine Beine bewegten sich. Vor ihm erschien das entsetzte Gesicht des Henkers. In einer Geste der Verzweiflung riß er die Arme hoch und stolperte zurück. Blochs Arme bewegten sich von allein. Mit aller Kraft schlug er zu… *** Ich rannte, als ginge es um mein Leben. Der Weg zum Arbeitszimmer des Abbés war nur kurz, eine lächerliche Distanz, doch in meiner Lage zählte jede Sekunde. Dann war ich an der Tür. Natürlich mit zu viel Schwung, ich prallte gegen das Holz, verlor wieder Sekundenbruchteile. Dann endlich hatte ich die Klinke erwischt und hämmerte sie nach unten. Der Abbé schloß sein Zimmer nur selten ab. Ich konnte nur hoffen, daß er sich auch heute daran gehalten hatte. Er hatte! Ich drückte die Tür auf. Der erste Schritt über die Schwelle, schnell und trotzdem wachsam, mit schußbereiter Waffe. Ich kam nicht mehr zu einem zweiten Schritt, denn ich sah den Abbé vor mir stehen. Er nahm mich nicht wahr. Sein Gesicht war starr. Er starrte aus blicklosen Augen ins Leere. Und vor ihm, fast noch zwischen den Füßen, lag das Beil. Die Klinge war blutig… Ich merkte, wie sich mein Puls beschleunigte. Ich wünschte mich jetzt weit, weit weg, aber das war nicht möglich. So mußte ich den Realitäten ins Auge sehen. Sehr langsam und wie ferngelenkt drehte ich den Kopf. Ich sah den Tisch, auch zwei umgekippte Stühle, und ich sah noch mehr. Der Mensch lag auf dem Boden, eine Blutlache umgab seinen Kopf und war dabei, sich noch weiter auszubreiten. Auguste Cresson hatte gebüßt. Er würde nie mehr ein Beil auch nur streicheln können. Jemand hatte ihn erschlagen! ***
Es war eine unheimliche Ruhe, die sich in diesem Zimmer ausgebreitet hatte. Auch ich war nicht in der Lage, ein Wort zu sagen. Hinter mir wollten sich die Templer in den Raum drängen. Sie merkten rasch, wie fehl sie hier am Platz waren, und sie zogen sich deshalb zurück. Einer schloß sogar die Tür, was gut war, denn ich wollte mit dem Abbé allein sein. Sein Gesicht hatte sich wieder ein wenig entspannt. Noch immer aber war er mit den Gedanken woanders. Erst als ich dicht vor ihm erschien, schrak er zusammen. »Abbe…«, sagte ich. »Ja, was ist?« »Bist du…?« »Ich wollte es nicht, John.« Er redete mit einer fremden Stimme. »Ich wollte ihn nicht erschlagen. Ich habe das verfluchte Beil genommen, um es von ihm wegzubringen. Ich wollte ihn retten, verstehst du? Einfach nur retten. Aber dann habe ich zugeschlagen, richtig zugeschlagen, doch ich bin es nicht gewesen.« »Ich weiß.« Er krallte sich an mir fest. »Verdammt noch mal, nichts weißt du!« schrie er. »Gar nichts! Das Beil, das verfluchte Beil… es… steckte eine Kraft in dieser Klinge, die mich ausgeschaltet hat. Ich war nicht mehr der Abbé Bloch, den du kennst. Ich wurde zu einem Tier, und ich konnte nichts daran ändern. Ich habe dagegen angekämpft. Ich wollte die Waffe wegwerfen, aber sie klebte an meinen Händen fest. Ich schrie, ich betete, ich bekam die Hände nicht frei, um mich vielleicht durch den Würfel zu retten, doch das ANDERE war stärker. Es hat mich voll und ganz übernommen, ich bin nicht mehr dazu gekommen, ich war einfach zu schwach, John Sinclair, zu schwach.« »Niemand ist immer stark.« »Ich bin ein Mörder, John!« »Nein, das bist du nicht!« Er hielt mich noch immer fest und schüttelte mich jetzt durch. »Doch, ich habe einen Menschen umgebracht, ich habe ihm die Klinge in den Kopf geschlagen. Es passierte hier. Hier in meinem Haus, in meinem Zimmer. Ich… ich…« Er rang gierig nach Luft und kam mir plötzlich vor wie Okuba, als er auf die Giftkapsel gebissen hatte. Bloch starb nicht. Er sackte nur zusammen und wurde von mir aufgefangen. Mit ihm auf den Armen verließ ich das Zimmer. Als ich in den Flur trat, schauten mich die Templer erschreckt an, denn der Abbé sah aus wie eine Leiche. Ich beruhigte sie und brachte Bloch anschließend in sein Zimmer. Aus seinem Arbeitszimmer telefonierte ich anschließend mit London, um Sir James zu erklären, daß ich noch zwei Tage bleiben würde. Ich mußte
mich um den Abbé kümmern, mußte immer wieder mit ihm reden, um ihn von dem Gedanken zu befreien, ein Mörder zu sein… *** Die Toten fanden ihre letzten Ruhestätten auf dem kleinen Friedhof von Alet-les-Bains. Die Gräber lagen dicht nebeneinander. Das von Auguste Cresson war trotz seiner Vergangenheit mit einem schlichten Holzkreuz geschmückt worden. Blieb das Beil. Der Griff wurde verbrannt und das Eisen eingeschmolzen. Nichts mehr sollte an das Henkersbeil erinnern…
ENDE