REN DHARK
Drakhon Band 19 Heerzug der Heimatlosen
l. Der Zorn fraß ihn auf.
Da waren keine menschlichen Gefühle meh...
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REN DHARK
Drakhon Band 19 Heerzug der Heimatlosen
l. Der Zorn fraß ihn auf.
Da waren keine menschlichen Gefühle mehr, nicht einmal Bedauern - Simon wußte nur, daß er helfen
mußte. Andernfalls würden die letzten Fanjuur mit ihrer Welt sterben. Wo eben noch fester Boden
gewesen war, brodelte stinkender Morast. Eine der letzten Städte versank, und mit ihr die Erinnerung an
ein Volk, dem das Schicksal übel mitgespielt hatte.
Alles geschah unglaublich schnell.
Die Waffenenergie komprimierte sich in seinem Leib. Vielleicht hätte Simon in diesem Moment den
tödlichen Ausbruch noch verhindern können. Aber er wollte es nicht.
Warum? schrien seine Gedanken. Warum immer nur Leid und Tod?
Simon achtete nicht mehr darauf, was sein Gegenüber sagte. Herausfordernd starrte er die wurmartige
Kreatur an, und zum ersten Mal genoß er die Macht, die seinem Körper aus Tofirit inne-wohnte.
Seine Hände verformten sich.
Die Finger, eben noch menschlich wirkend, wurden zu tropfenförmigen Klumpen. Heißer und drängender
tobte die Energie durch seinen Brustkorb, dann winkelte er die Unterarme an. Sie waren zu rötlich
glänzenden Waffenläufen geworden, den Armen eines Kampfroboters.
Ich bin nur noch ein Roboter! Der Gedanke quälte ihn. Sein Geist war eingesperrt in diesen Klumpen
flexiblen Metalls, der eigene Körper längst tot und verbrannt. Er lebte in einem Gefängnis, das ihn am
Leben erhielt, ihm aber zugleich verwehrte, jemals wieder ein Mensch zu sein.
»... ihr seid eine Gefahr für jede Spezies!«, hörte Simon sich sa
gen. »Es sei denn...«
Flieh! tobten seine Gedanken. Das hier ist der falsche Ort für dich. Du -warst immer nur Diener, nie
Richter. Es steht dir nicht W, über Leben und Tod w entscheiden...
Zu spät! Er konnte das Programm nicht beeinflussen, das die Vernichtung eingeleitet hatte. Aber wollte er
das überhaupt?
Ein Feuersturm brach aus seinen Armstümpfen hervor. Ich helfe deinem Volk, Vonnock. Die Fanjuur
werden endlich Frieden finden und nie wieder um ihr Leben bangen müssen.
Sonnenhelle Glut ringsum. Sie verschluckte den wurmartigen Qoom und pflanzte sich fort wie die Wellen,
die ein ins Wasser geworfener Stein erzeugt.
Das Programm verwandelte ihn in ein Tod und Verderben speiendes Monstrum. Gewaltige
Energiemengen brachen aus den Armstümpfen hervor...
... sie fluteten von den Felshängen des Tales zurück und türmten sich höher, wie eine Brandungswelle, die
alles innerhalb von Sekundenbruchteilen unter sich begraben würde. Auch ihren Urheber.
Unmöglich! Nur dieser eine Gedanke beherrschte Simon noch. Er vermochte nicht einmal zu erkennen, ob
es sein eigener Gedanke war oder eine Eingebung des Programms.
Etwas reflektierte die Energien - etwas, das stärker war als er selbst.
Zu spät aktivierte er die Schutzvorrichtungen. Den Schmerz, als das sich aufbauende Schirmfeld
zerfledderte, spürte er beinahe körperlich.
Temperaturen wie in der Korona einer Sonne schlugen über ihm zusammen, aber die Waffenarme feuerten
unaufhörlich. Wie lange schon? Sekunden erst, erkannte Simon, obwohl sie ihm wie eine kleine Ewigkeit
erschienen. Er gestand sich ein, daß er jedes Zeitgefühl verloren hatte.
Schluß! brüllten seine Gedanken. Feuer einstellen! Sein Wächterkörper reagierte nicht darauf.
Die Hitze wurde unerträglich.
Bei Temperaturen, die wahnwitzig anmuteten, fielen die Sensoren aus.
Er spürte, daß immer noch Energien durch seinen Leib pochten wie einst das Blut in den Adern.
Für den Bruchteil eines Augenblicks drohte ihn die Erinnerung zu überwältigen. Wie hatte er ausgesehen,
sein Körper aus Fleisch und Blut? Aber das war vorbei. Was er einmal gewesen war, existierte nicht mehr.
Das Schicksal hatte ihm eine Hülle aus Tofirit gegeben... doch er wußte bis heute nicht, ob er dafür
dankbar sein oder gerade deshalb das Schicksal hassen sollte.
Die Energie pulsierte. Immer heißer tobte sie.
Simon ballte die Fäuste. Das heißt, er hatte das tun wollen, aber das Programm gehorchte ihm nicht.
Unaufhörlich brachen die sonnenheißen Waffenstrahlen aus seinen Armstümpfen hervor.
Ich will das nicht! Irgendwo tief in ihm formte sich dieser eine Impuls. Er wurde intensiver.
Ich war immer nur ein Diener und habe nie gelernt w zerstören. Ich will nicht töten! Er war zu schwach, um das aufzuhalten, was er selbst in Gang gesetzt hatte.
Die Programmierung des Wächters der Mysterious folgte einer unheimlichen, sturen Konsequenz.
Simon versuchte sich vorzustellen, wie er in diesem Moment von außen wirkte: ein Vernichtung speiendes
übergroßes metallenes Monstrum, nahezu menschenähnlich, aber nackt und vor allem gesichtslos, nichts
anderes als eine perfekte Kampfmaschine.
Er spürte die beginnende Kettenreaktion; die Sensoren übertrugen sie auf sein Bewußtsein.
Erste Explosionen rissen die von Nanomaschinen der Qoom verkrusteten Berghänge auf.
Zähflüssiges Gestein regnete nach heftigen Explosionen ab, und immer neue Glutnester vereinten sich mit
den aus seinen Waffen-armen zuckenden Nadelstrahlen und breiteten sich gedankenschnell aus.
Brodelnd wälzte sich die Lava ins Tal.
Weitere Explosionen... eine Vernichtungsorgie war in Gang gekommen, die keinen Stein auf dem anderen
ließ. Zu Myriaden
wurden die Nanomaschinen zerfetzt, und es sah aus, als platze eine schwarze Kruste von den Felsen ab,
während unter ihnen längst die Hölle tobte.
Inmitten des Chaos stand die rötlichfarbene gesichtslose Gestalt und wurde ebenfalls von den atomaren
Gluten umflossen.
Simon schrie.
Er glaubte zu schreien, und es war sein Geist, sein »Ich«, das auf diese Weise Erleichterung suchte - doch
der Roboterkörper blieb
stumm.
Er starrte auf die Flammen, die wie irrlichtemde Entladungen über das Tofirit huschten. Sie verursachten
Schmerzen, schlimmer als jemals zuvor. Das Metall schmolz und wallte blasenwerfend auf, von den
Armen und vom Brustkorb tropfte es bereits zähflüssig ab.
Umformen! Simons Befehl blieb unbeantwortet, der Wächterkörper reagierte nicht darauf. Aber die Tropfen wurden größer, schon lösten sie sich von seinen Ellenbogen und platzten am Boden auseinander. Was da geschah, erinnerte an das Aufweichen einer Wachskerze in großer Hitze. Aufhören! Der Vorgang hatte längst eine beängstigende Dynamik entwickelt. Simon starrte an sich hinab, ohne zu
begreifen, daß das nahezu unzerstörbare Tofirit... Seine Siegesgewißheit schlug in Panik um. Irgendwoher
kam die Erkenntnis, daß alles noch nicht einmal zwei Minuten dauerte. Er würde sterben, das wurde ihm
erschreckend deutlich bewußt.
Unaufhörlich feuerten die Waffenarme. Wenn es ihm wenigstens möglich gewesen wäre, das zu beenden.
Statt dessen schürten seine Waffen das Chaos weiter an. Großflächig verglühten die Nanomaschinen.
Seine Arme schmolzen. Simon registrierte, daß der Energiefluß zu den Waffen dennoch nicht abbrach.
Nur wenige Sekunden blieben ihm, dann würde er selbst von innen heraus verglühen.
Fehlfunktion! Die Nanopartikel haben mich... haben den Wächter befallen. Aber sie werden meinen Tod nicht überstehen. Das war seine ein 10 zige Genugtuung; wenn er starb, würde die unheimliche Bedrohung mit ihm untergehen. Simon wußte nicht mehr, was er wirklich wollte. Die Angst schnürte ihm den Atem ab. Er glaubte, ersticken zu müssen und rang gequält nach Luft - obwohl das, was seine Existenz noch ausmachte, die Seele, der Geist oder wie immer Menschen dieses Sich-selbst-bewußt-Sein nannten, weder Luft noch Nahrung brauchte, um zu leben. Vergessen geglaubte Erinnerungen brachen in ihm auf... seine Kindheit und Jugend auf der Erde... die durchzechte Nacht nach dem Ende der Giant-Herrschaft... dann seine Arbeit an der Seite der Hochkommissarin Noreen Welean auf dem Planeten Hope... Ich will nicht sterben! dröhnte es in seinen Gedanken. Ich will leben und die Wunder zwischen den Sternen erfahren! Dabei lag es noch gar nicht so lange zurück, daß er seinen Zustand verflucht und lieber den Tod gewählt hätte, als in dem stählernen Gefängnis eine Ewigkeit zu überdauern. Doch er hatte sich nicht selbst getötet - das wäre ihm wahrscheinlich auch unmöglich gewesen. Eine Zeitlang hatten sich Neugierde und Entsetzen die Waage gehalten, hatte er ein Wechselbad der Gefühle durchlebt, an das er lieber nicht zurückdachte. Er hatte sein Schicksal gehaßt und sich treiben lassen, ohne überhaupt zu ahnen, wohin sein Weg führte. Inzwischen dachte er anders. Er hatte eine MeTarnorphose durchlebt, die Verwandlung der starren Raupe zum Schmetterling, der durch eine laue Sommernacht taumelte. Aus dem unscheinbaren Diener Simon war ein neues Geschöpf geworden, stark und unbesiegbar - ein Wesen mit einem Körper, wie er ihn sich früher manchmal gewünscht hatte. Immer dann, wenn er von Insekten zerstochen und mit schmerzenden Gliedern nachts keinen Schlaf gefunden, sich unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt hatte. Dann hatte er von einer besseren Zeit geträumt. Aber hatte es ihm wirklich jemals behagt, naßgeschwitzt und am Ende seiner Kräfte Noreen Weleans Ausrüstung durch dampfende Dschungel zu schleppen?
Nein! Der lautlose Aufschrei tief in ihm verstärkte sich und schien nicht enden zu wollen. Ich will nicht sterben! Ich habe noch w langes Leben vor mir... 11 Ich habe ein Recht darauf...
Sein Körper löste sich auf, schmolz wirklich dahin wie Kerzenwachs. Simon spürte die zähflüssigen
Tropfen über den Rücken rinnen, und zwischen seinen Füßen hatte sich eine rostrote, größer werdende
Lache gebildet. Er sank in den flammenden Boden ein, in die aufbrechende dunkle Kruste der
Nanopartikel. Die Risse weiteten sich aus.
Auch sein Körper brach auf. Ungläubig starrte Simon auf das bizarre Netz der auseinanderbrechenden
Struktur.
Hilf mir! schrie er.
Das Programm antwortete nicht.
Ich "will nicht sterben, nicht auf dieser verdammten Welt - und nicht ohne noch einmal Menschen gesehen zu haben... Das Schicksal fragte nicht, was er wollte. Niemand hatte ihn je danach gefragt, stets hatte er sich nach den
Wünschen anderer richten müssen. Er hatte sich zum ersten Mal richtig frei gefühlt, als er den
Wächterkörper nicht mehr mit dem Cerash-Bewußtsein hatte teilen müssen.
Simon starb in diesem Augenblick zum zweitenmal.
Wieder verbrannte sein Körper.
Er schrie und brüllte seine Panik mit aller Kraft hinaus. Es half nichts.
Entsetzlich war es, den eigenen Tod mit ansehen zu müssen. Wie sehr sehnte er sich danach, daß der
Schmerz ihm die Besinnung raubte - er spürte die expandierenden Energien, die das Tofi-rit zerrissen, und
schloß die Augen - doch seine Wahrnehmung veränderte sich nicht. In aller Deutlichkeit sah er den
Roboterleib zersplittern und Tausende Fragmente wie Sternschnuppen verglühen.
Dann schwand sein Bewußtsein. Im Weltraum verweht. Wenigstens dieser Gedanke barg etwas
Versöhnliches. Irgendwo da draußen, zwischen den ungezählten Sonnen der Milchstraße...
... werde ich...
... Ruhe finden.
Schwärze umfing ihn. Mit dem Ende des Wächterkörpers erloschen seine Wahrnehmungen.
Noreen, war Simons letzter, verwehender Gedanke. Es wäre
12 schön gewesen, sie jetzt in den Armen zu halten, einmal ihre Nähe zu spüren und ihr zu sagen... Etwas Warmes, Weiches umschloß Simons Geist, ein Gefühl unglaublicher Geborgenheit. Dann war da nichts mehr.
Ihm war schwindlig. Schlaftrunken fuhr er in die Höhe, stützte sich auf den Unterarmen ab und lauschte mit angehaltenem Atem in die Nacht hinaus. Er vermochte nicht zu sagen, was ihn aufgeschreckt hatte, ein Geräusch vielleicht, eine Vorahnung oder einfach nur ein böser Traum. Wind schien aufgekommen zu sein. Aus weiter Feme erklang Donnergrollen; er hörte das dumpfe Rumoren aber nur, wenn er sich darauf konzentrierte. Die Leuchtziffem der Uhr verrieten ihm, daß seit Mittemacht erst eineinhalb Stunden vergangen waren. Die Morgendämmerung ließ noch lange auf sich warten. Sein Blick huschte durch die Dunkelheit. Außer dem Glimmen der Uhr herrschte undurchdringliche Schwärze. Bis auf den Waldboden drang der Schein der Sterne selten vor. Sogar tagsüber herrschte in dieser Region ein trübes grünes Dämmerlicht, und falls sich wirklich einmal Sonnenstrahlen bis ins feuchte Moos verirrten, erfüllten sofort Myriaden tanzender Sporen die Luft. Sich immer noch abstützend, verharrte er eine Weile wie erstarrt. Die Luft im Zelt war stickig. Viel Platz stand ihm ohnehin nicht zur Verfügung. Sobald er sich ausstreckte oder herumwälzte, stieß er gegen die hermetisch abdichtende Folie. Andererseits konnte nicht einmal eine Mikrobe die Plane durchdringen. Unmittelbar angrenzend stand Noreens Zelt. Es war größer und fast schon komfortabel. Vergeblich lauschte Simon auf eine Regung. Das Rascheln, wenn sie sich im Schlaf herumwälzte, elektrisierte ihn. Dann versuchte er, sich vorzustellen, wie ihr Haar den Kopf umfloß und ein Lächeln ihre Mundwinkel umspielte. »Simon«, flüsterten ihre Lippen. Wie gerne hätte er seinen Namen vernommen, wenn sie
13 manchmal im Schlaf redete, doch er hatte sich als Diener verdingt, und mehr durfte nicht sein. Nach der Herrschaft der Giants waren viele Menschen auf der Erde nur noch Beziehungskrüppel. Irgend etwas hakte im Zusammenleben. In der ersten Nacht hatte Simon geglaubt, alles auf einmal nachholen zu
müssen, was ihm monatelang verwehrt gewesen war, doch die sachliche Kälte seiner Zufallsbekanntschaft hatte ihn nur abgestoßen. Er war keine Maschine, die ein Programm abspulte, er hatte menschliche Nähe gesucht, aber neben Begierde nur Gleichgültigkeit gefunden und sein Entsetzen darüber in Alkohol ertränkt. Das Gewitter kam näher. Ein peitschender Donnerschlag zerriß die Stille der Nacht. Der Blitz hatte nur wenige Kilometer entfernt eingeschlagen. Augenblicke später prasselte der Regen herab. Ein Wolkenbruch, heftiger als alles, was er auf Deluge, dem kleinsten Kontinent des Planeten Hope, schon erlebt hatte. Ein Irrlicht geisterte durch die Finsternis, der fahle, von zwei Zeltplanen gedämpfte Schein einer Handlampe. Noreen Welean war wach. Simon glaubte, ihre Silhouette zu sehen, als der Lichtschein intensiver wurde. In Gedanken gingen seine Hände auf Wanderschaft, glitten über ihr Haar, ihren Nacken entlang und streiften die Träger von ihren Schultern. Eine aberwitzige Vorstellung war das, von der die Hochkommissarin für Agrarfragen niemals erfahren durfte. Schließlich war er nur ein Diener, der sich und seine Gefühle zurückzuhalten hatte. Eine alles durchdringende Helligkeit fegte Simons selbstquälerische Überlegungen beiseite. In diesem Moment schien über dem Dschungel von Deluge eine neue Sonne aufzugehen. Die jähe Lichtflut trieb ihm das Wasser in die Augen. Der ohrenbetäubende Knall einer Explosion folgte. Fast gleichzeitig spürte Simon den Boden erzittern. Eine zweite, heftigere Bebenwelle ließ ihn taumeln. Die Angst vor einem Raumschiffsabsturz wich nur zögernd der Erkenntnis, daß in allernächster Nähe ein Blitz eingeschlagen hatte. In der Luft hing ein Hauch von Elektrizität, es roch nach Ozon und schwerem Qualm. Aber jedes Feuer wurde von dem
14 sintflutartigen Regen sofort erstickt.
Jemand rief seinen Namen.
Simon brauchte die Dauer einiger Atemzüge, bis er sich dessen wirklich bewußt wurde. Das Dröhnen des
Blutes in den Schläfen überlagerte alles andere.
Jemand? Niemand außer Noreen Welean befand sich in seiner Nähe.
Da war es wieder. Das Prasseln des Wolkenbruchs verschluckte den Ruf fast, aber Simon zögerte nicht
länger. Er stieß sich den Kopf an einer der Zeltstangen, aus der Platzwunde sickerte es warm über die
Stirn, aber schon im nächsten Moment hatte er den Einstieg geöffnet und stürmte nach draußen.
Der Regen raubte ihm den Atem. Simon tauchte ein in eine Wand aus Wasser, in der die Sicht nur noch
wenige Meter betrug. Der Dschungelboden hatte sich in einen riesigen See verwandelt;
gut eine Handspanne hoch stand das dampfende Naß, in dem kleineres Getier bereits ums Überleben
kämpfte.
Das Gewitter zog mit aberwitziger Geschwindigkeit weiter. Der Donner klang längst nicht mehr so nahe
wie noch vor einer oder zwei Minuten.
Noreen Weleans Zelt war beschädigt. Herabbrechende Äste hatten die Seitenwand aufgeschlitzt und sich
teilweise in den Boden gebohrt. Das Gestrüpp war so meinander verflochten, daß es hier kein
Durchkommen gab.
»Miß Welean!«
Keine Antwort. Falls die Äste sie unter sich begraben hatten... schon der Gedanke war erschreckend.
Simon achtete nicht darauf, daß ihm die Kleidung längst klatschnaß und wie eine zweite Haut am Körper
klebte. Ein wahrer Wasserfall schoß ihm den Nacken hinab, und das mit Blütenstaub und Pflanzensäften
vermischte Wasser brannte wie Feuer in den Augen.
Nur wenige Meter... zeitweise bis zu den Knien versank er in der Flut, die sich schäumend und brodelnd
einen Weg suchte.
Noreen! Er hatte den Vornamen auf der Zunge, aber er sprach ihn nicht aus und wahrte selbst jetzt die
Form. »Miß Welean...!«
Er riß den Eingang zu ihrem Zelt auf. Auch hier war das Wasser ün Steigen begriffen, wenngleich es den
Boden erst wenige Zen
15 timeter hoch bedeckte. Vergeblich versuchte Simon, alles mit einem einzigen Blick zu erfassen. Der Handscheinwerfer brannte noch, wenngleich der Lichtkegel auf die andere Seite gerichtet war und schräg in die Höhe stach. Das reflektierte Streulicht genügte, mehr erkennen zu lassen. Verglichen mit seinem Zelt war das der Bioprospektorin riesig. Entlang der Längsseite hatte die Frau Versuchsanordnungen aufgebaut; die herabstürzenden Äste hatten vieles davon zerschlagen und ein heilloses Durcheinander angerichtet. Wie Elmsfeuer züngelten elektrische Entladungen auf. Einer der schenkeldicken Äste qualmte bereits; nicht mehr lange, dann würde er trotz der Nässe in Flammen aufgehen.
Noreen stand in halb gebückter Haltung an der Rückwand des Zeltes und starrte ihm entgegen. Im ersten
Moment verstand Simon nicht, weshalb sie nicht selbst die Energiezufuhr unterbrach und das Aufflackern
eines Feuers verhinderte. Er wollte es selbst erledigen, doch ein scharfer Ausruf ließ ihn innehalten.
»Nicht bewegen!«
Er verstand nicht. Aber er war gewohnt zu gehorchen.
Noreen Weleans Haltung hatte etwas Skurriles, mitten in der Bewegung erstarrt. Simon folgte ihrem Blick
- und endlich sah er die Kreatur: ein giftgrün schimmerndes, schlangenartiges Reptil. Es kauerte halb zwischen den Trümmern einer Versuchseinrichtung, und nur der messerscharf gezackte Rückenkamm und der flache Schädel ragten daraus hervor. Die sechs kräftigen, klauenbewehrten Beine und den zuckenden Stummelschwanz ahnte Simon mehr, als daß er sie wirklich wahrnehmen konnte. Das Biest schien seine Nähe zu spüren und zuckte herum. Zwei eisige Augen starrten ihn an, eine gespaltene Zunge wurde sichtbar. Es riecht mich! dachte Simon entsetzt. Im nächsten Moment ein Zuschnappen, ein gräßlich mahlendes Geräusch, als das kantige Maul fingerdicke Metallverstrebungen durchbiß. Simon fror und schwitzte gleichzeitig, alles in ihm schrie danach, sich herumzuwerfen und zu fliehen. Er unterdrückte seine Furcht und fragte sich, ob er schnell genug sein würde, den Blaster aus dem Holster zu ziehen, die Waffe zu entsichern und
16 auch noch mit dem ersten Schuß zu treffen. Das Reptil erweckte nicht den Eindruck, daß es lange genug
stillhalten würde. Und was Zähne, die Metallrohre durchtrennten, mit seinen Knochen machen würden,
wagte Simon sich besser nicht vorzustellen.
Außerdem, registrierte er entsetzt, hing der Blaster nicht an seiner Hüfte. Die Waffe lag im Zelt.
Unerreichbar.
Das Biest schob sich näher. Lauernd. Gierig nach Beute. Der Schweiß brach Simon aus allen Poren. Er
zitterte. Und gerade das schien das Reptil anzustacheln.
Alles in ihm drängte danach, die Augen zu schließen, um den Tod nicht sehen zu müssen. Allerdings
würde er spüren, wie das Biest ihn zerfleischte. Auch davor hatte er erbärmliche Angst. Wenn wenigstens
Noreen fliehen konnte.
»Lauft!«, wollte er schreien. »Bringt Euch in Sicherheit!« Er brachte nicht einen Laut über die Lippen.
Das Reptil fixierte ihn.
Drei Meter, schätzte Simon die Distanz. Das Muskelspiel unter der Schuppenhaut verriet Geschmeidigkeit
und Kraft. Er hatte dem nichts entgegenzusetzen.
»Verschwindet, Miß Noreen!« Nur ein Röcheln drang aus seiner Kehle. Weil sie ihn keines Blickes
würdigte? War ich kein guter Diener? Habe ich mich nicht bemüht. Euch alle Arbeit abzunehmen?
Sie blickte an ihm vorbei, unverwandt auf einen Punkt zu seiner Rechten.
Erst als das Reptil heranschnellte, begriff Simon: Noreen We-lean fürchtete sich nicht davor, ihm in die
Augen zu schauen, sie hatte ihn auf etwas aufmerksam machen wollen.
Im allerletzten Sekundenbruchteil warf er sich zur Seite. Das kantige Maul verfehlte ihn, aber die Beine
des Tieres schrammten über seine Schulter und den Oberarm, und die scharfen Klauen schnitten wie
Dolche durch seine Kleidung.
Neben ihm klatschte das Vieh auf den Boden. Simon achtete nicht mehr darauf, denn gleichzeitig schlug
er schwer auf und walzte sich herum, schrie gellend auf, als der verletzte Arm mit seinem Gewicht belastet
wurde. Er schluckte Wasser, schoß prustend wieder hoch und sah vor sich eines der Steckregale.
17 »Der Blaster... über dir!« Noreen Weleans Stimme überschlug sich in seinen Ohren. Simon handelte ohne zu überlegen. Sein Arm zuckte hoch, die Finger tasteten suchend über das Brett, das er noch nicht einsehen konnte, und hinter sich hörte er die Geräusche der Echse. Viel zu lange brauchte er, um die Waffe zu finden. Als seine Finger den kühlen Lauf berührten, griff das Tier erneut an. Mit aller Kraft trat Simon zu. Seine Stiefelabsätze krachten gegen den Reptilienschädel und verschafften ihm die Sekundenbruchteile, die er brauchte, um den Blaster an sich zu reißen. Er zitterte und hatte Mühe, die Sicherung auszuschalten, dann stach der erste Glutstrahl durch das Zelt und setzte die Folie in Brand. Flammen züngelten auf und erstarben in dem imprägnierten Material ebenso schnell wieder. Der zweite Schuß traf die Echse im Sprung und verbrannte ihren Schädel. Trotzdem prallte der Kadaver gegen Simons Oberkörper. Gurgelnd, mit hastigen Bewegungen versuchte er, sich von der zuckenden Last zu befreien. Es gelang ihm nicht schnell genug. Quer über den Brustkorb zerfetzten die Klauen seine Kombination und fügten ihm weitere blutende Wunden zu. Der Blaster rutschte aus seiner Hand. Das war der Moment, in dem sich Simon rückwärts gegen das Regal lehnte und halb ohnmächtig die Augen schloß. Hart und stoßweise ging sein Atem, viel zu hastig. Er verkrampfte sich, während eine Hitzewelle seinen Körper durchflutete. Erst als eine sanfte Hand ihm den Schweiß von der Stirn tupfte und nach seiner Schulter tastete, schaute er
auf.
»Du bist verletzt, Simon. Wir müssen die Wunden desinfizieren und...«
»Halb so schlimm«, brachte er hervor. Er spürte, daß sein Lächeln verunglückte, aber nie zuvor war
Noreen ihm so nahe gewesen. Er blickte in ihre Augen - und glaubte, Verwunderung zu erkennen.
Die Frau atmete ebenso gepreßt wie er. Erstickend hing der Gestank der verbrannten Hornchuppen und
des schwelenden Fleisches in der Luft.
»Ohne dich, Simon, wäre ich jetzt wahrscheinlich tot.«
18 »Unsinn, ich...« Er verstummte abrupt, als Noreen an seiner blutigen Kombination zerrte.
»Das müssen wir aufschneiden. Und wir brauchen Antibiotika. Ich will nicht wissen, wieviel Bakterien
das Biest unter seinen Klauen hatte.«
»Danke für die Aufmunterung«, murmelte Simon.
Die Hochkommissarin ging nicht darauf ein. »Schaffst du es, aufzustehen?«, wollte sie wissen. »Wir
müssen in dein Zelt; der erste Schuß hat mein medizinisches Notfallpack zerstört.«
»Wenn Ihr mich stützt...« Simon hätte sich für diese Unverfrorenheit auf die Zunge beißen können, doch
da hatte er sie schon ausgesprochen. Zu seiner Überraschung griff Noreen ihm wirklich unter die Achseln
und half ihm auf die Beine. Er schwankte leicht und schüttelte sich.
»Es geht schon wieder. Nur eine leichte Schwäche...«
So besorgt hatte die Frau ihn nie zuvor angesehen. Eigentlich, dachte Simon, hat sie mich nie richtig
wahrgenommen.
Der Regen prasselte noch wie ein Sturzbach herab. Minuten später hatte Noreen Welean ihm den Ärmel
aufgeschnitten und geholfen, das Oberteil der Kombination abzustreifen. Das Desinfektionsmittel tobte in
den Wunden wie ein Höllenfeuer; Simon biß die Zähne aufeinander, bis er glaubte, die Kiefergelenke
müßten splittern. Tränen quollen aus seinen Augen. Natürlich sah Noreen, wie es um ihn stand, doch sie
schwieg. Ihre Berührung tat gut. Ein wenig länger als unbedingt nötig ließ sie ihre Hand auf seinem
Nacken liegen, zumindest bildete Simon sich das ein.
Das Wundplasma, das sie aufsprühte, kühlte nicht nur, es bildete innerhalb kurzer Zeit einen festen Schutz
und stoppte zugleich die Blutung.
Noreen Welean widmete sich seinem zerkratzten Oberkörper. Hier waren die Fleischwunden eher
oberflächlich.
»Das Biest hat dich bös erwischt, Simon.«
»Halb so schlimm«, wehrte er ab. »Deluge ist und bleibt eben kein angenehmer Ort. Das wußte ich
vorher.«
»Das wußten wir beide«, ergänzte die Frau. »Fertig. Das sollte genügen, bis wir wieder in der Zivilisation
sind. Danke übrigens.« Sie hauchte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Stirn.
19 Simon konnte nicht verhindern, daß ihm das Blut ins Gesicht schoß. Noreen stand klatschnaß vor ihm, ihre Kleidung klebte wie eine zweite Haut am Körper und verbarg herzlich wenig. Dicht vor sich sah Simon ihre Brüste, er hätte nur den Kopf ein wenig nach vorne beugen müssen, um sie sanft mit den Lippen zu berühren. Krampfhaft schloß er die Augen. Als er die Lider wieder öffnete, hatte Noreen ihre Position nicht um einen Zentimeter verändert. Wartete sie darauf, daß er endlich seine Zurückhaltung aufgab und vergaß, daß sie in der Hierarchie der PostGiant-Ära über ihm stand? Simon wußte plötzlich nicht, wohin mit seinen Händen, er war aufgeregt wie ein Teenager vor der ersten Verabredung. »Warum hebst du die Arme nicht hoch?«, fragte Noreen leise. »Dann sehen wir, ob der Sprühverband wirklich hält.« Sie griff nach seinen Händen und half ihm dabei, aber sie ließ ihn auch nicht los, als er nickte. »Alles bestens. Miß Welean.« »Ist das alles, Simon?« »Was...?« Er schluckte schwer, als seine geheimsten Träume Wahrheit wurden. Noreen legte seine Hände auf ihre Brüste. Schweigend und darauf hoffend, daß er... Simon griff zu. Sanft und fordernd zugleich. Er spürte ihre Erregung, wie die Frau sich ihm entgegendrückte, und dann glitten seine Hände höher, umfaßten ihr Gesicht, und er zog sie zu sich herab und küßte sie, zaghaft erst und übervorsichtig, als fürchte er, im nächsten Moment aus diesem schönen Traum aufzuwachen. Noreen erwiderte den Kuß, ihre Lippen öffneten sich für ihn, gleichzeitig wanderten seine Hände unter den Stoff ihrer Jacke. Mit zitternden Fingern löste er die Magnetverschlüsse, und Noreen half ihm dabei, den Stoff abzustreifen. »Ich...« Sie legte ihm zwei Finger auf die Lippen. »Sag jetzt nichts, Simon.« Seine Lippen wanderten über ihre Schultern, verharrten eine Zeitlang auf ihren Brüsten und glitten tiefer,
während sie an seinem Gürtel zerrte. Ein Traum. Das kann nicht Wirklichkeit sein. Aber wenn dem so 20 war, wollte Simon niemals wieder aufwachen. Er konnte sich nicht erinnern, ob er je so viel Glück
empfunden hatte, wie in diesen Minuten. Noreen Welean, seine strenge Chefin, gab sich ihm hin. Weich
und warm schmiegte sie sich an ihn und genoß jeden Augenblick ebenso sehr wie er. Sie waren wie
Ertrinkende, die sich aneinander festkrallten, bis sie schließlich gemeinsam die Erlösung hinausbrüllten
und sich immer noch zögernd voneinander lösten.
Sanft strich Noreen über seinen Arm und den Brustkorb. »Schmerzen?«, wollte sie wissen.
»Jetzt nicht mehr«, antwortete der Diener. »Ich habe mich nie so wohl gefühlt...« Mit den eigenen Händen
fuhr er die Linien nach, die sie auf seine Haut malte, die Wunden, an denen sein Körper...
... aufgerissen?
Ein seltsamer Gedanke.
... explodiert?
Er reagierte verwirrt, starrte seine Hände an und den nackten Leib. Die Haut war rot vom Blut.
Überhaupt war es eine eigenartig straffe Haut. Glatt und ohne Poren.
Tofirit!
Ungläubig hob Simon den Blick. Das war nicht sein Zelt. Und Noreen - im ersten Ansturm der Gefühle
war er versucht, nach ihr zu rufen - war verschwunden. Er befand sich inmitten einer weitläufigen, von
künstlichem Licht spärlich erhellten Halle. Sie war angefüllt mit teils gewaltigen Aggregatblöcken, vieles
davon fremdartig, anderes seltsam vertraut wirkend.
Mysterioustechnik?
Wer bist du? dachte Simon betroffen. Der Körper, in dem er sich befand, war der eines Wächters. Doch es
konnte unmöglich sein eigener sein.
Mein eigener Körper war der, den ich auf Hope für immer verlor, berichtigte er sich spontan. Alles andere
war aufgezwungen, obwohl er sich längst an die Hülle aus Tofirit gewöhnt und eine Vielzahl von
Funktionen herausgefunden hatte. Der Leib, in dem er jetzt steckte, wirkte hingegen fremd und kalt.
Das Programm schwieg. Falls es ein Programm gab.
Vergeblich versuchte Simon, Einfluß zu nehmen. Er schaffte es
21 nicht einmal, die Molekülgruppierungen zu verändern. Stumm starrte er auf die Hand mit den Metallfingem, die sich seinem Willen nicht unterwerfen wollte. Nicht einmal diese Hand... 22
2. Wallis Industries war das größte Industriekonglomerat der Erde, mit Firmen rund um den ganzen Globus.
Von der Schwerindustrie bis zur Hyperraumtechnologie war alles vertreten. Sitz der Firmenzentrale war
ein rund achtzig Quadratkilometer umfassendes Gelände bei Pittsburgh, Pennsylvania.
An einem lauen Abend in der ersten Maihälfte des Jahres 2059 kamen dort neun Personen zu einer
Geheimsitzung zusammen. Das konspirative Treffen fand in einem kleinen Konferenzzimmer im
dreistöckigen Verwaltungsgebäude statt.
Keiner der neun Verschwörer trug eine Maske, so daß ein heimlicher Beobachter von jedem Anwesenden
problemlos einen Steckbrief hätte anfertigen können.
Jahrgang 2072. Groß, schlank, sportlich. Langes, leicht schütteres Haar, zusammengebunden zu einem
Pferdeschwanz. Eleganter Anzug mit grellbunter Weste. Ehemaliger Basketballer, mittlerweile Golfer.
So hätte der Steckbrief von Terence Wallis lauten müssen, dem Besitzer von Wallis Industries und Wallis Star Mining sowie Biotechnologique und zahlreicher anderer Tochtergesellschaften auf Terra und einer ganzen Reihe von Planeten. Würde man zudem seine Charaktereigenschaften auflisten, müßte auf dem fiktiven Steckbrief noch folgendes stehen: unkonventioneller Mann mit Visionen und einem Hang zu praktischen Lösungen. Ehrlich bis ins Mark, weshalb er nichts von der klassischen Politik und ihren undurchschaubaren Beziehungsgeflechten hält. Seine größte Begabung liegt darin, die Begabungen anderer Menschen zu erkennen, zu fördern, entsprechend einzusetzen — und Geld damit zu verdienen. Auf diese Weise \vurde er der vermutlich reichste Mann der Erde. 23 Terence Wallis hatte die acht übrigen Sitzungsteilnehmer zu sich gebeten.
Genaugenommen hatte er ihr Erscheinen angeordnet, aber dank der ihm angeborenen guten Manieren
schaffte er es immer wieder, seine Anweisungen wie höfliche Bitten aussehen zu lassen. Das war auch angebracht, schließlich waren nicht alle Anwesenden bei ihm angestellt. Die Hookers beispielsweise waren Anteilseigner. Ihnen gehörten 2,5 Prozent von Wallis Star Mining (WSM). Dadurch besaßen sie auch 2^ Prozent eines Planeten im noch weitgehend unerforschten Kugelsternhaufen NGC 5024 im Sternbild Coma, besser bekannt als M 53. Der Rest des Planeten, den sie Eden getauft hatten, gehörte dem Besitzer der übrigen 97,5 Prozent Anteile von WSM: Terence Wallis. Als Erstentdecker hatten sich Art und Jane Hooker das schönste Stück des Kuchens ausgesucht: Aloha ein kleiner Inselkontinent am Rande der Tropen, mitsamt der ihn umgebenden Wasserstreifen und Eilande. Der Hookersche Steckbrief hätte folgendermaßen ausgesehen: Prospektorenehepaar mittleren Alters. Beide von schlanker Gestalt, beide recht eigenwillig, beide zumeist lässig gekleidet. Ehemals freiberufliche Weltallvagabunden, die es mit Hilfe von Terence Wallis zu einem bescheidenen Vermögen gebracht haben. Ihre größte Stärke ist ihr unverbrüchlicher Zusammenhalt - zwei gegen den Rest der Welt. Die letzte Anmerkung traf auch auf den siebenundzwanzigjährigen Wissenschaftler Robert Saam zu, allerdings in leicht veränderter Weise: Ein Genie gegen den Rest der Welt, die ihn einfach nicht verstehen will. Denkt in Bahnen, die die meisten Menschen nicht begreifen. Abgebrochenes Studium, da ihm seine Professoren geistig nicht mehr folgen konnten. Lebt in einem kleinen Apartment auf dem Firmengelände von Wallis Industries, in unmittelbarer Nähe seiner Labore und Werkstätten, in denen er als hochbe zahlter Forscher ohne direkten Auftrag tätig ist. Hagerer Norweger mit dichtem, blondem Haar, das ihm immer wirr vom Kopf absteht, insbesondere nach dem Kämmen. Arbeitet am liebsten mit 24 seinem festen Assistententrio zusammen. Dieses Trio bestand aus Regina Lindenberg (einunddreißigjäh-rige Schweizer Biologin mit Unmengen von Auszeichnungen und einem Faible für fast schon zu tiefe Ausschnitte), Saram Ramoya (Jahrgang 2020, indonesischer Funk- und Ortungsspezialist. Verfügt über männliche Ausstrahlung und hat einen entsprechenden Frauenverschleiß) sowie George Lautrec (kräftig gebauter, bärtiger Kanadier von z^eiundsechzig Jahren. Profilierte sich als erfahrener Wissenschaftler auf den unterschiedlichsten Gebieten). Da es in dem abhörsicheren Konferenzraum, in welchem Wallis, Saam, Lindenberg, Ramoya, Lautrec und die Hookers zusammensaßen, keine versteckten Kameras gab, fertigte selbstverständlich niemand heimlich Steckbriefe über die Konferenzteilnehmer an. Spione hatten auf dem Gelände von Wallis Industries ohnehin keine Chance - dank der stets wachsamen Sicherheitschefin Liao Morei, die ebenfalls an der geheimen Sitzung teilnahm. Chinesin. Jahrgang 2028. Größe 1,60 Meter. Messerscharfer Verstand. Zierliches Äußeres. - So in etwa hätte ihr Steckbrief ausgesehen, wobei noch eine kleine Warnung angebracht gewesen wäre: Vorsicht, nicht von der zerbrechlich wirkenden Gestalt täuschen lassen! Sie beherrscht elf Nahkampfsportarten plus eine wölfte, die sie selbst entwickelt hat und unterrichtet! Einen Steckbrief vom neunten und letzten Sitzungsteilnehmer anzufertigen, hätte jeden Spion vor ein unlösbares Problem gestellt. Wie sollte man einen Menschen beschreiben, dessen Persönlichkeit in erster Linie darin bestand, über gar keine Persönlichkeit zu verfügen? Der siebzigjährige Rechtsanwalt und Notar Alexander Basil Christian David Edward Fortrose arbeitete derzeit fast ausschließlich für Wallis Industries. Er war Träger von farbloser Kleidung, eines kümmerlichen Schnurrbarts und irgendeines unbedeutenden Ordens, der ihm vor vielen Jahren von einem Kaninchenzüchterverein verliehen worden war. Das war lange her, inzwischen züchtete Fortrose keine Karnickel mehr, es war ihm zu anstrengend geworden. Sein in Ehren ergrautes Haar befand sich auf der Flucht und bedeckte nur noch die hintere Kopfhälfte. Kulinarische Ge 25 misse aller Art, dazu zählten vor allem Alkohol und Tabak, versagte er sich eisern. Er lebte allein, ging nie
aus... es gab schlichtweg nichts von ihm zu erzählen.
Aber gerade dieses Nichts war vor Gericht seine höchste Trumpfkarte.
Einen unscheinbaren Menschen wie Fortrose konnte man nur schwer durchschauen, und ein schwer
durchschaubarer Anwalt war schon der halbe Sieg in einem Prozeß.
Für die andere Hälfte benötigte er seine anstudierten juristischen Kenntnisse.
Neun Personen waren hier zu einer Verschwörung zusammengekommen.
Auslöser für das Geheimtreffen waren Querelen mit der terrani-schen Regierung - und ein Privatgespräch
mit einem abgefeimten Politiker, der von Enteignung gesprochen hatte. Dennoch schmiedeten die sechs
Männer und drei Frauen keine umstürzlerischen Pläne.
Ganz im Gegenteil.
Sinn und Zweck dieser Zusammenkunft war nicht der Sturz der derzeitigen Machthaber, sondern die
Gründung eines neuen Staates.
»Zugegeben, anfangs war es nur eine fixe Idee«, räumte Terence Wallis freimütig ein. »Im Zorn sagt man so vieles, was man hinterher wieder verwirft. Selbst als mir Carborit die Möglichkeit eröffnete, die Zentrale meiner Firma wie eine schwebende Riesenstadt durchs Weltall fliegen zu lassen - von Terra nach Eden -glaubte ich noch nicht so recht an die Verwirklichung meiner Idee, obwohl sie immer mehr und mehr Gestalt annahm.« Der Verbundwerkstoff Carborit war die neueste Erfindung des Forscherteams Saam und Co. Carborit war belastbarer als Tofirit und um ein Vielfaches leichter, weil es nur wenige Tofiritatome enthielt. »Irgendwie hänge ich an der guten Mutter Erde und den Menschen, die hier leben. Aber dann brachte er das Faß zum Überlau 26 fen: Dave Paley, Generalsekretär der Fortschrittspartei. Unverhohlen drohte er mir mit dem Paragraphen vierzehn der terranischen Verfassung, Absatz drei.« Die Fortschrittspartei wollte Ren Dhark, den amtierenden Com-xnander der Planeten, bei den Wahlen im Herbst durch ihren eigenen Spitzenkandidaten Antoine Dreyfuß ersetzen. Bei diesem demokratischen Ansinnen wurden Paley, Dreyfuß und ihre Anhänger nach Kräften vom Medienkonzem Intermedia unterstützt. Dharks einzige Chance war ein Sieg der Partei für Demokratie (PfD), deren Ehrenvorsitzender er war. Geleitet wurde die Partei von Dharks Stellvertreter Henner Tra-wisheim, der auf der Erde sämtliche Regierungsgeschäfte für ihn erledigte - während sich der Commander selbst fast unentwegt im Weltall aufhielt, um Kontakte zu anderen Völkern zu knüpfen, fremde Welten zu erkunden und das Geheimnis der Mysterious zu lüften, deren technischen Errungenschaften die Menschheit unsagbar viel verdankte. Ren Dhark war das, was man einen Helden nannte. Weil er aber nur selten auf seinem Heimatplaneten anzutreffen war, wurde der Ruf nach politischen Veränderungen immer lauter. Die von Wirtschafts- und sonstigen Krisen gebeutelte Bevölkerung fühlte sich von ihm im Stich gelassen. Dabei hätte seine ständige Anwesenheit schlichtweg gar nichts bewirkt, denn auch ein Held konnte keine Wunder bewirken. »Was ist das für ein Paragraph?« fragte Jane Hooker den Multi-milliardär. »Er regelt die Möglichkeit des Staates, Privatbesitz zu enteignen«, antwortete ihr Wallis. Art Hooker schüttelte verständnislos den Kopf. Mit Politik hatte er nicht viel am Hut, doch sein Vertrauen in Recht und Gerechtigkeit war ungebrochen. Am Ende, dessen war er sich bei jedem Abenteuer sicher, siegte immer das Gute. »So einfach geht das nicht«, meinte er. »Die Regierung kann nicht mir nichts, dir nichts daherkommen und unbescholtenen Menschen ihren Besitz wegnehmen.« »Nicht ohne zwingenden Grund«, bestätigte A. B. C. D. E. Fortrose. »Aber der läßt sich finden, wenn man es darauf anlegt. Recht 27 haben und recht bekommen ist bekanntlich zweierlei. Die Regierung kann unter bestimmten Umständen staatliches Interesse an einer Privatfirma anmelden, ohne daß sich der Firmeninhaber dagegen wehren kann. Außerdem verfügt der Staat über die Handhabe, Großkonzeme mit den Mitteln des Kartellrechts zu zerschlagen. Zu solchen rigorosen Maßnahmen greifen Politiker immer dann, wenn ihnen ein Konzern zu mächtig zu werden droht.« »So etwas würde Trawisheim nie tun«, war Lautrec überzeugt. »Das sehe ich genauso«, pflichtete Liao Morei ihm bei. »Meine Ermittlungen haben ergeben, daß es bei der derzeit amtierenden Regierung keinerlei Pläne gibt, Wallis Industries ins Abseits zu stellen - trotz der zurückliegenden Auseinandersetzungen zwischen Ihnen, Mister Wallis, und Henner Trawisheim. Dharks Stellvertreter hat es nicht nötig, zu unfairen Mitteln zu greifen. Bei einem Wahlsieg der Fortschrittspartei sähe das schon anders aus. Pa-ley würde sich regelrecht auf Sie einschießen.« Im Konferenzraum gab es einen in die Wand eingelassenen Suprasensor. Fortrose legte eine Mikro-CD ein und präsentierte den Sitzungsteilnehmern auf dem Wandbildschirm ein ausführliches Gutachten, das Terence Wallis bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Anhand von Gesetzestexten, Zahlenkolonnen und praktischen Beispielen referierte der Anwalt über die verschiedenen Möglichkeiten, einen eigenen Staat zu gründen. Wer auf einen kurzweiligen Bericht gehofft hatte, wurde bitter enttäuscht. Fortroses langatmige Erläuterungen ließen bei einigen Zuhörern den Verdacht aufkommen, er sei gar kein Mensch, sondern ein Mutant aus Bürokrat und Mathematiker. »Prinzipiell sind Staatsgründungen immer möglich«, faßte er abschließend zusammen. »Letzten Endes kommt es nur auf die militärische Stärke an, wie ich Ihnen am Beispiel der USA anschaulich erklärt habe. Im achtzehnten Jahrhundert mußten sich die Amerikaner ihre Unabhängigkeit teuer erkämpfen. Und hätte sich die Menschheit nicht mit Waffengewalt gegen die Giant-Invasion zur Wehr gesetzt, wären wir heute alle versklavt.« »Gegen feindselige Außerirdische zu kämpfen ist eine Sache«, merkte Wallis dazu an. »Es ist eine andere, wenn Menschen gegen Menschen kämpfen. Ich beanspruche Eden für mich, abgesehen
28 natürlich vom Anteil der Hookers, doch ich will zur Durchsetzung meines Anspruchs keinen Bürgerkrieg im Weltall entfachen.« »Das müssen Sie auch nicht«, entgegnete der Anwalt. »Amerika war damals eine Kolonie, so wie heute viele Planeten in der Milchstraße offizielle Kolonien Terras sind. Eden gehört jedoch nicht dazu. Der Planet im Kugelhaufen M 53 ist unbestritten Eigentum von Wallis Star Mining. Die terranische Regierung hat keinen rechtlichen Anspruch darauf.« Bis vor einiger Zeit war das noch anders gewesen. Als fünfund-zwanzigprozentigem Miteigentümer von WSM hatte dem Staat Terra nicht nur ein Viertel des über die Firma erwirtschafteten Gewinns aus dem Tofiritabbau, sondern auch ein Viertel von Eden zugestanden. Aber die Regierung war aus der Gesellschaft ausgestiegen. »Ausgestiegen worden«, denn Terence Wallis hatte deren Anteil durch einen geschickten geschäftlichen Schachzug an sich gerissen. Trawisheim verweigerte seither den Arbeitern, Ingenieuren und Wissenschaftlern von WSM, die im Achmed-System den Tofirit-Asteroidengürtel abbauten, jeglichen Regierungsschutz, es sei denn, Wallis würde dafür tief in die Tasche greifen. Zwar hätte der Multimilliardär ohne weiteres eine eigene Flotte auf die Beine stellen können, doch laut terranischem Gesetz durfte er sie nur mit leichter Bewaffnung ausrüsten. Das kam einem Todesurteil gleich. Gegen Überfälle im All benötigte man mehr als nur »Steinschleudern und Zwillen«, wie man beim Militär abwertend die harmlosen Waffen nannte, welche auf zivilen Raumschiffen installiert werden durften. Bisher hatte Terence Wallis nicht nachgegeben. Statt dessen suchte er nach einer vorteilhafteren Lösung. Als Gründer eines eigenen Staates konnte er Einfluß auf dessen Gesetzgebung nehmen - und die terranischen Gesetze hätten für ihn keine Gültigkeit mehr. Wallis wollte mit sich und der Welt in Frieden leben. Aber ein Staat ohne Verteidigungsfähigkeit war immer eine leichte Beute... Vor kurzem hatte er deshalb den Bau von zwölf Ikosader-Raum 29 schiffen aus Carborit in Auftrag gegeben. Sie sollten die Schutzflotte für die WSM-Truppe bilden. Über die Bewaffnung hatte er noch nicht entschieden. Hier und jetzt machte Wallis Nägel mit Köpfen. »Es werden noch mehr Carboritschiffe gebaut«, ordnete er an, wobei er Robert Saam anschaute. »Sämtliche Schiffe, auch die zwölf bereits im Bau befindlichen, werden für den Einbau schwerer Waffen vorbereitet. Sorge dafür, daß die Arbeiten sofort in Angriff genommen werden, Robbie. Aber bitte so unauffällig wie möglich. Weder Informationen über das Carborit noch über den Schiffsbau dürfen nach außen dringen.« Er blickte Lautrec an. »Sie stellen ebenfalls eine Mannschaft zusammen, zur Vorbereitung unseres STarnmwerks für den Transport nach Eden, dessen Gesamtleitung ich Ihnen hiermit übertrage. Auch dieser Auftrag muß streng geheim bleiben, wie die gesamte geplante Umsiedlung und Staatsgründung überhaupt. Es werden nur die verschwiegensten Mitarbeiter eingesetzt, und selbst die erfahren nur das, was für ihre jeweilige Tätigkeit unbedingt vonnöten ist. Wo es möglich ist, übernehmen Roboter die Arbeit; Maschinen tratschen nicht. Wir neun werden vorerst die einzigen sein, die über das komplette Ausmaß des Projekts Bescheid wissen.« »Früher oder später werden Sie alle Mitarbeiter einweihen müssen«, gab Liao Morei zu bedenken. »Oder wie stellen Sie sich die Weiterarbeit auf Eden vor, so ganz ohne Menschen? Mit Robotern allein können Sie dort keine großen Erfolge erzielen.« »Das ist mir durchaus klar«, erwiderte Wallis. »Ich werde mich persönlich darum kümmern, daß jeder, der bei mir in Lohn und Brot steht, schonend auf die Umsiedlung vorbereitet wird. Das wird keine leichte Aufgabe, schließlich müssen nicht nur die Mitarbeiter selbst, sondern auch deren Familien von der Notwendigkeit der Maßnahme überzeugt werden. Doch das kriege ich schon hin. Wenn es sein muß, setze ich ein Heer von Psychologen ein. Wer trotzdem partout nicht mitwill, erhält eine anständige Abfindung und einen feuchten Händedruck zum Abschied. - Dies alles soll nicht Ihr Problem sein, Liao. Sie haften mir mit Ihrem Kopf für die Geheimhaltung und Sicherheit des Umsiedlungsprojektes. Nichts darf durchsickern. Ich will die Welt vor vollendete Tatsa 30 chen stellen!«
»Und falls doch einer redet?« fragte ihn die Chinesin. »Habe ich dann die Lizenz zum Töten?«
Die Frage war nicht ernstgemeint, aber Wallis beantwortete sie, als hätte er sie emstgenommen.
»Lassen Sie es wie einen Unfall aussehen.«
Erst als Art Hooker erstaunt aufsah, entdeckte er das spitzbübische Grinsen um Wallis9 Mundwinkel.
3.
Lange Zeit blickte er nur an sich hinab und versuchte, sich zu konzentrieren, aber selbst das wollte ihm nicht gelingen. Zu viele Gedanken jagten wild durcheinander, und nicht einen vermochte er wirklich festzuhalten. Nicht einmal in das Schneckenhaus seiner Verwirrtheit konnte er sich zurückziehen. Einfach nur dastehen und sich verkriechen, das paßte nicht zusammen. Inmitten der Halle stand er wie auf dem Präsentierteller... Er fröstelte, empfand seine Unsicherheit wie einen eisigen Schauder. Das war ein Fragment seines Menschseins, das er nicht abschütteln konnte. Das und die Unsicherheit, die ihn in unregelmäßigen Abständen überfiel wie ein Schreckgespenst der Vergangenheit. Jahre waren vergangen, seit... Wo bin ich? Die Frage quälte ihn noch mehr als die Erkenntnis der verstrichenen Zeit. Vor allem konnte er keinen klaren Gedanken fassen, solange er sich selbst im Weg stand. Unbewußt fürchtete er das Neue, das Ungewisse und flüchtete in die Vergangenheit, zurück nach Hope und zu Noreen Welean. Sie hatte angeordnet, was zu tun war, und er hatte ihre Anweisungen ausgeführt. Ohne über gestern oder morgen nachdenken zu müssen. Auch diese Vergangenheit war nicht mehr seine Welt. Sie verklärte sich in der Erinnerung. Niemals hätte er es gewagt, die Hochkommissarin anzufassen, obwohl ihr Altersunterschied nicht der Rede wert gewesen war. Tief in ihm — in seinem Geist -schlummerten menschliche Bedürfnisse, die er in dem Roboterkörper niemals ausleben konnte. War ich nicht längst soweit, mein Schicksal anzunehmen? Ich, Simon, Wächter der Mysterious... 32 Er fröstelte. Aber das kam tief aus seinem Innern und hatte nichts mit der Umgebungstemperatur zu tun.
Die Tofirithaut zeigte plötzlich eine feine Struktur. Als richteten sich feine Härchen in der Kälte auf. Der
Körper reagierte! Also mußte er es auch schaffen, die Finger zu bewegen. Und die Beine. Einen Fuß vor
den anderen setzen und von hier verschwinden.
Die Ungeduld war wieder da. Simon starrte seine Hände an - die Hände eines menschlich geformten
Roboters - und versuchte, alle anderen Gedanken zu verdrängen. Sie behinderten ihn nur.
Beweg dich! Worauf wartest du? Du bist nicht aus Stein, nicht einmal nur aus Tofirit - in dir steckt zugleich eine biologische Komponente. Beweg dich, oder du wirst verrückt... Zwei Finger der linken Hand knickten ein, krümmten sich nach innen. Gleich darauf ein dritter. Nur noch
der Mittelfinger widersetzte sich. Minuten später hatte Simon es geschafft und die Faust geballt.
Dann die rechte Hand...
Weiter! Ich kann den Körper nach meinem Willen formen. Ich weiß, daß ich es kann. Aber keine Waffenmündung, nein, ich will nicht töten. Ich bin Simon, ein Mensch, kein Mörder. Neue Bilder überschwemmten sein Bewußtsein. Da war Von-nock, der andere Wächter, ein Amphi - nein,
Fanjuur hatte er sich genannt - auf der Suche nach den letzten seines Volks. Auf Sedak hatte er sie
gefunden, dem Tod näher als dem Leben, von Nano-partikeln der Qoom bedroht.
Simon wußte nicht, ob er sich noch auf Sedak befand. Da war die noch allzu frische Erinnerung, daß
Energierückschläge seinen Tofiritkörper zerstört hatten.
Eine Bewegung im Hintergrund der Halle weckte seine Aufmerksamkeit. Zwischen haushohen
Aggregaten glaubte er, ein Lebewesen zu sehen, so flüchtig indes, daß er sich der Wahrnehmung nicht
sicher war.
Was er entdeckt zu haben glaubte, war schwer einzuschätzen, weil ihm jede Vergleichsmöglichkeit fehlte.
Weit mehr als mannsgroß, vermutete er, humanoid auf jeden Fall. Der Schädel, so flüchtig er ihn gesehen
hatte, mochte eher einem Raubtier gehören als einem Menschen.
Ein Giant! dröhnte es in seinen Gedanken. Unbeherrscht und voll Zorn. Acht Jahre lag es zurück, daß
Giants die Erde überfallen und die Menschen versklavt hatten. Auch sein Leben hatten sie zerstört, hatten
ihn verändert und letztlich zu dem werden lassen, was er heute war: ein Sklave seiner selbst, zerrissen
zwischen Hoffnung und Verzweiflung, von Selbstvorwürfen gequält. Ohne diese Kreaturen wäre sein
Leben anders verlaufen, er hätte geheiratet und ein oder zwei Kinder gezeugt, die aufwachsen zu sehen ihn
mit Zufriedenheit erfüllt haben würde. Vielleicht würde er in einem Büro arbeiten, wahrscheinlich sogar
bei der Raumfahrtbehörde. Er würde die Siedler beneiden, die das heimische Sonnensystem verließen, um
Hunderte oder gar Tausende Lichtjahre entfernt ein neues Leben zu beginnen. Den Mut, ebenfalls
auszuwandern, hätte er wohl nicht aufgebracht. Der Weltraum, das bedeutete Entbehrungen und Gefahren
und den unbeugsamen Willen, um eine neue Existenz zu kämpfen, ungeachtet dessen, wieviel Schweiß,
Blut und Tränen dem Einzelnen abverlangt wurden.
Giants... Simon wußte nicht, ob er sie hassen oder nur verachten sollte.
Verwirrt blickte er um sich. Er hatte seinen Standort verändert, ohne daß es ihm aufgefallen wäre, mußte
mindestens fünfzig Meter zurückgelegt haben, denn zu seiner Linken ragte jetzt ein eiförmiges Gebilde
auf, das eben noch ein Aggregat unter vielen gewesen war.
Simon konzentrierte sich. Stockend setzte er jetzt einen Fuß vor den anderen.
Der Gedanke an die Giants, die All-Hüter, hatte ihm neue Kräfte verliehen. Der Haß war immer schon die
stärkste Triebfeder der Menschen gewesen. Neben der Liebe.
Er eilte weiter bis zu der Stelle, an der er den All-Hüter gesehen zu haben glaubte. Aber da war niemand,
nichts deutete darauf hin, daß sich überhaupt jemand außer ihm selbst in der Halle aufgehalten hatte.
Simons Versuch, eine Infrarotspur wahrzunehmen, blieb vergeblich.
34 »Du hast lange gebraucht, um dich zurechtzufinden. Beinahe zu lange.«
Die Stimme erschreckte Simon. Sie schien von überallher zu kommen und sie war auch in ihm.
Sekundenlang lauschte er - vergeblich. Erst als auch der Nachhall verklungen war, fragte er:
»Wer bist du?«
Endlich nahm er die Stille ringsum wahr. Falls die riesigen Aggregate in der Halle arbeiteten - daran hatte
er seltsamerweise noch keinen Gedanken verschwendet - geschah dies in völliger Lautlosigkeit. Nicht
einmal Vibrationen waren zu spüren.
»Wer bist du?«, wiederholte Simon drängender. »Wie komme ich hierher, und was ist das für eine
Station? Ist das überhaupt noch Sedak?«
Einmal drehte er sich um die eigene Achse und versuchte herauszufinden, von wo die Stimme erklungen
war. Es war vergebliche Mühe. Vielleicht, sobald er den neuen Körper besser beherrschte...
Er hatte den Tod des »alten« Wächters gespürt. Auch, daß sich etwas wie eine undurchdringliche Hülle
um ihn geschlossen hatte, eine Kapsel oder wie immer er es bezeichnen mochte. Dieses Etwas - vielleicht
ein Energiefeld - hatte seinen Geist davor bewahrt, mit dem Tofirit zu verglühen. Es hatte ihn blind und
taub gemacht, von allen Wahrnehmungen abgeschnitten...
... und an diesen Ort gebracht, ihn in den neuen Körper versetzt.
So etwas wie eine Rettungskapsel, durchzuckte ihn ein makabrer Gedanke. Konnte er daraus schließen,
daß er immer überleben würde, egal welcher Katastrophe der Wächterkörper zum Opfer fiel? Dann war er
wirklich unsterblich geworden.
»Mir ist der Name Sedak unbekannt«, erklärte die Stimme. Ausgerechnet in dem Moment empfand Simon
sie als störend.
Unsterblich? Unbesiegbar! Oft hatte er als Jugendlicher davon geträumt, wie die Helden zu sein, mit denen sich Generationen von Menschen identifiziert hatten. Und wenn das nicht möglich war, einige Ersatzteile ließen sich immer im Körper anbringen: künstliche Sehnen und Muskeln, Knochen aus Hochleistungsstahl oder gar ein zweites Herz zur 35 Leistungssteigerung. Über alles das hatte er nicht mehr nachgedacht, seit er im Untergrund von Hope auf den humanoiden Roboter gestoßen war. Im Beisein von Noreen Welean hatte er den stählernen Körper berührt und war von ihm aufgesogen worden. Er hörte sich noch röcheln, glaubte den grellen Blitz zu spüren, der ihn durchzuckt und zum Gefangenen einer perfekten Maschinerie gemacht hatte. Und er erinnerte sich an seine Begeisterung und Zuversicht im ersten Überschwang. Wieviel Zeit ist vergangen, seit ich die Nanopartikel der Qoorn vernichtete und sie mich? »Du bist verwirrt.« Weil ich nicht weiß, wie ich an diesen Ort gelangt bin. »Das Innerste, tief im Körper eines Wächters verborgen, hat dich beschützt und nach ARKAN-12 versetzt.
Wie kommt es, daß dir dieses Wissen fehlt?«
Simon schwieg. Weil er urplötzlich fürchtete, den Anforderungen nicht zu genügen. Er war nicht das, was
der unbekannte Sprecher erwartete. Er war kein Mensch mehr, aber auch kein wirklicher Wächter der
Mysterious.
Ich gehöre niemandem, daöhte er bitter. Nicht einmal mir selbst.
»Ich spüre deine Verwirrung«, sagte die Stimme. »Du brauchst Zeit für dich selbst - Simon.«
Er zuckte zusammen, weil er sicher war, seinen Namen nicht genannt zu haben. Kannte der Sprecher seine
Gedanken? Bist du die Gedankensteuerung dieser Station?
»Sieh dich um und versuche, zu dir selbst zu finden, damit du deiner Aufgabe nachkommen kannst.
ARKAN-12 steht dir offen.«
Zweifellos hatte der Unbekannte recht, er mußte zu sich selbst finden. Simon ahnte, daß ein neuer Lebensabschnitt begonnen hatte - zumindest war ihm ein neues Leben geschenkt worden. Frag nicht, womit du das verdient hast! redete er sich ein und schaffte es, damit seine Neugierde zu
besänftigen. Ein guter Diener fragte nicht, er tat, was die Herrschaft von ihm erwartete. Die Stimme hatte es gesagt: »ARKAN-12 steht dir offen.« 36 Seit einer Stunde war er unterwegs und hatte nicht nur die Halle längst hinter sich gelassen, sondern
mehrere solcher Hallen durchquert, in denen die unterschiedlichsten Maschinen arbeiteten -Blöcke wie aus
einem Guß, unter deren Verkleidungen enorme Energien umgesetzt wurden. Mittlerweile war er soweit,
die Sensoren des Wächterkörpers einsetzen zu können. Die Meßwerte verrieten ihm, daß er Speicherbänke
und Projektoren eines Schutzschirmsystems vor sich hatte. Aber die Werte waren zu groß für ein einfaches
Raumschiff. Nicht einmal eine planetare Station benötigte derart extreme Energien. Was Simon anmaß,
hätte ausgereicht, Hunderte Ringraumer wie die POINT OF unter Vollast zu betreiben.
Die Einsamkeit und die Stille taten ihm gut. Obwohl er manchmal glaubte, die Spuren von Lebewesen zu
erkennen, die vielleicht nur Minuten vor ihm die betreffenden Räume verlassen hatten.
Gingen sie ihm absichtlich aus dem Weg? Er war es gewohnt, allein zu sein.
Simon erreichte einen kleineren Raum, eine Art Schaltzentrale. Die Schirme ringsum ließen im
Zusammenspiel eine perfekte Rundsicht erwarten.
Aktivieren! dachte Simon. Ich will endlich sehen, wo ich mich befinde.
Nichts geschah.
Zögernd widmete er sich den ersten Geräten. Manches glaubte er zu kennen, anderes war ihm so fremd,
als hätte er die Technik eines exotischen Volks vor sich. Farbfelder glommen auf, sobald er die Hände
über einzelne Konsolen bewegte, sie veränderten ihre Intensität, formten sich zu holographischen Mustern.
Endlich war da ein lautloses Wispern, das Empfinden einer mentalen Rückkopplung.
Die Außenbeobachtung! drängte Simon. Ich muß wissen, was ringsum ist.
Die ersten Schirme leuchteten auf. Wenngleich sie nur Schwärze zeigten, der Vorgang wurde zur
Kettenreaktion, die in Sekundenschnelle eine perfekte Illusion schuf.
Simon glaubte zu schweben. Inmitten einer endlos anmutenden
37 Sphäre aus Finsternis. Da war kein noch so schwacher Lichtschein, kein femer Stern am Nachthimmel
einer namenlosen Welt. Nicht einmal der intergalaktische Weltraum konnte so lichtlos sein. Nirgendwo
zeichnete sich der yerwaschene Schimmer einer fernen Galaxis ab.
Fehlfunktion! konstatierte Simon ungläubig. Eine Überprüfung ist erforderlich.
Nichts veränderte sich. Die Schwärze blieb.
Simon aktivierte Zusatzprogramme. Schriftzüge und Zahlenkolonnen der Mysterious entstanden vor ihm
aus dem Nichts heraus und zeigten ihm, daß die Rundumbeobachtung sehr wohl Daten lieferte.
Die Meßwerte waren Irrsinn. Nie zuvor hatte er ähnliche Diagramme gesehen.
»Was ist das?« stieß er hervor.
Der Gedanke an ein Schwarzes Loch lag nahe. Ein kollabierter Stern, dessen Schwerkraft so extrem hoch
war, daß ihr nicht einmal das Licht entweichen konnte.
Ausgeschlossen. Die Schwärze würde nur einen eng begrenzten Sektor umfassen, aber alle anderen Sterne
wären noch sichtbar. Er dachte daran, daß ein Schwarzes Loch mit seiner unglaublichen Schwerkraft eine
Gravitationslinse bildete. Das Licht der dahinter-liegenden Sterne wurde abgelenkt und erschien als
verzerrtes Abbild wie eine Korona. Aber nicht einmal dieses Phänomen zeichnete sich ab.
Simon schwebte inmitten der Wiedergabe aus hunderten Hologrammen wie im Weltraum. Die Illusion
war perfekt und nicht einmal mit den Sinnen des Wächters zu durchschauen. Langsam drehte er sich um
die eigene Achse. Endlose Schwärze, wohin er auch blickte. Begriffe wie oben oder unten, rechts oder
links verwischten zur Bedeutungslosigkeit.
Simon sträubte sich gegen die Kräfte, die ihn in der Schwebe hielten, er ließ sich absinken, aber er fand
keinen Boden.
Die Skalen verrieten ein unglaubliches Energiepotential ringsum.
Er sank tiefer...
Immer schneller stürzte er ins Nichts...
38 Er versuchte, sich auf die Meßdaten zu konzentrieren - aber da war nichts Verwertbares. Wie weit trieb er ab? Selbst wenn er nur eine geringe Eigenbeschleunigung unterstellte, mußte er sich schon kilometerweit entfernt haben. Kurz darauf schob sich ein gewaltiges Rund in sein Blickfeld. Es wuchs ins Gigantische an - eine Dunkelwelt, unsichtbar in der Lichtlosigkeit, wären da nicht die erleuchteten Fensterfronten gewesen, deren Widerschein wenigstens fahle Umrisse erkennen ließ. Mit offenem Mund starrte Simon den Koloß an, den er immer noch nicht in seiner gesamten Ausdehnung überblickte. Ein kleiner Mond trieb lautlos durch den Weltraum. Er war nicht natürlich entstanden, sondern von intelligenten Wesen erschaffen worden. So imposant das Schauspiel wirkte, so bedrohlich
war es. Simon spürte die Panik in sich aufsteigen. Warte! Nimm mich mit! Die Einsamkeit in diesem Weltraum ohne Sterne würde er nicht ertragen. Warte...! Die Station verlor sich in der Ewigkeit. Viel zu schnell verblaßte ihr fahler Schimmer. Dann war da nichts
mehr, nur noch Leere.
Schwer zu glauben, daß es einmal eine Zeit der Bedürfnisse gegeben hatte. Ohne sie hätte er als Mensch
nicht lange überlebt. Jetzt brauchte er keine Luft mehr, weder Nahrung noch Flüssigkeit.
Er trieb durch das Nichts, durch einen Weltraum, der keiner war, weil Bezugspunkte fehlten, die ihm
Entfernung oder Geschwindigkeit vermittelt hätten.
Ein Weltraum, dessen Sterne längst erloschen sind? fragte er sich. Oder werden sie erst in Jahrmillionen
geboren?
Auch die Zeit war ein Begriff, der ohne Bezugspunkte nicht funktionierte. Sie konnte Freund sein oder
Feind, auf jeden Fall spürte Simon ihre Krallen.
War da ein leises Lachen?
39 Er stutzte. Die Station war längst in der Unendlichkeit verschwunden, hatte diesen Raum verlassen und war in heimische Gefilde zurückgefallen. Ganz im Gegenteil - hier ist die Heimat von ARKAN-12! Eine kleine Ewigkeit verging, bis Simon registrierte, daß die Worte nicht nur aus seinem eigenen Ich heraus entstanden waren. Ich habe dich beobachtet. »Warum?« brachte er gepreßt hervor. »Warum tust du mir das an?« Im Vakuum des Weltraums blieben
seine Fragen lautlos, aber das war kein Hindernis.
Erneut vernahm Simon jenes ferne Lachen. Diesmal glaubte er, eine Nuance von Spott darin
wahrzunehmen.
Niemand kann einem Wächter der Worgun etwas antun, antwortete die Stimme. Es sei denn, er läßt es zu.
»Warum?« wiederholte Simon drängender. »Was ist Besonderes an mir?«
Nichts. Die Antwort erschreckte ihn und holte ihn unsanft auf den Boden der Tatsachen zurück. Er war ein Diener, taugte zu nichts anderem mehr, seit die Giants ihn aus ihrer Herrschaft entlassen hatten. Er war wie Millionen andere Menschen innerlich zerbrochen und um viele Hoffnungen betrogen. Eine Zeitlang hatte ihn die Furcht beherrscht, die All-Hüter würden wiederkommen, und wenn nicht sie, dann ein anderes Volk, das den Planeten Erde und seine Bewohner als Beute ansah. Du bist nur der letzte! fügte die Stimme bedeutungsvoll hinzu. »Ich verstehe nicht.« Du scheinst vieles nicht zu verstehen. Das ist bedauerlich. »Warum erklärst du es mir nicht?«
Weil... es wäre wohl vergebliche Mühe. Die Gedankenstimme schwieg geraume Zeit. Du bist anders, fuhr
sie urplötzlich fort. Ich war zu lange allein und habe verlernt, mich auf deinesgleichen einzustellen.
»Wer bist du?« drängte Simon.
Schweigen.
40 Die Einsamkeit quälte ihn. Ausgerechnet ihn, der die vermeintliche Stille einer Welt wie Hope dem pulsierenden Leben jeder irdischen Metropole vorzog. Das war einer der Gründe gewesen, weshalb er sich Noreen Welean als Diener geradezu aufgedrängt hatte. Längst erschien es ihm, als wäre das in einer anderen Welt und einer anderen Zeit gewesen. Vergeblich wartete er darauf, daß die Stimme wieder zu ihm sprach. Er vermutete, daß sie der Gedankensteuerung der Station gehörte. Aber vielleicht war ARKAN-12 für einen telepathischen Kontakt schon zu weit entfernt. Die Aussicht, für lange Zeit hilflos durch den Sternenlosen Raum zu treiben, entsetzte Simon. Er fragte sich, wie es wohl sein würde, allmählich den Verstand zu verlieren. Der Wächterkörper übermittelte ihm eine Fülle von Meßdaten: hohe Energiepotentiale, ein gigantischer Strom, der ihn mit sich spülte, ohne Herkunft und Ziel. Zumindest war das etwas, was sich seinen Sinnen entzog. Ansonsten verhielt sich das energetische Gefälle kaum anders als jeder große Fluß: Es gab Stromschnellen und Strudel - Zonen, in denen das Niveau
langsamer driftete und solche, in denen extrem hohe Werte meßbar waren, als wolle das Gefüge des Raumes in diesen Bereichen aufbrechen. Dazwischen unerklärliche Flecken wie Felsen in aufschäumender Brandung. Dunkle Materie, vermutete Simon, ohne eine Bestätigung zu erhalten. Erst weit entfernt ein einzelner Ortungsreflex, an der Grenze der Reichweite und in seiner Winzigkeit verloren wirkend, nicht mehr als ein Staubkorn in diesem leblosen Universum: ARKAN-12. Die Ortung verwischte, während Simon sich darauf konzentrierte. Und ob ich schon wanderte im finstren Tal... Ein seltsamer Gedanke schreckte ihn aus der beginnenden Lethargie auf.. fürchte ich kein Unglück... Er hatte seinen Glauben schon wenige Wochen nach dem Beginn der Giant-Invasion verloren. Anfangs hatte er noch gebetet und gehofft, daß der Kelch an den Menschen vorüberging. Dann hatten ihn die Toten das Fürchten gelehrt. Und den Haß. Er hatte
41 sich von seinem Gott abgewandt wie viele andere auch in ihrem Schmerz. ... denn du bist bei mir... Er reagierte verwirrt. Längst waren die Menschen weit in den Weltraum vorgestoßen - aber Gott war ihnen nicht begegnet. Zumindest nicht das, was sie sich in ihrer Naivität vorstellten. Vielleicht, dachte Simon, haben wir nur am falschen Ort gesucht. Weil wir das Vertrauen erst mühsam zurückgewinnen müssen. Er starrte in die Schwärze. Verloren war er erst, sobald er sich selbst aufgab. Das hatte er auf Hope nicht getan, als sein Geist von dem Roboterkörper aufgesogen worden war, und nicht bei den Cerash. Er würde auch jetzt nicht aufgeben. Es war mutiger, sich dem Leben zu stellen, als dem Tod entgegenzudämmem. Ich muß zurück! Es muß einen Weg geben, ARKAN-12 wieder zu erreichen! Er hatte Kontakt mit dem Programm, die erste wirklich umfassende Berührung, seit er sich selbst wieder bewußt geworden war. Simon drang ungestüm weiter vor und ergriff endgültig Besitz von dem Polymetall und der integrierten organischen Komponente. Ich bin unsterblich! dachte er. Egal was geschieht, ich werde immer wieder einen neuen Körper erhalten. Und du... Es fiel ihm schwer, den Gedanken zu Ende zu bringen. ... du wirst mir dienen, so gut du kannst. Ich hoffe, daß deine Fähigkeiten denen meines ersten Wächterkörpers nicht nachstehen. Er schwebte schutzlos im Weltraum - doch das machte ihm nichts aus. Er versuchte, den Körper zu verändern - tatsächlich überzog sich sein linker Arm mit Schuppenhaut, und ein sechster Finger wuchs. Doch das Abbild eines Amphis blieb auf den Arm beschränkt. Zugleich fragte sich Simon, ob Angehörige von Vonnocks Volk überlebt hatten. Andernfalls wäre sein Opfergang ver gebens gewesen. Opfer gang? Ohne die Vernichtung des Wächterkörpers hätte er niemals herausgefunden, daß er keine Furcht vor der Zerstörung zu haben brauchte. Er würde jedesmal in einem neuen Leib aufwachen. 42 Ich habe viele Leben... Alles in ihm drängte danach, das hinauszuschreien, es wenigstens die Menschen wissen zu lassen, die er zu seinen Freunden zählte. Das waren nicht viele. Eigentlich kam ihm nur Noreen in den Sinn. Zugleich war da ein verwegener Gedanke. Wenn er versuchte, den Wächterkörper zu zerstören, durch eine Manipulation des Programms die spontane Freisetzung aller Energie erreichte, würde er sich von neuem in ARKAN-12 wiederfinden. Oder in einer anderen Station der Hohen. Nur einen Bruchteil des gigantischen künstlichen Mondes hatte er bislang gesehen. Um das Gebilde wirklich zu erkunden, würde er Monate benötigen. Simons Gedanken schaukelten sich auf und griffen nach der Energieversorgung. Vor seinem inneren Auge sah er ein Aufglühen. Sonnenhell. Es entstand im Mittelpunkt seines künstlichen Leibes und dehnte sich gedankenschnell aus - ein Feuerball, der nicht einmal verwehende Atome übrig ließ, ein Sekunden währendes Aufflammen. Der winzige Lichtpunkt würde das einzige Zeichen von Leben in der ewigen Schwärze sein. Simon verkrampfte sich. Er spürte, daß der Körper reagierte. Ein grauenvoller Schmerz durchzuckte ihn, verbunden mit dem Empfinden, in der Unendlichkeit zu verwehen. Hätte es einen Beobachter gegeben, für ihn wäre der Wächter Simon innerhalb eines unmeßbaren Augenblicks spurlos verschwunden.
Simon blickte um sich. Nicht einen Augenblick lang zweifelte er daran, daß er sich wieder auf ARKAN 12 befand. Allerdings fragte er sich, wie es ihm gelungen war...
»Dein Wissen über viele Vorgänge ist höchst lückenhaft.«
Woher... ? Simon brachte den Gedanken nicht zu Ende, weil die Stimme ihn jäh unterbrach.
»Ich wäre eine schlechte Instanz, würde ich meine nächste Umgebung unbeachtet lassen. Ich beobachte
dich und deine Zweifel, die seltsam sind für einen Wächter. Ich schreibe sie besonderen
43 Umständen zu, die dich zu dem gemacht haben, was du heute bist.« »Und was bin ich?« Simon sprach die Frage laut aus. Ein verzerrtes Echo hallte aus vielen Richtungen zurück. Erst jetzt achtete er auf seine Umgebung. Sie war riesig - und begrenzt zugleich, ein Raum, den zu definieren ihm schwerfiel, der sich stets veränderte. Im einen Moment glaubte er, weiträumige Hallen zu sehen - vermutlich Hangars für Beiboote oder kleinere Raumschiffe - im nächsten wuchsen vor ihm massive Maschinenparks auf, Energieanlagen und Triebwerksblöcke, soweit er erkennen konnte. Und sobald er sich drehte, sah er endlos anmutende Korridore, Transportschächte und Röhrensysteme, in denen tropfenförmige Fahrzeuge verkehrten. Er glaubte, einen Transmitterring zu erkennen und Roboter, deren äußere Gestalt ihren Aufgaben angepaßt war. Cerash? brach ein mißtrauischer Gedanke auf, als er ein spinnenartiges Etwas entdeckte, aber die Erscheinung verschwand ebenso schnell wieder. »Ich kann dir nur sagen, was du nicht sein solltest.« Die Stimme der Instanz drängte seine Überlegungen zurück. »Du kannst nicht jedermanns Diener sein. Ein Wächter ist Herr über Leben und Tod, Zweifel sind ihm fremd.« Alles veränderte sich. Jeder neue Blickwinkel zeigte Simon eine andere Perspektive, als könnte er von seinem Standort aus die Station in ihrer gesamten Ausdehnung überblicken. Hier waren riesige Tanksysteme, dort hydroponische Gärten, in denen Roboter arbeiteten und... wieder sah er die humanoiden Wesen nur vage. Giants? fragte er sich. Sein Blick fiel auf eine transparente Halbkugel. Sie ruhte auf einem roten Sockel und schien das einzig Unveränderliche zu sein. Simon schritt darauf zu. Ein Geflecht von Schläuchen quoll aus dem Sockel empor und mündete in die Kuppel, in der ein grauweißes, zerfurchtes Gebilde in trüber Flüssigkeit schwamm. Ein Gehirn. Nicht menschlich! registrierte Simon, ohne jedoch erklären zu können, worauf er diese Feststellung bezog. Er spürte, wie sich etwas unglaublich Fremdartiges manifestierte - etwas, von dem er nicht zu sagen vermochte, was es wirklich 44 war: Mann oder Frau, welche Art von Lebewesen, Nachkomme tierischer Vorfahren oder gar ein
pflanzlicher Organismus? Das Gehirn an sich implizierte eine aufrechtgehende, große Kreatur, größer als
ein Mensch auf jeden Fall, und die vielfältigen Nervenstränge ließen ein mehrgliedriges Wesen vermuten.
Simon assoziierte eine krakenartige Intelligenz.
Tief in ihm entstand ein bedrückendes Lachen. Mentale Bilder überschwemmten ihn, eine ungeheure
Vielfalt von Leben, wie er sie noch vor Jahren für unmöglich gehalten hätte, zu einem Zeitpunkt, als die
Menschen geglaubt hatten, das einzige raumfahrende Volk in der Milchstraße zu sein. Hunderte
Physiognomien waren es, so unterschiedlich, daß es schwerfiel, auch nur einen Teil davon mit knappen
Begriffen zu beschreiben. Schillernde Blasen schwebten inmitten dichter Wolkenbänke, so ätherisch
filigran, daß sie überaus verletzlich erschienen; ganz anders die plumpen, vielbeinigen Kolosse mit den
dicht behaarten Sinnesrüsseln; dazwischen bleichhäutige Zwerge mit einem einzigen Auge auf der Stim
und zwei übereinander liegenden Mündern.
Deutlich spürte Simon die Wehmut in den fremden Gedanken. Jenes Wesen war im Grunde seiner Seele
noch sehr viel einsamer als er selbst.
Er verstand.
»Du bist die Instanz«, brachte er stockend hervor. »Du bist es schon so lange, daß du dein eigenes
Aussehen vergessen hast?«
Die Feststellung erschreckte ihn. Wann würde er sein eigenes Aussehen eines Tages nicht mehr kennen?
»Wie lange lebst... existierst du schon in dieser Station?«, fragte er bitter.
»Ich weiß es nicht«, lautete die Antwort. »In einer Welt ohne Zeit ist vieles anders.«
Simon starrte das Gehirn an. Welche Qual mußte es empfinden, körperlos und in seiner Existenz auf diese
transparente Halbkugel beschränkt...
Die Stimme klang amüsiert: »Du mußt mich nicht bedauern; ich habe viel mehr Freiheit, als du glaubst.«
Simon spürte die Nähe eines sehr starken Geistes. Etwas davon sprang auf ihn über...
45 Du fürchtest dich.
Nein: Du fürchtest die Instanz. Dabei hast du keinen Grund, argwöhnisch zu sein. Falls die Instanz dich
vernichten wollte, hätte sie dir keinen neuen Körper zu geben brauchen.
Hat wirklich sie das getan?
Ein beruhigender Impuls trifft dich. In ARKAN-12 droht dir keine Gefahr. Nach und nach wirst du die
Zusammenhänge verstehen, das ist es, was die Instanz dir erklären will.
Die Station, die um ein Mehrfaches größer und imposanter ist als vergleichbare Erron-Stationen, "wurde
vor langer Zeit in ein Paralleluniversum versetzt, das nie über das Stadium der Knospung
hinausgekommen ist. Hier gibt es keine Sonnen und Planeten, nichts von dem, was einen Weltraum
definiert; die Energie ist in einem ewigen Kreislauf gefangen und wird sich nie stabilisieren.
Du hast dieses andere Universum durch den Beobachtungsraum betreten und selbst erlebt. Es ist ein Ort
grenzenloser Einsamkeit, dessen räumliche Dimension jeder nach seinen eigenen Vorstellungen erkennt.
Du hast diesen Raum als unendlich empfunden, andere würden das genaue Gegenteil behaupten.
»Wie bin ich zurückgekommen?«
Aus eigener Kraft - eine Transition aus dem Stand heraus. Eine Transition oder Teleportation oder wie
immer du den Vorgang nennen willst. Für mich war wichtig, herauszufinden, ob dein Wächterkörper voll
funktionsfähig ist.
Du verstehst, was die Instanz sagt, aber du kannst ihre Worte nicht nachvollziehen. Vielleicht, wenn du
lange genug gelebt hast und mehr verstehst als nur ein Diener...
Nein, hallen die Gedanken des fremden Gehirns in dir nach.
»Wann hätte ich mir solches Wissen aneignen sollen?«
Nicht darum geht es. »Sondern?«, fragst du interessierter als zuvor.
Um deine Lebensspanne, antwortet die Instanz.
Als Wächter bin ich unsterblich. Du sprichst den Satz schon
46 nicht mehr aus, denn da ist ein ungutes Gefühl, das dir plötzlich wie ein Alpdruck im Nacken sitzt.
Das ist richtig.
Aber? Die Frage drängt sich auf, du kannst sie nicht verhindern. Zugleich fragst du dich, was du übersehen
hast. Waren deine Vorstellungen falsch, ist ein Wächterkörper sehr wohl sterblich? Du glaubst das nicht,
weil du ihn nach deinem Willen formen kannst. Und falls er wieder zerstört wird...
Hüte diesen Körper, als wäre er dein eigener!
Die Gedanken der Instanz lassen dein Innerstes vibrieren. Du, der unscheinbare Mensch, dem ein Zufall
zur Vollkommenheit verholten hat, bist in deiner Seele zaghaft geblieben. Du wirst an dir arbeiten müssen,
wenn du wirkliche Größe erreichen willst.
»Was ist... mit diesem Körper?« Stockend bringst du die Worte hervor, deine Gedanken überschlagen
sich. Da ist all das Negative wieder, das du zu verdrängen versucht hast, deine Furcht und dein Zögern.
Weil du es nie anders gelernt hast. Ist dieser neue Körper beschädigt, gibt es Bakterien, Viren oder
bestimmte Stoffe, die das Tofirit angreifen? Vonnock hat dir erzählt, daß die Nanopartikel der Qoom ihn
und sein Ringraumschiff beinahe zerstört hätten -daran denkst du.
Du, sagt die Instanz, bist der letzte Wächter, den ich einsetzen kann.
»Ich verstehe nicht.«
Achte auf deinen Körper, Simon. Ich erhalte schon seit langem kein Ala-Metall mehr, mit dem ich eine neue Hülle erschaffen könnte. Ala-Metall. Natürlich kennst du den Namen, den die Mysterious diesem extremen Stoff gegeben haben. Für die Menschen... für uns Menschen ist es Tofirit, und sein spezifisches Gewicht beträgt annähernd 500 Kilogramm pro Kubikzentimeter. In das Ala-Metall ist eine Biokomponente eingearbeitet, die es geschmeidiger, aber keineswegs angreifbarer macht. Die Gegenstation im Normaluniversum, über die von den Wo-gun der Kontakt mit ARKAN-12 aufrechterhalten wurde, ist verstummt, fährt die Instanz fort. Ich zweifle nicht mehr daran, daß sie vernichtet wurde. Wenn dem wirklich so ist, wird es nie wieder 47 neue Wächter geben. »Aber du weißt das nicht genau?«
Du erhältst keine Antwort, hast den Eindruck, daß die Instanz alles gesagt hat, was sie dir preisgeben
wollte. »Was kann ich tun?«, platzt du heraus. »Soll ich für dich die Wahrheit über die Gegenstation
herauszufinden?«
Du bist kein Diener mehr! Sind das deine eigenen Gedanken oder die der Instand Du kannst es nicht
erkennen.
Dann bist du wieder allein, die Wände von ARKAN-12 haben ihre feste Konsistenz zurück, du kannst die
Station nicht mehr überblicken. Und das Gehirn ist mit seinem Sockel so spurlos verschwunden, als hätte
es nie existiert.
Aber du weißt: Es beobachtet dich.
»Warum?« willst du rufen, doch du schweigst. Weil es sich anders nicht geziemt.
4.
Hin und wieder »spürte« er die Allgegenwart der Instanz. Sie beobachtete ihn, aber sie ließ ihn gewähren.
Vielleicht, dachte Si-mon, ist der Test noch nicht beendet. Das Gehirn mll wissen, was ich kann.
Seine Verunsicherung zu verdrängen fiel ihm schwer.
Gerade weil er den letzten Wächterkörper erhalten hatte und es nach ihm wohl keinen weiteren geben
würde.
Zugleich fragte er sich, wie lange das Rohmaterial in der Station gelagert worden war.
War das Ala-Metall überaltert? Er wußte nicht, wie lange die Biokomponente ohne einen beseelenden
Geist funktionsfähig blieb.
Vielleicht betrachtete ihn die Instanz als Experiment.
Das Hochgefühl der letzten Jahre war zu schön gewesen, es hatte nicht ewig so bleiben können. Die
Höhen und Tiefen des Lebens wechselten rasch.
Simon hielt abrupt inne. Seine Wanderung durch ARKAN-12 hatte ihn in einen Bereich geführt, der nur
noch wenig mit den Maschinenparks der Energieerzeugung, Antriebseinheiten und Schutzschirmsysteme
gemeinsam hatte. Auch hier ließ sich die Handschrift der Mysterious nicht leugnen, aber die Atmosphäre
war eine andere geworden.
Simon benötigte einige Sekunden, um herauszufinden, daß es wärmer geworden war. Um wenige Zehntel
Grad nur, aber er registrierte die Veränderung.
Vor ihm waren lebende Wesen den Korridor entlanggegangen. Ihre Infrarotspur hing noch in der Luft,
verwehte jedoch überraschend schnell. Sie waren groß, reichten dem Wächterkörper aber dennoch nur bis
zur Schulter.
49 Wiederholt war er auf die Fährte dieser Unbekannten gestoßen, ihnen aber nie nahe genug für eine
Kontaktaufnahme gekommen.
Simon schüttelte sich.
Er wollte nicht daran glauben, daß ausgerechnet Giants auf der Station Arbeiten verrichteten.
Er war verwirrt und unsicher gewesen und hatte vielleicht nur deshalb eine vage Ähnlichkeit zu sehen
geglaubt.
Die All-Hüter hatten den Menschen übel mitgespielt.
Deshalb hatte er sich geschworen, ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen.
Das waren die Gedanken, die ein Mensch brauchte, um sich selbst zu beruhigen, ein Ausdruck
ohnmächtigen Zorns, kaum mehr. Nie wäre ihm zu dem Zeitpunkt der Gedanke gekommen, jemals in eine
solche Situation geraten zu können.
Die alten und schlecht vernarbten Wunden brachen nun wieder auf- Simon spürte, daß der Wächterkörper
sich veränderte. Hände und Unterarme bildeten sich zu den Abstrahlpolen von Energiewaffen um, und es
schien nichts zu geben, was den Vorgang stoppen konnte.
Er war selbst daran schuld. Vor allem wollte er den Verwandlungsprozeß nicht wirklich aufhalten. Daß er
das versuchte, redete er sich nur ein. Im Unterbewußtsein saß der Wunsch nach Vergeltung viel zu tief.
Die Infrarotspuren wurden bereits undeutlicher. Simon begann zu laufen. Seine Schritte dröhnten durch
die Korridore, ein dumpfes Stakkato, das ihn anspornte.
Die Wärmespur faserte auf. Erst an einer Abzweigung fand er sie wieder. Er spürte die pulsierende Stärke
des Wächterkörpers, die verhaltene Energie, die für seine Waffen bereitgestellt wurde. Wenn er wirklich
auf Giants traf, würde er sie töten.
Er erschrak über die eigenen rachsüchtigen Gedanken. War das noch er selbst - oder beeinflußte ihn das
Programm?
Zugleich kroch die Furcht in ihm empor. Das energetische Pulsieren hatte er erst vor kurzem erlebt, und es
hatte mit der Vernichtung seines Körpers geendet. Aber diesmal würde er keinen neuen Körper erhalten...
Sein Zwiespalt wuchs.
50 Und dann, nahezu übergangslos, fand er sich inmitten einer alptraumhaft bedrückenden Umgebung wieder. Die Sensoren verrieten, daß er lediglich einen sterilisierenden Energievorhang durchbrochen hatte. Der Raum war ein Labyrinth, eine Ansammlung von Nischen und Kammern, die sich weiter erstreckten als sein Blickfeld reichte. Und die Luft war schwer und stickig. Diesen Eindruck hätte Simon als Mensch empfunden. Jetzt begnügte er sich mit der Erinnerung - er mußte sich damit zufriedengeben. Energiefelder gliederten den Raum in ein Sammelsurium unterschiedlicher Bedingungen. Die Infrarotspur war in diesem Chaos längst verweht. Simon ließ den Blick schweifen, aber nirgendwo zeichnete sich eine Bewegung ab. Er war allein in diesem... ... Kabinett.
Eine andere Bezeichnung kam ihm nicht in den Sinn. Vor ihm erhob sich ein mächtiges Aquarium, ein transparenter Kubus von mindestens zehn Metern Länge. Eine trübe, ölige Flüssigkeit brodelte darin. Oben war der Behälter offen, von dort wogte dichter Nebel herab wie bei einer chemischen Reaktion. Allerdings verflüchtigte er sich lange bevor er den Boden erreichte. Simon registrierte nur einen starken Kältereiz, der im krassen Gegensatz zur Umgebungstemperatur stand. Dann erst widmete er sich dem Schemen, der das halbe Aquarium ausfüllte. Auf den ersten Blick ließ die Lichtbrechung nicht erkennen, was da schwamm, doch Simon paßte seine Wahrnehmung den Gegebenheiten an. Der Körper war massiger als der eines irdischen Flußpferds, erinnerte aber zugleich an die filigrane Schönheit einer Qualle. Zwischen schweren Hautlappen hingen in der Strömung treibende, armdicke Sinnesfäden, und zeitweise glaubte Simon, eine Art Vogelschnabel erkennen zu können, der sich zwischen all dem verbarg. Die Gestalt reagierte nicht auf seine Anwesenheit. Er vermochte nicht zu erkennen, ob sie lebte oder tot war. Vielleicht hatte ihn der Zufall in ein experimentelles Labor geführt. Wie auf der Erde Tiere in Formalin oder anderen Flüssigkeiten konserviert wurden, mochten die Vorbereitungen hier einer späteren Sektion dienen.
51 Er ging weiter.
Die zweite Kammer war kleiner. Sie barg ein rundes Bassin, das an die Kuppel mit dem Gehirn erinnerte.
Die Rüssigkeit in dem Behälter schimmerte silbern und ließ jede Schuppe der konservierten Kreatur
erkennen, die kaum größer war als eine Unterarmlänge. Und ebenso dick. Zwei Kränze fingerlanger
Fortsätze umliefen den »STarnm«, der am oberen Ende ein Büschel feingliedriger Fasern ausbildete. Der
untere Abschnitt war dagegen knollenförmig verdickt. Aus diesen Knollen sprossen Hunderte von
Wurzelfäden.
Kleine, zylinderförmige Roboter schwammen zwischen den Wurzeln. Mehrmals registrierte Simon
schwache Lichtblitze, aber erst eine genaue Beobachtung zeigte ihm, daß die Roboter das Wurzelgeflecht
mit Energieschüssen zurückschnitten.
Was auf den ersten Blick einer Pflanze ähnelte, konnte ebensogut ein Tier sein. Und dieses Etwas lebte,
andernfalls wäre der Einsatz der kleinen Robotmaschinen nicht nötig gewesen.
Ein Panoptikum bot sich Simon dar, wie es bizarrer kaum sein konnte. Er verzichtete darauf, die
konservierten Körper zu zählen. Ihr Anblick hinterließ einen schalen Beigeschmack. Hatte er sich anfangs
noch mit Einzelheiten aufgehalten, warf Simon bald nur noch knappe Blicke in die einzelnen Nischen.
Eine eigenartige Erregung hatte ihn ergriffen.
Er suchte nach etwas, was er eigentlich nicht finden wollte -nach dem konservierten Körper eines
Menschen.
Simon zuckte jäh zusammen. Er hatte eine Kreatur entdeckt, deren Äußeres er wiederzuerkennen glaubte.
Spontan verformte sich sein Wächterkörper und bildete zusätzliche Gliedmaßen aus: acht kräftige,
mehrgelenkige Beine. Dazu kräftig vorspringende Kieferzangen und eine Vielzahl unterschiedlich großer
Augen.
Wieder versuchte Simon, die Veränderung aufzuhalten; erneut gelang es ihm nur mit großer Mühe. Sein
erster Roboterleib war ihm von Anfang an vertrauter gewesen - vielleicht, weil darin seit
52 mindestens tausend Jahren schon ein anderes Ego existiert hatte, der Geist eines Cerash, dessen Volk sich einst heftige Auseinandersetzungen mit den Mysterious geliefert hatte und das nach dem Verschwinden der Hohen mit erbeuteten Ringraumem gegen andere Völker vorgegangen war.* Simons neuer Körper hatte möglicherweise ebenso lange Zeit brachgelegen und auf einen beseelenden Geist gewartet. Das war der Unterschied, der dem Terraner nicht gefiel. Endlich schaffte er es, sich abzuwenden. Auf acht Beinen huschte er davon; er hatte nicht verlernt, sich wie ein Cerash zu bewegen. Für einen Menschen konnte es nur verwirrend sein, eine so große Zahl von Gliedmaßen koordinieren zu müssen. Ohne das Programm des Wächters wäre es wohl auch unmöglich gewesen. Damit hast du recht, erklang die mentale Stimme der Instanz. Sie erinnerte Simon daran, daß er nichts unbeobachtet tat. Er vollführte eine umfassende Handbewegung, wie er es auch als Mensch getan hätte, und entsann sich erst danach, daß es dessen bestimmt nicht bedurfte, um der Instanz zu zeigen, was ihn bewegte. »Was ist das hier?«, wollte er wissen. »Ein Zoo, in dem alle galaktischen Intelligenzen... ?« Nicht alle, antwortete das Gehirn. »Aber die Auswahl...« Simon sprach nicht weiter. Das Bedürfnis, tief Luft zu holen und die Augen zu schließen wurde übermächtig. Doch das war etwas, wofür er seines menschlichen Körpers bedurft hätte.
»Wozu dienen diese...«, er stockte erneut, hatte das Gefühl, daß sich alles um ihn herum zu drehen begann. »... diese Ausstellungsstücke?« Du "weißt es. »Nein.« Du -willst die Wahrheit nur nicht akzeptieren. Simons Wächterkörper vollführte eine entschieden ablehnende, schroffe Bewegung. Siehe REN DHARK-Sonderband »Wächter der Mysterious« von Hubert Haensel
53 Du bist innerlich zerrissen, behauptete die Instanz, vor allem widersprüchlicher als die anderen Wächter,
mit denen ich zu tun hatte.
Simon schwieg zu dem Vorwurf.
Geh weiter! forderte ihn die gedankliche Stimme auf. Suche die Wahrheit oder vergiß deine Fragen, aber
gib dich nicht mit Halb' heilen zufrieden. Du kennst die Antwort bereits, doch du scheust davor zurück, sie
zu akzeptieren. Weil du zu sehr in deiner Vergangenheit verwurzelt bist. - Nein, nicht stehenbleiben. Du
wirst erkennen, was ich dir zeigen will, und du wirst Schmerzen dabei empfinden. Aber du mußt lernen,
damit umzugehen.
Die Zahl der »Aquarien« nahm kein Ende. Simon schritt zwischen ihnen hindurch und ließ den Blick schweifen. Mehr und mehr gewann er den Eindruck, in eine ultramodeme Alchimistenküche geraten zu sein. Die Körper, so bizarr sie auch sein mochten, strahlten eine eigenartige Ruhe aus, einen Hauch von Zeitlo-sigkeit. Dennoch wirkten sie, als könnten sie sich jede Sekunde aus ihrer Starre lösen und zu neuem Leben erwachen. Simon mußte sich zurückhalten, um nicht unbeherrscht die Flucht zu ergreifen. Alles in dieser bizarren Halle war abstoßend und anziehend zugleich und von einer eigenartigen Faszination. In dem Moment sah er, was die Instanz, meinte. In einem großen Bassin hing der Körper eines Fischartigen, von unsichtbaren Energiefeldern in der Schwebe gehalten. Längst hatte diese Kreatur das nasse Element verlassen und war an Land seßhaft geworden. Nur die grüne Schuppenhaut und der rudimentäre Schwanz bewiesen noch die AbsTarnmung von Wasserlebewesen. Beide Arme endeten in sechsfingrigen Händen, zwischen den Fingern spannten sich unübersehbar Schwimmhäute. Ein Amphi! stellte Simon fest. Dann erst registrierte er die vielen kleinen Unterschiede. Dieses Geschöpf war nicht wirklich ein Amphi, wie die Menschen um Ren Dhark sie auf dem Nachbarplaneten von Hope entdeckt hatten - es stand in der Evolution zeitlich vor ihnen. Ein Fanjuur? Vonnock mußte einst so ausgesehen haben, bevor er zum Wächterkörper geworden war. 54 Vonnock, dachte Simon betroffen. Das ist Vonnocks Körper? -Ausgeschlossen. Zugleich wußte er, daß es
gar nicht anders sein konnte. Alle hier konservierten Körper gehörten zu den Bewußtsemen von Wächtern
der Mysterious.
Eine unbändige Hoffnung flammte in ihm auf.
Dann war... irgendwo in diesen Räumen... vielleicht auch sein eigener Körper zu finden?
Ich will ihn sehen! Ich muß! Ich...
Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, das war in dem Moment die treffendste Umschreibung
seiner Gefühle. Endlich wieder Mensch sein, aus dem Gefängnis des Roboters zurück in den eigenen
Körper wechseln, das war Simons spontaner Wunsch. Die Vernunft riet ihm etwas anderes. Warum sollte
er sich mit Unvollkommenheit belasten, mit Krankheit und Tod, solange ihm der Wächterkörper
Perfektion bot?
Simon starrte den Fanjuur an. Das war der Schmerz, den die Instanz vorhergesagt hatte. Er wußte, daß er
seinen eigenen Körper nie wiedersehen würde, denn im Gegensatz zu den sterblichen Hüllen in ARKAN
12 war sein Körper auf Hope vernichtet worden. Für immer würde er heimatlos bleiben, ein Getriebener
ohne Hoffnung, und am besten ging er sehr weit weg, fort von allen Erinnerungen, die ihn doch nur
quälten. Ein Wächter hatte keine Tränen.
Ich muß verrückt sein. Ich hoffe auf die Unsterblichkeit und sehne mich zugleich nach meinem sterblichen
Körper. Simon wandte sich ab, weil er den Anblick des Fanjuur nicht mehr ertrug.
Du bist traurig, meldete sich die Instanz.
»Was würdest du...?« Simon entsann sich gerade noch, daß auch die Instanz ihren Körper verloren hatte.
Das Gehirn war bemitleidenswerter als er selbst; er verfügte immerhin über eine neue bewegliche Hülle.
Ich könnte mir ebenfalls einen Körper erschaffen. Aber wozu? Meine Aufgabe ist eine andere.
Simon horchte auf. »Du könntest...?« Eine aberwitzige Hoffnung flackerte in ihm auf. Warum nicht? Er hatte nicht gewußt, daß es eine Möglichkeit geben könnte. Alles, was ich benötige, ist eine Probe deiner DNS. Willst du se 56 hen, wie dein Körper heranwächst? Willst du, daß er wie alle anderen konserviert wird, bis du in ihn zurückkehrst? »Nur eine DNS?« Simon lachte bitter, dabei war ihm nach Tränen zumute. »Ich habe nichts mehr! Mein
Körper wurde auf Hope vernichtet, es gibt keine sterblichen Überreste, die wir ausgraben könnten.«
»Warte!« Simons Stimme klang schrill und spiegelte seine Erregung wieder. »Vielleicht ist es doch nicht
unmöglich. Ich entsinne mich: Meine ehemalige Arbeitgeberin, Noreen Welean, hat DNS-Proben von
allen ihren Mitarbeitern auf Terra deponiert. Auch von mir! Sie waren für medizinische Notfälle gedacht.«
Und wenn das kein Notfall ist, fügte er in Gedanken hinzu, was dann?
Da war eine Bewegung am Rand seines Wahrnehmungsbereichs. Jemand näherte sich aus einer der
Wandnischen.
Umschalten auf Teleskoperfassung. Die Gestalten waren groß und gelbhäutig und verfügten über zwei
Armpaare, von denen eines verkrüppelt wirkte. Doch vor allem der Raubtierschädel ließ keinen Irrtum zu.
Giants! Also hatte er sich nicht getäuscht. Die All-Hüter waren in mehr oder weniger großer Zahl in ARKAN-12 anzutreffen, und bislang hatten sie es stets verstanden, ihm auszuweichen. Vielleicht hatte die Instanz damit zu tun. Was wird hier wirklich gespielt? fragte sich Simon. Sein Mißtrauen wuchs. Giants hatten ihm mehr genommen als nur ein Jahr seines Lebens. Fünf Gelbhäutige kamen näher. Simon sah das Funkeln in ihren Augen, an das er sich erinnerte, als wäre alles erst gestern geschehen. Das war ein verschwindend kleiner Bruchteil seiner Erinnerung, vieles war durch mentale Beeinflussung ausgelöscht worden. Um so mehr Raum blieb für die schlimmsten Phantasien. Simon haßte die Giants. Nur noch wenige Augenblicke, dann war die Veränderung des Wächters abgeschlossen. Die tödlichen Waffen würden ihr Ziel finden. Im Geist sah Simon die Giants 57 schon verglühen. Dir Tod würde ihm Genugtuung bereiten - aber er machte sein Dasein nicht leichter. Er zögerte. Jetzt mußte er feuern. »Ich bin ein Mensch von Terra!« wollte er ihnen entgegenrufen. »Erinnert ihr euch?« Er tat es nicht - und er schoß auch nicht. Weil weder sein Haß noch der Schrei nach Vergeltung die Zeit zurückdrehen konnten. Vor allem hatten die Gi-nts von ARKAN-12 kaum etwas mit der Erde zu tun. Vielleicht wußten sie nicht einmal, was geschehen war. Simon schloß die Augen, das heißt, er grenzte sich von der Wahrnehmung des Wächterkörpers ab. Als er mehrere Sekunden später wieder sehen wollte, was geschah, verschwanden die Gelbhäutigen soeben in einem Seitenkorridor. Simon verzichtete darauf, ihnen zu folgen. Auf gewisse Weise erschien es ihm, als falle eine schwere Last von ihm ab. Wer oder was immer die Giants waren - Spekulationen hatten ebenso von biomechanischen Robotern geredet wie von gezüchteten Lebewesen - er war froh, sie nicht ohne zwingenden Grund getötet zu haben. Mit seinem Haß würde er leben müssen, bis er ihn eines Tages zu vergessen lernte.
Es ist gut, Simon, daß du dich gegen den Waffeneinsatz entschieden hast, ich habe mich also nicht in dir
getäuscht.
»Und wenn ich es getan hätte?«
Die Instanz, wirkte amüsiert. Versuche es! Nichts geschieht in ARKAN-12, das ich nicht will. Deine
Waffensysteme sind in der Station funktionsunfähig. Ich lasse nicht zu, daß die Biostrukte, die für mich
wertvolle Arbeit verrichten, geschädigt werden.
»Biostrukte?«, fragte Simon verwirrt.
Du nennst sie Giants. Aber egal - seit der Krieg gegen die Zyzzkt begonnen hat, entspricht vieles nicht
mehr dem gewohnten Bild. Dazu gehört auch, daß die Instanzen anderer Stationen sich offenbar zur
Zwangsrekrutierung vieler Wächter gezwungen sahen. Bedingt durch ihre extrem hohe Vermehrungsrate
haben sich die Zyzzkt schnell und unkontrolliert ausgebreitet und den Worgun
58 allen Lebensraum streitig gemacht. Rund neunhundert Jahre deiner Zeitrechnung sind vergangen, seit sie
eine Waffe gegen das Intervallfeld fanden und die Worgun, die du auch Mysterious nennst, versklavten. »Was ist mit den Wächtern?« Simons Blick wanderte noch einmal die endlos scheinenden Reihen der Konservierungstanks entlang. »Wurden sie in den Kampf gegen die Insektoiden geschickt? Gibt es deshalb kein Ala-Metall mehr? Haben Zyzzkt die Gegenstation vernichtet?« Ich "weiß es nicht.
»Du wirst mich ebenfalls in den Kampf schicken?«
Simon erhielt keine Antwort darauf. Vielmehr setzte die Instanz zu einer für ihn überraschenden
Erklärung an: Das Leben als Wächter -war ursprünglich eine hohe Auszeichnung für die Angehörigen
vieler Völker. Wächter zu sein bedeutete, das höchste Ansehen in vier Galaxien zu erlangen.
»Warum haben die Worgun ihre Roboter nicht selbst übernommen?« Die Bewußtseine der Hohen eignen sich nicht dafür, einen Wächterkörper zu steuern. Das war in der Vergangenheit für viele junge Leute anderer Völker Grund genug, sich für einen Einsatz als Wächter zu verpflichten. Üblicherweise für einen Zeitraum von achtundneunzig Jahren deiner Zeitrechnung. Viele verlängerten aber ihre »Dienstzeit« um weitere Perioden. »Weil sie die Unsterblichkeit wollten?« sinnierte Simon. So ist es. Alle diese Wesen genossen die Unsterblichkeit ebenso "wie die Machtfülle eines Wächters. Sie wußten ihre biologischen Körper während der Ruhephase in ARKAN-12 in Sicherheit. Erst nach ihrer Rückkehr setzte der normale Alterungsprozeß wieder ein, der nach der arteigenen Lebensspanne zum Tod führte. Ich weiß, was du einwenden willst, Simon, aber die Transformation zum Wächter kann nur einmal durchlaufen werden. Deshalb wollten viele nicht mehr zurück, sie fürchteten die Aussicht auf den sicheren natürlichen Tod. Die wenigen, die nach einer oder mehreren »Dienstzeiten« wirklich ihren Körper wieder aufsuchten und auf ihre Heimatwelt zurückkehrten, wurden stets zu hochgeachteten Persönlichkeiten. Der Ruhm und die Verehrung, die den 59 Wächtern entgegengebracht wurden, blieb ihnen nicht verwehrt, »Achtundneunzig Jahre.« Simon seufzte gequält; ein solcher Laut aus dem Mund des massigen Roboters klang zumindest ungewöhnlich. »Ich...« Er stockte und suchte nach den passenden Worten. »Ich wurde nie gefragt, ob ich wirklich ein Wächter sein will«, sprudelte es dann aus ihm hervor. »Und Ruhm? Ich kann mir nicht vorstellen, daß mich das eines Tages glücklich machen würde. Das ist nicht meine Welt, glaube ich.« Glaubst du das nur - oder bist du dir dessen sicher? Der Wächterroboter hob die Schultern und ließ sie langsam wieder sinken. »Ich weiß nicht.
Achtundneunzig Jahre sind verdammt lang, ein Menschenleben.«
Du willst wieder Mensch werden? Vergiß nicht, es gibt danach keine zweite Chance...
»Ich sehne mich nach dem Gefühl, wieder wirklich zu atmen«, platzte Simon heraus. »Ich will wieder den
Geschmack guten Essens auf der Zunge spüren und die Sonne auf der Haut.«
Das alles hast du jetzt ebenfalls.
»Das ist... nicht das Gleiche. Irgendwie künstlich.«
Ich wußte, daß du anders bist als alle vor dir. Du scheinst jedoch ebenso unsicher wie verwirrt zu sein und
weißt nicht, was du tun sollst,..
»Kannst du wirklich meinen menschlichen Körper neu erschaffen, wenn ich eine DNS-Probe besorge?«
Mit allen seinen Fehlern und Gebrechen. Aber warum so ungeduldig, mein Freund? Du hast sehr viel
Zeit.
»Über neunzig Jahre.« Simon nickte zögernd. »Verstehst du meine Befürchtungen? Daß ich für die Menschen ein Fremder sein werde, wenn ich dann erst zurückkehre. Keiner, der mich gekannt hat, würde dann noch am Leben sein.« Was willst du wirklich, Simon? Der Wächter schwieg. Er wußte es selbst nicht genau. Weil es niemanden gab, der ihm sagte, was zu tun war. Er hatte sich verleiten lassen, das Neue als erstrebenswert zu empfinden, hatte sich stark und unbesiegbar gefühlt - aber gerade der Nimbus der Unbesiegbarkeit war verflogen. Du mußt dich entscheiden! 60 Warum nicht beides? Nur weil die Instanz behauptete, die Transformation zum Wächter könne nur einmal durchlaufen werden? Vielleicht war es bei ihm anders, und er erhielt eine zweite Chance. Schließlich war er nicht freiwillig zum Wächter geworden. Ein Unfall, ja, es war ein Unfall gewesen. Der Roboter hatte ihn dem Menschsein entrissen. »Niemand hat mich aufHope gefragt...« Das ist nicht der Grund für deinen Sinneswandel. »Ich kenne keinen anderen.« Das klang schroff und endgültig. Simon wollte nicht länger darüber nachdenken. Du hast geglaubt, keine andere Wahl zu haben, weil dein ursprünglicher Körper nicht mehr existiert. Ist
es nicht so? Simon schwieg betroffen. Jetzt hoffst du zum erstenmal wieder. Ziehst du nicht in Erwägung, ein aus deiner DNS geklönter neuer
Körper könnte deine Erwartungen enttäuschen?
»Ich will wieder Mensch sein!«, sagte Simon trotzig. »Ist das zuviel verlangt?«
Ich habe mich entschlossen, dir zu helfen, antwortete die Instanz. Die Dienstzeit wird für dich verkürzt.
Allerdings erbitte ich als Gegenleistung deine Hilfe.
»Was soll ich tun?« Du wirst mir die verlorene Verbindung nach Orn ersetzen. Ich brauche Informationen über das Schicksal der Worgun und die Situation in ihrer Heimatgalaxis. Seit der Kontakt abbrach, bin ich in Sorge. »Das kann ich nachvollziehen. Aber eine Galaxis zu erkunden...« Orn durchmißt rund 270.000 deiner Lichtjahre. Simon lachte hell auf. »Das wäre eine Lebensaufgabe«, stellte er unumwunden fest. »Sogar für einen Wächter.« Du erhältst Hilfsmittel. Einen Ringraumer des Standardtyps. »Wie mein neuer Körper ebenfalls der letzte, auf den du Zugriff hast?« Simon erschrak selbst über den zynischen Klang seiner Frage. Das hatte er nicht gewollt. Aber die Instanz achtete nicht darauf, oder sie ignorierte solche Regungen. Es ist in der Tat das letzte Raumschiff, auf das ich Zugriff habe. Der Krieg gegen die Zyzzkt zeigt erschreckende Folgen.
61 »Wie komme ich nach ARKAN-12 zurück, sobald ich meine DNS-Probe habe?« Du stimmst also zu...? »Bleibt mir eine andere Wahl? Ich bin es gewohnt, immer erst dann gefragt zu werden, wenn die Entscheidung längst gefallen ist.« Du kannst noch ablehnen, Simon, und gehen, -wohin du willst. Schleichende Schritte näherten sich. Ein Mensch hätte sie nicht vernommen, aber die Sinne des Wächters waren ein Vielfaches schärfer. Als Simon sich umwandte, kam ein Giant auf ihn zu. Der Gelbhäutige reichte ihm ein banal wirkendes Gerät. Es hatte die Größe eines Schuhkartons und wies kaum äußere Merkmale auf. Das ist ein Arkan-Sender, erklärte die Instanz. Mit Hilfe dieses Apparates kannst du jederzeit nach ARKAN-12 zurückkehren. Aber nur du allein. Ich wußte es doch, dachte Simon betroffen. Ich kann nicht allein entscheiden, selbst wenn dieser Eindruck erweckt werden soll. Traurig war er nicht darüber - weil ihm die Entscheidung in gewissem Sinn abgenommen wurde. Andere Personen, auch einen zweiten Wächter, kannst du nicht nach ARKAN-12 mitbringen, fuhr die Instanz fort. Ebensowenig ein Raumschiff. Dafür wäre ein großer Sender nötig, ähnlich dem auf Zwitt, der aber nicht mehr bedient wird oder nicht mehr funktioniert. Was im Bereich der Sternenbrücke geschehen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Unschlüssig drehte Simon den kleinen Kasten in den Händen. Es gab kaum sichtbare Schaltelemente. Was
blieb ihm anderes übrig, als dem Angebot der Instanz zuzustimmen? Das Schicksal der Mysterious zu
ergründen mit der Aussicht, bald wieder er selbst zu sein - was wollte er mehr?
»Ich bin einverstanden«, sagte er leise.
Die Zweifel ließen sich nicht vertreiben. Obwohl Simon krampfhaft versuchte, sie zu ignorieren, drängten
sie sich immer
62 von neuem in den Vordergrund seines Denkens. Sie fragten, ob er der Aufgabe wirklich gewachsen sein würde. Informationen sammeln - das hatte einfach geklungen, verführerisch leicht geradezu, aber je länger er darüber nachdachte, desto unsicherer fühlte er sich dabei. Anschließend von Om zurück in die heimische Milchstraße, über einen Abgrund von rund zehn Millionen Lichtjahren hinweg? Wie leicht mutete es dagegen an, die eigene DNS von Terra zu holen, aus Noreens medizinischer Datenbank. Mit einer unwilligen Kopfbewegung wischte Simon alle irritierenden Gedanken beiseite. Nur noch ein leichter Schwindel beeinträchtigte ihn. Fünf Minuten, hatte die Instanz gesagt, länger würde die Nachwirkung des Transports nicht anhalten. Simon ertappte sich dabei, daß er die Sekunden zählte. Zugleich wuchs der Ärger auf sich selbst, denn er verlor sich in Banalitäten, anstatt das Große und wirklich Bedeutende in Angriff zu nehmen. Wie ihn die Instanz von ARKAN-12 nach Om versetzt hatte, wußte er nicht. Er vermutete eine erneute Spontanteleportation. Auf jeden Fall befand er sich an Bord eines Ringraumers - ein Schiff mit 180
Metern Außendurchmesser und 35 Metern Ringstärke, vergleichbar Ren Dharks POINT OF. Jedoch war er allein an Bord, während Dharks Mitarbeiter alle Stationen besetzten, angefangen von der Brücke über die Funkzentrale und die Ortungsabteilung bis hin zum Maschinenraum und der Astronomischen Abteilung. Gedankensteuerung! Simon erhielt keine Antwort. Sein zweiter Versuch, das Schiff zu aktivieren, scheiterte ebenso kläglich. Völlige Dunkelheit herrschte. Nicht einmal die Notbeleuchtung war bei seinem Erscheinen aufgeflammt. Doch das Wahrnehmungsvermögen des Wächterkörpers hatte sich in den nichtoptischen Bereich verlagert. Als Mensch hatte sich Simon nie an Bord eines Ringraumers aufgehalten. Das war sein Traum gewesen, so wie viele nach der Befreiung davon geträumt hatten; aber zwischen Traum und Wirklichkeit klaffte ein riesiger Abgrund. 63 Vorübergehend gab er sich seiner Erinnerung hin. Kurz nach seiner Versetzung in den Wächterkörper war
er an Bord eines abgestürzten Ringraumers gelangt. Von den Cerash abgeschossen und abgestürzt,
berichtigte er sich. Augenblicklich hatte er sich an Bord des Wracks zurechtgefunden, hatte die Pläne aller
Decks vor seinem geistigen Auge ausgebreitet gesehen. Die Lage der Maschinenräume war ihm ebenso
bekannt gewesen wie die der Beiboothangars. Er hatte von den Flächenprojektoren des Sublichtef-fekts
gewußt und die Feinheiten des überlichtschnellen Sternen-sogs erkannt. Wirklich erfahren hatte er es nie,
gleichwohl vermutet, daß das Bordgehim des wracken Ringraumers ihm diese Details gedanklich
übermittelt hatte. Die Männer und Frauen um Ren Dhark nannten die Gedankensteuerung Checkmaster.
Ob sie das heute noch tun? sinnierte Simon. Bald würde er einer von ihnen sein, wieder ein Mensch aus
Heisch und Blut. Er freute sich darauf.
Endlich hatte er ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnte. Simon, der Mensch, der ein Roboter gewesen
war - in Gedanken sah er die Schlagzeilen der Medien. Sie würden sich überstürzen, seine Geschichte zu
veröffentlichen.
Simon lauschte der Stille des Ringraumers. Mit einem Mal erschien sie ihm gar nicht mehr bedrohlich.
Er würde die Stille vermissen, sobald er auf die Erde zurückkehrte. Terra war immer noch ein brodelnder
Wurmtopf, verglichen mit den Weiten des Alls.
Zögernd setzte er sich in Bewegung. Die Schritte des massigen Wächters hallten dumpf durch den
Korridor.
Er würde sich entscheiden müssen, was er wirklich wollte.
Wieder Mensch sein... ?
Oder Wächter bleiben, trotz aller Bedrohungen ein übermächtiges Geschöpf...?
Simon verwünschte seine Zweifel, die ihm wenig dienlich waren. Mit ihnen drehte er sich im Kreis, und
genau das wollte er nicht. Er wollte endlich wissen, wo er hingehörte.
64 Warum antwortest du nicht?
Die Gedankensteuerung schwieg. Vielleicht war das Schiff ein Wrack und die Instanz, ging von falschen
Voraussetzungen aus. Dann saß Simon in Om fest, der Heimatgalaxis der Mysterious. Auf einem für ihn
namenlosen Planeten und ohne Aussicht, die Milchstraße zu erreichen.
Simon ballte die Fäuste. Schon spielte er mit dem Gedanken, den Arkan-Sender zu aktivieren, um zur
Instanz zurückzukehren. Wenn er nicht länger hierbleiben wollte - niemand zwang ihn dazu. Nur er selbst.
Tausend Augen starrten ihn aus der Dunkelheit heraus an. Er glaubte ein Raunen und Wispern zu hören,
als steckten die Wände des Schiffes voll lebender Wesen.
Das Unheimliche ängstigte ihn und erfüllte ihn mit Besorgnis. Was würde er vorfinden, wenn er zur Erde
heimkehrte? Wie sehr hatte sich die Heimat in der Zeit seiner Abwesenheit verändert?
Vergeblich versuchte er, alle negativen Gedanken zu unterdrücken, aber seine Phantasie malte ein düsteres
Szenario aus: die Erde, nur noch eine Trümmerwüste... hilflos umherirrende Überlebende auf der Jagd
nach Nahrung... dazwischen die ausgeglühten Wracks einst stolzer Raumschiffe...
Ich will das nicht sehen! wimmerte Simon.
Fremde Raumschiffe im Sonnensystem, über allen Planeten... als hätten sich die Pforten der Hölle
aufgetan und diese Schiffe ausgespien.
Das ist nicht wahr, ächzte er.
Verheerende Gewitterstürme fegten über die Erde hinweg. Lavaströme teilten die Kontinente, die sich
schamhaft unter dichtem Qualm verbargen.
Amerika war zur Trümmerwüste geworden; die großen Städte waren ausradiert. Simon spürte Panik
aufkommen. Der ehemalige Regierungsbereich - Schutt und Asche. Die wissenschaftlichen Einrichtungen,
die Labors, der Trakt, in dem Noreen Welean gearbeitet und alle wichtigen Proben hinterlegt hatte:
zerstört. Aussichtslos, in diesem Chaos nach genetischen Fragmenten suchen zu wollen; das Ende einer
Hoffnung.
Simon glaubte zu schreien. Jäh schreckte er hoch.
65 Fremde, unbekannte Laute kamen über seine Lippen. Ein Code, registrierte er. Vor allem war es nicht er selbst, der sich dieser Worte bediente, sondern der Wächterkörper.
Habe ich keine Macht mehr über ihn? Noch sträubte sich Simon gegen das Gefühl der Hilflosigkeit. Er fragte sich, welche Modifikation die Instanz, am Programm vorgenommen hatte. Das war nur ein Verdacht, keineswegs Gewißheit, aber er wühlte ihn auf.
Ein Schott öffnete sich. Vor ihm lag die Zentrale des Raumers, in schattenlose Helligkeit getaucht.
Du bist willkommen, Wächter! wisperte eine lautlose Stimme.
Simon lachte zynisch auf. Meinst du mich oder den Roboter?
Ist das nicht das gleiche?
Das sollte es sein - oder auch nicht. Ich weiß nicht - nicht so genau jedenfalls, fügte Simon hinzu.
Er betrat den imposanten Kontrollraum. Die Leere hatte etwas Ernüchterndes, beinahe Zeitloses.
Das ist mein Schiff? dachte Simon.
Es steht dir zur Verfügung.
Für wie lange?
Ohne Einschränkung. Solange es für deinen Auftrag wichtig ist.
Simon nickte zögernd. Bis er sich bewußt wurde, daß niemand die Geste des gesichtslosen roten Hünen sah. Er ließ den Blick schweifen, nahm alle neuen Eindrücke begierig in sich auf.
Wie alt ist das Schiff? Die Antwort nannte eine Zahl, die Simon mit ungefähr tausend irdischen Jahren interpretierte. Hat es einen Namen?
Du kannst den Ringraumer nach deinen Wünschen benennen.
Alle Funktionen einwandfrei?
Der Raumer ist voll einsatzfähig.
Noch einmal nickte Simon. Nicht mehr so zögernd wie zuvor, eher schon zuversichtlich.
Es tat gut, nach allem, was geschehen war, die eigene Stärke aufgewertet zu wissen. Mit raumgreifenden Schritten ging er zur Kommandosteuerung, dem Instrumentenpult mit Piloten- und Kopilotensitz. Das Schiff war also nicht nur für den automatischen Betrieb konstruiert worden.
66 »WELEAN«, murmelte er und lauschte dem Klang des Namens, den er prompt laut ausgesprochen hatte. »NOREEN WELEAN. -Ja, so nenne ich dich.« Vielleicht war seine Spontaneität ein gutes Omen. Er hoffte es.
5. Eylers' Agenten agierten nicht nur auf terranischem Terrain, sie wurden auch auf fremden Planeten tätig,
falls es erforderlich war. Seine beiden besten Männer waren der Türke Ömer Giray und der Niederländer
Jos Aachten van Haag. Im Dienste der Organisation und der Menschheit scheuten beide kein Risiko.
Insbesondere Jos war Agent aus Leidenschaft. Der vierzigjährige, große, schlanke Mann mit den braunen
Haaren gehörte der GSO seit deren Gründung an. Er verfügte über einen unerklärlichen Instinkt, der ihn
unmittelbare Gefahren spüren ließ, was ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Seine feine
Kleidung und seine exzellenten Manieren verliehen ihm stets einen leisen Hauch von Adel.
Allerdings konnte er auch aus der Rolle fallen, wenn es sein Auftrag von ihm erforderte. Wo ihm seine
Intelligenz nicht weiterhalf, ließ er Fäuste und Waffen sprechen. Gegen Alkohol war er nahezu resistent;
selbst nach durchzechter Nacht wirkte er nie betrunken.
Eylers hatte van Haag in sein Büro bestellt. Der Spezialagent, der es gewohnt war, mit den kniffligsten,
riskantesten Aufgaben betraut zu werden, staunte nicht schlecht, als ihm der GSO-Leiter den neuen
Auftrag erteilte.
»Es sind Gerüchte aufgetaucht, Terence Wallis wolle seinen FirmensTarnmsitz verlegen - von Pittsburgh
nach Australien. Finden Sie heraus, ob das zutrifft, Jos, und was er damit bezweckt. Die Werksverlegung
erscheint mir total unsinnig und würde nur unnötige Kosten verursachen.«
»Na und?« entgegnete van Haag. »Was geht's uns an? Wallis kann sein Geld ausgeben, wofür es ihm
beliebt. Meinethalben kann er es verbrennen.«
68 »Die Regierung hätte mit enormen Steuerausfällen zu rechnen, schließlich sind Firmenumzugskosten steuerlich absetzbar.«
»Wollen Sie mich verscheißem, Bernd? Ich soll allen Ernstes bei Wallis Industries spionieren, weil die
Regierung ein paar Steuerausfälle befürchtet? Daß ich mein Leben lang fürs Finanzamt arbeite, habe ich
längst begriffen, aber daß ich neuerdings beim Finanzamt tätig bin, muß mir wohl irgendwie entgangen
sein. Warum beauftragen Sie nicht irgendeinen überbezahlten Finanzbeamten mit diesen läppischen
Nachforschungen? Haben Sie vergessen, wie hoch mein Gehalt ist und wie teuer meine Ausbildung war?
Einen Spitzenagenten wie mich setzt man sparsam ein, man verschwendet seine Fähigkeiten nicht für
Kleinkram.«
Jos Aachten van Haag erhob sich aus seinem Sessel. Er reichte Bernd Eylers, der ihm gegenübersaß, die
Hand.
»Nichts für ungut, doch daheim wartet auf mich ein scharfes Chili, zubereitet von einer noch schärferen
Mexikanerin. Geben Sie mir Bescheid, wenn es etwas wirklich Wichtiges zu tun gibt.«
Eylers ignorierte die ihm entgegengestreckte Hand und blickte seinem Agenten fest in die Augen.
Daraufhin ließ Jos den Arm sinken.
»Ich habe keine andere Wahl, wie?«
Der wortkarge GSO-Leiter bestätigte ihm die Frage mit einem kurzen Kopfnicken und fügte hinzu:
»Nicht, wenn Sie Ihr hohes Gehalt auch weiterhin beziehen wollen.«
»Warum?« hakte van Haag nach. »Was ist so besonders an einem harmlosen Firmenumzug?«
»Wenn der reichste Mann Terras überraschend aktiv wird, ohne daß es einen Sinn ergibt, ist das alles
andere als harmlos«, antwortete ihm sein Chef. »Wallis ist ein ausgebuffter Hund, dem man nicht weiter
trauen darf, als man eine schwangere Elefantenkuh werfen kann. Er plant irgend etwas Weltbewegendes,
Bedeutsames, und ich will wissen, was es ist.«
»Befürchten Sie denn, er könnte zu einer Bedrohung für die Regierung werden?«
»Es gibt keine begründeten Verdachtsmomente, und trotzdem... Terra steht vor einer wichtigen politischen
Entscheidung, vielleicht sogar vor einer krassen politischen Wende, das wird der Ausgang
69 der Wahl zeigen. Wallis könnte die Unsicherheit in der Bevölkerung ausnutzen, um eigene Ziele
durchzusetzen. Ziele, die möglicherweise mit unserer Verfassung nicht vereinbar sind.«
»Sie sehen Gespenster«, meinte Jos. »Wallis ist reich, er besitzt Macht, er hat alles, was man sich nur
wünschen kann. Auf was sollte er es abgesehen haben?«
Eylers zuckte mit den Schultern. »Auf noch mehr Macht? Ich weiß es nicht, doch ich habe ein ungutes
Gefühl bei der Sache. In letzter Zeit gab es einige Querelen zwischen ihm und Trawisheim. Später schloß
Wallis mit Marschall Bulton ein Riesengeschäft ab, wobei er sich verdächtig großzügig verhielt. Er
verkaufte ihm zwölf Ikosaederraumer für den Preis von elf.«
Van Haag sah darin noch immer nichts Verdächtiges.
»Freie Marktwirtschaft«, bemerkte er nur. »Na schön, ich nehme den Auftrag an, es bleibt mir eh nichts
anderes übrig.«
Dem gab es nichts mehr hinzuzufügen.
Pittsburgh, Pennsylvania - schon Bing Crosby und Guy Mitchell hatten diese Stadt besungen, obwohl sie
alles andere als romantisch oder anheimelnd war. Der auf einer Halbinsel zwischen den Quellflüssen des
Ohio gelegene Ort zählte zu den größten Schwerindustriegebieten der Erde und war ein bedeutender Bin
nenhafen. Hier lag der Endpunkt der Schiffahrt auf dem Ohio, hier gab es Forschungszentren und
Universitäten, hier wurden wissenschaftliche Kongresse abgehalten, sprich: Pittsburgh war in erster Linie
nach praktischen Gesichtspunkten errichtet worden und nicht nach ästhetischen.
Dennoch hatte diese Stadt, deren erste Universität bereits 1787 gegründet worden war, etwas
Faszinierendes an sich. Besucher konnten sich gar nicht genug an ihr satt sehen. Hier gab es so viel zu
sehen und zu erleben, daß man immer wieder gern zurückkam. Kulturstätten, Luxushotels,
Seemannskneipen... Pittsburgh vereinte die unterschiedlichsten Gebäudestile perfekt zu einem Ganzen.
Der Gasthof »The Big Mamas and the Papas« - von den Ein
70 heimischen kurz »The Big« genannt - lag im östlichen Teil der Stadt. »Montag geschlossen« stand auf einem Schild an der Tür. An den übrigen sechs Tagen hatte das Lokal von zwölf bis Mitternacht geöffnet. Rein äußerlich machte der triste, große Flachdachbau nicht viel her. Nach dem Eintreten fühlte man sich jedoch wie in eine andere Welt versetzt. Eine Welt, die sich zweifelsohne dem Motto verschrieben hatte: Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen. In der voluminösen Gaststube reihte sich Tisch an Tisch, und meist waren fast alle besetzt. Zahlreiche Kellner und Kellnerinnen balancierten geschickt ihre vollen Tabletts durch die Reihen. Kein Gast mußte lange warten. Kaum stand der Teller auf dem Tisch, war er auch schon halbleer, so gut schmeckte es. In den Servierschüsseln häuften sich Berge von dampfendem Fleisch - gekocht, gebraten, gegrillt, geschmort.... die leibhaftige Provokation für jeden Vegetarier, weshalb das Lokal von Kömer-fressem aller
Art gemieden wurde. (Von Vögeln insbesonders -die landeten gleich in der Bratpfanne.) Auch der Anblick des Personals wirkte provozierend. Kein Bediensteter wog unter neunzig Kilo, und ein jeder von ihnen strotzte nur so vor Lebensenergie, den erhobenen Zeigefingern selbsternannter Gesundheitsapostel zum Trotz. An der hinteren Wand erstreckte sich eine lange Theke. Obwohl dort mehrere dicke Männer und Frauen im Eiltempo die Zapfhähne bedienten, kamen sie mit dem Bierausschank kaum nach. Wem es zu lange dauerte, konnte auch Flaschenbier bestellen. Vor allem Starkbier war der Renner, weil das schneller ins Blut schoß als die handelsübliche Diätbrühe, die in den Supermärkten angeboten wurde. Im »Big« wurde niemand bis aufs Hemd ausgezogen. Die Mahlzeiten und Getränke waren auch für die Träger kleinerer Geldbeutel erschwinglich. Niemand mußte das Lokal hungrig verlassen, kostenfreien Nachschlag gab es bis zum Abwinken. Je mehr ein Gast in sich hineinschaufelte, um so breiter wurde das Lächeln der Bedienung, denn gute Esser waren zumeist auch gute Trinkgeldgeber.
71 Zu empfindlich durfte man allerdings nicht sein, denn eine Rückgabe der Speisen wurde nicht gern gesehen. Entdeckte man eine ausgedrückte Zigarettenkippe dort, wo sie nicht hingehörte -beispielsweise in der Frikadelle statt im Aschenbecher - machte man besser kein großes Aufheben davon. Es war ratsam, das Corpus delicti diskret zu entfemen und weiterzuessen als sei nichts geschehen. Andernfalls legte man sich mit dem Koch an, einem bulligen Rotschopf irischer AbsTarnmung. Iron McLetter verstand keinen Spaß, wenn man seine Kochkunst anzweifelte. Der notorische Kettenraucher war mit der Besitzerin des Lokals verheiratet, einer enorm vollbusigen Mexikanerin namens Marita Concha. Marita hatte ihr Personal und ihre Gäste stets fest im Griff und war immer für Neuerungen aufgeschlossen. Vor Jahren hatte ihr ein übereifriger Restaurantkritiker vorgehalten, ihr Lokal sei nichts weiter als ein »niveauloser Sauf- und Freßtempel ohne kulturellen Anspruch«. Daraufhin hatte sie sofort reagiert und sich Kultur en masse ins Haus geholt. In den Nebenräumen konnte man inzwischen Billard, Tischfußball und Dart spielen oder sich an verschiedenen Spielautomaten vergnügen. Außerdem stellte sie ein verstecktes Hinterzimmer für illegale Pokerpartien zur Verfügung. Gnadenlos sackte sie zehn Prozent des Gewinns ein, die sie beim Ausfüllen ihrer jährlichen Steuererklärung schlichtweg zu vergessen pflegte. Ein außergewöhnliches Lokal wie »The Big« brauchte keine außergewöhnlichen Gäste, um existieren zu können. Im Gegenteil, es war jede Gesellschaftsschicht vertreten. Der Geschäftsmann, der seinen Kunden Pittsburghs Attraktionen zeigte, ließ sich hier Steaks und Schnitzel genauso munden wie der Familienvater, der Frau und Kinder mal so richtig satt bekommen wollte. Hauptklientel waren Arbeiter, denn wer den ganzen Tag über in den Werkshallen tüchtig zupackte, war nach Feierabend hungrig wie ein Stier. »Davon habe ich seit heute morgen geträumt«, stöhnte Lern Shagg, der als Ingenieur für Wallis Industries tätig war, und klopfte sich auf den Bauch. »Den Magen voller Kraut und Gulasch, die Füße unter dem Pokertisch ausgestreckt, ein volles 72 Bierglas in der Hand... fehlt nur noch eine fesche Mieze auf dem Schoß.« »Das könnte dir so passen«, bemerkte Jacques Movelier, seines Zeichens Textilhändler und STarnmgast in diesen Räumlichkeiten. »Du sollst nicht fummeln, sondern Karten spielen.« »Manche Mitmenschen gönnen einem nicht das kleinste Vergnügen«, erwiderte Shagg grinsend. »Dabei gibt es nach einem arbeitsreichen Tag nichts Entspannenderes als eine dralle Dame -natürlich erst im Anschluß an unseren Pokerabend.« »Nach einem arbeitsreichen Tag«, äffte Movelier ihn nach. »Daß ich nicht lache! Die meiste Arbeit in den Fabriken erledigen heutzutage doch die Roboter.« »Da irrst du dich aber gewaltig«, widersprach der Ingenieur beleidigt. »Gerade in letzter Zeit wird uns allen eine Menge abverlangt.« »Tatsächlich?« warf der Schriftsteller Arthur Conan ein, der mit den beiden am Pokertisch saß und mit starrer Miene auf seine Karten blickte. »Arbeitet man bei Wallis schon wieder an einer neuen Erfindung?« Shagg hatte den elegant gekleideten Buchautor an diesem Abend an der Bierbar kennengelernt und ihn später mit ins Hinterzimmer genommen. Normalerweise hockten dort im Schnitt sechs bis zehn Pokerspieler zusammen, doch heute schien außer Movelier niemand Lust auf eine Partie zu haben. »Über Firmenintema darf ich nicht reden«, wich Shagg Conans Frage aus. »Das dürfte dir nicht sonderlich schwerfallen - da du nicht das geringste darüber weißt, stimmt's?« stichelte Conan. »Nicht sonderlich viel«, räumte Shagg ein und nahm einen kräftigen Schluck Starkbier. »Mir und den übrigen Mitarbeitern wurde lediglich mitgeteilt, daß demnächst einige einschneidende Veränderungen ins Haus stehen. Genug jetzt, ich darf wirklich nichts darüber sagen. Drüben in der Schankstube sitzt Mark
Löwe; er gehört zum Sicherheitsteam von Wallis Industries. Würde er herausbekommen, worüber wir gerade sprechen, könnte ich mir morgen früh im Personalbüro meine Papiere abholen.« »Befürchtest du, dieser Raum ist verwanzt?« entgegnete Move 73 Her. »Keine Sorge, das würde Marita niemals zulassen. So, und nun laßt uns endlich weiterspielen, ihr
lahmen Enten. Meine Oma zockt ja schneller als ihr. Ich denke, du hast nachher noch was vor, Lern.«
»Für eine willige Dame wird er kein Geld mehr haben, wenn ich mit ihm fertig bin«, bemerkte Conan
abfällig und legte ein paar Scheine auf den Stapel in der Tischmitte. »Gleich ziehe ich ihm das Fell über
die Ohren.«
Die Bedienung brachte neue Biere. Der Alkohol löste allmählich Shaggs Zunge.
»Du bluffst doch nur«, hielt er dem großspurigen Schriftsteller vor. »Im übrigen kann ich es mir locker
leisten, ein bißchen was zu verlieren. Demnächst erwartet mich nämlich eine Gehaltsanhe-bung von sage
und schreibe zwanzig Prozent.«
»Hängt das mit den angekündigten einschneidenden Veränderungen zusammen?« hakte Conan rasch nach.
»Laß mich raten:
Wallis expandiert und eröffnet in absehbarer Zeit eine weitere Filiale, in die du versetzt wirst. Kriegst du
einen leitenden Posten?«
»Geht das schon wieder los?« beschwerte sich der Textilkauf-mann. »Pokern wir, oder halten wir
Volksreden?«
Im weiteren Verlauf des Abends schlug auch bei ihm das starke Gebräu zu. Laufend klappten ihm die
Augenlider herunter.
Lediglich bei Arthur Conan schien das Bier nicht anzuschlagen. Er verfiel weder in Geschwätzigkeit noch
wurde er müde.
»Ihr Schreiberlinge könnt wirklich einen ordentlichen Stiefel vertragen«, murmelte Movelier beim
endgültig letzten Kartendurchgang.
»Logisch«, meinte Conan. »Nicht wenige berühmte Schriftsteller soffen sich zu Tode. Denken Sie nur an
Edgar Allan Poe. Die Nachwelt fragt sich noch heute, in welchen Kneipen und Etablissements er die Tage
kurz vor seinem Ableben verbracht hat. Leider konnte er selbst nichts mehr darüber erzählen. Es heißt, er
soll auf seiner letzten Sauftour Schreckliches erlebt haben.«
Bald darauf verließ Conan als erster den hinteren Trakt. Aufrechten Schrittes durchquerte er die
Schankstube und ging aus dem Lokal.
Movelier folgte ihm wenige Minuten später, müde wie Hund.
74 Auch ihn zog es an die frische Luft.
Lern Shagg kam als letzter. Er schwankte schon ein wenig, fühlte sich aber noch munter genug für ein
abschließendes Bierchen an der langen Theke.
Der Wallis-Sicherheitsmann Mark Löwe hatte geduldig auf ihn gewartet. Er legte ihm eine Hand auf die
Schulter und forderte ihn zum Mitkommen auf.
»Shagg hat zugegeben, daß der angebliche Schriftsteller während des Pokerspiels laufend versucht hat, ihn
über den geplanten Firmenumzug auszuhorchen«, informierte Mark Löwe am nächsten Morgen die
Leiterin des WI-Sicherheitsdienstes in deren Büro. »Ob er etwas in Erfahrung gebracht hat, kann ich nicht
sagen. Shagg behauptet, er habe eisern geschwiegen, doch ich traue ihm nicht über den Weg. Er ist ein
feiner Kerl, wenn allerdings der Alkohol bei ihm zuschlägt...«
Liao Morei winkte ab. »Shagg ist nur ein winziges Zahnrädchen in einem großen Getriebe. Was er über
Wallis' Pläne weiß, paßt auf einen Stecknadelkopf. Konnten Sie die Identität seines trinkfesten Mitspielers
in Erfahrung bringen?«
Löwe nickte. »Daß der Kerl kein Schriftsteller ist, war mir von Anfang an klar. Den ganzen Abend über
stellte er den Gästen im Big merkwürdige Fragen, und zwar ausschließlich denen, die für Wallis Industries
arbeiten. Daher hielt ich ihn zunächst für einen verkappten Journalisten. Später gab ich dann seine
Beschreibung in den Computer ein, mit positivem Ergebnis. Wissen Sie, für wen der Mann spioniert?
Halten Sie sich fest...«
»Bis in die Nacht hinein war ich unter dem Decknamen Arthur Conan in diversen Kneipen unterwegs, auf
der Suche nach WI-Mitarbeitem«, berichtete zur selben Zeit Jos Aachten van Haag seinem Vorgesetzten
in dessen Büro. »Vor allem im Big traf ich auf gesprächsfreudige Gäste. Mehrfach wurde mir bestätigt,
daß
Terence Wallis beabsichtigt, seinen Hauptsitz an einen neuen Firmenstandort zu verlegen. Er übernimmt
sämtliche Umzugskosten seiner Mitarbeiter und deren Familien. Außerdem kann sich jeder, der mitzieht,
auf eine Gehaltsanhebung von 20 Prozent freuen.«
»Machen Sie es nicht so spannend«, erwiderte Bernd Eylers. »Zieht Wallis Industries wirklich nach
Australien? Und was wird aus dem leerstehenden Werksgelände in Pittsburgh?«
»Unter den Mitarbeitern kursieren nur Gerüchte. Es heißt, Terence Wallis wolle die Werkshallen abreißen
lassen und das Gelände verkaufen. In Australien läßt er dann neue Gebäude errichten.«
»Australien steht somit als neuer Standort endgültig fest?«
»Einen definitiven Beweis dafür gibt es bisher nicht. Oftmals war nur von wärmeren Gefilden die Rede,
ohne Ortsangabe.«
»Mit derlei Halbinformationen kann ich nur wenig anfangen«, knurrte Eylers ungehalten. »Machen Sie
weiter, bis Sie Genaueres herausgefunden haben. Am besten, Sie schlagen Ihre Zelte dauerhaft im Big auf,
das erscheint mir am vielversprechendsten.«
»Ist das ein Ratschlag oder ein Befehl?« fragte van Haag.
Der GSO-Leiter widmete sich einigen Unterlagen auf seinem Schreibtisch, als habe er die Frage nicht
gehört.
Also ein Befehl, dachte Jos Aachten und ging hinaus.
»Was ist eigentlich dran an den Gerüchten über Australien?« erkundigte sich Mark Löwe, kurz bevor er
Liaos Büro verließ.
Er erhielt nur eine ausweichende Antwort.
»Die Sache steckt noch in der Planungsphase. Sobald ich mehr darüber weiß, gehören Sie zu den ersten,
die alles erfahren. Sie haben gute Arbeit geleistet, Mark. Halten Sie sich von nun an bitte fern von van
Haag, den knöpfe ich mir persönlich vor. Bei nächstbester Gelegenheit statte ich >Arthur Conan< im Big
einen kleinen Besuch ab. Ich war schon immer ein Fan von hochgeistiger Literatur und habe bereits als
kleines Kind davon geträumt, mal einem waschechten Schriftsteller mein zartes Händchen reichen zu dür
fen.«
76 Kein Planet. Auf gewisse Weise reagierte Simon enttäuscht, als sich die Bildwiedergabe aufbaute. Unbewußt hatte er gehofft, blühende Wiesen, grüne Wälder, blauen Himmel und in großer Höhe treibende Wolkenbänke zu sehen - statt dessen nackte, nur roh bearbeitete Felsen. An einigen Stellen schimmerte Metall im Scheinwerferlicht. Die Höhle wirkte auf ihn wie ein Flickenteppich, den Unbekannte begonnen, aber nicht zu Ende gebracht hatten. Sie war ein Hangar, groß genug für mehrere Ringraumer, ohne erkennbare Schleusen. Doch das bedeutete kein echtes Hindernis; die Schiffe der Mysterious durchflogen den gewachsenen Fels im Schutz ihres künstlichen Zwischenraums, des Intervallfelds. Die NOREEN WELEAN war das einzige Schiff. »Vergessen«, murmelte Simon im Selbstgespräch. »Es sieht aus, als hätte man den Ringraumer hier vergessen.« Im Hintergrund der Höhle gab es technische Anlagen. Möglicherweise dienten sie zur Überholung und Wartung; eine Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser erschien hingegen keineswegs gewährleistet. Die Außenbeobachtung zeigte einen schroffen und unregelmäßig geformten öden Felsbrocken - einen langsam rotierenden Asteroiden in der Unendlichkeit. Nur vage zeichneten sich seine Umrisse gegen den Hintergrund eines Sternenbandes ab. Es gab keine nahe Sonne, die Krater und schroffe Grate in ein Meer aus Licht und scharf abgegrenzten Schatten getaucht hätte. Vielmehr gähnte in der Wiedergabe ein dunkles Nichts, ein Bereich, in dem kein einziger Stern zu sehen war, als hätte ein hungriges Ungetüm alle Sonnen verschluckt. Eine sehr nahe Dunkelwolke. Der Asteroid würde in den nächsten Jahrzehnten ihre Ausläufer durchqueren und mit großer Wahrscheinlichkeit abgebremst werden. Die Ortung verriet Simon, daß der Stützpunkt tief in den gewachsenen Fels hineinreichte. Früher mochte der Asteroid strategische Bedeutung besessen haben, heute waren alle Anlagen abgeschaltet. Der Status der NOREEN WELEAN ging nach wie vor nicht über 77 die Wartebereitschaft hinaus. Für den Wächter bedeutete es jedoch keine Mühe, das Schiff in den
nächsthöheren Betriebsmodus zu versetzen.
Wie steht es mit dem Treibstoffvorrat? fragte Simon lautlos.
Die Toßrittanks sind gefüllt. Das gewährleistet eine Betriebsdauer von einem Jahr im Vollbetriebsmodus.
Zu wenig, entschied Simon spontan und fügte ebenso rasch hinzu: Wir wissen nicht, was uns erwartet.
Eine zweite Tankfüllung lagerte in einem Randbereich des Hangars. Simon reagierte verblüfft auf die
Aussage der Gedankensteuerung, daß ein Kubikmeter des hochkomprimierten Treibstoffs einer Masse von
481.000 Tonnen entsprach. Nie hätte er versucht, einen solchen Wert überhaupt zu berechnen. Er nutzte die Technik der Mysterious, soweit sie für ihn von Vorteil war, aber er hinterfragte sie nicht; das sollten andere tun, die mehr von der Materie verstanden. Immerhin erteilte er die Anordnung, auch die zweite
Tankbefüllung an Bord zu nehmen. Geraume Zeit verging, bis die Arbeitsroboter des Ringraumers den Treibstoff an Bord geholt hatten. Anfangs beobachtete Simon den Verladevorgang noch mit Interesse, später wandte er sich den Sternkarten zu. Die Instanz hatte von einem großen Arkan-Sender gesprochen, über den sogar Raumschiffe versetzt werden konnten. Mit Hilfe der Gedankensteuerung fand Simon sehr schnell die Koordinaten des Senders. Wo sollte er sonst ansetzen? Er wußte es nicht. Aber gerade ein solcher Stützpunkt, der von Gegnern möglicherweise zerstört worden war, erschien ihm interessant. »Irgendwo«, sagte Simon im Selbstgespräch, »muß ich anfangen, wenn ich Erfolg haben will.« Sein Weiterleben als Mensch hing davon ab, in seinem alten Körper, dessen Behäbigkeit er manchmal verwünscht hatte, der ihm heute jedoch wieder erstrebenswert erschien. Vielleicht sollte er sich von der Instanz zudem ein weibliches Gegenstück erschaffen lassen. Ein verlockender Gedanke war das, blasphemisch und aufreizend zugleich. Simon ließ prompt eine Verwünschung folgen. Er war bis heute Mensch 78 geblieben, das erkannte er deutlich. Wäre sonst immer nur das interessant gewesen, was er gerade nicht haben konnte?
Sekundenlang schwebte der Ringraumer nur wenige Meter über dem glasiert wirkenden Untergrund, dann wurde das Intervallfeld aktiv. Gleichzeitig mit dem Hochfahren der Hauptfunktionen hatte sich die Bildkugel aktiviert. Simon versank beinahe in der perfekten optischen Wiedergabe; der Eindruck, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um die Felswand zu berühren, in die das Schiff langsam einflog, war überwältigend. Für das Auge hörte der Asteroid in diesem Bereich zu existieren auf. Zwei jeweils drei Kilometer durchmessende Kugelsphären, die einander zu einem Fünftel durchdrangen, das war der äußere Eindruck des Intervallfelds, in dessen Überlappungsbereich die NOREEN WELEAN als blauviolett schimmernder Ring schwebte. Der Hangar verschwand aus dem Erfassungsbereich. Sekundenlang war das Schiff in massivem Fels eingeschlossen und Simon versuchte sich vorzustellen, wie der Jungfernflug der POINT OF begonnen haben mußte, die auf Deluge unter einem vier Kilometer hohen Bergmassiv gelegen hatte. Kein Mensch hätte sich anfangs träumen lassen, daß es so einfach war, ein Raumschiff durch feste Materie hindurchzufliegen. Wir verlassen den geschützten Bereich! meldete die Gedankensteuerung. Simon fragte nicht nach, der Asteroid bedeutete ihm nichts. Ihn faszinierten die Sterne und die Dunkelwolke. Om war bedeutend größer als die Milchstraße, entsprechend imposant erschien die fremde Galaxis aus einer Perspektive, die einen guten Überblick ermöglichte. Die Zentrumsballung, ein Meer von Sternen und Farben, wurde zur Hälfte von der Dunkelwolke verdeckt. Die NOREEN WELEAN beschleunigte mit Höchstwerten. Der Sublichteffekt würde den Ringraumer innerhalb kurzer Zeit Lichtgeschwindigkeit erreichen lassen. Weit griffen die Ortungen in den Raum hinaus. Sie erfaßten kein 79 anderes Raumschiff. Dann schaltete die Steuemng von SLE auf Sternensog um. Die NOREEN WELEAN überschritt die Lichtgeschwindigkeit und wurde weiter beschleunigt. Die ersten Sonnen zogen vorbei, Sterne ohne Planeten oder mit Asteroidenschwärmen auf Umlaufbahnen, die einst von größeren Welten eingenommen worden waren. Zerbrochene Planeten. Ob veränderte Gravitationskräfte daran schuld waren, die Kollision mit kosmischen Irrläufern oder intelligente Wesen, ließ sich nicht feststellen. Simon hätte den rasenden Flug unterbrechen müssen, aber genau das wollte er nicht. Mit jeder Stunde, in der die NOREEN WELEAN Hunderte Lichtjahre zurücklegte, wuchs sein Wissen über das Schiff. Die Distanzortung gab Alarm. Eine Flotte plumper Raumer lag plötzlich auf Kollisionskurs. Aber die aufgefangenen Energiewerte waren zu schwach für eine potentielle Gefahr. Und nach wenigen Minuten verschwanden die Schiffe wieder aus der Ortung. Offensichtlich waren sie in Transition gegangen. Immer wieder schweiften Simons Gedanken ab. Er war erregt und unruhig und stellte seine eigene Entscheidung in Frage. Er war ein Mensch und würde immer ein Mensch bleiben, aber ebensogut würde er sich schon bald an den neuen Wächterkörper gewöhnt haben - ein Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien. Er mußte sich ablenken, wenn er nicht verrückt werden wollte. Den Sternensog beenden, ich übernehme das Schiff! Die Gedankensteuerung befolgte den Befehl. Der Weltraum wurde wieder zu dem, was er war, nämlich eine Ansammlung fixer Sterne, von denen nur wenige eine Färb Verschiebung erkennen ließen. Noch lag
die Geschwindigkeit des Ringraumers nahe am kritischen Bereich der Zeitdilatation. Intervallfeld abschalten! Das künstliche Raum-Zeitgefüge erlaubte den überlichtschnellen Flug ohne Entmaterialisation, behinderte aber eine Transition. Simon hoffte, möglichst schnell ans Ziel zu kommen. Der zeitlose Sprung über große Distanzen hinweg erschien ihm dafür weitaus geeigneter. Ich übernehme die Steuerung und die Waffensysteme. Deine Be 80 reiche sind bis auf Widerruf nur die peripheren Systeme. Die Gedankensteuerung bestätigte.
Simon lachte leise. Wenn das nicht der Weg war, das Angenehmen mit dem Nützlichen zu verbinden...
Bis er wieder Mensch sein durfte, würde er die Technik der Mysterious perfekt beherrschen. Mit diesem
Wissen in die Raumflotte aufgenommen zu werden, konnte keine Probleme bereiten. Dann hatte er den
Weltraum wieder und die Einsamkeit - und das Gefühl, den Geheimnissen der Schöpfung näher zu sein als
jeder andere Mensch.
»Halten Sie es für möglich, daß die GSO ebenfalls ein Dossier über mich abgespeichert hat?« fragte Liao
Morei ihren Chef im Verlauf eines vertraulichen Vieraugengesprächs. »Schließlich besitzen wir zahlreiche
Informationen über Jos Aachten van Haag;
das könnte doch umgekehrt ebenso der Fall sein.«
Terence Wallis winkte ab. »Vergessen Sie's. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Liao, aber für Bernd
Eylers und seine Leute sind Sie ein viel zu kleines Licht. Daß wir über Leute wie van Haag oder Giray
Informationen gesammelt haben, liegt in der Wichtigkeit ihrer Person begründet. Wo und wann immer es
auf der Welt brennt, schickt man die beiden zum Löschen, gemeinsam oder getrennt. Die Jungs zählen
zweifelsohne zu Terras Geheimagentenelite - im Gegensatz zu Ihnen, Liao.«
»Danke für die Blumen«, entgegnete die Chinesin mit leichter Ironie. »Ihre Fähigkeiten auf dem Gebiet
der Mitarbeitermotivation erstaunen mich immer wieder aufs neue. Ist dieses Talent angeboren, oder
mußten Sie dafür hart an sich arbeiten?«
»Ich schenke meinen Mitarbeitern keine Blumen, sondern bezahle sie lieber anständig - das ist Motivation
genug«, erwiderte der Milliardär. »Sie zählen zu den Besten in Ihrer Branche, Liao, und das wissen Sie.
Doch die Regierung hätte viel zu tun, würde sie von jedem Sicherheitsdienstleiter auf der Welt Dossiers
anfertigen und abspeichem. Dafür gibt es viel zu viele von euch. Spezialagenten wie van Haag und Giray
muß man hingegen mit der Lupe suchen.«
81 »Nun übertreiben Sie mal nicht. Auf Terra wimmelt es nur so von Agenten aller Couleur. Zugegeben, die
Menschheit hat den beiden viel zu verdanken, dennoch sollten wir sie nicht allzusehr mit Lob überhäufen.
Nebenbei bemerkt: Giray scheint mir der Sympathischere zu sein. Van Haag macht auf mich einen
ziemlich abgehobenen Eindruck. Wahrscheinlich steigen ihm seine Erfolge allmählich zu Kopf.«
»Finden Sie ihn eigentlich attraktiv?«
»In gewisser Weise schon«, gab Liao Morei offen zu, ohne bei dieser sehr direkten Frage zu erröten.
»Zumindest würde ich ihn nicht sofort von der Bettkante stoßen.«
»Nicht sofort?« wunderte sich Wallis. »Wann dann?«
Liao blieb ihm die Antwort nicht schuldig. »Gleich morgens nach dem Aufstehen.«
Wallis mußte unwillkürlich lachen. »Heißt das, er bekäme kein Flühstück?«
»Van Haag ist kein Mann, mit dem ich gerne frühstücken würde. Er dürfte sich noch duschen und rasieren,
und anschließend würde ich ihn heimschicken, vorausgesetzt, wir hätten uns in meiner Wohnung
vergnügt. Würde ich mich am Morgen in seinem Schlafzimmer wiederfinden, könnte ich mich
klammheimlich verdrücken, während er noch im Bad beschäftigt ist. Was soll die intime Fragerei?
Erteilen Sie mir den Auftrag, mich privat mit dem GSO-Agenten einzulassen?«
»Sie sollen Jos Achten van Haag aushorchen und herausfinden, was er weiß - wie Sie es ohnehin
vorhatten«, stellte Terence Wallis klar. »Zudem werden Sie ihn auf eine falsche Fährte locken. Wie Sie
Ihren Auftrag erledigen und wie weit Sie dabei gehen, bleibt einzig und allein Ihnen überlassen.«
»Falsche Fährte?« Die Frau von der Sicherheit horchte auf. »Hört sich an, als hätten Sie einen Plan.«
»Den habe ich, und ich würde es lieben, wenn er funktioniert«, bestätigte Wallis grinsend und zündete sich
eine Zigarre an. »Ich beabsichtige, eine verdeckte Kauf anfrage für ein großes Küstenareal in Australien
herauszulassen. Offiziell steckt eine Immobilienfirma dahinter, doch die GSO wird rasch ermitteln, daß
Wallis Industries die Fäden in der Hand hält. Ihre Aufgabe ist es, van
82 Haag auf die Anfrage aufmerksam zu machen. Dezent, versteht sich; er muß das Gefühl haben, von allein auf die Zusammenhänge zwischen dem geplanten Grundstückskauf und dem Umzug von WI gestoßen zu
sein.«
»Kein Problem«, meinte Liao. »Allerdings müßte ich dann das Geheimnis um meine Person zu gegebener
Stunde lüften.«
»Nicht Sie, Liao«, widersprach Wallis. »Van Haag wird derjenige sein, der Sie enttarnt - zumindest soll er
das glauben. Werfen Sie ihm nur einen winzigen Hinweis vor die Füße, und schon stellt er von sich aus
weitere Ermittlungen an. Die Agenten der GSO sind oftmals undurchschaubar, aber eine Berufskrankheit
haben sie alle gemeinsam: die Neugier.«
Jos Aachten van Haag fiel die attraktive Chinesin sofort auf, kaum daß sie die Schankstube des »The Big
Mamas and the Papas« betreten hatte. Er saß an der langen Theke, mit Blickrichtung zur Eingangstür, und
musterte unauffällig jeden neuen Gast. Eine faszinierende Erscheinung wie Liao Morei konnte seinem
Kennerblick gar nicht entgehen.
Die zierliche Frau kam sich irgendwie fehl am Platze vor. Wohin sie auch schaute, sah sie rundliche,
wohlgenährte Körper. Das Lieblingswort aller Politiker - Diäten - kannten Gäste und Bedienung offenbar
nur vom Hörensagen. Bestenfalls eine Handvoll der Anwesenden verfügte über eine halbwegs akzeptable
Figur.
Zu ihnen zählte Jos Aachten van Haag. Als sich ihre Augen trafen, musterte Liao ihn kurz, verzog
geringschätzig ihre Mundwinkel und nahm dann an einem freien Zweipersonentisch in Thekennähe Platz.
Ihr provozierendes Benehmen schreckte den Agenten nicht ab. Im Gegenteil, es brachte ihn erst richtig auf
Touren. Der erfolgsgewohnte Frauenheld fühlte sich herausgefordert.
Ein wohlbeleibter schwarzer Kellner trat an Liaos Tisch und erkundigte sich nach ihren Wünschen.
»Ich hätte gern einen Salat«, gab sie ihre Bestellung auf. »Und ein Mineralwasser.«
83 »Salat gibt es bei uns gratis«, erwiderte der Ober augenzwin-kemd. »Als Dekoration zu unseren TBonesteaks. Und Wasser benutzen wir nur zum Händewaschen. Mal im Ernst: Was möchten Sie wirklich? Kein Mensch kommt ins Big, um sich nichts weiter als Salat zu bestellen. Was an Deko-Grünzeug auf den Tellern liegenbleibt, verfüttern wir üblicherweise an die Kaninchen, das verleiht ihnen eine ganz besondere Würze.« »Dann bringen Sie mir halt irgendeine Gemüseauswahl«, entgegnete die Chinesin ungehalten. »Blumenkohl, Paprika, Auberginen, Zucchini... und dazu nehme ich einen kühlen Fruchtsaft. Oder benutzen Sie den zum Füßewaschen?« »Das war doch nur ein Scherz«, beschwichtigte sie der Kellner. »Natürlich bekommen Sie bei uns, was Sie wollen, auch Mineralwasser und Salat. Ich serviere Ihnen beides sofort - zusammen mit einer warmen Gemüseplatte und Orangensaft, wie bestellt.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, entschwand er in die Küche. Ganz schön geschäftstüchtig, dachte Liao schmunzelnd. Sie ernährte sich weitgehend vegetarisch, aber nicht ausschließlich. An manchen Tagen konnte sie ordentlich was verdrücken. Heute hatte sie allerdings Appetit auf etwas Leichtes, was vermutlich mit dem Anblick der vielen Reischberge zusammenhing - auf den Tellern und auf den Stühlen. Jos Aachten van Haag stand auf und gesellte sich zu ihr. »Darf ich?« fragte er höflich und setzte sich unaufgefordert an ihren Tisch. »Meinethalben, wenn sonst nichts frei ist«, antwortete Liao, während sie desinteressiert in der Speisekarte blätterte. »Ich habe Ihr Gespräch zufällig mit angehört«, sagte er, räumte aber sogleich ein: »Nein, das ist nicht wahr. Ich gebe ehrlich zu, daß ich Sie absichtlich belauscht habe. Fremde Leute zu bespitzeln ist sozusagen mein Beruf.« »Demnach sind Sie ein Spion«, bemerkte Liao trocken, ohne ihn anzusehen. Jos lachte. »Falsch geraten. Ich bin Schriftsteller. Romanautor, um genau zu sein. Aus beruflichen Gründen interessiere ich mich für zwischenmenschliche Dialogführung aller Art, selbst wenn es sich nur um eine profane Kommunikation wie eben handelt. Wer 84 der schreibenden Zunft angehört, kann viel von solchen Alltagsgesprächen lernen, weshalb ich gern und
oft unter Menschen gehe.«
Jetzt endlich schaute Liao ihn an. Ein scheues Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen.
»Sind Sie wirklich ein echter Schriftsteller?« fragte sie ihr Gegenüber. »Ich habe mir Romanautoren
immer ganz anders vorgestellt. Alt, runzlig, weißbärdg, die brennende Pfeife im zahnlosen Mund...«
»Klingt nach dem typischen Heimatromanschreiber«, meinte Jos. »Ich hingegen verfasse
Abenteuerromane.«
»Ich hatte gleich den Eindruck, daß Sie irgendwas Verwegenes an sich haben«, erwiderte Liao und dachte
im stillen: Vorsicht! Nicht zu dick auftragen, sonst riecht er den Braten gleich.
Der Mann an ihrem Tisch merkte offenbar nicht, daß ihre Bewunderung nur gespielt war. Dir plumpes
Kompliment schien ihm runterzugehen wie Öl.
»Mein Name ist Arthur Conan«, stellte er sich ihr vor. »Verraten Sie mir Ihren?«
»Liao Morei«, antwortete sie wahrheitsgemäß.
Sie hielt es nicht für notwendig, einen Decknamen zu wählen. Van Haag konnte mit ihrem richtigen
sowieso nichts anfangen, zumindest nicht im Augenblick. Außerdem lag es durchaus in ihrer Absicht, als
Mitarbeiterin von Wallis Industries »entlarvt« zu werden.
»Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade in Steakhäusem herumsitzen und verwelkte Blätter bestellen?«
fragte Jos sie scherzhaft. »Damit wir uns nicht mißverstehen: Auch ich halte nicht viel von der Todsünde
Vollere!. Anstatt undefinierbaren Gulasch zu vertilgen und hinterher mit literweise Starkbier
nachzuspülen, würde ich jetzt lieber in einer gemütlichen kleinen Nachtbar sitzen und an einem Whisky on
the rocks nippen. Doch mein nächster Roman spielt in einem Lokal wie diesem hier.«
»Verstehe, Sie betreiben hier geheime Recherchen.«
»Könnte man so sagen. Ich schaue dem Volk aufs Maul und mache mir meine Notizen. Was sagten Sie
doch gleich, welchem Beruf Sie nachgehen?«
»Ich sagte gar nichts«, antwortete Liao. »Arthur Conan - gab es
85 in einem früheren Jahrhundert nicht einen Schriftsteller ähnlichen Namens?« »Ist mir nicht bekannt«, entgegnete Jos. »Allerdings soll mal ein Barbar so geheißen haben. Wollen Sie mir wirklich nicht verraten, was Sie arbeiten?« »Ich bin nur eine kleine Angestellte in einem großen Unternehmen«, wich Liao erneut aus - um seine Neugier noch zu steigern. »Mein beruflicher Alltag ist kaum der Rede wert. Sprechen wir lieber über Sie. Ich möchte alles von Ihnen wissen. Wie viele Bücher haben Sie schon veröffentlicht? Veranstalten Sie regelmäßig Lesungen? Welche Literaturpreise haben Sie gewonnen?« Jos stieß einen leisen Seufzer aus. »Viele Fragen bedeuten viele Antworten. Vielleicht sollten wir uns an einem angenehmeren Ort in diese Themen vertiefen. Für heute habe ich eh genug recherchiert.« Liao war einverstanden. »Gern, Arthur. Aber vorher möchte ich noch meinen Salat verzehren. Dort kommt der Kellner mit meiner Bestellung.« Jos erhob sich von seinem Stuhl. »Lassen Sie sich ruhig Zeit, Liao. Und entschuldigen Sie mich bitte für ein paar Minuten, ich muß dringend ein wichtiges Viphonat führen.« Liao nickte ihm mit unergründlichem Lächeln zu. Sie ahnte, wen er jetzt anrufen würde: die GSO. Ihr war nicht entgangen, daß van Haags Armbandchrono mit einer hochmodernen Minikamera ausgestattet war - sie kannte das Serienmodell, weil sie es vor ein paar Monaten selbst bei einem Einsatz benutzt hatte. Vermutlich hatte Jos sie heimlich fotografiert, und nun wollte er die Aufnahmen mitsamt ihrem Namen an die GSO weiterleiten. Es dauerte bestimmt nur wenige Minuten, bis man dort ihre verfügbaren Daten aus dem Netz gezogen hatte. Wenn Jos an ihren Tisch zurückkam, würde er über ihre Tätigkeit als Leiterin des Sicherheitsteams von Wallis Industries garantiert Bescheid wissen - wie sie es beabsichtigt hatte. Natürlich würde er weiterhin so tun, als wüßte er von nichts. Darauf, daß sie umgekehrt seine Tarnung von vornherein durchschaut hatte, kam er mit Sicherheit nicht, dafür hielt er sich für viel zu perfekt. 86 »Halten Sie sich fest, Eylers, ich habe einen ganz dicken Fisch an der Angel. Raten Sie mal, wer gerade ins Big hereinspaziert kam? Darauf kommen Sie nie, deshalb gebe ich Ihnen die Antwort gleich selbst: Liao Morei, die oberste Chefin des WI-Sicherheitsteams... Natürlich habe ich Sie gleich erkannt! In unserem zentralen Suprasensor sind mehrere Aufnahmen von ihr abgespeichert, nebst einem ausführlichen Dossier. Wann immer Terence Wallis seine berühmt berüchtigten eigenwilligen Pfade einschlägt, steht sie an vorderster Front an seiner Seite. Deshalb habe ich mir ihr Gesicht ganz besonders eingeprägt. Und nicht nur das Gesicht... Nein, sie weiß nicht, wen sie vor sich hat. Ganz bestimmt nicht, das hätte ich gemerkt. Ich besitze eine gute Menschenkenntnis, Bernd, das wissen Sie doch. Im übrigen hat Wallis keinen Grund, seine beste Sicherheitsfrau auf mich anzusetzen. Was sollte er von mir wollen? Ich verfüge über keine bedeutsamen Informationen, die für seine Firma von Interesse sein könnten. Umgekehrt hat Miß Morei vielleicht einige Neuigkeiten für mich, den Firmenumzug betreffend. Jedenfalls werde ich ihr mal näher auf den Zahn füh len. Was sie im Big verloren hat? Nichts Bestimmtes, sie scheint rein privat hierzusein. Offensichtlich besucht sie das Lokal zum ersten Mal - und zum letzten Mal, ich habe nämlich nicht den Eindruck, daß es ihr gefällt. Deshalb ziehen wir uns gleich in eine anheimelnde kleine Bar zurück... Übertreiben Sie es nicht mit Ihrem Hang zur Vorsicht? Ich betone nochmals: Die Kleine hat keinen Anlaß, mich auszuhorchen. Außerdem hat sie nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, wer ich bin. Meine Tarnung als erfolgsverwöhnter Schriftsteller ist perfekt. Liao steht offenbar auf Literaten. Um was wollen
wir wetten, daß ich sie heute nacht abschleppe...? Nein, nicht zu mir, zu ihr ist es näher. Sie besitzt eine Eigentumswohnung in Pittsburgh. Falls Sie mit Ihrem Mißtrauen tatsächlich recht haben, Bernd, wäre es ohnehin mehr als leichtsinnig, Liao in meine geheiligten vier Wände mitzunehmen. Sie 87 könnte auf den Gedanken kommen, mich gewaltsam außer Gefecht zu setzen und mein Arbeitszimmer mitsamt Suprasensor zu filzen - aus welchem fiktiven Grund auch immer... Stimmt, normalerweise lasse ich mich nicht so leicht auf die Bretter schicken, schon gar nicht von einer Frau. Doch laut unserem Dossier ist Liao Morei die reinste Kampfsportgranate. Im fairen Zweikampf hätte ich vermutlich keine Chance gegen sie -darum bediene ich mich anderer Waffen. Erliegt sie erst einmal dem mir angeborenen Charme, schnurrt sie in meinen Armen wie ein Kätzchen... Ich und ein Angeber? Nehmen Sie das eventuell zurück, Bernd? Na so was, bricht er doch glatt die Verbindung ab!«
Jos Aachten van Haag betrachtete die Frau, die an seiner Seite lag, einige Minuten lang. Wie friedlich sie doch aussah, wenn sie schlief... Am vergangenen Abend war er mit ihr von einer Nachtbar zur nächsten gezogen, und beide hatten sich prächtig amüsiert. Zumeist hatte er das Wort geführt, während Liao ihm schweigend zugehört hatte. Anfangs hatten sie sich vor allem über seine »schriftstellerischen Erfolge« unterhalten. Mit fortgeschrittener Stunde waren die Gespräche immer intimer geworden; sie hatten sogar offen über ihre sexuellen Vorlieben geredet. In Liaos Wohnung hatten sie es dann nicht mehr beim Reden belassen. Die schöne Chinesin war in den Armen des GSO-Agen-ten förmlich explodiert. Schon nach kurzer Zeit hatte sie die Führung übernommen. Jos, der es gewohnt war, den Frauen im Bett zu zeigen, wo es langging, hatte sich ihren Wünschen völlig untergeordnet - ein neues, unheimlich erregendes Gefühl für ihn. In dieser Nacht waren beide voll auf ihre Kosten gekommen. Van Haag liebte es, Arbeit und Vergnügen miteinander zu verbinden. Meistens erledigte er erst seinen Auftrag und widmete sich anschließend den Genüssen des Lebens. Diesmal war es umgekehrt. Seinen Spaß hatte er gehabt - jetzt rief ihn die Pflicht. Lautlos erhob er sich aus dem Bett. Liao Morei wurde leicht un 88 ruhig. Sie stieß im Schlaf einen leisen Seufzer aus und strich mit der Hand über das große, breite Kopfkissen. Jos reagierte blitzschnell, ergriff einen flauschigen Teddybären, der auf ihrem Nachttisch saß, und legte ihn behutsam aufs Kissen. Kaum hatte Liao den Bären ertastet, atmete sie wieder ruhig und gleichmäßig. Eine Bombe könnte neben ihrem Bett einschlagen, ohne daß sie aufwachen würde, dachte er amüsiert. Es wunderte ihn nicht, daß sie total erschöpft war, auch er fühlte sich etwas wacklig in den Knien. Dennoch stand er auf und schaute sich im Zimmer um. Die Schlafzimmertapete war dunkelrot und mit phantasievollen »chinesischen« Schriftzeichen versehen, welche wohl ausschließlich der Kreativität des Designers entsprungen waren und nichts Tiefsinniges bedeuteten. Die Wand- und Deckenbeleuchtung war mit verschiedenfarbigen Papierschirmen ausgestattet worden, so daß dieser Raum nie richtig erhellt werden konnte. Augenblicklich brannte nur das Lämpchen auf dem Nachtschrank. Jos kleidete sich fix an, öffnete leise die Schlafzimmertür und betrat die schmale, dunkle Diele. Wie ein Schatten huschte er ins gegenüberliegende Zimmer und zog dort die Tür hinter sich zu. Erst jetzt riskierte er es. Licht zu machen. Er fand sich in einem modern eingerichteten Arbeitszimmer wieder. Auf Kitsch und Firlefanz aller Art hatte der Innenarchitekt hier ganz und gar verzichtet. Sofort schaltete der Agent Liaos Suprasensor ein. Auf dem Bildschirm wurde er aufgefordert, den für die Inbetriebnahme erforderlichen Buchstaben-Zahlengeheimcode einzugeben. Daraufhin stellte er seine Bemühungen gleich wieder ein. Zum Knacken des Codes fehlte ihm die Zeit. Auch die Durchsuchung von Liaos Schreibtisch führte ins Leere. Sämtliche vorhandenen Datenträger waren fein säuberlich beschriftet und für Jos völlig bedeutungslos. Auf versteckte Mini-Disks oder MikroCDs stieß er nicht. Die Masche, Datenträger mit Geheiminformationen absichtlich falsch zu beschriften, um sie zwischen den anderen ganz offen zu »verbergen«, war ihm natürlich bekannt. Aber für derart leichtsinnig hielt er Liao Morei nicht. Gewiefte Einbrecher stahlen gleich 89
das komplette Datenmaterial, um es zu einem späteren Zeitpunkt ungestört zu sichten. Manchmal wurde auch kurzerhand der Suprasensor aufgebrochen, um an die Speichereinrichtung zu gelangen, und einige Diebe schreckten nicht einmal davor zurück, das komplette Gerät abzutransportieren, selbst dann, wenn es in die Wand eingelassen war. Van Haag sah von derartigen Maßnahmen ab. Mit dem Diebstahl des gesamten Datenmaterials wäre unwillkürlich seine Tarnung aufgeflogen, und das wollte er unter allen Umständen vermeiden. Bis er seine Ermittlungen vollständig abgeschlossen hatte, durfte Liao seine wahre Identität nicht erfahren. Möglicherweise würde er noch mehrere Tage an ihr dranbleiben müssen - ein Gedanke, der ihm nicht unangenehm war. Vom Arbeitszimmer aus führte eine Zwischentür in eine kleine Bibliothek. Die antike Einrichtung empfand Jos als überaus geschmackvoll. Er begann umgehend mit einer gründlichen Durchsuchung, wobei er achtgab, daß er nichts durcheinanderbrachte. Aufgeschlagene oder zugeklappte Bücher und sonstige Gegenstände wurden exakt wieder dort plaziert, wo sie gelegen hatten, ohne die geringste sichtbare Veränderung. Mehr durch Zufall entdeckte er einen verborgenen Sensorschalter. Als er ihn betätigte, setzte sich auf lautlos-gespenstische Weise eine Bücherregalwand in Bewegung und gab den Blick auf ein da hinterliegendes, kärgliches Zimmer frei. Mit gemischten Gefühlen betrat Jos den Raum. Kaum hatte er die Schwelle überschritten, schaltete sich eine fahle Fußbodenbeleuchtung ein. Möbel gab es hier nur eine Handvoll. Und eine Art Altar - ein unebener, naturgewachsener Felsstein, auf dem eine seltsame Statue stand. Vor dem nicht sonderlich großen Felsbrocken lag ein dicker Teppichläufer in Form eines gleichschenkligen Dreiecks, mit ungefähr zwei Metern Kantenlänge. Die Spitze des Dreiecks zeigte in Richtung des Steins. Die etwa fünfzig Zentimeter lange Statue sah aus wie eine Mischung zwischen Riesentermite und Skorpion, weshalb Jos ihr spontan die Bezeichnung »Skermite« verlieh. Das Untier sah 90 schaurig aus, in gewisser Weise aber auch faszinierend. So stellte er sich die zukünftigen Bewohner der Milchstraße vor - in ein paar Milliard611 Jahren. An den kahlen Steinwänden rundum befanden sich fremdartige Schriftzeichen von einer Sorte, wie van Haag sie noch nie zuvor gesehen hatte - nicht auf Terra und auch auf keinem ihm bekannten Planeten. Sie waren ganz anders als das Phantasiegekritzel im Schlafzimmer und nur bedingt als asiatisch einzustufen. Obwohl Jos weiß Gott kein ängstlicher Typ war, flößten ihm die Zeichen irgendwie Respekt ein, vielleicht sogar ein bißchen Furcht... Von der Decke hingen verschiedenartige Lederriemen und -stricke herab, die zum Teil miteinander verschlungen waren. Obenherum waren manche Riemen dicker, wie bei einem Griffstück. Eine Auswahl merkwürdig geformter Peitschen? Oder nur ein außergewöhnlicher Zimmerschmuck? Jos stellte sich vor, wie Liao nackt vor dem Altar kniete, den seltsamen Götzen anbetete und sich dabei mit einer der Lederpeitschen kasteite. Zunächst mußte er darüber schmunzeln, dann aber hielt er diesen Gedankengang gar nicht mal für so abwegig. Wer wußte schon, was in einem anderen Menschen vorging? In einer Zimmerecke, schräg gegenüber dem Altar, war eine kleine Sitzgruppe aufgestellt worden, aus losen Polstern, die man bei Bedarf zu einem Schlafplatz zusammenschieben konnte. Zu dem Ensemble gehörten auch ein Tischchen und eine Stehlampe. Auf dem Tisch lag ein Buch, gleich daneben eine zugeklappte Schreibmappe ohne Aufschrift. An der rechten Wand stand ein alter Münzschrank. Er war unverschlossen und enthielt eine ansehnliche Münzsammlung, wie van Haag bei Durchsicht der Schubladen feststellte. Offenbar legte die Chinesin einen Teil ihrer Ersparnisse in Wertgegenständen an. Jos verstaute wieder alles so, wie er es vorgefunden hatte. Anschließend begab er sich erneut zur Sitzgruppe und nahm das Buch zur Hand. »Domstadt-Blues« lautete der Titel. Der Untertitel »Tatort Köln« deutete auf einen Krimmalroman hin. Hörte sich spannend an, aber... . ...aber -wo, zum Teufel, liegt dieses Köln? dachte der Agent und
91 legte das Buch beiseite.
Der Inhalt der Schreibmappe überraschte ihn. Jos hatte erwartet, darin private Korrespondenz vorzufinden.
Statt dessen enthielt die Mappe Dokumente über den geplanten Umzug von Wallis Indu-stries nach
Australien. Offenbar hatte Liao Morei die Dokumente kürzlich durchgesehen und hier liegenlassen.
Van Haags Mißtrauen meldete sich. Hatte die clevere Sicherheitsexpertin die Mappe hier absichtlich für
ihn plaziert? Wollte sie ihn damit auf eine falsche Spur locken?
Andererseits: Hätte er nicht durch Zufall den verborgenen Gebetsraum entdeckt, hätte er die Mappe
niemals gefunden. Im übrigen war ein harmloser Firmenumzug keine geheime Verschlußsache.
Van Haag blätterte in den Papieren, überflog die wichtigsten Stellen und entschloß sich dann, die gesamten Dokumente mit seinem hochmodernen Spezialchrono zu fotografieren. Zwar war die Folie, die für den Ausdruck des Textes verwendet worden war, von einer fast unsichtbaren Schicht überzogen, die jede handelsübliche Fotolinse außer Gefecht setzte, doch die neuartige Armbandkamera war für solche Fälle gerüstet. Erst kürzlich hatte die GSO ihre Agenten mit diesen kostenintensiven Geräten ausgestattet. Jos war überzeugt, daß man beim WI-Sicherheitsdienst noch nie davon gehört hatte. Nachdem er seinen Job erledigt hatte, legte er die Mappe wieder auf den Tisch, verließ das Geheimzimmer und betätigte den Sensorschalter, der das Bücherregal vor die Eingangsöffnung schob. Zurück im Schlafzimmer stellte er zufrieden fest, daß Liao noch tief und fest schlief. Zärtlich hauchte er ihr ein Küßchen auf die Wange. Wir sehen uns weder, verabschiedete er sich in Gedanken von ihr. Bisher hatte noch jede Frau nach einer Nacht mit mir Verlangen nach mehr.
»Für mich ist die Sache sonnenklar. Wenn die Kleine Weisheit sieben Mitglieder aufweist, die Große Weisheit achtzehn und die 92 Weisheit vierundfünfzig - dann ergibt das zusammen neunund-siebzig weise utarische Ratsmitglieder.«
»Eben nicht. Das höchste Gremium, die Weisheit, setzt sich nämlich aus den drei Großen Weisheiten
zusammen, von denen jede achtzehn Personen stark ist. Dreimal achtzehn ergibt vierundfünfzig. Hinzu
kommen die sieben Delegierten der Kleinen Weisheit, womit die Gesamtmitgliederzahl einundsechzig
beträgt.«
»Einundsechzig? Und was ist mit den achtzehn Mitgliedern der Großen Weisheit? Willst du die einfach
unterschlagen, mitsamt ihrem Sprecher Ya Yaki?«
»Kapierst du es immer noch nicht? Die Große Weisheit besteht aus vierundfünfzig Ratsmitgliedern,
einschließlich ihrer drei Sprecher Ja Jagan, Ti Tira und Ga Gasogu. Diese vierundfünfzig Personen bilden
die Weisheit. Große Weisheit und Weisheit sind also quasi dasselbe.«
»Dasselbe? Und wieso tragen sie dann unterschiedliche Kleidung? Die Große Weisheit kleidet sich
leuchtend schwarz, die Weisheit indigoblau.«
»Äh, weiß auch nicht. Vielleicht ziehen sie sich jedes Mal um, dem jeweiligen Sitzungsanlaß
entsprechend.«
»Wozu gibt es überhaupt eine Große Weisheit, wenn dieselben Personen als Weisheit ihre eigenen
Entscheidungen überstimmen können? Und was ist mit Ya Yaki?«
»Soweit ich informiert bin, ist er Sprecher der Kleinen Weisheit.«
»Nein, die Kleine Weisheit verfügt über eine Sprecherin: Bö Bora. Aufgrund ihres Sprecheramts gehört
sie zu den achtzehn Mitgliedern der Großen Weisheit -- jenen achtzehn Mitgliedern, von denen du
behauptest, es gäbe sie gar nicht. Dabei weiß jeder gebildete Mensch, daß sich die Große Weisheit aus
achtzehn Delegierten der Kleinen Weisheit zusammensetzt.«
»Wie denn das? Die Kleine Weisheit verfügt doch nur über sieben Mitglieder, die Sprecherin mitgezählt.
Am besten, wir geben sämtliche Zahlen und Namen nochmals in den Suprasensor zur Auswertung ein.
Hoffentlich stürzt er nicht wieder ab.«
Die beiden jungen Agenten, die sich über das komplizierte politische System der Utaren den Kopf
zerbrachen, hielten sich in der
93 Hauptzentrale der Galaktischen Sicherheitsorganisation auf. Um die diplomatischen Beziehungen zu den Utaren zu vertiefen, sollten sie sich demnächst nach Esmaladan begeben, zwecks Erfahrungsaustausch mit den dortigen Sicherheitsbehörden. Vorher mußten sie allerdings noch einiges über die Gepflogenheiten der Utaren lernen, damit sie nicht von einem Fettnäpfchen ins andere traten. Bernd Eylers hatte ihnen einen modern ausgestatteten Ausbildungsraum in der Zentrale zur Verfügung gestellt. Er wollte die Fortschritte seiner beiden Mitarbeiter persönlich überprüfen, denn er wußte, wie empfindlich die Utaren mitunter auf diplomatisches Fehlverhalten ihrer Gäste reagierten. Von der Mission selbst versprach sich der GSO-Chef freilich nicht viel - es war nur eine von vielen Kontaktaufnahmen zu fremden Völkern, beziehungsweise fremden Sicherheitsdiensten. Üblicherweise begnügte man sich auf solchen Treffen mit dem Austausch von Höflichkeiten und unverbindlichen Ratschlägen. Geheiminformationen wurden weder von der einen noch der anderen Seite preisgegeben. Schließlich wußte man nie, ob gute Freunde nicht eines Tages zu erbitterten Feinden wurden. Die Tür zum Lemzimmer stand offen. Auf dem Flur ging Jos Aachten van Haag vorbei. Er grüßte die beiden ihm bekannten Kollegen mit einem kurzen Kopfnicken. »Offensichtlich befindet er sich auf dem Weg zu Eylers9 Büro«, bemerkte einer der jungen Agenten. »Ich möchte zu gern wissen, was er ihm zu berichten hat. Bestimmt kehrt er gerade von einer gefährlichen
Mission zurück.« »Darauf kannst du wetten!«, erwiderte der andere. »Während wir letzte Nacht selig geschlafen haben, hat er die Feinde Terras garantiert gleich reihenweise flachgelegt. Männer wie er halten für die Menschheit den Kopf hin - und uns schickt man zu einem Zwergenvolk ins All, um zu demonstrieren, daß wir terranischen Geheimdienstler im Grunde genommen nette Kerle sind. Deswegen bin ich eigentlich nicht zur GSO gegangen.« »Was soll's? Jeder hat mal klein angefangen. Machen wir weiter. Wie war das doch gleich? Die Weisheit ist die niedrigste Kaste der Utaren, gefolgt von der Kleinen Weisheit und der Großen 94 Weisheit. Oder war es andersherum?« Bernd Eylers konnte den Bericht seines besten Geheimagenten kaum erwarten. Er rechnete mit einem Paukenschlag, einer Sensation, einem Skandal... Die nüchterne Wirklichkeit enttäuschte ihn. »Wallis Industries will tatsächlich nach Australien umziehen -und sonst nichts? Dahinter steckt doch mehr!« Van Haag legte ihm die Kopien der Dokumente auf den Tisch. »Terence Wallis plant weder eine Verschwörung noch einen Regierungsumsturz oder sonstwas, überzeugen Sie sich selbst. Er will lediglich seine Hauptzentrale auf einen anderen Kontinent verlegen, fertig und aus. Über einen Strohmann hat er bereits eine verdeckte Kaufanfrage für ein bestimmtes Areal gestellt. Sonderlich große Eile legt er übrigens nicht an den Tag. Die Aktion startet, wenn überhaupt, frühestens in zwei Jahren - falls die bis dahin projektierte Steuerlast von WI wirklich so hoch ausfällt wie prognostiziert.« »Er organisiert den Umzug wirklich nur, um keine Steuern zahlen zu müssen?« fragte Eylers ungläubig. Der Agent nickte. »Sie sagten doch selbst, daß er alles steuerlich absetzen kann. Auf die Regierung werden somit seitens WI hohe Steuerausfälle zukommen. Glücklicherweise hat Trawisheim zwei Jahre Zeit, sich darauf einzustellen - beziehungsweise Antoine Dreyfuß, sollte die Fortschrittspartei die Wahl gewinnen.« »Was uns hoffentlich erspart bleibt«, ergänzte der GSO-Leiter. »Ich werde mit Trawisheim darüber reden. Obwohl...« »Obwohl?« »Obwohl ich weiterhin das Gefühl nicht loswerde, daß uns Wallis nur verarscht. Der alte Fuchs plant was ganz Großes, das spüre ich. Er blufft uns irgendwie aus. Den angeblichen Umzug schiebt er nur vor, um uns zu beschäftigen und von seinen wahren Absichten abzulenken. Die Werks Verlegung rechnet sich für ihn doch überhaupt nicht. Jede Wette, daß die WI-Hauptzentrale noch in hundert Jahren auf demselben Fleck steht.« »Wallis ist ein Finanzgenie sondergleichen«, erwiderte Jos Aachten van Haag. »Wäre der Umzug nach Australien insgesamt gesehen ein schlechtes Geschäft, würde er ihn erst gar nicht in Er95 wägung ziehen. Was stört Sie eigentlich am Ergebnis unserer Ermittlungen, Bernd? Es entspricht genau Ihren ursprünglichen Vermutungen. Wallis beabsichtigt, den Finanzbehörden ein völlig legales Schnippchen zu schlagen, nicht mehr und nicht weniger. Ein mittelklassiger Steuerinspektor hätte genügt, um das herauszufinden. Einen hochkarätigen Mitarbeiter wie mich dafür einzusetzen, war reine Verschwendung. Na ja, ich bin Ihnen nicht böse darum. Hinter mir liegt die schärfste Nacht meines Lebens.« »Sind Sie sicher, daß Miß Morei Sie nicht aufs Kreuz gelegt hat?« hakte Eylers nach. Jos grinste wie ein Schuljunge. »Und wie sie mich aufs Kreuz gelegt hat - nach allen Regeln der Kunst. Ich kann es kaum erwarten, daß sie sich bei mir meldet und wir dort weitermachen, wo wir letzte Nacht aufgehört haben. Damit sie sich mit mir jederzeit in Verbindung setzen kann, habe ich ihr auf dem Kopfkissen einen Notizzettel hinterlassen, mit einem ganz speziellen Viphocode. Dadurch erkenne ich bereits am Signal, wenn sie in der Leitung ist. Natürlich melde ich mich dann mit meinem Decknamen. Sie ist ganz vernarrt in Arthur Conan, weshalb ich meine Tarnung noch eine Weile aufrecht erhalten werde. Nicht, daß ich als van Haag keine Chance bei ihr hätte...« Bernd Eylers hatte genug von dem eitlen Geschwätz. Mit einer harschen Handbewegung gab er seinem Spezialagenten zu verstehen, daß es höchste Zeit war, zu gehen.
Liao Morei öffnete ein Geheimfach an ihrem Münzschrank und holte ein handtellergroßes Gerät hervor. Das Fach war gut versteckt; selbst wenn man wußte, daß es in diesem Schrank eins gab, konnte man es nur schwer ausmachen, und ohne die nötigen Kenntnisse über den komplizierten Öffnungsmechanismus blieb es verschlossen. Liao hatte es persönlich eingebaut. Auch die nebenan im Bücherzimmer befindliche Minitastatur, über die man den Zugang zum Gebetsraum freilegte, hatte sie nahezu perfekt verborgen. Zudem benötigte man den richtigen Code, ansonsten bewegte
sich das Bücherregal um keinen Millimeter. 96 Den Sensorschalter, auf den van Haag bei Durchsuchung der kleinen Bibliothek gestoßen war, würde Liao noch heute wieder abmontieren - sie hatte den Schalter speziell für »Arthur Conan« angebracht, um es ihm nicht zu schwierig zu machen. Die schöne Chinesin ließ sich auf eines der Sitzpolster fallen und betätigte das Gerät in ihrer Hand. Daraufhin erschien van Haags Hologramm im Zimmer. Es bewegte sich zum Altarstein, zur Sitzecke, zum Münzschrank, wieder zurück zur Sitzecke... alles, was der GSO-Agent in diesen vier Wänden getan hatte, war mit Holokameras aufgezeichnet worden - vom Betreten des Zimmers bis zum Fotografieren der Dokumente in der Schreibmappe. Die Aufzeichnungs- und Wiedergabegeräte waren zwischen den wild herabhängenden Lederschlingen kaum auszumachen. Auch mehrere in die Decke eingelassene bewegliche Strahlenwaffen, welche bei Bedarf ebenfalls mit der kleinen Fembedienung aktiviert werden konnten, waren mit bloßem Auge nicht zu sehen. Bei dem »Leder-Urwald« handelte es sich um ein etwas bizarres Kunstwerk koreanischer Herkunft, das zudem zwei sinnvollen Zwecken diente. Erstens verbargen die Schlingen die unter der Decke befindlichen Waffen und Geräte - und zweitens vertrieben sie böse Geister. Zumindest hatte das der greise Koreaner behauptet, der Liao beim Einrichten dieses Raums behilflich gewesen war. Er hatte ihr auch den Altarstein und den dreieckigen Gebetsteppich besorgt. Außerdem hatte er rundum die seltsamen Schriftzeichen angebracht. »Wer die Totenrunen zu deuten weiß, kann mit Verstorbenen in Kontakt treten«, hatte er behauptet - den Beweis dafür aber nie erbracht. Der weißhaarige Mann betrieb in Pittsburgh ein Einpersonenun-temehmen für Innenarchitektur und war auf außergewöhnliche Kunden spezialisiert. Liao nutzte das versteckte Zimmer zum Beten und Meditieren. Manchmal genügte es schon, sich eine halbe Stunde nach hierher zurückzuziehen, um den Streß, den ihr gefahrvoller Beruf unweigerlich mit sich brachte, abzuschütteln. Beim Verlassen des Gebetsraums fühlte sie sich jedesmal wie ein neuer Mensch. 97 Normalerweise durfte niemand ihr Allerheiligstes betreten. Bei Jos Aachten van Haag hatte sie eine Ausnahme gemacht. Hätte er die Schreibmappe mitsamt Inhalt auf ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer vorgefunden, wäre er sofort mißtrauisch geworden. Da er die Dokumente aber erst nach intensiver Suche entdeckt hatte, in einem Geheimzimmer hinter den Regalen, hielt er sie garantiert für echt. Mit seinem Spezialchrono (ein alter Hut für Liao) war es ihm ein Leichtes gewesen, sämtliche Unterlagen zu foto grafieren. Hätte Jos den Raum gründlicher in Augenschein genommen, wäre er vielleicht auch noch auf die Automatik zum Öffnen der Fußbodenklappe gestoßen. Liao Moreis Wohnung lag im Erdgeschoß. Durch die verborgene Klappe gelangte man in den Keller -ein Fluchtweg, den sie sich für Notfälle angelegt hatte. In ihrem Beruf war es wichtig, jederzeit gegen Übergriffe aller Art gewappnet zu sein. Die WI-Sicherheitschefin erhob sich von ihrem Platz und legte die Fembedienung zurück ins Geheimfach des Schranks. Die wertvollen Münzen darin dienten ebenfalls der Gefahrenabwehr -für den Fall eines finanziellen Einbruchs. Derzeit ging es ihr in dieser Hinsicht blendend. Aber wer garantierte ihr, daß es auch so blieb? Münzen waren in jedem Jahrtausend eine sichere Geldanlage und ideale Altersversorgung. Lediglich ein Gegenstand in diesem Zimmer war so überflüssig wie ein Kröpf. Liao nahm die »Skermite« vom Altarstein und ging damit hinaus. Wenig später landete der vermeintliche Götze im Müllschlucker. Liao hatte das Kinderspielzeug vor kurzem auf dem Flohmarkt entdeckt und spontan erworben. Es gehörte zum Alltag der GSO-Agenten, mit rätselhaften Dingen konfrontiert zu werden - und sie hatte van Haag nicht enttäuschen wollen. Morei setzte sich per Vipho mit Terence Wallis in Verbindung und erstattete ihm Bericht. »Und er hat wirklich nichts gemerkt?« fragte der Multimilliardär skeptisch. »Immerhin zählt van Haag zu den Spitzenkräften seiner Branche.« »Auch Spitzenkräfte haben mal einen schlechten Tag«, entgegnete Liao schmunzelnd. »Ich habe es ihm schwer, aber nicht allzu 98 schwer gemacht, die Mappe mit den getürkten Dokumenten zu finden. Meiner Meinung nach hat er den Trick nicht durchschaut.« »Ob das auch bei Eylers der Fall ist, wage ich anzuzweifeln«, erwiderte Wallis. »Der GSO-Chef läßt sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Bestimmt traut er mir nicht über den Weg.« »Solange er nichts Genaues über Ihre Pläne weiß, kann er auch nichts dagegen unternehmen. Ich betrachte meinen Job jedenfalls als erledigt. Hoffentlich verschont mich van Haag mit weiteren Besuchen. Sein schriftstellerisches Gehabe war unerträglich. Er hat seine Rolle als Arthur Conan genutzt, um mir eine
dicke Unwahrheit nach der nächsten aufzutischen. Angeblich hat er schon als Zwölfjähriger zahllose literarische Auszeichnungen verliehen bekommen. Einige seiner Werke hätten längst die Millionenauflage überschritten, sagte er.« Als sich Liao kurz darauf im Schlafzimmer umzog, gingen ihre Gedanken zurück an die vergangene zügellose Nacht. Dieser Teil des Jobs hatte ihr ungeheuer gefallen, und es gab keinen Grund, sich dafür zu schämen. Schließlich war sie ein lebendes Wesen aus Heisch und Blut, und als ein solches hatte sie ein Recht darauf, sich ab und zu mal gehenzulassen. Ihr Blick fiel auf den Zettel mit van Haags Vipho Verbindung. Sie nahm das Stück Papier zwischen Daumen und Zeigefinger, zerrollte es zu einem winzigen Kügelchen und schnippte es geschickt aus dem geöffneten Fenster.
Terence Wallis fackelte nicht lange. Zeit war für ihn Geld, und Geld konnte man seiner Meinung nach nie genug haben. »Die Verlegung des Werkes Pittsburgh nach Eden findet am Abend des 30. November 2059 statt«, teilte er George Lautrec, den er direkt nach seinem Gespräch mit Liao Morei zu sich ins Büro bestellt hatte, ohne Wenn und Aber mit. »Informieren Sie bitte die anderen über diesen Termin, an dem es nichts mehr zu rütteln gibt.« »In einem halben Jahr?« staunte der Kanadier. »Das wird verdammt knapp. Wieso eigentlich ausgerechnet abends? Wollen Sie 99 sich im Dunkeln still und leise aus dem Staub machen?« »Von Stille dürfte kaum die Rede sein, wenn sich das riesige Gelände aus dem Erdreich erhebt und ins Weltall entschwebt«, erwiderte Wallis. »Ich möchte mit meiner spektakulären Aktion nicht das Wahlergebnis beeinflussen, deshalb brechen wir erst nach Schließung des letzten Wahllokals auf. Länger warte ich nicht. Der Staat Eden soll noch in diesem Jahr gegründet werden.« »Verdammt knapp«, wiederholte Lautrec. »Trotzdem könnte es zu schaffen sein.« »Könnte? Dieses Wort habe ich aus meinem Sprachschatz gestrichen. Es ist zu schaffen, verstanden? Was auch immer Sie dafür brauchen, George, Sie kriegen es! Finanzielle Mittel stehen Ihnen unbegrenzt zur Verfügung.« »In erster Linie benötige ich Roboter, Roboter und nochmals Roboter. Kegel, Blechmänner... auch Arbeitsmaschinen mit eingeschränkten Funktionen, wenn ich das Werksgelände bis Ende November in ein monströses Riesenraumschiff verwandeln soll.« Der vermögende Unternehmer stellte ihm sämtliche benötigten Vollmachten aus, damit Lautrec selbständig agieren konnte, ohne ihn wegen jeder Kleinigkeit um Erlaubnis fragen zu müssen. Als George wenig später das schlichte Verwaltungsgebäude verließ, hatte er so viele Ermächtigungsschreiben bei sich, daß er sich vorkam wie der oberste Chef von Wallis Industries höchstpersönlich.
6. Den Terra-Press-Sensationsreporter Bert Stranger - neunund-zwanzigjährig, rothaarig, kugelrund und gesund - packte allmählich die Wut. Noch riß er sich zusammen, doch es kochte immer mehr in ihm hoch. Ein etwa fünfzigjähriger, schlanker Mann, der einen Hochenergieschocker in der Hand hielt, kam mit ausdrucksloser Miene auf ihn zu. Der Unbekannte hatte soeben Strangers Wachroboter Clint außer Gefecht gesetzt, indem er mit dem Schocker eine hochsensible Stelle des Kegelroboters berührt hatte. Nun sollte Bert an die Reihe kommen. Der Journalist wußte, daß eine einzige Berührung mit jener gefährlichen Nahkampfwaffe genügte, um einen Menschen zu töten. Trotzdem ergriff er nicht die Flucht, sondern blieb auf seinem Platz in der Magnetbahn nach Lyon sitzen. Mit ruhiger Hand nahm er seinen Kopfhörer ab und klinkte ihn in die Halterung ein, die sich an der Sitzlehne vor ihm befand. Der Fremde trug ebenfalls etwas auf dem Kopf: einen brillenähnlichen Bügel ohne Gläser, das Sensorium. Mit Sensorien konnte man Bild- und Tonaufzeichnungen vornehmen und über einen kleinen, auswechselbaren Speicherchip im Bügel wieder abspielen. Im Gegensatz zu den handelsüblichen Holowiedergaben drangen die Bilder und Laute direkt ins Gehirn vor, was dem Betrachter das Gefühl vermittelte, sich als heimlicher Beobachter mitten im Geschehen zu befinden. Wer keine eigenen Aufzeichnungen erstellen wollte, konnte fertige Filmchips kaufen und sich daran ergötzen - keine billige
101 Angelegenheit; auch das Sensorium selbst kostete ein kleines Vermögen. Trotz der hohen Kosten erfreute sich das Gerät wachsender Beliebtheit in der Bevölkerung. Auch die Medien hatten bereits damit begonnen, ihre bisherige Sendetechnik nach und nach auf Sensoriumstechnik umzustellen -allen voran der Intermedia-Konzem unter Leitung von Joseph Randolph Gordon Skittleman. Strangers Arbeitgeber Terra-Press war ebenfalls mit dabei, allerdings zögerte Konzemboß Sam Patterson das Ganze noch etwas hinaus. Er wollte erst das Endergebnis von Berts Ermittlungen in Sachen »Sensorium Inc.« abwarten. Jene Ermittlungen, mit denen die Misere des Sensationsreporters begonnen hatte... Auf der Suche nach den anonymen Kapitalgebem von Sensorium Incorporated hatte Bert herausbekommen, daß noch eine zweite Sorte Chips existierte. Diese Intensivchips drangen wesentlich tiefer ins Innerste der Sensoriumsnutzer ein und suggerierten ihnen, leibhaftig am Filmgeschehen teilzunehmen - nicht als neutrale Zuschauer, sondern als aktive Darsteller. Und weil der Mensch nun mal vom Tier absTarnmte, weckten die Chips durch gezielte Sinnesreize seine primitivsten Urinstinkte, insbesondere im sexuellen Bereich. Die Betrachter verfielen dabei in regelrechte Rauschzustände. Die konnten sie auch erlangen, indem sie mittels eines Sen-soriums den Drogenrausch eines anderen nacherlebten. Auf diese Weise konnte jede illegale Droge konsumiert werden, ohne daß ihre Spuren bei den heutzutage üblichen Tests im Blut nachweisbar gewesen wären. Erst wenn es zu spät für eine Umkehr war, wurde den Betroffenen bewußt, daß sie süchtig nach den Intensivchips waren. Ausgelöst wurde die Sucht durch chemische Stoffe, die während der Verwendung des Sensoriums im Gehirn produziert wurden. Ein Sensoriumssüchtiger tat alles für den nächsten Chip, wirklich alles... Stranger war zum ersten Mal in einem kleinen Landgasthof im
102 Bourbonnais mit den Suchtchips konfrontiert worden. Zwei Kerle hatte ihn überfallen und ihn zum Abspielen eines Chips gezwungen. Danach war alles Schlag auf Schlag gegangen: Erbarmungswürdiger Verfall in die Sucht, Erpressung durch unbekannte Anhänger der Fortschrittspartei, Entlassung bei Terra-Press, Entzug auf des Messers Schneide, Wiedereinstellung nach Genesung. Überfall auf dem Alamo-Gordo-Jettport mit zwei Toten, süchtige Stewardeß in der Linienmaschine nach Lyon, durchgebrannte Suprasensoren während riskanter Chiptests bei Biotech-noiogique. Gemeinsam mit Veronique de Brun auf Ermittlungstour in den Hafenkneipen von Marseiile, nächtliche Verfolgungsjagd am Kai, ein ermordeter Chipdealer, zwei tote Verfolger, ein explodierter Roboter. Pakt zwischen Bert Stranger und seinem Erzfeind Osman Mülyz, blutige Dealer-Revierkämpfe mit zahlreichen Opfern im Hafen. Sturz aus dem Bürofenster einer Fluggesellschaft, Lebensrettung in letzter Sekunde durch Clint, Flugsicherheitschef zerschmettert auf dem Asphalt, Beinahe-Festnahme durch die GSO. Zusammenarbeit mit Eylers bei der Durchsuchung der Geschäftsräume und Chipfabriken von Sensorium Incorporated in Big Bear City und Addis Abeba, harte Kämpfe mit Telrobotem, zwei tote Agenten, gefangener Tel gesteht Verwicklungen der Rebellenorganisation auf Cromar mit Sensorium Inc., Erstürmung eines bizarren Filmstudios in Beverly Hills durch die GSO. Das gab Stoff für viele Stunden Holoprogramm, ganze Artikelserien und zwei oder drei Bücher. All die abenteuerlichen Ereignisse am Rande zwischen Leben und Tod hatten Bert Stranger jedoch mehr mitgenommen, als er sich eingestehen wollte. Angst und Schrecken steckten ihm tief in den Knochen, und es würde lange Zeit dauern, bis er jedes einzelne Erlebnis seelisch verarbeitet hatte. GSO-Leiter Bernd Eylers hatte ihm versichert, alles Nötige in die Wege zu leiten, um die Sensoriumstechnik auf Terra ganz und gar zu verbieten. Bert war heilfroh, daß dieser Spuk nun bald ein Ende finden würde... Und jetzt stand da dieser ungepflegte Typ vor ihm, das Sensorium auf dem Kopf, den Hochenergieschocker in der Hand.
103 Allein der hohle Gesichtsausdruck des Fremden reizte den Reporter bis aufs Blut, vermutlich, weil ihn
diese tumbe Fratze an seine eigenen Suchtleiden erinnerte, die glücklicherweise hinter ihm lagen.
Bert hatte die Schnauze voll vom Sensorium, von den Chipherstellern, von den Benutzem des Gerätes -
von allem, was damit zusammenhing!
Dieses suchtkranke, völlig verblödete Individuum sollte ihn gefälligst in Frieden lassen! Warum ging der
Kerl nicht einfach weg und setzte sich wieder hin?
Der Mann tat ihm den Gefallen nicht. Er beugte sich zu Bert herab, um ihm den Schocker gegen die Brust
zu drücken, genau dorthin, wo sich das Herz befand.
In dieser Sekunde explodierte Stranger förmlich. Blitzschnell wich er dem Schockerangriff aus, sprang auf und schlug mit solcher Wucht zu, daß es seinem Gegner den Kopf von den Schultern hätte reißen müssen. Allerdings traf Bert nur das Sensorium. Es wurde dem Fremden regelrecht »aus dem Gehirn gerissen«, flog ein Stück durch die Luft und landete auf dem leeren Nachbarsitz. Kaum hatte der Träger keine Verbindung mehr zu dem Gerät, knickte er in den Knien ein und sank bewußtlos zu Boden. Der Schocker glitt ihm aus der Hand. Bert hatte seinen Wutanfall noch nicht unter Kontrolle. Er machte Anstalten, dem Bewußtlosen in die Rippen zu treten und ihn mit den Fäusten zu traktieren. Anschließend, so nahm er sich vor, würde er das Sensorium in sämtliche Einzelteile zerschlagen und aus der fahrenden Bahn schmeißen... ... und diesen Vollidioten gleich hinterher! Gott sei Dank wurde auch in Joumalistenkreisen nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wurde. Stranger atmete ein paarmal tief durch und bekam sich wieder in den Griff. Für wenige Sekunden hatte er sein Umfeld wie durch einen roten Nebel gesehen, nun verzogen sich die Schleier allmählich. »Stellt der Mann eine bleibende Gefahr für Sie dar?« schnarrte eine Metallstimme. »Soll ich ihn dauerhaft ausschalten?« Bert erkannte die Stimme sofort. Zweifelsohne hatte Wachrobo 104 ter Clint seine Systeme nach der Attacke sofort wieder hochgefahren und war jetzt wieder voll
einsatzbereit.
»Ich dachte, du wärst hinüber«, sagte Bert zu seinem Beschützer.
»Ich wurde bei meiner Herstellung mit einer Uberlastsicherung ausgestattet«, erklärte ihm der
Metallkegel. »Sie hat verhindert, daß ich beschädigt wurde oder Daten verlorengingen. Soll ich Ihren
Angreifer eliminieren?«
»Nein, das sollst du nicht. Heb ihn auf meinen Sitz, damit ich seine Kleidung durchsuchen kann.«
Clint kam dem Befehl nach.
Bert fand in den Taschen des Bewußtlosen lediglich ein Päckchen Wegwerftücher und eine Ausweiskarte.
Den Namen seines Angreifers kannte er nicht. Es schien sich um einen ganz normalen Bürger unter
Bürgern zu handeln.
»Warum soll ich ihn am Leben lassen?« erkundigte sich der Roboter. »Für wenige Sekunden hatte ich den
Eindruck, Sie wollten ihn totschlagen.«
»Gut beobachtet«, entgegnete Stranger. »Es gibt für uns Menschen gewisse Augenblicke, in denen einem
alles egal ist. Solch einen Moment habe ich gerade durchlebt. Kein Wunder, nach allem, was ich in letzter
Zeit auszustehen hatte. Aber jetzt fühle ich mich wieder etwas besser und... wieso erzähle ich dir das
eigentlich? Du lebloser Metallbehälter kapierst doch sowieso nicht, wovon ich rede.«
»Korrekt, aber ich versuche es. Je besser ich Ihre Verhaltensweisen begreife, um so intensiver kann ich
meinen Personenschutz gestalten.«
Zu seinem Erstaunen stellte Bert fest, daß niemand in der Bahn von dem fast tödlich verlaufenen
Zwischenfall etwas mitbekommen hatte.
Die Fahrgäste unterhielten sich, verschickten Grüße übers Vi-pho, lasen Zeitschriften oder hörten Musik
aus den Kopfhörern, ^vie er es selbst gerade noch getan hatte.
Er wies Clint an, den weiterhin bewußtlosen Fremden zurück auf seinen Platz zu bringen und dort auf ihn
aufzupassen.
Anschließend rief er mittels Vipho Veronique de Brun an, die
105 sich auf dem Firmengelände von Biotechnologique in Le Puy aufhielt. Die einunddreißigjährige, gutgewachsene Standortleiterin galt allgemein als spröde und scharfzüngig. Letzteres konnte Bert nur bestätigen. Aber spröde? Da hatte er andere Erfahrungen mit ihr gemacht. Obwohl die beiden von ihren Charakteren und vom Aussehen her wie Feuer und Wasser waren, pflegten sie neuerdings ein leidenschaftliches Liebesverhältnis. Wie lange das gutgehen würde, danach fragten sie nicht. Sie nahmen ihr Glück, wie es kam und lebten es in vollen Zügen aus. Veronique freute sich über Berts Anruf. Sie konnte es kaum erwarten, daß er zu ihr kam. Im Kurzstil informierte er sie über den Vorfall in der Magnetbahn und beendete seinen Bericht mit den Worten: »Entweder hat der Bursche einen Chip abgespielt, der ihm nicht bekommen ist -oder jemand gab ihm den Befehl, mich zu töten.« »Du meinst, er wurde über das Sensorium ferngesteuert?« fragte de Brun ungläubig. »Ist nur so ein Verdacht. Schick bitte ein Sicherheitsteam nach Lyon, das mich, Clint und uilseren Gefangenen abholt. Auf eurer Krankenstation könnt ihr ihn dann näher untersuchen.«
Erst auf der Bahnstation kam der Bewußtlose langsam wieder zu sich. Die Sicherheitsleute verfrachteten
ihn in ihren Schweber und ließen dann Bert und seinen Wachroboter einsteigen.
Erste Versuche, dem verhinderten Attentäter Fragen zu stellen, schlugen fehl; er reagierte auf nichts und
niemanden und wirkte völlig apathisch.
»Der arme Kerl scheint total geistesabwesend zu sein«, bemerkte einer der Sicherheitsleute und blickte
Stranger vorwurfsvoll an. »Was haben Sie bloß mit ihm angestellt?«
»Er wollte ihn totschlagen«, antwortete Clint an Berts Stelle -ohne sich dabei etwas zu denken, was er als
Maschine nicht konnte.
»Das wäre ihm auch fast gelungen«, erwiderte der Sicherheits
106 mann. »Ich bin zwar kein Arzt, doch ich vermute, daß das Opfer einen schweren Gehirnschaden erlitten
hat.«
Ich bin das Opfer, nicht er! lag es Stranger auf der Zunge - doch er verkniff sich jedwede Erwiderung.
Der sechsundvierzigjährige Joe Skittleman war Geschäftsführer des Medienkonglomerats Intermedia.
Obwohl der dünne Mann mit den straßenköterblonden, dauergewellten Haaren in dem Unternehmen als
wichtige Persönlichkeit galt, legte er immer eine leicht geduckte, unsicher-kuschende Körperhaltung an
den Tag. Diese negative Gesamterscheinung versuchte er durch protzige Auftritte zu kaschieren. Nicht
selten sah man ihn in Gegenwart von billigen Mädchen - mit richtigen Frauen konnte er nichts anfangen.
Daß ihn seine Mitmenschen mitunter mild belächelten, machte ihm nichts aus, er hatte für andere ohnehin
nichts als Verachtung übrig.
Der achtunddreißigjährige Henner Trawisheim wurde von seinen engsten Vertrauten manchmal als
»Cyborg auf geistiger Basis« bezeichnet, weil er über Weitblick, unbestechliches logisches Denken und
ein nahezu fotografisches Gedächtnis verfügte. Für einen echten Cyborg fehlte ihm allerdings die
Fähigkeit, zu phanten, um dadurch ins Zweite System zu gelangen. Trawisheim verfügte lediglich über ein
Memory-Implantat, das ihm einen Intelligenzquotienten von 276 verlieh.
Wenn zwei derart verschiedene Männer am Vipho lange miteinander sprachen, mußte schon etwas
Wichtiges geschehen sein, zumal Trawisheim seit 2056 stellvertretender Regierungschef war und geistige
Tiefflieger wie Skittleman normalerweise keine Chance hatten, zu ihm durchgestellt zu werden.
Das Thema ihrer heftigen Vipho-Diskussion lautete »Schadensbegrenzung«. Skittleman hatte einen
dreistelligen Millionenbetrag in die Sensoriumstechnik investiert - und dieses Geld verlangte er nun vom
Staat zurück.
»Wieso habe ich eigentlich erst bei der morgendlichen Redaktionskonferenz erfahren, daß die
Sensoriumstechnik von der Regienung verboten wurde?« zeterte der Intermedia-Geschäftsführer.
107 »Sie wären verpflichtet gewesen, mir diese bedeutsame Entscheidung persönlich mitzuteilen, und zwar unverzüglich, ohne jede Verzögerung!« »Das nächste Mal schicke ich umgehend einen berittenen Boten zu Ihnen, wenn ich mitten in der Nacht einen Regierungsbeschluß gefaßt habe«, spöttelte Henner Trawisheim. »Denken Sie wirklich, ich hätte das Ganze absichtlich hinausgezögert? Zunächst einmal mußte ich den vollständigen Bericht der Galaktischen Sicherheitsorganisation abwarten und alles gründlich überprüfen. Glauben Sie mir, ich habe es mir nicht leichtgemacht, doch ich hatte keine andere Wahl. Die Bevölkerung muß vor den Suchtauswirkungen der illegalen Chips geschützt werden.« »Das mit den angeblich süchtig machenden Chips wird von der GSO doch nur hochgespielt. Das Volk ist mündig und kann selbst entscheiden, auf welche Weise es sich vergnügen möchte. Sie haben kein Recht, die Bürger des Staates Terra zu bevormunden.« »Ich rede von Schutz, nicht von Bevormundung. Die nach wie vor gültigen Notstandsgesetze berechtigen mich durchaus zu diesem Erlaß, weil durch die unkontrollierte Verbreitung der Suchtchips auch der Staat selbst gefährdet ist.« »Kein Mensch wird gezwungen, sich derartige Chips zu beschaffen, was, wenn ich Sie recht verstanden habe, ohnehin nur auf illegalem Weg möglich wäre. Der Großteil der Käufer bestückt das Sensorium mit normalen Chips, und wenn Intermedia erst einmal vollständig auf Sensoriumstechnik umgestellt...« »Weder Intermedia noch Terra-Press noch sonst wer wird diese Technik jemals wieder verwenden!« fuhr Trawisheim dem Verlagsleiter scharf ins Wort. »Andernfalls lasse ich Ihre Redaktionsräume durchsuchen und alles beschlagnahmen.« »Wieso behandeln Sie mich wie einen Verbrecher?« erwiderte Skittleman, und seine Stimme klang beinahe weinerlich. »Ich habe die Technik ganz legal eingeführt. Hätte der Staat rechtzeitig eingegriffen, wäre es erst gar nicht soweit gekommen.« »Das ist mir bewußt«, räumte Trawisheim ein. »Deshalb kann ich Ihnen hier und jetzt versichern, daß die Regierung für sämtliche schuldlos erlittenen Verluste geradestehen wird. Stellen Sie einen entsprechenden
Antrag, listen Sie alle bisherigen Investitio
108
nen auf, fügen Sie die nötigen Nachweise bei, und meine Mitarbeiter prüfen dann, ob und in welcher Höhe
Intermedia Schadenersatzzahlungen zustehen.«
»Wirklich?« staunte sein Gesprächspartner. »Und die Regierung hakt die Millionen einfach so ab?«
»Natürlich nicht. Wir werden Mittel und Wege finden, uns an den Verursachen! schadlos zu halten.«
»Und wer genau sind die Verursacher?« fragte Skittleman lauernd. »Gibt es bereits konkrete Hinweise?«
»Ich gebe keine Auskünfte über laufende Ermittlungen«, ließ Trawisheim ihn abblitzen. »Nebenbei
bemerkt: Vielleicht wissen Sie mehr darüber als ich.«
»Wie bitte?« entrüstete sich Skittleman. »Wollen Sie etwa unseren seriösen Medienkonzem mit
irgendwelchen unlauteren Machenschaften in Verbindung bringen? Das ist Verleumdung und wird Sie
teuer zu stehen kommen, sollten Sie diese Äußerung in der Öffentlichkeit wiederholen! Apropos teuer.
Außer den bereits entstandenen Unkosten klagen wir selbstverständlich noch unsere entgangenen Gewinne
beim Staat ein. Unsere Anwälte werden...«
»Vergessen Sie's!« unterbrach ihn der Regierungschef erneut. »Wenn Sie zu habgierig werden, bekommen
Sie gar nichts, klar?«
Skittleman knickte überraschend ein. »Schon gut, war ja nur ein Versuch.«
Auch bei Terra-Press schlug die Nachricht vom Verbot der Sensoriumstechnik ein wie eine Megabombe.
Glücklicherweise hatte sich Sam Patterson nicht zu übereilten Handlungen hinreißen lassen. Somit konnte
er die Vertragsabschlüsse für die Umstellung der Sendetechnik rechtzeitig stoppen - noch bevor er seinen
Morgenkaffee ausgetrunken hatte.
Allerdings zog Patterson in Erwägung, die zuletzt mit der GSO getroffenen Vereinbarungen zu brechen
und Strangers Bericht über die illegalen Machenschaften mit dem Sensorium noch am selben Tag zu
veröffentlichen.
»Damit wieder Geld in die Kasse kommt«, merkte er an.
109 Maik Caroon, der Ressortleiter für Aktuelles, Sensationelles und Innenpolitik, setzte sich daraufhin mit Stranger in Verbindung. Bert zog sofort die Notbremse. Über eine Viphokonferenzschal-tung sprach er mit seinen beiden Chefs gleichzeitig und machte ihnen deutlich, daß er von der GSO nie wieder auch nur die kleinste Information bekommen würde, sollte Terra-Press wortbrüchig werden. »Halten Sie meinen Bericht unbedingt bis zum vereinbarten Zeitpunkt zurück, meine Herren, und Sie werden es nicht bereuen. Im übrigen ist die Reportage noch nicht vollständig. Ich hatte gestern eine unliebsame Begegnung mit einem Unbekannten, der ein Sensorium trug, durch das er möglicherweise femgesteuert wurde.« »Das ist ein ganz neuer Aspekt«, entgegnete Patterson nachdenklich. »Na schön, wir verhalten uns ruhig auch wenn mir das sehr schwerfällt. Einige Sendeanstalten von Intermedia berichten bereits über das Verbot der Sensoriumstechnik und die illegalen Chips.« »Na und?« meinte Stranger. »Die stochern doch nur im Dunkeln und können nur das bringen, was Trawisheim ihnen mitgeteilt hat. Die komplette Wahrheit mit sämtlichen Hintergrundinformationen präsentiert ausschließlich Terra-Press - morgen in den Abendnachrichten. Bis dahin hat Intermedia längst sein gesamtes Pulver verschossen.« »Ja, das gefällt mir!« ließ sich Caroon zu einer euphorischen Bemerkung hinreißen. »Während die Konkurrenz noch ein paar letzte müde Schüsse abgibt, die in der Luft verpuffen, wird sie von unserer schwerbewaffneten Nachrichtenarmee mit aller Macht überrollt! Skittleman wird nichts anderes übrig bleiben als zu kapitulieren.« »Der kapituliert nie«, widersprach Sam Patterson seinem Chefredakteur. »Wenn man ein Hausschwein wie Skittleman in die Enge treibt, wirft es mit Dreck um sich. Er wird mit einer wüsten Schmutzkampagne reagieren.« »Soll er doch«, erwiderte Stranger gelassen. »Niemand wird sich sein Geifern anhören - weil alle längst auf unsere Sender umgeschaltet haben.«
110 Bert Stranger hatte sich seine freien Stunden ganz anders vorgestellt. Bevor er in die Magnetbahn gestiegen war, hatte er von einer wilden Liebesnacht mit Veronique geträumt. Statt dessen war daraus eine Arbeitsnacht geworden, die er nicht allein mit ihr im Bett, sondern mit Biotechnologique-Wissenschaftlem im Firmenlabor verbracht hatte. Auch nachdem es draußen wieder hellgeworden war, war die Arbeit kontinuierlich weitergegangen. Den
»morgendlichen« Anruf seiner Redaktion hatte Bert am Nachmittag entgegengenommen - der globale Zeitunterschied betrug sieben Stunden. Medizinische Untersuchungen hatten inzwischen ergeben, daß der Fremde aus dem Zug lobotomisiert war. Ob sein Geisteszustand heilbar war, vermochten die Ärzte nicht zu sagen, weil... »... weil wir die genaue Ursache nicht kennen«, erklärte einer der Mediziner. »Möglicherweise steht der geistige Defekt des Patienten in direktem Zusammenhang mit dem Einsatz des Fernsteuersensoriums. Je länger er das Gerät trug, um so mehr verschlimmerte sich sein Zustand. Sein Gehim könnte aber auch schon im Vorfeld manipuliert worden sein, beispielsweise durch gezielte Bestrahlung. Das abrupte Herunterreißen des Gerätes gab dem armen Kerl schließlich den Rest.« Stranger schnaufte unwillig. Schon wieder fiel der Begriff »armer Kerl«, wodurch der Täter zum Opfer gemacht wurde. Nicht er hatte den Unbekannten angegriffen, sondern der Unbekannte ihn. Hätte er sich etwa nicht wehren sollen? Wenn mich noch mal jemand mit einem Sensorium auf dem Kopf wgreift, kriegt er einen kräftigen Tritt in die Eier! nahm sich der Reporter vor. Soll er mich doch verklagen, wenn er hinterher keine Kinder mehr zeugen kann! Nicht nur die ärztlichen Untersuchungen wurden in den darauffolgenden Stunden weitergeführt, auch die Techniker hatten jede Menge zu tun. Am Fernsteuersensorium bissen sie sich jedoch die Zähne aus. Über die genaue Funktionsweise konnten sie nur wenig herausfinden, und es ließ sich auch nicht feststellen, von wo aus
111 das Gerät gesteuert wurde. »Wieso befassen wir uns eigentlich mit diesem ganzen Mist?« sprach de Brun gegen Abend das aus, was Stranger und ihre total überarbeiteten Mitarbeiter dachten. »Schließlich geht es hier um die Aufklärung krimineller, staatsfeindlicher Machenschaften, dafür sind wir überhaupt nicht zuständig. Soll sich doch Eylers damit herumschlagen.« Von keiner Seite kam ein Widerspruch. Bert Stranger setzte sich über eine Direktverbindung mit dem GSO-Leiter in Verbindung. »Warum haben Sie mich nicht gleich informiert?« fragte Eylers, der gerade seine verspätete Mittagspause einlegte, ärgerlich. »Weil ich mir dachte, Sie haben mit der Durchsetzung des Sen-soriumverbots erst einmal genug am Hals«, blieb Bert ihm die Antwort nicht schuldig. »Veronique und ihre Leute wollten Sie daher ein wenig entlasten. Biotechnologique hat gute Vorarbeit geleistet, den Rest muß nun die GSO erledigen.« Eylers konnte man nicht so leicht täuschen. »Sie kommen nicht mehr weiter, stimmt's?« fragte er geradeheraus. »Stimmt«, gestand Stranger ein. »Wann können Sie hier sein?« Zwanzig Minuten später landete ein Transportgleiter der französischen GSO-Filiale auf dem Firmengelände von Biotechnologique. Ein Spezialistenteam stieg aus und stellte einen mobilen Transmitter auf. Bald darauf entstiegen der GSO-Chef und einige seiner Agenten dem Gerät. Sie kamen direkt aus Alamo Gordo und wurden von Bert, Clint und Veronique in Empfang genommen. Das Sicherheitsteam von Biotechnologique war ebenfalls anwesend, hielt sich aber zurück - schließlich wollte man keinen Krieg gegen die Galaktische Sicherheitsorganisation führen, die 2052 von Bernd Eylers zum Schutz der Menschheit ins Leben gerufen worden war. Der dreiunddreißigjährige Leiter der Organisation wirkte manchmal etwas unbeholfen - aber das war eine gefährliche Fehleinschätzung. Wenn seine Gegner merkten, was wirklich in ihm steckte, war es meist schon zu spät. Ohne viel Federlesens beschlagnahmte Eylers das Fernsteuer 112 sensorium, um es in den GSO-Labors untersuchen zu lassen. Niemand hinderte ihn daran - im Gegenteil,
die Beschlagnahme war ja gewollt.
Als die GSO wieder abzog, nahm Eylers auch den lobotomisierten Attentäter mit.
»Problem gelöst«, sagte de Brun erleichtert. »Höchste Zeit, daß wir beide ins Bett gehen.«
»Darauf habe ich mich schon auf der Herfahrt gefreut«, bekannte Stranger.
Beide übernachteten in Veroniques Zimmer auf dem Werksgelände. Erschöpft schliefen sie ein, kaum daß
ihre Körper mit der Matratze in Berührung kamen.
Am nächsten Morgen mußte sich Bert Stranger sputen. In Alamo Gordo wartete man darauf, daß er
endlich seinen Bericht abschloß und für die Abendnachrichten freigab.
»Laß mich bloß da raus«, bat Veronique ihn. »Mir steckt noch der Schock von unserem nächtlichen
Hafenabenteuer in den Gliedern. Zwar traue ich mich inzwischen wieder in mein Apartment zurück - ich
kann mich schließlich nicht ewig auf dem bewachten Firmengelände verstecken - aber die Öffentlichkeit braucht nicht zu erfahren, wie tief ich in der Sache mit drinstecke. Ein paar Hafendealer könnten sonst doch noch auf den Gedanken kommen, ihre getöteten Komplizen zu rächen. Oder man kidnappt mich und benutzt mich als Köder, um an dich heranzukommen. Was für ein scheußlicher Gedanke! Wie hältst du dieses gefährliche Leben überhaupt aus? Bist du dir darüber im klaren, daß Männer deines Schlages nur selten wegen Altersschwäche das Zeitliche segnen?« »Besser, der Tod ereilt mich mitten im Einsatz, kurz und präzise, als daß ich an tödlicher Langeweile erkranke und langsam dahinsieche«, meinte Stranger grinsend, wodurch er den Eindruck erweckte, das Leben sei für ihn ein einziger Spaß. »Keine Sorge, ich halte dich aus meiner Reportage gänzlich heraus, versprochen.« Er besiegelte sein Versprechen mit einem langen Kuß. Als Bert und Roboter Clint einige Zeit später im Linienjett sa 113 ßen, fragte sich der Journalist, ob es vielleicht ein Abschied für immer war. Veronique und er waren so grundverschieden, daß ihre Beziehung auf Dauer unmöglich gutgehen konnte. Andererseits zogen sich Gegensätze ja bekanntlich an...
Bert Strangers Bericht über die »Affäre Sensorium« wurde weltweit ausgestrahlt und abgedruckt. Als Begleitmaterial wurden faszinierende Filme und Fotos hinzugefügt, die so manchem Betrachter die Haare zu Berge stehen ließen. Vor allem der Sturz aus dem mehrere hundert Meter hohen Stielbau der Fluggesellschaft sorgte bei vielen Lesern und Zuschauem für Aufregung. Tausende von Leserbriefen und Anrufen bei den Terra-Press-Sendem und -Redaktionen waren die (gewünschte) Folge. Natürlich brachte der geschäftstüchtige Sam Patterson das komplette Informationspaket nicht auf einen Schlag heraus. Vielmehr warf er seiner sensationshungrigen Konsumentenklientel täglich aufs neue frische Nahrung vor, Bröckchen für Bröckchen, um soviel wie möglich daran zu verdienen. Seine Taktik trug Früchte. Die Auflagen der Zeitungen und Zeitschriften schnellten raketenartig in die Höhe, ebenso die Einschaltquoten der hauseigenen Magazine. Intermedia hatte das Nachsehen. Für die wenig informativen, sich immer wiederholenden Berichte des Konkurrenzsenders interessierte sich bald kein Mensch mehr. Terras wißbegierige Bürger wollten keine Nachrichten aus zweiter, dritter Hand, sondern brisante Informationen von dem Mann, der überall live mit dabeigewesen war. Bert Stranger erlangte in diesen Tagen regelrechten Heldenstatus. Spätestens jetzt war er Terras bekanntester Reporter - die Meßlatte, die künftig bei allen anderen nach Erfolg strebenden Journalisten angelegt werden würde. Keiner konnte ihm mehr das Wasserreichen... ... und Skittleman stand es sowieso bis zum Hals. »Wofür bezahle ich Sie eigentlich, Sie Vollidiot?« brüllte er im Büro der Chefredaktion seinen Sicherheitsberater Beaver an. »Ihr
114 Auftrag war. Stranger für Intermedia beziehungsweise für die Fortschrittspartei zu gewinnen. Das haben Sie gründlich versiebt, Sie Versager! Der Kerl macht derzeit jede Menge Werbung für sich selbst und für seinen Brötchengeber Terra-Press. Hätten Sie die Sache mit dem Sensorium nicht verpatzt, hätten wir ihn jetzt im Sack, Sie Null! Lassen Sie sich gefälligst etwas Besseres einfallen, Beaver!« Null - Versager - Vollidiot. Wer aussah wie der im vorigen Jahrhundert erfolgreiche Filmschauspieler Lee van Cleef- groß, schlank, schmaler Schnurrbart, hinterlistige Gesichtszüge - und vom Charakter her ähnlich skrupellos-intelligent brutal war, wie die von van Cleef verkörperten Leinwandschurken, brauchte sich derartige Anfeindungen normalerweise nicht gefallen zu lassen. Jeden anderen hätte der vierzigjährige Amateurboxer Beaver mit dem Spitznamen »Sabata« auf der Stelle zur Rechenschaft gezogen. Aber »jeder andere« bezahlte ihn nicht so gut wie der Geschäftsführer von Intermedia. Hinzu kam, daß Beaver erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden war und ihm niemand sonst hatte Arbeit geben wollen. Darum schluckte er die Beschimpfungen tapfer herunter. Beaver nahm kurz seinen schwarzen Hut ab, den er auch drinnen zu tragen pflegte, und tupfte sich ein paar Schweißperlen von der Stim. »Wir kriegen Stranger«, versprach er seinem Brötchengeber. »Fürs erste sollten wir eine Schmutzkampagne...« »Ich weiß selbst, was ich zu tun habe!« fuhr Skittleman ihm ins Wort. »Ich werde Terra-Press mit so viel Dreck bewerfen, daß sich Patterson und Konsorten vorkommen werden wie auf einer stinkenden Müllhalde!« »Das ist genau die falsche Taktik«, machte Beaver ihm klar. »Schüsse, die man auf unliebsame
Konkurrenten abgibt, gehen meist nach hinten los. Nicht auf Patterson und Stranger müssen sie zielen sondern auf die terranische Regierung. Nehmen Sie Dhark und Trawisheim unter Beschuß. Beide haben den Menschen schlimmen Schaden zugefügt.« »Tatsächlich?« horchte Skittleman auf. »Ja, Sie haben völlig
115 recht. Ich ahne, worauf Sie hinauswollen.« Beaver grinste und setzte den Hut wieder auf. »Na bitte, wußte ich doch, daß Ihnen meine Idee gefällt. Zu meinem weitläufigen Bekanntenkreis zählt übrigens ein gewisser Diplompsychologe, der mir noch einen Gefallen schuldet. Er tut alles für Geld und hat weder Berufsehre noch Gewissen - also genau der richtige Mann für unser Vorhaben.«
7. Schrill heulte der Alarm durchs Schiff: Kollisionswamung! Simon benötigte nur Sekundenbruchteile, um aus allen eintreffenden Informationen den richtigen Überblick zu gewinnen. Die NOREEN WELEAN war am Rand eines Doppelstemsystems aus dem Hyperraum gefallen, der nächste Planet, eine atmosphärelose Eiswelt, stand knapp zehn Millionen Kilometer querab. Aus dieser Richtung näherte sich eine Rotte von mindestens dreißig Ring-raumem. Mysterious? durchzuckte es den Terraner. Zusammentreffen in weniger als zwei Minuten. Einfallende Ortungsimpulse wurden angezeigt, die Besatzungen der fremden Flotte hatten die NOREEN WELEAN ebenfalls bemerkt. Die Schiffe fächerten auf, eindeutig eine Abfangbewegung, die aber nicht zwangsläufig auf kriegerische Absichten schließen ließ. Möglicherweise war die andere Seite nur übervorsichtig. Die NOREEN WELEAN würde jedenfalls nicht mehr vor dem Zusammentreffen ^ur nächsten Transition ansetzen können, ganz davon abgesehen, daß Simon eine übereilte Flucht denkbar ungeeignet erschien, um mehr über die Verhältnisse in Om herauszufinden. Auch eine Beschleunigung mit Sternensog und im Schutz des Intervallfelds hätte die Begegnung nur hinausgezögert. Die Anfangsgeschwindigkeit der fremden Ringraumer lag zu hoch. Simon behielt dennoch den Kurs bei. In der Situation abzudrehen hätte möglicherweise bedeutet, die Meute zum Angriff zu animieren. Sonderlich wohl war ihm ohnehin nicht beim Anblick der Übermacht. Unglaublich träge tropften die Sekunden dahin. Die Formation der Flotte zog sich weiter auseinander, als wollten die Schiffe die NOREEN WELEAN umschließen.
117 Nach wie vor kein Funkempfang. Erst dreißig Sekunden waren vergangen. Simon dachte nicht daran, die Kontrolle über das Schiff wieder der Gedankensteuerung zu übertragen. Aberwitzig schnell flimmerten die Ortungsdaten durch die holographische Wiedergabe; einem Menschen wäre es unmöglich gewesen, nur einen Bruchteil davon zu erkennen, geschweige denn zu verstehen. Der Roboter war jedem Lebewesen auch in dieser Hinsicht überlegen. Die Energieemission der Rotte stieg sprunghaft an, offensichtlich wurden die Waffensysteme hochgefahren. Die Bildkugel zeigte in einer Simulation, daß die Ringraumer in Kürze auf schließen würden. Ihre Formation mußte dann zwangsläufig zur Halbkugel werden, mit der NOREEN WELEAN im Zentrum. Die Bedrohung zu erkennen, bedurfte es keiner navigatorischen Erfahrung. Sobald die unbekannten Schiffe ihr Feuer konzentrierten, konnten sie sogar das Intervallfeld überwinden. Simon änderte den Kurs um wenige Bogengrade. Augenblicklich verschob sich die Simulation in der Bildkugel. Die Formation der anderen wurde in die Länge gezerrt und riß auf, und genau das war der Schwachpunkt, den Simon zu nutzen versuchte. Eine weitere leichte Kurskorrektur folgte. Das war der Moment, in dem der Funkempfang ansprach. Ein undefinierbares Zischen und Zirpen hallte durch die Zentrale, doch rasch wurden die Lautfolgen deutlicher. Eine harte Stimme schälte sich heraus. »Sofort stoppen!« Unbewegt beobachtete Simon die Farbschleier der Bildübertragung. Mehrmals glaubte er, in dem wirbelnden Durcheinander die verzerrten Konturen eines Lebewesens zu erkennen. Die Formation der 32 Ringraumer - die Zahl stand mittlerweile fest - riß auf. Simon beschleunigte weiter. Sie ließen ihm keine Zeit für eine Antwort, die Hyperfünkver-bindung brach in einem aufstiebenden Funkenregen zusammen. Gleichzeitig schlugen Dutzende Dust- und Nadelstrahlen in das Intervall der NOREEN WELEAN ein. Die Belastungsanzeigen schnellten in die Höhe. Distanz schrumpft weiterhin! meldete die Gedankensteuerung. Ein Pulk von zehn Schiffen sondert sich ab.
118
Simon sah die Bewegung in der Bildkugel. Die Ringraumer strebten seitlich davon und fielen zurück.
Unmittelbar eingreifen konnten sie auf diese Weise nicht mehr.
Sofort sank die Belastung des Intervalls ab und pendelte sich bei nur noch 85 Prozent ein. Auf diese Weise
konnte die Flotte die NOREEN WELEAN tagelang hetzen. Der Dauerbeschuß verhinderte eine Flucht in
den Hyperraum. Das Abschalten des Intervallfelds, um eine Transition einleiten zu können, hätte den
Anfang vom Ende bedeutet.
Um die Gefährdung abzuwenden, ist ein gezielter Gegenschlag nötig. Simon reagierte nicht. Erst wollte er wissen, wer sich an Bord der anderen Schiffe befand. Im
Zusammenhang mit den Myste-rious, das war ihm noch auf Terra erzählt worden, hatte es immer wieder
Mißverständnisse gegeben. Vielleicht...
Die zehn Ringraumer verschwanden innerhalb von Sekundenbruchteilen aus der Ortung...
Sie sind in Transition gegangen/meldete die Gedankensteuerung.
... und materialisierten nahezu gleichzeitig im Kurs der NOREEN WELEAN.
Die Belastungsanzeigen schnellten wieder in die Höhe, erreichten neunzig Prozent und kletterten zitternd
darüber hinaus. Vor allem überlichtschnelle Nadelstrahlsalven trafen die NOREEN WELEAN.
92 Prozent...
Simon beobachtete die Anzeigen. Mit gut drei Viertel der Lichtgeschwindigkeit raste sein Schiff dem
kleinen Pulk entgegen.
Kollisionskurs!
95 Prozent Belastung des Intervalls. Ein dumpfes Rumoren hallte durch die Ringröhre, ausgehend von den
auf Vollast laufenden Energieerzeugem.
Lodernde Entladungen verschleierten die Wiedergabe in der Bildkugel. Das Bild erweckte den Eindruck,
daß der Weltraum
119 rings um die NOREEN WELEAN aufbrach und extreme Protuberanzen ausspie. Achtung: kritische Phase! dröhnte die mentale Stimme der Gedankensteuerung. Das Schiff läuft Gefahr, vernichtet w werden. Umgehendes Handeln ist geboten! Weitere der verfolgenden Ringraumer gingen in Transition. Das war der Moment, in dem Simon endlich reagierte. Er konnte sich ausrechnen, daß die nächsten Schiffe im Kurs der NOREEN WELEAN materialisieren würden ~ ein Spießrutenlauf erwartete ihn. Die Distanz zu den zehn Räumern schrumpfte rasend schnell. 97 Prozent Belastung... 98... 99... Simon löste die eigenen Waffensysteme aus. Dust- und Nadelstrahl im Punktfeuer auf den gegnerischen Ringraumer links voraus. Die Sensoren zeigten, daß das Schiff nur im Energiesparbetrieb flog. Auf einer Fläche von wenigen Quadratmetern traf die Salve der NOREEN WELEAN. Ausgehend von diesem zentralen Punkt wurde das Ortungsbild unscharf, als hätte jemand einen Stein in ein ruhiges Gewässer geworfen. Ebenso konzentrisch floß die Energie auseinander. Zusammenbruch des gegnerischen Intervalls... ein Aufflammen im Zentrum der Einschläge; Energieeruptionen, optisch nicht sichtbar, doch von den Ortungen erfaßt... die Ringröhre brach auf. Weitere Eruptionen griffen gedankenschnell um sich, angeheizt von den explodierenden Speicherbänken und Energieerzeugem. Eine neue Sonne schien aufzuflammen, und die NOREEN WELEAN stieß mitten hinein in den tödlichen Glutball. Feuerschein tauchte die Zentrale in ein unheimliches Zwielicht. Dann war das Schiff hindurch. Keine Schäden. Simon registrierte aber sehr genau, daß das Intervall kurzzeitig dem Zusammenbruch nahe gewesen war. Sein Ringraumer war der Vernichtung nur um Haaresbreite entgangen.
Simon wollte nicht töten, doch die Angreifer ließen ihm keine Wahl. Sie reagierten nicht auf seine erneuten Versuche, Funkkon
120 takt aufzunehmen. Statt dessen materialisierten weitere Ringrau-mer im Kurs der NOREEN WELEAN und eröffneten augenblicklich das Wirkungsfeuer. Ein unglaublicher Vemichtungsdrang schien die Fremden zu treiben. Zugleich ignorierten sie jede Bemühung, dem ein Ende zu setzen. Sie jagten die NOREEN WELEAN wie eine Meute Hunde einen aufgescheuchten Hasen und ließen ihr keine Gelegenheit zur Flucht. Die Raumschlacht hatte sich in den Überlichtbereich verlagert. Unter diesen Umständen normal lichtschnelle Waffensysteme wie Duststrahl oder Strich-Punkt-Strahl einzusetzen, wurde zum schwer kalkulierbaren Risiko, das die Gefahr eines Energierückschlags heraufbeschwor. Die Angreifer verstanden
es perfekt, die NOREEN WELEAN am Abschalten des Intervalls zu hindern, versperrten ihr also weiterhin den Fluchtweg durch den Hyperraum, während sie selbst immer wieder Einheiten aus dem Gefecht abzogen und transitieren ließen. Noch 29 Einheiten jagten ein einzelnes Schiff. Simon hatte zwei weitere Abschüsse zu verzeichnen. Er fühlte kein Nachlassen seiner Konzentration, obwohl seit dem ersten Schlagabtausch mehr als vierzig Minuten vergangen waren. Das nahe Sonnensystem stand immer noch deutlich erkennbar in der Erfassung. Eine Rückrechnung des Kurses hatte ergeben, daß die Ringraumer aus diesem System gekommen waren; Simon fragte sich, ob es die Heimat der Fremden war. Die Angriffe wurden heftiger. Er konnte sich ihnen nicht entziehen. Simon ballte die Fäuste. Die Vorstellung, daß sich an Bord jedes Ringraumers Hunderte intelligenter Wesen befanden, deren Tod Frauen und Kinder ins Chaos stürzte, quälte ihn. Ein absonderlicher Gedanke: Vielleicht kannten die Angreifer Frauen und Kinder nicht. Vielleicht töteten sie um des Tötens Willen und waren wie eine Heuschreckenplage, die ganze Landstriche leerfraß ^d sich danach einer anderen fruchtbaren Region zuwandte. Zu-riick blieb verwüstetes Land. Ein grauer Strahl tastete nach der NOREEN WELEAN. Mix-4! Der Name war plötzlich da, obwohl Simon ihn nie zuvor gehört hatte. Offenbar gab das Programm des Wächterroboters die Infor
121 mation preis. Simon registrierte die Verwunderung des Programms über das Vorhandensein dieser Waffe
auf Seiten der Gegner.
Der Kampfstrahl jagte der NOREEN WELEAN entgegen, und Simon reagierte instinktiv. Bremsmanöver.
Das Schiff kippte über die Ostseite ab und wurde in einen aberwitzig engen Ausweichkurs gezwungen, der
die Absorber bis zum Äußersten beanspruchte. Ein Knistern schien die Ringröhre zu durchlaufen.
Unterlichtflug.
Gegenkurs.
Unvermittelt raste die NOREEN WELEAN dem Gros der Angreifer entgegen. Ein Schiff scherte aus dem
Verband aus und folgte ihr auf genauem Kurs.
Von neuem schrillte der Kollisionsalarm durch die Zentrale. Dem Zusammenprall zweier Ringraumer
würde auch das Intervall kaum standhalten.
Simon griff in die Steuerung ein, wollte die NOREEN WELEAN hochziehen...
... er tat es nicht. Vielmehr korrigierte er den Kurs nur um einen winzigen Bruchteil.
Nein! brüllte er in Gedanken. Das nicht! Er hatte die Kontrolle über den Körper verloren - sie war ihm
abgenommen worden. Ein eiskaltes, logisches Programm beherrschte jetzt den Wächterroboter.
Simon schauderte. Er wollte sich abwenden, sich irgendwie zurückziehen, aber das war unmöglich. Die
NOREEN WELEAN flog nun auf exaktem Kollisionskurs. Jeder Versuch des anderen Ringraumers, dem
Zusammenstoß noch zu entgehen, wurde sofort kompensiert. Es gab kein Ausweichen mehr.
Die Panik lahmte ihn. Er würde sterben. Dabei gab es so viel, was er noch hatte tun wollen - als Mensch,
nicht als Wächter.
Noch acht Sekunden... 250.000 Kilometer in jeder Sekunde. Simon interessierte das nicht mehr. Er spürte
Trauer und eine unglaubliche Beklemmung und ließ sich treiben. Nur einmal noch die Sonne sehen, eine
salzige Meeresbrise auf der Haut spüren ...
Der Wächterkörper beherrschte ihn. Hilflos mußte Simon ertragen, daß der Roboter neue Schaltungen
vornahm. Nun verschoß auch die NOREEN WELEAN Mix-4 - und zwar sowohl auf das
122 Schiff» dem sie entgegenraste, als auch auf den Verfolger.
Riesengroß erschien in der Bildkugel der andere Ringraumer, dann... das Ausweichmanöver kam abrupt;
nur um wenige hundert Meter verfehlten sich die beiden Intervalle. Eine solche Präzision konnten nur
Maschinen erzielen, kein menschliches Gehim wäre dazu in der Lage gewesen. Bis Simon überhaupt
begriff, zeigte die optische Erfassung schon die Vernichtung der anderen beiden Ringraumer.
Das Verfolgerschiff hatte den jähen Wechsel nicht nachvollzogen und war mit dem wartenden Schiff
kollidiert. Die beiden geschwächten Intervalle waren nicht in der Lage, die Ringraumer einander
durchgleiten zu lassen. Die beiden Schiffe vergingen in einer Hölle aus Feuer und Zerstörung.
Wenn die NOREEN WELEAN jetzt mit Höchstwerten beschleunigte, hatte sie eine Chance, sich den
Angreifem zu entziehen.
Hilflos mußte Simon mit ansehen, daß das Programm seines Wächterkörpers das Gegenteil tat. Dabei
gewann er den Eindruck, daß die Gedankensteuerung des Schiffs einen nicht unerheblichen Anteil daran
hatte.
Die NOREEN WELEAN wurde vom Gejagten zum Jäger.
Neue Bildsequenzen. Sieh hin! wurde Simon aufgefordert. Deshalb müssen wir kämpfen!
Er schwieg. Aus Enttäuschung, aus Furcht - er wußte es selbst nicht. Die Bildkugel zeigte ihm eine Projektion des nahen Doppelsternsy stems. Vier Planeten. Drei und vier Eiswelten, Nummer eins merkurähnlich, von den Sonnen verbrannt, lebensfeindlich. Nur der zweite Planet, auf einer bizarren Umlaufbahn um beide Sonnen mit extremen Jahreszeiten geplagt, lag innerhalb der Ökosphäre. Das Bild vergrößerte sich, wurde mit Ortungsdaten vermischt. Verstreute Masseansammlungen auf instabilen Bahnen rings um diese Welt: Raumschiffswracks. Der Planet selbst von dichten schwarzen Wolkenbänken verhüllt, zwischen denen hin und wie
123 der ein rotes Glühen sichtbar wurde. Auf dieser Welt tobten verheerende Feuerstürme. Unvermittelt
Eruptionen, heftige Ausbrüche, die Magma bis hoch in die Atmosphäre katapultierten.
Der Planet -wird auseinanderbrechen. Wahrscheinlich trug er eine Zivilisation, die zu schwach war,
einem Angriff'zu widerstehen.
Die Ringraumer? Simon kannte die Antwort, noch ehe er seine Frage stellte. Die ganze Palette
menschlicher Empfindungen brach in ihm auf. Er wollte den Untergang eines Volkes nicht sehen, wollte
keine Einzelheiten erfahren. Das Leben war zeitweise schrecklich.
Nur das Warum? fraß sich in ihm fest. Es ließ ihn nicht mehr los.
Diese Ringraumer gehören den Zyzzkt, vernahm er. Aufgefangene Funksprüche bestätigen das. Sie breiten
sich aus, vermehren sich unkontrolliert.
Neue Bilder.
Sie entstanden in ihm und zeigten ihm insektoide Wesen. Markante Facettenaugen, kräftige Kieferzangen,
ein natürlicher Körperharnisch aus Chitinplatten. Dabei wirkten sie nicht einmal besonders kräftig, wogen
längst nicht so viel wie ein erwachsener Mensch. Wenig mehr als die Hälfte, schätzte Simon.
Die NOREEN WELEAN feuerte wieder. Fünf Zyzzkt-Raumer wurden nacheinander zu expandierenden
Glutwolken, dann fiel die Leistung des Intervalls sprunghaft ab.
Die Zyzzkt setzten erneut Mix-4 ein. Nur der Tatsache, daß das Schiff im Vollbetriebsmodus lief, war es
zu verdanken, daß der Schutz nicht völlig zusammenbrach.
Endlos lange Minuten vergingen, bis das Intervall der NOREEN WELEAN regeneriert war. Während
dieser Spanne setzte das Schiff alles ein, was es aufzubieten hatte, um die Zyzzkt auf Distanz zu halten.
Nur noch 24 gegnerische Ringraumer.
Zwei weitere Schiffe der Zyzzkt wurden durch Mix-4 der NOREEN WELEAN entscheidend geschwächt.
Zurück blieben expandierende Glutwolken.
Die Taktik der Zyzzkt verkehrte sich für sie selbst allmählich ins
124 Gegenteil. Ihre geringer werdende Zahl konnte den im Vollbe-triebsmodus laufenden Raumer nicht mehr
aufhalten.
In düsterem Rosa flammte das Intervall des Zyzzkt-Raumers auf. Seine Gegenwehr war vor wenigen
Augenblicken zusammengebrochen, die nächste Salve würde ihn vernichten.
Simon wollte das nicht, er sträubte sich bereits gegen diese Jagd. Vor allem hatte er sich nicht von
ARKAN-12 aus versetzen lassen, um einen Privatkrieg zu führen, sondern um mehr über die Verhältnisse
in Om herauszufinden. Nie war davon die Rede gewesen, daß er diese Verhältnisse verändern sollte.
Du bist ein Wächter! erinnerte ihn die Gedankenstimme. Du hast eine Aufgabe zu erfüllen.
Meine Aufgabe ist ausschließlich, Informationen zu beschaffen, antwortete Simon bitter.
Das Intervall des Zyzzkt-Raumers stand vor dem Zusammenbruch. Trotz seines Unmuts konnte Simon
den Blick nicht abwenden. Um so überraschter war er, daß die expandierende Glutwolke ausblieb.
Das gegnerische Schiff hat kurzfristig auf volle Leistung hochgefahren, meldete die Gedankensteuerung.
Belastungsanzeige 400 Prozent.
Von ähnlich extremen Werten hatte er schon vor geraumer Zeit gehört. Simon entsann sich. Im
Zusammenhang mit der POINT OF war davon die Rede gewesen. Demnach hatte Ren Dhark sein
Flaggschiff auch nur kurzfristig auf Höchstleistung gebracht. Ein interessanter Aspekt.
Was die Zyzzkt anbelangte... Simon brachte den Gedanken nicht zu Ende, denn urplötzlich brach der
Schutzschirm des Gegners doch zusammen. Offenbar waren die Meiler ertobit geworden und hatten die
Energieabgabe eingestellt.
Die Nadelstrahlgeschütze der NOREEN WELEAN ließen den In-sektoiden keine Chance - so wenig, wie
sie den Bewohnern der auseinanderbrechenden Welt eine Gelegenheit zur Flucht gegeben hatten. Egal,
was geschehen sein mochte, der sinnlose Tod von in
125
telligenten Wesen ließ sich damit nicht entschuldigen.
Aufhören! schrien Simons Gedanken. Ich ertrage das nicht mehr.
Stille umfing ihn.
Für einen Augenblick wirkte sie bedrohlicher als der Tod. Simon wünschte sich, endlich aus diesem
Alptraum aufzuwachen.
Ich dulde dieses Morden nicht! fügte er hinzu und registrierte überrascht, daß die Waffen des
Ringraumers schwiegen.
Die NOREEN WELEAN setzte zur Transition an.
Daß der Zwischenfall seine Schuld war und er ihn aus Unachtsamkeit provoziert hatte, entnahm Simon
der Aussage der Gedankensteuerung. Er hatte schlicht übersehen, den Tarnschutz aufzubauen.
Unsere Tarnung ist denen der anderen Raumer überlegen. Weil die NOREEN WELEAN eines der letzten Ringschiffe ist, die von den freien Worgun gebaut wurden. Das klang, als wäre damit alles gesagt -- für Simon warf es nur neue Fragen auf. Dennoch schwieg er
betreten.
Sollte er aufgeben? Die Schiffsführung nur der Gedankensteuerung überlassen? Wieso hoffte er dann,
eines nicht mehr fernen Tages ein terranisches Raumschiff zu fliegen, sobald er seinen eigenen Körper
zurück hatte? Ohne Erfahrung konnte er sich das aus dem Kopf schlagen, dann würde er auch künftig nur
das sein, was er immer gewesen war: ein Diener der anderen.
Simon aktivierte die Tarnvorrichtung. Ein zweites Mal würde ihm der Fehler nicht unterlaufen.
250 Lichtjahre hatte das Schiff mit der ersten Transition überwunden.
Ringsum blieb alles ruhig. Simon reagierte erleichtert.
Die nächste Transition würde den Kursvektor geradlinig fortsetzen. Der große Arkan-Sender lag noch
weit entfernt.
Für den Flug kamen nur mehrere Etappen in Betracht, jeweils von längeren Orientierungsphasen
unterbrochen. Simon wollte jede weitere unangenehme Überraschung vermeiden.
126 Zwanzig Minuten später verschwand die NOREEN WELEAN erneut im Hyperraum.
Eineinhalb Tage waren seit der Raumschlacht gegen die Zyzzkt vergangen. Insgesamt vierzehn
Transitionen über unterschiedlich große Distanzen hinweg lagen hinter dem Schiff. Es hatte keinen
weiteren Zwischenfall gegeben, obwohl zweimal unbekannte Raumer angemessen worden waren. Sie
hatten Simons Schiff nicht bemerkt.
Die Vorbereitung für den letzten Hypersprung war abgeschlossen. In wenigen Minuten würde der
Wächter sein erstes Ziel erreichen. Er fragte sich, was er vorfinden würde. Der Angriff der Zyzzkt hatte
ihn nachdenklich werden lassen. Der Ausfall des großen Arkan-Senders mochte weit weniger mit
technischem Versagen oder Naturkatastrophen zu tun haben als mit kriegerischen Auseinandersetzungen.
Möglicherweise existierte der Sender nicht mehr.
Aber vielleicht sah Simon auch nur zu schwarz.
Er leitete die letzte Etappe ein. Der Ringraumer verschwand aus dem normalen Raumzeitkontinuum,
überwand im Hyperraum in Nullzeit die Distanz von knapp achthundert Lichtjahren und materialisierte in
einer Region, in der die Sterne sehr dicht beieinanderstanden.
Die Menge der Ortungsdaten wurde schon innerhalb der ersten Minuten Legion. Mit halber
Lichtgeschwindigkeit näherte sich die NOREEN WELEAN den Endkoordinaten. Die Bildkugel zeigte eine
Ballung von acht Sonnen. Zum Teil standen sie nur Lichttage weit auseinander.
Ein kleiner Sternhaufen, in dem ungewöhnliche physikalische Bedingungen herrschen, dachte Simon.
Zweifellos erschwerten Gravitationsfelder, Sonnenwind und Hyperstrahlung ein normales Manövrieren.
Inwieweit Planeten dieser Sonnen eigenes Leben hervorgebracht hatten und vor allem, wie dieses Leben
beschaffen sein mochte, fragte er sich nur beiläufig. Das herauszufinden war nicht seine Aufgabe.
127 Funkempfang? wollte er wissen. Alle Kanäle sind offen, aber wir registrieren nur ein starkes Hintergrundrauschen. Der Arkan-Sender... ? Kein Kontakt. Simon nickte grimmig. Er spielte mit dem Gedanken, die Zielkoordinaten anzufunken, verwarf das
Vorhaben aber ebenso schnell wieder. Falls sich Gegner in dem Mysterious-Stützpunkt festgesetzt hatten,
wären sie frühzeitig gewarnt worden.
Die ersten Auswertungen... Simon registrierte überrascht, daß die Sonnen auseinanderstrebten. Fast
schien es, als hätte sich im Zentrum des Haufens vor langer Zeit eine Explosion ereignet, deren
Druckwelle die Sterne vor sich her trieb.
Ein absurder Gedanke, fand der Terraner. Selbst eine Hypernova hätte kaum solche Gewalt ausgeübt.
Vor allem hätten die Überreste einer gigantischen Stemexplosion noch heute erkennbar sein müssen.
Doch weder die Ortungen noch die optische Erfassung zeigten einen der farbigen Nebel, die den
Sonnentod überdauerten.
Ein mühsames und zeitraubendes Unterfangen wäre es gewesen, die Konstellationen zurückzuverfolgen
und rechnerisch den Ursprung der Stemgruppe zu erfassen. Ob sich daraus dann auf die Ursache
schließen ließ... Simon wußte es nicht. Er fragte auch nicht mehr, denn die Ortung lenkte ihn ab.
Die holographische Wiedergabe veränderte sich von einer Sekunde zur anderen, als würden seine
Überlegungen Wirklichkeit. Der Eindruck, daß die eben noch auseinanderstrebenden Sonnen wieder
aufeinander zu stürzten, um sich im Zentrum ihrer Schwerkraft zu einem gewaltigen Himmelskörper zu
vereinen, wurde übermächtig.
Eine optische Täuschung, stellte Simon fest. Tatsächlich war die Mehrzahl der Sterne aus der Erfassung
ausgeblendet worden. Geblieben waren wenige Lichtpunkte, die schnell auseinanderstrebten. Zwischen
ihnen ein düsterer, verwaschen wirkender Fleck, noch an der Grenze des Erfassungsbereichs. Aus vielen
winzigen Facetten setzte er sich zusammen: Einzelortungen, die fortlaufend modifiziert und verfeinert
wurden - ein nicht allzu
128
großer Himmelskörper.
Was ist das? Die Leiche eines Sterns, eine Dunkelsonne?
Ein Planet, antwortete die Gedankensteuerung. Unser Ziel!
Unzählige Fragen bedrängten ihn. Simon stellte nicht eine davon. Er fixierte die optische Wiedergabe.
Während die NOREEN WELEAN im Schutz ihres Intervalls beschleunigte und schließlich mit
mehrhundertfacher Überlichtgeschwindigkeit der einsamen Welt entgegenraste, starrte er stumm auf ihre
Darstellung in der Bildkugel.
Hatte sie einst zu einer der fliehenden Sonnen gehört? Dann war ihre Oberfläche warm gewesen und wohl
auch von Tageszeiten geprägt. Jetzt herrschte auf ihr Dunkelheit, nur spärlich erhellt vom Sternenschein
einer ewigen Nacht. In der Kälte des Weltraums hatte sich die Atmosphäre niedergeschlagen, ein Panzer
aus Eis, unter dem vielleicht alles Leben begraben lag.
Simon ballte die Fäuste. Er wartete, stumm und ohne zu wissen, worauf. Auf eine Reaktion, die erklärte,
was geschehen war. Fliehende Sonnen - der Name gefiel ihm.
Das Bremsmanöver begann, als die letzten Sterne am Ringrau-mer vorbeizogen. Das Schiff unterschritt
die Lichtgeschwindigkeit. Düster hing der Planet in der Bildkugel, optisch ohne Hilfsmittel nur zu
erkennen, weil er sich gegen das Band der fremden Galaxis abhob.
Dark. Oder noch besser: Dark Mystery. So werde ich dich nennen. Flüchtig der Gedanke, daß diese Welt mit der eigentümlichen Drift der Sonnen zu tun haben mochte. Als
einziger Himmelskörper unterlag sie kaum der Fluchtbewegung.
Simon konzentrierte sich auf die Meßdaten.
Keine Raumschiffe im weiten Umkreis.
Energieortung negativ.
Dark Mystery war so groß wie der heimische Mars. Ein wenig gedrungener allerdings und von
Fliehkräften verformt. Die Polregionen zeigten sich stark abgeflacht, im Äquatorbereich ragten
ausgedehnte Gebirgsmassive im Durchschnitt bis zu zwanzig Kilometer hoch auf.
Eine schmutziggraue Oberfläche bestimmte das Bild. Bis auf die
129 Bergketten zeigte sich der Planet unnatürlich glatt, wirkliche Strukturen fanden sich erst in einigen hundert Metern Tiefe. Dort lagen die kontinentalen Umrisse. Wasser und Land schienen sich auf Dark Mystery einst die Waage gehalten zu haben. Die Reliefdarstellung zeigte zwei große Kontinente und eine Vielzahl von Inseln, die vor langer Zeit eine Brücke zwischen den Landmassen gebildet hatten. Den einstigen Meeresboden zu erfassen war nur teilweise möglich; einzelne Grabenbrüche verschwanden in großer Tiefe. Ruinen wurden erkennbar, als die NOREEN WELEAN in einen Orbit einschwenkte. Ausgedehnte, zerstörte Städte, im Eis eingeschlossen. Eine unwirtliche, beinahe bizarre Welt war es, die im dreidimensionalen Raster erschien. Aber nirgendwo gab es noch Anzeichen von Leben. Simon zögerte lange. Erst als er schon glaubte, ein Drängen der Gedankensteuerung wahrzunehmen, entschied er sich für eine geostationäre Position über dem Nordpol. Im Schutz der Tarnung und des Intervalls blieb der Ringraumer weitgehend unangreifbar. Ich fliege mit einem Flash nach unten, verkündete der Wächter.
8.
Das Telin-Imperium umfaßte rund 13 250 Planeten. Nicht alle waren bewohnbar, längst nicht jeder war kolonisiert. Kon Azir sTarnmte von einem der Kolonialplaneten. Richtig zu Hause gefühlt hatte er sich dort nie. Immer hatte er sich gewünscht, auf Cromar zu leben, dem Hauptsitz des Telin-Imperi-ums und Standort des allwissenden Kluis. Mittlerweile hatte sich sein Wunsch erfüllt. Mehr noch: Kon Azir gehörte der Raumflotte des Imperiums an. Zwar nur als einfacher Soldat (andere Männer mittleren Alters waren bereits höher aufgestiegen), aber das genügte ihm. Schließlich konnten nicht alle Bewohner des Planeten mit den drei Monden Wer, Vankko oder gar Vank werden; es mußte auch einfache Tel wie ihn geben, die in den unteren Rängen ihre Pflicht erfüllten. Für einen Tel war Azir verhältnismäßig klein und auch ein wenig zu übergewichtig. Die meisten Angehörigen seines Volkes legten großen Wert auf körperliche Ästhetik und hielten sich entsprechend in Form. Bei ihren regelmäßigen sportlichen Betätigungen kam ihnen zugute, daß sie über zwei Kreisläufe und zwei Herzen sowie über zwei Nervensysteme verfügten. Auch Kon betrieb hin und wieder Sport, allerdings durfte er ihn nicht zu sehr anstrengen. Es genügte ihm, sich fit für den Dienst zu halten. Der Vierhundertmeterraumer, auf dem er diente, wurde überwiegend zu Erkundungsflügen innerhalb der Imperiumsgrenzen eingesetzt. Gern wäre Kon Azir mal auf einem größeren Schiff mitgeflogen, doch bisher waren seine Versetzungsgesuche stets abschlägig beantwortet worden. Lediglich eine Antwort stand noch aus, doch er
131 machte sich nur wenig Hoffnung, seine militärische Laufbahn künftig auf einem der neuesten Achthundertmeterdoppelkugelrau-mer fortsetzen zu dürfen. Das Volk der Tel, das vor zirka 300 Jahren damit begonnen hatte, Teile des Erbes der Mysterious für sich zu erschließen, verfügte über eine beachtliche Raumflotte. Zwar hatte man in vergangenen Raumschlachten hohe Verluste hinnehmen müssen, doch mit jedem neuen Schiff, das die Werften verließ, wurden die Lücken in den Reihen kleiner. Der hochmoderne Kampfraumer DRAKHON war vor ein paar Tagen von seinem erfolgreichen ersten Testflug aus dem All zurückgekehrt. Nun wurden stapelweise Bewerbungen geprüft, um die künftige Mannschaft zusammenzustellen. Auch Kon Azir hatte sich beworben. Obwohl Geduld zu den Tugenden seines Volkes gehörte, konnte er die Antwort kaum erwarten. Man überreichte sie ihm eines Morgens beim Appell auf dem Raumflughafen - in Form eines geschlossenen Umschlags. »Na, die nächste Ablehnung?« feixte ein Kamerad, der neben ihm stand. Azir steckte den Umschlag weg. Er würde die Benachrichtigung später lesen. Der morgendliche Dienstantritt war kein guter Zeitpunkt für Enttäuschungen. »Diesmal werden wir sieben Tage im All bleiben«, teilte der Kommandant seiner Mannschaft mit. »Wir rücken nicht nur zu Erkundungszwecken aus, es steht auch eine Notfallübung auf dem Programm. Ich erwarte von jedem einzelnen, daß er sein Bestes gibt!« Er räusperte sich. »Einer von euch wird nicht mit uns fliegen. Er bleibt hier und setzt in Zukunft voraussichtlich keinen Fuß mehr in unser Schiff.« Ein Raunen ging durch die Reihen. Nur bei schweren Dienstvergehen war es üblich, Mannschaftsmitglieder von Flügen auszuschließen. Es gab nichts Entehrenderes für einen Raumsoldaten. Langsamen Schrittes kam der Kommandant auf Kon Azir zu. Kon wurde etwas blaß - was kaum auffiel, da die humanoiden Tel äußerlich schwarzhäutigen Nordeuropäem glichen. Deshalb hatten 132 die Menschen ihnen die Bezeichnung »Schwarze Weiße« gegeben, was in keiner Weise abwertend
gemeint war.
Der Kommandant blickte Azir fest in die Augen. »Wenn Sie das nächste Mal eine schriftliche Nachricht
von unserer Militärverwaltung erhalten, Soldat, dann lesen Sie sie gefälligst sofort, verstanden?
Ansonsten wünsche ich Ihnen viel Erfolg - als Maat auf dem neuen Raumkreuzer DRAKHON.«
Der Planet Cromar sah aus wie eine einzige Stadt. Hier lebten 48 Milliarden Tel auf sieben Kontinenten.
Obwohl auf den Kolonialplaneten des Telin-Imperiums weitaus mehr Platz war, zog Cromar die
Angehörigen dieses stolzen Volkes wie magisch an.
Kon Azir betrachtete den Hauptsitz des Telin-Imperiums, der auch als Telin II bezeichnet wurde, längst
als sein wirkliches Zuhause. An seinen Geburtsplaneten verschwendete er kaum noch einen Gedanken.
Dort vermißte ihn niemand, und er vermißte niemanden dort. Genaugenommen war die wahre Heimat eines Raumsoldaten das Schiff, auf dem er diente, schließlich verbrachte er den Großteil seines Lebens an Bord - zusammen mit seinen Vorgesetzten und Kameraden, die für ihn wie eine zweite Familie waren. Es war Azir nicht leichtgefallen, sich von seiner bisherigen »Familie« zu trennen. Aber die Aussicht, in Zukunft auf dem Achthundertmetergiganten DRAKHON mitfliegen zu dürfen, tröstete ihn über alles hinweg. Er empfand die Versetzung als große Ehre. Bislang hatte die DRAKHON lediglich einige Testflüge hinter sich gebracht. Ihr erster offizieller Start mit der auserwählten neuen Mannschaft stand noch bevor. Die Offiziere und Soldaten hatten das Schiff bereits besichtigen dürfen, aber bisher waren nur wenige von ihnen in ihren künftigen Aufgabenkreis eingewiesen worden. Auch Kon Azir hatte noch nicht die geringste Ahnung, in welchem Bereich man ihn einsetzen würde. Auf dem vorigen Schiff hatte er zum Maschinenraumpersonal gehört; zudem hatte er re 133 gelmäßig an Kampf Übungen teilgenommen. Obwohl er alles andere als eine Sportskanone war, hatte er
beim Manöver stets eine gute Figur gemacht.
Seine sportlichen Mängel glich er durch besondere Raffinesse aus - Kon war klein, aber gemein.
Außerdem verfügte er über gute technische Kenntnisse.
Derzeit wurde die zukünftige Mannschaft der DRAKHON einem hartem Drill unterzogen. Den Soldaten
wurde nichts geschenkt. Wer nicht durchhielt, konnte seinen Einsatz im All auf diesem Eliteschiff
vergessen.
Kon Azir biß die Zähne zusammen.
Er war fest entschlossen, allen zu zeigen, was in ihm steckte. An Aufgabe dachte er nicht eine
Nanosekunde. Die Schande, als Versager auf sein früheres Schiff zurückkehren zu müssen, hätte er nicht
überlebt.
»Schau, da kommt unser Saubermann.«
»Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt.«
»Das liegt daran, daß er eine Uniform trägt - und eine Waffe anstelle des Putzlappens.«
Kon Azir entgingen die Spötteleien seiner Kameraden nicht, doch er tat so, als habe er nichts gehört. Es
war jetzt nicht die Zeit für Streitigkeiten - kurz vor dem Morgenappell auf dem militärischen
Raumflughafen von Cromar.
Heute sollte es endlich soweit sein. Die DRAKHON würde zu ihrem ersten regulären Rüg ins All starten.
Mit der STarnmannschaft, die in wochenlangen Vorbereitungen sorgsam ausgewählt und auf ihre
diversen Aufgaben vorbereitet worden war.
Mittlerweile hatten die Offiziere und Soldaten zahlreiche »Trok-kenübungen« hinter sich. Der Ernstfall
war immer und immer wieder geprobt worden, damit jedes Mannschaftsmitglied wußte, wo beim
Kampfeinsatz sein Platz war. Sobald der Alarm ertönte, mußte alles präzise und schnell funktionieren.
Jeder Fehler konnte der letzte sein.
Damit im Einsatz erst gar keine Fehler passierten, waren regel
134
mäßige Flottenübungen vorgesehen.
Außerhalb der Manöver hatten die Soldaten andere Aufgaben auf dem Schiff zu bewältigen.
Kon Azir hatte man den Auftrag erteilt, sich um Wartung und Sauberkeit in den Maschinenräumen und
Filteranlagen zu kümmern.
Da es sich dabei um die unangenehmste Arbeit an Bord handelte, hatte man ihm in Aussicht gestellt, nach
einem Cromarjahr abgelöst zu werden, vorausgesetzt, es würde sich ein Freiwilliger fmden, der diese
schmutzige, aber unbedingt notwendige Aufgabe übernahm.
Als »Freiwilliger« kam auch jemand in Frage, der im Laufe des kommenden Jahres aufgrund von
Unfähigkeit bei seinen Vorgesetzten in Ungnade fallen würde. Schon deshalb würde sich jeder Soldat
mächtig anstrengen und im Manöver stets das Äußerste geben.
Azirs Aussicht, die ungeliebte Arbeit irgendwann an einen Kameraden abzugeben, war somit äußerst
gering.
Glücklicherweise wurden einige Teilbereiche seiner Tätigkeit von Maschinen erledigt, so daß er nicht
alles von Hand bewältigen mußte.
Allerdings gehörte es wiederum zu seinem Job, sich um die Wartung jener Maschinen zu kümmern - und
sie sauberzuhalten. Ein ewiger »Putzkreislauf«, der nie zu enden schien.
Während des Morgenappells wurden die Soldaten zum wiederholten Male darauf hingewiesen, daß es
sich bei der DRAKHON um eines der modernsten Raumschiffe der Flotte handelte. »Das gesamte Telin-Imperium blickt auf uns. Wer auf der DRAKHON mitfliegen darf, gehört zur Elite von Cromar. Noch Fragen?« Kon Azir meldete sich zu Wort. Er wollte wissen, ob an Bord tatsächlich die neueste Tarntechnologie der Tel installiert war. Niemand wußte Näheres darüber, unter den Soldaten kursierten lediglich einige sich widersprechende Gerüchte - ausgelöst durch das strenge Verbot, bestimmte Bereiche des Raumschiffs zu betreten. Wer Gal Trenk, Kommandant der DRAKHON, sah Kon durch
135 dringend an. »Alles zu seiner Zeit, Soldat. Dieses Schiff birgt viele Geheimnisse. Erst wenn wir bei den
Sternen sind, wird das eine oder andere gelüftet. In diesem Zusammenhang weise ich nochmals auf die
Geheimhaltungspflicht eines jeden einzelnen hin! Ich gelte allgemein als tolerant - aber bei Verrat kenne
ich keine Gnade!«
»Wieso interessiert es dich, wo sich die Tarnvorrichtung befindet?« flüsterte ein Soldat Azir zu. »Willst
du sie putzen?«
Ein unauffälliger, aber schmerzhafter Tritt auf den Fuß brachte ihn zum Schweigen. Kon Azir haßte es,
wenn man sich über ihn lustigmachte.
Der Start der DRAKHON verlief ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Cromars neuester Kampfraumer
verschwand am Himmel und tauchte ein ins unendliche Weltall.
Jeder an Bord war sich bewußt, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis der Alarm ertönen und damit
überall hektische Aktivitäten auslösen würde.
Bis es soweit war, beschäftigte sich jeder in seinem ihm zugeteilten Aufgabenbereich.
Kon Azir wurde der Befehl erteilt. Wartungsarbeiten in der Filteranlage der Luftversorgung
vorzunehmen. Dafür benötigte er einen Druckanzug, moderne Geräte und technisches Fachwissen, über
das er aufgrund seiner Ausbildung verfügte. Nicht zuletzt deswegen hatte man ihn an Bord geholt.
Zur Wartung gehörte auch die gründliche Reinigung bestimmter Bereiche innerhalb der Anlage. Zwar
wurde diese Tätigkeit weitgehend mit Spezialgeräten erledigt, doch für den »letzten Schliff« gab es nichts
Besseres als einen einfachen Putzlappen.
Kon war fest überzeugt, mitten in der Arbeit vom Übungsalarm unterbrochen zu werden.
Leider erfüllte sich diese Hoffnung nicht. Lange Zeit kam er nicht aus der Anlage heraus - bis er seine
Arbeit komplett erledigt hatte.
Als er schließlich den Filterbereich verließ und den Druckanzug öffnete, wurde ihm ein wenig
schwindelig. Dieses Gefühl konnte er sich nicht näher erklären, denn normalerweise war er kerngesund.
136 Zu seiner Verwunderung war im Maschinenraum kein Tel mehr anwesend, auch kein Roboter. Die
Aggregate waren hochgefahren, das Schiff befand sich demnach weiterhin auf dem Flug durchs AU.
Aber wo war das Maschinenraumpersonal abgeblieben? Eine überraschende Sicherheitsübung? Hatte
Kon den Alarm überhört? Nein, im Übungsfall hätte erst recht jemand hier unten sein müssen. Die
Maschinen blieben nie unbeaufsichtigt.
Kon Azir hatte ein merkwürdiges Gefühl. Etwas stimmte nicht auf dem Schiff, das spürte er mit allen
Fasern seines Körpers.
Was war geschehen?
War er der letzte Tel an Bord der DRAKHON? Hatte man das Schiff aufgrund einer Gefahr evakuiert und
ihn in der Filteranlage - vergessen?
»Das langt!«
Henner Trawisheim verfügte über einen sehr, sehr langen Geduldsfaden. Den brauchte er auch, als
zweiter Mann im Staate, der vom ersten Mann - dem Commander der Planeten - mit den Re
gierungsgeschäften zumeist allein gelassen wurde. Sein Geduldsfaden war dehnbar wie ein Bungee-Seil,
doch selbst das konnte reißen, wenn es einen gewissen Punkt überschritten hatte.
Trawisheim hatte zwar nicht wirklich daran geglaubt, daß Skittleman das Sensoriums verbot einfach so
runterschlucken würde, trotz der Aussicht, seine Unkosten ersetzt zu bekommen, aber er hatte zumindest
gehofft, daß sich der Geschäftsführer von Intermedia auf die üblichen Gehässigkeiten und
Spitzfindigkeiten beschränken würde.
Das war jedoch nicht der Fall.
»Diesmal ist er zu weit gegangen!« schimpfte Henner an seinem Schreibtisch, als seine Sekretärin
hereinkam und ihm einen starken Kaffee servierte. »Viel zu weit! Der soll mich kennenlernen!«
»Soll ich den Kaffee wieder mitnehmen?« fragte die Sekretärin fürsorglich. »Das Koffein könnte Sie
noch mehr aufregen.«
»Na und?« erwiderte ihr Chef. »Vielleicht will ich mich ja auf
138 regen! Muß man denn seinen Alltag immer ruhig und gelassen bewältigen? In manchen Streßsituationen
ist es sogar gesund, mal richtig in die Luft zu gehen - da können Sie die Ärzte fragen!«
»Aber so kenne ich Sie gar nicht.«
»Ich bin halt ein vielseitiger Mensch«, entgegnete Trawisheim, senkte die Stimme und atmete langsam
aus.
»Seit Tagen überzieht Intermedia die Regierung mit einer niederträchtigen Schmutzkampagne«, sagte er,
nachdem er einen Schluck Bohnenkaffee genommen hatte. »Haben Sie die vielen gemeinen Schlagzeilen
über Ren Dhark und mich gelesen?«
Er wühlte in einem ungeordneten Stapel Tageszeitungen, die er über seinen Schreibtisch verstreut hatte.
Seit geraumer Weile gab es auf den Titelseiten nur ein Thema. Die Schlagzeilen sprachen für sich.
Sensorium-Affäre: Regierung läßt gefährliche Technologie auf die Menschheit los!
Trawisheims Unfähigkeit treibt terranische Firmen in den Ruin!
Regierung schaut tatenlos w, wie unschuldige Menschen der Sensoriumssucht verfallen!
Terra in der Hand von gewissenlosen Dealern — und Commander Dhark bereist das Weltall!
»Wenn man das liest, könnte man meinen, Ren Dhark sei zu einer Urlaubsreise zu den Sternen aufgebrochen«, kommentierte Trawisheim die feigen Anschuldigungen. »Dabei hält der Commander mal wieder irgendwo in der Feme den Kopf für die gesamte Menschheit hin. Wen meinen diese Schmieranten eigentlich mit >terranische Firmen Etwa Sensorium Incorporated, wo die Geräte und die Suchtchips hergestellt wurden? Dahinter steckten Tel! Zugegeben, etliche kleinere Geschäftsleute erlitten erhebliche Verluste, aber wir werden nach Kräften versuchen, sie zu entschädigen. Was hätte ich denn anderes tun sollen, als ein Verbot auszusprechen? Ich habe sofort gehandelt, als mir das Ausmaß der Sucht bekannt war. Von tatenlosem Zuschauen kann daher keine Rede sein. Ich habe mich sogar mit der Botschaft auf Cromar in Verbindung gesetzt, nachdem mir der GSO-Bericht vorlag. Mittlerweile wurde auch im gesamten Telin-Imperium die Sensoriumstechno-logie verboten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man dem Vank
139 genauso einheizt wie mir - das würde kein Tel wagen.« Der Regiemngschef redete sich jetzt so richtig in Fahrt. Seine zehn Jahre ältere Sekretärin hörte ihm geduldig zu. Sie hatte, obwohl nur eine von vielen Vorzimmerdamen, sein volles Vertrauen - weil sie nie etwas weitertratschte. Auf seine Anweisung hin schaltete sie den Wandbildschirm ein und aktivierte wahllos mehrere Holokanäle. Sobald sie auf eine Intermedia-Sendung stieß, hielt sie für eine Weile inne. »Sie haben recht«, pflichtete sie ihrem Chef schließlich bei. »Skittlemans Berichterstatter scheinen gar kein anderes Thema mehr zu kennen.« »Wem sagen Sie das?« bemerkte Trawisheim seufzend. »Wählen Sie Null-Sechs-Null-Sechs an, dann wissen Sie, was mich eben so furchtbar aufgeregt hat. Ich zeichne die Sendung auf und schaue sie mir später komplett an, wenn ich mehr Zeit und meine innere Ruhe wiedergefunden habe. Außerdem benötige ich die Aufzeichnung zu Beweiszwecken.« »Null-Sechs-Null-Sechs? Ist das nicht der Talkshowkanal?« bemerkte die Sekretärin, während sie der Anweisung nachkam. Eine Antwort erübrigte sich. Auf dem Bildschirm erschien eine pummelige Moderatorin im Gespräch mit Joe R. G. Skittleman. Beide saßen auf einem roten Knautschlacksofa, gemeinsam mit einem bartlosen, etwa fünfzigjährigen, pfeiferauchenden Mann. Im Hintergrund wurden in loser Reihenfolge verschiedene Fotos von Trawisheim eingeblendet. Skittleman, teuer, aber geschmacklos gekleidet, mit einem Gold-kettchen um den Hals, lamentierte über die angeblich entgangenen Gewinne seines Konzerns, für die er in erster Linie Trawisheim die Schuld gab. Er erwähnte mehrfach, daß sich Dharks Stellvertreter hartnäckig weigerte, für seine Fehler geradezustehen und Intermedia die Verluste zu ersetzen. Die Moderatorin fragte den Pfeifenraucher, den sie mit »Mister Relda« ansprach, nach seiner fachlichen Meinung. »Zweifelsohne kann Henner Trawisheim mit der Macht, über die er Kraft seines Amtes verfügt, nicht umgehen«, erklärte Alf Relda mit ruhiger, tiefer Stimme, zog ein paarmal an seiner Pfeife und blickte mit gewichtiger Miene in die Kamera. »Er ist der irrigen 140 Meinung, für sein Handeln keine Verantwortung mehr übernehmen zu müssen - sichere Anzeichen für das sogenannte Königs-syndrom. In meiner Eigenschaft als Diplompsychologe hatte ich schon des öfteren mit ähnlich gelagerten Fällen zu tun. Bei der leichtfertigen Einführung der Sensoriumstechnologie
wurden seitens der Regierung gravierende Fehler gemacht, für die in erster Linie Henner Trawisheim verantwortlich ist. Leider steht er nicht dazu, was auf gewisse seelische Störungen schließen...« Trawisheim schaltete den Bildschirm aus. »Der eingebildete Fatzke stellt mich hin, als sei ich ein Psychopath, der allmählich die Kontrolle über sich verliert. Das ist keine Talkshow - das ist eine öffentliche Hinrichtung.« »Was hat es mit dem Königssyndrom auf sich?« wollte seine Sekretärin wissen. »Königssyndrom ist die lockere Bezeichnung für eine seelische Erkrankung, die als Vorstufe zum Größenwahn gilt. Wer unter jenem Syndrom leidet, dessen Denkweise kann man in einem einzigen Satz zusammenfassen: >Ich bin ganz oben auf dem Gipfel der Macht, ich bin der König - und als König darf ich alles tun, was ich will, ohne daß man mich dafür zur Rechenschaft ziehen kann!< Mag ja sein, daß diese egoistische Denkweise auf einige Politiker, Konzemchefs oder sonstige Machthaber zutrifft, aber nicht auf mich. Ich habe mich immer als Terraner unter Terranem gesehen, nicht als durchgedrehten Diktator. Diplompsychologe kann offenbar jeder Halbgebildete werden. Die GSO beobachtet die Aktivitäten von Intermedia schon seit geraumer Weile. Bestimmt ist Alf Relda dort kein unbeschriebenes Blatt. Ich bitte Eylers, mir ein Dossier über ihn zu schicken. Danach setze ich mich mit unseren Anwälten in Verbindung. Ich werde Skittlemans infame Verleumdungen nicht länger hinnehmen. Seine üble Schmutzkampagne muß unbedingt ein Ende finden.« »Rufen Sie doch gleich den Justizminister an«, riet ihm die Sekretärin. »Gute Idee«, meinte Trawisheim und fügte augenzwinkernd zu. »Wozu bin ich König?« Seine Fassung hatte er offenbar zurückgewonnen.
141 In diesem Moment meldete sich das Vipho auf seinem Schreibtisch. Auf der Anzeige erschien der Code der Botschaft der Tel. Henner schickte seine Sekretärin mit einem Wink hinaus - so weit ging sein Vertrauen zu ihr nun doch nicht. Gespräche mit anderen Regierungsvertretem beziehungsweise deren offiziellen Stellvertretern unterlagen der Geheimhaltung. Der telsche Botschafter hatte gerade eine wichtige Mitteilung von Cromar erhalten, die er umgehend weitergab. »Einer unserer neuesten Achthundertmeterraumer - die DRA-KHON - wurde im All entführt«, informierte der Botschafter den terranischen Staatschef. »Wir vermuten, daß die Rebellen dahin terstecken, dieselbe Gruppe, die auch die Herstellung und Verbreitung der suchtbringenden Sensoriumschips organisiert hat. Vermutlich haben sie das Schiff mit einer Weiterentwicklung ihrer wi derwärtigen Erfindung in ihre Gewalt gebracht - mit Fernsteuersensorien. Damit können sie direkten Einfluß auf ihre Träger nehmen. Näheres weiß ich leider nicht darüber, unsere Wissenschaftler und Techniker sind noch ziemlich ratlos.« »Ihr Militär hoffentlich nicht«, erwiderte Trawisheim. »Hat man die Verfolgung des entführten Schiffs aufgenommen? Welchen Kurs hat es eingeschlagen?« Seine Wut auf Skittleman und Relda war schlagartig verraucht. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun, dagegen waren die beiden nur Fliegendreck. »Leider ist die DRAKHON spurlos verschwunden«, gestand der Botschafter ein. »An Bord befindet sich die neueste Tarntechnologie unseres Volkes. Das neue Dämpfungsfeld sollte im Kampf gegen Feinde des Imperiums eingesetzt werden -jetzt wendet sich unsere eigene Technik gegen uns selbst. Wir möchten die Terraner hiermit offiziell um Mithilfe bei der Suche nach dem Raumer bitten. Können wir mit Ihrer Unterstützung rechnen?« »Das versteht sich von selbst«, sicherte Trawisheim ihm zu. »Marschall Bulton wird eine Fahndungsmeldung an sämtliche im All befindlichen Schiffe der Terranischen Flotte weiterleiten.« Nachdem die Verbindung zur Botschaft erloschen war, dachte er über weitere sinnvolle Maßnahmen nach. 142 Nicht zum erstenmal wünschte er sich, er hätte jemanden um Rat fragen können. Jemanden, der in der politischen Hierarchie über ihm stand. Ren Dhark.
Achthundertmeterdoppelkugelraumer waren nicht die Ausnahme in der Flotte des Tel-Imperiums, sondern die Regel. Schiffe von vierhundert Metern wie das, auf dem Kon Azir zuletzt gedient hatte, gab es weitaus seltener. Die Tel waren stolz auf ihre prächtigen, beeindruckenden Raumer, die ihre Feinde schon von weitem das Fürchten lehrten. Für Azir gab es keinen Grund, sich vor den gewaltigen Raumschiffen zu fürchten. Er war kein Feind der Tel, er gehörte zu ihnen. Im übrigen war es an Bord eines Kampfraumers bekanntlich sicherer als
draußen. Drinnen konnten einem die mächtigen Geschütze nichts anhaben.
Trotzdem fühlte sich Kon nicht wohl in seiner schwarzen Haut. Irgend etwas Bedrohliches befand sich in
greifbarer Nähe, ohne daß er es zu fassen bekam.
Mittlerweile hatte er sich des Druckanzugs vollständig entledigt. Darunter trug er seine Arbeitsuniform.
Eine Waffe hatte er nicht mit dabei, sie war zur Arbeitskleidung nicht vorgeschrieben.
Kon Azir verließ den Maschinenraum und durchquerte einen beleuchteten Tunnel. Nach etwa fünfzig
Metern gabelte sich die Röhre.
Br ging nach rechts, an der nächsten Kreuzung nach links.
Niemand begegnete ihm. Sein Verdacht, daß die DRAKHON in aller Eile evakuiert worden war, während
er sich im Filterbereich aufgehalten hatte, verstärkte sich. Offenbar hatten es seine Kameraden nicht für
nötig gehalten, ihn zu informieren.
Wozu auch? In ihren Augen war er ja nur der Saubermann, jenes Besatzungsmitglied, auf das man im
Notfall als erstes verzichten konnte.
Dabei konnte er mit den Bordgeschützen genauso gut umgehen wie die übrigen Soldaten, das hatte er
während der »Trockenmanö
143 ver« auf dem Raumhafen mehrfach bewiesen. Am Schaltpult der Waffensteuerung war er so richtig in seinem Element. Hatten ihn die anderen mit voller Absicht zurückgelassen? Oder waren alle so sehr in Panik geraten, daß keiner mehr an ihn gedacht hatte? In Panik? Wovor? Über einen Antigraviift gelangte Kon auf die Ebene der Mannschaftsquartiere. In den Gängen traf er keine Telseele an. Mit gemischten Gefühlen betrat er eine der Kabinen. Sie war leer. Alles sah nach einem überstürzten Aufbruch oder plötzlichen Überfall aus. Auf einem Tisch waren metallene Porat-Spielkarten ausgebreitet. Nach Lage der Karten hatten sich die Spieler mitten in der siebten Runde befunden, als sie ihr Schicksal ereilte. Aber welches Schicksal? Mindestens vier Personen hatten sich in diesem Quartier aufgehalten, denn Porat konnte man nur zu viert spielen. Was war ihnen zugestoßen? Hatten sie sich mitten im Spiel plötzlich in Luft aufgelöst? In jeder Kabine gab es einen Waffenspind. Dieser hier war unverschlossen. Offenbar hatte einer der Soldaten noch versucht, hineinzugreifen und sich zur Wehr zu setzen. Zur Wehr gegen wen? Azir besah sich den Spind näher. Das elektronische Schloß war auf normalem Wege geöffnet worden, ohne Gewaltanwendung. Sämtliche Waffen befanden sich noch darin. Damit war Kons anfängliche Vermutung, während seiner arbeitsbedingten Abwesenheit könnte eine überraschende Alarmübung stattgefunden haben, endgültig gestorben. Im Alarmfall hätten sich sämtliche Quartierbewohner in voller Montur an den ihnen zugewiesenen Einsatzorten einfinden müssen - bis an die Zähne bewaffnet. Kon nahm zwei Handstrahler aus dem Spind und befestigte sie links und rechts am Gürtel seiner Arbeitsuniform. Jetzt kam er sich nicht mehr so nackt vor. Einen Strahlkarabiner nahm er ebenfalls an sich. Die für die Filteranlagenwartung benötigten Arbeitsmaterialien hatte er größtenteils im Maschinenraum zurückgelassen. Lediglich ein handliches, flaches Meßgerät trug er in einer am Hosenbein
144 angebrachten Seitentasche bei sich, geeignet zum Anmessen von austretenden Schadstoffen. Und in der oberen Tasche seiner Uniformjacke befand sich eine Handvoll Bluedoggs. Bluedoggs waren kleine, silberfarbene Kugeln aus einem Spezialmaterial. Warf man die Kugel mit voller Wucht gegen einen festen Gegenstand, platzte das Material an der Kollisionsstelle leicht auf und sonderte blitzschnell eine klebrige chemische Flüssigkeit ab. Dadurch blieb der Bluedogg hängen, wo er war. Im Inneren befand sich ein winziger, selbsttätig arbeitender Störchip, der nach dem Aufprall sofort aktiv wurde. Die Technik der Tel war zwar perfekt, doch jede Perfektion hatte auch ihre Schwachstellen. Es kam selten vor, aber es kam vor, daß einfache Maschinen plötzlich nicht mehr richtig funktionierten, erhebliche Schäden anrichteten und sich auf die Schnelle nicht mehr abschalten ließen, zumindest nicht auf normalem Wege. Trat ein solcher Ausnahmefall ein, genügte ein gezielter Wurf mit der BluedoggKugel, und schlagartig legte der Störchip sämtliche Funktionen der »durchgedrehten« Apparatur lahm. Durch diese schnelle Notfallmaßnahme wurden hohe Unkosten verhindert, weshalb in Tel-Fabriken, Werften und so weiter Bluedoggs zur Grundausstattung eines jeden Maschinenarbeiters gehörten. Kon Azir dachte stets praktisch. Was einem Fabrikarbeiter von Nutzen war, konnte vielleicht auch einem Raumsoldaten, der viel Zeit im Maschinenraum verbrachte, hilfreich sein. Daher hatte er sich vor dem Start einige Bluedoggs besorgt, auf eigene Kosten.
Zum Denken benötigte er glücklicherweise keinerlei Hilfsmittel. Er nahm am Spieltisch Platz, setzte seine Gehirnzellen in Gang und ließ seiner Phantasie freien Lauf. Kon versetzte sich in die Lage der vier Spieler... ••• die sich arglos ihren metallenen Porat-Karten widmeten, als ohne Vorwarnung das Unheil über sie hereinbrach. Eine unbekannte Gefahr griff nach ihnen und ließ ihnen keine Zeit zur Gegenwehr. Drei der Männer sanken von einer Sekunde auf die andere in sich zusammen. Nur einer schaffte es noch, den Spind zu öffnen, aber bevor er sich eine Waffe greifen konnte, ging auch er zu Boden.
145 Warum hatten sie die Gefahr nicht kommen sehen oder gehört? Welche unheimliche, unsichtbare Kraft war imstande, lautlos in einen Raum einzudringen und innerhalb von Augenblicken vier gestandene Soldaten auszuschalten? Vier? Sehr wahrscheinlich befand sich auch in den übrigen Quartieren kein Tel mehr. Möglicherweise war inzwischen niemand an Bord mehr am Leben. GAS! schoß es Kon Azir durch den Kopf. War auf der DRAKHON eine der heimtückischsten Waffen eingesetzt worden, die es gab? Azir verabscheute Gasangriffe und stufte sie als einen Akt der Feigheit ein. Für einen offenen Kampf war er als Soldat immer zu haben - doch wie kämpfte man gegen einen Feind, den man nicht zu fassen bekam? Kon nahm das Meßgerät aus seiner Hosenbeintasche. Wenig später wußte er Bescheid. Im Inneren der Kabine ließen sich noch feine Überreste einer schädlichen Substanz anmessen. Irgendwer hatte offenbar das gesamte Schiff mit einem starken, aber nicht tödlichen Betäubüngsgas geflutet. Azir war dank des Druckanzugs davon verschont geblieben. In der Anlage hatte er nicht einmal etwas davon bemerkt. Nun hatte er auch eine Erklärung für das leichte Schwindelgefühl, das ihn befallen hatte, nachdem er aus der Filteranlage gekommen war. Das Gas war zu jenem Zeitpunkt bereits weitgehend von den Filtern in der Luftumwälzungsanlage neutralisiert worden und hatte kaum noch Wirkung gezeigt. So manches Mal hatte Kon Azir seinen neuen Kameraden wegen ihrer Spötteleien die Flurazz an den Hals gewünscht. Jetzt, wo sie spurlos verschwunden waren, vermißte er jeden einzelnen von ihnen. In einer Mannschaft brauchte nun mal einer den anderen.
Wer Gal Trenk, Kommandant der DRAKHON, verspürte einen stechenden Schmerz im Kopf, als er die
Augen aufschlug. Zunächst hatte er Mühe, sich zu orientieren. Wie durch einen Ne
146
bel erkannte er das Gesicht seines ersten Offiziers.
»Mun Gowan?« kam es leise über seine Lippen. »Was ist passiert?«
»Jemand hat uns mit Betäubungsgas außer Gefecht gesetzt«, erhielt er zur Antwort.
Trenk lag auf hartem Boden. Langsam richtete er sich auf.
»Jemand?« fragte er. »Wer?«
»Ein Rebell oder mehrere, vielleicht eine ganze Terroristentruppe - ich weiß es nicht. Wir werden von
Robotern bewacht.«
Gowan half dem Kommandanten, auf die Beine zu kommen. Gal Trenk schaute sich nach allen Seiten um
und stellte fest, daß er sich in einem ungenutzten, leeren Hangar des Schiffes befand.
Etwas mehr als die Hälfte der Besatzung war anwesend. Offiziere und Mannschaftsmitglieder hatten sich
ungeordnet überall im Hangar verteilt, stehend, sitzend, liegend - einige waren noch bewußtlos.
Ein Roboter brachte gerade eine weitere ohnmächtige Person herein und legte sie unsanft ab.
Trenk trat mutig auf das Maschinenwesen zu. Andere Völker hatten mitunter Schwierigkeiten, Tel-
Roboter von echten Tel zu unterscheiden. Für die Tel selbst stellte das kein Problem dar, sie erkannten
ihre Schöpfungen auf Anhieb.
»Weißt du, wer ich bin?« fragte der Wer den Roboter.
»Dein Name ist Gal Trenk«, antwortete ihm die Maschine.
»Dann ist dir sicherlich auch bekannt, welches Amt ich auf der DRAKHON innehabe.«
»Du bist der Kommandant dieses Raumschiffs.«
»Richtig. Und deshalb mußt du mir gehorchen.«
»Negativ. Wir haben Befehl, das Schiff zu übernehmen und die Kommandantur zu entmachten. Du hast
hier nicht mehr das Kommando, Gal Trenk, und auch keiner deiner Offiziere.«
»Von wem habt ihr den Befehl bekommen? Wer ist der neue Kommandant?«
»Darüber darf ich keine Auskunft geben. Sie haben es mir verboten.«
»Sie? Wer sind >sie« »Ich kenne sie nicht.«
147 »Du kennst sie nicht?« wunderte sich Gal Trenk. »Und wie erhältst du dann deine Anweisungen?« »Meine Befehle werden mir von ihnen übermittelt«, sagte der Roboter und deutete auf zwei Tel, die soeben den Hangar betraten. Obwohl die beiden Tel Sensoriumsbrillen auf dem Kopf trugen, erkannte Trenk sie sofort. Sie gehörten der Funkzentrale an. Beide brachten einen dritten Tel herein, der bewußtlos war und kein Sen-sorium trug. Der Kommandant wollte zu ihnen gehen, doch Mun Gowan hielt ihn davon ab. »Hat keinen Sinn, die Sensorienträger beachten uns nicht und kommunizieren ausschließlich mit den Robotern.« »Wie viele Tel mit Sensorium gibt es an Bord?« wollte Trenk wissen. »Bisher habe ich sechs gezählt, alles Besatzungsmitglieder«, informierte ihn sein Offizier und Vertrauter. »Wahrscheinlich sind es mehr. Sie wirken auf mich wie geistig weggetreten. Ich schätze, sie werden durch das Sensorium irgendwie femgesteuert. Wer ihnen die Geräte aufgesetzt hat, kann ich nicht sagen. Vielleicht waren es die Roboter - oder diejenigen, die an den Schaltern der Fernsteuerung sitzen, die Drahtzieher dieser ganzen Aktion.« »Was meinst du, befinden die sich auf der DRAKHON?« »Wäre durchaus möglich. Ebensogut könnten sie sich auf Cromar aufhalten oder auf einem anderen Raumschiff - je nach Reichweite der Fernsteuerung. Ich kann darüber nur spekulieren, anhand meiner bisherigen Beobachtungen. Offensichtlich wurde das gesamte Schiff mit Betäubungsgas geflutet. Ich war einer der ersten, die hierher geschafft wurden. In einem fort bringen die Roboter und die durchs Sensorium gesteuerten Tel weitere Bewußtlose herein, die dann nach und nach erwachen.« »Die Roboter erhalten ihre Anweisungen über die Sensorienträger, und die Sensorienträger kriegen ihre Befehle durch die Fernsteuerung«, resümierte Gal Trenk halblaut. »Warum reißen wir ihnen das Sensorium nicht vom Kopf? Vielleicht werden sie dann wieder normal und befehlen den Robotern, uns freizulassen.« »Auf den Gedanken bin ich auch schon gekommen. Aber die Roboter lassen keinen von uns näher als drei Meter an die femge 148 steuerten Tel heran.«
»Hätte ich mir ja denken können.« Trenk beugte sich etwas zu Gowan herüber und verlegte sich aufs
Rüstern. »Wir beide wissen, wieso sich die unbekannten Entführer ausgerechnet die DRAKHON
ausgesucht haben, nicht wahr?«
»Ich ahne es«, entgegnete Mun Gowan ebenso leise. »Nur du und ich wurden davon in Kenntnis gesetzt,
was sich im Haupthangar befindet. Ich nehme an, unsere Entführer haben es genau darauf abgesehen, und
mit Sicherheit werden sie es nicht an einem unbewohnten, toten Planeten testen, wie wir es vorhatten.
Falls wir uns in der Hand von Rebellen befinden, und daran habe ich kaum noch Zweifel, muß sich das
Telin-Imperium auf einen harten Schlag gefaßt machen.«
»Ich werde unserer Besatzung Mut zusprechen«, entschied Gal Trenk. »Das erwartet man von mir als
Kommandant dieses Schiffes - die Absetzung durch unsere Peiniger betrachte ich als ungültig. Wenn wir
zusammenhalten, finden wir vielleicht einen Ausweg aus dieser verzwickten Situation.«
Lange dauerte Trenks Ansprache nicht. Nachdem ein ferngesteuerter Tel zwei Roboter darauf
aufmerksam gemacht hatte, wurde die Rede mit Waffengewalt unterbunden.
Sonderlich viel Platz bot der zylinderförmige Kleinstraumer nicht. Simon fühlte sich wie eine Sardine in
der Dose, zumal bei einem Rumpfdurchmesser von knapp einem Meter fünfzig zwei Instrumentenpulte in
den Flash hineingestopft worden waren. Die Piloten saßen davor Rücken an Rücken.
Der Ringraumer fiel schnell zurück und verlor sich in der Schwärze. Simon übernahm die Kontrollen. Im
Schutz des eigenen Intervalls, das den Flash in einem Abstand von nur zwei Handspannen umgab, sank er
bis wenige Meter über die Oberfläche von Dark Mystery hinab.
Die Taster zeigten eine endlose Eiswüste. So hoch im Norden, Wo sich einer der großen Ozeane erstreckt
hatte, beherrschten tiefe Brüche das Bild. Meteoriteneinschläge hatten zudem riesige
149 Schollen aufgebrochen, sie übereinandergeschichtet und in bizarren Formationen wieder erstarren lassen. Im Scheinwerferlicht wirkte all das noch extremer, eine trostlose Landschaft, nur hie und da von irrlichtemdem Glitzern durchbrochen. Ein Netz von Rissen, Kratern und vernarbten Aufbrüchen erstreckte sich unter dem Flash. Zweitausend Kilometer südlich stieß Simon auf die ersten Ruinen. Eine kleine Stadt, einst auf den Anhöhen einer Insel errichtet, heute nur noch Mauerreste, die wie Knochenfinger aus dem Grau aufragten. Kaum Hohlräume unter der Oberfläche, die auf alte Anlagen hindeuteten - Simon hielt sie für
wenig interessant. Die ehemals großen Ansiedlungen hatten noch weiter im Süden gelegen, näher an der
imposanten Kulisse der zentralen Gebirgszüge.
Simon fragte sich, ob Dark Mystery von den Worgun bewohnt gewesen war, oder ob sie nur einen
Stützpunkt unterhalten hatten, womöglich im Verborgenen.
Die Gedankensteuerung ließ seine diesbezügliche Frage unbeantwortet. Sie sprach nur von dem Arkan-
Sender, den es zu finden galt.
Sag mir die Koordinaten! bat Simon endlich. Warum soll ich Zeit vergeuden... ?
Ich kenne sie nicht.
Heißt das, du weißt nicht, wo der Stützpunkt einst lag?
Diese Daten sind auf der NOREEN WELEAN nicht gespeichert.
Simon ließ ein bitteres, beinahe zynisches Lachen vernehmen. Nahezu unfehlbare Technik, ja. Aber etwas
so Banales wie die Lage eines Stützpunkts?
Der Horizont voraus wirkte mit einem Mal zerklüftet. Ein ausgedehntes Ruinenfeld zeichnete sich
scherenschnittartig gegen den verwaschenen Sternenhimmel ab. Ausgeglühtes Metall, spröde geworden
und unter dem Gewicht des auf ihm lastenden Eispanzers geknickt... eigenwillig verdrehte Türme, als
hätte ein ungeschlachter Riese sich ein Vergnügen daraus gemacht, seine Spuren zu hinterlassen...
dazwischen aufgebrochene Mauern, deren ursprüngliche Form nicht einmal mehr zu erahnen war. Das
alles war in Agonie erstarrt.
Simon fühlte eine eigenartige Beklemmung, als er den Flasb
150
langsam zwischen den Ruinen hindurch steuerte. Jeden Moment, glaubte er, müsse ein Sturm
aufkommen, der Staub und Eiskristalle vor sich her peitschte.
Endzeitstimmung.
Langsam sank der Flash tiefer. Das Intervall berührte die Eisfläche, dann drang das Raumschiff darin ein,
als gäbe es keinen Widerstand. Sekunden später lag die Oberfläche der in Agonie erstarrten Welt so
einsam wie zuvor.
In gewisser Weise fühlte er sich wie damals auf Hope, als der Boden unter ihm nachgegeben hatte und er
vom eigenen Gewicht in die Tiefe gezerrt worden war. Auch Noreen war in dem lockeren Erdreich
abgestürzt, und wenig später hatten sie die Wand aus Unitall vor sich gesehen, die Hinterlassenschaft der
Mysterious, in der eine Öffnung entstanden war, als er sich das einfach gewünscht hatte.
Diesmal war es kein Tor, das auf Simons Gedanken reagierte, sondern der Rash, der auf einem
Zufallskurs durch das Eis flog. Irgendwo voraus lagen große Hohlräume.
Dann war er durch. Die Scheinwerfer flammten auf. Simon gab den Befehl zum Halten. Der Flash
verharrte wenige Meter über dem Boden.
Das grelle Licht entriß eine Welt der Finsternis, die seit Jahrhunderten unverändert geblieben war. Ein
grünes Gleißen sprang von der Bildwiedergabe unter der Kabinendecke herab, Reflexionen aus
Tausenden Facetten. Die Höhle im Eis war etliche hundert Meter breit und verlor sich in einiger Distanz
in einem Berg von Schutt und Schlacke. Fünfzig Meter und höher ragte die Decke kuppeiförmig auf.
Einst hatte die freitragende Kuppel einen weiten Platz überspannt, jetzt erinnerte sie mehr an einen
gigantischen, erstarrten Wasserfall. In Fetzen hingen die meisten Elemente herab, zwischen den
gitterförmigen Verstrebungen klebte Eis in ^ssigen Stalaktiten. Einige Säulen hatten sich längst mit dem
Siegelnden Boden verbunden.
Angrenzende Fassaden zeigten die Spuren von Strahlschüssen.
Schiffsgeschütze hatten mit ihrer Energie Wände durchschlagen und massiven Stahl verformt. In dieser Stadt hatte der Tod reiche Ernte gehalten, lange bevor sie vom Eis eingeschlossen worden war.
Im Schrittempo dirigierte Simon den Flash unter der Kuppel hindurch.
Ein schmales Rinnsal tropfte auf die Eisflächen und erstarrte zu neuen Strukturen. Irgendwo zwischen den Gebäuden herrschten also noch weit höhere Temperaturen. Dort liefen vermutlich Energieerzeuger.
Simon schaltete die Erfassung auf Wärmebild um. Voraus erschien ein winziger heißer Fleck. Er pulsierte.
Ortung? Es gab keine Anzeige, nur die Vermutung, daß möglicherweise eine Tarnung aktiv war.
Das Pulsieren voraus wurde intensiver. Vielleicht hatten noch intakte Aggregate die Annäherung des Mysterious-Beibootes registriert. Daß die Technik der Worgun Jahrhunderte unter den widrigsten Bedingungen funktionstüchtig überdauerte, stand außer Zweifel.
Was immer in den Ruinen geschah, es löste seismische Störungen aus. Ein tonnenschwerer Eisblock krachte aus der Höhe herab und explodierte beim Aufprall in einem Splitterregen.
Die Gedankensteuerung meldete eine zweite Region, in der die Temperatur anstieg. Die Position lag mindestens drei Kilometer entfernt und noch tiefer unter der Oberfläche.
Simon behielt den eingeschlagenen Kurs bei. Aus dem schmalen Rinnsal war bereits ein breiter Wasserlauf geworden, der sogar kleinere Eisbrocken mit sich riß. Ein unheimliches Knistern durchlief das Eis. Dazwischen erklangen peitschende Schläge, und dann, von einer Sekunde zur anderen, brach die halbe Kuppel in sich zusammen. Ein wahres Inferno krachte auf Simons kleines Raumschiff herab und begrub es unter sich. Eisplatten und Mauerbrocken verkeilten sich ineinander, und in die entstandenen Spalten rutschte lockeres Material nach. Ohne den Schutz des Intervalls wäre der Flash zermalmt worden.
152 Mehrere kleine Explosionen erfolgten im Bereich der zuerst georteten Wärmequelle. Der Eispanzer war in Bewegung geraten. Das war's dann wohl, dachte Simon bitter. Die zweite Quelle ist intakt. Wie lange noch? Sobald wir Kurs darauf nehmen... Gut! Simon nickte. Wir sind sowieso schon hier, also spielt der Umweg keine Rolle. Sein stoßweises Lachen kaschierte die eigene Unsicherheit. Im Schrittempo drang der Flash weiter in die Ruinen vor. Kleinere Hohlräume wechselten ab mit glasartig geschmolzenen und wiedererstarrten Materialien. Dazwischen wahre Staubseen. Wenn noch Zweifel bestanden hatten, waren sie spätestens jetzt ausgeräumt. Die Stadt war von schweren Schiffsgeschützen zerstört worden. Dust- und Nadelstrahlen hatten hier gewütet, aber allem Anschein nach auch einfache Thermokanonen. Nach einer Weile erschienen massive Unitallwände. Hier war die Vernichtung längst nicht so gravierend wie in den anderen Bereichen. Weitgestreckte Hallen öffneten sich vor dem Flash. Fabrikanlagen, stellte Simon fest. Unübersehbar die breiten Bandstraßen, obwohl ganze Deckensegmente herabgebrochen waren und vieles unter sich begraben hatten. Deformierte, teils von innen heraus aufgerissene Ringzellen ließen vermuten, daß es sich um Werftanlagen gehandelt hatte. Der Flash landete im rückwärtigen Bereich. Hier wirkten Aggregate und Anlagen nahezu unversehrt, und nicht einmal mehr zweihundert Meter entfernt war die Temperatur bereits bis knapp über den Gefrierpunkt angestiegen. »Die Anlage erwacht aus ihrem Winterschlaf«, murmelte Simon un Selbstgespräch, während er sich aus dem Flash schwang. Federnd kam er auf. Die Kälte spürte er nicht, obwohl die herrschenden Minusgrade jedes Leben sofort hätten erstarren lassen. Flüchtig schaute er sich UI^, dann verließ er die Nähe des Bootes. Sich vorzustellen, wie in dieser und den benachbarten Hallen Raumschiffe gewachsen wa-^n, gelang ihm nur unvollkommen, denn dafür fehlte ihm die Erfahrung. Zwei abgestürzte Transportplattformen waren von ihrer Fracht ^rquetscht worden. Die Unitallplatten erweckten auch jetzt noch
153 den Eindruck, daß sie sich jeden Moment erneut in Bewegung set< zen konnten. Simon umrundete sie in respektvollem Abstand. Dahinter erstreckte sich ein Band von Projektoren und Aggregaten deren Funktion ihm verborgen blieb. Teilweise waren die Verklei-' dungen aufgeplatzt und geschmolzen. Der Eindruck drängte sich auf, daß die Maschinen sich selbst zerstört hatten. Eine dünne Eisschicht überzog alles. Deshalb registrierte Simon nicht sofort, was in einem schmalen Durchgang zwischen zwei haushohen Maschinenblöcken lag. Erst aus unmittelbarer Nähe beachtete er den unregelmäßig geformten Klumpen, der wenig mehr als einen Meter maß und nicht viel höher als vierzig Zentimeter war. Ein Eisblock das Ganze, wenngleich in seiner Konsistenz eher schwammig. Zwei weitere, ähnliche Gebilde fand er ein Dutzend Schritte entfernt. Es fiel Simon schwer, sie zu beschreiben; sie wirkten auf gewisse Weise ausgefranst. Erst auf den zweiten Blick stellte er fest, daß die Klumpen so etwas wie Wurmfortsätze ausgebildet hatten. »Pseudopodien«, hätte Noreen Welean wohl dazu gesagt. In der kurzen Zeit, die er mit der Bioprospektorin zusammengewesen war, hatte er einiges gelernt. Pseudopodien, das waren Scheinfüße oder -gliedmaßen einzelliger Lebewesen. Falls es sich bei den erstarrten Klumpen wirklich um organisches Gewebe handelte, hatte Simon etwas Vergleichbares noch nicht gesehen. Schon die Größe legte eher die Vermutung nahe, daß es sich um biologisches Plasma handelte, wie es von Ärzten als Hautersatz oder für Forschungszwecke gezüchtet wurde. Simon ließ sich in die Hocke nieder und bohrte die Finger der rechten Hand in einen der gefrorenen Klumpen. Es fiel ihm leicht, eine Probe herauszureißen. Die Struktur erschien in der Tat organisch, wenngleich der extreme Frost die Zellen gesprengt hatte. Kannst du mehr damit anfangen? wandte er sich an die Gedankensteuerung des Flash. Oder soll ich die Probe mit an Bord nehmen? Warte! lautete die lapidare Antwort. Augenblicke später erklang eine andere mentale Stimme, die Automatik der NOREEN WELEAN: Zeig mir, -was du gefunden
154 hast, Wächter! Der Tonfall klang anders als für gewöhnlich. Beinahe aggressiv, empfand Simon.
Er konzentrierte sich auf die beiden Gebilde mit den nicht einmal fingerlangen seitlichen Fortsätzen. In
dem Moment nahm die Gedankensteuerung durch seine Augen wahr, was er sah. Sie schwieg. Bis Simon
ungeduldig wurde.
Die Wahrheit traf ihn wie ein körperlicher Schlag. Er starrte die amöbenartigen Eisklumpen an und wollte
nicht glauben, was das Schiff erklärte: Du hast Worgunleichen gefunden!
Wächter Simon! Der Ruf aus dem Flash traf ihn unerwartet, während er die Werfthalle nach Hinweisen absuchte. Ich messe starke energetische Aktivitäten an. Es hat den Anschein, als erwache ein gesamter Komplex. Wo? Die Entfernungsangabe, die ihm die Gedankensteuerung des Beibootes übermittelte, lag bei rund tausend Kilometern. Offensichtlich existierte im Gebirge eine bislang unentdeckte Station. Der Arkan-Sender? Darüber ist eine Aussage noch nicht möglich, antwortete die mentale Stimme. Simon zögerte kurz. Er hatte eine der Worgunleichen mit an Bord des Ringraumers nehmen wollen. Aber die neue Ortung erschien ihm wichtiger. In die Werft konnte er später zurückkehren. Ob die toten Mysterious einige Stunden länger unter dem Eis lagen, spielte wohl keine Rolle mehr. Der Flash hob ab, kaum daß der Einstieg geschlossen war. Die Dateneinspielungen zeigten Simon, daß das Boot mit SLE und im Schutz des Intervalls an Höhe gewann. Sekunden später jagte der Hash durch die ewige Nacht. Im Ortungsbereich waren starke Energieerzeuger angelaufen. Die Werte entsprachen einer Flotte von Ringraumern. Egal, welche Programme dieses Erwachen aus dem Dornröschenschlaf eingeleitet hatten, Simon war überzeugt davon, daß nur das Erscheinen der NOREEN WELEAN oder seines Flash den Vorgang ausge
155 löst haben konnte.
Gibt es schon Kontakt? wollte er wissen.
Signalcode bleibt unbeantwortet, meldete die Gedankensteuerung.
In dem Moment brach die Hölle los. Der Flash lag unter schwerem Feuer. Überlichtschnelle
Nadelstrahlen entfesselten einen energetischen Orkan im Intervallfeld. Mindestens ein Dutzend schwere
Geschütze feuerten auf das Boot.
Die Ortungsdaten verwischten. Simon hatte gerade noch erkennen können, daß der Angriff vom nahen
Gebirge aus erfolgte. Bodenforts hatten den Flash als Ziel erfaßt und gaben ihn nicht mehr frei.
Punktbeschuß.
Die Kapazitätsanzeige des Schutzschirms stand bei 102 Prozent.
Ausfall der Ortung, die optische Erfassung ohnehin vom ersten Moment an gestört.
Die Gedankensteuerung antwortet nicht mehr.
Simon übernahm die manuelle Kontrolle. Orientierungslos geworden, riß er den Flash in die Höhe. Die
Zielnachführung der Geschützstationen arbeitete perfekt, er schaffte es nicht, dem Punktbeschuß zu
entkommen.
Ein blitzschnelles Manöver, der Flash raste wieder der Planetenoberfläche entgegen. Bevor das Intervall
zusammenbrach, mußte er im ewigen Eis Schutz finden.
103 Prozent... 104... ein unheilvolles Wimmern erklang, es schien von außen her den Rumpf zu
durchdringen. Die Andruckabsorber waren ausgefallen, ein Mensch aus Fleisch und Blut wäre von den
wirksam werdenden Kräften zerquetscht worden.
Unaufhörlich feuerten die Geschütze. Aus dem Wimmern wurde ohrenbetäubender Lärm.
Dann, abrupt. Stille. Für Sekundenbruchteile nur, doch sie genügten, Simon erkennen zu lassen, daß das
schützende Intervall nicht mehr existierte. Die Nadelstrahlen fraßen sich durch das Unitall.
Simon hörte sich schreien. Der Versuch einer spontanen Teleportation - mißlungen. Verwandeln! Er
mußte dem tödlichen Infemo entkommen. Weil er nicht sterben wollte, bevor er noch
156
einmal Mensch gewesen war. Seine letzte Wahrnehmung endete in einem alles verbrennenden
Glutball.
Für kurze Zeit lag ein kleiner Bereich von Dark Mystery unter flackernder Helligkeit. Weißglühende
Wrackteile rissen tiefe Furchen in die Eisdecke.
Dann kehrte die ewige Nacht zurück.
Irgendwo im Nichts eine Regung, ein seltsames Empfinden. Fremd und unverständlich, aber zugleich unendlich vertraut. Ich lebe! Eisschollen, zu einem Wall aufgetürmt, teilweise geschmolzen, aber schon wieder in ewiger Kälte erstarrt. Ringsum Hunderte kleiner Krater und Einschlagspuren. Das Antlitz dieser Welt trägt neue Narben. Ich lebe und spüre, daß da sehr viel mehr ist als ich erkennen kann.
Etwas umschließt mich und hüllt mich ein. Sobald ich diesen Käfig sprenge, bin ich frei. Aber ich kann
das nicht.
Ich muß "warten...
Patina prägt den Asteroiden. Sie bröckelt, bricht auf. Das Ding bewegt sich, es verändert seine Form, wird länger. Auch ringsum im Eis entsteht Bewegung. Rötlichfarbene Splitter verändern ihre Konsistenz. Zähflüssig streben sie aufeinander zu, vereinen sich. Ich werde unruhig. Weil ich spüre, daß die Wände meines Käfigs durchlässig werden. Schneller greift die Veränderung um sich. Da ist etwas, das sich im Eis erhebt, sich aus der bedrückenden Enge befreit und an die Oberfläche strebt. Ich gehöre zu diesem Etwas; es fasziniert mich. Aber ich bin nicht identisch mit ihm... Ich habe einen Namen, ich... Es richtet sich auf. Zwei muskulöse Beine stemmen sich ins Eis. Die Gestalt reckt die Arme in die Höhe,
als wolle sie die Sterne über sich ergreifen. Der gesichtslose Schädel scheint in die Runde
zu blicken.
Der Käfig erlischt im selben Moment. Er hat mich beschützt • mich, Simon.
Ich bin ein Mensch.
Ich "wohne in diesem massigen Körper.
... aber nur vorübergehend.
Die Geschütze in den eisverkrusteten Felsen schwiegen wieder. Noch lagen sie über hundert Kilometer
entfernt - eine Distanz, die der Wächter auch ohne den Flash schnell überwinden konnte.
Simon hatte den Absturz dank der besonderen Fähigkeiten des Wächters unbeschadet überstanden. Doch
tief in ihm blieb die Furcht, daß es einmal nicht mehr so sein würde.
Nadelstrahlgeschütze hatten den Flash zerstört. Uralte Abwehrforts der Worgun? Aber weshalb hatten sie
das kleine Raumboot als Feind eingestuft?
Noch wußte Simon nicht, ob auch die NOREEN WELEAN angegriffen worden war. Er rief nach der
Gedankensteuerung.
Der Angriff beschränkte sich auf das Beiboot, antwortete die mentale Stimme. Die Zeit war zu kurz für
ein Eingreifen.
Gibt es Erkenntnisse über den Vorfall?
Während des Angriffs wurden starke Hyperfunkimpulse aufgefangen.
Worgun? wollte Simon wissen.
Eine Entschlüsselung ist bislang nicht möglich. Ich arbeite daran.
Simon zögerte nur kurz, dann stand sein Entschluß fest. Ich sehe mir die Geschützstellungen an.
Die NOREEN WELEAN...
... bleibt an ihrer Position! Es war das erstemal, daß er die Gedankensteuerung derart schroff unterbrach.
Die Gefahr bestand, daß der Ringraumer ebenfalls angegriffen und vielleicht schwer beschädigt wurde.
Wahrscheinlich hätte er am besten daran getan, umgehend an Bord zurückzukehren und Dark Mystery zu
verlassen. Warum er dennoch zögerte? Er wußte es nicht. Ich wünsche
158 kein Eingreifen! fügte er hinzu.
Simon lief durch die Nacht des Planeten. Irgendwann registrierte er, wie vertraut er schon mit dem neuen
Körper war. Gab es überhaupt noch Unterschiede?
Da war ein Raunen in seinem Geist. Es wurde stärker. Simon rief nach der Gedankensteuerung, aber das
Schiff antwortete nicht. Statt dessen spürte er deutlich, daß etwas Fremdes versuchte, sich ihm
verständlich zu machen.
Wer seid Ihr? Unwillkürlich verfiel er in die Form der Anrede, die er der Hochkommissarin früher
entgegengebracht hatte.
Das Raunen wurde intensiver. Simon konnte es nicht einordnen. Er hielt inne. Die hochgezüchteten
Sinne des Wächterkörpers zeigten ihm, daß er dem Gebirge schon sehr nahe war.
Ein verhaltener gedanklicher Aufschrei durchzuckte ihn. Simon glaubte, so etwas wie Besorgnis zu
spüren, verbunden mit dem Wunsch nach Pflichterfüllung. Dabei war dieses Fremde erst im Erwachen
begriffen.
Etwas veränderte sich.
Es geschah schnell.
Tief unter dem Eis erwachte eine uralte Maschinerie zum Leben. Tastende Impulse griffen nach Simons
Bewußtsein.
Wir sind nicht mehr allein. Wir wußten, daß ein Wächter kommen würde, um mit uns die Feinde
zurückzuschlagen. Die Sternenbrücke ist zu wertvoll...
Die Gedanken verstummten. Statt dessen schien sich der Boden aufzuwölben, im fahlen Sternenschein
und mit Normaloptik kaum wahrzunehmen, den Sinnen des Wächters aber keineswegs verborgen
bleibend.
Maschinen, registrierte Simon und berichtigte sich sofort: Kampfmaschinen! Von Intervallfeldern umgeben, stiegen sie aus dem Boden hervor, manche wie urweltliche Ungetüme, zwanzig, dreißig Meter hoch, kantig und auf massigen Laufbeinen stehend bewegliche Geschütze mit nahezu unbeschränkter Einsatzmöglichkeit. W^orgunmaschinen! Der Gedanke kam von der Mentalsteuerung des Ringraumers. Sie sind... •-• Freunde! Simon schaffte es noch, sich das zusammenreimen, 159 dann konnte er der Übelkeit nicht länger widerstehen, die ihn mitzureißen drohte. Er taumelte, hörte sich
schreien, versuchte, den unerträglichen Druck abzuschütteln, der seine Gedanken lahmte. Vergeblich.
Verwandeln! drängte alles in ihm. Er wußte nicht, ob er es wirklich schaffte. Irgend etwas griff den
Wächter an, von dem er bislang nicht einmal geahnt hatte, daß es existierte. Es war die Hölle...
Ringsum wurde gekämpft. Er nahm es wahr, aber er verarbeitete die Eindrücke nicht. Sie erschöpften sich
in Hitze und Kälte, grellen Blitzen und zerfasernden Schatten.
Und die einzigen Geräusche waren in ihm, Lärm, der ihn in den Wahnsinn trieb.
Manche Schatten verdichteten sich, wuchsen haushoch vor ihm auf. Blitze schlugen in seinen Leib ein, er
glaubte, den Gestank von verbrennendem Reisch zu riechen...
»Miß Welean!« rief er. »Euer Braten verbrennt,« Der kleine Motor hatte aufgehört, das am Spieß steckende Wildbret zu drehen. Das abtropfende Fett hatte sich entzündet. Noreen kam aus ihrem Zelt, mit einem winzigen Fetzen Stoff ihre Blößen bedeckend. »Kümmere dich darum, Simon! Dafür bist du da!« Fauchend züngelten die Flammen auf, griffen auf das Zelt über. Für einen Augenblick sah Simon das von nackter Todesangst verzerrte Gesicht der Frau, dann stürzte er vorwärts und versuchte mit bloßen Händen, das Feuer zu ersticken. Es war Wahnsinn. Seine Kleidung brannte, aber er machte weiter, eine Maschine, ohne Rücksicht aufsich selbst. Er dachte nicht mehr... nur noch der Schmerz trieb ihn an - und die Hoffnung, daß es bald vorbei sein würde.
Der Regen kühlte sein Gesicht. Der Himmel über Deluge hatte alle Schleusen geöffnet und...
Abrupt fand Simon in die Wirklichkeit zurück. Erkennen, daß er phantasiert hatte und die eigenen Waffen
aktivieren, war eins.
Ein beruhigender Impuls traf ihn. Es ist vorbei, Wächter. Die
160 Kampfroboter der Zyzzkt wurden vernichtet. Vor ihm schwebte ein spindelförmiges Etwas. Das war das erste, was Simon von seiner Umgebung wahrnahm. Die Spindel maß schätzungsweise eineinhalb Meter bei einer größten Dicke von einem halben Meter. Bewegliche Tentakel in der unteren Rumpfhälfte hielten Meßgeräte. Im oberen Drittel fiel ein leuchtender Ring auf, eine energetische Ballung ohne direkten Kontakt zum Rumpf. Im Gleichklang mit den künstlichen Gedanken, die der Roboter aussandte, wechselte diese Sphäre ihre Helligkeit. Mußte er sich erinnern können? Simon schaffte es nicht. Blackout, konstatierte er. Ich registriere deine stummen Fragen. Wenn es in meiner Macht steht, dir Antworten zu geben... Simon fühlte sich unbehaglich. Zu einem gewissen Teil mochte das Furcht vor der Wahrheit sein. Er wollte zurück, doch der Verdacht, daß er sich den Mysterious und ihrer Galaxis Om verbundener fühlte, als er sich das jemals eingestanden hätte, lag auf der Hand. In seinen Gedanken, vom Unterbewußtsein gesteuert, war er nach Deluge geflohen - während der Wächter Seite an Seite mit den Worgunmaschinen gegen Zyzzkt-Roboter gekämpft hatte. Beides vermischte sich für ihn zu einer seltsamen, unentwirrbaren und bedrückenden Erinnerung. Wir haben lange geruht und gewartet. Wir wußten, daß ein Wächter kommen würde. Ich... Simon verwünschte sein Zögern. Er hatte eine Aufgabe übernommen und er würde sie ausführen. Angst machte ihm nur die Tatsache, daß er den neuen Wächterkörper nicht in der Gewalt hatte. Ein spöttischer Gedanke: Mag sein, daß das Ala-Metall überaltert war; Verfallsdatum überschritten. Und ich stecke da drin und... du bist ein Narr, Simon! ... und muß es hinnehmen. Er blickte den Spindelroboter an.
Erzähle! drängte er.
Es war einer der verheerenden Kämpfe zwischen Zyzzkt und Worgun gewesen, ein tagelanges erbittertes Ringen um jeden noch so unbedeutenden Vorteil. Letztlich hatten die Insektoiden die 161 Oberhand behalten - ein Sieg, der nur Verlierer kannte. Sie hatten von einer Welt Besitz ergriffen, die ihren Lebensbedingungen nicht entsprach, auf der sich ihr Volk nicht weiter vermehren konnte. Aber das war auch nie ihre Absicht gewesen, sie waren gekommen, um die technischen Errungenschaften der Worgun zu plündern. Ihre Suche auf dieser Welt hatte dann Jahre in Anspruch genommen, dennoch waren sie nur in lächerlich kleinen Details fündig geworden. Die Anlagen, derentwegen sie wirklich gekommen waren, hatten sie nie entdeckt. Irgendwann waren die Zyzzkt dann wieder verschwunden. Allein ihre Roboter hatten sie zurückgelassen, Maschinen, für die Jahrhunderte wie ein Tag waren, denen es nichts ausmachte, Jahrtausende zu warten, um eines Tages die Suche abzuschließen. Lückenlos hatten ihre Ortungen den Planeten überwacht. ...jeder Versuch, die Anlage in Betrieb zu nehmen, wäre sofort entdeckt worden, fuhr der Spindelroboter in seiner Erklärung fort. Also blieben nur wenige von uns aktionsfähig, um zu beobachten. Wir wußten, daß die Worgun uns nicht vergessen würden. Dann orteten wir den anfliegenden Ringraumer, schließlich das kleine Boot. Daß die Zyzzkt-Roboter es mit den erbeuteten Forts ab' Schossen, konnten wir nicht verhindern. Ein einziger Funkspruch... wandte Simon ein. ... hätte unsere Position und Existenz den Gegnern verraten. Dann wären sie gewarnt gewesen. Immer noch suchte er in seiner Erinnerung nach mehr als nur vagen Fetzen. Zusammenhanglose Szenen eines Alptraums flakkerten auf: massige Kampfmaschinen, die mit weiten Sprüngen über das Eis hasteten; andere, die im Schutz von Intervallfeldern zwischen den Gegnern auftauchten. Er selbst hatte sich in ein ständig das Aussehen veränderndes Monstrum verwandelt, halb Humanoider, halb Cerash... sein eigenes Vorgehen erschreckte ihn, obwohl es nur Maschinen gewesen waren, die er vernichtet hatte. Das bin nicht ich, dachte er bestürzt. Was ist nur aus mir geworden? Ich bestimme, was getan wird! Der eigene Protest überraschte ihn. Früher hätte er sich einen solchen Tonfall nicht erlaubt. Ich 162 bin ein Mensch, keine verdammte Maschine.
Sein Blick wanderte weiter. Der Raum, in dem er sich befand, war nicht sonderlich groß. Einige wenige
Aggregate, zwei weitere Roboter im Hintergrund, die dem neben ihm glichen wie ein Ei dem anderen,
und...
... ein Ringtransmitter. Das Flimmern der Luft im Inneren des mehrere Meter durchmessenden Rings
verriet, daß der Transmitter aktiviert war.
Von meinem Raumschiff wurden starke Hyperfunkimpulse aufgefangen^ wandte er sich an den Roboter.
Wir wissen das. Deshalb sind wir in Eile.
Simon erschrak. Ich sollte auf mein Schiff zurückkehren, dachte er. Solange noch Zeit dafür ist.
Du wirst nicht umf errichteter Dinge gehen. Noch existiert der Komplex tief in der Planetenkruste, der
nur über Transmitter zu erreichen ist. Sogar Intervallfelder versagen in seiner Nähe; deshalb sind die
Zyzzkt bis heute erfolglos geblieben.
Der Arkan-Sender?
Er "wurde zerstört. Aber es gibt eine Konstruktionseinheit.
Simon zögerte nicht länger. Zweifellos konnte er jederzeit über Transmitter an Bord der NOREEN WELEAN gelangen.
Es war ein kurzer Schritt für den Wächter - und eine überwältigende Maschinerie empfing ihn. Ein Komplex weit imposanter als alles, was er bislang an Mysterioustechnik gesehen hatte. Dagegen muteten die Maschinenräume eines Ringraumers wie Spielzeuge an. Über mehrere Etagen hinweg erstreckte sich die Anlage, eine scheinbar organisch gewachsene Struktur, deren bizarre Form sich stetig zu verändern schien. Zwischen all dem schwebte ein Heer von Robotern unterschiedlichsten Aussehens, offensichtlich bemüht, die Maschinerie instandzuhalten. Sie setzen die Konstruktionseinheit in Gang, erklärte der Spindelroboter, der weiterhin neben Simon schwebte. ^as kann sie? Jede andere Frage hätte ihn als Unwissenden ab
163 gestempelt, diese Blöße wollte er sich nicht geben. War das der Sender, der Raumschiffe nach ARKAN 12 versetzen konnte? Die Datenbank ist über alle angeschlossenen Peripherieeinheiten in der Lage, bei ausreichender
Energie- und Materiaiwfuhr eine neue Sternenbrücke zu erschaffen. Natürlich ebenso einen großen
Arkan-Sender.
Sie "wird aktiviert, obwohl die Bedrohung durch die Zyzzkt erneut Gestalt annimmt? fragte Simon
irritiert.
Was können wir sonst tun? erwiderte der Roboter.
Du hast recht - mein Raumschiff bietet bestenfalls Lagerkapazität für einen Bruchteil dieser Anlage.
Die Datenbank ist nur der Kern. Sie ist das Herzstück, das jederzeit zu einem neuen System ausgebaut
werden kann.
Simon stutzte. Wie groß schätzt du die Bedrohung durch die Zyzzkt noch ein?
Uns bleibt nicht sehr viel Zeit.
Zeige mir die Datenbank! Ist das möglich?
Anstelle einer Antwort baute der Spindelroboter ein Hologramm auf. Es offenbarte ein nur wenige Kubikmeter großes, kompakt wirkendes Gebilde. Wie schnell kann die Datenbank ausgebaut "werden? Der Roboter nannte einen Zeitraum, der nur wenigen Stunden entsprach. Simon nickte zufrieden. Die Zyzzkt "werden sich kein zweites Mal hinhalten lassen. Es ist wichtig, die Datenbank in Sicherheit zu bringen, damit "wir später einen neuen Arkan- Sender konstruieren können. Baut sie aus und bringt sie über den Transmitter in mein Schiff! Insgeheim hatte er mit Widerspruch gerechnet, sogar befürchtet, daß die Worgunmaschinen ihm nicht
gehorchen würden. Doch die Roboter befolgten seine Anordnung.
Die Veränderungen an der Konstruktionseinheit schritten so schnell voran, wie sie begonnen hatten. Zum
erstenmal seit langem war Simon wieder mit sich zufrieden. Er wußte zwar noch nicht, was er mit der
Datenbank wirklich anfangen konnte, aber ihre Bedeutung stand für ihn außer Frage.
Hatte der Spindelroboter nicht von einer Sternenbrücke gesprochen, was immer er darunter verstand?
164
Die Warnung der Gedankensteuerung traf ihn, als er bereits glaubte, zu pessimistisch reagiert zu haben.
Starke Kampfverbände der Zyzzkt im Anflug!
Wie "weit entfernt?
Sie werden in Kürze hier eintreffen.
Simon stand da und ballte die Fäuste. Wieviel Schiffe sind es? Können "wir sie in Schach halten?
Eine Flotte von 120 Ringraumern der Zyzzkt? Jedes Wort traf ihn wie ein Peitschenhieb. Zudem fliegen
sie erkennbar im Vollbetriebsmodus. Die NOREEN WELEAN wird vernichtet werden, sobald sie sich auf
einen Kampf einläßt.
Dann fliehen wir! Es gab keine andere Möglichkeit.
Simon wandte sich an die Roboter; er konnte seine aufkommende Panik nicht unterdrücken.
»Was ist mit der Datenbank?« Er redete laut. »Wir müssen den Planeten umgehend verlassen!«
Eine der zylinderförmigen Maschinen schwebte auf ihn zu. Simon registrierte, daß jetzt zwei
Energiebänder um ihr oberes Drittel lagen. Die Tentakel hatten sich zurückgebildet.
Wieder Erinnerungsfetzen, in einem Moment, in dem er sie ärgerlich verdrängte. Diese Roboter waren zugleich schwere Kampfmaschinen, er hatte sie erlebt. Ihre untere Rumpfhälfte barg effektive Strahlprojektoren. »Habe ich dich schon gesehen?«, brachte er unwillig hervor.
Wir haben von Anfang an miteinander gesprochen, erklang es in seinen Gedanken.
»Von meinem Schiff wurden anfliegende Zyzzkt-Verbände...«
Ich kenne die Meldung, Wächter Simon. Die Datenbank wird soeben über den Transmitter verladen. Uns steht noch genügend Zeit zur Verfügung, obwohl die Zyzzkt schon sehr nahe sind. »l 20 Schiffe im Vollbetriebsmodus!« Es gibt einen alten Verteidigungsplan, der uns in die Freiheit führen wird. Die Zahl der Angreifer ist unerheblich. »Wirklich?« Simons Skepsis war deutlich zu hören. Doch falls der Spindelroboter solche Feinheiten wahrnahm, reagierte er nicht darauf. Die ersten von uns gehen soeben durch den Transmitter, erklärte er. Wir folgen ihnen. Simon hielt noch einen Augenblick lang inne. Du... die Tatsache, daß er wieder auf die mentale Kommunikation verfiel, bewies, daß er den ersten Schreck überwunden hatte. ... hast du überhaupt einen Namen? Nur eine Ordnungsnummer, antwortete der Roboter. Die interessiert mich nicht. Ich werde dich künftig Hugo nennen. Gemeinsam durchschritten sie den Transmitterring und verließen an Bord der NOREEN WELEAN die Empfangsstation.
Eine Chance hatten sie kaum. Die Formation der Zyzzkt-Flotte, die Simon in der Bildkugel sah, bewies
eindeutig, daß sie von der NOREEN WELEAN wußten. Ihre Ringraumer flogen in einer Formation, die
jeden Gedanken an Flucht illusorisch werden ließ.
Wir müssen kämpfen, dachte Simon bitter. Was änderte es da schon, daß Hugo sich sofort mit dem
Bordrechner des Schiffes verbunden hatte und einen Verteidigungsplan einspielte, der mindestens tausend
Jahre, wahrscheinlich sogar sehr viel älter war?
Mit wachsender Beschleunigung entfernte sich die NOREEN WELEAN von Dark Mystery.
Ausgerechnet jetzt kam Simon in den Sinn, daß er nicht einmal nach dem Worgunnamen dieser Welt
gefragt hatte.
Der versuchte Ausfall wurde von den Zyzzkt im Keim erstickt. Das Intervall flammte auf, schien
förmlich auseinanderbrechen zu wollen. Vom ersten Schlagabtausch an setzten die Angreifer alles ein,
was sie aufzubieten hatten. Ihr Ziel war die Vernichtung.
Simon hatte in einem der Pilotensessel Platz genommen, seine Hände verkrampften sich um die
Armlehnen. Aberwitzig hohe Andruckwerte mußten von den Absorbern aufgefangen werden, als der
Ringraumer in einer enggezogenen Parabel wieder auf den Planeten zustürzte.
Kein Bremsmanöver.
166
Die Gedankensteuerung beabsichtige, in den Planeten einzuflie-gen. Eine Taktik, die im Kampf gegen
andere Schiffe zweifellos Erfolg versprochen hätte, aber den Ringraumern der Zyzzkt war es ein Leichtes,
der NOREEN WELEAN zu folgen.
Ein Drittel der Flotte ist hinter uns, die anderen versuchen, uns beim Austritt abzufangen. Es war aussichtslos. Simon starrte auf die Bildwiedergabe. Das Schiff glitt bereits durch gewachsenen Fels hindurch. Einige wenige Sekunden, mehr Zeit blieb nicht, bis es den trügerischen Schutz wieder verließ. Und zweifellos waren die Zyzzkt auf einen abrupten Kurswechsel vorbereitet. Dann ging alles wahnwitzig schnell. Die Sinne des Wächterkörpers erfaßten die Anzeigen ebenso wie die jähe Ausweitung der optischen Erfassung. Nur Simons Verstand verarbeitete es erst, als alles schon vorüber war. Im Mittelpunkt des erkalteten Planeten befand sich eine ausgedehnte Höhle, hundert Kilometer oder mehr durchmessend. Von den Worgun einst geschaffen, zu einer Zeit, als sie schon geahnt haben mußten, was auf sie zukam. In dem Moment, als die NOREEN WELEAN einflog, schaltete die Automatik das Intervall ab. Geschwindigkeit und Kursvektor mußten präzise berechnet sein. Nur Sekundenbruchteile standen zur Verfügung, bevor der Ringraumer an der gegenüberliegenden Wand zerschellte, aber sie genügten für die Transition. Das Schiff existierte an diesem Ort nicht mehr, als der Planet implodierte. Unvorstellbare Kräfte wurden frei, gespeist von einer »Höllenmaschine« der Mysterious, die ihre Energien aus einem anderen Kontinuum zapfte. Ein Wurmloch in eben diesem Raum entstand, ein Punkt zuerst, ein grelles, grünes Licht, das sich gedankenschnell ausdehnte, sich windend und zuckend auffaserte und alles im Umkreis von Zehntausenden Kilometern verschlang. Als dieses Leuchten ebenso schnell wieder verblaßte, gab es keine Dunkelwelt mehr. Auch keine Flotte der Zyzzkt. Nur drei Ringraumer in größerer Entfernung waren dem Sog entronnen für die anderen gab es keine Wiederkehr.
167 Das Sternenmeer ringsum wirkte kalt und bedrohlich. Simon fragte nicht, wo in Om die NOREEN WELEAN den Hyperraum verlassen hatte. , Von irgendwoher trafen Ortungsdaten ein. Sie untermauerten, was die Roboter ihm soeben in einer Simulation gezeigt hatten. Sie hatten die Rotte der Zyzzkt ins Verderben gelockt. Bewußt und in voller Konsequenz. Eine Flotte, bemannt mit intelligenten Lebewesen. War das Rache? Stellten sich die Worgun mit ihren Gegnern auf die gleiche Stufe? Deine Skrupel sind fehl am Platz. Simon ruckte herum. Hugo hatte ihn angesprochen; der Spindelroboter schwebte nur wenige Schritte vor ihm. Du weißt nicht, was du da sagst, antwortete der Terraner. Drei Raumer der Zyz.zkt sind dem Wurmloch entkommen, unter ihnen das Flaggschiff. Auch wenn sie dank unserer Dämpfungstechnik nicht anpeilen konnten, wo unsere Transition endete, leiten sie die galaxisweite Jagd auf uns ein. In diesem Augenblick werden die charakteristischen Energiesignaturen der NOREEN WELEAN über Hyperfunk weitergegeben. Simon vollführte eine ablehnende Bewegung. Ich will das nicht hören. Du bedauerst, daß die Besatzungen von drei Schiffen überlebt haben? Du kennst die Zyzzkt noch nicht, Simon.
Ich weiß genug... er verstummte, als ein Hologramm aufflammte. Schon im Aufbau der Sequenz erkannte er ein inseoides Wesen. Sieh dir an, was im Bordrechner deines Ringschiffs gespeichert ist, Wächter Simon. Danach entscheide, ob deine Skrupel gerechtfertigt sind. Der Terraner bebte. Er wollte sich abwenden, aber er konnte es nicht. Und je mehr er sah, desto besser
verstand er, weshalb die Kampfmaschinen der Worgun gnadenlos gegen die Zyzzkt vorgingen.
Sie hatten es verdient.
Sie hatten es wirklich und wahrhaftig verdient. Wie harmlos war doch eine Heuschreckenplage.
168
Auf dem Mannschaftsdeck der DRAKHON suchte Kon Azir mehrere Quartiere auf, in der Hoffnung, auf
einen seiner verschwundenen Kameraden zu stoßen. Erst in der neunten Kabine wurde er fündig. Dort lag
ein Soldat auf seiner mit einer Matratze versehenen Kunststoffpritsche und rührte sich nicht.
Zu seiner Erleichterung stellte Kon fest, daß sein Kamerad zwar nicht schlief, aber auch nicht tot war.
Sein Zustand befand sich irgendwo dazwischen, vermutlich als Ursache der Gasattacke.
Azir beschloß, den Bewußtlosen auf die Krankenstation zu transportieren. Er war kein Mediziner, aber
vielleicht gab es dort irgendein Medikament, das das Erwachen beschleunigte. Oder -das allerdings wagte
er kaum zu hoffen - der Bordarzt war vom Gas verschont geblieben.
In diesem Moment vernahm Kon Azir ein Geräusch draußen auf dem Gang. Ohne lange nachzudenken
warf er sich hinter ein Sitzmöbel in Deckung und brachte den Karabiner in Anschlag.
Der Ortungsoffizier betrat das Quartier. Kon kannte ihn, wollte sich ihm zeigen - da sah er das
Sensorium, das der Mann, der wie in Trance einen Fuß vor den anderen setzte, auf dem Kopf trug.
Das Benehmen des Offiziers kam Azir merkwürdig vor. Der Mann schien überhaupt nicht mehr Herr
seiner Sinne zu sein. Offensichtlich stand er unter fremder Kontrolle.
Azir hatte von den Suchtauswirkungen des Sensoriums gehört, und auch davon, daß der Vank - nach
Rücksprache mit dem Kluis - ein Verbot dieser gefährlichen Technologie ausgesprochen hatte.
Ausgerechnet auf der DRAKHON wurde gegen dieses Verbot verstoßen?
Für Kon stand fest, daß nur die Rebellen dahinterstecken konnten, die gleichen, die das Sensorium
überhaupt erst auf den Weltmarkt gebracht hatten. Sie waren nach wie vor wild entschlossen, die
diplomatischen Beziehungen zwischen den Tel und den Terra-nern zu unterminieren und weitere
kriegerische Auseinandersetzungen zwischen beiden Völkern zu provozieren - mit dem Ziel der
Zerstörung der Erde.
169 Hatten sie deshalb die Besatzung der DRAKHON mit Gas ausgeschaltet? Wollten diese Fanatiker Terra tatsächlich mit einem einzigen Doppelkugelraumer angreifen? Azir beantwortete sich die Frage mit einem klaren Nein. Die Rebellen waren verbohrt, jedoch nicht dumm und lebensmüde. Ihnen mußte klar sein, daß ihre Mission am die Erde umgebenden Schutzschirm scheitern würde. Und selbst wenn es ihnen gelang, ihn zu überwinden, würde man das Schiff unweigerlich abschießen, bevor es größeren Schaden anrichten konnte. Der Offizier ergriff den Bewußtlosen von hinten unter den Armen und zog ihn aus dem Raum. Kon überlegte, ob er ihn daran hindern sollte, entschied sich aber dafür, den beiden unauffällig zu folgen. Unauffällig? Azir fragte sich, ob man ihn nicht längst aufgespürt hatte. Auf einem Superkampfschiff wie der DRAKHON konnte niemand unentdeckt herumschleichen. Allerorts gab es Sensoren und Kameras, die fremden Eindringlingen keine Chance ließen. Andererseits war Kon Azir kein Fremder, er war autorisiert, sich überall im Schiff sinneren aufzuhalten, mit Ausnahme gewisser Sperrzonen. Die automatischen Sicherheitsvorrichtungen stuften ihn nicht als Feind ein, sondern als Besatzungsmitglied. Die Fäden der lückenlosen Überwachung liefen auf dem Zentraldeck zusammen. Möglicherweise war die Zentrale derzeit leer, überlegte Azir, weil sich auch dort niemand hatte dem Gas entziehen können. Aber was war mit den Verursachen! des feigen Angriffs? Hätten die Rebellen nicht längst die Zentrale räumen und übernehmen müssen? Vielleicht waren sie ja gerade dabei, hatten aber noch nicht sämtliche Posten neu besetzt. Oder die registrierten Bewegungen im Maschinenraum, im A-Gravschacht und auf dem Mannschaftsdeck erschienen ihnen nicht verdächtig - schließlich liefen ja noch andere Besatzungsmitglieder frei im Raumschiff herum. Wie viele Tel konnten sich auf dem Schiff noch ungehindert bewegen? Trugen sie alle Sensorien? Wurden sie mittels dieser gefährlichen Geräte von den Rebellen kontrolliert? Und was war mit den Robotern? Ihnen hatte das Gas nichts anhaben können. Wieso griffen sie nicht ein
und zogen die Attentäter 170 aus dem Verkehr? Befanden sich etwa auch die Roboter unter Kontrolle der Rebellen? Wie waren letztere überhaupt an Bord gelangt? Oder hielten sie sich gar nicht auf der DRAKHON auf und überließen es statt dessen den Robotern und den sensorientragenden Tel, das Schiff in ihre Gewalt zu bringen? Fragen über Fragen gingen Kon Azir durch den Kopf, darunter die eine, die er sich immer und immer wieder stellte: Wozu brauchten die Rebellen das Schiff überhaupt? Was hatten sie damit vor? Der Ortungsoffizier brachte den bewußtlosen Soldaten in einen derzeit ungenutzten Nebenhangar. Kon beobachtete, wie weitere ohnmächtige Besatzungsmitglieder in den Hangar getragen wurden - von Robotern und von Tel mit Sensorien. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde dort die gesamte Besatzung gefangengehalten, mit Ausnahme der sensoriumgesteuerten Personen. Kon Azir kam ein Gedanke, der ihm überhaupt nicht gefallen wollte: Ich bin das einzige noch freie, unkontrollierte Besatzungsmitglied auf dem gesamten Schiff! Falls das zutraf, lastete die gesamte Verantwortung jetzt auf seinen Schultern.
Der »Saubermann« als letzte Hoffnung des Telin-Imperiums und der Menschheit? Nein, das konnte und
durfte nicht sein! Das war doch alles nur ein böser Alptraum!
Einige Zeit war vergangen. Mittlerweile hatte Kon Azir einen größeren Bereich des Raumschiffs nach
anderen freien Tel abgesucht.
Erfolglos.
Nur sensoriengesteuerte Kameraden und Roboter waren ihm begegnet. Mit viel Geschick und noch mehr
Glück hatte er ihnen "inner wieder ausweichen, sich vor ihnen verbergen können. Wie lange noch? Früher
oder später würden sie ihn entdecken. Und dann...?
171 Azir wollte nicht im Hangar eingesperrt werden. Dagegen würde er sich mit allen Mitteln wehren. Seine Hände umfaßten den Strahlenkarabiner fester. Wenn es sein mußte, würde er einen Kleinkrieg mit den Rebellen anfangen! Bislang war ihm allerdings noch kein einziger der Untergrundkämpfer über den Weg gelaufen. Wo hielten sie sich auf? In der Zentrale? Dort konnte Kon nicht nachsehen, denn das Zentraldeck war für einfache Soldaten gesperrt. Nur mit einem Sonderausweis durfte man es als niederer Dienstgrad betreten, und über den verfügte er nicht. Auch in die übrigen bewachten Sperrzonen wagte er sich nicht hinein. Dazu gehörten der Standort der neuen Tarnvorrichtung und der Haupthangar. Der Haupthangar? Zum ersten Mal seit dem Start ins All fragte sich Kon, warum der größte Hangar des Schiffes gesperrt war. Weshalb durfte die Besatzung nicht wissen, welche Ladung sich an Bord befand? Seine Neugier war geweckt. Trotz des Risikos, beim Betreten des Hangars erwischt zu werden, entschloß er sich, das Geheimnis zu lüften. Auf Umwegen gelangte er aufs Unterdeck, wo sich ein Notausgang des Haupthangars befand. Nur ein einziger Roboter bewachte den schmalen Zugang. Demzufolge war die Ladung weniger wertvoll als Azir vermutete - oder die Rebellen waren überzeugt, alle Besatzungsmitglieder in Gewahrsam beziehungsweise unter Sen-soriumskontrolle zu haben. Das führte zu Nachlässigkeiten. »Fühlt euch nur nicht zu sicher, Rebellenpack«, murmelte Kon Azir. »Ihr habt den gefährlichsten Mann an Bord vergessen - den unerschrockenen Kämpfer gegen Schmutz aller Art.« Das war seine Art, sich Mut zu machen. Seit einer halben Ewigkeit (so kam es ihm zumindest vor) hatte er niemanden mehr sprechen hören. Der von ihm mehrfach beobachtete Abtransport der Bewußtlosen hatte sich stets in aller Stille vollzogen. Weder die beeinflußten Tel noch die Roboter hatten dabei ein Wort verloren. Kon fühlte sich wie das einsamste Wesen im ganzen Universum - und das auf einem vollen Schiff. Was hätte er darum gegeben, hier und jetzt von einem Kameraden verspottet zu werden... dann 172 wäre wenigstens wieder alles beim alten.
Der Roboter vor dem Zugang zum Hangar wirkte wie erstarrt. Seine Arme ließ er locker herabhängen,
seine Blickrichtung verlief schnurgerade nach vom. In dieser Haltung konnte er theoretisch
jahrzehntelang verharren. Erst wenn er einen neuen Einsatzbefehl bekam oder sich ihm eine unbefugte
Person näherte, würde er »zum Leben erwachen«, sprich: zur Waffe greifen.
Azir legte sich am Ende einer Tunnelröhre auf den Boden und visierte den metallenen Wächter mit dem
Strahlenkarabiner an. Ihm war klar, daß der erste Schuß sitzen mußte. Kein leichtes Unterfangen bei
dieser Entfernung. Wenn er die zweibeinige Maschine nicht auf Anhieb an einem ihrer wunden Punkte
voll erwischte, würde sie umgehend zurückfeuem. Tel-Roboter verfehlten nur selten ihr Ziel.
Kon kniff ein Auge zu, legte den Finger an den Auslöser des Karabiners...
Irrte er sich, oder hatte sich der Robotwächter eben bewegt? Hatte ihn das Maschinenwesen mit seinen
Sensoren ausgemacht?
»Legen Sie die Waffe hin, und kommen Sie mit mir«, vernahm er plötzlich eine Stimme hinter sich.
Jeder Angehörige seines Volkes konnte einen lebenden Tel von einem Tel-Roboter unterscheiden. Bei
den Stimmen war das nicht ganz so einfach. In dieser Hinsicht waren die Maschinen in den vergangenen
Jahren immer mehr perfektioniert worden.
Azir verfügte jedoch über ein ausgezeichnetes Gehör. Ihm war sofort klar, daß hinter ihm kein Rebell,
sondern ein Roboter stand, und mit Sicherheit hatte er seine Handfeuerwaffe auf ihn gerichtet.
Eben noch hatte Kon sich gewünscht, jemanden sprechen zu hören. Nun verfluchte er seinen
leichtsinnigen Wunsch - und die Götter, die ihm seine Bitte erfüllt hatten.
»Waffe hinlegen, aufstehen und mitkommen!« verlangte der Roboter mit Nachdruck. »Eine weitere
Aufforderung erfolgt nicht.«
Keine weitere Aufforderung...
Kon wußte, was das bedeutete. Als nächstes würde ihn der Roboter anschießen, vielleicht sogar töten.
»Ich gebe auf«, sagte er und ließ den Karabiner los.
173 Was blieb ihm anderes übrig?
Während er sich vom Boden erhob, nestelte er unauffällig an seiner oberen Uniformtasche herum. Dann
wandte er sein Gesicht dem Roboter zu. Wie erwartet zielte die lebensechte, aber leblose Maschine mit
einem Handstrahler auf ihn.
Kon hatte seine linke Hand zur Faust geballt. Mit einer lässigen Bewegung ließ er sie nach vom schnellen
und öffnete sie.
Bevor der Roboter reagieren konnte, klebten fünf Bluedoggs an seiner Brust.
Azir hatte die silbernen Kugeln bisher nie einsetzen müssen. Noch nie hatte er damit eine primitive
Arbeitsmaschine lahmgelegt, und ob die Dinger bei einer hochwertigen Präzisionsmaschine wie einem
Roboter überhaupt irgendeine Wirkung erzielten, darüber war ihm nichts bekannt. Versuch machte halt
klug. Was hatte er schon groß zu verlieren?
Nichts als sein Leben.
Der Roboter schien verwirrt und schwenkte die Waffe unruhig hin und her. Offenbar störten die
Bluedogg-Chips seine elektronischen Kreisläufe erheblich.
Vollständig abschalten konnten sie ihn allerdings nicht. Im Gegenteil, er war im Begriff, sich wieder zu
fangen. Sein erstklassiges Selbstschutzsystem kämpfte erfolgreich gegen die Störversuche an.
Eine doppelte Ladung aus Azirs Handstrahlem riß ihn von den Füßen. Der Schütze machte keine halben
Sachen. Er hörte erst zu schießen auf, als sich sein Kontrahent nicht mehr rührte.
Der Wachroboter am Hangar wurde auf den Zwischenfall aufmerksam und griff ebenfalls zur Waffe. Kon
Azir ließ ihm keine Chance. Er packte den Strahlenkarabiner und hielt so lange auf seinen Gegner, bis
keine Gefahr mehr von ihm ausging.
»Ich habe doch gesagt, ich fange auch einen Krieg an, wenn man mich dazu zwingt!« knurrte der Tel.
Kurz darauf stand Kon Azir im unteren Teil des Haupthangars und blickte sprachlos zu einem mächtigen
Etwas empor, das mit
174 ten im Hangar in der Luft schwebte - gehalten von starken Fessel feldern. Das Ding sah aus wie eine überdimensionale, bauchige Weinkaraffe. Kon kannte solche Trinkgefäße von einer Führung durch die terranische Botschaft. Diese »Riesenkaraffe« hier war jedoch nicht aus Glas gefertigt, sondern aus einer rotschimmemden, undurchsichtigen Metallegierung. Was sich im Inneren der roten Ummantelung befand, darüber konnte Azir nur spekulieren. Er befürchtete das Schlimmste. * Kon Azir hielt sich nicht länger als nötig im Hangar auf. Möglicherweise waren die Rebellen auf die beiden kurzen Feuergefechte aufmerksam geworden und würden weitere Roboter schicken, um nach dem Rechten zu sehen. Darauf wollte er nicht warten, dafür hing er viel zu sehr an seinem Leben. Sein nächstes Ziel war die Krankenstation. Zwar hatte er bei den Schießereien keinen Kratzer
abbekommen, doch die leere Station schien ihm als Versteck geeignet. Außerdem gab es dort einen hervorragenden Rechner. Obwohl er diesmal keine Umwege wählte, erreichte Kon die Krankenstation unbehelligt. Er legte den Karabiner in Griffweite und fuhr den Rechner hoch. Nicht nur am Schaltpult der Waffensteuerung war Kon Azir in seinem Element. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, über die Nebenstelle in der Station den Hauptrechner anzuzapfen, schaffte er den Durchbruch. Aus Sicherheitsgründen wollte er nur kurze Zeit hierbleiben. Wahrscheinlich würde man seinen Standort innerhalb weniger Momente ausmachen. Daher stellte er dem Hauptrechner nur die nötigsten Fragen. Als Azir den Stationsrechner abschaltete, wußte er, wohin das entführte Raumschiff unterwegs war und was die Rebellen vorhatten. Blankes Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen wider. Die DRAKHON sollte durch den terranischen Schutzschirm transitieren. (Was für die Rebellen offenbar kein Problem darstellte. Welche hochgradige Porat-Karte hatten sie im Ärmel?) Unmittel
175 bar über der Erdoberfläche würde man eine neuentwickelte Hyperbombe zünden -jenes gewaltige Gebilde, das im großen Hangar von Fesselfeldern gehalten wurde. Die Wirkung der Bombe war ausreichend, um Terra total zu verwüsten, vielleicht sogar vollständig zu vernichten.
176
9. Dan Riker wirbelte herum. »Verschwunden, Grappa?« Der junge Mailänder, dem man nachsagte, er sei mit seinen Ortungen verheiratet, nickte. »Einfach weg, Riker! Von einem Moment zum anderen! Eins - Raumschiff vorhanden, zwei - Raumschiff weg!« Riker nickte. »Haben Sie...« »Wir sind dabei«, unterbrach Tino Grappa den Chef der Terrani-schen Flotte. Das war keine Respektlosigkeit, sondern Ausdruck des legeren Umgangs, den die Besatzungsmitglieder der POINT OF miteinander pflegten. Auch wenn der Ringraumer nach wie vor das Flaggschiff der TF war, lehnte die Besatzung den »militärischen Zirkus«, wie die Frauen und Männer an Bord es nannten, ab. Sie trugen an ihren Uniformen nicht einmal Rangabzeichen, aber sie waren stolz auf das Emblem auf der Uniformjacke, das einen Ringraumer darstellte und noch aus der Zeit sTarnmte, in der die TF nur dieses eine Ringschiff besaß. Das Symbol stand für die verschworene Gemeinschaft, die schon auf Hope mit Ren Dhark durch dick und dünn gegangen war und die mit ihm zusammen die Menschheit damals vom Joch der Giants befreit hatte. Riker beugte sich vor. »Funk-Z«, verlangte er über die Bordverständigung. »Sofort Dhark anrufen!« »Verbindung kommt«, meldete Walt Brugg, der vor ein paar Minuten seinen Kollegen Glenn Morris abgelöst hatte. »Der Commander auf Armbandviphofrequenz, Riker!« Damit wurde Ren Dhark direkt angefunkt. Das Gespräch lief nicht über die Funkzentrale des Pscheridenraumers, in dem der Commander und seine Begleiter sich derzeit aufhielten. Evakuierungsraumer, die in ihrer zylindrischen Scheibenform
177 2,5 Kilometer durchmaßen und etwa l km hoch aufragten! Giganten, und doch konnte Riker sich nur schwer vorstellen, wie in jedem dieser Raumer mehr als eine Million Lebewesen Platz fanden. Die GALAXIS, mit der Ren, er selbst und viele andere einst von Terra noch Hope geflogen waren, war mit 800 Metern Höhe schon ein Raumriese gewesen, aber die 50 000 Kolonisten an Bord hatten in drangvoller Enge zusammengehockt. Wie eng mochten nun die Pscheriden zusammengepfercht sein, auch wenn ihre Raumer erheblich größer waren? Aber diese Raumschiffe mußten die 25fache Menge an Insassen beherbergen... Dann machte sich Riker allerdings klar, daß die Spindelform der GALAXIS ihren Rauminhalt doch arg beschränkt hatte. Im Vergleich zu diesem Schiff mußten die Lebensbedingungen an Bord der pscheridischen Zylinder auch bei jeweils weit über einer Million Insassen geradezu verschwenderisch sein. Auf einem kleinen Schirm vor Dans Sitz am Kommandopult der POINT OF wurde Dharks Gesicht eingeblendet. Brugg hatte das Gespräch direkt auf die Zentrale geschaltet. Riker atmete tief durch. »Ren!« »Was ist? Sag nicht, daß...« klang die Stimme des Freundes auf. »Ich muß es aber sagen, Ren! Verdammt, niemand weiß, wie es passiert ist, aber...« »Aber?«
»... eines der Schiffe ist verschwunden. Fast unbemerkt und spurlos.«
»Eines der Schiffe? Einer unserer S-Kreuzer?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Eine der Archen. Eben war sie noch da, und dann...«
»Verdammt!« entfuhr es Grappas Kollegen Yell. »Da ist die nächste weg!«
Damit war schon das zweite Evakuierungsraumschiff der Pscheriden spurlos aus dem Weltraum
verschwunden - und jedes dieser gigantischen Schiffe hatte l ,25 Millionen jener Wesen an Bord, die
versuchten, sich dem Zugriff der mörderischen Zyzzkt zu entziehen!
Zwei von acht Schiffen!
178 »Ren, gerade ist der zweite Raumer verschwunden«, rief Dan Riker seinem Freund zu. »Kommt sofort
zurück zur POINT OF, bevor es euch auch erwischt! Schnell!«
»Der dritte!« meldete Grappa bestürzt. »Und wieder keine Strukturerschütterung, keine Transition -
einfach weg! So, zack, husch! Ich glaub's nicht...!«
»Ren«, drängte Riker. »Beeilt euch!«
Im gleichen Moment existierte die Viphoverbindung zu Ren Dhark nicht mehr!
»Zu spät!« unterbrach Tino Grappa den Flottenchef, der in Dharks Abwesenheit das Kommando über den
Ringraumer hatte. »Gerade ist auch das Schiff mit dem Commander an Bord verschwunden...«
Der untersetzte, dunkelhaarige Mann, auf dessen Kinn sich ein kleiner roter Fleck als sichtbares Zeichen
seiner innerlichen Erregung bemerkbar machte, ließ sich gegen die Lehne seines Kontursitzes
zurückfallen. Ihm lagen ein paar markige Wörter auf der Zunge, aber dann sprach er sie doch nicht aus,
weil sie niemandem weiterhalfen.
Vor allem nicht seinem Freund Ren, dem mit ihm an Bord des Evakuierungsraumers gegangenen Are
Doom, den drei Technikern, dem Worgun Gisol, den drei Römern Manlius, Nuntius und Aulus sowie
dem Pscheriden-General Gutter. Doom, seine Leute und die Römer wollten sich die defekten
Transitionstriebwerke des Raumers ansehen und versuchen, sie wieder ans Laufen zu bringen. Besonders
Are Doom war es durchaus zuzutrauen, daß ihm das gelang. Der immer etwas mürrisch wirkende Sibirier
besaß ein geradezu unwahrscheinliches Einfühlungsvermögen in fremde Technologien.
Doch jetzt waren Doom und seine Begleiter mit dem Pscheri-denraumer verschwunden!
Und mit ihnen Ren Dhark!
Und der Worgun Gisol, der Rebell der Mysterious, die von den Zyzzkt geknechtet wurden...
Tino Grappa kam Rikers Frage zuvor. »Nirgendwo Fremdraumer festzustellen! Nichts deutet auf einen Angriff hin, Dan! Das Verschwinden der Schiffe muß eine andere Ursache haben!« »Keine Zyzzkt in der Nähe«, bestätigte auch Yell. »Nummer fünf... und sechs...« Und in wenigen Augenblicken würden auch das siebte und achte Schiff verschwinden. Riker war fassungslos. Was geschah hier? Welche Gefahr griff nach den Räumern, die nicht einmal mit den Ortungen der POINT OF feststellbar war? Er fragte sich, ob Gisols Ringraumer mehr erfassen konnte; immerhin war die EPOY annähernd tausend Jahre jünger und moderner als die POINT OF. Aber Gisol befand sich nicht an Bord, das Schiff wurde automatisch gesteuert, und niemand hatte Zutritt. Ob die Gedankensteuerung der EPOY es zuließ, daß der Checkmaster der POINT OF ihre Ortungsdaten abfragte, war zu bezweifeln. Im nächsten Moment erwischte es kurz hintereinander die beiden letzten Evakuierungsschiffe. Und niemand konnte irgend etwas dagegen tun...
»Riker«, durchdrang Walt Bruggs Stimme seine Gedanken. »Der Commander über UKW ~ ich stelle
durch!«
Es riß Riker vom Sessel hoch. Auch die anderen Männer und Frauen, die in der Zentrale der POINT OF
ihren Dienst versahen, zuckten zusammen.
UKW? Ultrakurzwelle?
Dann mußte sich Dhark nach wie vor in der Nähe befinden, weil diese Frequenzen über größere
Entfernungen nicht von Fremden abzuhören waren, aber der Empfang bei Freunden war auch nur über ein
paar zigtausend Kilometer sinnvoll, weil die langsamen Wellen sonst eine zu größere Verzögerung
zwischen Rede und Antwort verursachten.
Ein Bild gab es diesmal nicht, auch wenn Ren wieder von seinem Armbandvipho aus sendete und
empfing.
»Dan, es ist alles in Ordnung. Wir sind nicht in Gefahr!«
Es war eindeutig Ren Dharks Stimme.
Und sie klang auch nicht so, als würde Ren von jemandem unter Druck gesetzt. Dan kannte seinen besten Freund gut genug. Er wußte, wie der
180 zu reden pflegte, wenn etwas nicht hundertprozentig in Ordnung war.
»Was ist passiert?« wollte Dan wissen.
»Kann ich dir noch nicht sagen. Wir arbeiten noch dran. Mal sehen, was die Ortungen sagen. Ihr habt
keine Daten?«
»Keine, Ren...«
»Dann versuchen wir's mal von hier aus. Ich melde mich wieder!«
Die Verbindung brach ab.
Riker hieb mit der Faust auf die Steuerkonsole. »Was zum Teufel bedeutet das? Jetzt wird Ren schon so
wortkarg wie Doom! Der Umgang scheint gewaltig abzufärben! - Funk-Z! Brugg, stellen Sie die
Verbindung wieder her!«
»Geht nicht, Riker«, brummte der Funker. »Das Gerät ist abgeschaltet. Aber die Echokontrolle verrät, daß
es betriebsklar ist.«
»Wie bitte?« entfuhr es Dan. »Mit der Echokontrolle können Sie Dharks Vipho checken?«
»Ja, und...«
»Beim Gurrschweif der Panzerhomschrexe!« knurrte Riker. »Dann will ich die verdammten Koordinaten
sofort vor mir sehen! Auf mein Pult und an den Checkmaster, aber etwas hurtig, Mann!«
Die Echokontrolle war eine Entwicklung der Mysterious, welche anzeigte, ob eine fremde Funkstation
betriebsklar war oder nicht -nur mußte dafür deren Position bekannt sein. Wenn Brugg Dharks Vipho mit
der Echokontrolle erfassen konnte, mußte er damit doch logischerweise auch die Koordinaten besitzen!
Von nichts kam nichts!
»Und, Brugg, Anfrage per Rundruf bei den anderen Einheiten -bei unseren S-Kreuzem und beim
pscheridischen Geleitschutz, ob die etwas orten können!« setzte Riker nach.
»Schon gemacht, aber die haben nichts!« Brugg klang beleidigt.
Und Riker wartete auf die Koordinaten, die die Echokontrolle lieferte, nur kam da nichts! Diese Technik
arbeitete nur einseitig. Einmal justiert, konnte sie einen fremden Sender anpeilen, aber sie konnte, wenn
sie den erfaßte, nicht umgekehrt auch die Positionsdaten aufnehmen.
Zahneknirschend mußte Riker sich damit abfinden.
181 Aber die »Arche« mit Ren Dhark und den anderen an Bord mußte sich in der Nähe befinden, sonst wäre der UKW-Kontakt nicht so reibungslos abgelaufen!
Die drei Römer befaßten sich mit den Ortungsanlagen des Eva-kuierungsraumers. Sie versuchten, mit allen möglichen Tricks mehr herauszuholen, aber die Technik der Pscheriden setzte ihnen Grenzen. Sie war gut, teilweise sogar besser als terranische Technik, langte aber bei weitem nicht an das heran, was die Römer von ihren Raumschiffen her gewohnt waren. Auch Gisol schüttelte immer wieder den Kopf. »Nichts... wir können einfach nichts erfassen... unsere Ring-raumer und die pscheridischen Kampfschiffe schon, aber keine der anderen >Archen<... und erst recht keine Fremdraumer, keine Stationen, nichts, was für das Verschwinden verantwortlich zu machen wäre...« Das war der Grund, aus dem Dhark über UKW Kontakt mit der POINT OF aufgenommen hatte und nicht per Normalfunk. Solange niemand wußte, womit sie es bei diesem Phänomen zu tun hatten, war äußerste Vorsicht angesagt. »Mit den Ortungen unserer Schiffe könnten wir vielleicht mehr herausfinden«, murrte der Römer Manlius. Er und seine beiden Gefährten waren wie Dhark und Gisol vom Maschinenraum zur Funk- und Meßbude gewechselt. Was den Transitionsantrieb des Evakuierungsraumers anging, konnten sie ohnehin nicht mehr machen, als Doom und sie schon vorgeschlagen hatten und was sich als unpraktikabel erwies. Trotzdem brüteten Are Doom und seine Techniker immer noch, ob es nicht etwas gab, das sie bisher übersehen hatten. »Unsere Ortungen bringen auch nicht mehr«, behauptete Gisol. »Sonst hätte ich längst eine entsprechende Rückmeldung meiner EPOY.« Dabei warf er einen kurzen Blick auf ein unscheinbares Armbandgerät, das er am Handgelenk trug. Der Junge steckt doch immer wieder voller Überraschungen, dachte Dhark verblüfft, der diesem kleinen Teil bisher keine be 182
sondere Bedeutung zugemessen hatte. Offenbar handelte es sich um eine Art Steuergerät, mit dem Gisol
nicht nur mit seinem Raumer kommunizieren konnte...
»Und auch die POINT OF hätte dann sicher schon etwas festgestellt«, fuhr Gisol fort.
»Aber wer hat uns manipuliert? Wer steckt dahinter? Wir können die anderen Archen nicht mehr orten,
die POINT OF kann auch dieses Schiff nicht mehr orten...«
»Die EPOY auch nicht«, ergänzte Gisol trocken.
»Und wir können niemanden orten, der dafür verantwortlich ist«, fuhr Dhark fort. »Vielleicht sollten wir
zur POINT OF zurückkehren, beziehungsweise zur EPOY...«
»Davon rate ich in der gegenwärtigen Situation ab«, sagte Gisol. »Vermutlich wartet der oder das da
draußen nur auf eine solche Reaktion.«
Dhark seufzte. Abwarten und Untätigkeit waren nicht sein Fall.
Aber vermutlich hatte Gisol recht. Irgendwann würden die Unbekannten sich zeigen.
Immerhin, eines schien sicher: Es waren keine Zyzzkt!
»Wir werden gerufen!« meldete Walt Brugg.
Dan Riker zuckte leicht zusammen. »Durchstellen!«
»Von wem gerufen?« fragte Leon Bebir, Zweiter Offizier der POINT OF, der sich neben Riker im
Kopilotensitz befand. Riker verzog das Gesicht. Bebir hatte einen Tacken weiter gedacht als er selbst:
Ren Dhark konnte der Anrufer nicht sein, sonst hätte der Punker anders reagiert.
»Sender unbekannt«, meldete Brugg.
»Ortung!« fauchte Riker ungeduldig.
»Und wenn Sie mich noch so anknurren - da ist nichts!« fauchte Tino Grappa zurück. »Glauben Sie, wir
schlafen hier auf beiden Backen? Wir versuchen dauernd neue und andere Tricks und mittlerweile möchte
ich diese ganze verdammte Technik in die nächste Sonne schießen, weil einfach nichts...«
Riker hörte schon nicht mehr zu. Grappa hatte ja recht, aber Dan
183 fand in diesem Moment nicht die Worte, eine Entschuldigung zu formulieren. Es blieb ihm auch keine Zeit dafür. Der Fremde, der die POINT OF anfunkte, war zu hören. Er sprach Worgun. Das war nicht erstaunlich; die Sprache der Mysterious war allgemeine Verkehrssprache in der Galaxis Om. Mittlerweile beherrschten sie alle Terraner dieser Expedition, dank der Mentcaps, welche die Römer ihnen zur Verfügung gestellt hatten. Ein Bild des fremden Anrufers wurde nicht übermittelt. Riker lauschte der fremden Stimme. »Wir werden uns nun zu erkennen geben. Wir bitten Sie, nicht das Feuer auf uns zu eröffnen. Wir bitten, an Bord Ihres Raumschiffs kommen zu dürfen.« Dan Riker und Leon Bebir sahen sich an. »Brugg, noch nicht antworten«, entschied Riker dann. »Kanal aber offen halten. UKW-Verbindung zum Commander!« Die stand innerhalb weniger Sekunden und bewies damit, daß das Pscheridenschiff sich tatsächlich in unmittelbarer Nähe befinden mußte, obwohl es nach wie vor nicht anzumessen war. »Ren, habt ihr den Funkspruch auch empfangen?« »Ja. Ich komme an Bord. Diesen seltsamen Vogel will ich mir doch mal ansehen.«
Gisol riet zwar weiterhin ab, aber Ren Dhark und auch die drei Römer kehrten dennoch mit zwei Flash
zur POINT OF zurück. Währenddessen hatte der Fremde seinen Funkspruch mehrfach wiederholt, aber
von der POINT OF noch keine Antwort erhalten. Allerdings wartete man dort auch immer noch darauf,
daß die Ankündigung, sich nun zu erkennen zu geben, endlich in die Tat umgesetzt wurde.
Das Objekt, in dem sich der Fremde befand, war immer noch nicht zu orten.
Dafür aber zeichnete die POINT OF die Flugdaten von Dharks Flash auf; so konnte man sicher sein, wo
sich das Evakuierungsschiff derzeit befand.
184
Ren schüttelte Gisols Warnung von sich ab. Wenn der Anrufer tatsächlich für das seltsame Phänomen
verantwortlich war, kannte er die Position der Arche natürlich! Was gab es da noch zu verlieren?
Als der Commander und die Römer die Zentrale des Ringrau-mers betraten, kam gerade die achte
Wiederholung des Funkspruchs herein.
»Antwort 'raus, Brugg«, verlangte Dhark, ohne erst in einem der Kontursitze am Kontrollpult Platz zu
nehmen. »Commander Ren Dhark an Unbekannt. Wir greifen Sie nicht an. Zeigen Sie sich.« Augenblicke später wurde ein fremdes Raumschiff sichtbar.
Die Bildkugel zeigte das Objekt. Es befand sich in unmittelbarer Nähe der POINT OF, dicht am Rand des
Intervallfelds.
»Brugg«, bellte Riker den diensthabenden Funker an. »Hätten Sie das nicht an der Sendestärke feststellen
können?«
»Bin ich Gott?« gab Walt Brugg, der sich ungerecht behandelt fühlte, eiskalt zurück. »Kommen Sie doch
'rüber und schauen Sie sich den Mist selbst an, wenn Sie glauben, schlauer zu sein als wir hier in der
Funk-Z! Mann, weil ich einmal vor einer kleinen Ewigkeit 'neu Fehler gemacht habe, muß doch nicht
ständig jeder auf mir 'rumhacken! Hätten Sie Morris oder Yogan auch so angepfiffen wie mich?«
»Oberstleutnant Riker, Leutnant Brugg, tragen Sie Ihre Meinungsverschiedenheiten zu einem anderen
Zeitpunkt an einem anderen Ort aus«, fuhr Ren Dhark dazwischen. »Jetzt aber tun Sie bitte beide Ihre
Arbeit.«
Überrascht sah Dan seinen Freund an und wollte etwas sagen. Aber der legte ihm die Hand auf die
Schulter, drückte hart zu und brachte ihn damit zum Schweigen.
»Schiffstyp ist ein Xe-Flash«, meldete Tino Grappa. »Was...«
Das wollte Dhark auch wissen, als der Mailänder mitten im Wort abbrach. Statt dessen machte sich Aulus
bemerkbar, der Römer, der rasch zum Ortungsraum hinübergewechselt war.
»Das ist kein normaler Xe-Flash«, erklärte er. »Die Energie-
Signaturen sind völlig untypisch. Offenbar hat er mit den bekäme ten Schiffen dieses Typs nur Hülle und
Antrieb gemein.«
Unwillkürlich mußte Dhark an die umkonstruierten Xe-Flash denken, welche die kosmische Gaswolke, in
der Terra Nostra lag, mit einer speziellen Strahlung vor dem Eindringen von Zyzzkt und Worgun
schützten. Er sprach Aulus darauf an.
»Das hier ist etwas noch ganz anderes«, behauptete der Römer. »Die hier verwendete Technik ist auch
uns fremd.«
Wem war dieser Xe-Flash dann zuzuordnen?
Die Bezeichnung »Xe-Flash« war eine Mischung aus terrani-scher und telscher Sprache und bezeichnete
einen besonders großen Flash. Die normalen Typen, die sowohl die POINT OF als auch die EPOY als
Beiboote mit sich führten, boten gerade mal Platz für zwei Insassen; in Notfällen konnte kurzzeitig auch
eine dritte Person mitgenommen werden, aber dann war es auch schon mehr als ungemütlich. In der
Sternenbrücke waren die Terraner dann erstmals auf »Xe«-Flash gestoßen, die von den Tel geflogen
wurden, die wie die Terraner das technische Erbe der Mysterious für sich beanspruchten und ausbeuteten.
Diese Groß-Flash, von der äußeren Form her ebenfalls plump wirkende zylindrische Flugkörper, die nur
erheblich größer dimensioniert waren, faßten bis zu 20 Insassen, die sich über zwei Decks ausbreiten
konnten.
Und nun hatte sich ein Xe-Flash unbemerkt bis dicht an das Intervallfeld der POINT OF herangepirscht!
»Die Tarntechnologie, die die Fremden besitzen, hat's in sich«, behauptete Aulus. »Die scheint teilweise
sogar besser zu sein als unsere.«
Wieder wurde die POINT OF angerufen.
Der Kommandant des Xe-Flash, dessen Namen Ren Dhark zunächst nicht verstand, bat erneut, an Bord
des Ringraumers kommen zu dürfen. Dazu wolle er einen Transmitter benutzen.
»Kommt gar nicht in die Tüte«, protestierte Dan Riker prompt. »Der Transport strahlt fünfdimensionale
Impulse aus und kann von anderen so präzise angepeilt werden wie eine Transition! Dann haben wir die
verdammten Zyzzkt doch gleich wieder am Hals!«
»Seien Sie unbesorgt, Commander Dhark«, versicherte der
186 preinde, der immer noch kein Bild von sich übermittelte. »Wir können den Impuls des Geräts so
abdämpfen, daß von außen
nichts anmeßbar ist.«
»Wer's glaubt, wird selig, und wer backt, wird mehlig«, brummte Dan Riker ein altes Sprichwort vor sich
hin. i® »Bestätige Aussage«, erklang im gleichen Moment Gisols Stimme. Der Mysterious hatte sich in
den Funkverkehr eingeschaltet. »Die Dämpfung ist möglich.«
»Du hast mitgehört?« wunderte sich Ren Dhark.
»Seit der Xe-Flash seinen Ortungsschutz aufgehoben hat, können wir auch seinen Funk empfangen«,
bestätigte Gisol aus dem Pscheridenraumer. »Die Reichweite ist allerdings radikal reduziert.«
»Also gut«, entschied Ren Dhark. »Kommen Sie an Bord, Fremder. Erlaubnis, den Transmitter zu
benutzen, erteilt!«
10.
Wamtöne erklangen, als die CHARR sich anschickte, in den Hyperraum zu gehen, um ihn fast ohne
Zeitverzug Lichtjahre von ihrer Eintrittsposition entfernt wieder zu verlassen.
Übergangslos glitt das golden schimmernde Ovoid aus dem fünfdimensionalen Überraum und
materialisierte im normalen Weltall.
In Sekundenbruchteilen erschienen neue Sternkonstellationen vor dem Fünfhundertmeter-Ellipsenraumer.
Einziges Indiz dafür, daß das Raumschiff die Strecke von Külä im Achtundzwanzigpla-netensystem der
Sonne Kimik bis in diesen Raumsektor hinter sich gebracht hatte.
Die Auswertung der redundanten Arbeitsspeicher der Sprungtriebwerke des namenlosen Wracks auf
Planet VII des Systems hatte die Eintrittskoordinaten seines letzten Hyperraumsprunges zum Vorschein
gebracht.
Er führte über eine Distanz von 1249 Lichtjahren.
Den letzten Flug jenes Wracks zurückzuverfolgen und an den Ausgangspunkt zu gelangen, war das
erklärte Ziel der CHARR gewesen.
Jetzt hatte sie es erreicht.
Wo immer das auch sein mochte.
Nachdem die Transition beendet war, verringerte Lee Prewitt im Pilotensitz die Geschwindigkeit des
Nogk-Schiffes innerhalb sehr kurzer Zeit auf Null.
Bewegungslos schwamm der Fünfhundertmeterriese im All-Optisch unsichtbar für jede Tastererfassung
durch seinen gestaffelten Hochleistungs-Ortungsschutz.
Die eigenen Taster waren weit offen, drangen tief in den umgG' benden Raum hinaus und suchten
unablässig nach Signaturen
188
fremder Raumschiffe.
In den Waffenstationen des Ellipsenraumers ließen die Waffentechniker kein Auge von den Anzeigen
ihrer Zielerfassungen. Man befand sich schließlich weit, sehr weit von heimatlichen Gefilden entfernt in
einer unbekannten Region.
»Wurde unser Eintritt in den Normalraum beobachtet, Mister Perry?« wandte sich Lee Prewitt an den
Chef der Ortung.
»Negativ, I. 0.«, antwortete der Funk- und Ortungsoffizier von seinem an Steuerbord gelegenen Platz.
»Weit und breit nichts zu sehen.«
Der hagere, grauhaarige Mann, der die Insignien eines Colonels der TF an seiner Uniform trug, wandte
sich an den 1.0.
»Mister Prewitt!«
Der Kopf des Ersten Offiziers und Navigators ruckte herum.
»Skipper?«
»Status?«
»Alle Systeme im grünen Bereich«, meldete der Erste Offizier der CHARR.
»Sehr gut, Lee«, nickte Huxley.
»Da haben wir das System, Colonel«, meldete Maxwell, der Zweite Offizier. »Von hier muß die
Besatzung des uralten Wracks gekommen sein.«
»Ich sehe«, erwiderte der hochrangige Offizier und ehemalige Absolvent der Kallisto-Akademie
mechanisch.
Colonel Frederic Huxley, Kommandant des golden schimmernden Wunderwerks nogkscher
Raumschiffsingenieure und Mitglied un Rat der Fünfhundert der Nogk-Administration, stützte das Kinn
ü ! die Hand und ließ seine Blicke über die Anzeigen und Schirme gleiten, um sich ein Urteil über die
Region zu verschaffen, in der sie herausgekommen waren.
Er war ein hochgewachsener Mann, mit einem durchtrainierten Körper.
Harte Linien prägten sein vom langen Weltraumaufenthalt röt-üch ledern gewordenes Gesicht, das
Eisgrau seiner Augen bildete dazu einen starken Kontrast.
Sein Haar hatte die gleiche Farbe wie seine Augen; er trug es an wn Seiten kurz und oben länger, was die
kantige Form seines
189
Schädels unterstrich.
Sein hageres Antlitz wirkte völlig ungerührt. Tatsächlich aber war er von einer leichten Nervosität und
einer unbestimmten Erwartung erfüllt.
Seit die CHARR den Orbit um Külä verlassen hatte und in Richtung der gefundenen Koordinaten
geflogen war, hatte sich dieses Gefühl als ständiger Begleiter erwiesen. Ja, es hatte sich sogar noch
verstärkt.
Schräg voraus glühte eine grellgelbe Sonne. Gelbweißes Licht flirrte auf der Allsichtsphäre und den
Nebenschinnen und überstrahlte das der übrigen Sterne.
Huxley betätigte einen Kontakt.
»Bannard hier. Was kann ich für Sie tun, Colonel?«
Der Erste Bordastronom der CHARR war auf dem Monitor der Kommandantenkonsole zu erkennen.
Professor Allister Bannard hatte, wie so viele Besatzungsmitglieder auf der CHARR, bereits unter Huxley
gearbeitet, als dieser noch die FO I befehligte, und bereits damals schon als Leiter der Astroabteilung.
Sein immenses Wissen über Sterne war sprichwörtlich.
»Mr. Bannard«, wollte Huxley wissen, »können Sie mir mit Informationen über unseren Zielstem
dienen?«
»Ein Stern des Spektraltyps A Null. Das heißt, sein Licht ist rund zweihundertmal heller als das der
irdischen Sonne.«
»Ist er katalogisiert?«
»Negativ, Colonel«, bedauerte der Professor. »Unsere Taster haben das Spektrum dieser Sonne bereits
geprüft und mit denen einer halben Million in den Archiven gespeicherter Sterne verglichen. Das System
ist nirgends vermerkt.«
»Hätte mich auch irgendwie überrascht«, gestand Frederic Huxley mit ruhiger Stimme. »Danke,
Professor.«
»Keine Ursache, Kommandant.«
Bannard klinkte sich wieder aus.
»Ihre Befehle, Skipper?« Lee Prewitt sah fragend auf seinen Vorgesetzten.
»Bringen Sie uns näher heran, I. 0.«, bedeutete Frederic Huxley seinem Ersten Offizier.
190
Die CHARR befand sich noch im freien Raum außerhalb der Umlaufbahn des äußeren Planeten, von dem
sie mehr als sieben Astronomische Einheiten entfernt war. Jetzt nahm sie Fahrt auf und näherte sich mit
einem Viertel Licht dem unbekannten System.
In einem Winkel von etwa achtundzwanzig Grad schräg zur Ekliptik der Planetenbahnen geneigt, flog das
golden schimmernde Ellipsoid in das Vierplanetensystem ein.
Die Allsichtsphäre war segmentiert und bot einen Hundertacht-ziggrad-Blickwinkel. Die Illusion, daß
sich vor der menschlichen und nogkschen Besatzung eine riesige, gekrümmte Scheibe befand , war
vollkommen.
Vor der CHARR schob sich langsam der sonnenFernste Planet ins Blickfeld. Er war halb vom
Zentralgestim angestrahlt und reflektierte dessen Licht fast unerträglich hell. Die Welt war eine
gewaltige, atmosphärelose Eiskugel, erstarrt unter einem viele Kilometer dicken Methaneispanzer. Von
Lebensformen im herkömmlichen Sinn spürten die Biotaster der CHARR nicht den Hauch eines
Moleküls auf.
Huxley richtete sich ein wenig im Kommandantensitz auf.
»Mister Perry. Vergrößern Sie die Ansicht.«
»Sofort, Colonel.«
Unter den Schaltungen des Ortungsoffiziers schob sich die unwirtliche, lebensfeindliche Eiswelt von der
Größe des heimischen Jupiters heran und füllte fast die gesamte Allsichtsphäre vor den Konsolen des
Leitstandes.
»Puh!« schauderte Sybilla Bontempi. »Da friert's einen schon beim Anblick. Ausgesprochen
deprimierend, findet ihr nicht? Aber was...?« Sie verstummte und starrte ebenso gebannt wie alle im
Leitstand Anwesenden auf den Frontschirm.
Vor dem Raumschiff tauchte ein mit Einschlagkratem übersäter Eis-Asteroid auf und driftete nach rechts
hinten weg, als der Autopilot der CHARR einen linksgerichteten Flugvektor gab, um einer Kollision mit
dem Riesenbrocken auszuweichen, während er in Gedankenschnelle den Kombischutzschirm verstärkte.
Die Kraterränder des Eis-Asteroiden idendifizierten die Nahbereichstaster als zehn Kilometer hohe
Methaneisschollen. Messerscharf und von
191 der Härte von Diamanten.
Und dazwischen...
»Bei den Ruinen von Hadamar!« Die Anthropologin und Fremdvölkerexpertin gab einen tiefen Kehllaut
von sich.
Hinter dem in der Weltraumkälte tiefgefrorenen Kleinstplanetoiden erstreckten sich Hunderte von
schimmernden Eisringen, die sich gravitätisch um die Planetenkrümmung schwangen. Milliarden und
Abermilliarden von Eispartikeln, von Staubkömchengröße bis zu raumschiffsgroßen Methaneisbrocken,
stießen in den im Mittel mehrere Kilometer dicken Ringen unablässig zusammen und trieben wieder
auseinander.
Dann trieb Nummer IV achtem aus dem Sichtbereich des Frontschirmes hinaus; der Rest des
Planetensystems lag voll ausgebreitet im Blickfeld der CHARR-Besatzung.
Der sonnennächste Planet zog seine Bahn in einer Entfernung von nur 131 Millionen Kilometer um das
Zentralgestim und wurde fast von dessen Licht überstrahlt.
Der zweite Planet rotierte 240 Millionen Kilometer vom Zentrum entfernt, und Nummer III in einer
Entfernung von 360 Millionen Kilometer.
Von den vier Planeten befanden sich lediglich Nummer Zwei und Drei innerhalb der Ökosphäre.
Dazwischen trieben, entsprechend ihrer jeweiligen Stellung zur Sonne mehr oder weniger deutlich
erkennbar, zahllose Asteroiden und Planetoiden auf teilweise verwickelten Bahnen durch die Ekliptik.
Iggy Lory, der Funker der CHARR, prüfte ein paar Anzeigen auf dem Terminal seiner Konsole; seine
Finger glitten mit der Geschmeidigkeit eines Klaviervirtuosen über die Bedienfelder der Funkpeilung.
Ein scharfes Zischen und Prasseln kam durch die Lautsprecher: Der thermonukleare Prozeß des Zentralgestims war auf sämtlichen Frequenzen hörbar. Ansonsten fingen die Fu-Taster nichts auf; auf allen Frequenzen war Stille. »Fragst du an, ob jemand zu Hause ist?« machte John Butrovich den Versuch, einen uralten Funkerkalauer anzubringen. Lory winkte nur mit einem verächtlichen Schnauben ab. Die CHARR drang tiefer in das System ein. 192 Viele Augenpaare verfolgten die Annäherung auf den Schirmen, sahen Welt III aus dem
Hintergrundgewimmel der Sterne auftauchen und das Blickfeld ausfüllen.
Dann die ersten Informationen über sie, die ergaben, daß es eine erdähnliche Sauerstoffwelt mit einen
Durchmesser von 12 580 Kilometern war.
Das optische Bild stabilisierte sich.
Erste visuelle Impressionen entstanden in der großen Sichtsphäre.
»Noch nichts zu erkennen?« fragte Frederic Huxley halblaut in die relative Stille des Leitstandes.
»Negativ!« antwortete Perry, der Chef der Ortung hatte eine steile Falte über der Nasenwurzel.
Langsam verstärkte sich die Spannung in der Zentrale. Von den anwesenden Meegs kamen keine
Reaktionen; auch Tantal enthielt sich jeden Kommentars.
Schweigend sahen sie den Planeten größer und größer werden; das Schiff richtete sämtliche Identifikationsinstrumente auf ihn. Von Sekunde zu Sekunde zeichneten sich deutlichere Einzelheiten ab. Die Oberfläche schob sich in das Blickfeld von Instrumenten, Tastern und den Augen der Besatzung. Wieder vergingen Minuten. Die CHARR schwenkte in eine sehr hohe Umlaufbahn ein. Drei-ßigtausend Kilometer über der Oberfläche zog sie ihre Kreise. »Etwa erdgroß, wie ich schon sagte«, ließ sich Lee Prewitt vernehmen und schaltete auf seiner Konsole. »Einige Bergrücken, die sich von Pol zu Pol erstrecken. Kaum noch Flora vorhanden, zumindest nicht in den zusammenhängen Arealen, die Taster stellen nur Reste von Chlorophyll fest. Die Kohlenstoffkonzentration ist aber noch hoch; es muß also einmal ein an Wäldern reicher Planet gewesen sein.« Die Bilder zogen auf der Sichtsphäre in Nahaufnahme vorbei. In der oberen Atmosphäre waren nur rudimentäre Wolkenforma-tionen zu sehen; die Luftfeuchtigkeit war entsprechend niedrig. Prewitt konsultierte einen Nebenschirm. ^Das ist aber mal interessant«, hob er seine Stimme.
193 »Fünfundzwanzig Prozent der planetarischen Oberfläche werden von zwei größeren Binnenmeeren
bedeckt. Sie müssen schon sehr flach sein; sehen Sie die Farbe, Colonel?«
»Braun«, bestätigte Frederic Huxley.
»Wahrscheinlich exzessive Algenzucht«, warf Sybilla Bontempi ein. »Sie wissen, was das bedeutet,
bedeuten kann, nicht wahr?«
Huxley nickte langsam. »Verstehe ich Sie richtig, daß Sie in dem Planeten eine ehemalige Nahrungswelt
der Nogk vermuten?«
»Das tue ich. Gehen wir denn nicht davon aus, daß das Wrack im Kimik-System ein Nogk-Raumer war?
Und haben wir nicht dieses System«, sie machte eine Handbewegung in Richtung des Schirmes, »als
Ausgangspunkt der letzten Reise des Nogk-Schif-fes ausgemacht? Welcher Beweise bedarf es noch, um
zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Oder, Tantal?« wandte sie sich unvermittelt an den Nogk-Mutanten.
Ausnahmsweise schien der Blauhäutige um eine Erwiderung verlegen. Zumindest kamen keine
Bildimpulse über die Translatoren.
Nogk waren Hybridwesen aus Insekt und Reptil, zirka zweieinhalb Meter groß, langbeinig, mit kräftigen
Armen, an deren Enden sich vierfingrige Hände befanden. Sie konnten sich mit einer Schnelligkeit bewegen, die an Rap-toren erinnerte, die erdgeschichtlichen Raubechsen. Ihre Haut war lederartig, braun und gelblich gepunktet. Das absolut Fremdartige an ihnen war der mächtige, libellenartige Kopf mit den gezackten Beißwerkzeugen. Große, seitlich am Kopf stehende schwarze Facettenaugen mit zwei langen Fühlerpaaren dazwischen vervollständigten das Erscheinungsbild der Nogk. Tantal war erheblich aus der Art geschlagen; er war der Protagonist einer neuen Nogk-Art, deren Anderssein sich am augenfälligsten in ihrem Äußeren festmachte, das sich grundlegend von dem der normalen Nogk unterschied. Er und seinesgleichen waren etwas kleiner, geschmeidiger und besaßen eine kobaltblau schimmernde Haut. Aus einer vergessenen Puppe geschlüpft, hatte Tantal sich nach der Sonne seines Geburtsplaneten benannt. Eine Zeitlang war er 194 der einzige seiner Art gewesen, inzwischen waren ihm noch viele weitere gefolgt. »Hmm, damit könnten Sie recht haben, Captain«, pflichtete Huxley Bontempi bei. Er schwieg einen Moment, dann richtete er plötzlich das Wort an den Kobaltblauen. Sein TranslatorImplantat formte seine Sätze zeitgleich in die mentale Bildersprache der Nogk um. »Ich frage mich schon lange, Tantal, wie sich das Volk der Nogk überhaupt entwickeln konnte, wenn es niemals in der Lage war -und es noch immer nicht ist, wie wir wissen - sich seine Nahrung auf den Wohnwelten anzubauen! Könntest du diese Diskrepanz für mich auflösen?« Tantals Fühler krümmten sich leicht, spielten nervös; einen Augenblick lang überlegte Huxley, ob der Kobaltblaue irritiert zu sein schien. Nein, irritiert war nicht die korrekte Interpretation seines Verhaltens Tantal schien von der Fragestellung richtiggehend peinlich berührt zu sein! Während Huxley noch mit diesem Verhalten des Kobaltblauen beschäftigt war, antwortete der. »Das ist ein Paradoxon, das bislang noch kein Nogk zu lösen imstande gewesen ist«, kamen seine bildhaften Signale. Huxley glaubte sich verhört zu haben. Sein Implantat sorgte zwar dafür, daß die Bildimpulse des Kobaltblauen - wie die aller Nogk, wenn sie sich nicht mit Absicht des Angloters befleißigten, wozu viele in der Lage waren - für die Weiterverarbeitung innerhalb des menschlichen Gehirns in Worte umgewandelt wurden. Gewiß waren damit noch lange nicht sämtliche Kommunikationsprobleme beseitigt. Aber das Implantat arbeitete natürlich wesentlich wesentlich bedeutungsgenauer als jeder noch so leistungsfähige Translator. Doch der Colonel hatte sich keineswegs verhört. Tantal beharrte strikt darauf, keine Lösung für diese Frage zu kennen. »Auch nicht, wenn du dein Rassegedächtnis zu Rate ziehst und ui der Geschichte deines Volkes zurückgehst?« Nogk verfügten über das Wissen von zweitausend Jahren aufge-^ichneter Geschichte. Nicht übermäßig viel für ein Volk, dessen 195 Einzelwesen eine Lebenserwartung von nahezu vierhundert Erden-Jahren besaßen. Genau genommen war
es ein Nichts.
Auf dieses Wissen, das sogenannte Rassegedächtnis, hatte ein Nogk jederzeit Zugriff. Aber während die
normalen Nogk sich dieses Wissen während ihrer Reifezeit mit Hilfe der Meeg, der Bewahrer des Lebens,
erst aneigneten, waren Tantal und seine Eibrüder bereits damit geboren worden.
Eine Laune der Natur?
Wenig wahrscheinlich.
Eher eine gezielte Manipulation durch eine Fraktion von Meeg, die einen Generationenwechsel anstrebten
und in den Kobaltblauen die legitimen Nachfolger der bisherigen Nogk sahen.
Ob diese Vermutung nun zutraf oder nicht, Fakt war, daß die blauhäutigen Nogk auf diese Weise das
gesamte bekannte Ge-schichtswissen des Volkes in sich trugen. Allerdings unterlagen sie den gleichen
Beschränkungen wie die normalen Nogk: dieses lebende Archiv reichte auch nicht weiter zurück als fünf
Generationen. Genaugenommen bis zum Beginn ihrer Raumfahrt.
Warum eigentlich nicht weiter? dachte Huxley. Es mußte ein Grund dafür existieren. Obwohl die Nogk
schon zu Beginn ihrer dokumentierten Vergangenheit über eine hochtechnisierte Kultur verfügt hatten. Es
war einfach nicht glaubhaft, daß so etwas aus dem Nichts heraus, ohne einejahrtausendelange
Entwicklung entstanden sein konnte.
»Nein, auch dann nicht. Ratsmitglied Huxley«, stellte sich der Kobaltblaue zopfig an.
Huxley wartete ein paar Sekunden, aber Tantal zog es vor, den Schweigsamen zu spielen. Der
grauhaarige Colonel empfing keinerlei Bildimpulse.
Dann eben nicht, mein Freund, dachte er auf einer Ebene, die von den semitelephatischen Kräften des
Kobaltblauen nicht erreicht werden konnte. Aber glaube nicht, daß damit das Thema schon erledigt ist.
Er wandte sich eben wieder den Geschehnissen auf den Schirmen zu, als ein Rufsignal auf seiner Konsole um Aufmerksamkeit heischte. Frederic Huxley bewegte den Kommandantensitz in seinem 196 Drehlager. Seine Hand schloß den Kontakt zum Labordeck.
Professor Dylan Kendrick blickte von einem Nebenschirm der Kommandantenkonsole.
»Wissenschaftsstation. Kendrick hier.«
»Hallo, Dylan. Was kann ich für Sie tun?«
»Es ist wohl eher so, daß ich etwas für Sie tun kann, Colonel«, sagte der Nuklearexperte der CHARR mit
leicht keuchender Stim-.« me, die gut zu seinem Äußeren paßte. 1| Kendrick war ziemlich genau 160
Zentimeter groß und hatte es fertiggebracht, sein Lebendgewicht von 130 Kilo auf dieser »Länge« recht
unterschiedlich zu verteilen. Der überwiegende Teil erstreckte sich rund um den Nabel mit Ausläufern zu
den Hüften. Ein Doppelkinn bildete den Übergang zwischen dem runden, von schütterem Haar bedeckten
Kopf und dem massigen Oberkörper. Arme und Beine waren dieser Statur bestens angeglichen. Stramm
spannte sich der Bordoverall unter dem weißen Kittel um die ganze vorgeschobene Muskulatur seines
Rumpfes.
»Und das wäre was, Professor?«
»Die Femaufklärung der beiden in Frage kommenden Welten hat ergeben, daß sie atomar verseucht sind.
Laut der Analyse der Zerfallsrate muß vor etwa 800 Jahren ein schrecklicher interplanetarischer
Atomkrieg mit katastrophalem Ausgang stattgefunden haben.«
»Mein Gott. Welch ein Unglück!« flüsterte Sybilla Bontempi entsetzt und hatte dabei nicht so sehr das
Bild der verseuchten Planeten vor Augen, sondern sie dachte mehr an die Zeit, in der diese Welten
dahingesiecht und gestorben waren. Dieser Prozeß hatte vermutlich das Leben von Millionen oder
Milliarden Bewohner gekostet.
Frederic Huxley malträtierte seine Unterlippe mit den Zähnen.
»Vor etwa 800 Jahren sagen Sie - hmm - wie hoch ist der Grad der atomaren Verseuchung denn noch,
Professor?«
»Auf 20 Prozent des ursprünglichen Wertes gesunken, Sir. Ich würde mich aber trotzdem nicht längere
Zeit ungeschützt auf der Oberfläche aufhalten wollen. r-Strahlen haben so ihre Tücken.«
»Das ist mir bekannt, Professor. Vielen Dank.«
»Jederzeit, jederzeit!«, murmelte Kendrick und verschwand vom Schirm.
197 »Stoppen Sie die CHARR, Lee!« ordnete der Colonel an. »Sir?« Prewitts Gesicht zeigte leichtes
Unverständnis. »Sollten wir nicht landen und uns umsehen? Möglicherweise gibt es dort unten
Überlebende, die unsere Hilfe nötig haben.«
»Genau das werden wir auch tun, uns umsehen!« versicherte Huxley, schwieg einen Moment, dann nickte
er seinem Stellvertreter zu. »Ich sage Ihnen, was wir machen, Lee: Sie stellen sich ein Erkundungsteam
zusammen und schleusen mit der FO I unter dem Kommando von Mister Maxwell aus. Ziel: Planet
Nummer drei. Ich fliege mit der CHARR zum Planeten Zwo. Wir teilen uns auch diesmal die Aufgabe
der Exploration. So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe.«
»Ein bedrückender Anblick«, ließ sich Captain Sybilla Bontempi halblaut vernehmen. Sie war mit an
Bord des pfeilschlanken Forschungsraumers gegangen für den Fall, daß ihre Dienste als
Fremdvölkerexpertin Weise gebraucht werden sollten.
Die FO I zog in einer Höhe von zwölftausend Kilometern über der rotgelben Oberfläche ihre Suchkreise.
Die Landschaft, von den weitreichenden Tastern der Bilderfassung ins Schiff geholt, war ohne jegliche
Vegetation.
Schroffe Bergrücken tauchten am Horizont auf und schoben sich heran. Man sah die Einschnitte früherer
Straßen, einige große, zusammengebrochene Brücken und Viadukte, die sich über Flußläufe spannten, in
denen dunkelgraue Pflanzen wuchsen. Eine fast mit den Händen greifbare Ausstrahlung der absoluten
Zerstörung ging von den Bildern aus.
»Nirgendwo ein Zeichen von Leben«, stellte die Fremdvölkerexpertin mit flacher Stimme fest und sprach
damit aus, was die meisten im Leitstand des Forschungsraumers auch empfanden.
Eine Ebene war jetzt zu sehen.
Darin eine Stadt - oder das, was noch von ihr übrig war.
Das erstes Zeichen einer ehemaligen extensiven Urbanisierung dieser postapokalyptischen Welt durch
eine technisch versierte Zivilisation.
198
Die hohen Gebäude waren zerbrochen und zersplittert. Anklagend erhoben sich die Skelette der
Trägerkonstruktionen in den blaßblauen Himmel. Sandfahnen tanzten über Ruinen und Schuttbügeln.
»Was haben diese Krater zu bedeuten?« machte Sybilla Bon-tempi auf neue Eindrücke aufmerksam.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Lee Prewitt, obwohl die Anthropologin die Frage einfach so in den Raum
gestellt und niemanden explizit angesprochen hatte. Und er fuhr fort: »Auf keinen Fall Vulkane oder
Meteoriten! Es gibt nachweislich keine vulkanische Tätigkeit! Außerdem«, setzte er hinzu, »ist der Planet
geologisch auch zu alt, um eine derartige Menge unterirdischer Aktivitäten zu zeigen.«
»Ich dachte auch nicht daran!« verteidigte sich die Fremdvölkerexpertin und fuhr sich mit gespreizten
Fingern durch das blauschwarze Haar, das in einem Pagenschnitt ihr schmales Gesicht einrahmte.
»Woran dann?«
Der Captain hob die Schultern in einer Geste, die alles bedeuten konnte.
»Es sind Einschläge von Raketengeschossen, von Lenkbomben«, ließ sich Lern Foraker vernehmen.
»Das dürfte hinkommen«, meinte Maxwell, im Augenblick Kommandant der FO I. »Ich...«
»Käpt'n!« unterbrach ihn der Techniker an der Orterkonsole mit lauter Stimme. »Sie sollten sich das
ansehen! Ich registriere auf der Oberfläche eine Zone mit merkwürdigen energetischen Aktivitäten, die
sich in unspezifischen Abständen ein- und ausschalten.«
»Also doch!« Es klang fast wie eine erleichterte Äußerung von Captain Bontempi. »Also doch Leben auf
Drei!«
»Stellen sie die planetaren Längen- und Breitengrade fest für ^ne Koordinatenbestimmung«, befahl
Maxwell seinem Mann an der Ortung. »Mister Prewitt wird es Ihnen danken.«
»Ein Flug der Überraschungen!« bekannte der Erste Offizier. »Was uns wohl dort unten erwarten wird?«
Er nickte Foraker zu. »Wir werden uns die Gegend mal aus der ^ähe ansehen, oder Lern?«
199 »Natürlich, Lee.«
Foraker grinste, was ihn äußerst jungenhaft aussehen ließ. Der taktische Offizier befehligte neben seinen
vielfältigen anderen Aufgaben auch das kleine Kontingent von Flotteninfanteristen, das an Bord aller TF-
Kreuzer zu finden war. So auch auf der CHARR, obwohl die nicht mehr so exakt in das Flottenschema
paßte. Zehn dieser Eliteinfanteristen sowie Feldwebel Cooper bildeten das Team, das ihn und Lee Prewitt
auf die Oberfläche begleiten würde. Daß sich aus der Summe die Zahl 13 ergab, eine angebliche
Unglückszahl, störte weder den Ersten Offizier der CHARR noch Lern Foraker.
»Ich werde ein Auge auf Sie haben, wann immer ich kann«, versprach Maxwell.
»Das ist wohl das mindeste«, versetzte Lee Prewitt und winkte Foraker zu.
Gemeinsam verließen sie den Leitstand der FO I und suchten den Bootshangar auf.
Nachdem die FO I ihren zweihundert Meter großen Hangar in der CHARR problemlos verlassen hatte,
lehnte sich Colonel Frederic Huxley in seinen Kommandosessel zurück.
»Steht der Kurs, Mister Perry?«
»Aye, Sir«, bestätigte der Dritte Offizier der CHARR, der den verwaisten Platz des Ersten eingenommen
hatte.
»Dann bringen Sie uns von hier weg. Sie kennen das Ziel.«
Tief im Schiff erwachten die Unterlichttriebwerke. Die CHARR nahm Fahrt auf, entfernte sich mit
gewohnter Beschleunigung von ihrer augenblicklichen Position in relativer Nähe von Planet drei und
raste fast lichtschnell in Richtung der Koordinaten des zweiten Planeten durch den Normalraum.
Für die kurze Distanz ergab sich keine Notwendigkeit, in den Hyperraum zu gehen.
Die CHARR nahm sie en passant, gleichsam nebenher.
Es dauerte dann auch nur eine knappe Viertelstunde, bis der Zielplanet auf den Schirmen auftauchte. Er
besaß, das war bereits
200 zu erkennen, keinen Mond.
»Da haben Sie ihren Planeten, Sir«, sagte Perry.
Die CHARR bremste ab.
Der Dritte fütterte den Nav-Suprasensor mit den Daten für einen Orbit, der in zehntausend Kilometer
Höhe über den Planeten führen würde.
Das golden schimmernde Ellipsoid schwenkte ein; die Ortung analysierte die Oberfläche.
Es handelte sich um eine heiße Trockenwelt, so wie sie Nogk für ihre Lebensweise als ideal ansahen.
Die Oberfläche zog unter der CHARR vorbei, und der vordringliche Farbeindruck war ein tiefes, fast
bräunliches Gelb.
Es war eine Welt mit vielen Wüstenregionen, die wie eine Reihe von Kreisen angeordnet die
Äquatorgegend umzogen. Nach Norden und Süden, zu den Polen hin, waren die Wüsten von Steppen und
Gebirgsketten abgegrenzt, aus denen wenige Flüsse entsprangen. Über dem Festland erkannte man
Wolkenstrukturen in sehr großer Höhe; das Licht der Sonne lag gelbweiß auf ihnen.
Der Planet war etwas kleiner als die Erde und ähnelte dem Mars des Sol-Systems. Jetzt überzogen riesige
Erosionsflächen den Planeten, der sich unter der CHARR hinwegdrehte. Ein Gefühl der Ahnung ergriff
die Besatzung des Ellipsenschiffes, als sie die Bilder sahen: Diese Verwüstungen deuteten ebenfalls auf
eine Katastrophe hin, die diese Welt heimgesucht haben mußte.
»Auch hier sind die Auswirkungen des Krieges zwischen den Planeten festzustellen«, meldete sich
erstmals wieder Tantal zu Wort, »wenn auch in geringerem Ausmaß als auf Welt Nummer drei.«
»Wer ihn wohl vom Zaun brach?« sinnierte Huxley laut und erntete einen verständnislosen Impuls des
Kobaltblauen.
»Zaun? Welchen Zaun? Und wieso brechen?«
Huxley brachte es fertig, seine Gesichtsmuskelü unter Kontrolle zu halten.
»Eine menschliche Redensart - auch als Metapher bekannt. Sie stellt nur die Frage nach dem Verursacher
des Krieges.«
»Und warum sprecht ihr dann nicht gleich davon?«
Jetzt seufzte Huxley doch.
201 »Weil wir eben Menschen sind.« »Diese Antwort ist sehr unspezifisch, fürchte ich«, erreichten Tantals semitelepathische Impulse den Mann. »Bei Gelegenheit werde ich mich näher mit dieser menschlichen Eigenart befassen, die mir von extremer ünlogik geprägt scheint.« »Sir!« drang die Stimme des Ortungsoffiziers an Huxleys Ohr. »Da ist etwas!« Der Orbit war von den Rechnern so gewählt, daß er spiralförmig um den Planeten führte; dies gewährleistete, daß auch nicht eine Region, nicht eine Zone den Tastern entgehen konnte. Nun hatten sie ein Gebiet ausgemacht, in dem Spuren einer ehemaligen Besie-delung zu erkennen waren. Die Bilder zoomten auf dem Hauptschirm heran. Huxley kniff kurz die Augen zusammen. »Nogk-Behausungen. Eindeutig«, sagte er in die relative Stille, die im Leitstand der riesigen CHARR herrschte. Die Bauwerke der Nogk hatten bis zu ihrem Exodus nach Corr an terranische Amphitheater erinnert; selbst als zusammengefallene Ruinen konnte man noch Ausmaß und Größe der ehemaligen Ringstadt erkennen, die auf einer Hochebene den Elementen preisgegeben war. Huxley streifte Tantal mit einem kurzen Blick, den dieser aber nicht zurückgab. Entweder weil er ihn nicht bemerkte oder ihn ignorierte, da er damit beschäftigt war, die Konsequenz aus der Tatsache zu ziehen, daß auf dem Planeten eines unbekannten Systems in einer nahezu unbekannten Ecke der Galaxis eine Nogk-Kolonie existiert hatte, auch wenn diese recht klein gewesen sein mußte. Doch dann wandte er sich an Huxley. Seine Fühler pendelten sachte hin und her, die starren Facetten seiner Augen wirkten wie blind. »Spricht etwas dagegen. Ratsmitglied Huxley, daß ich mich mit einem Beiboot auf die Oberfläche begebe, um die Ruinen zu inspizieren?« »Nein - wenn du zwei meiner Leute zu deinem Schutz mitnimmst.« Tantal lauschte Huxleys Worten eine Weile nach, während sein 202 Blick immer noch an den Ruinen hing.
Der Colonel hatte die CHARR stoppen lassen; nun stand sie im geostationären Orbit über jener Region, in
der die zerstörte Nogk-
Kolonie lag.
»So sei es«, antwortete der Kobaltblaue schließlich. »Ich werde mich sofort um die Vorbereitungen
kümmern...«
11.
Auf der Galerie, die die 25 Meter durchmessende Zentrale der POINT OF in halber Höhe umlief, öffnete sich übergangslos ein Teil der Wand und legte einen Ringtransmitter frei. Die vom Ring umschlossene Energiefläche flirrte leicht. Im nächsten Moment trat ein fremdes Wesen aus dieser Fläche hervor. Es verharrte, während hinter ihm der Transmitterring wieder in die Wand zu-rückglitt und diese sich fugenlos schloß. »Ich bin Wraak, der Kommandant des Xe-Flash«, sagte der Fremde. »Ich grüße die Insassen des Worgunschiffes.« Ren Dhark umrundete das Kommandopult, über welchem die Bildkugel schwebte. Sie schien den
Fremden zu faszinieren. Dhark stellte sich als Kommandant der POINT OF vor, verriet aber nicht, daß er zugleich auch der Expeditionsleiter war. Er wollte den Fremden nicht unnötig irritieren. Der würde schon genug verblüfft sein, wenn er erfuhr, daß er es hier mit zwei - oder, Gisol eingerechnet - drei verschiedenen Spezies zu tun hatte. Oder war ihm das bereits bekannt? Dhark und die anderen betrachteten den Fremden, der seinerseits die Terraner eingehend musterte. Er war annähernd humanoid, aber im Gegensatz zu den ebenfalls menschenähnlichen Pscheriden war seine Haut feinschuppig und schillerte in orange-gelben Farbtönen. Extrem dünne Beine trugen einen gewölbten Leib, der von einem vogelartigen Kopf dominiert wurde. Aber im Gegensatz zu normalen Vögeln fehlten diesem Wesen die Federn, und zusätzlich zu den seitlich liegenden Augen besaß er ein drittes auf der Stirn, das ihm einen klaren Blick nach vom ermöglichte, ohne wie bei den meisten Vögeln den Kopf drehen zu müssen. Flügel fehlten ihm; es gab nicht einmal rudimentäre Ansätze. 204 Eine echte Vogel-Abstammung war also wohl nicht gegeben.
Wraak, mit schätzungsweise l ,60 Metern Größe etwas zu massig für seine dürren Beine und Arme, die in
viergliedrige Hände mündeten, trug eine himmelblaue Uniform, die sich mit der Farbe seiner
Hautschuppen geradezu biß. Es gab ein seltsam verschlungenes metallisches Emblem, das er an der Brust
trug; vermutlich sein Rangabzeichen. Und - er war unbewaffnet. Zumindest konnte Ren keine
Auswölbung an seiner Kleidung erkennen, die auf eine Waffe hindeutete.
Entweder gehörte er einem friedliebenden Volk an, oder er fühlte sich sehr sicher!
»Ich freue mich, daß es auch heute noch Ringraumer gibt, die nicht von den Zyzzkt erobert wurden,
Commander Ren Dhark«, eröffnete er das Gespräch. »Darf ich fragen, welcher Spezies Sie angehören?
Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie zu den Hohen gehören. Es heißt, daß es kaum noch freie Hohe gibt.
Worgun wie der Schlächter Gisol stellen die Ausnahme dar...«
»Sie kennen Gisol?« fragte Dhark.
»Wer kennt ihn nicht? Er ist eine Legende. Jeder hat schon von ihm gehört. Er wird von allen bewundert,
die unter der Knechtschaft der Zyzzkt leiden.«
»Wir sind Terraner«, sagte Dhark.
»Von Terranem habe ich nie gehört. Dir Volk ist uns unbekannt. Woher sTarnmen Sie?«
»Wer ist uns^« fragte Dhark zurück.
Trotz der absolut fremden, von einem Vogelschnabel geprägten Physiognomie des Fremden glaubte er, so
etwas wie das Äquivalent eines Lächelns zu sehen. »Wir mißtrauen einander«, sagte Wraak. »Ich gehöre
dem Volk der Chilp an, aber mit uns meine ich nicht mein Volk allein. Wir sind viele Völker.«
»Sie sollten unser Mißtrauen verstehen«, sagte Dhark. »Immerhin müssen wir Sie für die
Verantwortlichen halten, die die Raumschiffe unserer Freunde...«
»... unter einen umfassenden Tarnschirm gelegt haben«, sagte Wraak. »Das sollte durchaus in Ihrer aller
Sinn sein. Die Zyzzkt schlafen nicht. Über kurz oder lang werden sie hier auftauchen und Sie wieder
angreifen. Wir haben die Schlacht um Pscherid ver
205 folgt, Terraner. Die Zyzzkt werden sich nicht mit dem Ergebnis zufriedengeben. Sie werden kommen, um die Evakuierungsraumer zu vernichten. Und Sie kommen hier nicht weg; Sie haben technische Probleme, nicht wahr?« »Woraus schließen sie das?« »Sie wären sonst längst nicht mehr hier.« »Schlaues Kerlchen«, murmelte Dan Riker im Hintergrund und sprach Angloter, damit der Chilp nicht verstehen konnte, was er sagte. »Etwas zu schlau, wie mir scheint.« »Was ist das für ein Tarnschirm?« wollte Dhark wissen. »Und warum tun Sie das für uns? Genauer gesagt für die Pscheriden?« Der Römer Manlius trat neben Ren Dhark. »Wir kennen die Chilp«, sagte er. »Das heißt, wir haben von ihnen gehört. Sie gehören auch zu den Verlorenen, zu jenen, die von den Zyzzkt geknechtet und ausgerottet wurden. Sie haben allen Grund, die Zyzzkt zu hassen und deren Opfern zu helfen.« »So ist es«, sagte Wraak. »Es gibt viele Heimatvertriebene wie die Pscheriden. Auch wir gehören zu ihnen. Die Zyzzkt halten ihre Versprechen nie. Sie sagen, sie gewähren euch freien Abzug, aber sie lügen und jagen euch, sobald ihr euch sicher fühlt. Sie vernichten euch, sie vernichten jeden. Pscherid hat kapituliert, und sie haben die Kapitulation angenommen, aber ich bin sicher, daß bereits jetzt kaum noch ein Pscheride auf seiner Heimatwelt am Leben ist. Sie haben die Pscheriden, die sich ein kleines Reich aufgebaut hatten, zurückgedrängt, immer wieder, bis zu ihrer Heimatwelt, aber selbst da konnten sie sie
nicht in Ruhe lassen. Sie sind Mörder, Verräter, Bestien.«
»Wir haben es erlebt, ja...«, murmelte Dhark.
»Wir versuchen zu helfen«, griff der Chilp den Faden wieder auf. »Die Flotte, über die ich gebiete, ist nur
klein, aber sie besteht aus umgebauten Xe-Flash mit extremer Tarnkapazität. Jeweils eines meiner Schiffe
ist bei einem der Pscheridenraumer längsseits gegangen und hüllt ihn in sein Tarnfeld ein.«
»Und das ist so verdammt gut, daß selbst die Ortungen der POINT OF und der EPOY es nicht
durchdringen konnten!«, entfuhr es Riker. Er sah Manlius an. »Die Chilp sind sogar Ihnen überlegen, wie
mir scheint.«
206 ;r Römer zuckte mit den Schultern.
»Die EPOY?« hakte Wraak nach. »Habe ich das gerade richtig verstanden? Die EPOY ist hier? Gisols
Schiff?«
Dhark seufzte. Er wünschte sich, sein Freund hätte zuerst gedacht und dann geredet. Er hatte die Karten
noch längst nicht so offen auf den Tisch legen wollen, solange er nicht wußte, mit wem er es bei diesen
Chilp zu tun hatte. Daß sie die Pscheridenraumer einTarnten, war lobenswert, aber daß sie sich nicht
zuvor zu erkennen gegeben hatten, gefiel ihm nicht.
Aber nun war es passiert.
»Ja«, sagte er.
»Das«, stellte Wraak mit dem Ausdruck größter Zufriedenheit fest, »ist eine sehr gute Nachricht. Gisol
lebt noch, er ist noch nicht tot - das gibt uns allen Hoffnung.«
Hoffentlich, dachte Dhark, sieht der >Schlächter der Zyzzkt< das ebenso...
Wraak erzählte.
Nicht mehr in der Kommandozentrale der POINT OF, sondern in Dharks Kabine, in welche der
Commander den Chilp, die Römer und Dan Riker gebeten hatte, um den laufenden Betrieb nicht zu
stören. Inzwischen waren auch Gisol und General Gutter im Plaggschiff der TF eingetroffen.
Die Privatkabine war damit voll. Zu voll, wie Dhark sich eingestehen mußte. Er hätte besser einen der
Konferenzräume gewählt. Aber die Nüchternheit, mit der diese Räume ausgestattet waren, schreckte ihn
immer ein wenig ab. Daher war er schon vor langer Zeit dazu übergegangen, Gespräche und Konferenzen
zumindest in kleinerem Rahmen in entschieden privaterer Atmosphäre abzuhalten.
Aber acht Personen sprengten diesen gemütlicheren Rahmen bereits.
»Es gibt viele Heimatvertriebene, wie die Pscheriden es sind«, ^gte Wraak. »Die Zyzzkt machen zwar
stets Versprechungen, sie gewähren alle möglichen Vergünstigungen - das aber eigentlich
207 nur, um die Kampfhandlungen schneller zu beenden und dadurch eigene Verluste zu verringern. - Was
bei einem Volk mit einer derart abnormen Vermehrungsrate schon fast unlogisch erscheint.«
»Mir erscheint es überaus logisch«, erwiderte Ren Dhark. »Es ist doch das Bestreben jeder Spezies, ihre
Art zu erhalten, ganz gleich, ob es intelligente Wesen oder primitive Tiere sind.«
»Die Wimmelwilden hegen da ohnehin ganz andere Hintergedanken«, warf Gisol ein. »Je mehr sie sind
und bleiben und werden, um so stärker werden sie allen anderen gegenüber. Und daß sie viel versprechen
und nichts halten, das kann ich bestätigen, Kommandant Wraak.«
Der Vogelköpfige nickte. Obgleich er anfangs überaus beeindruckt schien, dem >legendären< Worgun-
Rebellen leibhaftig zu begegnen, hatte er sich jetzt, da sie sich alle in Dharks Kabine ein-gefunden hatten,
völlig unter Kontrolle. Es war Ren Dharks heimlicher Alptraum gewesen, daß Wraak den Mysterious
möglicherweise anhimmelte wie ein Fan seinen Star, und gar um ein Autogramm bat...
»Wie Sie alle selbst erleben mußten, halten die Zyzzkt sich nicht an ihre ursprünglichen Zusägen und
machen gnadenlos Jagd auf die Heimatlosen, um sie endgültig auszurotten.«
»Wahrscheinlich, weil sie deren Rache fürchten«, vermutete Dan Riker. »Auf einem verborgenen
Exilplaneten könnten die Verlierer wieder stark werden und nach einigen Generationen zurückschlagen.«
»Das ist denkbar«, räumte Wraak ein, und auch die Römer nickten zustimmend. »Wie auch immer, sie
jagen die Flüchtenden und versuchen sie auszurotten, während sie jene, die auf den besiegten und
eroberten Planeten zurückbleiben müssen, entweder ebenfalls vernichten oder versklaven.«
»Wie sie es mit meinem Volk taten«, sagte Gisol bitter.
»Aber die Vertriebenen«, fuhr Wraak fort, »haben sich zu Meistern des Tarnens entwickelt und
vagabundieren unerkannt im Schutz ihrer Tarnfelder durchs All.«
»Aha!« machte Dan Riker.
»Sie gehören zu diesen Vagabunden, Wraak?« vermutete Dhark.
Der Vogelköpfige zeigte ihm die offenen Handflächen. »Ist es
208 nicht offensichtlich?« gab er zurück. »Nicht einmal Ihre Ortungen haben uns bemerkt, wobei mir auffiel,
daß Ihre POINT OF, Com-üiander Dhark, sich in einigen elementaren Dingen von den uns bekannten
Räumern der Hohen unterscheidet. Sie scheint wesentlich besser und modemer ausgerüstet zu sein.
Unsere Abtastung ergab unbekannte Waffensysteme, und daß der Transmitter, vermittels dessen ich an
Bord gelangte, sich in der Zentrale befindet, ist ebenfalls mehr als ungewöhnlich. Die Schiffe, die einst
die Worgun flogen und die jetzt von den Zyzzkt mißbraucht werden, sind dagegen... nun ja... in mancher
Hinsicht primitiv,..«
»Die POINT OF ist ein tausend Jahre alter Kasten und nicht zu vergleichen mit meiner EPOY«, sagte
Gisol.
Dhark grinste.
Are Doom hatte genau diesen Spruch vor Jahren auch schon einmal gebracht: Die POINT OF sei ein
tausend Jahre alter Kasten, und in diesen tausend Jahren hätten andere ihre Technik fleißig
weiterentwickelt und verbessert... nur hatte die Praxis dann gezeigt, daß 1000 Jahre bei weitem nicht
ausreichten, die Hochtechnologie anderer Völker auch nur ansatzweise der der Mysterious anzunähern.
In gewisser Hinsicht hatte Gisol natürlich recht. Seine EPOY war auf jeden Fall das modernere Schiff.
Sie war erst vor etwas mehr als einem Jahrhundert von versklavten Worgun für die Zyzzkt gebaut und
dann von Gisol in einer ganzen Reihe von Punkten stark verbessert worden. Aber dennoch war die
POINT OF auch diesem modernen Ringraumer noch in vielen Dingen überlegen. Das, was die beiden
Genies Margun und Sola einst auf dem Planeten Kaso konstruiert hatten, der von den Terranem Hope
genannt worden war, war bis heute unerreicht.
»Sie haben die pscheridischen Evakuierungsschiffe unter Ihren Ortungsschutz genommen«, sagte General
Gutter. »Dafür sind wir Üinen zu Dank verpflichtet. Aber was ist der Preis für Ihre Hilfe, Kommandant
Wraak?«
Der Vogelköpfige sah ihn mit seinem Stimauge direkt an.
»Es gibt keinen Preis«, sagte er. »Wenn Ihr Volk überlebt, ist das genug. Ich biete ihnen die Aufnahme in
den Heerzug der Hei-mattlosen an.«
»Heerzug der Heimatlosen«...
Es klang seltsam, irgendwie hoffnungslos und doch wieder von einem gewissen Optimismus durchtränkt.
Die Aufnahme in diesen »Heerzug der Heimatlosen« - was bedeutete das? Ein Stück Freiheit in einer von
den Zyzzkt geknechteten Galaxis oder nur die Unterwerfung unter das Kommando einer bislang
unbekannten weiteren Macht?
»Ich kann das nicht allein entscheiden«, sagte General Gutter. »Ich bin Soldat, kein Politiker. Ich kämpfe
für die Freiheit und das Überleben meines Volkes, aber alle nichtmilitärischen Entscheidungen sind Sache
der Politik. Ich schlage eine Konferenz vor, an der die politischen Führer in den Evakuierungsraumem
teilnehmen, um sich zu informieren und danach die nötigen Entscheidungen zu treffen.«
Kluges Köpfchen, dachte Ren. Gutter hätte durchaus die Entscheidungsgewalt an sich reißen können.
Immerhin existierte ein absoluter Ausnahmezustand; es herrschte Krieg gegen die Zyzzkt, und sicher
hätte ihm kein Pscheride einen Vorwurf gemacht, wenn er seine eigene Entscheidung »im Sinne der
nationalen Sicherheit« getroffen hätte, ohne sich mit jemandem zu beraten.
Wraak erklärte sich einverstanden.
»Wir zwingen niemanden«, erklärte er. »Wir bieten nur an. Es ist Sache der Betroffenen, ob sie sich uns
anschließen oder nicht.«
»Was geschieht bei >nicht« fragte Dan Riker.
»Nichts. Die Vertriebenen gehen ihren eigenen Weg weiter, fliegen ihre eigene Route. Vielleicht
überleben sie unbehelligt. Vielleicht nicht. Irgendwann wird man es erfahren.«
»Was sind die Bedingungen für eine Aufnahme in diesen >Heerzug« fragte der Römer Manlius.
»Heerzug klingt recht kriegerisch.«
»Wir führen keine Kriege«, sagte Wraak. »Wir schließen uns nur zusammen, um uns alle besser schützen
zu können.«
»Darüber werden wir bei der Konferenz reden«, beschloß General Gutter.
210 Die Konferenz fand an Bord des pscheridischen Flaggschiffs statt. Mittlerweile waren auch die zehn Kampfschiffe der Pscheri-den von Xe-Flash unter Ortungsschutz genommen worden. Dennoch war das Problem gering, sie zu lokalisieren, sobald man erst einmal wußte, woran man war. Die Schiffe funkten über UKW kurze Peilsignale und konnten anhand der Peilung angeflogen werden. Das geschah mit Hilfe der Flash, über welche die POINT OF und auch die EPOY verfügten. Mit diesen Raumbooten wurden die Konferenzteilnehmer aus ihren Schiffen geholt und in das Flaggschiff gebracht. Um mit dem SLE-Brennkreis keine Schäden an Bord der Raumer anzurichten, erfolgten Ein- und Ausflug antriebslos. In die jeweilige Hangarschleuse hineinzukommen war dabei das geringere Problem; die Flashpiloten reduzierten die Geschwindigkeit bereits vorher soweit, daß sie die ausklappenden,
spinnenbeinartigen Ausleger ihrer Maschinen als eine Art Bremse benutzen konnten. Sie schrammten mit den schmalen Landetellem über den Boden und wurden durch die Haftreibung funkensprühend gestoppt. Wieder in den Weltraum hinauszufliegen war dann allerdings eine andere Sache. Über so etwas wie Pressorstrahlen, mit denen in ähnlichen Fällen Flash aus »normalen« terranischen Räumern hinauskatapultiert wurden, verfügten die Pscheriden nicht. Also war Muskelkraft gefragt. Per Antigrav wurden die Flash schwerelos gemacht und mußten dann von Pscheriden in Raumanzügen angeschoben werden. Zwar war in diesem Fall dann nur die Masseträgheit zu überwinden, aber das reichte auch schon angesichts dessen, daß jeder Flash eine Masse von mehreren Tonnen besaß. Und diese Masse mußte auch erst einmal in Bewegung versetzt Werden... Doch das war allemal effektiver, als die Zerstörungen zu akzeptieren, die der SLE-Brennkreis ansonsten anrichtete - selbst wenn der betreffende Flash sich im Inneren eines Intervallfelds befand, dessen Hilfe er feste Materie durchdringen konnte, als sei sie 211 überhaupt nicht vorhanden. Der Brennkreis befand sich aber immer und grundsätzlich außerhalb des Flash-Intervallfeldes. Nur in Ringraumem kam es zu keinem Zerstörungseffekt. Hier wurde auch der Brennkreis in ein eigenes Mini-Intervallfeld gepackt, wie Are Doom vor etlichen Jahren in einem riskanten Versuch herausgefunden hatte, bei dem ein Flashdepot der POINT OF hochradioaktiv verstrahlt worden war. Doom hatte sich dafür auch einen gewaltigen Rüffel eingefangen. Speziell, weil Ren Dhark diesen gefährlichen Versuch nicht genehmigt hatte... Doch das lag nun lange zurück. Immerhin: Der Erfolg hatte dem Sibirier damals recht gegeben. Nur warum der Brennkreis nur in den Ringraumem per Mini-Intervallfeld abgeschirmt wurde und nirgendwo sonst, war bis heute nicht geklärt. Und nun fand die Konferenz an Bord des pscheridischen Flaggschiffs statt. Teilnehmer waren General Gutter, Dhark, Riker, Gisol, Doom, die drei Römer und die acht Kommandanten der Evakuierungsschiffe, dazu Pscheriden, die bereits jetzt politische Aufgaben übernahmen. Hinzu kam seitens des »Heerzugs der Heimatlosen« eine Abordnung der unterschiedlichsten Lebensformen, die sich an Bord der Xe-Flash befunden hatten und den pscheridischen »Aufnahmekandidaten« bereits jetzt einen nachhaltigen Eindruck dessen vermittelten, was sie erwartete... Eine wahrhaft illustre Versammlung, dachte Ren Dhark. Hoffentlich hält sie, was sie verspricht...
Kommandant Wraak ergriff das Wort. »Wir Heimatlosen sind bereits vor einiger Zeit auf den Konflikt um Pscherid aufmerksam geworden. Wir beobachteten, wie das kleine Reich immer weiter schrumpfte, ein Kolonialplanet nach dem anderen aufgegeben werden mußte. Und wie die Zyzzkt dann schließlich auch Pscherid selbst überfielen.« General Gutter gab einen seltsam klagenden, leisen Laut von sich, kaum hörbar, aber der unmittelbar neben ihm sitzende Reu Dhark nahm ihn wahr. Gutter haderte mit sich selbst. Er hatte ein 212 Problem damit, daß es ihm nicht gelungen war, seine Heimatwelt erfolgreich gegen den mörderischen Feind zu verteidigen. Pscherid hatte schließlich kapituliert, um wenigstens eine Fluchtchance für die acht Evakuierungsraumer auszuhandeln. Und die Zyzzkt hatten sich an diesen Handel dann doch nicht gehalten... Es war für den Commander bestürzend, Gutter so zu sehen; seine Trauerstimmung war fast körperlich spürbar. Dieser Mann, mit seinem von der anderthalbfachen Erdschwere geprägten, muskelbepackten Körper, sah sehr stark aus, und doch fühlte Dhark, daß er gerade jetzt schwach war und darum kämpfte, diese Schwäche niemandem zu zeigen. Schließlich war er Soldat und Kämpfer, ein hochrangiger Offizier: Er mußte einfach stark sein. Sein Volk erwartete das von ihm. »Wir bieten Ihnen an, sich uns anzuschließen«, fuhr Wraak fort. »Gemeinsam haben wir alle bessere Chancen - wir und Sie.« »Wir sind eine Gemeinschaft vieler unterschiedlicher Lebensformen«, sagte ein großäugiges, braungefiedertes Wesen, das dem Volk der Morhun entsTarnmte. Hier war die Abkunft von Vögeln noch weit deutlicher zu erkennen als bei dem Chilp Wraak. »Weil wir uns zusammenschließen, überleben wir. Allein auf uns gestellt, wären wir von den Zyzzkt längst ausgerottet worden. Sie fielen über unseren Planeten her und machten sich ein Vergnügen daraus, uns einzeln abzuschießen. Wo immer sich einer unseres Volkes aus seinem Versteck wagte, jagten sie ihn und brachten ihn zur Strecke, als wären wir nichts anderes als Tiere oder Zielobjekte in einem primitiven Spiel. Die Chilp stellten den wenigen Überlebenden Raumschiffe zur Verfügung. Seither gehören auch wir zum Heerzug der Heimatlosen.« »Der Begriff Heerzug ist dabei ein wenig irreführend«, sagte ein stämmiges Wesen, das seinen Körper in einem Druckpanzer verbarg und offensichtlich kein Sauerstoff atmer war. Dhark hatte den Eindruck, daß dieses Wesen eine noch wesentlich höhere Schwerkraft gewohnt war als die Pscheriden. So sehr die 1,49
Gravo, auf Welche das künstliche Schwerefeld von Gutters Flaggschiff eingestellt war, auf den Terranem und den Römern lasteten, so leicht und spielerisch bewegte sich das andere Wesen trotz seines schwe ren Druckanzugs. »Wir führen keine Kriege. Das können wir uns auch gar nicht leisten. Die Zyzzkt sind uns hoffnungslos überlegen. Aber im Schutz unserer hochentwickelten Tarnfelder umfliegen wir den Sternenarmen Randbereich von Om. Wir beobachten und wir versuchen zu helfen.« »Wie sieht diese Hilfe aus?« wollte der General wissen. »Wir stellen Ihnen unsere Technologie zur Verfügung«, sagte Wraak. »Wir...« »Und wenn unsere eigene Technologie besser ist?« fragte Gutter weiter. »Ist sie das wirklich?« gab der Chilp-Kommandant zurück. »In mancher Hinsicht bestimmt, aber unsere Tarntechnologie ist etwas, wovon Sie nur träumen können, und haben Sie nicht auch Probleme mit den Transitionstriebwerken Ihrer Schiffe?« Damit wühlte er bei Gutter in einer offenen Wunde, vielleicht sogar ohne es zu ahnen. »Diese Probleme treten nur bei den Eva-kuierungsraumem auf, weil es sich bei ihnen um zivile Schiffe handelt, die auf hohe Transportkapazität ausgelegt sind. Die Leistungsfähigkeit der Sprungtriebwerke wurde dabei leider etwas vernachlässigt.« Schon normal wurde die Sprechweise der Psche-riden von Reib- und Zischlauten dominiert; jetzt aber klang das Zischen geradezu wütend. »Nur ruhig«, mischte sich der Morhun wieder ein. »Wir stellen Ihnen an Technik zur Verfügung, was Sie benötigen.« »Und die Gegenleistung?« Aus dem Außenlautsprecher des Druckanzugs kam ein abgehacktes Lachen. »Sie sind sehr mißtrauisch, Pscheride. Das ist auch gut so. Aber die Gegenleistung werden Sie sicher gern erbringen.« »Sie besteht darin, anderen so zu helfen, wie Ihnen geholfen wird«, sagte Wraak. »Nicht mehr und nicht weniger.« »Wir wollen und können Sie nicht zwingen, sich uns anzuschließen. Wenn Sie es nicht wollen, trennen sich unsere Wege wieder. Ohne Wenn und Aber. Stimmen Sie zu, profitieren alle Seiten davon.« »Wir brauchen Bedenkzeit«, sagte Gutter. »Das ist etwas, das man nicht von einem Herzschlag zum anderen entscheiden kann.« 214 »Wir wollen mehr über den Heerzug der Heimatlosen erfahren, ehe wir uns entscheiden«, sagte einer der pscheridischen Politiker, die bislang stumm zugehört hatten - auch etwas, das Ren Dhark überraschte. Terranische Politiker hätten längst das Gespräch an sich gerissen und Ränkespiele begonnen... nein, nach den letzten Ereignissen auf der Erde, unmittelbar bevor die Expedition nach Om aufbrach, hielt der Commander der Planeten gar nicht mehr so viel von den heimischen Machtkämpfen!, denen es nur um ihre Pfründe und ihren Einfluß ging, dem sie die Sache an sich unterordneten - von wenigen Ausnahmen wie Henner Trawisheim oder Finanzminister Lamont einmal abgesehen. »Fragen Sie«, sagte Wraak. »Sie werden alles erfahren, was Sie wissen wollen.« Sie hatten jetzt ja Zeit... Der Ortungsschutz ihrer neuen Freunde sorgte dafür, daß die Zyzzkt sie nicht fanden...Der Heerzug der Heimatlosen bestand aus weit über hundert der unterschiedlichsten Schiffe. Wie viele es genau waren, konnte oder wollte keiner der anwesenden Fremden sagen. Sie entsTarnmten einer ganzen Reihe entwurzelter, von den Zyzzkt von ihren Heimatwelten vertriebener Nationen. Vorwiegend handelte es sich um Sauerstoffatmer. Die meisten waren humanoid, aber es gab auch Vogelähnliche wie die Chilp und die letzten Morhun oder Kiemenatmer. Auch einige Bewohner von Wasserstoff- und Chlorwelten waren zu finden, wie jenes Wesen, das während der Konferenz seinen Druckanzug trug. Noch exotischere Geschöpfe gab es offensichtlich nicht. Kein Wunder, waren doch andere Gasgemische wesentlich träger in ihren chemischen Reaktionen und verlangsamten dadurch die Denk- und Entwicklungsgeschwindigkeit soweit, daß diese Völker kaum in der Lage gewesen wären, ^it der Entstehung der Galaxis Om bis ins Raumfahrtzeitalter ^rzustoßen. Da half auch eine eventuelle Manipulation und Förderung durch die Worgun nicht, wie diese sie in diversen Milch-^aßensySternen wie Andromeda, Triangulum oder Maffei betrie 215 ben hatten. Ein Volk fiel Ren Dhark dabei besonders auf; es handelte sich um pflanzliche Intelligenzen, die es geschafft hatten, sich von Boden und Regen unabhängig zu machen. Ein wenig erinnerten sie Ren an die Shecan, die auf dem Planeten Bittan im 404-Sy stem lebten. Art Hooker und seine Frau Jane hatten vor Jahren mit ihnen zu tun gehabt und über sie berichtet.* Aber die Pflanzenwesen des Heerzugs waren von erheblich extremerer Chemie; sie atmeten keinen Sauerstoff, sondern Stickstoff, gaben aber Sauerstoff als Endprodukt wieder ab. Da der Stickstoffgehalt an Bord der Raumschiffe der Humanoiden für sie bei weitem zu gering war, bewegten sie sich als Gäste in Überlebenstanks, die auf Antigravpolstem schwebten. Sie verstanden das, was andere sprachen, durch eine Art Telepathie; selbst äußerten sie sich durch das Aneinanderreihen von Blättern, mit denen sie eine schier unglaubliche Vielfalt von Geräuschen erzeugen konnten. Es war für sie kein Problem, auf diese
Weise die Sprache der Worgun zu imitieren, die auch nach all den Jahrhunderten, in denen die Worgun von den Zyzzkt unterworfen worden waren, immer noch so etwas wie die linguafranca von Om darstellte. Sämtliche Nicht-Sauerstoffatmer sTarnmten von Welten mit höherer Schwerkraft. Deren Welten hatten die Zyzzkt nur überfallen und übernommen, weil es ihnen um die Tofiritvorkommen ging. Hochschwerkraftplaneten besaßen eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit, daß es dort Tofirit gab, das wegen seiner speziellen Eigenschaften als Raumschiffstreibstoff wichtig war. Um sich auszubreiten und Lebensraum für die rasend schnell anwachsende Population zu gewinnen, zogen die Zyzzkt Sauerstoffwelten mit »normaler« Schwerkraft vor. So etwas wie Geburtenkontrolle gab es bei ihnen nicht. Jedes Gelege umfaßte Dutzende von Eiern, und die weiblichen Zyzzkt waren in der Lage, bis zu achtmal im Jahr Eier abzulegen. Wen wunderte es da, daß sie immer mehr Lebensraum benötigten? Selbst in der Zeit des verheerenden Krieges zwischen Zyzzkt und Worgun waren mehr Zyzzkt herangereift, als es Todesopfer in den Siehe REN DHARK-Sonderband 2 »Gestrandet auf Bittan« von W. K. Giesa
216 Raumschlachten gab. Zyzzkt wurden sehr schnell erwachsen und geschlechtsreif...
Terraner, Römer und Gisol verließen das pscheridische Flaggschiff schließlich wieder und kehrten zur
POINT OF beziehungsweise zur EPOY zurück. Auch Are Doom und die ihn begleitenden Techniker
verließen die Arche. Es fiel dem Sibirier nicht leicht, aber er wußte selbst am besten, daß ohne die nötigen
Hilfsmittel eine wirkliche Instandsetzung des Transitionsantriebs illusorisch
war.
Nur wenig später beschlossen die Pscheriden, mangels besserer Alternativen das Angebot der heimatlosen
Völker anzunehmen und sich ihnen anzuschließen.
»Wir werden die Pscheriden zunächst weiter begleiten«, beschloß Ren Dhark etwas später, als sie alle
wieder an Bord ihrer eigenen Raumschiffe waren. »Vielleicht erhalten wir von den Heimatvertriebenen
weitere Informationen. Alles, jedes kleinste Detail, kann wichtig für uns sein.«
»Sie sollten vorsichtig bleiben«, mahnte der Römer Manlius.
»Sie vermuten eine Falle?« fragte Riker.
»Ich vermute gar nichts«, erwiderte der Römer. »Aber ich bin skeptisch. Dieses Zusammentreffen ist mir
etwas zu überraschend. Es kann ein Zufall sein, aber der ist wohl doch sehr groß.«
»Glauben Sie an eine Zusammenarbeit dieser Völker mit den Zyzzkt?« fragte Riker.
»Das weniger«, wehrte Manlius ab. »Die Zyzzkt arbeiten mit niemandem zusammen, niemals. Aber ich
bin mir nicht sicher, ob diese Völkergemeinschaft nicht ein ganz anderes Spiel treibt, nach Regeln, die
uns möglicherweise...«
»Eben deshalb möchte ich zunächst mal dranbleiben«, unterbrach Dhark ihn. »Ich will mehr darüber in
Erfahrung bringen.«
»Wir haben früher schon einmal Gerüchte vernommen, in denen eine geheimnisvolle > verlorene Flotte<
erwähnt wird«, warf Aulus ein. »Aber wir haben diese Geschichte ins Reich der Fabeln verwiesen, weil
wir niemals eine Bestätigung dafür erhielten. Wenn
217 es sich dabei tatsächlich um diesen ominösen >Heerzug der Heimatlosem handelt, verstehen sie es sehr
gut, sich zu verbergen. Um so mehr erstaunt es mich, daß sie uns gegenüber so offen auftreten.«
»Sie wollen eben helfen«, sagte Riker.
»Den PscheridenJa. Aber sie mußten feststellen, daß es sich bei uns um ein weiteres Volk handelt.
Spätestens da wäre ich an Stelle dieses Kommandanten Wraak vorsichtiger geworden und hätte erst
einmal weitere Informationen erfragt.«
»Das haben sie sicher getan, ohne daß wir es gemerkt haben«, erwiderte Riker kopfschüttelnd. »Denken
Sie daran, daß Wraak recht gut über unsere technischen Möglichkeiten informiert war, und auch über die
Unterschiede unserer Schiffe zu denen der Worgun und Zyzzkt.«
»Ein Grund mehr, wachsam und vorsichtig zu sein«, merkte Manlius an.
12. Die Männer der Landungsgruppe nahmen ihre Plätze im hinteren Teil des Beibootes ein. Die Soldaten hockten sich in zwei Reihen gegenüber, zwischen ihnen der Gang, der von der Steuerkanzel bis in die Antriebssektion im Heck verlief. Sofort nachdem alle an Bord und die Luken geschlossen waren, begannen Wamlampen zu blinkten. Über
dem Durchgang zur Steuerkanzel pulsierte die Leuchtschrift, die auf das bevorstehende Ausschleusen aufmerksam machte. Lee Prewitt auf dem Platz des Piloten wartete auf die Freigabe durch Maxwell. Neben ihm saß Lern Foraker, und seine nervige Faust im Handschuh des leichten Raumanzugs umklammerte den wuchtigen Multikarabiner. Er schien die Ruhe selbst; Einsätze wie dieser gehörten für den Taktischen Offizier der CHARR zur Routine. Ein schnarrender Wamton erklang. Prewitt sah durch die Verglasung des Cockpits, wie sich das Tor der Hangarschleuse öffnete. Langsam drehte sich die Magnethalterung unter der Decke und richtete die Spitze des Raumbootes aus. Dann wurde die Schwerkraft im Hangar deaktiviert, das Boot begann frei zu schweben. Ein kurzer Impuls aus dem Antriebsgitter brachte das Gerät aus der FO I hinaus. Gleich darauf aktivierte Prewitt den Hauptantrieb, der das Beiboot in Richtung Planetenoberfläche katapultierte. Als es dem Sog der Gravitation folgend Geschwindigkeit aufbaute, erhöhte sich die Schwerkraft um eine Nuance, und eine gewisse Unruhe machte sich unter den Männern bemerkbar. Prewitt ^ der Steuerkanzel schaltete die Spitze wieder weg. Ruhe kehrte an.
219 Der Abstieg durch die Atmosphäre war problemlos. Schließlich richtete der 1.0. das Raumboot in einer Höhe von vier Kilometern auf. Die Planetenoberfläche glitt unter ihm hinweg. Lern Foraker starrte auf die Teilvergrößerung der Oberfläche, die jetzt auf dem Schirm der Steuerkonsole auftauchte. Langsam bremste der Erste Offizier das Beiboot ab, bis es mit einer Geschwindigkeit von nicht mehr als hundert Kilometern über die zerstörte Landschaft flog. Minuten vergingen. Dann erreichten sie die Peripherie einer riesigen, mehrere hundert Quadratkilometer großen Metropole, die ebenso in Schutt und Asche lag wie alle anderen urbanen Komplexe, die die Oberfläche dieser Welt wie schwärende Wunden überzogen. Irgendwo vor ihnen mußte sich die Energiequelle befinden, welche die FO I geortet hatte. Schließlich befanden sie sich im Endanflug auf jenen Bereich in der zerstörten Stadtlandschaft, aus dem die energetischen Aktivitäten kamen... Von irgendwoher kam ein helles Summen. Prewitt prüfte die Anzeigen auf der Konsole. Während er das tat, glaubte er eine kurze, kaum merkbare Erschütterung des Bootes wahrzunehmen; irgend etwas im hinteren Teil wurde abgewürgt. Quatsch! Er schüttelte den Kopf. »Probleme?« Forakers Kopf ruckte herum. »Weiß nicht«, murmelte Lee Prewitt Die Augen des Ersten Offiziers versuchten eine Veränderung in den Anzeigen der Instrumente festzustellen. Alles war in Ordnung - oder schien es wenigstens zu sein. Und solange keine Automatik Alarm schlug, konnten sie beruhigt sein. Dennoch kontrollierte er eine der Balkenskalen nach der anderen. Dann stieß er ein Knurren aus. Die Anzeigen für die Triebwerksleistung begannen sich unmerklich zu verändern. Sie fluktuierte! Lee verfolgte aus schmalen Augen die Werte, während sich seine Unruhe verstärkte. »Was haben wir denn da...?« murmelte er. Er betätigte einige Schaltungen. Ein bislang inaktiver Monitor 220 erhellte sich.
»Gefahr?« fragte Lern Foraker alarmiert.
»Sieht verdammt so aus, ja!« Lees Stimme klang plötzlich wie ein Peitschenschlag, hart und heftig.
Im selben Moment kam auch schon der laute, schnarrende Alarm der Notfallwamung.
Auf der abgeschrägten Pultfläche vor Prewitt flammte eine bestimmte Anzahl von Leuchten auf, und die
Kunststimme des Bordcomputers verkündete: »ACHTUNG. ENERGIEABFALL. ACHTUNG...«
Zur gleichen Zeit erloschen einige Anzeigen auf der Steuerkonsole.
»Verdammt!« entfuhr es Foraker. »Was passiert hier?«
»Keine Ahnung«, erwiderte der Erste Offizier wahrheitsgemäß. »Etwas entzieht den BordsySternen
Energie - oder blockiert sie!« Er wirkte überrascht. Seine Überraschung sollte sich noch steigern...
»Da!« rief Lern Foraker und deutete auf den Heckschirm. »Sehen Sie nur, Lee. Da kommt was auf uns
zu!«
Die Gefahr war da.
Sie näherte sich von hinten, kam rasend schnell auf das Gefährt zu, würde es in Kürze eingeholt haben.
Lees Hand schloß einen Kontakt.
Gellend summte der Alarm durch das Boot.
Gepolsterte Rückhaltevorrichtungen legten sich um die Körper der Männer.
Ein mattschimmemdes Projektil, auf einer langen, spiraligen Rauchfahne reitend, stieg in die Höhe und
näherte sich in einer Parabelbahn dem Beiboot der FO I.
»Mann!« stöhnte Lee Prewitt. »Eine chemisch betriebene Abfangrakete! Computer! Ausweichmanöver!«
»NICHT GENÜGEND ENERGIE FÜR AUSWEICHMANÖVER.«
Prewitts Gesicht wurde verkniffen. Die Statusanzeigen signalisierten ihm, daß das Atmosphärentriebwerk
wie auch das für den Unterlichtflug nicht mehr über genügend Energie verfügten, um das Raumfahrzeg
aus der Gefahrenzone zu bringen. Er begann zu
ahnen, daß sowohl außerhalb wie innerhalb des Beibootes etwas Ungewöhnliches vorging.
»Schutzschirm aktivieren!« sagte er scharfund schnell.
»NICHT GENÜGEND ENERGIE FÜR SCHUTZSCHIRM«, war die lapidare Auskunft des
Suprasensors.
»Sind Sie eigentlich gläubig, Lern?« erkundigte sich Lee Prewitt plötzlich bei dem Taktischen Offizier,
der stoische Ruhe ausstrahlte.
»Weshalb fragen Sie?«
»Sie sollten beten. Lern, daß wir das hier heil überstehen.« Mit einem angespannten Grinsen öffnete
Prewitt die Phase zum Mannschaftsmodul.
»Achtung«, klang seine Stimme über den jetzt offenen Kanal. »Helme schließen und gut festhalten. Jetzt
wird's etwas holprig.«
Einige Sekunden verstrichen in Ereignislosigkeit.
Dann war die Rakete heran - und streifte das Shuttle im Heckbereich, anstatt es voll zu treffen.
»Lausige Schützen«, murmelte Lern Foraker noch, dann schrammte die Rakete an der Hülle entlang und
explodierte in einem Feuerball. Auf dem Kontrollschirm der Antriebssektion konnte Lee noch erkennen,
wie die rechte Triebwerksseite plötzlich nicht mehr vorhanden war, ehe die Bildübertragung ausfiel.
Auch der Autopilot des Beibootes gab seinen Geist auf.
Das Beiboot rollte langsam, wie ein waidwunder Wal, um seine Längsachse.
Prewitt schaltete auf Handsteuerung und versuchte angestrengt, das Gefährt mit den außenliegenden
Stabilisierungsklappen wieder in die Horizontale aufzurichten, was ihm schließlich auch gelang, noch
bevor sich die externen Ruderklappen aus ihren Halterungen verabschiedeten.
Es war der Anfang vom Ende.
Das Raumboot, seines Antriebes beraubt, wurde langsamer, aber gleichzeitig wurde der Neigungswinkel
steiler. Dennoch schien es dicht über dem Boden der drohenden Vernichtung trotzen zu wollen. Prewitt
gelang es noch einmal, den Bug nach oben zu bringen - deshalb schlug es mit der zerstörten Heckpartie
zuerst auf. Der Bootsrumpf pflügte wie ein modemer Faustkeil durch Hügel von
222 Schutt und Geröll und schleppte eine weithin sichtbare Staubwolke hinter sich her.
Die Bordwände beulten sich ein. Ganze Segmente verabschiedeten sich, wurden einfach herausgerissen
und wirbelten davon.
Im Innern wurden die Männer in den Schutzkäfigen ihrer Rückhaltevorrichtungen wild gebeutelt.
Der kinetische Impuls schob das Beiboot mit der Bugsektion voran durch die Schutthaufen, ließ es
wippen und stoßen und auf Bodenwellen aufschlagen.
Schließlich war die Energie aufgezehrt, das Wrack kam in Schräglage endgültig zum Stillstand. Zu guter
Letzt erstarb der Widerhall der donnernden Geräusche, die die Notlandung erzeugt hatte. Der Wind trieb
die Staub- und Sandwolken auseinander, und nichts rührte sich mehr.
Die Minuten vergingen in quälender Langsamkeit.
Im Rumpf ertönten die schnappenden, klickenden Geräusche vieler kleiner Servomechanismen - die
Rückhaltevorrichtungen öffneten sich selbsttätig. Sie hatten die Insassen wie Kokons umgeben, ihnen
Leben und Gesundheit während der letzten Phase des Absturzes garantiert und nun ihren Zweck erfüllt.
Lee Prewitt schüttelte die leichte Benommenheit von sich und wuchtete sich aus dem Sitz. Neben ihm
klaffte ein Loch in der Kanzelwand, durch das er ins Freie gelangte, während Lern Foraker sich durch die
verzogene Öffnung des Durchganges nach hinten stemmte, um nach seinen Leuten zu sehen.
Lee tastete sich ab. Alles war heilgeblieben.
Der Anzug zeigte keine Risse.
Was schon mal gut war.
Draußen zeigte sich das ganze Ausmaß der Bruchlandung. Das Raumboot war hinüber, würde sich
niemals mehr vom Boden erheben. Der Rumpf war wie eine Konservendose eingedellt und zerknittert.
Das Heck war noch schlimmer dran; fast die gesamte Antriebssektion war abgerissen. Einzig das
Mannschaftsmodul hatte die Notlandung relativ heil überstanden. Aber dafür war es ja
auch besonders verstärkt.
Von irgendwoher kam ein Laut.
Krächzend, blechem.
Der Cockpitfunk!
Lee Prewitt kehrte zur Steuerkanzel zurück, während Lern Fora-ker seine Männer im Freien um sich
versammelte; niemand hatte bis auf ein paar Prellungen Verletzungen davongetragen.
Maxwell meldete sich aus der FO I.
Er hatte über die Femtaster den Absturz des Beibootes registriert und schickte sich an, eine
Rettungsmission zu unternehmen. Noch während er mit dem I. 0. redete, verringerte sich die Empfangs
und Sendeleistung des Bordfunks rapide.
Lee Prewitt erkannte, daß er sich beeilen mußte.
»Nichts da, Maxwell! Sie bleiben da, wo Sie sind«, befahl er und hatte Mühe, das Niveau der
Sendeleistung zu stabilisieren. »Meiden Sie die Oberfläche. Hier unten existiert etwas, das die Energie in
den SySternen dämpft. Ich möchte nicht, daß auch noch die FO I Havarie erleidet. Wir werden versuchen,
die Quelle ausfindig zu machen und zu beseitigen. Halten Sie ein wachsames Auge auf unsere
Umgebung/Verstanden?«
»Aye, aye, Sir. Ich...«
Mit einem letzten Knacken verweigerte der Bordfunk den Dienst ganz.
Ein paar Minuten lang versuchte Prewitt, die Verbindung wiederherzustellen.
Vergebens.
Auch der Helmfunk hatte seinen Geist aufgegeben, wie er nach kurzer Prüfung feststellte.
»Verdammt!« knurrte er inbrünstig und ging mit einem Gefühl relativer Ohnmacht zu den anderen nach
draußen.
Die Gruppe hatte inzwischen eine Bestandsaufnahme der Ausrüstung gemacht. Es war nicht viel, was sie
zur Verfügung hatten. In den aufgesetzten Taschen der leichten Raumanzüge - die ausreichend Schutz vor
der radioaktiven Reststrahlung boten -- waren Notrationen sowie ein Medikit verstaut. Als Bewaffnung
verfügte jeder der Männer, auch Lee Prewitt und Foraker, über einen rückstoßfreien 10-Millimeter-
Multikarabiner. Die vollautomatische
224
Allzweckwaffe besaß eine effektive Reichweite von vierhundert Metern. Das Magazin faßte hundert Schuß sensorbestückte Lenkprojektile oder einhundert Schuß panzerbrechende Explosivgeschosse. Unter dem Lauf war zusätzlich ein Blaster mit einer Reichweite von dreihundert Metern angeflanscht. »Wahrhaftig«, murrte Prewitt, »ich hatte schon vor der Landung auf dieser Welt so meine Bedenken, daß nicht alles nach Programm gehen würde.« Lern Foraker warf ihm einen skeptischen Blick über die Schulter zu. »So? Bedenken?«
»Eigentlich mehr eine Ahnung«, präzisierte der I. 0. der CHARR, die jetzt Hunderttausende von
Kilometern entfernt die Oberfläche des zweiten Planeten umkreiste.
»Woher diese Vorahnung?«
»Woher soll ich das wissen?« Prewitt zog die Schultern hoch und lachte hart und kurz. »Vorahnungen
sind nicht das Ergebnis rationaler Denkvorgänge. Ein erhebliches Stück Unterbewußtsein und vor allem
Instinkt spielen hierbei eine Rolle...« Er verstummte, als Foraker plötzlich sagte: »Warten Sie!«
Prewitt drehte den Kopf und sah, wie der taktische Offizier sich argwöhnisch umschaute.
»Was ist. Lern? Was ist los mit Ihnen?«
»Hören Sie denn nichts?«
Foraker hob eine Hand in Höhe des Ohrs... dann hielt er sie einfach ausgestreckt in die Luft wie ein
Mann, der nach etwas griff, das nur er sehen konnte, und drehte die Handfläche nach oben, die Finger
gekrümmt. Schließlich legte er den Kopf langsam zur Seite, als lausche er auf etwas, das nur er über das
offene Helmvisier hören konnte.
»Was ist?« Lee Prewitt sah ihn fragend an.
»Ich weiß nicht...« murmelte Foraker zögernd.
Prewitt wollte sich schon mit einem Schulterzucken ab- und seiner Waffe zuwenden, als ihm klar wurde,
daß auch er es hörte.
Das Geräusch war kaum lauter als der Wind, der über den Sand strich, klang aber anders: Es war die
schleifende Bewegung schwerer Körper auf dem Boden, dazwischen ein kaum wahr
225 nehmbares Grunzen und Schnalzen.
Eine Stimme ertönte, kurz und knapp, sie gehörte Feldwebel Cooper: »Sir, sehen Sie doch! Was ist das?«
Forakers Kopf flog herum.
Ohne auf die Frage zu reagieren, starrte er in die Richtung des Geräusches, während er seinen Männern
rasche Handzeichen gab, die links und rechts von ihm ausschwärmten und eine Verteidigungslinie mit
freiem Schußfeld bildeten, um bei einer möglichen Gefahr sofort reagieren zu können.
Foraker spähte noch immer in Richtung des Geräusches.
»Was ist was?« erkundigte sich Prewitt scharf.
»Hören Sie es denn nicht? Es kommt von dort vome!«
Der 1.0. schüttelte den Kopf.
»Nein, nein. Es scheint von vome und hinten zu kommen...«
Die Männer hoben die Waffen.
Augen starrten wachsam.
Hinter ihnen ragte das halbzerstörte Beiboot empor und deckte ihre Rücken, vor ihnen erhob sich in
einiger Entfernung eine Barriere aus in sich zusammengefallenen Gebäuden.
Wieder hörte man es rascheln.
Dann ertönten mit einem Mal ein ohrenbetäubendes, stakkatoar-tiges Pfeifen und Bellen und der
trommelnde Ansturm von Füßen, die von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schienen, verursacht durch
eine Horde nach wie vor unsichtbarer Wesen, die durch die Ruinenlandschaft näherkam.
Sekunden später flog ein Hagel von Wurfgeschossen durch die Luft, Keulen wirbelten, scharfkantige
Gesteinsbrocken schwirrten heran. Metalltrümmer, scharf geschliffen und funkelnd im Licht der Sonne.
»Vorsicht!« ertönte die scharfe, aber ruhige Stimme Forakers.
»Wir werden angegriffen!« stellte jemand emotionslos fest. »Wie finde ich denn das...« Raumsoldaten
waren schwer aus der Ruhe zu bringen.
»Dagegen haben wir aber was, nicht wahr?« knurrte Feldwebel Cooper und hob den schweren
Multikarabiner. Er legte den Hebel um, der die Waffe zum Blaster machte. Ruhig und wie auf dem
Schießstand visierte er einen Mauervorsprung in etwa zehn Meter
226 Höhe an, hinter dem eine nur undeutlich erkennbare Gestalt eben einen gewaltigen Stein in Richtung der Havaristen schleuderte. Er feuerte. Nichts geschah Noch einmal preßte er den Kontakt. Wieder keine Reaktion. Die Waffe war so nutzlos wie nur irgend etwas. »Mist! Mist! Bockmist!« fluchte Cooper wie ein Dockarbeiter aus den Ladebuchten der Partikuliere in Cent Field. »Was ist denn jetzt wieder los?« Wild starrte er auf den Blaster. »Das Mistding funktioniert nicht!« grollte er. Foraker neben ihm brauchte nur Sekundenbruchteile, um zu erkennen, daß die Blaster offensichtlich ebenso unbrauchbar waren wie die Systeme des Beibootes. Augenscheinlich war der energiedämpfende Einfluß des Strahlenfeldes im gesamten Areal wirksam. Nichts schien mehr zu funktionierte, was auf elektrischer, elektrochemischer, elektromagnetischer oder hyperenergetischer Basis arbeitete. Märt Siverts sah die Bemühungen seines Feldwebels. »Umschalten, Meister«, sagte er respektlos grinsend. »Blaster funktionieren hier nicht. Jemand hat vergessen, die Stromrechnung zu bezahlen.« »Klugscheißer!« knurrte Cooper, schnappte den Hebel auf die andere Seite und schickte einen kurzen Feuerstoß nach oben. Die Gestalt in luftiger Höhe warf die Arme hoch und kippte langsam, fast wie in Zeitlupe, von ihrem erhöhten Standpunkt in die Tiefe. Dann feuerten fast alle gleichzeitig. Bs waren eingeübte Handlungen, als die Männer die Abzüge ihrer Karabiner betätigten; die Luft wurde von krachenden Explosionen geschüttelt. Ein Kugelhagel fuhr in die Trümmerlandschaft. Steine zersplitterten, wirbelten durch die Gegend. Kreischende Laute gellten. Schemenhaft erkennbare Gestalten wurden von den °rangefarbenen Mündungsfeuem der Waffen aus dem schattigen Dunkel unter den Ruinen gerissen. Und Lee Prewitt gewann zum ^sten Mal einen flüchtigen Eindruck von den Angreifem. Eine Horde monströser Wesen brach aus der Deckung der Trümmer hervor und stapfte, stürmte und hüpfte direkt auf die 227 Männer der CHARR zu.
Sie waren Mutanten!
Für ein paar endlose Sekunden war dieser Gedanke alles, was die Männer denken konnten; eine reine
Feststellung, keine Wertung, von einem kurzen Schrecken begleitet. Dann funktionierte ihr Verstand wieder mit der gewohnten Präzision, die sie sich in hartem Training angeeignet hatten. Die Ursprungsform der Bewohner dieser Welt war nicht mehr feststellbar. Die immense radioaktive Verseuchung hatte ganze Arbeit geleistet. Die harte r-Strahlung hatte vermutlich nach dem Ende des Atomkrieges Milliarden und Abermilliarden von Lebewesen getötet - und die DNS derjenigen, die überlebten, so grundlegend umgebaut, daß nichts mehr war wie vorher. Das Ergebnis waren Monstrositäten unbeschreiblicher Art. Viele erinnerten an chitinbewehrte, aufrechtgehende Insektenmonster, andere wieder besaßen durchaus humanoide Formen, gingen aufrecht auf zwei Beinen, hatten zwei Arme, doch anstelle des Kopfes saß auf einem schlangenartigen Hals ein faustgroßes Auge. Wieder andere schienen nur aus farbigen Hautlappen zu bestehen. Die Vielfalt der Monstrositäten war nicht zählbar und vor allem nicht beschreibbar. »Himmel!« ließ sich eine Stimme hören. »Wo kommen die denn alle her?« Irgendwann war bei den mutierten Wesen auch die Intelligenz auf der Strecke geblieben, nur so war es zu erklären, daß die grotesken Wesen deckungslos blindlings in das Feuer der Terraner liefen und nicht die Spur irgendeiner Strategie ihres Angriffs erkennen ließen. Strategie schien aber nicht vonnöten zu sein bei der Überzahl, mit der sie immer wieder angriffen; das ganze Ruinenfeld um das havarierte Beiboot schien voll von ihnen zu sein. »Geht sparsam mit der Munition um, Leute!« ließ sich Feldwebel Cooper mit erhobener Stimme vernehmen. »Schießt nur, wenn ihr ein Ziel habt.« »Hab ich«, knurrte Märt Siverts laut. Der junge Raumsoldat stand wie ein Fels in der Brandung im Hagel der Wurfgeschoße. Seine Finger spannten sich um den Abzug der Waffe. Die Kugel traf einen der schrecklich veränderten Mutanten, zwanzig Schritte 228 von ihm entfernt und verwandelte ihn in einen taumelnden, tanzenden Derwisch, dessen stakkatoartiges
Grunzen plötzlich abbrach. Dafür schwollen die Laute seiner Artgenossen zu einer Ge-räuschkakophonie
an.
Auch die anderen feuerten wieder.
Wie auf einem Schießstand ließen sie die Läufe langsam von einer Seite zur anderen wandern, und
jedesmal fiel eines der angreifenden Wesen in sich zusammen.
Dennoch war es abzusehen, was geschehen würde, wenn den Terranem die Munition ausging.
Lee Prewitt machte Foraker auf die drohende Möglichkeit aufmerksam.
»Dann machen wir es so wie unsere Vorfahren«, war die knappe Antwort, gefolgt von einem wilden
Grinsen. »Wir verteidigen uns ebenfalls mit Fäusten und Zähnen, mit Knüppeln und Steinen.«
»Ihren Humor möchte ich haben. Lern«, grollte der Erste Offizier grimmig, fluchte, zielte und drückte ab,
aber diesmal traf er nicht. Was ihn ärgerte. Wieder eine Kugel vergeudet.
Noch konnten sie die Angreifer in Schach halten, aber in den Ruinen tauchten mehr und mehr von ihnen
auf.
Plötzlich erfuhren sie unerwartete Hilfe.
Aus dem Himmel zuckten Strahlbahnen, die den geschundenen Boden dort, wo sie auftrafen, in flüssige
Glut verwandelten.
»He! Wer sagt's denn! Die FO I kommt uns zur Hilfe, Männer!« rief Feldwebel Cooper.
Ein weiterer Strahlschuß aus den Werfern des unsichtbar im Weltraum stehenden Forschungsraumers
schnitt unheilvoll ein noch halbwegs intaktes Gebäude in Stücke — mitsamt den mutierten Wesen, die
sich darin aufhielten.
Strahl auf Strahl zuckte nun aus dem Himmel, wobei sich der Kanonier der FO I bemühte, nicht in die
Nähe des havarierten Beibootes zu kommen.
Mit fast maschinenhafter Präzision legte er einen Feuergürtel rings um die Koordinaten der
Landungsgruppe.
»Guter Maxwell«, ließ sich Lee Prewitt vernehmen, »Ich werde ihn zur Belobigung vorschlagen. Ist ihm
zum Glück noch rechtzeitig eingefallen, daß die Energie für seine Kampfstrahlen außerhalb
230 des Planeten erzeugt wird und das Dämpfungsfeld somit keinen Einfluß darauf hat.« »Die Mutanten ziehen sich zurück, Sir!« meldete Feldwebel Cooper und klopfte vor Begeisterung auf den Kolben seiner Waffe. »Ihre Verluste sind wohl zu hoch, jetzt, wo... wo uns die FO I zur Hilfe gekommen ist«, wollte er sagen, vollendete den Satz jedoch nicht, weil sich die Situation binnen Sekundenbruchteilen grundlegend zum Nachteil der Raumfahrer veränderte. Wie aus dem Nichts spannte sich plötzlich eine azurblau schimmernde Energieglocke über das Gebiet und schloß alles, was sich darunter befand, von der Außenwelt ab.
Nur zögernd verarbeiteten die Männer diese Überraschung und nahmen die ganze Tragweite dessen wahr,
was sich ereignet hatte:
Sie waren gefangen unter einer halbkugelförmigen Glocke aus Energie. Einem Abwehrschirm, den die
Strahlkanonen der FO I nicht zu durchdringen vermochten, obwohl der Forschungsraumer pausenlos
feuerte. Der Energieschirm warf die Strahlbahnen zurück in den Weltraum.
Schließlich sah Maxwell die Nutzlosigkeit seines Tuns ein und beendete das Feuer.
Feldwebel Cooper hatte sein tragbares Analysegerät zu Rate gezogen, um Größe und Ausdehnung zu
erfahren, aber noch immer funktionierte kein Gerät auf energetischer Basis. Jetzt stopfte er wütend das
nutzlose Utensil wieder in die seitliche Schenkeltasche zurück und machte brummend seinem Unmut
Luft.
»Nicht größer als fünf Kilometer in Durchmesser und Höhe«, befriedigte Lee Prewitt Coopers
Wissensdurst, »gemessen an jener Wolkenbank dort oben.« Als ausgebildeter Astrogator war der Erste
Offizier in der Lage, aus kleinsten Hinweisen zutreffende Schlüsse zu ziehen, ob das nun im Weltraum
war oder auf den Oberflächen von Planeten. Jetzt fügte er hinzu: »Ich frage mich ^r, woher die Energie
für etwas so Großes sTarnmt?«
»Vermutlich von dort, Sir!«
Märt Siverts hatte den niedrigen Erdwall erklommen, den das
Beiboot bei seiner Notlandung vor sich aufgeworfen hatte, und deutete mit der Rechten in eine bestimmte
Richtung, während er in der Linken den Multifunktionsfeldstecher hielt, durch den er die Umgebung
sondiert hatte.
Prewitt arbeitete sich den kleinen Hang hinauf, stand neben dem jungen Infanteristen.
Siverts reichte ihm den Feldstecher.
»Dort, Sir!«
Der Erste Offizier der CHARR hob das Glas an die Augen und blickte in die angegebene Richtung.
Er sah nichts.
»Was... ?« begann er.
»Sie müssen die Scharfeinstellung manuell betätigen, Sir«, machte ihn Märt Siverts aufmerksam. »Sie
wissen doch - hier funktioniert keine Elektronik.«
»Natürlich«, brummte Prewitt. »Wie dumm von mir.«
Er preßte die Augen an das Okular, veränderte die Einstellung der Linsen und regelte die Scharfstellung
noch mal nach.
Die Sicht war dennoch nicht überragend.
Obwohl die Sonne an einem fast wolkenlosen Himmel stand, schien es, als lägen Schatten über dem
Land. Vermutlich erzeugt vom Energieschirm.
Dann holte Prewitt scharf Luft, als er den dicken blauen Strahl sah, der in zirka zwei Kilometern
Entfernung vom Boden zur Spitze der Energieglocke emporstieg und ganz offensichtlich den Schirm
speiste.
»Hmm, fragen Sie mich mal, was das ist, Soldat.«
»Was ist das, Sir?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lee Prewitt wahrheitsgemäß.
»Dann hätte ich mir die Frage ja auch sparen können«, sagte Märt Siverts respektlos, setzte aber dennoch
ein dienstbeflissenes »Sir!« dahinter. Mit höheren Chargen sollte man es sich nicht verderben. Alter
Infanteristenwahlspruch.
Hinter ihren Rücken hörten sie Flüche und harte Geräusche, als die Kammern der Karabiner nachgeladen
wurden.
»Was gibt es. Lern?« rief Prewitt, während er vor Siverts den kleinen Hang in einer Staubwolke
hinunterschlitterte.
232
»Sie greifen wieder an!« gab Foraker lautstark zurück. Wie um seine Worte zu bestätigen, begann der Hagel unterschiedlichster Wurfgeschosse aufs neue.
Heftiger und dichter als zuvor.
»Der Tanz geht wieder los!«
Das war der bullige Korporal Gesak; die Waffe in seinen Fäusten wirkte wie ein Spielzeug, nur mit dem
Unterschied, daß sie keine Freude bereitete, sondern Tod und Verderben aussandte.
Rechts von ihm hantierte der in Neu-Delhi geborene Rajin wie wild mit seinem Karabiner und schoß auf
alles, was zwischen den Ruinen in ihre Richtung sprang, hüpfte, flatterte und kollerte. Er wirkte so, als
habe er jede Kontrolle über sich verloren. Sein Zwillingsbruder Raimi rannte auf ihn zu, vollführte eine
elegante Drehung und feuerte eine lange Schußfolge aus seiner Waffe ab.
»Von allen Seiten«, stieß er keuchend hervor, »sie kommen wieder aus allen Richtungen auf uns zu,
Bruderherz.«
Hinter Siverts schrie jemand: »Wir sollten verdammt noch mal von hier verschwinden!«
Es hörte sich an wie der bärbeißige Schotte Ryan.
Eine andere Stimme; sie gehörte Cord Cillion: »Die Munition geht uns langsam aus!«
Dann ein wilder Triumphschrei.
»Sir! Wir haben wieder Saft!«
Etwas zischte und heulte über den ganz vome in der auseinandergezogenen Abwehrreihe der
Eliteinfanteristen stehenden Lern Poraker hinweg. Ein sirrender Blitz schlug in ein Wesen mit ton
nenförmiger Brust und einem Kranz von Armen und verbrannte es auf der Stelle.
Wie kann das sein, dachte Lee Prewitt, wieso funktionieren die Blaster wieder? Und erst als ihm Foraker
antwortete, merkte er, daß er die Frage laut gestellt hatte.
»Sie können entweder nur den Abwehrschirm aufbauen oder die Energie absaugen«, gab der taktische
Offizier zu verstehen. »Beides zusammen geht nicht, Lee.«
»Die Blaster funktionieren wieder, Leute!« schrie Feldwebel Cooper und nahm gleich eine Reihe der
monströsen Wesen aufs Korn.
Das erste wurde getroffen, als es gerade einen zugespitzten Stab von zirka zwei Metern Länge auf
Foraker schleudern wollte. Der Strahl aus Coopers Waffe schnitt es in zwei Teile, die über den Boden
kullerten. Eine helle Flüssigkeit spritzte und versickerte im Dreck. Dem nächsten trennte der taktische
Offizier die Beine unterhalb des Rumpfes ab; das getroffene Zwitterwesen krachte zusammen und geriet
genau ins Kreuzfeuer von Junik und Takito. Der grünlich schillernde Chitinpanzer, der es wie eine
altertümliche Ritterrüstung umgab, platzte auf und verstreute seine Innereien über den schuttbedeckten
Boden.
Auch Lee Prewitt schoß, wobei er den Lauf in kurzen Schwenks nach rechts und links führte.
»Werden die denn überhaupt nicht weniger?« stöhnte Cooper. Er warf sich zur Seite und aus der
Flugbahn eines Felsbrockens, der dröhnend hinter ihm gegen die bereits vom Absturz böse zugerichtete
Wandung des Beibootes donnerte.
So plötzlich wie er wieder aufgeflammt war, so jählings war der Angriff der Mutanten auch schon wieder
vorbei, suchten sie Reißaus vor der geballten Feuerkraft der terranischen Einsatzgruppe. Nur die Toten
erinnerten noch an den ungleichen Kampf. Der aufgewirbelte Staub senkte sich und überdeckte alles
binnen kürzester Zeit mit einer feinen, grauen Schicht.
Bis zur nächsten Attacke... durchzuckte es Lee Prewitt.
»Ist jemand getroffen worden?« fragte Foraker laut in die plötzliche Stille, in der nur das Rascheln des
Windes durch die Ruinen zu vernehmen war und ein fernes Poltern, als wieder ein Gebäuderest, der
Schwerkraft folgend, ins sich zusammenstürzte.
Niemand war ernsthaft verletzt, dennoch hatte es den einen oder anderen blauen Flecken gegeben. Man
hatte nicht jedem geschleuderten Stein ausweichen können.
Während die Männer ihre Anzüge auf schadhafte Stellen untersuchten und die Waffen überprüften,
beratschlagten Lee Prewitt und Lern Foraker ihre nächsten Schritte.
Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten und neigte sich auf ihrer Bahn bereits dem Horizont zu.
»Viel Zeit bleibt uns nicht mehr«, gestand Lee Prewitt. Foraker nickte. Er wußte, was der I. 0.
befürchtete: In wenigen Stunden
234 würde diese Hemisphäre in Dunkelheit gehüllt sein, dann erwartete sie sicher ein Großangriff der Mutanten. »... wir werden ihn vielleicht nicht überleben«, sagte Prewitt halblaut, »wenn wir es nicht fertigbringen, noch vor Einbruch der Nacht diesen Energieschirm auszuschalten. Nur wenn uns das gelingt, können wir Hilfe herbeirufen.« »Das sehe ich auch so«, stimmte Foraker nach kurzem Überlegen zu. Er erhob sich von dem Trümmerbrocken, auf dem er sich für einen Moment ausgeruht hatte und richtete mit lauter Stimme das Wort an seine Männer. »Hört zu, Leute. Unsere einzige Chance, heil von hier wegzukommen, ist, diesen Energieschirm ausbeziehungsweise abzuschalten. Dazu bleibt uns keine andere Wahl, als zu der Stelle zu gelangen, an der der Strahl vom Boden zur Kuppel emporsteigt. Wir wissen nicht, was uns dort erwartet, die Stelle ist von unserer Position aus nicht einsehbar, zu viele Ruinen, die uns den Blick verwehren. Deshalb ist größte Vorsicht das Gebot der Stunde. Ich will keinen von euch verlieren, nur weil er einen Moment lang nicht aufpaßt. Kapiert?« Er sah jeden der Reihe nach an. Jeder einzelne nickte. Lern Foraker lächelte flüchtig, als er die Entschlossenheit auf den Gesichtern der Männer sah. Er hatte
keine andere Reaktion erwartet.
»Also gut! In Ordnung«, grinste er. »Machen wir uns auf den Weg.«
13. Die Pscheriden machten sich daran, ihre Schiffe für den Weiterflug vorzubereiten. Dazu mußten die Triebwerke noch einmal gründlich überholt werden. Das brauchte seine Zeit. Wraak und einige Vertreter anderer Spezies boten zwar an, ihr technisches Wissen und auch Material zur Verfügung zu stellen, aber in dieser Hinsicht waren nicht nur General Gutter, sondern auch die psche-ridischen Politiker an Bord der Raumer sogar noch mißtrauischer und vorsichtiger als die Römer in der POINT OF. Während die Reparatur- und Wartungsarbeiten vonstatten gingen, meldete sich Gisol über Funk aus seiner EPOY. »Wir sollten die unvermeidliche Wartezeit nutzen und Holger Alsops letzten Wunsch jetzt erfüllen«, schlug er vor. Ren Dhark zuckte zusammen. Gerade in diesem Moment traf ihn die Erinnerung an den Tod eines alten Weggefährten tief. Natürlich hatte er Alsop nicht vergessen, dieses Problem aber im Zuge der jüngsten Ereignisse zurückgestellt und teilweise verdrängt, um sich den Kopf für die wichtigeren Dinge freizuhalten. Aber jetzt hatten sie tatsächlich Muße, sich darum zu kümmern. Holger Alsop, Cyborg der A-Serie und der erste Cyborg überhaupt, war bei seinem letzten Einsatz gefallen. Als Gisol und er auf Pscherid versuchten, einen Brückenkopf der bereits gelandeten und mit Bodentruppen ausschwärmenden Zyzzkt zu zerstören, hatte ihn der Blasterstrahl eines jener Insektenwesen erwischt und seinen Körper in Brusthöhe durchtrennt. Praktisch waren nur noch Kopf und Schultern übriggeblieben. Gisol hatte das, was von Alsop übriggeblieben war, geborgen und zur POINT OF gebracht. Er und auch die anderen hatten gehofft, wenigstens das Gehirn des Cyborgs retten zu können. In einem künstlichen Körper hätte Holger Alsop weiterleben können. 236 Aber das wollte Alsop nicht.
Er hatte schon vor seiner Umwandlung zum Cyborg Probleme damit gehabt, zu akzeptieren, daß es
danach künstliche Implantate in seinem Körper gab, daß er kein »normaler« Mensch mehr sein würde.
Aber jetzt nur noch als Gehirn in einer Vollprothese leben zu müssen, in einem Androidenkörper? Das
war nicht seine Welt. Das wollte er nicht ertragen.
So hatte er seinen Abschied vom Leben genommen. Still und schmerzlos war er gestorben, nachdem er
mit einem Gedankenbefehl an sein Programmgehim den Phantzustand aufgehoben hatte, der bis dahin
alle Flüssigkeiten und Gase im verbliebenen Rest seines »Körpers« gebunden und ihm damit sein
Weiterleben ermöglicht hatte.
Er wollte nicht mehr.
Und niemand hatte ihn daran hindern können.
Wäre er mit externen Maßnahmen am Leben erhalten worden, hätte man seinen Sterbewunsch ignorieren
können. Aber er war in der Lage, seinen endgültigen Tod selbst herbeizuführen.
Ren Dhark schloß die Augen.
Er hatte einige Abenteuer gemeinsam mit Alsop und auch mit den Cyborgs Oshuta und Sass erlebt, die
ebenfalls der A-Serie entsTarnmten. Zwischen ihnen war dadurch eine enge Verbundenheit entstanden,
die sicher nicht eine solche Freundschaft war, wie er sie mit Dan Riker pflegte. Aber sie waren
gemeinsam durch dick und dünn gegangen, sie hatten Gefahren überlebt, hatten miteinander gekämpft,
gelacht und geflucht.
Und nun war einer von ihnen tot.
Ausgerechnet Holger Alsop.
Warum nicht einer der anderen, denen Dhark nicht so nahe stand?
Er selbst hatte den Einsatz angeordnet. Er hatte Alsop losgeschickt.
In den Tod.
Nein, das war nicht vorhersehbar gewesen. Cyborgs waren unüberwindlich, unbesiegbar. Cyborgs
konnten Jahrhunderte alt Werden. Sie waren die Überraschungs- und Wunderwaffe gegen Feinde, die sich
in ihrer Arroganz sicher fühlten.
237 Und doch waren Cyborgs nicht unsterblich.
Das wurde Dhark nun sehr schmerzlich klar.
Jeder Befehlshaber mußte damit rechnen, daß seine Untergebenen bei einem Kampfeinsatz umkamen.
Sein Verstand hämmerte ihm das immer wieder ein, und sein Verstand warf ihm auch vor, sich selbst immer wieder in Lebensgefahr zu begeben, wenn er selbst als erster hinausging. Wenn ich nicht Alsop geschickt hätte, sondern selbst mit Gisol gegangen wäre, wäre jetzt ich tot, mußte er sich eingestehen. Aber es war eine makabre Abwägung. Niemand kann ein Leben gegen ein anderes aufrechnen, ein Schicksal gegen ein anderes. »Ich will den Tod nicht zum Freund haben!« hatte Alsop damals gesagt, ehe man ihn zum Cyborg machte. Und nun war der Tod doch sein Freund geworden. Alsop hatte den letzten Schritt getan und sich in die Hand dieses Freundes begeben, der alle persönlichen Probleme für alle Zeiten löste. Dhark wußte, daß der Einsatz riskant gewesen war. Jeder Cy-borg-Einsatz war riskant. Denn sonst hätte es dieser »Übermenschen« nicht bedurft, deren Körperkraft und Leistungsfähigkeit die normaler Menschen um ein Vielfaches überstiegen, die sich stundenlang ohne atmen zu müssen im Wasser der Tiefsee, in den giftigen Atmosphären fremder Planeten oder im Vakuum des Weltraums bewegen konnten - ohne Schutzanzug! Deren Kräfte fast so unerschöpflich waren wie die eines Roboters. Deren Programmge-hime streng der Logik folgten und schneller als jeder Mensch Geschehnisse beurteilen und Pläne schmieden konnten. Und die dennoch Menschen waren. Menschen mit Gefühlen, mit Ängsten und Sorgen, mit Optimismus und Liebe, aber auch Menschen, für die Gefühle nicht mehr existierten, sobald sie auf ihr Zweites System umschalteten und als Cyborg dachten und handelten. Auch Cyborgs waren sterblich! Aber warum Alsop? Warum nicht einer der inzwischen zahlreichen anderen, die für Ren Dhark längst nur noch Namen und Nummern waren? Weil ich ihn für diese Expedition angefordert habe. Und weil ich ihn in diesen speziellen Einsatz geschickt habe. 238 Auch Gisol machte sich Vorwürfe. Er war nicht schnell genug gewesen, hatte zu spät reagiert. Und doch
war das alles wiederum etwas ganz anderes...
»Ren«, meldete Gisol sich wieder. »Was ist mit dir? Hast du mir überhaupt zugehört?«
»Ja«, krächzte der Commander heiser. »Alsops letzter Wunsch.«
Holger Alsop wollte eine Weltraumbestattung.
Er wollte Teil einer Sonne werden. .en Dhark nickte. sollte es sein.
»Ich möchte es selbst tun«, sagte Gisol.
Ren Dhark hob den Kopf und sah den Worgun an, dessen Konterfei sich in der Bildwiedergabe
abzeichnete.
»Alsop war mit mir im Einsatz, als er starb«, sagte Gisol. »Er war mein Partner. Es ist meine Pflicht, ihn
auf seinem letzten Weg zu begleiten.«
Zu begleiten, dachte Dhark. Nein, du kannst ihm nur das Geleit geben, aber nicht ihn begleiten. Tote
gehen ihren Weg allein...
Sekundenlang fragte er sich, weshalb ihm ausgerechnet diese seltsame Formulierung in den Kopf kam.
Dann erinnerte er sich. Er hatte in seiner Jugend einmal einen utopischen Roman mit diesem Titel
gelesen, der ihn stark beeindruckt hatte: »Tote gehen ihren Weg allein« von C. R. Munro.*
»Es ist gut«, sagte er. »Aber ich denke, du wirst nichts dagegen haben, wenn Dan Riker, die anderen
Cyborgs und ich mit dabei sind.«
»Natürlich nicht. Kommt an Bord der EPOY. Ich schalte einen Transmitter frei«, sagte Gisol und
unterbrach die Funkverbindung.
Dhark war etwas verblüfft. Bisher hatte sich der Worgun sehr eigensinnig gezeigt, was die Anwesenheit
anderer in seinem Raumschiff aging. Er hatte sich mit Händen und Füßen - oder, auf seine spezielle
Lebensform umgemünzt - mit allen Pseudopodien dagegen gewehrt, daß Terraner an Bord seines Schiffes
kamen. Die einzigen Ausnahmen waren das Mädchen Juanita und Ren Dhark, den Gisol als seinen
Freund ansah.
Eine Wandlung schien in ihm vorzugehen. Legte er jetzt endlich sein krankhaftes Mißtrauen ab?
Schaden kann's nicht, dachte Ren und erhob sich aus seinem Sitz. Es mußten noch einige Vorbereitungen
getroffen werden, und er mußte die anderen unterrichten.
Etwa zwei Stunden später waren sie soweit und wechselten über die Transmitterverbindung zur EPOY.
Dhark, Riker und die Cyborgs. Bram Sass und Lati Oshuta, die dienstältesten Weggefährten Alsops,
trugen mit Jan Burton und Ule Cindar den Sarg. Amy Stewart und die vier anderen Cyborgs bildeten das
Geleit.
Der Sarg war eine normalgroße Ausführung, die die Cyborgs Mark Carell und Jes Yello eigenhändig
»geschreinert« hatten; natürlich bestand er nicht aus echtem Holz, sondern aus einem Kunststoff verbünd,
aber woher sie das Rohmaterial dafür hatten, blieb ihr Geheimnis; an Bord der POINT OF gab es keine
Särge, die darauf warteten, mit Besatzungsangehörigen gefüllt zu werden! Daß jemand aus Ren Dharks
Mannschaft im Einsatz ums Leben kam, gehörte zu den ganz großen Ausnahmen.
Um so bitterer war es für alle, jetzt einen der ihren für immer verabschieden zu müssen.
Die terranische Flagge umhüllte den Sarg.
Dabei ist er nicht einmal für Terra gestorben, sondern für die P sehenden, dachte Ren Dhark. Der Mann,
der das Leben liebte und den Tod nie zum Freund haben wollte...
Er hatte nie als Cyborg sterben wollen, und er war auch nicht als Cyborg gestorben, weil er aus eigenem
Willen das Zweite System abgeschaltet hatte. Als er starb, war er wieder Mensch.
Gestorben in einer fremden Galaxis, unendlich weit von daheim... Ren wußte nicht, wie es in seinen Kameraden aussah. Aber er 240 kämpfte gegen eine verzweifelte Wut an, gegen eine Bitterkeit, wie er sie nicht einmal erlebt hatte, als ihn damals die Nachricht erreichte, daß sein Vater, der Commander Sam Dhark, gestorben war - und er, Leutnant Ren Dhark, den Kolonistenraumer GALAXIS auf Hope landen mußte. Stellvertretend für seinen Vater. Sein Vater war krank gewesen, hatte seine Krankheit aber niemandem gezeigt, und sie vielleicht auch nicht einmal selbst wirklich emstgenommen. Er hatte doch noch so große Pläne gehegt; er hatte in die Politik gehen wollen, hatte für das Amt des Weltpräsidenten kandidieren wollen. Aber der Tod war schneller, der Tod im Weltraum. Und niemand konnte damals ahnen, daß sein Sohn Ren ihn noch überflügeln würde... Was alles war seit damals geschehen... Und jetzt war wieder jemand gestorben. Ren konnte kaum sprechen. Ähnlich wie jetzt hatte er nur empfunden, als er damals die Erde von der Herrschaft der Giants befreit hatte, als er sehen mußte, wie dennoch Menschen einfach starben, weil sie nicht mehr begriffen, was mit ihnen geschah, oder weil es nicht möglich war, sie medizinisch zu betreuen und psychologisch zu beschützen, geschweige denn sie zu ernähren, weil durch die radikale Herrschaft der gelbhäutigen Raubtierköpfe alle Ressourcen erschöpft waren. Während der Besatzungszeit waren Millionen von Menschen gestorben, und nach der Befreiung noch einmal Hunderttausende. Auch damals hatten Ren die Worte gefehlt. Er hatte alle Kraft gebraucht, die seine Freunde ihm geben konnten, um damit fertig zu werden. Später, im Krieg gegen die Grakos, waren sie auch zu Zehntausenden gestorben, die Besatzungen von Raumschiffen und Abwehranlagen, aber das war irgendwie etwas anderes. Das war unabänderlich, und sie waren gefallen, um anderen das Leben zu retten. Diese Toten, diese Raumschiffsbesatzungen - das waren Namen auf einer Wand aus Platintafeln. Aber Namen, die Ren Dhark unbekannt waren. Sie waren so viele, sie waren anonym in ihrer Masse.
241 Dieser Tote jedoch hatte einen Namen. Er war nicht einer von Tausenden, er war einzigartig. Holger Alsop, erster Cyborg Terras. Eine Legende, obgleich er auf diesen Status selbst den geringsten Wert legte. Es war Zufall, daß er der erste war. Und nun war er tot. Er war gegangen. Ren hatte keine Tränen. In ihm war nur eine unendliche Trauer. Ein Kummer, der keine Tränen kannte. Da war nicht einmal der Wunsch nach Vergeltung. Da war nur die Frage: -warum? Nein, kein Haß auf den Mörder, den Gisol unmittelbar darauf getötet hatte. Kein Haß gegen die Zyzzkt, ohne die das alles niemals geschehen wäre. Aber Haß und Zorn auf das, was die Zyzzkt taten, auf das, was sie antrieb. Holger Alsop darf nicht umsonst gestorben sein. Er hätte niemals Rache gesollt. Aber er hätte gesollt,
daß wir alles tun, um dem Morden ein Ende zu bereiten.
Und das, bei allem, was mir heilig ist, werden wir tun!
Und ich hoffe, daß wir es tun können, ohne dabei unterzugehen!
Eine kleine Gruppe von zehn Ringraumerbesatzungen und einem Worgunrebellen gegen die Machthaber
einer ganzen Galaxis!
Es war unmöglich.
Aber hatten Menschen nicht schon immer das Unmögliche möglich werden lassen?
Gisol hatte bereits ein der irdischen Sonne ähnliches Gestirn angepeilt. Es befand sich in einer Entfernung
von etwa vier Lichtjahren.
»Ich denke, dieser Stern hätte ihm gefallen«, sagte der Worgun. Ren nickte stumm. Er war immer noch kaum in der Lage, zu sprechen. Ein dicker Kloß steckte in seiner Kehle. Mit einem kurzen UKW-Funkspruch hatte Gisol die »Verbündeten« darüber informiert, daß die EPOY sich für kurze Zeit von der Flotte entfernte. Auf eine Bestätigung wartete er nicht. Wie ein Roboter stand er vor dem Steuerpult in der Zentrale, seine Finger 242 kippten Steuerschalter in neue Positionen. Auf die Benutzung der Gedankensteuerung verzichtete er. Ren glaubte zu verstehen, warum. Gisol war innerlich aufgewühlt. Das mochte Einfluß auf die Steuerung des Ringraumers haben. Deshalb lenkte der Mysterious sein Superraumschiff lieber manuell. Ren war sicher, daß Gisol ihm seinen Verdacht niemals bestätigen würde. Die EPOY beschleunigte. Der SLE brachte sie auf etwas mehr als halbe Lichtgeschwindigkeit, dann schaltete Gisol auf Sternen-sog um. Die fußballgroßen Flächenprojektoren in der Innenseite des Ringkörpers fokussierten ihre Energieabstrahlung von einer Sekunde zur anderen nicht mehr zum Brennkreis, dessen Durchmesser um so geringer wurde, je näher sich die Geschwindigkeit des Raumers der des Lichtes näherte, sondern zum Brennpunkt. Normal hätte das zu einer Transition geführt. Aber das aktivierte Intervallfeld, das künstlich erzeugte Mini-Kontinuum, das die EPOY schützend umhüllte, wirkte als »absolute Transitionsbremse« und zwang den Ringraumer dazu, trotz des Überschreitens der Lichtgeschwindigkeit als Fremdkörper im Normaluniversum zu verbleiben. Dabei kam es logischerweise zu hyperschnellem Linearflug. Für eine Distanz von nur vier Lichtjahren reichte das bei den Beschleunigungswerten des tofiritbeschickten Worgun-Antriebs allemal. Per Transition hätten sie den Zielstem zwar dennoch viel schneller erreicht, aber die Strukturerschütterung hätte die Zyzzkt unweigerlich aufmerksam werden lassen. Und so blieb immerhin noch Zeit, innerlich von Holger Alsop Abschied zu nehmen. Ren war nicht sicher, ob er es wirklich für immer konnte. Er wollte diesen Strich auch niemals ziehen, den Strich unter ein Leben. Das war nicht seine Art. Er schrak zusammen, als Gisol ihn nach einiger Zeit ansprach; An und die anderen. »Wir sind da.« Die EPOY flog nicht mehr überlichtschnell. Sie befand sich nur Wenige Lichtminuten von der Sonne entfernt. Die Bildkugel zeigte das System. Nicht nur die Sonne ähnelte der heimischen, was ihre Größe und ihr Lichtspektrum anging, sie besaß auch einen einzigen Planeten - und der umkreiste sie in
etwa dem gleichen Abstand wie die Erde ihre Sonne. Der Planet schimmerte blaugrün mit großen weißen
Flecken, als Gisol ihn in der Bildkugel kurz heranholte. Dann schaltete er wieder zurück.
Ren straffte sich.
»Bringen wir es hinter uns«, hatte er sagen wollen. Aber er brachte die Worte nicht über die Lippen. Er
gab den anderen nur einen auffordernden Wink und verließ die Zentrale.
Kurz darauf standen sie in einer der vier Außenschleusen der EPOY, die bis auf kleinere
Modernisierungen der POINT OF glich. Sie trugen Raumanzüge. Per Helmfunk waren sie miteinander
verbunden.
Ren Dhark trat neben den Sarg und legte eine Hand auf die Flagge, die ihn einhüllte.
»Er war ein Freund«, sagte er, fand endlich Worte. Aber er war nicht sicher, ob er überhaupt fähig war,
laut genug in das Helmmikrofon sprechen zu können. »Ich lernte ihn kennen, als er noch an sich selbst
zweifelte, als er nicht glaubte, zum Cyborg befähigt zu sein. Und doch war er einer der Fähigsten, einer
der Besten.
Er wollte, daß er nach dem Tod seines Körpers in einer Sonne eins mit dem Universum würde, eins mit
der Urgewalt der Schöpfung. Wir sind hier, um das zu ermöglichen.
Möge er in anderer Form als der uns gewohnten weiterleben bis ans Ende der Zeit.«
Er trat zurück, und er schalt sich einen Narren, fragte sich, ob es das wirklich war, was er sagen wollte,
was dem Mann, dessen sterbliche Überreste sich in diesem Sarg befanden, gerecht wurde.
Er sah nicht, wie aufmerksam ihn Amy Stewart, erster weiblicher Cyborg, beobachtete.
Es hätte ihn in diesem Moment auch nicht einmal interessiert.
Gisol trat an seine Stelle.
»Ich begleitete ihn bei seinem letzten Einsatz. Er war ein tapferer, großer Mann mit großen Gedanken und
Träumen, der nicht hätte sterben dürfen. Ich würde viel darum geben, seinen Tod ungeschehen zu
machen. Aber ich kann es nicht.«
Lati Oshuta, mit Sass und Alsop einer der drei ersten Cyborgs
244 überhaupt, gesellte sich hinzu.
»Wir übergeben seinen Körper dem Weltraum und der Sonne, wie er es sich wünschte. Sein Geist wird
bei uns bleiben«, sagte der kleine Japaner.
Einer der anderen schaltete einen mobilen Projektor ein, der einen Pressorstrahl emittierte. Die sorgsam
dosierte Energie erfaßte den Sarg und schob ihn aus der offenen Schleuse in die Sternenpracht des
Weltraums hinaus. Langsam wurde die Strahlenergie erhöht, der Sarg wurde schneller und glitt hinaus in
die Unendlichkeit, seinem flammenden Ziel entgegen.
Bram Sass stimmte mit seiner sonoren Stimme ein uraltes Lied
an.
»Ich hatf einen Kameraden, einen besseren findest du nicht...«
Dan Riker und die anderen Cyborgs fielen in das Lied ein, sangen mit. Auch Amy Stewart, aber sie war
die einzige, die sah, wie sich unter der Helmscheibe Ren Dharks Gesicht plötzlich zu einer Grimasse
verzerrte, wie ihm Tränen über das Gesicht strömten, Tränen, die er zuvor nicht hatte weinen können.
Er wandte sich ab.
Tote gehen ihren Weg allein, dachte er.
Er wollte die Schleuse verlassen, aber das ging nicht, solange das Außenschott geöffnet war. Aber er
verfolgte nicht, wie der Sarg davontrieb und irgendwann in der Sonnenkorona verschwand, in einem
ewigen Licht, das Holger Alsop aufnahm, wie er es gewollt hatte.
Der Cyborg, der Kamerad, ging seinen letzten Weg.
Allein.
Nach dem Ende der Zeremonie kehrte die EPOY zur Pscheri-denflotte zurück. Ren hielt sich von den
anderen fern. Dan Riker näherte sich ihm, merkte aber, noch ehe er den Freund ansprach, daß der jetzt
alleinsein wollte. Noch bevor die EPOY ihren Flug beendete, kehrte Ren über Transmitter in die POINT
OF zurück und tauchte in seiner Kabine ab.
Die anderen folgten später.
245 Amy Stewart kehrte ebenfalls in ihre private Kabine zurück. Ohne den Raumanzug abzulegen, nur den
faltbaren Klarsichthelm des M-Anzugs zurückgeschlagen, ließ sie sich auf ihre Koje fallen.
Sie hatte Alsop nicht näher gekannt.
Sie war eine von vielen der »neuen« Cyborgs, und es verband sie wenig mit der »alten Garde«, die ihr
doch nur ein paar Jahre voraus waren. Aber dem Tod zu begegnen war immer etwas, über das niemand so
einfach hinweggehen konnte.
Sie hatte ihre Eltern während der Giant-Invasion verloren. Sie selbst war eine der wenigen Immunen
gewesen, die der Verdum-mungsstrahlung nicht unterlagen. Um so mehr schmerzte es sie, daß sie damals
nichts für ihre Eltern hatte tun können.
Sie sprach nie mit irgend jemandem darüber.
Aber nach der Invasion war sie zur Raumflotte gegangen, um ihren Beitrag zu leisten, daß sich so etwas
niemals wiederholte. Und so war sie auch zum Cyborgprogramm gekommen, das ihr noch effektiver
erschien als der »normale« Dienst in einem Raumschiff der Terranischen Flotte.
Sie wußte, daß der Tod ihr Begleiter war. Als Raumsoldatin wie auch als Cyborg. Auch ihr
Cyborgkollege mußte das gewußt haben. Und sicher wußte es auch Ren Dhark.
RenDhark...
Er war der erste Mann, den sie hatte weinen sehen.
Er trauerte um einen Kameraden, um einen Freund, und wollte seine Trauer nicht zeigen, wollte sie in
sich verschließen.
Sie war nahe daran, aufzuspringen und ihn in seiner Kabine aufzusuchen, um mit ihm zu reden.
Aber sie tat es nicht.
Sie spürte, daß er jetzt alleinsein wollte, alleinsein mußte.
Bisher hatte sie ihn eher für einen Abenteurer gehalten, der nebenbei auch noch ein typischer Politiker
war - das eine mit dem anderen verbindend, die Erde vor Gefahren aus dem All rettend und damit seine
eigene Karriere festigend.
Aber jetzt hatte er gezeigt, daß er ein Mensch war.
Hatte es ihr gezeigt, ohne es zu wissen.
Seine Trauer, die er zu verbergen suchte, beeindruckte sie. Nicht
nur seine Flucht nach dem Ende der Zeremonie - anders konnte
246 sie es nicht bezeichnen. Aber auch vorher schon seine stockende, halb erstickte Sprechweise bei den
Worten, die er für Alsop fand...
Dhark war anders, als sie es bisher gedacht hatte.
Er war nach außen hart, ein kompromißloser Held, ein Macher. Aber der weiche Kern, der in ihm steckte,
den hatte Amy heute gesehen.
Doch sie behielt diesen Eindruck für sich. Sie sprach mit niemandem darüber, ihr ganzes weiteres Leben
lang nicht.
Nicht einmal mit Ren Dhark selbst...
14. Die Sicht war nicht überragend.
Obwohl es dem Stand der Sonne zufolge auf dieser Welt erst früher Nachmittag sein konnte.
Schuld hatte vermutlich der Energieschirm, der sich über ihnen spannte und wie eine von der Sonne
beschienene Wasserfläche die Perspektiven darunter verzerrte.
In einer lockeren Dreiecksformation marschierten sie durch die Ruinenlandschaft, das Standardmanöver
beim Erkunden einer fremden, eventuell feindlichen Umwelt. So konnten sie sich bei einem erneuten
Angriff der Mutanten gegenseitig nicht in die Quere kommen.
Aus dem Wrack des Beibootes hatten sie sämtliche Reservemagazine für ihre Multikarabiner
mitgenommen.
Dreizehn Personen, mit einem Ziel vor Augen - der blaue Strahl war ständig im Blickfeld - ohne die
geringste Ahnung davon zu haben, was sie dort erwartete.
Ist die Dreizehn nicht doch eine Unglückszahl? sinnierte Lee Prewitt, der mit Foraker an der Spitze ging.
Unsinn, rief er sich selbst zur Ordnung. Dumpfer Aberglaube, der im 21. Jahrhundert nichts verloren hat.
»Dawson!«
»Sir?« Der Funker der Gruppe schloß zu Foraker auf.
»Haben Sie versucht, Verbindung zur FO I herzustellen?« wollte der taktische Offizier wissen.
»Gleich als erstes, nachdem wieder Energie zur Verfügung stand, Sir. Fehlanzeige. Das Feld über uns läßt
keine Signale durch. Ich kriege keine Verbindung mit der FO I draußen im All. Aber der Helmfunk
funktioniert wieder, falls wir gezwungen werden sollten, die Visiere zu schließen.«
248 »Wenigstens etwas«, brummte Foraker.
»Apropos Visiere schließen, was macht die radioaktive Verseuchung, Bruce?« wollte der Offizier vom
Sanitätsmaat wissen. , »Wie hoch ist der Grad der KonTarnination?« l »Im Augenblick nur Reststrahlung,
Sir. Nichts, was nicht im Sonnenhangar der CHARR repariert werden könnte, wenn wir unseren
Aufenthalt nicht über Gebühr ausdehnen.« ^ »Das werden wir mit Sicherheit nicht. Gut. Lassen Sie das
Gerät nicht aus den Augen. Ich möchte nicht, daß wir blindlings in starke Strahlungsnester etwa von
Plutonium stolpern.«
»Verstanden, Sir.«
Sie schritten zügig voran, hatten bereits eine beträchtliche Strekke zurückgelegt, ohne das sich ihnen
jemand in den Weg gestellt hätte.
Für die zwei Kilometer, die sie vom Zentrum der Energieglocke entfernt waren, hätten sie bei normalen
Verhältnissen eine knappe halbe Stunde benötigt.
Aber es herrschten keine »normalen« Verhältnisse.
Der Weg durch die schweigende Totenstadt war mit vielen Hindernissen gespickt; sie mußten
Schutthalden überwinden. Trümmerbergen ausweichen und Umwege machen, um überhaupt vor
wärtszukommen.
Nichts rührte sich.
Gespenstische Stille herrschte; es schien, als hielte die Natur dieses Planeten den Atem an.
Es wehte zwar eine leichte Brise, aber sie trug weder das Geräusch von im Wind bewegten Grasflächen
noch das Knarren von Zweigen oder Blättern mit sich.
Aber sie trug Düfte heran; nicht die von frischem Gras oder blühenden Zweigen, sondern einen scharfen,
muffigen Geruch, wie ihn uralte Ruinen verbreiteten.
Hin und wieder fielen Steinbrocken aus einer Fassade und polterten zu Boden, gesellten sich zu den
unzähligen anderen, die sich bereits am Fuße der Ruinen häuften.
Die Stimmung der Männer schwankte zwischen Pessimismus, kalter Entschlossenheit und einem Gefühl
der Unwirklichkeit.
Die Stille begann an ihren Nerven zu zerren.
249 Kein Vogel sang.
Keine Stimmen brachen das Schweigen außer den eigenen.
Zwischen den Ruinen herrschte ein lähmendes, niederdrückendes Schweigen.
Mit gesteigerter Vorsicht setzten sie ihren Marsch fort.
Langsam kamen sie der Energiesäule näher.
Seit einiger Zeit folgten sie einer zentralen Straße, die einen leichten Bogen machte und auf einem
ehemaligen Platz aufhörte.
Der Platz war von großzügiger Weiträumigkeit.
Die zerstörten Gebäudefronten bildeten eine noch immer große Mauer mit Öffnungen für Brücken,
Rampen und Straßen, die hier zusammenliefen.
Aus dem All hatte das alles sehr abstrakt ausgesehen, weniger eindringlich und größer dimensioniert.
Hier sah man die Schäden und Zerstörungen weitaus deutlicher.
Ein erbitterter Kampf um jeden Quadratmeter dieser Stadt mußte stattgefunden haben.
Es gab nicht eine einzige Mauer, nicht ein Stück des Bodens, nicht eine Auffahrt, die nicht restlos von
Einschlägen übersät war. Überall fanden sich schwarze Brandspuren. Gestein war verpulvert und verglast
worden. Metallfetzen hingen zwischen den Trägem und den geborstenen Platten.
Auf der anderen Seite setzte sich die breite Straße fort; sie würde allerdings von der Energiesäule
wegführen, deshalb schwenkte die Gruppe nach links in eine Seitenstraße, über die ein Viadukt verlief.
Sie hatten die Sonne jetzt im Rücken.
Und noch immer stellte sich ihnen niemand in den Weg.
»Unheimlich«, hörte Prewitt Coopers nervöse Stimme murmeln. Der Feldwebel ging schräg hinter ihm
und sicherte seine linke Ranke. »Wo sie nur bleiben?«
Mit »sie« meinte Cooper die Mutantenhorden.
»Haben Sie Sehnsucht nach ihnen?« fragte Foraker mit spöttischem Unterton.
»Bestimmt nicht, Sir«, war die knappe Antwort, »aber je länger wir unbehelligt bleiben, desto mehr habe
ich den Verdacht, daß wir in einen gewaltigen Hinterhalt laufen.«
250 Damit sprach er aus, was schon die ganze Zeit in den Köpfen der Offiziere spukte.
Sie kreuzten weitere Seitenstraßen, kamen an Reihen von ehemals riesigen Hallen vorbei und drangen
schließlich in ein Areal ein, dessen Verwendungszweck eigentlich nur eine Deutung zuließ.
Die tiefstehende Sonne vergoß ihr Licht über ein zusammengestürztes Labyrinth von mächtigen Rohren
und zu unförmigen Klumpen korrodierten Tanks.
Vermutlich handelte es sich um eine ehemalige Anlage zur Energiegewinnung.
Und dann war das erste wirkliche Geräusch nach einer längeren Zeit zu vernehmen. Ein unheimlicher
summender Ton lag in der Luft.
Es klang, als ob man einen riesigen Insektenschwarm in einem zu engen Tank untergebracht hätte.
Die Männer suchten die Quelle des Geräusches zu lokalisieren. Sie lag ziemlich genau dort, wo sich die
Energiesäule unweit voraus in den Himmel erstreckte.
Vor ihnen wurde das Ende einer Art Zufahrt von einem großen, verbeulten Rolltor versperrt. Es hing
schief in seiner Aufhängung. Dort, wo es nicht auf dem Boden auflag, klaffte eine Öffnung, groß genug
für einen Gleiter.
Lee Prewitt überlegte einen Augenblick, dann zuckte er mit den Schultern und trat durch die Öffnung ins
Innere.
Nach allen Seiten sichernd folgten ihm die Männer.
Dahinter lag eine Halle, in der unbekannte Apparate und Maschinen aufragten; dem Grad ihrer
Verwahrlosung und Korrosion nach waren sie seit Jahrhunderten außer Betrieb.
Das Ende der Halle wurde von einer halbhohen Wand begrenzt, die keinerlei Öffnung aufwies.
Eine Sackgasse?
Nein.
Prewitt deutete nach rechts, wo eine Rampe an der Innenwand nach oben führte und dann durch die
Trennwand hinaus weiterlief. »Wir gehen nach oben«, entschied er.
»Okay, Leute!« rief Foraker mit gedämpfter Stimme. »Dir alle
251 habt gehört, was der I. 0. gesagt hat. Hinauf mit euch. Nehmt die Beine in die Hand!«
Im Eiltempo begaben sie sich über die schmale Rampe nach oben.
Dort angelangt, befanden sie sich ungefähr fünfzehn Meter über dem Niveau des Bodens.
Das Summen wurde lauter. Strukturierter. Einzelne Laute hoben sich ab.
Die Luft knisterte förmlich vor Energie.
Von der Rampe gelangte man auf einen Steg, der hinüber in eine weitere Halle führte.
Die Männer waren voller Konzentration.
Gingen weiter.
Sie gelangten auf eine Galerie hoch über dem Hallenboden.
Von ihrer Warte aus konnten sie hinunter auf den Grund einer weiteren Halle sehen, die sich unmittelbar
an die erste Halle anschloß.
Hier fehlte das Dach. Ungehindert fiel Tageslicht ins Innere, deshalb war auch jede Einzelheit dessen,
was sich in dieser Halle abspielte, zu sehen.
Die Männer verteilten sich links und rechts auf der Galerie, die von einer halbhohen, nicht
durchbrochenen Brüstung begrenzt wurde. Sicher hatte sie einmal dazu gedient, zu verhindern, daß
jemand versehentlich über die Kante stürzen konnte. Jetzt machte sie allerdings keinen
vertrauenerweckenden Eindruck mehr, und Lee Prewitt bezweifelte stark, daß sie noch in der Lage war,
einen Sturz zu unterbinden.
Immerhin bot sie einen gewissen Schutz vor zufälliger EntdekkUng aus der Tiefe.
Anfangs erkannte man nicht einmal genau, was man vor sich hatte.
Dann sah man, daß die Halle bis in den letzten Winkel gefüllt war mit den erschreckendsten
Monstrositäten einer pervertierten Natur, die ständig in Bewegung schienen.
Es handelte sich Abertausende von Mutanten.
Nach und nach traten immer mehr Einzelheiten zutage. Sie hatten ihr Ziel erreicht.
252 Die schrecklichen Wesen vollführten eine Art Tanz, der sie um ein rosafarbenes Gebilde - vermutlich
eine Maschine - führte, aus deren Oberseite der azurblaue Strahl austrat und in fünf Kilometern Höhe die
Energieglocke bildete.
Dann bildete sich in der wimmelnden, quirlenden Menge für einen Moment eine Öffnung.
Die Kreaturen wichen von der »Maschine« zurück und gaben den Blick frei auf ein Schauspiel, das Lee
Prewitt so nicht erwartet hätte.
Er zog scharf die Luft ein.
Foraker sagte erschrocken: »O Gott!«
Die anderen schwiegen, sprachlos und geschockt über das Ausmaß dessen, was sich ihren Blicken bot.
Jemand würgte. Cooper sagte scharf. »Wage es ja nicht, zu kotzen, Mann!«
»Jesus!« flüsterte Märt Siverts, der direkt neben Prewitt halb in der Hocke stand und über den Rand der
Brüstung spähte. »Was in drei Teufels Namen ist das?«
Er sah unten auf dem Hallenboden ein Wesen, das fast nur aus einem um den Faktor hundert vergrößerten
Gehirn bestand. Man konnte es aus der Entfernung nicht genau sehen, aber Siverts war sicher, daß diese
rosafarbene Absurdität pulsierte. Was er aber mit noch größerer Abscheu sah, war, daß aus dem
Scheitelpunkt dieses unförmigen Ungeheuers von Himmasse der blaue Strahl senkrecht in die Höhe
drang. Die Haut des verkümmerten Wesens darunter war runzelig und mit grauweißen Recken übersät,
die Extremitäten nur rudimentär ausgebildet. Dieses Wesen war alles andere als eine Maschine. Es lebte.
»Das«, antwortete Prewitt böse und verkniffen, »ist der Gott der Mutanten. Ein Übermutant.«
Plötzlich liefen die Ereignisse rasend schnell ab.
Die Terraner hörten hinter sich Geräusche, die nur eines bedeuten konnten: Ihr Eindringen war entdeckt
worden.
Sie kamen heran, zunächst noch unsichtbar auf der benachbarten Rampe. Es mußten viele sein, den
Lauten nach, die sie verursachten.
Prewitts Magen zog sich zu einem kalten Knoten zusammen.
253 Er nickte Foraker zu, der die gleiche Geste machte und heiser rief: »Cooper! Achtung!«
Mit einer Hand deutete Lern auf die große Öffnung, durch die sie auf die Galerie gelangt waren.
»Sie kommen!«
Die Geräusche einer näherkommenden Meute schwangen sich zu neuen Höhen auf, steigerten sich zu
einen höllischen Crescendo — und der erste Mutant katapultierte sich förmlich durch die Öffnung. Er lief
mitten hinein ins Blasterfeuer des bulligen Korporals Gesak. Noch im Durchgang stürzte er zusammen.
Seine Innereien flogen heraus und verstreuten sich.
Prewitt dachte noch Was für eine Schweinerei, während sich sein Magen bei dem Anblick verknotete.
Doch dann hatte er keine Zeit mehr, irgendwelche Gedanken an sein Wohlbefinden zu verschwenden.
Seine ganze Aufmerksamkeit galt den angreifenden Bestien und wie er schnell genug den Abzug des
Blasters betätigen konnte, um sich der geifernden und brüllenden Übermacht zu erwehren. Es mußten
Hunderte sein, die über den Durchgang auf die Galerie drängten, ungeachtet des Blasterfeuers, das ihnen
entgegenschlug, und der enormen Verluste, die ihnen die Terraner zufügten. Eine Zeit lang konnte das
Team sie festnageln, aber dann krochen und kletterten sie vom Bodenniveau über marode Liftgestänge
und Handleitem hoch und schwangen sich auf die Galerie.
»Die kommen ja von überallher!«
Brad Dawson fluchte wild und grob. Er tauchte unter einem rostigen, schwertähnlichen Metallblatt
hinweg, das eine Kreatur in zwei seiner vier Hände schwang, mit der eindeutigen Absicht, dem Soldaten
damit zumindest eine Blutvergiftung zuzufügen. Dann riß er den Abzug durch und trennte den Angreifer
diagonal von unten nach oben auseinander.
Es stank fürchterlich.
Dawson hatte sich schon wieder abgewandt; in seinem Blick loderte kalter, entschlossener Zorn, als er
erneut seine Waffe hob. Lee Prewitt duckte sich in einer instinktiven Abwehrbewegung, als der Lauf genau in seine Richtung schwang, und hechtete mit einem erschrockenen Keuchen zur Seite, während sich auch schon der Strahl aus der Waffe des Funkmaats löste - und der Mutant 254 vom Einschlag nach hinten katapultiert wurde. Die mächtigen Schaufelklauen, die er an Stelle der Arme trug, waren nur Zentimeter von Prewitts Rücken entfernt gewesen. »Danke, Maat«, preßte Prewitt hervor und stand schon wieder auf den Beinen, um sich des nächsten Angreifers zu erwehren. »Dafür nicht, Sir«, wehrte der Funker mechanisch ab, seine Aufmerksamkeit galt schon dem nächsten, fast-humanoiden Wesen, das sich auf drei Beinen geifernd auf ihn zubewegte. Die Flammenlanze des Blasters stoppte es radikal. w Plötzlich geschahen nacheinander drei Dinge. f' Der glockenförmige Energieschirm über dem gesamten Areal erlosch. ^ Dann gaben die Blaster wieder mal ihren Geist auf. 13p Wie hatte Lern Foraker gemeint? »Sie können entweder nur den Abwehrschirm aufbauen oder die Energie absaugen. Beides zusammen geht nicht...« Hier war der Beweis für diese Annahme, wenn man auch von einem »es« auszugehen hatte. Und das dritte war... ja, was? Prewitt versuchte zu ergründen, was ihm aufgefallen war, während er den Multikarabiner wieder zur kugelspuckenden Maschinenwaffe umschaltete. Er begann zu fluchen, als er die Ladekontrolle sah, die ihm si-ft gnalisierte, daß er nur noch wenige Projektile in der Kammer ~ hatte. Blieb ihm nur noch das Ersatzmagazin mit den einhundert Explosivgeschossen. Die anderen waren nicht besser dran mit ihrer Munition, alle hatten das letzte Magazin eingesetzt. Dennoch feuerten sie, was die Waffen hergaben. l|p »Die machen uns fertig!« fluchte einer, und ein anderer schrie Über den Höllenlärm der Feuerstöße hinweg: »Wir kommen hier , alle um!« iJI »Niemand kommt um!« brüllte Cooper zornig. »Es sei denn, ich besorge das selbst. Verstanden? Habt ihr Weicheier verstanden?« »Aye, Sarge«, kam die Antwort aus rauhen Kehlen. Märt Siverts hörte auf zu feuern, weil ihm die Munition ausging. Mitgrimmigem Gesicht packte er die Waffe am Lauf, ungeachtet der Hitze, die er ausstrahlte, und schwang den Karabiner über dem Kopf. Seine Absicht war klar: Er wollte ihn als Keule gebrauchen. Juniks und Takitos Waffen gaben als nächste ihren Geist auf. Und in diesem Moment wußte Prewitt wieder, was ihn die ganze Zeit über beschäftigte. Als die Energieglocke von dem monströsen Supergehim abgeschaltet und das energieabsaugende Feld wieder aufgebaut worden war, schien es, als hätten die Mutanten für einen kurzen Moment in ihren Angriffen innegehalten, so als warteten sie auf neue Anweisungen. Plötzlich hatte er einen geradezu irrwitzigen Einfall. »Cooper! Lern! Haltet mir mit den Männern den Rücken frei. Ich habe eine Idee...« Er riß das Magazin mit den sensorbestückten Lenkprojektilen aus der Prismenaufnahme und schlug statt dessen das mit den Explosivgeschossen hinein. Dann richtete er den Lauf nach unten in die Halle, visierte den grotesk überdimensionierten Kopf der Kreatur an, die für den Energieschirm und einiges andere verantwortlich war. Daß beim Antippen des Auslösers der Laserstrahl der Zielsuchautomatik ausblieb und der kleine rubinrote Punkt nicht kam, störte ihn nicht. Das Ziel war groß genug, er konnte es gar nicht verfehlen, auch wenn es noch hundert Meter weiter weg gewesen wäre. Sein Finger berührte den Abzug, fand den Druckpunkt. Er atmete aus - und drückte ab. Er hatte auf Dauerfeuer geschaltet. Ein peitschendes Pfeifen übertönte die anderen Geräusche des Feuergefechts. Die Salve raste auf den Supermutanten zu und grub sich in das monströse Gehirn hinein wie in einen Topf mit Gelatine. Für einen endlos langen Augenblick, obwohl der in Wirklichkeit nur Sekundenbruchteile dauerte, geschah nichts. Dann detonierten die panzerbrechenden Explosivgeschosse und verwandelten das Ziel in eine Wolke rten Schaumes. Die Sonne stand nur noch eine Handbreit über dem Horizont, als Prewitt mit der vollzähligen Gruppe ins Freie trat. Müde, verschwitzt, ausgelaugt trottete sie auf das Beiboot der FO I zu, das, vom wieder funktionierenden Helmfunk gerufen, bereits auf sie wartete. Gleich darauf hob es vom Boden ab und raste auf die Position des Forschungsraumers im All zu. Wortkarg sah Prewitt auf den Sichtschirmen die Sterne neben der Sonne erscheinen, als sie die Lufthülle
hinter sich gebracht hatten und in den freien Raum vorstießen.
Die Ereignisse auf der Oberfläche hatten ihre Spuren hinterlassen.
Zum Glück war es vorbei.
Nach dem Tod des Supergehims hatten die Mutanten alle Aggressionen eingestellt. Die meisten waren
geflohen, als der Einfluß des »Gehirns« nicht mehr bestand. Eine verschwindend kleine Minderheit hatte
dennoch weiterkämpfen wollen, konnte aber gegen die nun wieder funktionstüchtigen Blaster der
Terraner nichts ausrichten.
Das Einschleusen in die FO I war Routine.
Sofort nahm der pfeilschlanke, 200 Meter lange Forschungsrau-mer Fahrt auf und bewegte sich mit
halber Lichtgeschwindigkeit auf die Position des zweiten Planeten zu, wo die CHARR in einer hohen
Parkbahn wartete.
Schweigend saß Colonel Huxley im bequem gepolsterten Gliedersessel seines Aufenthaltsraumes und ließ
den Bildschirm nicht aus dem Blick, der die Einöde der Planetenoberfläche unter der CHARR zeigte.
Ein Summton durchbrach die Stille.
»Ja?«
Das massive Innenschott glitt zur Seite. Lee Prewitt trat in den Raum, der gleich neben der Zentrale
gelegen war.
Der Colonel sah ihm mit unbewegter Miene entgegen, als er hereinkam.
Der I. 0. blieb vor seinem Kommandanten stehen, vorschrifts
257 mäßig salutierend.
»Oberstleutnant Lee Prewitt zu Ihren Diensten, Colonel«, sagte er laut.
»Lassen Sie die Förmlichkeiten, Lee«, knurrte der Kommandant der CHARR. »Setzen Sie sich.«
»Danke!«
»Ich habe das Notwendige bereits mit dem Angenehmen in Verbindung gebracht... Sie haben doch nichts
gegen eine Tasse Kaffee einzuwenden?«
Während sie tranken, schwieg der Colonel.
Erst als Prewitt die Tasse abstellte, sagte er: »Berichten Sie! Was ist bei Ihrem Aufenthalt auf dem dritten
Planeten geschehen? Von Maxwell weiß ich, daß irgend etwas Sie zu einer Notlandung gezwungen hat
und Sie zeitweise über Funk nicht zu erreichen gewesen waren! War das so?«
Lee Prewitt nickte.
Er erzählte ausführlich vom Beginn der Außenmission bis zu jenem Zeitpunkt, als er den Supermutanten
ausschaltete und endete dann: »Offenbar waren die Bewohner dieser Welt höher entwickelt als die Gönn,
als sie in Kontakt mit den blauen Nogk kamen, die sich auf der Nachbarwelt ansiedelten. Alles deutet
darauf hin, als hätten sie eine bestimmte Zeit lang Algenplantagen für sie betrieben, dann aber dieses Joch
abgeschüttelt und einen Atomkrieg mit ihnen vom Zaun gebrochen, der auf ihre Welt zurückschlug und
zu den heutigen Zuständen führte. Wie das so ist, wenn man Kriege führt. Meist werden beide Parteien in
Mitleidenschaft gezogen.«
Colonel Huxley rührte nachdenklich in seiner Tasse. Dann nickte er.
»Wenigstens sind Sie und die Männer heil von dort zurückgekommen.« Er betonte die letzten Worte auf
eine merkwürdige Art, die Lee Prewitt stutzig werden ließ.
Er beugte sich vor.
»Sagen Sie, Skipper, gibt es vielleicht Probleme, von denen ich nichts weiß?«
»Die gibt es in der Tat«, erwiderte Huxley, und seine eisgrauen Augen blickten ungewöhnlich ernst.
»Tantal ist mit einem Team
258 aufgebrochen, um eine zerstörte Nogk-Siedlung zu inspizieren. Er ist spurlos verschwunden, obwohl wir dort unten keinerlei energetische oder sonstige Aktivitäten orten konnten. Es hat den Anschein, als hätte sich die Gruppe einfach aufgelöst...« 259
15. Stunden später erwachte Ren Dhark.
Er brauchte ein wenig Zeit, um in die Wirklichkeit zurückzufinden.
Er entsann sich der Bestattungszeremonie.
Er erinnerte sich auch noch daran, daß er geradezu fluchtartig in die POINT OF zurückgekehrt war und
sich in seiner Kabine eingeschlossen hatte.
Er hatte sich den Raumanzug regelrecht vom Leib gerissen; der filmdünne M-Anzug lag noch nahe dem
Eingangsschott.
Auf dem Schwebetisch standen ein leeres Glas und eine angebrochene Flasche Cadenhead's Islay, Cask
Strength Single Malt, aus der Caol Ila Distillery, abgefüllt im Jahr 1979 und heute beinahe unbezahlbar.
Ein Erbstück seines Vaters, das Ren über all die Jahre nicht angerührt hatte.
Warum er die Flasche in der POINT OF mitführte, war ihm selbst nicht so ganz klar. Aber jetzt hatte er
sie angebrochen und ein Glas geleert.
Dann hatte er sich aufs Bett geworfen und war wohl eingeschlafen.
Wilde Träume beunruhigten ihn.
Träume vom Sterben. Eine düstere Drohung, daß Holger Alsop nicht der einzige Kamerad sein würde,
den er bei der Om-Mission verlor.
Ren schüttelte sich.
Er durfte sich von seinen Träumen nicht manipulieren lassen. Sie waren eine Aufarbeitung des
Vergangenen, kein Ausblick in die Zukunft.
Er duschte, legte frische Kleidung an und verschloß dann den sündhaft wertvollen Whisky wieder in
seinem Tresor.
260 Anschließend suchte er die Messe auf, nahm eine karge Zwischenmahlzeit zu sich und steuerte die
Zentrale an.
»Nett, daß du dich auch mal wieder sehen läßt«, begrüßte ihn sein Freund Dan Riker. »Ich dachte schon,
du wolltest dich für den Rest des Fluges in deiner Einzelzelle vergraben.«
Ren winkte ab und nahm in einem der fünf Sitze am Kontrollpult Platz.
»Du kommst gerade richtig«, sagte Dan. »Wraak hat eben die Sprungdaten durchgegeben.«
»Welche Sprungdaten?«
»Mann, du mußt aber wirklich weit weg sein«, seufzte Riker leise.
»Bin ich auch«, erwiderte Ren ebenso leise. »Hol mich zurück.«
»Es handelt sich um die Sprungdaten für die Pscheridenflotte, um den >Heerzug der Heimatlosen< zu
erreichen, dem sie sich ja anschließen wollen. Sie sind mit den Arbeiten an ihren Transitionstriebwerken
fertig und wollen starten, sobald auch wir bereit sind. Du wolltest sie ja begleiten.«
Dhark nickte. »Dabei bleibt es auch«, sagte er.
»Du denkst immer noch an Alsop«, sagte Riker. »Du bist nicht bei der Sache.«
»Kannst du das nicht verstehen, Dan?«
»Doch. Aber das Leben geht weiter. Es geht immer irgendwie weiter. Es ging weiter, als dein Vater starb,
und es wird auch weitergehen, wenn andere sterben. Komm, Alter, du wirst gebraucht. Du bist der
Commander der Planeten. Die Welt schaut dich an.«
Wider Willen mußte Ren grinsen. »Welche Welt? Unsere? Bis die Blicke der Terraner aus unserer
Galaxis bis hierher gelangen, vergehen noch ein paar Stunden...«
»Lausige zehn Millionen Jahre«, sagte Riker.
»Eben. Bis dahin lebt keiner meiner Bewunderer mehr. Warum soll ich also jetzt den Retter des
Universums spielen? - Schon gut, Dan. Ich weiß, daß ich mich nicht in der Trauer verlieren darf. Nur,
verdammt... ach was!« Er winkte heftig ab. »Ich nehme an, die Pscheriden werden die Distanz nicht in
einer Transitionsetappe schaffen?«
»Vermutlich«, sagte Ren. »Schau dir die Daten an. Ich über
261
spiele sie dir.«
Vor Ren glomm ein Holoschirm auf. Er las die Daten. Das Ziel lag am Rand der Galaxis Om, im
Übergangsbereich zum Halo. »Doom sagt, die Kampfschiffe könnten das mit zwei Transitionen schaffen,
die Archen brauchen vier bis fünf.«
»Und wir könnten die Distanz in einer einzigen zurücklegen«, sagte Dhark. »Aber wir werden es nicht
tun. Wir fliegen die Zielkoordinaten mit Sternensog an. Ich möchte nicht vor den Pscheri-den am Ziel
sein, ich möchte aber auch nicht von einem Sprungpunkt zum anderen mithoppeln. Im Endeffekt bringt
das niemandem etwas, und das wenige an Energie, die der Sternensog mehr verbraucht als eine
Transition, können wir verschmerzen. Im Gegensatz zu den Zyzzkt haben wir Tofirit genug. Was sagt
Gisol?«
»Dasselbe wie du. Dir könntet Brüder sein.«
»Lieber nicht«, sagte Dhark.
In seiner Originalgestalt war der Worgun ein amöbenähnliches Wesen, das seine Form nach Belieben
verändern konnte. Dabei war er nicht wirklich eine Amöbe, kein Einzeller, sondern sah nur so aus. In
seiner Originalgestalt konnte er Menschen ängstigen. Deshalb zeigte er sich während der Expedition den
Terranern auch immer in Menschengestalt.
»Okay. Die Pscheriden sollen starten. Wir fliegen los, sobald sie fort sind, und treffen sie am Zielpunkt
wieder.«
»Sobald sie fort sind?«
Dhark nickte. »Ich will wissen, wie gut der Ortungsschutz ist. Einer der Evakuierungsraumer soll über
UKW Funkverbindung zu uns halten, solange es geht.«
Die Xe-Flash hatten auch die Kampfschiffe der Pscheriden unter ihren Ortungsschutz genommen. Der
Countdown lief. In der Tat sendete eine der Archen permanent über UKW, wie Ren Dhark es erbeten
hatte.
Dann kam »Zero«.
Von einem Moment zum anderen riß die Dauerfünksendung ab.
»Echokontrolle erkennt keinen betriebsklaren Sender am ange
262 peilten Ort«, meldete Elis Yogan, der Walt Brugg in der Funk-Z abgelöst hatte.
»Sie sind also weg?«
»Sicher.«
l »Keine Strukturerschütterung anmeßbar«, konnte Tino Grappa von der Ortung verkünden. »Dabei hätte
es bei einer solchen Massentransition einen Schlag geben müssen, bei dem es Manama Mias Pizza glatt
aus dem Ofen haut...«
»Keine Gefügeerschütterung, Grappa? Nicht hier und auch nicht an der berechneten
Wiedereintrittstelle?«
»Nicht die geringste. Sagte ich doch schon. Ich habe alles dreifach geprüft... da ist nichts. Der
Ortungsschutz dieser Fremden ist einfach perfekt. Die Tarnung ist womöglich besser als das, was die
Römer entwickelt haben.«
»Danke«, sagte der Commander. »Dann wollen wir mal unsere Begleitschiffe und Gisol auffordern,
loszufliegen. Yogan, Sie sind dran mit der Funkenpuste.«
»Aye, Commander«, kam es aus der Funk-Z. »Ich geb's sofort durch.«
Wenige Minuten später setzte sich der Verband von 20 Ring-raumern in Bewegung.
Sie flogen mit relativ geringer Überlichtgeschwindigkeit ihrem Ziel entgegen - gering, wenn man in
Betracht zog, mit welchem enormen Tempo sie den intergalaktischen Raum durchquert hatten, um von
der heimatlichen Galaxis aus Orn zu erreichen.
Noch vor wenigen Monaten wäre das beinahe unmöglich gewesen. Da gab es noch das »Exspect«, jene
unnatürliche Zone, welche die Galaxis umschloß und den Raumschiffantrieben um so mehr Energie
entzog, je weiter sie sich entfernten.
Doch das war nun vorbei. Es gab fast keine Grenzen mehr. Die wurden nur noch vom jeweiligen
Aktionsradius der Raumschiffe bestimmt.
Und wenn man Gisols Patentrezept anwandte, jeweils zehn Ringraumer zu einer »Röhre«
zusammenzukoppeln und gleich
zuschalten, sank der Energieverbrauch durch einen noch unerklärlichen Düseneffekt auf ein Minimum. Er
lag sogar unter den Werten für Transitionen, die im normalen Einzelflug ökonomischer waren als der
Überlichtflug im Intervallschutz.
Die zehn Millionen Lichtjahre nach Om zu überbrücken war damit zu einer recht leichten Übung
geworden.
Jetzt, in Om selbst, flogen sie nicht mehr gekoppelt. Bei den »kurzen« Distanzen hier war das überflüssig.
Zudem schränkte es die Kampffähigkeit ein, wenn sie angegriffen wurden und sich erst »entkoppeln«
mußten.
Während des Fluges wurden immer wieder die Ortungen eingesetzt.
Sie stellten zahlreiche Gefügeerschütterungen fest, die von Transitionen anderer Schiffe im weiten Raum
sTarnmten, die meisten Hunderte von Lichtjahren entfernt.
Aber nichts, was auf eine Bewegung der pscheridischen Evakuierungsflotte hindeutete.
Der Schutz durch die Tarn-Xes unter Wraaks Kommando war perfekt.
Und was die POINT OF und die EPOY nicht anmessen konnten, das konnten auch die Zyzzkt nicht orten.
Gisols neun andere Ringraumer und die terranischen S-Kreuzer, die die POINT OF begleiteten, waren
etwas rückständiger als die beiden Führungsschiffe, und der Standard der Zyzzkt-Ringraumer glich genau
diesen. Das Insektenvolk hatte zwar die Raumer der Worgun übernommen, aber nicht wirklich
weiterentwickeln können.
Schließlich tauchten die 20 Ringraumer am vereinbarten Treffpunkt auf.
Die Pscheriden mußten dem Zeitplan zufolge bereits vor Ort sein.
Aber weder von ihnen noch vom >Heerzug der Heimatlosem war etwas festzustellen.
Der Weltraum im Übergangsbereich zum Halo Orns war außer den wenigen Sternen wie leergefegt.
Es gab keine Ortungsechos, die auf Raumschiffe hinwiesen, schon gar nicht auf eine so große Flotte, wie
sie dieser Heerzug
264 angeblich darstellen sollte.
»Die verkaspern uns«, sagte Leon Bebir, der gerade Falluta abgelöst hatte. Auch Dan Riker war in seiner
Kabine verschwunden, in der seine Frau auf ihn wartete. »Die haben uns die falschen Koordinaten
gegeben. Hier ist doch nichts! Grappa...«
Der seufzte.
»Liebe Kommandozentrale! Ich tue, was ich kann! Aber wo nichts ist, kann ich auch nichts finden!«
»Vielleicht haben sie wieder technische Probleme«, gab Dhark zu bedenken. »Es könnte doch sein, daß
wieder einmal bei einem der Evakuierungsschiffe der Hyperantrieb streikt, was erneut langwierige
Reparaturen zur Folge hat.«
»Aber wir sind der Route mit den vereinbarten Transitionspunkten gefolgt. Da war nichts. Sie müssen
längst hier sein«, beharrte Bebir. »Da stimmt was nicht, Commander!«
»Wenn wir hier nichts feststellen können, war das bei den anderen Punkten sicher auch nicht möglich«,
räumte Dhark ein. »Aber vielleicht ist der Ortungsschutz tatsächlich so immens gut... wir haben doch
selbst aus nächster Nähe die Raumer nicht mehr anmessen können, als die getarnten Xe-Flash sie unter
ihre Fittiche nahmen. Warum sollte das hier und jetzt anders sein?«
»Weil ich keine Lust habe, das zu akzeptieren«, knurrte Bebir sarkastisch.
»Die Zyzzkt haben sicher auch keine Lust, das zu akzeptieren. Aber warum soll's uns besser gehen als
denen?«
»Weil wir die Guten sind.«
»Nur verwenden wir annähernd die gleiche Technik. Pech... entweder sie sind gut geschützt hier, oder sie
haben uns tatsächlich hereingelegt, was ich mir aber nicht vorstellen kann. Ich frage mich nur, warum sie
sich nicht melden. Unsere römische Tarnung scheinen sie doch immerhin durchschauen zu können.«
»Vielleicht rechnen sie noch nicht mit uns«, gab ein Mann zu bedenken, der am Checkmaster Dienst tat.
»Sie gehen vielleicht davon aus, daß wir noch gar nicht hier sind. Dann suchen sie nicht schon nach uns,
und warum sollten sie sich dann mirFunksprü-chen verraten?«
»Da ist was dran«, sagte Bebir. »Gut mitgedacht, Mann.«
»UKW-Anruf«, mischte sich Elis Yogan aus der Funk-Z ein. »Wraak ruft. Ich stelle durch.«
Vor Dhark und Bebir bauten sich Holoschirme auf, die den Chilp zeigten. »Ich habe neue Kursdaten für
Sie«, teilte er mit.
»Was soll das?« fragte Dhark schroff. »Ich dachte, dieser Ort wäre der Treffpunkt.«
»Sicherheitsmaßnahme«, sagte Wraak. »Sie hätten verfolgt werden können. Die Tarnung Ihrer Schiffe ist
weit schlechter als unsere.«
Sag das den Römern, und sie kreuzigen dich, dachte Dhark. »Dann geben Sie die Kursdaten mal durch,
mein Bester.«
»Sofort.«
Sekunden später meldete Yogan: »Datenpaket eingegangen. Überspiele an Checkmaster.«
»Danke, Wraak«, sagte Dhark, aber noch als er die erste Silbe aussprach, erlosch die Funkverbindung
schon wieder. Der Chilp hatte abgeschaltet.
»Der Vogel muß sich nicht wundem, wenn er irgendwann mal im Kochtopf landet«, brummte Bebir.
»Etwas freundlicher und ausführlicher hätte er schon sein können.«
»Yogan, Daten auch an die EPOY senden«, ordnete Dhark an. »Wir fliegen die neuen Koordinaten an.
Aber unter Alarmbereitschaft.«
»Sie trauen den Brüdern also auch nicht«, sagte Bebir erleichtert.
Dhark verzichtete auf eine Antwort.
Er war einfach nicht sicher, was er über das Verhalten der Fremden denken sollte.
Der Kurs führte weiter in Richtung Leerraum. Die 20 Ringrau-mer flogen unterlichtschnell; nicht nur Ren
Dhark, sondern auch Gisol war mißtrauisch und nicht bereit, ein Risiko einzugehen. Pausenlos tasteten
die Ortungen der Schiffe die Umgebung ab, aber da war einfach nichts. Riker starrte angespannt auf die
Instrumente. Im nächsten Moment sprang er wie elektrisiert auf.
266 Die Wiedergabe in der Bildkugel hatte sich verändert!
Sie zeigte keinen Sternenarmen Raum mehr! Wo gerade noch Weltraumschwärze gewesen war und vereinzelte Randsteme, sowie in weiter Entfernung die Lichtflecken fremder Galaxien, von denen eine auch die Milchstraße war und eine andere die Nachbarinsel Andromeda, zeigte sich jetzt eine fantastische Umgebung, die geradezu aus dem Nichts entstand. »Ortung!« schrie Grappa auf. »Das sind... das sind... Tausende! Zehntausende müssen das sein! Die Echos...« Er verstummte. Auch Ren Dhark und Hen Falluta erhoben sich jetzt von ihren Sitzen, als könnten sie dadurch besser sehen, was die Bildkugel ihnen zeigte, diese 2,68 Meter durchmessende holographische Projektion, die über dem Kommandopult frei in der Luft schwebte und die Umgebung so plastisch zeigte, daß man versucht war, hineinzugreifen und die dargestellten Objekte zu betasten. Der Verkleinerungsfaktor war variabel und ließ sich über die Gedankensteuerung ebenso manipulieren wie symbolische und taktische Darstellungen. Zehntausende von Ortungsechos... Grappa hatte bestimmt nicht übertrieben. Es war eine gigantische Rotte von Raumschiffen unterschiedlichster Form. Sie alle bewegten sich synchron mit der gleichen Geschwindigkeit in die gleiche Richtung. Sie flogen unterlicht-schnell und antriebslos, nur vom Bewegungsimpuls vorangetrieben. Die Bildkugel konnte nur einen Teil dieser Flotte zeigen. Grappas Ortungsdiagramme, die er auf die Holoschirme des Kontrollpultes sandte, waren wesentlich aussagekräftiger. Die Schiffe mußten unglaublich vielen unterschiedlichen Völkern gehören. Wenn man davon ausging, daß eine Zivilisation kaum mehr als drei oder vier Grundformen entwickelte, die sich als allgemein praktikabel erwiesen, dann waren es Hunderte von verschiedenen Spezies, die allein im unmittelbaren Erfassungsbereich unterwegs waren. »Der Heerzug der Heimatlosen«, flüsterte Falluta. »Das - das müssen sie sein.« Dhark nickte stumm. 267 Mit einem Gedankenbefehl holte er die Ansicht heran. Die Bildkugel zeigte jetzt nur noch eine kleine Handvoll Raumschiffe in nächster Nähe. Dicht an der POINT OF war ein anderer Ringrau-mer zu sehen; den golden schimmernden Schriftzeichen auf der Schiffshülle nach war es die BüDVA unter Captain Charlie Jana. Aber die Raumer der eigenen Flotte interessierten den Comman-der in diesem Moment nicht. Sein Augenmerk galt den anderen Schiffen, den Fremden. Sie waren alle miteinander verbunden! Nicht jedes mit jedem anderen der gesamten Flotte, aber im engeren Bereich schon. Es gab feste röhrenförmige oder auch flexible schlauchartige Verbindungen, die von einem Raumer zum anderen führten, manchmal zu mehreren anderen Schiffen zugleich, in einem verwirrend erscheinenden Netz, bei dessen chaotischem Erscheinungsbild jede Spinne wahnsinnig geworden wäre. Es sah so aus, als hätten diese Röhren und Schläuche gleich zwei Funktionen: Zum einen sorgten sie dafür, daß die Raumschiffe einen festen Verbund bildeten, zum anderen schienen es Übergänge zu sein, Wege, die von Schleuse zu Schleuse führten, so daß man durch diese Verbindungen mühelos von einem Raumer zum anderen gelangen konnte. Blieb die Frage, ob das noch sinnvoll war, wenn man vom vordersten Raumschiff rechts zum hintersten links gelangen wollte -und dabei nicht nur eine gewaltige Strecke zurücklegen, sondern auch noch unzählige andere Raumschiffe durchqueren mußte... Die gesamte Flotte wurde von einer Art Kokon eingeschlossen, einem äußerst grobmaschigen Drahtnetz, das einen Schlauch von rund 200 Kilometer Länge und 50 Kilometer Durchmesser bildete. »Draht?« fragte Dhark nach. »Eine Art von Draht«, bestätigte Grappa. »Aus welchem Metall es besteht, haben wir noch nicht herausgefunden, aber es wirkt anscheinend wie ein Faraday scher Käfig.« »Das heißt, er hält Blitzeinschläge ab.« »Und vor allem Ortungsimpulse von außen«, sagte Grappa. »Darauf läuft es wohl hinaus.« Dhark nickte. Dieses Netz diente vermutlich zur Schaffung des vollständigen Tarnschutzes. Die Xe-Flash konnten kaum einen 268 dermaßen großen Raumsektor mit so vielen Schiffen tarnen - erstens, weil es sicher nicht genug von ihnen gab, und zum anderen, weil das Unmengen an Energie gekostet hätte. Die aber war auch hier knapp. Wenn schon die Zyzzkt Probleme hatten, an Ala-Me-tall zu kommen, waren diese Probleme für die Betreiber der Xe-Flash mit Sicherheit nicht geringer. Ein entsprechend energetisch polarisiertes Netz indessen konnte mit wenig Energieaufwand den »Blitzableiter« spielen. Dann ging es nur noch darum,
die optische Erkennung zu neutralisieren. Nur an der großen Einflugöffnung in das Netz waren zwei Xe-Flash postiert, wie die Ortung zeigte. Wahrscheinlich, um hier für größere Sicherheit zu sorgen. Hier war das Risiko am größten, daß Fremdortung Bewegungen oder Energieemissionen registrierte. Dhark konnte nur vermuten, daß es so war, wie er es sich vorstellte, aber er war ziemlich sicher, daß seine Vorstellung der Wirklichkeit entsprach. »Wir werden gerufen«, meldete Brugg. »Die Pscheriden übrigens auch. Läuft auf zwei verschiedenen Kanälen.« »Beide zu mir«, verlangte der Commander. Ein geteiler Holoschirm öffnete sich. Ren sah zwei verschiedene Angehörige des gleichen Volkes, die Anweisungen erteilten, einmal an die Pscheriden gewandt, zum anderen an die Ringraumer-flotte. In beiden Fällen wurde Worgun gesprochen. Ren lauschte, welche Anweisung den Pscheriden gegeben wurde, ihren Archen und den begleitenden Kampf schiffen. Ihnen wurden Plätze ziemlich am Ende der Flotte zugewiesen. General Gutter bestätigte prompt, und die Raumer bewegten sich in langsamer Fahrt ihrem neuen Ziel innerhalb des Schutzkokons entgegen. Zugleich erhielt die Ringraumerflotte andere Anweisungen. Ren Dhark bat, sie zu wiederholen, und erhielt die Bestätigung. Den zwanzig Ringschiffen wurde eine Parkposition beim Flaggschiff der KokonFlotte zugewiesen. Die Trennung von den Pscheriden paßte Dhark gar nicht. Aber er verzichtete vorerst auf einen Protest. Noch waren sie hier Gäste. Und wenn auch die Pscheriden sich mit ziemlicher Sicherheit in den Heerzug der Heimatlosen integrieren würden - die Terraner würden das ganz sicher nicht tun. Eine Trennung war also ohnehin unvermeidbar. Nur fand sie für Rens Vorstellungen jetzt noch entschieden zu früh statt. »Wir nehmen die zugewiesenen Parkpositionen ein«, wies er die Kommandanten der anderen Ringraumer, einschließlich Gisol mit seinen Schiffen, an. Währenddessen ließ Grappa die Ortungen weiter arbeiten. Es stellte sich heraus, daß die Flotte fast fünfzigtausend Schiffe umfaßte. Alle Erscheinungstypen, die man sich nur vorstellen konnte, waren vertreten. Schlanke Raketen, plumpe, unförmige Körper, scheibenförmige Objekte, komplizierte, bizarre Gebilde, die aus Röhren, Zylindern und Kugeln zusammengesetzt waren, Kugel-raumer, Kuben, Pyramiden, Zylinder, Schiffe mit mehreren Rümpfen, und das alles vom uralten Seelenverkäufer bis zum modernsten Superschiff. Es gab viele kleine Schiffe und viele Raumgiganten, die von ihrer Größe her schon als kleine Monde durchgehen konnten. Die einen mochten gerade eine Besatzung von hundert oder zweihundert Mann beherbergen, die anderen waren in der Lage, Hunderttausende oder gar Millionen Lebewesen aufzunehmen. Tausende verschiedener Antriebssysteme und Energiegewinnungsprinzipien waren vertreten. Der Heerzug der Heimatlosen war ein zusammengewürfeltes, uneinheitliches Chaos, bei dessen Anblick sich jeder terranische Verwaltungsbeamte unverzüglich die Kugel gegeben hätte. Grappa ließ über Funk die Ortungsdaten abgleichen mit denen, die die zuletzt einfliegenden Ringraumer aufnahmen. Von außen war demnach tatsächlich überhaupt nichts zu registrieren, selbst wenn man die Abmessungen und genauen Koordinaten, welche der Kokon einnahm, kannte. Der Ortungsschutz war absolut perfekt! »Ich messe Transmitterenergie an«, meldete Grappa. »Offenbar sind die Schläuche und Röhren nicht die einzigen Verbindungsmöglichkeiten zwischen den Räumern.« Dhark nickte; er hatte so etwas erwartet, eher aber noch Fährenverkehr. Bei einer Schlauchlänge von 200 Kilometern waren Zubringerboote fast sinnvoller als Transmitter, deren Impulse extra abgeschirmt werden mußten, weil sie in den Hyperbereich wirkten. 270 Dhark wagte anhand der Ortungsdaten nicht einmal ansatzweise zu schätzen, wie viele Völker sich hier versammelt hatten - Völker, die alle von ihren Heimatwelten vertrieben worden waren. Die es wie die Pscheriden geschafft hatten, sich der vollständigen Vernichtung durch die Zyzzkt zu entziehen. Es mußten Tausende sein.
Tausende, die Opfer der Zyzzkt waren, obgleich sie lebten -überlebten.
Nach und nach kamen die Bestätigungen; die letzten Ringraumer flogen ein und nahmen die ihnen zugewiesenen Positionen ein.
Kaum war das geschehen, als vom Flaggschiff der Heimatlosen aus flexible Schlauchverbindungen ausgefahren und an den Schleusen der Ringschiffe verankert wurden.
»Wir bitten freundlichst um Ihren Besuch«, hieß es über Funk.
Ren Dhark und Gisol betraten das Flaggschiff der Heimatlosen, begleitet von dem Römer Manlius und
den beiden Cyborgs Amy Stewart und Lad Oshuta. Stewart versuchte, in Dharks Mimik zu lesen. Oshuta
gehörte wie Alsop zu Dharks engsten Weggefährten. Hatte der Commander nach Alsops Tod Probleme
damit, andere Cyborgs einzusetzen, oder konnte er nach wie vor unbeeinflußt vom Geschehen
Einsatzbefehle erteilen?
Oder versuchte er, genau das zu überwinden, indem er ausgerechnet Oshuta und nicht einen der anderen
Cyborgs mitnahm?
Sicher, das hier war bestimmt kein Kampfeinsatz, der Lebensgefahr beinhaltete. Selbst wenn die
Heimatlosen sich als feindselig erweisen sollten, waren da zwanzig Ringraumer, die das Flaggschiff
flügellahm schießen konnten, falls es zu einer unangenehmen Situation käme. Stewart erinnerte sich an
den Bericht über das Auftreten des Singu der Rateken auf Terra, dem zwei Cyborgs Manieren beigebracht
hatten - und dessen Raumschiff von zwei Plashpiloten in einen Schrotthaufen verwandelt worden war, in
dem sie mit dem zerstörerischen SLE Kreise im Raumer flogen... ähnlich waren die Machtverhältnisse
auch hier - nur daß es keinen erkennbar feindseligen Hintergrund gab. Daß Dhark die Cyborgs oritnahm,
war wohl nur allgemeine Vorsicht und darüber hinaus
271
die Chance, daß deren Programmgehime bei Aktivierung des Zweiten Systems wesentlich mehr an
Informationen aufnehmen konnten als menschliche Sinne.
Denk nicht so viel darüber nach, rief sich Stewart, die noch nicht umgeschaltet hatte, selbst zur Ordnung.
Sie durchschritten den flexiblen Schlauch, wurden von einem Morhun in Empfang genommen und trafen
gleich darauf mit Gisol zusammen, der durch eine andere Schlauchverbindung aus der EPOY hierher
gekommen war. Der Morhun watschelte dienstbeflissen vor ihnen her und führte sie in einen
Konferenzsaal.
»Dieses Raumschiff«, erklärte der Morhun, »ist die Verwaltungszentrale, hier laufen alle Fäden
zusammen, hier werden alle Entscheidungen getroffen.«
»Wer hat entschieden, daß nur wir Begleiter, aber nicht eine Abordnung der Pscheriden hierher
eingeladen wurden, die doch Anschluß an den Heerzug der Heimatlosen finden sollen?« fragte Manlius.
»Ich weiß es nicht«, krächzte der Morhun. »Ich bin einer der Geringsten in diesem großen
Verwaltungsapparat.«
»Man schickt uns zur Begrüßung also kein hochrangiges Mitglied der Verwaltung, sondern eine
untergeordnete Krämerseele?« fragte Manlius.
Dhark berührte seine Schulter. »Sie könnten etwas diplomatischer sein«, mahnte er.
Der Morhun hingegen schien sich nicht beleidigt zu fühlen. Vermutlich war es ihm egal, was er tat - es
wurde ihm befohlen, also führte er es aus. Der typische Beamte. Und da es nicht seine Entscheidung war,
dachte er auch nicht darüber nach, was die Besucher von der Angelegenheit hielten.
Während sie durch die Korridore des recht großen Raumschiffs schritten, das von außen einer Flunder
glich (ähnlich den Raumschiffen der Amphis, nur mit erheblich größeren Abmessungen), informierte er
die Gäste über alles, was diese wissen wollten oder nicht. Er bestätigte Dharks Vermutung, daß die
Gitterkonstruktion um die Flotte den Ortungsschutz sicherte, zählte die Namen der Völker auf, die sich
dem Heerzug angeschlossen hatten, schilderte ihr Aussehen, ihren Charakter, benannte die Zahl ihrer
Raum-272
schiffe und deren Insassen, erzählte, wie lange sie dem Heerzug schon angehörten, welche Taten sie
vollbracht hatten, um die Lebensbedingungen aller Heimatlosen zu verbessern, nannte Jahreszahlen einer
Zeitrechnung, mit welcher weder die Terraner noch Gisol etwas anfangen konnten, redete von berühmten
Persönlichkeiten, plauderte auch über seine privaten Vorstellungen und Wünsche und Träume, redete und
redete und redete...
»Kann dieser Vogel nicht wenigstens mal für eine halbe Minute den Schnabel halten? Wenn der nicht
bald mit seinem Gegacker aufhört, schieße ich ihn ab«, stöhnte Manlius schließlich.
Da war der Morhun endlich doch beleidigt.
Und schwieg.
Als sie den großen Saal betraten, deutete er auf eine Reihe von Sitzplätzen. »Dorthin«, kommentierte er
verdrossen. »Der Rat wird tagen.«
Und schon war er verschwunden.
Manlius atmete auf. »Endlich«, seufzte er. »Also gut, nehmen wir Platz und harren der Dinge, die da
kommen werden.«
»Sie sollten wirklich etwas diplomatischer sein«, tadelte der Commander.
»Er ging mir auf die Nerven«, erwiderte der Römer. »Zum Teufel mit der Diplomatie. Ich habe nur
gesagt, was ich empfinde.«
»Dennoch - veritas odium parit.«*
Manlius verzichtete auf eine Antwort. Er schritt aus und nahm auf einem der brüsk zugewiesenen Sitze
Platz.
Ren Dhark sah sich um. Der Saal war riesig; er mußte einen enormen Teil des Raumschiffs einnehmen.
Das war um so erstaunlicher, als sie einen langen Weg durch die Korridore hinter sich hatten. Vielleicht
aber waren die verschlungen und gewunden, um Ankömmlinge und Bittsteller einzuschüchtern.
»Der Rat wird tagen«, hatte der Morhun gesagt.
Wahrhaftig schien dieser Saal für Ratssitzungen äußerst geeignet konstruiert zu sein. Es gab unterschiedliche Sitzgelegenheiten, die an viele nichtmenschliche Körperformen angepaßt zu sein schieLateinisch: »Wahrheit erzeugt Haß«
273 nen. Es gab ein Podium, auf dem hinter einem gestreckten Pult weitere dieser unterschiedlichen Sitze
montiert waren.
Der Commander war gespannt, mit welchen unterschiedlichen Lebensformen sie es hier zu tun
bekommen würden. Bei der Konferenz im Pscheridenraumer war es ja schon eine bunte Vielfalt gewesen.
Jetzt aber...
... lasse ich mich einfach überraschen^ dachte er.
Nur Augenblicke später tauchten die ersten Mitglieder des Rates auf. Der Saal füllte sich recht schnell.
Vertreter der unterschiedlichsten Völker nahmen ihre Plätze ein. Einige kannte Ren Dhark schon von der
ersten Besprechung an Bord des Pscheridenschiffes her, aber jetzt stellte sich heraus, daß das nur ein sehr
geringer Teil der großen Vielfalt war. Die meisten waren mehr oder weniger humanoid, aber es gab auch
Erscheinungsformen, die teilweise recht alptraumhaft waren.
Dhark wechselte einen Blick mit Gisol. Der nahm das Auftreten der anderen Entitäten mit Gelassenheit
hin. Nun, er war ein Wor-gun - er war in dieser Galaxis geboren, und er mußte wissen, was darin kreuchte
und fleuchte.
Sogar Wesen, die den Giants ähnelten, waren dabei. Dhark sprach Gisol auf diese Ähnlichkeit an, aber
der Worgun wehrte ab.
»Meine Vorfahren haben unsere Biostrukte ganz sicher nicht nach dem Vorbild dieser Rasse geformt«,
sagte er. »Das hatten wir niemals nötig.«
Dennoch war der Commander nicht sicher, ob nicht doch etwas von jenen Geschöpfen in die Produktion
dieses organischen Robotervolks eingeflossen war, das von den Terranem »Giants« genannt worden war
und die sich selbst als »All-Hüter« bezeichnete. Sie waren ein Kunstprodukt der Mysterious. Allerdings
hatten diese den Biostrukten niemals ihre eigene Technik zur Verfügung gestellt, sondern die »All-Hüter«
eine völlig eigene Technologie entwickeln lassen.
Dennoch war der Checkmaster der POINT OF seinerzeit in der Lage gewesen, nicht nur die Sprache der
Giants zu übersetzen, die
274 sich wie Schlangenzischen anhörte, sondern auch Betriebsanleitungen zu liefern, anhand derer Terraner Giant-Raumschiffe fliegen und überhaupt die Giant-Technik für sich nutzbar machen konnten. Manu Tschobe hatte von Anfang an behauptet, die Giants seien Roboter - und er behielt schließlich recht. Es waren Roboter mit organischer Struktur. Ihre Körper bestanden aus einer biologisch-anorganischen Substanz, die sich gegenseitig abzutöten und wiederzubeleben bemüht war, und gesteuert wurden sie von einem schlangenförmigen Programmgehim, das sich innerhalb des Gi-antkörpers befand, aber wie eine Atombombe explodierte, wenn man es zu entfemen oder gar zu öffnen versuchte. Interessanterweise mußten diese Kunstwesen eine bestimmte Art von Nahrung zu sich nehmen, um überlebensfähig zu sein. Im Gegensatz zu echten Robotern war es nicht damit getan, ihnen Batterien einzubauen, damit sie funktionierten. Gelbhäutig waren sie, mit furchteinflößenden Raubtierköpfen ausgestattet und mit vier Armen, von denen ein Armpaar aus völlig unverständlichen Gründen verkrüppelt war. Einen Grund dafür hatte auch Gisol nicht nennen können. Bei den Wesen, die hier im Ratsaal ihre Plätze einnahmen, war von einer solchen Verkrüppelung nichts zu sehen. Dennoch konnte Dhark sich des Eindrucks nicht erwehren, in diesen Wesen die Vorlage für die Giants zu sehen. Auch viele andersartige Geschöpfe tauchten auf. Sie alle bildeten den »Rat der Heimatlosen«. Der Rat tagte... Und Ren Dhark erhob sich und fragte: »Weshalb wurden wir eingeladen, nicht aber die Pscheriden?« »Sind Sie wahnsinnig?« flüsterte Amy Stewart ihm zu. »Eben noch haben Sie Manlius wegen seiner Undiplomatie gerügt, und jetzt...« Dhark winkte ab. Er sah die Ratsvorsitzenden, die auf dem Podium Platz genommen hatten, nacheinander an. »Ich erwarte eine Antwort.« Einer der Rats Vorsitzenden, ein tentakelbewehrtes Wesen mit zwei Köpfen, die aber jeweils nur über ein Auge verfügten, ergriff das Wort.
Mein Name ist Ona Then Grom«, sagte er. »Ich gehöre dem Volk der Saviper an. Terraner Dhark, die Pscheriden wurden nicht eingeladen, weil sie noch nicht offiziell zu uns gehören. Es ist auch nicht Ziel dieser Ratsversammlung, über ihre Aufnahme in den Heerzug der Heimatlosen zu beschließen. Sie hingegen, Terraner, wollen sich uns sicher nicht anschließen, aber wir sind an einem Informationsaustausch interessiert. Deshalb sind Sie hier und nicht die Pscheriden.« »Wäre es nicht wichtiger, zuerst über deren Schicksal zu entscheiden?« konterte Dhark. »Es wäre wichtig, wenn Sie ihnen nicht das Geleit gegeben hätten. Sie sTarnmen nicht aus dieser Galaxis, andernfalls würden wir Ihr Volk kennen. Uns interessiert, warum Sie hier sind und welchen Anteil Sie am Schicksal der Pscheriden haben. Die Chilp beobachteten den Kampf und den Untergang des pscheridischen Reiches. Plötzlich tauchten Sie auf und griffen sofort ein. Weshalb, Terraner Dhark?« »Wir sind für Gerechtigkeit«, sagte Dhark. »Und was die Zyzzkt den Pscheriden angetan haben, ist ungerecht. So mußten wir eingreifen und ihnen helfen. Sie«, er machte eine Kunstpause, »haben sich ja darauf beschränkt, zu beobachten.« »Und der erzählt mir was von Diplomatie«, seufzte Manlius auf Lateinisch und schüttelte den Kopf. Bevor der Zweiköpfige etwas erwidern konnte, fuhr Dhark fort: »Sie haben recht, wir sTarnmen nicht aus dieser Galaxis. Wir kommen aus Nai. Wir sind hier, um uns umzusehen und uns ein Bild von den hiesigen Verhältnissen zu machen.« »Das Bild scheint ja schon recht umfassend zu sein«, sagte Ona Then Grom. »Es reichte immerhin, Partei zu ergreifen.« »Was ist schlimm daran, sich auf die Seite der Unterdrückten, der Schwachen, zu stellen?« »Nichts. Aber dafür muß man stark sein. Wie stark sind Sie, Terraner?« Dhark lächelte. »Testen Sie uns«, sagte er. »Sie treten sehr aggressiv auf.« »Nicht aggressiv, sondern im Bewußtsein dessen, was wir sind und was wir können«, sagte Dhark. »Es sollte Ihnen reichen zu se 276 hen, daß wir Worgun-Raumschiffe benutzen.«
»Das tun die Zyzzkt auch«, warf ein anderes Ratsmitglied ein, das sich mit einem für Menschen völlig
unaussprechlichen Namen vorstellte und sein Volk als Tarr benannte; es atmete Sauerstoff, dem es aber
über ein Atemgerät ein zusätzliches Gasgemisch beifügte.
»Vergleichen sie die Raumer, die die Zyzzkt fliegen, mit unseren«, empfahl Dhark. »Vor allem, was den
Energiehaushalt angeht. Vielleicht beginnen Sie dann zu begreifen, wie stark wir Terraner sind.«
»Warum sind Sie hergekommen?« fragte ein dritter,
»Ich sagte es schon: um Informationen zu sammeln. Wir sind ein neugieriges Volk. Wir haben ein
Sprichwort, das heißt: Wissen ist Macht.«
»Mit Ihrem Wissen wollen Sie die Macht in Om an sich reißen?«
»Vielleicht die Macht der Zyzzkt brechen«, warf Manlius ein.
»Mit zwanzig Raumschiffen?« Ona Then Grom lachte mek-kemd. »Sie müssen wahnsinnig sein.«
»Wir«, sagte Dhark, »wollen nicht die Macht an uns reißen. Wir wollen uns nur umschauen. Wenn wir
dabei irgendwo helfen können, wie im Fall der Pscheriden, tun wir das. Nicht mehr und nicht weniger.
Wir sind Forscher.«
»Sie sind Spione«, sagte der Unaussprechliche. »Ihren zwanzig Schiffen folgen zwanzig Millionen.«
»Was hätten wir davon?« Dhark lachte. »Eine Galaxis beherrschen, die so weit von unserer entfernt ist?
Zehn Millionen Lichtjahre? Was hätten wir davon?«
»Die Worgun beherrschten viele Galaxien, von denen einige noch weiter entfernt waren.«
»Das ist lange her«, murrte Wraak, der Chilp. Dhark sah sich überrascht nach ihm um. Er hatte vorher
nicht registriert, daß der Kommandant der Xe-Flash-Flottille ebenfalls anwesend war.
»Die Worgun gibt es nicht mehr«, fuhr Wraak fort und trat nach vom. »Aber die Rettungsaktion für die
Pscheriden lief fast so gut, wie es geschehen wäre in der alten Zeit, als das Volk der Worgun noch
existierte. Etwas Gelungeneres, Perfekteres habe ich lange
277 nicht mehr erlebt.«
Gisol erhob sich stimrunzelnd. Er hatte auch jetzt seine übliche Gestalt angenommen: die des Terraners
Jim Smith.
Aber Wraak fuhr bereits fort zu erzählen und ließ sich nicht unterbrechen. Er berichtete ausführlich von
der Aktion, so wie er sie beobachtet hatte. Dhark war verblüfft über die Details, aber er machte sich rasch
klar, daß Wraaks Xe-Flash sich in unmittelbarer Nähe des umkämpften Planeten aufgehalten haben
konnten, ohne daß Terraner oder Zyzzkt in der Lage gewesen wären, sie zu orten.
»Es war, als wären die Worgun wieder auferstanden«, schloß Wraak schließlich.
»Vielleicht darf ich dazu auch mal etwas sagen«, blaffte Gisol verdrossen. »Der Chilp behauptet, es gäbe
keine Worgun mehr. Das ist falsch! Es gibt sie noch!«
»Und wo?« fragte der Unaussprechliche spöttisch. »Wo sind sie, die Worgun, die Mächtigen, die Hohen, wie sie einmal genannt wurden? Von den Zyzzkt ins Nichts gejagt, vernichtet, ausgelöscht für alle Zeiten!« Ins Nichts gejagt! Das löste in Ren Dhark eine Erinnerung aus. Damals, als er im Vitrinensaal der Statue des Goldenen Menschen auf dem Planeten Babylon plötzlich der konservierten Gestalt eines goldhäutigen Humanoiden gegenüberstand, dessen Gesicht operativ entfernt worden war, so wie auch alle die Statuen der Goldenen Menschen, die sie überall in der Galaxis und nun auch hier in Om gefunden hatten, kein Gesicht besaßen. Damals hatten sie die Goldenen für die Grakos gehalten. Und der semitelepathische Kommentar zu dem konservierten organischen Goldenen hatte gelautet: Ein Nichts im Nichts, und ins Nichts vertrieben. Der Commander versuchte sich von dieser Erinnerung zu lösen. Sie brachte ihn hier nicht weiter, da sie nur durch eine Formulierung ausgelöst worden war, aber andererseits waren die Terraner auch schon einem »richtigen« Goldenen Menschen begegnet, der ihnen einen S-Kreuzer gestohlen hatte... »Es gibt noch viele Worgun«, sagte Gisol. »Wo sie sich befinden? Auf Epoy, ihrer Heimatwelt! Und auf vielen Welten der 278 Zyzzkt als versklavte Techniker und Ingenieure! Aber es gibt auch noch freie Worgun, Rebellen, die
dafür kämpfen, die Zwangsherrschaft der Wimmelwilden zu brechen und sie ins Nichts zu vertreiben für
alle Zeiten!«
»Ist das nachprüfbar? Wohl kaum«, erwiderte der Unaussprechliche spöttisch. »Große Worte, Parolen,
Legenden. So wie die von Gisol dem Schlächter, der angeblich den Zyzzkt schon erhebliche Verluste
beibrachte. Aber was erleben wir? Die Zyzzkt gibt es immer noch, sie sind unbeeindruckt von dieser
Legende.«
»Eine Legende?« schrie Gisol. »Ja, wenn ihr mich als eine Legende bezeichnet - aber ich bin Gisol!«
Für fast eine Minute herrschte Stille.
Einige der Ratsmitglieder erhoben sich von ihren Plätzen.
Schließlich sagte Ona Then Grom: »Das ist lächerlich. Das ist eine Anmaßung. Du bist ein Terraner wie
Dhark und die anderen. Ihr sTarnmt aus Nai. Wie kannst du ein Worgun sein, wenn du aus Nai
sTarnmst?«
»Ich sTarnme nicht aus Nai, sondern aus Om«, fauchte Gisol ihn an. »Ich habe...«
»Still«, zischte Dhark ihm auf Angloter zu. »Verrate nicht zuviel!«
Der Heerzug der Heimatlosen mußte nicht alles erfahren - jetzt noch nicht!
»Ich habe die Terraner hergebeten«, sagte Gisol. »Sie sind meiner Einladung gefolgt.«
»Und weshalb?«
»Weil wir wißbegierig sind«, sagte Lati Oshuta. »Wenn du uns eingeladen hättest, Saviper, wären wir
ebenfalls hierher gekommen.«
Dhark schmunzelte. Der kleine Japaner schaffte es mit ein paar Worten, alles zu erklären und zugleich zu
verschleiern.
»Dennoch, es gibt keine Worgun mehr«, beharrten die anderen Rats Vorsitzenden. »Gisol ist nur eine
Legende, mit der man versucht, den Widerstand aufrechtzuerhalten. Aber in Wirklichkeit
279 sind sie alle längst ausgerottet.« »Was wißt ihr über die Worgun?« fragte Gisol. »Ist einer von euch ihnen schon einmal begegnet? Wie sehen sie aus? Was können sie - außer Raumschiffe fliegen und eine unübertreffliche Technologie zu beherrschen?« »Das hätte Are Doom hören müssen - der würde ihm jetzt an den Hals springen«, flüsterte Stewart Dhark zu. »Von wegen unübertrefflich...« Unter den Ratsmitgliedem brach eine erregte Diskussion aus. Nach einer Weile meldete sich einer aus dem großen Plenum zu Wort. »Wir wissen, daß die Hohen Gestaltwandler waren. Das heißt, daß sie ihr Aussehen nach Belieben ändern konnten, so daß jeder, dem sie sich zeigten, sie für Angehörige seines eigenen Volkes halten mußte.« Unwillkürlich fielen Ren Dhark die Raumanzüge ein, die sie in der POINT OF und auch in Depotkammem der Ringraumerhöhle auf dem hopeschen Inselkontinenten Deluge gefunden hatten; ge nug, bislang die gesamten Mannschaften der Terranischen Rotte damit auszustatten. Bedeutete das nicht, daß die Mysterious, die Worgun, sich innerhalb der Galaxis vorwiegend als Humanoide gezeigt hatten? Als Salter oder deren spätere Nachfolger, die Terraner? »Gestaltwandler«, sagte Gisol triumphierend. »Das ist richtig.«
Von einem Moment zum anderen begann er sich zu verwandeln.
Er nahm die Gestalt eines Chilp an.
Dann die eines Morhun.
Dann die des Tentakelwesens. Die eines Giants. Dabei hatte er Schwierigkeiten, in die terranische
Kleidung zu passen. Schließlich floß er völlig heraus und präsentierte sich in der Urform der Worgun, als
amöbenähnliches Zellgebilde.
»Ich bin ein Worgun. Ich bin Gisol, der Rebell!« sagte er.
Dann nahm er wieder menschliche Gestalt an, wobei er sich die extreme Mühe machte, in die am Boden
liegende Kleidung zurückzufließen, statt sie in perfekter Gestalt wieder anzuziehen.
Die Ratsmitglieder waren sehr schweigsam geworden.
Und dann plötzlich brach spontaner Jubel aus.
Es gab noch Worgun, und vor allem war der berühmt-berüch
280 rigte »Rebell der Mysterious« keine Legende, sondern Wirklichkeit. »Wir werden das feiern«, verkündete der Unaussprechliche. ielleicht ist dies der Tag, der ine neue Ära einleitet.«
16. Rückblende: Terra - 25. August 2058 Alamo Gordo - das Herz der Welt, wie die aufstrebende Stadt mit ihren gigantischen Stiel-Hochbauten inzwischen auch genannt wurde - lag unter dem hellen Licht der Vormittagssonne. Das am Westabfall der Sacramento Mountains gelegene frühere Handelszentrum eines gewaltigen Viehzuchtgebietes im südlichen New Mexico hatte in den vergangenen Jahren das noch immer halb zerstörte Worid City an Einwohnerzahlen deutlich überflügelt und war seit dem Ende der Giant-Invasion zur neuen Hauptstadt der Erde geworden. Es schien daher nur angemessen, daß die Stadt auch den größten Tiergarten Terras beherbergte. In den weitläufigen Anlagen des Zoos von Alamo Gordo war an diesem Tag - es handelte sich um den 25. August 2058, den Tag nach dem zurückgeschlagenen Angriff der Grakos auf die Erde* -etwas weniger Publikum zu finden als sonst. Was aber kaum auffiel; statistischen Erhebungen zufolge hielten sich ständig etwa zehntausend Tierfreunde hier auf. Vor allem Menschen, aber nicht nur. Ein aufmerksamer Beobachter bemerkte zwischen all den Terra-nem auch Dutzende von Individuen aus anderen Spezies. Unter den weitgespannten, lichten Kuppeln der einzelnen Bereiche herrschte ein babylonisches Stimmengewirr; Musik aus Akustikfeldern vermischte sich mit den Durchsagen in Angloter und einer Reihe anderer galaktischer Idiome. Siehe Drakhon-Zyklus Band 12, »Helfer aus dem Dunkel«
Alamo Gordo war in mehr als einer Hinsicht eine kosmopolitische Stadt, in der es keine kulturellen
Einschränkungen gab.
Dennoch erregte der in grellbunte Kleidung gehüllte Fremde mit seiner Echsengestalt beträchtliches
Aufsehen, der seit einiger Zeit vor dem Raubtiergehege auf einer Bank saß und den Eindruck erweckte,
als sei er in meditative Starre versunken.
Aber die Aufmerksamkeit der Terraner beschränkte sich darauf, ihn nur kurz anzustarren. Zu
Belästigungen kam es nicht, obwohl sein Anblick in gewisser Weise durchaus gewöhnungsbedürftig war.
Der Fremde hatte einen nur entfernt menschenähnlichen Kopf mit einem lippenlosen Mund, und statt
eines Gebisses besaß er Kauleisten aus Zahnbein - er war eindeutig Vegetarier, dessen Metabolismus auf
das Verdauen von Fleisch nicht eingerichtet war.
281 Auch besaß er anstelle einer Nase zwei Atemspalten oben auf dem Scheitel, der durch einen kleinen
Knochenkamm geteilt wurde.
Die Augen wurden von Nickhäuten verschlossen und wiesen senkrechte Pupillenschlitze auf.
Bei dem etwa 1,70 Meter großen Nichtmenschen handelte es sich um einen Walfen - und nichts lag dem
warmblütigen Echsenabkömmling femer als diese Beschaulichkeit, die er den Zoobesu-chem vermittelte.
Genau genommen fühlte er sich elend; seine schuppenhäutigen Wangen hatten eine dunkelrote Färbung
angenommen.
Üblicherweise schimmerten sie grünlichblau, so wie die Schuppen, die seine Haut bedeckten, doch nun
zeigten sie unverkennbar den Grad seines Unwohlseins an.
Walfen konnten sich nicht verstellen.
Wurden sie verlegen, nahm ihr Gesicht einen Goldton an.
Freude erzeugte einen hellbraunen Schimmer, Müdigkeit eine rosa Färbung. Trauer eine dunkelrote
Farbe; die Farbe des Zorns kannten sie nicht.
Auch weinten Walfen nicht.
Niemals.
Obwohl ihm eigentlich zum Weinen zumute war. Ihm, Danog ut
283 Keltris, dem letzten Überlebenden eines stolzen Volkes, der sich mitschuldig fühlte am vollständigen Untergang seiner Art und den Umständen dabei.* Jetzt stieß Danog einen Laut aus, der einem tiefen menschlichen Seufzer entsprach und Ausdruck seiner absoluten Einsamkeit war. Die fast geschlossenen senkrechten Pupillenschlitze weiteten sich leicht, als seine Aufmerksamkeit plötzlich von einem Vorgang geweckt wurde, der zunächst keine Bedeutung zu haben schien, obwohl er doch der Auslöser einer ganzen Kette von Ereignissen werden sollte. Einer dieser Vierbeiner, die die Menschen Hunde nannten, sprang mit lärmendem Kläffen auf das Tigergehege zu und zerrte an der straff gespannten Leine ein kleines Mädchen hinter sich her. Der Hund hatte es offensichtlich in eindeutiger Verkennung der Kräfteverteilung auf einen Tiger abgesehen, der nur wenige Schritte entfernt im Inneren des Geheges am Boden lag und scheinbar vor sich hindöste; nur das gelegentliche Zucken seiner Schweifspitze und das Spielen der Ohren zeigte die hohe Konzentration, mit der das Raubtier das Geschehen vor dem zwar unsichtbaren, aber für ihn unüberwindlichen Energiezaun verfolgte. Weiter in der Tiefe des Geheges bewegten sich die mächtigen Leiber von sechs anderen Tigern durch das hohe Gras. Das Gelände, in dem die Raubtiere untergebracht waren, war entfernt kreisförmig und mit harten Sumpf gräsem, Büschen und kleinen Bäumen bedeckt. Überhängende Felsen erhoben sich aus weißen Sandflächen und bildeten ein Art Riff - Rückzugszone für die Tiere und für die Wärter zugleich Zugang ins Innere, falls das aus irgendeinem Grund mal nötig werden sollte. Der Hund hatte jetzt die energetische Barriere erreicht, prallte mit der Schnauze dagegen und wurde von ihr zurückgestoßen. Er geriet zwischen die Beine des Mädchens und brachte es zum Straucheln. Das Menschenkind warf die Arme hoch, versuchte den Fall aufzufangen, verhedderte sich in der Leine und ging zu Boden. Se * c:„
Siehe Drakhon-Zyklus Band 3 »Der letzte seines Volkes« 284
künden später begann es zu brüllen und rief dadurch seine Mutter auf den Plan, die aufgeregt das schreiende Kind zu beruhigen und gleichzeitig das kläffende Fellbündel abzuwehren suchte, das der Meinung schien, alles sei nur eine weitere Variante eines lustiges Spiels. Der Tiger hatte sich erhoben; er riß den Rachen auf, und wildes Fauchen entwich seiner Kehle. Er lief ein paar Schritte hinter der Energiebarriere hin und her, dann sah er, daß sich für ihn nichts Lohnendes ergeben würde und ließ sich wieder nieder. Er legte den riesigen Schädel auf die Vorderpranken und schloß scheinbar gelangweilt die Augen. Ein paar winzige Zeiteinheiten später fiel Danog ut Keltris ein Mensch auf, der sich von der entgegengesetzten Seite wild mit den Armen gestikulierend einen Weg durch die Menge bahnte, wobei er mit lauter Stimme auf die Besucher einredete. Einige schimpften und griffen sich mit eindeutigen Gesten an die Stirn, andere waren empört und wandten sich ab. Kinder begannen zu weinen. Und Stimmen erhoben sich, die nach den Ordnungshütern riefen. Der Walfe verfolgte das Geschehen von seinem Platz aus mit nur mäßigem Interesse. Wenngleich er das Angloter inzwischen perfekt beherrschte und sich auch sonst intensiv mit den Sitten und Gebräuchen dieser Spezies auseinandersetzte, waren ihm die Menschen selbst noch weitgehend fremd, und er hatte nicht vor, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen. Als der Mann näherkam, konnte der Walfe verstehen, was der Terraner, gekleidet in weite, wallende Gewänder, lauthals verkündete. Es handelte sich offenbar um einen religiösen Eiferer, der Weltuntergangsstimmung predigte und das nahe Ende der Menschheit durch den Sturz in das entartete Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße ankündigte. Sein Fehler schien zu sein, daß er die Zuhörer mit rüden Worten aufforderte, vorher Selbstmord zu begehen, um in den Genuß der Reise durch das Schwarze Loch zu gelangen, was aber keinem so recht zu behagen schien, den heftigen Reaktionen zufolge, die sein 285
Wunsch beim Publikum erzeugte. Der weltfremde Eiferer war inzwischen auf der Höhe Danog ut Keltris9 angelangt, der mit einem innerlichen Kopfschütteln (angenommen, Walfen waren zu derlei Reaktionen fähig) den Auftritt des Weltuntergangspredigers verfolgte, der sich immer mehr in Rage redete, während er sich einer Gruppe Kolonisten näherte -was ihn in unmittelbare Nachbarschaft zum Energiezaun des Tigergeheges brachte und diese aufforderte, auf der Stelle Selbstmord zu begehen. Alles steuerte auf eine körperliche Auseinandersetzung zu, die der Irre wohl kaum ohne ernsthafte Schäden überstehen würde. Die Kolonisten waren allesamt einen Kopf größer als der Fanatiker und machten den Eindruck, Steine mit bloßen Händen zertrümmern zu können. Ehe jedoch die Sache eskalieren konnte, waren auch schon die auf den Plan gerufenen Ordnungshüter des Zoos zur Stelle. Die Männer handelten mit zuverlässiger Professionalität: Sie bildeten einen abschirmenden Kreis um den Fanatiker, einige beruhigten die aufgebrachten Besucher, ein anderer trat vor. »Sicherheit«, sagte er und zückte seine Marke. »Würden Sie bitte mitkommen? Sie stören den...« Bevor er ausgesprochen hatte, warf sich der Fanatiker auf die Sicherheitsmänner in seiner unmittelbaren Nähe, brachte sie aus dem Gleichgewicht und rannte dann durch den so aufgebrochenen Kreis. Ein Ordnungshüter versuchte, ihn aufzuhalten. Ohne ihm auch nur einen Blick zu gönnen, versetzte der rabiate Eiferer dem Mann einen Hieb, der ihn zu Boden schleuderte. Einige Besucher schrien, liefen überhastet zur Seite und auseinander, während der Flüchtende in sein Gewand griff und einen kleinen, zylinderförmigen Gegenstand aus der Tasche zog. Der niedergeschlagene Sicherheitsmann am Boden schrie entsetzt auf. »Vorsicht! Weg! Duckt euch! Er ist bewaffnet!« Vielleicht zwanzig Meter entfernt sah Danog ut Keltris, der letzte Walfe des Universums, wie mehrere Sicherheitsleute mit gespreizten Beinen in Stellung gingen und ihre Schockwaffen auf den Flüchtenden anlegten, der im Laufen herumwirbelte und den 286 Arm hob.
Ein durchdringendes Surren erhob sich, das eindeutig den Zylinder als Ursache hatte.
»Eine Bombe!« gellte eine Stimme auf. »Mein Gott! Er hat eine Bombe! Eine BOMBEEE!«
Die erschrockenen Zoobesucher stoben davon, weg aus der Gefahrenzone.
Niemand kümmerte sich um die junge Mutter mit dem noch immer schreienden Kind auf dem Arm und
dem mit hoher Frequenz kläffenden Hund, der vor ihr hin und her sprang und sie daran hinderte, ebenfalls
Reißaus zu nehmen.
»NEEEIIIN!« schrie jemand, als der Fanatiker eine ausholende Bewegung machte und die Bombe mit
einem irren Gelächter in Richtung Energiebarriere schleuderte, die die Tiger von den Besuchern des Zoos
trennte.
Es war in der Tat so etwas wie eine Bombe.
Eine Oszillationsgranate.
Sie diente dazu, das Gefüge der absperrenden Energiefelder aufzubrechen, um einen Durchgang zu
schaffen. Menschen konnten durch sie nicht verletzt werden, aber das wußte keiner der Zoobesucher,
weshalb sich einige auf den Boden warfen, andere irgendwie Deckung suchten und wieder andere einfach
stehenblieben, ungerührt von dem, was um sie herum geschah.
Der Donner einer kurzen scharfen Detonation verursachte für einen Moment Taubheit, eine Druckwelle
fegte über den Platz und wirbelte Staub und Abfälle auf, um dann sofort wieder abzuflauen.
Nun waren die energetischen Absperrungen der Raubtiergehege mit mehrfach redundanten
Sicherheitsvorrichtungen versehen, die im Falle eines Versagens der Barriere sofort die Unversehrtheit
der Absperrung wiederherstellten.
So auch in diesem Fall.
Dennoch war für die Dauer von mehreren Sekunden ein klaffender Riß in der Absperrung entstanden...
und durch die Öffnung glitt wie ein gestreifter Schemen die Raubkatze. Eine tödliche Kampfmaschine aus
Sehnen, Muskeln und gewaltigen Reißzäh-ten, die in der Sonne wie geschliffene Dolche glänzten,
schickte sich an. Beute zu schlagen.
287 Die Luft war starr vor Stille.
Die Natur schien auf etwas zu warten.
Jedermann hielt den Atem an.
Die Stille dehnte sich... und wurde jäh gebrochen, als die Frau mit dem Kind auf dem Arm herumwirbelte
und mit entsetzt aufgerissenen Augen auf den Tiger starrte, der keine zwanzig Meter von ihr entfernt den
Rücken krümmte, um zum Sprung auf sie anzusetzen.
»Bitte - jemand muß ihn aufhalten!« Die Stimme der Frau steigerte sich zu einem Kreischen und
überschlug sich am Ende. Das Kind weinte und schrie ebenfalls, als es die Angst der Mutter spürte. Der
Hund suchte jaulend und mit eingezogenem Schwanz das Weite.
Hinter der Raubkatze schloß sich knisternd die offene Stelle in der Energiebarriere, als die Ersatzsysteme
ansprangen, die Störung beseitigten und den alten Zustand erneut herstellten. Nur ein ganz schwaches
Flimmern zeigte noch an, daß die Absperrung wieder aktiv war.
Der mächtige Leib der Raubkatze zog sich noch mehr zusammen, die Ohren legten sich eng an den
riesigen Schädel, und die Lefzen zogen sich vom Gebiß zurück.
Dann sprang der Tiger.
Der erste geschmeidige Satz ließ die Entfernung zu seiner auserkorenen Beute bis auf wenige Meter
zusammenschrumpfen.
In einer fließenden Bewegung setzte er zum zweiten Sprung an...
... als sich eine buntgekleidete Gestalt auf ihn stürzte und ihn umklammerte.
Danog ut Keltris.
Wäre der Walfe ein normaler Mensch mit normalen Reflexen und Emotionen gewesen, wäre er
vermutlich zu spät gekommen, so aber überwand er in unglaublicher, mit dem menschlichen Auge kaum
feststellbarer Geschwindigkeit die Distanz zwischen sich und der Raubkatze.
Aufgewachsen auf einem Planeten mit einer Schwerkraft von 1,5 Gravo, verfügte Danog im Vergleich zu
Menschen über enorme Körperkräfte - neben ein paar anderen Vorzügen. Als Walfe
288 hatte er an jeder Hand sechs Finger, von denen die beiden außenstehenden als Daumen füngierten. Dadurch konnten er viel besser greifen als jeder fünffingrige Humanoide. An den Füßen besaß er sechs Zehen, mit einer großen Zehe rechts und links am Fuß, was ihn in die Lage versetzte, wesentlich schneller zu laufen als jeder Mensch. Deshalb erreichte er auch den Tiger, ehe dieser die Frau •nut dem Kind packen konnte.
Das Tier und Danog überschlugen sich, ein in sich verschlungenes Knäuel aus gelbem Fell und bunter
Kleidung rollte über den ^ Boden.
ar Die Raubkatze schlug dabei nach dem Walfen, aber die mörderischen Krallen zerfetzten nur die Kleidung Danogs und erwischten lediglich ein paar Schuppen seiner Haut, was kein großer Verlust für den Walfen war, da sich diese laufend selbst erneuerten. Die gewaltige Katze stieß ein heißeres Röhren aus. Übelriechender Atem drang in die Nasenspalten Danogs — und im nächsten Augenblick wurde der Tiger ruhig. Seine Angriffslust erschlaffte. Er setzte sich auf seine Hinterläufe und fauchte leise vor sich hin. Danog erhob sich. Neben seiner Hüfte glänzten die fürchterlichen Fänge der Raubkatze. Seine Hand griff in das Fell des Tigers und kraulte es mechanisch. Die Riesenkatze wirkte völlig friedfertig und hatte nichts mehr von einer blutrünstigen Bestie an sich, zufrieden schnurrend rieb sie sich an Danogs Hüfte. Die Zuschauer starrten erst stumm, bevor sie wie auf ein geheimes Zeichen hin kräftig zu applaudieren begannen. Danog bewegte verwirrt den Kopf. Im Mittelpunkt einer derartigen Aufmerksamkeit zu stehen, irritierte ihn sichtlich. Die Frau mit dem kleinen Mädchen bahnte sich einen Weg durch die staunende Menge und entfernte sich überhastet, froh, noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein. Es kam ihr nicht einmal in den Sinn, sich bei dem Außerirdischen zu bedanken. (Vermutlich war er ihr kaum weniger unheimlich als der Tiger.) Der Weltuntergangsprophet nutzte die Gunst des Augenblicks und verschwand still und heimlich im allgemeinen Durcheinander. Einige winzige Zeiteinheiten später tauchte ein wuchtiger Gleiter auf, an dessen Flanken unübersehbar
der Schriftzug ZOOSICHERHEIT prangte. Mehrere Männer mit entsicherten Paraschockern sprangen ins
Freie, kaum daß sich der Gleiter auf den Boden gesenkt hatte. Zu ihnen gesellten sich die
Sicherheitsleute, die bereits vor Ort waren, und die die Neugierigen aus der Gefahrenzone drängten.
Schließlich bildeten sie einen halbkreisförmigen Bogen um Da-nog und den Tiger.
Die Raubkatze wurde nervös. Sie erhob sich, bewegte sich unruhig. Die Schwanzspitze peitschte durch
die Luft. Doch unter dem Druck von Danogs Hand entspannte sie sich und kauerte sich wieder nieder.
»Wenn Sie zur Seite treten würden, Sir«, riet der Teamleiter aus sicherer Entfernung Danog ut Keltris und
hob die schwere Betäubungswaffe, »dann könnten wir unsere Arbeit tun.«
»Ich bitte Sie, Mensch«, rief Danog zurück. »Halten Sie sich fern und erteilen Sie keinen Schießbefehl.«
»Und was soll ich statt dessen tun?«
Es war eine rhetorische Frage; der Teamleiter hatte seine klar umrissenen Anweisungen für Fälle wie
diesen.
»Haben Sie Verbindung mit der Zentrale?«
Das habe er, bestätigte der Mann mit einer gewissen Vorsicht; man konnte ja nicht wissen, was der Nichtmensch beabsichtigte. »Ordnen Sie an, daß man eine Öffnung im Energiezaun schaltet. Ich bringe den Tiger dann zurück ins Gehege.«
»Einfach so?« Der Teamleiter wirkte verwirrt und verblüfft zugleich. »Einfach so«, bestätigte der Walfe in tadellosem Angloter, »und lassen Sie die Waffen verschwinden. Sie sehen doch, daß das Tier völlig harmlos ist.« Zögernd bewegte der Mann den Kopf. Man erkannte, daß ihn widerstreitende Gefühle beherrschten. Aber schließlich gab er seine Anweisungen, und die Schocker verschwanden in den Hol-stem. Die Männer blieben dennoch sehr wachsam; manche der Gesichter waren unnatürlich angespannt, verstohlen legten sich Hände auf die Kolben der Schocker, während der Einsatzleiter 290 über sein Kombigerät in einen für Danog ut Keltris unhörbaren Dialog mit der Zooleitung trat.
Das Zwiegespräch mit der Zentrale dauerte etwa eine Minute.
Als Ergebnis bildete sich hinter Danog und dem Tiger eine senkrechte Spalte im Energiezaun, wuchs in
die Breite, bis man schließlich bequem hindurchgehen konnte.
»Eine kluge Entscheidung, Mensch... Sir«, sagte Danog. Er wandte sich um, ging auf den Durchgang zu;
der Tiger wich nicht von seiner Seite.
Vor der Öffnung im Zaun verhielt Danog - der Tiger tat es ihm nach.
Danog trat einen Schritt zurück - der Tiger wich ihm nicht von der Seite.
Jemand schien die Medien informiert zu haben. Ein Schwärm Gleiter hatte sich eingefunden, an deren
Flanken sowie im Heck-und Bugbereich in wuchtigen Blockversalien das Wort PRESSE stand.
Blitzlichter zuckten auf, Kameras surrten, und ein Tohuwabohu an durcheinanderfragenden Stimmen
wurde hörbar.
Danog mühte sich noch immer ab, den Tiger dazu zu bewegen, durch die Öffnung ins Innere des Geheges
zu laufen.
»Ja, ja, unsere Miezekätzchen sind anhänglich«, erreichte den Walfen die leicht spöttische Stimme eines
Mannes, dessen Kleidung ihn als dem Zoo zugehörig auswies. »Sie werden ihn wohl oder übel begleiten
müssen.«
Der Walfe machte eine Bewegung, die man wohl als Schulterzucken interpretieren konnte und trat durch
die Energiebarriere;
der Tiger folgte ihm auf dem Fuß.
Danog bat den verantwortlichen Leiter vom Sicherheitspersonal, den Zaun zu schließen, um so jede
Gefahr für die Zoobesucher auszuschließen.
»Auf Ihre Verantwortung«, rief der Mann mit skeptischer Stimme. »Sind Sie sicher, daß Sie wieder
lebend da rauskommen?«
Seine Skepsis schien berechtigt, denn kaum war Danog in dem Gehege, gerieten die nahegelegenen
Grasinseln in Bewegung, zwei weitere Tiger traten schattengleich heraus und gesellten sich zu Danog und
seinem Begleiter.
291 Weitere Schatten bewegten sich, zogen geradlinig durch das Gelände in Richtung des Walfen, dann noch
einer, ein dritter. Plötzlich standen insgesamt sechs riesige Tiger um Danog herum.
Unter den gestreiftten Fellen zeichneten sich dicke Muskelstränge ab. Bei den Tieren handelte es sich um
Klone von auf der Erde längst ausgestorbenen Exemplaren, dennoch waren sie nicht minder gefährlich als
die ehemaligen Originale, ungeheuer schnell und wendig, mit entsetzlichen Fängen. Prachtexemplare
ungezügelter Wildheit, allesamt von den Barthaaren bis zur Schwanzspitze fast vier Meter messend, mit
einer Schulterhöhe nicht unter einem Meter.
Die Zoobesucher waren starr vor Schrecken. Jedermann schien auf das zu warten, was unweigerlich jede
Sekunde eintreten mußte. Aber nichts geschah. Danog ließ sich mitten zwischen den Raubkatzen auf
einem Felsen nieder und streichelte die Tiger, die um ihn herumstrichen wie zahme Schoßhündchen.
Die Presseleute traten sich gegenseitig auf die Füße, stießen Laute der Überraschung aus, fluchten und
betätigten unaufhörlich die Auslöser.
»Verdammt«, rief jemand mit heiserer Stimme, »das ist einfach unmöglich! Niemand wird mir in der
Redaktion glauben, wenn ich mit dieser Story komme!«
Und die Pressemeute war noch immer Zugange, als Danog ut Keltris längst seine Spielgefährten durch
eine Gittertür im rückwärtigen Versorgungsgebäude des Tigergeheges verlassen hatte.
Der nächste Tag.
Früher Vormittag.
Der in stumpfem Grau lackierte Gleiter verringerte seine Fahrt und bremste mit absterbendem Summen
auf dem Platz vor dem vielgeschossigen Bauwerk mit seiner Fassade aus Mehrschichtglas und molekular
verdichtetem Leichtmetall.
»Warten Sie hier, Tyron«, sagte der Fahrgast zu dem Piloten und verließ den Fond des schweren Gleiters.
Er blieb vor dem Riesenbauwerk stehen, und seine Blicke ver
292 weilten einen Moment auf der kühnen Architektur.
»Beeindruckend«, murmelte er. »Die Regierung läßt sich wirklich nicht lumpen. Jetzt weiß ich, weshalb
unser Finanzhaushalt ständig am Ruin entlangschlittert.«
Irgendwie klang es vorwurfsvoll.
Dabei war es nicht so gemeint.
Der Mann war schlank, wirkte in seinem Auftreten ein bißchen linkisch, fast unbeholfen. Sein Gesicht
mit den hellgrünen Augen erweckte meist den Eindruck, als könne er kein Wässerchen trüben.
Dieser Eindruck täuschte.
Er war einer der gewieftesten Spezialagenten der Erdregierung und nicht von ungefähr Leiter der
legendären GSO.
Bei dem Mann handelte es sich um Bernd Eylers.
Gekleidet war er sportlich-leger in eine hüftlange Jacke mit aufgesetzten großen Taschen, schwarze Hose,
blaues Polohemd mit offenem Kragen. Die linke Jackentasche war ausgebeult. In ihr steckten ein paar
zusammenfaltete Zeitungen. Nichts an dem Mann verriet, daß er bewaffnet war.
Eylers setzte sich in Bewegung und ging auf die Eingangshalle des Bauwerkes zu, bei dem es sich um
eine Einrichtung der Erdregierung handelte, ein Gästehaus für hochrangige Besucher aus den Kolonien
sowie Regierungsvertreter nichtmenschlicher Zivilisationen.
In diesem Spezialbau, vierzig Stockwerke hoch, der zu den aufwendigsten und modernsten Alamo
Gordos zählte, befanden sich Apartments, in denen die Umweltbedingungen sämtlicher bekannter Welten
erzeugt werden konnten.
Eylers sah auf sein Chrono und zog die Brauen hoch.
Wo nur die Zeit blieb?
Rasch ging er auf die sechsteilige schwere Glastür zu, die sich selbständig auffaltete, und durchquerte die
Halle. Ein rundes Dutzend A-Gravröhren und Turbolifte mündete in das weitläufige Atrium, das sich über
drei Ebenen erstreckte.
Eylers betrat einen der Lifte - schlanke Säulenröhren aus transparentem Material, die durch sämtliche
Etagen bis zur Gleiterplatt-fonn auf dem Dach des Gebäudes führten -- und schwang sich im
achtunddreißigsten Stockwerk aus dem aufwärtsgepolten Energiesog. Kurz orientierte er sich an den
Piktogrammen.
Er war richtig.
Nur wenige Schritte noch, und er stand vor dem Apartment, das dieser Walfe von der Terra-
Administration für die Dauer seines Aufenthaltes auf der Erde zur Verfügung gestellt bekommen hatte.
Eylers klingelt, doch eine Weile geschah gar nichts.
War dieser Danog ut Keltris nicht zu Hause?
Konnte nicht sein, nein. Jemand von der Administration hatte sich mit dem Hausverwalter in Verbindung
gesetzt und sich vergewissert, daß der Walfe anwesend war. Vielleicht wollte er nur nicht öffnen, weil er
vermutete, von einer Horde von Presseleuten überfallen zu werden, nachdem er gestern für gehöriges
Aufsehen gesorgt hatte?
Eylers streckte noch einmal die Hand nach dem Summer aus...
Danog ut Keltris öffnete die Tür.
»Bernd Eylers«, sagte Eylers, »Regierungsvertreter.«
Er blickte auf den Walfen hinab, den er um mehr als einen Kopf überragte.
»Regierungsvertreter«, sagte Danog in klarem Angloter. »Habe ich richtig verstanden?«
»So ist es.«
»Dürfte ich bitte Ihren Ausweis sehen?« verlangte der Walfe, der in ein schreiend buntes Gewandt
gekleidet war, das seine muskulöse, geschuppte Echsengestalt verbarg und nur Kopf, Hände und Füße
freiließ.
»Natürlich.« Der Chef der Galaktischen Sicherheitsorganisation zückte die schmale, in eleganten
Schwarz- und Blautönen gehaltene Karte und reichte sie dem Walfen, der sich seit dem Untergang von
Walf und der gesamten Population des Planeten auf Terra ins freiwillige Exil begeben hatte.
Der überprüfte sie, las den Namen BERND EYLERS mit der vorangestellten Zahl l, und vertiefte sich
dann in den Text auf der Rückseite:
»Der Inhaber dieses Ausweises ist Spezialagent der GSO und mit sämtlichen Vollmachten entsprechend dem Gesetz über Geheim- und Sicherheitsdienste (GüGuS) in der Fassung vom 01. Ja-294 nuar 2055 ausgestattet. Militär und Sicherheitsorgane sind angewesen, seinen Anordnungen bedingungslos Folge zu leisten.« Der Signaturstreifen trug die Unterschrift Ren Dharks, des Commanders der Planeten.
Danog gab den Ausweis zurück.
»Seien Sie mir willkommen«, sagte er und gab den Eingang frei.
Eylers trat über die Schwelle - und ging ächzend leicht in die Knie, als das Schwerefeld von 1,5 g
unvermittelt an ihm zerrte. Er hatte das Gefühl, als packe man ihm einen Rucksack mit der Hälfte seines
Eigengewichts auf die Schulter.
Als Danog ut Keltris erkannte, daß sein Besucher mit den von der Regel abweichenden
Gravitationsverhältnissen in seinem Apartment seine Schwierigkeiten hatte, bat er um Verzeihung und
regulierte die Belastung auf Erdnorm herunter. r »Besser?« erkundigte er sich. »Ich war unbedacht,
verzeihen Sie, Mr. Eylers.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Mr. ut Keltris. Es ist Ihr Refugium. Sie haben ein Recht, so zu
leben.«
Danog verzog den lippenlosen Mund auf eine Weise, die verflixt an ein Lächeln erinnerte.
»Lassen wir doch das höfliche Geplänkel und die gegenseitigen Beteuerungen, wer hier welches Recht
hat... was führt Sie zu mir?«
Er ging tiefer in die Einraumwohnung und bat den Chef der GSO näher.
Danog ut Keltris' Refugium war weder geräumig noch sonderlich luxuriös. Es enthielt auch kaum
Mobiliar. Eine A-GravIiege an der einen Längswand, ein paar merkwürdig geformte Sitzgelegenheiten
mit einem Tisch dazwischen, eine aufwendige Supra-sensoreinheit mit einem 360-Grad-Holoschirm und
einer Konsole. Eine Tür gleich neben dem Eingangsbereich führte in die Naßzelle. Der riesige Spiegel an
der Stirnwand war ein jetzt polarisiertes Fenster, aus dem man üblicherweise einen Blick über Alamo
Gordo hatte.
Das winzige Apartment erinnerte Eylers fatal an eine Gefängniszelle.
War es das für den Walfen?
Ein Gefängnis?
Dieser Zustand bedurfte dringend der Änderung, fand Bernd Eylers.
Er griff in die Tasche seiner Jacke und breitete die Zeitungen auf dem Tischchen aus.
»Wissen Sie, daß Sie seit Ihrem heldenmütigen Einsatz gestern im Zoo in aller Munde sind?«
»Ich befürchtete es«, erwiderte der Walfe und die Schuppen seiner Wangen changierten, zeigten einen
kräftigen Goldton. »Ich schäme mich dafür, ein solch unangebrachtes Aufsehen verursacht zu haben.«
»Papperlapapp«, versetzte Bernd Eylers. »Sie sind einfach zu bescheiden, hat Ihnen das schon mal
jemand gesagt? Dir Verhalten war in keinster Weise ungebührlich. Aufsehenerregend ja, ungehörig nein.
Im Gegenteil, Sie haben durch Ihr beherztes und mutiges Eingreifen vermutlich einigen Menschen das
Leben gerettet und hätten dafür eigentlich eine Belohnung verdient.«
»Die schönste Belohnung für eine gute Tat ist es, sie gemacht zu haben«, erwiderte Danog ut Keltris
schlicht.
Bernd Eylers hob anerkennend die Brauen.
»Wahre Worte«, nickte er. »Sagen Sie, ut Keltris«, brachte er das Gespräch wieder auf die gestrigen
Vorkommnisse, »was ist dort im Zoo geschehen? Wieso werden in Ihrer Nähe wilde Bestien zu
handzahmen Schmusekatzen?«
»Wenn ich das nur selbst wüßte«, gestand der Walfe. »Offen gesagt habe ich keine Erklärung dafür. Wir
Walfen waren schon immer vor den meisten wilden Tieren auf unserem Planeten sicher, lebten in
Einvernehmen mit ihnen. Auch unter uns selbst war Streit praktisch unbekannt.«
»Die meisten? Gibt beziehungsweise gab es Einschränkungen?«
»Vorsehen mußten wir uns lediglich vor den freßgierigen Bestien mit primitiven Gehirnen, den
Baumwürmem, Krallenmolochen und Würgebarks. Vor denen hatten wir auf der Hut zu sein. Aber
warum fragen Sie?«
»Wie gefällt Ihnen ihr freiwilliges Exil auf der Erde?« wechselte Eylers ohne ersichtlichen Grund das
Thema.
»Ich bin dankbar, daß ich hier sein darf«, versetzte Danog.
296 »Aber...?«
»Es ist keine Lösung für einen Walfen, ohne fest umrissene Aufgabe zu sehen, wie die Tage in
Eintönigkeit vergehen.« Die üblicherweise grünlichblaue Schuppenhaut seines Gesichtes nahm die
dunkelrote Farbe der Trauer an.
»Verstehe.«
»Wirklich?«
»Nein, natürlich nicht«, gestand Eylers offen mit einem entschuldigenden Tonfall. »Aber ich könnte
etwas gegen diese Ereig-nislosigkeit Ihres Lebens tun. Wie wäre es, wenn Sie in unsere Dienste treten
würden?«
»Ihr Vorschlag hat einen gewissen Reiz«, bekannte Danog, »weil mein Leben seit dem Untergang meiner
Welt von Einsamkeit und Leere erfüllt ist. Aber ich bin vermutlich nicht die richtige Wahl für Sie.
Geheimdienstoperationen - sagt man so? - liegen mir nun mal nicht. Ich bin mehr den schöngeistigen
Dingen zugewandt.« »Das hat nichts mit geheimdienstlicher Tätigkeit zu tun«, präzisierte Eylers. »Sie wären ausschließlich in diplomatischer Mission unterwegs, sozusagen als von der Regierung eingesetzter Mediator zwischen neu zu entdeckenden oder bereits entdeckten Zivilisationen einerseits und der Erde andererseits. Nicht mehr und nicht weniger. Mit Ihrem Einfühlungsvermögen und der Fähigkeit zur Integration wird es Ihnen gelingen, Aggressionen und Animositäten zwischen den unterschiedlichsten Kulturen schon im Vorfeld der Erstkontakte abzubauen. Sie scheinen eine Ihnen nicht bewußte parapsychologische Gabe zu besitzen, die bei allen einigermaßen intelligenten oder mit Vernunft begabten Wesen Einvernehmen mit Ihnen erzeugt.« »Jetzt interpretieren Sie aber eindeutig zu viel in mich hinein, Mr. Eylers«, sperrte sich Danog. »Sie können doch gar nicht sicher sein, ob ich zu so etwas fähig bin. Ich bin mir ja selbst nicht sicher.« »Das könnte man herausfinden«, versetzte Bernd Eylers. »Wir besitzen auf dem Erdtrabanten eine Institution mit hervorragenden Wissenschaftlern, die sich ausschließlich der Erforschung von Pa rabegabungen widmen. Dorthin würde ich Sie schicken. Sollten 297 sich Ihre latenten Fähigkeiten tatsächlich als zu unausgeprägt erweisen, um auf Dauer Wirkung zu zeigen, entsteht keinem ein Schaden. Wenn es sich allerdings herausstellen sollte, daß Sie diese Fähigkeiten besitzen und nur nicht richtig damit umgehen können, wird Ihnen dort alle Hilfe zuteil werden, so daß Sie jederzeit gezielt auf diese Fähigkeit zugreifen können, wann immer es sich als nötig erweist.« Danog schwieg lange, seine Augen waren hinter den Nickhäuten verborgen. Schließlich öffnete er sie und sah Bernd Eylers an. »Alles ist besser als ein Leben ohne Ziel«, bekannte er. »Ich akzeptiere.« »Sie nehmen an?« vergewisserte sich Bernd Eylers noch einmal. »Ja.« »Gut. Damit erhält diese Unterredung den Charakter eines Vertrages.« »Dieses Institut, von dem Sie sprachen, wie komme ich dahin?« Jetzt erschien erstmals ein leichtes Grinsen auf Eylers Gesicht. »Darüber müssen Sie sich keine Gedanken machen. Es ist bereits alles arrangiert. Sie werden morgen Nachmittag von Cent Field aus mit einem TF-Zubringer auf direktem Weg nach Tycho City gebracht, wo man sich Ihrer annimmt.« Jetzt war es an Danog ut Keltris, Erstaunen zu zeigen. »So sicher waren Sie sich, daß ich akzeptieren würde?« »Sicher? Nein. Überzeugt!« erwiderte der GSO-Chef trocken. Er stand auf, noch immer einen amüsierten Zug um den Mund, und verabschiedete sich, ehe sich der Walfe von seiner Überraschung erholen konnte.
Monate später - Luna, Ende Januar 2059 Der Arbeitsraum des Direktors war groß, was sich aber kaum bemerkbar machte, da er so überladen war, daß schon wieder bedrückende Enge entstand. Überall standen Monitore und Standvi-phos herum, machten sich Holoschirme, Konsolen und Suprasensoren breit. 298
Seth Macat besaß zwar mehrere Büros, die alle mit sachlicher Zweckmäßigkeit und einer kühlen, unpersönlichen Architektur eingerichtet waren, aber da war er kaum zu finden. Es sei denn, Tycho City bekam Besuch von Repräsentanten der Erdregierung, und er mußte Eindruck schinden. Doch Tycho City bekam selten Besuch. Das Forschungszentrum für parapsychologische Phänomene -wie seine offizielle Bezeichnung lautete erhob sich nahe des lu-naren Nordpols, zirka fünfhundert Kilometer vom ausgedehnten WallisWerksgelände entfernt. Auf der Mondoberfläche wiesen lediglich ein kleiner Raumhafen und eine Kreisfläche von einem Kilometer Durchmesser auf die Lage des Schulungszentrums für Kinder mit besonderen Begabungen, so die geläufigere Bezeichnung für das Institut (der Volksmund hatte ein paar weniger wissenschaftliche Ausdrücke dafür), hin. Im Mittelpunkt der Kreisfläche erhob sich die 120 Meter hohe Panzerplastkuppel wie eine gigantische Blase, die aus den Tiefen des Monduntergrundes emporgestiegen war. Strahlend weiß, um die Temperaturschwankungen des langen Mondtages besser auszugleichen. Seth Macats Finger schlugen hin und wieder kleine Trommelwirbel auf die Platte des Arbeitstisches, während er die morgendlichen Berichte der einzelnen Abteilungen studierte und abzeichnete, sobald er sie gelesen hatte. Seth Macat war ein mittelgroßer, etwas korpulenter Mann mit blondem, an den Schläfen bereits grauschimmemdem Haar und blaßblauen Augen, die seinem Gesicht einen Ausdruck kindlicher Unschuld verliehen. Doch das war nur eine Maske, hinter der sich ein überragender Intellekt verbarg - und noch
etwas mehr, denn der Schuldirektor war ein starker A-Klasse-Empath und besaß mehrere
wissenschaftliche Titel.
Das Tischvipho summte.
Macat runzelte kurz die Stirn. Dann drückte er eine Taste.
»Was gibt es, Reggie?« fragte er.
Auf der kleinen, farbigen Bildscheibe sah ihm das Gesicht seiner Sekretärin entgegen. Ein verteufelt
hübsches Gesicht, mit faszinierenden grünen Augen.
Ihre kühle, lässige Stimme antwortete:
299 »Mr. Eylers möchte mit Ihnen verbunden werden, Sir.«
»Stellen Sie durch und legen Sie das Gespräch auf den Holoschirm, bitte.«
»Natürlich, Direktor.«
Die junge Dame verschwand vom Viphoschirm.
Seth Macat lehnte sich zurück, während sich auf der anderen Seite des Arbeitstisches das Hologramm
aufbaute, in dem Bernd Eylers bis zur Hüfte in Lebensgröße zu sehen war. Es hatte den Anschein, als
säße er dem Direktor unmittelbar gegenüber.
»Freut mich, Sie zu sehen, Bernd!« grüßte der Parapsychologe den Chef der Galaktischen
Sicherheitsorganisation im fernen Ala-mo Gordo. »Was kann ich für Sie tun?«
Eylers grüßte zurück.
»Stichwort Danog ut Keltris«, kam er ohne Umschweife und ganz wie es seine Art war zur Sache.
»Haben sich unsere Vermutungen erhärtet?«
Seth Macat nickte, ohne das Gesicht zu verziehen. »Sie haben«, bestätigte er. »Sie haben.«
Mit einem langen Blick musterte ihn Bernd Eylers.
»Und?«
»Positiv. Danog ut Keltris ist in der Tat in der Lage, ein Parafeld zu erzeugen, das bei anderen Wesen
Einvernehmen und Friedfertigkeit herstellt. Früher hat er sich dieser Gabe wohl unbewußt bedient, dank
unserer hervorragenden Lehrer und Wissenschaftler kann er diese Paragabe jetzt gezielt einsetzen.
Wir haben intensive Tests durchgeführt, haben Menschen in extreme Streßsituationen versetzt und sie
dann mit ihm zusammengebracht - sie alle legten sofort ihre aggressive Einstellung ab, wurden friedlich,
waren zu keinerlei bösartigen Reaktionen mehr zu bewegen. Mit höheren Tieren gelang das Experiment
ebenfalls. Die genauen Einzelheiten und die dabei angewendeten Verfahrensweisen entnehmen Sie bitte
dem Bericht, den Ihnen mein Büro in Kürze zusenden wird.«
Bernd Eylers nickte. »Bitte veranlassen Sie, daß eine Kopie an Henner Trawisheim geht. Wir werden
Danog ut Keltris in Kürze zurück nach Alamo Gordo bringen lassen. Herzlichen Dank, daß Sie mir etwas
Ihrer kostbaren Zeit geopfert haben.«
300 Seth Macat machte eine vage Geste, die alles und nichts bedeuten konnte.
»Aber das ist doch selbstverständlich«, gab er mit unbewegtem Gesicht zu verstehen. »Es wird sich auch
nur unwesentlich auf die Höhe unseres Honorars auswirken, wie ich Ihnen versichern möchte. Immer
gern zu Diensten, Bernd!«
Der Direktor trennte mit einem spöttischen Lächeln das Gespräch.
Gegenwart - Anfang Mai 2059 Die SPECTRAL ging in den Hyperraum und sprang wieder heraus; diese Prozedur vollführte sie bereits
zum 14. Mal. Die relativ kleine Sternschnuppe, wie die Raumschiffe der 50-Meter-Pantherklasse im
allgemeinen genannt wurden, verfügte nicht über die hocheffizienten Maschinen großer Schiffe, um die
Entfernung von Terra bis zur Heimatwelt der Gönn in einer einzigen Transition überbrücken zu können;
man mußte den Konvertern Gelegenheit geben, sich zu erholen.
Je mehr Sprünge sie absolvierte, um so mehr veränderten sich die Bilder, die auf den Schirmen zu sehen
waren.
Die Sternenballungen wurden weniger, standen nicht mehr so eng beieinander.
Immer mehr entfernte sich das Schiff vom Kernbereich der Galaxis, jenem Feuerrad aus Sternen und
Nebeln, aus Gaswolken und PlanetensySternen, das die heimatliche Milchstraße darstellte.
Völlig neue Sternkonstellationen erschienen auf dem Hauptschirm - und waren nach dem nächsten
Sprung wieder verschwunden. Auf den Femtastem wurden die charakteristischen Linien der Spiralgalaxis
dünner und flüchtiger; sie veränderten mehr und mehr ihr Aussehen und verschwanden schließlich ganz.
Der Teil des Weltalls, der vor der SPECTRAL lag, wurde dunkler;
in der Schwärze zeichneten sich immer weniger Lichtpunkte ab. Mehr und mehr schwanden die Sterne.
In einer weitgeschwungenen Parabel näherte sich die Stern-
301 schnuppe unter Roy Vegas Kommando den Koordinaten, die sie in den kaum erforschten Seitenarm führte, in dem die Sonne Kimik und der von den Gönn bewohnte Planet Külä von der Besatzung der CHARR unter dem Kommando Frederic Huxleys entdeckt worden war.* Ein neuer Sprung... Dann glitt die SPECTRAL aus dem Hyperraum und materialisierte emeut im Normalraum. Die Sichtschirme zeigten in einer Rundumsicht den Weltraum. Tastersignale wisperten, und die Schiffssensoren belieferten die Überwachungsmonitore mit Informationen. Vom Halbrund des Schirmverbundes strahlten weit verstreut die Sterne dieses Sektors der Milchstraße. Ihre Konstellationen schwangen sich als plastische Muster über den Schirm, bildeten in Fahrtrichtung einen zerfaserten, langgestreckten Ast, dessen Ausläufer schließlich mit der Unendlichkeit des schwarzen Hintergrundes verschmolz. Roy Vegas im Kommandantensessel der kreisförmigen Zentrale blickte von einer Anzeige zur anderen, um sich ein Urteil über ihre Lage zu verschaffen. Sein markantes Gesicht, von wachen, blauen Augen dominiert, wirkte ungerührt - in Wirklichkeit aber fühlte er sich etwas unbehaglich. Ein Gefühl, das ihn begleitete, seit sie von Cent Field losgeflogen waren, und das sich jetzt noch etwas verstärkte. Aber vermutlich war das normal - schließlich befand man sich inzwischen weit vom heimatlichen System entfernt in einer unbekannten Region. Im Leitstand hielten sich im Augenblick nur Mitglieder der Besatzung auf. Der nichtmenschliche Gast namens Danog ut Keltris befand sich in seiner Kabine; auch sein Botschaftspersonal, bestehend aus vier Terranem, zwei weiblichen, zwei männlichen, glänzte durch Ab wesenheit. Die Männer und Frauen, allesamt Spezialisten auf ihrem Gebiet, sollten im Rahmen der diplomatischen Mission des Walfen auf Külä terranische Technik installieren: Hypersender, * Siehe Drakhon-Zyklus Band 17: »Terra Nostra«
302 Suprasensoren und die dazu nötige Peripherie.
Der Botschafter reiste mit großem Gepäck.
Dieses umfangreiche Gepäck bestand aus zwanzig stoßsicheren Normkisten, die im Laderaum III der
SPECTRAL untergebracht waren. In diesen zwanzig Kisten befanden sich vor allem die wertvollen
Komponenten zum Aufbau der Hyperfunkstrecke von Gönn nach Terra. Deklariert als MESSGERÄTE!
MIT VORSICHT BEHANDELN! ZERBRECHLICH!
Umfangreichstes Teil dieser Ladung war allerdings ein transportabler, voll gekapselter Meiler in
Mikrokompaktbauweise - zur Energieversorgung des Hyperfunks, falls die Gönn kein Äquivalent dazu
besaßen.
»Mister McGraves!«
Der Kopf des Ersten Offiziers und Navigators der SPECTRAL ruckte herum; er belegte den Platz des
Kopiloten, um sofort einspringen zu können, wenn Not am Mann sein sollte.
»Kapitän?«
»Status?«
»Alle Systeme im grünen Bereich, Sir«, meldete der vierzigjährige Schotte McGraves, dessen hagere
Gestalt im Verein mit seinem stets leicht traurig blickenden Gesicht Anspielungen auf Cervantes" »Don
Quichote« erlaubte.
»Nichts zu sehen dort draußen?«
»Nein, Sir«, sagte McGraves und warf ihm einen Blick zu.
Der Schotte konnte sich nicht helfen, er fühlte sich ein wenig unbehaglich neben dem Kapitän, der ihm
auf eine unbestimmte Art und Weise noch immer ein Rätsel aufgab.
Äußerlich bot der kräftige, 1,86 Meter große Mann das Bild eines Vierundsiebzigjährigen - er war 1985
geboren - mit allen Konsequenzen, die ein derartiges Alter nun mal von der menschlichen Natur forderte.
Nun gehörte man in einer Zeit, in der das menschliche Durchschnittsalter mittlerweile einhundertvierzig
Jahre betrug, mit Vierundsiebzig noch lange nicht zum alten Eisen. Und tatsächlich betrug das
biologische Alter des grauhaarigen »Marsianers«, dessen Vorliebe für Kirschkuchen inzwischen auf dem
Schiff die Runde machte, auch erst sechsundzwanzig Jahre. Und seine körperliche Fitneß stellte noch
jeden jüngeren Mann an
303 Bord der SPECTRAL in den Schatten. Roy Vegas' Problem lag auf einer anderen Ebene. Es hatte seinen Anfang im Jahr 2011 genommen, als er als Kommandant der ersten Marsexpedition zusammen mit drei weiteren Astronauten in der Nähe des Marssüdpols als erster Mensch den Fuß auf den roten Planeten setzte - und während einer Erkundungsmission zu den Eisfeldern des Pols mit einem der damals eingesetzten Spezialfahrzeuge spurlos verschwand. Er wurde niemals gefunden, trotz intensiver Suche seiner drei Kameraden, die schließlich ohne ihn den Rückflug zur Erde antreten mußten...
Seit damals hatte er als verschollen gegolten.
Man wartete noch einige Zeit, ehe man ihn für tot erklärte.
Eine verständliche, wenn auch voreilige Maßnahme, wie sich später herausstellen sollte.
Denn in Wirklichkeit geriet Roy Vegas in die Gewalt des »Einsamen« und verbrachte 47 endlose Jahre in
einem Nährlösungstank, mißbraucht als »Gesprächspartner« gegen die Langeweile eines intelligenten,
verstandesbegabten Rechners, der ihn überwältigt hatte, als er in die im Marsboden verborgene Kaverne
eines noch immer unbekannten Robotervolkes eingedrungen war, die er bei seinem Ausflug entdeckt
hatte.
Er war zwar bei Bewußtsein gewesen, aber ohne jede Möglichkeit, sein Wissen zu erweitem
beziehungsweise an Lebenserfahrung zu gewinnen. In der Tat datte sich die Fortentwicklung der
Menschheit ohne ihn vollzogen. Sogar die Giant-Invasion, die die Erde beinahe vollständig zerstört hätte,
hatte er quasi »verschlafen«. Allerdings entwickelte er in dieser Zeit ein unübertroffenes
Einfühlungsvermögen in die Arbeitsabläufe komplexer Rechner und in die Denkvorgänge künstlicher
Intelligenzen.
Seit Roy Vegas vom Mars zurück war, befreit aus den Fängen des »Einsamen der Zeit« galt sein ganzes
Bestreben, Versäumtes nachzuholen. Jeden Tag gelangte er dabei zu neuen Erkenntnissen. Doch mit
»echten« Siebzigjährigen konnte er noch immer nicht mithalten, dafür mangelte es ihm einfach an der
nötigen Erfahrung...
Roy Vegas räusperte kurz und wandte sich erneut an seinen 1.0.
»Können wir, ehester?«
304 McGraves streckte den Daumen nach oben.
»Jederzeit«, versicherte er.
»In Ordnung, I. 0., machen wir unseren letzten Hüpfer... wir wollen schließlich unseren Teil zum
Gelingen dieser Aktion beitragen.«
»Aye, Kapitän.«
17. Die Feier fand in einem anderen, noch etwas größeren Saal des Flaggschiffs statt. Diesmal wurde auch zumindest ein Pscheride eingeladen - General Gutter. Der untersetzte, massige Mann fühlte sich in der für ihn ungewohnten Schwerkraft nicht sehr wohl; er war von Pscherid l ,49 Gravo als normal gewohnt. Daß die Terra-ner und Römer an Bord der Evakuierungsschiffe unter der für sie hohen künstlichen Gravitation gelitten hatten, war ihm allerdings durchaus bewußt. An Bord des Heimatlosen-Flaggschiffs herrschte überall eine Schwerkraft von 1,05 Gravo, wie Amy Stewart ermittelt hatte. Also durchaus erträglich für die Terraner und offenbar ein Kompromiß zwischen den Ansprüchen der verschiedenen Völker, deren Abgesandte sich hier trafen. Die Feier war recht bizarr. Auch jetzt trugen, wie bei der Versammlung oder auch zuvor beim ersten Zusammentreffen, einige der Teilnehmer Druckanzüge, weil sie andere Luftgemische benötigten oder aus anderen Gründen mit der Umgebung nicht zurechtkamen. Aber offenbar störte das niemanden. Irgendwie kamen sie alle gut miteinander aus. Gutter wollte sich darüber beschweren, daß man weder ihn noch einen oder mehrere der von den Überlebenden seine» Volkes gewählten Politiker zu der Ratssitzung eingeladen hatte und auch jetzt bei der Feier nur ihm den Zugang gewährte, nicht aber den anderen. Doch Ren Dhark riet ihm, den Ball flach zu halten und erst einmal ruhig zu bleiben. »Andere Länder, andere Sitten, heißt ein Sprichwort auf meiner Heimatwelt«, sagte er. »Wer als Fremder in eine andere Zivilisation gerät, muß sich dieser anpassen, wenn er keinen Ärger haben will - oder er muß sich völlig isolieren. Ihr Volk, General, ist hier in diesem Heerzug fremd. Es kann 306 passieren, daß man Sie wieder ausschließt, wenn die Pscheriden nicht bereit sind, die hiesigen Gebräuche zu akzeptieren. Da muß man auch gewisse Eigenheiten in Kauf nehmen, die allerdings auch ich als krassen Affront ansehe.« »Nun gut«, sagte Gutter in der zischend-reibenden Sprechweise seines Volkes. »Wir warten ab, was geschieht. Denn wie auch immer: In unserer Situation sind wir auf Gedeih und Verderb auf die Hilfe dieser Heimatlosen angewiesen. Wenn sie uns wieder ausstoßen, sind wir verloren. Auf uns alleingestellt, haben wir gegen die Zyzzkt keine Chance. Sie werden uns finden und auch die letzten von uns ausrotten.« »Ich hoffe immer noch, daß es irgendwo auf Ihrem Planeten Überlebende gibt, General«, sagte Dhark. »Du bist ein Träumer, Ren«, sagte Gisol. »Ein hoffnungsloser Optimist. Die Zyzzkt dürften inzwischen auch den letzten pscheri-dischen Bergbauem gefunden und ausgerottet haben.« »Selbst wenn jemand überlebt hat«, sagte Gutter voller Bitterkeit, »was ist das für ein Leben, ständig auf
der Flucht vor den Invasoren zu sein? Oder versklavt zu werden und für die Zyzzkt arbeiten zu müssen?«
»So wie mein Volk«, sagte Gisol. »Immer wieder holen sie die besten von uns, mißbrauchen ihre
Fähigkeiten, um neue Techniken zu entwickeln, mit denen sie noch mächtiger werden. So wie sie einst
auch mich holten. Und niemand kann etwas dagegen tun. Die Untergrundbewegung ist zu schwach, und
sie ist ihrerseits längst unterwandert von Verrätern, die hoffen, sich durch ihre Spitzeltätigkeit ein wenig
mehr Freiheit erkaufen zu können. Meist werden sie erst durch ihren Tod frei.«
»Trotzdem hast du nie aufgegeben zu kämpfen«, sagte der weißblonde, breitschultrige Terraner.
»Man darf nie damit aufhören«, sagte Gutter. »Wer nicht mehr für seine Rechte kämpft, hat verloren.«
Im nächsten Moment schrie er gellend auf.
Er schwebte durch die Luft, wie fast alle anderen Teilnehmer der Feier ebenfalls.
Die künstliche Schwerkraft im Flaggschiff war ausgefallen!
307 Sekunden später war von Feierstimmung nichts mehr zu spüren. Optische und akustische Alarmsignale
wiesen auf höchste Gefahr hin.
Blitzschnell waren die beiden Cyborgs bei Dhark und Gisol, um sie abzuschirmen. Manlius und Gutter
waren für sie ebenfalls wichtig, aber zweitrangig.
Den Cyborgs machte die fehlende Schwere wenig zu schaffen. Sie schalteten im Moment des Ausfalls auf
ihr Zweites System um. Von diesem Moment an kontrollierten die Programmgehime ihre Bewegungen.
Während andere Teilnehmer des Festes hilflos durch die Luft schwebten, miteinander kollidierten und
sich mühsam wieder zu entwirren versuchten, zogen Stewart und Oshuta ihre Schutzbefohlenen aus dem
unmittelbaren Durcheinander heraus und sorgten dafür, daß sie festen Halt fanden.
»Was ist passiert? Werden wir angegriffen?« rief Dhark Ona Then Grom zu.
Der Saviper zeigte sich ratlos.
Eine Erschütterung durchlief den Raumer. Wieder wurden die Insassen durcheinandergewirbelt. Die
Alarmsignale wurden lauter und hektischer.
Dhark schaltete sein Armbandvipho ein. »POINT OF, melden! Was zur Hölle ist los?«
Dokemtar gehörte zum Rat der Heimatlosen. Er war ein Luware, humanoid, aber mit sechsfingrigen
Händen und im Vergleich zu Terranem schmalen Ohrmuscheln. Mit einer Masse von etwa 65 Kilogramm
und einer Größe von fast zwei Metern wirkte er schmächtig und zerbrechlich, befand sich mit diesem
Aussehen aber im Durchschnitt seines Volkes.
Das war neun Millionen Individuen groß und hatte sich schon vor langer Zeit mit 18 Schiffen in den
Heerzug der Heimatlosen eingegliedert. Das bedeutete, daß in jedem der Schiffe rund eine halbe Million
Luwaren lebten. Die walzenförmigen Raumkörper
308 durchmaßen bei einer Länge von 7000 Metern etwa 2000 Meter. Zog man den Platz ab, den Antrieb und Energieversorgung sowie die hydroponischen Anlagen zur Nahrungserzeugung benötigten, blieb mehr als genug Raum für jeden einzelnen Luwaren. Die meisten hofften trotzdem, daß die endlose Odyssee bald ihr Ende fand - egal, auf welche Weise. Am besten natürlich, indem man einen geeigneten Planeten besiedeln konnte. Aber es gab keine geeigneten Planeten. Dafür sorgten schon die Zyzzkt, die alle bewohnbaren Welten förmlich überschwemmten und für sich beanspruchten. Und wenn dort schon jemand wohnte, wurde der Planet einer »Zwangsräumung« unterzogen, wie jüngst bei den Pscheriden. Von Jahr zu Jahr wurde die Situation schwieriger. Die totale Geburtenkontrolle, der sich die Luwaren unterzogen, half da auch nicht viel. Die Lage wurde immer angespannter. Das wußten die anderen natürlich auch, von denen viele vor ähnlichen Problemen standen. Nur wenige Völker hatten ihre Vermehrungsrate wirklich im Griff. Bei ihnen handelte es sich zumeist um jene, die keine Sauerstoffatmer waren und von Welten mit Überschwerkraft sTarnmten. Für eine Periode von fünf Jahren war Dokemtar zum Abgeordneten der Luwaren für den Rat der Heimatlosen gewählt worden. Er nahm diese Aufgabe wahr, weil er dafür ausgewählt worden war und weil sie seinen Interessen entgegenkam. Die prächtige Feier kam diesen Interessen ebenfalls entgegen -nicht aber das Auftauchen Gisols. Während der Ratssitzung konnte Dokemtar nur schwer verbergen, daß er über die Anwesenheit des Worgun alles andere als erfreut war, aber zu seinem Glück achtete niemand auf ihn. Ein Worgun, ein »Hoher« - und noch dazu der Rebell Gisol, das meistgesuchte Individuum der Galaxis Om! Es gab die Worgun also doch noch. Und es gab diesen Gisol! Er war hier... ausgerechnet...! Dokemtar verließ die prächtige Feier, kaum daß sie begonnen hatte. Niemandem fiel sein Verschwinden
auf. Zu euphorisch war die Stimmung der anderen Heimatlosen, die plötzlich darauf setz 309 ten, daß der Worgun-Rebell die Rettung für Om brachte und den Zyzzkt die Fühler knicken würde. Das war die Gelegenheit, einen seit langem vorbereiteten Plan in die Tat umzusetzen. Dokemtar begab sich in die Tiefen des Flaggschiffs, durcheilte die gewundenen Korridore und achtete sorgsam darauf, daß niemand ihn bemerkte. Nach kurzer Zeit erreichte er einen kleinen Raum, von dessen Existenz niemand etwas wußte, weil Dokemtar ihn selbst eingerichtet hatte - er hatte durch einen größeren Raum eine dünne Trennwand gezogen und eine getarnte Tür eingebaut, die niemand durch Zufall entdecken konnte. Aber Dokemtar hatte noch mehr getan. Er hatte einen Rechner installiert, den er jetzt einschaltete. Über eine schwache Funkverbindung, die vermutlich nicht einmal der internen Überwachung auffiel, weil gerade im Flaggschiff unglaublich viele Verbindungen drahtlos hergestellt wurden, schaltete dieser Rechner sich in das Computemetzwerk des Flaggschiffs und der gesamten Flotte ein. Dokemtar gab eine Reihe von Programmbefehlen ein, die unverzüglich an die gesamte Flotte übertragen und von den Bordrechnern der Schiffe ausgeführt wurden, da sie mit Überrangcode vom Flaggschiff kamen. Das Chaos brach aus.
»Was los ist, Ren? Das hätte ich gern von euch erfahren!« stieß Dan Riker hervor. »Schwerkraftausfall, Alarm! Werden wir angegriffen? Was habt ihr in der Ortung?« wollte der Commander wissen. »Mit Sicherheit kein Angriff von außen«, erwiderte Riker. »Aber die Raumer taumeln dermaßen durcheinander - da muß ein kompletter Kontrollverlust stattfinden! Die Schiffe versuchen ihre Positionen zu verändern, abzubremsen oder zu beschleunigen, sich zu drehen. Das führt zu Brüchen in den starren Verbindungen, auch einer der flexiblen Schläuche ist eben gerissen. Ich seh's in der Bildkugel. Da gleich knallen zwei Raumer mit den Flanken 310 gegeneinander. Ren, das kommt nicht von draußen. Da müssen interne Schäden vorliegen!«
»Als würde ein Computervirus alles durcheinanderbringen«, murmelte Hen Falluta neben Riker. »Das ist
es, da müssen Fehlschaltungen laufen! Wir selbst bekommen nichts davon mit, weil wir nicht mit der
Flotte vemetzt sind. Aber die sind doch untereinander alle verbunden und...«
Riker nickte. Auf seinem Kinn erschien ein kleiner roter Fleck, deutliches Zeichen seiner Erregung. »Ren,
ihr solltet da 'raus! Zum Teufel mit nachbarschaftlichen Verbrüderungsfeieern! Wenn einer von den
großen Räumern gegen euer Schiff knallt, gibt das 'ne prächtige Feuerbestattung!«
»Wir schicken Ihnen Flash, Commander«, mischte sich Falluta ein. »Sie sollten die Schlauchverbindung
auf keinen Fall benutzen, um zur POINT OF zurückzukehren! Zu unsicher. Wir werden sie von der
Schleuse abwerfen!«
»Keine Flash, Falluta!« kam es von Dhark zurück. »Wir bleiben noch hier an Bord. Wenn wir jetzt
verschwinden, wird man vielleicht uns die Schuld an dem Desaster geben.«
»Trotzdem«, sagte Riker. »Falluta hat recht. Wir kappen den Schlauch, ehe den einer im Blindflug
erwischt und uns selbst aus der Position zieht. Wenn ihr 'rauswollt, gebt Nachricht. Die Flash sind ab
sofort in Startbereitschaft!«
»Verstanden«, sagte Dhark. »Hier geht gleich einiges rund. Wir melden uns wieder.«
Die Feier war beendet. Ratsmitglieder versuchten, zurück zu ihren Schiffen und ihren Völkern zu
komftien, aber Ona Then Grom und einige andere warnten davor, die Verbindungsröhren und Schläuche
zu benutzen, aus dem gleichen Grund, den auch Riker genannt hatte.
Ona Then Grom hatte den Festsaal in eine Kommandozentrale verwandelt!
Von hier aus versuchte er sich einen Überblick zu verschaffen. Aber die Störungen im Computemetz
sorgten auch hier dafür, daß
311 keine klaren Ergebnisse kamen. Über Funk liefen Meldungen ein, daß nur manuelles Eingreifen der Piloten bisher das größte Chaos verhindert hatte. Dennoch war es zu mehreren Kollisionen gekommen. Einer der Raumer war dermaßen leckgeschlagen, daß er komplett evakuiert werden mußte, zwei weitere brannten. Ren Dhark erschauerte. Wer auch immer für dieses Desaster verantwortlich war - er hatte den möglichen
Tod von Millionen Lebewesen billigend in Kauf genommen. An einen normalen Systemausfall konnte
Dhark nicht glauben.
Er wartete nur darauf, daß jemand auf die Idee kam, den Neuankömmlingen die Schuld daran zu geben...
Und gerade deshalb durften sie jetzt nicht gehen. Es wäre wie ein Schuldeingeständnis gewesen.
Der Saviper versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Das Computemetzwerk mußte abgeschaltet
werden, Befehle durften nur noch über Funk direkt an die Kommandozentralen der Schiffe weitergeleitet
werden. Bordinteme Rechner waren auf ihre Integrität zu prüfen, ehe sie eingesetzt werden durften, um
die Manö-vrierbarkeit der Raumer wiederherzustellen und die Lebenserhaltungssysteme weiter zu
kontrollieren. Bis dahin lag alles in der Verantwortung der jeweiligen Piloten und Kommandanten.
Warum ausgerechnet jetzt? fragte sich Ren Dhark, und sicher nicht nur er.
Warum geschieht es genau zu diesem Zeitpunkt?
Vielleicht hätte Dokemtar es ihm sagen können. In dem geheimen Raum war der Luware immer noch
aktiv. Er gab neue Befehle in den Rechner ein, die eine weitere vorbereitete Aktion auslösten.
Ein Startschacht wurde geöffnet und katapultierte eine Funksonde hinaus in den Weltraum. Sie glitt
zwischen den taumelnden Raumschiffen hindurch und flog unbemerkt durch die Öffnung im Tarngitter
hinaus in den freien Raum außerhalb des Heerzugs.
Die Besatzungen der Schiffe hatten genug damit zu tun, Kollisionen zu verhindern und ihre internen
Rechnersysteme wieder
312
einzurichten. Niemand achtete auf die winzige Sonde, die ihren Weg suchte, um eine Botschaft zu
überbringen...
Tino Grappa gehörte nicht umsonst zu den besten Ortungsspezialisten der TF. Er saß während seiner
Dienstzeit nicht nur da und drehte Däumchen, um auf eingehende Signale zu warten, sondern ließ
routinemäßig immer die Umgebung abtasten.
So auch jetzt, obwohl es genug eingehende Signale gab - Tasterechos, die zeigten, welches Chaos im
Heerzug der Heimatlosen herrschte. Da die terranischen und worgunischen Ringraumer nicht mit der
Flotte vemetzt waren, waren sie von dem Desaster nicht betroffen, aber trotzdem war es besser
aufzupassen, als eine Kollision zu riskieren.
Plötzlich entdeckte Grappa ein ganz kleines Echo.
Ein Trümmerteil, abgesprengt von einem der Raumer, die mit einem anderen Schiff zusammengestoßen
waren?
Das konnte nicht sein. Die kollidierenden Schiffe waren zu weit entfernt, als daß ein Trümmerteil so
schnell an diese Posiüon hätte gelangen können.
»Was ist?« fragte Yell, dem Grappas Aktivität auffiel.
»Da fliegt was, was eigentlich nicht fliegen sollte... und das strebt dem Tor im Netz zu!«
Eine Ahnung ließ ihn die Funk-Z anrufen. »Walt, ich gebe Ihnen die Flugdaten eines Objekts! Können
Sie das mit der Echokontrolle checken?«
War Grappa zum Hellseher geworden?
»Volltreffer, Tino«, meldete Brugg. »Das ist ein betriebsklarer Hypersender, und verdammt
leistungsfähig, wenn ich meinen Anzeigen vertrauen darf...«
Grappa rief zum Leitstand durch, dem die Ortung im offenen Bereich angegliedert war, während die
Funkzentrale eine eigene Bude hatte. »Riker, da ist eine Funksonde auf dem Weg nach draußen! Peilung
kommt!«
Einen Moment später hatte Riker das Ortungsbild im Holo-schirm und schaltete es auch gleich zu Falluta
weiter. »Fast wäre
313 mir das Ding entgangen, so klein ist's«, hörte er Grappa sagen. Riker schaltete zur Funk-Z durch. »Verbindung zum Flaggschiff!« »Kommt sofort...« Riker wollte bei der Flottenführung nachfragen, was es mit dieser Sonde auf sich hatte. Er hatte plötzlich das gleiche ungute Gefühl, das auch Grappa gepackt hatte. Hier stimmte etwas nicht. Es konnte kein Zufall sein, daß diese Sonde das Netz genau in dem Moment verließ, in welchem der Heerzug gegen das totale Chaos ankämpfte. »Sorry, Riker - wir kommen nicht durch! Bei den Heerzüglem sind alle Frequenzen total überlastet, die legen wohl jetzt alles auf den Normalfunk, was sonst über den Netzfunk ging...« »Dharks Vipho?« schlug Falluta vor.
Riker schüttelte den Kopf. Gerade verließ die Sonde den Torbereich nach draußen. Dabei beschleunigte
sie unglaublich stark.
»Wenn die gleich in den Hyperraum geht, wundert mich gar nichts mehr...«
Riker fragte nicht bei Grappa nach, ob die Energieleistung des Sondenantriebs dazu in der Läge war.
Seine Hände flogen über die Steuerschalter und brachten sie in andere Positionen. Der Ring-raumer
schwang herum und nahm ebenfalls Kurs auf das Tor.
»Waffensteuerungen! Bereitmachen zum Sondenabschuß! Wer möchte gern?«
Jean Rochard und Bud Clifton, die beiden Chefs der Waffensteuerungen Ost und West, meldeten sich
gleichzeitig klar.
»Rochard, Sonde anpeilen!«
»Lassen Sie doch mich das machen«, maulte Clifton, der Mann mit dem Kindergesicht, der immer einen
kleinen Tick schneller war als sein Kollege aus der WS-Ost.
Der Ringraumer jagte aus dem Tor hinter der Sonde her.
»Feuer! Abschießen!«
Der blaßrote Nadelstrahl, der aus einer der Strahlantennen der POINT OF zuckte, war mit bloßem Auge
und in der Bildkugel nicht zu sehen, weil er überlichtschnell war. Aber dann flammte ein Lichtblitz im
Weltraum auf, der sofort wieder verlosch.
»Hyperimpuls!« schrie Brugg auf. »Verdammt, das Rabenaas
314 sendet und - nicht mehr!«
»Was ist da passiert?« wollte Riker wissen.
»Kommen Sie 'rüber und schauen Sie es sich an«, lud Brugg ein. Dan Riker ließ sich das nicht zweimal
sagen. Er wechselte in die Funk-Z hinüber.
Walt Brugg rief die Daten ab.
»Hier - genau in dem Moment, wo der Nadelstrahl die Sonde erreichte, hat sie einen starken Hyperimpuls
abgestrahlt! Fantastisch, dieser Super-Blip, wie?«
Das konnte Riker nicht gerade finden.
»Ich konnte gerade noch ein Dämpfungsfeld emittieren«, sagte Brugg. »Das hat die Impulscharakteristik
wohl entscheidend verändert, konnte aber nicht verhindern, daß der Impuls an sich abgestrahlt wurde.
Aber das war's dann auch schon. Direkt danach ist das Ding ja in die Luft geflogen.«
»Der Impuls wird also irgendwo empfangen?« hakte Dan nach.
»Sicher. Aber ebenso sicher auch völlig verfälscht. Wer den auffängt, erfährt nicht das, was er eigentlich
erfahren sollte.«
Dennoch zeigte Riker sich nicht wirklich erleichtert. Es gab ihm zu denken, daß dieser Impuls genau in
dem Moment abgestrahlt wurde, in welchem Rochard die Sonde abschoß. Überhaupt, viele Dinge paßten
hier zeitlich einfach zu perfekt zusammen...
»Rufen Sie Dhark über sein Vipho«, bat er. »Ich glaube, wir haben derzeit einen starken gegenseitigen
Informationsbedarf - die Heimatlosen ebenso wie wir...«
Es sprach für die Disziplin der Heimatlosen, daß sie nicht sehr lange brauchten, um die Ordnung in ihrer
Rotte wiederherzustellen. Es gab außer einigen Materialschäden und Verletzungen keine Verluste. Aber
es gab auch die Sorge um die Funksonde. Niemand in der Flotte wußte etwas davon, offenbar war sie von
niemandem gestartet worden - aber das konnte nicht stimmen! Denn sie hatte Ja existiert!
»Wir haben einen Verräter in unseren Reihen«, behauptete Dokemtar, der sich wieder unauffällig unter
die anderen Ratsmitglie
315 der gemischt hatte. Vermißt worden war er in der Zwischenzeit nicht. Und wenn schon - selbst Luwaren mußten bisweilen ihren biologischen Bedürfnissen nachgehen und taten dies ganz sicher nicht in aller Öffentlichkeit. »Dieser Verräter hat das Rechnemetz ganz bewußt gestört und lahmgelegt«, vermutete der Unaussprechliche. »In diesem Chaos konnte der Sondenstart gar nicht auffallen. Wir alle hatten doch genug damit zu tun, die Lage wieder unter Kontrolle zu bekommen. Aber es muß doch festzustellen sein, auf welchem Schiff eine Sonde fehlt!« »Es kann nur eines der Schiffe sein, die sich in relativer Nähe zum Netztor befinden«, sagte Ona Then Grom. »Sonst hätte die Zeit ab Beginn der Störungen nicht gereicht, bis zum Tor zu gelangen.« Doch nirgendwo fehlte etwas. Nur Dokemtar hätte eine Erklärung dafür liefern können, aber er schwieg wohlweislich. Er hatte die Teile im Laufe der Zeit hier und da zusammengestohlen, ohne daß es jemandem aufgefallen war. Schon nach kurzer Zeit fand man immerhin heraus, wie das Steuemetz gestört worden war. Damit war
endgültig klar, daß es einen Verräter gab. Aber wer?
Dokemtar hielt sich mit Bemerkungen zurück. Er wußte, daß er sich möglicherweise verdächtig machte,
wenn er zu großen Eifer zeigte. Er ließ den anderen den Vortritt.
Und dann wurde die Transition angemessen!
Da wußten die Heimatlosen, daß der Impuls der Sonde sein Ziel doch noch erreicht hatte...
18. Es mußte sich um einen der Überraumer handeln, denen sie erst vor kurzem noch hatten entgehen konnten. Ein gigantisches Schiff, beinahe schon ein Planetoid. Dessen enorme Masse zu bewegen kostete Unmengen an Energie, deshalb kam der Raumgigant auch nur relativ langsam voran. Nach jeder Transition mußten die Speicherbänke neu geladen werden, um beim nächsten Raumsprung schlagartig genügend Energie in die Triebwerke blasen zu können. Die Strukturerschütterungen waren entsprechend weit anzumessen. Wo der Raumer transitierte, wurde das Raum-Zeitgefüge bis an seine Grenzen belastet. H. C. Vandekamp, Kontinuumsexperte der POINT OF, war außer sich. »Wenn die noch mehr Energie aufbieten könnten, um noch größere Distanzen zu überwinden, würde das Universum aufreißen. Mit der Folge, daß...« In der Zentrale der POINT OF wollte sich niemand diese Folgen anhören, zumal allen klar war, daß dieses Schiff ein weiteres Mehr an Energie gar nicht aufbieten konnte. Irgendwo stieß auch die weitestentwickelte Supertechnik an ihre Grenzen. Weitere Transitionen wurden in regelmäßigen Abständen angemessen. Die Strukturerschütterungen wurden durch die größere Nähe immer stärker meßbar. »Sie tasten sich an uns heran«, meldete Tino Grappa. »Wenn sie noch näherkommen, müssen wir irgendwann den Raumcontroller abschalten, sonst fliegt er uns um die Ohren. Ich muß jetzt schon dämpfen wie verrückt.« »Dann haut's Mamma Mia die Pizza wohl wirklich aus dem Ofen«, seufzte Hen Falluta. Den Heimatlosen war nun klar, daß die Zyzzkt sie suchten und vernichten wollten. Die Sonde hatte ihnen trotz Bruggs Dämpfungsfeld den ungefähren Weg gewiesen, und sie beschlossen, 317 nicht zu kleckern, sondern zu klotzen und den legendären Heerzug, sobald sie ihn fanden, aus dem Universum zu fegen. Sonst hätten sie nicht diesen Supergiganten auf den Weg gebracht. Immerhin verbrauchte der Unmengen an kostbarem Ala-Metall! Wenn sie diesen Aufwand nicht scheuten, waren sie absolut sicher, die Angelegenheit zu Ende bringen zu können. Ona Then Grom hoffte darauf, daß das Tarnnetz den Heerzug auch weiterhin schützte. Aber angesichts eines Verräters unter ihnen war zu befürchten, daß dieser im entscheidenden Moment die Tarnung abschaltete... Was brachte jemanden, der durch die Zyzzkt seine Heimat verloren hatte, dazu, ausgerechnet mit den Mördern seiner Welt zusammenzuarbeiten? Weder Ona Then Grom noch Ren Dhark oder einer der anderen verstand das. »Ihm muß doch klar sein, daß er selbst das Massaker auch nicht überleben wird«, warf Gisol ein. »Was bringt es ihm also?« »Auf Terra gab es um die Jahrtausendwende fanatische Selbstmordattentäter, die sich lachend selbst in die Luft sprengten, wenn sie damit nur genügend ihrer Gegner töten konnten«, sagte Dhark düster. »Was brachte es ihnen? Ihren Erfolg erlebten sie ja nicht einmal mehr mit! Ähnlich wahnsinnig schätze ich auch den Verräter ein, der hier am Werk ist.« »Vielleicht denkt er so verquer, daß er glaubt, wenn es nur noch die Zyzzkt gibt, hört das Morden von selbst auf«, gab Stewart zu bedenken. »Wie auch immer - wir müssen etwas tun«, entschied Ren Dhark. »Diesen unseligen Hyperimpuls hat es nun mal leider gegeben, aber wir werden versuchen, die Angreifer so weit wie möglich von hier fortzulocken.« »Und wie wollen Sie das bewirken, Terraner?« fragte der Unaussprechliche mißtrauisch. »Ich habe da schon eine Idee...«
Dhark und seine Begleiter kehrten in die POINT OF respektive die EPOY zurück. Sie verließen mit allen 20 Ringraumern den
318 Schutz des Netzes und flogen einen etwa 50 Lichtjahre von der Flotte entfernten Bereich an. Über Funk wies Dhark den Worgun an, sich mit seinen zehn Schiffen als Eingreifreserve bereitzuhalten. Er wollte die Worgunschiffe nicht gleich von Anfang an dabei haben, weil diese nicht mit dem Kompaktfeldschirm ausgerüstet waren, über den die terranischen S-Kreuzer und die POINT OF verfügten. Dieser graue Schutzschirm war fast so stark wie ein Intervallfeld, brach aber unter dem Beschuß mit Mix-4 nicht
zusammen. Mix-4 war die letzte Waffe, die die Mysterious vor ihrer Niederlage noch entwickelt hatten; das Strahlengemisch weichte Intervallfelder auf, so daß sie mit wenig Energieaufwand überlastet und zum Zusammenbruch gebracht werden konnten. Einen Schutz dagegen hatten die Mysterious nicht mehr entwickeln können. Das bedeutete: Gisols Raumer verfügten zwar im Gegensatz zu den terranischen Schiffen über Mix-4, aber nicht über eine Abwehrmöglichkeit. Und die Zyzzkt besaßen Mix-4 ebenfalls... Deshalb widersprach Gisol nicht, als Dhark ihn in die »zweite Reihe verbannte«. Ihm war auch nicht daran gelegen, seine wertvollen Schiffe mit den darin befindlichen Tofiritvorräten sinnlos zu verheizen, in einem Kampf, den er kaum gewinnen konnte. Alle 20 Raumer flogen getarnt. Wieder erfolgte eine Strukturerschütterung. »Eintauchpunkt in Distanz von nur noch 600 Lichtjahren«, meldete Grappa. »Mit dem nächsten Sprung können sie die Flotte erreichen.« Dhark schaltete zur Funk-Z durch. »Brugg, können Sie den Hyperimpuls fälschen, den die Sonde unter dem Einfluß des Dämpfungsfeldes abstrahlte?« »Wir haben ihn aufgezeichnet, also können wir ihn auch senden«, erklärte der Funker. »Dann "raus mit dem Impuls!« »Hoffentlich fallen sie wirklich darauf 'rein«, murmelte Riker. »Wenn sie schlau sind, rechnen sie vorher nach, welche Entfernung eine solche Sonde in der entsprechenden Zeit zurücklegen kann.« Und er war sich auch nicht sicher, ob sie nicht besser dran waren, wenn die Zyzzkt sich nicht austricksen ließen. Wie sollten
319 ihre zweimal zehn Raumer gegen einen solchen Giganten bestehen?
»Transition erfolgt!« meldete Grappa in diesem Moment. »Raumcontroller aus!«
Er schaffte es gerade noch, das Gerät abzuschalten. Die Strukturerschütterung machte sich auch so
bemerkbar. Es war, als würde der Weltraum selbst beben. Einen kurzen Moment lang hatte Dhark das
Gefühl, als würden sich die beiden Intervallfelder, unter deren Schutz die POINT OF lag, kräuseln...
Die Bildkugel zeigte den Giganten, der aus dem Hyperraum hervorbrach. Grappa spielte mit seinen
OrtungssySternen. »An den Kanten leicht abgerundeter Kubus, etwa 148 Kilometer Durchmesser!
Waffensysteme sind aktiviert, wenigstens - Bomben und Boli-den, das sind mindestens fünftausend
Konverter, die da auf Vollast laufen! Das Ding ist eine fliegende Festung!«
Die Bildkugel, deren Hyperoptik den Raumriesen heranholte, zeigte noch mehr, was von Grappa
Augenblicke später bestätigt wurde: Der Gigant öffnete einige Schleusen und spie Ringraumer aus.
»Das nimmt kein Ende...«, stöhnte Grappa. »Schon zweihundert... zweihundertzehn...«
Bei 300 hörte der Zähler auf!
300 Ringraumer und die fliegende Festung gegen 20 Schiffe der Dhark-Expedition!
Allein die 300 Zyzzkt-Raumer reichten aus, sie zu erledigen.
Die Worgun, die Mysterious, die diese Raumschiffe einst entwickelt hatten, hatten immer aus dem Vollen
geschöpft. Dhark entsann sich, was die Robotflotte angerichtet hatte, als sie das Sol-Sy stem überfiel.
Auch der gewaltige Abwehrschlag, mit dem die Zentrale im Innern des Planeten Zwitt in der
Sternenbrücke die angreifende Tel-Flotte mit ihren Tausenden von Schiffen vernichtet hatte, war ihm
noch in deutlicher Erinnerung.
Um so weniger verstand er die Begeisterung der drei Römer, die sich wieder in der Zentrale der POINT
OF aufhielten. »Das ist die ARKAN-1«, erklärte Manlius mit leuchtenden Augen. »Die Form ist
eindeutig, die Energieechos sind es ebenfalls! Kein Zweifel
320 möglich! Das ist schlicht und einfach fantastisch!«
»Und es wird auch fantastisch sein, wenn das verfluchte Ding uns in Grund und Boden schießt«, knurrte
Riker.
Manlius fuhr zu ihm herum. »Verstehen Sie nicht, Riker? Das ist das älteste und berühmteste
Großkampfschiff der Worgun! Nach ihm wurde die ganze Arkan-Baureihe benannt! Ein Triumph der
Technik! Wenn dieses Schiff voll bestückt ist, kann es 11 000 Ringraumer transportieren!«
»Ich hoffe, daß es ein paar weniger an Bord hat«, warf Falluta sarkastisch ein. »Das könnte unsere
Überlebenschancen um ein paar Nanopunkte vergrößern...«
»Seien Sie doch nicht immer so pessimistisch«, tadelte Aulus. »Erkennen Sie nicht die großartige
Leistung, so etwas zu konstruieren? Selbst die Erron-Raumer sind nicht mal halb so groß...«
»Sogar die Zyzzkt haben dieses Wunderwerk respektiert und es nicht zerstört, sondern erobert und in
Besitz genommen«, freute sich Nuntius.
Riker tippte sich an die Stirn. »Die spinnen, die Römer«, murmelte er auf Angloter.
Daß sich tatsächlich Zyzzkt in dem Arkan-Schiff und den Ring-raumem befanden, zeigte sich schon an
dem charakteristischen Streufeld der Ortungsstrahlen, mit denen sie das All absuchten.
Dhark wußte, daß er den Zyzzkt etwas bieten mußte, wenn er sie von der Flotte der Heimatlosen ablenken
wollte. Aber die einzige Chance, die sie gegen die 15fache Übermacht hatten, waren die römischen
Tarnschirme und der KFS. Doch der Commander wußte nur zu gut, daß die Tarnfelder ihnen nicht viel
nützten, wenn die Zyzzkt den Ausgangspunkt der Kampfstrahlen anpeilten. Die Terraner hatten es bei den
unsichtbaren Kampfstationen der Grakos schließlich nicht anders gemacht!
Er atmete tief durch.
»Angriff auf die ausgeschleusten Ringraumer«, befahl er. »Feuert mit allem, was ihr habt!«
Die Bestätigungen der neun S-Kreuzer kamen unverzüglich.
Und der selbstmörderische Kampf begann.
321 Der Weltraum verwandelte sich in eine Hölle aus hin- und herzuckenden Nadelstrahlen. Die terranischen Schiffe feuerten ihre Wuchtkanonen ab, dann folgte Punktbeschuß mit Nadelstrahlen und immer wieder Schüsse aus den Wuchtkanonen. Zugleich mußten sie den gegnerischen Strahlen ausweichen; immer wieder flirrte Mix-4 heran und erfaßte einen der S-Kreuzer oder die POINT OF. Wie schon gehabt peilten die Zyzzkt tatsächlich den Ausgangspunkt der Kampf strahlen an. Die römischen Tarnfelder waren in der direkten Schlacht so gut wie nutzlos. Es gab nur die Möglichkeit, ohne zu feuern die Position zu verändern, aber in dieser Spanne konnten auch die Intervallfelder der Zyzzkt-Raumer wieder stabilisiert werden. Die Terraner besaßen die größere Feuerkraft, weil ihre Ringrau-mer im Vollbetriebsmodus flogen. Den Zyzzkt fehlte es an Tofirit beziehungsweise Ala-Metall, um ein entsprechendes Mehr an Leistung aus ihren Maschinen zu holen. Fünf, sechs Zyzzkt-Raumer wurden in einem blitzschnellen Vorgang zu kleinen Sonnen, aber immer wieder mußten die terranischen Schiffe abdrehen, ehe sie einem Zyzzkt den Fangschuß geben konnten. »Wir kommen nicht durch«, erkannte Dhark. »Wir müssen es anders probieren. Laßt die Zyzzkt-Raumer hier toben - wir fliegen einen Direktangriff auf das Gigantschiff!« »Bist du wahnsinnig?« entfuhr es Riker. Dhark grinste kalt. »Wir verfeuern alles, was wir haben, und versuchen in das Monstrum einzufliegen! Vielleicht schaffen wir es ja, durchzukommen. Dann zerstören wir es von innen!« »Nein!« schrie der Römer Aulus auf und stürmte auf das Kommandopult zu. »Die ARKAN-1 wollen Sie zerstören? Das lasse ich nicht...« »Ich bin der Kommandant. Wenn Sie meinen Befehl in Frage stellen, lasse ich Sie unter Arrest stellen!« unterbrach ihn der Commander. Riker neben ihm erhob sich. »Aulus, Sie verlassen unverzüglich die Zentrale!« Verbiestert starrte der Römer ihn an. 322 Riker betätigte eine Köm-Taste. »Zentrale an Sicherheit. Zwei Mann mit Paraschockern hierher!«
Dhark kümmerte sich nicht weiter darum, sondern wies Brugg an, den Angriffsbefehl an die anderen
Schiffe zu senden. Er war froh, daß Dan sich um den Römer kümmerte. Auch wenn der Freund vielleicht
nicht mit dem Angriffsbefehl einverstanden war - es ging nicht an, daß sich während einer
Kampfhandlung jemand gegen den Kommandanten stellte!
Das Schott flog auf. Zwei breitschultrige Männer, die Hände an den Griffen ihrer Strahlwaffen, traten ein.
Aulus starrte Riker und Dhark wütend an, dann aber ging er freiwillig. Manlius und Nuntius blieben,
sagten jedoch nichts mehr. Riker gab den beiden Sicherheitsmännem einen Wink, daß ihre Anwesenheit
in der Zentrale nicht mehr nötig war, aber sie würden Aulus zu seinem Quartier begleiten.
Unterdessen flogen Dharks Hände bereits über die Steuerschalter. Die POINT OF änderte ihren Kurs.
Jetzt waren nicht mehr die feindlichen Ringraumer das Ziel, sondern der Gigant.
Beide Waffensteuerungen gaben Dauerfeuer. Sämtliche Antennen waren auf Nadelstrahl geschaltet. Bei
den anderen Räumern ebenfalls. Zusätzlich hämmerten die Wuchtkanonen Schuß auf Schuß gegen den
Giganten.
Aber die gewaltigen Energien verpufften einfach. Das mächtige Intervallfeld der ARKAN-1 absorbierte
einfach alles, was die terranischen Schiffe aufzubieten hatten.
Aber immer wieder schössen die Zyzzkt auf die Ringraumer. Sie schienen zu begreifen, was Dhark
beabsichtigte, und wollten seine Rotte abfangen!
So ganz im Vorbeifliegen schoß Jean Rochard von der WS-Ost aus dann noch sechs Zyzzkt-Raumer ab,
die damit offenbar gar nicht mehr gerechnet hatten, da doch Dharks Flotte sich nur noch auf den
Raumgiganten konzentrierte.
Plötzlich benutzte Ren Dhark eine andere Steuerschalterkombination. Riker, der ihm zusah, fröstelte
plötzlich.
Der Commander setzte das Hy-Kon ein!
Eine Waffe, über welche nur die POINT OF verfügte und vielleicht ein paar Kampfstationen wie Zwitt in
der Sternenbrücke.
Sie war auch nicht von den beiden Waffensteuemngen auszulösen, sondern nur vom Kommandopult der
Zentrale aus.
Hy-Kon im ersten Stadium erfaßte den Raumgiganten mit seinem Durchmesser von 148 Kilometern und
das umgebende Intervallfeld. Im zweiten Stadium entstand ein opalisierendes Leuchten, das alles andere
überlagerte und ein faszinierendes Lichtspiel zeigte, aber diese Faszination war zugleich die des Todes,
weil das Hy-Kon im dritten Stadium das Zielobjekt in den Hyperraum schleuderte!
Und wie es leuchtete!
Manlius und Nuntius zeigten ihr Entsetzen offen. Auch Dan Ri-ker war bestürzt. Wie viele zigtausend
Lebewesen mochten sich in der ARKAN-1 befinden, die es gleich nicht mehr geben würde, weil der
Hyperraum alles schluckte und niemals wieder freigab, was in einer solchen unkontrollierten Transition
aus dem Normalraum gestoßen wurde?
Eine vergleichbare Waffe hatten bislang nur die Nogk mit ihren Antisphären entwickelt, nur konnten
diese Antisphären keine so gigantischen Bereiche umfassen wie das Hy-Kon.
Manlius wollte verzweifelt aufschreien, brachte aber nur ein Röcheln hervor. Doch seine Verzweiflung
galt nicht den Zyzzkt in dem Riesenraumer, sondern der ARKAN-1 selbst.
Dhark hatte die Augen geschlossen, als wolle er nicht sehen müssen, was er mit dem Hy-Kon vernichtete.
Nur im größten Notfall hatte er diese Superwaffe bisher eingesetzt, aber war das hier wirklich schon so
ein Notfall, oder hätte es noch eine andere Möglichkeit gegeben?
Hy-Kon ins dritte Stadium!
ARKAN-1 wurde aus dem Normalraum in das Hyperkontinuum geschleudert!
»Nein!« schrie Riker neben Dhark auf.
Der öffnete die Augen und konnte nicht begreifen, was die Bildkugel ihnen allen zeigte!
ARKAN-1 war immer noch da!
Nicht einmal das Hy-Kon hatte diesen Giganten zerstören können!
Im nächsten Moment zeigte die Bildkugel nur noch diffuses
324 Leuchten.
Vor Dhark flammten optische Alarmsignale auf dem Kommandopult.
Intervallfelder auf 80 - 5 - 70 - 23 - l - 44 Prozent... und so weiter!
»Die haben uns mit Mix-4 erwischt«, meldete Grappa von der Ortung. »Große Galaxis, ist das ein
Strahl... kilometerstark...«
ARKAN-1 schlug zurück!
ARKAN-1 ließ sich nicht gefallen, angegriffen zu werden und setzte die gefährlichste Waffe ein, mit der
Intervallfelder aufgeweicht wurden! Und wie weich die Intervalle der POINT OF wurden, zeigte die
permanent wechselnde Kapazitätsanzeige.
»S-Kreuzer melden Intervallausfall!« rief Brugg aus der Funk-Z durch. »Ebenfalls Ausfall der Tarnung!«
»Fluchttransition!« befahl Dhark. »Weg hier, alle!«
Auch die beiden Intervallfelder der POINT OF brachen endgültig zusammen. Wenn jetzt ein ähnlich
gigantischer Nadelstrahl kam, hatte es den Ringraumer einmal gegeben!
»Order ist draußen«, meldete Brugg.
Dhark leitete die Transition ein und fragte sich, weshalb der Checkmaster nicht eingriff, der doch sonst
schon in weniger aussichtslosen Situationen die Kontrolle über das Schiff an sich gerissen hatte.
Überall im Schiff war das durchdringende Pfeifen zu hören, das die Transition ankündigte und die
Tonleiter hinaufraste, um im Ultraschallbereich zu verschwinden - und diesmal brach es auf halber Höhe
ab!
Transition unmöglich, vernahm Dhark die lautlose Stimme der Gedankensteuerung in seinem Kopf.
Arkan-Schiff emittiert ein Störfeld, das Transitionen im Umkreis von einem halben Lichtjahr verhindert!
Das war das Ende!
Ohne Intervallfelder konnten sie nicht in den Raumgiganten einfliegen, aber ohne Intervallfelder konnten
sie auch nicht auf Überlichtgeschwindigkeit gehen, weil dazu die Intervalle als absolute
Transitionsbremse erforderlich waren! Mit SLE ließ sich maximal Lichtgeschwindigkeit erreichen, und
der Sternensog kam
325 nicht zum Zuge, weil das Störfeld Transitionen generell verhinderte!
Ein halbes Lichtjahr mit SLE zurückzulegen war praktisch unmöglich - eben ein Flug, der bei
annähernder Lichtgeschwindigkeit sechs lange Monate dauerte! Die Zyzzkt würden sich aber keine sechs Monate Zeit lassen. Sie würden die Ringraumer innerhalb weniger Minuten in kleine Sonnen verwandeln, die ganz schnell verstrahlten... Ren Dharks Versuch, die Zyzzkt vom Heerzug der Heimatlosen abzulenken, führte hier und jetzt zum Ende der Om-Expedidon! Er hatte die falsche Entscheidung getroffen...
Der finale Schuß aus einem der Supergeschütze des Raumgiganten blieb aus. Statt dessen kamen die Zyzzkt-Ringraumer jetzt von allen Seiten heran. Offenbar wollten sie die terranischen Schiffe aufbringen. ARKAN-1 beschoß die kleine Flotte nicht weiter mit Mix-4, aber das war jetzt auch egal. Es würde viele lange Minuten dauern, die Intervallfelder zu regenerieren. Zu lange. Nach wie vor schössen die Terraner. Aber sie konnten die Gegner nur aufhalten, nicht stoppen. Mochten Dutzende von Zyzzkt-Raumem im Strahlbeschuß vergehen, es drängten immer weitere nach. Die Besatzungen nahmen nicht die geringste Rücksicht auf ihre eigene Existenz. Sie schienen den Tod nicht zu fürchten. In Dhark keimte der Verdacht, es mit von Robotern gesteuerten Schiffen zu tun zu haben. Daß sie die terranischen Schiffe kapern wollten, war mehr als verständlich. Sie schienen von deren Technik beeindruckt zu sein, wollten sie wohl studieren und übernehmen, um selbst noch kämpf stärker zu werden. Für die Terraner ließ das keine Überlebenschance. Die Zyzzkt würden sie töten oder versklaven, ihnen ihr Wissen entreißen und sie danach töten. »Vorbereiten auf Eindringlinge«, gab Ren Dhark die Warnung durch. »Raumanzüge und Blaster für jeden. Schießt auf alles, was 326 nicht terranisch aussieht. Das gilt für alle Schiffe.«
Sein Gesicht zeigte Bitterkeit. Er wußte, daß er mit dem Ablenkungsversuch einen Fehler gemacht hatte,
den er nicht wieder ausgleichen konnte. Diesen Kampf hatte er verloren. Und doch dachte er nicht daran,
jetzt schon aufzugeben. Er wollte sich, wollte das Leben aller Teilnehmer dieser Expedition so teuer ver
kaufen wie nur eben möglich. Denn er wußte nur zu gut, daß sie von den Zyzzkt alles, nur nichts Gutes zu
erwarten hatten.
»An alle Einheiten: Vorbereiten, alle Suprasensor-Daten zu löschen. Die Zyzzkt dürfen nicht erfahren,
woher wir kommen.«
»Den Checkmaster können wir nicht formatieren«, warnte Riker.
»Dann sprengen wir ihn.«
»Das wird er zu verhindern wissen.«
Dhark nickte. »Du hast recht, alter Freund. Dann machen wir" s anders. Wir entfemen ihn per Hy-Kon...«
»Auch das wird er verhindern.«
Der Commander atmete tief durch. »In dem Fall bleibt uns nur ein Weg, der mir gar nicht gefällt, weil er
uns schon einmal aus dem Regen unter Umgehung der Traufe gleich in die größte Bre-douille gebracht
hat - das modulative Hy-Kon-Verfahren...«
Damit hatten sie die POINT OF in ein anderes Raum-Zeitgefüge versetzt, aber danach wieder ins
Normalkontinuum zurückzukehren, wäre ihnen ohne Hilfe des Nor-ex nicht gelungen, das in jenem
anderen Weltraum wohnte. Außerdem bedeutete eine solche Aktion, daß sie ihre Kameraden
zurückließen.
»Gleich sind sie da«, warnte Tino Grappa.
Die Bildkugel zeigte es deutlicher als alles andere. Die Zyzzkt-Raumer brauchten bloß noch anzudocken
und die Schleusen aufzubrechen.
Hen Falluta griff zu seiner Dienstwaffe und checkte den Blaster durch. »Energiemagazin voll«, sagte er.
»Es kann losgehen...«
Und es ging los! In genau diesem Moment!
Zehn weitere Ringraumer tauchten aus dem Nichts auf. Von einem Moment zum anderen waren sie da -
Gisols Schiffe!
327 Jedes hatte ein exaktes Ziel: einen der terranischen Raumer!
Die Operation war nanosekundengenau vorbereitet. Die Hyperkalkulatoriken der Worgunraumer mußten
Schwerstarbeit geleistet haben, um den Ablauf der Aktion auszurechnen.
Gisols Raumer stoppten nicht einmal.
Im Überflug - unteres Intervall aus, und im Moment, als sie die terranischen Schiffe erreichten, Intervall
wieder ein!
Sie nahmen die Terra-Schiffe in Intervallschlepp!
Sie rissen sie mit sich, gingen blitzschnell auf Überlichtgeschwindigkeit und verließen die Kampfstätte im
Schutz ihrer Tarnfelder!
Im gleichen Moment, in dem sich die terranischen Schiffe im Intervallschutz der Worgun-Raumer
befanden, waren sie in deren künstlichen Mini-Weltraum eingehüllt. Der rasende Übergang zu höherer
Geschwindigkeit machte sich ebensowenig bemerkbar wie der Kurswechsel. Beharrungskräfte wurden
nicht frei, weil es sie in diesem Mini-Universum, das vom normalen Weltraum abgekoppelt war, einfach
nicht gab.
Dan Riker hob beide Arme.
»Gisol sei Dank...«
Dhark wandte sich Grappa zu. »Verfolger?«
»Keine...«
Da die Ringraumer getarnt flogen, waren sie von der Zyzzkt-Ortung nicht mehr zu erfassen. Und da sie
jetzt nicht mehr schössen, waren sie auch nicht mehr anhand ihrer Abstrahlpositionen anzupeilen.
Gisols Raumer beschleunigten unaufhörlich. Der Worgun strebte mit vielhunderttausendfacher
Lichtgeschwindigkeit dem intergalaktischen Leerraum entgegen.
Erst weit draußen, jenseits des Halo, ließ er stoppen.
Selbst wenn die Zyzzkt sie wider Erwarten doch noch orten konnten, würden sie ihnen hierher sicher
nicht mehr folgen. Ihre geringen Energievorräte ließen das nicht zu.
»Gisol«, murmelte Ren Dhark erleichtert. Wenigstens die »Eingreifreserve« hatte funktioniert. »Wenn
wir wieder heimkehren, kriegt der Knabe 'neu Orden...«
328 Draußen im Leerraum regenerierten sich die Intervallfelder der terranischen Schiffe wieder. Über Femortung verfolgte man den Abzug der Zyzzkt, die offenbar nicht weitersuchten. Den Hyperimpuls der Funksonde, der sie herbeigerufen hatte, verbanden sie scheinbar mit den Terranern und nicht mit dem Heerzug der Heimatlosen. Das Ablenkungsmanöver hatte also doch noch funktioniert. Einige Stunden später kehrten Dhark und Gisol zu den Vertriebenen zurück, die über ihre Femortung die Schlacht verfolgt hatten. Sie zeigten sich erleichtert, daß ihre terranischen Freunde ohne Verluste zurückgekehrt waren; für sie selbst hatte es nicht so ausgesehen. Ona Then Grom wollte gleich ein neues Fest ausrufen. Aber Ren Dhark hielt nichts von verfrühten Feiern. Denn nach wie vor gab es einen Verräter, der jederzeit wieder zuschlagen konnte. Solange er nicht entlarvt wurde, würden die Heimatlosen keine Ruhe finden. Was sich in diesen letzten Tagen abgespielt hatte, konnte sich in ähnlicher Form jederzeit wiederholen.
19. y>... die Gorm sind eine entfernt menschenähnliche Spezies, schlank und durchweg zarter gegliedert als der Homo sapiens. Die durchschnittliche Größe der Männer beträgt 1,80 Meter, die der Frauen 15 Zentimeter weniger. Sie leben auf der von ihnen »Külä« genannten achten Welt im 28-Planetensystem der M-Sonne Kimik. Ihr Entwicklungsstand entspricht in etwa dem unseren um das Jahr 2040 herum - allerdings hat ihre Entwicklung eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Gorm sind geniale Manipulatoren des Lebens und benutzen für vieles, für das wir und andere Völker des Universums Maschinen einsetzen, genetisch veränderte Pflanzen, Tiere oder auch Kombinationen aus beiden. Dennoch lehnen sie konventionelle Technik nicht grundsätzlich ab — wenn sie sie für ihre Zwecke umformen können. So sind beispielsweise ihre Luftfahrzeuge gezüchtete Supervögel ohne ein Bewußtsein, gesteuert von implantierten Hybridrechnern aus Bio-und Siliziumkomponenten von enormer Leistungsfähigkeit. Auch hat ihr erstes Raumschiff eine äußere Hülle und Antriebskomponenten aus Metall, aber viele biologisch konstruierte Ausstattungsmerkmale. Wir hatten nicht genügend Zeit, um alles exemplarisch nachprüfen zu können, "was uns die drei GormAstronauten Jumir, Jomir und Jamir über ihre Welt Külä erzählten. Spätere Besucher -werden entweder diese Berichte bestätigen oder aber entsprechend revidieren. Die Gorm leben in einer engen Symbiose mit der Natur. So gibt es unter ihnen sogenannte »Baumsprecher«, die in der Lage sind, das Wachstum und die Formen der Bäume dahingehend zu steu 330 ern, daß Häuser, Siedlungen und ganze Städte binnen kürzester Zeit aus dem Boden zu wachsen vermögen.
Ich bin überzeugt, daß die Gorm eine Bereicherung für die ter-ranische Föderation darstellen. Sie selbst scheinen bereit, dieser beizutreten. Alles, was sie brauchen, ist eine zielgerichtete Ausbildung. Bontempi, Sybilla — Captain, Anthropologin und Fremdvölkerexpertin der CHARR. Per To-Richtfunk übermittelter Auszug aus dem Logbuch, April 2059« Die SPECTRAL ging wieder in den Hyperraum.
In einer letzten Transition überwand sie die Distanz von sieben Lichtjahren und materialisierte nicht mehr
als zwei Astronomische Einheiten außerhalb des Systems mit seinen 28 Planeten.
Roy Vegas schloß einen Kontakt auf der verbreiterten Armlehne seines Kommandantensessels.
Schirme wurden hell, zeigten das Innere von Kabinen. Die Gesichter der Hypertechniker und
technikerinnen sowie das von Da-nog ut Keltris drehten sich in Richtung der Aufnahmelinsen.
»Wir haben unser Ziel erreicht. Hat jemand Interesse, die Annäherung an seinen künftigen Tätigkeitsort
hier im Kontrollraum zu verfolgen?«
Die Zustimmung erfolgte einhellig.
Wenig später hatten sich Danog und sein terranisches »Botschaftspersonal« im Leitstand eingefunden und
betrachteten den Vorgang mit gespannter Aufmerksamkeit.
In einem Winkel von etwa 22 Grad zur Ekliptik der Planetenbahnen bewegte sich die Sternschnuppe von
oben ins Innere des Systems hinein und in direkter Linie auf ihr Ziel zu.
Alle Augen sahen Nummer acht aus dem Gewimmel der Sterne auftauchen und das Blickfeld ausfüllen.
Der Planet wurde größer, deutlicher.
Erste spezifische Informationen kamen über die Taster, deckten sich mit den Daten, die die CHARR nach
Cent Field übermittelt hatte, ehe sich Frederic Huxley und seine Mannschaft weiter auf die Suche nach
Turr-Aans imaginärem Ziel gemacht hatten.
»Külä!« sagte ehester McGraves völlig überflüssigerweise und deutete auf den Hauptschirm.
331 Unter der Sternschnuppe schwebte die Heimatwelt der Gönn. Eine Welt aus Blau, Grün und Weiß. Sie lag, da die SPECTRAL mit dem Zentralfeuer im Rücken in den Orbit ging, voll im Licht der Sonne Kimik. Vegas sah die Wolken und die endlosen Wälder, die breiten Russe und die Meere, die ins Land eingebettet lagen. Külä machte einen ruhigen, warmen Eindruck. Deutlich war auch schon die Wetterscheide zu sehen, die diese Welt auszeichnete. Rings um den Äquator zog sich eine Bergkette mit unterschiedlichen Höhen hin, die einen Durchschnittswert von etwa dreitausend Metern erreichten. Das planetologische Labor der CHARR hatte diese Bergkette als Barriereriff bezeichnet; sie setzte sich in einem der Meere als Inselkette fort, am Festland wieder als Gebirge. Über die nördliche Hemisphäre erstreckte sich eine rhombusförmige Landmasse von der Größe Nord- und Südamerikas. Die südliche Hemisphäre wurde von flachen Ozeanen und großen Inseln dominiert. Leben existierte laut den Daten der CHARR hauptsächlich an den Küsten sowie im Innern der gemäßigten Zonen, was die Bio-Sensoren der SPECTRAL verifizierten. Die Wattebäusche weißer Wolkenformationen türmten sich in den oberen Schichten der Lufthülle, und langgestreckte Filamente von kondensiertem Wasserdampf zogen durch die Atmosphäre. »Erdähnlich«, sagte Mac Fayden, einer der jungen Männer, die als Team für den Aufbau einer funktionierenden Hyperfunkstrecke nach Terra verantwortlich waren, und seine Teampartnerin und augenblickliche Favoritin Yedidia »Yedi« Angus nickte beipflichtend. »Erdähnlich ja«, versetzte Carl Tanner, der dritte im Bund der für diese diplomatische Mission verpflichteten Einheit, »aber nicht die Erde.« Charlotte Pilon seufzte versteckt. »Nein - natürlich ist es nicht die Erde, trotzdem ist diese Welt schön und ruhig und friedlich, zumindest aus dieser Entfernung.« Die Systemspezialistin und Exobiologin wandte sich an Tanner. »Weißt du, Carl, daß die Dichter recht haben? Es gibt nur wenige Anblicke, die majestätischer sind als eine Welt aus dem Weltraum 332 gesehen, die sich langsam unter einem dreht. Aber... Kapitän!« Sie wandte sich an Roy Vegas, über
dessen Lippen ein kurzes Lächeln zuckte, ohne daß es sich auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Ja, Madam?«
»War nicht die Rede davon, daß auf dieser Welt eine Population von elf Milliarden Individuen zu finden
sein sollte?«
»Davon ist in den Informationen die Rede, ja.«
»Um ein derartiges Gemeinwesen am Leben zu halten, muß die Infrastruktur gigantisch sein. Aber die
Taster haben uns bislang noch keine Städte gezeigt, keine Fabriken, keine bebauten Regionen. Wo
befindet sich diese angebliche Großstadt?«
Jetzt sagte Vegas, und seine Stimme klang in gewohnter Weise beherrscht und ruhig: »Mister
McGraves!«
»Kapitän, Sir?«
Waren Passagiere an Bord, befleißigte man sich der dienstlichen Anrede, ansonsten war der Umgangston
recht lax und überwiegend privat.
»Würden Sie der jungen Dame weiterhelfen?«
»Aber gerne, Sir.«
Der Erste Offizier beendete einen Vorgang auf seiner Konsole, drehte dann den Sessel und sah die
Exobiologin an. »Gedulden Sie sich noch ein bißchen, Ma'am. Wir haben noch keine vollständige
Umrundung hinter uns. Tediruun, die Hauptstadt der Gönn, befindet sich auf der anderen Seite.«
»Gibt es denn keine sonstigen Bebauungen, keine Städte, Dörfer, Weiler?«
»Davon haben wir keine Kenntnis, gehen aber davon aus, daß sie sehr wohl existieren, nur sind sie
möglicherweise nicht umfangreich genug, um entdeckt zu werden, oder sie liegen versteckt in Wäldern
und von außen nicht einsehbaren Tälern. Sie aufzuspüren würde einen immensen Zeitaufwand bedeuten,
denke ich mal, denn sie stoßen keine Emissionen herkömmlicher Art aus, um von unseren Tastern geortet
werden zu können.«
»Wie das? Zivilisation setzt eigentlich Energie in erheblichem Umfang voraus, nicht wahr?«
»Wir haben noch keine geortet. Das Neutrinospektrum ist leer. Offenbar benutzen sie zur
Energieversorgung weder Kemspal
333 tungs- noch Fusionsreaktoren.«
»Vermutlich verwenden sie noch Öllampen und kochen mit getrocknetem Dung«, griente Carl Tanner,
ein schlaksiger Mittdreißiger mit einem verwegenen Gesicht unter dem blonden Bürstenhaar.
Charlotte Pilons Gesichtsausdruck zeigte deutlich, was sie von dieser Bemerkung hielt, dann jedoch
entspannte sich ihre Miene wieder, der kleine Anflug von Ärger um ihre Mundwinkel verschwand.
»Es wird sicher interessant für uns werden«, meldete sich erstmals Danog ut Keltris zu Wort, »all diese
Fragen im Laufe unserer Mission auf Külä nach und nach beantwortet zu bekommen.«
Die Welt der Gorm drehte sich weiter unter der SPECTRAL hinweg.
Vegas stemmte den rechten Fuß auf die Raste seines Kommandantensessels und wandte sich an den
Funkoffizier.
»Was sagt die Funkpeilung? Irgendwelche Signale?«
Der Zweite Offizier nickte.
»Reger Kurzwellenfunk, Sir! Sie haben uns bereits gesichtet und ihre Funkfeuer aktiviert. Man erwartet
unsere Ankunft.«
»Dann wollen wir sie nicht warten lassen«, brummte Roy Vegas und richtete die Lehne seines
Gliedersessels etwas auf.
Die SPECTRAL ging jetzt beständig tiefer.
Die Oberfläche wurde größer, die Landschaften waren schärfer zu erkennen, und die Bergkette um den
Äquator schwang sich vorbei.
Die schweren Maschinen zwangen die Sternschnuppe hinunter in eine Spirale, die immer enger wurde.
Jetzt tauchte unter dem Raumschiff eine Ebene auf, mehr eine riesige Lichtung in einem dichten Ring von
Wäldern. Laut eingeblendeten Daten waren die Bäume dieser Wälder mehr als zweihundert Meter hoch.
Und zwischen diesen Giganten...
Der Funkoffizier und Ortungsspezialist schaltete auf seiner Konsole.
Die Nahaufnahme machte es deutlich sichtbar.
Jemand holte zischend Atem.
334 »Da ist die Stadt, Kapitän!« machte McGraves seinen Vorgesetzten aufmerksam. Der hagere Schotte mit dem traurigen Gesicht flüsterte fast. Roy Vegas' Augen weiteten sich vor Überraschung. »Verdammt!« sagte er ohne Rücksicht auf die anwesende Weiblichkeit. Und noch einmal, diesmal mit Nachdruck und gleichzeitiger Bewunderung: »Verdammt! Hat man da Worte! Metropolis in Baumform!« Die Verblüffung des Kapitäns war nur zu verständlich. Er hatte plötzlich entdeckt, daß sich in diesem Wald aus riesigen Bäumen ein künstliches Gebilde von der Größe und Ausdehnung einer Großstadt verbarg! Farblich und architektonisch dem Wald an- und eingepaßt, so als wolle man sie absichtlich allen neugierigen Blicken entziehen. Reger Verkehr herrschte auf kreuz und quer und spiralförmig verlaufenden Schienenbahnen und Rollwegen, die die einzelnen Gebäudedome miteinander verbanden, die vermutlich erst dann als künstlich erkannt werden konnten, wenn man direkt vor ihnen stand. Am Rande dieses Stadtgürtels existierten im Norden eine Reihe von begradigten, nebeneinanderliegenden Flächen, frei von jeglichem Bewuchs. Die Ausrichtung ließ vermuten, daß sie sich an der vorherrschenden Windrichtung orientierten. Vermutlich der Raumhafen.
Ein einzeln stehendes Gebäude an der östlichen Peripherie mit einer überdimensionierten und verspannten Ringantenne auf dem Dach wies auf dessen Zweck hin: ein Kontrollturm. Dahinter mehrere flache, weitläufige Gebäude, in den vorherrschenden Farben der Flora Küläs gestrichen, so daß sie kaum ohne elektronische Hilfsmittel auszumachen waren. »Landen Sie in der Nähe dieses - hm - Kontrollturms, I. 0.«, ordnete Roy Vegas an. »Vermutlich erwartet man das von uns.« Die SPECTRAL senkte sich auf den Raumhafen herab. »Herrschaften«, sagte ehester McGraves gewollt enthusiastisch, als die Sternschnuppe sicher auf dem Boden der fremden Welt aufgesetzt hatte, »Endstation.« »Das wollen wir doch nicht hoffen«, murmelte Yedi Angus und 335 griff unwillkürlich nach Mac Faydens Oberarm, als suche sie Schutz und Halt.
»Da, vermutlich unser Empfangskomitee«, meinte Danog ut Keltris. Er stand schräg hinter dem
Kommandosessel und deutete mit einem geschuppten Finger auf das ein paar hundert Meter entfernte
Gebäude des Kontrollturmes.
Wenn man genauer hinsah, erhielt man den Eindruck, daß es sich bei diesem »Gebäude« in Wirklichkeit
um einen Baum handelte, der als Gebäude genutzt wurde.
Mechanisch führte Danog sich mit der anderen Hand ein paar geröstete Pota-Busch-Blätter in den Mund
und begann zu kauen;
jede seiner Bewegungen strahlte Ruhe und Gelassenheit aus, was sich auf alle Anwesenden wohltuend
auswirkte.
Der Kapitän der Sternschnuppe starrte auf den Bildschirm. Tatsächlich, acht Gestalten hielten auf die
SPECTRAL zu.
»Die Gönn«, ließ McGraves verlauten.
Vegas nickte.
Die Vergrößerung des Schirmes holte sie ganz nahe heran: Der Bericht der CHARR beschrieb die Gönn
als humanoide, entfernt menschenähnliche Wesen mit schmalen Gesichtern und großen, runden Augen.
Der Bericht war korrekt. Sein Blick wandte sich von den Einzelheiten der Gesichter zu den Gestalten. Sie
waren recht groß, schlank, viel weniger muskulös als die Menschen und in locker fallende, verwirrend
gemusterte, vielfarbige Kleidung gehüllt.
Vegas war es unmöglich, eine geschlechterspezifische Unterscheidung zu treffen. Das konnte natürlich
auch bedeuten, daß keine weiblichen Gönn unter dem Empfangskomitee waren. Was die Kleidung
betrifft, dachte er leicht amüsiert, können sie mit dem Botschafter konkurrieren.
»Die Gönn«, bestätigte er. Und an den Walfen gewandt: »Sollten wir nicht raus und sie begrüßen,
Botschafter? Sicher erwartet man Sie und Ihre Gruppe mit gebührender Neugier.«
»Das sollten wir«, erwiderte Danog, und seine Wangen zeigten die Farbe der Erwartung.
Charlotte Pilon räusperte sich verhalten und meinte: »Einfach so? Was zeigen eigentlich die
Analysegeräte an?«
336 Vegas nickte seinem Zweiten Offizier zu. »Mister Orban?«
Bhaja Orban überprüfte ein Terminal auf seiner Konsole und tippte auf ein paar Bedienungstasten..
»Nun, äh, bis jetzt nichts Schädliches. Sauerstoff, Stickstoff, Kohlensäure und die übrigen Spurengase,
alle in vertretbaren Mengen und in der richtigen Zusammensetzung, um keine Atemschwierigkeiten zu
bekommen. Keinerlei... äh, Anzeichen für eine Kontanimierung durch Radioaktivität oder sonstige
meßbare Gefahren.«
»Ich wollte eigentlich auf etwas anderes hinaus«, bekannte die junge Exobiologin.
»Uh?« Der Zweite Offizier der SPECTRAL runzelte erst die Stirn, dann tauchte Verstehen in seinem
Blick auf.
»Die Bakterienanalyse hat ebenfalls keinerlei Gesundheitsrisiken angezeigt - die Atmosphäre enthält
keine für uns schädlichen Mikroben, wenn es das ist, was Sie besorgt. Weder für Menschen noch für...«
Er hielt einen Moment inne, »den Botschafter.«
»Hmm. Na gut. Ich kann ja später genauere Analysen durchführen, um wirklich jedes Risiko
auszuschließen. Vorläufig genügten mir die Ergebnisse Ihrer Sensoren. Ich denke, Botschafter«, wandte
sie sich an Danog ut Keltris, »wir können das Schiff unbedenklich verlassen.«
»Waffen?« fragte Carl Tanner.
»Nur die unseres Verstandes«, ließ Danog ut Keltris verlauten.
»An denen trägt man ja auch wesentlich leichter«, brummte der Kapitän, und ein Grinsen nistete sich in
seinen Mundwinkeln ein.
Er wandte sich an McGraves. »ehester. Sie bleiben mit der Mannschaft an Bord - zumindest vorläufig«,
schränkte er ein, als eine gewisse Unruhe in der Zentrale der kleinen Sternschnuppe entstand. »Es werden
sich mit Sicherheit noch jede Menge Gelegenheiten ergeben, sich auf Külä umzusehen. Wie sähe das aus,
wenn wir gleich beim ersten Kontakt mit der ganzen geballten Macht unserer Präsenz auftreten?«
Chester McGraves verzog das Gesicht. Den Befehl zu diskutieren war eigentlich illusorisch, dennoch
wagte er einen Einwand:
»Sir... ob das eine gute Idee ist?«
»Doch, doch. Ihr Kapitän hat recht«, besänftigte der Walfe den
337 Schiffsoffizier, »wir sollten von Beginn an Vertrauen zeigen - und auch demonstrieren. Und Vertrauen
schafft man nicht mit Waffen.«
Roy Vegas wartete nicht länger. »Machen wir uns auf den Weg. Sie haben die Zentrale, 1.0.!«
Kurz darauf standen sie unten am Fuß der Rampe, waren zum ersten Mal der Atmosphäre des Planeten
ausgesetzt.
Die Luft war würzig und warm; sie ähnelte einer Brise, die man an einem waldigen Strand wahrnehmen
konnte. Kein unangenehmer oder fremdartiger Geruch war feststellbar.
Das Begrüßungskomitee der Gorm war bis auf ein paar Meter an die wartende Abordnung Terras
herangekommen, als es plötzlich wie gegen eine Wand geprallt stehen blieb und ein Ausdruck un
gläubigen Staunens über ihre Gesichter huschte, nachdem sie Danog ut Keltris' ansichtig geworden
waren.
Vegas sah, wie sich Tanner zu Fayden hinüberbeugte und ihm zuraunte: »Die Spezies unseres
Botschafters scheint sie doch zu überraschen.«
»Kein Wunder«, gab Fayden ebenso verhalten zurück, »soweit ich aus dem Bericht der CHARR weiß,
kennen sie bislang nur uns Terraner, die Nogk und die blauen Teufel. Ihnen wird in Zukunft noch einiges
an Überraschungen ins Haus stehen, wenn sie erst mal realisieren, wer sich in der Galaxis so alles
herumtreibt.«
Tanner brummte bestätigend.
Vegas, der sich im Hintergrund hielt - es war Danog ut Keltris' Stunde, er war nur der Chauffeur -
erkannte, daß die anderen die leise geführte Unterhaltung der beiden offenbar nicht mitbekommen hatten.
Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Botschafter. Wie würde er diese Situation meistern? Was
würden die Gorm sagen?
Und dann war es weit weniger dramatisch, als er es sich vorgestellt hatte.
Der Walfe hob die rechte Hand mit der Handfläche nach außen -»seht her, ich bin unbewaffnet«, hieß das
- bis in Brusthöhe. »Ich begrüße Sie im Namen Terras und seines Commanders Ren Dhark«, sagte er. »Wir kommen als Antwort auf Ihre Bestrebungen, sich der Föderation aller freiheitsliebenden Völker der Gala 338 xis anzuschließen. Ich bin Botschafter Danog ut Keltris, der letzte der Walfen und gleichzeitig Repräsentant der Erdregierung. Meine Begleiter sind...« Danog zählte die Namen seiner vier Mitarbeiter auf, vergaß auch nicht den Kapitän der SPECTRAL zu erwähnen, und fragte dann: »Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?« Sein Übersetzungsmodul hinkte ein bißchen hinterher, und Roy Vegas verzog unmerklich das Gesicht. Er befürchtete schon, das Programm hätte ein paar ungewollte Macken. Doch dann trat einer der Gorm einen Schritt vor, ahmte Danogs Geste nach und begann zu sprechen: »Wir begrüßen Sie ebenfalls«, drangen seine klaren, verständlichen Worte an die Ohren der Terraner und des Walfen. »Ich bin Gouverneur Kanoo. Ich heiße Sie willkommen im Namen unseres Prätendenten Grandel und des Volkes von Külä.« »Danke«, sagte Danog ut Keltris. »Wir freuen uns, das Oberhaupt Ihrer Welt recht bald begrüßen zu dürfen.« »Dazu werden Sie Gelegenheit haben«, versicherte Kanoo, der sich überraschend schnell mit der Situation abgefunden zu haben schien, daß der Botschafter kein Terraner, sondern der Vertreter einer ihm völlig fremden Spezies war. »Noch heute abend. Der Magistrat veranstaltet Ihnen zu Ehre eine Willkommensfeier, die der Prätendent mit seiner Anwesenheit beehren wird. Vorher aber werden Sie und Ihre Begleiter in die terranische Botschaft gebracht, die wir eigens für Sie errichtet haben. Im übrigen gilt die Einladung zur Willkommensfeier auch für den Führer Ihres Raumschiffes«. Kanoo ließ den Blick einen Moment lang über die SPECTRAL gleiten, bevor er sich wieder dem Botschafter zuwandte. »Ein großes Schiff, wenn auch sehr viel kleiner als die CHARR«, meinte er dazu. »Ich reise nicht gerne aufwendig«, entgegnete Danog ut Keltris leichthin, »lehne aber keineswegs Bequemlichkeit ab, vor allem nicht, wenn es sich um eine luxuriöse Unterkunft handelt.« Mit anderen Worten, dachte Vegas, du hast endlich genug von den Höflichkeiten und möchtest die Beine ausstrecken! »Ich verstehe«, sagte Kanoo und hob die Hand über den Kopf. Aus den Augenwinkeln erkannte Roy Vegas eine Bewegung am
339 Rande der Hallengebäude. Ein großes Fahrzeug näherte sich, eine Art Pritschenwagen ohne Führerhaus,
aber mit einer Reihe von offenen Sitzen. Es schien vollständig aus Holz und anderen biologischen
Komponenten zu bestehen. Eine Antriebseinheit war nicht zu erkennen. Der Kapitän fühlte sich
unwillkürlich an die »Fahrzeuge« aus einer Femsehserie erinnert, die er als Kind begeistert verfolgt hatte:
»Die Feuersteins«.
»Kommen Sie«, sagte Kanoo. »Ich bringe Sie jetzt zum Botschaftsgebäude und mache Sie mit Ihrem
neuen Domizil vertraut.«
Das Gefährt sah nicht sonderlich bequem aus, war es aber zur Überraschung aller Mitglieder der
diplomatischen Mission.
Der nicht sichtbare Antrieb schnurrte leise vor sich hin. Während sie rasch zur Stadt fuhren und den
Raumhafen mit seinen wenigen Gebäuden hinter sich ließen, wandte sich der Walfe an den Gönn.
»Wie kommt es, daß Sie auf Külä so ausgezeichnete Übersetzungsgeräte besitzen? Meinen Informationen
zufolge hatten Sie noch niemals Kontakt zu anderen Rassen.«
Kanoo blickte kurz nach beiden Seiten, so als erwarte er eine Erklärung von jemandem aus seiner
Gruppe. Doch seine Begleiter blieben stumm.
»Sie sTarnmen eigentlich von der Erde«, sagte er zur Überraschung Danogs und der anderen, und er
lieferte die Erklärung auch gleich mit.
»Als euer Colonel Huxley unsere drei Raumfahrer auf Külä absetzte, übergab er ihnen als
Abschiedsgeschenk ein paar dieser Übersetzungsgeräte. Vermutlich im Vorgriff auf Situationen wie die
heutige. Unsere Wissenschaftler haben das Prinzip, das den Geräten zugrunde liegt, rasch erfaßt und
nachgebaut. Haben wir uns da etwa einer Ungesetzlichkeit schuldig gemacht?« fragte er. »Wenn ja, war
sie unbeabsichtigt, und ich entschuldige mich im Namen der Gönn dafür.«
Zu große Gesten wegen eines nichtigen Anlasses, dachte Roy Vegas, enthielt sich jedoch einer
diesbezüglichen Bemerkung.
340 »Nein, nein«, beschwichtigte der Walfe. »Technologietransfer ist durchaus erwünscht.« Der Rest der Fahrt verlief bei angeregter Unterhaltung zwischen den Gönn und den Mitgliedern der diplomatischen Mission. Roy Vegas hielt sich zurück und konzentrierte sich mehr darauf, was um sie herum zu sehen war. Während sie im moderaten Tempo über eine breite Straße in die Stadt fuhren, erkannte er, daß die Gönn sehr großen Wert auf die Bewahrung der Natur des Planeten legten. Nirgendwo, soweit er sehen konnte, gab es etwas rein Technisches. Alles war der Flora untergeordnet. Die »Stadt« war auf verschiedenen Ebenen angesiedelt, die durch Rampen verbunden waren, durch breite Treppen und - Rollwege? Auch diese Anlagen waren nicht aus Metall, sondern offenkundig biologischen Ursprungs. Da wucherten einzelne Gebäude wie riesige Schwämme aus gewaltigen Baumstämmen heraus, verbanden sich mit spiraligen Treppen, mit Aufzügen und Rollwegen, die unter dem grünen Dämmerlicht der allesüberspannenden Kronen einen eigenartigen Reiz ausstrahlten. Eine allgegenwärtige Brise schuf angenehme Temperaturen. Vegas wandte seine Aufmerksamkeit von den »Gebäuden« ab und den Gönn zu, die die Gehwege und weiten Plätze bevölkerten. Gemessen an den Mengen, die er sehen konnte, schloß er auf eine Einwohnerzahl von mehreren Millionen. Das Transportmittel wurde schneller, schwang sich über die ansteigende Straße höher, überquerte eine Reihe schwindelerregender Viadukte. Man konnte wasserführende Kanäle in der grünlich schimmernden Tiefe ausmachen, auf denen ein ebenso reger Verkehr hensch-te wie auf den oberen Stadtebenen. Vegas hatte den Eindruck, daß das Gefährt einen großen Bogen schlug; als sie sich an der Peripherie eines Platzes entlangbewegten, wurde seine Vermutung zur Gewißheit: Sie befanden sich wieder am Rand der gigantischen Lichtung. In der Feme konnte er die SPECTRAL auf dem Landefeld sehen. Er wandte sich an Kanoo. »Irre ich mich, oder haben Sie uns im 341 Kreis herumgefahren?« erkundigte er sich. Kanoo machte ein Geräusch, das verteufelt nach einem verlegenen Räuspem klang. »Wir haben uns erlaubt. Sie ein wenig mit Tediruun bekanntzumachen«, gestand er ein. »Was durchaus in unserem Sinne war«, warf Danog ut Keltris ein. Jetzt war es an Vegas, sich zu räuspem; er war nicht der einzige, der Kanoos Vorhaben bemerkt hatte. »Wo ist denn nun die Botschaft?« fragte er, das Thema wechselnd. »Wir fahren gerade vor«, bedeutete ihm der Gönn.
Das Fahrzeug hielt vor einem turmartigen Gebäude, einem Riesenpylon, wie es schien, der nur durch die Farbgebung und das Wechselspiel zwischen Licht und Schatten und sich bewegenden Ästen den Eindruck von etwas Organischem machte. Doch auf den zweiten Blick wurde erkennbar, daß es sich tatsächlich um einen gigantischen Baum handelte, der alle anderen in der näheren und weiteren Umgebung dominierte. Zwei weitere in seiner unmittelbaren Nähe waren so angeordnet, daß sie zusammen ein Pylon-Dreieck bildeten; die Türme waren mit Laufgängen in unterschiedlichen Höhen verbunden, so daß man mühelos von einem zum anderen gelangen konnte. »Es macht so einen bedeutenden Eindruck«, meinte Carl Tanner. »Worum handelt es sich?« »Es ist der Sitz des zentralen Magistrates von Külä, Amtssitz des Prätendenten, Stadthalle, Sitz der Kongregationsbibliothek Küläs, der historischen Archive, Gästehaus der Regierung für die Gouverneure der einzelnen Provinzen«, zählte Kanoo auf, verstummte und fügte dann hinzu: »Von heute an auch Amtssitz der terranischen Botschaft.«
Die Aussicht, die das diplomatische Team aus seinen Räumen in luftiger Höhe genoß, konnte man selbst mit dem Wort »überragend« nur annähernd richtig bezeichnen. 342 Die Männer und Frauen hatten durchweg luxuriös eingerichtete Räume knapp unter der Krone eines der Riesenbäume bezogen und begannen bereits, sich wohlzufühlen. Carl Tanner inspizierte gewissenhaft die technischen und samtären Einrichtungen, um sich dann mit Roy Vegas zurück zum Schiff zu begeben, wo er dafür Sorge trug, daß die persönlichen Habseligkeiten der Kontaktgruppe in die Botschaft gebracht wurden. Darüber ging die Mittagszeit hin. Am Nachmittag entluden die Roboter der SPECTRAL unter Aufsicht des Zweiten Offiziers und des Lademeisters den Großteil der übrigen Ladung. Kisten und Container wurden per Schwebeplattformen in eine der flachen Hallen gebracht, in der das terrani-sche Team zusammen mit noch zu bestimmenden gormschen Ingenieuren und Wissenschaftlern den Aufbau einer stabilen Hyper-funkstrecke zwischen dem Raumhafen auf Külä und Cent Field auf der Erde über verschiedene To-Relaisstationen in Angriff nehmen würde. Damit allein war es zwar nicht getan; die dazu nötige Peripherie für einen ständigen und reibungslosen Betrieb mußte entsprechend den technischen Anforderungen ebenfalls geschaffen werden. Doch auf Terra war man zuversichtlich, daß dieser Teil der Vereinbarungen von Kräften vor Ort gut bewerkstelligt werden konnte. Die Entladung war nach zwei Stunden gormscher Normzeit — die nur unwesentlich von der auf Terra abwich - beendet. Den transportablen Meiler würde man erst aus dem Schiff holen, wenn die entsprechenden Verankerungen und Unterbauten im Sendezentrum fertiggestellt waren. Tanner kehrte zur Botschaft zurück, ohne den Kapitän, der es vorzog, beim Schiff zu bleiben. Von diplomatischen Soireen hielt Roy Vegas herzlich wenig -im Grunde genommen eigentlich gar nichts. Er war eben doch ein Mann aus dem vorigen Jahrhundert. 343 Die Musik war bereits zu hören, noch ehe die uniform livrierten Gorm die gewölbten Flügeltüren aufzogen. Gouverneur Kanoo empfing Danog ut Keltris und seine Begleiter, hieß sie willkommen und ging dann voraus. Die Gesellschaft, auf die die terranische Abordnung in der hohen Halle traf, schien überwiegend aus Honoratioren des Magistrats von Tediruun zu bestehen, männlichen wie weiblichen. Wobei letzteren auch nach menschlichen Maßstäben und Vorstellungen eine gewisse ätherische Schönheit nicht abzusprechen war. In den zentralen Raum waren drei kreisförmige Ebenen eingefügt, mit Rampen verbunden, so daß das Ganze einer archimedischen Schraube glich. Auf den Ebenen befanden sich Sitzgelegenheiten, Polster, Hocker, thronartige Stühle und lange Tische. Eine Menge Bedienstete eilten umher, trugen Schüsseln und Krüge auf. Der Geruch von raffiniert zubereiteten Speisen ließ Danogs Nasenspalten vibrieren, zumal er aus der Analyse der Duftmoleküle, zu der sein Metabolismus fähig war, feststellte, daß es sich durchweg um vegetarische Speisen handelte. Der hohe Raum war in gedämpftes, vorwiegend orangefarbenes und rötliches Licht getaucht. Niemand schien sonderlich vom Auftreten der Terraner überrascht zu sein, einzig Danog ut Keltris' exotische Gestalt erregte Aufmerksamkeit. Doch die war weder peinlich noch aufdringlich. Kanoo wählte ihren Weg so unauffällig geschickt, daß es kaum zu merken war, daß es sich in Wirklichkeit um eine Art Defilee handelte. Die Angehörigen des Magistrats gingen an der terranischen Abordnung vorbei und
nickten freundlich oder beiläufig, bekundeten aber sonst kaum gesteigerte Aufmerksamkeit. Der Gouverneur führte die Abordnung Terras auf die oberste Ebene, ungefähr dreißig Meter über dem Bodenniveau, zu einem großen Tisch, auf dem eine Batterie Windlichter stand, die einen betäubenden Geruch nach Harzen und anderen Ingredienzen verströmten. Ein Abschnitt war ein wenig vom übrigen Geschehen abgegrenzt, durch geschickt arrangierte Sitzgelegenheiten und versetzt angeordnete Paravents. In der Mitte befand sich ein gepolsterter Thron. 344 Die Loge des Regierungschefs?
Von Danog darauf angesprochen, bestätigte Gouverneur Kanoo dessen Vermutung.
»Sidrox Grandel ist leider noch nicht eingetroffen«, bedauerte er, »wird aber in Kürze erwartet. Ich hoffe.
Sie sind nicht zu ungehalten, wenn ich Sie bitte, sich noch ein wenig in Geduld zu üben, Botschafter
Danog.«
Danog ut Keltris versicherte ihm sein Verständnis für das spätere Eintreffen des Prätendenten.
»Darf ich Ihnen und Ihrem Personal inzwischen einige Köstlichkeiten aus unseren Küchen anbieten? Ich
bin sicher, sie werden Ihnen munden.«
Danogs Wangen wurden hellbraun bei der Aussicht auf ein köstliches Mahl.
»Ich bin sicher, das werden sie«, ließ er sich vernehmen.
Gouverneur Kanoo klatschte dezent in die Hände, was mehrere Bedienstete auf den Plan rief. Er gab
einige rasche Anweisungen, die vom Translator unübersetzt blieben, und wandte sich dann erneut dem
Walfen zu. »Darf ich Sie in der Zwischenzeit mit unseren drei Astronauten bekannt machen, jenen
unerschrockenen Helden, die das Wagnis auf sich nahmen, den bodenlosen Abgrund zwischen Külä und
unserer Nachbarwelt erstmals zu überwinden? Sie sind ganz begierig darauf, von Ihnen mehr über die
mannigfaltigen Populationen zwischen den Sternen zu erfahren. Von der Möglichkeit, schneller als das
Licht reisen zu können.«
»Nur zu«, entsprach Danog ut Keltris der Bitte des Gouverneurs. »Wir sehen es als eine Geste des
gegenseitigen Befruchtens an, möglichst viel an Gedanken und Wissen auszutauschen. Wo sind Ihre
Helden?«
Wie aufs Stichwort traten drei Gorm an den Tisch heran.
»Jumir«, sagte der eine.
»Jamir«, der andere.
»Jomir«, der dritte.
»Nehmen Sie Platz, meine Herren«, bat Danog, »Machen Sie uns die Freude, an unserem Mahl
teilzunehmen. Bei einem guten Essen und einem noch besseren Wein - ich hoffe, man kennt auf Külä
derartige Stimulanzien - plaudert sich's noch kurzweiliger.«
345 Die Raumfahrer nahmen zwischen den Terranem Platz. Schnell war das Eis gebrochen und eine rege Unterhaltung im Gang. Gouverneur Kanoo verließ sie, um herauszufinden, wann der Prätendent eintreffen würde. Auf der tieferliegenden Ebene bemühte sich eine Gruppe Tänzer und Tänzerinnen, den Gästen etwas vom gormschen Brauchtum nahezubringen. Lange, frei herabhängende Bahnen bunt bedruckter Stoffe blähten sich in der Brise, die ständig durch die Halle wehte. Sie schufen auf allen drei Ebenen optisch abgegrenzte Bereiche und ließen die Halle zu einem Vexierbild aus Farben, Gerüchen, Musik und lauten Unterhaltungen werden. Gespräche waren zu hören. Gläserklirren, Besteckklappem, Schritte und Geläch ter. Und endlich kam das Essen. Schüsseln und Schalen voll duftender, dampfender Speisen. Alle Sorten von Gemüsen, von Wurzeln und Sprossen; gesotten, gebraten, nur leicht gedämpft; dazu stärkehaltige Knollen, die in kochendem Dampf aufgebrochen waren wie überreife Früchte, bestreut mit Krautern; Platten voller Fladenbrote, gefüllt mit exotischen Gewürzen; als Getränke ein fast schwarzes Bier aus hohen Krügen und ein harziger, berauschender Wein in bauchigen Pokalen. Die Bediensteten waren unermüdlich im Auftragen immer neuer Köstlichkeiten. Charlotte Pilon zählte allein sieben Gerichte, ehe sie aufgab und die Segel strich. Yedidia Angus war die Nächste. Die Männer und die drei Gönn tafelten munter weiter - und Danog ut Keltris fühlte sich sowieso wie im Schlaraffenland. Gouverneur Kanoo glänzte noch immer durch Abwesenheit, ebenso der Regierungspräsident. Obwohl es nach Danogs Meinung noch zu früh dafür war, brachte eine weibliche Bedienung den Nachtisch; mehrere Sorten von Beeren und Kernfrüchten, gebeizt in Alkohol. Ihr auf dem Fuß folgte ein männlicher Bediensteter. In seinen Händen hielt er eine große, abgedeckte Schale, deren matter Glanz die Maserung des edlen Wurzelholzes hervorragend zur Geltung brachte. »Welche neue Köstlichkeit ist es diesmal, mein Freund?« fragte Danog. »Eine, die einmalig ist«, tönte es aus dem Translator des Walfen.
346 »Ihr macht mich neugierig«, hob der Botschafter an und rieb sich in einer Geste der Vorfreude die Hände.
Der Gönn stellte die Schale in die Mitte des Tisches.
»Rasch, rasch«, bat Danog. »Öffnet schon, mein Freund!«
Der junge Gönn hob den Deckel.
Danog beugte sich vor, um den Inhalt der Schale zu begutachten.
»Ah«, sagte er. »Sprossen, welch erlesene...« Er verstummte mit einem überraschten Schnaufen.
Die »Sprossen« erwachten zum Leben, als das Licht auf sie fiel. In Sekundenbruchteilen schössen sie wie
eine Fontäne in die Höhe, bildeten eine Krone, die sich teilte und eine Art Glocke, formten eine
Laubhütte, unter der Danog, die Tenaner und die drei gormschen Astronauten gefangen saßen. Schauer
auf Schauer lief durch die daumendicken Ranken, zu denen die Sprossen inzwischen mutiert waren.
Einige der Ranken hatten sich bereits am Boden verhakt und begannen wieder nach oben zu wachsen, in
einem Tempo, dem man nicht mit den Augen folgen konnte.
Ein langer, vielstimmiger Schrei des Entsetzens tobte durch den Festsaal, als den Anwesenden bewußt
wurde, was dort oben mit den Ehrengästen des Abends geschah.
Dann erhob sich eine einzelne Stimme aus dem Chor.
»Tod allen Teufeln aus dem All, und Tod all ihren Verbündeten!«
Es war der Bedienstete, der die Schale gebracht hatte.
Die jungen Frauen waren starr vor Entsetzen.
»Tu doch etwas!« sagte Charlotte mit bleichem Gesicht und drängte sich schutzsuchend an Carl Tanner,
während die Laubhütte sich wie im Fieberkrampf schüttelte und die Ranken sich immer schneller
ineinander verhakten. Dann bildeten sich eisenharte Domen auf der Innenseite aus.
»Was ist, womit haben wir es hier zu tun?« forderte Danog von den mitgefangenen Gönn Aufklärung,
während die MeTarnorphose der Sprossen immer weiterging. Jetzt zog sich das ganze Gebilde wie ein
lebendes Wesen zusammen, enger und enger. Die unzähligen Domen sonderten eine Flüssigkeit ab, die
Fäden ausbildete und die Ranken zusätzlich miteinander verklebte. Es schien sich um einen regelrechten
Verpuppungsvorgang zu handeln.
347 »Eine Orak-Pflanze«, antwortete Jumir endlich. »Eine fleischfressende Pflanze.«
»Und wie entkommen wir ihr?«
»Gar nicht«, erklärte Jomir mit fatalistischer Stimme. »Es gibt kein Entkommen. In wenigen
Augenblicken werden wir von den Domen getötet werden...«