Andrea Kerres Bernd Seeberger (Hrsg.) Gesamtlehrbuch Pflegemanagement
Andrea Kerres Bernd Seeberger (Hrsg.)
Gesamtlehrbuch Pflegemanagement Mit 97 Abbildungen und 25 Tabellen Unter Mitarbeit von M. Ahne, R. Bögel, H. Devrient, J. Falk, S. Fließ, M. Haubrock, W. Krompholz-Schink, A. Marra, B.H. Mühlbauer, P. Oberender, P. Obermaier-van Deun, M. Reckenfelderbäumer, L. v. Rosenstiel, P.-E. Schnabel, O. Scupin, B. Städtler-Mach, R. Trill, J. Zerth,
123
Prof. Dr. Andrea Kerres Buchenweg 2 86511 Schmiechen
[email protected]
Prof. Dr. Bernd Seeberger Bayernring 119 91567 Herrieden
[email protected]
ISBN-10 ISBN-13
3-540-23736-4 Springer Medizin Verlag Heidelberg 978-3-540-23736-4 Springer Medizin Verlag Heidelberg
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22/2122 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Mit dem vorliegenden Gesamtlehrbuch Pflegemanagement werden die bewährten und etablierten Inhalte der Bände »Lehrbuch Pflegemanagement I-III« abgeschlossen. Pflegemanagement war ein Begriff der beginnenden 90er Jahre, entstanden aus den gesetzlichen Vorgaben der Gesundheitsstrukturgesetze und des Pflegeversicherungsgesetzes. Vorgaben, die zu veränderten Rahmenbedingungen und Arbeitskonzepten im mittleren Management der Pflege führten: Zunehmende Kunden- und Patientenorientierung, Verquickung von Pflege, Kosten und geplanter Personaleinsatz waren Eckpfeiler des neuen Berufsfeldes Pflegemanagement. Der Begriff Pflegemanagement ist nach wie vor nicht abgegrenzt. Vielmehr beinhaltet er heute als Oberbegriff ein Arbeitsfeld, das vorwiegend die Leitungs- und Führungskompetenz in der Pflege- und Gesundheitswirtschaft deutet. Er transportiert jene Formen eines sozialen Dienstleistungsmanagements, die eine professionelle Arbeitsweise und Führung benötigen, um effektives Management und Dienstleistungen gestalten zu können. Ausgelöst durch zusätzliche gesetzliche Regelungen und straffere ökonomische Konzepte sowie die Nutzung von interner Wissensbasis wurde das Leitwort »Veränderungsmanagement« zum neuen Qualifikationsmerkmal für erfolgreiche Pflegemanagerinnen oder Diplompflegewirte. Zugleich zeigt sich die Professionalisierung und fortschreitende Akademisierung in immer neueren Bachelor- und Masterabschlüssen. Die ausgewählten Beiträge zeigen konzeptionelle Hintergründe eines lösungsorientierten Führungsansatzes oder -verständnisses auf. Werden im ersten Kapitel wirtschaftsethische Fragestellungen erörtert, stellt das Kapitel 2 rechtliche Grundlagen und das Kapitel 3 systemtheoretische Sichtweisen auf Gesundheitsorganisationen in den Mittelpunkt. Wissenschaftstheoretische Ansätze und Methoden der empirischen Sozialforschung werden im Kapitel 4 und 5 aufgezeigt. Entwicklungsperspektiven und einen praxisrelevanten Erweiterungsversuch nennt Kapitel 6 und 7. Im Kapitel 8 werden gesundheitsökonomische Perspektiven und Krankenhausfinanzierungsansätze im Kapitel 9 aktualisiert. Neuere Managementgrundsätze zeigt Kapitel 10 und Strukturen des Projektmanagement Kapitel 11 auf. Der Bedeutung von Unternehmenskultur widmet sich das 12. Kapitel und Anwendungsfelder für IT Kapitel 13. Eine Personalführung unter psychologischen Aspekten verdeutlicht Kapitel 14, gefolgt von Kapitel 15 mit betriebswirtschaftlichen Aufgaben für ein Pflegemanagement. Team und Teamentwicklung wird in Kapitel 16 diskutiert und die künftige Bedeutung von Public Relation stellt das abschließende Kapitel 17 vor. Zusammenfassend zeigen die einzelnen Beiträge nochmals die wichtigsten Denk- und Handlungsfelder für erfolgreiche Führungspersonen im Pflege- und Gesundheitswesen auf. Komprimiert stellen sie die »softkills« für einen werteorientierten und personenbezogenen Führungsansatz dar. Die Beiträge geben die Sichtweise und unterschiedlichen Erfahrungen der Autoren wieder, wobei die Reihenfolge der Beiträge keine inhaltliche Gewichtung vorgibt. Zur besseren Lesbarkeit wurde sprachlich die männliche Form gewählt. Beide Herausgeber danken den Autoren für das Überarbeiten bzw. Neugestalten ihrer Beiträge. Dem Springer-Verlag gilt besonderer Dank für die langjährige Zusammenarbeit, die die Umsetzung der Lehrbücher Pflegemanagement ermöglicht hat. Die Autoren, die Herausgeber und der Verlag wünschen den interessierten Lesern viel Erfolg mit dem abschließenden Gesamtlehrbuch Pflegemanagement. Bernd Seeberger Andrea Kerres
Nürnberg und Schmiechen, im Mai 2005
VII
Inhaltsverzeichnis 1
Wirtschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
4
B. Städtler-Mach, H. Devrient
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
1.6
Zur gesellschaftspolitischen Bedeutung von Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 Ethik als systematische Reflexion menschlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2 Ethische Kompetenz der Führungskraft . . . . .7 Zur Bedeutung des Menschenbildes . . . . . . 10 Ethik als Führungsinstrument: Die Bedeutung verantworteter Ethik für das Pflegemanagement . . . . . . . . . . . . . . . 13 Wirtschafts- und unternehmensethische Grundgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . . 26 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
B. H. Mühlbauer
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9
2
Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 P. Obermaier-van Deun
2.1 2.2 2.3
3
Rechtsträgerschaften – Basis des Managements. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufshaftpflicht – trägerspezifisch unterschiedliche Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . Zustandekommen und Beendigung eines Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . 89
29
4.10 4.11 4.12
40
4.13
44 57 57
4.14 4.15
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Wissenschaft – Die Frage nach der Wahrheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. . . . . 90 Was ist eigentlich »Wissenschaft«? . . . . . . . . 92 Einteilung der Wissenschaftsgebiete in wissenschaftshistorischer Sicht . . . . . . . . . 94 Entwicklung der Wissenschaft und Gründung von Universitäten. . . . . . . . . . . . . . 95 Dominanz der Methode und Einteilung der Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Eine Leitvorstellung: Die Naturwissenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die Suche nach systematischen Erklärungen und Begründungen oder was sind Theorien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Verstehen und Erklären . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Was ist wahr – was ist Wahrheit? . . . . . . . . . 104 Die Fortschrittsidee in den Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Gesundheitsökonomie als eigenständige Disziplin oder Teil der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre . . . . . . 107 Gesundheitswissenschaften . . . . . . . . . . . . . 108 Management – Eine Wissenschaft?. . . . . . . 109 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 113 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Einführung in die Systemtheorie . . . . . . 59 W. Krompholz-Schink
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8
Problematisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komplexe Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisation als Sinnsystem . . . . . . . . . . . . . . Systemtheoretische Erwägungen für Pflegemanager. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemtheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59 62 64 68 70 72
5
74 85 87 87
5.2
Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele . . . . . . . . . . 117 A. Kerres, B. H. Mühlbauer
5.1
Empirische Sozialforschung in den Gesundheits- und Lebenswissenschaften und deren Bedeutung für Studierende . . . 117 Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung in den Gesundheits- und Lebenswissenschaften . .120 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 156 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
VIII
Inhaltsverzeichnis
6
Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
9
P.-E. Schnabel
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8
7
Ausgangssituation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Zur Geschichte der Gesundheitsthematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Grundlegende Wissenschaften für die Gesundheitswissenschaften. . . . . . . . . . 161 Methodische Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . 167 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Zentrale Fragestellungen und Lösungsansätze in Gesundheitswissenschaften . . . 176 Entwicklungsperspektiven für die Gesundheitswissenschaften . . . . . . . . . . . . . 182 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 186 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
M. Haubrock
9.1 9.2
10
7.4 7.5
8
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Organisation und »Selbst« . . . . . . . . . . . . . . . 191 Der humanontogenetische Ansatz des Pflegemanagements . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Pflegemanagement und Selbstorganisation – Ein Praxisbeispiel . . . . . . . . . 200 Pflegemanagement mit neuen Zielen . . . . 210 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 210 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive . . . . . . . . . . . 213
10.1 10.2 10.3 10.4
10.5
11
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Gesundheit und Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . 213 Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Prinzipien der Gesundheitsversorgung . . . 221 Steuerungssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 233 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses . . . . . . 269 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Zur Lokalisierung des Ausgangspunktes. . 270 Krankenhausmanagement nach Hentze . . 270 Transformation des Hentze-Ansatzes auf die heutige Managementdiskussion im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Konsequenzen aus der Diskussion des situativen Managementansatzes im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 288 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
Projektmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . 291 M. Ahne, B. Seeberger
11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
P. Oberender, J. Zerth
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7
Rahmenbedingungen im Wandel . . . . . . . . 235 Abrechnung der Krankenhausleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 266 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
B. H. Mühlbauer
O. Scupin
7.1 7.2 7.3
Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel – Vom Tagessatz zum leistungsbezogenen Entgelt . . . . 235
12
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Projektmanagement als Instrument der Organisationsentwicklung . . . . . . . . . . . 291 Einführung ins Projektmanagement. . . . . . 293 Rahmenbedingungen von Projekten . . . . . 297 Die Projektplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Projektdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 313 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie . . . . . . . 315 B. H. Mühlbauer
12.1 12.2 12.3
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Kultur und Unternehmenskultur . . . . . . . . . 317 Strategie und Unternehmenskultur . . . . . . 327
IX Inhaltsverzeichnis
12.4 12.5
Unternehmensethik und Unternehmenskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Zusammenfassung und Ausblick. . . . . . . . . 335 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 336 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
15
S. Fließ, A. Marra, M. Reckenfelderbäumer
15.1 15.2 15.3
13
IT-Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 R. Trill
13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 13.7 13.8 13.9
14
Information als Erfolgsfaktor . . . . . . . . . . . . . 337 Geschichte der IT im Krankenhaus . . . . . . . 337 Technische Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 EDV-Anwendungen in der Pflege . . . . . . . . 343 Software-Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Der IT-Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Qualifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 360 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
Psychologische Aspekte der Personalführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
15.4 15.5 15.6
16
14.3 14.4 14.5 14.6
14.7 14.8
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Die Betrachtung der eigenen Person als ein Aspekt der Personalführung . . . . . . 364 Die Betrachtung der Dynamik in der Personalführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Psychologisches Fachwissen in der Personalführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Gestaltung der Personalentwicklung als ein Baustein der Personalführung . . . . .378 Personalentwicklung unter dem Blickwinkel der Gender-MainstreamDiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Personalentwicklung unter dem Blickwinkel des Diversity Management. . . 386 Bedeutung einiger psychologischer Aspekte der Personalführung für die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 390 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
Betriebswirtschaftliche Grundgedanken. . 393 Besonderheiten von Pflegedienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Managementaufgaben im Pflegebereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Gestaltung als Managementaufgabe . . . . . 400 Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 434 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
Teamentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 R. Bögel, L. von Rosenstiel
16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Erwartungen an die Teamentwicklung . . . 437 Was ist ein Team? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Bedingungen für die Teamentwicklung . . 441 Strategie der Teamentwicklung . . . . . . . . . . 443 Zukunft der Teamarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 446 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
17
Public Relations (PR) . . . . . . . . . . . . . . . . 449
A. Kerres
14.1 14.2
Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements . . . . . . . . . . . . 393
J. Falk
17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6 17.7 17.8
Einführung »Man kann nicht nicht kommunizieren« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Die Ziele von PR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Aufgaben von PR-Beauftragten . . . . . . . . . . 452 Relevante Zielgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Image und Corporate Identity . . . . . . . . . . . 458 Strategiekonzept zur PR-Arbeit . . . . . . . . . . 460 Pressearbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Wissens- und Transferfragen . . . . . . . . . . . . . 472 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
XI
Autorenverzeichnis Ahne, Markus
Mühlbauer, Bernd H.
Städtler-Mach, Barbara
Diplom-Pflegewirt Sterngasse 6 91456 Diespeck
Prof. Sölderstr. 73 44289 Dortmund
Devrient, Heike
Oberender, Peter
cand. Diplom-Pflegewirtin Weingasse 24 91077 Neunkirchen
Prof. Dr. Institut für Gesundheitsökonomie, Universität Bayreuth 95440 Bayreuth
Prof. Dr. Fachbereich Pflegemanagement, Evangelische Fachhochschule Nürnberg Bärenschanzstr. 4 90429 Nürnberg
Falk, Juliane Pädagogische Werkstatt für Berufe im Gesundheits- u. Sozialwesen Volksdorfer Weg 27 22391 Hamburg
Obermaier-van Deun, Peter
Fließ, Sabine
Reckenfelderbäumer, Martin
Prof. Dr. Douglas-Stiftungslehrstuhl für Dienstleistungsmanagement, FernUniversität in Hagen, Profilstr. 8 58084 Hagen
Prof. Dr. AKAD Wissenschaftliche Hochschule Lahr, Hohbergweg 15–17 77933 Lahr/Schwarzwald
Prof. Dr. Hohenaschauer Str. 74 81669 München
Schnabel, Peter-Ernst Haubrock, Manfred Prof. Dr. Adolfstr. 23 49087 Osnabrück
Prof. Dr. Universität Bielefeld Universitätsstr. 25 33615 Bielefeld
Kerres, Andrea
Scupin, Olaf
Prof. Dr. Buchenweg 2 86511 Schmiechen
Krompholz-Schink, Wilhelm
Prof. Dr. Friedrich-Ebert-Krankenhaus Neumünster GmbH, Neumünster Friesenstr. 11 24534 Neumünster
Bahnhofstr. 4 92259 Neukirchen
Seeberger, Bernd
Marra, Andreas Dr. Bismarckstr. 77 70197 Stuttgart
Prof. Dr. Bayernring 119 91567 Herrieden
Trill, Roland Prof. Dr. Fachhochschule Flensburg Kanzleistr. 91–93 24943 Flensburg
Rosenstiel, Lutz von Prof. Dr. Dr. Institut für Psychologie, Universität München Leopoldstr. 13, 80802 München
Zerth, Jürgen Institut für Gesundheitsökonomie, Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
1 Wirtschaftsethik B. Städtler-Mach, H. Devrient 1.1
Zur gesellschaftspolitischen Bedeutung von Ethik – 1
1.6
Wirtschafts- und unternehmensethische Grundgedanken – 20
1.2
Ethik als systematische Reflexion menschlichen Handelns – 2
Wissens- und Transferfragen
1.3
Ethische Kompetenz der Führungskraft – 7
1.4
Zur Bedeutung des Menschenbildes – 10
1.5
Ethik als Führungsinstrument: Die Bedeutung verantworteter Ethik für das Pflegemanagement – 13
1.1
Zur gesellschaftspolitischen Bedeutung von Ethik
Literatur
Der Begriff »Ethik« erlebt in den vergangenen Jahren einen enormen Aufschwung. In fast modischer Art und Weise wird heute von Ethik gesprochen. Kaum ein Teilsystem unserer Gesellschaft verzichtet auf eine Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen. Ob Wirtschafts- oder Medizinethik, Ethik im Straßenverkehr oder in der Ökologie – Ethik ist zum aktuellen Thema geworden. Tendenziell lässt sich eher eine quantitative und qualitative Fortschreibung als ein Rückgang des Interesses an diesem Vorhaben erkennen (Leonhard 1993). Freilich ist bei dieser eher formalen Betrachtung zunächst noch nichts über die Inhalte gesagt. Darin liegt das Problem. > Nicht die Notwendigkeit einer ethischen Reflexion ist die Frage, sondern deren inhaltliche Gestaltung: Was ist zu tun? Wer sagt uns, was richtig und gut zu tun ist? Wie lassen sich Wirtschaftlichkeit und Ethik verbinden? Wo liegt die Notwendigkeit dieser Verbindung?
An dieser allgemeingesellschaftlichen Entwicklung partizipieren auch die Pflege und das Pflegemanagement. Aus der Aus-, Fort- und Weiterbildung,
– 26
– 27
aus Kongressen und Symposien, aus Pflegestudiengängen und sämtlichen Formen der Publikation ist die Reflexion über ethische Grundlagen in der Pflege allgemein und über spezielle Themen im besonderen nicht mehr wegzudenken. Im Vergleich der Beschäftigung anderer Disziplinen mit ethischen Fragen ist jedoch zuallererst darauf hinzuweisen, dass sich Pflege und auch andere Professionen im Gesundheitswesen keineswegs erst neuerdings diesem Fragekomplex stellen. Vielmehr gehört es zur genuinen Ausrichtung der Pflegenden aller Zeiten und aller Herkunftssysteme, die ethischen Inhalte der Pflegetätigkeit zu sehen, zu benennen und immer wieder neu zu reflektieren. So lassen sich die Entstehung der Pflege und ihr Vollzug in vielen historischen Zusammenhängen geradezu als ein Ertrag ethischer Verantwortung klassifizieren. Hier ist beispielsweise auf die Entstehung und Entwicklung christlicher Krankenpflege zu verweisen, die sich seit ihrem Beginn im ersten nachchristlichen Jahrhundert als eine mögliche Antwort auf die Frage: »Was soll ich tun?« versteht. Auch der Neueinsatz christlicher Krankenpflege im 19. Jahrhundert entsteht – neben anderen Motivsträngen – aus dieser ethischen Ausrichtung. In aller gebotenen Kürze kann das Motiv charakterisiert werden als praktische Nachfolge
2
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Kapitel 1 · Wirtschaftsethik
Christi, die ihren Auftrag darin sieht, den Kranken zu helfen und zu ihrer Heilung beizutragen (Möller u. Hesselbarth 1994). Neben der christlichen Motivation zur Pflege, die über Jahrhunderte in Europa vorherrschend war, ist auch die zu nennen, deren ethische Ausrichtung in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen entstanden ist. Hier ist exemplarisch zu verweisen an die nationale Aufbruchstimmung des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert wie auch an die Pflege in der NS-Zeit, die von der damals vorherrschenden Ideologie und schließlich durch die Kriegseinsätze geprägt wird (Steppe 1989). > Mit diesen kurzen Hinweisen auf völlig unterschiedliche ethische Grundhaltungen wird deutlich, dass Pflege immer in engem Kontext zur vorherrschenden Ethik der Gesellschaft oder zumindest einer tragfähigen Gruppe dieser Gesellschaft steht.
Bevor auf die Zusammenhänge von Pflege, Pflegemanagement und gegenwärtiger Gesellschaft einzugehen ist, soll die Frage nach dem Ziel des Vorhabens einer ethischen Reflexion gestellt werden. Denn es erscheint für die wissenschaftliche Beschäftigung unerlässlich, die Notwendigkeit der Beschäftigung mit Ethik immer neu zu diskutieren, unabhängig sowohl von geschichtlicher Überlieferung als auch von der gegenwärtigen Begeisterung für Ethik. Warum also beschäftigen sich Pflege und Pflegemanagement mit Ethik? Welchen Stellenwert besitzt Ethik in der gegenwärtigen Auseinandersetzung und evtl. der Neugestaltung von Pflege? Wo liegt der Nutzen der Verknüpfung von Wirtschaftlichkeit und Ethik? Hierauf sind natürlich viele verschiedene und individuell geprägte Antworten denkbar. Aus der Fülle möglicher Begründungen möchte ich zwei anführen, die für die folgende Erörterung den Ausgangspunkt bilden. ▬ Zum einen fördert die Pflege durch die Teilnahme am ethischen Diskurs die interdisziplinäre Reflexion ethischer Fragestellungen. Im derzeitigen Gesundheitswesen ist dies dringend erforderlich, weil sich aus den vielen Möglichkeiten der Medizin und den begrenzten Möglichkeiten ihrer Finanzierung prinzipielle und im Alltag auch kasuistische ethische Fra-
gestellungen höchster Dringlichkeit ergeben. Durch ihre Teilnahme an diesem ethischen Diskurs zeigt die Pflege, dass sie als Fach (wissenschaftlich gesprochen als Disziplin) und als Profession nicht zu übergehen ist, wenn die an ethischen Problemen Beteiligten nach Antworten oder Lösungen suchen. Wo Pflegende qualifiziert zu ethischen Problemen Stellung nehmen können, wird ihre Akzeptanz durch andere Berufsgruppen gefördert und ihr Profil in der Öffentlichkeit gewinnt an Klarheit. ▬ Zum anderen – und diese Antwort überwiegt in ihrer Bedeutung die berufspolitische bei weitem – gehört es zur originären Aufgabe derer, die pflegen, genauer: die das Leben pflegen, das zu betreiben, was dem Leben dient. Wenn Ethik, soviel sei einmal vorausgesetzt, dem Leben dienen soll, dann sind der Aufgabenbereich der Pflege und der der Ethik nicht von einander zu trennen, in gewissem Sinn sogar identisch. Das Problem dabei liegt auf der Hand: In vielen Fällen, in denen es um Leben und Tod oder um die Qualität des Lebens an und für sich geht, steht nicht von vornherein und gleichsam selbstverständlich fest, was dem Leben dient. Pflegende wie auch Ärzte und Gesundheitspolitiker stehen vor mehreren Alternativen, die hinsichtlich ihrer Wirksamkeit, ihrer Konsequenzen und ihrer Kosten unterschiedlich zu beurteilen sind. Im einen Fall geht es dabei um das Leben, Weiterleben oder Sterben eines Einzelnen, im anderen (oder besser im grundsätzlich denkbaren) Fall geht es um das Leben vieler Menschen, deren Krankheit gegen andere Kostenfaktoren aufgerechnet werden kann. Sowohl im Einzelfall am Kranken- und Pflegebett als auch in den Fällen, wo grundsätzliche Weichenstellungen vorgenommen werden, muss die Pflege präsent sein, wenn sie ihren Grundauftrag und ihr Hauptvorhaben nicht verraten will.
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Ethik als systematische Reflexion menschlichen Handelns
Für die gegenwärtige und erst recht für eine zukunftsorientierte Reflexion ethischer Grundlagen menschlichen Handelns einerseits und im Hin-
3 1.2 · Ethik als systematische Reflexion menschlichen Handelns
blick auf das Management von Pflegeeinrichtungen und auf Leitungspositionen im Gesundheitswesen andererseits ist zuerst die Frage zu klären, was denn mit Ethik überhaupt gemeint sei. Keineswegs ist nämlich vorauszusetzen, dass jeder, der von Ethik spricht, damit auch die gleichen Inhalte beschreibt. Das gilt sowohl in Bezug auf den Gegenstand, mit dem diese Disziplin zu tun hat, als auch in Bezug auf die tatsächlich getroffenen inhaltlichen Aussagen (Arndt 1996). Für manche Pflegende ist Ethik bereits mit konkreten Themen besetzt, die denen der Medizinethik sehr nahe stehen, z. B. die Frage des Hirntodes in Bezug zur Organtransplantation oder die interdisziplinär geführte Diskussion über Euthanasie sowie die neu entstandenen Probleme der Präimplantationsdiagnostik und dem Klonen menschlicher Stammzellen. In diesen und anderen Fragestellungen entsteht die ethische Relevanz durch die Entscheidungssituation, die Eindeutigkeit erfordert. Im Allgemeinen vollziehen sich ethische Fragestellungen nicht immer vor diesen letzten Alternativen. Vieles, was das menschliche Leben im Hinblick auf den einzelnen, die Gemeinschaft im Kleinen und im Großen betrifft (dazu ist auch die gesamte Umwelt zu rechnen) findet mit weniger Aufsehen statt. Unser Leben – privat wie beruflich, individuell wie gesellschaftlich – ist voller kleinerer und größerer ethischer Entscheidungen. Auch in Alltagssituationen fällen wir ständig ethische Entscheidungen, deren Tragweite wir uns oft gar nicht bewusst sind. Wer sich beispielsweise dazu entschließt, genmanipulierte Nahrungsmittel zu kaufen und zu verzehren, trifft damit auch eine ethische Entscheidung – nicht nur mit individueller, sondern darüber hinaus mit einer großen sozialen Tragweite. Für andere Pflegende existieren ethische Fragen als Herausforderungen des beruflichen Alltags, ohne dass die jeweilige Situation nach einer zugespitzten Entscheidung, womöglich noch der über Leben und Tod, verlangt. Solche ethischen Fragen des Alltagshandelns betreffen beispielsweise die Maßstäbe der Zusammenarbeit im Team, die Kommunikation untereinander, insbesondere zwischen einer Leitungsperson und ihren nachgeordneten Pflegekräften, und speziell den Umgang mit den begrenzten Ressourcen.
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Schließlich ist auch in Erwägung zu ziehen, inwiefern die konkrete Führung in Organisationen der Pflege und des Gesundheitswesens ethische Fragestellungen verursacht. Auf diese besondere Bedeutung der Ethik für das Pflegemanagement wird noch einzugehen sein. Unterscheidung von Ethik und Moral
Die Unterschiedlichkeit in den Vorstellungen darüber, was mit Ethik gemeint ist, stellt sich zuweilen als Unvereinbarkeit der Standpunkte heraus. Das Problem betrifft sowohl die persönlichen Spezifika der einzelnen Pflegepersonen als auch die Auffassung darüber, was Ethik wirklich ist. So mag es durchaus zu Kontroversen zwischen Pflegenden einer Station kommen, ob der Umgang mit der Kollegin, die wochenlang krank ist und die Dienstplangestaltung erheblich belastet, zu einem ethischen Thema wird oder nicht. Auch die Frage des Sprachstils zwischen der Krankenschwester und dem verwirrten Patienten (um ein Beispiel aus der Beziehung zwischen Pflege und Patient zu wählen) ist für manche Pflegende bereits ein Thema der Ethik, während andere sie als Alltagslappalie abtun, der keinerlei Aufmerksamkeit beizumessen ist. > Häufig wird der Begriff Ethik – gerade im eher privaten Bereich – mit der Moral gleichgesetzt. Hier ist im Sinn wissenschaftlicher Ethik jedoch zu unterscheiden.
Unter Moral wird das jeweils herrschende System sittlicher Grundüberzeugung verstanden, das in einer Gruppe oder einer Kultur gilt. Dieses System setzt sich aus Sitten, Bräuchen und Gewohnheiten zusammen, wird in der Regel ohne erkennbare Theorie und im eher persönlichen Rahmen vermittelt. Die Moral beschreibt, was »man« tut oder lässt, ohne das im Einzelnen zu begründen. Dafür benutzt sie in der Regel eine Denkweise und damit auch eine Sprache, die in Polaritäten unterteilt: Gut – böse, falsch – richtig. Die Moral wird nicht eigentlich gelehrt, sondern im zwischenmenschlichen Miteinander durch primäre und sekundäre Erziehung (Elternhaus, Schulen und Freunde) vermittelt. Von besonderer Bedeutung sind auch all diejenigen Gruppen in der Gesellschaft, die von ihrem Selbstverständnis her Werte vorgeben: Kirchen und andere weltanschauliche Gruppen,
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Kapitel 1 · Wirtschaftsethik
Interessenverbände und Parteien. Von wesentlichem Einfluss sind dabei auch die Medien, die das Verständnis von Moral in eher unbemerkter Weise beeinflussen. Die Moral einer Gesellschaft ist wandelbar, weil die Werte und Haltungen, auf denen sie beruht, einem Wandel unterliegen. Ebenso ist es von Bedeutung, dass die Moral kulturabhängig ist. > Die Moral einer Gesellschaft ist wandelbar. Dem gegenüber stellt die Ethik eine wissenschaftliche Disziplin dar, die in der praktischen Philosophie oder auch der Theologie angesiedelt ist. Ihr geht es darum, auf der Reflexionsebene Fragen nach dem menschlichen Verhalten zu stellen und nach Antworten zu suchen. Als Wissenschaft ist Ethik darum bemüht, logisch zu argumentieren, zu begründen und Werte zu vermitteln – einen Anspruch also zu erfüllen, den die Moral so nicht stellt. Als wissenschaftliche Disziplin lässt sich Ethik definieren als systematische Reflexion über das menschliche Handeln und Verhalten im Hinblick auf die Frage: Was sollen wir tun? > Werte bewusst machen und reflektieren ist die Aufgabe der Ethik.
Was die Moral an Vorstellungen bereithält, wird durch die ethische Reflexion geprüft und auf die jeweiligen Konfliktfälle oder ethischen Fragen bezogen. In diesem Sinn hat es die Moral mit Werten zu tun, die für ethische Entscheidungen oder – wie in unserem Zusammenhang – mit Führungsfragen ethischer Relevanz in Verbindung gebracht werden. Das Wort Ethik hat zwei Wurzeln, die in der altgriechischen Sprache liegen. Dort bezeichnet das Wort ethos die Sitte, den Brauch, das Herkommen. Ihm entspricht in der lateinischen Sprache das Wort »mos, mores«, was soviel wie »Moral, Sitte« bedeutet. Die zweite Wurzel stellt das Wort äthos dar, was »Wohnung, bewohnter Ort des Lebens« bedeutet. Aus der Verbindung beider Wurzeln wird schnell deutlich, was das Wort Ethik also in seiner ursprünglichen Aussage meint. > Ethik beschreibt »Ordnungsgebilde, die gewachsene Lebensformen repräsentieren, Lebensformen, die die Wert- und Sinnvorstellungen einer Handlungsgemeinschaft widerspiegeln.« (Pieper 1994, S. 26)
Der Hintergrund, der Reflexionen über menschliches Handeln und Verhalten ermöglicht, ist die Haltung eines jeden Einzelnen, die im Allgemeinen als Ethos bezeichnet wird. Mit dem Ethos eines Menschen oder einer Gruppe ist die – häufig eher unbewusst entstandene – Summe von erworbenen und selbst entwickelten Wertvorstellungen gemeint. Solche Wertvorstellungen werden durch Regeln, Gesetze und Normen beeinflusst, ebenso durch Erziehung und persönliche Lebenserfahrung. Die Summe der übernommenen Werte und der erworbenen Anschauungen und Erfahrungen setzen sich zu der sich wandelnden Instanz zusammen, die wir Gewissen nennen. Auch wenn einzelne Faktoren des Ethos klar benannt werden können (z. B. ein geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz), so scheint das Gesamtbild des Ethos eines Einzelnen oftmals unsystematisch und zuweilen nicht einmal bewusst zu sein. Erkennbar wird diese Tatsache an Äußerungen wie etwa der folgenden: »Ich weiß nicht warum, aber so etwas (z. B. aktive Sterbehilfe) könnte ich nie mitmachen.« Auch Entscheidungen, die getroffen, aber nicht begründet werden können, gehören in diesen Bereich der eher diffusen ethischen Haltung. > Demgegenüber hat die Ethik eine klar umrissene Aufgabenstellung, sowohl im persönlichen wie in wissenschaftlichen Bereich. Ihre Reflexion über die Richtigkeit von Tun und Lassen muss erklärbar, begründbar, nachvollziehbar und vermittelbar sein.
Damit wird deutlich, dass Ethik eine bewusste Auseinandersetzung anhand von Kriterien ist, die nicht der individuellen Beliebigkeit ausgesetzt sein dürfen. In der Verwendung dieser Kriterien gib es Unterschiede, die dann auch zu jeweils verschiedenen Formen der Ethik führen.
1.2.1 Normen und Werte
Jedes ethische Denken und Entscheiden orientiert sich an Normen und Werten. Normen bezeichnen in der ethischen Diskussion nicht rechnerisch ermittelte Werte, die zur Klassifizierung von Gegenständen dienen, wie z. B. die DIN-Normen. Vielmehr geht es hier um das, was hinsichtlich der
5 1.2 · Ethik als systematische Reflexion menschlichen Handelns
Moral für gut und richtig oder böse und falsch eingeschätzt wird. Normen wie auch Werte sind in hohem Maß von der jeweiligen Kultur und inneren Haltung derer, die sie vertreten, abhängig. So gelten beispielsweise hinsichtlich der Frage, wo eine Frau »oben ohne« gehen kann, in afrikanischen Gesellschaften andere Maßstäbe als in Mitteleuropa. Beschreiben die Normen in einer Ethik eher die Standards, die generell gelten, handelt es sich bei den Werten um eine ganz persönliche, für jedes Individuum verbindliche innere Einstellung und Haltung. Wenn mehrere Menschen eine innere Haltung teilen, z. B. den christlichen Glauben oder eine politische Überzeugung, werden folglich auch ihre Werte übereinstimmen. > Werte lassen sich als »bewusste oder unbewusste Orientierungsstandards und Leitvorstellungen, von denen sich Individuen und Gruppen bei ihrer Handlungswahl leiten lassen« charakterisieren (Höffe 1997 S. 332).
Keineswegs ist es der Beliebigkeit jedes einzelnen Menschen überlassen, ob die Werte eines anderen respektiert und akzeptiert werden oder nicht. Wer einen Wert oder auch die Normen einer Gruppe oder eines Individuums missachtet bzw. dagegen verstößt, muss mit Sanktionen rechnen. Im gesellschaftlichen Rahmen ist dies vor allem durch die Gesetzgebung geregelt, die einen Verstoß gegen Rechte, die auf Normen und Werten basieren, mit Strafen ahndet. Selbst wenn einzelnen Menschen bestimmte Normen nicht eingängig sind, müssen sie die Konsequenzen für einen Verstoß dagegen tragen und die Nachteile daraus in Kauf nehmen. Im individuellen Bereich werden Übertretungen von Werten und Normen ebenfalls mit Sanktionen belegt, die auf der individuellen Einstellung der betroffenen Person beruhen. So wird das Missachten eines persönlich gesetzten Wertes, wie z. B. der Ehrlichkeit, der Beziehung zu einem Menschen großen Schaden zufügen, ja sie vielleicht sogar zerstören. Bei der Kollision zweier oder mehrerer gleichrangiger Werte befindet sich der Mensch in einer Zwangslage, die als Dilemma bezeichnet wird. Die Werte sind meist miteinander unvereinbar, eine Entscheidung verletzt mindestens einen Wert und somit ist keine Alternative rundherum »gut«. Auflösbar ist das Dilemma durch das Prinzip der
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Güterabwägung, man nimmt also bei der Entscheidung das Zurückstehen eines Wertes billigend in Kauf (z. B. das kleinere Übel zur Verhinderung des großen). Ein Kompromiss ist nicht immer möglich, was beispielsweise die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs deutlich zeigt.
1.2.2 Wertewandel
Wenn sich die innere Haltung in einer Gesellschaft wandelt, ändern sich vor allem auch die Werte, die in dieser Gesellschaft verbindlich sind. Dies ist in Mitteleuropa in den vergangenen Jahrzehnten in hohem Maße der Fall, weshalb von einem bereits erfolgten »Wertewandel« zu sprechen ist. Unter Wertewandel wird der Prozess verstanden, der sich in der Gesellschaft einerseits sowie beim einzelnen Menschen andererseits vollzieht: Werte, die verbindlich und wichtig für eine Gruppe oder einen Menschen waren, verlieren an Bedeutung, ja geraten mitunter in Misskredit, und an ihre Stelle kommen neue, manchmal den alten Werten direkt entgegengesetzte. Klages (1984) unterscheidet in diesem Wertewandel die Werte des Individuums einerseits und die der Gesellschaft andererseits. Dabei wird deutlich, dass in beiden Bereichen der Wertewandel vollzogen ist, auch wenn die einzelnen Werte, die aufgegeben wurden, und die, die an ihre Stelle gerückt sind, unterschiedlich sind. Als Beispiel für Werte, die in der Gesellschaft nicht mehr von großer Bedeutung sind, sind Disziplin und Gehorsam zu nennen – an ihrer Stelle haben gegenwärtig Emanzipation und Autonomie hohe Konjunktur. Exemplarisch für den individuellen Wertewandel sind Genuss, Abenteuer und Selbstverwirklichung an Stelle von Selbstbeherrschung und Fügsamkeit zu nennen. Des Weiteren lässt sich die Wertepluralität als Kennzeichen der heutigen Zeit sehen, die das Nebeneinander der verschiedensten Wertsysteme meint.
1.2.3 Normative Ethik
Diese ethische Denkweise fragt danach, was allgemein richtig und gut ist, was folglich von jeder-
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Kapitel 1 · Wirtschaftsethik
mann zu tun ist. Von daher beansprucht normative Ethik die Verbindlichkeit für alle Menschen innerhalb einer Lebenswelt oder Berufsgruppe. Normative Ethik orientiert sich an Regeln, Gesetzen und Normen, die grundsätzlich beschreiben, was richtig und gut ist. Sie können wie ein Kodex, d. h. eine verbindliche Summe von Verhaltensweisen angesehen und verwendet werden. Im Fall von Konflikten, die ethische Entscheidungen provozieren, muss nicht jedes Mal von neuem gefragt werden, was zu tun ist. Vielmehr können die normativen ethischen Aussagen immer herangezogen und als verbindlich betrachtet werden. Die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls brauchen der Allgemeingültigkeit der normativen Ethik gegenüber nicht berücksichtigt werden. Als Beispiel sei hier die Christliche Ethik genannt, die als höchstes Gebot die Forderung aufstellt, dem Willen Gottes zu folgen.
1.2.4 Deskriptive Ethik
Die deskriptive Ethik beschreibt, welche Verhaltensweisen denkbar sind. Sie legt dabei durchaus auch moralische Prinzipien und Verhaltensregeln fest, aber sie erhebt nicht den Anspruch, die für alle Fälle gültige Verhaltensweise gleichsam im Vorhinein zu kennen und benennen zu wollen. Die deskriptive Ethik lässt sich mit einer Landkarte vergleichen. Mit ihrer Hilfe sehe ich, welche Wege möglich sind. Aufgrund ihres theoretischen Überblicks kann ich aber auch über die Konsequenzen vorausschauend nachdenken. In diesem Sinn fordert eine solche Ethik in der jeweiligen Situation eigenständiges Denken, Entscheiden und vor allem Verantworten (Tödt 1987).
1.2.5 Diskursive Ethik
Die diskursive Ethik kann mit dem Satz beschrieben werden: »An allem ist ein bisschen Wahrheit«. Durch Annäherung an ein Problem aus verschiedenen Perspektiven wird versucht, die Wahrheit zu ergründen. Dies setzt die Akzeptanz der anderen ethischen Standpunkte mindestens für die Diskussion voraus und das Bewusstsein für mehr als nur
eine mögliche Alternative. Dem verantwortlichen Entscheidungsträger geht es hier nicht darum, »Recht« zu haben, sondern das Richtige zu tun. Der Vollzug der diskursiven Ethik ist nur über Kommunikation denkbar.
1.2.6 Theorien von Ethik
Bei den wissenschaftlichen Theorien von Ethik kann grundsätzlich zwischen zwei unterschiedlich angelegten Denkweisen differenziert werden. ▬ Fragt eine Ethik nach dem, was meine Pflicht zu tun ist, sprechen wir von deontologischer Ethik. Der Name gründet sich auf das altgriechische Wort deon = die Pflicht. Damit ist die Denkweise beschrieben: eine Pflichtenethik. Wer diesen Denkansatz vertritt, geht gewissermaßen von einem vorgeformten Verständnis von Pflicht aus. Immer wird es klar sein, worin diese Pflicht oder die Pflichten bestehen, und so kommt es darauf an, diese Pflichten weitestgehend zu erfüllen. So ist es z. B. an sich gut, ein gegebenes Versprechen zu halten, gleichgültig, welchen Inhaltes es ist. ▬ Gegenstück ist die teleologische Ethik (griech. telos = das Ziel, der Zweck). Hier wird nach dem Ziel des Handelns gefragt, und danach wird bestimmt, was zu tun und zu lassen ist. Eine Handlung wird danach beurteilt, wie gut oder schlecht ihre Folgen sind.
1.2.7 Metaethik
Sie stellt sich gewissermaßen über eine Situation und beschreibt deren ethische Implikationen. Ihre Frage lautet: Unter welchen Umständen kann eine Aussage für ethisch angesehen werden? Die Metaethik besitzt verschiedene Charakteristika, die sie als über den konkreten Einzelfall hinaus geltend ausweisen. So ist sie zum einen präskriptiv, d. h. sie beinhaltet Handlungsdirektiven, die für die ethische Entscheidung oder Grundlegung anwendbar sind. Zum anderen verfährt eine Metaethik immer generalisierend, eben deshalb, weil sie nicht den einzelnen Fall, sondern die übergreifenden Zusammenhänge im Blick und zur Auf-
7 1.3 · Ethische Kompetenz der Führungskraft
gabe hat. Schließlich ist die Metaethik als Folge ihres Ausgerichtetseins auf das Allgemeine stets auf Handlungen und Verantwortlichkeiten bezogen, die das Wohlergehen anderer betreffen. Um die Kriterien einer metaethischen Betrachtung zu ermitteln, kann das bereits vollzogene Handeln einer ethischen Reflexion unterzogen werden. Folgende Fragen sind dabei hilfreich und ermitteln das, was als Haltung oder auch schon systematisierte Ethik dem Handeln vorausgeht: ▬ Welches Leitbild vom Menschen liegt vor ( Kap. 1.4)? ▬ Welche anthropologischen Grundaussagen kommen immer wieder im Handeln zum Vorschein? ▬ Welche ethischen Überzeugungen sind wirksam? Können sie benannt werden oder sind sie eher rückschließend zu erfassen? ▬ Welche ethischen Entscheidungsprozesse laufen ab? Besteht für die Tatsache, dass es sich hier um ethische Entscheidungen handelt, bereits ein Bewusstsein oder eher eine diffuse Haltung? Diese Leitfragen weisen in verschiedene Richtungen. Sowohl die anthropologischen Grundvoraussetzungen müssen in den Blick genommen als auch die aktuellen Entscheidungen mit berücksichtigt werden. Die Metaethik ermöglicht es, einem komplexen Handeln gegenüber Distanz zu entwickeln und sowohl bereits bestehende als auch noch zu erreichende ethische Richtlinien zu reflektieren.
1.2.8 Aspekte zum Gerechtigkeitsbegriff
Wer sich mit Ethik auseinandersetzt und ethische Kompetenz in seine Führungsarbeit mit einbringt, wird in kürzester Zeit auf Probleme stoßen, die auch bei großer Bereitschaft zu Lösungsansätzen nicht lösbar sind – zumindest nicht in einem für alle Beteiligten befriedigendem Maße. Insbesondere wo es um die Polarisierung zwischen Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit geht, entstehen Probleme und Fragestellungen dieser Art nahezu ununterbrochen. Angesichts der in jeder Hinsicht begrenzten Ressourcen muss an den unterschiedlichsten Stellen die Debatte über die »Knappheit« geführt werden, die der Frage nachgeht, wer mit welchen Mitteln wie am besten zu versorgen ist.
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Pragmatische Lösungen angesichts dieser Herausforderungen stopfen letzten Endes immer nur ein Loch, während bereits ein anderes entsteht. Wer sich nicht damit zufrieden gibt, kommt nicht umhin, dem Begriff der Gerechtigkeit grundlegend nachzugehen. Wir sprechen im Bereich der Pflege und des Pflegemanagements gern und schnell von Gerechtigkeit, die jedem Patienten und jedem Mitarbeiter zusteht, und kommen dabei doch selbst in Engpässe. Was ist wirklich gerecht? Wie werden die vorhandenen Güter gerecht verteilt? Die Philosophie unterscheidet im Anschluss an die Nikomachische Ethik des Aristoteles verschiedene Gerechtigkeitsbegriffe: ▬ Die austeilende Gerechtigkeit (Justitia distributiva), ▬ die ausgleichende Gerechtigkeit (Justitia commutativa), ▬ die Rechtsgerechtigkeit (Justitia legalis). Der Grundsatz für die austeilende Gerechtigkeit heißt ursprünglich »Jedem das Seine«, lässt sich jedoch sehr unterschiedlich auslegen. So kann dieser Gedanke interpretiert werden als »Jeder bekommt das Gleiche«, ebenso wie »Jeder bekommt, was ihm zusteht« oder auch »Jeder bekommt, was er braucht«. Wer die Jahrtausende alten Gerechtigkeitsbegriffe durchdenkt, wird schnell erkennen, dass es die Gerechtigkeit nicht gibt. Was als gerecht empfunden und bewertet wird, hängt immer vom Standpunkt des Einzelnen oder auch einer bestimmten Gruppe ab. Somit muss sich die Führungskraft für eine bestimmte Gerechtigkeitsdefinition entscheiden, die sie in der Bekanntgabe ihrer Entscheidung oder auch im gemeinsamen Entscheidungsprozess angeben und zur Diskussion stellen kann.
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Ethische Kompetenz der Führungskraft
In seiner Grundbedeutung meint der Begriff Kompetenz Fähigkeit, Zuständigkeit. In Bezug auf die weiteren Ausführungen zur ethischen Kompetenz von Führungskräften liegt der Schwerpunkt im Bereich der Fähigkeit – wenngleich die Zuständig-
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Kapitel 1 · Wirtschaftsethik
keit für ethische Kompetenz bei Führungskräften
des Pflegemanagements vorauszusetzen ist. Bei der ethischen Kompetenz handelt es sich um erkennbare Fähigkeiten, die die eigene Wirklichkeit und die des Gegenübers wie auch die des gesamten Umfelds maßgeblich beeinflussen. Sie wird an den Wertigkeiten, die ein Mensch in seinem Arbeitsalltag, aber auch in seiner persönlichen Lebensweise zum Ausdruck bringt, erkannt und benannt. Das ethische Wissen und die daraus abgeleitete Verantwortung kann niemand allein erzeugen. Wie jedes Erkennen ist auch die ethische Reflexion auf den Diskurs und den Widerspruch, die immer neu formulierte Fragestellung und die ständige Innovation angewiesen. Insofern bedarf der Erwerb ethischer Kompetenz den fachlichen Input, den individuellen Erfahrungsbereich und den kollegialen sowie den interdisziplinären Austausch. Einfach gesagt: Was in der Pflege und im Pflegemanagement ethisch vertretbar ist, kann ich mir nicht alleine ausdenken. Ich muss zurückgreifen auf bereits entworfene ethische Konzeptionen, die mir das eigene Denken systematisieren und strukturieren, ja erst ermöglichen. Sodann werde ich diese erkannten Denkmuster mit meinen gemachten Erfahrungen in Beziehung setzen und meine bisher entworfenen ethischen Antworten immer wieder durch die Praxistauglichkeit überprüfen. > Um dabei weitestgehend den bekanntermaßen jedem Menschen möglichen Irrtum auszuschließen, ist der ethische Diskurs sowohl mit den Vertretern der eigenen Branche als auch mit anderen Professionen unerlässlich. Gerade an der ethischen Kompetenz wird deutlich, wie relevant der Beitrag der Pflegenden im interdisziplinären Gespräch zwischen den verschiedenen Gruppen und Professionen im Gesundheitswesen ist.
Ethische Kompetenz besitzt eine Pflegeperson, die hinsichtlich ihres beruflichen Handelns in der Lage ist, ▬ die Dimension der Werte zu benennen, ▬ die eigene Wertehaltung zu beschreiben, ▬ das eigene Verhalten dadurch zu steuern ▬ und – im Fall der Managementposition – das Verhalten der nachgeordneten Mitarbeiter entsprechend zu beeinflussen.
1.3.1 Sach- und Situationsorientiertheit
Eine Führungsperson mit ethischer Kompetenz ist in der Lage, die jeweils anstehenden Fragen und Entscheidungen sowohl im Hinblick auf das gesamte System als auch im Hinblick auf die darin befindlichen Menschen zu beurteilen. Es versteht sich von selbst, dass es dabei durchaus zu Konflikten kommen kann. Wenn beispielsweise Kürzungen im Haushalt vorgesehen sind, sind – aus ethischer Perspektive – nicht nur die finanziellen Mittel, sondern auch die Menschen, die davon betroffen sind, zu sehen. Das sind im Beispiel des Pflegemanagements nicht nur die Patienten oder Bewohner eines Altenheims, sondern eben auch die Mitarbeiter, möglicherweise auch deren Angehörige. Zur Hilfestellung für die eigene Reflexion sind folgende Fragen zu durchdenken: ▬ Bin ich innerhalb meiner Pflegeeinrichtung (Krankenhaus, Altenheim etc.) für das System oder die Menschen da? ▬ Was ordne ich unter: Menschen oder Abläufe, Beziehungen oder das Funktionieren der Einrichtung? ▬ Ist es mein Hauptanliegen, das System »am Laufen zu halten« oder dem einzelnen Menschen führend und fördernd möglichst gerecht zu werden? ▬ Wenn es zum Konflikt kommt: Mit welcher Begründung ziehe ich die eine oder andere Seite vor?
1.3.2 Fähigkeit, die eigene Person
einzubringen Ein wesentliches Kennzeichen ethischer Kompetenz ist es, wenn die Führungsperson in der Lage ist, ihre eigene Persönlichkeit zum Ausdruck und in Entscheidungsprozesse mit einzubringen. Sie zeigt damit nicht nur, dass sie es gelernt hat, die eigenen Erfahrungen und erworbenen Erkenntnisse in die gegenwärtige Situation zu übertragen. Darüber hinaus beweist sie auch Selbstvertrauen und Zivilcourage. Wer in der Lage ist, seine eigene Person nicht zu verstecken, besitzt Offenheit und Authentizität, macht sich dadurch aller-
9 1.3 · Ethische Kompetenz der Führungskraft
dings auch angreifbar und wird möglicherweise verletzt. Die Voraussetzungen, sich als Person, letztlich als Mensch, zu zeigen, liegen in der eigenen Auseinandersetzung mit sich selbst. Wer anderen so begegnen will wie er wirklich ist, muss sich natürlich zuvor selbst kennen, d. h. »Selbsterkenntnis« erwerben. Dazu gehört es, sich Rechenschaft über die eigene Haltung und die eigenen Werte abzulegen. Nur wer sich selbst Auskunft darüber geben kann, nach welchen Werten und Normen die eigenen Entscheidungen getroffen und Standpunkte eingenommen werden, ist auch in der Lage, anderen dies mitzuteilen. Weiterhin kommt die Bereitschaft hinzu, sich mit seiner Meinung einzubringen, evtl. auch mit unpopulären Positionen nicht zurückhaltend zu sein. Wer nur anderen nach dem Mund redet, seien es Geschäftsführer, Kollegen oder auch Politiker, wird schwerlich als eigene Persönlichkeit mit ethischer Kompetenz anerkannt werden. Zur Hilfestellung für die eigene Reflexion sind folgende Fragen zu durchdenken: ▬ Welches sind für mich die wichtigsten Werte? ▬ Welchen Wert ordne ich anderen unter, welcher ist der höchste? ▬ Wie gehe ich mit Menschen um, die meinen Standpunkt nicht teilen? ▬ Was bedeutet für mich, wenn ich allein mit meiner Meinung bin?
1.3.3 Eigene Zielorientierung
Aus allem, was bisher zur ethischen Kompetenz gesagt wurde, ergibt sich, dass eine Führungspersönlichkeit, die mit dieser Eigenschaft arbeiten möchte, vor allem eine Vorstellung über die eigenen Ziele braucht. Besonders die Alltagsgeschäfte und die häufig schnell und unter Zeitdruck zu treffenden Entscheidungen im Gesundheitswesen bringen es mit sich, dass über die Grundrichtung des gesamten Unternehmens nicht oder nur unzureichend nachgedacht wird. Zwar wird dies an einigen Punkten immer wieder zum Vorschein kommen und möglicherweise als Defizit bekannt werden. Wer diesem Missstand jedoch nicht aktiv
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gegenüber tritt, darf nicht erstaunt sein, wenn auf Dauer keine »Linie« in seinem Verhalten zu sehen ist und von daher der Führungsperson wenig Entscheidungskraft zugetraut wird. Darüber hinaus verhilft die tragfähige Zielvorstellung auch dazu, in persönlichen Krisen und Unsicherheiten den Kurs und die innere Ausrichtung nicht zu verlieren. Zur Hilfestellung für die eigene Reflexion sind folgende Fragen zu durchdenken: ▬ Was möchte ich mit meiner Arbeit erreichen? ▬ Was wäre anders, wenn es meine Einstellung und meine Arbeit nicht gäbe? ▬ Was muss ich tun, um meine Ziele zu erreichen? ▬ Was hindert mich daran? 1.3.4 Selbstverantwortung
Die Verantwortung, die ein Pflegemanager gegenüber seiner Einrichtung, d. h. in seiner Funktion als Führungskraft besitzt, ist bereits beschrieben worden. An dieser Stelle ist zu betonen, dass die ethische Kompetenz bei der Verantwortung sich selbst gegenüber beginnt. Das bedeutet: Bevor es im Pflegemanagement überhaupt zu einer ethischen Fragestellung kommt, erwirbt sich eine Führungskraft bereits ihre eigene ethische Kompetenz. Sie beginnt vor der Übernahme einer Managementverantwortung und sie hört nicht damit auf. Verantwortung meint in seiner Wortbedeutung immer: Antwort auf eine ergangene Aufgabe. Wer sich der Verantwortung stellt, setzt sich zu seiner Pflicht oder auch zu einer Herausforderung in Beziehung. Die Möglichkeiten, die jemand ergreift oder lässt – sei es im Denken und Entscheiden oder auch im Handeln – stellen seine Antwort auf die an ihn ergangene »Anfrage« durch eine Situation dar. In diesem Sinn ist die Übernahme von Verantwortung immer auch eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Welt, in der wir leben. Das gilt sowohl im persönlichen Bereich außerhalb der Pflegepraxis als auch in den gesellschaftlichen Dimensionen, welche die Pflegeeinrichtung betreffen. Diese zweifache ethische Orientierung verstärkt zum einen die individuelle Persönlichkeit,
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Kapitel 1 · Wirtschaftsethik
zum anderen wirkt sie auch in die Öffentlichkeit, in der Pflege präsent ist. Im Einzelnen bedeutet das: Wenn ich geklärt habe, woher ich meinen Auftrag beziehe und wem gegenüber ich verantworte, besitze ich zum einen ein tragfähiges Fundament für die tägliche Kleinarbeit. Angesichts einer Krisensituation muss nicht jedes Mal von neuem nach den Grundlagen und der Zielorientierung gefragt werden. Zum anderen wird der Pflegemanager damit auch seinen Arbeitsbereich und seinen Berufsstand gut vertreten bzw. dessen Ansehen erhöhen. Eigenverantwortliche Pflege ist immer zugleich professionelle und fachlich gute Pflege. Zur Hilfestellung für die eigene Reflexion sind folgende Fragen zu durchdenken: ▬ Wem gegenüber fühle ich mich verantwortlich? ▬ Wie gehe ich damit um, wenn ich in meiner Verantwortlichkeit Fehler gemacht habe? ▬ Kann ich zugeben, dass ich in meiner Verantwortung etwas schuldig geblieben bin? ▬ Was trägt mich letzten Endes selbst?
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Zur Bedeutung des Menschenbildes
Für die Bereitschaft einer Führungspersönlichkeit, die Managementprozesse verantwortlich zu gestalten, sind nicht nur die Kenntnisse solcher Prozessabläufe wichtig. Bei allen Entscheidungen und Planungen sind immer (mehr oder weniger bewusste) Vorentscheidungen mit von Bedeutung. Diese Vorentscheidungen betreffen die Bilder menschlichen (Zusammen-)Lebens und der eigenen wie der institutionsbezogenen Wertannahmen. Mit anderen Worten: Bevor die Tätigkeit des Managements gestaltet wird, ist das vorherrschende Menschenbild zu reflektieren. Jede Ethik setzt eine bestimmte Weltanschauung und damit ein eigenständiges Bild vom Menschen voraus. Wenn davon abhängige Entscheidungen getroffen werden, muss dieses Menschenbild bewusst gemacht werden. Pflege als Profession ist ohne Menschenbild schlechterdings nicht denkbar. Wie soll ich Menschen pflegen, wenn ich gar nicht weiß, was für mich den Menschen ausmacht?
1.4.1 Grundfragen der Anthropologie
In dem Begriff Menschenbild wird bereits deutlich, dass in jeder Auffassung nur bestimmte Aspekte des Menschseins zum Tragen kommen. Kein Bild vom Menschen kann alle seine Facetten erfassen, immer wird eine Seite mehr im Vordergrund stehen als eine andere. So hat jedes Menschenbild auch seine Wahrheiten und seine »Schattenseiten«. Für den Einzelnen kommt es darauf an, die für ihn und seine Arbeit entscheidenden Aspekte des Menschseins zu betonen. > Die Wissenschaft, die sich mit den »Menschenbildern« befasst, ist die Anthropologie.
Durch die Zusammensetzung mit einer Vielzahl von Adjektiven – philosophische Anthropologie, biologische Anthropologie etc. – wird deutlich, dass bei jeder Lehre vom Menschen ein bestimmtes Denksystem im Hintergrund steht. Das betrifft zum einen den wissenschaftstheoretischen Ansatz, also beispielsweise die naturwissenschaftliche Sicht und Fragestellung den Phänomenen der Welt gegenüber. Zum anderen betrifft es gleichzeitig die Wertsysteme, die dahinter liegen und die dem Menschen über die phänomenologische Beschreibbarkeit hinaus auch eine Bedeutung zuschreiben. Das Menschenbild, das ein Mensch – bewusst oder unbewusst – in sich trägt, kommt am deutlichsten und absolut unverkennbar in seiner Sprache zum Ausdruck. Wie ein Mensch den anderen wirklich sieht, ob er ihn wertschätzt oder verachtet, zeigt er dadurch, wie er von ihm redet. Im Hinblick auf die Pflege heißt das konkret: Es ist nicht nur dem Wort nach ein Unterschied, ob wir vom »Pflegefall« oder von »Pflegebedürftigen« sprechen. Ebenso sagt es viel über unser Menschenbild in der Führungsverantwortung, wie wir von Mitarbeitern sprechen, ob wir sie beispielsweise in ihrer Abwesenheit durch die Verwendung von abwertenden Ausdrücken (Alter, Dicke, Doofe etc.) pejorisieren. Die Sprache »verrät« unser Menschenbild und signalisiert dadurch auch, ob wir eine ethische Kompetenz besitzen.
11 1.4 · Zur Bedeutung des Menschenbildes
1.4.2 Ökonomisches Menschenbild
– soziales Menschenbild Auch in Managementkonzepten und Führungsmodellen sind Menschenbilder enthalten, die offengelegt werden müssen (Werhahn 1980, Matthiesen 1995). Hier lassen sich grundsätzlich zwei typologische Menschenbilder gegenüberstellen: das ökonomische und das soziale Menschenbild. Bei einem ökonomischen Menschenbild wird der Mensch als einer gesehen, der von Führung und Kontrolle abhängig ist. Der Antrieb für eigenes Handeln erfolgt dabei nicht von dem Menschen selbst, aus eigenem Willen, sondern wird über finanzielle Anreize gesteuert. Die Motivation zur Gestaltung des Lebens wird weitgehend von außen bestimmt (zur Motivationstheorie Kap. 1.4.4). Infolgedessen werden die Möglichkeiten zur Weisung und zur Entscheidung für den Einzelnen in einem Betrieb zentralistisch organisiert. Dem gegenüber stellt das soziale Menschenbild einen Menschen vor, der durch soziale Anreize, Werte und Normen stimuliert und zum Handeln angeregt wird. Das Handeln des Einzelnen wird durch die Bewertung des sozialen Umfeldes erheblich beeinflusst, während die Normen durch Vorgesetzte weniger von Bedeutung sind. Infolgedessen ist es die Aufgabe von Führungspersönlichkeiten, die Bedeutung der sozialen Anerkennung zu sehen und diese entsprechend zu fördern.
1.4.3 Grundzüge eines entwicklungs-
offenen Menschenbildes Für die ethischen Entscheidungen im Pflegemanagement wird hier ein Menschenbild vorgestellt, das davon ausgeht, dass ein Mensch nicht für immer festgelegt ist, dass also Prozesse sein Leben bestimmen und er dadurch auch Prozesse des Lebens mitbestimmt. Folgende Dimensionen charakterisieren ein solches Menschenbild: Ganzheitlichkeit, Geschichtlichkeit, Gemeinschaftsbezogenheit. Ganzheitlichkeit
Der Mensch wird als eine Einheit von Körper, Geist und Seele gesehen und akzeptiert. Die Inter-
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dependenz der einzelnen Bereiche ist sehr stark und unauflöslich; im Grunde kann nie losgelöst von »dem Körper« oder »der Seele« geredet werden. Vielmehr ist der Mensch eben ein Ganzes, und die Benennung einzelner Dimensionen dient lediglich der Unterscheidung. Probleme ergeben sich dadurch, dass manche Menschen ganz offensichtlich in einem dieser genannten Bereiche Defizite aufweisen, sei es durch Unfall oder Einwirkung von außen oder auch von Beginn ihres Lebens an. Hier entsteht die Frage, die bedeutende ethische Konsequenzen hat, inwiefern dann von »Ganzheitlichkeit« zu sprechen ist. Nach unserem Verständnis handelt es sich immer um den »ganzen« Menschen, d. h. er wird eben so gesehen, wie er ist. Geschichtlichkeit
Mit dieser Dimension wird die Tatsache angesprochen und akzeptiert, dass jeder Mensch »in Zeit und Raum« begrenzt ist. Das bedeutet: Jedes Leben hat einen Anfang und ein Ende – wobei hier noch einmal wesentliche Unterschiede dadurch entstehen, was als Ursprung des Lebens angesehen wird. So ist es beispielsweise ein großer Unterschied, ob als Ursprung des Lebens der »Zufall« oder Gott als Schöpfer – wie etwa in jüdisch-christlicher Anthropologie – gesehen wird. Für die Beantwortung der Frage nach den Grenzen des Lebens werden hier die grundlegenden Werte für ethische Entscheidungen, z. B. hinsichtlich einer künstlichen Lebensverlängerung, gelegt. Grundsätzlich sagt der Aspekt der Geschichtlichkeit über den Menschen zunächst nur aus, dass er eben begrenzt ist, dass sein Leben und seine Möglichkeiten, dies zu gestalten, einen Anfang und ein Ende haben. Das bedeutet: Niemand ist ohne Begrenzungen in seinem Vermögen, seiner Kraft, seiner Belastbarkeit – niemand ist für die Unsterblichkeit gedacht. Hiervon ist in hohem Maße der biographische Prozess des Menschen betroffen: Krankheit, Alter und Tod sind Ereignisse, die dem Menschen gewiss sind, auch wenn er sich noch so dagegen wehrt. Diese Grenzen sind gegeben und müssen akzeptiert werden. Gegenwärtig wird diesem realistischen häufig ein positivistisches Menschenbild gegenüberge-
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Kapitel 1 · Wirtschaftsethik
stellt. Im Hinblick auf die Begrenztheit heißt das: Es wird suggeriert, dass der Mensch – wenn er sich nur genügend anstrengt, übt und nach Höherem strebt – durchaus zu einer (scheinbaren) Vollkommenheit und damit Grenzenlosigkeit gelangen kann. Viele Hinweise aus dem grundsätzlich gut gedachten Wellness- und Fitnessbereich (z. B. Lebe in der Mitte! Übe Gelassenheit! Denke positiv!) sind dazu angetan, die Vorstellung zu nähren, wir könnten als Menschen unsere Begrenztheit und Geschichtlichkeit aufheben. Gemeinschaftsbezogenheit
Der Mensch ist auf Gemeinschaft angelegt, er ist ein »soziales« Wesen. Menschliches Leben vollzieht sich immer in der Gemeinschaft, wo sie fehlt, fühlt sich der einzelne Mensch auf die Dauer einsam und verkümmert. Zu der Gemeinschaft zählen freilich immer auch Menschen, die uns »nicht liegen«, mit denen das Zusammenleben für uns nicht leicht ist. Trotzdem sind wir auch auf diese angewiesen, wie umgekehrt auch andere sich uns nicht immer »aussuchen« können. Ein Problemfeld ist hier die Tatsache, dass in unserer Gegenwart – hauptsächlich gefördert durch die Ideen des Utilitarismus – wieder der Wert des Menschen im Hinblick auf die Gemeinschaft thematisiert wird. Wenn die Frage diskutiert wird, wer wem am meisten nützt, führt dies über kurz oder lang zu der Überlegung, welcher Mensch am meisten wert ist.
1.4.4 Menschenbild und Motivation
Im Hinblick auf den Umgang der Führungsperson mit ihrem Personal ist es von großer Bedeutung, welches Menschenbild der Pflegemanager besitzt. In der Gegenüberstellung von ökonomischem und sozialem Menschenbild wurde der Stellenwert der Motivation für eigenes Handeln bereits angesprochen. Weil der Mensch nicht nur in seiner Wesensart, sondern gerade auch in seinem Entscheiden und Tun Gegenstand unserer Überlegung ist, soll dieser Aspekt hier nochmals aufgegriffen und vertieft werden. Zwischen der Motivation und dem allgemeinen Lebensgefühl, dem Selbst- und Weltverständnis
besteht eine enge Kohäsion. Wie ich als Mensch mein Leben und welchen Sinn ich in diesem Leben sehe, hängt eng mit der Motivation zu Engagement und Arbeit zusammen. Herzberg (dargestellt in Wiswede 1980) fragt 1959 in seiner Theorie zur Bedürfnisbefriedigung von Arbeitnehmern und Arbeitsorganisationen nach den Faktoren, die für die Zufriedenheit am Arbeitsplatz ausschlaggebend sind. Dabei unterscheidet er einerseits die Hygienefaktoren (Unzufriedenmacher, extrinsische Faktoren) und andererseits die Motivatoren (Zufriedenmacher, intrinsische Faktoren). Zu den Hygienefaktoren zählen die allgemeinen Bedingungen des Arbeitsplatzes wie Bezahlung, Kontakt zu Kollegen und Vorgesetzten, Ausstattung des Arbeitsplatzes usw. Eine positive Bilanz dieser Hygienefaktoren verhindert eine Unzufriedenheit, gewährleistet jedoch keine Arbeitszufriedenheit. Dem gegenüber bezieht sich die Gruppe der Motivatoren auf die persönlichen Wachstumsmöglichkeiten des Einzelnen: Leistung und Erfolg, Anerkennung und Wertschätzung, Aufstiegs- und Entfaltungsmöglichkeiten sowie die Übernahme von Verantwortung. Um eine hohe Arbeitsleistung und gute Motivation zu erzielen, müssen beide Faktoren berücksichtigt werden. Durch die aktuelle Betonung der intrinsischen Faktoren wird die Bedeutung externer Anreize stark relativiert. Der Sinnerfüllung und der persönlichen Befriedigung durch die Arbeit kommt großes Gewicht zu. Einfach gesagt: Auf die Dauer ist Arbeitszufriedenheit nur dann wirklich zu erreichen, wenn durch die Arbeit nicht nur die externen, sondern vor allem auch die internen Faktoren berücksichtigt werden. Dabei sind die Hygienefaktoren gewissermaßen die Voraussetzung für das Greifen der Motivatoren. Die Motivationstheorie Herzbergs besagt für das Pflegemanagement, dass die Pflege der Motivation sämtlicher Mitarbeiter eine große ethische Aufgabe für die Führungskraft darstellt. Da soziale Berufe überwiegend mit einer intrinsischen Motivation ergriffen und vor allem behalten werden, liegt hier ein wesentlicher Punkt für die Personalförderung und -entwicklung. Im Übrigen wird auch der Pflegemanager selbst erleben, wie sehr er in seiner eigenen Motivation
13 1.5 · Ethik als Führungsinstrument: Die Bedeutung verantworteter Ethik
durch Wertschätzung und Anerkennung bestätigt wird. Ein positives Menschenbild einerseits und die Bereitschaft, die Motivation der Mitarbeiter zu stärken andererseits sind günstige Voraussetzungen für das Pflegemanagement. Eine Führungspersönlichkeit, die beides mit den Elementen ethischer Kompetenz zusammenbringen kann, ist unter ethischen Aspekten aufs Beste geeignet.
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Ethik als Führungsinstrument: Die Bedeutung verantworteter Ethik für das Pflegemanagement
Wie eingangs skizziert wurde, stellt sich für die Führungspersonen in Pflegeeinrichtungen und im Gesundheitswesen allgemein die Frage nach einer verantworteten Ethik im besonderen Maße. Die bisherigen Ausführungen über ethische Kompetenz sowie das ihr vorausgehende Menschenbild beschreiben in eher allgemeiner Hinsicht, was für eine Führungskraft im Hinblick auf Ethik relevant ist. Ethik fordert – soweit ist bisher deutlich geworden – eine bewusste Gestaltung von Abläufen, die konkret in die Praxis implementiert und umgesetzt werden müssen:
»
Die Ethik hat eine Chance! Allerdings nicht im Sinne einer automatischen Zwangsläufigkeit im Rahmen des gesellschaftlichen Fortschritts. Ethik muss immer durch aktive Gestaltung der Wirtschaftswirklichkeit verwirklicht werden. Und dafür muss Wirtschafts- und Unternehmensethik »Chef-Sache« und der Anwendungsbezug zur Praxis realitätstüchtig konzipiert werden – sonst bleibt das ganze Unterfangen eine akademische Veranstaltung ohne praktische Relevanz. (Bausch 1999, S. 3)«
Mit dieser Feststellung von Bausch wird deutlich, dass Vorstellungen und Reflexionen über Ethik immer im Hinblick auf die Realität überprüft werden müssen. Anders gesagt: Ethik erfordert eine bewusste Gestaltung von Abläufen, die konkret in die Praxis implementiert und dort umgesetzt werden müssen. Das wird im Folgenden im Hinblick auf das Pflegemanagement exemplifiziert. Die Themen, die im Allgemeinen mit dem Komplex »Ethik in der Pflege« assoziiert wer-
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den, betreffen zunächst die Pflege am Bett bzw. in der Einrichtung: Anfang und Ende des Lebens, Umgang mit Sterbenden, Sterbehilfe, Verhalten bei Schwangerschaftsabbrüchen, Verhalten bei Organtransplantationen, Verhalten im Team der Intensivstation. Bei den genannten Bereichen steht die einzelne Pflegekraft im Vordergrund. Verhaltensalternativen werden im Hinblick darauf diskutiert, wie sich der jeweils einzelne Mensch in der entsprechenden Situation verhält. Die Frage der strukturellen Bedingungen wird dabei höchstens im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit den Ärztinnen und Ärzten gestellt. Die dabei typische Selbsteinschätzung der Pflegenden lautet ungefähr so, dass die entscheidenden Direktiven der Arzt zu geben und schließlich auch zu verantworten hat. Nach allem bisher Gesagten erscheint es selbstverständlich, dass eine solche Einstellung und eine entsprechende, womöglich als Begründung für Tun und Lassen gegebene Äußerung eine Pflegekraft nicht als Person qualifiziert, der eine ethische Bedeutung beigemessen werden kann. Dieses Problem, als »Nurse’s Dilemma« in zahlreichen Publikationen hinreichend beschrieben, soll hier nicht weiter verfolgt werden (International Council of Nurses 1977). Uns geht es vielmehr darum, die ethische Dimension im Handeln der Pflegemanagerin und des Pflegemanagers zu beschreiben und ihre Bedeutung angemessen zu würdigen. Zugespitzt lautet die Frage: Wie gehen Pflegedienstleitungen und Pflegepersonen mit Führungsaufgaben mit ethischen Problemen um?
1.5.1 Gelebte Ethik in der Führungsrolle
In einer Einrichtung, die für Menschen tätig ist und im Wesentlichen durch Menschen gestaltet wird, ist die Ethik von größter Bedeutung. Insbesondere im Führungsverständnis kommt dies zum Ausdruck. An der Führung einer Pflegeeinrichtung wird erkannt, ob der Einrichtung ein ethisch begründetes Leitbild voransteht und in welcher Dringlichkeit versucht wird, dem zu entsprechen. Wer im ethisch verantworteten Sinn leiten will, wird seine Führungsverantwortung auch diesbe-
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Kapitel 1 · Wirtschaftsethik
züglich gestalten. In diesem Sinn wird Führung als intendierte Einflussnahme auf das Verhalten von Mitarbeitern verstanden. Es liegt nahe, hier das Problem der unterschiedlichen Machtverteilung anzusprechen. Führung ist immer mit Entscheidung und Verantwortung und von daher immer mit Macht verbunden. Wer führen will, wird auch akzeptieren, dass mit dieser Tätigkeit Macht, Machtausübung – und im Gegenzug auch Ohnmacht oder Machmissbrauch verbunden ist. Der Umgang mit Macht muss ethisch verantwortet werden – insbesondere in einem Unternehmen, in dem es um eine Vielzahl von Menschen und letzten Endes um Leben und Tod bzw. deren Abbild in Gestalt von Gesundheit und Krankheit geht. In einer ethisch verantworteten Machtausübung wird Macht so eingesetzt, dass sie die Menschlichkeit im Krankenhaus oder im Altenheim immer eher mehrt als mindert. Das betrifft den Umgang mit den Mitarbeitenden ebenso wie die Entscheidungen, die schließlich den Patienten oder Bewohnern zugute kommen. Sowohl der Führungsstil als auch das Führungskonzept eines Pflegemanagers soll von seiner ethischen Kompetenz geprägt sein. Dies wird im Planen, Durchführen und Bewerten seines eigenen Tuns und dem der anderen deutlich werden. Dazu gehören neben den bereits genannten Kennzeichen ethischer Kompetenz insbesondere folgende Verhaltensweisen: ▬ Weitergabe der wichtigen Informationen an die entsprechenden Stellen zum richtigen Zeitpunkt, ▬ Förderung und Gestaltung des Dialogs mit den Mitarbeitenden, insbesondere auch hinsichtlich der ethischen Fragestellungen, ▬ optimale Gestaltung der Arbeitsbedingungen im Hinblick auf die Begrenztheit der Ressourcen, ▬ Befähigung der nachgeordneten Mitarbeiter zu fachlicher, d. h. auch ethischer Kompetenz. Anhand eines fiktiven Szenarios lässt sich schildern, was im Allgemeinen die gegenwärtige Praxis darstellt:
Beispiel Szenario 1 Eine Pflegedienstleitung registriert bei ihren Mitarbeitenden steigende Berufsunzufriedenheit, was sie u. a. an den Fehlzeiten und den Ungenauigkeiten in der Einhaltung der Pausen festmacht. Nach einer eigenen Fortbildung über Burn-out-Syndrom versteht sie es, diese Anzeichen bei ihren Mitarbeitenden als Symptome des Ausgebranntseins zu deuten. Sie versucht, den Pflegenden ihrer Einrichtung zu helfen, indem sie sie auf ihre Ideale hin befragt. Das Ergebnis zeigt, dass eine große Diskrepanz zwischen den früheren Idealen und der heutigen Wirklichkeit besteht. Die Pflegedienstleitung erkennt, dass hier ein Problem der persönlichen Ethik vorliegt. Ihre Konsequenz aus der Erkenntnis sieht folgendermaßen aus: Sie ermutigt die Pflegenden, weiterzuarbeiten. Gleichzeitig bittet sie den Psychologen des Psychosozialen Dienstes und den Klinikpfarrer um eine Fortbildung zum Thema »Lebenssinn«.
Die Antwort auf die uns selbst gestellte Frage nach dem Umgang mit ethischen Fragen im Managementbereich ist hier: Die Pflegedienstleitung delegiert strukturell und inhaltlich das Problem an die ethische Kompetenz einer Instanz außerhalb ihrer Verantwortung: Sie reagiert damit auf die Verhältnisse mit allen ihren Konflikten, auch den ethischen. Mit ihren »irgendwie« vorhandenen ethischen Vorstellungen geht sie das Problem an, ohne sich dabei führend und prägend zu verhalten. Sie zeigt somit nur unzureichend ethische Kompetenz. Eine Alternative, die Übernahme von ethisch relevanter Aktion, soll im Folgenden beschrieben werden. In einem zukunftsorientierten Szenario verfügt die Pflegekraft über ethische Kenntnisse und vor allem die Bereitschaft zur Verantwortung in dem Sinn, dass sie ihre Entscheidungskompetenzen so nutzt, dass sie in den bestehenden Verhältnissen agiert.
15 1.5 · Ethik als Führungsinstrument: Die Bedeutung verantworteter Ethik
Beispiel Szenario 2 Eine Pflegedienstleitung ist Ethikerin, sie versteht sich auch als solche. Sie besitzt Grundlagenkenntnisse der verschiedenen ethischen Entwürfe der Vergangenheit und Gegenwart, ebenso kennt sie die wichtigsten Konzepte von Menschenbildern. Konkret heißt dies: Sie kennt die Bergpredigt des Neuen Testaments ebenso wie die wichtigsten Gedanken von Immanuel Kant, sie hat Aufsätze von Peter Singer und Hans Jonas studiert. Sie ist infolgedessen in der Lage, Managementkonzepte auf ihre anthropologischen Aussagen hin zu befragen; wie sie an einem Qualitätszirkel teilnimmt, so auch an einem Ethikzirkel. Dort erarbeitet sie mit anderen Fachleuten konkrete Themen, beispielsweise den Umgang mit Mitarbeitenden als ethisches Problem. Sie entwirft stations- und abteilungsbezogene Entlastungsstrategien für den Umgang mit Belastung und Stress. Sie gewinnt und reflektiert ständig ihr Menschenbild für Pflegende und Gepflegte, und sie geht bewusst mit ihrer Sprache als Ausdruck dieses Menschenbildes um.
Die Herausforderungen, sich ethischen Problemen zu stellen, betreffen nicht nur die Haltung und das Verhalten einzelner Menschen. Zwar verhalten sich und prägen die Werte letzten Endes immer die einzelnen Menschen, doch ist die Gruppe, der Berufsstand, die Institution, in der sich das Verhalten abspielt, von entscheidender Bedeutung für die Entstehung von Ethos und der daraus abgeleiteten Ethik. Das bedeutet: Ethische Probleme entstehen auch durch ▬ das Verhalten von Institutionen sowie durch ▬ die Funktion von Institutionen überhaupt. Da die Ethik – wie ausgeführt – nicht nur nach den Normen, Gesetzen und Regeln fragt, sondern auch nach dem Subjekt verantwortlichen Entscheidens, ist es ein logischer Schluss, wenn wir
folgern: Das Subjekt der Verantwortung in der Führung einer Organisation oder Institution ist die Führungsperson selbst. Nicht die festgelegten
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Regeln, geschriebene oder ungeschriebene Gesetze sind entscheidend für die ethische Ausrichtung. Entscheidend ist die Übernahme der ethischen Verantwortung durch die Führungskraft. Mit anderen Worten: Ethik ist ein Führungsinstrument. Ethik als Führungsinstrument ermöglicht der Pflegedienstleitung und jeder Leitung in Einrichtungen des Gesundheitswesens, die Einrichtung in den grundlegenden Fragen von Menschenbild und ethischen Konflikten in gleicher Weise zu führen wie durch Managementkonzepte oder gesetzliche Vorschriften. Hinsichtlich der Methode gibt es verschiedene Möglichkeiten, diese Verantwortung zu übernehmen. Sie seien hier nur angesprochen und können in entsprechenden Publikationen nachgelesen werden (denkbar ist hier z. B. ein Leitbilderstellungsprozess und eine konzeptionelle Erarbeitung, einer Corporate Identity, Kap. 17.5). Die Leitung einer Einrichtung kann ihre Führungsaufgabe wahrnehmen, indem sie einen Leitbilderstellungsprozess anstößt oder die Entwicklung einer Corporate Identity in ihrer Einrichtung in Gang setzt. Grundvoraussetzung ist die bewusste Entscheidung der Führungskraft, Ethik als Führungsinstrument anzuerkennen und einzusetzen. Wer Ethik als Führungsinstrument einsetzt, wird den dazu gehörenden zweiten Schritt vollziehen. Zur Funktion der Führung gehört das ethische Prinzip der Verantwortung. > Nicht nur die Fachlichkeit bestimmt die Kompetenz einer Führungsperson, sondern und gerade in hohem Maße die Bereitschaft, die ethische Verantwortung wahrzunehmen.
Weiterhin gilt, dass in unserem Sinn bei ethischen Entscheidungen letzten Endes jede und jeder selbst verantwortlich ist. Eine Delegation der ethischen Verantwortung an andere widerspricht dem Wesen der Ethik, die sich nicht auf eine normative Dimension zurückziehen will. Insofern übernimmt natürlich auch eine Pflegedienstleitung nicht die Verantwortung für jede einzelne Entscheidung ihrer Mitarbeitenden. Sie hat allerdings die Verantwortung in ihrer Führung für das Bewusstsein von Ethik und für die Auseinandersetzung mit dem Menschenbild, die jeder ethischen Entscheidung vorgeordnet ist.
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Konkret bedeutet das: Die Führungskraft trägt die Verantwortung für andere – für ihr Personal und für die Patienten; und sie trägt Verantwortung vor anderen – vor dem Träger, vor dem Gesetz, vor einer letzten Instanz (unabhängig davon, ob sie in dieser Instanz eine irgendwie geartete Macht oder Gott sieht, zu dem sie in einem persönlichen Verhältnis steht).
1.5.2 Ethik und Qualitätsmanagement
Ethik als Führungsinstrument hat auch auf das Qualitätsmanagement sowohl in Bezug auf die Theorie als auch hinsichtlich der Praxis entscheidenden Einfluss. Bei einer konsequenten Umsetzung ethischer Kompetenz im Pflegemanagement wird schnell deutlich, dass zwischen Ethik und dem Anspruch auf Qualität engste Zusammenhänge bestehen. Das betrifft zum einen die Denkweise, die von der Ethik herkommt. Gleichzeitig betrifft es das Denken, das vom Qualitätsbegriff ausgeht. Wer ethisch verantwortet handelt, wird immer zu hoher Qualität kommen. > Prinzipiell ist bereits die Entscheidung für Qualität, d. h. auch für das Qualitätsmanagement, eine ethische Entscheidung.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Wandlung des Verkäufermarktes zum Käufermarkt ist längst vollzogen und macht auch vor den Non-Profit-Organisationen nicht Halt. So sind auch Dienstleistungsbetriebe wie Pflegeeinrichtungen bereits jetzt und erst recht künftig aufgefordert, sich dem Qualitätsbegriff zu stellen und – wichtiger noch – an ihrer Qualität zu arbeiten (und das nicht nur, weil sie der Gesetzgeber dazu verpflichtet). Sowie die Entscheidung für Ethik als Führungsinstrument im Kopf der Leitung beginnt, trifft dies auch für die Qualität zu. Wer sich dafür entscheidet, Qualität zum Maßstab der Einrichtung zu machen, hat damit bereits auch eine ethische Entscheidung getroffen. Die Umsetzung von beidem kann nur gelingen, wenn die positive Einstellung dazu »top-down« vermittelt wird. An zwei »Missverständnissen« von Pflege kann diese ethische Relevanz deutlich gemacht werden. So entspricht es nicht den ethischen Grundsätzen
von fachlicher Pflege, den Patienten oder Bewohner zu bevormunden, und sei diese Bevormundung noch so »gut gemeint«. Ebenso zählt die Absicht, mit Hilfsbedürftigen schnelles Geld zu machen, nicht zu ethisch verantwortbaren Grundsätzen einer Führung von Einrichtungen im Gesundheitswesen. Vielmehr ist die Einrichtung oder Organisation für den Kunden da, um diesen Begriff hier bewusst einzuführen. Die Beurteilung durch den Kunden wird zum Maßstab für die Qualität der Dienstleistung. Wer sich für eine Qualität in diesem Sinn entscheidet, wird sich zunächst dem Zielfindungsprozess stellen müssen. Bei den Grundfragen dieses Prozesses wird schnell deutlich, inwiefern es sich bei Qualitätsmanagement um eine ethische Entscheidung handelt. So haben die folgenden Grundfragen durchweg ethische bzw. anthropologische Grundüberlegungen im Blick: ▬ Welche Ziele verfolgen wir mit dem Qualitätsmanagement? ▬ Wo wollen wir mit der Einrichtung hin? ▬ Wie wollen wir den Weg gehen? ▬ Welche Hilfsmöglichkeiten/Instrumente brauchen wir dazu? Zu den inhaltlichen Aussagen dieser Fragen kommt ein Weiteres hinzu: Zwar beginnt die Entscheidung für Qualität bei der Leitung, von ihrer Umsetzung sind jedoch alle Mitwirkenden der Organisation betroffen. Qualität als Methode zur Optimierung dienstleistender Prozessabläufe (belohnt mit dem European Quality Award) erfordert die Beteiligung und Mitwirkung aller. Die Bereitschaft, sich ständig zu überprüfen, um die Qualität zu steigern, ist damit auch eine ethische Entscheidung aller Mitarbeitenden. An der Führungskraft liegt es also, die Überzeugungen anthropologischer und ethischer Art zu vermitteln. Für Ethik wie für Qualitätsmanagement müssen klare Ziele erarbeitet, festgelegt und vermittelt werden: Wo soll die ethische Reflexion, die Qualitätsmaßnahme ansetzten? Wo ist sie am dringlichsten? Wen soll sie erreichen? Wer setzt sie um? Das bedeutet: Die Akzeptanz für Ethik wie für Qualitätsmanagement muss nicht »von oben«, sondern auch »von unten« kommen, bzw. gefördert werden.
17 1.5 · Ethik als Führungsinstrument: Die Bedeutung verantworteter Ethik
Schließlich beeinflusst die Entscheidung für ein Qualitätsmanagement wesentliche Faktoren der Unternehmens- und Führungskultur. Qualitätsmanagement erfordert eine berechenbare und überprüfbare Führung. In der konkreten Umsetzung kommt sie durch einzelne Faktoren zum Tragen, die genuin ethischen Charakter besitzen: An erster Stelle ist hier die Kommunikation zu nennen. Sowohl die Inhalte der Kommunikation wie auch die Sprache, in der sie transportiert werden und ebenso die Strukturen, innerhalb derer die Kommunikation stattfindet, sind Ausweise der ethischen Einstellung einer Führungskraft und auch ihrer nachgeordneten Abteilungen. Ein weiterer Faktor der Unternehmenskultur ist die bereits angesprochene bewusste Entscheidung zur Übernahme von Verantwortung, gerade auch im Bereich ethischer Entscheidungen. Deswegen sei hier nochmals bündig zusammen gefasst: Ethische Verantwortung wie auch Qualitätsmanagement erfordern ▬ nicht nur gedachte Schritte, sondern konkrete Planung; ▬ nicht nur zufällige oder punktuelle Beschäftigung mit dem Thema, sondern bewusste und systematische Auseinandersetzung; ▬ die Akzeptanz der Notwendigkeit nicht nur von außen (von der Konkurrenz, von Kritikern, von den Medien), sondern von innen (Führung von Mitarbeitenden). Ethik und Qualitätsmanagement ergänzen bzw. fördern sich in allen Aspekten, die im Gesamten zur Entwicklung des Unternehmens beitragen. Sowohl die Ausrichtung am Menschenbild wie auch die Umsetzung einer Mitarbeiter- und Kundenorientierung werden die Pflegeeinrichtungen prägen, ihre Unternehmensphilosophie unverwechselbar machen und somit zum Erfolg des Unternehmens beitragen.
1.5.3 Konkrete Umsetzung:
Themenspezifische Beispiele Die Übernahme ethischer Verantwortung – so haben wir gesehen – ist eine Aufgabe der Führungskraft. Zukünftig wird es an den Pflegedienst-
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leiterinnen und -leitern liegen, die notwendigen Strukturen für die Umsetzung dieser ethischen Verantwortung zu schaffen, vor allem jedoch, das Bewusstsein für diese ethische Verantwortung zu wecken und wach zu halten. Immer wird es darum gehen, das eigene Grundverständnis vom Menschen und von Ethik zu reflektieren und auf die jeweils neuen Entwicklungen im Gesundheitswesen aktiv einzuwirken. Ethik im Denken und konsequenterweise im Handeln muss gewollt werden. Sie entsteht nicht zufällig oder nebenbei; wer sich auf eine derartige »Ethik« stützt, muss damit rechnen, dass die Wirkung auch entsprechend unspezifisch bleibt. Ethik beansprucht einen festen Platz im Arbeitsablauf. Sie entsteht nicht für den Fall, dass alles getan ist und dann noch Zeit für ethische Überlegungen bleibt. In der praktischen Umsetzung heißt das konkret: Es kommt für die Führungsperson darauf an, ▬ die ethische Frage konsequent zu stellen, ▬ ethische Einzelfragen im interdisziplinären Kontext beharrlich zu diskutieren, ▬ sich für Realisierung ethischer Antworten und Vorgehensweisen bewusst einzusetzen und ▬ Verantwortung für die Umsetzung ethischer Ansätze zu übernehmen. Speziell der letztgenannte Punkt wird zunehmend von den Pflegedienstleiterinnen und -leitern zu gestalten sein. In Deutschland stehen wir heute, ebenso wie am Anfang eines Jahrhunderts, ja eines Jahrtausends, auch in dieser Entwicklung zur bewussten Konkretion der ethischen Kompetenz von Führungspersonen im Gesundheitswesen noch ganz am Anfang. Zukünftig werden es (im günstigsten Fall) die Pflegedienstleitungen selbst sein, die sich die Strukturen und die Inhalte zur Wahrnehmung ethischer Kompetenzen ausdenken und umsetzen. Vorzustellen ist hier die Bildung von Ethikzirkeln, deren Bedeutung im Szenario 2 (Kap 1.5.1) deutlich geworden ist. Idealtypisch würde solch ein Zirkel interdisziplinär besetzt sein, beispielsweise mit Vertretern der Pflege, der Pflegeethik, der Medizin, des Managements, mit Patientenvertretung und Vertretern aus dem Bereich der Fachpresse und der allgemein-öffentlichen Medien.
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Die Präsentation in den Pflegeeinrichtungen und die Publikation in den entsprechenden Fachorganen und -büchern ist für die Umsetzung der ethischen Reflexion unerlässlich. Hier werden Pflegende und Pflegedienstleitungen auch einüben müssen, die Öffentlichkeit weniger zu schonen, als das vielfach bis zur Gegenwart der Fall gewesen ist. Dass Pflege und Pflegemanagement sich wandeln, ist der Gesellschaft – über den eher sporadischen Einzelfall von persönlichen Erfahrungen mit Krankenhaus und Altenpflegeeinrichtungen hinaus – zugänglich und verständlich zu machen. An erster Stelle ist hier an die weiteren Professionen im Gesundheitswesen zu denken, darüber hinaus an die gesamte Gesellschaft, deren Individuen letzten Endes alle von der Ausrichtung des Gesundheitswesens betroffen sind. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass im Hinblick sowohl auf die Kompetenz wie auch auf die Vermittlung ethischer Aussagen im Rahmen des Pflegemanagements die Pflegedienstleiterinnen und -leiter selbst es sein müssen, die Ethik in ihrem beruflichen Handeln deuten und umsetzen. Der immer wieder zu hörenden Forderung, Ethik für Pflegende und Ethik für Pflegedienstleitungen müsse von den Betroffenen selbst entwickelt, immer neu fortgeschrieben und umgesetzt werden, ist nur zuzustimmen. In unserer gegenwärtigen Realität lässt sich dieses Vorhaben allerdings noch nicht realisieren. Zu neu und zu wenig publiziert ist das, was unter Ethik für das Management zu verstehen ist, als dass es als Allgemeingut vorausgesetzt werden kann. > Die Pflegedienstleitungen haben die Aufgabe noch vor sich, die ethischen Grundlagen ihres Tuns zu reflektieren und zu publizieren.
Wenn im Folgenden Vorschläge aus der Sicht einer anderen Profession als der der Pflegedienstleitung zur Umsetzung von Ethik in Führungspositionen von Pflegeeinrichtungen gemacht werden, dann geschieht dies gleichsam als zeitbedingte Möglichkeit. Es steht zu hoffen, dass Ethikfragen, womöglich ganze Ethikentwürfe für Pflegende in Führungsaufgaben zukünftig von den Betroffenen selbst bearbeitet werden können. Bis sich dies realisieren lässt, können die nachfolgenden Ausführungen in aller
gebotenen Kürze als Anregung dienen. In diesem Sinn werde ich an einigen Beispielen aus dem Pflegemanagement aufzeigen, wo konkret die Wahrnehmung der ethischen Verantwortung wirksam wird. Schlüsselqualifikationen
Die Schlüsselqualifikationen lassen sich bekanntlich in Selbstkompetenz, Sozialkompetenz und Methodenkompetenz unterteilen. Unter Selbstkompetenz wird hierbei die reflektierende Identität in der Leitungsrolle verstanden. Dem gegenüber handelt es sich bei der Sozialkompetenz um die Fähigkeit zur Kooperation und bei der Methodenkompetenz um die Fähigkeit zum Management. Aufgrund dieser Unterscheidung legt es sich nahe, dass insbesondere der Selbstkompetenz auch die ethische Kompetenz zuzurechnen ist. Ein Beispiel: Das Menschenbild, das die Pflegekraft in Führungspositionen von sich selbst und von anderen Menschen besitzt, prägt die Vorstellung von der eigenen Identität ebenso wie die Wertschätzung und Nichtwertschätzung der Identität der Menschen um sie herum. In unserem Fall der Führungsaufgabe wirkt sich das Ethos der Führungskraft auf die nachgeordneten Mitarbeitenden aus. In manchen Bereichen ist das unmittelbar der Fall, wie beispielsweise in der Frage nach dem Verständnis von Arbeit und Freizeit. Das Menschenbild ist weiterhin bestimmend für das Umsetzen hierarchischer Strukturen in der Einrichtung, insbesondere bei stark wertegebundenen Institutionen wie z. B. kirchliche Krankenhäuser. Nicht zuletzt beeinflusst das Menschenbild das Verständnis der eigenen Biographie und ihrer Gestaltung, was im Fall der Führungsperson auch die Karriereplanung betrifft. Personalführung
Wie eine Station, eine Abteilung, eine Schule oder eine gesamte Einrichtung geführt wird, ist neben der persönlichen und fachlichen Kompetenz auch eine Frage der ethischen Ausrichtung. Die Bedeutung der Ethik für die Zielvorstellung wurde bereits angesprochen. Welche Visionen und welche konkreten Umsetzungen die Führungskraft für sich selbst und für die Qualität der Einrichtung verfolgt, beeinflusst sowohl die Auswahl als auch die Förderung und Fortbildung der Mitarbeiter. Wenn sie
19 1.5 · Ethik als Führungsinstrument: Die Bedeutung verantworteter Ethik
dabei auch die Übernahme ethischer Verantwortung als Zielvorstellung verfolgt, wird dies auch im Alltag und in der Personalführung erkennbar. Der wesentliche Faktor hierbei ist der Umgang mit Macht. Die Frage nach der Machtverteilung in einer Einrichtung ist die ethische Dimension des Vorgangs von Delegation. Diese These kann anhand von konkreten Entscheidungen verifiziert werden, die letzten Endes immer auch das vorherrschende Menschenbild offen legen. Zur Konkretion des Menschenbildes im Bereich der Personalführung zählen auch der Entschluss der Führungskraft zu Transparenz von Entscheidungen, das Benennen der Bewertungskriterien von Mitarbeitenden sowie der persönliche Kommunikationsstil.
1.5.4 Forderungen für die Aus-, Fort- und
Weiterbildung Die Frage, welche Inhalte und Formen der Vermittlung die Aus-, Fort- und Weiterbildung bereitstellen muss, um die geforderte ethische Kompetenz zu ermöglichen, ist sehr komplex. Zunächst erscheint die Klärung der Frage erforderlich: Was ist nötig, um ethische Kompetenz für Führungsaufgaben zu erwerben? Wie schwierig die Beantwortung dieser Frage sich gestaltet, liegt auf der Hand. Ethische Kompetenz wird nur sehr begrenzt in Wissen dargestellt. Mindestens ebenso wichtig ist es, die gelernten Grundlagen in konkretem praktischen Vollzug umzusetzen und immer wieder neu angemessen auf die Herausforderungen des Alltags zu reagieren. Die Ausbildung zu jedem Pflegeberuf hat – zumindest in Deutschland – die Arbeit »am Bett« auf der Station oder im Pflegeheim im Blick. Für mindestens die ersten Jahre der Berufserfahrung ist dieser Arbeitsbereich dann auch entscheidend. Die Vorstellung und das Ziel, Pflegemanagement zu übernehmen, entstehen in der Regel erst nach einigen Berufsjahren. > Das bedeutet: Die Voraussetzung, ethische Kompetenz für Führungsaufgaben zu erwerben, ist an Berufs- und damit auch an Lebenserfahrung gebunden.
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Gleichwohl wird die Grundvoraussetzung, Ethik reflektieren zu wollen, bereits mit der Ausbildungszeit gelegt. So gesehen ist der Erwerb von ethischer Kompetenz ein prozesshaftes Geschehen. Dieser Prozess kann in einzelne Schritte bzw. Phasen aufgeteilt erscheinen, in der Regel werden diese Schritte aber immer wieder auch in anderer Reihenfolge erfolgen. Folgende Grundlagen sind zu erörtern und – mindestens punktuell – zu beantworten: ▬ Was verstehe ich als meine berufliche Identität? ▬ Wo liegen meine Stärken, wo meine Schwächen? ▬ Wie beschreibe ich meinen Kommunikationsstil? ▬ Worauf beruht meine personale Autorität? Zum zweiten ist danach zu fragen: ▬ Welche ethischen Kenntnisse besitzt die Führungsperson und welche kann oder muss sie noch erwerben? Der rapide Wandel in Forschung, Diagnose, Therapie und Pflege lässt eine umfassende vergleichende Kenntnisnahme und kontinuierliche Reflexion kaum mehr zu. Das bedeutet: Neben der Voraussetzung, Ethik als notwendig und eine zu denkende Disziplin anzuerkennen, ist die Kenntnis ethischer Entwürfe praktisch nur im Überblick vorauszusetzen. Darauf aufbauend sollte jedoch fortlaufend die Auseinandersetzung mit neueren Entwürfen, Konzeptionen und auch Entwicklungen stattfinden. Solange die Disziplin Pflegeethik nicht konstituiert ist, werden Pflegende und Pflegedienstleitende sich dabei der Unterstützung allgemein ethischer Reflexionen bedienen müssen. > Die zukünftige Gestaltung der ethischen Reflexion wird sich interdisziplinär darstellen.
Da die Führungsperson im Pflegemanagement eine Tätigkeit im interdisziplinären Kontext ausübt, berücksichtigt sie das auch in ihrer Vermittlung ethischer Inhalte. Gegenüber Ärzten, der Verwaltung, den Kostenträgern, aber auch gegenüber Berufsverbänden und gesellschaftlichen Gruppen kann sie ihre Ethikstandpunkte einerseits pflegespezifisch, andererseits auch für andere Professi-
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Kapitel 1 · Wirtschaftsethik
onen sprachlich verständlich und inhaltlich nachvollziehbar darlegen. Aus dem Gesagten folgen konkrete Vorstellungen, die in der Regel durch ein Studium und kontinuierliche Fortbildung zu verwirklichen sind: ▬ Kenntnis von mindestens vier ethischen Grundkonzeptionen der Vergangenheit und der Gegenwart (z. B. Ethik der Bibel, Immanuel Kant, Hans Jonas, Peter Singer); ▬ Fähigkeit, ethische Probleme und Fragestellungen sprachlich zu artikulieren und zu vermitteln; ▬ Fähigkeit, neu entstehende ethische Fragestellungen zu erkennen; ▬ Fähigkeit, im interdisziplinären Kontext pflegespezifische Ethik darzustellen und zu vertreten.
1.5.5 Modell zur ethischen Urteilsfindung
In den bisherigen Ausführungen wurde viel von ethischen Entscheidungen gesprochen. Tatsächlich trifft der Pflegemanager in weit höherem Maße Entscheidungen als viele andere Mitarbeiter, zumindest was die Tragweite und meist auch die ethische Relevanz anbelangt. Als Hilfe für die Entscheidungsfindung in ethischen Fragestellungen hat sich ein Modell bewährt, das den Prozess, der der Entscheidung vorausgeht, strukturiert und damit übersichtlich gestaltet. Als Modell für eine solche Entscheidung schlägt Tödt (1988) folgende 6 Schritte vor: 1. Feststellung des ethischen Problems Die ethische Dimension der Problemstellung wird klar erkannt und benannt. Dies liegt in der Verantwortung der Führungsperson. 2. Situationsanalyse Für die besondere Situation werden möglichst viele Fakten gesammelt und verglichen. Jede Situation ist anders, muss differenziert betrachtet werden. Es geht darum, möglichst viele Details zu kennen und zu verstehen. Nicht zu vergessen ist hier z. B. auch die Klärung der Rechtslage. 3. Erörterung der Verhaltensalternativen Die einzelnen Möglichkeiten des Handelns werden betrachtet und verglichen. Hier muss auch überlegt werden, ob überhaupt alle Verhaltensalternativen in Betracht gezogen werden.
4. Prüfung der Normen Alle Werte und Normen, die bei der Problemstellung berührt werden, werden zusammengestellt, verglichen und bewertet. Möglicherweise ergibt sich bei mehreren Werten eine Wertehierarchie. Dann muss entschieden werden, welches der höchste Wert ist. Dies ist also der ethisch entscheidende Schritt. 5. Urteilsentscheid Das ethische Urteil wird getroffen. Damit sind andere Alternativen ausgeschlossen. Möglicherweise kann der Entscheid auch von Voraussetzungen abhängig gemacht werden: Wenn a) zutrifft, muss nach b) entschieden werden. 6. Überprüfung der Angemessenheit des Urteils Das Urteil wird nochmals, möglichst in zeitlichem Abstand, überprüft. Dabei kommen alle Kriterien ins Spiel: Die Besonderheit der Situation ebenso wie die Werte und Normen, die beachtet werden müssen. Wenn feststeht, dass die Entscheidung zum gegenwärtigen Zeitpunkt als die beste gelten kann, wird sie vollzogen. Das Tödtsche Modell hat den eindeutigen Vorzug, dass es für jede inhaltliche ethische Ausrichtung dienen kann. Die Frage, welche Normen zugrunde gelegt werden, wird erst bei der Prüfung im 4. Schritt wichtig. Somit dient das Modell unabhängig von dem jeweiligen Menschenbild und der vertretene Ethik Eine ethisch verantwortete Entscheidung wird durch eine nachvollziehbare und überprüfbare Methode stichhaltig und glaubwürdig. Das Modell bietet sich somit besonders bei wiederkehrenden Dilemmata an, da in Schritt 2 und 3 auf vorangegangenen Denkaufwand zurückgegriffen werden kann. Es ist ein modernes Beispiel diskursiver Ethik.
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Wirtschafts- und unternehmensethische Grundgedanken
Nachdem bislang vermehrt auf die ethische Kompetenz der einzelnen Leitungsperson und deren Umsetzung im Arbeitsumfeld eingegangen wurde, soll nun der Zusammenhang zwischen Ethik und Wirtschaftlichkeit ergründet werden.
21 1.6 · Wirtschafts- und unternehmensethische Grundgedanken
Bei der Betrachtung wirtschaftsethischer Grundzüge wird schnell deutlich, dass es bei der Reflexion über Ethik im Management um zwei grundsätzliche Denkweisen und Wissenschaften geht. Die Ethik als wissenschaftliche Disziplin fragt nach dem menschlichen Verhalten. Sie erörtert, wie ausführlich beschrieben, mit nachvollziehbaren Argumenten und überprüfbaren Entscheidungen die Antworten auf die Frage: Was sollen wir tun? Somit ist sie die Lehre, die nach einem wertegeleiteten Verhalten fragt, mithin ein Denksystem. Dem gegenüber befasst sich die Betriebswirtschaftslehre mit der Knappheit der Güter und ihrer Überwindung als eine Lehre, die Managementkonzeptionen und ihre Umsetzung beschreibt. Unter Gütern ist dabei alles zu verstehen, was für einen Betrieb entscheidend ist: Finanzen, Vermögen, Personal, Produktionsfaktoren. Wirtschaftlich zu handeln beschreibt dabei das Ziel, das Verhältnis von Input und Output zu optimieren. Mittlerweile kann man davon ausgehen, dass sowohl im wissenschaftlichen Denken als auch im alltagsökonomischen Handeln der Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Ethik unbestritten ist. Große Unternehmen und Gesellschaften haben ethische Themen in ihre wirtschaftlichen Überlegungen aufgenommen. Darüber hinaus beschäftigen sich die Debatten über Nachhaltigkeit, nachhaltige Entwicklung und nachhaltiges Wirtschaften auch auf Weltebene mit ethischen Dimensionen (Dietzfelbinger 2002, S. 15 f.) Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, inwieweit es sich bei Ethik und Wirtschaft (oder besser Wirtschaftlichkeit) um Gegensätze handelt. In einer systematischen Erörterung wird schnell klar, dass hier keine echten Gegensätze vorliegen (wie bereits im Vergleich von Ethik und Qualitätsmanagement aufgezeigt). Doch wird im Alltag des Pflegemanagements – wissenschaftlich unzutreffend und umgangssprachlich unreflektiert – häufig dieses Gegensatzpaar beschrieben. Es lässt sich etwa an folgenden Aussagen von Pflegemanagern festmachen: Ethik ist etwas für Institutionen, die keine Gewinne machen müssen. Oder: Ethik kann sich leisten, wer die entscheidende Arbeit getan hat. Oder auch: Ethik ist die Luxusbeschäftigung für Menschen, die andere arbeiten lassen.
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Solchen Aussagen muss nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse, sondern v. a. im Hinblick auf eine ethisch verantwortete Führung entgegengearbeitet werden. Die Wirtschaftsethik versucht, zwischen den Polen Wirtschaftlichkeit und Ethik eine Verbindung herzustellen. Zum einen kann Ethik im Wirtschaftsleben dazu beitragen, »moralische Missstände zu beseitigen« (Dietzfelbinger 2002, S. 27). Zum anderen trägt sie zur Unternehmenskultur bei und vermittelt positive Anreize. > Im Wirtschaftsleben beseitigt Ethik moralische Missstände, trägt zur Unternehmenskultur bei und vermittelt positive Anreize.
Im Hinblick auf die Gesamtheit eines Unternehmens wird deutlich, dass ethische Aufgabenstellungen in vielerlei Bereichen entstehen. Darüber hinaus existieren zahlreiche Fragen, die nicht betriebswirtschaftlich, sondern volkswirtschaftlich relevant sind. Während die ethische Konzeption für den ersten Bereich als Unternehmensethik zu bezeichnen ist, wird im zweiten Bereich von Wirtschaftsethik gesprochen. Für beide Bereiche gilt, dass Ethik nicht gegen den wirtschaftlichen Erfolg entwickelt werden kann. Vielmehr muss sie den »Weg der Integration« beschreiten (Dietzfelbinger 2002, S. 31). Das Ziel ist eine multiple Win-Situation. Das Zusammenspiel von Ethik und Wirtschaftlichkeit soll im Weiteren entfaltet werden.
1.6.1 Die Zuordnung von Ethik
und Wirtschaftlichkeit als neues Paradigma Tatsächlich handelt es sich nicht um Gegensätze, zumindest nicht im Sinn von Antonymen wie etwa hell-dunkel, langsam-schnell. Als rein sprachlich betrachtetes Wortpaar handelt es sich bei Ethik und Wirtschaftlichkeit um die Gegenüberstellung einer Lehre, die systematisch nach einem wertegeleiteten Verhalten fragt, also einem Denksystem (Ethik) und einem Führungsziel innerhalb eines Betriebes (Wirtschaftlichkeit). Solche Größen können logisch kein Gegensatzpaar bilden: > Ein System kann nicht im Gegensatz zu einem Faktor eines völlig anders gearteten Systems stehen.
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Kapitel 1 · Wirtschaftsethik
In der derzeitigen Diskussion der Wirtschaftsethik lässt sich ein neues Paradigma in der Zuordnung von Ethik und Wirtschaftlichkeit konstatieren. Die Bezeichnung Paradigma meint in diesem Zusammenhang die fundamentalen Denkmuster und Perspektiven, an denen sich wissenschaftliche Disziplinen, der technische Fortschritt und die zeitgenössische Kultur ausrichten (Kuhn 1979). Diese Denkmuster entstehen im Kontext und in einem sich ständig wandelnden Prozess der Wissenschaften. In einer »alten« Denkweise, also einem bisherigen Paradigma, könnten Ethik und Wirtschaftlichkeit als Gegensätze betrachtet werden. Von daher ist die »neue« Art der Zuordnung der Vorgang, der als Paradigmenwechsel bezeichnet wird. Worin besteht nun das neue Paradigma? Meint Ethik und Wirtschaftlichkeit das In-BeziehungSetzen von zwei unvergleichbaren Größen im Sinn von Apfel- und Kirschkern? Oder handelt es sich bei der Wirtschaftsethik um eine modische Kombination, wie ganz zu Anfang angesprochen? Das neue Paradigma entsteht dadurch, dass die Zuordnung von zwei Wissenschaftssystemen – Ethik und Betriebswirtschaft – nicht nur additiv gesehen wird: Wirtschaftlichkeit und Ethik in dem Sinn, dass auch eine Wirtschaftlichkeit ohne Ethik denkbar wäre. Vielmehr werden die beiden Größen Ethik und Wirtschaftlichkeit bei aller semantischen und inhaltlichen Unvergleichbarkeit in eine Relation gebracht, was insbesondere im Hinblick auf den Bereich der Dienstleistung darzustellen ist. Für den Bereich der Pflegeberufe und der Führung von Einrichtungen des Gesundheitswesens stellt die Bedeutung der Ethik für das Gelingen einer kompetenten Pflege im Grunde nichts Neues dar. Pflegende haben, wie zu Beginn ausgeführt, zu allen Zeiten eine ethische Grundhaltung besessen und waren in der Lage, darüber Auskunft zu geben. In christlich oder national begründeten Konzepten war dies ohnehin eine Grundvoraussetzung. Doch fordert die Realität unserer Gegenwart, die mit dem Stichwort der Wertepluralität beschrieben werden kann, eine bewusste Besinnung auf die eigenen Werte und die, die im Unternehmen eingebracht werden sollen, heraus. An verschiedenen Stellen in der Pflegemanagementliteratur ist auf die Notwendigkeit einer ethischen Kompetenz im
Hinblick auf den Prozess der Professionalisierung hingewiesen worden (zuletzt Schwerdt 2002). Die Implementierung ethischen Denkens ist deshalb zur Zielvorstellung dieses Ansatzes geworden. Dabei wird deutlich, dass auch bei einer Betonung der Wirtschaftlichkeit die ursprüngliche Aufgabe der Patientenversorgung den Vorrang behalten sollte:
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Es ist zu hoffen und zu erwarten, dass die Förderung ethischer und moralischer Kompetenz zu allererst den Menschen zu Gute kommt, die sich aufgrund einer Erkrankung im Krankenhaus befinden, die infolge eines besonders ausgeprägten Pflegebedarfs in einer stationären Pflegeeinrichtung leben, die eine teilstationäre Pflegeeinrichtung in Anspruch nehmen oder einen ambulanten Pflegedienst. (Schwerdt 2002, S. 177)«
1.6.2 Ethik als Voraussetzung
für Wirtschaftlichkeit im Bereich der Dienstleistung Zur Entfaltung der Beschreibung des neuen Paradigmas ist es notwendig, an die Grundbedingungen des Wirtschaftssektors Dienstleistung zu erinnern: ▬ Dienstleistungen sind nicht lager- und transportfähig. ▬ Produktion und Absatz sind räumlich und zeitlich direkt mit einander verbunden. ▬ Der Kunde ist an ihrer Erstellung beteiligt (Prosumer-Problem) ▬ Die Qualität einer Dienstleistung ist in hohem Maße subjektiv. Die Qualität einer Dienstleistung lässt sich nicht in einer Dimension fassen: Zum Grundwert der Dienstleistung tritt der added value (wirtschaftswissenschaftlich gedacht). Man könnte auch sagen: Die Wirklichkeit, die durch die Dienstleistung mitgeschaffen wird, lässt sich in unterschiedlichen Formen wahrnehmen (geisteswissenschaftlich gedacht). Deutlich wird, in welch hohem Maß die Qualität einer Dienstleistung von den individuellen Voraussetzungen des Dienstleisters abhängt. Der Friseur z. B., dem ich einen wesentlichen Teil meines äußeren Erscheinungsbildes anvertraue, muss
23 1.6 · Wirtschafts- und unternehmensethische Grundgedanken
mir so überzeugend erscheinen, dass ich seinem Rat entspreche – unabhängig davon, mit welcher Schere er anschließend meine Haare schneidet. Für den Bereich des Gesundheitswesens bedeutet dies: > Die Akzeptanz der Dienstleistung der Pflege hängt im hohen Maß von der persönlichen Glaubwürdigkeit und Integrität des Dienstleisters ab.
Was bedeutet aber persönliche Glaubwürdigkeit und Integrität? Glaubwürdig ist jemand, der zum einen Werte erkennen lässt und erkennbar vertritt, die er zum anderen persönlich lebt. Die Integrität (»Unverletzlichkeit«) eines Menschen wird deutlich, wenn er aus einer stabilen »inneren Sicherheit« heraus denkt, erscheint und handelt. Diese innere Sicherheit ist in hohem Maße mit der Bildung von Werten verbunden. Da wie skizziert sich auch die Dienstleistung im Wesentlichen der individuellen Voraussetzung des dienstleistenden Menschen sowie der persönlichen Gestaltung eines Ablaufs verdankt, ergibt sich folgerichtig, dass die Entwicklung und Gestaltung von Werten bei dem ausübenden Dienstleister eine Grundvoraussetzung seiner Dienstleistung darstellt. Da auch die Dienstleistung sich an wirtschaftlichen Maßstäben messen lassen muss, wird auch die ethische Ausrichtung des Dienstleisters ein Kriterium seiner Attraktivität und damit der Nachfrage sein. Insofern lässt sich die These aufstellen: > Die Ethik eines Dienstleisters ist eine wichtige Voraussetzung seiner Wirtschaftlichkeit.
Damit wäre die angekündigte Relation zwischen Ethik und Wirtschaftlichkeit beschrieben, mindestens für den Sektor der Dienstleistung. Anders gesagt: Wer gute Dienstleistung will, braucht Dienstleister mit Ethik. Welche Ethik ist jedoch gemeint? Gibt es Werte, die hier besonders zu nennen sind? Und weiter: Wie lassen sich Werte und Wirtschaftlichkeit verbinden? Auf den Punkt gebracht: Gibt es Werte, die der Wirtschaftlichkeit dienen? Ganz offensichtlich besteht innerhalb des Gesundheitswesens die Vorstellung, dass es solche Werte, die der Wirtschaftlichkeit dienen, gibt. Anders wären die vielfältigen Bemühungen um
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Leitbilder und Unternehmensphilosophien nicht zu verstehen. Allerdings muss hier eine deutliche Einschränkung gemacht werden, die die Existenz einer Ethik relativiert: Die schiere Behauptung einer Unternehmensphilosophie oder die schlichte Veröffentlichung eines Leitbildes bewirken keine ethische Ausrichtung. Anders gesagt: Wo keine persönliche Gestaltung der Ethik, die einer Einrichtung zugrunde liegt, zu erkennen ist, ist jede Behauptung von Ethik überflüssig. Was ist also zu tun, wenn Ethik gewollt wird, wenn sogar die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens davon beeinflusst wird? Ein Rückblick auf die Definition von Wirtschaftlichkeit macht es deutlich: Es ist dies der Versuch, das Verhältnis von Input und Output zu optimieren.
1.6.3 Aufgaben der Unternehmensethik
Ethische Reflexion in einem Unternehmen hat auf verschiedenen Ebenen zu erfolgen. Mit Dietzfelbinger (2002) sind folgende Bezugsebenen von einander zu unterscheiden: Individuum, Unternehmen und Wirtschaft. Im Folgenden stehen die Aufgaben der Ethik im einzelnen Unternehmen im Mittelpunkt. > Die übergeordnete Aufgabe der Unternehmensethik besteht darin, ethische Orientierung bei der Ausübung von Verantwortung zu geben.
Dies betrifft insbesondere den Führungsbereich eines Unternehmens. Im Einzelnen können die Aufgaben der Führungsethik folgendermaßen benannt sein: ▬ Entscheidung, einen ethischen Prozess der Bewusstseinsbildung bei den Mitarbeitern in Gang zu setzten; ▬ Bereitschaft, den ethischen Diskurs im Unternehmen anzustoßen und in Gang zu halten; ▬ Anstoß für Mitarbeitende und Führungskräfte zur Überprüfung ihrer eigenen Wertehaltung und Grundüberzeugungen; ▬ Sensibilisierung der Mitarbeitenden für die Bedingungen im eigenen Arbeitsumfeld und deren ethische Relevanz;
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Kapitel 1 · Wirtschaftsethik
▬ Konfliktlösungsangebote für Mitarbeitende auf allen Ebenen ▬ Umsetzung ethischer Grundüberzeugungen in Führungspositionen; ▬ Kontinuierliche Fortentwicklung der ethischen Kompetenz aller Mitarbeitenden durch Fort- und Weiterbildung im Bereich ethischer Fragen; ▬ Nicht zuletzt: Erhöhung der Effizienz unternehmensinterner Entscheidungsprozesse (Wollert 2001, S. 122). Unternehmensethik ist deshalb von so großer Bedeutung, weil kein Unternehmen einen ethikfreien Raum darstellt. Auch wenn dies nicht auf den ersten Blick für jeden offensichtlich ist, werden in jedem Unternehmen Entscheidungen gefällt, für deren Zustandekommen Werte und Normen ausschlaggebend sind.
»
Jedes Unternehmen baut auf Werten auf. Sein gesamtes Streben läuft einen Wertschöpfungsprozess hinaus. (Wollert 2001, S. 126 f.)
1.6.4 Konkretion des neuen Paradigmas
Von diesem Grundgedanken her legt es sich nahe, die Führung eines Unternehmens an ihren Wertvorstellungen zu messen. Dabei ist zunächst noch nichts darüber ausgesagt, welcher Art diese Werte sind. Natürlich wird ein Träger, der selbst weltanschaulich gebunden ist, diese Werte umsetzen wollen; im Bereich der Pflegeeinrichtungen trifft dies auf die Wohlfahrtsorganisationen und allgemeine Non-Profit-Einrichtungen zu. Andere Träger werden ihre Werte an einem Leitbild entwickeln, das sich keiner bestimmten Ethik verpflichtet sieht, das aber durchaus einer ethischen Grundüberzeugung folgt. Authentische Führung bedeutet in jedem Fall, die eigenen Werte als Führungskraft zu kennen und benennen zu können. Entscheidend wird dann immer die glaubwürdige Umsetzung sein (Knoblauch u. Marquardt 2001). Als These werden hier folgende Gedanken vorgestellt:
> ▬ Wirkliche Bedeutung für ein Dienstleistungsunternehmen hat die Ethik nur, wenn sie durch die persönliche Qualität der Menschen, die dort arbeiten, umgesetzt wird. ▬ Diese persönliche Qualität des Dienstleisters wird durch seine Identität bestimmt. ▬ Von daher ist die Grundvoraussetzung einer Ethik, auf der wirtschaftlicher Erfolg beruht, die Entwicklung einer eigenen Identität. ▬ Identität zu besitzen, bedeutet: Der gleiche zu sein, der ich vorgebe zu sein.
Die Entwicklung einer Identität in der heutigen Zeit ist schwierigen Herausforderungen ausgesetzt: Die Postmoderne konfrontiert mit einem umfangreichen Pluralismus und der Option einer Fülle von individuellen Freiheiten. Ein allumfassendes Welt-, Menschen- und Gottesverständnis fehlt inzwischen. Stattdessen sind die Menschen von Glaubens- und Wertesystemen umgeben, die miteinander konkurrieren. Wie findet man darin Identität? Klar ist, dass man keine einzelne Identität besitzt. Die Patchwork-Identität ist ein Kennzeichen moderner Lebensbedingungen: Die dienstbeflissene Altenpflegerin wird in der Atmosphäre der Hochschule zur wissensdurstigen Studentin, der unnahbare Professor wird im Familienleben zum liebevollen Vater, der ständig gezielt arbeitende Unternehmer wird am Wochenende und im Urlaub zum spielerischen Weinbauern. > Es ist ein Kennzeichen des modernen Menschen, Identitäten zu wechseln.
Er befindet sich dabei in einem permanenten Prozess der Selbstfindung. Er wechselt zwischen Beruf und Privatleben ständig von einer Identität in die andere, von einem Ethos in das andere. In der Verbindung dieser Welten, in der ständigen Flexibilität der Identitäten liegt die größte Herausforderung für den modernen Menschen. Wenn nun stimmt, dass die Gestaltung der Ethik und letztlich damit – die Wirtschaftlichkeit von Dienstleistungsunternehmen an der Bildung einer Identität hängt, liegt die Aufgabe für die Zukunft auf der Hand.
25 1.6 · Wirtschafts- und unternehmensethische Grundgedanken
> Es wird in Zukunft darum gehen, tragfähige Identitäten zu entwickeln und in persönlicher Wahrhaftigkeit dieser Identität zu leben.
Bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass für die Entwicklung und Ausdifferenzierung der eigenen Identität durchaus vorhandene Vorbilder mit heran gezogen werden können. Gerade für den Bereich der weltanschaulich begründeten Führungsidentität lassen sich Anregungen aus bewährten, aber vielfach vergessenen historischen Kontexten finden. Exemplarisch soll hier auf die Wiederentdeckung der Regel des Heiligen Benedikts, des Begründers des Benediktinerordens im Mittelalter, hingewiesen werden. Seine Regel, die für viele Orden und Klöster des Mittelalters verbindlich wurde, gibt – in einer überraschenden Großzügigkeit – Anregungen für das Verhalten von Führungspersonen. So wird neben dem Menschenbild Benedikts der Umgang mit Dingen und Menschen, die Sorge für sich selbst und das Ziel des Führens als »spirituelle Unternehmenskultur« beschrieben (Grün 1998, S. 127 f.). Wenigstens Stichworte sollen in diesem Zusammenhang aus der Interpretation der BenediktinerRegel für heutige Führungskräfte benannt werden. So übersetzt Grün die Aufforderungen für die Ziele des Führens in der heutigen Zeit mit folgenden Grundlinien (Grün 1998, S. 127 ff.): ▬ Ein verlässliches und klares Betriebsklima schaffen. ▬ Die Dinge zur rechten Zeit tun. ▬ Mitarbeitende nicht in Verwirrung und Unruhe bringen. ▬ Mitarbeitende nicht verletzen. ▬ Ein Klima schaffen, in dem spirituelle Erfahrungen möglich sind. ▬ Eine überzeugende Unternehmenskultur schaffen. ▬ Einen Raum schaffen, in dem die Seele beflügelt wird. ▬ Visionen schaffen, die Gemeinschaft vermitteln. Die individuelle Identität der Führungsperson und die kollektive Identität des Unternehmens sind dabei gleichermaßen herausgefordert. Beide Formen der Identität können sich gegenseitig befruch-
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ten, werden jedoch immer wieder auch in einen Wertekonflikt führen. Möglicherweise wird das neue Paradigma, Ethik und Wirtschaftlichkeit in Beziehung zu setzten, zum Stolperstein oder gar zum Anlass von Resignation. Insbesondere Führungskräfte aus dem Pflege- und Gesundheitsbereich sehen sich in ihrer persönlichen Ethik im Widerspruch zu dem, was man als »Ethik des Marktes« bezeichnen könnte. Das hat seinen Grund häufig darin, dass die persönliche Wertehaltung, die zu einem Beruf innerhalb der Dienstleistung Pflege geführt hat, in hohem Maß von Fürsorglichkeit, Zuwendung zu hilfsbedürftigen Menschen und der Bereitschaft zu hohem Engagement bestimmt ist. Diese Grundhaltungen verhelfen mit Sicherheit auch dazu, eine menschenfreundliche oder (professionell formuliert) patientenorientierte Pflege auszuüben. Mit der Übernahme einer Führungsposition werden jedoch auch andere ethische Grundhaltungen notwendig. Nicht erst die ökonomische Situation, aber v. a. sie ist es, die den Pflegemanagern Einstellungen einer Unternehmensführung abverlangt. Das Personalmanagement hat die Aufgabe, die Werte, die in der jeweiligen Gesellschaft erkennbar sind, sowie die Werte der einzelnen Mitarbeiter und die Ziele des Unternehmens zu einer Synthese zu führen. Dabei wird die Führungskraft mit einer Fülle von Aussagen und Vorstellungen zum Menschen und zum Leben im Allgemeinen konfrontiert werden. Die unerlässliche Voraussetzung ist es, diese Aussagen zur Kenntnis zu nehmen, um eine Vorstellung von den »Menschenbildern« im Unternehmen zu haben. Dem lässt sich nur das persönliche Menschenbild entgegensetzen. Wie zu Beginn besprochen, ist jeder Ethik eine Anthropologie vorgeordnet. Als hilfreiche Perspektive soll hier der Aspekt der Freiheit benannt werden. Gerade weil Führungspersonen auf eine bestimmte Identität immer wieder festgelegt und ihren Unternehmenszielen verpflichtet sind, ist die Freiheit des Menschen zu akzentuieren. Freiheit wird dabei nicht als das Gegenteil von Verbindlichkeit oder gar Verantwortung verstanden. Zu erinnern ist hier an den Satz von Hans Jonas (1987, S. 39): »Dass sie sich Grenzen setzt, ist die erste Pflicht aller Freiheit«.
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Kapitel 1 · Wirtschaftsethik
In dem hier beschriebenen Zusammenhang ist auch auf die anthropologische Dimension der Freiheit zu verweisen. Zu erinnern ist an die Feststellung Friedrich Joseph Schellings (1775–1854), wahre Freiheit bestünde darin, von sich selbst frei zu sein. Neben der Gestaltung der Unternehmensethik durch die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit, die das jeweilige Verhalten der Führungskraft beeinflusst, geht es auch um die Gestaltung der Verhältnisse nach ethischen Gesichtspunkten. Das bedeutet: > Sowohl das Verhalten des Individuums als auch die gesamten Verhältnisse des Unternehmens sind Gegenstand ethischer Überlegungen und deren entsprechender Konsequenzen.
? Wissens- und Transferfragen Bevor Sie mit der Klärung von allgemeinen und speziellen Fragen beginnen, bearbeiten Sie bitte folgende erste Aufgabe: 1. Vergegenwärtigen Sie sich Ihre eigene Vorstellung von Ethik. Hilfreich können dabei folgende Fragen sein: – Welche Stichworte fallen mir zu dem Thema »Ethik in der Pflege« ein? – Mit welchen Empfindungen sind die Situationen und Befindlichkeiten, die ich mit Ethik assoziiere, verbunden? – Was beschreibe ich mit Ethik? – Formulieren Sie Aussagen über Ethik in der Pflege, die mit folgenden Worten beginnen: »Ich verhalte mich ethisch, wenn ...« – »Ethik ist, wenn ...« 2. Welche Bedeutung haben folgende Größen für die Entstehung der Ethik und wo grenzen sie sich voneinander ab: Regeln; Gesetze; Normen; Werte; Moral. 3. Was ist unter »Wertewandel« zu verstehen? 4. Skizzieren Sie folgende Grundkonzeptionen von Ethik: Normative Ethik; Deskriptive Ethik; Metaethik.
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5. Nennen Sie ein bis zwei exemplarische historische Situationen, an denen der Zusammenhang zwischen Ethik in der Pflege und der allgemeinen gesellschaftlichen Ethik deutlich wird. 6. Machen Sie den Zusammenhang zwischen anthropologischer Grundhaltung und Ethik deutlich. 7. Nennen Sie die Kennzeichen eines positiven Menschenbildes. 8. Erläutern sie, inwiefern Ethik auch in Einrichtungen des Gesundheitswesens ein Führungsinstrument ist. 9. Worin besteht die Bedeutung ethischer Kompetenz der Führung und was versteht man darunter? 10. Beschreiben Sie die Gemeinsamkeiten von Qualitätsmanagement und der Übernahme ethischer Verantwortung in Führungspositionen im Pflegemanagement 11. Erläutern Sie die Bedeutung ethischer Reflexion für die Führungskompetenz anhand der Schlüsselqualifikation. 12. Wozu hilft das Tödtsche Entscheidungsfindungsmodell? 13. Was versteht man wissenschaftstheoretisch unter einem Paradigma? 14. Wie lassen sich Ethik und Wirtschaftlichkeit zuordnen? 15. Inwiefern stellt Ethik die Voraussetzung für die Wirtschaftlichkeit im Bereich der Dienstleistung das? 16. Welche Aufgaben hat die Unternehmensethik? 17. Warum ist für eine Unternehmensethik die Reflexion des eigenen Menschenbildes erforderlich? 18. Welche Bedeutung hat die Persönlichkeit der Führungskraft für die Ethik des Unternehmens?
27 Literatur
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2 Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen P. Obermaier-van Deun 2.1
Rechtsträgerschaften – Basis des Managements – 29
2.2
Berufshaftpflicht – trägerspezifisch unterschiedliche Rechtsfolgen – 40
2.3
Zustandekommen und Beendigung eines Arbeitsverhältnisses – 44
Wissens- und Transferfragen Literatur
2.1
– 57
– 57
Rechtsträgerschaften – Basis des Managements
Die Pflege, und hier insbesondere das Pflegemanagement, ist mit einer Vielzahl von Trägerformen befasst. Je nach Fragestellung ziehen unterschiedliche Trägerformen differenzierte Rechtsfolgen nach sich. So stellt sich bei einer Unternehmensgründung oder -umwandlung die Frage nach der jeweils günstigsten Rechtsform in Bezug auf die Gründungskonzepte. Hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse geht es etwa um die Frage einer Tarifbindung (BAT), bezüglich der Mitbestimmung geht es um die einschlägigen Mitbestimmungsregelungen (z. B. Betriebsverfassungsgesetz, Personalvertretungsgesetze, MAVO) oder im Hinblick auf Ziele des Unternehmens um die Frage einer Steuerbefreiung etwa aufgrund von Gemeinnützigkeit. Trifft betriebliches Handeln auf Partner mit einer bestimmten Rechtsform, so stellt sich die Frage nach der rechtlichen Ebene, auf der gehandelt wird mit der Konsequenz einer Rechtswegunterscheidung. Dies sind nur einige Beispiele für Handlungsgrundlagen, die sich aus der jeweiligen Trägerschaft ergeben können. Die folgende Zusammenschau zu den unterschiedlichen Trägerschaften, welche in der Pflege eine Rolle spielen, soll als Ausgangs-
punkt dienen, das Management trägerbezogen orientieren zu können.
2.1.1 Rechtsträgerschaften in der Pflege
Grundsätzlich werden zwei Arten von Rechtsträgern unterschieden: ▬ die natürlichen Personen, also jede rechtsfähige Einzelperson; ▬ die juristischen Personen, d. h. fiktive Rechtsträger (Personenvereinigung oder ein Zweckvermögen mit vom Gesetz anerkannter rechtlicher Selbständigkeit [Creifelds 1990]). Im Folgenden geht es ausschließlich um die zweite Kategorie, also um juristische Personen und als Ergänzung um Personenzusammenschlüsse im Grenzbereich von juristischen Personen und natürlichen Personen (z. B. Gesellschaft bürgerlichen Rechts GbR). Bei den juristischen Personen unterscheiden wir entsprechend den beiden Rechtsebenen, die wir im deutschen Recht kennen, in solche des Privatrechts und solche des öffentlichen Rechts. Die Zuordnung in die jeweilige Ebene ist selbstverständlich nicht zufällig, sondern ergibt sich einerseits aus der jeweiligen Bedeutung
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
der beiden Rechtsbereiche, andererseits aus der Zweckorientierung, der die entsprechende juristische Person dienen soll. Generell handelt es sich bei den juristischen Personen um Trägerschaften, also um fiktive Handlungsverantwortliche, sei es z. B. für ambulante oder stationäre Handlungen der Altenpflege, für das Handeln im Bereich von Sozialversicherungsleistungen oder für gemeindliches bzw. staatliches Handeln. Es wird nun die Systematik der juristischen Personen dargestellt und sodann eine Gesamtübersicht über relevante Rechtsträgerschaften in der Pflege gegeben. Juristische Personen des öffentlichen Rechts Juristische Personen und damit Rechtsträger des öffentlichen Rechts sind ▬ Körperschaften des öffentlichen Rechts, ▬ Anstalten des öffentlichen Rechts, ▬ Stiftungen des öffentlichen Rechts. Körperschaften des öffentlichen Rechts
Die Kennzeichen für Körperschaften des öffentlichen Rechts lassen sich in drei wesentliche Merkmale zusammenfassen: ▬ Organe der Willensbildung (z. B. Gemeinderat, Bundestag, Vertreterversammlungen der Sozialversicherungsträger), ▬ Mitglieder (Mitgliedschaft kraft Gesetzes), ▬ Verwaltung (»Behörden«). Es werden Gebietskörperschaften und Zweckkörperschaften unterschieden. Zu den Gebietskörperschaften zählen die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesländer, die Regierungsbezirke, die Landkreise und die Gemeinden. Sie definieren sich somit über das jeweilige geografische Gebiet. Die Mitglieder sind die dort ansässigen Bürger und Bürgerinnen. Gebietskörperschaften als Trägerschaften in der Pflege spielen eine Rolle etwa im Bereich der Krankenhausträgerschaften, der stationären und ambulanten Pflege oder der Krankenhausplanung. Demgegenüber bestimmen sich die Zweckkörperschaften aus ihrer Zielrichtung (z. B. Abwicklung der jeweiligen Aufgaben bei den Trägern der Sozialversicherung). Die Mitglieder der Zweckkörperschaften ergeben sich aus einer gesetzlichen Zwangsmitgliedschaft im Zusammenhang mit dem
Zweck (z. B. zugelassene Ärzte als Mitglieder ihrer Kammern, Versicherungspflichtige als Mitglieder der Krankenversicherung etc.). Anstalten des öffentlichen Rechts
Die Anstalten des öffentlichen Rechts sind hier nur der Vollständigkeit der Systematik wegen erwähnt. Sie spielen im Bereich der Pflege als Träger allenfalls mittelbar (z. B. Sparkassen als Finanzpartner von Pflegebetrieben) eine Rolle. Sie haben als Kennzeichen ▬ Benutzer, ▬ Träger: Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts, ▬ einen bestimmten Verwaltungszweck. Diese Kennzeichen lassen sich am Beispiel von Anstalten des öffentlichen Rechts veranschaulichen. Rundfunkanstalten, Sparkassen oder die Bundesanstalt für Arbeit haben jeweils »Benutzer«, auch wenn diese unterschiedliche Ziele mit ihrer »Benutzung« verfolgen. Die Trägerschaft liegt bei den Bundesländern, bei Landkreisen, kreisfreien Städten oder beim Bund. Der Zweck geht in unterschiedliche Richtungen, liegt aber in allen Fällen im öffentlichen Interesse. Stiftungen des öffentlichen Rechts
Kennzeichen der Stiftung ist ein Vermögen, das einem Stiftungszweck gewidmet ist. Entsprechend diesem Zweck gibt es »Nutznießer«, sog. Destinatäre, also Zielgruppen, auf die der Stiftungszweck und damit die Stiftungsmittel ausgerichtet sind. Die Institution der Stiftung hat zunehmend an Bedeutung gewonnen. In Zeiten der Knappheit öffentlicher Finanzmittel können solche Stiftung dazu dienen, die Finanzierung wichtiger sozialer Aufgaben öffentlicher Träger, z. B. Aufgaben der Jugend- oder Altenhilfe über gewöhnliche Zeiträume der Haushaltsplanung (1–2 Jahre) hinaus sicherzustellen. Dazu werden von Gebietskörperschaften solche Stiftungen mit entsprechenden Stiftungszwecken ins Leben gerufen. Hierdurch ist es auch möglich, dass Finanzmittel mehrerer Gebietskörperschaften für Stiftungszwecke im öffentlichen Interesse gepoolt werden. Rechtsgrundlagen dazu finden sich in den entsprechenden Stiftungsgesetzen der Länder. Stiftungen
31 2.1 · Rechtsträgerschaften – Basis des Managements
2
können aber auch Einrichtungsträger, z. B. von Krankenhäusern oder Altenheimen sein, deren Einrichtungen aus Stiftungsmitteln finanziert oder mitfinanziert werden.
Im Folgenden wird nur auf die Rechtsformen näher eingegangen, welche als Trägerschaften im Bereich der Pflege in der Praxis eine wesentliche Rolle spielen.
Juristische Personen des Privatrechts Die juristischen Personen des Privatrechts nehmen ihren Ursprung in der Epoche, in welcher das wirtschaftliche Leben zunehmend aus den Familien in Zusammenschlüsse (engl. »company«) zum Zwecke der Produktion oder des Handels verlagert wurden. Für diese Zusammenschlüsse gab es das Erfordernis der eigenen Rechtsfähigkeit, damit sie im eigenen Namen Rechtsgeschäfte tätigen konnten und nicht eine Einzelperson für alle Folgen dieser Rechtsgeschäfte einzustehen hatte. Dazu war diese auch nicht in der Lage, wurden doch auch die Folgen, wie Produktionsfehler, schlechte Lieferung etc. nicht von ihr allein bestimmt, sondern vom Gesamtbetrieb. Für die wirtschaftliche Betätigung wurden in der Rechtsordnung die Handelsgesellschaften etabliert, wie etwa die offene Handelsgesellschaft (oHG) oder die Kommanditgesellschaft (KG), welche im Handelsgesetzbuch (HGB) ihre Regelungen finden. Daneben sind auch juristische Personen in der Rechtsordnung etabliert, die nicht primär auf wirtschaftliche Betätigung ausgerichtet sind, sondern deren Zweck in der Verfolgung primär nichtwirtschaftlicher Ziele besteht. Dies sind der Verein (§§ 21 ff. BGB) und die Stiftung des Privatrechts (§§ 80 ff. BGB). An Bedeutung gewonnen hat zunehmend die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), geregelt im GmbH-Gesetz. Im Bereich sozialer Betätigung, also auch im Bereich der Altenarbeit und Altenpflege sowie im Krankenhausbereich, spielen vor allem die letztgenannten Trägerschaften, hier zunehmend die GmbH, eine wesentliche Rolle. Bei den Rechtsformen der Gesellschaften werden hier unterschieden (nach Wörlen 2002): ▬ Personengesellschaften: BGB-Gesellschaft (GbR) §§ 705 ff. BGB, oHG §§ 105 ff. HGB, KG §§ 161 ff. HGB, stille Gesellschaft §§ 230 ff. HGB; ▬ Kapitalgesellschaften: e. V. §§ 21 ff. BGB, Aktiengesellschaft AktG, Kommanditgesellschaft auf Aktien §§ 278 ff. AktG, Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbHG, eingetragene Genossenschaft GenG.
Der eingetragene Verein e. V.
Wiewohl das Gesetz (§ 22 BGB) von vorneherein die wirtschaftliche Betätigung eines Vereins nicht ausgeschlossen hat, haben sich Vereine vor allem im Zusammenhang mit ideellen Zielrichtungen gegründet, wie z. B. zur Aufrechterhaltung heimatlicher Bräuche (Trachtenvereine), der Tierzucht, des Gartenbaus, der Musikpflege etc. Von hoher Bedeutung ist die Trägerschaft des Vereins vor allem in Feldern der sozialen Arbeit sowie der Pflege, dort insbesondere im Bereich stationärer und ambulanter Alten- und Krankenpflege. Alle großen Wohlfahrtsverbände (Caritas, Diakonie, DPWV etc.) sind bis heute zumindest in ihren Dachorganisationen als eingetragene Vereine gegründet. Ihr Vereinszweck ist dabei primär nicht ein wirtschaftliches Interesse, sondern soziale Hilfestellung an allen sozialen Brennpunkten, von der Elementarerziehung über die Kinder- und Jugendhilfe, die Behindertenhilfe, die Familienhilfe, die Erwachsenenbildung bis hin zur Arbeit mit kranken und alten Menschen. Andere freie Träger in der Rechtsform des e. V. haben ihr Vereinsziel auf Ausschnitte dieser sozialen Arbeitsfelder beschränkt. Worin der individuelle Vereinszweck bestehen soll, muss in der Vereinssatzung festgelegt werden. Bis ein Verein über die Eintragung im Vereinsregister des örtlich zuständigen Amtgerichts seine Rechtsfähigkeit als juristische Person erlangt, sind folgende Schritte einer Vereinsgründung vorzunehmen: ▬ Werbung von Mitgliedern. Die Gründung eines Vereins erfordert mindestens sieben Gründungsmitglieder (§§ 56, 59 Abs. 3 BGB). ▬ Erarbeitung einer Satzung (§ 57 BGB). Die Satzung gestaltet die Grundstruktur des Vereins und muss vor allem Aussagen zum Zweck, zum Namen und zum Sitz des Vereins enthalten. Des Weiteren sind Regelungen zum Vorstand und seiner gesetzlichen Vertretung bezüglich des Vereins (§ 26 BGB), zur Mitgliederversammlung (§ 32 BGB), zur Mitgliedschaft und zur Kompetenzabgrenzung von Vorstand und
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
Mitgliederversammlung vorzusehen. Weitere individuelle Organisationsgegebenheiten sollen ebenfalls in der Satzung Aufnahme finden. Die Rahmenregelungen zum Vereinsrecht im BGB sind insoweit gut geeignet, die Individualität einer einzelnen Vereinsorganisation zu ermöglichen, als sie strukturell nur minimale Anforderungen stellen. So können neben dem Vorstand noch weitere Organe (z. B. Beiräte) über die Satzung eingeführt werden. Auch ist nicht näher geregelt, wie der Vorstand personell besetzt sein muss. Er kann aus einer beliebigen Anzahl von Personen bestehen. Entscheidend ist, dass er den Verein gerichtlich und außergerichtlich vertritt. Dieses Vertretungsrecht kann jedoch auch nur einem Vorstandsmitglied, mehreren einzeln oder mehreren nur zusammen über die Satzung eingeräumt werden. Wichtig ist, dass sich Regelungen zu Organen, Vertretungsrecht etc. nicht widersprechen, Zuständigkeiten sich nicht überschneiden bzw. ungeklärt sind. Bei der Gestaltung der Satzung ist gleichzeitig zu beachten, dass Regelungen zur Gemeinnützigkeit (S. 36) entsprechend den Erfordernissen der Abgabenordnung (AO) Eingang finden, wenn eine Gemeinnützigkeit des Vereins angestrebt wird. Ist dies der Fall empfiehlt es sich weiterhin, schon in diesem Stadium der Vereinsgründung die Satzung dem zuständigen Finanzamt für Körperschaften vorzulegen mit dem Ziel, eine Anerkennung der Gemeinnützigkeit auf der Basis der Satzung zu erhalten. Wird dies versäumt, kann sich die Gründungsphase unnötig in die Länge ziehen, weil für jede nachträglich erforderliche Satzungsänderung eine oder mehrere weitere Mitgliederversammlung zum Satzungsbeschluss erforderlich sind. ▬ Einberufung der Gründungsversammlung (§§ 32, 33 BGB). Da der Gründungsakt in Form einer Gründungsvereinbarung ein privatrechtlicher Vertrag ist, müssen die Gründungsmitglieder geschäftsfähig oder wirksam vertreten sein. Fehlt eine wirksame Vertretung, ist dies unschädlich, wenn die Mindestzahl der Gründungsmitglieder geschäftsfähig ist. Mitglied kann auch eine juristische Person sein, z. B. ein anderer e. V. oder eine juristische Person des
öffentlichen Rechts. Die Gründungsversammlung muss mindestens zwei Tagesordnungspunkte enthalten, welche in der Einladung zu kennzeichnen sind: – den Beschluss der Satzung, – die Wahl des Vorstands. ▬ Durchführung der Gründungsversammlung. Dort sind die Beschlüsse zur Satzung und die Vorstandswahl herbeizuführen und eine Niederschrift zu erstellen, welche die Bestellung des Vorstandes dokumentiert (§ 59 Abs. 2 Nr. 2 BGB). ▬ Anmeldung der Eintragung durch den Vorstand (§ 59 BGB). Die Anmeldung beim zuständigen Amtsgericht (§ 55 BGB) erfolgt durch den Vorstand als gesetzlichen Vertreter über einen Notar (§ 77 BGB). Dieser Anmeldung sind die von den sieben Gründungsmitgliedern unterschriebene Satzung als Urschrift und in Abschrift sowie die Niederschrift zur Bestellung des Vorstandes beizufügen. ▬ Eintragung durch das Amtsgericht (§§ 64,65 BGB). Mit der Eintragung in das Vereinsregister darf der Verein den Zusatz e. V. führen und ist rechtsfähig. Nach abgeschlossener Vereinsgründung ist der Verein autonom entsprechend seinen Satzungsregelungen tätig. Der Verein als juristische Person haftet ab diesem Zeitpunkt mit seinem Vermögen für alle Schäden, die ein satzungsmäßig bestellter Vertreter oder aufgrund von Satzungsregelungen Beauftragter einem Dritten zufügt (§ 31 BGB). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Mitglieder eines eingetragenen Vereins nicht persönlich haften. Eine persönliche Haftung tritt nur dann ein, wenn Vorstände oder andere Beauftragte nicht mit satzungsmäßiger Legitimierung handeln. Deutlich wird daraus, dass der e. V. sich über seine Satzung definiert und nach außen alles zu vertreten hat, was aufgrund der Satzung verwirklicht wurde. Der Vertrauensschutz in die Satzung rechtfertigt sich über deren Veröffentlichung im Vereinsregister, das einsehbar ist. Vereine sind mit den Bereichen Vermögensverwaltung und wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb körperschaftssteuerpflichtig (Ott 2002), wobei der Bereich Vermögensverwaltung Einkünfte aus Kapi-
33 2.1 · Rechtsträgerschaften – Basis des Managements
talvermögen, Vermietung und Verpachtung beinhaltet. Im Bereich wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb handelt es sich vorwiegend um die Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Liegen bei einem Verein die Voraussetzungen der Steuerbegünstigung vor (z. B. Verfolgung gemeinnütziger Zwecke, §§ 51 ff. AO) oder erfüllt ein Teilbereich diese Gegebenheiten, sind Einkünfte aus Tätigkeiten, welche zum Bereich der Vermögensverwaltung und der Zweckbetriebe gehören, von der Körperschaftssteuer befreit (§ 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG). Die Steuerpflicht umfasst dann nur die evtl. vorhandenen wirtschaftlichen Geschäftsbetriebe. Ist der Verein Arbeitgeber, etwa als Träger einer Altenpflegeeinrichtung, ist er selbstverständlich auch im Bereich seiner Zweckbetriebe verpflichtet, für seine Arbeitnehmer den Steuerabzug vom Arbeitslohn vorzunehmen. Die Art der Haftung, eine vergleichsweise unkomplizierte Gründung und niedriger Kapitalbedarf zum Gründungszeitpunkt sprechen sehr stark für die Trägerform eines e. V. Deutlich sein muss dabei aber auch, dass der e. V. unter Umständen eine nicht sehr günstige Struktur aufweist. Da er faktisch von einer wenigstens siebenköpfigen Mitgliederversammlung getragen und geprägt wird, ist der Konsensbedarf unter den Gründern sehr hoch. Es bedarf somit eingehender Beratungen zur Findung einer individuellen Vereinsstruktur, welche sich in der Verabschiedung der Satzung niederschlagen soll. Die Satzung objektiviert den rechtlichen Zweck des Vereins als Zusammenfassung des Willens seiner Mitglieder (BGHZ 47, S 172), wohinter die Vorstellungen von Einzelpersonen zurückzutreten haben. Gründungsinitiativen, welche von einer kleineren Gruppe Gleichgesinnter ausgehen, stoßen hierin nicht selten auf Schwierigkeiten, wenn sie zur Realisierung ihres Projektes aus gesetzlichen Gründen die personale Basis auf die Mindestzahl sieben auffüllen müssen und die die Mindestgröße ergänzenden Personen nicht in gleicher Intensität oder Weise die geplanten Ziele unterstützen. Auch ursprünglich einheitlich den Vereinszweck vertretende Gründungsmitglieder unterliegen in der weiteren Vereinsexistenz einer kaum vorausplanbaren Gruppendynamik, welche im Verlauf des Vereinslebens Konsenskonflikte herbeiführen oder Mehrheiten ergeben kann, die ver-
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änderte Vereinziele ansteuern. So ist der e. V. mit seiner symbolischen Mindestbasis von sieben Personen ein »Gesellschafts-Modell«, in welchem sich verändernde Persönlichkeiten oder verändernde Mitgliedschaften über satzungsmäßig erforderliche Mehrheiten auch grundlegende Änderungen herbeiführen können. Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH)
Die GmbH ist eine Kapitalgesellschaft, die jedoch auch Züge einer Personengesellschaft trägt. Die Gesellschafter haften für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht persönlich, sondern die GmbH haftet als juristische Person allein. Sie muss ein Stammkapital von mindestens 25.000 Euro aufweisen, wobei jeder Gesellschafter eine Stammeinlage von wenigstens 100 Euro zu übernehmen verpflichtet ist. Hinsichtlich der nicht persönlichen Haftung ist allerdings zu beachten, dass etwa Kredite an eine GmbH möglicherweise durch persönliche Bürgschaften der Gesellschafter abgesichert sind und sich auf diese Weise mittelbar doch eine persönliche Haftung ergibt, die allerdings dann durch solche zusätzliche privatrechtliche Vereinbarungen entsteht, nicht zwingend durch den Gründungsakt der GmbH. Eine GmbH kann zu jedem gesetzlich zulässigen Zweck errichtet werden. Aus diesem Grund ist es auch denkbar, dass sie gemeinnützige Zwecke verfolgt, weil ihr Zweck nicht zwingend primär Gewinnerzielung verfolgen muss. Diese Tatsache hat die GmbH vor allem in letzter Zeit als Trägerin von Einrichtungen mit sozialer Zielrichtung attraktiv gemacht. Zunehmend werden in diesem Bereich Trägerschaften mit dieser Rechtsform errichtet, so auch in der ambulanten oder stationären Altenpflege oder als Altenheimträger. Die über öffentlichrechtliche Normen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip angeregte Privatisierung sozialer Aufgaben hat auch bei öffentlichen Trägern bewirkt, solche Aufgaben in privatrechtlicher Trägerschaft zu organisieren. Hierbei spielt die GmbH als Krankenhausträgerin ebenfalls eine zunehmend wichtige Rolle. Die große Stärke der GmbH im Vergleich zum Verein liegt vor allem in ihrem organisatorischen Vorteil. Sie kann von wenigstens einem Gesell-
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
schafter ins Leben gerufen werden, bedarf somit keinesfalls zur Gründung der mindestens sieben Personen umfassenden Mitgliederversammlung des Vereins, welche häufig aufgrund der unterschiedlichen Interessen die Gründungsphase erschwert und verzögert sowie im weiteren Verlauf der Tätigkeit den Verein selbst in seiner Struktur abhängig vom Willen der hohen Mitgliederanzahl macht. In der GmbH engagieren sich von vorneherein nur die an ihrer Existenz Interessierten als Gesellschafter, die gleichzeitig zur Geschäftsführung berechtigt und verpflichtet sind. Die Übertragung der Geschäftsführung auf andere Personen als die Gesellschafter ist zwar möglich, aber nicht erforderlich. Somit können Gesellschaftsgründer und Geschäftsführer als identische Personen eine Organisation der kurzen Wege bilden, während beim Verein die Mitgliederversammlung den Vorstand als gesetzliche Vertretung des Vereins wählen muss, was möglicherweise eine Fortsetzung der Interessenverhältnisse aus der Mitgliederversammlung im Vorstand zur Folge hat und die Trägheit in die gesetzliche Vertretung weiterverlagert. Insgesamt bietet das GmbHG bezüglich der inneren Struktur der GmbH genügend Freiraum, um individuelle Erfordernisse eines Betriebes zur Geltung zu bringen (Kerres et al. 2001). Nachteil der GmbH ist die Aufbringung des Mindeststammkapitals, bei Existenzgründungen von Privatpersonen häufig ein nicht überbrückbares Hindernis, bei Trägerschaftsumwandlung aus dem öffentlichrechtlichen Bereich in der Regel kein Grund, eine solche Trägerform nicht zu wählen. Der öffentliche Träger kann sich dabei der Möglichkeiten des Umwandlungsgesetzes (z. B. §§ 168 ff., §§ 302 ff.) bedienen, um den neuen Träger – die GmbH – Gesamtrechtsnachfolger werden zu lassen. Aus dem GmbH-Gesetz ergeben sich die zur Gründung einer solchen Rechtsträgerschaft erforderlichen folgenden Schritte: ▬ Der Abschluss eines Gesellschaftsvertrages (§§ 1, 3 GmbHG). Der Gesellschaftsvertrag muss die Gesellschafter und den Gesellschaftszweck enthalten. Zudem sind Firmenname, der Sitz, das Stammkapital und die Stammeinlagen zu bezeichnen (§ 5 GmbHG). Die notarielle Form des Vertrags ist erforderlich (§ 2 GmbHG). Im Stadium der Vorgründungsge-
sellschaft haften die Gesellschafter mit ihrem eigenen Vermögen. ▬ Die Bestellung eines oder mehrerer Geschäftsführer (§ 6 GmbHG). Geschäftsführer können einer oder mehrere Gesellschafter sein ebenso wie andere Personen. Ihre Bestellung kann über Gesellschaftsvertrag erfolgen oder über Erteilung einer Vollmacht/Prokura. ▬ Die Bestellung eines Aufsichtsrates ist – mit für den hier betrachteten Bereich nicht relevanten Ausnahmen – nur in Gesellschaften mit über 500 Beschäftigten obligatorisch (§ 77 BetrVG 1952), bei mehr als 2000 Arbeitnehmern als Folge des MitbestimmungsG. Für eine GmbH im Bereich der Pflege sind diese Vorschriften aber in der Regel ohne praktische Bedeutung, da karitative Betriebe nach beiden Rechtsgrundlagen von der Pflicht zur Bildung eines Aufsichtsrates ausgenommen sind. Ansonsten kann fakultativ ein Aufsichtsrat über Gesellschaftsvertrag eingesetzt werden (§ 52 GmbHG). Der Aufsichtsrat (die Bezeichnung ist zwingend notwendig) wird als Kontrollorgan für die Geschäftsführung eingesetzt. Seine Zusammensetzung ist gesetzlich geregelt (Zahl der Mitglieder, persönliche Voraussetzungen etc.). Die Mitglieder werden durch die Gesellschafterversammlung bestellt. ▬ Die Anmeldung der Gesellschaft (§ 7 GmbHG). Sie erfolgt beim örtlich zuständigen Amtsgericht im Handelsregister. Die Anmeldung (§ 8 GmbHG) muss Folgendes beinhalten: a) den Gesellschaftsvertrag; b) eine Legitimation der Geschäftsführer; c) eine Liste der Gesellschafter mit persönlichen Daten und Unterschrift der Anmeldenden, aus der sich auch die Stammeinlage jedes Gesellschafters ergibt; d) Verträge zur Spezifizierung etwaiger Sacheinlagen (§ 5 Abs. 4 GmbHG) und der Sachgründungsbericht; e) eine Sacheinlagenwerteliste; f) eine Erklärung über die Bewirkung der Stammeinlagen; g) eine Erklärung der Geschäftsführer zu § 6 Abs. 2 S. 3 und 4 GmbHG und die Spezifizierung ihrer Vertretungsbefugnis; h) Unterschriftsproben der Geschäftsführer.
35 2.1 · Rechtsträgerschaften – Basis des Managements
Für Verbindlichkeiten der GmbH haftet nur das Gesellschaftsvermögen (§ 13 Abs. 2 GmbHG). Die Gesellschaft gilt als Handelsgesellschaft im Sinne des Handelsgesetzbuches (§ 13 Abs. 3 GmbHG). Sie ist körperschaftssteuerpflichtig (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG). Für eine gemeinnützige GmbH gilt im Wesentlichen das oben zum Verein Gesagte. Da im Bereich sozialer Dienstleistungen eine persönliche Haftung der Gesellschafter als Gewähr für Gläubigersicherheit aufgrund einer grundsätzlichen Refinanzierung der Dienstleistungen durch die Leistungsträger nicht im Vordergrund steht, ist die GmbH als privatrechtliche Rechtsform auch aus der Sicht der Haftung für Unternehmer attraktiv, ohne hier gleichzeitig zu große Unsicherheit für die Vertragspartner zu bieten. Die Aktiengesellschaft (AG)
Die Aktiengesellschaft ist eine handelsrechtliche Gesellschaft, für deren Verbindlichkeiten den Gläubigern lediglich das Gesellschaftsvermögen haftet und die ein in Aktien zerlegtes Grundkapital aufweist (§ 1 AktG). Die AG ist von ihrem Mitgliederstand unabhängig, wie eine Körperschaft über Satzung organisiert und insoweit einem Verein vergleichbar. Sie ist Kapitalgesellschaft und Handelsgesellschaft selbst dann, wenn Gegenstand des Unternehmens nicht der Betrieb eines Handelsgewerbes ist. Ihr Grundkapital sind wenigstens 50.000 Euro. Organe der AG sind Hauptversammlung, Aufsichtsrat und Vorstand. Die Hauptversammlung wählt den Aufsichtsrat und dieser ernennt den Vorstand, wodurch eine Abhängigkeit der Organe von einander gegeben ist. Eine Trägerschaft von Betrieben der Pflege durch die Rechtsform der AG ist bisher nur in Einzelfällen (Zusammenfassung von Krankenhaus- oder/und Altenheimträgerschaften) gegeben und spielt deshalb für diesen Bereich noch eine sehr untergeordnete Rolle. Sie sollte in diesem Zusammenhang aber nicht völlig unerwähnt bleiben, da im Zuge der Globalisierung sich zunehmend Zusammenschlüsse von Trägerschaften bilden könnten, welche diese Rechtsform wählen. Sicherlich wird sie aber nur im Bereich großer Pflegeunternehmen eine Rolle spielen, so wie sie im Krankenhausbereich auch nur bei großen Häusern und deren Zusammenschlüssen Bedeutung hat.
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Ob eine solche Entwicklung für den Bereich der Pflege allerdings wünschenswert ist, kann in Zweifel gezogen werden, sind doch große Unternehmungen nach den einschlägigen Wissenschaftstheorien stark vom Entfremdungseffekt geprägt, ein der Pflege nicht förderliches Phänomen. Auch wenn die Diskussion darüber geführt werden muss, ist doch hier nicht ausreichend Raum. Letztlich wird diese Weiterentwicklung in der Pflege auch davon abhängen, ob in anderen Bereichen diese Tendenz eben auch zu Nachteilen führt, welche sie nicht fortschreiten lassen. Weitere Formen von Gesellschaften des Privatrechts
Das Privatrecht kennt weitere Formen von Trägerschaften des Privatrechts, wie z. B. die offene Handelsgesellschaft (oHG), die Kommanditgesellschaft (KG) oder Kombinationen solcher Formen wie z. B. die GmbH & Co. KG oder die Kommanditgesellschaft auf Aktien. Diese haben jedoch im Bereich überwiegend über Sozialleistungen refinanzierter Dienstleistungsangebote so gut wie keine praktische Bedeutung. Der Grund dafür ist darin zu suchen, dass die beiden Grundformen, oHG und KG, Modelle von Gesellschaften sind, bei denen Gesellschafter auch persönlich haften, entweder alle (bei der oHG) oder mindestens einer (bei der KG). Zudem sind sie als Personengesellschaften – mit Ausnahme der Wirkung des § 124 Abs. 1 HGB – keine juristischen Personen, also nicht unbeschränkt autonome Rechtsträger, was insbesondere auch im Zusammenhang mit einer angestrebten Steuerbefreiung aufgrund von Gemeinnützigkeit Bedeutung hat. Die persönliche Haftung der Gesellschafter ist bei Anbietern sozialer Dienstleistungen auf Seiten der Träger nicht angestrebt, da soziales Engagement nicht auch noch mit dem Nachteil persönlicher Haftung belastet sein soll. Auf Seiten der Leistungsempfänger und anderer Vertragspartner ist die Sicherheit der persönlichen Haftung der Gesellschafter nicht in demselben Maße erforderlich wie bei anderen wirtschaftlichen Unternehmen, da die überwiegende Finanzierung durch die Sozialleistungsträger bereits eine gewisse Sicherheit darstellt, die in anderen Bereichen nicht gegeben ist. Somit sind Trägerformen mit persönlicher
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
Haftung der Gesellschafter auch im Bereich der Pflege so gut wie nicht existent und werden wohl auch künftig nicht angestrebt werden. Da des Weiteren primäres Ziel solcher Trägerschaften soziale Betätigung ist, werden sie in der Regel Steuerbefreiung aufgrund von Gemeinnützigkeit anstreben und deshalb keine Trägerschaft wählen, bei der dies nicht möglich ist. Diese Überlegungen machen gleichzeitig die Trennungslinie zwischen Non-Profit- und Profit-Unternehmen deutlich. Während unter NonProfit-Unternehmen alle Anbieter zu zählen sind, deren Unternehmenszweck in erster Linie das Angebot sozialer Dienstleistungen etwa im Bereich der Jugend-, Familien-, Alten- oder Behindertenhilfe beinhaltet (was gleichzeitig auch unter den Gemeinnützigkeitsbegriff der AO fällt), zielen Profit-Unternehmen vor allem auf gewinnbringende Markttätigkeit ab, die auch sozialorientiert sein kann. Gemeinnützigkeit
Das Stichwort der »Gemeinnützigkeit« ist steuerrechtlich als Fallgruppe mit steuerbegünstigtem Zweck (neben »mildtätig« und »kirchlich«) zu verstehen. Ein solcher ist im Steuerrecht (z. B. § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG, § 3 Nr. 6 GewStG, § 4 Nr. 18 bzw. § 12 Abs. 2 Nr. 8 UStG) nur Körperschaften i. S. v. § 1 KStG (z. B. Kapitalgesellschaften, sonstige juristische Personen des privaten Rechts) vorbehalten, die entsprechend ihrer Satzung und tatsächlichen Geschäftsführung ausschließlich und unmittelbar solche gemeinnützigen Zwecke verfolgen. Ist dieser vom zuständigen Finanzamt für Körperschaften durch Bescheid anerkannt, besteht Befreiung von Körperschaftssteuerpflicht, Gewerbesteuerpflicht und Umsatzsteuerpflicht bzw. Ermäßigung derselben. Solche Anerkennung eines gemeinnützigen Zweckbetriebes kann nach §§ 51–68 AO für juristische Personen erfolgen. Im Bereich der Pflege können dies im Einzelnen rechtsfähige (e. V.) und nichtrechtsfähige Vereine, Kapitalgesellschaften (GmbH, AG), Stiftungen sowie Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts sein. Als gemeinnützige Betätigungen sind in § 52 Abs. 2 AO Altenhilfe und das öffentliche Gesundheitswesen als einschlägige Bereiche aufge-
führt. Gemeinnütziges Handeln liegt dabei nur vor, wenn die begünstigten Tätigkeiten auf Förderung der Allgemeinheit ausgerichtet sind und nicht nur bestimmte Personen im Auge haben. Die Inanspruchnahme der Leistung der juristischen Person muss grundsätzlich jedem offen stehen. Weitere Grundsätze der Gemeinnützigkeit sind: ▬ Selbstlosigkeit (§ 55 AO, kein primäres Eigeninteresse der juristischen Person), ▬ Ausschließlichkeit (§ 56 AO, satzungsmäßig keine weiteren Zwecke), ▬ Unmittelbarkeit (§ 57 AO, Zwecke werden selbst verwirklicht). Diese Grundsätze müssen in der Satzung oder dem Gesellschaftsvertrag zugrunde gelegt sein. Ausnahmen von diesen Grundsätzen sind nur im gesetzlich geregelten Rahmen (§ 58 AO) möglich. In der Praxis besonders wichtig ist dabei die Möglichkeit der Rücklagenbildung (§ 58 Nr. 7a AO) und die Möglichkeit des Erwerbs von Gesellschaftsrechten (§ 58 Nr. 7 AO). Unterhält die juristische Person wirtschaftliche Geschäftsbetriebe (§ 14 AO, nachhaltige wirtschaftliche Tätigkeit, die Einnahmen oder andere wirtschaftliche Vorteile erzielt und über den Rahmen einer Vermögensverwaltung hinausgeht – Gewinnerzielungsabsicht ist hierbei nicht erforderlich) im Bereich ihres gemeinnützigen Zweckes, so bleibt die Steuervergünstigung erhalten, wenn die wirtschaftlichen Geschäftsbetriebe Zweckbetriebe sind (§ 64 Abs. 1 AO). Ein Zweckbetrieb liegt nach § 65 AO vor, wenn der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb dazu dient, die steuerbegünstigten Zwecke zu realisieren und dies nur durch einen solchen Betrieb erreicht werden kann. Zudem darf der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb nicht in größerem Umfang in Wettbewerb treten als dies zur Erfüllung des Zwecks unbedingt erforderlich ist. Betriebe der Pflege sind wohl in der Regel wirtschaftliche Geschäftsbetriebe nach § 14 AO, da zur Erfüllung dieser Eigenschaft u. a. keine Gewinnerzielungsabsicht erforderlich ist. Allerdings liegen auch die Voraussetzungen für einen Zweckbetrieb mehrheitlich vor. Dies wird bestätigt durch § 66 AO, wonach eine Einrichtung der Wohlfahrtspflege Zweckbetrieb ist, wenn die Zielgruppe des
37 2.1 · Rechtsträgerschaften – Basis des Managements
Betriebes aus Personen besteht, die infolge ihres körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes auf Hilfe anderer angewiesen sind (§ 53 Nr. 1 AO) und diesen Personen mindestens zwei Drittel der Leistungen des jeweiligen gemeinnützigen Trägers zukommen. Für Krankenhäuser gilt hier § 67 AO, der festlegt, wann Krankenhäuser Zweckbetriebe sind. Träger von Einrichtungen der Pflege, deren Gemeinnützigkeit anerkannt ist, bleiben somit auch im Rahmen ihrer Zweckbetriebe steuerbefreit. Sind Geschäftsbetriebe nach diesen Bestimmungen keine Zweckbetriebe, sind sie dennoch nicht körperschafts- und gewerbesteuerpflichtig, wenn die dort erzielten Einnahmen 30.678 Euro einschließlich Umsatzsteuer nicht übersteigen (§ 64 Abs. 3 AO). Spenden und Sponsoring im Zusammenhang mit Gemeinnützigkeit
Die steuerliche Behandlung von Zuwendungen an gemeinnützige Träger unterscheidet solche ohne und mit Gegenleistung. Spenden sind als Zuwendungen ohne Gegenleistung anzusehen, wenn sie erbracht werden, ohne dass seitens des Empfängers Leistungen in irgendeiner Weise dafür erfolgen. Sponsorengelder sind deshalb stets Zuwendungen mit Gegenleistung, denn sie haben aufgrund des Sponsorenvertrages zum Ziel, die gemeinnützige Einrichtung etwa als Werbe- oder Identitätsträger zu verwenden. Sponsoreneinnahmen können deshalb nicht Gegenstand einer Zuwendungsbestätigung (ehemals Spendenquittung) sein (Ott 2002, S. 221). Sie sind seitens des Sponsors in der Regel als Werbekosten absetzbar und können somit nicht über eine Zuwendungsbestätigung einen doppelten Steuervorteil erbringen. Auf Seiten der gesponserten Einrichtung sind dies Einnahmen im Sinne eines Geschäftsbetriebes und unterliegen außerhalb von Zweckbetrieben der genannten Einnahmegrenze des § 64 Abs. 3 AO. Mit der Neuregelung des Abzugs von Spenden (§ 48 EStDVO Anlage 1) wurde auch die Frage geklärt, in wieweit Mitgliedsbeiträge als Spenden abzugsfähig sind. Mitgliedsbeiträge erfüllen nicht in vollem Umfang das Erfordernis des Fehlens einer Gegenleistung. In allen Fällen erwirbt und erhält man damit die jeweilige Mitgliedschaft und je nach Vereinszweck darüber hinaus weitere
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Leistungen (z. B. Sportmöglichkeit, Hundetraining etc.). Deshalb wurde anhand des Vereinszwecks eine Kategorisierung (Abschnitt A u. B) dahingehend vorgenommen, wann die jeweiligen Mitgliedsbeiträge als Spenden abzugsfähig sind und wann nicht. Für die Gesundheitspflege und die Altenhilfe gilt Abschnitt A der neuen Anlage 1 zu § 48 EStDVO mit der Folge, dass in diesen Bereichen auch Mitgliedsbeiträge abzugsfähig sind. Reine Geld- und Sachspenden sind zuwendungsbestätigungsfähig. Bei Sachspenden muss ein Nachweis über den Bezugspreis (bei Handwerksfirmen etwa der Einkaufs-, nicht der Verkaufspreis) der Sache seitens des Spenders vorliegen. Die Zuwendungsbestätigungen folgen in der Form amtlichen Mustern (Ott 2002, S. 243 ff.). Sie sind materielle Voraussetzung für den Spendenabzug. Für Zuwendungen bis zu einem Betrag von 100 Euro gilt der vereinfachte Nachweis über Bareinzahlungsbeleg oder Buchungsbestätigung bei inländischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, deren Dienststelle oder einer als gemeinnützig anerkannten Körperschaft, die auf Belegvordrucken den steuerbegünstigten Zweck angibt. Der Steuerpflichtige darf auf die Richtigkeit der Zuwendungsbestätigungen vertrauen, wenn er selbst nicht vorsätzlich falsche Angaben gemacht hat oder die Unrichtigkeit aufgrund seiner groben Fahrlässigkeit nicht erkannte. Der jeweilige Verein haftet für durch unrichtig erstellte Zuwendungsbestätigungen verursachte Steuermehrausgaben des Zuwenders. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR)
Da § 11 Abs. 2 SGB XI in seinem letzten Satz von freigemeinnützigen und privaten Trägern spricht, welche stationäre und ambulante Altenpflege vorrangig anbieten können, ist zumindest in diesem Bereich der Pflege eine Trägerschaft auch dann denkbar, wenn es sich dabei nicht um eine juristische Person handelt. Aus diesem Grund kann unter den Begriff der privaten Träger auch eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts (GbR) fallen. Deshalb werden an dieser Stelle auch Grundzüge dieses organisatorischen Grundtyps aller Personengesellschaften (Wörlen 2002) aufgezeigt. Die gesetzlichen Regelungen zur GbR, die auch BGB-Gesellschaft genannt wird, sind in
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
den §§ 705 ff. BGB zu finden. Die Regelungen der Handelsgesellschaften (z. B. oHG, KG) bauen auf diesem Modell auf und leiten sich somit aus dem BGB ab. Eine Gesellschaft im Sinne des Gesellschaftsrechts ist ein organisierter Zusammenschluss von Personen zur Erreichung eines bestimmten Zwecks, der sich durch einen Gesellschaftsvertrag (privatrechtliche, rechtsgeschäftliche Vereinbarung) konstituiert. Die GbR ist eine Personengesellschaft (im Unterschied zu den Kapitalgesellschaften) ebenso wie die Handelsgesellschaften des HGB. Eine Personengesellschaft hat keine eigene Rechtspersönlichkeit, d. h. sie ist grundsätzlich keine juristische Person, denn Träger von Rechten und Pflichten sind die Personen, nicht die Gesellschaft. Allerdings hat der Bundesgerichtshof (NJW 2001) in einer Grundlagenentscheidung festgestellt, dass die GbR als Außengesellschaft Rechtsfähigkeit besitzt, soweit sie durch Teilnahme am Rechtsverkehr eigene Rechte und Pflichten begründet. In diesem Rahmen ist sie zugleich im Zivilprozess aktiv und passiv parteifähig. Dies bedeutet praktisch, dass die GbR der oHG und KG gleichgestellt ist, welche über § 124 Abs. 1 HGB als Firma eine rechtliche Selbständigkeit erhalten, die der einer juristischen Person ähnlich ist. Die GbR kann somit Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen. Gleichzeitig hat sie damit nur eine Stellung vergleichbar einer juristischen Person ohne eine solche zu sein. Da Träger von Rechten und Pflichten substantiell die Personen sind, löst sich die Personengesellschaft in der Regel mit Tod oder Kündigung eines Gesellschafters auf, wenn der Gesellschaftsvertrag nichts anderes vorsieht. Geschäftsführung und Vertretung erfolgen entsprechend dem Gesellschaftsvertrag durch einen oder mehrere Gesellschafter persönlich. Die Gesellschafter haften als Gesamtschuldner mit ihrem persönlichen Vermögen. Die GbR tritt im Rechtsverkehr unter dem Namen aller Gesellschafter auf. Eine Sonderform der GbR ist die Partnerschaft. Sie ist eine neue Möglichkeit der Organisation über das Partnerschaftsgesellschaftsgesetz (PartGG) für Angehörige freier Berufe (der Begriff »freier Beruf« ist exemplarisch in § 18 EStG geregelt). Die Benennung der Partnergesellschaft ist im Firmennamen möglich.
Besonderheiten zur GbR sind, dass wenigstens zwei Freiberufler (damit ausschließlich natürliche Personen) sich über einen schriftlichen Partnerschaftsvertrag zusammenschließen, alle Partner zur Geschäftsführung berechtigt und verpflichtet sind sowie nach Anmeldung beim Registergericht eine Eintragung ins Partnerschaftsregister erfolgt. Die Rechtsform der GbR oder Partnerschaft im Bereich der Trägerschaften von Pflegeeinrichtungen zu wählen, hat den Vorteil, Vereinsstrukturen und damit Abhängigkeiten zu vermeiden und bei der Gründung vom Erfordernis der Kapitalaufbringung frei zu sein, welches die GmbH nötig macht. Gleichzeitig ist im Auge zu behalten, dass die persönliche Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten eine Belastung darstellt. Da die GbR trotz vergleichbarer Rechtsstellung der Außengesellschaft keine juristische Person ist, ist sie nicht körperschaftssteuerpflichtig und damit entfällt eine Anerkennung als gemeinnützig. Bei der Wahl der Organisationsform muss deshalb individuell abgewogen werden, ob die Struktur- und Formvorteile der GbR oder die Vorteile, welche juristische Personen wie e. V. oder GmbH haben, für die Verwirklichung der Geschäftsidee besser geeignet erscheinen.
2.1.2 Rechtsfolgen unterschiedlicher
Trägerschaften Unterschiedliche Rechtsträgerschaften und Rechtsfolgen stehen gleichsam in dialektischem Zusammenhang. So können einerseits unterschiedliche Rechtsträger in der Pflege nur auftreten, weil etwa die Krankenhausgesetze der Länder (z. B. Art. 25 Abs. 1 BayKrankenhausG) Trägerschaften aus dem Bereich des öffentlichen und des privaten Rechts zulassen oder das SGB XI in seinem § 11 das Subsidiaritätsprinzip klarstellt, weshalb private Träger hier den Vorrang vor öffentlichen Trägern haben. Aufgrund dessen finden wir im Bereich der Leistungserbringer sowohl öffentliche als auch private Träger. Im Bereich der Leistungsträger jedoch sind lediglich Trägerschaften des öffentlichen Rechts vorzufinden. Dies hat damit zu tun, dass hier staatliche Aufgaben des Sozialrechts wahrgenommen werden.
39 2.1 · Rechtsträgerschaften – Basis des Managements
Gleichzeitig ziehen Handlungen von Trägern des öffentlichen bzw. des privaten Rechts unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich, etwa im Bereich des Tarifrechts (BAT-Anwendung der öffentlichen Träger) oder der Leistungsvereinbarungen (öffentlichrechtliches Handeln auf der Basis des SGB). Rechtsfolgen im Bereich privatrechtlicher Trägerschaften Privatrechtliche organisierte Träger handeln stets auf der Ebene des Privatrechts, d. h. ihre eigenen Handlungen sind privatrechtlich orientiert. Sie unterliegen somit den Grundsätzen der Privatautonomie, also einer Rechtsgestaltungsfreiheit im Rahmen der geltenden privatrechtlichen Regelungen. In diesem Rahmen sind privatrechtlich organisierte Trägerschaften nicht der Tarifgemeinschaft für den öffentlichen Dienst angehörig und können ihre Arbeitsverträge frei gestalten. Wenn sie dies nicht tun, also den BAT analog anwenden oder etwa über Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) eigene Regelungen treffen, welche sich dem BAT angleichen, so erfolgt dies im Rahmen dieser Privatautonomie auf vertraglicher Basis zur einheitlichen Regelung und Finanzierung von Dienstverhältnissen. AVR bestehen dementsprechend als trägerspezifisch variable, in Grundzügen vergleichbare Vertragsgrundlagen im Bereich großer privater Träger (z. B. Caritas, Diakonie, DPWV). Gleichzeitig können private Träger Adressaten öffentlichrechtlicher Handlungen sein wie etwa Adressaten einer Leistungsgewährung durch einen Kostenträger oder einer Genehmigung (z. B. Baugenehmigung) durch die zuständige öffentlichrechtlich organisierte Behörde. Als solche Adressaten oder auch Partner eines öffentlichrechtlichen Vertrages (z. B. Leistungsvereinbarung nach § 93 BSHG) nehmen sie Teil am Rechtsverkehr auf der öffentlichrechtlichen Ebene. Rechtsfolgen im Bereich öffentlichrechtlicher Trägerschaften Öffentlichrechtliche Träger handeln sowohl auf der Ebene des öffentlichen Rechts als auch auf der Ebene des Privatrechts, jeweils abhängig davon, welche Regelung der Handlung zugrunde liegt. Während Leistungsträger (z. B. Krankenkassen, Pflegekassen) ihre Leistungsverwaltung auf der Basis der
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Regelungen des SGB oder BSHG abwickeln, also im Bereich des öffentlichen Rechts, werden Heimverträge, Pflegeverträge oder Behandlungsverträge auf der Ebene des Privatrechts geregelt, gleich ob es sich bei den Leistungserbringern um private oder öffentlichrechtliche Trägerschaften handelt. Dies deshalb, weil die öffentlichrechtliche Ebene nur dann zum Tragen kommt, wenn dem Wesen nach Gegenstände des öffentlichen Rechts zu regeln sind. Ist der zu vereinbarende Gegenstand auch über privatrechtliche Verträge zu regeln, dann handelt selbst der öffentlichrechtliche Träger privatrechtlich. Im Beispiel eines Heim- oder Behandlungsvertrages spricht nichts dafür, dass hier ein Vertrag auf öffentlichrechtlicher Ebene geschlossen werden müsste, da die dort zu treffenden Vereinbarungen genauso über einen privatrechtlichen Vertrag verbindlich gemacht werden können. Die Heimunterbringung bzw. Behandlung im Krankenhaus als Regelungsgegenstand im Vertrag zwischen Leistungsempfänger und Leistungserbringer ist nicht die Sozialleistung aus dem Sozialrecht, sondern eine individuell zu regelnde Leistung je nach Bedarf des Leistungsempfängers, für die dieser eine individuelle, bedarfsgerechte Gegenleistung erbringen muss. Dafür ist der privatrechtliche Rahmen hinreichend. Da gleichzeitig keine sich unmittelbar aus öffentlichem Recht ergebende Leistung (die öffentlichrechtliche Leistung ersetzt die Kosten der Behandlung und stellt nicht die Behandlung selbst dar) geregelt wird, ist diese Ebene der Regelung auch nicht erforderlich. Wird jedoch etwa ein Versorgungsvertrag nach SGB XI zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer oder ein Darlehensvertrag nach BSHG zwischen Leistungsträger und Leistungsempfänger abgeschlossen, so handelt es sich hier um öffentlichrechtliche Verträge, weil sich die Gewährung der jeweiligen Sozialleistung direkt aus dem öffentlichen Recht, hier dem Sozialrecht ergibt. Die Klärung der Frage eines öffentlichen oder privatrechtlichen Handelns zieht die Frage nach Handlungsformen und unterschiedlichen Rechtswegen nach sich. Liegt privatrechtliches Handeln vor, so wird die Rechtsverbindlichkeit über wirksam abgegebene Willenserklärungen hergestellt. Dies geschieht vor allem im Vertrag, wo sich gegen-
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2
Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
seitig deckende Willenserklärungen die Basis für verbindliche Vereinbarungen darstellen. Konflikte privatrechtlicher Art sind vor den Zivilgerichten zu klären. Solche privatrechtlichen Streitigkeiten, welche sich aus Arbeitsverhältnissen ergeben, unterliegen der Gerichtsbarkeit der Arbeitsgerichte (§ 2 ff. ArbeitsgerichtsG) Handelt ein öffentlichrechtlicher Träger öffentlichrechtlich, so ist zuerst zu prüfen, ob das Handeln in Form eines Verwaltungsaktes erfolgt oder über einen öffentlichrechtlichen Vertrag. Liegt ein Verwaltungsakt vor (Definition § 31 SGB X), dann gelten die Regeln des Vorverfahrens (Widerspruchsverfahren) nach §§ 68 ff. VwGO. Dies hat zur Folge, dass vor der Klage vor dem Verwaltungsgericht erst Widerspruch gegen den Verwaltungsakt eingelegt werden muss, der offene Fragen nochmals zwischen erlassender Behörde und Verwaltungsaktempfänger klären soll. Ein öffentlichrechtlicher Vertrag kann unmittelbar vor Gericht zur Überprüfung gelangen. Liegt eine Streitigkeit aus dem Bereich des Sozialrechts vor, dann sind die Sozialgerichte zuständig (§ 51 SGG), wobei auch hier die Regelungen zum Vorverfahren gelten. Weitere Rechtsfolgen unterschiedlicher Trägerschaften Neben diesen grundsätzlichen Unterscheidungen von Trägern, ihren Handlungen und Rechtsfolgen sind weitere auf folgenden Bereichen zu verzeichnen.
gerschaften vorgenommen. Bei solchen Umwandlungen ist bezüglich der Fortgeltung der tariflichen Regelungen insbesondere § 613a BGB zu Folgen einer Betriebsübernahme zu beachten. Mitbestimmungsrecht
Je nach Trägerorganisation ist im privatrechtlichen Bereich das Betriebsverfassungsgesetz, im öffentlichrechtlichen Bereich das jeweilige Personalvertretungsgesetz des Bundeslandes, im kirchlichen Bereich die jeweils geltende Mitarbeitervertretungsordnung (MAVO) Rechtsgrundlage der Mitbestimmung. Letzteres leitet sich her aus den Regelungen des BetrVG (§ 118 Abs. 2) zu Tendenzbetrieben. Tendenzschutz
Über die Mitbestimmung hinaus ist bei kirchlichen Trägern ist zu beachten, dass sie aufgrund ihrer besonderen Zielsetzung dieser angemessene eigene Kriterien für Arbeitsverhältnisse aufstellen dürfen. Solche müssen über Arbeitsvertrag direkt als Regelung aufgenommen werden oder können über Verweis im Arbeitsvertrag auf bestehende kirchliche Regelungen (z. B. Grundordnung für den kirchlichen Dienst im Bereich der Katholischen Kirche) zur Geltung kommen. Kirchliche Träger können sowohl im Bereich des öffentlichen Rechts in Erscheinung treten (Körperschaften, Stiftungen) als auch im Bereich des Privatrechts (z. B. als e. V., etwa Caritas-Verbände, Katholische Jugendfürsorge, Kolping etc.).
Tarifrecht
Bereits mehrmals beispielhaft erwähnt wurde der Bereich des Tarifrechts, der öffentlichrechtlichen Trägern aufgrund der Tarifvertragsgestaltung die Anwendung des BAT zwingend vorschreibt. Diese Anwendungsverpflichtung ist sehr weitreichend, denn sie betrifft nicht nur die allgemeine Vergütungssystematik, sondern im Bereich der Pflege insbesondere auch den eigenen Kr-Tarif mit seinen eigenen Merkmalen für die Eingruppierung und die Vergütungsstufen und viele weitere Tarifvereinbarungen zur Fortbildung, Altersversorgung etc. Nicht zuletzt um dieser »Automatik« der Regelungsanwendung zu entweichen, wurde im Bereich von Krankenhäusern in der Vergangenheit nicht selten eine Umwandlung in privatrechtliche Trä-
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Berufshaftpflicht – trägerspezifisch unterschiedliche Rechtsfolgen
2.2.1 Haftungsgrundlagen
Der Eintritt eines Haftungsfalles setzt mehrere Gegebenheiten voraus: ▬ den Eintritt eines Schadensfalles bzw. einer Schädigung; ▬ ein schadensverursachendes Handeln/Unterlassen; ▬ eine dafür verantwortliche Person/juristische Person; ▬ in Erfüllung einer Rechtsgrundlage.
41 2.2 · Berufshaftpflicht – trägerspezifisch unterschiedliche Rechtsfolgen
Schaden Im Bereich der Pflege sind unterschiedlichste Schadensfälle denkbar. Es kann sich z. B. um Schäden aufgrund von Pflegefehlern, Delegationsdefiziten, mangelhafter Geräte- oder Gebäudesicherheit, unangemessener Unterbringung bzw. schlechter Ernährung etc. handeln. Entscheidend ist ein tatsächlicher Schadenseintritt, wobei die Feststellung der Schadenshöhe im Detail oft schwierig ist. Das Deliktsrecht regelt hier den Schadenumfang in den §§ 842 ff. BGB. Unterschieden werden materielle und immaterielle Schäden, also solche, die über materiellen Schadensausgleich messbar sind (wie z. B. Sachwerteersatz für Sachschäden – Kleidung, Gegenstände etc. oder Sachkosten für Körperschäden – Heilungskosten, Rehakosten etc.) oder solche, die wegen der psychischen Schädigung unmittelbar nicht messbar sind (z. B. Schmerzensgeld) als Ersatz für erlittene Schmerzen anlässlich einer physischen Schädigung (z. B. Körperschaden) oder Nachteilsausgleich für Folgen einer psychischen Schädigung (z. B. Verletzung der Persönlichkeitsrechte). Immaterieller Schaden kann seit der Schuldrechtsreform des BGB in bestimmten Fällen nach § 253 Abs. 2 BGB unabhängig von der Art der Rechtsgrundlage für den Schadenersatz verlangt werden.
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die sog. deliktische Haftung. Von der Systematik her erklärt sich diese Unterscheidung dadurch, dass Schäden nicht allein wegen schlecht erfüllter Verträge entstehen, sondern auch in Fallkonstellationen, bei denen Schädiger und Geschädigter keine vertraglichen Beziehungen zueinander haben wie z. B. bei einem Verkehrsunfall. Auch hier muss das Recht Schadenersatzmöglichkeiten für Geschädigte einräumen, welche sich dann aus dem Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB) ergeben. Verantwortlichkeit als Verschuldensform. Gemein-
sam für beide Haftungsgrundlagen ist, dass die schadensbegründende Handlung schuldhaft sein muss. Verschulden als Verantwortlichkeit ist in § 276 BGB in den Formen Vorsatz und Fahrlässigkeit vorgegeben, wobei fahrlässiges Handeln als Außer-Acht-Lassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt definiert ist (§ 276 Abs. 2 BGB). Vorsatz muss im Regelfall als wissentliche und willentliche Handlungsverwirklichung gesehen werden. Dazu wurden vor allem über die Rechtsprechung Unterformen zu Vorsatz und Fahrlässigkeit entwickelt, wie der bedingte Vorsatz als Abgrenzung zur Fahrlässigkeit und die grobe, durchschnittliche und leichte Fahrlässigkeit als Abstufungen vor allem im Zusammenhang mit einer Schadensaufteilung im Verhältnis Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Schadensverursachendes Handeln/Unterlassen
Der festgestellte Schaden muss durch ein Handeln oder Unterlassen herbeigeführt worden sein. Wichtig ist dabei der ursächliche Zusammenhang zwischen Schadeneintritt und Handeln/Unterlassen. Liegt eine Schadensherbeiführung durch Unterlassen vor, muss der Unterlassende eine Rechtspflicht zum Handeln gehabt haben, welche er nicht beachtet hat. Solch eine Rechtspflicht zum Handeln besteht im Bereich der Pflege regelmäßig in der arbeitsvertraglich eingegangenen Verpflichtung der Pflegekräfte, die ihnen anvertrauten Personen im Sinne der Aufgaben etwa aus dem Krankenpflegegesetz ordnungsgemäß zu behandeln. Verantwortliche Person/juristische Person aufgrund einer Rechtsgrundlage
Das Privatrecht kennt im Wesentlichen zwei Arten von Rechtsgrundlagen für Schadenersatz im Bereich der Pflege. Es sind dies die vertragliche und
Vertragliche Haftung. Die Unterscheidung in vertragliche und deliktische Haftung hat auch tatsächliche Unterschiede in der Abwicklung zur Folge. So kennt die vertragliche Haftung eine uneingeschränkte Zurechnung des Verschuldens von Hilfspersonen, welcher sich der Vertragspartner bedient, um den Vertrag zu erfüllen (§ 278 BGB). Als haftende Person kommt jedoch stets nur einer der Vertragspartner in Frage. So sind im Bereich der Pflege stets die Einrichtungsträger die Vertragspartner der Patienten bzw. Heimbewohner oder zu Pflegenden, nicht das Personal. Für dieses stellt der Arbeitsvertrag eine Haftungsgrundlage gegenüber dem Arbeitgeber dar. Entsprechend dem oben Gesagten liegt bei der vertraglichen Haftung auch kein Unterschied darin, ob nun den Behandlungsbzw. Heimvertrag ein öffentlicher oder ein privater Träger abschließt. In beiden Fällen handelt es sich um einen privatrechtlichen Vertrag, aus welchem
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
bei vertragswidrigem Vorgehen vom Geschädigten Schadenersatz (§ 280 BGB) verlangt werden kann.
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Deliktische Haftung. Die deliktische Haftung ist in
den §§ 823 ff. BGB geregelt. Es sind dort Rechtsgüter geschützt, welche im Schädigungsfall dann Schadenersatzansprüche nach sich ziehen, wenn eine Schädigung widerrechtlich erfolgt ist. Dies ist regelmäßig der Fall bei Fehlen eines Rechtfertigungsgrundes (Notwehr, Nothilfe, Einwilligung des Verletzten) für die schädigende Handlung. Vorausgesetzt ist hier Deliktsfähigkeit (§ 827 ff. BGB). Für die Haftung von Verrichtungsgehilfen (anders als § 278 BGB) sowie bei einem Organisations- und Auswahlverschulden leitender Angestellter (§ 831 BGB) sind besondere Regelungen vorgesehen. Insoweit gibt es auch bezüglich der Haftungsabwicklung tatsächliche Unterschiede zwischen der Vertragshaftung und der deliktischen Haftung. Die deliktische Haftung hat zudem im § 839 BGB eine eigene Regelung für die Haftung bei Amtspflichtverletzung. In Verbindung mit Art. 34 GG folgt daraus, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von öffentlichrechtlichen Trägern nicht selbst deliktisch haften, sondern jeweils nur ihr Anstellungsträger, der allerdings bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit ein Rückgriffsrecht auf die Mitarbeiter hat.
2.2.2 Trägerhaftung
Die Haftung des Einrichtungsträgers ist entsprechend seinen Aufgaben zu betrachten, die sich einteilen lassen in solche, welche er unmittelbar bzw. durch seine gesetzlichen Vertreter übernehmen muss (z. B. Personalauswahl und -anstellung, Gebäudeorganisation) und solche, die er selbst nicht übernehmen kann, wofür er aber Personal anstellt, welche die Aufgaben für ihn übernehmen (Hausverwaltung, Versorgung der Patienten/ Bewohner). Aus beiden Aufgabenstellungen kann sich bei Schlechterfüllung eine Haftung ergeben, wobei im ersteren Fall der Träger selbst über seine gesetzlichen Vertreter fehlerhaft gehandelt hat, im letzteren Fall sich die Frage stellt, inwieweit er sich das Handeln seiner Mitarbeiter/innen zurechnen lassen muss. Deshalb ist im Rahmen der Trägerhaf-
tung stets genau zu ermitteln, wem die jeweiligen Verantwortungsdefizite zuzurechnen sind. Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass der Träger einer Einrichtung stets dann haftet, wenn ein mit ihm geschlossener Vertrag schuldhaft verletzt wird. Dies gilt wegen § 278 BGB auch, wenn den Träger selbst kein Verschulden an der Schadensherbeiführung trifft, sondern eine/n seiner Mitarbeiter/innen. Dabei ist der Träger beweispflichtig dafür, dass er den Schadeneintritt nicht zu vertreten hat, etwa wegen fehlenden Verschuldens (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB). Ein parallel denkbarer deliktischer Anspruch ist im Fall keines selbstverschuldeten Handelns zu messen an § 831 BGB, also anhand der Frage, ob das Verschulden eines Mitarbeiters als Verrichtungsgehilfen dem Träger zugerechnet werden muss oder ob er nachweisen kann, dass er alles im Rahmen des § 831 BGB erforderliche getan hat (Auswahl, Anleitung, Delegation) und somit nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB nicht deliktisch haften muss. Scheidet eine deliktische Haftung wegen § 831 BGB aus, bleibt somit dennoch die vertragliche Haftung bestehen. Trifft den Träger selbst bzw. seinen gesetzlichen Vertreter der Vorwurf schuldhaften schadensbegründenden Handelns, dann haftet er direkt aus Vertrag bzw. deliktisch. Für öffentlichrechtliche Träger ergibt sich letzteres aus §§ 89, 31 BGB. Solche Fälle liegen immer dann vor, wenn unmittelbar trägereigene Aufgaben nicht ordnungsgemäß erfüllt wurden (gemeldete Mängel am Gebäude wurden nicht behoben, es wurde ungeeignetes oder zu wenig Personal angestellt etc.). Der Träger einer Einrichtung als Vertragspartner der Einrichtungsnutzer wird somit stets über Vertrag Haftung für entstandenen Schaden tragen müssen, gleich ob er selbst diesen zurechenbar verursacht hat oder seine Mitarbeiter/innen. Ob er daneben deliktisch haftet, hängt im Falle keiner eigenen zurechenbaren Handlung von seiner Beweisführung in Bezug auf § 831 Abs. 1 S. 2 BGB ab. Der öffentlichrechtliche Träger haftet stets für verschuldete Schädigungen seiner Mitarbeiter/ innen auch deliktisch nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG. Tritt ein Schaden bei Personen auf, welche nicht in einem Vertragsverhältnis zum Träger
43 2.2 · Berufshaftpflicht – trägerspezifisch unterschiedliche Rechtsfolgen
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⊡ Tabelle 2.1. Schematische Darstellung der Haftung des Trägers Träger
privatrechtlich
öffentlichrechtlich
haften gegenüber
Dritten
Vertragspartnern
Dritten
Vertragspartnern
bei eigener Handlungsverpfl. aus
§§ 823, 31 BGB
+ Vertrag
§§ 823, 89, 31 BGB
+ Vertrag
bei Handlungsverpfl. des Personals aus
§§ 823, 831 BGB
+ Vertrag, § 278 BGB
§§ 839 BGB, Art. 34 GG
+ Vertrag
stehen (z. B. Besucher der Einrichtungen, welche wegen Mängeln am Gebäude zu schaden kommen), kommt allein eine deliktische Haftung in Frage. In ⊡ Tabelle 2.1 ist die Trägerhaftung in schematischer Form zusammengefasst.
2.2.3 Haftung der Mitarbeiter/innen
Vertragliche Haftung Auf Seiten der Arbeitnehmer/innen (AN) als Personal einer Einrichtung liegt ein Vertragsverhältnis nur gegenüber ihrem jeweiligen Arbeitgeber (AG) vor, nicht jedoch im Verhältnis zu Patient, Heimbewohnerin etc. als der die Einrichtung nutzenden Person. Deshalb kommt vertragliche Haftung der Mitarbeiter/innen auch nicht gegenüber von ihnen in der Einrichtung geschädigten Personen zum Tragen. Sie spielt jedoch eine Rolle dort, wo ein Träger als AG haftet und wegen Verletzung der Pflichten des AN aus dem Arbeitsvertrag Ansprüche gegen seinen Mitarbeiter hat. Dem Träger ist dabei aufgrund seiner Ersatzpflicht ein Schaden entstanden (etwa wenn er aus Vertrag, § 278 BGB, für Pflegemängel einzustehen hat), der durch sein Personal verursacht wurde. Im Rahmen der Regelungen zur Regresspflicht aus Arbeitsvertrag kann er diesen Schaden ggf. vom tatsächlichen Verursacher aufgrund des Arbeitsvertragsverhältnisses zurückverlangen. Das Arbeitsrecht hat hierbei jedoch besondere Regelungen geschaffen, welche das ungleiche Verhältnis AG – AN ausgleichen sollen. So besteht im Regelfall bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit des Arbeitnehmers seine Verpflichtung, den dem AG durch Haftungseintritt entstandenen Schaden
zu ersetzen. Bei mittlerer Fahrlässigkeit kann eine Aufteilung zwischen AG und AN erfolgen, bei leichter Fahrlässigkeit des AN hat der AG den Schaden ganz zu tragen. Dies ist jedoch nach der Rechtsprechung lediglich eine Grundregel, letztlich entscheidet sich der Regressumfang immer anhand der Beurteilung des jeweiligen Einzelfalles. Die Beweispflicht für eine Haftung des AN trifft dabei abweichend von § 280 Abs. 1 S. 2 BGB den AG und nicht den AN als Schuldner im Arbeitsvertrag (§ 619a BGB). Deliktische Haftung Gegenüber den Geschädigten haftet das Personal in der Regel mangels vertraglicher Beziehungen allein deliktisch. Dabei ist es deshalb nicht relevant, ob es sich um Personen handelt, welche mit der Einrichtung einen Vertrag geschlossen haben, also Patienten, Heimbewohner etc. oder um Dritte, welche lediglich anlässlich eines Besuches, einer geschäftlichen Erledigung etc. die Einrichtung betreten haben und dort geschädigt wurden. Besonderes gilt für leitende Angestellte, welchen vom AG Organisationsvollmachten zur Erledigung von Trägeraufgaben übergeben wurden. Sie haften in solchen Fällen nach § 831 Abs. 2 BGB vergleichbar Trägern, wenn sie nicht nachweisen können, dass sie das von ihnen im Zusammenhang mit den ihnen übertragenen Aufgaben Erforderliche unternommen haben. Mitverschulden des Verletzten ist in Ansatz zu bringen (§ 846 BGB). Haften AN und AG im Anschluss daran gemeinsam deliktisch, so haften sie als Gesamtschuldner nach § 840 BGB mit der Folge, dass sich der Geschädigte den Haftenden wählen kann. Der interne Ausgleich der Gesamt-
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
⊡ Tabelle 2.2. Schematische Darstellung der Haftung des Personals Bei privatrechtlichen Trägern
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Haftung gegenüber
den zu Pflegenden
Dritten
Arbeitgeber
aus
§ 823 BGB
§ 823 BGB
Arbeitsvertrag
Ausnahme: Organisationsbevollmächtigte: §§ 823, 831 BGB Bei öffentlichrechtlichen Trägern Träger haftet nach § 839 BGB, Art. 34 GG für seine Arbeitnehmer. Rückgriff auf AN kann bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit erfolgen.
schuldner untereinander erfolgt über Regress nach den Regelungen der §§ 840 f. BGB. In ⊡ Tabelle 2.2 ist die Haftung des Personals noch einmal kurz zusammengefasst.
Frau S. Schmitt ist Heimleiterin in einem Wohnund Pflegeheim. In Absprache mit dem Träger der Einrichtung hat sie die Stelle der Pflegedienstleitung/stellvertretenden Heimleitung zur Wiederbesetzung ausgeschrieben. Herr P. Meier (M.) bewirbt sich um diese Stelle.
Während des Vorstellungsgesprächs mit Vertretern des Vorstands der Heimträgerin und Frau Schmitt (S.) wird er gefragt, ob er vorhabe, diese Stelle für längere Zeit auszufüllen oder als Sprungbrett für seine weitere Karriere zu benutzen. M. ist 31 Jahre alt, hat Familie mit drei Kindern und plant zumindest für die nächsten fünf Jahre keine weitere berufliche Veränderung, sollte er diese Stelle bekommen. Er ist Altenpfleger, war mehrere Jahre vollberufstätig, hat dann am Abendgymnasium sein Abitur nachgeholt und die letzten vier Jahre Pflegemanagement an einer Fachhochschule studiert. Jetzt ist er Dipl.-Pflegewirt (FH) und sieht für seine berufliche Biografie eine gewisse Abrundung in einer leitenden Stellung im Altenpflegebereich. Das weiß natürlich der Vorstand, soweit es sich aus den Bewerbungsunterlagen ergibt, will aber den Bewerber selbst sich dazu äußern lassen. Selbstverständlich schließt M. nicht aus, eines Tages die Heimleitung zu übernehmen. Der Heimleitung obliegen hauptsächlich die Vertretung der Einrichtung nach außen, Teilnahme an den Pflegesatzverhandlungen zusammen mit der Trägerin, Einstellung von Heimpersonal sowie tägliche Führungs- und Leitungsaufgaben, wie Aufnahmegespräche, Personalkommunikation. Überprüfung der Einhaltung von Rechtsgrundlagen etc. Sie lässt
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Zustandekommen und Beendigung eines Arbeitsverhältnisses
2.3
2.3.1 Einstieg – ein Fallbeispiel
Die Einstellung von Personal birgt an vielen Stellen »Fallstricke«, die jedoch nicht zum Straucheln führen müssen. Im Folgenden werden die erforderlichen Schritte bis zum Abschluss des Arbeitsvertrages aufgezeigt und Hinweise zur Beantwortung dabei auftretender Rechtsfragen gegeben. Das hier dargelegte systematische Vorgehen kann als Checkliste für die Praxis verwendet werden. Im Anschluss daran folgt eine Darstellung zu Rechtsfragen bei der Beendigung eines Arbeitvertrages. Beispiel Der Ausgangsfall
45 2.3 · Zustandekommen und Beendigung eines Arbeitsverhältnisses
ihre Mitarbeiter/innen in ihren Zuständigkeiten autonom agieren, hat aber relativ wenig Kontakt zu den Heimbewohnern. Im Aufgabenbereich der Pflegedienstleitung liegen die gesamten Angelegenheiten zur Führung des Pflegepersonals und der Organisation der Pflege. Sie vertritt die Heimleitung im Verhinderungsfall. Als Vergütung wird von Seiten des AG 2700 Euro genannt, wobei M. glaubt dies sei netto, der Arbeitgeber hat den Bruttobetrag gemeint.
2.3.2 Rechtsfragen beim Abschluss
eines Arbeitsvertrages Begründung des Arbeitsverhältnisses durch Arbeitsvertrag Merkmale des Arbeitsverhältnisses
M. strebt ein Arbeitsverhältnis an. Die in Frage stehende Tätigkeit (PDL und stellv. Heimleitung) ist nur durch Eingliederung in den Betrieb (Wohn- und Pflegeheim) auszufüllen, d. h. er muss zur Erfüllung seiner Aufgaben (Führung des Pflegepersonals, Organisation der Pflege) im Betrieb tätig sein und kann nicht als Externer – ohne Kenntnis des Alltags aufgrund von Integration in den Betrieb – diesen Aufgaben gerecht werden. Jedenfalls ist die ausgeschriebene Stelle mit den genannten Aufgaben der Pflegedienstleitung und Vertretung der Heimleitung so zu verstehen. Hinsichtlich der angestrebten Tätigkeit besteht Weisungsgebundenheit, zum einen im Bezug zur Heimleitung als vorgesetzter Dienststelle, zum anderen im Blick auf die Betriebsorganisation; d. h. sollte M. angestellt werden, hat er mit seiner individuellen Arbeitskraft seine ihm zugewiesene Stelle im Organisations- oder Stellenplan des Betriebes auszufüllen und kann nicht nach Anstellung sich Tätigkeiten aussuchen, die ihm mehr zusagen. Eingliederung in den Betrieb und Weisungsgebundenheit sind die Kernkriterien von Arbeitnehmerschaft (s. a. § 7 Abs. 1 SGB IV). Überall, wo nicht deutlich ist, ob diese oder etwa Selbständigkeit vorliegen, wird die Abgrenzung danach
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vorgenommen, ob diese Kriterien gegeben sind oder Umstände dargelegt werden, die ihr Vorliegen nicht annehmen lassen. Outsourcing in Betrieben, also Verrichtung von Tätigkeiten durch Fremdunternehmer, wie etwa Reinigung, Buchhaltung oder andere Verwaltungstätigkeiten, medizinische oder psychologische Dienstleistungen wirft in den Einrichtungen stets die Frage nach einer Scheinselbständigkeit auf. Dies deshalb, weil selbst dann, wenn Tätigkeiten über Werkvertrag (also als selbständige Tätigkeit) vereinbart werden, diese nicht als solche behandelt werden, wenn sie typischerweise in Form unselbständiger Arbeitsleistung erbracht werden. Es kommt somit für die objektive Beurteilung nicht darauf an, was die Vertragsparteien als gewollt regeln, sondern darauf, ob die vereinbarte Tätigkeit – so wie sie sich in der Arbeitswirklichkeit darstellt – den Kriterien des § 7 Abs. 1 SGB IV zuzuordnen ist oder nicht. Die Klärung ist wichtig, da fehlerhafte Einordnung mitunter schwerwiegende finanzielle Folgen haben kann, wenn etwa jemand als selbständig behandelt würde, tatsächlich aber als Arbeitnehmer zu behandeln ist und Sozialversicherungsleistungen nachzuentrichten sind. Bei Zweifeln zur Frage der Selbständigkeit bzw. unselbständiger Arbeit kann die Klärung über einen Antrag nach § 7a SGB IV herbeigeführt werden. Zuständige Stelle hierfür ist die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA). Vertragsbestandteile des Arbeitsvertrages
Neben dem spezifischen Vereinbarungsgegenstand, dass über einen Arbeitsvertrag ein Arbeitsverhältnis (unselbständige Arbeit) zustande kommen soll, gelten die Regeln zur Entstehung eines Vertrages, also sind zwei sich deckende Willenserklärungen (Angebot und Annahme) erforderlich. Von wem das Angebot zu einem Arbeitsvertrag abgegeben wird, ist letztlich nicht entscheidend. In unserem Fall sind ihren Willen erklärende Vertragspartner M. als potentieller Arbeitnehmer (AN) und der Träger der Einrichtung (vermutlich ein e. V., da vom Vorstand die Rede ist), der die Arbeitgeberfunktion (AG) innehat. Entscheidend ist, dass sich der Wille von Arbeitgeber und Arbeitnehmer decken. Dies muss nicht nur äußerlich der Fall sein, also etwa in einer genannten Lohnsumme
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2
Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
(z. B. 2700 Euro), sondern auch in ihrer Bedeutung (im Beispiel: Der AG meinte mit der Summe den Bruttolohn, der AN den Nettolohn; hier liegt von der Bedeutung her keine Einigung vor). Die Bedeutung richtet sich nach dem, was der Erklärende »innerlich« gewollt hat, aber auch danach, was der Empfänger darunter verstehen musste (im Beispiel: Es ist völlig unüblich, dass ein Nettolohn vereinbart wird; der Vertrag ist also entsprechend der Üblichkeit zustande gekommen und kann allenfalls angefochten werden). Wichtig für das Zustandekommen eines Vertragsinhaltes ist somit auch, in welchem Umfang die Einigung erfolgen muss, wenn sie nicht den gesamten Vertragsinhalt umfasst. In der Regel müssen die Vertragshauptpflichten in Übereinstimmung geregelt sein. Für den Arbeitsvertrag bedeutet dies, dass Tätigkeit und Lohn Gegenstand der Einigung sein müssen. Bezüglich des Lohnes gilt dabei die Auslegungsregel des § 612 BGB, die zur Folge hat, dass der tätigkeitsübliche Dienstlohn als vereinbart gilt. Besteht keine Regelung oder Einigung über darüber hinausgehende Vertragsvereinbarungen, dann gelten die Auslegungsregelungen der §§ 154, 155 BGB. Handelte es sich um für einen Vertragspartner wesentliche Punkte, gilt der Vertrag als nicht geschlossen (§ 154 BGB). Handelt es sich um unwesentliche Punkte, gilt der Vertrag hinsichtlich der Punkte, für die Einigung vorliegt, geschlossen. In diesem Zusammenhang ist das Erfordernis schriftlicher Abfassung von Regelungen zum Arbeitsverhältnis (NachweisG) zu beachten. Anwendung allgemeiner Vorschriften über Rechtsgeschäfte
Zur Auslegung von Vertragsdefiziten wurde oben bereits auf allgemeine Vorschriften des BGB zu Rechtsgeschäften Bezug genommen (§§ 154, 155). Grundsätzlich ist der gesamte »Allgemeine Teil« (Erstes Buch des BGB) anwendbar, weil dieser grundlegende Regelungen für das gesamte Bürgerliche Recht, also auch für den Dienstvertrag (§§ 611 ff. BGB) und damit für den Arbeitsvertrag vorsieht. Dazu gehören ▬ die Regelungen zur Geschäftsfähigkeit zu beschäftigender Minderjähriger (insbesondere § 113 BGB);
▬ die Regelungen zur Anfechtung von Verträgen (§§ 119, 123 ff. BGB); ▬ die Grenzen der Vereinbarungsbefugnis (Verstoß gegen gesetzliche Verbote § 134, Sittenwidrigkeit § 138 BGB); ▬ die Verjährung (§§ 194 ff. BGB); ▬ Regelungen des allg. Schuldrechts (z. B. § 280 Abs. 1 BGB bei fehlerhaften Dienstleistungen); ▬ die Stellvertretung (§§ 164 ff. BGB). Im Ausgangsfall ist betreffend die Stellvertretung die entscheidende Frage, ob die Heimleitung auch die Befugnis (= Vertretungsberechtigung seitens des Arbeitgebers) zur Einstellung von leitenden Angestellten (= PDL als Vertreterin der Heimleitung) hat. Wenn in der Sachverhaltsschilderung als Aufgabe die Einstellung von Pflegepersonal genannt ist, kann es sein, dass hierunter nur das Personal gemeint ist, welches der Heimleitung – und damit auch ihrer Vertretung im Vertretungsfall – unterstellt ist. Ist also in der Vertretungsregelung bezüglich der Personaleinstellung durch die Heimleitung nicht ausdrücklich auch die PDL/stellv. Heimleitung genannt, ist davon auszugehen, dass diese Anstellung (wie die der Heimleitung selbst) der Vorstand des Trägers als gesetzlicher Vertreter des Trägers vornimmt. Die Anwesenheit der Heimleitung bei dem Bewerbungsgespräch spricht noch nicht für ihre Vertretungsbefugnis. Vielmehr ist die Anwesenheit von Vorständen ein Indiz dafür, dass die Heimleitung die PDL nicht anstellt. Jedenfalls wird in allen anderen Fällen einer Personaleinstellung in der Regel der Vorstand nicht beteiligt sein, wenn diese Tätigkeit eine übertragene Aufgabe an die Heimleitung ist. Demnach wird die Arbeitsverträge bezüglich des Pflegepersonals im vorliegenden Fall die Heimleitung unterzeichnen, die der Heimleitung und der PDL/stellv. Heimleitung werden vom Vorstand des Trägers unterzeichnet. Handelt die Heimleitung entgegen dieser über entsprechende Vollmacht erfolgte Aufgabenverteilung und unterschreibt den Arbeitsvertrag mit M., dann ist dessen Gültigkeit von der Genehmigung des Vorstandes abhängig (§ 177 Abs. 1 BGB). Genehmigt der Vorstand nicht, kann auf die Heimleitung Haftung für
47 2.3 · Zustandekommen und Beendigung eines Arbeitsverhältnisses
Schäden zukommen, welche M. dadurch erlitten hat, dass er auf den bestehenden Arbeitsvertrag vertraute (§ 179 BGB). Folgen von Vertragsverhandlungen
Über das Bewerbungsgespräch wird ein Arbeitsvertrag noch nicht abgeschlossen. Vielmehr dient das Gespräch dazu, einen solchen in der Zukunft abzuschließen. Durch die Aufnahme solcher Vertragsverhandlungen entsteht aber rechtlich bereits eine relevante Sonderverbindung mit beiderseitigen vorvertraglichen Schutz-und Obhutspflichten (§ 311 Abs. 2 BGB). Solche Pflichten sind: ▬ sorgfältiger Umgang mit Arbeitspapieren einschl. Schweigepflicht zu diesen Inhalten, ▬ Unfall- und Gefahrenschutz, ▬ Informationspflicht bezüglich der Auswahlentscheidung. Diese Informationspflicht beinhaltet auch Fragerechte. So wird M. hier befragt zu seiner Karriereplanung, zum Familienstand und zu seiner Ausbildung. Hier stellt sich die Frage, inwieweit dies rechtmäßig ist. Grundsätzlich trifft die Vertragspartner die Pflicht, sich über alle Gegebenheiten zu informieren, welche erkennbar für den Vertragsabschluss von Bedeutung sind. Dies sind hier in jedem Fall die Fragen zur Ausbildung und zum Familienstand (wegen seiner Befähigung für die Stelle sowie der vertraglichen Ausgestaltung hinsichtlich des BAT oder der AVR). Bezüglich der Karriereplanung wird die Beantwortung der Frage nicht als verbindlich angesehen werden können, wenn M. sich etwa innerhalb der Probezeit oder auch später dann doch anderweitig orientiert und kündigt. Von Interesse für den AG ist die Antwort von M. aber sehr wohl, auch die Art und Weise, wie die Beantwortung ausfällt, weil dadurch Wichtiges zur Person des Bewerbers erfahren werden kann. Weitere Problemfälle zum Fragerecht sind ▬ Fähigkeiten: zulässig; ▬ Gesundheit: zulässig; ▬ HIV-Infekt: unzulässig, da keine Gefährdung bei Beachtung der allgemeinen Hygiene (Ausnahmen sind aber denkbar); ▬ AIDS-Erkrankung: zulässig, da Leistungsbeschränkung prognostizierbar;
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▬ Schwerbehinderung: zulässig, wegen Regelungen für Schwerbehinderte in Betrieben nach dem SGB IX sogar erforderlich; ▬ Schwangerschaft: unzulässig, es sei denn, die Tätigkeit wird objektiv unmöglich (z. B. Mannequin, besondere körperliche Anstrengungen mit der Tätigkeit verbunden); ▬ Wehr- oder Zivildienst: unzulässig; ▬ Vorstrafen: zulässig bei bezüglich Vorstrafe einschlägiger Vertrauensstellung; ▬ Partei-, Gewerkschafts-, Religionszugehörigkeit: zulässig bei Tendenzbetrieben; ▬ Psychotests: zulässig mit Zustimmung des Bewerbers. Informiert der angehende Arbeitnehmer bei für den Vertragsschluss bedeutenden Fragen nicht richtig, kommt eine Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen Irrtums (§ 119 BGB) oder arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) und daraus sich ergebende Schadenersatzverpflichtung in Betracht. Beantwortet der potentielle AN dem AG eine unzulässige Frage falsch, so täuscht er dadurch den AG nicht arglistig. In solchen Fällen wird auch die Irrtumsanfechtung ausgeschlossen sein, da es sich dabei um keinen wesentlichen Irrtum des AG handelt. Ein aufgrund einer Anfechtung nichtiger Arbeitsvertrag gilt bis zur Wirksamkeit der Anfechtung. Die Nichtigkeit wirkt somit nur für die Zukunft, nicht für die Vergangenheit. Dies deshalb, weil die Realität der durch einen Arbeitsvertrag ausgetauschten Leistungen nicht rückgängig gemacht werden kann. Die aus der Vergangenheit entstandenen Ansprüche (z. B. Arbeitslohnanteile) bleiben deshalb bestehen. Ansprüche aus einer Bewerbung Bewerbungskosten. Hat M. zum Bewerbungsgespräch anreisen müssen, so fragt sich, wer seine Kosten dafür trägt. Ein Anspruch auf Kostenerstattung aus der genannten Sonderverbindung besteht nur dann nicht, wenn der einladende Betrieb vorab (z. B. bei der Einladung) deutlich gemacht hat, dass er keine Reisekosten übernimmt. Die Erstattung erfolgt jedoch nur im üblichen Rahmen, d. h., wenn M. die Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln zumutbar war, werden diese Kosten erstattet. Bei Übernachtungskosten wird von ortsüblichen
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
durchschnittlichen Kosten ausgegangen werden müssen. Sinnvoll ist es, hier vorher mit dem künftigen AG Absprachen über Verkehrsmittel- und Übernachtungskategorie zu treffen. Verstoß gegen Chancengleichheit. Der Arbeitgeber darf u. a. bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses potentielle Arbeitnehmer/innen nicht wegen ihres Geschlechts benachteiligen (§ 611a BGB). Abgewichen kann von diesem Grundsatz nur werden, wenn die Tätigkeit vorab genau festgelegt ist und ein bestimmtes Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung für diese konkrete Tätigkeit ist. Hierbei werden sehr strenge Maßstäbe angelegt. Erhält im vorliegenden Fall M. die Stelle allein deshalb nicht, weil Frau S. nicht mit einem Mann zusammenarbeiten will, liegt eine solche Benachteiligung vor, denn seine Ablehnung hat nichts mit seiner Qualifikation für die Stelle oder damit zu tun, dass die Stelle entsprechend ihrer Stellenbeschreibung nur von einer Frau ausgeübt werden könnte. Schwierig ist in diesen Fällen die Frage des Nachweises der Benachteiligung. Kann M. Tatsachen glaubhaft machen, die seine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten lassen (z. B. eine Zeugenaussage darüber, dass Frau S. nur Frauen anstellen will oder die Tatsache, dass von Frau S. bisher nur Frauen angestellt wurden), dann muss der AG beweisen, dass die Entscheidung tatsächlich von sachlichen Überlegungen getragen war (z. B. die ausgewählte Frau war besser qualifiziert, konnte zu einem günstigeren Zeitpunkt die Stelle antreten, hat aus dargelegten Gründen stärker durch ihre Gesamtpersönlichkeit überzeugt etc.). Ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot zieht keinen Anspruch auf Beschäftigung nach sich, sondern lediglich auf angemessene Entschädigung in Geld (§ 611a Abs. 2 und 3 BGB). Der Anspruch muss innerhalb einer Frist beginnend zum Zugang der Ablehnung schriftlich geltend gemacht werden (§ 611a Abs. 4 BGB). Sie beträgt mindestens zwei Monate. Gesetzliche Bestimmungen im Zusammenhang mit Personaleinstellung
Vor Vertragsschluss sind gesetzliche Bestimmungen zu beachten, deren Nichtbeachtung bei der
Abwicklung des Arbeitverhältnisse erhebliche Probleme hervorrufen kann. Dies sind vor allem: ▬ Regelungen zur Mitbestimmung bei der Einstellung (z. B. Betriebsverfassungsgesetz) sowie ▬ Regelungen zur Personalauswahl (z. B. § 71 Abs. 2 u. 3 SGB XI, § 2 Heimpersonalverordnung, JugendarbSchG u. a.). Regelungen zur Mitbestimmung. Die Regelung
zur Mitwirkung der AN-Seite findet sich trägerabhängig im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), den Personalvertretungsgesetzen der Länder und den Mitarbeitervertretungsordnungen der Kirchen. Somit gelten die Regelungen des BetrVG für freigemeinnützige Träger außerhalb der kirchlichen Trägerorganisationen, die landesrechtlichen Bestimmungen zur Personalvertretung für alle öffentlich-rechtlichen Träger. Im vorliegenden Fall wird somit eine Mitwirkung des Betriebsrats bei Einstellung von Arbeitnehmern nach den Regelungen des BetrVG erfolgen, da es sich wohl um einen freigemeinnützigen e. V. handelt. Die Mitwirkung erstreckt sich zum einen auf das Vorfeld der Einstellung, zum anderen auf die Einstellung selbst. Dabei wird im Folgenden davon ausgegangen, dass in der Einrichtung bereits ein Betriebsrat besteht. Im Vorfeld der Einstellung sind folgende Regelungen zu beachten. a) Die Personalplanung (§ 92 BetrVG) Der AG hat den Betriebsrat über die Personalplanung umfassend zu unterrichten. Eine Personalplanung ermittelt vorab, wie viele Stellen welchen Zuschnitts gegenwärtig und künftig benötigt werden. Daran anschließend beschäftigt sich Personalplanung mit der Frage, wie der geplante Personalstand zu erreichen ist. Der Betriebsrat kann hier beratend tätig werden. b) Die Ausschreibung von Stellen (§ 93 BetrVG) Der Betriebsrat kann verlangen, dass generell Stellen vor ihrer Besetzung innerhalb des Betriebes ausgeschrieben werden. Liegt ein solcher Beschluss vor, musste in unserem Beispiel die Stelle auch intern ausgeschrieben werden. Allerdings kann der AG dennoch Bewerber von außerhalb bei der Besetzung vorziehen. c) Personalfragebögen und Formulararbeitsverträge (§ 94 BetrVG)
49 2.3 · Zustandekommen und Beendigung eines Arbeitsverhältnisses
Personalfragebögen bedürfen der Zustimmung des Betriebsrates. Solche liegen dann vor, wenn Bewerbern schriftliche Fragen oder Tests zur Beantwortung übergeben werden. Ebenso kann der Betriebsrat über formularmäßig verwendete Arbeitsverträge mitbestimmen. Beides erfolgt in erster Linie aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes der AN. d) Auswahlrichtlinien (§ 95 BetrVG) Die AG nehmen Personalentscheidungen häufig nach festen Maßstäben vor. So existieren vielfach Richtlinien über die Auswahl bei Neueinstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen etc. (z. B. persönliche und fachliche Voraussetzungen für die PDL). Solche Richtlinien kann der AG nur rechtswirksam aufstellen, wenn der Betriebsrat sie zustimmend zur Kenntnis genommen hat. e) Mitwirkung bei der Einstellung – Unterrichtungspflichten (§ 99 Abs. 1 BetrVG) Der AG (Betriebsgröße i. d. R. mehr als 20 wahlberechtigte AN) muss den Betriebsrat vor jeder Einstellung informieren unter Überlassung der Bewerbungsunterlagen aller Bewerbungen. Dazu kommt die Mitteilungspflicht über die jeweilige zu besetzende Stelle sowie die vorgesehene Eingruppierung. Unter Einhaltung der Schweigepflicht soll der Betriebsrat hierdurch vorbereitet werden auf sein unter b) genanntes Recht. – Verweigerung der Zustimmung zur Einstellung Der Betriebsrat kann die Zustimmung zur Einstellung erteilen oder aus bestimmten Gründen (§ 99 Abs. 2 BetrVG) verweigern. Dies soll aber nur möglich sein zur Kontrolle von Rechtsverstößen oder besonderer negativer Auswirkungen für die AN, nicht zur Verfolgung einer eigenen Personalpolitik. Im Falle einer Verweigerung kann nur das Arbeitsgericht entscheiden, ob die Verweigerung berechtigterweise ausgesprochen wurde. Missachtet der AG das Fehlen der erforderlichen Zustimmung, kann der Betriebsrat gegen den AG durch das Arbeitsgericht Zwangsgelder festsetzen lassen, bis dieser die Beschäftigung beendet (§ 101 BetrVG). Eine Einstellung von AN gegen
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den Willen des AG kann vom Betriebsrat nicht erzwungen werden. Regelungen zur Personalauswahl: Einstellungsverbote und -beschränkungen.
a) gesetzliche Qualifikationserfordernisse M. muss als PDL die Voraussetzungen des § 71 Abs. 2 und 3 SGB XI erfüllen, d. h. er muss eine ausgebildete Pflegefachkraft sein. Da er Altenpfleger ist, erfüllt er diese Voraussetzung nach § 71 Abs. 3 SGB XI. Problematisch war nach der bis 31.12.2001 gültigen Regelung des § 71 Abs. 3 SGB XI die Einbringung der erforderlichen Berufserfahrung von zwei Jahren innerhalb der letzten fünf Jahre, denn ein Studium an Fachhochschulen nimmt wenigstens vier Jahre in Anspruch. Mit der Reform des § 71 Abs. 3 SGB XI wurde die Fünfjahresfrist ab 1.1.2002 u. a. für Absolventen von einschlägigen Pflegestudiengängen in eine Achtjahresfrist verlängert. Die langjährige Berufserfahrung des M. als Altenpfleger liegt somit jedenfalls bezüglich der erforderlichen zwei Jahre nach neuer Regelung innerhalb dieser Grenze. Wenn M. also Altenpfleger und Dipl.-Pflegewirt ist, der viele Jahre Berufstätigkeit in der Pflege nachweisen kann, erfüllt er nunmehr die Voraussetzungen des § 71 Abs. 3 SGB XI. Auch § 4 Abs. 2 i. V. m. § 2 Abs. 2 Nr. 2 und § 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 Heimpersonalverordnung sind Regelungen, welche Eignungsvoraussetzungen (hier für die PDL) vorsehen. Dabei geht es im Fall des § 2 Abs. 2 um eine entsprechende Ausbildung und eine einschlägige hauptberufliche Tätigkeit von zweijähriger Dauer, jedoch ohne die Einschränkung des Zeitraums, in welchem sie abgeleistet wurde (Körber 2003). Ein Fachhochschulstudium im Bereich der Pflege fällt dabei unter die Fachkraftvoraussetzungen der §§ 2 Abs. 2 Nr. 1, 6 HeimpersV. § 2 Abs. 2 Nr. 2 HeimpersV wird hier im Zusammenhang mit Nr. 1 zu sehen sein, weshalb bei einem abgeschlossenen Studium, das für Leitungsfunktionen qualifiziert, hinsichtlich der zweijährigen beruflichen Tätigkeit nicht zwingend die Wahrnehmung von Leitungsaufgaben gefordert werden muss. Wenn M. vorher als PDL tätig ist, erfüllt er für eine eventuelle Nachfolge in
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
der Heimleitung die Kriterien allemal. Auch in Fällen, in welchen dies nicht – wie bei M. zum gegenwärtigen Zeitpunkt – gegeben ist, wird man wenigstens davon ausgehen müssen, dass ein Fachhochschulstudium, das zu Leitungstätigkeit befähigen soll, im Umfang der dort erworbenen praktischen Fähigkeiten innerhalb zweier praktischer Studiensemester, also im Umfang eines Jahres die erforderlichen praktischen Berufserfahrungen beinhaltet. Derzeit sind Entwicklungen im Gange, den anerkennbaren zeitlichen Umfang für Fachhochschulabsolventen der Studiengänge Pflegemanagement generell auf 1 1/2 Jahre zu erhöhen (so z. B. in Bayern). Hat M. darüber hinaus in seiner vorherigen beruflichen Praxis – etwa über Weiterbildungsangebote oder stellvertretende Leitungstätigkeiten (stellv. PDL etc.) – oder in den praktischen Studiensemestern Leitungserfahrung im stationären Altenpflegebereich erworben, kann er die Voraussetzungen ohne zusätzliche Praxis erfüllen. Die Regelung des § 3 Abs. 1 HeimpersVO verlangt seine persönliche Eignung im Sinne fehlender, dort näher bezeichneter einschlägiger Vorstrafen. b) Jugendarbeitsschutz Bei der Anstellung von Jugendlichen sind die Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzgestzes zu beachten. c) Mutterschutz Hier sind die Beschäftigungsverbote für werdende und stillende Mütter zu beachten. d) Arbeitserlaubnis AN aus Ländern außerhalb der Europäischen Gemeinschaft benötigen für die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses eine Arbeitserlaubnis. Diese ist in der Regel u. a. abhängig von der Aufenthaltserlaubnis. Regelungen zur Personalauswahl: Einstellungsgebote.
Ein Einstellungsgebot kann sich aus dem Schwerbehindertenrecht ergeben, das nunmehr im SGB IX (§§ 71 ff.) integriert ist. Nichteinhaltung des Umfangs der Beschäftigung von Schwerbehinderten hat Zahlung einer Ausgleichsabgabe zur Folge (§ 77 SGB IX).
Abschluss und Inhalt des Arbeitsvertrages
Wird ein privatrechtlicher Arbeitsvertrag geschlossen, besteht Vertragsfreiheit für AN und AG. Ob M. nun tatsächlich eingestellt wird, steht dem Vorstand des Trägers des Wohn- und Pflegeheimes nach Beachtung der Mitbestimmungsrechte frei. Die gesetzlichen Regelungen zum Schutz vor geschlechtsbezogenen Diskriminierungen (§§ 611a ff. BGB) sehen hiervon keine Ausnahme vor, sondern im Missachtungsfalle lediglich Entschädigungsansprüche.
Abschlussfreiheit.
Vertragsabschluss. Ein Arbeitsverhältnis wird durch Arbeitsvertrag begründet. Vertragspartner sind AG (hier: der Träger) und Arbeitnehmer (M.), die über Vertrag ein dem Privatrecht angehörendes Dauerschuldverhältnis eingehen. Über § 2 des Gesetzes über den Nachweis der für ein Arbeitsverhältnis geltenden wesentlichen Bedingungen (NachwG) sind diese vom AG in der Regel schriftlich niederzulegen (Ausnahme: zeitlich begrenzte Aushilfen), von ihm zu unterzeichnen und dem AN auszuhändigen, spätestens einen Monat nach dem vereinbarten Beginn. Tarif- und AVR-Regelungen sehen Schriftform des gesamten Arbeitsvertrages als zwingend vor. Vertragsinhalte. Jeder Arbeitsvertrag (§ 611 BGB:
Dienstvertrag, in Abgrenzung zum Werkvertrag eines Selbständigen) beinhaltet Haupt- und Nebenpflichten. Hauptpflichten sind: ▬ beim AN die Erbringung seiner Arbeitsleistung, ▬ beim AG die Zahlung des Arbeitsentgelt. Nebenpflichten sind: ▬ beim AN die Treuepflichten, ▬ beim AG die Fürsorgepflichten. Ausgehend von diesem Grundsatz kann jeder Arbeitsvertrag diese Pflichten differenziert regeln. Dies ist insbesondere in Tarifverträgen (z. B. BAT) oder sog. Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) der Fall. Der einschlägige Tarifvertrag für den Altenpflegebereich ist der BAT. Arbeitsvertragsrichtlinien haben sich vor allem die großen Wohlfahrtsverbände gegeben, um ihre Arbeitsverträge einheitlich zu regeln. BAT und AVR können auch, wenn sie nicht direkt über Tarifpartner bzw. die entsprechenden Wohlfahrtsverbände Anwendung finden,
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ganz oder teilweise über Arbeitsvertrag analog angewendet werden. Dies muss dann entsprechend im jeweiligen individuellen Arbeitvertrag geregelt sein. Kommen BAT oder AVR nicht zur Anwendung, werden die Haupt- und Nebenpflichten dennoch Inhalt des Arbeitsvertrages, der diesbezüglich je nach Differenziertheit seiner Regelung einer entsprechenden Auslegung bedarf. Hauptpflichten. Die Erbringung der Arbeitsleis-
tung durch den Arbeitnehmer konkretisiert sich durch den Arbeitsvertrag, genauer gesagt durch die dort konkret genannte oder durch Auslegung sich ergebende zugewiesene Tätigkeit oder Stelle. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang eine Stellenbeschreibung als Teil oder Anlage des Arbeitsvertrages. Diesbezügliche Hinweise geben auch BAT oder AVR über im Vertrag genannte Eingruppierungen. Wird M. als PDL eingestellt, schuldet er die Arbeitsleistung einer PDL, hier einschließlich der Aufgabe der Vertretung der Heimleitung. Die Grenzen der Tätigkeit ergeben sich durch das Direktions- und Weisungsrecht, M. betreffend aus dem seiner Vorgesetzten, der Heimleiterin, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreffend aus seinem Recht, Dienstanweisungen zu erteilen. Diese können individuell ausgerichtet sein oder sich in Dienstplänen, Einsatzplänen etc. darstellen. Rahmen des Direktions- und Weisungsrechts bleibt aber stets der individuelle Arbeitsvertrag. Aus diesem Rahmen können sich somit auch Weigerungsrechte ergeben, wenn die vertragliche Arbeitsleistung durch eine Dienstanweisung unzulässig ausgeweitet wird, etwa weil einer Hilfskraft Tätigkeiten angewiesen werden, die sie überfordern, oder weil Mitarbeitern Arbeiten zur Erledigung angetragen werden, die ihrer vertraglichen Aufgabe nicht entsprechen (z. B. Reinigen der Zimmer durch Pflegekräfte). Sehen Dienstpläne regelmäßig die Beschäftigung einer Mitarbeiterin nicht vor, hat diese auch einen Anspruch auf Beschäftigung. Geschuldet wird die arbeitsvertragliche Arbeitszeit. Überstunden sind deshalb in Freizeitausgleich oder Bezahlung auszugleichen. > Aktuell ist zu beachten, dass Bereitschaftsdienst als volle Arbeitszeit anzurechnen ist.
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Der AG schuldet für die Arbeitsleistung Bezahlung entsprechend dem Arbeitsvertrag. Diese Verpflichtung ist als wechselseitige Abhängigkeit zu verstehen, d. h. Wesen des Arbeitsvertrages ist Arbeitsleistung gegen Entgelt und umgekehrt. Fehlt eine der beiden Hauptpflichten, liegt kein Arbeitsvertrag vor. M. hat im vorliegenden Fall somit die Arbeitsleistung einer PDL zu erbringen und die dafür angemessene Entlohnung zu erhalten. Angemessen ist eine für die entsprechende Tätigkeit in vergleichbaren Bereichen übliche Vergütung (z. B. im BAT näher geregelt). Sie kann überschritten, jedoch nicht unterschritten werden. Nebenpflichten. Die Nebenpflichten ergeben sich
nicht wie die Hauptpflichten direkt aus der Kerndialektik der Hauptpflichten (§ 611 BGB), jedoch aus dem Gesamtzusammenhang arbeitsvertraglich begründeter Abhängigkeit von AN und AG. Sie wurden weitgehend präzisiert aufgrund der besonderen Bedeutung der Lebenswelt Arbeit für den individuellen Arbeitnehmer sowie die besondere Abhängigkeit des AG von den AN bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen im Produktions- und Dienstleistungsbereich. Als wichtige Nebenpflichten des AN (Treuepflichten) sind einzustufen: ▬ Die Verschwiegenheitspflicht bezieht sich auf alle betriebsinternen Informationen, etwa im Zusammenhang mit dem Wettbewerb. Insoweit geht sie weiter als lediglich die Schweigepflicht bezüglich Patientendaten. Diese Pflicht entfällt im Ausnahmefall, wenn der AN ein berechtigtes Interesse an der Nichteinhaltung darlegen kann. ▬ Die Pflicht der Nichtannahme von Geschenken besteht auch dann, wenn sich das Pflegepersonal dadurch nicht zur Bevorzugung der Zuwendenden bestimmen lässt. Zuwendungen nach Abschluss der Pflegetätigkeit oder zu besonderen Anlässen (z. B. Weihnachten) sind davon ausgenommen. Es sollte jedoch eine Mitteilung darüber an die Vorgesetzten ergehen (s. a. BAT). ▬ Nebentätigkeiten sind i. d. R. anzuzeigen und nur im genehmigten Umfang auszuüben (Nebentätigkeitenverbot). Dies ergibt sich aus der möglichen Beeinträchtigung der Arbeits-
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
leistung durch solche Tätigkeiten. Diese ist in jedem Fall zu vermeiden. Nebentätigkeiten, die in Wettbewerb mit dem AG treten, sind nicht zu unternehmen. ▬ Der AN hat den AG von allem in Kenntnis zu setzen, was er in Ausübung seiner Arbeit erfährt und in Zusammenhang mit einer ordnungsgemäßen Führung des Betriebes von Bedeutung ist (Informationspflichten). Dazu gehört die Einhaltung der Verkehrssicherungspflicht (z. B. Kenntnisse über drohende Schädigungen durch Geräte, defekte Gebäudeteile, Gefahrensituationen etc.), die Krankmeldung, ebenso wie die Meldung der Lohnüberzahlung oder Anzeige von kollegialem Fehlverhalten Untergebener bzw. bei drohendem großem Schaden.
Wenn M. nach Abschluss seines Arbeitsvertrages mit der bestehenden Leitungsstruktur nicht zurecht kommt und schon sehr bald beginnt, seine Vorstellungen von kooperativer Leitung über freiberufliche Beratung anderer vergleichbarer Einrichtungen zu verwirklichen sowie außerdem ohne Rücksprache mit der Heimleitung die Schließphase der Lifttüren verlängern lässt, weil einige Bewohner und Bewohnerinnen bereits eingeklemmt wurden, stellt sich die Frage nach der Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten. Bezüglich seiner Beratungstätigkeit liegt wohl eine Vertragsverletzung vor, da sie den Wettbewerb von Einrichtungen in ein und demselben Arbeitsfeld betrifft. Dies gilt auch dann, wenn die Nebentätigkeit seine Arbeitsleistung für seinen AG nicht beeinträchtigt und er erfolglos versucht hat, mehr Kooperation zwischen ihm und der Heimleiterin auf den Weg
zu bringen. Anders wäre der Fall zu beurteilen, hätte M. diese Problematik mit Vertretern seines AG besprochen und diese hätten ihm – etwa zur Erhaltung seiner hervorragenden Mitarbeit – zugesagt, diese Nebentätigkeiten durchführen zu können. Dabei müsste M. allerdings darauf achten, dass es vertretungsberechtigte AG-Vertreter waren. Auch wäre ihm wegen der Nachweisbarkeit zu raten, diese Zusage schriftlich zu fixieren (u. U. sogar arbeitsvertragliches Erfordernis der schriftlichen Form von Nebenabreden). Im Fall einer Vertragsverletzung läge ein Kündigungsgrund, wohl sogar ein Grund zu außerordentlicher Kündigung vor, da der Träger bei Wettbewerbsschädigung das Vertrauen in seinen Mitarbeiter verloren hat, unterstützt dieser hinter seinem Rücken die Konkurrenz. Daneben besteht auch Schadenersatzpflicht wegen Verletzung des Arbeitsvertrages, wobei der Umfang des Schadens hier sehr schwer zu ermitteln sein wird, weil selbst ein Rückgang der Belegzahlen im Heim bei Zunahme der Belegzahlen in anderen Einrichtungen nicht als (allein) durch die Beratungstätigkeit von M. verursacht nachweisbar sein wird. Der Auftrag bezüglich der Lifttüren fällt dann in seinen Kompetenzbereich, wenn es sich um den Lift des Pflegeheimes handelt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob er diesbezüglich nur eine Informationspflicht an die Heimleitung hat, die sodann den Auftrag vergeben muss, oder ob Gesamtverantwortung bezüglich des Pflegeheimes auch die Vollmacht zur Auftragserteilung beinhaltet. Wenn autonomes Agierenlassen seitens der Heimleitung auch bisher schon bedeutete, dass M. solche Aufträge erteilen durfte, dann ist auch in diesem Fall davon auszugehen, dass M. stillschweigend dazu berechtigt ist. Allerdings wird in jedem Fall eine Informationspflicht dahingehend vorliegen, dass und warum der Auftrag erteilt wurde, denn Pflegesatzfragen und damit Haushaltsfragen liegen
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Folgen der Verletzung einer Treuepflicht können einerseits Abmahnung, Kündigung und außerordentliche Kündigung (S. 56) sein, andererseits Schadensersatzverpflichtung wegen Verletzung des Arbeitsvertrages. Beispiel Fallerweiterung
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bei der Heimleitung, die zur Wahrnehmung ihrer diesbezüglichen Verantwortung wenigstens den Grund für die entstandenen Kosten kennen muss, auch um solche stillschweigenden Bevollmächtigungen beizubehalten oder bei fehlerhafter Verwendung aufzuheben. Handelte es sich (auch) um den Lift des Wohnheims, muss M. seine Kenntnis von der Gefahrenquelle der Heimleitung mitteilen. Bezüglich des Wohnheims wird ihm nach der bestehenden Aufgaben- und Verantwortungsverteilung außer im unaufschiebbaren Vertretungsfall die Auftragserteilung nicht zustehen. Kommt M. also diesen Informationspflichten nicht nach, verletzt er seine Pflichten aus seinem Arbeitsvertrag. Dies könnte in diesem Fall eine Abmahnung nach sich ziehen. Ein Schadenersatz kommt wohl nicht in Frage, weil der Auftrag zur Gefahrenbeseitigung erforderlich war, es sei denn M. hat sich nicht um einen kostengünstigen Unternehmer bemüht. Dies würde wohl dann entfallen, wenn die Gefahr für die Bewohner derart bestand, dass sofortiges Abstellen zwingend geboten war.
Zu den Nebenpflichten des AG (Fürsorgepflichten) des AG gehören: ▬ Die Sozialversicherungspflicht umfasst die ordnungsgemäße Abführung und Dokumentation ▬ Neben der Einhaltung der gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen (z. B. Arbeitsschutzgesetz, Jugendarbeitsschutzgesetz, Arbeitsstättenverordnung etc.) umfasst die Nebenpflicht des Schutzes von Leben und Gesundheit am Arbeitsplatz generell eine Verantwortung für die Mitarbeiter dahingehend, diese nicht im Betrieb zu überfordern, sei dies durch zu viele angeordnete Überstunden, zu wenig Ruhepausen, durch zugewiesene Tätigkeiten, welche nicht den Fähigkeiten des einzelnen Arbeitnehmers entsprechen, durch nicht gewährten Urlaub etc. Der AG muss sogar dafür sorgen, dass der Urlaub eingebracht werden kann. Die Gestaltung des Arbeitsplatzes muss den Normen der Arbeitssicherheit entsprechen
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(z. B. bei EDV-Arbeitsplätzen) und darf keinesfalls gesundheitsgefährdend sein. Die für die jeweilige Tätigkeit notwendigen Geräte und Einrichtungen (z. B. Essenwägen, Türen, Handläufe) müssen technisch in Ordnung sein und dürfen Mitarbeiter nicht gefährden. Die Intimsphäre der Mitarbeiter muss geschützt sein. So darf keine Videoüberwachung der Arbeit und der Pausen erfolgen. Auch trägt der AG Mitverantwortung bei der Vermeidung sexueller Belästigung im Betrieb. Dies gehört jedoch zu den in der Praxis besonders schwer zu handhabenden Verpflichtungen. Sind jedoch solche Handlungen von Mitarbeitern oder Mitarbeiterinnen nachgewiesen, muss der AG für die Vermeidung von Wiederholungen sorgen. Dasselbe gilt für Fälle von »Mobbing« im Betrieb. Folge dieser Verpflichtung beim Verdacht solcher Vorkommnisse ist intensivierte Personalbetreuung der zuständigen Leitungspersonen. ▬ Zur ordnungsgemäßen Führung der Arbeitspapiere gehört ein entsprechendes Führen der Personalakte einschließlich des Gewährens des Rechtes auf Einsichtnahme und Gegendarstellung bei streitigem Akteninhalt. Die erforderlichen Arbeitspapiere (z. B. Sozialversicherungsausweis, Steuerkarte etc.) sind am Ende des Arbeitsverhältnisses mit den entsprechenden Eintragungen zu versehen und auszuhändigen. Es besteht ein Anspruch auf ein Arbeitszeugnis. Auf Zwischenzeugnis besteht ein solcher nur, wenn berechtigtes Interesse des AN vorliegt, etwa bei Kündigungsandrohung, Vorgesetztenwechsel oder anstehenden betrieblichen Veränderungen. ▬ Recht auf Gleichbehandlung: Das Diskriminierungsverbot ist anerkannter Maßstab im Arbeitsrecht. Dies gilt vor allem bezüglich der Entlohnung als Gebot gleicher Entlohnung für gleiche Arbeit. Aber auch darüber hinaus ist es zu beachten, etwa bei der Gewährung von Fortbildung. Ergibt sich kein sachlicher Differenzierungsgrund, z. B. in der Arbeitsleistung, Leistungsbereitschaft oder bezüglich der betrieblichen Verwendung, sind Fortbildungen an vergleichbare Arbeitnehmer in gleicher Weise anzubieten.
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
> Bei Verletzung von Fürsorgepflichten besteht
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Einklagbarkeit des jeweiligen Anspruchs, Leistungsverweigerungsrecht mit Lohnfortzahlungspflicht, wenn bei fehlender Fürsorgepflicht die Arbeitsleistung nicht mehr zumutbar ist, sowie Schadensersatz wegen Verletzung des Arbeitvertrages.
Stellt M. bei Einsichtnahme seiner Personalakte fest, die Angelegenheit bezüglich der Auftragserteilung Pflegeheimlift ist seiner Meinung nach nicht richtig dokumentiert, seine Gegendarstellung daraufhin nicht in die Personalakte aufgenommen, wird er dies über Klage vor dem Arbeitsgericht durchsetzen können. Eine Verweigerung seiner Arbeitsleistung wird ihm diesbezüglich nicht zustehen, wenn er im Übrigen weiter unter üblichen Bedingungen seiner Tätigkeit nachgehen kann. Schaden dürfte er bis zur Aufnahme seiner Gegendarstellung in die Personalakte nicht erlitten haben, es sei denn, die einseitige Darstellung habe etwa zu seiner Kündigung geführt, gegen die er nun mit eigenem Aufwand vorgehen muss.
2.3.3 Beendigung eines Arbeitsvertrages Beispiel Fallerweiterung Im weiteren Verlauf verzeichnet der Heimbetrieb fortwährend Negativbilanzen und der Betrieb soll durch den bisherigen Träger eingestellt werden. Ein großer Wohlfahrtsverband hat jedoch Übernahmeinteresse, weil er glaubt die Einrichtung wirtschaftlich führen zu können. Der Arbeitsvertrag mit Herrn M. soll nun beendet werden. Die wichtigsten Formen der Beendigung eines Arbeitsvertrages sind: ▬ die Anfechtung; ▬ der Zeitablauf oder Bedingungseintritt; ▬ der Aufhebungsvertrag; ▬ die ordentliche und die außerordentliche Kündigung.
Die Anfechtung Ein Arbeitsvertrag kann wegen Irrtum (§§ 119 ff. BGB) oder arglistiger Täuschung angefochten werden (S. 47). Folge einer Anfechtung ist der Ersatz des Schadens, den der Vertragspartner erlitten hat, weil er auf die Gültigkeit des Arbeitsvertrages vertraut hat (z. B. Kosten einer neuen Stellenausschreibung). Zeitablauf oder Bedingungseintritt Ist ein Arbeitsverhältnis zeitlich befristet oder an eine auflösende Bedingung der Zweckerreichung geknüpft (z. B. Beendigung eines bestimmten Projektes, Qualitätszirkels etc.), endet es ohne Kündigung zum Datumseintritt (§ 620 Abs. 1 BGB, § 15 Abs. 1 TzBfG) und die Bestimmungen des Teilzeitund Befristungsgesetzes (TzBfG) sind zu beachten (§ 620 Abs. 3 BGB). So sieht dieses Gesetz für den Bedingungseintritt der Zweckerreichung des Arbeitsvertrages den vorherigen Hinweis darauf vor (endet frühestens 2 Wochen nach Unterrichtung über die Zweckerreichung, § 15 Abs. 2 TzBfG), damit bei nicht zeitlich bestimmtem Ende des Arbeitsvertrages der AN den Vertragsablauf rechtzeitig erkennen kann. Das TzBfG ermöglicht befristete Arbeitsverträge mit und ohne sachlichen Grund (§ 14 TzBfG). Allerdings sind Befristungen ohne sachlichen Grund (also rein zeitliche) beschränkt auf eine Höchstdauer von zwei Jahren und auf Neueinstellungen (§ 14 Abs. 2 TzBfG, Ausnahme Altersgrenze des § 14 Abs. 3 TzBfG: 58. Lebensjahr). Innerhalb der zwei Jahre Höchstdauer kann ein Arbeitsvertrag maximal dreimal verlängert werden. Für Befristung mit sachlichem Grund (Zweckbefristung) nennt der Gesetzgeber exemplarisch Fälle in § 14 Abs. 1 TzBfG. Somit stellt das TzBfG gleichzeitig eine Regelung dar, die klären soll, ob der vertraglich bestimmte Zeitablauf bzw. Zweckablauf überhaupt rechtmäßig ist. Nach § 14 Abs. 2 S. 3 TzBfG ist jedoch zu beachten, dass über Tarifverträge abweichende Regelungen zum TzBfG gelten können. Dies gilt etwa für den BAT, der insbesondere zur Höchstdauer der zeitlichen Befristung abweichende Regelungen vorsieht.
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Aufhebungsvertrag Jeder Arbeitsvertrag kann schriftlich aufgehoben werden ohne Einhaltung von Kündigungsfristen (§ 623 BGB). Dies ist deshalb der Fall, weil die vertragliche Aufhebung die Willenserklärungen von AN und AG erfordert, also eine Übereinstimmung der Vertragspartner vorliegen muss. Nach den Grundsätzen der Vertragsfreiheit kann eine solche Übereinstimmung durch beiderseitige Unterschriftsleistung mit Wirkung zu jedem vereinbarten Zeitpunkt vertraglich festgehalten werden. Auch die Bedingungen für diese Aufhebung sind im Konsensfall wirksam (Abfindungszahlungen, Urlaubsabgeltung etc). Kündigung Die Kündigung ist eine einseitige Willenserklärung eines Vertragspartners im Unterschied zum Aufhebungsvertrag. Sie bedarf der Schriftform (§ 623 BGB). Dabei sind auch die Regelungen zur Mitbestimmung zu beachten (Mitwirkungsrechte von Betriebsrat, Personalrat oder Mitarbeitervertretung). Ordentliche Kündigung
Zu einer ordentlichen Kündigung bedarf es grundsätzlich keines Kündigungsgrundes, wohl aber der Einhaltung der Kündigungsfristen (§ 622 BGB). Zu den Kündigungsfristen können tarifvertragliche Regelungen eigene Bestimmungen enthalten (z. B. § 53 BAT) oder auch einzelarbeitsvertragliche Abweichungen erfolgen (§ 622 V BGB) bzw. über arbeitsvertraglich zur Geltung gebrachte Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR der Wohlfahrtsverbände) eigene Fristbestimmungen zum Tragen kommen. Des Weiteren hängt jedoch die Gültigkeit der ordentlichen Kündigung davon ab, ob der AG geltende Kündigungsschutzvorschriften eingehalten hat. Solche sind: ▬ das Kündigungsschutzgesetz (KSchG); ▬ das Mutterschutzgesetz (MSchG); ▬ die Bestimmungen für Schwerbehinderte im SGB IX (§ 85); ▬ das Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG). Das Kündigungsschutzgesetz. Das KSchG ist an-
wendbar, wenn ein Arbeitsverhältnis länger als 6 Monate besteht und im Betrieb mehr als 10 Voll-
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beschäftigte angestellt sind. Diese neue Regelung gilt für AN, welche nach dem 31.12.2003 (Stichtag) eingestellt wurden (§ 23 Abs. 1 S. 3 KSchG). AN mit früherem Anstellungszeitpunkt haben nach § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG weiterhin Kündigungsschutz in Betrieben mit mehr als 5 Mitarbeitern. Bei der Ermittlung dieser Zahl rechnen die nach dem Stichtag Eingestellten nicht mit. Auszubildende und geringfügig Beschäftigte sind generell nicht hinzuzuzählen, Teilzeitbeschäftigte ab 50% werden anteilmäßig berücksichtigt (§ 23 Abs. 1 S. 4 KSchG). Bei Anwendbarkeit ist die ordentliche Kündigung angreifbar, wenn sie nicht sozial gerechtfertigt ist (§ 1 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 KSchG). Soziale Rechtfertigung kann danach gegeben sein, wenn die Kündigung ihre Ursache hat ▬ in der Person der AN (personenbedingte Kündigung); ▬ im Verhalten des AN (verhaltensbedingte Kündigung); ▬ bei dringenden betrieblichen Erfordernissen (betriebsbedingte Kündigung). > In allen Fällen ist davon auszugehen, dass die Kündigung das letzte Mittel ist, also Umsetzung unmöglich oder das konkrete Problem nicht beseitigend ist. Personenbedingt kann eine Kündigung sein, wenn
eine mangelnde Eignung des AN für die vereinbarte Tätigkeit vorliegt. Eine solche kann sich auch ergeben aus Krankheit (z. B. Sucht, chronische Erkrankung), hierbei unterliegt die Beurteilung jedoch strengen Anforderungen seitens der Rechtsprechung. Die Krankheit muss sich als lang anhaltende Dauererkrankung oder sehr viele Kurzerkrankungen darstellen, eine negative Prognose haben, erhebliche Betriebsstörungen mit sich bringen und nach umfassender Interessenabwägung (z. B. zwischen der finanziellen Leistungsstärke des AG und der Dauer der Betriebszugehörigkeit des AN) in der Zukunft für den Betrieb unzumutbar sein. Verhaltensbedingt ist eine Kündigung, wenn eine Vertragsverletzung im Leistungsbereich oder im Vertrauensbereich vorliegt. Da die Kündigung letztes Mittel ist, wird in der Regel eine einmalige Vertragsverletzung diese noch nicht zur Folge haben, es sei denn es handelt sich um besonders gravierende Vorkommnisse.
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Kapitel 2 · Pflegemanagement – Rechtliche Grundlagen
Kündigungsvorbereitend soll in diesem Zusammenhang die Abmahnung sein, wenn eine erste Vertragsverletzung registriert wird. Die Abmahnung hat die Vertragsverletzung genau darzustellen (Hinweisfunktion) und deutlich zu machen, dass eine Wiederholung eines vergleichbaren Fehlverhaltens die Kündigung nach sich zieht (Warnfunktion). Abmahnungsberechtigt sind alle Weisungsbefugten in der Regel ohne Mitbestimmungsbeteiligung (Ausnahme: Inhalte, die einer Beurteilung des AN gleichkommen). Bei unzutreffenden Inhalten kann eine Gegendarstellung oder Rücknahme der Abmahnung, nötigenfalls auf dem Klageweg, verlangt werden. > Somit sind die Voraussetzungen einer verhaltensbedingten Kündigung in der Regel eine Abmahnung, ein ausreichender Zeitraum zur positiven Veränderung des Verhaltens sowie eine vergleichbare Vertragsverletzung des AN, welche nicht zu weit in der Vergangenheit liegt.
Die betriebsbedingte Kündigung setzt nachweisbare zwingende betriebliche Erfordernisse voraus, also etwa Schließung von Stationen, Betrieben, tatsächliche negative Bilanzen oder Insolvenz. Auch hier ist die Kündigung das letzte Mittel, d. h. weitere Voraussetzungen sind die Unmöglichkeit der Umsetzung der Mitarbeiter/innen, kein anderweitiger Abbau von Kapazitäten, Unmöglichkeit der Umschulung sowie Sozialauswahl über einen Sozialplan. Dieser hat darzustellen, wer und weshalb sozial schützenswert ist. Kriterien dabei sind etwa Zeitraum der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Personenstand, Zahl der Unterhaltsverpflichteten. In den Zusammenhang der betriebsbedingten Kündigung gehört die Problematik des Betriebsüberganges. Nach § 613a BGB sind bei Schließung eines Betriebes mit direkter Übernahme durch einen anderen Träger/Betreiber die Arbeitsverhältnisse zu übernehmen. Dies bedeutet, dass Betriebsübernahme keine Begründung für eine betriebsbedingte Kündigung darstellt. Wenn also in unserer Fallerweiterung zu Beginn M. gekündigt werden soll, weil er einen unbefristeten Vertrag hat und einer Auflösung des Vertrages nicht zustimmt, kann er einer Kündigung widersprechen, wenn der Heimbetrieb durch
den Wohlfahrtsverband vom ursprünglichen Träger übernommen wird. Ein anderer Kündigungsgrund als das Interesse daran, die Stelle durch den neuen Träger neu zu besetzen, ist nicht genannt. Dies ist jedoch für eine betriebsbedingte Kündigung nicht ausreichend, auch wenn Negativbilanzen vorliegen, da hier eine Betriebsübernahme vorliegt, welche den Betrieb ohne Einschnitte in seine Personalstruktur (etwa Stellenstreichungen, wobei die Stelle der PDL in einem Heim ohnehin nicht gestrichen werden könnte) weiterbestehen lässt. Für fehlerhafte Kündigungen, die weder personen-, verhaltens-, noch betriebsbedingt sind, gilt eine Frist von drei Wochen ab Kündigungszugang, in der gegen sie vorgegangen werden kann (§ 7 KSchG). Verstreicht diese Frist ohne ein Vorgehen, bleibt die fehlerhafte Kündigung dennoch von Anfang an wirksam. Kündigungschutz genießen auch Mitglieder von Betriebsräten, Personalvertretungen oder Jugendund Auszubildendenvertretungen (§ 15 KSchG). Des Weiteren sind folgende Sonderregelungen zu berücksichtigen: ▬ Mutterschutzgesetz: Während der Schwangerschaft und bis zum Ablauf von vier Monaten nach der Entbindung besteht für Frauen Kündigungschutz nach § 9 Abs. 1 MuSchG. ▬ Regelungen für Schwerbehinderte: Nach § 85 SGB IX bedarf die Kündigung der Zustimmung des Integrationsamtes. Liegt sie vor, kann nach erfolgter Mitbestimmung (z. B. § 102 BetrVG) und Anhörung der Schwerbehindertenvertretung (§ 95 SGB IX) die Kündigung ausgesprochen werden. ▬ Bundeserziehungsgeldgesetz: Sechs Wochen vor und während des Erziehungsurlaubs besteht Kündigungsschutz nach § 18 BErzGG. Außerordentliche Kündigung
Die außerordentliche Kündigung erfordert ausnahmslos das Vorliegen eines wichtigen Grundes (§ 626 BGB). Zu beachten sind die tarifvertraglichen Regelungen (BAT) bzw. die arbeitsvertraglichen (z. B. AVR), die aber ebenfalls dieses Erfordernis vorsehen. Diese Kündigungsform kann fristlos oder mit bestimmten Fristvorgaben ausgesprochen werden. Sie muss innerhalb von zwei Wochen nach
57 Literatur
der Kenntnisnahme von den kündigungsberechtigten Tatsachen zugehen (§ 626 Abs. 2 BGB). Ein wichtiger Kündigungsgrund liegt dann vor, wenn einem Vertragsteil unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles und Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist oder dem Zeitpunkt des Ablaufs des befristeten Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Wichtige Kündigungsgründe sind Arbeitspflichtverletzungen (z. B. unentschuldigtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz, Arbeitsverweigerung, nicht genehmigter Urlaubsantritt), Treuepflichtverletzungen (z. B. Vollmachtsmissbrauch, Wettbewerbsverstöße), strafbare Handlungen (z. B. Diebstahl am Arbeitsplatz, vorsätzliche Sachbeschädigung, Körperverletzung, Beleidigung, Verleumdung). Ergibt sich, dass kein wichtiger Grund vorliegt, werden außerordentliche Kündigungen in ordentliche umgedeutet. Deshalb ist hier auch stets die Drei-Wochen-Frist der Kündigungsschutzklage zu beachten. Ebenso sind bei außerordentlichen Kündigungen die besonderen Kündigungsschutzregelungen (z. B. MuSchG) im Auge zu behalten.
? Wissens- und Transferfragen 1. Welche Rechtsträger werden unterschieden? 2. Nennen Sie die unterschiedlichen Formen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts. 3. Zeigen Sie Kennzeichen dieser Formen auf. 4. Mit welchen dieser Träger können Sie im Pflegemanagement in welchem Zusammenhang zu tun haben? 5. Stellen Sie die Hauptformen freigemeinnütziger Träger dar und die Gründe für die Wahl dieser Formen. 6. Was bedeutet Gemeinnützigkeit und wer entscheidet über ihr Vorliegen bei juristischen Personen? 7. Grundsätze der Gemeinnützigkeit? Wo werden Sie für die jeweilige juristische Person festgelegt?
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2
8. Was versteht man unter einem Zweckbetrieb im Sinne der Abgabenordnung? 9. Worin sehen Sie den Unterschied von Spenden und Sponsoring? 10. Nennen Sie Rechtsfolgen unterschiedlicher Trägerschaften. 11. Unterscheiden Sie vertragliche und deliktische Haftung. 12. Welche Verschuldensformen kennen Sie? Geben Sie dafür Definitionen. 13. Welche Unterschiede erkennen Sie bei der Haftung des jeweiligen Trägers und der Haftung der Mitarbeiter/innen? 14. Wer trägt die Beweislast für die Haftung des AN aus Arbeitsvertrag? 15. Nach welchen Kernkriterien wird beurteilt, ob ein Arbeitsverhältnis vorliegt? 16. Legen Sie Folgen mangelhafter Vertragsverhandlungen dar. 17. Welche Ansprüche können sich aus einer Bewerbung ergeben? 18. Regeln der Mitbestimmung bei Abschluss eines Arbeitsvertrages? 19. Besondere gesetzliche Voraussetzungen bei Einstellung von Führungspersonal im Bereich der Pflege? 20. Welche Pflichten ergeben sich für die Partner im Arbeitsvertrag? 21. Wie kann ein Arbeitsvertrag beendet werden? Was ist dabei zu beachten?
Literatur BGHZ, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs Bd 47, S 172 Kerres A, Seeberger B (Hrsg) (2001) Lehrbuch Pflegemanagement II. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Körber HE (2003) Verhindert § 2 Abs. 2 der Heimpersonalverordnung die Einstellung von Absolventen des Fachhochschulstudiengangs Pflegemanagement als Heimleitung? PflegeImpuls 3: 65 ff NJW Neue Juristische Wochenschrift (2001) Urteil des Bundesgerichtshofs Aktenzeichen II ZR 331/00. NJW 2001: 1056 Ott S (2002) Vereine gründen und erfolgreich führen, 9. Aufl. Beck, München Wörlen R (2002) Handelsrecht mit Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. Heymanns, Köln Wörlen/Kokemoor – Arbeitsrecht, C. Heymanns Verlag , Köln– Berlin–München 2004
3 Einführung in die Systemtheorie W. Krompholz-Schink 3.1
Problematisierung – 59
3.8
3.2
System
Wissens- und Transferfragen
3.3
Komplexe Systeme
3.4
Konstruktivismus
3.5
Systemgrenzen
3.6
Organisation als Sinnsystem
3.7
Systemtheoretische Erwägungen für Pflegemanager – 74
– 62
Literatur
– 64
– 87
– 87
– 68 – 70 – 72
⚉ Zu jedem menschlichen Problem gibt es eine Lösung, die einfach, sauber und falsch ist. (Walter Lippmann)
3.1
Systemtheorie? – 85
Problematisierung
Systeme und begriffliche Fragmente der Systemtheorie begegnen uns allenthalben. Die Alltagssprache kennt ein Sonnensystem, ein politisches System, ein Währungssystem, ein Gesundheitssystem. Seit der Computerisierung der Gesellschaft reden wir vom binären Zahlensystem, von Systemkomponenten etc. Ein System gilt als etwas Geordnetes, als ein logisch Zusammengefügtes und harmonisch Ablaufendes, als ein Ausgewogenes oder dieses Ausgewogene (Homöostase) Anstrebendes. Auch in die Organisationstheorie hat die Systemtheorie Eingang gefunden und die Sichtweise der Organisationstheoretiker wie ihre Empfehlungen an das Management nachhaltig verändert. Welche Relevanz hat die Systemtheorie für das Management und hier speziell das Pflegemanagement?
3.1.1 Entwicklung der Organisations-
theorie Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrachtete man die Organisation als Maschine. Federführend für die maschinenanaloge Sicht der Organisation war Frederick W. Taylor und sein 1911 erschienenes Werk »The Principles Of Scientific Management«. Taylor war Ingenieur und aus seiner Perspektive heraus waren Organisationen konstruierbar wie Maschinen. Entsprechend waren seine Prinzipien der Betriebsführung der Naturwissenschaft entliehen und an den Naturgesetzen orientiert. Organisationen galten als »bewusst geplante, rational gestaltete Systeme«. (Bardmann 1994, S. 263) Dieses technisch dominierte Paradigma der Organisationstheorie hatte spezielle Ausformungen der Sicht des Managements und der Rolle des Mitarbeitenden in Organisationen zur Folge. Die Art des Managements wird als der technomorphe Ansatz bezeichnet.
»
In ihm herrscht die Vorstellung der Machbarkeit, Beherrschbarkeit und Steuerbarkeit der organisatorischen Ereignisse und der Kontrollierbarkeit des Geschehens. Der Manager tut so, als stünde er neben oder über der von ihm
60
Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
geplanten und gelenkten Organisation, als könne er wie ein Maschinist den Ablauf der Organisation kontrollieren, überwachen und aufgrund seiner genauen Kenntnisse ihrer Konstruktion im Falle von Störungen eingreifen. ... Die Funktionen von Mitarbeitern werden nach dem technomorphen Ansatz durch umfassende Vorschriften streng und präzise normiert, so dass den Personen im Extremfall nur noch mechanische repetitive Verrichtungen abverlangt werden. Als Einzelteil einer großen Maschine wird der Einzelne zum »Rädchen im Getriebe«. Sein Beitrag zum Ganzen ist auf ein fremdbestimmtes Minimalverhalten reduziert, was die angestrebte Voraussagbarkeit und präzise Berechenbarkeit eines rationalen Funktionsablaufs steigern soll (Bardmann 1994, S. 263 f.)«.
3
Aus diesem Gedankengebäude heraus entwickelte sich ein Mythos, der, kurioserweise die Zeiten überdauernd, bis in die Jetztzeit fortwirkt und gerade in der Pflege ein neues Wirkungsfeld findet.
»
Als »managerial megamyth« umfasst er folgende Überzeugungen: alle Arbeitsprozesse können und sollen rationalisiert, d. h. in ihre wesentlichen Bestandteile zerlegt und verstanden werden, um vollständige Kontrolle zu ermöglichen; die Mittel zur Erreichung der Ziele der Organisation erhalten soviel Aufmerksamkeit, dass die Ziele zurücktreten oder sogar vergessen werden; Effizienz und Vorhersagbarkeit sind die wichtigsten Gesichtspunkte (Adams u. Ingersoll, zit. in Pelzer 1995, S. 19)«.
Darauf wird später zurückzukommen sein. Erste Kratzer bekam das technomorph gedachte Organisationsgebilde durch die in den 20er und 30er Jahren durchgeführten Hawthorne-Experimente. Es handelte sich um eine Studie in den Hawthorne-Werken, die von 1924–1932 durchgeführt wurde. Ausgangspunkt war eine Versuchsanordnung, die dem Taylorschen Gedankengut entsprach. Untersucht wurde, ob es einen Zusammenhang zwischen künstlicher Arbeitsplatzbeleuchtung und der Produktivität der Arbeitnehmer gab. Mit der Steigerung der Beleuchtung ging tatsächlich eine Steigerung der Produktivität einher, jedoch sank die Produktivität nicht, wenn die Beleuchtung
wieder reduziert wurde. Dies führte bei den Wissenschaftlern zu Erklärungsnot. 1927 wurde ein Harvard-Forschungsteam unter der Leitung von Elton Mayo hinzugezogen. Mayo untersuchte nun den Zusammenhang zwischen Produktivität und anderen Variablen, wie der Länge der Ruhepausen, der Länge der Arbeitszeit und der Entlohnung. Wieder steigerte sich die Produktivität, auch als man zu Testzwecken zum Status quo ante zurückkehrte (nach Steinmann u. Schreyögg 1997). Die Forscher informierten daraufhin die Arbeiter über die Ziele, den Aufbau und die Ergebnisse ihrer Untersuchung. Die Arbeiter wurden zuerst in direkter Befragung, nach anfänglichen Widerständen dann in ungelenkten Interviews nach ihren Meinungen und Erfahrungen befragt. Dabei stellte sich heraus, dass die emotionale Seite, die im Taylorschen Konzept nicht vorkommt, ein wichtiger Faktor innerhalb einer Organisation ist.
»
Man fand zum Beispiel, dass es für den Einzelnen segensreich sein kann, wenn man ihm Gelegenheit gibt, sich auszusprechen und derart sich gleichsam »Luft zu machen«. Eine Arbeiterin, die sich lang und breit über das dürftige Kantinen-Essen beschwert hatte, kam nach wenigen Tagen zurück und dankte dem Interviewer überschwenglich, dass er ihre Klage vor die Werksleitung gebracht und damit eine so auffällige Verbesserung der Kantinen-Mahlzeit bewirkt habe. In Wahrheit war von seiten des Interviewers nichts dergleichen geschehen (Brown 1956, S. 56)«.
Die Studien hatten eine erweiterte Sicht der Organisation zur Folge. Sowohl die Betrachtung der Rolle des Managements als auch der Rolle der Arbeitnehmer änderten sich grundlegend.
»
Die Arbeit des Managements war damit nicht mehr auf die Planung und Kontrolle eines technischen Funktionssystems zu begrenzen, der Betrieb geriet als ein soziales System in den Blick, das in einen formalen Teil und in eine informelle Kehrseite gespalten war. ... Die offiziellen Statushierarchien waren durch informelle Hierarchien konterkariert und blo-
61 3.1 · Problematisierung
ckierten den Informationsfluss. ... das zentrale Problem waren nicht die technischen Bezüge, sondern die sozialen Beziehungen. ... Als praktische Reformmaßnahmen mussten Führungskräfte geschult, Personalberater und Betriebspsychologen engagiert, die Arbeitsplätze neu definiert und die Arbeiter in gewissen Grenzen an betrieblichen Entscheidungen mitbeteiligt werden (Bardmann 1994 S. 298 f.)«.
zu können, dass sie voll und ganz in den Dienst der formalen Organisationszwecke tritt« (Bardmann 1994, S. 301). Hier ist, obwohl verfrüht, eine erste systemtheoretische Erkenntnis einzufügen:
»
Infolge der Hawthorne-Experimente entstand die Human-Relations-Bewegung, die von der Prä-
misse ausging, dass glückliche Arbeitnehmer gute Leistungen brächten. Die Organisation wurde als Sozialraum entdeckt, die Organisationsgestaltung um das »social engineering« erweitert. Man beachte vor allem, dass auch die Gestaltung des Sozialraumes, der Human Relations, ingenieurwissenschaftlich konzipiert und so unter dem Aspekt des Machbaren und Planbaren betrachtet wurde. Die Rolle des Menschen in Organisationen wurde erforscht, die Regeln, nach denen informelle Gruppen operieren, explifiziert, die Rolle der Motivation und der Motivatoren erkundet und die Rolle des Vorgesetzten und die Wirkung seines Verhaltens mit Theorien unterfüttert, kurz, dies war der Einzug der Verhaltenswissenschaften in die Organisationsgestaltung. Nicht mehr nur der materielle Verdienst in Form von Lohnzahlungen, auch die Ausgestaltung sozialer Beziehungen tragen mit zur Steigerung der Produktivität bei.
»
So gesehen lässt sich dann auch kein Widerspruch mehr zwischen den Zielen der Mitarbeiter und den Zielen der Organisation ausmachen: Soziale und ökonomische Rationalität werden deckungsgleich (Steinmann u. Schreyögg 1997, S. 58)«.
Dies ist eine Idealvorstellung, die sich bis heute der Realisierung entzieht. So wie Taylor und frühe Denker des Managements dem Ideal der Konstruktion der Organisation als Maschine folgten, die Produktion aber nicht maschinenanalog den größtmöglichen Output unter minimalem Input erbrachte, da Menschen nicht wie Maschinen zu steuern sind, unterlag auch die Human-Relations-Bewegung einem Irrtum. »Er gründet in der Einredung, die vorgefundene ‘informale Organisation’; so beeinflussen
3
Formalität erzeugt Informalität, und ganz gleich wie und mit welchem Aufwand man von offizieller Seite her versucht, die informale Organisation wieder auf den Kurs der formalen zu bringen, genau dieser Versuch wird neue Informalität erzeugen (Bardmann 1994. S. 301 f.)«.
In den 40er und 50 Jahren wurde, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Biologie, der Organismus zum Leitbild der Organisation. Diese Metapher schien besser geeignet, der Komplexität in Unternehmen Rechnung zu tragen, als dies etwa die Maschinenmetapher bewerkstelligen konnte.
»
Für das Management von Organisationen bot es sich an, den menschlichen Körper, also einen speziellen, hochentwickelten Organismus, als Sinnbild für Organisationen heranzuziehen. Die Metapher stellt dann ab auf das Wunschbild eines harmonischen Zusammenspiels der Organe, der Individuen bzw. Abteilungen, die sich selbst zu einer funktionstüchtigen Einheit, dem »sozialen Körper« des Unternehmens fügen, das sich seinerseits auf die jeweilige innere wie äußere Umwelt aktiv einzustellen versucht. ... Schließlich ließ sich die organisatorisch vollzogene Trennung von Führung und Ausführung (Kopf- und Handarbeit) mit dem Sinnbild darstellen und rechtfertigen: auch der menschliche Körper zeichne sich dadurch aus, dass er die Sonderfunktion des Gehirns als oberste Entscheidungsinstanz nutze, um die Tätigkeit der Glieder zu koordinieren und so den Gesamtorganismus zu einem einheitlichen und sinnvollen Ganzen in der Welt zu integrieren (Bardmann 1994, S. 295)«.
Die Annahme, das Unternehmens wie Organismen funktionieren, war jedoch vorwiegend nach innen gerichtet, die Wechselwirkungen Unternehmen/ Umwelt waren nur rudimentärer Gegenstand der Betrachtung von Organisationsforschern und der Managern. Eine Erklärung von Wechselwirkungen sowohl innerhalb der Organisation wie auch im Verhältnis der Organisation zu ihrer Umwelt konn-
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3
Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
te erst die Systemtheorie in einem befriedigenden Ausmaß liefern. Nach der sehr verkürzten Übersicht der Entwicklung der Betrachtung von Organisationen im vergangenen Jahrhundert wenden wir uns jetzt unserem eigentlichen Gegenstand, der Systemtheorie zu.
3.1.2 Entwicklung der Systemtheorie
Die Systemtheorie entwickelte sich intern aus der Soziologie (Parsons), der Kybernetik (Wiener), der Informationstheorie (Shannon und Weaver) und der Biologie (von Bertalanffy).
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Die externen Faktoren liegen im Ausbruch zweier Weltkriege mit ihren militärischen, logistischen und ökonomischen Problemen, in den politischen und ökonomischen Problemen der Kriegszeit, im Wettbewerb der Systeme in der Periode zwischen den Kriegen und in der Nachkriegsära mit ihren Auswirkungen auf die riesigen Budgets für Militärforschung und Weltraumforschung (Jensen 1999, S. 359)«.
Seit ihrer Entwicklung hat die Systemtheorie viele Modifikationen erfahren, einhergehend mit Veränderungen und dem damit verbundenen Wissenszuwachs im technischen Bereich (Computer), im biologischen Bereich (Neurowissenschaften, Kognitionsbiologie etc.), im psychologischen Bereich (Kommunikationswissenschaften, Konstruktivismus), in der Soziologie (v. a. durch Luhmann) und in der Philosophie (u. a. Foucault, Lyotard, Welsch, Kittler). So kann grundsätzlich gesagt werden, dass die Systemtheorie einerseits weit über die einzelnen Wissenschaften hinausgreift, dass auf der anderen Seite aber jede Einzelwissenschaft eigene systemtheoretische Versionen entwickelt (man vergleiche die Vielzahl der Pflegetheorien, von denen gerade die Theorien der Neuzeit vielerlei systemtheoretische Implikationen haben), wobei bestimmte Elemente der Theorie jedoch in allen Theorievariationen gleich sind. Eine allgemeine Systemtheorie, die alle physikalischen, chemischen, biologischen und kognitiven Phänomene abdeckt, existiert bisher nicht. Die grundsätzlichen Elemente der Systemtheorie seien nun im Folgenden erklärt.
3.2
System
Eine einfache Definition eines Systems lautet: »Ein System ist ein aus Teilen bestehendes Ganzes« (Ulrich u. Probst 1991, S. 27). Eine Anhäufung von unterschiedlichen Elementen ist noch kein System. So wäre es vermessen, würde ich die bei Abfassung dieses Berichtes sich anhäufenden Reste von Rauchwaren in meinem Aschenbecher als »Kippensystem« bezeichnen. Damit aus den Teilen ein Ganzes wird, sind folgende Voraussetzungen notwendig:
»
▬ Das Ganze muss nach außen abgegrenzt sein, um sich von seiner Umwelt zu unterscheiden. ▬ Diese Abgrenzung geschieht durch die spezielle Anordnung und die Beziehungen der Einzelteile zueinander. ▬ Ordnen aber hat selber eine Ordnung. Es besteht aus Prozessen der Selektion, der Relationierung und der Steuerung. Um eine Unterscheidung zu machen, müssen wir 1) aus der Gesamtheit gegebener Elemente einige herausnehmen oder seligieren und 2) die Elemente in einer bestimmten Art und Weise untereinander ordnen oder relationieren. Erfüllt man diese zwei Bedingungen, dann hat man ein System. Ein System also besteht aus Elementen, die in bestimmten Relationen zueinander stehen, welche Relationen dann 3) bestimmte Operationen oder Prozesse auf Grund von Steuerung ermöglichen (Krieger 1998, S. 12).
Hierbei kommt der Unterscheidung eine wichtige Rolle zu. Sie ist der eigentliche, konstitutive Akt der Systemdefinition, die basale Operation des Denkens in Systemen. Ein System unterscheidet sich von seiner Umwelt. Hier kommt der Begriff der Komplexität ins Spiel. Gehen wir aus von einem Zustand absoluter Indifferenz, in dem nichts unterschieden und alles gleich gültig ist, bzw. dem klassischen Chaos. Alles ist möglich, und alles ist gleich möglich, also der absolut offene Möglichkeitshorizont. Hier ist nichts planbar, nichts voraussagbar, ein Zustand der absoluten Unberechenbarkeit und Gleichwahrscheinlichkeit.
63 3.2 · System
»
Das System bildet sich gegen das Chaos als Problemlösung. Die ersten Systeme am Anfang der Welt waren rein physikalisch. Das Prinzip ihrer Organisation waren die Naturgesetze, die physikalische, chemische Prozesse strukturierten. Um Umweltkomplexität zu bewältigen, muss das System Eigenkomplexität durch strukturelle Differenzierung bilden. Je mehr Eigenkomplexität ein System hat, desto mehr Umweltkomplexität kann es bewältigen (Krieger 1996, S. 33)«.
stellt er sich bewusst gegen die Entropie, versucht diese zu negieren (Flusser 1997, S. 224 ff.; 1998, S. 260). So betrachtet Flusser das Kultursystem und das Kommunikationssystem als den Versuch der Ausbildung eines negentropischen Speichers von Informationen, der sich stetig erneuert. > Zwischen einem System und seiner Umwelt gibt es immer ein Komplexitätsgefälle. Mit der Reduzierung der Komplexität geht einher, dass sich der Möglichkeitshorizont verengt, dass Möglichkeiten ausgeschlossen werden, dass aus dem amorphen Alles ein geformtes Etwas wird und dessen Verhalten durch den Ausschluss von Möglichkeiten berechenbarer, oder, anders gesagt, in bestimmtem Grade voraussagbar wird.
Statt des Gegensatzpaares Chaos – Ordnung wird zur Verdeutlichung der Systembildung auch das Gegensatzpaar Entropie – Negentropie verwendet, das ursprünglich aus der Thermodynamik stammt.
»
Entropie – genauer: ihr Gegenwert, die Negentropie – wird auch als Maß für die »Ordnung« oder »Organisiertheit« von systemischen Prozessen interpretiert. Ein stochastischer Prozess führt zu einem Zustand, in dem die relevanten Zustandswerte aller Elemente einer Gesamtheit statistisch gleichverteilt sind; diese Verteilung zeigt ein rein stochastisches Muster mit maximaler Entropie. Wirkt auf eine solche Menge ein systemischer Prozess ein, entsteht eine nicht zufällige Ordnung, deren statistische Wahrscheinlichkeit geringer ist als das Maximum der Entropie. Aus diesem Grund sind (nichtstochastische) Systeme stets Prozesse »fern vom Gleichgewicht«; gemeint ist das thermodynamische Gleichgewicht, bei dem keine Energie mehr verfügbar ist, um eine Ordnungsgestalt aufzubauen. Jedes erkennbare Muster (jede Ordnung) ist eine Folge oder eine Ausprägung negentropischer Prozesse. Systembildung erscheint als Gegenprinzip zum thermodynamischen Ordnungsaufbau (Jensen 1999)«.
Flusser vertritt die These, dass der Mensch aus dem Wissen seiner Endlichkeit heraus sich gegen diese Endlichkeit und gegen das damit verbundene Vergessenwerden stellt, indem er a) Gegenstände, Kulturobjekte herstellt, die als Informationsspeicher dienen und b) kommuniziert, um den Tod zu leugnen. Durch die Kumulation von Information
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Systeme sind auf allen denkbaren Ebenen zu finden. Es gibt physikalische, chemische, biologische und soziale Systeme, um hier die groben Oberbegriffe zu nennen. Je nach Relation können Systeme ihrerseits Elemente von anderen Systemen sein. Die Welt besteht also systemtheoretisch gesehen aus Systemen in Systemen. So ist das Gesundheitssystem Deutschlands eingebettet in das politische System der Republik. Das Krankenkassensystem ist eingebettet in das gesetzliche Versicherungssystem, das Krankenhaus als System ist eingebettet in das Gesundheitssystem, die Station als System ist eingebettet in das System Krankenhaus und der Patient liegt eingebettet im System Station in einem ihrer kleinsten Funktionseinheiten, nämlich im Bett. > Determinanten eines Systems sind somit ihre Elemente. Diese Elemente werden durch Organisation und Struktur zu einem übergeordneten Ganzen, das »mehr ist als die Summe seiner Teile« (Vester 1983, S. 19) ist.
»
Unter Organisation sind die Relationen zu verstehen, die zwischen den Bestandteilen von etwas gegeben sein müssen, damit es als Mitglied einer bestimmten Klasse erkannt wird. Unter der Struktur von etwas werden die Bestandteile und die Relationen verstanden, die in konkreter Weise eine bestimmte Einheit konstituieren und ihre Organisation verwirklichen. So besteht die Organisation zur Steue-
64
3
Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
rung des Wasserpegels in einem Spülkasten des Wasserklosetts aus den Relationen zwischen einem Gerät, das fähig ist, den Wasserpegel einzuschätzen, und einem Gerät, das fähig ist, den Wasserzufluss zu unterbinden. Im häuslichen WC wird diese Geräteklasse heute mit einem System aus verschiedenen Materialien wie Kunststoff und Metall verwirklicht, das aus einem Schwimmer und einem Durchflussventil besteht. Diese besondere Struktur könnte aber dadurch verändert werden, dass der Kunststoff durch Holz ersetzt wird, ohne dass damit die Organisation, die das Ding zu einem Spülkasten macht, betroffen wäre (Maturana u. Varela, 1987 S. 54)«. In unserem Fall wäre also Organisation das, was ein Krankenhaus zu einem Krankenhaus macht und beispielsweise von einer Bierbrauerei unterscheidet. Die Organisation eines Krankenhauses ist die funktionale Matrix, die, historisch entwickelt und durch Traditionen in unsere Zeit transportiert, jedoch durch die Zeiten spezifiziert, spezialisiert und zunehmend differenziert, jedem Krankenhaus zugrunde gelegt zu müssen gemeint wird, um das Spezifikum eines Krankenhauses zu erfüllen. Hierunter fallen die Verwaltung, die Pflege, die ärztliche Abteilung etc., wobei jedes dieser Subsysteme wiederum ein eigenes System darstellt und die miteinander derart verzahnt, oder besser gesagt, in Beziehung gesetzt sind, dass sie die Funktion eines Krankenhauses erfüllen können. Dabei muss festgehalten werden, dass es sich hier durchaus noch um einen virtuellen Entwurf handeln kann. Die Struktur ergibt sich aus der konkreten Erscheinungsform des Krankenhauses, aus der Hardware, mit der die in der Organisation vorgegebenen Entwürfe umkleidet oder ausgestattet sind. Es handelt sich also um die konkreten Menschen, die die in der Organisation vorgegebenen Funktionen Pforte, Pflege, Buchhaltung etc. ausfüllen und das Sachmaterial, mit dem diese Funktionsträger ausgestattet sind, um die ihnen von der Organisation zugedachten Aufgaben zu erfüllen, also um den Kugelschreiber des Pförtners ebenso wie um das Verbandsmaterial, das der Schwester zur Verfügung steht und das Skalpell des Chirurgen. Wie in Maturanas Definition lassen sich auch hier weiße
Bettlaken durch rosafarbige ersetzen oder Doktor Zwick durch Doktor Kneif, wie auch Schwester Bärbeißa durch Schwester Gutlind ersetzt werden kann, ohne das aus dem Krankenhaus eine Bierbrauerei wird. Eine einfache Form eines Systems ist die Maschine. Die Maschine besteht aus bestimmten Einzelteilen, die in ihrem Zusammenwirken eine bestimmte vorgesehene Funktion erfüllen. Sowohl über den Input als auch den Throughput als auch den Output entscheidet die Maschine nicht selbst. Was hineinkommt, was innen passiert und was herauskommt, unterliegt dem Willen des Konstrukteurs, der die Maschine zur Transformation von Zuständen des Inputs in andere Zustände, den Output, arrangiert hat. Eine Maschine hat keinen eigenen Willen (wovon der Laie nicht immer überzeugt ist!) und ist somit allopoietisch, d. h. fremderzeugend. Ihre Operationen sind vorgegeben, ihr Verhalten ist voraussagbar, ihr Programm liegt fest und kann nur durch Eingriffe von außen geändert werden. Ihre Funktion ist voraussagbar, der Output bei einem definierten Input berechenbar. Die Maschine ist trivial. > »Mit der Anzahl der einzelnen Elemente nehmen auch die Beziehungen dieser Elemente, zumal, wenn es sich bei den Elementen um Menschen handelt, wieder zu und somit auch die Komplexität, aus deren Reduzierung das System entstanden ist. »Komplexität wird definiert als Fähigkeit eines Systems, in einer gegebenen Zeitspanne eine große Zahl von verschiedenen Zuständen annehmen zu können« (Ulrich u. Probst 1995, S. 58).
3.3
Komplexe Systeme
Komplexe oder nichttriviale Systeme finden sich im Bereich des Lebendigen, etwa im Zuständigkeitsgebiet der Biologie. Als Beispiel sei hier die Theorie von Maturana und Varela aufgezeigt. Ausgangspunkt ist das Chaos, die Ursuppe. Aus dieser Ursuppe entstand durch eine Kette von Stofftransformationen das uns bekannte Universum, darunter auch die Erde. In der Geschichte der Erde fanden durch kosmische Gegeben-
65 3.3 · Komplexe Systeme
heiten wie etwa Meteoriteneinschläge und harte UV-und Gammastrahlung in Wechselwirkung mit irdischen Gegebenheiten, etwa Vulkanausbrüchen oder elektrischen Entladungen (Gewitter) ständig Prozesse statt, die die Moleküle einem beständigen Wandel und einer andauernden Diversifizierung unterwarfen. Wichtig für die Entstehung des Lebens war die Diversifizierung und Potenzierung von Kohlenstoffmolekülen, also organischen Molekülen, die durch Fähigkeit, entweder aus sich heraus oder unter Einschaltung anderer Elemente eine unbegrenzte Variationsbreite von unterschiedlichen Verbindungen eingehen können, die in ihrer Größe, Komplexität und räumlichen Anordnung ebenfalls unbegrenzt ist. Dadurch wurde »die Bildung von Netzwerken von molekularen Reaktionen möglich, die wiederum dieselben Klassen von Molekülen, aus denen sie selbst bestehen, erzeugen und integrieren, wobei sie sich im Prozess ihrer Verwirklichung gleichzeitig gegen den umgrenzenden Raum abgrenzen. Solche Netze und molekulare Interaktionen, welche sich selbst erzeugen und ihre eigenen Grenzen bestimmen, sind ... Lebewesen« (Maturana u. Varela 1987, S. 47). Hier kommt der Begriff der Selbsterzeugung ins Spiel, der für lebende Systeme konstitutiv ist.
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Unser Vorschlag ist, dass Lebewesen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen (griech. autos = selbst; poiein = machen) (Maturana u. Varela 1987, S. 50 f.)«.
Die autopoietische Organisation setzt gewisse Relationen voraus. Auf der Ebene der Zelle sind diese a) eine dynamische, kontinuierliche, wechselseitige Verbindung der molekularen Bestandteile (= Zellstoffwechsel) und b) ein Rand, eine Grenze für das Transformationsnetz im Raum, die jedoch ihrerseits am Transformationsprozess beteiligt ist, hier speziell eine Membran. Der Zellstoffwechsel produziert die Bestandteile, aus denen er zusammengesetzt ist, und die Bestandteile der Membran und die Membran ist die Voraussetzung dafür, dass der Stoffwechsel in dem Rahmen produzieren kann, der das Netzwerk als Einheit konstituiert.
3
Der Rand bedingt die Möglichkeit des Stoffwechsels, der Stoffwechsel bedingt die Möglichkeit des Randes, wobei das eine ohne das andere nicht zu denken ist.
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Die eigentümliche Charakteristik eines autopoietischen Systems ist, dass es sich sozusagen an seinen eigenen Schnürsenkeln emporzieht und sich mittels seiner eigenen Dynamik als unterschiedlich vom umliegenden Milieu konstituiert (Maturana u. Varela, 1987, S. 54)«.
Charakteristisch für Lebewesen ist, dass Produktion und Produkt identisch sind. Das Leben lebt sich. Die Reproduktion einer Zelle setzt voraus, dass ihre Organisation in verteilter, aber nicht abgeteilter Form vorliegt. Dadurch kann sich die Zelle teilen, ohne dass ihre Organisation verloren geht. Die Strukturen können jedoch variieren, da die Bestandteile zum Zeitpunkt der Teilung nicht gleichmäßig verteilt sind. Einige dieser Bestandteile sind zur Reproduktion der Zelle unerlässlich, wie etwa die DNS, deren Struktur nur gering variiert. Der Typ der durch Beteiligung der DNS synthetisierten Proteine hat sich im Lauf der Zeit stark verändert. Voraussetzung für die weitere Existenz der Zelle ist eine strukturelle Koppelung mit ihrem Milieu. Dieses Milieu können auch andere Zellen sein.
»
Ein operational und informational geschlossenes System aber kann die Umwelt an sich nicht »erkennen«, sondern nur auf Impulse, Störungen, Perturbationen auf Grund der eigenen Struktur reagieren. Hat nun das System die Fähigkeit, seine Struktur zu ändern, und ändert sich tatsächlich die Struktur des Systems durch Interaktionen mit seiner Umwelt so, dass das System seine Autopoiesis fortsetzen kann, dann sieht das für einen Beobachter so aus, als ob das System sich an seine Umwelt »angepasst« hat. ... Strukturelle Koppelung erklärt die »Übereinstimmung« zwischen System und Umwelt oder auch zwischen verschiedenen Systemen (Krieger 1998, S. 39f.)«.
Also finden strukturelle Koppelungen auch zwischen verschiedenen autopoietischen Einheiten statt, d. h. zwei oder mehrere Zellen bilden eine neue Einheit unter Aufrechterhaltung der jeweili-
66
Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
gen eigenen Einheit. Eine derartige Beziehung ist rekursiv, der Austausch oder die gegenseitige Einflussnahme findet aufgrund der informationalen Geschlossenheit durch den Rückgriff auf der einzelnen Einheit jeweils schon bekannte Werte statt.
3
»
Solange die Einheit nicht in eine destruktive Interaktion mit ihrem Milieu eintritt, werden wir als Beobachter zwischen der Struktur des Milieus und derjenigen der Einheit eine Verträglichkeit (Kompatibilität bzw. Kommensurabilität) feststellen. Solange diese Verträglichkeit vorliegt, wirken Milieu und Einheit füreinander als gegenseitige Quellen von Perturbation, und sie lösen gegenseitig beim jeweils anderen Zustandsveränderungen aus – ein ständiger Prozess, den wir als strukturelle Koppelung bezeichnet haben. So gibt es zum Beispiel in der Geschichte der strukturellen Koppelung zwischen den Abstammungen von Autos und Städten dramatische Veränderungen auf beiden Seiten, die sich bei jedem von ihnen als Ausdruck der jeweils eigenen strukturellen Dynamik im Zuge der selektiven Interaktion mit dem anderen ergeben (Maturana u. Varela 1987, S. 110)«.
Während die einzelne Zelle als autopoietisches System erster Ordnung zu betrachten ist, sind Zellen, die sich unter Einhaltung ihrer jeweils eigenen Grenzen durch strukturelle Koppelungen verbinden und neue Einheiten darstellen, also Metazeller, autopoietische Systeme zweiter Ordnung. Die Wechselwirkung zwischen System und Milieu (Umwelt) verläuft auf der Basis beiderseitiger Einflussnahme und Veränderung. Da zwar viele Möglichkeiten der beiderseitigen Einflussnahme und der daraus resultierenden Entwicklung denkbar sind, aber nur bestimmte Möglichkeiten sich verwirklichen, muss von einer Auswahl, einer Selektion ausgegangen werden. Nicht nur das Milieu wählt permanent die strukturellen Systemvarianten aus, die passen, sondern auch Systeme selektieren die strukturellen Milieuvarianten, die gerade passen. Die Organisation bleibt die gleiche, die Strukturen verändern sich. Maturana und Varela nennen diesen Prozess »strukturelles Driften«. Systeme entwickeln sich in unterschiedlichen Variationen, in dem die Prinzipien der Autopoiesis und
der Anpassung (strukturelle Koppelung) aufrechterhalten werden oder sie erlöschen. Zur Pluralität der Systeme:
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Es gibt kein »Überleben des Angepassteren«, sondern nur ein »Überleben des Angepassten«. Die Anpassung ist eine Folge notwendiger Bedingungen, die auf viele verschiedene Weisen erfüllt werden können, wobei es keine »beste« Weise gibt, einem Kriterium zu genügen, welches außerhalb des Überlebens zu suchen wäre. Die Unterschiede zwischen den Organismen offenbaren, dass es viele strukturelle Wege der Verwirklichung des Lebendigen gibt und nicht die Optimierung einer Beziehung oder eines Weges (Maturana u. Varela 1987, S. 125)«.
Jedes lebende System interagiert mit seiner Umwelt durch ein bestimmtes Verhalten. Verhalten wird definiert als »die Haltungs- und Standortveränderungen eines Lebewesens, die ein Beobachter als Bewegungen und Handlungen in Bezug auf eine bestimmte Umgebung (Milieu) beschreibt«(Maturana u. Varela, 1987, S. 150). Ist ein System mit einem Nervensystem ausgestattet, so erweitert dieses Nervensystem durch die Tatsache, dass sensorische mit motorischen Flächen durch ein Neuronennetz verbunden sind und dass diese Verbindungen viele Möglichkeiten der Interaktion haben, die Möglichkeiten des Systems, sich zu verhalten, in drastischer Weise. Das Nervensystem ist operational geschlossen.
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Das Nervensystem »empfängt« keine »Information«, wie man häufig sagt, es bringt vielmehr eine Welt hervor, indem es bestimmt, welche Konfigurationen des Milieus Perturbationen darstellen und welche Veränderungen diese im Organismus auslösen (Maturana u. Varela 1987, S. 185)«.
Dies bedeutet, dass das Gehirn als zentrale Recheninstanz kein originalgetreues Abbild der Welt »da draußen« hat, dass ihm Welt nicht in Form von innerer Repräsentation von äußerer Realität zugänglich ist, sondern dass das Gehirn seine kognitive Landkarte der Welt durch die Eindrücke errechnet, die ihm durch die sensorischen Nerven übertragen werden, wobei es selbst selektiert, welche Impulse als Störung zu werten sind und welche
67 3.3 · Komplexe Systeme
nicht. Das Nervensystem ist in sich geschlossen, gleichzeitig aber ein Bestandteil des Organismus und mit diesem in struktureller Koppelung verbunden – ein System im System. Bedingt durch die strukturelle Koppelung von Milieu und Organismus (mit Nervensystem) ergibt sich für den Organismus, dass er »in seinem kontinuierlichen Wandel in Einklang mit dem Wandel des Milieus als Resultat der Auswirkungen seiner Interaktionen bleibt. Dem Beobachter erscheint dies als adäquates Lernen. ... Der funktionierende Organismus ... selektiert diejenigen Strukturveränderungen, die ihm weiteres Operieren ermöglichen, oder er löst sich auf (Maturana u. Varela 1987, S. 186 f.).« Die Strukturveränderungen, die sich im Organismus durch Perturbationen ergeben und die von einem Beobachter als angemessenes Verhalten in einem bestimmten, vom Beobachter formulierten Kontext wahrgenommen werden, können als kognitive Handlung, also eine Handlung, die auf Erkenntnis beruht, verstanden werden.
»
Wenn in einem Organismus ein derart reiches und breitgefächertes Nervensystem vorliegt wie beim Menschen, erlauben seine Interaktionsbereiche das Entstehen neuer Phänomene, und zwar durch Herstellung neuer Dimensionen struktureller Koppelung. Beim Menschen macht dies letztlich die Sprache und das Selbstbewusstsein möglich. (Maturana u. Varela 1987, S. 192)«.
Hier sei ein kleiner Einschub erlaubt. Je komplexer ein System wird, desto größer ist das Bedürfnis, diese Komplexität zu bewältigen. Ab einem bestimmten Punkt erscheint eine neue Form von Ordnung, die aus den bisher geltenden Ordnungsprinzipien nicht erklärbar oder aus diesen ableitbar ist. Dies wird auf die Fähigkeit von Systemen, sich durch kontinuierliche Prozesse bei jeweils zunehmender Komplexität immer neu selbst zu organisieren, zurückgeführt. > Dieser Übergang ursprünglicher Ordnungen in eine qualitativ andere Ordnung wird mit Emergenz [»globale Kooperation, die spontan in Erscheinung tritt« (Varela 1992, S. 127)] umschrieben und gilt als der grundlegende Prozess der Evolution.
3
Eine strukturelle Koppelung dritter Ordnung tritt auf, wenn Organismen mit Nervensystemen gemeinsam interagieren, ohne dass der jeweilige Organismus seine Organisation und Anpassung aufgibt. Die Koppelung dritter Ordnung führt zur Bildung sozialer Systeme, die sich in ihrem Verhalten koordinieren. Kommunikation wird definiert als ein Abstimmungsverhalten, resultierend aus der sozialen Koppelung. Das Mittel dieser Koordination ist die Sprache. Zwar gibt es auch unter tierischen Sozietäten Phänomene der Informationsvermittlung, die als Sprache gelten können. Das spezifisch Menschliche ist aber die Sprache, der semantische Code in der uns bekannten Form.
»
Wir operieren in der Sprache, wenn ein Beobachter feststellen kann, dass die Objekte unserer Unterscheidungen Elemente unseres sprachlichen Bereiches sind. Sprache ist ein fortdauernder Prozess, der aus dem In-derSprache-Sein besteht und nicht in isolierten Verhaltenseinheiten. (Maturana u. Varela 1987, S. 226)«.
Sprache ist die Bedingung für Erkenntnis, ein
Medium, in das der Mensch von Geburt an eingebettet ist, eine Codierung, der vor der individuellen Existenz von der Sozietät zur Verhaltensabstimmung gebildet wurde, die jedoch jeweils jeder für sich neu erlernen muss. Es fällt auf, dass Maturana und Varela in vielen Definitionen von einem Beobachter sprechen. Zunächst:
»
Alles Gesagte ist von jemandem gesagt. Denn jede Reflexion bringt eine Welt hervor und ist als solche menschliches Tun eines einzelnen an einem besonderen Ort (Maturana u. Varela 1987, S. 32)«.
Etwas erscheint einem Beobachter. Der viel zitierte Beobachter hat hier offensichtlich die Funktion eines Abstandhalters. In der wissenschaftlichen Literatur ist die Form einer Definition üblicherweise in ontologisierender Form verfasst, um der Forderung der wissenschaftlichen Methodik, objektiv zu sein, zu entsprechen. Ein Etwas (uns Unbekanntes) ist ein Etwas (das in uns bekannten Worte transformiert ist). Dies setzt voraus, dass uns die Realität, die erforscht und definiert wird, unmittelbar zugänglich ist. Der Beobachter, von
68
Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
dem Maturana und Varela sagen, dass ihm etwas erscheint, verweist uns auf die Systemtheorie, angewendet auf das menschliche Psychosystem.
3
3.4
Konstruktivismus
Die Grundannahme des Konstruktivismus besagt, dass dem Menschen die objektive Wirklichkeit nicht zugänglich ist, dass er von ihr nicht wissen kann. Der neuere Konstruktivismus begründet dies mit der informationalen und operativen Geschlossenheit des Nervensystems und des Gehirns. Dabei stützt er sich auf Erkenntnisse der Neurowissenschaften, speziell dem von Heinz von Foerster formulierten Prinzip der undifferenzierten Codierung:
»
In den Erregungszuständen einer Nervenzelle ist nicht die physikalische Natur der Erregungsursache codiert. Codiert wird lediglich die Intensität dieser Erregungsursache, also ein »wieviel«, aber nicht ein »was« (von Foerster 1991, S. 43)«.
> Das heißt, dass dem Gehirn durch die Nerven nur quantitative Beschreibungen von Eindrücken aus der den Menschen umgebenden Welt zugänglich sind, aus der es dann den Gesamtkomplex seiner Sicht von Welt, sein Weltbild errechnet.
Hierbei geht das Gehirn rekursiv vor, die Summe seiner bisherigen Berechnungen sind die Basis für die anschließende Berechnung.
»
Harmlos genug bedeutet errechnen im eigentlichen Sinn – z. B. lateinisch: »com-putare« = zusammen-überlegen – nichts anderes, als Dinge im Zusammenhang zu betrachten, und zwar ohne ausdrücklichen Bezug auf numerische Größen (von Foerster 1991, S. 45)«.
Es darf nicht vergessen werden, dass das Gehirn den Schnittpunkt zweier Systeme darstellt. Das Gehirn codiert sowohl innere Regungen des Organismus, die seinen aktuellen Zustand wiedergeben, wie die quantitativen Impulse aus seiner Umwelt und generiert aus diesen Eindrücken (Informationen) Bedeutung, indem es relevante Informationen selektiert, um diese dann rekursiv in einen Kontext
einzubetten, sie mit Bedeutung zu versehen und sprachlich fassen zu können. Dabei folgt es nach von Foerster dem Postulat der kognitiven Homöostase. »Das Nervensystem ist so organisiert – oder organisiert sich selbst so – dass es eine stabile Wirklichkeit errechnet« (von Foerster 1991, S. 57).
»
Selbstorganisation ist die Fähigkeit zur selbständigen strukturellen Evolution und Differenzierung, d. h. die Fähigkeit zur selbstreferentiellen (auf sich selbst bezogenen, eigendynamischen) Erhöhung des Komplexitäts- und Organisationsniveaus und damit der Anpassungs- und Lernfähigkeit (Hill et al. 1994, S. 441)«.
Diese errechnete Wirklichkeit ist aufgrund der operationalen und informationalen Geschlossenheit je eine lokale Wirklichkeit, deren Geltungsbereich sich aus den aktuellen und historischen Bedingungen des jeweiligen Psychosystems definiert. So gesehen spaltet sich »die eine Wirklichkeit« in derzeit ca. 6 Milliarden Lokalrealitäten auf, die alle nach dem gleichen Muster in einem zirkulären Prozess von Tun und Erkennen generiert werden. Hierbei handelt es sich um einen Regelkreis. Alles, was der Mensch tut, was er in seiner Umwelt bewirkt, sein Output, verändert die Umwelt, und die bewirkte Veränderung wird als Input wieder zurückgemeldet, um als Basis für den folgenden Output zu fungieren. Hier sei der Begriff der Operation näher ausgeführt:
»
Operationen sind Eingriffe in Systembildungen. Der Term »Operation« ersetzt eine Vielzahl von Begriffen (Erleben, Wahrnehmen, Kommunizieren), die sonst mal »dem Menschen« mal »dem System« zugerechnet werden (Jensen 1999, S. 102)«.
> Dieser zirkuläre Prozess, in dem das Gehirn ständig aktuelle Zustandsveränderungen rückgemeldet, referiert bekommt, um dann seinerseits wieder zu agieren, definiert das Gehirn als ein selbstreferentielles System.
Der Sachverhalt ist hier selbstverständlich stark vereinfacht wiedergegeben, stellt aber das grundsätzliche Muster von Feedback-Prozessen dar. Dabei setzt sich das Muster der Erzeugung von Realität, das für den einzelnen Menschen, den Beobachter
69 3.4 · Konstruktivismus
gilt, fort auf der Ebene von sozialen Systemen. Das gleiche gilt für das Ordnungsprinzip. Während der einzelne Beobachter ein System erster Ordnung darstellt, bilden Beobachtungssysteme Systeme zweiter Ordnung. Zur Bildung von Beobachtungssystemen einige Vorbemerkungen:
»
Sowohl das Gehirn als auch die Gesellschaft sind Systeme, die selbstreferentiell die Realität erzeugen, die sie dafür halten. ... Jede Mitteilung setzt eine Beobachtung voraus. ... Wahrnehmungen müssen kommuniziert werden, um als Beobachtungen zu erscheinen und Beobachtern zugerechnet zu werden. Der semantische Code der Beobachtung als Mitteilung ist keine »neutrale Verpackung«, sondern eine expressive Konstruktion, die ihren Teil dazu beiträgt wie eine Beobachtung aufgenommen wird. ... Beobachtung geht aus von Wahrnehmungskommunikation und verarbeitet diese weiter zu einer kulturellen Sinnarchitektur, die sich in Form vielfältiger Muster (Ideensystemen) im soziokulturellen Vorstellungsraum entfaltet (Jensen 1999, S. 126 f.)«.
> Mit jeder Codierung, mit jeder Aussage durch Individuen oder durch Beobachtersysteme wird ein je eigenes Sprachgebilde geschaffen, das die Erfahrung der jeweiligen Realität in die je eigenen Worte kleidet. Daraus lässt sich die Behauptung ableiten, dass es eine allgemein geltende sprachlich dargestellte Objektivität nicht geben kann.
Hierzu ein Beispiel von Flusser, in dem es um verschiedene Sichtweisen ein und desselben trivialen Apparates geht.
»
[A]us der Sicht des Anrufers ist das Telefon ein stummes, passives Werkzeug, welches geduldig darauf wartet, von ihm benutzt zu werden. Aus der Sicht des Angerufenen ist es ein hysterisch kreischendes Vieh, welches ihn zwingt, alles stehen und liegen zu lassen und seinem Willen nachzukommen, nur um es zum Schweigen zu bringen. Kein Wunder, dass es der Wunschtraum vieler ist, ein Telefon zu besitzen, von dem aus man selbst anrufen, aber nicht angerufen werden kann (Flusser 1998, S. 300 f.)«.
3
Man beachte des Weiteren die Sprache, in denen Gesetze abgefasst sind. Obwohl die Formulierungen so weit wie möglich allgemeingültig gewählt sind, besteht doch immer ein Interpretationsbedarf durch den einzelnen Richter, um die allgemeinen Regeln dem besonderen Fall anzupassen, was manchmal mehr, manchmal weniger gelingt. Wer kennt nicht das konkrete Leid, das vorgeblich allgemeingültig verfasste Gebrauchsanweisungen im Versuch ihrer konkreten Anwendung auf uns unvertraute technische Systeme verursachen. Aus der gleichen Quelle speist sich der natürliche Konflikt Mensch – Formular. Beim konkret Ausfüllenden entstehen oft kognitive Dissonanzen oder, systemtheoretisch, Perturbationen, wenn ein Beobachter versucht, die allgemeinverständlichen Strukturen von Formularen in seine lokale Realität zu transponieren. Ebenso ergeht es dem Beobachter, der entschlossen ist, das Formular auszufüllen, hinsichtlich der inhaltlichen Erfordernisse eines Formulars. Der Versuch, die Gegebenheiten seiner lokalen Realität semantisch an die vermeintlichen Anforderungen des Vordruckdecodierers anzupassen, löst häufig psychosysteminterne Zustandsveränderungen emergenter Ordnung aus. In praxi kann ein Beobachter dann feststellen, dass das beobachtete System in nicht vorhersehbarer Weise reagiert. Der Beobachter sieht einen Beobachter, der an einem Tisch sitzt und mit einem Stift ein oder mehrere Blätter Papier bearbeitet. Das Gehirn des Beobachters schließt aus der beobachteten Situation, dass sich der beobachtete Beobachter in einem Zustand der meditativen Rückkoppelung mit dem vor ihm liegenden Formular befindet, da der beobachtete Beobachter manchmal innehält, sich gegebenenfalls am Kopf kratzt, um dann wieder mit seinem Schreibgerät Eintragungen in sein Formular zu machen. Unvorhergesehen für den Beobachter kann aber der Fall eintreten, dass der beobachtete Beobachter aufspringt, sein Schreibgerät mit Nachdruck in einen Winkel des Raumes befördert und dabei semantisch codierte Beschreibungen des Formulars von sich gibt, die der Designer des allgemein verständlich verfassten Formulars bei der Erstellung desselben nicht intendiert hatte.
70
Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
> Jede Wortwahl ist subjektiv und beinhaltet
»
eine Sicht der Welt, eine Wertung, da sie bedingt ist durch a) die Summe der zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel, in die die kommunizierte Beobachtung eingepackt ist und b) den konkreten Ausdruck, den ein Beobachter oder ein Beobachtersystem einem zu beschreibenden Sachverhalt verleihen zu müssen meint, weil er am passendsten erscheint.
3
Schon der Scholastiker Nikolaus von Cues hat erkannt:
»
Wie die menschliche Erkenntnis wesenhaft »ungenau« ist, d. h. ein Mehr oder Minder zulässt, so ist es auch die menschliche Sprache. Was in der einen Sprache seinen eigentlichen Ausdruck hat (propria vocabula), das hat in einer anderen einen mehr barbarischen und entlegeneren Ausdruck (magis barbara et remotiora vocabula). Es gibt also mehr oder minder eigentliche Ausdrücke (propria vocabula). Alle faktischen Benennungen sind im gewissen Sinne beliebig, und doch haben sie eine notwendige Beziehung auf den natürlichen Ausdruck (nomen naturale), der der Sache selber (forma) entspricht. Jeder Ausdruck ist zutreffend (congruum), aber nicht jeder ist genau (precisum). (Gadamer 1986, S. 441)«.
Realität auf sozialer wie kultureller Basis ist das
Produkt von Kommunikation, von Aushandlungsprozessen oder von willkürlichen Setzungen, ist im idealen Fall ein Übereinkommen, das als Grundlage weiterer gemeinsamer Operationen verwendet werden kann. Quine nennt die Resultate solcher Übereinkommen über eine gemeinsame Realität »ontological commitments«, was sich in der schwachen Form etwa mit einer gemeinsamen Bindung hinsichtlich der semantischen Inhalte von Seinsbezügen, in der starken Form als eine gemeinsame Verpflichtung auf die semantische Auskleidung von Seinsbezügen übersetzen lässt. Es bedeutet, dass man sich auf ein bestimmtes Universum festlegt und an die reale Existenz derjenigen Dinge glaubt, die in diesem Universum vorkommen oder logischerweise darin vorkommen könnten (Jensen 1999, S. 97).
Das erwähnte ontologische Commitment wird durch die Kultur erzeugt; indem wir (im Zuge der Sozialisation) die Muster unserer Kultur verinnerlichen, wird in uns die Bereitschaft für ein ontologisches Commitment erzeugt, genau diejenigen Gegenstände und Strukturen für real zu halten, die in unserer Kultur repräsentiert sind. Andere Kulturen erzeugen andere ontologische Commitments (Jensen 1999., S. 137)«.
Der Code, der verwendet wird, um Commitments auszuhandeln, ist die Sprache und ihre geronnene Form, die Schrift. Sprache ist ihrerseits systematisch aufgebaut und systemisch einsetzbar. »Kognitive Operationen setzen auf gesellschaftlicher Ebene die Verfügbarkeit von Symbolen und Sprache sowie Kommunikation und die Entwicklung von Medien voraus« (Jensen 1999, S. 102). Alle Einzelbeobachter bilden zusammen das Sozialsystem, oder anders ausgedrückt, den Sozialraum. Dieser Sozialraum unterteilt sich wieder in Subsysteme, die, je nach Position eines Beobachters, in die Wissenschaft oder ihre Einzelwissenschaften, in das politische System oder in politische Parteien oder in Bürgerinitiativen etc. unterteilt werden können. Ebenso teilt sich das Wirtschaftssystem in Unternehmen und Interessenverbände, das Gesundheitssystem in Krankenkassen, Medizin und Pflege etc.
3.5
Systemgrenzen
Wer legt fest, was ein System ist und wer grenzt Systeme gegen andere Systeme oder etwas anderes ab? Die Anwendung einer Unterscheidung ist eine Beobachtung. Also gibt es Systeme nur für einen Beobachter. Systeme werden durch Beobachtung »konstruiert« (Krieger 1999, S. 54 f.). Auf der Basis der Entstehung von Sinnsystemen in Sozialsystemen hat Luhmann unter Rückgriff auf die operationale Logik Spencer Browns folgende theoretische Annahmen formuliert:
»
Jede Beobachtung beginnt mit einer Unterscheidung. Ohne Beobachtung gibt es keine Unterscheidung. Beobachten heißt »Unter-scheidenmüssen«. Jeder, der die Welt oder sonst eine Einheit beobachten möchte, zerschneidet, ver-
71 3.5 · Systemgrenzen
3
letzt, ja zerstört diese Einheit, indem er eine Unterscheidung trifft, und sei es die, dass er sich als Beobachter von der gemeinten Beobachtungseinheit unterscheidet. Wenn es einem Beobachter darum geht, die Einheit der Welt – womöglich einheitlich – zu erfassen, ist diese Einheit im Moment des Beobachtungsversuchs auch schon verloren: die beobachtete Welt ist immer eine unterschiedene, verletzte, zerschnittene Welt. Beobachter teilen uns in ihren Beschreibungen der Welt die Welt nicht mit, sie teilen sie ein, sie machen Zäsuren, sie erzeugen Differenzen. ... Die Welt ist ein schwarzer Kasten (»black box«), ein unmarkierter Raum (»unmarked space«), an dem die Beobachter mit Hilfe ihrer Unterscheidungen experimentieren. Beobachter probieren aus, den »unmarked space« zu markieren, um in und mit ihm umgehen zu können. Sie erkennen nicht die Welt, sie erkennen lediglich die Brauchbarkeit dessen, was sie ausprobiert haben. ... Wir sagen, sie erzeugt etwas Drittes, nämlich eine Grenze, eine Demarkationslinie, die den Bereich der Unterscheidung gegenüber dem »Rest«des »unmarked space«abgrenzt. Es entstehen zwei Seiten: auf der einen Seite befinden sich die Unterscheidungen (etwa: Menschen/Tiere, Dinge/Gedanken, Männer/Frauen, ...), auf der anderen Seite bleibt der Rest des »unmarked space«. Dieser Rest ist nicht zu tilgen, nicht auszulöschen, nicht »wegzuunterscheiden« (Bardmann 1994, S. 129 f.)«.
bachtung oder durch eine Beobachtung des Beobachters durch einen Beobachter, der wahrnimmt, was der Unterscheidende nicht wahrnehmen kann, nämlich dessen Setzen einer Unterscheidung. Anders ausgedrückt sind also Unterscheidungen der blinde Fleck analog demjenigen Punkt auf der Oberfläche der Sehrinde des Auges, an dem der Sehnerv austritt und der nicht mit lichtempfindlichen Zellen besetzt ist. Dieser blinde Fleck kann nur bewusst gemacht werden, indem er auf einer anderen Ebene als der, auf der die Beobachtung stattfindet, kommuniziert wird. So werden durch den Beobachter nicht wahrnehmbare, aber konstitutive Elemente der Beobachtung durch Kommunikation wieder ins System rückgemeldet. Ohne Unterscheidung ist keine Beobachtung möglich und die Unterscheidung findet in der Sprache statt. Durch die Aneinanderreihung von Unterscheidungen, von Beobachtungen und deren Kommunikation konstituiert sich Sinn.
Die Differenz zum »unmarked space« ist die Grenze nach außen, die Unterscheidung selbst ist die Grenze nach innen, durch die das Bezeichnete durch das Ausgeschlossene eine Gestalt bekommt.
Das Eingrenzen von Sinnhaftem und das Ausschließen von Sinnlosem durch ein Sinnsystem legt nach Luhmann zugleich die Anschlussmöglichkeiten nahe, die einen wahrscheinlichen operativen Erfolg haben werden, die sinnvoll scheinen, und lässt die Anschlusshandlungen unwahrscheinlich oder schwierig erscheinen, die einem weiteren sinnvollen Operationsverlauf abträglich erscheinen. Sinn ist autopoietisch, da er in seinem aktuellen Zustand in einer Differenz zum Horizont des anschließend Möglichen steht. Sinn kann sich zeitversetzt zum Aktuellen entlang der möglichen Anschlusshandlungen permanent neu konstituieren. Das Sinnsystem ist jedoch operational geschlossen.
> Zentrales Moment ist die Differenz zwischen Bezeichnetem und Ausgeschlossenen. Vom Ausgeschlossenen her »lässt sich erst die ‘Identität’; des Bezeichneten konstruieren und deshalb muss jede Beobachtung als ein Setzen und Prozessieren von Differenzen ... begriffen werden« (Bardmann 1994, S. 132 f.).
Die Unterscheidung kann während des Aktes des Unterscheidens nicht wahrgenommen werden, sondern erst in einer späteren Reflexion der Beo-
»
Anders als genetisch codierte Systeme wird also das semiotisch codierte Sinnsystem von der Umwelt durch eine Sinngrenze unterschieden Außerhalb der Sinngrenze ist nur Unsinn, das heißt alles, was vom Sinnsystem ausgeschlossen wird. Innerhalb der Sinngrenze ist der Bereich des Möglichen. ... Denn das Sinnsystem konstituiert sich dadurch, dass es zugleich weiß, was es ist und was es nicht ist, das heißt dadurch, dass es sich selbst und damit zugleich die für es relevante Umwelt bestimmt (Krieger 1999, S. 64)«.
72
»
3
3.6
Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
Würde ein Sinnsystem »etwas« Sinnloses erleben, dann wäre seine Autopoiesis unterbrochen, und das Sinnsystem ginge daran zugrunde. Dies kennen wir aus der Psychopathologie. ... Es »gibt« das Sinnlose gerade als eine besondere Grenze des Systems. Für ein Sinnsystem hat die Sinnlosigkeit also einen Sinn, nämlich den Sinn einer Grenze, wogegen man nur anstoßen, aber nicht dahinter kommen kann (Krieger 1999, S. 67)«.
Organisation als Sinnsystem
Um zum einleitenden Thema zurückzukommen: Auch Organisationen werden in den neueren Organisationstheorien unter systemtheoretischen Aspekten betrachtet.
»
Insgesamt gelingt es, mit dem systemtheoretischen Ansatz erstmals die Außenbezüge der Unternehmung systematisch zu erfassen und zum Gegenstand der Theoriebildung zu machen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist eine komplexe und veränderliche Umwelt in der zu handeln ohne eine signifikante (Komplexitäts-) Reduktionsleistung nicht möglich ist. Systeme werden als Handlungseinheiten begriffen, die die Probleme einer komplexen und veränderlichen Umwelt in einem kollektiven arbeitsteiligen Leistungsprozess bewältigen, wenn sie ihren Erhalt gewährleisten wollen (Steinmann u. Schreyögg 1997, S. 63)«.
Neben der strukturellen Koppelung von System und Umwelt wird auch das Innere von Organisationen systemtheoretisch durchleuchtet.
»
Organisationen haben nicht nur Kultur, sie sind Kulturen. Organisationen sind in sich geschlossene, gegenüber einer gesellschaftlichen Gesamtkultur abgegrenzte, kulturelle Kontexte, in denen spezielles Wissen, das zu einem Gutteil in Sprache verfasst, in Handlungen ausgedrückt und in Artefakten materialisiert ist, generiert, perpetuiert und variiert wird. ... Begreift man Organisationen als Kulturen, so geht es um die sprachliche und symbolische Konstituiertheit der Organisation als Ausschnitt der sozialen Realität selbst (Bardmann 1994, S. 339)«.
Der Wandel von der Maschinenmetapher der Organisation zu einer Sicht der Organisation als System oder als Kultur zeigt die Verschiebung des Fokus von der trivialen Funktionsbetrachtung hin zur Komplexität. Entsprechend haben sich das Menschenbild und die Rolle des Managements verändert. Wir haben uns von Taylors »one best way«, der Arbeitsbestmethode, verabschiedet, weil sich die Einsicht durchsetzte, dass, wie der Volksmund sagt, viele Wege nach Rom führen. Oder, anders ausgedrückt: Es gibt viele Möglichkeiten, zu einem Ziel zu gelangen. Ausschlaggebend ist nicht so sehr die richtige Methode, sondern ob Anschlussmöglichkeiten entstehen. Durch konstruktivistische Einsichten in die lokale Gebundenheit von Realitäten hat die Rationalität als Tragpfeiler der Entscheidungen in Unternehmen einen Bedeutungswandel durchlaufen. Wie das Konstrukt der einen, für alle geltenden objektiven Realität ist auch das Konstrukt einer allgemeingültigen Rationalität nicht mehr aufrechtzuerhalten. Für die optimale rationale Entscheidung müssen dem Entscheider alle relevanten Informationen bekannt sein. Dies ist aufgrund der Fülle aller existenten Informationen schlicht unmöglich. Hinzu kommt, dass das Gehirn nur begrenzte Kapazitäten zur Verarbeitung von Informationen hat.
»
Es gibt keine einzig richtigen und insofern optimalen Entscheidungen mehr, doch es muss trotzdem unter mehreren brauchbar erscheinenden Möglichkeiten gewählt werden. ... Rationalität ist von keinem wie auch immer gearteten Außen her zu beziehen, sondern wird ... von menschlichen bzw. organisatorischen Entscheidungen, nicht nur denen an der Spitze, abhängig. Sie wird in den Dispositionsbereich menschlicher, sozialer und organisatorischer Informationsverarbeitung hineinverlegt, sie wird dort zu einer menschlichen, sozialen Konstruktionsleistung, und kann deshalb immer weniger an »übermenschlichen«, »transsozialen« Standards und Idealen gemessen werden (Bardmann 1994, S. 331)«.
Dieses Kapitel ist ein Beispiel für begrenzte Rationalität und begrenzte Kapazität von Informationsverarbeitung. Um den optimalen Bericht über die Systemtheorien zu liefern, müssten dem Autor
73 3.6 · Organisation als Sinnsystem
alle diesbezüglichen Informationen vorliegen. Der Autor unterliegt wie alle anderen Systeme, auch Organisationen, bestimmten Zwängen aus der Umwelt, auf die er keinen Einfluss hat und selegiert im Rahmen seiner Kapazitäten.
»
Will die Organisationslehre der Offenheit ihrer Objekte gerecht werden, so muss sie die Umweltbedingungen als »Constraints« [Zwänge, Notwendigkeiten] des Organisationsproblems berücksichtigen (Hill et al. 1998, S. 22)«.
Aufgrund des Bewusstseins, nicht alle Informationen hinsichtlich der Systemtheorien zur Verfügung zu haben, sowie der Zunahme an Ungewissheit bei der Lektüre unterschiedlicher systemtheoretischer Ansätze, doch auch in dem Wissen, diesen Bericht innerhalb eines gewissen Zeitrahmens erstellen zu müssen, trat im System des Autors ein Mechanismus auf, der in der Literatur folgendermaßen beschrieben wird:
»
Geringe Komplexität und hohe Stabilität führen zu hoher »Uniformität«(Gleichartigkeit) der Ereignisse, mit denen die Systemmitglieder konfrontiert werden. Lassen sich die Anforderungen an die Verarbeitung solcher uniformer Ereignisse zudem noch präzis definieren, so ist das Ausmaß an Ungewissheit ..., die durch die Aufgabenstellung erzeugt wird, gering. .... Eine geringe Ungewissheit stellt ihrerseits eine Voraussetzung für die Routinisierung der Aufgabenerfüllung dar. ... Bei zunehmender Ungewissheit werden nicht nur routinisierte Reaktionen verunmöglicht und durch problemlösende Reaktionen ersetzt, sondern es finden auch Verlagerungen innerhalb der Problemlösungsstrategien statt ... : ▬ die Problemlösung erfolgt immer stärker nach dem Konzept der beschränkten Rationalität; ▬ die imaginative Komponente im Denkstil, der den Problemlösungen zugrunde liegt, gewinnt auf Kosten der analytisch-synthetischen Komponente an Bedeutung; ▬ bei kollektiven Problemlösungen nimmt der Anteil von Bargaining-Prozessen auf Kosten des Anteils von Konsensus-Entscheidungen zu (Hill et al. 1998, S. 327 f.)«.
3
So ist der vorliegende Bericht quasi ein Ergebnis von Bargaining- oder Aushandlungsprozessen, die im Psychosystem des Autors stattgefunden haben, da das Ausmaß an Perturbationen durch die Umwelt, hier die Literatur über Systemtheorien und die unterschiedlichen systemtheoretischen Darstellungen und Positionen die Voraussetzungen für eine Routinisierung im Verfassungsprozess dieses Kapitels erschwert haben. Hätte zwischen den Autoren in der Fachliteratur ein Konsens bestanden, hätte der Autor des vorliegenden Berichtes nicht die Hälfte der bei Abfassung des Berichtes durchlaufenen Denkprozesse in den Text investieren müssen und wäre nicht in Konflikt mit dem Hauptconstraint von Qualität in Konflikt geraten, der Zeit. Dass die imaginative Komponente im Denkstil zunimmt, während die analytisch-synthetische Komponente an Bedeutung verliert, ist mit dem Fortschreiten des Berichtes evident. Oder anders ausgedrückt: Was bleibt dem Autor übrig als für neue Probleme der Berichterstellung neue Lösungen zu finden. Außerdem kann er nur auf das Konzept der beschränkten Rationalität zurückgreifen, da er nicht alles systemtheoretisch Relevante wissen kann und so auf die Ergebnisse von Selektionsprozessen aus der Vielfalt vorliegender Informationen rekurriert, die er dann zu einem ihm sinnvoll scheinenden Ganzen, den vorliegenden Bericht, zusammenfügt. Der Autor maßt sich nicht an, alle relevanten Aspekte der Systemtheorie in einer für den Leser zufriedenstellenden Weise abzuhandeln, sondern begnügt sich in Anlehnung an das Konzept der beschränkten Rationalität mit der Wahl einer möglichst zufriedenstellenden Verhaltensalternative.
»
Dies setzt voraus, dass das Individuum sich Anspruchsniveaus für die Ziele setzt, die es erreichen will. ... Eine Alternative ist dann zufriedenstellend, wenn sie diese Anspruchsniveaus mindestens zu erreichen verspricht; dabei wird also nicht ausgeschlossen, dass es noch unbekannte Verhaltensalternativen gibt, mit denen sich die angestrebten Ziele besser erreichen ließen. Bei der Wahl von zufriedenstellenden Alternativen werden Such- und Bewertungsprozesse notwendigerweise simultan vollzogen; es wird
74
Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
eine garbage-can-Situation statisch zu betrachten. Handelnde Personen, Probleme, Gelegenheiten, Lösungen bilden einen kontinuierlichen Strom in der Organisation, die zusammentreffen und Entscheidungen produzieren. Das hat zur Folge, dass weder auf die optimale Lösung gewartet werden kann noch die Entscheidung voraussagbar ist (Pelzer 1995, S. 15)«.
solange nach Verhaltensalternativen gesucht, bis eine Alternative gefunden wird, die den definierten Anspruchsniveaus in Bezug auf die Zielerreichung und Nebenbedingungen genügt. Die Intensität der Suchprozesse hängt also selbst vom Anspruchsniveau ab (Hill et al. 1998, S. 66)«.
3
Da es systemtheoretisch kein »So ist es!« gibt, sondern ein »So kann es sein!« und ein »So kann es auch sein!«, also das, was die Systemtheorien mit Kontingenz umschreiben, kann der Autor hier kein abschließendes Konzept der Systemtheorien bieten. Wohl aber kann er den Leser dazu anregen, sich mit den Systemtheorien auseinanderzusetzen, um in seiner Funktion als Manager nicht obsoleten Einredungen wie dem in der Einleitung beschriebenen »managerial megamyth« zu verfallen. Zur Erklärung:
»
Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist ... . Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist (Luhmann 1987, S. 152)«.
Die Zeit Taylors, als sich (ideell) Rädchen in Rädchen fügte und der Manager als Ingenieur seinen Betrieb maschinenanalog planen zu können glaubte, ist vorbei. Die gegenwärtige Situation stellt sich dar wie folgt:
»
Der Mülleimer als Modell für Entscheidungen in Organisationen ... steht für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage, was der Abschied vom homo oeconomicus und vom einheitlichen Organisationsziel nach sich zieht. Problematische Präferenzen, unklare Technologie oder wechselnde Mitgliedschaft sind die Charakteristika von Entscheidungssituationen, in denen herkömmliche Managementmethoden scheitern müssen. ... Es ist nicht möglich,
3.7
Systemtheoretische Erwägungen für Pflegemanager
Die Relevanz systemtheoretischer Erwägungen für den pflegemanagerischen Alltag sei hier anhand des überall zelebrierten Qualitätsmanagements beleuchtet. Zunächst die ketzerische Behauptung: Die Einführung eines QM-Systems und sogar eine Zertifizierung sagen nichts über die in der Institution tatsächlich entstehende oder, besser gesagt, zur Entfaltung kommende Qualität aus. Die Grenze technomorpher Konzeptionen ist das Problem des menschlichen Bewusstseins mit seinen unterschiedlichsten möglichen Zuständen. »Die Informativität (der Informationsgehalt) eines Bewusstseinszustands ist nicht durch die Zahl der Informationsbrocken (informationstheoretisch: »Chunks«) gegeben, die offenkundig in ihm vereinigt sind, sondern vielmehr durch die Tatsache, dass durch sein Eintreten ein ganz bestimmter Zustand aus Milliarden anderer Zustände herausgepickt wird, die jeder für sich einen anderen Bedeutungsoutput nach sich ziehen würde.« (Edelman u. Tononi 2004, S. 47) Was bei vordefiniertem Input beim Endqualitätsbeurteiler oder -empfinder ankommt, ist kontingent, kann u. U. mit dem vom Qualitätsdesigner intendierten Output nichts mehr gemein haben. Selbst die gesetzlich geforderten ManagementMindeststandards haben auf die tatsächliche Qualitätsentfaltung in Institutionen nur einen sehr indirekten Einfluss. Ein TQM-Fachauditor drückte dies mit folgenden Worten aus: »Die gesetzlich geforderten Rahmenbedingungen sind ein Netz, das gespannt wird in der Hoffnung, dass sich in irgend einer Masche des Netzes ein Quäntchen Qualität verfangen möge und sich von dort vielleicht ausbreitet.«
75 3.7 · Systemtheoretische Erwägungen für Pflegemanager
Ein Beispiel: Das schönste Leitbild nützt nichts, wenn es von Mitarbeitern auswendig gelernt, aber nicht verstanden und folglich nicht bis zu einem gewissen Grad gelebt wird. In der Regel wird das Leitbild vom Management erstellt und an die Mitarbeiter und Kunden zur Lektüre weitergegeben. Mit der Weitergabe an die Mitarbeiter nimmt das Management an, dass das Leitbild zum Grundgerüst für die innerorganisatorische Realität wird, da jeder Mitarbeiter sich dem Leitbild mehr oder weniger verpflichtet fühlen muss. Das top-down eingeführte Leitbild soll nach dem Willen des Managements den Kern des innerbetrieblichen Konsens darstellen. Nun wird ein Leitbild oft zur Kenntnis genommen, die konkrete Umsetzung jedoch scheitert in weiten Teilen, und das Leitbild wird eher als ein lästiges Übel denn eine willkommene Hilfestellung zur Orientierung und Sinnfindung betrachtet. Wenn es überhaupt gelesen wird, wird es oft nicht verstanden, und wenn es verstanden wird, wird es oft insgeheim nicht akzeptiert, geschweige denn reflektiert. Nun könnte man mit Taylor beim Mitarbeiter voraussetzen, »dass die menschliche Natur aus einem Bündel unveränderlicher Eigenschaften bestehe; dass die meisten faul und arbeitsscheu seien, lediglich von Furcht und Habgier zum Handeln getrieben würden, möglichst wenig tun und möglichst viel verdienen wollten« (Brown 1956, S. 10). Der Grund für das Abbrechen der Kontinuität unterhalb der Managementebene, für den Bruch der Stringenz einer sozialen Organisation ist aber anders zu erklären. Zunächst einige grundsätzliche Ausführungen.
»
Wir begreifen ... die elementaren Einheiten von Organisationskulturen nicht ausschließlich als Entscheidungen, sondern allgemeiner als Deutungsleistungen. ... Organisationskulturen sind autopoietische Systeme, von denen zunächst nichts verlangt wird, als dass sie die elementaren Einheiten (die Deutungen), aus denen sie bestehen, durch das Netzwerk eben dieser Einheiten (ihrer Kultur) selbst erzeugen, dass sie also in dem, was für sie Einheit ist, auf Eigenproduktion eingestellt sind (Bardmann 1994, S. 368 f.)«.
Legt man den oben zitierten Organisationsbegriff zugrunde, so scheint verständlich, warum ein
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dekretorisch eingeführtes Leitbild in einer Organisation nicht gelebt werden kann. Was nicht kommuniziert wird, kann die Organisationskultur als ein Sozialsystem nicht tangieren. Was aber kommuniziert wird, liefert sich dem Eigensinn des Sozialsystems und den Prozessen der Selbstorganisation der Organisationskultur aus. In der organisatorischen Kommunikation, die zwar immer auf psychische Bewusstseinsleistungen angewiesen ist, sich jedoch nicht auf sie zurückrechnen und aus ihnen erklären lässt, werden Ereignisse produziert, gedeutet, werden Daten zu Informationen transformiert, werden Interpretations- und Zurechnungsregeln generiert, werden kulturelle Schemata erzeugt, die in der Folge als Selektionsprämissen fungieren und nichts Einfluss auf das organisatorische Geschehen gewinnen lassen, was sich nicht kommunikativ vermitteln und durch das Nadelöhr der herrschenden kulturellen Schemata fädeln lässt ..., denn jede Äußerung gerät im Zuge der Mitteilung aus der Eigenverfügbarkeit der Person in die Verfügbarkeit des sich selbst organisierenden Kommunikationssystems und wird hier nach systemeigener Manier weiterverarbeitet, entschlüsselt und entweder angenommen oder abgelehnt (Bardmann 1994, S. 384). Leitbilder, die nicht organisationsintern kommuniziert werden, bleiben Willenserklärungen des Managements und werden eher Leidbilder, da sie in der organisationsinternen Realität die Funktion von Fremdkörpern haben. Um auf die Organismusanalogie zurückzugreifen: Die informellen Kommunikationsströme bilden so etwas wie das Immunsystem des Institutionskörpers und werden alles daran setzen, Fremdkörper abzutöten oder abzukapseln. Leitbilder und alles, was mit dem Thema der Qualität zu tun hat, können nur auf dem Weg der systeminternen Kommunikation ins Bewusstsein der Organisation transportiert werden und mehr noch. Soll das Qualitätsmanagement, der Gedanke der Qualität zur Kernstruktur der Institution werden, muss er nicht nur kommuniziert, sondern auch angepasst werden. Dies erfordert beim Management nicht nur die Fähigkeit zur Kommunikation, sondern auch zur kreativen Dynamik. Qualität im Dienstleistungsbereich und gerade im Pflegesektor kann nicht dekretorisch implemen-
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Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
tiert werden, denn der eigentliche Ort der Qualität ist hier nicht das Papier oder das Formular, mit dem sie dokumentiert werden soll, sondern das Bewusstsein der Handelnden, was den Leittechnokraten im Gesundheits- und Sozialsystem aber bisher entgangen zu sein scheint. > Qualität entsteht in den Köpfen und entfaltet sich im Tun der Mitarbeitenden, nicht auf dem Papier.
Dokumente und Dokumentationen haben eine wichtige Funktion als Hilfsmittel der Reflexion qualitätsrelevanter Abläufe, doch sind sie nichts als Hilfsmittel und können für sich betrachtet nicht viel zur Entfaltung von Qualität innerhalb der Organisation beitragen. Will das Management den Qualitätsgedanken in die Organisation integrieren, so muss es den Mut haben, seine Vorstellungen von Qualität vorzuleben, seine Vorstellungen von Qualität zur Debatte und gegebenenfalls seine Vorstellungen von Qualität zur Disposition zu stellen. Dazu gehört auch, dass die Bereitschaft besteht, Qualitätsvorstellungen den systeminternen Vorstellungen anzupassen und gegebenenfalls zu verändern. Es gibt nicht den einen Weg zur Qualität, wie es nicht die eine Qualität, sondern eine Vielzahl von Qualitäten in unterschiedlichen Ausprägungen gibt, aus denen eine Gesamtqualität zu bestimmen nahezu unmöglich ist. Dies gilt vor allem für den Gesundheits- und Sozialbereich, da Organisationen hier vorwiegend aus Menschen bestehen und auch die Produktion ihrer Leistungen vorwiegend zwischen Menschen geschieht. Der bestimmende Prozess in der Arbeit von Menschen mit Menschen ist die Kommunikation und es gilt zu bedenken: »Sinnsysteme sind Kommunikationssysteme« (Krieger 1999, S. 97). Das Management von Pflegeinstitutionen unterscheidet sich vom konventionellen Management dadurch, dass seine Produkte schwer oder gar nicht definierbar sind.
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Produziert ein Krankenhaus dann Kranke? Sind die Produkte von Alten- und Behindertenheimen dann Alte oder Behinderte? Diese Fragen scheinen lächerlich. Doch auch die Definition über die Antonyme scheint fraglich. Welches Krankenhaus behauptet von sich, sei-
ne Kunden kämen zu ihm, um dort Gesundheit einzukaufen? ... Das Krankenhaus kann Krankheit nicht verkaufen, da hier ein sehr geringer Absatzmarkt besteht und mit [dem] Angebot der Produktion von Gesundheit ist es ob der Schwammigkeit der Definition des Begriffes und der Komplexität dieses Ideals eindeutig überfordert. ... Was also tut ein Krankenhaus oder Heim? Es produziert Nichts, da es keine Gegenstände erzeugt. ... Es wird hier zur Gestaltung menschlicher Seinszustände beigetragen (Krompholz-Schink 1999, S. 26)«. Dem aufmerksamen Leser entgeht sicher nicht, dass es sich hier um Selbstreferenzialität handelt. Aufgrund des oben zitierten virtuellen Produktcharakters steht das Management von Pflegeeinrichtungen unter einem doppelten Kommunikationsdruck. Einmal muss es, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Veränderungen in der Rechtslandschaft (SGB XI etc.), bestimmte geforderte Strukturen in Sozialsysteme, die durch einen hohen Grad von Informalität gekennzeichnet sind, integrieren und zwar so, dass diese Strukturen von den Systemen adaptiert und zu einem Teil der lokalen Systemrealität werden. Der hohe Grad von Informalität ergibt sich daraus, dass in Pflegeinstitutionen nicht eindeutig die Grenze zwischen Arbeitszeit und Lebenszeit gezogen werden kann. Aufgrund der speziellen Arbeitssituation, dass immer Menschen mit Menschen interagieren und sich wechselseitig beeinflussen, kann hier die Formel Arbeitszeit = Lebenszeit aufgestellt werden. Dieses intensive Zusammenleben von Mitarbeitern mit Mitarbeitern und Mitarbeitern mit Patienten oder Bewohnern oder Patienten mit Patienten etc. provoziert notwendig ein intensives informelles Netz, das vor allem die systeminterne Reagibilität negativ beeinflussen kann. Dies ist nicht grundsätzlich negativ zu werten, da es manchmal Schnellschüsse in eine falsche Richtung verhindern mag, muss aber vom Management immer in die Reflexion einbezogen werden. Doch die Richtung der Kommunikation, wohlgemerkt, nicht einer eindimensionalen, muss auch nach außen gehen. Wandelnde gesellschaftliche Anforderungen erfordern wandelbare Organisationen. Hier kommt der Begriff der Viabilität ins Spiel.
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Viabilität bedeutet, dass das System, wie immer es sich strukturell ändert, den einschränkenden Bedingungen der Umwelt gerecht wird. Tut dies das System nicht, dann wird es eliminiert (Krieger 1999, S. 41)«.
Das Management steht also immer im Spagat zwischen den systeminternen und den systemexternen Anforderungen. Das Management muss die Sinnhaftigkeit seiner Organisation nach außen kommunizieren, um das Überleben seiner Einrichtung zu sichern, indem das außenwirksame kommunikative Design und möglichst auch die Institution den Bedingungen und Forderungen der Umwelt angepasst wird. »Ein Sinnsystem ist viabel, solange es Sinn macht« (Krieger 1999, S. 169). Hierbei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Systemelemente, die Mitarbeiter, nicht nur Elemente des Systems Organisation sind, sondern auch Elemente des Metasystems Gesellschaft.
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In postindustrieller Gesellschaft ... ändern sich mit der quantitativen Bedeutung der Sektoren auch die Vorstellungen, die die darin arbeitenden Menschen mit der Arbeit verbinden. Es findet ein Transfer von der Lebenswelt in die Arbeitswelt statt, was auch bei den diesen Wandel untersuchenden Wissenschaftlern einiges an Verwirrung auslöst (Pelzer 1995, S. 124)«.
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das, worauf er sich beruft, gedankenlos auf, sondern beruht schon auf Gedankenlosigkeit. Denn in Wahrheit verhält es sich nicht so, dass alles ginge, sondern nur einiges geht im Sinn des Gelingens, während anderes bloß ein Stück weit geht und wieder anderes schlicht daneben geht oder zugrunde geht. Es ist lächerlich, sich solcher Unterschiede durch die Proklamation eines generellen »es geht« zu begeben (Welsch 1997, S. 322)«. Sinn ist allein durch das Management nicht machbar, doch kann das Management an einem systeminternen Klima arbeiten, in dem Sinn kommuniziert wird und in dem sich Sinn entfalten kann. Dieses Klima ist unter anderem abhängig von den Anschlussmöglichkeiten, die in einem System existieren. Dies bedeutet anhand des Beispiels Qualität konkret: > Die Qualität, die der Mitarbeiter durch das Management, vom Management erfährt, wird sein eigenes Qualitätsverständnis mit prägen. In dem Maße, wie der Mitarbeiter Wertschätzung durch das Management erfährt, wird er Wertschätzung an die Menschen weitergeben, mit denen er zu tun hat, also sowohl seinen unmittelbaren Klienten als auch das Management.
Jeder Mitarbeiter ist aber auch Vertreter der Organisation in der Gesellschaft. Die Realität, die der Mitarbeiter systemintern beobachtet, wird er auch nach außen kommunizieren. Wir haben es hier mit einem mehrdimensionalen Sinnvermittlungsprozess zu tun. Systeminterner Sinn wird über die Mitarbeiter nach außen vermittelt, systemexterner Sinn wird über die Mitarbeiter nach innen transportiert, also der klassische systemtheoretische Fall einer strukturellen Koppelung von System und Umwelt in mehreren Dimensionen. Sinn machen ist nicht allein ein Prozess, der von oben determiniert werden kann, denn es gilt zu bedenken:
Idealerweise entsteht so eine in sich geschlossene Qualitätskette, getragen durch das ontologische Commitment des Qualitätsgedankens, der unternehmensintern diskutiert und definiert worden ist. Im Weg stehen uns hier das alte pflegeimmanente Paradigma, das aus der paramilitärischen Struktur der Pflege resultiert und das daraus resultierende Bild des Mitarbeiters in Pflegeinstitutionen.
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Wer zwar gemerkt hat, dass Differenzen das Wirklichkeitsbild prägen, auf Dauer aber differenzierungsunfähig ist, der nimmt gerne zum gleichmacherischen »anything goes« Zuflucht. Derlei Indifferenzialismus hebt aber nicht nur
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Dem Individuum tritt nie eine Organisation gegenüber. Es ist stets ein anderes Individuum, durch das die Organisation sich manifestiert (Pelzer 1995, S. 118).
... Krankenpfleger, ... Krankenpflegerin, eine Person, die dazu bestimmt ist, Kranke zu warten. Bei den Römern ... wurden solche Leute, die gemeinlich Sklaven waren, auch spottweise Medici ad matulam, Ärzte bei dem Nacht-
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Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
topf genannt. Man hat bisher in öffentlichen Krankenanstalten den Wert und Einfluss der Krankenwärter auf das Wohl der Kranken weit weniger geschätzt, als sie es verdienen. Daher geschieht es auch nicht selten, dass sich Leute dieser Art von Beruf widmen, die von den dazu erforderlichen Kräften und Fähigkeiten so weit entfernt sind, dass sie darin eher schaden als nützten (Krünitz, zit. in Sticker 1960, S. 60 f.). Diese Einstellung, um 1820 formuliert, hat sich bislang nicht sehr gewandelt. Wie soll eine von Misstrauen dominierte, durch starre Hierarchien strukturierte und durch Dienstwege und überkommene Rituale formierte Institution wie die Pflege sich den Anforderungen, die sich aus Veränderungen der Umwelt ergeben, wie auch den Ansprüchen, die aus der Veränderung des Bewusstseins ihrer Klientel und der Ansprüche der Mitarbeiter, der eigentlichen Systemelemente und der Determinanten des Qualitätsprozesses, resultiert, gerecht werden können? > Um Qualität einen Raum zu geben, in dem sie sich entfalten kann, braucht der Mitarbeiter, der mit seiner Person am Qualitätsprozess Beteiligte, ein Klima des Vertrauens. Thema kann nur werden, was zur Sprache kommt.
Qualität in Mensch-Mensch-Systemen wie der Pflege misst sich unter anderem an dem, was innerhalb des Unternehmens zur Sprache kommen kann. Angstkulturen und damit restriktive Sprachkulturen in Unternehmen erzeugen Tabus, und Tabus sind blinde Flecken, die zwar systemintern ausgeblendet, systemextern aber sehr wohl wahrgenommen werden. Eingeengte Kommunikationsmöglichkeiten engen gleichzeitig die Handlungsoptionen ein. »Im Qualitätsunternehmen entstehen die Gewinne nicht durch Größe und Menge, sondern durch die ständige Entdeckung neuer Verbindungen zwischen Lösungen und Bedürfnissen« (Reich 1993, S. 97 f.). Das alte, starre Organisationsverständnis der Pflegeinstitutionen kann nicht durch Gesetze und Verordnungen allein relativiert werden, denn Druck erzeugt Gegendruck. Der Pflegemanager muss sich bewusst sein, dass das alte Selbstbild der Pflege als nicht anerkanntes Gutmenschentum passé ist. Pflegemanager sind potentiell politische
Menschen. Gehen wir davon aus, dass nur wahrnehmbar ist, was kommuniziert wird, dann besteht die Aufgabe des Pflegemanagements unter anderem darin, Probleme der Pflege nicht nur auf Fachkongressen unter seinesgleichen zu erörtern, sondern der Problematik dort eine Stimme zu geben, wo sie ebenfalls erörternswert ist. Gemeint ist hier einmal die Gesellschaft, die die Pflege damit betraut hat, ihre Probleme mit Behinderung, Krankheit und Tod zu lösen. Mary Douglas geht von der These aus, »dass die Last des Denkens auf Institutionen übertragen wird« (Douglas 1991, S. 136).
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Zurzeit ist es modern zu sagen, soziale Institutionen kodierten Informationen. Es heißt, sie träfen Routineentscheidungen, lösten Routineprobleme und nähmen dem einzelnen eine Menge Denkarbeit ab. ... Die Regeln einer Institution sind Ausdruck vergangener Erfahrungen und dienen nun als Leitfaden für das, was in der Zukunft zu erwarten ist. Je vollständiger Institutionen Erwartungen kodieren, desto besser gelingt es ihnen, Ungewissheit unter Kontrolle zu bringen, mit dem weiteren Effekt, dass das Verhalten nun zur Konformität mit der institutionellen Matrix tendiert. Wenn dieses Maß an Koordination erreicht ist, verschwinden Unordnung und Verwirrung. ... Jede Institution, die ihre Gestalt bewahren will, muss Legitimität erlangen, indem sie sich in Natur und Vernunft verankert. Dann bietet sie ihren Mitgliedern eine Reihe von Analogien, mit denen sie die Welt erkunden sowie die Natürlichkeit und Vernünftigkeit der institutionellen Regeln rechtfertigen können; auf diese Weise vermag sie eine beständige und identifizierbare Form zu erlangen und zu bewahren. Jede Institution beginnt daraufhin, das Gedächtnis ihrer Mitglieder zu steuern. Sie veranlasst sie, Erfahrungen, die nicht mit ihren Bildern übereinstimmen, zu vergessen, und führt ihnen Dinge vor Augen, die das von ihr gestützte Weltbild untermauern. Sie liefert die Kategorien, in denen sie denken, setzt den Rahmen für ihr Selbstbild und legt Identitäten fest. Doch das ist nicht genug. Sie muss darüber hinaus auch das soziale Gebäude abstützen,
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indem sie die Grundsätze der Gerechtigkeit heiligt. Gerechtigkeit ist ein mehr oder weniger zufriedenstellendes intellektuelles System, das die Koordination eines bestimmten Komplexes von Institutionen sicherstellen soll (Douglas 1991, S. 82 ff.). Die Pflege als treue Erfüllerin des Auftrages der Reduzierung von Komplexität hinsichtlich von Krankheit, Behinderung, Tod, ächzt systemintern unter der immer noch zunehmenden Arbeitsbelastung bei rückläufigen Einkommensmöglichkeiten und befindet sich eigentlich schon in einer Disqualifizierungsspirale. Die Aufgabe des Pflegemanagements ist auch, die Belange der Pflege in der Öffentlichkeit zu vertreten und diese Öffentlichkeit zu fragen, welche Pflege sie gerne hätte. Über Kommunikation erreichen die individuellen Repräsentationen (die Inhalte der individuellen, bewusst gemachten Wahrnehmung) Anschluss an Sozialsysteme. Dazu müssen die individuellen Repräsentationen umkodiert werden in die systemische Repräsentationssemantik. Wenn Kommunikation ihr Ziel erreicht, kollektive Aufmerksamkeit für ein Thema zu mobilisieren, kommt es zur Bildung von Kommunikationssystemen (Jensen 1999, S. 264). Dies bedeutet, dass für das Pflegemanagement Medienkompetenz von hoher Bedeutung ist. Als Beispiel sei hier die aktuelle Debatte um Gewalt an alten Menschen aufgeführt. Das Thema ist medienwirksam und hat ein gewisses Sensationspotential. Allerdings ist im aktuellen Diskurs nur der erhobene Zeigefinger in seiner Warn- und Deutungsfunktion erkennbar. Dadurch gerät die Altenpflege insgesamt in Verruf. Wo in den Medien sind all die Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitsbereiches präsent, die guten Gewissens gute Arbeit darstellen? Warum gibt es bislang keine Soap, beispielsweise »Das fidele Altenheim« oder »Geheimnisvolles Pflegeheim«, die analog der Schwarzwaldklinik die Problematik der Pflege auf dem Wege einer Erzählung oder Serie dem Publikum näher bringt? Probleme müssen dort publik gemacht werden, wo sie hingehören, und es ist ein Leichteres, auf Kongressen und anderen internen Veranstaltungen das gemeinsame Leid der Überlastung zu zelebrieren, als die Gesellschaft mit
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der Krise der Gerechtigkeit in der von Douglas erwähnten Form zu konfrontieren. Zum anderen muss die Politik in die Pflicht genommen werden. Jahrzehntelang hat die Politik wie die Gesellschaft mit dem Subsidiaritätsprinzip gut gelebt, indem sie »Problemfälle« jeder Couleur an die Adresse der Pflegeunternehmen überwies. Die Pflege und angrenzende Bereiche wie Medizin, Sozialarbeit etc., kurz das Sozial- und Gesundheitssystem, nahm sich der Menschen an, die in seinen Zuständigkeitsbereich delegiert wurden oder sich dorthin delegiert glaubten.
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Wenn wir über die Gesellschaft nachdenken, benutzen wir die Kategorien, die wir als Mitglieder der Gesellschaft verwenden, wenn wir miteinander über uns selbst sprechen. ... In jedem Fall übernehmen wir die Kategorien, die unsere Verwaltungen benutzen, um Steuern festzusetzen, Volkszählungen durchzuführen und den Bedarf an Schulen und Gefängnissen abzuschätzen. Unser Denken bewegt sich immer schon in den eingefahrenen Gleisen. ... Die Arbeit des Klassifizierens, die man für uns bereits erledigt hat, wird ausgeführt als Dienstleistung für institutionalisierte Berufe. ... Die Etikettierungen stabilisieren den Strom des sozialen Lebens und schaffen zum Teil sogar erst die Realität, auf die sie sich beziehen. ... Eine Flut von Zahlen strömt seit etwa 1820 aus den statistischen Ämtern der europäischen Staaten. Als die Praxis des Zählens erst einmal begonnen hatte, brachte sie ... selbsttätig Tausende von Untergliederungen hervor. Mit derselben Geschwindigkeit, mit der neue (bis dahin unbekannte) medizinische, kriminalwissenschaftliche, sexualwissenschaftliche oder moralische Kategorien erfunden wurden, traten spontan und in Massen neue Arten von Menschen hervor, um die Etikettierungen aufzunehmen und sich entsprechend zu verhalten. Die Empfänglichkeit für neue Etiketten spricht für eine außerordentliche Bereitschaft, sich einordnen und das eigene Ich umdefinieren zu lassen (Douglas 1991, S. 163 ff.)«.
Es stellt sich also die Frage: Erzeugt das Sozialsystem als Dienstleistung für Politik und Gesellschaft seine Klientel selbst als autopoietisches und selbstreferentielles System?
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Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
[Institutionen sichern ihr Überleben,] indem sie sämtliche Informationsprozesse dazu einsetzen, sich selbst zu etablieren. Die institutionalisierte Gemeinschaft bremst die persönliche Neugier, organisiert ein kollektives Gedächtnis und setzt heroisch Gewissheit, wo Ungewissheit herrscht. Indem sie ihre eigenen Grenzen markiert, beeinflusst sie alle niederen Ebenen des Denkens, so dass die Menschen ihre Identität erkennen und sich gegenseitig nach ihrer Beziehung zu dieser Gemeinschaft klassifizieren. Da sie die Arbeitsteilung zur Grundlage von Metaphern macht, mit denen sie sich selbst bestätigt, muss das Wissen, das die Gemeinschaft von sich selbst und von der Welt hat, eine Veränderung erfahren, wenn die Organisation der Arbeit sich ändert. Erreicht die Gemeinschaft ein neues Niveau ökonomischer Aktivität, müssen neue Formen der Klassifizierung geschaffen werden. ... Auf diese Weise werden Namen verändert, und Menschen wie Dinge werden umgemodelt, damit sie in die neuen Kategorien passen. Zuerst werden die Menschen aus ihren Nischen hervorgelockt, und zwar durch neue Möglichkeiten, Kontrolle auszuüben oder ihr zu entgehen. Dann schaffen sie neue Institutionen, die Institutionen erzeugen neue Etiketten, und die Etiketten bringen neue Menschen hervor. Wenn wir verstehen wollen, wie wir uns selbst verstehen, sollten wir als nächstes eine Klassifikation unterschiedlicher Arten von Institutionen wie auch der von ihnen typischerweise verwendeten Klassifikationen vornehmen (Douglas 1991, S. 167 ff.)«.
Durch Kategorien werden Unterscheidungen getroffen. Unterscheidungen sind die grundlegenden systemtheoretischen Operationen. Systeme unterscheiden sich von ihrer Umwelt durch die System-Umwelt-Differenz. Betrachten wir das Modell der Qualität nach Donabedian. Dieser unterteilt die Gesamtqualität einer Institution in Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Der Gesetzgeber hat dieses Modell mittelbar dem § 80 SGB XI unterlegt, dabei aber nicht bedacht, dass es sich um ein höchst insuffizientes Modell handelt. Die Strukturqualität ist noch einigermaßen nachvollziehbar, die Qualität der Prozesse lässt sich in
gewissem Ausmaß aus der Struktur ableiten, doch die Ergebnisqualität ist selbst von Donabedian nur sehr ungenügend definiert. Hier wurden Kategorien eingeführt, ohne die Konsequenzen dieser Kategorisierung zu Ende zu denken und eine Menge jener Prozesse initiiert, die der Verfasser einerseits als geldfressende Prozesse kategorisieren möchte, die aber andererseits notwendig sind, um ein altehrwürdiges und träges System wie das Geflecht sozialer Institutionen in Bewegung zu versetzen. Das Sozial- und Gesundheitswesen ist ein hochkomplexes, nichttriviales System. In letzter Zeit werden immer häufiger Versuche unternommen, dieses System zu trivialisieren, zu vereinheitlichen. Dabei muss das Dilemma klar umrissen werden, in dem die öffentlichen Kostenträger einerseits und die Anbieter sozialer Dienstleistungen andererseits stecken. Natürlich ist das Interesse der Kostenträger legitim, Aufschluss darüber zu verlangen, was sie eigentlich finanzieren. Sich dabei an den Prozessabläufen der Industrie zu orientieren, führt aber im Sozialbereich zu Verzerrungen, da kundenpräsenzbedingte Dienstleistungen nur in einem geringen Maße standardisierbar sind.
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Technomorphe Konzeptionen greifen wohl nur dann effektiv, wenn es um standardisierte Produkte oder Dienstleistungen geht, wenn diese nach standardisierten Methoden herzustellen oder zu erbringen sind, wenn es für die angebotenen Leistungen einen stabilen, überschaubaren und berechenbaren Markt gibt und schließlich, wenn Menschen sich ... funktionalisieren und instrumentalisieren, sprich: trivialisieren lassen. Diese Bedingungen sind für Arbeitsorganisationen jedoch wohl eher die Ausnahme. Die Einredungen der klassischen Organisationsrationalisierer, dass Menschen sich maschinenteilchengleich reibungslos in die funktionale Organisationsmaschinerie einpassen lassen, dass sich Rationalität und Eintracht durch Eindeutigkeit der Ziel/Mittelrelationierungen herbeiplanen lasse, dass sich der erkannte »one best way« über alle Ebenen hinweg und durch alle Abteilungen hindurch ins Unternehmen hineinbefehligen lasse, dass sich mit dem Vertrauen in technische Verfahrensweisen und dem Glauben an die ... wis-
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senschaftliche Methodik alle Probleme ordnen und regeln lassen, dürfen heute weitestgehend als gescheitert betrachtet werden (Bardmann 1994, S. 289 f.)«. Das Spannungsfeld, in dem sich das Pflegemanagement befindet, lässt sich nicht eindeutig umgrenzen. Jeder einzelne mit dem Management von Pflege- und Sozialinstitutionen Betraute findet sich wieder zwischen der ökonomischen, der ästhetischen und der ethischen Rationalität. Er hat zu entscheiden, ob er einem dieser Felder den Vorrang einräumt. Nun lässt sich grundsätzlich fragen, ob Ethik dominieren kann, wenn sie unbezahlbar ist, ob die Ästhetik Vorrang vor der Ethik haben kann oder ob alles finanziell Machbare ethisch richtig und ästhetisch ist? Die idealtypische Rolle des Pflegemanagers ist die eines Mittlers zwischen den unterschiedlichen Einflusssphären, die sein Tun bestimmen. Er bewegt sich auf einem Feld, das tragische Implikationen hat. Soziale Systeme haben einen Problemüberschuss, verursachen mehr Probleme, als sie lösen können und brauchen dazu »erfolgreich scheiternde Organisationen«, einen Puffer zwischen Markt und Staat, die Scheinlösungen produzieren oder Lösungen simulieren (Seibel 1994, S. 291). Allen Pflegeorganisationen ist gemein, das gerade das Scheitern sie am Leben erhält, dass sie stabilisierend zwischen Markt- und politischem System agieren, und durch Selbststeuerungsversagen das fehlende Glied zwischen Markt- und Staatsversagen bilden. Ihr Output wird eher als mehr oder weniger akzeptierte Nichtleistung denn als Leistung charakterisiert (Seibel 1994, S. 277). Vollmundige Effizienzforderungen im Pflegebereich sind die Windmühlen, die Don-Quijote-Pflegemanager zum kreativen Kampf fordern, da er leisten soll, was seine Herausforderer nicht zu leisten imstande sind. Einfach ist es, den ökonomischen Aspekt in den Vordergrund zu stellen. Geld ist eine messbare Größe, die über Effizienz und Effektivität scheinbaren Aufschluss erlaubt. Ist dem wirklich so?
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Die Kluft zwischen Entscheidenden und Ausführenden, wenn sie in der Gemeinschaft der Wissenschaftler existiert – und sie existiert –,
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gehört dem sozio-ökonomischen System an, nicht der wissenschaftlichen Pragmatik. Sie ist eines der größten Hindernisse in der Entwicklung der Erfindungskraft von Wissensformen (Lyotard 1994, S. 186)«. Wie für die Wissenschaft kann dies für das Pflegemanagement gelten. Die rein ökonomische Ausrichtung verstellt den Blick auf »neue soziale Erfindungen«, wie sie von Seeberger gefordert werden. Monoperspektivische Betrachtungsweisen determinieren den Blickwinkel und blockieren möglicherweise Lösungsansätze. Sind wir Gefangene der vermeintlich eindeutigen Rationalität? Oder wollen wir Rationalität sehen in einem Zustand, den Welsch mit »rationaler Unordentlichkeit insgesamt« umschreibt?
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Das Insgesamt der Rationalität besteht aus unterschiedlichen Versionen dieses Insgesamt. Je nach gewähltem Ausgangsparadigma wird man einem anderen Paradigmenverband auf die Spur kommen und zu einer anderen Version des ganzen gelangen. ... Das Ganze ist durch eine Gemenge- und Konfliktlage unterschiedlicher Versionen des Ganzen bestimmt. ... Die unterschiedlichen Versionen lassen sich weder durch ein einziges Modell erfassen, noch fügen sie sich zu einem letztlich kohärenten oder auch nur angebbaren Zusammenhang. Im Ganzen der Rationalität herrscht zuletzt nicht Vereinbarkeit und Harmonie, sondern Vielfältigkeit und Dissens. ... Es gibt keine Bestimmung mehr, die nicht von einem entgegenstehenden Paradigma aus mit guten Gründen problematisiert werden könnte, und man stößt im Übergang zwischen den Paradigmen immer wieder auf ganze Verschachtelungsketten und Kaskaden perspektivischer Veränderungen (Welsch 1996, S. 571 f.)«.
Letztendlich sind wir wieder beim Konstruktivismus angelangt. Angesichts der rationalen Unordentlichkeit bleibt der Führungskraft entweder, alles seinen Gang gehen zu lassen und letztendlich Laissez-faire zu betreiben, wobei nicht das Handeln, sondern das Wundern als Agens dominiert, sich also der Begrenztheit der eigenen Interventionen bewusst zu sein, oder sich der Herausfor-
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Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
derung zu stellen, die paradigmatischen Verflechtungen zu entwirren und den unterschiedlichen Rationalitäten den Platz zuzuordnen, der ihnen zukommt.
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Jedenfalls muss man sich entscheiden. Man entscheidet sich immer. Man kann sich nicht nicht entscheiden. Denn auch dann, wenn man die Entscheidung aufschiebt oder gar keine Entscheidung zu fällen gedenkt, laufen die Ketten der Wirklichkeit weiter. Eine Nichtentscheidung ist in Wahrheit ebenso folgenreich wie eine Entscheidung. ... zu einer vernünftigen Praxis können heute auch Paradigmenwechsel gehören. Man vollzieht Übergänge, Kreuzungen, Wechsel zwischen Paradigmen. Nicht mehr versucht man, partout ein einziges Modell »mit eiserner Konsequenz« gegen alle Widerstände durchzuziehen – die höhere und vernünftigere Tugend liegt vielmehr darin, gegebenenfalls auch flexibel operieren zu können. ... Zum Teil werden die Entscheidungen auch experimentell sein, quer zur gewohnten Hierarchie verlaufen, sich durch Verflechtungen inspirieren lassen. Findigkeit kann wichtiger sein als Begründbarkeit (Welsch 1996, S. 719 ff.)«.
Als Mittel der Beurteilung von Rationalitäten und Paradigmen verweist Welsch auf die Vernunft.
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Sie kritisiert die alten Ganzheitsformeln und befreit uns vom Diskriminierungsdruck gegenüber realer Vielheit. Darin nimmt sie gewissermaßen eine gegenwartspädagogische Komponente an, und dies im doppelten Sinn: Sie zeigt uns – theoretisch – Wirklichkeit als offene Gemenge- und Geschiebelage unterschiedlicher Rationalitäten und Wirklichkeitskonstellationen. Und zugleich begründet sie – in praktischer Hinsicht – Kompetenzen innerhalb dieser Verfassung. Sie zeigt, dass die neue Verfassung – dem traditionellen Vorurteil entgegen – nicht Chaos, Haltlosigkeit und Untergang bedeutet, sondern auch positive Möglichkeiten birgt. Und sie verleiht uns die Fähigkeit, uns inmitten dieser komplexer gewordenen Situation – also auf schwankenden Fundamenten und in einer Gesamtverfassung der Unordentlich-
keit – richtig zu bewegen. Sie versieht uns mit verschiedenen Kompetenzen für diese Welt. Dadurch macht sie uns in der Gegenwart heimischer, macht uns zu kompetenteren Bewohnern dieser Welt (Welsch 1996, S. 669)«. Ein gewisses Maß an Chaos- und Frustrationstoleranz gehört zu den Schlüsselqualifikationen des Pflegemanagers. Ungewissheit auszuhalten, ist gefordert, da sich daraus neue Kerne von Ordnung bilden können. Derartige Seinszustände finden sich auch in anderen systemtheoretischen Bereichen. Exemplarisch sei hier Prigogine angeführt:
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Wir wissen inzwischen, dass fern vom Gleichgewicht neue Strukturtypen spontan entstehen können. Unordnung und Chaos können sich unter gleichgewichtsfernen Bedingungen in Ordnung verwandeln. Es können neue dynamische Zustände der Materie entstehen, in denen sich die Wechselwirkung eines Systems mit seiner Umgebung widerspiegelt. Wir haben diese neuen Strukturen als dissipative [= verschwendende, Anm. d. Verf.] Strukturen bezeichnet, um die paradoxe Rolle von dissipativen Vorgängen bei ihrer Entstehung hervorzuheben. ... Die Materie verhält sich in Gleichgewichtsnähe »repetitiv«. Weit vom Gleichgewicht entfernt tritt indessen eine Reihe von Mechanismen auf, die der Möglichkeit des Auftretens verschiedener Arten von dissipativen Strukturen entsprechen. ... Wir können außerdem Prozesse der Selbstorganisation beobachten, die zu inhomogenen Strukturen führen. Wir möchten hervorheben, dass dieses Verhalten etwas Unerwartetes ist. (Prigogine u. Stengers 1987, S. 21 f.)«.
Das Sozial- und Gesundheitssystem befindet sich gegenwärtig weit entfernt von einem Zustand des Gleichgewichtes und es ist unwahrscheinlich, dass so ein Zustand je eintreten wird. Dies hat für den Pflegemanager die Konsequenz, dass er sich in einem Zustand ständiger Unsicherheit befindet, den er in seinen Operationen mitreflektieren muss. Insgesamt befindet sich der ganze Dienstleistungssektor in einem theoretischen »unmarked space« und es gilt, ein tragfähiges theoretisches Gerüst für die kundenpräsenzbedingte Dienstleistung zu
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schaffen. Sich hier der Methoden und Modelle des güterproduzierenden Sektors zu bedienen, käme einer Reifizierung des Menschen gleich und würde dem Anspruch an eine menschengerechte und menschenwürdige Qualität der Leistungen in keiner Weise genügen. Es bedarf einer anthropologischen, ethisch fundierten Ökonomie, die das Moment der Komplexität menschlichen Seins in der Dimension der Zeit mit einschließt. Hier sind vermutlich noch große und anstrengende Denkprozesse notwendig, um eine fundierte Theorie des bewirkenden Tuns von Menschen an Menschen in einem suffizienten ökonomischen und humanen Rahmen zu erarbeiten. Statt mit festen Größen zu arbeiten, scheint ein Denken in Korridoren angebrachter. Das Pflegemanagement muss hierzu seinen Beitrag leisten, gerade weil es mitten in dieser paradigmatischen Gemengelage angesiedelt ist. Die einzelnen Paradigmen und Rationalitäten sind nach Welsch borniert, implizieren Fachidiotentum und neigen zu Ausschließlichkeitsansprüchen, die ihnen nicht zustehen.
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Beispielsweise besteht die Gefahr, dass die Paradigmen ihre Tendenz zur Monorationalität unter den neuen Bedingungen dergestalt fortsetzen, dass sie sich auf andere Paradigmen nur unter Nutzenaspekten beziehen. Ein Paradigma erkennt dann Elemente anderer Paradigmen zwar an – aber nur insoweit, als sie für es selbst als Stützen benützbar und willkommen sind. Die vernünftige Betrachtung hingegen mahnt, diese Nutzenperspektive zu überschreiten und sich auf andere Paradigmen auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Legitimität, also in der Perspektive der Anerkennung und letztlich unter dem Gesichtspunkt diskursiver Gerechtigkeit zu beziehen (Welsch 1996, S. 683)«.
Die paradigmatische Konfrontation zeigt sich weniger deutlich in Krankenhäusern, da diese durch den medizinischen Leitcode krank/gesund gesteuert werden. Hier ist Pflege definiert als an militärischer Disziplin orientierte Diensterleichterung für die Ärzte (Hohm 2002, S. 77f) Je weiter aber die jeweiligen Pflegeeinrichtungen vom Zentrum Krankenhaus entfernt sind (hier ist die Zentrum-
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Peripherie-Differenzierung nicht in räumlichem, sondern in funktionalem Sinne gemeint), desto mehr drängen andere Rationalitäten mit ihren jeweiligen Deutungsansprüchen auf Leitfunktion. Dies zeigt sich exemplarisch derzeit allenthalben in der Altenpflegelandschaft. Die Durchrechtlichung des Altenhilfesektors, vorangetrieben von permanenten Skandaldarstellungen in den Medien, die mittelbar Alter an sich skandalisieren, wird sekundiert durch die übergreifenden Tendenzen einer alles bewerten wollenden Medizin, führt zu dem oft peinlich wirkenden Versuch, Komplexität dadurch zu reduzieren, dass jeder Mensch hinsichtlich seines Risikos, zu stürzen, zu verdursten, unterernährt zu sein etc. taxiert wird. Durch die Zuordnung individueller Zustände zu Scores in numerischer Form wird Scheinsicherheit konstruiert, Möglichkeit zu Wahrscheinlichkeit »verdichtet«. Was als Lebenswelt unter speziellen Bedingungen gedacht war, etwa ein Altersheim, ein Behindertenheim o. ä., sieht sich den Ausgriffen der Paradigmen aus Medizin, Juristerei und in letzter Zeit v. a. der Ökonomie ausgesetzt. Jedes System hat zum einen Interesse am Selbsterhalt und zum andern die Tendenz, den Bereich seiner definitorischen Kontrolle auszuweiten. Dies gilt, wenn auch nicht offensichtlich, für den Sozialund Gesundheitsbereich. Dort wimmelt es von Gesundheits-, Pflege- und anderen Experten.
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Der Experte ist der professionelle Beobachter von Missständen. ... Sein Produktionsmittel ist ein apparategestütztes Know-how. Resultat des Produktionsvorgangs sind unzählige Dienstleistungen zur Normalisierung beliebiger Erscheinungsformen des Lebens und zu ihrer Angleichung an die expertokratisch gesetzten Standards, ein unerschöpflicher Ausstoß an Betreuungs-, Behandlungs-, ... Informierungs-, Heilungs- und Versorgungseinheiten im Dienste der Optimierung menschlicher Existenz. Diagnostische Macht erhebt nicht nur Anspruch darauf, verbindlich zu definieren, was normal ist, sie erschöpft sich nicht darin, verpflichtende Standards vorzuschreiben, sie monopolisiert auch die Verfahren, mit deren Hilfe die jeweiligen Normalitätsstandards erreicht werden können. (Gronemeyer 2002, S. 30)«
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Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
Gerade die Defensivpflege, die sich aufgrund der durchrechtlichten und an medizinischen Standardverfahren orientierten Trivialisierungstendenzen immer mehr ausdifferenziert, hat paradoxe Implikationen. So wird von einer Expertengruppe im Sozialministeriums eines südlichen Bundeslandes gefordert, dass sich gute Pflege nicht primär an rechtlichen Kriterien ausrichten solle, von gleichen Ministerium wird aber angeordnet, dass die staatliche Heimaufsicht gemeinsam mit dem MDK nur noch unangemeldet zur Heimnachschau erscheinen darf. Betrachtet man die Prüfunterlagen des MDK und daraus hervorgegangen die Prüfunterlagen der Heimaufsicht, so ist eine anders als an rechtlichen Vorgaben orientierte Pflege in Heimen gar nicht mehr möglich. Ebenso wird von einer Sozialministerin »ein intelligentes Qualitätsmanagement« gefordert, das durch die restriktiven Qualitätsvorgaben der Länder und Pflegekassen gar nicht praktikabel ist. Das Managementmodell wird durch Vorgaben der Behörden und der Finanzierer der Pflegeleistungen praktisch aufoktroyiert, alternative Formen der Einrichtungssteuerung und des Leistungsdesigns werden negativ sanktioniert, zumal es bei den Definitoren der Qualität von Pflege an Wissen fehlt, das diese befähigt, andere Modelle und Denkansätze auch nur einordnen zu können. Dies ist nur ein sehr eingeschränkter Problemaufriss des Anforderungsdschungels, in dem sich künftige Pflegemanager bewegen müssen. Nach Welsch kann nur ein Denken in Übergängen, die transversale Vernunft, den Vorgaben und Problemen der Gegenwart gerecht werden.
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Real finden wir uns immer wieder mit Problemstellungen konfrontiert, für die Übergänge ausschlaggebend sind. Selbst wenn einzelne Probleme regional entstehen, überschreiten ihre Wirkungen die Grenzen, werden global. Unsere alten, separatistischen Denkformen aber sind unfähig, darauf zu reagieren. Für sie sind solche Grenzüberschreitungen nur »unerwünschte Nebenfolgen« ... Als Nebenfolgen erscheinen solche Übergangseffekte aber nur, solange man separatistisch denkt. Die Kausalketten der Wirklichkeit halten sich an diese kleingeistigen Einteilungswünsche nicht.
Wir werden daher gerade durch Realphänomene genötigt, zu Denkformen überzugehen, die von Anfang an auf solche Übergänge aufmerksam sind und ihnen Rechnung zu tragen vermögen. Es gilt, von den alten Denkweisen sauberer Trennung und unilinearer Analyse abzurücken und zu Denkformen des Gewebes, der Verflechtung, der Verkreuzung, der Vernetzung überzugehen. ... Daher lautet die These: Transversale Vernunft ist für die Standardvorgaben und Probleme der Gegenwart in spezifischer Weise geeignet. Die Vermutung geht sogar dahin, dass nur noch diese Vernunftform ihnen gewachsen ist – eben weil die gegenwärtige Situation grundlegend durch eine verflechtungshafte Pluralität gekennzeichnet ist. (Welsch 1996, S. 775)«. Das, was das Management der kundenpräsenzbedingten Dienstleistungen ungleich schwieriger macht als das Management von güterproduzierenden Organisationen, ist die weitaus höhere Komplexität der Einflussfaktoren bei der Erstellung der Leistungen und das Problem der Messung ihres Erfolges. Dies erfordert andere Zugänge zur Organisation und zu deren Tätigkeit. Systemisches Denken kann hier hilfreich sein. Manager von Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens müssen sich bewusst sein, dass sie es mit Einrichtungen zu tun haben, die aus Traditionen heraus entstanden sind und ihre Legitimation aus dieser Verwurzelung in der Tradition heraus beziehen. Dies impliziert einen hohen Grad an Unbewusstheit und an diffusen Motiven bei den Organisationsmitgliedern einerseits, einen hohen Grad an unterschiedlich bewussten und unbewussten Ansprüchen der Organisationsumwelt andererseits. Einer kritischen Betrachtung sind die Leitdifferenzen der Pflege, gepflegt/ungepflegt und pflegefähig/pflegeunfähig (Hohm 2002, S. 141 ff.), die unausgesprochen, aber operationsdeterminierend wirken, ebenfalls zu unterziehen. Möglicherweise kann die Entbergung dieser pflegekommunikationsdeterminierenden Prämissen zu einer anderen, demokratisch gestalteten Form von Pflegegestaltung und -selbstverständnis führen. Nicht unerwähnt darf hier der Dilettantismus bleiben, mit dem gerade Sozial- und Gesund-
85 3.8 · Systemtheorie?
heitspolitik oft betrieben wird. Deshalb ist der Gebrauch transversaler Vernunft eine brauchbare Methode, um sich in dieser komplexen Situation zu orientieren.
»
Hier mag der Hinweis genügen, dass Vernunft wesentlich als Geschehen – nicht als Vermögen und schon gar nicht im Stil einer Sache – zu begreifen ist. Daher gründet sie sich ja auch nicht auf einen festen Begriffs- und Kriteriensatz, ... sondern ist durch offene Prozessualität gekennzeichnet. ... Ein Allgemeines und ein Einzelnes stimmig zu verbinden ist ihre allgemeinste Funktion, und dies ist ... die zentrale Aufgabe in jedem Vernunftbereich. ... Transversale Vernunft nimmt Funktionen von Urteilskraft in mindestens vier Hinsichten wahr. Erstens gibt sie an, welchem Rationalitätstypus eine Gegenstandsfrage zuzuordnen ist. ... Zweitens ist transversale Vernunft ein Vermögen der Findung von Übergängen. »Findung« soll dabei anzeigen, dass die Übergänge nicht aus einem Gesamtsystem deduziert werden können, sondern entdeckt werden müssen. ... Drittens reflektiert transversale Vernunft Gemeinsamkeiten zwischen Rationalitätstypen, z. B. Gemeinsamkeiten analogischer Art, also Gemeinsames, das als solches gar nicht mehr eindeutig angebbar, sehr wohl aber in seinem Entsprechungscharakter durch Urteilskraft erfassbar ist ... . Und viertens ist transversale Vernunft als Urteilskraft auch dort tätig, wo sie bei Konflikten zwischen heterogenen Ansprüchen eine Analyse »dialektischer« Art vornimmt und darin die jeweiligen Rechtsgründe differenziert, prüft und abwägt – und das nicht nur hinsichtlich ihrer Vergleichbarkeit, sondern auch ihrer Unvergleichbarkeit (Welsch 1997, S. 308 f.)«.
Der Manager als Mitte der Organisation ist der Punkt, in dem sich die unterschiedlichen Ansprüche der vielfältigen Sinnsysteme treffen. Die transversale Vernunft kann ihm dazu dienen, ökonomisch sinnvolle, ethisch vertretbare und ästhetisch stimmige Systeme zu gestalten. Die Beschäftigung mit der Systemtheorie hat Einsichten zur Folge, die einerseits mit einer Zunahme der Unsicherheit, andererseits aber mit größerer Akzeptanz von
3
Wandlungsprozessen einhergeht. Damit ändert sich die Sicht der Rolle des Managers weg von der omnipräsenten Führergestalt der Gründerjahre oder dem hemdsärmeligen Macher der Aufbaujahre hin zum experimentierfreudigen Designer von Sinnsystemen mit der Attitüde des Zulassens von Werden. > Das Steuerungselement künftiger Organisationen ist die Kommunikation von Sinn.
Bis zu welchem Grad dies gelingt, hängt ab von der jeweiligen Führungspersönlichkeit und deren Virtuosität. Die Spanne der Möglichkeiten zieht sich hier, wie in jeder Profession, vom praktizierten Dilettantismus über solide ausgeführtes Handwerk bis hin zur Kunst. Der Dilettantismus ist gegenwärtig in den vielschichtigen Bemühungen von Managern zu sehen, durch eine Art pubertäre Sinngymnastik die Mitarbeiter auf so etwas wie eine Corporate Identity einzuschwören. Die restriktiven Vorgaben staatlicher und anderer Stellen tragen insgesamt zu einer Methodenarmut bei, indem bei den Akteuren das Wissen fehlt, um neue Entwicklungen überhaupt erkennen und dann zuzulassen zu können. Sinnsysteme lassen sich nicht über das permanente Repetieren von Schlagworten gestalten. Der Manager in seiner Person ist der Kristallisationspunkt der Qualität in der Organisation, da er unter ständiger Beobachtung sowohl unternehmensextern wie -intern steht. Dies gilt vor allem für Unternehmen, in denen Leistungen in einem Mensch-Mensch-System erstellt werden. Er determiniert entscheidend die Qualität, die, durch den Mitarbeiter hindurchgehend, beim Kunden ankommt.
3.8
Systemtheorie?
Systemtheoretisch denken ist nicht einfach denken. Die Umstände verlangen den Abschied von alten Denkgewohnheiten. In Abwandlung eines Ausspruches von Heidegger ließe sich fragen: »Was heißt systemtheoretisch denken?« Die Antwort darauf liegt in der immensen Zunahme von Komplexität und deren Temporalisierung innerhalb der gesellschaftlichen Umstände.
86
»
3
Kapitel 3 · Einführung in die Systemtheorie
Temporalisierung der eigenen Komplexität ist Anpassung des Systems an die Irreversibilität der Zeit. Dadurch, dass das System die Zeitdauer der eigenen Elemente verringert oder gar auf bestandslose Ereignisse reduziert, kann es die Irreversibilität der Zeit mitmachen; es ist ihr nicht ausgeliefert, es kann sie copieren und lässt dann intern nur noch Strukturen zu, die in der Lage sind, entstehende und vergehende Elemente zu verknüpfen. ... Eine Handlung bleibt nicht einfach Information, ein Ereignis bleibt nicht einfach Ereignis. Temporalisierte Elemente lassen sich auch durch Wiederholung nicht verstärken, sie sind von vorneherein darauf angelegt, dass etwas anderes anschließt. Sie können nur »augenblickliche« Verknüpfungen aktualisieren und schaffen daher von Moment zu Moment neue Situationen, in denen Wiederholung oder Veränderung zur Disposition steht. Systeme dieser Art sind daher immanent unruhig, sind einer endogen erzeugten Dynamik ausgesetzt und zwingen sich genau dadurch selbst, hiermit kompatible Strukturen zu lernen (Luhmann 1987, S. 77)«.
Damit ist der aktuelle Zustand des Gesundheitsund Sozialsystems treffend beschrieben. Einerseits herrschen im System althergebrachte Anund Einsichten vor, andererseits ändert sich die Rechtslage beinahe täglich und ebenso ändern sich die Finanzierungsgrundlagen permanent, so dass eine solide Finanzierung, die auf langfristiger Planung basiert, schier unmöglich scheint. Es gilt, die Herausforderung anzunehmen und mit Hilfe der Systemtheorie ein suffizientes und tragfähiges Modell der Pflege als Dienstleistung zu schaffen, das es ermöglicht, im Zustand der Unsicherheit zu agieren. Letzte Antworten auf die Fragen der Umgestaltung sind im Moment nicht erkennbar. Evident scheint jedoch, dass die Rollen der Akteure im System umdefiniert werden. Pflegemanagement ist Systemgestaltung sowohl im Subsystem wie im Metasystem. Die Herausforderung liegt darin, Betriebswirtschaft, Soziologie, Psychologie und Kommunikationswissenschaft wirksam auf einer ethischen und ästhetischen Basis zu verknüpfen, also neue Positionen zu erarbeiten, ohne
den eigentlichen Auftrag zu vergessen. Der Pflege stünde es gut an, ihre Nische innerhalb der totalen Institutionalisierung zu verlassen und durch selbstbewusstes Auftreten ihr Dasein zu rechtfertigen. Pflege ist in allen Bereichen domestiziert. Das liegt unter anderem an der starken Verwurzelung im Altruismus. Pflege muss sich als Dienstleistung völlig neu definieren. Dazu gehört ihre Emanzipation. Bisher werden die Inhalte der pflegerischen Tätigkeiten von anderen Berufsgruppen wie Ärzten, Sozialpädagogen oder Verwaltern bestimmt. Unter veränderten Vorzeichen steht die Pflege an einem Scheideweg. Will sie nach wie vor als Erfüllungsgehilfe anderer Berufe agieren, die einen wesentlich höheren sozialen Stellenwert als die Pflegeberufe selbst haben oder will sie ihren Anteil an den Prozessen des Gesundheits- und Sozialsystems selbst darstellen und ausbauen? Zur Professionalisierung bedarf es mehr als der Formulierung von Pflegetheorien, die starke esoterische Einsprengsel haben. Systemtheoretische Erwägungen können helfen, a) die Problematik der Pflege innerhalb des Sozial- und Gesundheitssystems gezielt herauszuarbeiten und b) ein suffizientes Modell der pflegerischen Arbeit zu erstellen. Für das Pflegemanagement könnten derlei Erwägungen erste Schritte einleiten, die die Pflege aus ihrer institutionellen Bindung lösen und weg vom Helfer hin zum Berater führen könnten. Systemtheoretisch geleitetes Management ist ein gangbarer Weg aus der paramilitärischen Struktur der Pflege, setzt aber die Bereitschaft zu ständig neuen Verknüpfungen, gepaart mit Erfindergeist voraus. Der Konstruktivismus bietet neue Ansätze und Betrachtungsweisen im Umgang von Menschen mit Menschen, der basalen Tätigkeit der Pflege. Weg vom technomorphen Behandlungsbild als recycelnde Tätigkeit stehen neue Wege offen, den Menschen in seiner je lokalen Realität zu würdigen und zusammen mit ihm eine praktikable Sicht der Veränderung seiner Befindlichkeit zu entwickeln.
87 Literatur
3
Literatur ? Wissens- und Transferfragen 1. Was ist unter dem technomorphen Ansatz der Managementlehre zu verstehen? 2. Wie änderte sich die Sicht von Organisation als Folge der Hawthorne-Experimente? 3. Wie lautet die einfachste Definition eines Systems? 4. Was ist unter Negentropie zu verstehen? 5. Wie unterscheiden sich Organisation und Struktur eines Systems? 6. Was ist ein triviales System? 7. Was ist ein nichttriviales System? 8. Was ist unter Autopoiesis zu verstehen? 9. Was besagt der Begriff der Emergenz? 10. Wie ist das Verhältnis von Erkenntnis und Wirklichkeit unter Berücksichtigung des Prinzips der unspezifischen Codierung? 11. Wie ist der Begriff der Selbstorganisation zu verstehen? 12. Was ist ein selbstreferentielles System? 13. Was ist unter einem ontologischen Commitment zu verstehen? 14. Was ist die basale Operation der Beobachtung? 15. Wie unterscheiden sich semiotisch codierte Sinnsysteme von ihrer Umwelt? 16. Welche Rolle kommt der Rationalität unter systemtheoretischen Gesichtspunkten zu? 17. Was meint der Begriff der Kontingenz? 18. Was sind die basalen Leistungen von Organisationskulturen? 19. Was hat Mitarbeiterführung mit Qualität zu tun? 20. Warum sind Pflegeinstitutionen selbstreferentielle Systeme? 21. Welche Rolle spielt die Kommunikation im Pflegemanagement? 22. Wo liegen, systemtheoretisch betrachtet, die Mängel des herkömmlichen Qualitätsmanagements? 23. Was ist unter transversaler Vernunft zu verstehen?
Bardmann TM (1994) Wenn aus Arbeit Abfall wird. Suhrkamp, Frankfurt/M Brown JAC (1956) Psychologie der industriellen Leistung. Rowohlt, Hamburg Douglas M (1991) Wie Institutionen denken. Suhrkamp, Frankfurt/M Edelman G, Tononi G (2004) Gehirn und Geist. dtv, München Flusser V (1997) Nachgeschichte. Fischer, Frankfurt/M Flusser V (1998) Kommunikologie. Fischer, Frankfurt/M Foerster H von (1991) Das Konstruieren einer Wirklichkeit. In: Watzlawick P (Hrsg) (1991) Die erfundene Wirklichkeit. 7. Aufl. Piper, München, S 39–60 Gadamer HG (1986) Wahrheit und Methode. 2 Bde. 5.Aufl. Mohr, Tübingen Gronemeyer M (2002) Die Macht der Bedürfnisse. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Hill W, Fehlbaum R, Ulrich P (1994) Organisationslehre in 2 Bänden. 5. Aufl. UTB, Bern Stuttgart Wien Hohm HJ (2002) Das Pflegesystem, seine Organisationen und Karrieren. Lambertus, Freiburg/Br Jensen S (1999) Erkenntnis-Konstruktivismus-Systemtheorie. Westdeutscher Verlag, Opladen Wiesbaden Krieger DJ (1998) Einführung in die allgemeine Systemtheorie. UTB, München Krompholz-Schink W (1999) Qualität in Wirtschaft und Pflege. Eine Betrachtung. In: Städtler-Mach B (Hrsg) (1999) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 15–43 Luhmann N (1987) Soziale Systeme. Suhrkamp, Frankfurt/M Lyotard JF (1994) Das postmoderne Wissen. Passagen, Wien Maturana HR, Varela FJ (1987) Der Baum der Erkenntnis, 3. Aufl. Scherz, Bern München Wien Pelzer P (1995) Der Prozeß der Organisation. Fakultas, Chur Prigogine I, Stengers I (1987) Dialog mit der Natur. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/M Reich RB (1993) Die neue Weltwirtschaft. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/M Seibel W (1994) Funktionaler Dilettantismus. 2. Aufl. Nomos, Baden-Baden Städtler-Mach B (Hrsg) (1999) Ethik im Gesundheitswesen. Springer, Berlin Heidelberg New York Steinmann H, Schreyögg G (1997) Management. 4. Aufl. Gabler, Wiesbaden Sticker A (1960) Die Entstehung der neuzeitlichen Krankenpflege. Kohlhammer, Stuttgart Ulrich H, Probst GJB (1995) Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln. 4. Aufl. Haupt, Bern Stuttgart Wien Varela F, Thompson E (1992) Der Mittlere Weg der Erkenntnis. Scherz, Bern München Wien Vester F (1983) Unsere Welt – ein vernetztes System. dtv, München Watzlawick P (Hrsg) (1991) Die erfundene Wirklichkeit. 7. Aufl. Piper, München Welsch W (1996) Vernunft. 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt/M Welsch W (1997) Unsere postmoderne Moderne. 5. Aufl. Akademie, Berlin
4 Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie Eine Einführung in die Wissenschaftstheorie B. H. Mühlbauer 4.9
Die Suche nach systematischen Erklärungen und Begründungen oder was sind Theorien? – 98
4.10
Verstehen und Erklären – 103
4.11
Was ist wahr – was ist Wahrheit? – 104
Was ist eigentlich »Wissenschaft«? – 92
4.12
Die Fortschrittsidee in den Geisteswissenschaften – 106
Einteilung der Wissenschaftsgebiete in wissenschaftshistorischer Sicht – 94
4.13
Gesundheitsökonomie als eigenständige Disziplin oder Teil der Betriebsund Volkswirtschaftslehre – 107
4.14
Gesundheitswissenschaften
4.15
Management – Eine Wissenschaft? – 109
4.1
Einleitung
4.2
Wissenschaft – Die Frage nach der Wahrheit? – 89
4.3
Wissenschafts- und Erkenntnistheorie – 90
4.4 4.5
4.6
– 89
Entwicklung der Wissenschaft und Gründung von Universitäten – 95
4.7
Dominanz der Methode und Einteilung der Wissenschaften – 97
4.8
Eine Leitvorstellung: Die Naturwissenschaften – 97
Wissens- und Transferfragen
4.1
Einleitung
Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die immerwährende Frage nach »der« Wahrheit. Philosophie ist Wahrheitsliebe, Philosophie selbst ist eine Wissenschaft, Einzelwissenschaften stellen spezielle Wissensgebiete dar. Wenn also über Wissenschaft gesprochen werden soll, kann als Ausgangspunkt das Dreieck zwischen Wahrheit, Wissenschaft und Philosophie dienen.
4.2
Wissenschaft – Die Frage nach der Wahrheit?
Für Menschen der frühgriechischen Antike trat das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt noch
Literatur
– 108
– 113
– 114
nicht auseinander. In dieser Welt bilden Subjekt und Objekt eine in sich geschlossene umfassende Wirklichkeit. Die entscheidende Umprägung der Wahrheit als damals noch »Unverborgenheit« zur sog. Urteilswahrheit im Sinne der »adaequatio« geschieht durch die Umsetzung in die durch die lateinische Sprache artikulierte Weltansicht (vgl. Puntel 1974, S. 1652) Wissenschaft will also seitdem etwas über die Wirklichkeit aussagen, Urteile treffen, die als wahr gelten können. Die Wirklichkeit, wie der Mensch sie sinnlich erfassen kann, spricht eben nicht selbst zu ihm. Er muss Wirklichkeit durch seinen Sinne erfassen und Aussagen über sie sprachlich formulieren oder bildlich ausdrücken, wenn er über seine Wirklichkeitserfahrung nachdenkt oder mit anderen über seine Wahrnehmung der Wirklich-
90
4
Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
keit kommunizieren will. Obwohl die Wirklichkeit für sich genommen objektiv ist, also in einer Weise existiert, die unabhängig von dem Menschen selbst Bestand hat und sich verändert, kann er nur Subjektives über sie aussagen. Selbst seine Naturgesetze sind streng genommen Annahmen und Konzepte, die sich bislang als tragfähig für sein Verständnis von dieser Welt erwiesen haben. Sie sind zweckmäßig, aber nicht als wahr einzustufen. Der Mensch legt selbst seine Annahmen über die Wirklichkeit in das Sein, konstruiert dann entsprechende Zusammenhänge, die er wiederum durch Prüfung mit der Wirklichkeit bestätigt oder nicht bestätigt. So sieht es zumindest eine dominante wissenschaftstheoretische Richtung, auf die später noch zurückzukommen sein wird. Aussagensysteme, die in systematischer Weise Aussagen über die Wirklichkeit zusammenfassen, können als Theorien oder Konzepte gelten. Viele Wissenschaftler versuchen demnach, etwas über die Wirklichkeit in einer verallgemeinerungsfähigen Form zu sagen. > Nicht der Einzelfall sondern das Generelle, das Verbindende, das Allgemeine, das auf Ursachen und Wirkungen, auf Ziel- und MittelZusammenhänge Beschreib- und Anwendbare zwischen der Fülle von Einzelphänomenen interessiert viele Wissenschaftler.
Bevor aber diese grundsätzlichen Bemerkungen differenzierter ausgeführt werden können, soll die Diskussion noch etwas tiefer angesetzt werden. Zunächst soll eine Grundlegung über die Frage erfolgen, wie die Menschen etwas von etwas wissen können. Diese vielleicht unverständliche Frage beschäftigt den Autor im Folgenden.
4.3
Wissenschafts- und Erkenntnistheorie
Wie können Menschen eigentlich etwas von dem wissen, womit sie sich gerade beschäftigen? Diese zunächst verwirrende Frage macht eine oberflächliche Antwort leicht. Ein Blick in die gefüllten Regale der Bibliotheken vermittelt uns den Eindruck, dass das dort gespeicherte Wissen dem Menschen eine Fülle von Möglichkeiten gibt, etwas über eine Sache
zu wissen. Aber weiß er dann wirklich etwas? Sind die Informationen teilweise nicht nur veraltetet, sondern überhaupt so richtig dargestellt? Wie wahr sind eigentlich diese Informationen und wie können die Menschen diese für-wahr-nehmen? Was ist richtig, was falsch? Was kann Wissenschaft genannt werden, was ist wissenschaftlich gesichert und was nicht? Alle Informationen haben vorläufigen Charakter. Aktuell veröffentlichte Informationen veralten sehr schnell, sodass der Versuch, immer auf der Höhe der aktuellen Diskussion bleiben zu wollen, ein schwieriges Unterfangen bleibt. Die Möglichkeiten, Informationen zu sammeln und aufzunehmen, sprich zu verarbeiten und dann auch noch im Studium oder in der Praxis zu verwenden, sind allesamt doch sehr beschränkt. Selbst in der Zeit des Internet oder steigender Speichermöglichkeiten der Computer kann die Fülle der neu erscheinenden Bücher zum Bereich der Wissenschaften nicht nachgehalten werden, sogar bei einer Beschränkung auf ein Teilgebiet nicht. Eine so interdisziplinär angelegte Wissenschaft wie die Gesundheitswissenschaften oder ein Querschnittsthema »Management im Gesundheitswesen« stellen hier besonders hohe Anforderungen. Die Zusammenführung von wissenschaftlichen Ergebnissen nationaler und internationaler Studien, die Kombination von Erkenntnissen aus den verschiedenen Wissenschaftsgebieten (z. B. Soziologie, Medizin, Jurisprudenz, Pflegewissenschaften und Ökonomie) und verschiedenen Hilfswissenschaften (Statistik, Mathematik usw.) macht die Auswahl und Zusammenführung von Wissen unübersichtlich und deshalb zunächst einmal schwer. Die »Sortierung« des eigenen Fachgebietes ist aber notwendig, um z. B. Studierenden einen Überblick über das Lehrfach zu geben und sie darin zu ermutigen, an den vielen Stellen, auf die im Studium nicht ausführlich eingegangen werden kann, selbst ihr Studium aufzunehmen. > Eines der wesentlichen Zwecke eines Studiums besteht darin, sich selbst darin zu trainieren, Neugier und Interesse für das eigene Fach zu entwickeln, zu fördern und sich kritisch mit den angebotenen Systematisierungen, Urteilen und Beschreibungen auseinanderzusetzen.
91 4.3 · Wissenschafts- und Erkenntnistheorie
Wer in der Fülle des Wissens »überleben« und z. B. ein erfolgreiches Studium organisieren will, könnte zunächst einmal zwei Strategien bedenken: Zunächst einmal könnten Studierende gleich zu Beginn ihres Studiums nach den neuesten Erkenntnissen suchen. Ohne eine Landkarte ist das Reisen in einem solchen Land natürlich möglich. Nicht, dass ein Nachschlagen in der Vielzahl der Fachzeitschriften quasi als Reiselektüre für den eigenen Erkenntnisweg ohne Erkenntnis bliebe. Eine Interpretation der historischen, gegenwärtigen und der zukünftigen Möglichkeiten, die sich aus dem Gesehenen und Gehörten ergeben, lässt sich so jedoch nicht gewinnen. Über Systematisierung und Reflexion gelangt der Mensch zur Erkenntnis, nicht durch unbedachte Wahrnehmung. Der andere Weg könnte darin bestehen, sich über bestimmte Personen, Sachgebiete, Grundbegriffe usw. eine Systematik zu entwickeln, in die dann später die allgemeinen und aktuellen Sachverhalte hineinkategorisiert werden könnten. An Personen orientierte Darstellungen eines Wissensgebietes abstrahieren häufig von Zusammenhängen, die für das Verständnis der spezifischen historischen Situationen notwendig wären. Eine an Sachgebieten interessierte Systematik vernachlässigt nicht selten genau die historische Bedeutung der Akteure und damit der Menschen, die für Entwicklungen auch in der Philosophie so bedeutungsvoll waren. Notwendig sind letztlich Kombinationen, und es scheint keinen »Königsweg« für den eigenen Erkenntnisweg zu geben. Damit sollen zunächst diese beiden Begriffe eingeführt werden. Unterstellt man zunächst einmal, dass Menschen üblicherweise zwischen sich selbst (Subjekt) und einem ihnen äußerlichen Gegenstand oder einer Gegebenheit (Objekt) unterscheiden können, konstatieren man eine sog. Subjekt-ObjektBeziehung. Wird ein Subjekt mit einem Objekt in der Weise verbunden, dass das Subjekt einen Einfluss auf das Objekt zu gewinnen sucht, kann von einem linearen Handeln gesprochen werden (⊡ Abb. 4.1).
Beziehung
S
O Methoden/Instrumente
⊡ Abb. 4.1. Subjekt-Objekt-Beziehung. S Subjekt, O Objekt
4
> Der Einflussversuch selbst findet meist mithilfe irgendwelcher Methoden oder Instrumente statt und unterstellt einen bestimmten ursächlichen Einfluss von einem Subjekt auf ein Objekt. Diese Annahme einer UrsacheWirkungs-Beziehung wird kausales Handeln genannt.
Wird die Darstellung auf das Gebiet des Managements bezogen, so könnte gesagt werden, dass die Lehre vom Management in bestimmter Weise Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt und dabei verschiedene Instrumente beschreibt. Das eigentümliche an einer solchen Beziehung ist, dass sich sowohl dass Subjekt als auch das betrachtete Objekt und auch das Instrument in einer gegenseitigen Abhängigkeit untereinander verformen (vgl. zum Folgenden Litt 1972, S. 7ff.). Indem der Mensch Subjekt wird, tritt das Subjekt, das gewählte Instrument sowie das Objekt aus dem Raum vielfältiger Möglichkeiten hervor und geht eine besondere Symbiose ein. Indem ein Subjekt sich einer Methode zuwendet oder diese entwickelt bzw. modifiziert, formt es seinen eigenen Blick und Verstand, um das Objekt erfassen zu können. > Das Subjekt methodisiert seinen eigenen Verstand!
Während die Symbiose zwischen Methode und Subjekt noch einsichtig erscheint, ist die Vorstellung über die Verbindung zwischen Objekt und Methode schwieriger einzusehen. Doch unter dem Blick der Methode verformt sich das Objekt ebenfalls als Teil der Wirklichkeit, die ja nicht »an sich« zu einem spricht, sondern im übertragenen Sinne »befragt« werden muss. Dieses scheinbare »Befragen« der unabhängig gedachten Wirklichkeit und damit des daraus hervorgehobenen Objektes stellt sich jedoch als eine Formung der Wirklichkeit zu unserer Methode dar.
»
Der Mensch wird Subjekt, indem er sich nach Anweisung der Methode auf das Objekt hin ausrichtet. Das Wirkliche wird Objekt, indem es sich nach Anweisung der Methode dem Subjekt entgegenformt. Die Methode tritt in Kraft, indem durch sie hindurch Mensch und Wirklichkeit sich im Medium des Gedankens begegnen (Litt 1972, S. 11)«.
92
4
Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
Ein systematisches Nachdenken über solche Beschreibungen und formulierte Beziehungen einer Managementlehre hieße, quasi eine Draufsicht auf das eigene Wissensgebiet zu versuchen. Die Philosophie hat für diese Draufsicht die Präposition »meta« eingeführt. Eine systematische »Meta-Sicht« kennzeichnet also eine Draufsicht als reflexives Denken auf eine bestimmte Wissenschaft, sofern hier zunächst unterstellt werden kann, dass es sich bei der Managementlehre um eine Wissenschaft handelt. > Das reflexive und systematische Denken z. B. über Management, seine Methoden, die Subjekte und Objekte dieser Wissenschaft kann also Meta-Wissenschaft oder Wissenschaftstheorie genannt werden.
»
In der Wissenschaftstheorie geht es also darum, das gegenseitige Verhältnis von Subjekt, Methode und Objekt einer Einzelwissenschaft zu untersuchen, um dadurch die Voraussetzungen und Grenzen dieser Wissenschaft kennen zu lernen. Anders ausgedrückt: Es geht in der Wissenschaftstheorie darum, die Bedingungen der Möglichkeit einer Wissenschaft zu erkennen
(von Oy 1971, S 3)«. Bevor dieser Weg genommen wird, könnten einige Bemerkungen über den Charakter der Wissenschaft selbst also eine Antwort auf die Frage »Was ist überhaupt Wissenschaft?« versucht werden. Denn immerhin sollen gerade Studierende in ihr Wissenschaftsgebiet eingeweiht werden und dazu braucht es, vielleicht mehr denn je, eine Auseinandersetzung damit, was eine Wissenschaft selbst überhaupt zu einer solchen macht. Für alle diejenigen, die glauben, dass eine Erörterung dieses Gebietes für sie im Moment nicht so spannend ist, wird empfohlen, gleich zum nächsten Kapitel überzugehen. Dies können sie ohne Reue zum jetzigen Zeitpunkt tun und erst nach dem Studium der weiteren Kapitel nochmals auf dieses Einführungskapitel zurückkommen.
4.4
Was ist eigentlich »Wissenschaft«?
Unter Wissenschaft verstehen die meisten Studierenden ein Lehrgebäude, das Wahrheit bean-
sprucht und einem Fachgebiet seine wesentlichen Erkenntnisse, seinen Rahmen und seine darin tätigen Wissenschaftler gibt. Die Begriffe Wahrheit, Erkenntnis, Fachgebiet, wesentliche Erkenntnisse usw. motivieren weitere Fragen, die sich so einfach nicht beantworten lassen. Wie eine Wissenschaft selbst zu ihren Erkenntnissen kommt, welche Methoden, welche Sprache bzw. Begriffe sie einsetzt und welchen Platz sie sich selbst im Rahmen der Wissenschaften zuweist, wurde bereits angesprochen und Wissenschaftstheorie genannt. Wörtlich übersetzt bedeutet dies soviel wie Theorie von der Wissenschaft überhaupt (»philosophy of science«). Damit wird eine Beziehung zwischen Philosophie und Wissenschaft angedeutet, auf die nun kurz eingegangen werden soll. Während Wissenschaft früher als Teil der Philosophie verstanden werden wollte, die sich durch ihren wissenschaftlichen Charakter vom Mythos, vom Glauben und von weltanschaulicher Meinung abzugrenzen suchte, gilt Philosophie heute geradezu als Relikt eines wissenschaftlichen Zeitalters. Praktische Erkenntnis sieht sich häufig im Vorteil gegenüber einer scheinbar philosophischen, eher als weltfremd empfundenen Suche nach Wahrheit, die nie endet. Es dominiert aber das Interesse vieler junger Menschen nach geradezu rezeptartigen Lösungen für ihre aktuellen Fragen. Philosophie als »langwelliges, langwieriges und langweiliges« Suchen nach Antworten passt scheinbar nicht zu dem Bedürfnis, kurzfristige und v. a. eindeutige Antworten zu suchen, die eingangs mit dem Begriff »kausales Denken« in enge Beziehung gebracht wurde. Praktiker erwarten von Wissenschaftlern solche Antworten, die ihnen helfen sollen, aktuell auftretende Probleme des »hier und jetzt« und v. a. für ihren speziellen Fall zu lösen. Ein Anspruch, den Wissenschaftler nicht häufig erfüllen können und jedenfalls auch nicht generell müssen. Wissenschaft ist kein »trivial pursuit«, bei dem es auf bestimmte Fragen hier und jetzt immer die gleichen eindeutigen Antworten aus einer begrenzten Zahl von vorher bestimmbaren Möglichkeiten gibt. Problem und Antwort, Frage und Lösung passen nicht immer zueinander, werfen neue Fragen auf, sind selten eindeutig zu beantworten usw. Diese Aufgabe der Wissenschaft zu bejahen heißt auch,
93 4.4 · Was ist eigentlich »Wissenschaft«?
Wissenschaft als Suche nach Antworten oder als Aufwerfen immer neuer Fragen anzuerkennen. Wissenschaftliches Denken muss vielfach über das hier und jetzt hinausdenken, allgemeine Fragen, die sich derzeit noch nicht im Bewusstsein vieler Menschen niedergeschlagen haben, weiter untersuchen und auch veröffentlichen bzw. zu einer Beschäftigung mit diesen Fragen ermutigen. Wissenschaft hat auch eine kritische Funktion. Sie muss herrschende Lehre und aktuelles Denken infrage stellen, um durch Fragen den Erkenntnisprozess der Menschen über sich selbst und ihre Welt voranzubringen. Dies impliziert wieder eine Vorstellung über den Fortschritt der Menschheit, der durch wissenschaftliches Denken und Handeln gesichert werden soll. Es ist unmittelbar einsichtig, dass Wissenschaft diese kritische Funktion haben muss, weil sie sonst zu einer Art »Delphisches Orakel« praktisch relevanter Fragen verkommt und sonst keine Fragen mehr hätte, die über den Informationsbedarf der aktuellen Praxis hinausgingen. In der wissenschaftlichen Diskussion erscheint Philosophie als historisch bedingtes Vorstadium von Wissenschaft und nicht mehr als ein Grund-
begriff philosophischer Selbstreflexion und Selbstbestimmung (vgl. Baumgartner 1974, S. 1741).
Wissenschaftstheorie als »philosophy of science« drückt diesen Zusammenhang deutlich aus und versucht, die »Reflexionslücke« zu füllen, die Philosophie, Glaube und Wissenschaft inzwischen trennen.
»
Anstelle der topologischen Frage nach dem Ort der Wissenschaft im Gesamtbereich philosophischen Wissens tritt das Problem, ob philosophische Reflexion ihrerseits überhaupt noch einen Ort im gegenwärtigen Selbstverständnis von Wissenschaft besitzen könne (Baumgartner 1974, S. 1742)«.
Das bisher entworfene Bild könnte deshalb wie in ⊡ Abb. 4.2 aussehen. Nachfolgend soll der Versuch unternommen werden, dies genauer zu untersuchen. Es reicht jedenfalls nach der Auffassung des Autors nicht einfach hin, das empirisch zu beobachtende Tun von Wissenschaftlern schon deshalb Wissenschaft zu nennen, weil sie es tun. Wissenschaft als Tätigkeit, was Wissenschaftler an Hochschulen, Instituten und Forschungseinrichtungen arbeiten oder als vorfindbare Struktur einer Organisation, in der Wissenschaftler ihrer Arbeit nachgehen, reicht für eine wissenschaftliche Begründung nicht aus, um das zu erläutern, was letztlich Wissenschaft
Philosophie
Wissenschaftsgeschichte
4
Wissenschaftssoziologie
Wissenschaftstheorie
Managementlehre
Beziehung O
S Methoden/Instrumente Kausalität
⊡ Abb. 4.2. Philosophie, Wissenschaftstheorie und Managementlehre. S Subjekt, O Objekt
94
4
Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
genannt werden soll. Sie selbst kann als Teilsystem der Gesellschaft wiederum Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung sein und als Gebiet der Wissenschaftssoziologie bezeichnet werden. Als Wissenschaftsgeschichte, die sich mit der historischen Entwicklung der Wissenschaften beschäftigt, sind wichtige Impulse auf die Wissenschaftstheorie ausgegangen (Schnädelbach 1993, S. 7). Was früher Erfahrung aus Tradition und v. a. sprachlich und persönlich in Vorträgen, Gesprächen, Erzählungen usw. vermittelt wurde, soll heute durch die Wissenschaft und hier v. a. seit der Erfindung der Buchdruckkunst in geschriebenen Worten, in wissenschaftlichen Vorträgen und Fachdialogen geleistet werden: Weltorientierung und Handlungsanleitung (vgl. Schnädelbach 1993, S. 7). Das Wissen von Experten und Spezialisten, die sich in ihrem Wissensgebiet auskennen und darin arbeiten und dadurch ihr Arbeitsgebiet organisieren, entzieht sich zunächst einer einfachen Beschreibung und Erklärung für Menschen, die sich nicht darin auskennen. Wissenschaft ist Arbeit von Experten und Spezialisten. Um so mehr müssen sich die Betroffenen einer solchen Wissenschaft auf die Ergebnisse wissenschaftlichen Tuns verlassen können und ihr vertrauen können, wenn sie zu einer Art Handlungsanleitung geeignet sein soll. > Wissenschaft muss sich bestimmter Normen und Werte verpflichtet sehen.
Solche Normen und Werte finden Studenten auch in den Formen wissenschaftlichen Arbeitens wieder, denen z. B. ihr Studium unterworfen wird. Die Erstellung von Haus- und Diplomarbeiten, die Zitierweise, die Verwendung von Literatur, Begründungs- und Erklärungsfragen sowie die Art und Weise, welche Ansprüche hier gelten sollen, um Studierenden die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Studium näher zu bringen, stellen u. a. solche Normen und Werte dar. Welche dieser Normen und Werte speziell gemeint sein können und zutreffen, bedarf der weiteren Begründung, die nicht allein durch die Wissenschaft selbst geliefert werden kann. Sie müssen politisch, d. h. diskursiv bestimmt werden. Rahmengesetze, Studien- und Prüfungsordnungen der Hochschulen, spezielle Hinweise zur Abfassung von Diplom- und Haus-
arbeiten oder Promotionsbedingungen usw. bilden solche Normen und Werte ab (vgl. zum Umgang mit Normen bei der Abfassung von Haus- und Diplomarbeiten: Eco 1998). Den neuzeitlichen hohen Stellenwert für die Gesellschaft bekam die Wissenschaft v. a. durch die Industrialisierung, die hauptsächlich auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und ingenieurwissenschaftlichen Entwicklungen (Technik) basierte. Die damit einhergehenden gesellschaftlichen Umwälzungen bildeten auch die Grundlage für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. Auf dieses Thema wird am Beispiel der Managementlehre später noch ausführlich einzugehen sein, sodass es hier lediglich bei einer Bemerkung bleiben kann.
4.5
Einteilung der Wissenschaftsgebiete in wissenschaftshistorischer Sicht
Eine klassische Einteilung der Wissenschaftsgebiete könnte so aussehen, wie sie einmal von Aristoteles entworfen wurde. Die Vorstellung einer Wissenschaft als Methode, aus Prinzipien und Grundsätzen Erkenntnisse zu gewinnen, hält sich nicht nur bis zur Neuzeit, sondern zeigt auch den mittelbaren Charakter der Wissenschaft selbst auf. Die einzelnen, singulären Ereignisse und das Vergängliche, das sich über Wahrnehmung, Erfahrung oder Geschichtskunde vermittelt, sind nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Aussage, sondern das Allgemeine und Notwendige: Singularium non est scientia (vgl. Baumgartner 1974, S. 1742 unter Verweis auf Duns Scotus). In den logischen Schriften (Organon) von Aristoteles und seiner »Metaphysik« wurden grundlegende Gedanken zu vielen Grundbegriffen aufgeschrieben, die heute noch von großer Bedeutung sind. So wurden Unterscheidungen der Begriffe Form und Inhalt oder methodische Verfahren der Wissenschaften, wie Beweis, Definition, Schluss sowie die Einteilung der Wissenschaften in theoretische und praktische Wissenschaften durch Aristoteles geprägt. Neben Aristoteles hatte aber auch die katholische Kirche einen erheblichen Einfluss darauf, was Philosophie und Wissenschaft genannt wer-
95 4.6 · Entwicklung der Wissenschaft und Gründung von Universitäten
den darf. Die wissenschaftliche Erkenntnis als eine Erkenntnis durch methodisch gesicherte Erkenntnis und nicht durch »Einsicht in göttliche Prinzipien« prägte die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Wissenschaft insbesondere im Mittelalter. Wissenschaft gilt seitdem als mittelbare Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit durch Methoden, die eine unmittelbare Erfahrung im Glauben, wie z. B. einer göttlichen Eingebung oder einer Erscheinung, als unwissenschaftlich ablehnt. > Erkenntnis durch Methoden ( Wissenschaft) und Erkenntnis der Methoden ( Wissenschaftstheorie) bleibt seitdem ein duales Erkenntnisinteresse von Wissenschaftlern innerhalb und zwischen ihren Fachgebieten.
Die Wissenschaftstheorie kennzeichnet dabei den Abkopplungsprozess der Wissenschaften von der Philosophie, ohne diesen Schritt endgültig zu tun, da in ihr die Philosophie weiterhin bedeutsam bleibt. Die Emanzipation der Wissenschaften von der Kirche wird durch die Trennung zwischen Glaube und Erfahrung als zwei unterschiedliche Erkenntnisquellen oder -weisen vollzogen. Als Invarianz aller Wissenschaftskonzeptionen muss deshalb bis heute die Unterscheidung zwischen Wissenschaft, Glaube und Meinung gelten. In der klassischen Wissenschaft gilt jedoch die Sicherheit des Wissens durch Wissenschaft als Unterscheidungskriterium zur Vagheit und Wahrscheinlichkeit des Glaubens und der Meinung sowie als konstitutives Merkmal wissenschaftlichen Denkens überhaupt. So konnte Wissenschaft damals noch als ein geradezu architektonisch gegliedertes Ganzes aus Wahrheiten gesehen werden, deren Erkenntnis aus reinen Prinzipien und ihrer Anwendung und nicht aus Erfahrung gelangt (vgl. Baumgartner 1974, S. 1743 im Verweis auf Kant). Die Problematik dieser Ansicht soll ebenfalls später noch einmal aufgegriffen werden. Ob nämlich ein solch »architektonisch gegliedertes Ganzes aus Wahrheiten« möglich ist und z. B. innerhalb der Managementlehre gilt, wird zu prüfen sein. Der Umbruch zwischen klassischer und moderner Wissenschaft kann nicht als chronologischer Ablösungs- und Erkenntnisprozess von Wissenschaftlern interpretiert werden.
4.6
4
Entwicklung der Wissenschaft und Gründung von Universitäten
In dieser Zeit entwickelte sich ebenso ein Verständnis heraus, dass sich die Wissenschaft aus dem Bezug des genialen Lehrers und Gelehrten oder der Klöster und Kirchen mehr und mehr herauslöste und in ein gesellschaftlich institutionalisiertes System aus Wissenschaften, Kunst, Doktrin, Disziplinen und Fakultäten mit ihren Bibliotheken und Büchern überführte (vgl. Baumgartner 1974, S. 1744). Die Gründung und Entwicklung der Universitäten kann als Beleg für diesen Entäußerungsprozess von Wissenschaft und der Objektivierung des Wissens angesehen werden. Die Buchdruckkunst mit der Möglichkeit, Wissen sprachlich so abzufassen, dass viele Menschen sich dieses Wissen erschließen konnten, sofern sie die intellektuellen Fähigkeiten dazu hatten, leitete ebenfalls den Veränderungsprozess der Wissenschaften »aus dem Elfenbeinturm der Kirchen, Klöster und Universitäten« ein. Die eigentliche Emanzipation der Wissenschaft aus der Philosophie und in der Folge auftretenden Unterscheidungen zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften sind v. a. auf das wachsende Interesse an der experimentellen Veränderung der Natur durch den Menschen zurückzuführen. (vgl. Baumgartner 1974, S. 1744). > Als theoretische Wissenschaften gelten heute noch solche, die »auf Erkenntnis zielen«. Demgegenüber werden als praktische Wissenschaften als »auf das Handeln zielende« Wissenschaften bezeichnet. Hier konzentriert sich die Diskussion auf den Begründungszusammenhang, dort auf den Verwendungszusammenhang.
Während im Entdeckungszusammenhang die Frage aufgeworfen wird, wie ein Wissenschaftler die Motive, Anlässe usw. gewinnt, bestimmte Fragen wissenschaftlich aufzugreifen und ihnen nachzugehen, wird im Verwendungszusammenhang auf eine mögliche Verwendung des wissenschaftlichen Wissens und die Verantwortung für eine solche Verwendung durch den Anwender oder Wissenschaftler selbst abgestellt. Es wird allgemein als historische Tatsache betrachtet, dass die moderne Wissenschaft im frü-
96
Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
hen 17. Jahrhundert entstanden ist, als die Strategie zum ersten Mal eingesetzt wurde, Beobachtungstatsachen als ernst zu nehmende Basis für die Wissenschaft zu sehen (vgl. Chalmers 2001, S. 6). Die Erfahrung soll nun die wesentliche Grundlage einer Erkenntnis darstellen.
4
> Wahrheit wird nun nicht mehr aus Prinzipien hergeleitet, sondern gilt als Erkenntnis aus allgemeinen Sätzen (Hypothesen), die mit der Empirie konfrontiert, ihren Wahrheitsanspruch (Verifikation) als Erklärung einlösen muss.
Aus der Entdeckung, dass etwas ist wie es ist (DassSystematisierungen), wird die Erfahrung und Erklärung, warum etwas so ist wie es ist (Weil-Systematisierungen). Das erkennende und seine Umwelt gestaltende autonome Subjekt kann als Ideal einer Wissenschaftskonstruktion aufgefasst werden, dass sich seiner wissenschaftlichen Methoden bedient, um sich eine von Gott unabhängige und autonome Existenz zu sichern. In der Konfrontation ihrer Aussagen mit der Praxis wird die Wahrheit gesucht.
»
Nachdem die nominalistische Kritik an den Allgemeinbegriffen und am Begriff des Prinzips erkenntnistheoretisch den klassischen Wissenschaftsbegriff destruiert hatte, wurde mit Ausnahme der formalgültigen logischen Prinzipien die Erfahrung zur inhaltlichen Basis wissenschaftlichen Wissens. Dabei änderte sich auch der Gültigkeitscharakter der allgemeinen wissenschaftlichen Sätze, deren Wahrheit nun nicht mehr durch logische Herleitung aus Prinzipien nachgewiesen und garantiert werden konnte, die vielmehr als Sätze mit bloßem Wahrheitsanspruch der Verifikation an der Erfahrung unterworfen wurden (Baumgartner 1974, S. 1744)«.
Die Umstellung dieser Wissenschaftsidee bedingt letztlich auch den Wandel der Institution Wissenschaft, die aus ihrem »Elfenbeinturm« herauszutreten scheint und sich der Öffentlichkeit durch praktische Forschung öffnet. Wissenschaft wird Teil einer politischen und sozialen Kultur neben Kunst, Religion und Staat. Wissenschaft als praktisch alles erforschende und erklärende sowie begründende Instanz macht sich nun auf, die vielfältigen Interessen der Gesellschaft in einer Binnendifferenzierung
ihrer Fach- und Forschungsgebiete zu repräsentieren. Sie wird zum Spiegel eines sich von Gott immer unabhängiger definierenden Menschen, der sich seine Natur untertan macht und dabei die praktischen Erkenntnisse seiner empirisch prüfbaren und verifizierbaren Hypothesen ständig sammelt, katalogisiert und weiterentwickelt.
»
Unter drei Gesichtspunkten lässt sich die moderne Wissenschaftsidee daher charakterisieren: 1. In anthropologischer Perspektive stellt sich die neuzeitlich moderne Wissenschaft als eine menschliche Grundhaltung dar, die durch die Postulate der neutralen Distanz, der Vorurteilsfreiheit, der Wertfreiheit, der wissenschaftlichen Redlichkeit, der Offenheit für Kritik, sowie der Intersubjektivität festgelegt ist. 2. In formal-theoretischer Perspektive etabliert sie dessen Ordnungsstruktur dem logischen Prinzip der Ableitung genügt und dessen Basis auf intersubjektiv überprüfbare Erfahrung (Sinnesdaten, Protokollsätze usw. ) bezogen ist. Die diesem Satzsystem mögliche Wahrheit beruht auf empirischer Verifikation und logischer Justifikation; sein Geltungscharakter ist nicht mehr absolut, sondern hypothetisch. 3. In soziokulturell-materialer Perspektive realisiert sich die neuzeitlich moderne Wissenschaft als ein mannigfach aufgefächerter autonomer Kulturbereich, als Inbegriff mannigfaltiger Forschungsprozesse, als Interaktionsgeflecht sozialer Institutionen, als Insgesamt eines vielfältig verflochtenen Wissenschaftsbetriebs mit einer Vielfalt selbständiger Disziplinen, deren Gemeinsamkeit bestenfalls in der Identität der formalen Struktur, nicht mehr jedoch in der Einheit eines materialen Prinzips begründet ist (Baumgartner 1974, S. 1745, Hervorhebungen durch den Autor)«.
Folgen Sie den Vorstellungen im Bereich formaltheoretischer Perspektive und lassen sich inspirieren von den Ideen, Wissenschaft als systematische Methoden zur Entdeckung, Beschreibung und Erklärung sowie Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnis kennen zu lernen.
97 4.8 · Eine Leitvorstellung: Die Naturwissenschaften
4.7
Dominanz der Methode und Einteilung der Wissenschaften
Die Dominanz der Methode innerhalb der wissenschaftlichen Betätigung zeigt sich einmal mehr in der Verehrung der Logik und mit ihr der Mathematik auf der einen Seite, die Erfahrungswissenschaften auf der anderen Seite, die sich eher in den Ansatzpunkten zur wissenschaftlichen Erkenntnis unterschieden (Empirie). Die wissenschaftlichen Methoden in diesen beiden Richtungen werden dann weiter nach eher nomothetisch organisierten Methoden der Beobachtung, Hypothesenbildung, Experiment und Theoriebildung und der eher verstehend ausgerichteten Methoden der Beobachtung und Deutung spezieller Phänomene, deren Bedeutungszuweisung und Sinnverstehen innerhalb der historisch kulturellen Zusammenhänge einer Gesellschaft differenziert (Phänomenologie und Hermeneutik). Die Einteilung der Wissenschaften wird unterschiedlich pointiert. > Die eben vorgestellte Unterscheidung in erkenntnisorientierte und praktisch-orientierte Wissenschaft prägte die Aufteilung in (theoretische) Grundlagenforschung und Methodenlehre sowie (empirische) Erfahrungslehre oder (rationale) Vernunftwissenschaft.
Diese Unterscheidung hält sich hartnäckig bis in die heutige Zeit, wie an der Aufgabenstellung von Universitäten und Fachhochschulen gesehen werden kann. Grundlagenforschung soll vornehmlich den Universitäten vorbehalten bleiben, während Fachhochschulen v. a. praktisch instrumentelles Wissen lehren und sich der Anwendung des praktisch relevanten Wissens verpflichtet fühlen sollen.
4.8
Eine Leitvorstellung: Die Naturwissenschaften
Die Entwicklung der Wissenschaftstheorie steht damit v. a. zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Tradition der Mathematiker und der sog. Naturwissenschaftler, da die naturwissenschaftlichen Entdeckungen und ingenieurwissenschaftlichen Entwick-
4
lungen überaus wirkungsvoll und offensichtlich die (positive) Welt zu verändern in der Lage waren. Die industrielle Revolution bereitete den Siegeszug der natur- und ingenieurwissenschaftlichen Erkenntnismethoden, die ihre »objektive« Leistungsfähigkeit an der wahrnehmbaren Veränderung der Lebenswelt eindrucksvoll demonstrieren und der scheinbar unendlich fortschreitenden Wirtschaftsentwicklung mit wissenschaftlichen Mitteln den Weg bereiten konnte. Technisch verwertbares Wissen wird Mittel zum Zweck der Weltveränderung und gleichzeitig zum klassischen Ausdruck wissenschaftlicher Rationalität überhaupt. Die Sozialwissenschaften suchten in der Folge zunächst nach Wegen, die naturwissenschaftlichen Methoden auch für ihre sozialen Wissenschaften nutzbringend anzuwenden, weshalb Denkrichtungen dieser Tradition mit dem Begriff »Positivismus« belegt wurden. Das allerdings neben der wissenschaftlichen Methoden im Rahmen eines Begründungszusammenhanges, auch der Entdeckungsund der Verwendungszusammenhang einer Wissenschaft wichtig sein kann und hier Erklärungen darüber möglich werden, wie, warum und mit welchen Ergebnissen etwas erforscht werden kann, wurde erst später gründlich und v. a. in Deutschland diskutiert. Gerade die in den Nachkriegsjahren bereits diskutierte Verantwortung des Wissenschaftlers für seine Erkenntnisse und Produkte, die nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki die ethische Verantwortung wieder in den Rahmen der Wissenschaftsdiskussion hineinbrachte, später dann die in den 70er Jahren diskutierten »Grenzen des Wachstums« und der Begrenzung wissenschaftlicher Möglichkeiten im Rahmen materiell verfügbarer Ressourcen der Erde, stellen nur zwei wesentliche Ansatzpunkte dieser Diskussion dar. Ebenso wird die Forschungspolitik eines Landes im Rahmen der Wissenschaftssoziologie kritisch analysiert, weil durch die Wahl bestimmter Forschungsschwerpunkte und der Förderung entsprechender Projekte, andere Verfahren in den Hintergrund gerückt oder überhaupt nicht entwickelt werden können. Besonders zeigt sich dies an der Atomindustrie, deren dominante Förderung alternative Energieerzeugungsverfahren entweder als unwirtschaftlich oder als nicht entwickelt genug erscheinen ließen. Eine ziellose Wissenschaftsent-
98
4
Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
wicklung, deren Erkenntnisse durch sie selbst schon als ethisch gerechtfertigt und fortschrittsfördernd eingestuft werden können, erwies sich als Illusion. Vielmehr schaffen sich die Wissenschaften ihre eigenen Anwendungsbereiche, die sich in der Folge ökonomisch verwerten sollen. Wissenschaft wird zur Forschung einer industriell geförderten Politik, bei der die gesellschaftlich etablierten Institutionen sowohl die Schwerpunktsetzung als auch die Mittelvergabe und damit die Verwendung des Wissens dominieren. Selbst in der vormals so verklärt, weil wissenschaftlicher »Urerkenntnis« dienender Grundlagenwissenschaft soll sich mehr und mehr der Frage nach ihrem Nutzen, ihrem Wert oder ihrer Verwendbarkeit unterwerfen. Das Sträuben des etablierten Wissenschaftsbetriebs in Universitäten, sich der Nutzenfrage ihres Tuns zu stellen, wird immer stärker ein System industrieller Forschungsförderung, dem Aufbau entsprechend geförderter und nicht mehr bürokratisch sondern managementartig geführter Institute und ein System der pragmatisch lehrenden und auf aktuelle Verwendung von Erkenntnissen abzielende Fachhochschulen gegenübergestellt. Als neueste Tendenz dieser Entwicklung ist der Versuch zu sehen, Hochschultätigkeit,
Kunst
also Forschung und Lehre, zu evaluieren. Dazu werden an anderer Stelle noch weitere Ausführungen folgen. Die bislang vorgestellten Gedanken können zur Vervollständigung unserer Abbildung genutzt werden, wobei auf die im Weiteren verfolgten Diskussionszusammenhänge besonders wert gelegt wird (vgl. ⊡ Abb. 4.3).
4.9
Die Suche nach systematischen Erklärungen und Begründungen oder was sind Theorien?
Bevor der Autor auf die einzelnen Aspekte der Managementtheorien und deren Beziehung zur Betriebswirtschaftslehre eingeht, soll in aller Kürze erklärt werden, was unter einer Theorie verstanden werden kann. Theorien stellen sozusagen die Essenz der wissenschaftlichen Bemühungen dar, und es werden, je nach Wissenschaftsrichtung, verschiedene Anforderungen an sie gestellt. Unzweifelhaft hat sich durch die Ausdifferenzierung die Menge der Informationen ganz allgemein über Kultur und Gesellschaft vervielfacht. Gleichzeitig veralten Informationen immer schneller, was in
Religion
Mythos
Philosophie Logik
Ethik
Ästhetik
Wissenschaftstheorie
Wissenschaftsgeschichte
Managementlehre
Naturwissenschaften
Wissenschaftssoziologie
Geistes- oder Sozialwissenschaften
Beziehung S
O Methoden/Instrumente Kausalität
⊡ Abb. 4.3. Philosophie, Wissenschaftstheorie und Sozial- bzw. Naturwissenschaft als Grundlage einer Managementlehre. S Subjekt, O Objekt
99 4.9 · Die Suche nach systematischen Erklärungen und Begründungen
Anlehnung an die Verfallsraten von Cäsium 301 als »Halbwertzeit« bezeichnet wird. > Unübersichtlichkeit ist häufig eine Folge, der mit zunehmender Spezialisierung – auch durch die Wissenschaften – geantwortet wird.
Wenn der Blick auf die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gerichtet wird, kann zunächst einmal konstatiert werden, dass die großen theoretischen Gesellschaftsentwürfe und die dazu gehörigen wissenschaftlichen Aussagensystem die wissenschaftlichen Diskussionen in den Sozialwissenschaften eher beherrschten als heute. Für die Betriebswirtschaftslehre als Teil der Wirtschaftswissenschaft kann heute konstatiert werden, dass diese Diskussion zugunsten eher praktisch ausgerichteter Konzepte zurückgegangen ist. Genauso steht es um die Wissenschaft vom Management, ohne dass bislang eindeutige Beweise dafür erbracht wurden, dass es sich hierbei um eine Wissenschaft handelt und ob sie eigenständig oder ein Teil der Betriebswirtschaftslehre ist. Bereits an anderer Stelle hat der Autor auf die Bedeutung von Erklärungen hingewiesen, die insbesondere der Findung von gesetzmäßigen Zusammenhängen dienen sollen. Die einfache Systematisierung eines Wissensgebietes (Klassifizierung, Unterscheidung, Zusammenfassung von einzelnen Ereignissen oder Aussagen), stellt noch keine Theorie dar. > Unter einer Theorie kann eine Systematisierung von Wissen verstanden werden, die über einem Gesetz steht. Gesetzesaussagen beziehen sich meist nur auf
Dinge, Ereignisse, Phänomene, Zustände usw. und sagen etwas über ihr regelhaftes Verhalten (Zusammenbestehen, Aufeinanderfolgen, Wechselwirkungen usw.) aus, während von einer Theorie erst dann gesprochen wird, wenn es sich um einen Zusammenhang von Gesetzesaussagen handelt (Schnädelbach 1993, S. 31). Unter Studierenden ist es weit verbreitet, jedem Zusammenhang schon den Begriff »Theorie« zuzusprechen. Nicht jede Vermutung, die im Hörsaal einer Hochschule ausgesprochen wird, ist Teil einer Theorie, vieles davon hat noch nicht einmal Gesetzescharakter und entbehrt häufig sogar einer praktischen Bewährung.
4
4.9.1 Wissenschaftliche Systematisierung
von Aussagen > Wissenschaftliche Systematisierungen der genannten Art werden auch als »Weil-Systematisierungen« bezeichnet (vgl. im folgenden Schnädelbach 1993, S. 19ff).
Weil-Systematisierungen geben uns Antworten auf Warum-Fragen. Begründungen, Ableitungen, Erklärungen, Beweise stellen Begriffe und Verfahren der Erkenntnisfindung dar, die Gründe und Ursachen für bestimmte betrachtete Phänomene bezeichnen. Der Wissenschaftler verknüpft in spezifischer Weise das Subjekt mit dem Objekt, die Ursache mit der oder den Wirkungen usw. Bevor auf die Spezifika von Weil-Systematisierungen eingegangen wird, ist ein genauerer Blick auf die »einfachere« Form der Dass-Systemtisierungen zu werfen. Dass-Systematisierungen und Formen ihrer Klassifizierung > Im Unterschied zu den Weil-Systematisierungen gelten Dass-Systematisierungen als etwas, was der Fall ist.
»Was ist das für ein Ding oder eine Sache, die da vor einem liegt? Wo, wann und wie ist etwas in Erscheinung getreten?«, stellen die Leitfragen und -antworten zu Dass-Systematisierungen dar. Bei Dass-Systematisierungen werden ebenfalls Zusammenhänge aufgezeigt, jedoch nutzt man zur Beschreibung der interessierenden Sachverhalte verschiedene Klassifikationen. Durch Zuordnung von Phänomenen oder Dingen zu Klassen (z. B. ein Wal in die Klasse der Säugetiere oder ein Mitarbeiter mit pflegerischen Tätigkeitsinhalten zur Gruppe der Pflegekräfte) versuchen Wissenschaftler sich einen Überblick über die unterschiedlichen Phänomene im Objektbereich zu verschaffen, sie zu sortieren. > Eine Subsumtion ist nichts anderes als eine Klassifikation einer Sache in eine bestimmte Gruppe, Klasse usw., um Einzeldinge unter allgemeinere Begriffe zusammenzufassen. Demgegenüber bezeichnet eine Prädikation eine Erkenntnisleistung, bestimmten Dingen spezifische Eigenschaften oder besser Eigenschaftsbegriffe zuzuordnen.
100
4
Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
So ist ein Krankenhaus kein Unternehmen (Klassifikation) sondern z. B. ein Dienstleistungsbetrieb (Subsumtion), in dem kranke Menschen versorgt und nach Möglichkeit ihre Krankheiten geheilt werden sollen (Prädikation). Eine genauere Prädikation verlangt häufig nach einer genaueren Angabe von Eigenschaften, die qualitativ oder quantitativ ausgedrückt werden kann. Als Messung wird ein Vorgang bezeichnet, in dem metrische Begriffe (z. B. Größe, Dauer, Gewicht, Geschwindigkeiten) anhand von Maßzahlen quantifiziert werden. Lokalisierung als wissenschaftlicher Begriff meint die Einordnung von Gegenständen oder Phänomenen primär in räumlicher Hinsicht, also mithilfe eines räumlichen Schemas. Im Krankenhausbereich unterscheiden man z. B. zwischen einem Krankenhaus in städtischer oder ländlicher Region. Lokalisationen können auch mit zeitlichen Dimensionen in Zusammenhang stehen. Der Begriff »Zeitraum« zeigt diesen ursprünglichen Zusammenhang noch auf, den Kant als »a priori« bezeichnet hat. Die Systematisierung von Gegenständen und Phänomenen findet immer in einem bestimmten Raum-ZeitBezug statt. Weder Beschreibungen noch Begründungen können von solchen Raum-Zeit-Bezügen abgelöst werden. Nun sollen verschiedene Formen der Systematisierung noch etwas genauer eingeführt werden. Vergleiche helfen Begriffe zu anderen in Beziehung zu setzen, sie als größer, kleiner, dicker, dünner, wichtiger, unwichtiger, dringlicher, weniger dringlich, entfernter oder näher zu kennzeichnen. Solche Begriffe werden komparative Begriffe genannt und zeigen Relationen zwischen Ereignissen, Gegenständen oder Phänomenen usw. auf. Topologien sind systematische Relationen, die eine Anordnung von Ereignissen oder Dingen in räumlichen Zusammenhängen (griech. topos = Raum) aufzeigen. Chronologien (griech. chronos = Zeit) werden entsprechende Strukturierung in zeitlicher Hinsicht genannt. Eine nützliche Darstellungsform für komparative Begriffe und Ereignisse stellen häufig Tabellen dar, die eine Grundlage für spätere als höherwertig angesehene Systematisierungen liefern wie z. B. das Erklären oder Begründen (vgl. Schnädelbach 1993, S. 21). Schematisierungen liefern uns Darstellungen in schematischer Form wie z. B. in Form eines Ablaufdiagramms. Typisierungen stilisieren eine Sache
unter bestimmten Aspekten (z. B. der Typ Sokrates), mit der dieser Typ von anderen unterschieden bzw. zugeordnet werden kann. Da Wissenschaftler meist ordnungsliebende Menschen sind (wie immer diese Ordnung auch aussehen mag) helfen also DassSystematisierungen und die bislang aufgezeigten Möglichkeiten, Fachgebiet oder den interessierenden Bereich zu überschauen, zu systematisieren, zu unterscheiden, zu vergleichen und zu ordnen. Die Instrumente und Methoden helfen, einen Überblick zu behalten und, in erkenntnisfördernder Sichtweise, auch Lücken zu erkennen, die neugierig machen und Interesse an vertiefender Auseinandersetzung wecken. Dies ist ihre Funktion. Weil-Systematisierungen: Gründe, Ursachen, Bedingungen und Verhältnisse > Im Gegensatz zu Dass-Systematisierungen drücken »Weil-Systematisierungen« nicht Dinge, Ereignisse, Daten, Erlebnisse usw. aus, sondern insbesondere etwas, was sich in ganzen Sätzen ausdrücken lässt (vgl. Schnädelbach 1993, S. 23).
Der Grund, die Ursache, die Bedingung unter der ein angesprochenes Verhältnis zwischen Phänomenen ausgedrückt wird, das über eine komparative oder tabellarische Systematisierung hinausgeht, beinhaltet also eine »Weil-Systematisierung«. Wenn nun eine Beziehung, ein Grund, eine oder mehrere Ursachen und Bedingungen in spezifischer Weise angegeben werden sollen, wird die Tür zu zentralen Fragen der Erkenntnistheorie aufgestoßen. Alltagssprachlich ist scheinbar alles, für das ein Grund, eine Vermutung oder eine Spekulation angeben wird, eine Begründung. Wissenschaftliche Begründungen liefern zunächst einmal logische Begründungen, die als Schlüsse, Ableitungen oder Beweise bezeichnet werden sollen. Häufig steht in der einschlägigen Literatur, dass wissenschaftliche Begründungen logisch sein müssen. Dies ist in dieser Form sicher nicht unumschränkt richtig. Formallogische Begründungen folgen einem ganz bestimmten Schema, die lediglich bestimmte Anforderungen an Verknüpfungsregeln zwischen Ereignissen oder Dingen stellen. »Der Patient Müller ist ein Mann« ist z. B. eine Aussage, die unter Angabe einer Bedingung »Alle Männer sind Rentner« zu dem Schluss
101 4.9 · Die Suche nach systematischen Erklärungen und Begründungen
führen könnte »Der Patient Müller ist Rentner«. Formallogisch ist der hergestellte Zusammenhang in dieser Form richtig, inhaltlich nicht unbedingt, da aus der Eigenschaft Mann zu sein nicht abgeleitet werden kann, dass Herr Müller auch Rentner ist. Die Frage nach der Bedeutung der Begriffe Mann, Rentner, Herr usw. sowie ihr Wahrheitsgehalt selbst würde man unter semantischen Gesichtspunkten überprüfen. Die Weil-Systematisierungen stellen insbesondere Antworten auf Warum-Fragen dar. Dabei geben die Antworten entweder Gründe oder Ursachen an. Bei der praktischen Begründung wird ein Grund (eine Intention, eine Absicht oder ein Ziel) angegeben, den ein Befragter für seine Handlung anführt. Solche Antworten gehen meist auf Tatsachen zurück. Für sie empfiehlt z. B. Schnädelbach den Begriff Rechtfertigung zu verwenden (vgl. Schnädelbach 1993, S. 25). Begründungen, die sich auf Vorstellungen über Tatsachen beziehen (z. B. Erwartungen, Vermutungen usw.) werden als epistemische Begründungen bezeichnet. Etwas wissenschaftlich zu erklären, meint die Begründung einer Erscheinung oder eines Sachverhaltes durch eine Hypothese oder ein Gesetz. Nach dem nächsten Abschnitt werden diese Begriffen noch genauer betrachtet.
4.9.2 Kausales, lineares und finales
Denken Berücksichtigt wird nochmals die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, die anfangs eingeführt wurde. Die Betrachtung oder das Nachdenken über solche Beziehungen zwischen Subjekten und Objekten soll als lineares Denken bezeichnet werden. Das Nachdenken kann sich aber auch auf das Subjekt selbst beziehen. Menschen haben die Fähigkeit, ihr eigenes Denken zu bedenken, sich also selbst und ihr Handeln zum Gegenstand ihres Nachdenkens zu machen.
4
Zu Anfang wurde die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt kausale Beziehung oder Antwort auf eine Weil-Systematisierung genannt, die auf Ursachen oder Gründe zurückführt, die diese Beziehung kennzeichnet. Wenn Weil-Systematisierungen als Antworten auf die Frage »Warum ist …?« verstanden werden, dann können auch genetische Erklärungen vorliegen, die Antworten auf die Frage »Wie kommt es, dass …?« geben (vgl. Schnädelbach 1993, S. 25). Hier wird z. B. eine entwicklungsgeschichtliche Beschreibung als Antwort angegeben. Häufig kommen auch Erklärungen vor, die im Hinblick auf einen ganz bestimmten Zweck also im Blickwinkel einer Funktion gegeben werden. Solche funktionalen Erklärungen verändern die Weil-Antwort in eine »Um-zu-Antwort«, die auch teleologische oder finale Erklärung genannt wird.
»
Ein Finalprozess ist nämlich nichts weiter als ein Kausalprozess, den ich selbst in Gang setzen kann und der dann der Erreichung eines Zweckes dienstbar gemacht wird (Seiffert 2001, S. 63)«.
Mithilfe eines Beispiels soll dies noch einmal erläutert werden. Beispiel Ein kausaler Zusammenhang zwischen meinem Betreten eines Patientenzimmers und dem Verstummen der Patienten ist mir bekannt. Das Verstummen zwischen den Patienten ist eine ungewollte Folge meines Betretens des Zimmers, da ich ja nicht die Gespräche verhindern wollte, als ich das Zimmer betrat. Die zunächst unbeabsichtigte Folge könnte jedoch mein Interesse wecken und mich dazu motivieren, Patientenzimmer zu dem Zweck der Unterbindung von zu lauten Patientengesprächen zu betreten. Aus dem früheren Betreten des Zimmers wird nun ein Mittel, mit dessen Hilfe ich einen bestimmten Zweck erreichen kann.
> Über sich selbst und seine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt sowie die dabei zum Einsatz kommenden Methoden nachzudenken, soll reflexives Denken genannt werden.
Wenn also die Folge oder Wirkung zum Zweck wird, wird die Ursache zum Mittel (Seiffert 2001, S. 4, 64). Ein Finalprozess besteht demnach aus drei Schritten:
102
Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
1. Der Kausalvorgang ist mir grundsätzlich bekannt: Eine Ursache erzeugt eine Wirkung. 2. Aus der ursprünglichen Wirkung mache ich einen Zweck, sodass die Ursache ein Mittelcharakter annehmen kann. 3. Ich handele entsprechend des Kausalzusammenhangs (vgl. Seifert 2001, S. 4, 64).
4
Teleologische Erklärungen und Handlungen sind dementsprechend »Um-zu-Handlungen« oder »-Erklärungen«.
»
Generell lässt sich sagen, dass die moderne Wissenschaftstheorie teleologische Erklärungen nur dann als wissenschaftlich gelten lässt, wenn sie sich als funktionalistische Erklärungen umformulieren lassen (Schnädelbach 1993, S. 26).
4.9.3 Hempel-Oppenheim- oder
Popper-Hempel-Schema der wissenschaftlichen Erklärung Die Darstellung von wissenschaftstheoretischen Erklärungs- und Begründungszusammenhängen wäre ohne das sog. Hempel-Oppenheim- oder auch Popper-Hempel-Schema nicht hinreichend (vgl. zum etwas kleinkariert erscheinenden Streit über die Urheberschaft die Darstellung bei Kjørup 2001, S. 137f.). Es handelt sich um ein Standardschema, mit dem prinzipiell jede wissenschaftliche Erklärung dargestellt werden kann (⊡ Abb. 4.4). Dieses, zunächst etwas seltsam anmutende Schema wird mithilfe eines Beispiels verdeutlicht. Beispiel Wir gehen von der Annahme aus, es sei festgestellt worden, daß die Selbstmordrate in Baltimore höher ist als in New York. Diesen empirischen Sachverhalt wollen wir nun erklären. Wir stehen also vor dem Problem, ein Explanans zu finden, aus dem wir das Explanandum (die höhere Selbstmordrate in Baltimore) deduzieren können. Bei einer sorgfältigen Durchforstung der theoretischen Rüstkammer entdecken wir
▼
folgende auf Emile Durkheim zurückgehende einschlägige allgemeine Gesetzesaussage: ‘In Gruppen, in denen ein hoher Prozentsatz von Personen sozial isoliert ist, ist die Selbstmordrate höher als in Gruppen, in denen ein geringerer Prozentsatz von Personen sozial isoliert ist.’ Nunmehr geht es nur noch darum, die entsprechenden Randbedingungen (Antecedenzbedingungen) zu finden. Dieses Problem haben wir dann gelöst, wenn wir feststellen: ‘In Baltimore sind mehr Personen sozial isoliert als in New York.’ Aus der Durkheimschen Gesetzesaussage und der Randbedingung können wir nun das Explanandum deduzieren: G1: Wenn in einer Gruppe A die soziale Isolierung stärker ist als in Gruppe B, dann ist auch die Selbstmordrate in Gruppe A höher als in Gruppe B A1: In Baltimore ist die soziale Isolierung stärker als in New York
E1:
In Baltimore ist die Selbstmordrate höher als in New York
Damit haben wir eine wissenschaftliche Erklärung (logische Ableitung des Explanandum aus dem Explanans) für die höhere Selbstmordrate gegeben (Raffee 1975, S. 31f. unter Berufung auf Opp, von dem das Beispiel stammt).
Hempel selbst kennzeichnet diesen Typ als deduktiv-nomologisch. Deduktiv, weil es sich um eine lo-
gische Konklusion handelt, nomologisch aufgrund des gesetzmäßigen Hintergrundes (vgl. Kjørup 2001, S. 138). Schon John Stuart Mill vertrat die Auffassung, dass die Wissenschaft vom Menschen nur dann eine richtige Wissenschaft sein würde, wenn sie Gesetze formulieren und damit Erklärungen liefern könnte. Das Hempel-Oppenheim-Schema wurde ferner für die Gewinnung prognostischer Aussagen genutzt. Würde E aus der Kenntnis von A und G vorhergesagt, ohne dass E überhaupt bekannt ist, würden Anwender dieses Schrittes eine solche Vorgehensweise als Prognose bezeichnen. Die Konfrontation dieser Prognose mit der sich vielleicht so ein-
103 4.10 · Verstehen und Erklären
Explanans
Gesetzesaussage (G1) Randbedingung (A1)
Explanandum (E1) ⊡ Abb. 4.4. Standardschema wissenschaftlicher Erklärung
Erklärung
Prognose
Gesucht
Gesetzesausgabe
Gegeben
Gesucht
Randbedingungen
Gegeben
Gegeben
Explanandum
Gesucht
⊡ Abb. 4.5. Erklärung und Prognose. (Nach Raffee 1975, S. 35)
stellenden Praxis könnte dann als Beleg für die Richtigkeit der Prognose und als prognostische Kraft der Gesetzesaussage angesehen werden (⊡ Abb. 4.5). Alltagserfahrungen lehren jedoch, dass durchaus richtige Prognosen über soziales Verhalten getroffen werden können, ohne eine Erklärung von Ursachen, Gesetzen und Randbedingungen zu kennen. Die zwangsläufige logische Symmetrie von Erklärung und Prognose muss demnach nicht gegeben sein (vgl. Schnädelbach 1993, S. 28).
4.10
Verstehen und Erklären
Im abschließenden Kapitel wendet sich der Autor der Frage zu, ob mit dem bisher Gesagten ein Überblick zu den wesentlichen Strömungen und Ansichten gegeben wurde, die als Wissenschaft bezeichnen werden sollen. Viele Wissenschaftler in den Geisteswissenschaften haben sich explizit oder häufiger sogar implizit dem Wissenschaftsprogramm rationaler Erklärung und Begründung angeschlossen, das heute mit der Bezeichnung »kritisch-rationale Wissenschaft« und v. a. mit dem Namen Popper verbunden ist. Letztlich beschreibt dieses Wissenschaftsprogramm eine eher naturwissenschaftlich begründete Denkrichtung, nach der sich die Sozialoder Geisteswissenschaften ebenfalls grundsätzlich
4
in ihrer Vorgehensweise zum Erkenntnisgewinn zu orientieren hätten. Allerdings gibt es auch Wissenschaftler, die grundsätzlich die Behauptung einer Gleichsetzung der natur- und geisteswissenschaftlichen Erkenntnislehre widersprechen. Die Ergebnisse der Geisteswissenschaften müssten nach ihrer Meinung nach anderen Kriterien beurteilt werden. Auch innerhalb dieser Denkrichtung werden zwei verschiedene Auffassungen unterschieden. Die eine Auffassung ist mit dem Begriff Hermeneutik belegt, was soviel wie »Lehre vom Verstehen oder vom Sinn« heißt. Nach ihrer Ansicht beschäftigen sich Natur- und Geisteswissenschaft mit völlig verschiedenen Themenkreisen oder ganz verschiedenen Seinsweisen. Dementsprechend müssten auch die Untersuchungsmethoden andere sein. Die zweite Auffassung innerhalb dieser Denkrichtung ist der Auffassung, dass Natur- und Geisteswissenschaften unterschiedliche Ziele verfolgen, weshalb sie auch verschiedene Methoden anzuwenden hätten (vgl. hierzu und im folgenden Kjørup 2001, S. 75ff.). Hier kann der gesamte und sehr interessante Themenkreis der Diskussion nicht erhellt werden. Es sei nur soviel zur Beschreibung vielfältiger Erörterungen dieses »Positivismusstreits« in der deutschen Soziologie gesagt: Der Ausgangspunkt für die Diskussion, ob die Gesellschaftswissenschaften dem Ideal der Naturwissenschaften nacheifern sollten, wird heute aus zwei Grundgedanken heraus erschüttert. 1. Es gibt nicht »das« empirisch-nomologische Ideal der Naturwissenschaften, da selbst nicht alle Naturwissenschaften nach generellen Gesetzen und Bestätigungen suchen. 2. Das Einzelne, das aus dem Allgemeinen zu erklären versucht wird, sei nicht als Abstraktion vom Ganzen zu gewinnen. Es sei Teil des Ganzen in seiner spezifischen Verflochtenheit, weshalb die Ableitung des Speziellen aus dem Allgemeinen letztlich zu einer sehr vereinfachenden Trivialität führe und häufig nur zu Aufzählungen führe, die mehr eine Auflistung von Ausnahmen darstelle, die der »gesetzlichen« Regel widersprechen. Deshalb sei das Erkenntnisziel nicht die Abstraktion aus dem Einzelnen, sondern eher die Anschaulichkeit geschichtlich immer neu zu konstruierender und zu verstehender bzw. zu erläuternder Ereignisse.
104
4
Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
– Habermas, der wichtigste deutsche Vertreter in dem Positivismusstreit, fügte eine weitere Position hinzu. 3. Dem technischen Erkenntnisinteresse der Naturwissenschaften stellt er ebenfalls das historisch-empirische Wissenschaftsideal der Geisteswissenschaften gegenüber, die nicht nach Gesetzmäßigkeiten suche, sondern Texte interpretiere. Er identifiziert allerdings ein weiteres Interesse der sog. systematischen Handlungswissenschaften, z. B. der Soziologie, der Ökonomie und der Politologie, nämlich das emanzipatorische Erkenntnisinteresse. Dieses soll den Menschen befähigen, sich von seinen sich selbst und durch andere auferlegten gesellschaftlichen (Sach-)Zwängen durch Erkennen zu befreien. Die Kritik von Habermas geht allerdings noch weiter: Er kritisiert den Wahrheitsbegriff der empirischnomologischen Geisteswissenschaften. Es lohnt sich u. E. , diesen zentralen Begriff unter dem Blickwinkel wissenschaftstheoretische Fundierung noch etwas genauer zu betrachten, bevor der Autor sich den Gesundheitswissenschaften zuwendet.
4.11
Was ist wahr – was ist Wahrheit?
In einigen vorhergehenden Abschnitten wurde immer schon der Begriff Wahrheit als erklärter Begriff unterstellt. Wahrheit bedeutet alltagssprachlich so etwas wie Gewissheit, sich also über eine Sache oder sich selbst gewiss zu sein. Ihr wird ein Realitätsgehalt dann zugesprochen, wenn die Dinge oder eine Sache normalerweise sichtbar sind und das eigene Denken über diese Sache mit der Sache selbst in eine Art Übereinstimmung gebracht wird. Als Empirismus soll eine wissenschaftliche Art und Weise der Wahrheitsfindung bezeichnet werden, die der Erfahrung eine besondere Bedeutung in diesem Prozess beimisst. Eine relativ strenge Auslegung des Empirismus ist der sog. Positivismus. Nach dem strengen Empirismus stammt jegliches menschliches Wissen und jegliche menschliche Erkenntnis aus der Erfahrung. Wenn jedoch alles Wissen aus der Erfahrung stammt, dann müssen auch Begriffe, Gesetze und Theorien, also die Formen der wissenschaftlichen Systematisierung, selbst aus der Erfahrung resultieren.
> Mit dem Begriff Induktion wird eine logische Beweisart bezeichnet, bei der aus einer endlichen Menge von Beispielen auf eine Totalität geschlossen wird (vgl. Schnädelbach 1993, S. 34).
Induktion scheint damit ein Mittel zu sein, um von Einzelbeispielen auf die Allgemeinheit zu schließen. Das erste Problem des Induktionismus entsteht aus dem Übergang vieler Einzelbeispiele auf die Allgemeingültigkeit einer Aussage oder eines Aussagensystems. Ab wann oder wie viele Einzelbeispiele genug sind, um eine allgemeine Aussage zu rechtfertigen? Meist lassen sich immer Gegenbeispiele finden, sodass der Allgemeinheitsanspruch notwendig leiden muss. Das andere Problem ist ein Zirkelschluss: Wenn das Induktionsschema selbst ein allgemeines, allerdings auch aus der Erfahrung stammendes allgemeines Prinzip ist, dann müsste es bereits vor der Einführung bekannt sein bzw. aus der Erfahrung gewonnen sein, bevor es eingesetzt werden könnte. Popper hat diesen Induktionismus verworfen und eine deduktive Theorie der Erkenntnis aus der Erfahrung entwickelt. Popper trennt zunächst den Entdeckungs- und Begründungszusammenhang von Theorien. > Nach Popper setzen bereits alle Begriffe Allgemeines voraus, weil sie als »DassSystematisierung« verstanden werden können.
Das Verhältnis von Allgemeinem und Speziellem wird im Begriff bereits deduktiv repräsentiert. Dies ist nach Popper jedoch hauptsächlich im Entdeckungszusammenhang wichtig, also dem Zeitraum, in dem ein Wissenschaftler sich eine wissenschaftliche Frage als Wissenschaftler stellt, sich motiviert sieht usw. Die Herkunft solcher Systematisierungen sagt jedoch nichts über ihre Berechtigung oder Begründung aus. Deshalb ist die Erfahrung erst in einer bestimmten Weise für Aussagen im Begründungszusammenhang zu nutzen. > Die empirische Verifikation, also die Bestätigung einer Aussage durch die Konfrontation mit der Erfahrung, weist Popper als Möglichkeit zurück und setzt die sog. Falsifikation dagegen.
105 4.11 · Was ist wahr – was ist Wahrheit?
4
Eine Theorie oder Aussagen müssen also derart formuliert sein, dass sie an der Erfahrung scheitern können. Theoretisches Wissen ist demnach immer vorläufiges Wissen, dass entweder vollständig oder mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit als vorläufig gültig anzusehen ist. Dennoch: Je stärker eine Wahrscheinlichkeit als quantifizierbares Falsifikationskriterium eingeführt wird, desto wahrscheinlicher bewegen sich die Betrachter wieder im gleichen Zusammenhang, der durch die Falsifikation überwunden werden sollte. Auch eine empirische Verifikation könnte mit solchen Wahrscheinlichkeiten arbeiten und damit einen gleichen Gültigkeitsanspruch wie eine Falsifikation erheben. Schwerer wiegt jedoch der zentrale Einwand gegen die Voraussetzung, dass eine »reine Erfahrung« benötigt wird, um Aussagen und Theorien zu bestätigen bzw. zu widerlegen. Ohne eine solche reine Erfahrung würde ebenfalls wieder etwas bereits verstandesmäßig Gegebenes vorausgesetzt, das erst durch Aussagen über die Gegenstände oder Dinge in Konfrontation mit der Erfahrung begründet werden sollte. Ein Zirkelschluss wäre die Folge. Eine rein sinnliche Aufnahme von Wirklichkeit »so wie sie ist«, ist aber nicht möglich. Die Vernunft kann nur das an der Natur erkennen, was sie vorher in sie hineingelegt hat (Kant 1971). Erfahrung setzt bereits Begriffliches und v. a. auch einen Zusammenhang voraus, unter dem die Erfahrung und die Dinge systematisiert bzw. in einen Zusammenhang gestellt werden. Allerdings sind Gedanken ohne Inhalt leer, weil der Verstand immer auch auf die sinnliche Erfahrung angewiesen ist, um sich über etwas Gedanken machen zu können. Diese Erkenntnis bringt uns zu Immanuel Kant zurück, der bereits feststellte:
fahrung und nicht nur logischer Gegenüberstellung von empirischer Aussage mit einer Theorie. Darüber hinaus ist menschliche Erfahrung immer schon in Sprache gekleidet, sodass Sprache nicht erst zur Erfahrung hinzutritt. Deshalb können Sinnesdaten, Empfindungen oder Wahrnehmungen nicht wahr oder falsch sein, sondern nur Aussagen über das Gegebene. Die reine Empirie wird damit zur Fiktion. Popper bot mit seiner Wissenschaftstheorie allerdings noch viel mehr an, als der Autor hier in Kürze darstellen kann, und man würden sicherlich diesem großen Philosophen der Neuzeit unrecht tun, wenn man sein Bemühen um die Begründbarkeit wissenschaftlicher Aussagen in ein ausschließlich negatives Licht stellen würden. Seine Konzepte waren für die wissenschaftstheoretische Diskussion überaus fruchtbar und haben die Wissenschaften genötigt, ihre eigene Position, insbesondere in Bezug auf die Induktion und Verifikation, die Art der Erkenntnis, die Begründungs- und Verwendungszusammenhänge neu zu bedenken. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Naturwissenschaften ihr eigenes deduktives Erkenntnismodell in einigen Fachgebieten als durchaus schlagkräftiges Instrument der Forschung besitzen. Allerdings ist es nicht das einzige Modell in den Naturwissenschaften, sondern auch hier herrscht Methodenpluralismus. Ihr Interesse ist das technische Handeln. Die Grundlage für die Geisteswissenschaften bildet ihr Interesse nach subjektivem Verständnis und, wenn dieses Interesse im Habermas-Sinne wird, dem aufklärerischen Interesse nach Befreiung von ideologischen Zwängen. Demnach sind andere Kriterien für die Qualität der Forschung anzulegen als in den Naturwissenschaften.
»
> Und dennoch haben Natur- und Geisteswis-
Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind (Kant 1971, S. B75)«.
Rationalismus und Empirismus gehören notwendig zusammen. Schnädelbach führt demzufolge noch weitere Gründe gegen den Positivismus und kritischen Rationalismus an (vgl. Schnädelbach 1993, S. 40f.). Erfahrung und Handlung, so kritisieren v. a. die Pragmatiker gegen den empirischen Erfahrungsbegriff, ließen sich nicht trennen. Falsifikation oder Verifikation sind immer Ergebnis handelnder Er-
senschaft einen gemeinsamen Ausgangspunkt: die Interpretation.
»
Selbst so etwas Banales wie das Feststellen des Temperaturunterschiedes zweier verschiedener Flüssigkeiten mittels zweier Thermometer erfordert einen ziemlich großen theoretischen Apparat und Interpretation; wie sollte man sonst die unterschiedliche Höhe von Quecksilbersäulen in dünnen Glasröhrchen überhaupt verstehen können? (Kjørup 2001, S. 85)«
4
106
Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
4.12
Die Fortschrittsidee in den Geisteswissenschaften
Popper hatte mit seinem Konzept zum kritischen Rationalismus eine Fortschrittsidee der Wissenschaften geliefert. Im Prinzip sollten nichtfalsifizierte Konzepte zu Theoriegebäuden aufgetürmt werden können, die dann eine immer bessere Erklärung der Welt ermöglichen könnten. In den meisten Büchern zur Wirtschaftswissenschaft werden z. B. historisch gültige Theorien abgelöst durch neue Theorien und Konzepte, weil sie entweder als unangemessen zur Erklärung der Welt oder einfach als veraltet gelten. Nach dem kritischen Rationalismus müssten sich die alten Theorien oder Konzepte nicht mehr bewähren, müssten zumindest partiell widerlegt sein und Widersprüche zwischen Theorie und Empirie auftreten, die dann Platz für neue Hypothesen machen würden. Nicht aber der Konflikt der Aussagensysteme selbst sondern die Arbeit der Forschergemeinschaft entscheide über den Fortschritt in den Wissenschaften, meinte zumindest Kuhn, der mit seinem Buch »The structure of scientific revolution« aus dem Jahr 1962 für erhebliche Aufregung sorgte. Für Kuhn lösen sich Phasen der wissenschaftlich »normalen« Arbeit (Aufräumarbeit) mit Phasen der wissenschaftlichen Revolution ab. Die Gemeinschaft der Wissenschaftler einer Fachrichtung (max. hundert Personen, die eine Art »Schule« bilden) betrachten in Phasen der normalen Wissenschaft eine bestimmte wissenschaftliche Leistung, eine Art Grundmodell, als Grundlage ihrer Arbeit. Für dieses Grundmodell wählt er den Begriff »Paradigma«, der eine »allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistung, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen [liefert, dient] (Kuhn, zitiert nach Kjørup 2001, S. 87). Bevor ein solches Paradigma diesen hohen Stellenwert in der Forschungsgemeinde bekommt, bestimmen mehrere Konzepte und Paradigmata die Situation, aus denen heraus sich keine wirkliche Schule entwickeln kann. Dieses vorparadigmatische Stadium wird durch eine zunehmende Skepsis der Wissenschaftler in die Erklärungskraft ihrer bisherigen Konzepte erschüttert. Viele Probleme bleiben ungelöst, Anomalien treten
auf und kumulieren zu einer Art Erklärungskrise. Wachse die Skepsis, was insbesondere von der Überzeugungs- und Überredungskunst der Wissenschaftler selbst abhänge, und baue sich darüber genügend Veränderungsdruck in der Forschergemeinschaft auf, dann komme es zu einer wissenschaftlichen Revolution, aus der ein Paradigmenwechsel resultiere. Danach münde die Arbeit der Forscher eben wieder in die Phase der Aufräumarbeit, die das herrschende Paradigma nun als Arbeit vorgebe.
»
Kennzeichnend für eine solche Revolution ist aber nach Kuhn insbesondere, dass alte und neue Paradigmata angeblich stets ‘inkommensurabel’ zueinander sind, was zur Folge haben muss, dass eine rationale Entscheidung für das neue Paradigma nach den Kriterien der methodologischen Wissenschaftstheorie nicht möglich ist (Ströker 1998, S. 448)«.
Damit wurde letztlich der Blick der Wissenschaftstheoretiker von der eigentlichen Auseinandersetzung mit ihrer »Logik der Forschung« in die sozialwissenschaftliche Beschreibung der Arbeit der Forschungsgemeinschaft gelegt. Die ursprünglich gedachte Trennung zwischen Entdeckungsund Begründungszusammenhang musste relativiert werden, da der gesamte Entwicklungsprozess der Forschung nicht mehr unter das weitgehend statische Raster der kritisch-rationalen Untersuchungsprinzipien subsumiert werden konnte. Nicht Bewährung durch Falsifizierbarkeit sondern Konsens durch Forscher bestimmte demnach den Fortschritt in der Wissenschaft (vgl. zu den Impulsen für die kritisch-rationale Wissenschaftstheorie durch Kuhn auch Ströker 1998, S. 450). Der Autor kann die weitergehenden Gedanken über den Fortschritt in den Wissenschaften und der Wissenschaften hier nicht weiter vertiefen. Es bleibt jedoch festzustellen, dass gerade der Wissenschaftsbetrieb selbst mit seinen historisch bedingten Methoden und Mechanismen den Glauben an die ausschließlich »rationale« Idee der Weiterentwicklung wissenschaftlicher Theorien erheblich erschüttert hat. Ihr folgten z. B. Empfehlungen zu einem wissenschaftstheoretischen Anarchismus, aus dem u. a. die Aufforderung des »anything goes« durch Feyerabend resultierte.
107 4.13 · Gesundheitsökonomie als eigenständige Disziplin
Die Rationalität als Inbegriff wissenschaftlichen Fortschritts schien am Ende zu sein. In Wirklichkeit war sie es nicht. Sie musste nur Abstand gewinnen von einem engen Begriff der Rationalität, den die kritischen Rationalisten so sehr geprägt haben. Rational ist es auch, Entscheidungen über Ziele und Mittel von Wissenschaften herbeizuführen und sich dabei nicht nur von der »Logizität des Wissenschaftsaufbaus qua Satz- oder Aussagensystems« leiten zu lassen (vgl. für diese und die folgende Argumentation Schnädelbach 1993, S. 51ff.). Wissenschaft ist kein Marsch in Richtung vollständiger Wahrheit. > Was Wissenschaft ist, stellt eine Norm derer dar, die Wissenschaft betreiben, sie finanzieren, sie in Institute, Hochschulen, Universitäten usw. fördern.
Dies allerdings erfordert einen rationalen Diskurs über die Ziele und Methoden von Wissenschaft. Der philosophische Ort für diese Diskussion ist die Ethik, der ein spezielles Kapitel in diesem Buch gewidmet ist. Der Autor will hier den Teil über die Systematisierung in den Wissenschaften abschließen und sich mehr mit dem Charakter der Wissenschaften im Gesundheitswesen beschäftigen.
4.13
Gesundheitsökonomie als eigenständige Disziplin oder Teil der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre
Im Gesundheitswesen scheint es um die Grundfragen der optimalen Verwendung von Ressourcen zu gehen. Die Gesundheitsökonomie untersucht im engeren Sinne Fragestellungen nach der rationalen Verwendung von Mitteln im Gesundheitswesen, die in einer Volkswirtschaft relativ knapp sind. Der richtige Einsatz dieser Mittel, eine rationale Verwendung, wird dementsprechend mit dem Wirtschaftlichkeitsprinzip in Verbindung gebracht. Dieses Prinzip lautet: > »Mit bestimmten Mitteln einen größtmöglichen Nutzen erreichen (Maximalprinzip)« oder »einen bestimmten Nutzen mit geringsten Mitteln verwirklichen (Minimalprinzip)«.
4
In Zeiten knapper Ressourcen wird die Minimalvariante des Rationalprinzips zur Leitidee für die ökonomische Gestaltung des Gesundheitswesens. Ökonomische Fragen waren in den Jahren des permanenten Wirtschaftswachstums für den Bereich des Gesundheitswesens eher randständig bearbeitet worden. Nur wenige Wissenschaftler widmeten sich diesem Themenfeld in systematischer Art und Weise. Ferner wurden die Fragen des Gesundheitswesens entweder ökonomisch oder medizinisch oder technisch bzw. pflegerisch und juristisch innerhalb bestimmter Fachgebiete diskutiert. Eine interdisziplinäre Perspektive auf zentrale Fragestellungen des Gesundheitswesens hin zu einer Gesundheitssystemforschung und -beratung oder einem Management im Gesundheitswesen kam erst Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts und damit sehr viel später auf. Seit den 60er Jahren ist eine deutliche Akzentverschiebung in der wissenschaftlichen und politischen Bearbeitung der Herausforderungen im Gesundheitswesen zu beobachten. Einerseits stieg das Interesse an den Folgen der Medizin unter dem Blickwinkel humanistischer Aspekte einer zu verwirklichenden Volksgesundheit, womit ein zunehmender Legitimations- und Rechtfertigungsdruck medizinischen Handelns
einherging. Andererseits überlagerten ökonomische Fragen zunehmend die Ansprüche medizinischer Wissenschaften an eine unbegrenzte Verfügbarkeit von Ressourcen zur Verwirklichung des maximal Möglichen für Kranke. Das Mögliche mit begrenzten Mitteln und später das mit begrenzten Mitteln Mögliche wurde zur Leitfrage für die Gestaltung des Gesundheitswesens. Mit dem Auftreten verstärkt ökonomischer Fragestellungen wuchs ebenfalls die Nachfrage nach qualifizierten Mitarbeitern mit entsprechender Ausbildung für administrative Führungspositionen in Gesundheitseinrichtungen. Sie ist gleichbedeutend mit der deutlichen Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Medizin und Ökonomie, die seitdem in Fragen der Planung, Steuerung und Kontrolle des einzelwirtschaftlichen Geschehens sozialer Organisationen aufgekommen ist. Die zunehmende ökonomische Bedeutung spiegelt sich ebenfalls im Anwachsen volkswirtschaftlicher Fragen nach der ökonomisch sinnvollen Gestaltung des Gesundheitswesens aus gesamtgesellschaftlicher Per-
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Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
spektive wider ( Kap. 8). Innerhalb dieser Kräfteund Akzentverschiebung zwischen Medizin und Ökonomie findet sich auch die Diskussion über die Bedeutung der Pflege im Gesundheitswesen. Insbesondere die Ansprüche, Pflege selbst als Wissenschaft und ihre Konzepte mithilfe wissenschaftlicher Theoriebildung akademisch unterfüttern zu wollen, führten Anfang der 80er Jahre zur »Akademisierung der Krankenpflege«. Universitäten und Fachhochschulen bilden an über 50 Standorten unterschiedliche Schwerpunkte zum Pflegemanagement, zur Pflegepädagogik und zum Gesundheitsmanagement aus. Die Institutionalisierung einer eigenen Wissenschaft mit unterschiedlichen Gebieten, eigenen Forschungsfragen und -schwerpunkten sowie mit akademisch qualifizierten Professoren und Dozenten setzt sich seitdem fort. Auch innerhalb der Gesundheitsökonomie sind verschiedene wissenschaftliche Richtungen und Konzepte auszumachen, die sowohl aus der Volkswirtschaftslehre als auch aus der Betriebswirtschaftslehre stammen. In der Volkswirtschaftslehre dürfen mindestens neoklassische Ansätze, keynesianische und post-keynesianische von monetaristische Ansätzen zu unterscheiden sein. In der Betriebswirtschaftslehre sind z. B. Produktions-, Organisations- und Entscheidungstheorie von ihrem Interessengegenstand her oder von den Bereichen, mit denen sie sich auseinander setzen, z. B. Dienstleistungsökonomie, Industriebetriebslehre, Theorie der Großhaushalte und Handelsbetriebslehre, zu differenzieren. Die hier nicht vollständig darstellbare Differenzierung würde nun weitere Erörterungen über Teilsysteme der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre und ihres Einflusses für die Gesundheitsökonomie nach sich ziehen. Damit ist jedoch nur angedeutet, dass eine wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit den grundlegenden Voraussetzungen einer Volks- und Betriebswirtschaftslehre aus Sicht des Autors in eher abgeschwächter Form als noch in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts heute ebenfalls stattfindet. Allerdings sind die wissenschaftstheoretischen Erörterungen seltener geworden und müssen sicherlich im Rahmen der Gesundheitsökonomie und der neuerlich als Leitidee sich formierenden interdisziplinären Gesundheitswissenschaften noch stärker geleistet werden.
> Der Anspruch nach Interdisziplinarität darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass innerhalb der Volks- und Betriebswirtschaftslehre erhebliche Unterschiede, Schulen und Konzepte ausgemacht werden können, sodass es nicht um eine Integration »der« Betriebswirtschaftslehre in eine Gesundheitswissenschaft geht.
4.14
Gesundheitswissenschaften
Unter wissenschaftlicher Perspektive stellen sich die verschiedenen Fachprofessionen, die sich mit Fragestellungen des Gesundheitswesens auseinandersetzen, größtenteils sehr zersplittert dar. Zwischen den Fachgebieten Ökonomie, Pflege, Medizin, Technik und Recht werden erste Versuche einer interdisziplinären Vermittlung in der Hochschulausbildung unternommen. Leitend ist hierbei die Erkenntnis, dass wichtige Fragestellungen des Gesundheitswesens nicht einseitig aus der Perspektive einer Wissenschaftsrichtung zu beantworten sind. Zu einer Art Leitwissenschaft oder besser verstanden als eine Art Sammelbecken für die verschiedenen Perspektiven können die Gesundheitswissenschaften angesehen werden, die sich um eine Zusammenführung der unterschiedlichen Fachgebiete in einem zentralen Schwerpunkt bemühen. Die wissenschaftliche Akzentuierung geht nicht nur dahin, die unterschiedlichen Perspektiven theoretisch und methodisch miteinander zu verknüpfen. Sie zielt auch auf eine paradigmatische Fundierung und Konstruktion eines neuen Wissenschaftsgebietes, das sich zentral als sozi-
alwissenschaftliche und interdisziplinäre Antwort auf die Herausforderungen des Gesundheitswesens versteht.
»
Für die universitären Standorte hat sich der Konsens gebildet, den inhaltlichen und thematischen Schwerpunkt der Gesundheitswissenschaften aus Epidemiologie, empirischer Sozialforschung, Sozial- und Verhaltenswissenschaften, Wirtschafts- und Managementwissenschaften, Gesundheitssystemforschung und den Sektoren der Gesundheitsversorgung (mit gesundheitsfördernden, präventiven, kurativen
109 4.15 · Management – Eine Wissenschaft?
und rehabilitativen Anteilen) zu bilden (Hurrelmann 1999, S. 2)«. Welche Anteile hier gemeint sind, bleibt weitgehend unklar. Das Verhältnis der verschiedenen Wissenschaften und Wissenschaftsrichtungen, ferner die zur Anwendung kommenden Methoden sowie die Interpretation des Fortschrittsgedankens in einer solchen Wissenschaft sind bislang undeutlich geblieben, was allerdings in der Phase der Geburt einer solchen Wissenschaft nicht verwundern kann. Die wissenschaftstheoretischen Probleme werden durch die Absicht, eine interdisziplinäre Wissenschaft zu begründen, nicht geringer. Sehr viele unterschiedliche Zugangsformen der Gesundheitswissenschaft spiegeln z. T. die gleichen Probleme wider, die zu Beginn diese Beitrags entlang der Entwicklung der Wissenschaften in Abgrenzung zur Philosophie und später im Prozess der Spezialisierung der Wissenschaftsgebiete aufgezeigt wurden. Gemeint sind die diversen Zugangsformen der Gesundheitswissenschaft, die von naturwissenschaftlichen bis zu sozialwissenschaftlichen Methoden, Instrumenten und Theoriekonzepten reichen und ein weites Spektrum sozialer Phänomene zwischen Gesundheit und Krankheit, deren institutioneller Kuration, Prävention und Rehabilitation, ferner bei zunehmender Internationalisierungs- und Globalisierungsdiskussion zu Fragen der Gestaltung des Gesundheitswesens abdecken wollen. Methodenpluralismus, Theorievielfalt, unterschiedliche historische Quellen und Bezugssysteme, medizin-naturwissenschaftliche, ingenieur-, pflegerisch-wissenschaftliche Konzepte usw. konkurrieren miteinander, schließen einander aus oder existieren durchaus nebeneinander. Mit der zunehmenden Dominanz ökonomischer Fragestellungen werden, so lässt sich derzeit wegen zunehmend ökonomisch interpretierter Probleme der sozialen Sicherungssysteme prognostizieren, volks- und betriebswirtschaftliche Überlegungen an Einfluss gewinnen. Zentral wird auch hier die Frage sein, welche Ziele und Aufgaben sich eine solche Gesundheitswissenschaft stellt und wie sie diese Ziele und Aufgaben normativ begründet.
4.15
4
Management – Eine Wissenschaft?
Viele Bindestrich-Wissenschaften, die den Begriff »Management« im Namen führen, wollen damit entweder die besondere Aufgabe der Gestaltung von sozialen Systemen oder auch eine gewisse Modernität zum Ausdruck bringen. Management wird ebenfalls gerne als Umschreibung für einen notwendigen Wandel von bürokratischer Anpassung durch Verwaltungshandeln hin zu einer gestaltenden Managementfunktion genutzt. Unter historischen Entwicklungsaspekten hat die industrielle Revolution zur Entwicklung einer spezieller Praxis des Managements geführt. Ausgehend von unterschiedlichen Ausgangspunkten in England, Nordamerika und Deutschland entwickelte sich im Rahmen dieser Industrialisierung die Notwendigkeit, größere und komplexere Verlage, Manufakturen und Fabriken durch entsprechend qualifizierte Führungskräfte leiten zu lassen. Zunächst traten Meister zwischen das meist kaufmännische und technische Direktorium, das von starken Unternehmenspersönlichkeiten und Familien geprägt war, und die Mitarbeiter. So entwickelten sich weitere Managementebenen mit der Einführung von Kontrolleuren, Spezialisten für Rechnungswesen usw. Erst mit dem Aufstieg der Betriebswirtschaftslehre in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde eine managerspezifische Ausbildung angeboten und nachgefragt (vgl. Kocka 2000, S. 46) Die Frage nach der optimalen und reibungslosen Gestaltung der Unternehmen produzierte ein stärkere Ausdifferenzierung von Managementfunktionen wie Planung (Prognose, Arbeitsvorbereitung), Organisation (Abteilungsbildung) und Kontrolle (Aufsicht, Rechnungslegung). Die Trennung von Eigentum und Unternehmensführung und darin zwei wesentliche Strategien der Koordination, eine familienbezogene und eine bürokratische, lassen sich hier unterscheiden (vgl. Kocka 2000; Staehle 2000 S. 10ff.). Neben der Entwicklung des Managements in Industrieunternehmen gewannen Managementtechniken im Bereich der militärischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Unter wissenschaftstheoretischen Aspekten zeigt sich die Ausweitung der Managementkonzepte besonders an ihrer historischen Entwick-
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Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
lung. Anfangs sind es ingenieurmäßig-ökonomische Ansätze des »Scientific Management« und »Industrial Engineering«, die zu einer eher formalwissenschaftlichen Spezialisierung führen. Die sog. Human-Relations-Bewegung in den USA, das deutsche Bürokratiemodell, die Psychotechnik sowie Administrationsansätze werden ab 1945 zu den verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen zusammengeführt.
»
Zu den formalwissenschaftlichen Ansätzen zählt die managementrelevante Forschung der angewandten Mathematik, der Informationsund Kommunikationstheorie, der Kybernetik und des Operations-Research. Unter verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen versteht man primär die organisations- und führungsrelevante Forschung in der Psychologie, Sozialpsychologie und Soziologie (Staehle 2000, S. 37)«.
Systemtheoretische Ansätze, die wiederum in naturwissenschaftliche Modelle der Kybernetik oder der Informationstheorie und sozialwissenschaftliche Modelle in der Literatur unterschieden werden, leiteten letztlich zu den situativen Ansätzen über.
»
Der zentrale Unterschied zu systemtheoretischen Ansätzen besteht darin, dass situative Ansätze dezidiert ein empirisches Forschungsprogramm einfordern (Staehle 2000, S. 48).
In ihrer einfachsten Ausprägung behaupten situative Ansätze eine kausale Abhängigkeit zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen. Dazu werden zwei Gruppen von Hypothesen gebildet. ▬ In der ersten Gruppe sollen verschiedene Situationsbedingungen (Wenn-Komponente) zu kausalen Zusammenhängen zu bestimmten Handlungs-, Organisationsstrukturen und -prozessen bzw. Verhaltensmustern führen (DannKomponente).
▬ In der zweiten Gruppe werden bestimmte Strukturvariablen oder Verhaltensweisen beschrieben, deren Folgen (Dann-Komponente) zu einer entsprechenden Aussage über die Effizienz oder die Handlungsfolgen führt (⊡ Abb. 4.6). Die Empfehlungen der situativen Managementansätze gipfeln in einer Anpassung des Managements an bestimmte Situationen, was ihnen letztlich einen Positivismus- und Determinismusvorwurf einseitiger Ausprägung einträgt (vgl. Staehle 2000, S. 51). Ferner werden über empirische Erhebungen genau die Variablen der Struktur, des Verhaltens usw. erhoben, die später erst durch die gebildeten Hypothesen erklärt werden sollen, was als hermeneutischer Zirkelschluss bezeichnet werden kann. Unter wissenschaftstheoretischen Aspekten bringen viele situative Theorien eine Fülle an deterministischen Zusammenhängen hervor, die zu Hypothesen mit durchweg niedrigen Korrelationen, inkonstistenten Ergebnissen und mit sehr geringem Bewährungsgrad ausgerüstet sind. Man erkennt hier sowohl von der Anlage methodischer als auch wissenschaftstheoretischer Überlegungen die Konzepte des kritischen Rationalismus oder des logischen Empirismus wieder. Ferner sind die Falsifikationsmöglichkeiten eher gering, da zur Verteidigung der vorherrschenden Hypothesen entweder die »falschen« oder unwesentlichen Kontextfaktoren einbezogen oder »falsche« Personen befragt bzw. »falsche« Grundgesamtheiten wie auch Operationalisierungen vorgenommen wurden (vgl. Staehle 2000, S. 52f.). Demnach kann auf diesem Weg und mit dem Anspruch kritisch-rationaler Prägung keine Theorie entstehen. Auch der Determinismusvorwurf gegen situative Ansätze älterer Prägung greift Hauptargumente auf, die bereits bei der Betrachtung natur- und geisteswissenschaftlicher Methoden in den Gesellschaftswissenschaf-
Effizienz (wenn fit)
⊡ Abb. 4.6. Deterministischer, quasimechanistischer situativer Ansatz. (Aus Staehle 1999, S. 51)
Situation Kontext
Organisationsstruktur
Verhalten der Organisationsmitglieder
111 4.15 · Management – Eine Wissenschaft?
ten dargestellt und gegen die Verwendung eines deduktiv-nomologischen und damit primär naturwissenschaftlichen Verständnisses eingebracht wurden: 1. Organisationale, situative Phänomene lassen sich nicht in Form von Gesetzmäßigkeiten wie in einigen Naturwissenschaften formulieren (Naturwissenschaft vs. Geisteswissenschaft). 2. Die passiv-rezeptive Rolle der Befragten zur Bestätigung von situativen Hypothesen entspricht nicht dem wirklichen Einfluss des Befragten auf die Forschungsmethodologie und den Forscher (Theorie-Empirie-Verhältnis). 3. Korrelationstheoretische Aussagen quantitativ statistischer Natur können die Ganzheit sozialer Prozesse nicht erfassen (Analyse vs. Verstehen). Tiefer noch trifft der Vorwurf einer Dominanz der Methoden zur Datensammlung, -aufbereitung und -auswertung vor der Entwicklung eines geeigneten Theorierahmens. Die Kritik am Konzept und den Methoden des klassischen situativen Managements brachte eine fruchtbare Wende in Richtung verhaltenswissenschaftlicher Fundierung der Managementlehre hervor.
»
Zwischen der Wenn-Komponente (Kontext, Dimensionen der Situation) und der DannKomponente (Struktur, Dimension der Organisation und Führung) steht in der Realität das absichtsgeleitete, kommunikative (und nicht behavioristisch reaktive) Handeln von Managern (Staehle 2000, S. 55)«.
Durch den Einbezug des Handlungs- und Gestaltungsspielraums des Managements öffnet sich die Diskussion u. a. für Fragen der Entscheidungsfindung unter Beteiligung von Dritten und löst die einseitig deterministischen Zusammenhänge in Richtung multikausaler Faktorenanalyse und -beschreibung auf. > Intervenierend für die Effizienz der Organisation ist auch das Organisationsklima oder die Organisationskultur.
Sie möchte mit Werten, Normen, Symbolen und Zeichen sowie mit Grundannahmen über Wahr-
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heit, die Struktur und den Einfluss der Umwelt usw. somit verhaltensrelevante und v. a. methodologisch eher hermeneutisch zu erschließende Sachverhalten (deutende Verstehen) in den situativen Bezugsrahmen einschließen. Dementsprechend geraten qualitative Verfahren der empirischen Sozialforschung, wie z. B. Einzelfallanalysen, teilnehmende Beobachtung und inhaltsanalytische Verfahren stärker in den Blick der Forschungsbemühungen (zum methodischen Überblick vgl. z. B. Kubicek 1974). Einen solchen Wandel hat die Managementtheorie im Gesundheitswesen aktuell noch nicht nachvollzogen. Es dominieren einfache, deterministische Vorstellungen über den Zusammenhang zwischen externen, situativen Faktoren und Strukturüberlegungen, die dann kurzschlüssig zu Effizienzvermutungen Anlass geben (vgl. Eichhorn u. Schmidt-Rettig 2001 und die dort vorgestellten Ansätze einer eher ökonomistischen Denkweise in der Managementtheorie des Krankenhauses, zur Kritik solcher Vorstellungen vgl. Mühlbauer 2003; Geißner 2003). Ohne dass hier ein Überblick über die aktuelle und insbesondere industrielle Managementlehre weitergeführt werden kann, sollen einige Entwicklungstendenzen in der Managementpraxis und -theorie unter wissenschaftstheoretischen Überlegungen weiter verfolgt werden. Der Autor
knüpft damit noch einmal an die Überlegungen zur Fortschrittsidee in den Wissenschaften an und erweitern hier die Diskussion noch um einige Aspekte. In Abschn. 5.13 hatte der Autor bereits die Idee des Paradigmas im Zusammenhang mit der Fortschrittsfähigkeit der Managementlehre eingeführt. Die Situation der allgemeinen Managementforschung ist denkbar unübersichtlich. Es dominiert kein Ansatz, sondern alle Ansätze sind weiterhin aktuell. Damit kann unter wissenschaftstheoretischen Aspekten von einer vorparadigmatischen Situation oder einer Konkurrenz zwischen verschiedenen Paradigmata in der Managementforschung gesprochen werden. Eine unübersehbare (Theorie?-)Vielfalt kennzeichnet damit die Situation. Wenn man die Überlegungen zur Forschungsgemeinschaft und ihre Art der Bildung von Schulen als notwendigen Bestandteil der Paradigmabildung einbezieht, lassen sich derzeit bestimmte
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Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
Theorieperspektiven als »Moden« kennzeichnen (vgl. Kieser u. Hegele 1998, S. 34ff.; Staehle 2000, S. 142). Dabei scheinen sich sozial- und verhaltenswissenschaftliche Ansätze u. a. wegen der Vielzahl thematisierter Einfluss- und Resultatsfaktoren, wegen des Einbezugs interpretativer Verfahren sowie der eher antipositivistischen Vorgehensweise gegenüber ökonomischen Theorien in der Defensive zu befinden (vgl. Staehle 2000, S. 67).
»
Während organisations- und industrieökonomische Ansätze modelltheoretisch inspiriert sind und nach wie vor von einem »objektiven« Wissenschaftsverständnis ausgehen, die soziale Wirklichkeit dabei in aller Regel als Variablenzusammenhänge von Variablen rekonstruiert und diese mit Hilfe zumeist quantitativer Verfahren gleichsam aus einer Außenperspektive erheben und auswerten und letztlich dem funktionalistischen Paradigma verhaftet bleiben, betrachten interpretative Ansätze die Organisation und ihre Umwelt als Ergebnis einer Konstruktion durch die in ihr handelnden Menschen (Staehle 2000; S 67)«.
Damit schließt sich der Kreis fast wieder. Unter dem Einfluss der philosophischen Denkrichtung des Konstruktivismus (z. B. Berger u. Luckmann 1977; Watzlawick 1997, von Foerster 1997; zum Überblick vgl. Hacking 1999) kehren nun Überlegungen in die Managementforschung zurück, die z. B. von Kant grundlegend erörtert aber nicht mit diesem Begriff belegt und kaum (mit Ausnahme z. B. bei Ulrich 1986 und in Bezug auf das Qualitätsmanagement z. B. bei Monthoux 1981 ) in der wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Diskussion über Betriebswirtschaftslehre und Management eingehender thematisiert wurden. Dies könnte einerseits eine wissenschaftliche Fundierung der Managementtheorie nach sich ziehen und an grundsätzlichen Debatten über den theoretischen und praktischen Wert der Betriebswirtschaftslehre, der Managementlehre und -forschung aus den 70er und 80er Jahren sowie den wissenschaftstheoretischen Standort der Gesundheitswissenschaften anknüpfen. Die zunehmende Ethik-Diskussion sowohl in der Wirtschaft und der Betriebswirtschaft als auch im Gesundheitswesen deutet andererseits eine Öffnung der Dis-
kussion um den Sinn wirtschaftlichen Handelns an und diskutiert den Rahmen erneut, in dem ökonomische Theorie solche Handlungen zweckrational und wissenschaftlich bewerten oder empfehlen kann (vgl. allgemein Steinmann u. Löhr 1994 und im Sammelband von Biervert u. Held 1997). Eine ökologische Diskussion über Krankheit und Gesundheit und deren Voraussetzungen, die einen wieder zurück zu gesellschaftlichen Fragen der Zerstörung von Natur und Kultur bringt sowie durch einseitiges ökonomisches Wachstum natürliche Lebensbedingungen zerstört und damit unmittelbare Krankheiten zur Folge haben, die dann wiederum mit entsprechend Managementkonzepten, institutionalisierten Hilfesystemen usw. bewältigt werden sollen, deutet diesen wichtigen Diskussionsrahmen hier nur an. Die allgemeine Diskussion über die Chancen und Risiken der Gentechnologie gehört z. B. ebenfalls in diesen Komplex wissenschaftstheoretischer Fragen der Gesundheitswissenschaften und des Wissenschaftsmanagements. Unter dem »modischen« Aspekt gewinnen einfache, praktisch leicht-adaptierbare Managementkonzepte an Bedeutung. Der Rolle der Berater in der Politikberatung des Gesundheitswesens sowie der Rolle der Managementforschung bei der kritischen Diskussion solcher Managementmoden kommt auch im Gesundheitswesen im Rahmen der Diskussion über Gesundheits- und Lebenswissenschaften zukünftig eine besondere Rolle zu. Eine wissenschaftstheoretisch fundierte, kritische Position im Gesundheitswesen ist allerdings derzeit nur in Ansätzen in Sicht (vgl. insbesondere wissenschaftstheoretisch Lüth 1972). Eine gewisse Hoffnung auf eine solche kritische Reflexion bietet die bereits laufende Diskussion über die Qualität der Hochschulen und Universitäten und ihrer Evaluation (vgl. hierzu die Beiträge in Laske et al. 2000). Eine tiefgehende Erörterung der Qualität und ihrer Entwicklung in Hochschulen und Universitäten bietet zumindest die Chance, wissenschaftliche, praktische und wissenschaftstheoretische Positionen in die inhaltlichen und methodischen Fragen einer Evaluation von Wissenschaft einzubringen. Die in diesem Beitrag ausgeloteten Positionen bilden u. a. den Raum, sich mit der Qualität in der Wissenschaft und der
113 Wissens- und Transferfragen
Forschung und Lehre auch wissenschaftstheoretisch zu beschäftigen. Eine neue kritische Auseinandersetzung mit den Grundkategorien des Managements, v. a. aber mit seiner zentralen Idee der Steuerbarkeit von Organisationen oder Systemen deutet sich an. Der »Einbruch der Unordnung«, wie es Schreyögg formuliert, bringt zentrale Kategorien des Managementdenkens deutlich ins Wanken: »Rationalität und Steuerungsparadigma« (vgl. Schreyögg 2000, 21ff.). In gewisser Weise kündigt sich damit in der Managementtheorie und v. a. in der Managementpraxis das bereits an, was in diesem Beitrag als ein gewisses Resümee wissenschaftstheoretischer Überlegungen gezogen werden kann. Nicht eindeutige und in gleicher Weise reproduzierbare Bedingungen in und von Organisationen also durch das Management und das Managen, zeigten sich bereits Anfang der 80er Jahre, als die Diskussion über die Bedeutung der Unternehmenskultur für ein effizientes Management begann. Wenn auch der Versuch unternommen wurde, die sog. »SoftSkills« für das Managen zu instrumentalisieren, zeigt sich die willkürliche Beschränkung der Vielfalt der Einflussfaktoren, die für die Effizienzoptimierung berücksichtigt werden. > Der Raum einer Organisation, die Architektur, die Symbolsysteme, die teilweise unbewussten Normen und Werte sowie die Grundannahmen einer Organisation lassen sich nur längerfristig entschlüsseln, bedürfen einer immerwährenden Abstimmung zwischen Organisation und Umwelt und stehen immer in Gefahr, nicht vollständig als Handlungs- und Gestaltungsraum durch das Management in ihrer Komplexität bewältigt zu werden (vgl. Schein 1995).
Ist Kultur die Quelle für die Effizienz einer Organisation oder lediglich ein von anderen zu unterscheidender Erfolgsfaktor? Beim sich ankündigenden Ende der Stabilität (von Systemen), dem Ende der (positivistischen) Eindeutigkeit zwischen Ursache und Wirkung, der offensichtlichen Zirkularität von Entscheidungen und Rückwirkungen, damit von Zielen und Mitteln und dem Ende der Gewissheit (von Wahrheit und Wissen) muss eine neue Balance gefunden werden,
4
die wissenschaftstheoretisch Aktion und Reaktion, Ordnung und Unordnung, Kalkül und Spontanität sowie Sicherheit und Autonomie verknüpft und nicht einseitig gegeneinander abzugrenzen versucht (vgl. Schreyögg 2000, insbesondere S. 21ff.). Ulrich geht noch weiter und spricht von einer Transformation der bislang gültigen ökonomischen Vernunft. Die instrumentelle Vernunft der Ökonomen
führt zu so gravierenden »externen Effekten«, wie Umweltkatastrophen, Verarmung ganzer Völker durch Verschuldung, Arbeitslosigkeit usw., dass die Grundlagen der ökonomischen Vernunft auf eine neue, kommunikative Vernunft gegründet werden müsste (vgl. Ulrich 1986). Damit ist die aufkeimende Krise des Managements nicht nur eine Krise dieser Wissenschaft, sondern auch eine Krise des ökonomischen Denkens, das durch die Fragwürdigkeit der klassischen Managementwissenschaft und ihren Paradigmen der Steuerung von Organisationen im Rahmen dieser instrumentellen Vernunft ausgelöst wird. Eine Rückbesinnung auf die Fragen, die eine wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung gerade wegen dieser offensichtlichen Folgen ökonomischen Denkens stellt, scheint damit möglich. Damit wird wieder einmal ein neuerlicher Anfang der Diskussion zu suchen sein, den auch die Gesundheitswissenschaften aufgreifen könnte.
? Wissens- und Transferfragen 1. Wie lässt sich die Wahrheit von Aussagen nach der Auffassung des kritischen Rationalismus feststellen? 2. Was ist kausales Handeln, was lediglich Verhalten? 3. Was bedeutet die Aussage, dass es sich bei der Wissenschaftstheorie um eine MetaTheorie handelt? 4. Welche Postulate werden in anthropologischer Perspektive an eine moderne Wissenschaft als menschliche Grundhaltung gestellt? 5. Versuchen Sie, Unterschiede zwischen »Verstehen« und »Beweisen« herauszuarbeiten!
114
Kapitel 4 · Gesundheitsmanagement und Wissenschaftstheorie
Literatur
4
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115 Literatur
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4
5 Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele A. Kerres, B. H. Mühlbauer 5.1
5.2
Empirische Sozialforschung in den Gesundheits- und Lebenswissenschaften und deren Bedeutung für Studierende – 117
Literatur
– 156
– 156
Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung in den Gesundheits- und Lebenswissenschaften – 120
⚉ Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. (Immanuel Kant)
5.1
Wissens- und Transferfragen
Empirische Sozialforschung in den Gesundheits- und Lebenswissenschaften und deren Bedeutung für Studierende
Studierende im Gesundheitswesen verfügen in der Regel weder über eine fundierte Ausbildung im Bereich der empirischen Sozialforschung, noch können sie eigenständig Untersuchungen auf der Basis gewonnener mathematisch-statistischer Methodenlehre durchführen. Immer häufiger sehen sich demgegenüber die Studierenden herausgefordert, den Wert empirischer Aussagen über soziale Phänomene zu beurteilen. > Methodische Überlegungen spielen als Studieninhalte v. a. an Fachhochschulen eine geringe Rolle, obwohl dies zur späteren praktischen Arbeit in sozialen Einrichtungen in krassem Gegensatz steht.
Besonders ein so junges Feld wie die Gesundheitswissenschaften muss die inhaltlichen und
methodischen Kenntnisse gleichgewichtig vertreten. Die offensichtlichen Schwächen vieler Studierender gerade im Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, mit dem Zitieren von Quellen, die systematische Berücksichtigung von wissenschaftlichen Ergebnissen bei der Begründung eigener Hypothesen in Semester- und Abschlussarbeiten fachgerecht zu handhaben, macht eine Auseinandersetzung mit ihrer »Wissenschaft als methodisches und methodologisches System« notwendig. Auch ethische Fragestellungen im Zusammenhang mit der Übernahme von Aufträgen, bestimmte soziale Phänomene zu untersuchen oder dies begründet zu unterlassen, sich nicht durch die Höhe der Forschungsgelder sowohl beim Untersuchungsdesign als auch bei der Verwertungsdarstellung korrumpieren zu lassen, setzt eine Beschäftigung mit Wertfragen und empirischer Sozialforschung im Studium voraus. Selbst wenn die »Standortgebundenheit des Denkens« nicht ausgeschlossen werden kann, so ist doch eine Reflexion und die Bewusstheit solcher Gebundenheit für Studierende und Wissenschaftler notwendig, um nicht z. B. schichten-, geschlechts- oder andere sozialspezifische Wertungen im Spiegel eigener Einstellungen und Meinungen im Entstehungsund Verwendungszusammenhang wissenschaftli-
118
5
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
cher Forschung vorsätzlich oder fahrlässig zu verfälschen. Als spätere Führungskräfte müssen Studierende vor der Durchführung empirischer Untersuchungen darüber befinden, ob z. B. von ihnen in Auftrag gegebene oder in ihrem Namen durchgeführte Untersuchungen in ihrer Tragweite und Erforschung den jeweiligen Fragestellungen entspricht. Letztlich sind die Ergebnisse anderen, vielleicht nicht betroffenen Mitarbeitern vorzustellen und zu interpretieren. Damit ist der Rahmen empirischer Untersuchungen im Gesundheitswesen bereits beschrieben: Er spannt sich auf zwischen den Überlegungen, wie eigentlich ein sozialer Sachverhalt erfasst, bewertet, dargestellt und verstanden werden kann. Der im Kap. 4 über Wissenschaftstheorie angesprochene Zusammenhang zwischen der Entstehung, Begründung und Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse begegnet den Lesern also nachfolgend noch einmal auf andere Weise. Werden wissenschaftliche Methoden als spezielles System von Regeln verstanden, das auf einen Erkenntnisgewinn sowie die praktische Gestaltung der Wirklichkeit gerichtet ist, regulieren diese Methoden den Prozess dieser Erkenntnisgewinnung (Friedrichs 1990, S. 14). Damit einher geht die Ausrichtung des Prozesses auf ein theoretisches und praktisches Erkenntnisziel. So soll die prinzipiell vom Untersucher getrennt erlebte und erfasste Wirklichkeit der Gesellschaft in einem sich ständig mit Wissen anfüllenden theoretischen Erkenntnisraum modellhaft dargestellt werden. Ein praktisches Ziel der empirischen Sozialforschung liegt in der Gestaltung eines rationalen, ethisch und ästhetisch gerechtfertigten Lebens. > Ein wesentliches Entscheidungskriterium ist hier die »Wahrheit«, ein umstrittenes und schillerndes Kriterium für wissenschaftliche Forschung. Deshalb wird dieses Kriterium für praktische Wissenschaft durch das Kriterium der Nützlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis häufig ersetzt (Friedrichs 1990, S. 14).
Gerade in menschenbezogenen Dienstleistungen kommt der Nützlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis eine besondere Bedeutung zu, weil das »Objekt« in besonderer Weise auf solche Erkenntnisse reagiert und es natürlich die Produktion von
Erkenntnissen als »lebendes Objekt« ebenfalls mitbestimmt. Die Gesundheits- oder Lebenswissenschaften bemühen sich zunehmend um eine systematische Strukturierung ihres Forschungs- und Wissensgebietes, nicht zuletzt, um Studierende ausbilden oder ihre Erkenntnisse praktisch fruchtbar werden zu lassen. Die Ausbildung konzentriert sich auf eine Darlegung inhaltlicher Ergebnisse des dabei umrissenen Wissenschaftsgebietes. Wissenschaftliche, empirische Methoden unterliegen einem fortgesetzten Wandel. Ebenso basieren wissenschaftliche Erkenntnisse auf unterschiedlichen Schulen und Ansätzen, gerade in den verschiedenen Wissenschaftsgebieten, die in den Gesundheitswissenschaften zusammengeführt werden: Medizin, Pflegewissenschaft, Ökonomie, Recht, Technik usw. Über alle Schulen und Ansätze hinweg werden im Folgenden einige grundlegende Ausführungen zu wesentliche Methoden dargestellt, die derzeit intensiv diskutiert oder angewendet werden. Es gibt zwei wesentliche und voneinander zu unterscheidende Formen, sich einen systematischen Zugang zur Wirklichkeit mit Hilfe empirischer Methoden zu verschaffen: ▬ Die eine Richtung basiert auf den Vorstellungen des »Kritischer Rationalismus«, deren profiliertester Vertreter der berühmte Philosoph Karl Raimund Popper steht. ▬ Die andere Richtung steht in der hermeneutischen Tradition großer Denker wie beispielsweise Hans Georg Gadamer und Wilhelm Dilthey.
5.1.1 Kritisch-rationaler Zugang
zur Wirklichkeit – Erklären und Begründen Der Versuch, empirische Sachverhalte zu erforschen, ist so alt wie die Menschheit selbst. Erst mit der Loslösung von der Idee, dass Menschen durch die Götter gelenkt werden, erschließen sich die Menschen ein Terrain, in dem sie, unabhängig von anderen Mächten und Einflüssen versuchen, sich ein Bild, eine Struktur, ja eine Verbindung zwischen Ereignissen zu schaffen.
119 5.1 · Empirische Sozialforschung in den Gesundheits- und Lebenswissenschaften
> Die Idee, dass soziale Ereignisse eine Ursache oder auch Gründe haben, dass sich diese Ursachen zu bestimmten Wirkungen gedanklich nicht nur darstellen lassen, sondern sie als eine Art Gesetz identifiziert werden können, mit deren Hilfe Menschen in der Lage sind, die Ereignisse in eine bestimmte Richtung zu lenken und die Wirkung vorherzusagen, beherrscht im Kern auch die Idee der empirischen Sozialforschung.
5
che Erkenntnissysteme begegnen, liegt der Schluss nahe, beide Erkenntnissysteme miteinander verbinden zu wollen.
»
Die Rückständigkeit der Geisteswissenschaften lässt sich nur dadurch beheben, dass man sie den Methoden der Physik unterwirft, welche man in angemessener Weise erweitert und generalisiert (John Stuart Mill, zitiert nach Kjørup 2001, S. 69)«.
Mit Hilfe ihrer Methoden und Instrumente sollen soziale Sachverhalte analysiert, die Verbindung zwischen den aufgezeigten Phänomenen in einen nomologischen Zusammenhang und als pragmatische Aufgabe letztlich Mittel bestimmt werden, die bei der Erreichung bestimmter Zwecke hilfreich sein. Eine einfache Abbildung zeigt diesen Zusammenhang noch einmal (⊡ Abb. 5.1).
Ohne auf diesen Vorschlag weiter eingehen zu wollen, zeigt sich darin doch der Reiz der Naturwissenschaften und ihrer Methoden auch für sozialwissenschaftliche Zusammenhänge. Der österreichische Philosoph Karl Popper widerlegte später die Vorstellung, dass die Naturwissenschaften induktiv, also von den Einzelereignissen verallgemeinern auf die Gesamtheit aller Ereignisse schließe (vollständige Induktion).
> Die Kenntnis von solchen (gesetzmäßigen
»
oder probabilistischen) Zusammenhängen zu erhalten, ist damit eine wesentliche Aufgabe der empirischen Sozialforschung. Das systematische Anwenden solcher »Erkenntnisse« wird mit dem Inhalt des Begriffes »Rationalität« gleichgesetzt. Rational verhält sich jemand, der diese Zusammenhänge kennt, sie erklären kann und sie vor allem situationsgerecht in seinen Handlungen berücksichtigt.
Da sich die Gesundheits- und Pflegewissenschaft als eine Realwissenschaft versteht, deren Aussagen nicht nur logisch überprüft, sondern gerade in Konfrontation mit realen Objekten bzw. Sachverhalten ihren Wahrheitsgehalt offen legen müssen, kommt der empirischen Sozialforschung diese Aufgabe im Besonderen zu. Gerade weil sich in den Gesundheits- und Pflegewissenschaften natur- und sozialwissenschaftli-
1. 2.
Ursache ¤ Mittel
Æ ¨
Wirkung Ø Zweck
⊡ Abb. 5.1. Von der Ursache zur Wirkung, vom Zweck zum Mittel
Auch wenn es so aussähe, als sammelten die Naturwissenschaftler Einzelbeobachtungen, um dann zu generalisieren, sei ein solches Verfahren – wenn es überhaupt angewendet würde – letztlich für die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit nicht relevant. ... Das Wichtige einer wissenschaftlichen Methode sei nicht, wie man zu den formulierten Gesetzen (oder dem, was man dafür hält) gelange; wichtig sei nur, dass sie nachprüfbar seien. Und dies geschehe nicht induktiv sondern deduktiv. Und deduktive Logik – zumeist Schlüsse vom Ganzen auf das Einzelne – ist gültige Logik. ... Zunächst wird so ein Gesetz also tentativ – als Hypothese – formuliert. Die These wird dann zuerst logisch überprüft. Deshalb nennt man die Methode hypothetisch-deduktiv. Letzten Endes verlangt die Methode jedoch einen empirischen Test, der die Verankerung der Erkenntnis in der Wirklichkeit gewährleistet (Kjørup 2001, S. 72).
In diesem Kontext können also die Methoden der empirischen Sozialforschung als ein Instrument der Gesundheitswissenschaft aufgefasst werden, solche Erkenntnisse, die in Form von Hypothesen formuliert sind, mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, sie zu bestätigen (verifizieren) oder zu widerlegen (falsifizieren).
120
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
5.1.2 Hermeneutischer Zugang
zur Wirklichkeit – Verstehen
5
Die Kritiker einer solchen Idee (z. B. Wilhelm Dilthey) setzten an der Voraussetzung an, dass die Natur- und Geisteswissenschaften eine gleiche Art von Wissenschaft seien, da sie sich mit ganz verschiedenen Themenkreisen oder auch ganz verschiedenen Seinsweisen beschäftigten. Vielmehr müssten sie sowohl nach anderen Kriterien beurteilt werden als auch mit Hilfe verschiedener Untersuchungsmethoden zu ihren Erkenntnissen kommen. Von Wilhelm Windelband stammt die Auffassung, dass Natur- und Geisteswissenschaften unterschiedliche Ziele verfolgen und deshalb verschiedene Methoden notwendig machen (Kjørup 2001, S. 71 ff.). Später wurde von Jürgen Habermas das Verhältnis von Natur- zur Geisteswissenschaft vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses neu bestimmt: Den Naturwissenschaften wies er ein technisches Erkenntnisinteresse, weil sie auf eine technische Beherrschung der Natur aus seien und die deshalb empirisch-analytisch verfahre. Sie suche allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Eine andere Art von Erkenntnis widme sich dem Verstehen der Menschen und ihrer kulturellen Traditionen und verbinde dies mit dem praktischen Erkenntnisinteresse. Die Geisteswissenschaften seien deshalb der historisch-hermeneutischen Erkenntnis verpflichtet. Hier suche man nicht nach Gesetzmäßigkeiten, sondern man interpretiere Texte. Habermas unterscheidet darüber hinaus noch die Handlungswissenschaften, bei denen es um ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse als Ideologiekritik ginge. Die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Denktraditionen setzt sich heute noch in der Wahl unterschiedlicher Autoren für empirisch-analytische und hermeneutisch-verstehender Vorgehensweisen fest. Sie spiegeln sich in den quantitativen und qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung wider. Die qualitativen Techniken konzentrieren sich eher auf die im Anspruch holistische Erfassung von Situationen, von denen sich immer nur ein Teil in ein UrsacheWirkung-Schema zwängen ließe und damit den Gesamtgehalt der Situation verliere. Eine Erzäh-
lung, eine Geschichte, ein Mythos ist vielleicht viel mehr eine Grundlage für die Erkenntnis in den Sozialwissenschaften, da sie umfassende Beschreibungen enthalten, die in ihrem komplexen Geflecht aus verschiedenen Aussagen und Determinanten niemals verallgemeinert werden können, da sich die Situationen immer erheblich unterscheiden (Kjørup 2001, S. 144 ff. unter Verweis auf Arthur C. Danto).
5.2
Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung in den Gesundheitsund Lebenswissenschaften
5.2.1 Grundsätzliche Überlegungen
Methoden werden prinzipiell durch quantitative oder qualitative Zugangsweisen zum Untersuchungsobjekt unterschieden. Die Abgrenzung ist jedoch nicht trennscharf. Nicht nur, dass auch quantitativen Methoden qualitative Überlegungen und methodische Erwägungen vorausgehen oder entsprechende Schlüsse aus ihnen gezogen werden, sondern dass ebenfalls verschiedenen Methoden miteinander kombiniert oder auch grundsätzlich qualitative Methoden zu quantitativen Ergebnissen zusammengeführt werden. > Die wesentliche Verbindung besteht wohl darin, dass die meisten Methoden sich der Sprache als Medium bedienen, die Wahrnehmung sozialer Phänomene zu klassifizieren und zu erforschen.
Die Methoden der empirischen Sozialforschung sind kein Kanon, lassen sich vielmehr erweitern und miteinander kombinieren. Dies geschieht ohnehin bereits jetzt: Die Codierung von Antworten auf offene Fragen bei einer Befragung sowie die Protokolle einer Gruppendiskussion stellen nichts anderes dar als eine Inhaltsanalyse sprachlichen Materials. Die Untersuchung visuellen Materials, z. B. von Filmen, kann man ebenso gut als Beobachtung wie als Inhaltsanalyse bezeichnen. Eine teilnehmende Beobachtung, in die bewusst bestimmte Handlungen des Forschers zur Verhaltensmodifikation der Betroffenen eingebaut wer-
121 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
den, geht in ein Feldexperiment oder sogar eine Form der Aktionsforschung über (Friedrichs 1990, S 189). Kernpunkt bei der Auswahl der angemessenen Methode, ein soziales Phänomen zu untersuchen, ist es, 1. Fehlermöglichkeiten bei der Anwendung zu minimieren, 2. zu überlegen, ob sich der Sachverhalt stärker verbal oder nonverbal erfassen lässt, 3. festzustellen, ob natürliche Situationen eine Erforschung zulassen oder ob künstlich zu schaffende Situationen der speziellen Erkenntnisgewinnung förderlich sind und 4. ob Einstellungen, Meinungen oder Verhalten von Menschen, Gruppen, Organisationseinheiten oder ganzen Organisationen Gegenstand der Untersuchungen sein sollen (Friedrichs 1990, S 189 ff.). Mit dieser Auswahl werden u. a. der zeitliche und personelle Aufwand für die Durchführung von Untersuchungen und damit die Kosten für die Ergebnisgewinnung wesentlich determiniert. Auch wird über die Wahl der Methode (z. B. Befragung) das jeweilige Instrument (z. B. Fragebogen) festgelegt und in seiner Form und Anwendung genauer bestimmt.
Das verfahrenstechnische Instrumentarium zur Untersuchung sozialer Phänomene in Organisationen (nach Kubicek 1975, S. 36) A Alternativen des globalen Forschungsdesigns
▬ ▬ ▬ ▬
Einzelfallstudie Laborexperiment Vergleichende Feldstudie Feldexperiment und Aktionsforschung
B Verfahren zur Ausarbeitung des detaillierten Forschungsdesigns
▼
1. Phase der Datensammlung a) Auswahlverfahren (Auswahl der Untersuchungseinheiten) – willkürliche Auswahl – gezielte Auswahl – Zufallsauswahl
5
b) Erhebungsverfahren (Methoden der Datenerfassung) – Befragung – Beobachtung – Dokumentenanalyse 2. Phase der Datenaufbereitung a) Skalierungsverfahren und Verfahren der Item-Analyse – Skalogrammanalyse – Faktorenanalyse – Indexbildung b) Deskriptive Statistik – Häufigkeitsverteilung – Parameter von Verteilungen 3. Phase der Datenauswertung a) Verfahren der multivariaten Datenanalyse – Mittelwertvergleich – Kreuztabellierung – Varianzanalyse – Regressions- und Korrelationsanalysen b) Testverfahren (zur Eliminierung zufallsbedingter Zusammenhänge) – parametrische Tests – nicht-parametrische Tests
Auf die verschiedenen, teilweise sehr speziellen Methoden und Testverfahren gehen die einschlägigen Werke der empirischen Sozialforschung differenziert ein (vgl. Opp 1976 oder Friedrichs 1990). Im Folgenden werden eine Übersicht grundsätzlicher Überlegungen zur empirischen Sozialforschung sowie Beispiele zu verschiedenen Methoden und Vorgehensweisen aus dem reichen Gebiet der Anwendung im Gesundheits- und Sozialwesen angeboten. Jede Darstellung zu den einzelnen Anwendungsbeispielen ist für sich nicht vollständig, sondern in jedem der folgenden Kapitel werden Besonderheiten angesprochen, die in Bezug auf diese angewandten Methoden für die Leser von Interesse sein können.
122
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
5.2.2 Quantitative und qualitative
Methoden > Die bisher dargestellten Methoden beruhen auf der Quantifizierung der Beobachtungsrealität und sind nur bedingt übertragbar auf Forschungsmethoden, die in erster Linie mit Interpretationen von verbalen Materialien operieren (⊡ Tabelle 5.1)
5
Manchmal werden beide Ansätze als so gegensätzlich wahrgenommen, dass eine Verbindung dieser Methoden nicht möglich erscheint. Diese Extrempositionen gibt es heute eher selten. Einige Vorund Nachteile beider Ansätze sind in ⊡ Tabelle 5.2 dargestellt. Im Folgenden werden die wesentlichen Erhebungsmethoden und deren Auswertungsmöglich-
keiten der qualitativen Sozialforschung kurz vorgestellt.
5.2.3 Befragungen und Interview-
techniken – einige methodische Grundüberlegungen > Zur Durchführung von Befragungen werden häufig Fragebögen eingesetzt. Diese Fragebögen sollten zumindest darauf getestet sein, ob sie wirklich das messen, was sie zu messen vorgeben (Verlässlichkeit) und ob die Messergebnisse eine entsprechende Gültigkeit beanspruchen können (Validität). Viele Befragungen, gerade solche, die von Studierenden selbst durchgeführt werden, berücksichtigen solche Gütekriterien nicht.
⊡ Tabelle 5.1. Unterschiede qualitativer und quantitativer Forschung. (Angelehnt an Bortz u. Döring 2002, S. 289 ff.) Qualitative Forschung
Quantitative Forschung
Datenmaterial
Erfahrungsrealität wird verbalisiert
Erfahrungsrealität wird numerisch beschrieben
Forschungsmethoden
Feldforschung
Laboruntersuchungen
Wissenschaftsverständnis
Induktion
Deduktion
⊡ Tabelle 5.2. Vor- und Nachteile qualitativer und quantitativer Forschung. (Angelehnt an Bortz u. Döring, 2002, S. 297) Qualitative Forschung
Quantitative Forschung
Datenerhebung
Zeit- und kostenaufwändig für Befragte, die gerne reden; Gut für Teilnehmer geeignet, die das Schreiben gewöhnt sind
Eher schnell; Weniger Aufwand für Befragte; Auch für Patienten machbar, die z. B. durch eine OP eingeschränkt sind; Ankreuzen wirkt schematisch
Informationsgehalt der Daten
Informationsgehalt gut
Informationsgehalt gut
Anonymität
Anonymität ist nicht gegeben, da ein direkter Kontakt mit den Untersuchungsteilnehmern besteht
Anonymität ist gegeben, was für »schwierige« Themen (z. B. Sexualität, Aggressionen) ein großer Vorteil ist
Atmosphäre
Sehr wichtig, da eine offene Atmosphäre notwendig ist, um z. B. ein aussagefähiges Interview zu bekommen
Atmosphäre spielt keine große Rolle
123 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
Diese Bemerkung zielt nicht auf die experimentelle Entwicklung und Erprobung eigener Fragebögen durch Studierende in Praxissemestern oder auch im Rahmen ihrer Abschlussarbeiten. Sie zielt eher darauf ab, die eigenen Fähigkeiten zur Entwicklung und Einführung von Fragebögen nicht zu überschätzen und sich differenziert mit den wissenschaftlichen Methoden der Erkenntnisgewinnung auseinanderzusetzen. Gleichsam richtet sich dieses Argument gegen die Praxis an einigen Einrichtungen des Gesundheitswesens, durch Schüler und Praktikanten, manchmal auch durch Unternehmensberater eigenwillig entwickelte Fragebögen aus Kosten- und Zeitgründen undifferenziert und unsystematisch einzusetzen und die gewonnenen Ergebnisse als gesicherte Erkenntnisse unter den betroffenen Mitarbeitern zu verbreiten oder organisatorische Entscheidungen damit zu fundieren. Differenziere Kenntnisse über die Methoden empirischer Sozialforschung sind einfach erforderlich, um solche Selbststudien zum Erfolg zu führen. Dies schließt bereits die Art und Weise der Durchführung solcher Untersuchungen ein, die spätere Untersuchungsergebnisse beeinflusst. Wie komplex dieses Themenfeld ist, verdeutlichen die nachfolgenden Bemerkungen zum The-
5
ma »Fragestellung« über alle Methoden hinweg. Die »Lehre von der Frage« zeigt bereits, wie viele Fallen und Fehler bei einer Entwicklung eines Untersuchungsdesigns lauern.
Folgende Themen sollen kurz angesprochen werden (Friedrichs 1990, S. 194 ff.): ▬ Wie ist die Frage zu formulieren? ▬ Welche Art von Frage (und Antwortvorgabe) ist angemessen? ▬ Warum wird die Frage gestellt?
In ⊡ Tabelle 5.3 werden verschiedene Fragearten beispielhaft dargestellt, die vielen Lesern bekannt vorkommen dürften. Weniger bekannt sind mögliche Verfälschungen der Ergebnisse, die durch die Frage selbst produziert werden, weil in ihnen bestimmte Undifferenziertheiten, z. B. als Voraussetzungen bei den Befragten, enthalten sind. Beispiele sind ▬ Wie beurteilen Sie die Fähigkeiten der Führungskräfte? ▬ Wie stellt sich für Sie das Informationsverhalten von Pflegedienstleitungen dar? ▬ Arbeiten sie gern mit ihren Mitarbeitern zusammen?
⊡ Tabelle 5.3. Beispiel für unterschiedliche Fragestellungen Frageart
Beispiel
Tendenz der Frage
Offene Frage
»Woran denken Sie dabei?«
Lässt freie und eine Vielzahl von Antworten zu, öffnet den Gesprächspartner
Geschlossene Frage
»Wie spät ist es?«
Lässt (tendenziell) nur eine bestimmte Anwortmöglichkeit zu
Alternative Frage
»Möchten Sie mit einem oder zwei Kollegen zusammen arbeiten?«
Verlangt nach einer Antwort zwischen bereits angebotenen Alternativen
Suggestivfrage
»Sind Sie nicht auch der Meinung, dass Männer anders führen als Frauen?«
Unterstellt ein bestimmtes Ergebnis bzw. setzt dies als Vorurteil bereits voraus
Kombinierte Frage
»Möchten Sie ein oder zwei Eier zum Frühstück?«
Schränkt die Antwortmöglichkeit durch Alternativen ein und ist manipulativ: Die Wahl, kein Frühstücksei zu wollen, wird erschwert
124
5
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
Solche Fragen setzen zu viel voraus, so dass die Ergebnisse undifferenziert und daher unbrauchbar sind. Unklar ist nämlich, wer überhaupt mit »Führungskräften« gemeint ist, was unter »Fähigkeiten« zu verstehen ist (fachliche, soziale, persönliche Fähigkeiten?), wer »die Mitarbeiter« sind (alle Mitarbeiter, die Mitarbeiter der Berufs- oder Bezugsgruppe, auch Leitungskräfte) und wie sich »Informationsverhalten« überhaupt verstehen lässt. Solche abstrakten Begriffe müssen z. B. durch entsprechende Antwortvorgaben mit möglichst gleichen Bedeutungen für die Befragten konkretisiert werden. Die Möglichkeit zur Verfälschung ist aber auch hier nicht ausgeschlossen.
Fragen mit alternativen Antwortmöglichkeiten »Wenn Sie von einem wirtschaftlichen Krankenhaus sprechen, meint dies für Sie... ▬ ... die Fähigkeit zum Erhalt der Arbeitsplätze? ▬ ... die Patientenversorgung sicherzustellen? ▬ ...Gewinne zu erwirtschaften? ▬ ...Überschüsse zu erwirtschaften? ▬ ...alle Kosten decken zu können? ▬ ...keinen dieser Aspekte? ▬ Ich weiß nicht?«
Die »Lehre von der Frage« begegnet uns natürlich in vielen empirischen Untersuchungen wieder und ist nicht nur auf Fragebögen begrenzt. Auch beim Interview sind entsprechende Fragetechniken und -formen zu berücksichtigen, um die möglichen Wirkungen einer Beeinflussung zwischen Fragendem und Befragten zumindest zurückzudrängen. Die Befragung Durch Befragungstechniken werden z. B. die subjektiven Sichtweisen von Versuchspersonen über ▬ vergangene kritische Ereignisse, ▬ Zukunftspläne, ▬ Meinungen, ▬ Beschwerden,
▬ Beziehungsprobleme oder ▬ Erfahrungen in der Arbeitswelt erhoben. Die Besonderheit qualitativer Befragungstechniken liegt darin, so Bortz u. Döring (2002), dass das Gespräch weniger vom Interviewer als vom Interviewten geleitet wird. In einem offenen Interview erfolgt so gut wie keine Strukturierung durch den Interviewer. Er gibt nur das Rahmenthema vor (z. B. Leben und Arbeiten mit der Krankheit) und lässt dann den Befragten möglichst ohne Einflussnahme, ohne Unterbrechungen durch Fragen usw. sprechen. Offene oder auch halbstandardisierte Befragungen werden eher selten schriftlich durchgeführt. Befragte sind eher bereit verbal zu berichten, als z. B. sich über ihre Arbeitszufriedenheit schriftlich zu äußern. Die Spontanität geht bei schriftlichen Äußerungen verloren, da man schneller denkt als man schreibt und zudem vielfach Gedanken oder Ängste aktualisiert werden, die da lauten könnten: Stimmt der Satz so? Hab’ ich den Satz richtig geschrieben? Möchte man dennoch schriftlich Daten erheben, empfehlen sich zwei Vorgehensweisen: ▬ Der Gebrauch von offenen Fragen im Sinne von Tagebuchniederschriften (»Bitte notieren Sie in den nächsten sieben Tagen, zu welchen Konflikten am Arbeitsplatz es bei Ihnen gekommen ist.«). ▬ Die Methode der Satzergänzung (»Wenn ich könnte, dann würde ich...« oder »Unter Führung verstehe ich ...«). Das heißt offene Befragungen sind keine Interviews im klassischen Sinne, bei dem eine Distanz zwischen dem Befragten und dem Darstellendem herrscht. Es wird daher auch als Forschungs- und Feldgespräch bezeichnet (Bortz u. Döring 2002). Der Interviewer geht wohlwollend und emphathisch mit dem Befragten mit, wobei er seine eigenen Reaktionen und Emotionen ebenfalls notiert und auch auswerten kann. In der folgenden Übersicht sind die Arbeitsschritte eines qualitativen Interviews dargestellt (in Anlehnung an Bortz u. Döring 2002). Die Möglichkeiten der Auswertung werden unter Kap. 5.2.4 vorgestellt.
125 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
Ablauf eines qualitativen Interviews Inhaltliche Vorbereitung. In dieser Phase wird
5
chometrische Test dem Befragten zum Ausfüllen vorgelegt.
geklärt, wozu wer wie interviewt werden soll.
Verabschiedung. In dieser Phase wird geklärt, Organisatorische Vorbereitung. Dazu gehört, Kontaktaufnahme mit den Interviewpartnern, Terminabsprachen, Zusammenstellung der Materialien, Zusammenstellung der technischen Ausstattung, falls notwendig Schulung der externen Interviewer.
Gesprächsbeginn. Gegenseitige Vorstellung, Warming-up mit Small Talk, Datenschutz klären. Durchführung und Aufzeichnung des Interviews. Konzentration des Interviewers auf die nonverbalen Reaktionen des Befragten sowie eine Sensibilisierung auf die eigenen Emotionen; Konzentration auf das Gesagte, um Anschlussfragen stellen zu können.
wo die Datenauswertung nachzulesen ist und wer die Kontaktperson ist bei aufkommenden Verunsicherungen oder für Nachfragen.
Gesprächsnotizen. Unmittelbar nach der Verabschiedung sollte sich der Interviewer mit seinem »frischen Eindruck« entsprechende Notizen zu Emotionen, Zustand der Wohnung, Redefluss, Offenheit, Atmosphäre usw. machen. Dokumentation der Befragung. Die Aufzeichnungen sind zu transkribieren bevor diese ausgewertet werden können. Ein Transkript enthält nicht nur den Interviewtext, sondern informiert auch über prägnante Merkmale (z. B. Pause, gleichzeitiges Sprechen) der Gesprächsverlaufs (⊡ Tabelle 5.4).
Gesprächsende. Das Ende wird durch das Abschalten des Tonträgers festgesetzt. Es folgt ein informeller Teil (vgl. Gesprächsbeginn). Vielfach werden jetzt noch wichtige und interessante Informationen vom Befragten nachgeliefert. Falls geplant werden noch psy-
In der Literatur wird eine Vielzahl von Interviewtechniken unterschieden, die im Folgenden kurz vorgestellt werden.
▼
Das Leitfaden-Interview. Das Leitfaden-Interview ist die gängigste Form der qualitativen Befra-
⊡ Tabelle 5.4. Beispiel für ein Transkript 1.
Am MONtag wurde * er operiert.
Kurzpause gekennzeichnet durch *
2.
Am MONtag wurde *4* er operiert.
Pause über eine Sekunde mit Längenangabe *sek*
3.
Am montag wurde er operiert.
Interviewtext, wird meist kleingeschrieben
4.
Am MONtag wurde er operiert.
Betonung von Silben durch Großbuchstaben
5.
Am MONtag wurde *4* er operiert (WEINEN)
Kommentar in Klammern und Großbuchstaben
6.
E: kann’s schon losgehen?
E – Erzähler
7.
I: ja ist alles soweit fertig. sie können anfangen.
I – Interviewer
8.
E: ja also, da werd ich ihnen nichts lustig erzählen können (85/16–21)
Der hier angesprochene Inhalt befindet sich auf S. 85 in den Zeilen 16–21
9.
I: mögen sie einfach mal anfangen?
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Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
gungen. Durch einen Leitfaden erhält man ein Gerüst für die Datenerhebung und Datenanalyse. Dadurch können die Ergebnisse unterschiedlicher Interviews auch vergleichbar gemacht werden. Am Ende oder zu Beginn werden Daten zur Sozialstatistik (Geschlecht, Alter, Beruf usw.) erhoben.
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dieser ersten Erzählung eher vermieden werden, dass der Befragte das Erzählte z. B. begründet, aus einer »theoretischen« Perspektive kommentiert oder umfassend bewertet.
Erläuterungen zum Begriff Stehgreiferzählungen
Das fokussierte Interview. In einem fokussierten Interview werde alle Formen der offenen und halbstrukturierten Befragungen zusammenge-
fasst. Der Interviewer lässt den Befragten frei zu Wort kommen (Mayring, 2002), um ein möglichst »normales« Gespräch zu erhalten. Es ist aber zentriert auf ein spezifisches Thema, auf das sich der Interviewer vorher vorbereitet hat. Merton und Kendall haben diese Form des Interviews geschaffen, bei der ein bestimmter Untersuchungsgegenstand im Mittelpunkt des Gespräches steht bzw. (so Bortz u. Döring 2002) bei dem es darum geht, die Reaktionen des Interviewten auf das »fokussierte« Objekt zu ermitteln. Dies können eine TV-Sendung, ein Buch, ein Experiment, also eine möglichst konkrete Situation sein. Wichtig ist, dass der Interviewer vor dem Interview eine möglichst gründliche Analyse des Themas vorgenommen hat und so zu Hypothesen über die Bedeutung und Wirkung einzelner Aspekte dieser Situation gekommen ist. Diese Hypothesen sind für die Erstellung des Interviewleitfadens (⊡ Abb. 5.2) handlungsleitend (Mayring 2002, S. 71). Das narrative Interview. Von Fritz Schütze eingeführtes und begründetes Verfahren der Datenerhebung, in welchem der Befragte gebeten wird, einen bestimmten Ausschnitt aus seinem Leben oder auch das Leben in seiner Gesamtheit (in diesem Fall spricht man von narrativ-biographischem Interview) möglichst spontan, also (zunächst) ohne Rückfragen seitens des Interviewers, und umfassend zu erzählen (Ludwig-Mayerhofer 1999). Ausgangspunkt ist ein entsprechender erzählungsgenerierender Stimulus, der eine Stegreiferzählung des Befragten hervorruft; es soll jedenfalls im Rahmen
Mit der Kategorie Stehgreiferzählung wird nun Folgendes vorausgesetzt (Glinka 1998): Der potentielle Informant hat vor dem Interviewgespräch keine systematische Vorbereitung auf die beabsichtigte Erzählthematik vornehmen können. Der potentielle Informant hat vor dem Interviewgespräch seine Formulierungen weder kalkuliert noch schriftlich verfasst und dann für die Präsentation einüben können. Stehgreiferzählungen entstehen aus der Situation heraus als etwas Neues.
Das Ziel des narrativen Interviews besteht nach Glinka (1998, S. 9) darin, die Erfahrungen des Informanten in die Gegenwart zu transportieren und durch die Dynamik des Erzählvorgangs wieder erlebbar zu machen. Die zurückliegenden Ereignisse sollen wieder »lebendig« werden und vor dem inneren Auge des Erzählers wie ein Film ablaufen. Die Darstellung des Erzählers wird dabei an manchen Stellen gerafft – wie im Film eben – und an anderen Stellen ist sie geprägt von Erinnerungsverlusten. Glinka schreibt dazu:
»
Beim Forschungsverfahren »narratives Interview« gehen wir also davon aus, dass die Dynamik des Erzählvorganges die retrospektiven Vorstellungen des Erzählers in Gang setzt und ihn noch einmal in die damalige Handlungsund Erleidenssituation versetzt (Glinka 1998, S. 10)«.
Im Einzelnen verläuft das narrative Interview folgendermaßen: Am Anfang steht die Erzählaufforderung, die den Befragten zur Haupterzählung
Problemanalyse Æ Leitfadenkonstruktion Æ Pilotphase (Leitfragenerprobung und Interviewschulung) Æ Aufzeichnung ⊡ Abb. 5.2. Ablaufmodell für ein fokussiertes Interview
127 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
veranlasst. Während dieser Haupterzählung soll der Befragte durch keinerlei (Nach-)Fragen unterbrochen oder gelenkt werden, die Erzählung wird vielmehr (nach Schütze) durch drei Erzählzwänge gesteuert: ▬ den Gestaltschließungszwang, also den Zwang, angefangene Themen oder Erzählstränge auch in irgendeiner Art und Weise abzuschließen; ▬ den Kondensierungszwang, den Zwang, die Erzählung soweit zu »verdichten«, dass sie angesichts begrenzter Zeit für den Zuhörer nachvollziehbar bleibt. ▬ Diesem Zwang steht entgegen der Detaillierungszwang, der Zwang, Hintergrund- oder Zusatzinformationen einzubringen, die für das Verständnis der Erzählung erforderlich sind. Zusammengenommen sollen diese Zwänge dafür sorgen, dass einerseits die wichtigsten Ereignisse berichtet werden, andererseits das Interview für die Beteiligten – Befragte wie Befragende – handhabbar bleibt. Die Haupterzählung wird meist abgeschlossen durch eine Erzählkoda, also eine Äußerung, die das Ende der Erzählung signalisiert, wie z. B. »Ja, das wär’s eigentlich«. Hierauf folgt eine Nachfragephase durch den Interviewer. Mit Schütze lassen sich zwei Formen von Nachfragen unterscheiden: ▬ Immanentes Nachfragen, also solche, die sich direkt auf das vorher Erzählte beziehen (z. B. auf Unklarheiten, auf Dinge, die nur angedeutet, aber nicht ausgeführt wurden, etc.); ▬ exmanente Nachfragen, die sich auf Sachverhalte oder Probleme beziehen, die vom Befragten überhaupt nicht angesprochen wurden, die aber dem Interviewer aus bestimmten Gründen (z. B. wegen Fragestellungen, die im Forschungsprojekt geklärt werden sollen) wichtig erscheinen. Auch in dieser Nachfragephase soll der Befragte möglichst zu Erzählungen animiert werden. Am Ende steht die Bilanzierungsphase, in der das bisher Erzählte abschließend zusammengefasst und bewertet wird. An dieser Stelle können nun auch Bewertungen des Geschehens und Erklärungen desselben seitens der/des Befragten erfolgen.
5
Danach folgt die Transkription der Tonbandaufzeichnungen. Das Tonband läuft seit Beginn der Aushandlungsphase. Der Text wird so genau wie nötig transkribiert. Dabei finden auch die formalen Strukturen des Sprechens ihre Berücksichtigung (⊡ Tabelle 5.4). Die Gruppenbefragung. Neben Einzelinterviews besteht die Möglichkeiten, auch Gruppen oder Teams zu einem Thema zu befragen. Das Vorgehen ist zeitsparend und ermöglicht einen Einblick in eine Dynamik, die möglicherweise auch Aufschluss und Informationen zu dem erfragten Thema gibt. Die Atmosphäre ist vielfach entspannter, da nicht immer nur eine Person im Mittelpunkt des Geschehens steht. Es kann sogar soweit gehen, dass sich Befragte hinter Kollegen »verstecken«. Für den Interviewer ist dieses Vorgehen sehr anstrengend und wird ab einer gewissen Anzahl an Teilnehmern auch unübersichtlich, so dass es sich empfiehlt, mit einer entsprechenden Anzahl von Interviewern zu kommen. Ebenso ist eine Videoaufzeichnung hilfreich, da die Stimmen auf dem Tonband nicht immer eindeutig zu identifizieren sind bei der Transkription. Zur Unterstützung ist es hilfreich, sich jeweils mit Namen anzureden. Ebenso stellt sich als Problem vielfach heraus, dass die Gruppenteilnehmer sich ins Wort fallen, oder einfach parallel reden. Das erschwert die Transkription ungemein. Daher werden vielfach Protokolle über den Gesprächsverlauf erstellt. Varianten der qualitativen Gruppenbefragungen sind bekannt aus dem AC bzw. aus dem täglichen Arbeitsleben. Hier sind zu nennen: ▬ die Methode des Brainstorming, ▬ die Gruppendiskussion, ▬ die Moderationsmethode.
Vergleiche zum praktischen Einsatz und Nachvollzug dieser Methoden im Gesundheitswesen Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes NRW (2000, Band 2). Die Beobachtung Beobachtungen, also die kontrollierte Betrachtung von Menschen, Abläufen usw., sind für viele Einrichtungen nicht besonders attraktiv. Der Wert von solchen Beobachtungen wird vor allem wegen
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Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
eines vermeintlichen Mangels an »Objektvität« negiert. Dabei wird schnell vergessen, dass auch andere Methoden der empirischen Organisationsuntersuchung nicht notwendig »objektive« Ergebnisse produzieren. Wer sich von den Lesern einmal mit der Interpretation von Ergebnissen aus empirischen Untersuchungen beschäftigt hat, kennt die Schwierigkeiten, die aus einer »eindeutigen« Interpretation der Ergebnisse erwachsen können. Insbesondere wenn die Ergebnisse für einige Mitarbeiter, Abteilungen oder Bereiche negativ sind, werden solche Ergebnisse nicht nur in Frage gestellt, sondern grundsätzlich natürlich subjektiv interpretiert und bewertet. Ein weiterer Kritikpunkt wurde in der Verfälschung auf der Seite der Beobachteten gesehen: Wer sich beobachtet fühlt, verhält sich i. d. R. nicht so, wie er sich normalerweise verhält. Dieses Argument gilt allerdings auch für Befragungen, da ein Befragter im Moment der Befragung manche Phänomene erst im Spiegel der Frage gedanklich zusammenstellt und »denkt«. Schlicht gesagt lenkt die Frage ihn erst auf einen Punkt, der vorher vielleicht überhaupt nicht bedacht wurde, so dass der Befragte eine »Wirklichkeit« erst schafft, die ohne Befragung überhaupt nicht in seinem Bewusstsein vorhanden war. Es klingt paradox, aber damit schafft die Frage erst die Realität, von der Befrager glauben, sie sei objektiv immer schon vorhanden und müsste nur durch die Fragestellung gelenkt beantwortet werden. Subjektive Eindrücke zu sammeln und zu systematisieren hat einen eigenen Wert. Wenn davon ausgegangen wird, dass alle »Ergebnisse« in der Regel dazu dienen, eine Wirklichkeitskonstruktion als subjektive Weltbilder erst zu erschaffen, dann sind Eindrücke aus Beobachtungen sicherlich auch dazu zu zählen und nicht gleich als unwissenschaftlich abzuwerten. Die teilnehmende Beobachtung scheint im Gesundheitswesen eine sinnvolle Methode zu sein, um die Differenz zwischen Beobachter und Beobachteten zu verringern und ein »Verstehen« der Situation, die beobachtet wird, vielleicht sogar umfassender zu ermöglichen. Immerhin bewegen sich die Untersucher in der Situation nicht nur sprachlich, sondern insgesamt »sinnlich«, in dem alle Sinne zur Erfassung der Situation eingesetzt werden können. Der Untersucher begibt sich
dann in den zu beobachtenden Bereich und nimmt mindestens an Besprechungen teil. Sein aktiver Part kann sogar zu einer Mitarbeit in der Organisation, die beobachtet werden soll, ausgeweitet werden. Die Teilnahme muss allerdings zeitlich und inhaltlich begrenzt sein, weil sonst die Vorteile einer »externen Beobachtung« verloren gehen, da er durch die Organisation mehr und mehr »sozialisiert« wird und er somit »betriebsblind« werden kann. Im Folgenden werden einige Besonderheiten der qualitativen Beobachtung vorgestellt, die nach Bortz u. Döring (2002) durch folgende Merkmale bzw. Ziele gekennzeichnet sind: ▬ Beobachtung im natürlichen Lebensumfeld. ▬ Aktive Teilnahme des Beobachters am Geschehen, so dass eine Aufhebung der Subjekt-Objekt Trennung erfolgt. ▬ Konzentration auf größere Einheiten und nicht die Messung einzelner Variablen. ▬ Offenheit für neue Beobachtungen und Einsichten. ▬ Beobachtet werden sichtbare Verhaltensweisen und nicht implizit zu Grunde gelegte Bedeutungen. Im Folgenden werden drei Beobachtungsformen vorgestellt: die Einzellfallbeobachtung, die Selbstbeobachtung und nonreaktive Verfahren. Einzelfallbeobachtung. Unter einer Einzellfallbe-
obachtung versteht man die genaue Betrachtung einer Untersuchungseinheit. Darunter versteht man eine Person, eine Gruppe oder eine Institution. Im Mittelpunkt der Beobachtung stehen individuelle Prozesse und Verläufe. Beispiel dazu ist die Beobachtung eines Patienten unter einem neuen Medikament. In diesem intensiven Forschungsansatz wird versucht die Komplexität eines Falles möglichst genau zu erfassen. Die Frage nach der Generalisierbarkeit bzw. der Übertragbarkeit solcher Ergebnisse auf die Gesamtheit einer Population ist sicherlich berechtigt. In diesem Zusammenhang wird vielfach der Selbstversuch von Hermann Ebbinghaus zitiert. Dieser hat an sich selbst das Ausmaß des Vergessens und Behalten von sinnlosen Silben getestet und damit die Vergessens- und Behaltenskurve aufgestellt, die später in zahlreichen Versuchen bestätigt wer-
129 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
den konnte. Ebenso sind in diesem Zusammenhang Jean Piaget oder auch Sigmund Freud zu nennen, die ebenfalls an idiosynkratischen Untersuchungen – der Sohn von Piaget bzw. Freud selbst – entsprechende grundlegende Beobachtungen gemacht haben, die Jahre später noch von Bedeutung sind. > Unter Einzelfall versteht man allerdings nicht nur einzelne Personen sondern auch einzelne Unternehmen, bei denen Effekte festgestellt wurden, die dann zu Hypothesen geführt haben und auch bis heute Gültigkeit haben.
Hier sei die Hawthorne-Studie zu nennen, in der eigentlich die physischen Arbeitsbedingungen (Einfluss der Helligkeit auf die Produktion) erhoben werden sollten. Die Forscher stießen auf den Effekt, dass informellen Organisationsformen innerhalb der Arbeitsgruppen für Arbeitszufriedenheit und Produktivität wesentlich wichtiger waren als die objektiven Arbeitsbedingungen.
5
haben, denn hier treten Beobachter und Untersuchungsobjekte nicht in Kontakt miteinander. Einige Beispiele dazu: ▬ Physische Spuren: abgetretene Fußbodenbelege als Hinweis für gewählte Besucherwege. Geknickte oder verschmutze Seiten eines Buches oder einer Zeitung als Indikatoren für häufiges Lesen; ▬ Schilder, Hinweistafeln (Spielen Verboten, Betreten der Rasenfläche verboten, Rauchen verboten, Hier spricht man deutsch usw.) als Indikator z. B. für Kinderfeindlichkeit; ▬ Symbole, Aufkleber, Abzeichen usw. als Hinweis für eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder politischen Richtung; ▬ Verkaufsstatistiken als Hinweis für beliebte Marken, beliebte Interpreten; ▬ Bettenstatistiken, Infektionsstatistiken, Anzahl der Stürze, Sterbestatistiken in einem Krankenhaus oder einem Altenheim als Hinweis für die Güte der Versorgung.
Selbstbeobachtung. Bittet man Probanten um
eine Selbstauskunft, greift man auf ihre Selbstbeobachtung zurück – die Introspektion. Dies passiert sowohl bei therapeutischen Prozessen (»Wie geht es Ihnen mit der Medikamentenumstellung?«) als auch bei Arbeitsplatzanalysen (»Wie oft gehen Sie am Vormittag zum Telefon?«) Dabei werden Versuchspersonen über einen spezifischen Zeitraum angehalten, eine Art Tagebuch über vorher festgelegte Ereignisse bzw. Prozesse niederzuschreiben. Als Beispiel: »Wie oft klingelt das Telefon zu unterschiedlichen Zeiten?« »Wie oft werden welche Wege zurückgelegt?« »Wie geht es mir nach der Einnahme eines Medikamentes?« »Was denken Sie, wenn die Visite vorbei ist?« > Methodische Probleme liegen oftmals in der Zeitverzögerung der Niederschrift, wodurch es zu einer Verzerrung der Erinnerung kommen kann. Zudem führt möglicherweise die Aufzeichnung an sich zu einer Veränderung des Verhaltens. Außerdem wird der Aufwand der Methode, von vielen Probanden als sehr hoch angesehen. Nonreaktive Verfahren. Dieser Sammelbegriff steht
für eine Anzahl von Datenerhebungsmethoden, die keinen Einfluss auf die untersuchten Personen
Nonreaktive Verfahren sind Sonderformen der Beobachtungen, da diese verdeckt durchgeführt wurden. Sie können u. a. auch zu BenchmarkingProzessen eingesetzt werden.
5.2.4 Quantitative und qualitative
Auswertungsmethoden Qualitative Auswertungsmethoden Inhaltsanalyse nach Mayring. Der Grundgedanke der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring ist es, Texte systematisch zu analysieren, indem sie das Material schrittweise und theoriegeleitet kategorisiert. Dieses Vorgehen ist sehr aufwändig. Sie beinhaltet Feinanalysen (Betrachtung kleiner Sinneinheiten) und zielt auf ein elaboriertes Kategoriensystem ab, das die Basis einer zusammenfassenden Deutung des Materials bildet. Das Vorgehen nach Mayring (2002, S. 58 ff.) umfasst drei Schritte: 1. Zusammenfassung: Ziel der Analyse ist es, das Material so zu reduzieren, dass die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben, durch Abstraktion einen überschaubaren Korpus zu schaffen, der immer noch Abbild des Grundmaterials ist.
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5
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
In diesem Punkt müssen die Kategorisierungsdimensionen sowie das Abstraktionsniveau vorab definiert werden. Es muss ein Selektionskriterium für die Kategorienbildung festgelegt werden. 2. Explikation: Ziel der Analyse ist es, zu einzelnen fraglichen Texteilen zusätzliches Material heranzutragen, das das Verständnis erweitert, das die Textstellen erläutert, erklärt und ausdeutet. Als Quelle dient hier vielfach das direkte Textumfeld oder Informationen über den Textverfasser oder das kulturelle Umfeld. 3. Strukturierung: Ziel der Analyse ist es, bestimmte Aspekte aus dem Material herauszufiltern, unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen oder das Material aufgrund bestimmter Kriterien einzuschätzen. Ziel ist es ein Kategoriensystem zu definieren, dass eine eindeutige Zuordnung von Textmaterialien zu den Kategorien ermöglicht. Dazu ist ein dreischrittiges Vorgehen notwendig: a) Definition der Kategorie, b) Darstellung von Ankerbeispielen, dass heißt prototypische Beispiele für die Kategorie festlegen und c) im dritten Schritt Aufstellung von Kodierregeln, wo Abgrenzungsprobleme zwischen Kategorien bestehen (Mayring 2003). Grounded Theory. Dieser Ansatz wurde in den sechziger Jahren durch Barney Glaser und Anselm Strauss vorgestellt. Es handelt sich dabei um eine Auswertungstechnik zur Entwicklung und Überprüfung von Theorien, die eng am vorgefundenen Material arbeitet, bzw. in den Daten verankert (grounded) ist. Ziel der Grounded Theory ist die Identifikation der Kernkategorie des untersuchten Textes, die in ein hierarchisches Netz von Konstrukten eingebettet ist. Der Ansatz geht davon aus, dass hinter den empirischen Indikatoren (Verhaltensweisen), die im Text manifest sind, latente Kategorien stehen. Mehrere untereinander verknüpfte Indikatoren spezifizieren ein Konstrukt. Der erste Auswertungsschritt besteht im so genannten offenen Kodieren. Offenes Kodieren bedeutet, den Indikatoren (= Wörter oder Sätze) Konstrukte (= abstrakte Ideen) zu zuweisen. Ent-
scheidend dabei ist, dass das Zielkonstrukt nicht einfach nur durch einen Namen etikettiert wird, sondern genau definiert wird. Dazu gibt man an, welche Indikatoren zum Konstrukt gehören. In weiteren Arbeitsschritten werden nun die Konstrukte immer wieder durchgearbeitet, um die wechselseitigen Beziehungen zu erkennen und an Indikatoren zu verifizieren. In einem darauf folgenden Auswertungsschritt, dem axialen Kodieren, werden die Konstrukte immer enger miteinander verknüpft. Darüber hinaus werden die begleitenden Fragen und Überlegungen in Form von Memos (Gedächtnishilfen) notiert. Diese Memos können auch Produkte von Gruppengesprächen zwischen Forschern sein. Memos bilden die Basis für die ersten Theorie Fragmente. Aus Memoketten entstehen Theorien, die natürlich nur für den betrachteten Fall gelten. Der Unterschied zur Inhaltsanalyse nach Mayring ist nach Bortz u. Döring (2002) die stärkere Vernetzung der Kategorien und Subkategorien, wie sie durch den Ansatz der Grounded Theory entstehen. Sprachwissenschaftliche Auswertungsmethoden.
Die Sprachwissenschaften haben eine Reihe von Auswertungsmethoden hervorgebracht, die insbesondere in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zum Einsatz kommen. Dieser Ansatz widmet sich in erster Linie der Analyse von Alltagssprache. Als Methode sei hier in erster Linie die Textanalyse genannt. Bei der Textanalyse wird betrachtet, wie der Text sprachlich gestaltet und strukturiert ist, welche Textsorte er angehört, durch welche typischen Merkmale er kennzeichnet ist. Quantitative Auswertungsmethoden Eine schematische Vorgehensweise zeigt die ⊡ Abb. 5.3, in der ein grundsätzlicher Weg zwischen dem »Problemfeld«, der Datenerfassung, Datenverarbeitung und Interpretation nachgezeichnet wurde. Die statistische Auswertung von empirischen Daten sollte mit Hilfe einer angemessenen Datenaufbereitung erfolgen. In der Statistik werden Merkmale klassifiziert und anhand von unterschiedlichen Skalen gemessen, sofern es sich um quantifizierbare Daten handelt. Das ist wichtig,
131 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
5
Fragestellung
Antworten durch Darstellung, Interpretation und Vergleich
Bestimmung der Erfassungsmethode
Problemfeld
Erfassung von Daten
Rohdaten
Verarbeitung der Daten
Verdichtete Daten
⊡ Abb. 5.3. Vorgehensweise zwischen Fragestellung, Datenerfassung/-verarbeitung und Interpretation von Daten.
weil sonst der Aussagegehalt und die Interpretation der Daten verfälscht werden können. > Grundsätzlich sind qualitative oder quantitative Merkmalsausprägungen zu unterscheiden. Qualitative Merkmale sind Merkmale, wie zum
Beispiel der Status der Patienten (ambulanter oder stationärer Patient), die Kostenträgerschaft (Privat- oder Kassenpatient) usw. Qualitative Merkmale unterscheiden Sachverhalte oder Dinge nach ihrer Art. Quantitative Merkmale stellen Merkmale dar, die sich durch ihre Größe unterscheiden, z. B. das Alter, die Verweildauer der Patienten, die Anzahl erhaltener Untersuchungen, die Transportzeiten zwischen Station und Funktionsbereich, Arbeitszeiten der Mitarbeiter in ihrer Dauer, Betriebszeiten von technischen Geräten im Labor und Röntgenbereich. Zur Auswertung qualitativer Informationen wurden bereits in den vorausgehenden Kapiteln einige Beispiele angeführt. Deshalb konzentrieren sich die nachfolgenden Bemerkungen im Wesentlichen auf quantitative Daten und deren Ausprägung. Es können nun zur Messung empirischer Daten im Wesentlichen drei verschiedene Skalen angewendet werden: ▬ Nominalskala, ▬ Ordinalskala, ▬ metrische Skala.
Die Nominalskala zeigt Merkmale, die keiner Rangfolge und keiner Vergleichbarkeit unterliegen, wie beispielsweise eine Einteilung der Patienten nach ihrem Patientenstatus (ambulanter oder stationärer Patient). Hier dient der Name oder die Bezeichnung als einziges Unterscheidungskriterium. Beruf, Religion, Patientenstatus, die Bezeichnungen der DRGs geben weitere Beispiele für nominalskalierte Merkmale ab. Auf einer Ordinalskala werden Merkmale abgebildet, die sich in ihrer Intensität unterscheiden und ordnen lassen. Bei diesen Merkmalen kann eine Rangfolge bestimmt werden, jedoch eine Interpretation der Abstände zwischen den verschiedenen Werten nicht möglich ist Beispiele für ordinalskalierte Merkmale sind Ausprägungen, die an drei Eigenschaften, z. B. gut, mittel, schlecht gemessen werden können. Bei Schulnoten kann zwar gesagt werden, dass die Note 3 besser ist als die Note 5. Die Abstände zwischen den Noten sind jedoch nicht interpretierbar. So ist der Abstand zwischen den Noten 3 bis 5 und zwischen den Noten 1 und 3 gleich dem Wert 2. Dennoch ist die Qualität der gleichen Differenz nicht interpretierbar. Eine metrische Skala bildet die Ausprägungen nicht nur einer Rangfolge, sondern auch in ihren Abständen so ab, dass diese zwischen den Werten ebenfalls interpretierbar sind. Dies ist zum Beispiel beim Merkmal »Alter« der Fall. Der Abstand
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Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
von einem Jahr zwischen den Merkmalsausprägungen kann als mehr oder weniger interpretiert werden (Hartung 1998, S. 16 f.). Lagemaße: Arthmetisches Mittel, Modus, Median.
5
Mit Hilfe von Lagemaßen sollen Ergebnisse empirischer Untersuchungen komprimiert dargestellt werden. Zu den Lagemaßen gehören die Mittelwerte, die sog. Zentren (Zentralwerte) einer Verteilung von Merkmalen mit ihren Ausprägungen darstellen. Allen voran steht das arithmetische Mittel. Seltener werden der Modus (er zeigt den häufigsten Wert in einer Reihe von Merkmalsausprägungen) und der Median (der mittlere Wert einer der Größe nach geordneten Werte) verwendet. Metrische Daten werden mit den Mittelwerten (arithmetisches, geometrisches Mittel), ordinalskalierte Werte mit dem Modus oder dem Median als Mittelwert abgebildet. Streuungsmaße: Spannweite, Standardabweichung, Varianz. Das arithmetische Mittel, der
Modus und der Median zeigen uns nicht die Breite der Ergebniswerte, die minimal und maximal gemessen worden sind. Die Differenz zwischen dem maximalen und minimalen Wert wird als Spannweite bezeichnet. Die Standardabweichung und Varianz zeigen Abweichungen der jeweiligen Ausprägung von ihrem arithmetischen Mittel. Die Streuung von Daten kann nämlich durch ihren mittleren Abstand von einem geeigneten Durchschnitt gemessen werden. Als Abstandsmaß wird hier keine zahlenmäßige Differenz wie bei der Spannweite gewählt, sondern ein quadrierte Abstand der einzelnen Werte vom arithmetischen Mittel (Varianz). Das Streuungsmaß der empirischen Sozialforschung stellt die Standardabweichung dar, die als Wurzel aus der Varianz definiert ist. Korrelation. Laut Bungard ist eine »repräsentative,
fundierte und handlungsorientierte Auswertung« so vorzunehmen, dass vor allem Zusammenhänge zwischen einzelnen Merkmalen analysiert werden können. Zusammenhänge müssen auf ihre Signifikanz (bedeutsam und nicht zufallsbedingt) und auf eventuelle Kausalitäten (das heißt ob ein bestimmtes Merkmal einem anderen ursächlich vorangeht)
überprüft werden (Bungard u. Jöns 1997, S. 40). Es geht also darum, Zusammenhänge zwischen mindestens zwei Merkmalen darzustellen und in ihrer Stärke zu ergründen. Bei dieser Aufzählung verschiedener Auswertungsmethoden soll es hier bleiben. Für die entsprechenden Verfahren der Wahrscheinlichkeitsrechnung, zum Test von Hypothesen usw. wird auf die klassische Literatur zur Statistik verwiesen. Gütekriterien qualitativer und quantitativer Datenerhebungen und Datenauswertung Die klassischen Gütekriterien können natürlich auch auf die qualitativen Verfahren angewandt werden, wobei nach Bortz u. Döring (2002) hier in erster Linie die Validität von Bedeutung ist. Objektivität. Unter Objektivität versteht man
die Tatsache, dass unterschiedliche Forscher bei einer Untersuchung desselben Sachverhaltes mit denselben Methoden zu vergleichbaren Resultaten kommen können. Die Objektivität verhindert dabei nicht, dass die subjektiven Ansichten des Befragten erfasst werden können. Objektivität wird erzeugt, indem man versucht, sich als Interviewer auf das innere Erleben des Befragten einzustellen. Dazu gehört es, mögliche Fragen vom Aufbau oder benutze Wörter zu verändern, so dass sie in den Gesprächsverlauf und in die Gedankenwelt des Befragten passen. Reliabilität. Inwieweit die Realiabilität, das heißt die Zuverlässigkeit von qualitativen Daten, sicherge-
stellt werden kann ist umstritten. Eine Methode, die die Einzigartigkeit hervorhebt, tut sich mit dem Konzept der Wiederholungs-Reliabilität sicherlich schwer. Validität. Die Validitätsfrage stellt sich bei qualitativen Daten wie folgt: Sind Interviewäußerungen
authentisch oder ehrlich? Gibt es Verfälschungen bzw. Erinnerungsverfälschungen? War der Interviewer in der Lage, die wirklich relevanten Daten zu erheben? Hinweise darauf geben z. B. die Stimmung im Interview, das Interaktionsverhalten usw. Äußerungen von Partner, die das Interview sehen oder direkt anwesend sind, können ebenfalls dazu Hinweise geben, wobei man jedem Menschen zuge-
133 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
stehen muss, dass Erinnerungen sich über die Zeit verflüchtigen und das man sich vor anderen anders darstellt als vor sich selbst und diese »Unehrlichkeit« nicht eine wirklich bewusste Unehrlichkeit oder Lügen ist. > Sind Beobachtungsprotokolle valide? Sehen sechs oder acht oder vier Augen das Gleiche? Die Antwort ist sicherlich nein – der eine interpretiert einen Satz freundlich, der nächste aggressiv. Stehen die Äußerungen im Widerspruch zu den Beobachtungsprotokollen, wird die Verhaltensaufzeichnung selten als valide eingestuft. Können sich mehrere Personen auf die Glaubwürdigkeit und den Bedeutungsgehalt des Materials einigen, gilt dies als Indiz für seine Validität. Konsensbildung kann dabei zwischen verschiedenen Gruppen stattfinden – Konsens zwischen den an einem Projekt beteiligten Forschern, Konsens zwischen Forschern und Beforschten (kommunikative Validierung) oder Konsens zwischen außenstehenden Laien und Kollegen (argumentative Validierung). Die Gütekriterien haben ihre Bedeutung auch für die qualitative Datenanalyse, dass heißt für die Auswertung der gesprochenen Sprache. Die Auswertung der Daten darf auch hier nicht einfach Teile des Interviews unter den Tisch fallen lassen, oder nur durch die Spontaneität des Auswerters geprägt sein, so dass am nächsten Tag die Auswertung der Daten ganz anders ausfallen würde. Wichtig ist eine regelgeleitete systematische Auswertung des Textes, um so die Willkürlichkeit und Subjektivität möglichst zu reduzieren. Nach Bortz u. Döring (2002, S. 335) sind bei der Validierung von Interpretationsergebnissen zwei Fragen von Wichtigkeit: 1. Lässt sich die Gesamtinterpretation tatsächlich aus dem Text zwingend ableiten? Bei der Validierung von Interpretationen gilt die Konsensbildung als gutes Gütekriterium. Eine Konsensbildung in einem heterogenen Team ist ein stärkeres Indiz für die Validität als die Konsensbildung in einer Gruppe von Forschern, die all einer z. B. Interessensvertretung angehören. Daher ist es sinnvoll, bei diesem Prozess auch externe Experten mit einzubeziehen.
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2. Inwieweit sind die herausgearbeiteten Erklärungen auf andere Situationen bzw. Fälle übertragbar? Die Generalisierbarkeit von Ergebnissen ist in der quantitativen Forschung durch den wahrscheinlichkeitstheoretisch abgesicherten Schluss von Zufallsstichprobe auf die Population erreicht worden. Die qualitative Sozialforschung versucht dies durch besonders detaillierte repräsentative Einzellfallbeschreibungen. Die Anzahl dieser Einzellfälle ist relativ gering bedingt durch den Aufwand. Die Auswahl dieser Fälle ist bewusst und systematisch. Dieser Ansatz impliziert, dass der Forscher den »typischen Fall« kennt, dem aber eigentlich so nicht ist. Dadurch wird die Generalisierbarkeit von Aussagen stark eingeschränkt und somit auch die Validität. Besondere Ansätze in der qualitativen und quantitativen Forschung Die dargestellten qualitativen Verfahren werden vielfach für eine spezifische Fragestellung kombiniert, so dass themenspezifische Forschungsansätze entstehen, von denen im Folgenden vier kurz vorgestellt werden. Feldforschung. Unter einem »Feld« versteht man den natürlichen Lebensraum von Menschen, ein
Krankenhaus, eine Kneipe, eine Schule, ein Stadtbezirk usw. Der natürliche Lebenslauf im Feld soll durch die Forschungstätigkeit so wenig wie möglich beeinträchtigt werden. Die Forscher sollen sich unauffällig in das Geschehen eingliedern. Methoden in diesem Ansatz sind u. a. die teilnehmende Beobachtung, Feldgespräche (informelle und formelle Interviews), eine offene Form der Beobachtung (ohne festen Beobachtungsplan). Aktionsforschung. Die Aktionsforschung geht auf Kurt Lewin zurück, der in den vierziger Jahren die
wirtschaftliche und soziale Diskriminierung »vor Ort« untersucht hat (vgl. allgemein zum Aktionsforschungsansatz Moser [1975] und Zedler u. Moser [1983] sowie zur Aktionsforschung und zum Feldexperiment Kubicek [1975, S. 69 ff.]). Eine typische Vorgehensweise besteht darin, für verschiedene Gruppen mit ähnlichem Kontext unterschiedliche Regelungen vorzugeben und deren Wirkung dann
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Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
zu vergleichen (Kubicek 1975, S. 69). Der Ansatz basiert auf drei Grundsätzen. ▬ Forscher und Beforschte sind gleichberechtigt. Das heißt die Beforschten entscheiden mit, welche Ziele, welche Methoden und welche Auswertungen stattfinden. ▬ Untersuchungsthemen sind praxisbezogen und emanzipatorisch. Die Untersuchungsthemen sollen unmittelbare praktische Relevanz besitzen und nicht theoretischer Natur sein. ▬ Der Forschungsprozess ist ein gemeinsamer Lern- und Veränderungsprozess zwischen Forscher und Beforschten. Forschung und Praxis sollen Hand in Hand gehen und nicht nacheinander ablaufen:
»
Nicht mehr Forschung – Entwicklung – Gestaltung, sondern auch Entwicklung – Gestaltung – Forschung sind als adäquate Folgen zu betrachten. (Szyperski, zitiert nach Kubicek 1975, S. 70)«
Daraus ergibt sich für die Methodenauswahl z. B. der Einsatz von teilnehmenden Beobachtungen oder offenen Befragungen (Gruppendiskussionen) oder auch anderen eher quantitativer Methoden. Empirische Sozialforschung als Genderansatz.
Frauenforschung ist ein interdisziplinärer Ansatz, der die Geschlechterfrage auf inhaltliche, methodologische Ebene behandelt und in einem kritischen Ergänzungsverhältnis zur herkömmlichen überwiegend männlich dominierten Forschung steht. Empirisch lässt sich zeigen, dass die meisten Sozialwissenschaftlerinnen eher mit quantitativen Methoden arbeiten. Quantitative Methoden machen strukturelle Diskriminierungen oftmals besonders gut deutlich. > Der Nutzen qualitativer Forschung liegt indes darin, dass eingeführte Konstrukte oder Fragebögen häufig bereits von traditionellen Selbstverständnissen geprägt sind, deren Fragwürdigkeit oftmals über qualitative Untersuchungen deutlich gemacht werden können. Biographieforschung. Unter Biographie versteht man die Interpretation bzw. die Rekonstruktion eines Lebenslaufes aus subjektiver Sicht. Biogra-
phieforschung thematisiert nicht nur einzelnen Individuen und deren Lebensweg, sondern sucht durch den Vergleich von Biographien nach Regelmäßigkeiten, die zur Erklärung personenbezogener und gesellschaftlicher Phänomene dienen können. So könnte man u. a. die Lebensgeschichten von Krebspatienten vergleichen, um möglicherweise Bedingungsfaktoren von spezifischen Erkrankungen herauszubekommen. Individuelle Lebensgeschichten entstehen im Spannungsfeld zwischen subjektiven Wünschen und Erwartungen auf der einen Seite und sozialen sowie biologischen Bedingungen auf der anderen Seite. Was als »normale« Biographie gilt, ändert sich über die Jahrzehnte und gibt gleichzeitig Auskunft über die gesellschaftlichen Konstrukte der Zeit. Methodisch benutzt die Biographieforschung meist mündliche und schriftliche Befragungen, narrative Interviews oder auch Leitfadeninterviews. Ebenso werden Längsschnittstudien durchgeführt, bei denen eine Anzahl von Personen über einen längeren Zeitraum wiederholt befragt werden. Neben diesen qualitativen Datenerhebungen werden vielfach auch quantitative Daten zur Sozialstatistik erhoben oder ggf. auch Persönlichkeitstest durchgeführt. Die Auswertung erfolgt mit den üblichen Verfahren der qualitativen und quantitativen Forschung.
5.2.5 Beispiele zur Anwendung
empirischer Untersuchungsmethoden und deren Einsatz im Gesundheitswesen Patientenbefragungen im Krankenhaus Im Rahmen einer zunehmenden Kundenorientierung von sozialen Einrichtungen des Gesundheitsund Sozialwesens wird die Einstellung, Meinung oder auch das Verhalten von Klienten für die Einrichtungsbetreiber und Mitarbeiter interessant. Patientenbefragungen werden üblicherweise als Befragungen, entweder als häufig stichtagsbezogenes Interview aller dann anwesenden Patienten/ Bewohner oder als laufende (permanente, zeitraumbezogene) Untersuchung aller Patienten/ Bewohner zu ganz bestimmten Kontaktzeitpunkten (z. B. vor der Aufnahme, bei der Aufnahme,
135 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
> In vielen Fällen wird davon ausgegangen, dass grundsätzlich alle Patienten gleich sind und sich ihr Meinungsspektrum im Spiegel aller antwortenden Patienten verallgemeinern lässt. Diese Vereinfachung ist häufig nicht zutreffend.
Viele Patienten befinden sich in einer Ausnahmesituation. Der Zeitpunkt der Befragung spiegelt nicht den Gemütszustand der Patienten wider. So kann nicht einfach unterstellt werden, dass sich alle kurz vor der Entlassung stehenden Patienten gleichsam in einer positiven Gemütsverfassung befinden. Somit können die gegebenen Antworten entweder durch den Zustand selbst oder durch die Erwartung der Patienten hinsichtlich ihres Heilungserfolges, ihres neuen gesundheitlichen Zustandes und der Wiedergewinnung/Erweiterung oder Einschränkung der Lebensqualität beeinflusst sein. Die scheinbar eindeutig gemessene Beziehung zwischen der retrospektiven Beurteilung der Versorgungssituation im Krankenhaus und den tatsächlichen Meinungen und Einstellungen dürfte durch sog. intervenie-
Erfahrungen während des Aufenthaltes
rende Variablen, nämlich den Gemütszustand,
der Prognose des Gesundheitszustandes und der Lebensumstände mitbestimmt sein (⊡ Abb. 5.4). Ferner sind nicht alle Patienten in gleicher Weise der deutschen Sprache mächtig. Die Fragen in Patientenfragebögen werden in diesem Fall in die Sprachen der Menschen übersetzt, die einen relativ großen Anteil an dem Gesamtaufkommen aller Patienten haben. Dabei ist zu beachten, dass in Zahlenwerten angegebene Noten zur Bewertung von Fragen auch die kulturbezogene übliche Gleichsetzung zwischen Notenwert und Aussage beinhalten können. So benutzen Menschen aus der Türkei ein zum deutschen Notenwert genau umgekehrtes Wertesystem. Die Note 1 entspricht dann der Note 6 und umgekehrt! Selbst unter der Voraussetzung, dass die Auswirkung des Krankheits- und Gesundungsprozesses ohne Auswirkung auf die Zufriedenheitswerte sind, müssen weitere wichtige Faktoren bedacht werden. Es ist davon auszugehen, dass Frauen und Männer unterschiedliche Bezugssysteme haben, auf die sie Begriffe wie »Hygiene«, »Freundlichkeit«, »Zuwendung« usw. beziehen. Männer und Frauen verstehen solche Wörter anders. Eine hohe Bewertung solcher Faktoren dürfte für die Befragten eine andere Bedeutung und damit eine andere Wertigkeit haben. Vielleicht ist eine Note 3 bei Männern bereits eine Note 5 bei Frauen, wenn es um die empirische Beurteilung von Sauberkeit und Hygiene im Krankenhaus oder Altenheim geht. Dies ist natürlich nicht als frauenfeindliches Argument zu verstehen, sondern nur als Beschreibung unterschiedlicher Sozialisationsprozesse, in denen Frauen und Männer ein anderes Verständnis für verschiedene Sachverhalten entwickeln. Das vorgenannte Argument wird angeführt, weil Patientenbefragungen eine differenzierte Ergebnisberichterstattung ermöglichen müssen. Sozialdaten
Erwartungen nach dem Aufenthalt, Gemütszustand, Gesundheitsprognose
während des Aufenthaltes, bei der Entlassung, nach der Entlassung) durchgeführt. Die Patientenbefragungen können sich entweder auf medizinische, pflegerische sowie organisatorische Sachverhalte beziehen und hierbei die Einstellungen oder die Meinung der Patienten hinterfragen. Die meisten sozialen Einrichtungen bedienen sich eines standardisierten Fragebogens, die alle Patienten beantworten sollen. Das Ausfüllen ist in der Regel freiwillig und nicht abhängig z. B. von der Fortsetzung der Behandlung. Kurz vor der Entlassung bekommen die Patienten diesen Fragebogen und können diesen nach dem Ausfüllen in dafür vorgesehenen Briefkästen auf den Stationen einwerfen oder zentral im Krankenhaus eingerichteten Rückgabestellen abgegeben werden.
5
Antworten im Fragebogen über den Aufenthalt
Einfache Beziehung ⊡ Abb. 5.4. Einfache Zusammenhänge in Patientenbefragungen und intervenierende Variablen
136
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
Auf welcher Station haben Sie gelegen? Station ................................................ Fachrichtung: ................................................ Wie lange dauerte Ihr Aufenthalt auf dieser Station? 1–2 Tage 3–5 Tage 6–7 Tage 1–2 Wochen
länger als 2 Wochen
Waren Sie zum ersten Mal auf dieser Station? ja nein, ich war bereits zum....... Mal auf dieser Station. Waren Sie zum ersten Mal im Evangelischen Krankenhaus? ja nein, ich war bereits zum ....... Mal im Evangelischen Krankenhaus.
5
Sie waren in unserem Krankenhaus als Kassenpatient Privatpatient Wie alt sind Sie? unter 20 20–39 Geschlecht männlich
40–59
60–79
80 und älter
weiblich
Datum: ............................................ ⊡ Abb. 5.5. Sozialdaten im Fragebogen zur Patientenbefragung
Herzlichen Dank für Ihre Mitarbeit!
(⊡ Abb. 5.5), die am Ende oder am Anfang eines Fragebogens abgefragt werden, lassen eine spezifische Auswertung der Ergebnisse nach Altersgruppen, Entlassungsdiagnose, nach Geschlecht und nach der Patientenkarriere (Erstbehandlung oder Wiederkehrer) sowie nach dem Alter und anderen Faktoren zu. Gute Patientenbefragungen müssen differenziert ausgewertet und aussagekräftig an die Entscheider in sozialen Organisationen weitergegeben werden. Was bei der Aufbereitung und Verwendung solcher Informationen zu beachten ist, wird später noch genannt. Mitarbeiterbefragungen im Krankenhaus In gewisser Weise gelten die für Patientenbefragungen aufgezeigten Fragestellungen ebenfalls für Mitarbeiterbefragungen. Mitarbeiter werden in mehrfacher Hinsicht auch als »Kunden« verstanden. Im Sinne interner Kundenorientierung sind die Mitarbeiter, die ihre Arbeit im Anschluss an die vorleistende Arbeitsstelle zu erbringen haben, Kunden in der Prozesskette der Arbeitsabläufe. Mitarbeiter sind auch Kunden aus der Sicht der Organisation, die ihre Beiträge nur dann hinreichend gut erbringen, wenn sie genügende Anreize
finden, die ihnen die Organisation bietet. Sonst sind Abwanderung, Widerspruch, innere Immigration, Unzufriedenheit, mangelhafte Motivation, schlechte Arbeitsergebnisse usw. mögliche Folgen. > Wird davon ausgegangen, dass die Arbeitsmärkte enger werden und qualifiziertes Personal zunehmend schwerer am Arbeitsmarkt zu beschaffen sein wird, muss dem Faktor »Arbeit« in Dienstleistungsbetrieben zukünftig viel mehr Aufmerksamkeit gegeben werden. Die Arbeit von Menschen für Menschen ist rückbezüglich!
Die fachliche, soziale und systemische Kompetenz der Mitarbeiter erwächst nicht nur aus ihrer Qualifikation, sondern wird auch über die betrieblichen Prozesse erworben. Der Umgang mit Patienten, Angehörigen und Kollegen prägt die Pflegekräfte selbst und schafft die Qualifikation der Pflegekräfte im Pflegeprozess. Betriebliche Sozialisation meint dann die bewusste und unbewusste Steuerung der Kompetenzentwicklung durch die Organisation selbst. In diesem Sinne bekommt jede Organisation die Mitarbeiter, die sie verdient. Damit muss sich jede Organisation um ihre Organisationskultur verdient machen.
137 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
Bei einer Befragung der Mitarbeiter ist zunächst zu überlegen, was denn überhaupt befragt werden soll. Dahinter liegen grundsätzliche, wissenschaftstheoretische Überlegungen, ob die manchmal leichtfertig benannten Themen wie Arbeitszufriedenheit, Betriebsklima usw. überhaupt auf diese Weise zu erfassen sind. Ein kleines Beispiel aus der wissenschaftlichen Diskussion über Arbeitszufriedenheit kann dies erläutern. Üblicherweise werden Arbeitszufriedenheit und Arbeitsunzufriedenheit als zwei Enden einer Strecke verstanden. Ein weniger an Arbeitszufriedenheit steigert dann die Arbeitsunzufriedenheit. Frederik Herzberg hatte bereits früh darauf aufmerksam gemacht, dass ▬ Arbeits(un)zufriedenheit nach ihrem Ausmaß in mehr oder weniger Arbeits(un)zufriedenheit unterschieden werden muss; ▬ Arbeitszufriedenheit und Arbeitsunzufriedenheit damit auf zwei unterschiedlichen Strecken mit einer Maßgabe in mehr oder weniger zu messen sei; ▬ auf die Arbeits(un)zufriedenheit jeweils andere Faktoren einwirken. Diese Überlegungen haben entsprechende Konsequenzen für die Erfassung und die Interpretation späterer Ergebnisse. > Etwas gegen eine festgestellte Unzufriedenheit zu unternehmen bedeutet dann nicht unbedingt die Zufriedenheit der Mitarbeiter zu steigern. Die sog. Hygienefaktoren sorgen lediglich für einen Abbau von Arbeitsunzufriedenheit, nicht aber für mehr Zufriedenheit.
Dieser kleine Exkurs zeigt nur zu genau, was u. a. bei der Erhebung von Arbeitszufriedenheit bedacht werden muss: Es muss den Untersuchern klar sein, was sie untersuchen wollen, um nicht schwerwiegende Konsequenzen und Maßnahmen, die größtenteils hohe Kosten verursachen, bezogen auf das Ziel wirkungslos verpuffen. Ein gut evaluierter und damit valider Fragebogen gehört natürlich zu einer aussagekräftigen Mitarbeiterbefragung. Je nach Zielsetzung sind die Fragen vor dem Einsatz darauf getestet, ob sie das messen, was sie überhaupt zu messen vorgeben. Die Fragen sollten verlässliche Ergebnisse produ-
5
zieren. Die Ergebnisse selbst müssen repräsentativ für die Einstellungen oder Meinungen der Mitarbeiter sein (⊡ Abb. 5.6). Der Umfang des Fragebogens hat, und dies sei für alle Befragungen an dieser Stelle hervorgehoben, natürlich auch Auswirkungen auf die Ergebnisproduktion. Zu komplizierte Fragen (z. B. Fragen mit doppelter Verneinung »Wollen Sie nicht an Fortbildungsveranstaltungen teilnehmen?« – Anwortmöglichkeit »Ja« oder »Nein«) oder mit ungenauem Bezug (»Wie zufrieden sind Sie mit der Führung und Organisation ihres Krankenhauses«), bei der die Befragten nicht genau wissen, zu welchem Thema sie überhaupt eine Meinung abgeben sollen, sind hier zu nennen. Mitarbeiter reagieren höchst empfindlich auf Mitarbeiterbefragungen. Sie wollen ihre Anonymität gesichert sehen, wollen nicht, dass die Ergebnisse auf einzelne Mitarbeiter zurückzuführen sind. Dieses Interesse steht manchmal im Widerspruch zu den Interessen der Organisation, möglichst genaue Ergebnisse, zwar nicht auf die einzelne Person aber auf Personengruppen bezogen, zu produzieren. Ferner sollen Vorher-Nachher-Untersuchungen entsprechende Rückschlüsse auf Veränderungen in den untersuchten Faktoren zulassen. Diese Rückschlüsse sind differenziert nur möglich, wenn die Zahl und die Mitarbeiter zu beiden Untersuchungszeitpunkten etwa gleich sind und damit die Ergebnisse nicht durch eine völlig anders zusammengesetzte Mitarbeiterstruktur unterschiedlich ausfallen. Solche Ergebnisse könnten dann als Entwicklung, Veränderung usw. der Befragten interpretiert werden, die aber tatsächlich nicht vorliegt, sondern durch die Meinungen vorher Unbefragter beeinflusst sind. Gerade bei kleinen Grundgesamtheiten, z. B. einer Pflegestation, kann die Meinungsäußerung andere Mitarbeiter gravierende Veränderungen in den gemessenen Variablen erbringen. In eigenen Untersuchungen zur Arbeitszufriedenheit, zur Bindung von Mitarbeitern an ihre Organisation (Commitment), zum Betriebsklima, zur Motivation von Mitarbeitern zur Beteiligung an Veränderungsprozessen usw. hat sich ein Fragebogen bewährt, der bei der Vielzahl der Fragen sehr umfangreich ist, aber auch genaue Ergebnisse
138
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
II.
Allgemeine Arbeitsbedingungen
Wir haben hier eine Reihe von Meinungen zusammengestellt, die man über seinen Arbeitsplatz haben kann. Beurteilen Sie bitte, ob Sie persönlich diese Meinung richtig oder falsch finden. Damit Sie möglichst genaue Urteile abgeben können, stehen Ihnen jeweils fünf Kategorien zur Verfügung (von trifft nicht zu bis trifft zu). Kreuzen Sie bitte die Antwort an, die Ihrer persönlichen Ansicht entspricht. Machen Sie bitte bei jeder Frage nur ein Kreuz. nein/ trifft nicht eher teilszu nein teils
5
1.
Ich bekomme viel zu wenig Geld für die Arbeiten, die ich mache.
2.
Meine Arbeit gibt mir die Möglichkeit, etwas zu lernen, was mir in Zukunft noch nützlich sein kann.
3.
Ich bin vorläufig ganz zufrieden mit meiner Stelle.
4.
Es wird zu viel Druck auf mich ausgeübt.
5.
Wenn ich am Montag zur Arbeit gehe, warte ich schon wieder auf den Freitag.
6.
Ich würde meinen Arbeitsplatz sofort wechseln, wenn ich eine andere Arbeit bekäme.
7.
Meine Arbeit gibt mir die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu fällen.
8.
Es wird am Arbeitsplatz zu viel von uns erwartet.
9.
Ich fühle mich wegen meiner Arbeit oft müde und abgespannt.
10.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Arbeit hier im Krankenhaus wenig zählt.
11.
Meine Arbeit macht mir wenig Spass, aber man sollte nicht zu viel erwarten.
ja/ eher trifft weiß zu nicht ja
⊡ Abb. 5.6. Befragungsstruktur in einem Mitarbeiterfragebogen, hier zu allgemeinen Arbeitsbedingungen (eigene Erhebungen, Auszug)
zu den verschiedenen Aspekten produzierte (Mühlbauer et al. 1997). Eine Unterscheidung der Befragten nach der Hierarchieebene, der sie angehören, die Selbsteinstufung der Mitarbeiter nach den zugehörigen Berufsgruppen usw. ließ eine entsprechende Auswertung der Daten zu. Es ist bekannt, dass die Zufriedenheit von Führungskräften von anderen Faktoren abhängt als bei anderen Mitarbeitern. Deshalb ist eine solche Differenzierung nach Hierarchieebene, Berufsgruppe, Geschlecht, Zugehörigkeit zur Organisation usw. notwendig.
> Sollte aufgrund dieser Faktoren eine Rückführung der Ergebnisse auf einzelne Personen möglich sein, wurden die Ergebnisse zwar ausgewertet, aber nicht dargestellt und weitergegeben. Dies ist eine Möglichkeit, neben der Kodierung von Fragebögen, die befragten Personen anonym zu lassen.
Die Ergebnisse aus Mitarbeiterbefragungen sollten auch vergleichbar sein. Betriebsvergleiche mit anderen Krankenhäusern, Altenheimen usw. und
5
139 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
Index für Arbeitszufriedenheit Gesamt im nationalen Vergleich (Mittelwerte) Einzelausprägungen Population
Gesamt AZ
Bezahlung
Aufstieg Führung
Mitbestimmung
Entfal- Resignation Belastung tung und Streß
Wechselbereitschaft
Firmenbewertung
AZ allgemein
Bankangestellte (1975)
3,2
2,6
2,9
3,3
3,0
3,1
3,6
3,5
3,6
3,1
3,7
Arb./Ang. Brotfabrik (1975)
3,3
2,8
3,1
3,6
2,9
3,3
3,6
3,3
3,7
3,5
3,7
Beamte/Ang. Versicherung (1975)
3,4
3,5
3,2
3,5
2,9
3,4
3,6
3,2
3,8
3,5
3,6
Krankenhaus A (1993)
3,3
3,1
2,9
3,1
3,0
3,5
4,0
3,0
3,8
3,5
4,0
Krankenhaus B
3,1
2,2
2,6
3,1
2,6
3,3
3,7
3,1
3,4
2,9
3,7
3,3
2,4
2,8
3,3
2,8
3,4
3,9
3,3
3,6
3,3
3,7
Krankenhaus D (1997)
3,3
2,5
2,9
3,2
2,9
3,4
3,9
3,3
2,9
3,6
3,8
WfB Gelsenkirchen
3,0
2,8
2,1
2,9
2,4
3,0
3,6
3,1
3,5
2,6
3,3
(1995) Krankenhaus C (1996)
Skala von 1 (nicht zufrieden) bis 5 (zufrieden) Frage 1-36 des Fragebogens
Prof. Bernd H. Mühlbauer Fachhochschule Gelsenkirchen (Skalenmitte=3)
⊡ Abb. 5.7. Betriebsvergleich von Ergebnissen aus Mitarbeiterbefragungen, hier Arbeitszufriedenheit. (Mühlbauer, eigene Auswertung)
Zeitvergleiche der befragten Organisation mit sich selbst stellen Mindeststandards einer guten Mitarbeiterbefragung dar (⊡ Abb. 5.7). Die Durchführung von Mitarbeiterbefragungen ähnelt der Befragung von Patienten. Bei der Verwendung und Diskussion der Ergebnisse zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede. Die Betroffenheit der Führungskräfte von den Ergebnissen einer Mitarbeiter- oder einer Patientenbefragung ist unterschiedlich. Viele Führungskräfte fühlen sich für die Mitarbeiter mehr verantwortlich als beispielsweise für die Patienten oder Bewohner. Eine niedrige Zufriedenheit der Mitarbeiter erfahren sie als schlechtes Zeugnis für ihre Führungsfähigkeit, weshalb sie nicht selten nach Fehlern in der Durchführung der Untersuchung und nicht nach Fehlern in der Führung und schon gar nicht nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation suchen. Die Untersucher müssen sich bei der Ergebnispräsentation häufig mit Fragen nach der Qualität der eigenen Untersuchung konfrontiert sehen, was
mindestens zu anstrengenden Diskussionen mit Führungskräften und Mitarbeitern führen kann. So spielte in einem Krankenhaus nicht mehr die absolute Höhe der Unzufriedenheit der Mitarbeiter eine Rolle, sondern die Frage, ob sich hier möglicherweise nur die Unzufriedenen zu Wort gemeldet hätten oder ob die Fragen selbst nicht entsprechende Ergebnisse produziert hätten. Die Diskussion glitt sehr schnell ab in die Hinterfragung der Repräsentativität, dem zuverlässigen Signifikanzniveau für solche Untersuchungen oder der Grundsatzfrage, ob die Ergebnisse überhaupt mit anderen Einrichtungen, die höhere Zufriedenheitswerte erreicht hatten, vergleichbar waren. > Manchmal wird der Überbringer der (schlechten) Botschaft »geköpft« und verliert seinen Klienten, weil er die Ergebnisse nicht behutsam verpackt und unter Einschätzung der Kultur der Organisation zu vermitteln versteht. Die Frage nach der Durchführung von
140
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
Mitarbeiterbefragungen ist nicht nur eine Frage der konzeptionell sauberen Arbeit, sondern eine Frage der richtigen Aufbereitung und Präsentation.
5
Zum Abschluss soll an dieser Stelle noch erwähnt werden, dass Befragungen der Mitarbeiter nach Betriebsverfassungsgesetz, Personalvertretungsrecht oder den Mitarbeitervertretungsordnungen der Kirchen mitbestimmungs- oder mitberatungsrelevant sind. Die Rechte der Personalvertretungen sind durch Vorbesprechungen der Fragebögen sowie des Untersuchungsdesigns und der Wahrung der Anonymität zu sichern. Eine offensive Beteiligung der Personalvertretungen kann nur empfohlen werden, wenn später nicht langwierige Diskussionen über die Rechtsmäßigkeit solcher Befragungen provoziert werden sollen. Bevölkerungs-, Einweiser-, und Angehörigenbefragungen im Krankenhaus Eine weitere Gruppe von »Kunden« sozialer Einrichtungen stellen einerseits Einweiser oder Partner in der Versorgungskette (Sozialdienste, ambulante Einrichtungen, Rehabilitationskrankenhäuser) sowie Angehörige von Patienten, letztlich aber auch die Bevölkerung des jeweiligen Einzugsbereichs dar. Vom Image einer Einrichtung ist u. a. die Frequenz der Patientenzahl abhängig, von der Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten die Zahl der Einweisungen, vielleicht mit bestimmten Krankheitsbildern, von den Angehörigen die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit in der therapeutischen Behandlung sowie während nachstationärer Phasen der Krankheitsbekämpfung und -bewältigung. In der Bevölkerungsbefragung zum Image sozialer Einrichtungen hat sich die Durchführung von telefonischen Befragungen bewährt. Sie sind einfach durchzuführen, produzieren i. d. R. kurzfristig gute Ergebnisse und lassen sich nach einer entsprechenden Schulung der Befrager auf der Basis entsprechender Fragebögen unkompliziert und repräsentativ durchführen. Von besonderem Informationsgehalt sind sie, wenn beispielsweise das Image von sozialen Einrichtungen vergleichend zu anderen Einrichtungen befragt wird, um Unterschiede zwischen verschiedenen Imagewerten auch in ihrem Stellenwert
beurteilen zu können. Spezielle Faktorenanalysen zeigen ferner, welcher Aspekt im Image von besonders hohem Einfluss auf das Image der jeweiligen Einrichtung ist. Darüber hinaus sollten sich Imageuntersuchungen auf die einzelnen Fachabteilungen beziehen lassen, um auch die Unterschiede in der Einschätzung der Fachabteilungen durch die Bevölkerung oder die Einweiser bzw. Partner zu differenzieren. Imageuntersuchungen sollten bis auf die einzelne Fachabteilung rückführbar sein. Ein Vergleich der Imagewerte z. B. zwischen zwei chirurgischen Abteilungen vergleichbarer Krankenhäuser am Ort oder im Einzugsgebiet gewährt vielfältige Eindrücke über die Möglichkeiten, das Image zu verbessern. Man darf es nicht vergessen: Im DRG-Finanzierungssystem für Krankenhäuser geht es auch darum, möglichst attraktiv für die Bevölkerung, Patienten, Angehörige und Ärzte sowie andere Partner der Versorgung zu sein. Von der Einweisungsrate sowie von der Geschwindigkeit der Entlassung sind die konkreten Fallzahlen und damit die Erlöse im DRG-System abhängig. Wer also seine »Kunden« nicht versteht, verliert möglicherweise ein erhebliches Potential zur Marktausschöpfung, verliert ebenso Erlöse und verspielt damit die Zukunft seiner Einrichtung! Betreuerbefragungen in der Psychiatrie Die Anwendung von Befragungsmethoden stellt sich in der Psychiatrie noch einmal ganz anders dar. Neben den Angehörigen sind beispielsweise auch Betreuer für die Patienten tätig. Von ihrem Meinungsspektrum über die Einrichtung hängt ebenfalls die Qualität der Arbeit zwischen der Einrichtung und den Betreuern ab. Wenn die Informationen zwischen beiden Akteuren nicht optimal sind, führt dies zu häufigen Konflikten und damit zu einem erheblichen Mehraufwand der Beschäftigten. Die resultierende Unzufriedenheit fördert möglicherweise die Fluktuation bei den Beschäftigten und auch bei den Patienten, weil die Betreuer eine andere Einrichtung bevorzugen. Betreuerverzeichnisse liegen in Alten- und Pflegeheimen vor und können unmittelbar als Adressdatei benutzt werden. Eine Unterscheidung zwischen Angehörigen und Betreuern ist auch bei einer solchen Befragung ratsam, da sich gezeigt
141 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
hat, dass die Angehörigen viele Qualitätsaspekte anders beurteilen als Betreuer. Dies liegt u. a. daran, dass die Betreuer mehrere Einrichtungen kennenlernen und die Qualität entsprechend vergleichen können. Die schriftliche Befragung von Betreuern (⊡ Abb. 5.8) hat sich in der Regel bewährt. Für die
II.
5
Erhöhung der Beteiligung der Betreuer an einer Befragung ist das gegebene Versprechen hilfreich, die Ergebnisse der Befragung später im Kreis der Befragten zu besprechen und zu interpretieren. Diese vertrauensbildende Maßnahme empfiehlt sich im Übrigen für alle Befragungen, sofern dies mit dem Auftraggeber vereinbart werden kann.
Berufsgruppen und Service
nein/ ja/ trifft trifft eher teils- eher nicht weiß zu ja teils nein zu nicht
13. Pflege: 13.1 Mit der persönlichen Betreuung durch die Pflegekräfte bin ich insgesamt sehr zufrieden. 13.2 Die Pflegekräfte haben stets genügend Zeit für ein persönliches Gespräch mit mir. 13.3 Die Pflegekräfte haben stets ein offenes Ohr für die individuellen Wünsche meines Angehörigen (Betreuten).
14.
Medizinische Versorgung:
14.1
Die Versorgung meines Angehörigen (Betreuten) mit seinen Medikamenten und Rezepten ist ausgezeichnet.
14.2
Wenn mein Angehöriger (Betreuter) krank wird, erfolgt die ärztliche Betreuung sehr schnell. II. Berufsgruppen und Service
14.3
Mein Angehöriger (Betreuter) hat stets die Möglichkeit, seinen Hausarzt aufzusuchen.
14.4
Gesundheitliche Veränderungen meines Angehörigen (Betreuten) werden mir umgehend mitgeteilt.
15. 15.1
Verwaltung:
15.2
Die Sprechzeiten der Verwaltung sind ausreichend.
15.3
Verwaltungstechnische Dinge werden sachkundig und sorgfältig durchgeführt.
15.4
Mit der Bekleidungsbeschaffung bin ich sehr zufrieden.
15.5
Mit der Abrechnung (z. B. Barbetragsverwaltung) bin ich sehr zufrieden.
nein/ ja/ trifft trifft eher teils- eher nicht weiß zu ja teils nein zu nicht
Die MitarbeiterInnen der Verwaltung sind stets freundlich und hilfsbereit.
⊡ Abb. 5.8. Beispiel eines Fragebogens für Betreuer in der Psychiatrie (eigener Fragebogen Mühlbauer, Auszug zum Bereich Pflege, Medizin, Service und Verwaltung)
142
5
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
Befragung alter Menschen im Alten- und Pflegeheim Die Befragung alter Menschen in Alten- und Pflegeheimen stellt eine besondere Herausforderung dar (⊡ Abb. 5.9). Die Menschen sind häufig nicht nur körperlich pflegebedürftig, bettlägerig sondern geistig nicht mehr in der Lage, alle Lebensbereiche im Heim zu beurteilen. Die Schreib- und Lesefähigkeiten sind ebenfalls sehr unterschiedlich ausgeprägt, so dass eine schriftliche Befra-
I.
gung ausscheidet. Sehr gute Erfahrungen wurden mit der Durchführung persönlicher Interviews gesammelt, bei der die zuständigen Pflegekräfte in die Befragung eingebunden wurden. Interviewer und Pflegekräfte führten gemeinsam ein Gespräch mit den alten, teilweise dementen Bewohnern, um einige Aspekte der empfundenen Versorgungsqualität zu erfassen. Dabei wurde ein Leitfaden für die Gesprächsführung unterlegt, der das ca. 20-minütige Interview strukturieren half.
Erscheinungsbild und Ausstattung
1.
Die Ausstattung meines Zimmers ist sehr gut.
2.
Die Ausstattung des gesamten Wohnbereiches ist sehr gut.
3.
Die sanitären Einrichtungen im Haus sind sehr gut.
4.
Die Ausstattung der Tages- und Aufenthaltsräume ist sehr gut.
5.
Die technische Ausstattung (Telefon, Fahrstühle) ist sehr gut.
6.
Die Einrichtung ist behindertengerecht gestaltet.
7.
Die Dekorationen (z. B. Blumen) im gesamten Haus sind sehr geschmackvoll.
8. 8.1
Ich bin mit den zusätzlichen Servicemöglichkeiten insgesamt sehr zufrieden. - Café
8.2
- Einkaufsmöglichkeiten
8.3
- Friseur
8.4
- Fußpflege
9.
Ich fühle mich hier im Haus sehr wohl.
10.
Wenn ich Ruhe haben will, kann ich mich jederzeit zurückziehen.
11.
Wenn ich Besuch habe, kann ich mich ungestört mit meinen Besuchern unterhalten.
12.
Wenn ich mich im Hause bewege, fühle ich mich sicher.
13.
Die Beteiligung der Bewohner über den Heimbeirat funktioniert gut.
14.
Ich kann meine religiösen Wünsche nach meinen Vorstellungen erfüllen.
15.
Das äußere Erscheinungsbild des Hauses macht auf mich einen sehr positiven Eindruck.
ja/ trifft zu
eher teilsja teils
nein/ trifft eher nicht weiß nein zu nicht
⊡ Abb. 5.9. Leitfaden-Fragebogen für die Durchführung von Befragungen alter Menschen im Alten- und Pflegeheim (Auszug)
143 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
Interviewtermine mit den alten Menschen müssen frühzeitig abgestimmt und die Mitarbeiter entsprechend instruiert werden. Eine gemeinsame Besprechung der Vorgehensweise mit den Mitarbeitern, eine Simulation eines Interviews sowie die Rollenteilung zwischen interviewender Pflegekraft und Beobachter (externer Mitarbeiter, der die Beeinflussung durch die interviewender Pflegekraft und Bewohner beobachten und notiert) ist vor der Durchführung der Befragung zu empfehlen.
Worte
stimuliert
Taten
Interviews
Laborexperimente
Fragebogen
Feldexperimente
Projektive Tests Inhaltsanalyse von: - Reden - Gesprächen - Dokumenten
natürlich
Direkte Beobachtung Verwendung von verfügbarem, beschreibendem und statistischem Material
⊡ Abb. 5.10. Untersuchungsmethoden zum Konstrukt »Organisationskultur«. (Bea u. Haas 1997, S. 484)
5
Analyse der Organisationskultur Dem zentralen Begriff der Organisationskultur wird in Kap. 12 ausführlicher nachgegangen, so dass allgemeine Erklärungen zum Begriff der Organisationskultur hier unterbleiben können (auch Mühlbauer 1999). Grundsätzlich kommen Methoden zur Erfassung der Organisationskultur in Betracht, die Bea und Haas in ⊡ Abb. 5.10 deutlich gemacht haben. Interessant erscheinen auch hier zwei Methoden: die Befragung und die Dokumentenanalyse. Goffee und Jones haben einen einfachen Fragebogen zur Überprüfung der Unternehmenskultur angeboten, der nur aus wenigen Fragen besteht und zwischen Solidarität (Maß für das Ausmaß der Beziehungsqualität) und Soziabilität (Maß für die Zielorientiertheit) unterscheidet (zu den Ergebnissen, die mit Hilfe dieser Methode erzielt wurden Ministerium 2000, allgemein Goffee u. Jones 1997). Der Fragebogen baut auf einer Grundstruktur auf, die vier Ausprägungen dieser zwei Dimensionen kennt und die Ergebnisse in einem zweidimensionalen Koordinatensystem abbildbar werden lässt (⊡ Abb. 5.11). Der dazugehörige Fragebogen kann in wenigen Minuten von Mitarbeitern ausgefüllt und ausge-
in hohem Maße
Soziabilität
Gemeinsinnige Kultur
Vernetzte Kultur
einigermaßen
Materialistische Kultur
Zersplitterte Kultur
wenig
einigermaßen
in hohem Maße
Solidarität ⊡ Abb. 5.11. Das Unternehmenskulturmodell nach Goffee u. Jones: Zwei Dimensionen, vier Kulturen im Krankenhaus. (Goffee u. Jones 1997)
144
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
wertet werden. Je nach der Ebene, die in einer Organisation untersucht werden soll (Pflegestation, Abteilung, Krankenhaus) lässt der Fragebogen einen entsprechend differenzierten Einsatz zu (⊡ Abb. 5.12 und ⊡ Abb. 5.13). Die Ergebnisse solcher Befragungen lassen sich dann einfach in Form eines Koordinatensystems
5
darstellen. Unterschiede zwischen oder innerhalb einer Berufsgruppe, z. B. im Krankenhaus, können damit als Subkulturen kenntlich gemacht werden, die positiv oder negativ für die gemeinsame Entwicklung des betreffenden Bereichs sein können. Nicht immer sind Abteilungen oder Bereiche, die als Subkulturen identifiziert werden, negativ für
Pflegebereich_____________________ Bitte kreuzen Sie für jede Aussage an, inwieweit diese aus Ihrer Sicht zutrifft. Je Zeile ist also ein Kreuz zu machen! Stimmt nur wenig Die Mitarbeiter unseres Pflegebereichs bemühen sich um ein gutes Verhältnis zueinander. Die Mitarbeiter unseres Pflegebereichs kommen sehr gut miteinander aus. Die Mitarbeiter unseres Pflegebereichs kommen häufig auch außerhalb der Arbeitszeit zusammen. Die Mitarbeiter unseres Pflegebereichs mögen einander. Wenn Mitarbeiter unseren Pflegebereich verlassen, bleiben wir dennoch in Verbindung. Die Mitarbeiter unseres Pflegebereichs helfen sich untereinander, weil sie sich mögen. Die Mitarbeiter unseres Pflegebereichs ziehen sich häufig auch bei privaten Dingen ins Vertrauen. Unser Pflegebereich setzt sich für die Ziele des Krankenhauses ein. Die Arbeit unseres Pflegebereichs wird effektiv und produktiv geleistet. Unser Arbeitsteam geht den Gründen schlechter Leistung konsequent nach. Unsere Leistungsbereitschaft im Pflegebereich ist sehr groß. Sobald sich Chancen für Verbesserungen in unserem Pflegebereich zeigen, setzen wir sogleich alles daran, diese Chancen zu nutzen. Die Mitarbeiter unseres Pflegebereichs haben dieselben strategischen Fernziele. Die Mitarbeiter unseres Pflegebereichs kennen unsere Konkurrenten. ⊡ Abb. 5.12. Fragebogen zur Unternehmenskultur auf ihrer Pflegestation
Stimmt einigermaßen
Stimmt in hohem Maße
145 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
eine Einrichtung. Die kritische Kraft, die aus einer unterschiedlichen Subkultur für eine Organisation erwachsen kann, ist grundsätzlich zu begrüßen da sie hilft, Differenzen zwischen Soll- und IstZustand zu identifizieren. Ein anderer Ansatz zur Erforschung der Unternehmenskultur geht vom sog. Schichtenmodell nach Schei aus. Dieses Modell unterscheidet die in
5
der nachfolgenden Abbildung dargestellten Schichten der Organisationskultur (⊡ Tabelle 5.5). Entlang der verschiedenen Ebenen wird nun ein 8-stufiges Schema zur Analyse der Unternehmenskultur-Ebenen verwendet, um die Spezifik der jeweiligen Organisationskultur der Organisation zu erfassen, zu bewerten und später mit den Mitarbeitern der Organisation zu erörtern.
⊡ Tabelle 5.5. Schichtenmodell der Unternehmenskultur nach Schein (1980) Ebenen der Unternehmenskultur
Merkmale der Unternehmenskultur
Symbole und Zeichen: Sichtbarer Ausdruck der Unternehmenskultur, aber oft nicht direkt entzifferbar (interpretationsbedürftig)
Beispiele für Symbole sind: Architektur, Bürogestaltung, Kleidung, Sprache, Jargon, Anekdoten, Legenden, Witze, Geschichten, Rituale, Zeremonien, Sitten, Gewohnheiten, Prämien, Titel, Helden, Produkte, Dokumente, Firmenwagen, Tabus
Werte und Normen: Werte rufen Symbole hervor bzw. leiten Symbole an. Je nach Grad der Bewährung sind sie diskutierbar und offensichtlich Grundannahmen: Sie gelten als selbstverständlich und sind unsichtbar, häufig unbewusst
Beispiele für Werte und Normen finden sich z. B. Unternehmensund Führungsgrundsätze, Verhaltensvorschriften, Regeln, Prinzipien, Moral, Ethik, Handlungsmaximen, Einstellungen, Richtlinien, aber auch im Schriftverkehr eines Krankenhauses Sie beinhalten z. B. Beziehungen zur Umwelt, Wahrnehmung von Realität, Zeit und Raum, Menschenbilder, Weltinterpretationen, Hintergrundüberzeugungen, Annahmen über Marktverhältnisse, Konkurrenz
in hohem Maße
Soziabilität
(1) Pflege/Ambulanz (2) Pflege/Intensiv (3) Pflege OP/Anästhesie (4) Station Pflege (5) n.o. (6) Ärzte Chirurgie (7) Ärzte Innere (8) Sonstige
Gemeinsinnige Kultur
Vernetzte Kultur
(4)
(1)
(2).
einigermaßen
(6)
Zersplitterte Kultur
wenig
(3)
einigermaßen
(7) (8)
Materialistische Kultur
in hohem Maße
Solidarität ⊡ Abb. 5.13. Unternehmenskultur in einem Modellkrankenhaus (Mühlbauer, eigene Erhebung)
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Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
8 Stufen zur Analyse der Unternehmenskultur – am Beispiel von Krankenhäusern (nach Schein, zitiert nach Schreyögg 1987)
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1. Stufe Vergegenwärtigung des Symbolsystems Hierzu ist des notwendig, die Historie des Unternehmens zu beschreiben. Herausragende Ereignisse und ihre Dramaturgie sind hier zu rekonstruieren. Von besonderer Bedeutung sind hier folgende Fragen: Was war der Anlass für die Gründung der Organisation? Welcher Hintergrund ist für die Gründung kennzeichnend gewesen (z. B. Hilfeleistung aus christlichen Motiven der Kirchengemeinde, Abkopplung einer sozialen Organisation von der Stadtverwaltung). Gab es herausragende Gründerpersönlichkeiten oder mehrere Gründer? Was waren die Hauptprobleme, die am Anfang gelöst werden mussten? Haben sich schon gleich zu Anfang Problemlösungsmuster herausgeschält, die bis heute Geltung haben? 2. Stufe Brüche der Kontinuität Durch wen oder durch welche Gruppe wurde ein möglicher Bruch in der Tradition oder der Entwicklung ausgelöst? Wie wurde darauf reagiert? Wie lange hat es gedauert bis sich der erste Erfolg gezeigt hat? Wie hat die Umwelt der Organisation auf die Veränderung reagiert? Über welche Themen wurde in der Übergangsphase am häufigsten gesprochen? usw. 3. Stufe Studium der Plätze und Räume Auf dieser Stufe gilt es, die Plätze der Organisation genauer zu studieren, an denen sich möglicherweise am deutlichsten die Kultur zeigt. Solche Plätze und Räume sind u. a. der Aufnahmebereich, Cafeteria, Empfang, Stationen, Räume der Geschäftsführer, Ärzte und leitenden Pflegekräfte, andere Arbeitsplätze. 4. Stufe Beobachtung der Menschen im Krankenhaus Wie kleiden sich die Mitarbeiter? Welche Kontakte nehmen sie auf? Wie gehen sie miteinander um? In welcher Weise werden Entscheidungen
getroffen? Wie kontrollieren sich die Mitarbeiter untereinander? Welche Verhaltensweisen werden an Nonkonformisten am schärfsten kritisiert? Wodurch unterscheiden sich erfolgreiche von weniger erfolgreichen Mitarbeitern? Welche Geschichten und Witze werden am häufigsten erzählt? Wie ist der Sprachstil in der Organisation? Wie wird der Umgang mit den Mitarbeitern und Kunden gestaltet? 5. Stufe Beschäftigung mit Ritualen und Feiern Welche Feste werden gefeiert? Ist der Besuch kirchlicher Veranstaltungen obligatorisch? Werden große Feste immer in Verbindung mit kirchlichen Zeremonien abgehalten? Gibt es bestimmte Reden oder Themen in solchen Reden, die anlässlich von Jubiläen oder Weihnachtsfeiern immer wieder auftauchen? In welcher Weise begegnen sich Führungskräfte bei solchen Feiern? usw. Während die genannten Stufen und die darin gestellten Fragen vor allem durch Interviews beantwortet werden können, eignen sich standardisierte Fragebögen für diese Fragestellungen nicht. Ein Verstehen ist nur durch Begegnung und Sprechen mit den Mitgliedern einer Organisation möglich, da der Sinngehalt und die Bedeutung von beobachteten Symbolen und benutzten Begriffen nur von denjenigen verstanden werden kann, der sich damit aktiv vertraut gemacht hat. Zeit und Geduld sind deshalb zum Verständnis einer Unternehmenskultur erforderlich. Die reine Beobachtung bringt uns der Beantwortung der Fragen zwar näher, ein Verstehen der Unternehmenskultur ist jedoch nicht zwangsläufig daraus abzuleiten. Folgt man den Anregungen, dann erschließt sich der Sinngehalt nur durch Analyse der unsichtbaren Verhaltensstandards und Regeln. 6. Stufe Entzifferung der Verhaltensstandards und Regeln Jede Organisation verfügt über typische Verhaltensstandards und Regeln, die von den Mitgliedern in einer sozialen Organisation berücksich-
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147 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
tigt bzw. beachtet werden müssen. Leitlinien und Führungsgrundsätze sind beispielsweise solche Regeln und Verhaltensstandards, die aber nicht notwendig mit den wirklichen »Spielregeln« übereinstimmen müssen. Aus gesammelten Grundsätzen und Beobachtungen sind solche Standards genau zu rekonstruieren. 7. Stufe Grundannahmen entziffern Jede Organisation verfügt über Grund- oder Basisannahmen, die sich nur schwer und mit Hilfe von Phantasie entziffern lassen. Sie sind zwar ständig Bestandteil von Entscheidungen und Handlungen, aber haben den Charakter von Selbstverständlichkeiten. Nur wenige Menschen in einer Organisation denken über solche Grundannahmen nach, es sei denn, sie werden in Frage gestellt. Solche Basisannahmen lassen sich nur auf indirektem Wege aus den gesammelten Beobachtungen erschließen. Notwendigerweise wird hier ein Dialog zwischen den Beobachtern und den Mitarbeitern bei der Entschlüsselung helfen. 8. Stufe Rückkopplungsgespräche Wer als Außenstehender eine Organisationskultur verstehen will, geht möglicherweise selbst von bestimmten Grundannahmen und Regeln aus, die er als seine Erfahrungen und Kenntnisse in die Beobachtungen als »Wahrnehmungsfilter« benutzt. Durch Rückkopplungsgespräche wird es möglich, seine eigenen Beobachtungen und Schlüsse durch die Interpretation der Mitarbeiter zu vervollständigen, aber auch zu falsifizieren. Die Differenz zwischen Eigen- und Fremdbild ist nicht selten ein (un)willkommener Anlass, etwas über seine Kultur zu lernen, möglicherweise aber sein Verhalten auch zu verändern. Basisannahmen, die gestern noch erfolgreich in die Zukunft geführt haben, können morgen schon der erste Schritt in den Ruin sein! Das Aufspüren und Brechen solcher Invarianzen, die als Erfolg versprechende Hypotheken der Vergangenheit eine angepasste Gestaltung der Organisation verhindern, ist damit eine wichtige Aufgabe der Unternehmenskulturdiagnose.
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REFA-Methode – Multimomentaufnahmen im Krankenhaus In der Vergangenheit wurde die Erfassung und Bewertung von Tätigkeiten der Mitarbeiter in Krankenhäusern in der Regel nicht mit Hilfe systematischer Methoden der empirischen Sozial- oder Organisationsforschung angegangen. Die Gründe für eine ablehnende Haltung gegenüber solcher Methoden liegen vor allem in der Vorstellung, dass jeder Behandlungsfall im Krankenhaus individuelle Behandlungsbedürfnisse berücksichtigen muss und sich deshalb eine Nachzeichnung der jeweils speziellen Behandlungspraxis der Mitarbeiter in Bezug auf ihre Patienten zu keinem nennenswerten Ergebnis führen würde. Ferner seien die Ergebnisse aus dem gleichen Grund nicht für eine zeitlichinhaltliche Prognose zukünftiger Behandlungsstrukturen und Prozesse zu verwerten. Mittlerweile erscheinen solche Untersuchungen in einem anderen Licht. Während früher alle Kosten des Krankenhauses für die Vergangenheit festgestellt und wegen des Selbstkostendeckungsprinzips über einen tagesbezogenen Pflegesatz im Nachhinein vergütet wurden, ist das heutige Abrechungssystem bereits auf eine fixe Vergütung pro Fall (DRG) angelegt. Früher verhandelten die Krankenhäuser neben den Kosten auch die Anzahl und Qualität der eingesetzten Mitarbeiter mit den Kostenträgern. Die Grundlage dafür waren sog. Anhaltszahlen, die im Personalbereich eine bestimmte Relation zwischen der notwendigen Anzahl der Mitarbeiter und bestimmten Leistungsgrößen (z. B. eine ärztliche Vollkraft für 12,22 durchschnittlich belegte Betten) festlegte. Heute wird der Erlös für einen Fall nach dem jeweiligen Krankheitsbild, nach patientenbezogenen individuellen Faktoren, nach den Behandlungsprozeduren während des Aufenthalts usw. bestimmt. Aus den genannten Faktoren ergibt sich nämlich ein fallspezifisches Relativgewicht (rG) errechnet, das mit einer sog. Baserate multipliziert wird. Die Baserate ist einer zunächst bundeslandweit, später deutschlandweit gültiger Preis mit den Relativgewicht 1,0. Durch die einfache Multiplikation dieser Baserate mit dem Relativgewicht des spezifischen Falles ergibt sich dann ein der Höhe nach fester Fallerlös, der unabhängig von der konkreten Verweildauer für diesen
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5
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
Patienten von den Krankenkassen bezahlt wird. Die Kostenträger interessieren sich nunmehr nicht direkt für die Menge und Qualität des eingesetzten Personals. Die Krankenhäuser müssen also selbst darauf schauen, ob und wie viel Personal sie von jeder Personalgruppe für die Patientenbehandlung, die Verwaltung und Versorgung einsetzen wollen (zum DRG-System Eichhorn et al. 2002)). Damit werden vormals verpönte, analytische Verfahren für die Erfassung von Tätigkeiten der Mitarbeiter im Krankenhaus wieder interessant. Die wichtigste Untersuchung zu diesem Themenfeld stammt aus dem Jahr 1983 und wurde von Borzutzki als REFA-Untersuchung in einem Krankenhaus durchgeführt (⊡ Tabelle 5.6). Es handelt sich um eine sog. Multimoment-Aufnahme, bei der nach einer vorher berechneten Zahl von Rundgängen die Mitarbeiter befragt oder beobachtet werden, welche Arbeiten sie gerade erledigten. Die erfassten Tätigkeiten werden in ihrer Häufigkeit summiert und in vorher gelistete Tätigkeitsblöcke der Mitarbeiter zusammengefasst. Daraus lässt sich dann repräsentativ der Anteil des Tätigkeitsvolu-
mens nach Mitarbeitergruppen oder Tageszeit und Arbeitsbereich erfassen. Werden alle Tätigkeitsblöcke aller Mitarbeiter summiert, dann kann ein Wochentags- und ein Wochen- oder auch Monatsprofil einer Abteilung generiert werden, aus dem die unterschiedlichen Belastungen der Mitarbeiter entlang der Tagesarbeitszeit erkannt werden können. Im Krankenhaus kommt allerdings die Spezifik hinzu, dass die Tätigkeiten nicht nur innerhalb einer Berufsgruppe sondern häufig in konkreter Zusammenarbeit zwischen mehreren Berufsgruppen im gleichen Arbeitsbereich durchgeführt werden müssen. Eine ausschließliche Erfassung von Tätigkeiten entlang der jeweiligen Berufsgruppe spiegelt die vorhandene Arbeitsteilung und hinterfragt die Sinnhaftigkeit einer solchen Arbeitsteilung nicht. Analytische Studien müssen als weitere Diskussionsebene die Frage beantworten, ob denn die Arbeit weiterhin so durchgeführt werden soll, wie sie durch die Ist-Erhebung abgebildet wurde. Dennoch gibt die analytische Betrachtung der Arbeit einen Überblick über die verschiedenen
⊡ Tabelle 5.6. Zeitarten, Tätigkeiten und Zeitaufwand eines Bademeisters in einer physikalischen Abteilung eines Krankenhauses (nach Borzutzki (1983, S. 34) Zeitarten und Tätigkeiten
Zeitaufwand in %
1. 1.1 1.2
38,4, davon 8,7
1.3
Grundzeit Unterwassermassagen Wärmepackungen und sonstige Anwendungen: 1.2.1 Fangopackungen 1.2.2 Inhalation Bewegungsbäder: 1.3.1 Medizinalbad 1.3.2 Hydro.-Vollbad 1.3.3 Bewegungsbad
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8
Sachlich bedingte Verteilzeit Karteiarbeit Arbeistgespräch Telefonieren und Organisieren Warten auf Patienten Patienten helfen Bäder und Geräte vorbereiten Wegezeiten Sonstige Tätigkeiten
3.
Persönlich bedingte Verteilzeiten
20,9 3,6 3,0 1,7 0,5 41,5, davon 13,9 7,9 2,6 0,7 2,2 8,4 2,2 3,6 8,4
149 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
Tätigkeiten und die damit verbundenen zeitlichen Inanspruchnahmen der Mitarbeiter. Patientenund nicht patientenbezogene Tätigkeitsblöcke ließen sich so zeitlich darstellen und natürlich gegeneinander gewichten. Spezielle Interview- und Verfahrenstechniken im Zusammenhang mit aktuellen Fragestellungen im Gesundheitswesen Empirische Methoden und deren Einsatz im Qualitätsmanagement
Zu den verschiedenen empirischen Methoden im Krankenhaus gehört die systematische Erfassung von qualitätsbezogenen Daten, die entweder im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften gesammelt (§§ 137 SGB V) oder auch selbst durch zusätzlich, nicht vorgeschriebene Erhebungstechniken zusammengestellt werden. Zu den wesentlichen Methoden gehören auch hier die bereits beschriebenen Verfahren der ▬ Patientenbefragung ▬ Mitarbeiterbefragung ▬ Einweiser-, Angehörigen- und Bevölkerungsbefragung ▬ Spezifische Tätigkeits- und Risikoanalysen. Hinzu kommen beispielsweise ein betriebliches Vorschlagswesen oder auch ein System des Beschwerdemanagements. Ein wesentlicher Teil der betrieblichen Qualitätsmanagement-Systeme beschäftigt sich mit der systematischen Dokumentation betrieblicher Instrumente, Methoden und Verfahren, die zur Sicherung der Qualität nicht nur beschrieben sondern auch bei Abweichungen zwischen SollBeschreibung und tatsächlicher Tätigkeit im Rahmen einer Abweichungsanalyse überprüft werden müssen. Aus der Differenz zwischen Soll- und IstDarstellung ergibt sich i. d. R. ein Lernpotenzial, aus dem die Akteure des ihre Verbesserungsmaßnahmen generieren sollen. Je stärker die Krankenhäuser unter einen externen Kostendruck geraten, umso interessanter wird es, die gesetzlichen Anforderungen im Qualitätsmanagement zu erfüllen und diesen Dokumentationszweck mit einem speziellen betrieblichen Nutzen zu verbinden. Qualitätsmanagement soll eben kein Selbstzweck sein. Es soll zur systematischen
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Verbesserung der Organisation, zur Stimulation des Lernens führen. Aus dieser Perspektive werden zwei Ansätze in Richtung empirischer Sozialforschung besonders interessant. ▬ Erstens müssen die Fragestellungen des Qualitätsmanagements und der systematischen Verbesserung der Organisation mit einem Rationalisierungszweck verbunden werden. ▬ Zweitens dient hierzu als wesentliches Instrument des Qualitätsmanagements das Prozessmanagement. Aus der Gestaltung der Organisation müssen Kosten- und Qualitätsvorteile resultieren, die sich letztlich entweder in einer Kosten- und Ausgabensenkung, mindestens aber in einer Kostenstabilisierung oder in der Sicherung bzw. Erhöhung der Fallzahlen niederschlagen. Qualitäts- und DRGManagement müssen damit zusammengeführt werden. Prozessanalyse und -management. Eine wesent-
liche Variante im Prozessmanagement ist die systematische Darstellung und Erfassung der Betriebsabläufe. Hier wird also nicht von der Tätigkeit der Mitarbeiter wie bei der zuvor genannten Tätigkeitsanalyse ausgegangen, sondern die patientenbezogenen Tätigkeiten und Wartezeiten entlang des Gesamtprozesses erfasst. Vorschläge zu einer solchen Tätigkeitserfassung wurden von Zapp (2002) vorgelegt. Auf der Grundlage der dort referierten Überlegungen wurden eigene Untersuchungen zur analytischen Tätigkeitserfassung durchgeführt (Mühlbauer 2004). Die ⊡ Abb. 5.14 zeigt die grundsätzlichen Überlegungen zur System- und Prozessanalyse, zur Prozessbewertung und zur Prozessevaluation sowie Systemgestaltung vor dem Hintergrund notwendiger Umstrukturierungen im Krankenhaus. Zur Erfassung der patientenbezogenen Tätigkeiten im Rahmen der Prozessanalyse wurden verschiedene Fragebögen entwickelt und als sog. Laufzettel den Patienten während des Aufenthalts im Krankenhaus mitgegeben. Diese Laufzettel (⊡ Abb. 5.15) begleiteten beispielsweise einen Patienten bei seinem Weg von der Station zum Funktionsbereich und zurück. Die vorher definierten Abschnitte des dabei durchlaufenden Prozesses
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wurden dann zeitlich in entsprechenden Rubriken vermerkt. Heraus kam ein spezifisches Behandlungsprofil, aus dem sich einerseits die Belastungen z. B. der Funktionsbereiche und auch die Behandlungs-, Wege- und Wartezeiten der Patienten ermitteln ließen. Diese Erfassungsmethode konnte über einen repräsentativen Zeitraum angewandt und die Daten anschließend ausgewertet werden. Es zeigten sich erstaunliche Ergebnisse, die dann eine Grundlage für die weiteren Fragen der Prozessplanung, des Personaleinsatzes und der Patientenbehandlung ergaben (⊡ Abb. 5.16). Qualitätsmanagement nach KTQ – Empirische Erfassungs- und Bewertungsmethoden im Rahmen eines Qualitäts-Dokumentationssystems für Krankenhäuser. Zur Beschreibung der Qualitäts-
strukturen und -prozesse wurde in Deutschland ein Fragenkatalog für Krankenhäuser entwickelt
(www/KTQ.de). Derzeit liegt ein umfassendes Qualitätsbeschreibungssystem in Form eines Kriterienkataloges (KTQ – Manual 4.1) mit 6 Hauptkriterien (Patientenorientierung in der Krankenversorgung, Sicherstellung der Mitarbeiterorientierung, Sicherheit im Krankenhaus, Informationswesen, Krankenhausführung und Qualitätsmanagement) und 20 Subkategorien sowie 70 Einzelkriterien vor. Von den 70 Einzelkriterien bilden 24 Kernkriterien und 45 andere Kriterien. Jedes Kriterium soll nach einem dem sog. PDCA-Zyklus bewertet werden. Plan (P) beinhaltet die Erfassung der Ist-Situation, eine Ziel- und Prozessplanung sowie Regelungen hinsichtlich Verantwortlichkeit. Do (D) steht für Umsetzung in die Praxis, Check (C) für die Überprüfung und Act (A) für die Ableitung von Verbesserungsmaßnahmen. Die Bewertung eines Durchdringungs- und Erreichungsgrades führt zu einer möglichen Punktzahl pro Kriterium. Aus der jeweiligen Punktzahl
Ist-Beschreibung Tätigkeiten
Prozesse
System- und Prozessanalyse Bestehende Verweildauer
• Verringerung von Prozesszeiten • Standardisierung von Prozessen • Qualitätsverbesserungen • Kosteneinsparungsmöglichkeiten • etc.
Prozessbewertung
Prozess- und Systemevaluation
Funktionsdienste
Vernetzung
Stationsteams
Entlassung
Bettenführende Bereiche
Überleitung
OP
Intermediate Care
Intensiv
Kurzzeitpflege
Prozessvision Systemgestaltung
Aufnahmebereich
DRG-Linie
Einbestellplanung
5
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
Unterstützende Dienste
Bettenführende Bereiche
EFQM, KTQ, ProcumCert, QMK, Benchmark, Balanced Scorecard o. ä.
Vision
⊡ Abb. 5.14. Unterschiedliche Betrachtungsebenen für die Prozessanalyse, -bewertung und das Prozessmanagement im Krankenhaus (Mühlbauer, eigene Darstellung)
151 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
Ablauf/ Arbeitsschritte
U-Nr.
Datum/ Uhrzeit/ Zeitraum
Besonderheiten MA
Abruf des Patienten zur Untersuchung durch Funktionsbereich (Geplante Uhrzeit der Untersuchung:____________________ ________________________________) Vorbereitung des Patienten auf der Station Verlassen der Station ● gehend ● sitzend ● liegend
Begleitung beim An-Transport notwendig? ja ● nein ●
1
2
1
2
1
2
Eintreffen/Anmelden im Funktionsbereich
Vorbereitung zur Untersuchung (z. B. Anlage einer Braunüle ® ) im Untersuchungsbereich Beginn der Untersuchung
Unterbrechung der Untersuchung
Beendigung der Untersuchung
Anruf des Funktionsbereichs bei der Station; Sekretariat usw. zur Abholung des Patienten ● nach Hause / zum
Verlassen des Funktionsbereichs durch den Patienten ● gehend ● sitzend ● liegend Begleitung beim Ab-Transport notwendig? ja ● nein ● 1 2 Qualifikation, Anzahl der Begleiter
Zuweiser ● amb. Überwachung Ambulanz 1
2
1
2
1
2
Ankunft des Patienten auf Station ● amb. Überwachung ● Verlegung auf Station ⊡ Abb. 5.15. Laufzettel zur Erfassung von Ablaufprozessen im Krankenhaus (Auszug)
5
152
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
Teilprozess: Stationäre Patientenaufnahme Chirurgie FUNKTIONEN
1
Ambulanz
27
Diensthabender Arzt
2
3.1
3.2
3.3
0 27
36 27 53
22
0
12
116 (42,2% 1)
96 (34,9% 1)
43 65
Admin. Aufnahme
21 (7,6%
43 43 1)
18 (6,5%
43 1)
4
x
5
7
19 94 113
391
8
25
12 (4,4% 1)
4 90 94
65 90
Station Pflege
6
1
44
191 (69,5% ) 287 (96,0% ) 257 (86,0% 2)
5
Station Arzt
55*
2
94 485 2
101 (33,8% )
94 x 5 (1,7% 2)
Probleme
a b c x,x (y %)
1 2 3.1 3.2 3.3 4
Durchschnittl. Prozessdauer in Minuten Ablauf (Richtung) Dauer des Gesamtprozesses nach diesem Prozess Dauer des Gesamtprozesses bis zu diesem Prozess Prozentualer Anteil an allen erfassten Patienten ( 1ohne Verlegungen [275], 2mit Verlegungen [299]) Zahl der Patienten
Dauer von der administrativen Erfassung in der Ambulanz bis zur Aufnahmeuntersuchung Dauer der Aufnahmeuntersuchung Wartezeit zwischen Beendigung der Aufnahmeuntersuchung und der administrativen Aufnahme Administrativen Aufnahme wurde während der Aufnahmeuntersuchung durchgeführt Wartezeit zwischen administrativer Aufnahme und anschließender Aufnahmeuntersuchung Dauer vom Beginn der administrativen Aufnahme bis zur Ankunft auf der Station
5 Dauer von der Ankunft auf der Station bis zur Zuweisung eines Patientenzimmers 6 Dauer von der Zuweisung eines Patientenzimmers bis zur pflegerischen Aufnahme 7 Dauer von der Zuweisung eines Patientenzimmers bis zur Aufnahmeuntersuchung des Stationsarztes 8 Dauer von der Aufnahmeuntersuchung d. Stationsarztes bis zur Zuweisung eines Patientenzimmers * Dauer von der Erfassung in der Ambulanz bis Ankunft des Patienten auf Station
⊡ Abb. 5.16. Ablaufprozesse im Krankenhaus unter Angabe von Mittelwerten und Häufigkeiten für die Dauer der jeweiligen Prozessstufen (Mühlbauer, eigene Darstellung)
des Erreichungs- und Durchdringungsgrades wird eine Summe der arithmetischen Mittelwerte als Gesamtpunktzahl ermittelt Die Kernkriterien sind mit dem Gewichtungsfaktor 1,5 zu bewerten. Damit jedes Kriterium bewertet werden kann, sind entsprechende Bewertungsraster entwickelt worden, die begrifflich den jeweiligen Sachverhalt des Kriteriums in Form von Fragen oder Feststellungen erfasst. Nicht zutreffende Kriterien werden nicht bewertet und durch Subtraktion eine sog. adjustierte Gesamtpunktzahl ermittelt. Der Selbstbewertungsbericht als Resultat dieser Kriterienbewertung soll insgesamt 280.000 Zeichen nicht überschreiten. Jedes Kriterium selbst soll im
Umfang von ca. 2000–6000 Zeichen beschrieben werden. Damit dies erreicht werden kann, wurde eine speziell entwickelte Software für die Berichtsschreibung entwickelt und den Krankenhäusern zur Verfügung gestellt. Der wesentliche Kern des hier nur ansatzweise vorgestellten Verfahrens stellt eine Kombination aus einem Selbst- und Fremdbewertungsverfahren sowie qualitativer und quantitativer Methoden dar, die bislang dargestellt wurden. Die Bearbeitung des Fragenkataloges stellt sich zunächst als eine qualitative Dokumentation dar, die dort, wo es angebracht ist, mit quantitativen Daten unterlegt wird (z. B. Hygienestatistik, Belegungsstatistiken).
153 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
Das Selbstbewertungsverfahren ist ebenfalls ein qualitatives Verfahren, in den die i. d. R. berufsgruppenübergreifend besetzten Selbstbewertungsteams (Gruppenbewertung) zu einem qualitativen Urteil darüber kommen sollen, wie hoch nun der Erreichungs- und Durchdringungsgrad für das jeweilige Kriterium anzusetzen ist. Die Übertragung dieser qualitativen Schätzung der eigenen Leistung im Rahmen der Selbstbewertung in eine quantitative Größe stellt dann den jeweiligen Abschluss für das Verfahren der Selbstbewertung dar. Sobald das Fremdbewertungsverfahren beantragt ist, werden externe Visitoren ausgewählt, die in das Krankenhaus kommen und hier entsprechende Fremdbewertungen durchführen. Dieses Verfahren der Fremdbewertung basiert auf Gruppengespräche, Einzelinterviews, Beobachtungen bei Rundgängen und einer exemplarischen Kritik der vom Krankenhaus vorgelegten Selbstbewertung. Nur wenn ein Krankenhaus mehr als 55% aller maximal erreichbaren Punkte erhält, dann erlangt es ein drei Jahre gültiges Zertifikat. Spezielle Auswertungen sekundärstatistischer Materialien
Sehr häufig müssen aufgrund vorhandener Materialien und Daten neue, teilweise komprimierte Darstellungen erarbeitet werden. Solche Sekundärerhebungen spielen inzwischen eine große Rolle im Gesundheitswesen. Im Zusammenhang mit Bedarfsplanungen im Gesundheitswesen wurden in der jüngeren Vergangenheit verschiedene normativ-empirische Gutachten zum Bedarf an Gesundheitseinrichtungen erstellt (z. B. Beske 2000). Auch interne statistische Zusammenstellungen von operativen Leistungsdaten spielen bei der Auswertung im Controlling, zur Erstellung von Betriebs- oder Zeitvergleichen eine immer größere Rolle. Stichworte im Zusammenhang mit der Einführung des DRG-Systems sind beispielsweise Case-Mix-Analyse oder Fehlbelegungsanalysen, mit deren Hilfe die Kostenträger eine möglicherweise ungerechtfertigte oder zu lange Belegungszeit der Patienten im Krankenhaus untersuchen und die Kostenübernahme verweigern. Bei der Zusammenstellung sekundärstatistischer Materialien muss vor allem darauf geach-
5
tet werden, welche Daten hier mit Hilfe welcher Methode erfasst wurden und ob eine weitergehende Aggregation mit andern Daten aus unterschiedlichen Datenquellen überhaupt sinnvoll und möglich ist. Nicht selten nutzen die verschiedenen Datenquellen differente Einteilungen für ihre Datenstrukturen und natürlich auch verschiedene Methoden, so dass die Ergebnisse nicht addierbar und die Schlussfolgerungen daraus eben nicht schlüssig sind. > Von Verantwortlichen im Gesundheitswesen wird nicht selten behauptet, dass viele Informationen bereits dokumentiert sind und deshalb eine Primärerhebung nicht notwendig sei. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich u. a. Datenlücken und auch statistische Fehler, die eine Verwendung vorhandener Daten verhindern kann.
5.2.6 Präsentationstechniken
und empirische Sozialforschung Die gewonnenen Informationen aus dem Einsatz der verschiedenen Methoden empirischer Sozialforschung müssen als mündlicher oder schriftlicher Bericht sowie für Präsentationen verwendet werden. Auch bei interner Anwendung treffen die jeweiligen Projektmanager immer wieder auf Gremien oder Entscheidungsträger, denen der Projektverlauf und vor allem wichtige Ergebnisse deutlich gemacht werden müssen. Von der Qualität der Berichterstattung ist nicht selten der weitere Projektverlauf, die zusätzliche oder fortgesetzte Mittelvergabe oder die gesamte Projektfortsetzung abhängig. Der oft anzutreffenden Phantasielosigkeit vieler Präsentationen, die sich im Moment stärker an den Vorgaben von entsprechenden Programmbausteinen in der EDV-Software klammert und nach der die verwendeten cliparts, Hintergrundfonts oder auch Pictogramme aus Word for Windows, Corel Draw oder Power Point immer wieder eingesetzt werden, sollten mithilfe durchdachter Präsentationskonzepte verknüpft werden. Das Bildmaterial sollte immer in konkreter Verbindung zur Untersuchung stehen und dabei vielleicht in phantasievoller
154
Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
Form vorgestellt werden, die die Aufmerksamkeit auf die Inhalte und weniger auf die Form richtet (⊡ Abb. 5.17). Die Verwendung von möglichst gleichen Darstellungsformen (Histogrammen, Säulenoder Kreisdiagrammen, kurzen Textpassagen usw.) ist häufig positiv für die Interpretationsleistung, die die Betrachter vornehmen müssen
sen Ausprägung zu dem Zweck zu verdeutlichen, die Beteiligten von einer notwendigen Veränderung zu überzeugen. Wurde in der Informationspräsentation vor allem auf eine Schilderung von variierenden Projektergebnissen Wert gelegt, bildet hier die zu schaffende erwünschte Akzeptanz einer bestimmten Problemlösung den Kern der Präsentation.
Abschlussberichte und Präsentationen
5
Für die Fälle, in denen ein Abschlussbericht zu fertigen ist, empfiehlt es sich, bereits bei Projektbeginn einen Gliederungsentwurf gemeinsam mit den internen oder externen Auftraggebern zu erarbeiten. Zwar sind zu diesem Zeitpunkt viele Gesichtspunkte aus einem Projektverlauf und vor allem die Ergebnisse noch nicht klar zu erkennen. Umgekehrt sind aber wesentliche Projektbestandteile bereits bekannt und können bereits bei Projektbeginn in eine mögliche Endfassung übertragen werden. Für eine Projektbearbeitung, an deren Ende ein Abschlussbericht steht, sollte ebenfalls frühzeitig eine formale Grundstruktur des Abschlussberichtes erarbeitet sein (gebundene Berichtfassung, nur Bildmaterial usw.). Häufig müssen Zwischen- und Endergebnisse der Projektarbeit vor einem Entscheidungsgremium präsentiert werden. In der Literatur werden verschiedene Anlässe zur Präsentation unterschieden (Schmidt 1981, S. 296): ▬ Präsentationen zur Entscheidungsfindung sind Präsentationen, in denen beispielsweise über die Fortführung eines Projektes oder die Umsetzung der Ergebnisse entschieden werden soll. ▬ Präsentationen zur Information dienen dazu, entwickelte und verabschiedete Lösungen vorzustellen, zu erläutern oder zu begründen. ▬ Präsentationen zur Meinungsbildung werden zur Schaffung einer gemeinsamen Basis für Lösungen eingesetzt. Beispielsweise können Mitarbeiter, die von den gefundenen Lösungen betroffen sind, mit offenen Fragen konfrontiert und bei der Beantwortung dieser Fragen in einer Gruppendiskussion beteiligt werden. ▬ Präsentationen zur Überzeugung sind der reinen Informationspräsentation sehr ähnlich. Hier wird der Schwerpunkt darauf gelegt, den Beteiligten ein empirisches Problem und des-
Nicht nur der Charakter und damit das Ziel einer Präsentation muss bedacht werden. Die Situation, in der eine Präsentation erfolgen soll sowie die Bedürfnisse und Befürchtungen der Informationsempfänger (Kunden, Mitarbeiter, Patienten usw.) müssen bereits früh in die Art und Weise der späteren Präsentation bewertet werden. Zur Vorbereitung auf eine Präsentation können die folgenden Schritte durchlaufen werden. Die Teilnehmer an einer Präsentation sollten zunächst über den Ablauf der Präsentation informiert werden. Zu den wichtigsten Eckpunkten gehören: ▬ voraussichtliche Dauer der Präsentation, ▬ Teilnehmer, ▬ Begründung für die Präsentation, ▬ Thema und Ziel der Veranstaltung. Wer vor einer Präsentation die Untersuchungsergebnisse aus dem Einsatz der beschriebenen Methoden in Form von Thesenpapieren, weitergehenden Informationen über Inhalte und Lösungsansätze usw. unter den Teilnehmern verteilt, sollte mögliche Rückwirkungen bedenken: Vorabinformationen führen zu Spekulationen, Meinungsbildungsprozessen oder Diskussionen, bei denen Teilnehmer dann mit vorbereiteten und fest gefügten Standpunkten in der Präsentation auftreten. Eine offene und gemeinsame Meinungsbildung ist dann nicht mehr möglich und verhindert manchmal einen gemeinsamen Meinungsbildungsprozess während oder nach der Präsentation. Präsentationen finden nicht immer in dafür vorgesehenen Räumen statt. Hier ist es wichtig, sich vorab über die zur Verfügung stehende Tagungstechnik, die Bestuhlung, die Raumgröße, die Beleuchtung sowie die maximale Entfernung zwischen Teilnehmern und Rednern zu informieren bzw. eine gewünschte Atmosphäre herzustellen. Einer methodisch-inhaltlich hervorragend
5
155 5.2 · Beschreibung und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung
Vergleich Bewohnerbefragung - Angehörigen / Betreuerbefragung Prozentuale Anteile positiver und negativer Antworten Legende: Negative Antworten der Bewohner Negative Antworten der Angehörigen/ Betreuer
Prozent
0
10
Positive Antworten der Bewohner Positive Antworten der Angehörigen/ Betreuer
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Kriterium Sachkundige u. sorgfältige Druchführung verw. Dinge Zufriedenheit mit Bekleidungsbeschaffung Zufriedenheit mit der Barbetragsverwaltung Das Essen ist stets warm genug. Das Essen ist stets von der Menge her ausreichend. Das Essen ist stets sehr schmackhaft. Das Essen ist stets optisch sehr gut zubereitet. Einnahme von Mahlzeiten jederzeit im Speisesaal Berücksichtigung von Essenswünschen Berücksichtigung von Diätwünschen Information über Beschäftigungsangebote im Haus Abwechslungsreiche Angebote und Aktivitäten Interessante Angebote und Aktivitäten Gut organisierte Angebote und Aktivitäten Zufriedenheit mit Sauberkeit u. Hygiene im Zimmer Einwandfreie Hygiene und Sauberkeit i. gesamten Haus Benutzte Wäsche kann jederzeit abgebeben werden. Sprechzeiten der Verwaltung sind ausreichend. Bewohner erhält alle Wäschestücke zurück ⊡ Abb. 5.17. Komplexe und vergleichende Darstellung einer Angehörigen- und Bewohnerbefragung in einem Altenheim. (Mühlbauer, eigene Darstellung)
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Kapitel 5 · Empirische Sozialforschung im Gesundheitswesen – Methoden und Anwendungsbeispiele
untersuchten Fragestellung bleibt manchmal der Erfolg in der Präsentation versagt, weil die Teilnehmer die Botschaften rein akustisch nicht verstehen oder ihnen visuell nicht folgen konnten. Die Auswahl der Teilnehmer für eine Präsentation hängt von der Zielsetzung der Sitzung letztlich ab. Nach Möglichkeit kann für Präsentationen zur Entscheidungsfindung der wesentliche Kreis der Entscheider zusammenkommen, wobei die Größe eine Teilnehmerzahl von 20 Teilnehmern nur in besonderen Fällen (z. B. besondere Größe der Organisation mit einer Vielzahl von Gremien und Entscheidern) überschreiten sollte.
? Wissens- und Transferfragen 1. Nennen Sie Unterschiede zwischen der qualitativen und quantitativen Sozialforschung. 2. Entwickeln sie für beide Forschungsrichtungen jeweils eine Fragestellung. 3. Erstellen Sie für beide Fragestellungen einen möglichst konkreten Untersuchungsplan. 4. Stellen Sie die drei hier dargestellten qualitativen Auswertungsmethoden kurz da. 5. Worin unterscheiden sich arithmetisches Mittel, Modus und Median? 6. Worauf sollte in einer Präsentation empirischer Ergebnisse geachtet werden?
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5
6 Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften P.-E. Schnabel 6.1
Ausgangssituation
– 159
6.2
Zur Geschichte der Gesundheitsthematik – 160
6.3
Grundlegende Wissenschaften für die Gesundheitswissenschaften – 161
6.4
Methodische Grundlagen – 167
6.5
Theoretische Grundlagen
6.6
Zentrale Fragestellungen und Lösungsansätze der Gesundheitswissenschaften – 176
6.7
Entwicklungsperspektiven für die Gesundheitswissenschaften – 182
6.8
Zusammenfassung
Wissens- und Transferfragen
– 186
– 171 Literatur
6.1
– 185
Ausgangssituation
Im Unterschied zu den USA und anderen europäischen Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder Schweden, begannen die Gesundheitswissenschaften erst in den 80er Jahren in Deutschland Fuß zu fassen. Man hat deshalb von einer wissenschaftlich längst fälligen, um 30 bis 40 Jahre verspäteten Innovation gesprochen (Hurrelmann u. Laaser 1998). Dass dieses so war und ist, wirft nicht nur ein besonderes Licht auf die in vielerlei Hinsicht so fortschrittliche deutsche Gesellschaft und die in ihrem Auftrag handelnden gesundheits- und versorgungspolitischen Organe. Denn denen bereitet es immer noch große Schwierigkeiten, über die Gesundheit und deren systematische Förderung viel mehr als bloß zu reden. Trotzdem ist es bis heute weder zu einem sachund fachgerechten, von Behinderungen durch die auf die Behandlung von Krankheiten spezialisierten Wissenschaften freien Ausbau der Gesundheitswissenschaften/Public Health an deutschen Universitäten und Fachhochschulen gekommen. Noch kann davon die Rede sein, dass der Arbeitsmarkt damit begonnen hätte, auf die inzwischen akademisch qualifizierten Gesundheitsexperten in bedarfsangemessener Weise zu reagieren. All
– 186
dieses gibt uns Anlass, sowohl nach den äußeren als auch den inneren Bedingungen zu fragen, die es bis in die Gegenwart hinein in Deutschland an einer hinreichenden, mit anderen Ländern vergleichbaren Anerkennung und Verbreitung der Gesundheitswissenschaften haben fehlen lassen. Fast alle externen Gründe für diese zögerliche Entwicklung haben mit der langen medizinischen Tradition und mit dem außerordentlich hohen Ansehen zu tun, welches das System der Krankenversorgung und -verhinderung landesweit genießt. Die Fürsorge für die Gesundheit im Sinne der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1986) zu einem auch nur annähernd so wichtigen Handlungsziel von Menschen, Organisationen und politischen Entscheidungsträger werden zu lassen wie die Idee der Krankheitsbekämpfung, macht aller Wahrscheinlichkeit nach strukturelle, professionelle, arbeitsorganisatorische und vor allem ökonomische Veränderungen erheblichen Ausmaßes erforderlich. > Skepsis und unbegründete Konkurrenzängste beherrschen die gegenwärtige Situation. Weder die Krankheits- noch die Gesundheitswissenschaften, weder die überwiegend medizinisch und kurativ orientierten
160
6
Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
Dienstanbieter im Gesundheitswesen noch die Konsumenten krankheits- und gesundheitsbezogener Dienstleitungen sind in der Lage, zu ermessen, welche tatsächlichen Konsequenzen mit einer stärkeren Gesundheitsorientierung des Versorgungswesens verbunden wären. Es besteht trotz wachsender Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen immer noch zu wenig Bereitschaft, sich auf einen Perspektivwechsel und die damit möglicherweise einhergehenden strukturellen Veränderungen wirklich einzulassen (Rosenbrock u. Kühn 1994).
Aber auch dort, wo an deutschen Universitäten und Fachhochschulen bereits gesundheitswissenschaftlich geforscht und ausgebildet wird, gibt es interne Probleme, die weit davon entfernt sind, angegangen und gelöst worden zu sein. Zwar ist es zu begrüßen, dass sich vielerorts Mediziner und Naturwissenschaftler auf der einen und Sozial- und Geisteswissenschaftler auf der anderen Seite aus Gründen sachlicher Notwendigkeit zur Zusammenarbeit unter dem Dach der Gesundheitswissenschaften entschlossen haben. Doch ist bis heute nicht geklärt, ▬ ob und in wie weit sich diese des Krankheitsund in wie weit des Gesundheitsthemas annehmen, ▬ für die Erforschung welcher Themen sie sich in Zeiten grundsätzlich knapper Gelder engagieren und ▬ ob sie sich die Gesundheitswissenschaften mit ihren begrenzten Ressourcen vermehrt auf die Kuration und Verhinderung von Krankheiten oder auf die Förderung der Gesundheit und die Neugestaltung des Systems der Krankenversorgung konzentrieren sollen > Viel zu wenig ist in den vergangenen 15 Jahren geschehen, um im Zuge der lösungsorientierten Bearbeitung dieser Kernfragen und anderer damit verbundener Probleme zu einem identitätsstiftenden Einheitskonzept (corporate identity) zu gelangen. Deshalb droht den Gesundheitswissenschaften nach einer vielversprechenden Gründungsphase, von den bedeutend länger und nachhaltig
etablierten Krankheitswissenschaften, an ihrer Spitze der Sozialmedizin, vereinnahmt zu werden. Passierte damit, was im Interesse der Erkenntnisfähigkeit von Public Health, und der Reformfähigkeit unseres Gesundheitswesens verhindert werden sollte, dann wären die Gesundheitswissenschaften demnächst von einer der üblichen Hilfsdisziplinen (Epidemiologie, Medizinsoziologie, Medizinpsychologie usw.) der Medizin und des vom kurativen überwiegend auf Krisenintervention gerichteten Versorgungssystems, kaum noch zu unterscheiden.
6.2
Zur Geschichte der Gesundheitsthematik
Die Frage, was die Gesundheit ist und wie man ihrer teilhaftig werden könne, hat Naturheilkundige, Hebammen, Ärzten usw. zu allen Zeiten interessiert. Die Auffassung jedoch, welcher Aufwand vom einzelnen Menschen und von der Gesellschaft als Ganzer zu betreiben sei, um Gesundheit herzustellen und aufrecht zu erhalten, war über die Jahrhunderte einem erheblichen Wandel unterworfen. In ihren jeweiligen Ausprägungsformen scheint diese Auffassung maßgeblich von den unterschiedlichen Bedeutungen abhängig gewesen zu sein, welche die Medizin der Beschäftigung mit der Gesundheitsmaterie glaubte beimessen zu sollen, während sie sich von der antiken überwiegend erfahrungswissenschaftlich fundierten Ganzheitslehre zur technisch hoch entwickelten Naturwissenschaft der Neuzeit entwickelte. Die altertümliche und mittelalterliche Medizin, die mit Gelehrtenpersönlichkeiten wie Hippokrates (ca. 460 bis 377 v. Chr.), Galen (129 bis 199 n. Chr.) oder Paracelsus (1493 bis 1541) in Verbindung gebracht wird, stellte das Primat der Gesundheitssicherung, das Streben nach vollkommener Harmonie zwischen Körper (Natur) und Geist, die präventive Wirkung einer maßvollen Lebensführung usw. und mit ihnen die Ergebnisse systematischer Berufserfahrung, in den Mittelpunkt ihres diagnostischen und therapeutischen Handelns. Vermutlich tat sie das, solange ihr die Kenntnisse vom Inneren des Menschen und das
161 6.3 · Grundlegende Wissenschaften für die Gesundheitswissenschaften
Wissen um die Mikroprozesse der Krankheitsentstehung verwehrt waren. Im Zuge der Perfektionierung des durch Technik begünstigten und durch die Naturwissenschaften unterstützten anatomischen und bio-ätiologischen Blicks (Kamper u. Wulf 1982), die mit der Aufklärung um die Mitte des 16. Jahrhunderts ihren Anfang nahm und bis heute andauert, geht der Medizin das Interesse an der Beschäftigung mit der Gesundheit und ihren Sicherungserfordernissen fast vollständig verloren. Zeitweilig findet es sich nur noch in den Lehrmeinungen exotischer Randdisziplinen wie der Romantischen Medizin, der Homöopathie oder der asiatischen Naturheilverfahren wieder (Labisch u. Woelk 1998). Aufmerksamkeit wird ihr erst wieder durch die Sozialmedizin zuteil. Sie hatte sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge der öffentlichen Wohlfahrtspflege heraus zu bilden begonnen und fußte auf den revolutionären Erkenntnissen von Rudolf Virchow, Salomon Neumann und anderen. Diese waren angesichts des durch die Frühindustrialisierung bedingten Massenelends zu der Einsicht gelangt, dass sich die übertragbaren Volkskrankheiten der Neuzeit ohne genaue Kenntnis der psycho-sozialen Entstehungsbedingungen nicht richtig verstehen und ohne engagierte Sozialpolitik nicht erfolgreich behandeln lassen (Deppe 1991). Zum endgültigen Durchbruch als zentralem Thema einer neuartigen, vor allem mit den nichtmedizinischen Einflussfaktoren krankheitsund gesundheitsbezogenen Verhaltens befassten Gesundheitswissenschaften, kam es schließlich im Verlaufe des 20. Jahrhunderts. Hier erst verdichtete sich die Vermutung zur Gewissheit, dass sich die Versorgungsprobleme der Gegenwart, mit den Erkenntnismitteln und den therapeutischen Möglichkeiten der kurativen Medizin allein nicht würden lösen lassen (Badura u. Strodtholz 1998). Im Zentrum dieser weltweiten, maßgeblich von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) getragenen Bewegung stand das Konzept des »New Public Health«. Es hat in Konferenzen wie der Gründungsversammlung der WHO in Genf, der Konferenz in Alma Ata/Sowjetunion und Ottawa/Kanada und in dort verabschiedeten wichtigen Dokumenten wie der Verfassung der (WHO 1946), der Deklaration von Alma Ata (WHO 1978)
6
und der »Ottawa Charta for Health Promotion« (WHO 1986) gefunden. Und es ist anders als die Sozialmedizin auf vorbeugendes Versorgungshandeln durch die Stärkung gesundheitlicher Potenziale und weniger auf die Beseitigung existierender Risiken gerichtet > Nicht fehlendes Wissen wie in den Anfängen der Medizin, sondern ein epochales Ereignis, die Verdrängung der übertragbaren durch die chronisch-degenerativen Krankheiten und die Sorge um ihre angemessene Behandlung, machten es erforderlich, die traditionsreiche Beschäftigung mit der Gesundheit, ihren Risiken und Aufrechterhaltungsbedingungen wissenschaftlich neu zu begründen und der Praxis in derart geläuterter Form zur Verfügung zu stellen
6.3
Grundlegende Wissenschaften für die Gesundheitswissenschaften
Wie es der Plural im Namen zum Ausdruck bringt, setzen sich die Gesundheitswissenschaften aus einem Konsortium verschiedenster Einzeldisziplinen mit unterschiedlichen Traditionen und Forschungskulturen zusammen. Dass der Einsatz von Medizin, Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften erforderlich ist, um dem Gesundheitsphänomen analytisch und praktisch gerecht zu werden, wird inzwischen kaum noch bezweifelt. Ebenso unbestritten ist der Umstand, dass wir es in den Gesundheitswissenschaften mit einer Gruppe unverzichtbarer Kern- bzw. Grundlagenwissenschaften zu tun haben (⊡ Abb. 6.1). Darum herum legt sich mit der Pädagogik, der Betriebswirtschaftslehre/Management, Politik- und Rechtswissenschaft ein Ring wichtiger Anwendungsdisziplinen, die sich für die praktische Umsetzung der kernwissenschaftlichen Erkenntnisse als unverzichtbar erwiesen haben. Ferner gibt es eine Reihe bewährter Ergänzungswissenschaften, zu denen Biologie, Chemie und Physik auf der einen und Geschichte und Ethik/Philosophie auf der anderen Seite gehören. Ihre Aufgabe ist es, die Erkenntnisse der Gesundheits- und Krankheitswissenschaften in physio-ätiologischer Weise
162
Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
Recht Politik
Ethik Philosophie
Ökonomie Soziologie
Betriebswirtschaft (Sozial-)Epidemiologie Pädagogik Psychologie Geschichte
6
Medizin Biologie Chemie Physik
⊡ Abb. 6.1. Ordnung der unter dem Dach der Gesundheitswissenschaften vereinten Disziplinen
zu untermauern und sich über die historischen, bzw. ethischen und philosophischen Rahmenbedingungen krankheits- und gesundheitsbezogenen Handelns letzte Klarheit zu verschaffen.
6.3.1 Der Beitrag von Medizin,
Epidemiologie und Naturwissenschaften Einer historisch gewachsenen Tradition entsprechend und ihrem gesellschaftlichen Versorgungsauftrag gemäß, beschäftigt sich die Medizin vor allem damit, ▬ Krankheiten zu erkennen und ursächlich zu verstehen, ▬ ihrer Entstehung vorzubeugen und ▬ ihre Folgewirkungen für die Betroffenen so erträglich wie möglich zu machen. > Im Dienste der Herstellung und Aufrechterhaltung von Gesundheit sind die Vertreter dieses gerade deshalb aber unverzichtbaren Faches, im Rahmen von Public Health folglich nur in soweit tätig, als die Bewältigung von Krankheit und die existierenden Formen der Krankenbetreuung eine wesentliche, keineswegs aber eine hinreichende Bedingung für das Überleben in Gesundheit darstellen.
Die Definition der Weltgesundheitsorganisation, die sich ausdrücklich gegen die von vielen Menschen immer noch geteilte, auf rein medizinische Wahrnehmungskriterien reduzierte Sichtweise der Gesundheit richtet (WHO 1946), ist inzwischen weltweit bekannt. Außerdem ist dieses Verständnis zur nicht immer gemochten, mangels besserer Alternativen aber relativ unbestrittenen Leitidee der Gesundheitswissenschaften avanciert.
Und dennoch gibt es nicht wenige medizinische Fachvertreter innerhalb von Public Health, die meinen, dass ihnen nach dem Monopol auf die Behandlung Kranker nun automatisch auch das Monopol auf den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umgang mit der Gesundheit zufallen müsse. Sie vertreten diese Meinung und versuchen sie innerhalb der Scientific Community durchzusetzen, obwohl die Beschäftigung mit dem, was Gesundheit ihrer eigentlichen Substanz nach ausmacht, ▬ weder im Beruf noch in der Ausbildung von Medizinern eine wirkliche Rolle spielt und ihnen der Praxisalltag vor Augen führen müsste, ▬ dass eine sach-, geschweige denn bedürfnisangemessene Behandlung chronischer Patienten durch noch so gutes medizinisch-kuratives Know-how allein, nicht zu bewerkstelligen ist. Chemie, Biologie, und Physik haben viel dazu beigetragen, dass sich die moderne Medizin, die nach allem, was sie je getan hat und tut, eher dem Lager der Sozial- und Erfahrungswissenschaften zurechnen wäre, als Naturwissenschaft präsentieren konnte. Von diesem Nimbus hat sie profitiert, als es darum ging, sich auf den seiner Zeit noch heiß umstrittenen spätmittelalterlichen Markt diverser Dienstanbieter und später gegen die Konkurrenz anderer Heilberufe durchzusetzen. Im Kontext von Public Health dient den medizinischen Fachvertretern der naturwissenschaftliche Hintergrund nicht selten dazu, sich gegenüber den mit der Erforschung der Gesundheit beschäftigen Vertretern der Sozial- und Geisteswissenschaften als die angeblich Wissenschaftlicheren in Szene zu setzen. Die über Jahrhunderte andauernde und aus der modernen Entwicklung überhaupt nicht weg zu
163 6.3 · Grundlegende Wissenschaften für die Gesundheitswissenschaften
denkende Zusammenarbeit zwischen Medizin und Naturwissenschaft hatte aus der Perspektive der Gesundheitswissenschaften gesehen aber ambivalente Folgen. Sie führte einerseits dazu, den Erkenntnisgewinn beider Kooperateure enorm zu steigern. Andererseits müssen wir heute von einer Schere sprechen, zwischen demjenigen, was die Medizin über Krankheiten weiß und demjenigen was sie therapeutisch zu tun imstande ist (Krämer 1991). > Diese vermutlich noch wachsende Diskrepanz wird durch nichts, nicht einmal die gegenwärtig aufscheinenden Möglichkeiten der Gentechnik, zu schließen sein. Sie trägt aber heute dazu bei, dass die Erwartungshaltungen gegenüber der Medizin ins beinahe Unermessliche steigen und die Gesellschaft sich infolge dessen dazu genötigt sieht, in die Entwicklung neuer diagnostischer und therapeutischer Verfahren fast unbegrenzt zu investieren.
Ob die Gesundheitswissenschaften und die auf ihren Erkenntnissen aufbauende Förderungs- und Vorbeugungspolitik – wenn man sie denn ließe – zu einer Lösung dieser Problematik von nennenswertem, bevölkerungsmedizinischem Ausmaß beitragen würde, ist zurzeit noch nicht absehbar. Doch könnten die Naturwissenschaften, die dann allerdings ihre Aufmerksamkeit weitaus häufiger als bisher den biologischen, chemischen und physikalischen Mikroprozessen körperlichen Funktionierens und seiner Aufrechterhaltung zuwenden müssten, einen nicht weniger wichtigen, bislang aber noch ausstehenden Beitrag leisten. Nicht anders verhält es sich mit der Epidemiologie, die mit ihrer Beschreibung und ursächlichen Analyse der gesellschaftlichen Verteilung von Erkrankungen sowie mit der Identifikation präventionsbedürftiger Risikopersonen und -gruppen zu einer Kerndisziplin der Krankheits- und der Gesundheitsforschung aufgestiegen ist. > Leider ist eine Gesundheitsepidemiologie, die sich vor allem mit der Identifikation echter »Gesundheits-Indikatoren« sowie der gesellschaftlichen Entstehung und Verteilung von Gesundheitspotenzialen beschäftigen müsste, noch nicht entwickelt worden.
6
Selbst die Sozialepidemiologie, von der man dies eher als von der Epidemiologie klassischen Zuschnitts erwarten könnte, steht erst am Anfang ihrer Entwicklung. Sie konzentriert sich auf die psychischen und sozialen Ursachen der Ungleichverteilung von Massenkrankheiten und definierten Risiken (Mielck u. Bloomfield 2001), und ist dabei bis in die Gegenwart hinein eine Krankheitswissenschaft geblieben. Der Aufstieg zur Kerndisziplin einer überwiegend mit den Fragen der Herstellung und Aufrechterhaltung von Gesundheit beschäftigten Wissenschaft steht ihr noch bevor. Allerdings ist unter Epidemiologen immer noch nicht geklärt (Brand u. Brand 2002), ob Sozialepidemiologie die Epidemiologie mit einschließt und künftig als deren Leitdisziplin fungieren, oder ob sie, wie bisher, lediglich im Status einer um gewisse sozialwissenschaftliche Erkenntniselemente bereicherten Unterabteilung der auf Krankheit fixierten Epidemiologie verbleiben soll.
6.3.2 Der Beitrag der Sozial- und
Geisteswissenschaften Die nichtmedizinischen Kern- und Anwendungswissenschaften von Public Health lassen sich in zwei Gruppen unterteilen. Die eine, hauptsächlich präsentiert durch Psychologie und Pädagogik, hat es mit den verhaltensbedingten Bestimmungsmomenten von Gesundheit und Krankheit zu tun. Die andere, zu denen die Soziologie, die Ökonomie und die Betriebswirtschaftslehre gehören, setzt sich mit den umwelt- und verhältnisbedingten Faktoren, hier insbesondere denjenigen gesellschaftlichen Organisationsformen analytisch und gestalterisch auseinander, aufgrund und mit Hilfe deren Gesundheit entsteht und aufrecht erhalten wird. Beide Gruppen sind mittlerweile zu unverzichtbaren, forschungs- und umsetzungsstrategisch auf einander angewiesenen Disziplinen der Gesundheitswissenschaften avanciert. Möglich wurde dies aber erst, nachdem es mit Hilfe der Sozialisationsforschung gelungen war, klar zu stellen, dass an der Entstehung von Krankheit und an der Herstellung von Gesundheit so gut wie
164
Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
immer eine im Lebenslauf variierende Konstellation von ▬ personalen, ▬ institutionellen und ▬ umweltabhängigen Einflussfaktoren beteiligt ist (Schnabel u. Hurrelmann 1999). > Um die Zusammenarbeit zwischen den Ver-
6
haltens- und den Verhältniswissenschaften ist es gegenwärtig noch nicht so gut bestellt, wie man es im Interesse der Sache erwarten sollte und wie man es aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Erfahrungswissenschaften eigentlich erwarten könnte.
Die Psychologie als überwiegend analytische und die Pädagogik als überwiegend anwendungsorientierte Gesundheitswissenschaft haben ihre Bemühungen, wenn auch nicht ausschließlich, so aber doch hauptsächlich auf das Individuum, insbesondere das Verstehen und die Beeinflussung seiner Handlungsmotive konzentriert. Sie stehen insofern der Medizin, die seit je her ihr wissenschaftliches und praktisches Hauptaugenmerk auf den Umgang mit Einzelpersonen richtete, paradigmatisch um Einiges näher als die mit den Funktionsweisen sozialer Gebilde (Gruppen, Institutionen, Organisationen usw.) beschäftigten Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften. Das betrifft nicht nur das methodische Vorgehen der Psychologie, die darin den Naturwissenschaften nacheifernd, einen großen Teil ihrer Erkenntnisse, wenn auch seltener unter laborähnlichen, so doch unter experimentell kontrollierten Bedingungen generiert (Vogt 1998). Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass die ebenfalls am Verhalten ihrer Patienten unter Diagnostik und Therapie und an den gesundheitsgefährdenden Lebensstilen von Menschen interessierte Medizin nicht nur mit den Erklärungsansätzen der Psychologie besonders viel anfangen kann. Auch mit der Art und Weise, wie Psychologen die von ihnen selbst entwickelten Strategien der Verhaltensbeeinflussung rechtfertigen und durchzuführen versuchen, können sich Mediziner problemlos identifizieren.
Interdiziplinäre Themenbereiche Zu den Themengebieten, innerhalb deren diese Zusammenarbeit schon seit Jahrzehnten – wenn auch nicht immer zum Anerkennungsvorteil der Psychologie (Leppin 2000) – funktioniert, gehören ▬ die Bestimmung dessen, was körperliche wie psychische Krankheiten im Einzelfall bedeuten, ▬ die Klärung, auf welche Weise menschliches Verhalten und dessen Genese mit der Entstehung von Krankheit und Gesundheit zusammenhängen, ▬ das Verstehen und die Bearbeitung von Verhaltensproblemen bei Ärzten, Pflegepersonen und anderen professionellen Dienstleistern, sofern diesen ein Wirkung auf den Verlauf von Krankheitskarrieren nachzuweisen ist und ▬ die Frage, ob und wie durch die psychologisch angeleitete Veränderung menschlichen Verhaltens zur besseren Bewältigung (»compliance«) von Krankheiten und zur Herstellung von Gesundheit (z. B. coping, Resilienz) beigetragen werden kann.
Eine Gesundheitspsychologie, die sich unter Hintanstellung ihres analytisch-therapeutischen Blicks vermehrt auf das Thema Gesundheit konzentrieren und sich in Verbindung damit auch auf die Wechselwirkung ihrer gesellschaftlichen und individuellen Konstruktions- und Förderungsbedingungen einlassen müsste, beginnt sich erst zögernd zu entwickeln. Ähnlich geht es der Pädagogik. Sie steht der auf den Einzelfall bezogenen Interventionsphilosophie der Medizin recht nahe und wird von dieser auch gerne um Rat gefragt, wenn es darum geht, ihre Heilsbotschaften vom gesunden, insbesondere risikovermeidenden Leben zu den Adressaten zu transportieren. Dabei stößt sie jedoch immer dann an ihre Grenzen, wenn die Verhaltensänderungskonzepte, die sie propagiert und durchzusetzen versucht, mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen kollidieren, die von den Adressaten nur schwer
165 6.3 · Grundlegende Wissenschaften für die Gesundheitswissenschaften
oder überhaupt nicht beeinflusst werden können (Schnabel u. Hurrelmann 1999). Letztlich haben es die Soziologie und die Wirtschaftswissenschaft zwar auch mit den Kompetenzen und dem Verhalten von Menschen zu tun, welches sie im Interesse von Risikovermeidung und Gesundheitsförderung zu optimieren versuchen. > Im Zentrum soziologischer und wirtschftwissenschaftlicher Bemühungen jedoch stehen die Funktionsbesonderheiten von Gruppen und Organisationen. Zu deren gesundheitswissenschaftlich relevanten Eigentümlichkeiten gehört es, dass sich die Menschen in ihnen als Funktionsträger und deshalb meist nicht so verhalten, wie es aus der Sicht autonomer, gesundheitsbewusst und/oder ökonomisch rational handelnder Individuen gesund und vernünftig wäre.
Diesem systemischen Denken und Forschen erschließt sich gesundheitsbezogenes Handeln nur als eines, welches in der Auseinandersetzung des Menschen mit der gesellschaftlich organisierten Umwelt entsteht und deshalb von dieser analytisch nicht getrennt werden kann. Nicht zuletzt deshalb ist es der individualdiagnostischen und therapeutischen Betrachtungsweise völlig fremd und kann ihren Vertretern nur mit Mühe vermittelt werden. Systemisches Denken ruft auch aus einem anderen Grund bei Medizinern und Ärzten erhebliche Widerstände hervor. Sie sind es gewöhnt, aus der Position des Wissens- und Kompetenzmonopolisten heraus zu agieren, müssen jetzt aber erkennen, dass vieles von dem, was sie tun, zu einem großen Teil den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (z. B. ideologischen, politischen, ökonomischen, versorgungsstrukturellen) unterliegt, unter denen sie lernen, leben und arbeiten. Diese Rahmenbedingungen entziehen sich ihrer medizinischen Einflussnahme weitgehend. Ähnlich verhält es sich mit der Ökonomie. Allerdings kommt bei ihr noch hinzu, dass sie der Ärzteschaft und ihren Kunden nicht nur die sonst so gern verschleierten wirtschaftlichen Motive ihres Handelns bewusst macht. Sie zeigt darüber hinaus dem Staat, den Versicherungsverträgern, den Patienten und allen anderen an der Finanzierung des Gesundheitssystems beteiligten
6
Instanzen auf, dass und wie diagnostische und therapeutische Dienstleistungen durch geeignete Kontroll- und Qualitätssicherungsmaßnahmen, durch Gesundheitsmanagement, kostengünstiger und damit gesellschaftsverträglicher erbracht werden können. Als Hilfsdisziplin der Medizin hat sich die sog. Medizinsoziologie seit ihrem Entstehen in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf Krankheitsverteilungsforschung (Sozial-Epidemiologie) und auf die organisationssoziologische Durchleuchtung der Institutionen der Krankenversorgung konzentriert. Erst als sie diesen klassischen Gebieten ein halbes Jahrhundert später zwei weitere, nämlich ▬ die Identifizierung und Beseitigung psychosozialer Gesundheitsrisiken in Arbeit und Freizeit und ▬ die auf die Analyse von Behandlungsprozessen und Förderung von Gesundheit bezogene Versorgungsforschung, hinzufügte, hat sie sich zu einer Kernwissenschaft von Public Health entwickelt. Es herrscht Einigkeit, dass ohne ihre Mitarbeit die Modernitätsdefizite des Gesundheitswesens weder richtig erkannt, noch erfolgreich behoben werden können (Geyer 2002). Der Gesundheitsökonomie kommen noch weitere wichtige Aufgaben zu. Nur ihr ist es möglich, den für Qualitätskontrolle medizinischer Dienstleistungen wichtigen Wirtschaftlichkeitskriterien zu ihrem Recht zu verhelfen und diesen neben den biophysiologischen, personellen und sozialen Kriterien einen angemessenen Platz unter den Orientierungsgrößen zu sichern, die gegenwärtig mit dem Konzept der »evidenzbasierten« und ergebnissicheren Medizin in Verbindung gebracht werden.(Hessel et al. 2002). > Die besonderen Schwierigkeiten, mit denen es die Soziologie und die Ökonomie als künftige Gesundheitswissenschaften zu tun haben, liegt vor allem darin, dass es ein echtes, mit der Pflege der Gesundheit betrautes System noch gar nicht gibt, möglicherweise auch nicht geben wird, an dem sie sich abarbeiten und in dessen Dienst sie sich stellen könnten.
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6
Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
Genau hier liegt gegenwärtig der besondere Gebrauchswert, den die mit dem Gesundheitsthema befassten Teile der Politikwissenschaft für die Gesundheitswissenschaften besitzt (Müller 2002). Mit ihrer Hilfe kann nicht nur aufgezeigt werden, welche Faktoren auf den Ebenen von Staat, Ländern, Kommunen, Verbänden und Organisationen der Etablierung der Gesundheitssicherung als Leitidee des politischen Planungs- und Entscheidungshandelns entgegen stehen. Politikwissenschaft sollte darüber hinaus auch noch in der Lage sein, Legitimations- und Durchsetzungsstrategien auszuarbeiten, mit denen wichtige Reformen gerechtfertigt und bestehende Widerstände überwunden werden können.
6.3.3 Bedingungen des Zusammen-
arbeitens in den Gesundheitswissenschaften Zusammenfassend kann man sagen, dass überall dort in Deutschland, wo man möglichst vielen der oben erwähnten Einzeldisziplinen die Gelegenheit eröffnete, uneingeschränkt und längerfristig zusammenzuarbeiten, positive Wirkungen erzielt werden konnten. Das gilt nicht nur im Hinblick auf das Rationalisierungsvermögen der beteiligten Wissenschaften, sondern auch hinsichtlich des Erschließungsgrads der Gesundheitsmaterie selbst. Leider hat man auch an denjenigen Orten, wo dies möglich war, allenfalls einen »transdisziplinären« Zustand, insgesamt aber noch kein produktives Miteinander erreicht, welches die anspruchsvolle Bezeichnung »interdisziplinär« verdienen würde. > Interdisziplinarität als Kooperationsform ist nicht nur durch den respektvollen Umgang der involvierten Wissenschaften mit den Erkenntnissen und den Erkenntnisgewinnungsmethoden der Partner gekennzeichnet. Beim Wort genommen verpflichtet sie die kooperierenden Disziplinen außerdem, sich im Dienste der gemeinsamen Sache auf die gleichberechtigte Arbeit an einem gemeinsamen Erkenntnisfundus einzulassen. Dazu
kommt die Bereitschaft, aus diesem ständig wachsenden Bestand aufeinander abgestimmten forschungs- und gestaltungsstrategischen Wissens Konsequenzen auch und besonders dann zu ziehen, wenn dieses auf eine teilweise oder völlige Aufgabe überholter Identitätskonstruktionen und Interessen hinauslaufen sollte (Weingart u. Stehr 2000).
Die Vorteile interdisziplinärer Zusammenarbeit, die überall da, wo es sie bisher gegeben hat, meist nur in zeitlich befristeten Projekten herausgearbeitet und für die Gesundheitswissenschaften bislang nur an wenigen Standorten längerfristig überprüft werden konnten, liegen vor allem auf drei Gebieten: ▬ Erstens trägt sie dazu bei, die Wahrnehmungsfähigkeit der Einzelwissenschaften an deren Rändern zu schärfen und sie damit für die kooperative Bearbeitung von Querschnittthemen, wie Gesundheit und Krankheit überhaupt erst fähig zu machen. ▬ Zweitens erhöht sie die Fähigkeit der Wissenschaften generell, sich mit Gegenständen und Fragestellungen auseinanderzusetzen, die sich – wie die Gesundheit als körperliches, seelisches und gesellschaftliches Phänomen – nur multiperspektivisch erfassen und beforschen lassen. ▬ Drittens steigert ein interdisziplinär organisiertes Lernumfeld die Kompetenzen der Experten, insbesondere dort, wo sich diese mit den Gestaltungserfordernissen des Gesundheitswesens auf der Mikroebene (Individuum), Mesoebene (Institutionen) und Makroebene (Politik) der öffentlichen Gesundheit (Public Health) sachangemessen auseinandersetzen müssen. Damit diese Gewinne aber auch eingefahren werden können, müssen eine Reihe interner und externer Voraussetzungen ( Kap. 6.7) wie z. B. die Einführung interdisziplinärer Kommunikationsformen, die verbindliche Einigung auf Hauptgegenstand und zentrale Forschungsfragen sowie die Akzeptanz einer gegenstandsangemessenen Methodenvielfalt erst noch geschaffen werden.
167 6.4 · Methodische Grundlagen
6.4
Methodische Grundlagen
Immer dort, wo mit der von niemandem mehr bestrittenen Tatsache Ernst gemacht wird, dass Gesundheit sich immer und zur gleichen Zeit auf der körperlichen, seelischen und gesellschaftlichen Ebene manifestiert, treffen zwangsläufig Wissenschaften aufeinander, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Gegenstände und Traditionen verschiedener Erkenntnismethoden bedienen. Stark vereinfachend lassen sich mit den eher experimentell arbeitenden Natur- und den sog. Erfahrungs- oder Sozialwissenschaften zwei Gruppen unterscheiden. Für die erstere stehen vor allem Chemie, Biologie, Physik und Pharmazie, auf deren Erkenntnisse die selbst eher erfahrungswissenschaftlich geprägte Medizin zurückgreift, um sich den Anstrich einer Naturwissenschaft zu geben. Letztere wird überwiegend durch Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Ökonomie repräsentiert und lässt sich ihrerseits in zwei methodisch zwar divergierende, unterschiedlich Wichtiges leistende, zur Kooperation aber durchaus fähige, um nicht zu
sagen verpflichtete Gruppen (⊡ Tabelle 6.1) unterscheiden. Eine Betrachtung der Stärken und Schwächen aller Varianten macht deutlich, dass sich alle drei (experimentelle, quantitative, qualitative Methoden) im Interesse einer profunden Durchdringung der Gesundheitsmaterie hervorragend ergänzen könnten.
6.4.1 Beobachten, Messen, Zählen
unter replizierbaren Bedingungen (naturwissenschaftliche Methode) Die experimentelle Methode kommt vor allem in den Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik) zur Anwendung. Für sie ist charakteristisch, dass sie demjenigen, der sie benutzt, nicht nur eine nahezu vollständige Kontrolle über die Bedingungen erlaubt, unter denen experimentell variierende Einzelfaktoren oder Faktorengruppen (unabhängige Variablen) auf beobachte (abhängige) Variablen reagieren.
⊡ Tabelle 6.1. Vorteile und Schwächen natur- und sozialwissenschaftlicher Methoden Medizin / Naturwissenschaften (Messen, Zählen unter experimentell kontrollierten Bedingungen)
Sozial- und Geisteswissenschaften (regelgeleitetes Verstehen und Bewerten von Erfahrungen)
Vorzüge ▬ Totale Kontrollierbarkeit von abhängigen und unabhängigen Variablen ▬ Genaue Beobachtung von Wirkungen ▬ Ursache-Wirkungs-Relationen präzise identifizier- und belegbar
Quantitative Methoden ▬ Untersuchung größerer Mengen von Menschen ▬ Untersuchung in lebensnahen Situationen ▬ Individuelle Reaktionen im Hinblick auf ihre Vorkommensmengen bewertbar
Qualitative Methoden ▬ Besonders authentische Abbildung individuellen Lebens ▬ Tiefenanalytische Durchleuchtung von Gefühlen und Motiven ▬ Biografische Rekonstruktion von Krankheits- bzw. Gesundheitskarrieren
▬ Schwierige Kontrolle von »Confoundern«a und Kovariablen ▬ Kausalitäten nur unter Vorbehalt zuweisbar ▬ Variationen der Expositionsoder Interventionsbedingungen stoßen an ethische Grenzen
▬ Flächendeckende Studien mit größeren Kollektiven ▬ Ergebnisse nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung, nicht ihrer Repräsentativität bewertbar ▬ Überwiegende Betonung der Subjektivität statt der Objektivität studierter Wahrnehmungen
Schwächen ▬ Künstlichkeit der Untersuchungsbefunde ▬ Bedingte Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Lebenssituationen ▬ Bandbreite der Untersuchungsthemen und -gegenstände durch Laborsituation eng begrenzt
a
»Confounder«, Kovariablen – Sekundäreffekte
6
168
Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
> Auf diese Weise können auch ursächliche Wechselwirkungen zwischen biologischen, chemischen und physikalischen Prozessoren in äußerster Genauigkeit identifiziert, bezüglich ihrer Stärke exakt gemessen und mit der Aussicht auf das selbe Ergebnis unter den gleichen Bedingungen stets wiederholt werden.
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Voraussetzung für das Funktionieren experimenteller Verfahren ist allerdings, dass die jeweilige Versuchsanordnung von den Experimentatoren kontrolliert wird und sich die Vielfalt experimentell veränderter Einflussvariablen sowie die durch sie hervorgerufenen Reaktionen in überschaubaren Grenzen hält. Manipulieren und Beobachten unter experimentellen Bedingungen ist seit der frühen Aufklärung, als sich das moderne, überwiegend technisch-naturwissenschaftliche Wissenschaftsverständnis auszubilden begann, immer das methodische Ideal empirischer Forschung gewesen. Es leuchtet aber auch ein, dass es sich zur wissenschaftlichen Durchdringung komplexer psycho-sozialer Erscheinungen und Wirkungszusammenhänge, die an ihren Rändern stets offen und von einer Vielzahl kaum überschaubarer Kovariablen beeinflusst sind, kaum eignet. Experimentell kontrolliertes Messen und Zählen wird in den Gesundheitswissenschaften überwiegend auf zwei Arten verwendet. In weitgehend reiner Form dient es z. B. der Medizin, die von allen beteiligten Disziplinen am häufigsten mit der Behandlung bio-chemisch und/oder oder in physikalischer Hinsicht affizierter Menschen und mit der Beseitigung physischer Risikofaktoren befasst ist. Sie und ihre Kunden profitieren immer dann, wenn Diagnosen durch die Rekonstruktion biologischer, chemischer und/oder physikalischer Verursachungslinien treffsicherer gemacht, oder die Qualität therapeutischer Maßnahmen wirkungsbeurteilt und gesichert werden sollen. Aber auch in der Epidemiologie oder Krankheitsverteilungsforschung wird, unter ungleich schwierigeren Bedingungen, zu messen und auszuzählen versucht. Man spricht in diesem Zusammenhang von quasi-experimentellen Forschungsdesigns oder -verfahren, deren methodisches Hauptproblem vor allem darin besteht, dass die
Umweltbedingungen eines epidemiologisch untersuchten Verteilungsphänomens von diesen selbst nicht getrennt und für den Verlauf der Studie höchstens rechnerisch, nicht aber wirklich konstant gesetzt werden können. Außerdem lassen sich – was in erster Linie Evaluationsexperten Schwierigkeiten bereitet – die Wirkungen interventiver (v. a. kurativer und präventiver) Maßnahmen niemals in reiner Form, d. h. unter völlig sicherem Ausschluss ungeplanter Nebenwirkungen messen. Dies gilt vor allem dann, wenn sie über längere Zeit und in unübersichtliche soziale Kontexte hinein unternommen werden. In sog. Fall-Kontroll-Studien, wird diesem Umstand in einer bisher nicht übertroffenen Weise Rechnung getragen (Hellmeier et al. 1998). Deren Besonderheiten sind darin zu sehen, dass man mit ihrer Hilfe zu einer statistisch einigermaßen genauen Einschätzung des Erfolges von medizinischen oder vorbeugenden Eingriffen in größere Patienten- oder Klientenkollektive gelangen kann. Möglich wird das dadurch, dass ein Kollektiv, in dem kurativ und/oder präventiv interveniert wurde, mit einen anderen parallel existierenden, identisch zusammengesetzten, unter den selben Bedingungen lebenden und arbeitenden Kollektiv anhand bestimmter Krankheits- oder Gesundheitsindikatoren verglichen wird, welches nicht zum Gegenstand kurativer oder präventiver Interventionen der gleichen Art gemacht worden ist.
6.4.2 Regelgeleitetes Verstehen
von Erfahrungen (sozialwissenschaftliche Methode) Im Unterschied zu den Naturwissenschaften, fanden die Sozial- und Geisteswissenschaften erst im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu ersten Formen eines übergreifenden wissenschaftstheoretischen und -methodischen Selbstverständnisses. Die von ihnen entwickelte, später als wissenschaftliches »Verstehen« eingeführte Variante der Erkenntnisgewinnung, hat sich seit ihrer Aufnahme in den Kreis der Universitätswissenschaften stets gegen den Vorwurf mangelnder Exaktheit und akademischer Zweitklassigkeit verteidigen müssen.
169 6.4 · Methodische Grundlagen
> Die Gründe dafür sind offenkundig. Sie haben vor allem mit der von Sozialwissenschaftlern ertragenen, für Naturwissenschaftler und die auf ihre Zulieferung angewiesenen Anwendungswissenschaften aber inakzeptablen Einsicht zu tun, dass alle, auch die mit Hilfe experimenteller und quasiexperimenteller Forschungsdesigns erhobenen Fakten immer nur eine an den Forschungsstandort gebundene, d. h. eine stets nur relative und keine absolute Gültigkeit besitzen.
Anhänger der experimentellen Forschung bemühen sich zu erreichen, was trotz anstrengendster Kontrolle der Untersuchungsbedingungen in Wirklichkeit nur teilweise gelingt, nämlich sich gegenüber dem Forschungsgegenstand möglichst neutral (objektiv) zu verhalten. Sozialwissenschaftler geben demgegenüber gar nicht erst vor, sich aus dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sie leben und dem sie ihre Forschungsprobleme entnehmen, heraushalten zu können. Sie nutzen, wie dies der Klassiker dieser Methode, der Soziologe Max Weber (1922) beschrieb, vielmehr die auf Erfahrungslernen innerhalb des gesellschaftlichen Kontextes beruhende Vertrautheit mit den Gegenständen soziologischer Forschung, um diese in ihrem subjektiv gemeinten und stets auf andere bezogenen Sinn deutend zu verstehen. Vor dem Risiko, die eigene Erfahrungswelt auf unstatthafte Weise zu verallgemeinern und dadurch falsch zu interpretieren, schützt der Sozialwissenschaftler sich nicht durch eine künstlich erzeugte Distanz gegenüber den Dingen. Er sucht den durch ein Regelwerk wissenschaftlicher Methoden gesteuerten Diskurs gleich, aber auch anders Denkender, die denselben Erfahrungsgrund mit ihm teilen. Darüber hinaus lässt er, wo immer dies von der Beschaffenheit der Datenbasis her möglich ist, die unter fachkundiger Kontrolle generierten Erkenntnisse mit Hilfe statistischen Methoden auf die Wahrscheinlichkeit hin überprüfen, mit der unter annähernd gleichen Bedingungen auf eine bestimmte Intervention hin mit den selben Ergebnissen zu rechnen ist In den Gesundheitswissenschaften, aber natürlich nicht nur dort, kommen Verfahren des deutenden Verstehens in folgenden zwei, theoretisch wie
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methodisch zwar von einander unterscheidbaren, sich im empirischen, d. h. auf regelgeleiteter Beobachtung beruhenden Bereich jedoch ergänzenden Varianten zum Zuge. Quantitative Methoden der Sozialforschung Die quantitative Sozialforschung ist, wie der Name sagt, im Wesentlichen auf die numerische Erfassung großflächiger Kollektivphänome gerichtet. Die Forscher gehen i. d. R. von einem theoretisch und/oder sekundäranalytisch (d. h. durch Re-Analyse bereits vorliegender Forschungsergebnisse) begründeten Satz von vorformulierten Hypothesen (forschungsleitenden Aussagen oder Fragen) aus. Entsprechend der kritisch-rationalen oder auch positivistisch genannten Erkenntnistheorie, auf die sich die Mehrheit der quantitativ forschenden Empiriker heute bezieht (Obermeier 1997), können diese Hypothesen nicht auf ewig, sondern unter Berücksichtigung ihrer zwangsläufigen Ortsund Zeitgebundenheit immer nur vorübergehend verifiziert werden. Sie werden nur als gültig angesehen, solange es der Forschung nicht gelungen ist, sie zu widerlegen (Falsifikationstheorem). Die für diese Operation erforderlichen Informationen werden ermittelt ▬ entweder unmittelbar, durch teilnehmende und systematisch ausgewertete Beobachtung, ▬ oder auf mittelbarem Wege, d. h. durch Abfragen der Meinungen und Erfahrungen anderer. Letzteres geschieht wahlweise anhand geschlossener Fragen mit begrenzten Antwortmöglichkeiten (ja/nein/weiß nicht/keine Antwort), durch Beurteilung vorformulierter Negativ- und Positivstatements mittels verschiedener Bewertungsskalen, bis hin zum Einsatz sog. offener Fragen, die von den Adressaten frei assoziierend beantwortet und anschließend einer themenzentrierten Inhaltsanalyse unterzogen werden. Die Erhebung kann nach direkter Ansprache von Angesicht zu Angesicht oder auf schriftliche Weise erfolgen. Beim Einsatz der letzteren, mittelbaren Variante, deren Vorteil in der Möglichkeit einer größeren Breitenstreuung beruht, muss außerdem darüber nachgedacht werden, ob und wie im Interesse größtmöglicher Repräsentativität eine hinreichende Beteiligungsbereitschaft gesichert werden kann.
170
Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
> In den Gesundheitswissenschaften kommen
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Befragungen mit den Mitteln der quantitativen Sozialforschung immer dann zum Einsatz, wenn 1. für den Planungs- und Entscheidungsbedarf von Gesundheitssystemmanagern oder Gesundheitspolitikern Berichtssysteme erstellt werden müssen und 2. die dafür erforderlichen Primärdaten weder durch teilnehmende Beobachtung, noch durch andere, gänzlich unpersönliche Formen der Datensammlung ermittelt werden können (Geyer u. Siegrist 1998).
Die Nachteile dieser Verfahrensweise, die zum einen durch eine selektive Vorgabe von Hypothesen den Problemerfassungs- und Problembearbeitungsfokus der Forscher einengt und zum anderen die Reaktionsmöglichkeiten der Befragten durch ein Raster vorgegebener Antwortformen auf eine Weise reduziert, die der Erfahrungswirklichkeit und Meinungsbreite nur annäherungsweise, oft auch gar nicht entspricht, werden dabei in Kauf genommen. Qualitative Methoden der Sozialforschung Einige dieser Nachteile, wie etwa die zwangsläufige Oberflächlichkeit der durch quantitative Sozialforschung ermittelten Informationen und die damit einhergehende relative Ferne gegenüber der Wirklichkeit individueller Erfahrungen, versucht die als qualitative Sozialforschung bezeichnete Variante mit einigem Erfolg zu umgehen. Der Nachteil der ihr aus ihrer eigenen Vorgehensweise erwächst und die darin besteht, dass flächendeckende Untersuchungen mit größeren Kollektiven kaum möglich sind, hat bis heute dazu geführt, dass die qualitative Sozialforschung weder generell, noch in der gesundheitswissenschaftlichen Forschung in einem Maße eingesetzt worden ist, die ihren Erkenntnisleistungen entspricht (Gerhardt 1991). Eine Erklärung für diesen zögerlichen Umgang ist darin zu vermuten, dass sich die Verfechter der qualitativen Vorgehensweise mit der sog. Hermeneutik auf eine Grundlagentheorie wissenschaftlicher Realitätsaneignung beziehen, die sowohl für den schlichten Anschauungsrealismus der experimentell, als auch für den kritischen Rationalismus der quantitativ verfahrenden Forscher nur schwer zu akzep-
tieren ist. Anders als diese, die lediglich akzeptieren, was sie sehen oder was als zählbares Phänomen den Hypothesentest überstanden hat, geht es der hermeneutischen Methode um das Verstehen des gemeinten Sinns von Erfahrungen, die sich bezieht ▬ auf das höchst subjektive Betroffensein durch eigene Gesundheit oder Krankheit, ▬ auf den Umgang der Gesellschaft mit dem eigenen Krank- bzw. Gesund-Sein, aber auch ▬ auf den Umgang der Gesellschaft mit der Gesundheit oder Krankheit von anderen. Sie versucht den Wortlaut von Texten oder persönlichen Mitteilungen und ihrer Bedeutung unter Berücksichtigung des historisch-kulturellen Hintergrundes, in dem sie entstehen und unter Bezugnahme auf die besonderen Motive ihrer Erzeuger interpretatorisch zu erfassen. > Von ihren durch hermeneutischer Analyse einzelner Fälle (n=1) gewonnenen Informationen auf die Einstellungen oder das Verhalten größerer Kollektive anderer Menschen zu schließen, ist unter der überprüfbaren Bedingung, dass auf diese Weise zeit- bzw. kulturtypische Äußerungen und Verhaltensweisen getroffen werden, durchaus möglich (Flick 1999). Es fällt aber den an größeren Datenmengen zum Zwecke der Repräsentativitätsüberprüfung interessierten Vertretern quantitativer Sozialforschung aus nachvollziehbaren Gründen schwer.
Vor allem in der Krankheitsentstehungs- und Krankheitsverlaufsforschung hat die qualitative Einzelfallanalyse mit Hilfe von biographisch rekonstruierenden, insbesondere sog. narrativen oder problem- bzw. themenzentrierten Leitfaden-Interviews, nicht nur zum besseren Verständnis von Therapieprozessen beigetragen (Minuchin et al. 1983). In einem darauf aufbauenden, überwiegend theoretisch angeleiteten und einer genaueren empirischen Überprüfung noch bedürfenden Umkehrschluss, konnten auch die Entstehungs- und Verlaufsdeterminanten chronischer Krankheitskarrieren (Schnabel 1988) entschlüsselt und neuerdings schließlich auch genauere Aussagen über die Herstellungs- und Aufrechterhaltungsbedingungen von Gesundheit (Schnabel u. Hurrelmann 1999) getroffen werden.
171 6.5 · Theoretische Grundlagen
Dabei gelingt es, mit Hilfe einer auf möglichst freies Assoziieren setzenden Befragungstechnik
und einer damit erreichten Authentizität registrierter und analysierter Äußerungen in besondere Tiefenschichten des Wechselwirkungsverhältnisses zwischen objektiven und subjektiven Bestimmungsmomenten von Krankheit und Gesundheit vorzudringen. Es sind dies Tiefenschichten, die mit der Lebensgeschichte der Menschen eng verwoben sind und die man mit den auf Flächendeckung und Repräsentativität zielenden Methoden der quantitativen Sozialforschung nicht erreichen kann. > Qualitative Sozialforschung lässt sich deshalb besonders gut einsetzen, wenn es im Vorfeld einer breit angelegten repräsentativen Untersuchung darum geht, durch gezielte Detailanalysen zu verhindern, dass auf falsche oder nebensächliche Problemlagen abgehoben wird und/oder dass sachunangemessene Vorgehensweisen u. U. nur deshalb den Vorzug erhalten, weil sie sozialforscherischer Routine entsprechen. Qualitative Methoden sind aber auch geeignet, um im Anschluss an quantitative Querschnittstudien gezielte Detailuntersuchungen vorzunehmen, die es infolge einer genaueren Kenntnis der Probleme möglich machen, erfolgssichere Lösungsstrategien zu entwickeln.
6.5
Theoretische Grundlagen
Neben der Konzentration auf einen, von keiner anderen Wissenschaft bearbeiteten Gegenstand und der konsequenten Verwendung angemessener Methoden, gehört die Theorieentwicklung seit jeher zu den drei wichtigsten Konstruktionspfeilern monodisziplinärer Selbstbehauptung. Ob ähnliches für die Profilbildung der bislang noch vergleichsweise wenigen, aber sich stetig vermehrenden Gegenstandsgebiete multidisziplinären Zusammenarbeitens ebenfalls gelten sollte, ist gegenwärtig noch eine offene und selten diskutierte Frage (Weingart u. Stehr 2000). Da zumindest aber für den Bereich der Gesundheitswissenschaften belegt werden kann, dass weder die Arbeit an einem gemeinsamen, wenn auch in
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seinen Konturen noch etwas unscharfen Gegenstand, noch die Verwendung eines im Großen und Ganzen akzeptierten Arsenals an Methoden allein die Zusammenarbeit unter den Disziplinen in der erforderlichen Weise voran zu bringen vermag, wäre zu überlegen, ob und inwieweit eine fachübergreifende Theoriebildung zum Identitätsgewinn und zur Identitätspflege des Fachgebietes auf dem Weg zu wahrer Interdisziplinarität beitragen könnte. Bevor über die Funktionalität eines derartigen Schrittes geurteilt werden kann, ist es sinnvoll erst einmal zusammenzutragen, welche Theoriebausteine von den beteiligten Natur- und Sozialwissenschaften in die gesundheitswissenschaftliche Theoriearbeit eingebracht werden können. Nach allem, was wir bisher über die Entstehung von Krankheiten und über die Gesundheit, insbesondere deren Entstehungs-, Aufrechterhaltungs- und Förderungsbedingungen gelernt haben (Hurrelmann 2000), sollte sich diese Suche auf wenigstens vier nicht nur krankheits- sondern auch gesundheitsrelevante Themengebiete konzentrieren (⊡ Abb. 6.2): ▬ die Bio-Physik des Menschen, ▬ den psycho-somatischen Gesamtorganismus, ▬ das Verhältnis von menschlichem Organismus und Umwelt und ▬ das Wechselspiel von körperlichen, seelischen und sozialen Einflussfaktoren im Lebenslauf. In ihrem Ergebnis wird sie zeigen, dass die meisten der unter dem Dach von Public Heath kooperierenden Wissenschaften, keinesfalls nur die Medizin und die Naturwissenschaften, auf theoretische Prämissen beruhen oder Theoriefragmente benutzen, die der Krankheitsforschung entnommen sind und für den Einsatz in den Gesundheitswissenschaften adaptiert werden müssen.
6.5.1 Theorie der Somatogenese
Der tagtäglich auf sehr direkte Weise mit den Leiden von Menschen konfrontierten und zum Handeln genötigten Ärzteschaft ist es erst spät bewusst geworden, dass auch und gerade ihr Umgang mit Patienten und ihren Befindlichkeiten, von Theorien über die Entstehung von Krankheiten und das Verhalten ihrer Träger bestimmt gewesen ist. Dabei
172
Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
Somatogenese Körper
Sozialisationsgenese Lebenslauf
Person Psychosomatogenese
System
Umwelt
Soziopsychosomatogenese
6 ⊡ Abb. 6.2. Die vier Eckpfeiler und Themengebiete gesundheitswissenschaftlichen Theoretisierens
hat dieses auf die Krankheit und deren Beseitigung fixierte Krankheitsverständnis der modernen Medizin, wie die an der Wechselbeziehung zwischen Denken und Handeln, Sein und Bewusstsein von jeher interessierten Sozialwissenschaften seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts herausgearbeitet haben (Illich 1977), nicht nur als Erklärungs-, sondern auch als Ausgrenzungs- und Selbstschutzmechanismus gewirkt – oder anders ausgedrückt: als ein Mechanismus, der Ärzte zunehmend davon befreite, sich mit den weniger profitablen psychischen und sozialen Komponenten des Erkrankungs- und Behandlungsgeschehens auseinanderzusetzen und sie in ihr berufliches Handeln mit einbeziehen zu müssen. Die Theorie der Somatogenese, die wissenschaftliches Denken und ärztliches Handeln nicht in intendierter, wohl aber in Kauf genommener Weise bis in die Gegenwart hinein bestimmt, ist über die Jahrhunderte in ihrer Grundstruktur recht einfach geblieben. Das ist umso bemerkenswerter, als es den Natur- und den Sozialwissenschaften gerade in letzter Zeit gelungen ist, eine erstaunliche Vielzahl neuer Erkenntnisse zusammenzutragen, die die Vielfalt bio-physiologischerer und psycho-sozialer Krankheitserreger und deren feinmechanisches, bis in die kleinsten Bausteine des menschlichen Organismus nachweisbares Wirken betreffen. Bakterien, Viren oder Umweltnoxen – so die gängige Theorie – befallen aus zufälligen oder
selbst verschuldeten Gründen den menschlichen Organismus, der darauf – je nach Maßgabe des ihm eigenen und in seinem jeweiligen Zustand vom Menschen weitgehend selbst verantworteten Abwehr- oder Immunsystems mit Krankheit oder mit Nicht-Erkrankung reagiert (Münch u. Reiz 1996). Dem infolge eigenen Unwissens und/oder eigener Unvernunft von Krankheit Betroffenen oder Bedrohten obliegt es deshalb, im eigenen Interesse und im Interesse der Gesellschaft möglichst schnell zu genesen und künftig alles zu vermeiden, was die Gesundheit gefährden oder die Widerstandskraft des Körpers herabsetzen könnte. Um funktionsfähig zu bleiben kann sich die technisierte und arbeitsteilige Industriegesellschaft massenhafte Krankheit und Leistungsunfähigkeit nicht erlauben. Deshalb stellt sie den Menschen zur Krankheitsbewältigung eigens dafür ausgebildete, im schnellen Aufspüren und Beseitigen individueller Funktionsstörungen versierte Experten mit Versorgungsauftrag und Weisungsbefugnis zur Seite. Diese vom Primat der körperlichen Prozesse her gedachte Theorie wird, wie der Sozialmediziner und Epidemiologe Hans Schaefer in einem seiner Zeit viel beachteten Beitrag zur Ätiologie koronarer Herzkrankheiten gezeigt hat, auch dazu verwendet, um sich über die Entstehung nichtübertragbarer Krankheiten behandlungsleitende Klarheit zu verschaffen (Schaefer 1976). Dort
173 6.5 · Theoretische Grundlagen
machte der Autor den Versuch, die Vielfalt verschiedenartiger inzwischen identifizierter Teilursachen des Herzinfarktes in eine Hierarchie von Risikofaktoren dritter (physio-pathologischer), zweiter (verhaltensbedingter) und erster (soziokultureller) Ordnung einzubringen. Dabei fällt auf, dass die physio-pathologischen Risikofaktoren ihren hervorragenden Status innerhalb dieser Hierarchie dem Kriterium höchster Evidenz und ärztlicher Zugänglichkeit verdanken, während auf den Rängen zwei (verhaltensbedingte) und eins (sozio-kulturelle Risikofaktoren) abnehmende Evidenz und sinkende ärztliche Zuständigkeit miteinander korrelieren. Das größere Manko dieses und anderer Ansätze mit ähnlicher Zielrichtung besteht allerdings darin, dass man mit ihrer Hilfe allenfalls erklären kann, wie sich aus der Wechselwirkung biologischer, chemischer und physikalischer Prozesse arteriosklerotische und schließlich herzinfarktoder schlaganfallrelevante Symptome entwickeln. Wie sich aber psychisch und soziale Prozessoren zu einander verhalten müssen, um im Wechselspiel mit Risikofaktoren körperlichen Ursprungs zum Krankheitsereignis zu führen und wie sie mit einander arrangiert werden müssen, um das Gegenteil, nämlich die Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines Infarkt- oder Schlaganfallereignisses zu bewirken, ist ohne belegte Annahmen auf der theoretisch nächst höheren Erklärungsebene nicht zu erkennen. Im Blick auf den sich gegenüber materieller und sozialer Umwelt verhaltenden Gesamtorganismus muss diese Ebene sowohl die verursachenden als auch die verhindernden Wirkungen der menschlichen Psyche mit einbeziehen.
6.5.2 Theorie der Psychosomatogenese
Diese Ebene ist von der Psychosomatik, einer zwar oft zitierten, versorgungstechnisch aber immer noch randständigen Sparte der modernen Medizin in krankheitsentstehungstheoretisch bahnbrechender Weise betreten worden. Für die Gesundheitswissenschaften ist ihre Annahme vom prinzipiellen Zusammenwirken weitgehend unbewusster physiologischer (vegetativer) Faktoren auf der einen
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und halb- bis unterbewusst wirkender psychischer Faktoren auf der anderen Seite noch wichtiger geworden als die von Psychologie und Psychoanalyse erarbeiteten Theorien über die Entstehung und relative Heilbarkeit psychischer Erkrankungen. Der Hauptgrund dafür ist aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Umstand zu sehen, dass mit Hilfe einer Theorie der Psychosomatogenese eine Verbindung zwischen körperlichem und seelischem Geschehen hergestellt werden kann – und zwar nicht nur in Richtung einer komplexeren Krankheitslehre, sondern auch in Richtung eines umfassenderen Verständnisses der Gesundheit und ihrer Einflussfaktoren. Der Krankheitsentstehungs- und Therapieforschung ist sie seit ihrer Formulierung dabei behilflich gewesen, vor allem den Verlauf chronischer Erkrankungen, insbesondere ein Teilstück der von Medizinern bemerkenswerter Weise als »stumme« bezeichneten Anfangsstrecke besser zu verstehen. Public-Health-Experten wird sie mit weitaus mehr Informationen über die wichtigsten Konstruktionsmomente von Gesundheit und mit zahlreicheren Ansatzpunkten für deren Förderung versorgen, als dies von der singulären Sichtweise einer Somato- oder Psychopathologie her kommend, möglich wäre. Vom Standpunkt einer auf das Verständnis des körperlich seelischen Gesamtgeschehens zielenden Einheitstheorie (Rothschuh 1973) stehen ängstigende oder Wohlbefinden hervorrufende Eindrücke mit einer Reihe uns bekannter Körperreaktionen, wie etwa dem Erröten, dem Schweißausbruch, der sog. Gänsehaut usw. keineswegs in zufälliger, sondern in direkter ständiger Verbindung. Dass dieses so ist, und von den Betroffenen auch kaum beeinflusst werden kann, liegt an einem psychoneurophysiologischen Reizleitungsgeschehen, an dem nach Auffassung der Forscher (Schäfer u. Heinemann 1975), Hypophyse, Hypothalamus und Nebennierenrinde als psycho-neurophysiologische Transmitter beteiligt sind. Nach der im Einzelnen noch überprüfungsbedürftigen Theorie verläuft die menschliche Erfahrungsverarbeitung in gesunden, d. h. unauffälligen Bahnen, wenn die Menschen ihr Verhältnis zu einer ihnen als bedrohlich oder als angenehm empfundenen sozialen oder materialen Umwelt über
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6
Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
diese vegetative, vor allem auf der Ausschüttung von Hormonen beruhende Schiene regeln. Dies betrifft die Verdauung, die Atmung, den Stoffwechsel, die die Überlebensfunktionen des Organismus gewährleisten. Bedingung dafür war und ist allerdings, dass die Erhöhung des Blutgerinnungsfaktors, die Ausschüttung von Adrenalin, den Anstieg des Blutdrucks usw., mittels deren wir in menschheitsgeschichtlich weit zurückliegenden Zeiten auf Stresszustände zu reagieren pflegten, die der Jagd oder dem Kampf vorausgingen und mittels deren wir noch heute – in einer Art ReizReaktions-Generalisierung – auf jedes stärkere Anspannungserleben reagieren. Sie können entweder – wie ehedem – durch Angriff, Flucht oder alsbaldigen Verzehr der Beute oder durch äquivalente Kompensationshandlungen abgebaut werden. Eben diese Art des organischen Abbaus der zur effektiven Gefahrenabwehr ausgeschütteten Reagenzien ist in unserer zivilisierten, durchorganisierten Gesellschaft kaum noch möglich. Normen und Konventionen verhindern nicht nur, dass wir auf Bedrohungsempfindungen mit Gegengewalt, spontaner Flucht oder spontaner Entspannung reagieren. Wir haben auch den Umgang mit vielen Situationen, die Angst in uns auslösen an andere, spezielle Agenturen und Experten abgegeben. Die Folge davon ist nicht nur alltägliche Angst, mit deren psychopathologischer Variante, der neurotischen Angst vor der Angst, sich die PsychoTherapeuen in zunehmendem Maße beschäftigen müssen. Auch die vegetativen Reaktionen chronifizieren bis zu einem Ausmaß, das über kurz oder lang die Plastizität und Reagibilität des menschlichen Organismus überfordert (Mitscherlich 1975). Der Körper wird von unabgebauten Reagenzien überschwemmt, die ihrerseits dazu führen, dass sich das Kreislaufsystem, der zum Überleben wichtiges Prozess der Zellteilung und -erneuerung, die bedarfsangemessene Stoffwechselregulation usw. in unumkehrbarer, schließlich autoaggressiver Weise verändern. > Den Gesundheitswissenschaften hat diese von Psycho- und Somatopathologen in den 60er Jahren entwickelte und seitdem immer wieder bestätigte und weiterentwickelte Theorie (Brede 1980) dabei geholfen, neben
zahlreichen sog. Risikofaktoren für alle wichtigen chronischen Erkrankungen auch schützende Gesundheitspotenziale sowohl auf der körperlichen, als auch auf der Verhaltensebene zu identifizieren. Gleichzeitig hat die Erklärungsarbeit, die mit ihrer Hilfe es möglich wurde, dazu geführt, das Phänomen der Stressgenese und -regulation ins Zentrum der Public-Health-Forschung zu rücken.
6.5.3 Theorie der Soziopsychosomato-
genese Neueren Datums sind Theorien der Soziopsychosomatogenese, deren weiterführenden Leistungen vor allem darin bestehen, krankheitsverursachende Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die in der sozialen Umwelt angelegten Erkrankungsrisiken und Gesundheitspotenziale identifizieren und in ihrer Wirkung beschreiben zum können (Schnabel u. Hurrelmann 1999). Ihnen verdanken wir profunde Einsichten über ▬ die pathogenen und salutogenen Einflüsse des Stressfaktors auf die Entstehung und den Verlauf moderner Massenkrankheiten (Selye 1976), ▬ die Art und Bedeutung individueller Fähigkeiten, die zur Abwehr von Gesundheitsrisiken und zur Bewältigung von Krankheiten (coping) eingesetzt werden können (Pearlin u. Schooler 1978), ▬ die regulativen Funktionen der Unterstützung durch andere (social support) bei der Krankheitsentstehung und -überwindung (Badura 1981) sowie ▬ den Einfluss von sozialen Systemen auf den Verlauf von Krankenkarrieren und auf die gesundheitsgefährdenden bzw. -fördernde Organisation menschlichen Zusammenlebens. Entscheidend für die Einbeziehung der Lebensbedingungen in das Gesamtspektrum gesundheitsgefährdender und -fördernder Faktoren waren die Stresstheorie des Psychologen Hans Selye (1976), die Transaktionstheorie von Richard S. Lazarus (Lazarus u. Folkman 1984) und die Gesundheitsentstehungstheorie (Salutogenesetheorie) Aaron Antonovskys (1987). Denn ihnen gelingt, was aus
175 6.5 · Theoretische Grundlagen
dem Blickwinkel der Theorien der Somato- und der Psychosomatogenese nicht möglich war, nämlich die soziale Organisation menschlichen Lebens und Arbeitens als prinzipiell problematische, und von daher das Krankwerden ebenso wie das Gesundbleiben als mögliche Auseinandersetzungsformen mit dieser Lebens- und Arbeitswelt zu begreifen. > Folglich gehen die Theorien von Selye, Lazarus, Antonovsky u. a. davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch sein Leben in Gesundheit planen und realisieren kann umso größer ist ▬ je mehr Belastungen vom Menschen als bedrohlich wahrgenommen werden, ▬ je mehr aufgrund solcher u. a. günstiger persönlicher Voraussetzungen von ihnen bewältigt, d. h. Eustress bleiben und nicht zu pathogenem Disstress werden, ▬ mit je mehr Entlastung durch andere Menschen sie dabei rechnen können, ▬ je mehr es diesen Menschen außerdem gelingt, nicht nur Hindernisse zu überwinden, sondern auch diejenigen Chancen zu nutzen, die ihnen als hoch- oder niedrig gestelltem Mitglied der Gesellschaft in unterschiedlich hohem Ausmaß zur Verfügung stehen und ▬ je mehr sie sich selbst vom Sinn dieses alltäglichen Überlebenskampfes und seiner Bewältigbarkeit zu überzeugen vermögen.
Insbesondere Antonovsky, der dem erwähnten Akt der persönlichen Sinngebung mit dem Begriff des »sense of coherence« (SOC) nicht nur einen Namen gab, sondern einen zentralen Stellenwert für die Erklärung des erstmalig von ihm als Salutogenese bezeichneten Gesundheitsentstehung verschaffen konnte (Faltermeier 1994), hat zugleich auch auf einen weiteren entstehungsanalytisch relevanten Faktorenkomplex verwiesen, der mit den Mitteln der Theorie der Soziopsychosomatogenese allein nicht hinreichen verstanden werden kann. Dabei geht es um die plausible, aus der Psychologie schon länger bekannte Tatsache, dass sowohl die Überzeugung, auf eine bestimmte, u. a. auch gesunde Weise leben zu sollen, als auch die Fähigkeit, dieses tatsächlich tun zu können, unter individuell und sozial günstigen Bedingungen vermittelt und
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erlernt werden muss. Speziell von Vertretern dieses Faches entwickelte Ansätze, wie etwa das »Health Belief Modell«, die »Theory of Planned Behavior« oder die »Stages of Change Theory« haben sich mit der motivationalen Seite dieses Problems beschäftigt (Leppin 2002). Darüber hinaus aber verändern sich die Lernund die Realisierungsbedingungen für gesundes Verhalten auch im Lebenslauf, und zwar auf eine Weise, die sich mit den Mitteln der Sozialisationstheorie und -forschung besonders gut ergründen lässt.
6.5.4 Entwicklung von Risiken und
Potenzialen im Lebenslauf – Theorie der Sozialisationsgenese Sozialisation nennt sich ein von Lern- und Sozialpsychologen, Pädagogen und Soziologen erarbeitetes Konstrukt, mit dem die Gesamtheit beiläufiger und intendierter Erfahrungs- und Erfahrungsverarbeitungsprozesse beschrieben und untersucht werden kann, die Menschen im Zuge ihres Heranwachsens zu überlebensfähigen Mitgliedern absolvieren (Hurrelmann u. Ulich 1991). Für die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft ist das Gelingen jedes einzelnen dieser Prozesse dermaßen wichtig, dass diese nichts dem Zufall überlässt. Stattdessen haben sich mit der Familie, Schule, Berufsausbildung, Arbeitswelt sog. Sozialisationsagenturen herausgebildet, die den Nachwuchs einer mehr oder weniger direkten Kontrolle unterziehen. Sie bedienen sich professioneller (Lehrer, Ausbilder, Vorgesetzte usw.) und nicht professioneller Akteure (Eltern, Freunde, ehrenamtliche Helfer usw.), zu deren wichtigsten Aufgaben gehört, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen eben jene Mischung an adaptiven und selbstbestimmten Verhaltensfähigkeiten zu vermitteln, die sie für ein objektiv funktionierendes und subjektiv befriedigendes Zusammenleben und -arbeiten benötigen. Zur besseren entstehungsund verlaufsanalytischen Durchdringung des Krankheits- und Gesundheitsgeschehens wird das Sozialisationsparadigma seit Ende der 80er Jahre vor allem in Deutschland verwendet (Hurrelmann 1988, Schnabel 1988).
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6
Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
Als vorübergehendes Fazit dieser Forschungen und der damit einher gehenden Theoriebildung kann vorerst festgehalten werden, dass der Sozialisationsprozess mit der Herstellung und Aufrechterhaltung von Gesundheit in dreifacher Weise verbunden ist: ▬ mit dem Erlernen und Praktizieren von Verhaltensweisen, die auf die Bewältigung von Erkrankungsrisiken und Krankheitsepisoden gerichtet sind, ▬ mit dem informations- und beobachtungsgeleiteten Erlernen von Verhaltensweisen, die der Sicherung der Gesundheit dienen und ▬ mit dem Erlernen und Praktizieren all jener Handlungskompetenzen, mittels deren es den Menschen im Laufe ihres Lebens gelingt, sich mit den Herausforderungen der Umwelt auf eine gesundheitsfördernde, d. h. für sie befriedigende und gleichzeitig sozialverträgliche Weise auseinanderzusetzen. > Der Theorie entsprechend lebt umso gesünder und widersteht den sich im Lebenslauf ansammelnden bio-physiologischen, psychosozialen Belastungen umso eher, wer ▬ im Zuge seiner primären, vorwiegend durch die Herkunftsfamilie organisierten Sozialisation möglichst viel Zuwendung erfahren und Selbstvertrauen entwickeln kann, ▬ im weiteren Verlauf und mit Hilfe der sog. sekundären Sozialisationsinstanzen (Schule, Berufsausbildung, Beruf usw.) ein möglichst umfängliches Repertoire an Selbstverwirklichungsfähigkeiten entwickeln und einsetzen kann, ▬ bei diesem Lern- und Umsetzungsgeschehen stets mit einer seinem Entwicklungsstand entsprechenden Unterstützung durch ihm nahe stehende Andere rechnen darf und ▬ mit ihrer Hilfe oder allein in der Lage ist, subjektiv befriedigende Handlungsziele zu entwickeln, die der Selbstverwirklichung und dem gesundheitsdienlichen Erfahrungsaustausch (Kommunikation) mit anderen dienen.
Wichtig an dieser Theorie war und ist zum einen, dass es sich bei der Gesundheit nicht bloß – wie die Experten der Weltgesundheitsorganisation dies in ihrer bekannten Definition formulierten (WHO 1946) – um einen Zustand handelt. In diesem Ansatz wird sie vielmehr als abhängiges, d. h. auf der Wechselwirkung körperlicher, seelischer und sozialer Konstruktionselemente beruhendes Geschehen begriffen, im Rahmen dessen sie immer wieder neu, und zwar unter Bezugnahme auf die sich im Lebenslauf verändernden Kompetenzen der Individuen und die sich verändernden Rahmenbedingungen ihres Handelns erarbeitet werden muss. Zum anderen kann die Gesundheitsförderung als Interventionskonzept von der Deutungsfigur der Sozialisationsgenese erheblich profitieren. Sie versorgt nicht nur die Förderungsakteure mit genauem Wissen darüber, was die Gesundheitspotenziale bestimmter Individuen und Gruppen sind und wie sie entstehen. Sie macht es darüber hinaus auch noch möglich, was der überwiegend angebotsorientierten Präventionspolitik bisher noch schwerfällt, nämlich bedürfnisorientierte, d. h. beispielsweise problem-, kontext- und altersangemessene Förderungsprogramme zu konzipieren und durchzuführen (Schnabel 2001).
6.6
Zentrale Fragestellungen und Lösungsansätze in Gesundheitswissenschaften
Wie bei vielen aus den USA stammenden Vorbildern handelt es sich bei der als Public Health (wörtlich: öffentliche Gesundheit) bezeichneten Wissenschaftssparte um ein akademisches Forschungs- und Lehrgebiet, das sich mit dem deutschen Begriff »Gesundheits-Wissenschaft« nur unzureichend übersetzen lässt. Dem wesentlich pragmatischeren amerikanischen Wissenschaftsverständnis entsprechend, ist Public Health immer beides, Grundlagen- und Anwendungswissenschaft, Wissenschaft und Praxisberatung zugleich. Das gilt auch und besonders für die vier Hauptgebiete der Forschung und Lehre, die sich in Anlehnung an die wesentlich längeren Erfahrungen der US-Amerikaner und eine darauf aufbauende, sehr
177 6.6 · Zentrale Fragestellungen und Lösungsansätze in Gesundheitswissenschaften
viel jüngere deutsche Entwicklungsgeschichte, herausgebildet haben.
6.6.1 Krankheits-/Risikoverteilungs-
forschung und Gesundheitsberichterstattung Die Epidemiologie (Krankheitsverteilungsforschung) und das auf ihren Befunden aufbauende Praxis- bzw. Berufsfeld der erst kürzlich so benannten Gesundheitsberichterstattung gehören zu den historisch ältesten Forschungs- und Anwendungszweigen der mit öffentlicher (im Unterschied zu individueller) Gesundheit befassten und von der Politik genutzten Wissenschaften. Zwei Traditionslinien mündeten in sie ein und üben noch heute einen erheblichen Einfluss darauf aus, in welchem politisch-sozialen Kontext, von welchen Berufsgruppen, zu welchen Zwecken und mit welchen Methoden die Erforschung der gesellschaftlichen Verteilung von Krankheiten und Gesundheitsrisiken in Deutschland betrieben wird. Die eine Linie geht zurück auf die Medizinalstatistik, die in der Klassik der europäischen Sozialmedizin wurzelt und einen ihrer Entwicklungshöhepunkte in Deutschland während der Weimarer Republik erlebte, als hier mit dem Aufbau des heute noch existierenden öffentlichen Gesundheitswesen in staatlicher Verantwortung begonnen wurde. Die zweite Entwicklungslinie lässt sich bis in die Frühgeschichte der unter dem Namen »Chicago School of Sociology« bekannt gewordene, sozialpolitisch engagierte US-amerikanische Sozialforschung zurückverfolgen. Als einer der ersten Wissenschaftszweige dieser Art hat sie sich seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf empirisch-systematische Weise mit den Hintergründen der Verteilungsmuster psychischer Erkrankungen in den großstädtischen Ballungszentren Nordamerikas interessiert und sichere Belege für die Schichtabhängigkeit von Gesundheitsgefährdungen zusammengetragen. In der modernen (Sozial-)Epidemiologie, die sich bemüht, beide Traditionslinien miteinander zu verbinden, unterscheidet man zwischen einer deskriptiven, hauptsächlich auf die Identifikation unzufälliger Verteilungsmuster von Erkrankungen
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und Gesundheitsrisiken gerichteten und einer analytischen Variante. Deren Aufgabe ist es vor allem, in Weiterverfolgung der Deskriptionsergebnisse nach den Ursachen der Verteilung und nach dem komplizierten Zusammenwirken sozialer, verhaltensbedingter und körperlicher Faktoren bei der Entstehung und dem Verlauf übertragbarer und nicht übertragbarer Krankheiten weiter zu fragen. Dabei hat die Epidemiologie eine Reihe von Messinstrumenten und -methoden entwickelt, die in der Verteilungsforschung und in der Politikberatung dazu verwendet werden, die Wahrscheinlichkeit für das nichtzufällige Auftreten krankhafter oder gesundheitsgefährdender Phänomene und deren Abhängigkeit von zeitgleich beobachteten sozialen Ereignissen zu überprüfen. Wenn z. B. das Aufkommen von Menschen mit erhöhtem Blutdruck in einer Gruppe von Herzinfarktpatienten höher ist als in einer Gruppe von gesunden Personen, kann mit Hilfe entsprechender Schätzverfahren geklärt werden, ob und in welchem Ausmaß Bluthochdruck und die Entstehung von Herzinfarkt ursächlich miteinander zusammenhängen und wie stark sich das Erkrankungsrisiko eines Patienten gegenüber einem Patienten ohne Bluthochdruck erhöht. Mittels sog. Interventionsstudien mit quasi-experimentellem Design, kann dann die Verursachungsthese von der Behandlungsseite her überprüft und darüber hinaus die Frage beantwortet werden, ob es möglich ist, durch die vorbeugende Verabreichung von bestimmten Medikamenten oder die Durchführung anderer Präventionsstrategien Effekte von bevölkerungsmedizinisch relevanten Ausmaßen zu erzielen. Mit identisch zusammengesetzten Bevölkerungsgruppen, von denen man die eine z. B. mit blutdrucksenkenden Medikamenten oder anderen Präventionsmaßnahmen versorgte und die andere nicht, und die man dann längerfristig im Hinblick auf die Vorkommenshäufigkeit von Herzerkrankungen und Herzsterblichkeit beobachtet hat, ist dieses in den USA mehrfach und neuerdings auch in Deutschland realisiert worden; oft allerdings mit wenig überzeugendem Erfolg. So hat die Epidemiologie im Laufe der Zeit eine Vielzahl von Determinanten auf der physiologischen, auf der Verhaltens- und auf der Verhältnisebene (sog. Risikofaktoren) identifizieren können,
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Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
die meist nicht als Einzelne, sondern im Verein kombiniert mit anderen bei der Entstehung gegenwärtig dominierender Massenkrankheiten zusammenwirken. Dazu gehören z. B. für den Bereich degenerativer Herz-Kreislauf-Erkrankungen: ▬ auf der körperlichen Ebene neben unklaren genetischen Dispositionen vor allem Adipositas, Bluthochdruck, Hypercholesterinämie, Blutzucker, ein hoher Blutgerinnungsfaktor, Arteriosklerose usw., ▬ auf der Verhaltensebene neben defizitärer Stressbewältigung vor allem Rauchen, quantitativ und qualitativ falsche Ernährung, mangelnde Bewegung, Alkoholmissbrauch usw. und ▬ auf der gesellschaftlichen Ebene Belastungen bis zum Disstress, die mit Armut, Arbeitslosigkeit, mit Konflikten des Privatlebens, aber auch mit Unter- und Überforderung im Beruf korrelieren. Ihre Verteilung wiederum kann gemessen werden und gibt der Gesundheitspolitik und den Akteuren innerhalb des Gesundheitssystems die nötigen Informationen an die Hand, mit Hilfe deren sie entscheiden können, ob, in welchem Ausmaß und zu welchem Zeitpunkt durch welche (kurative, rehabilitative oder präventive) Dienstleistungen auf Gefährdungspotenziale derartigen Zuschnitts reagiert werden soll.
6.6.2 Krankheits-/Gesundheits-
entstehungsforschung und Gesundheitsförderung Ausgehend von den durch die Epidemiologie ermittelten Verursachungsfaktoren hat sich die Krankheitsentstehungsforschung, die sich erst seit kurzem mit den Herstellungs- und Aufrechterhaltungsbedingungen der Gesundheit beschäftigt, zur Basisdisziplin eines der traditionsreichsten Praxisfelder von Public Health, der Gesundheitsförderung (health promotion) entwickelt. Als ein zunächst mit medizinsoziologischen und -psychologischen Erkenntnismitteln operierender Forschungszweig hatte die Krankheitsentstehungsforschung schon früh darauf hingewiesen, dass neben den genetischen und den individuell erworbenen auch soziale
Faktoren eine wichtige Rolle bei der Entstehung und dem Verlauf von Krankheiten spielen.
Soziale Faktoren der Krankheitsgenese
▬ Einstellungen bestimmter Bevölkerungsgruppen zum Umgang mit Krankheit und Gesundheit (Krankheits-, Gesundheitskulturen) ▬ Sprachliche und nichtsprachliche Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten ▬ Regionale Ungleichverteilung von Einrichtungen der stationären und ambulanten Krankenversorgung ▬ Bedingungen, unter denen Patienten aus unterschiedlichen Herkunftsschichten in stationäre Einrichtungen (Krankenhäuser, geschlossene psychiatrische Anstalten, Pflegeheime usw.) eingewiesen werden.
Inzwischen hat man außerdem begonnen, sich im Interesse der Verbesserung des patho- und salutogenetischen Modellwissens auf die Feinanalyse psychosomatogener Verursachungsketten einzulassen. Dabei konnten Krankheits- und Gesundheitswissenschaftler von der Therapieforschung (Schnabel 1988) und der Methodenvielfalt der Gesundheitswissenschaften (Hurrelmann 2000) enorm profitieren. Zu den größten Erkenntnisfortschritten dieser Richtung, die sich damit zugleich auch als Gewinn für die seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland immer wichtiger werdende Präventions- und Gesundheitsförderungsforschung erwies, gehörte nicht nur ein differenziertes Wissen darüber, wie körperliche, seelisch und gesellschaftliche Determinanten im Prozess der Patho- und Salutogenese zusammenwirken. Vor allem anhand von Ergebnissen der systemund sozialisationsanalytischen Sozialforschung konnte gezeigt werden, dass ▬ sie auch relativ unabhängig voneinander und im Lebenslauf variieren können, ▬ ein großer Teil der individuell wirksamen Determinanten innerhalb sozialer Kontexte und unter dem Einfluss wichtiger Personen gelernt wird,
179 6.6 · Zentrale Fragestellungen und Lösungsansätze in Gesundheitswissenschaften
▬ dabei Fehler gemacht und als Folge davon nachhaltige Gesundheitsdefizite und Erkrankungsrisiken entstehen und ▬ diesen durch Einflussnahme auf das primäre Lerngeschehen vorgebeugt oder sie durch korrigierende Interventionen im späteren Lebenslauf kompensiert werden können.
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▬ Nachhaltigkeit (d. h. auf die Entwicklung von sich selbst tragenden Strukturen und auf die Ausbildung von zur Selbsthilfe fähigen Menschen gerichtet).
6.6.3 Gesundheitssystemanalyse
und -gestaltung Aufbauend auf diesem Wissen haben sich Präventionsstrategen in Deutschland, vornehmlich im Auftrag der Krankenkassen, seit Mitte der 80er Jahre darauf konzentriert, gesunde (Primärprävention) und bereits erkrankte (Sekundär- und Tertiärprävention) Menschen darüber aufzuklären, was getan werden muss, um ihr Leben risikobewusst zu organisieren und ihnen die dazu erforderlichen Vermeidungsfähigkeiten an die Hand zu geben (Laaser u. Hurrelmann 1998). In Ergänzung dazu haben sich die Gesundheitsförderungsakteure um die sozialen Rahmenbedingungen gekümmert, unter denen Gesundheitsfähigkeit erlernt und verwirklicht wird. Dafür haben sie besondere Methoden entwickelt, mit denen es nachgewiesenermaßen gelingt, diese Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Menschen tatsächlich ein gesünderes Leben zu leben vermögen, ohne dabei die negativen Sanktionen einer prinzipiell ungesund organisierten sozialen Umwelt befürchten zu müssen. Dank einer stark verbesserten Grundlagenforschung (Klotter 1997) gelingt es beiden Expertengruppen, immer mehr Maßnahmen in fast allen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen (sog. Settings), z. B. in Schulen, Betrieben, Krankenhäusern und Kommunen, so durchzuführen, dass diese den inzwischen bekannten Kriterien für die erfolgreiche Durchführung von Gesundheitsförderung genügen (Schnabel u. Hurrelmann 1999). > Die Kriterien erfolgreicher Gesundheitsförderung lauten:
▬ Sachangemessenheit (d. h. auf nachgewiesene Problemlagen mit Maßnahmen reagieren, die für eine Lösung wirklich geeignet sind). ▬ Bedarfsorientierung (d. h. maßgeblich an den Erfahrungen und der unmittelbaren Lebenswelt der Adressaten orientiert, ohne deren Veränderungspotenziale zu überfordern).
Auch die Gesundheitssystemanalyse als eines der neueren, immer wichtiger werdenden Forschungsund Anwendungsfelder der Gesundheitswissenschaften, hat seine Wurzeln in der Medizinsoziologie und -psychologie. Ihre bis in die 50er Jahre zurückgehende Aufgabe war es zunächst gewesen, der Ärzteschaft im Rahmen der Medizinerausbildung eine Vorstellung davon zu vermitteln, in welch starkem Maße die Qualität ihres künftigen beruflichen Handelns durch psychosoziale, von ihnen nur bedingt beeinflussbare Faktoren mitbestimmt wird (Ferber 1973). Mittlerweile ist gesundheitssystemanalytisches Wissen für die Beantwortung noch zentralerer Fragen wichtig geworden. Dazu gehören diejenigen nach der Finanzierbarkeit und nach der Qualität ärztlichen Handelns ebenso wie Frage danach, ob der herkömmliche, inzwischen zu Rechtpositionen und machtvollen Strukturen erstarrte medizinische Dienstleistungssektor in Zukunft noch geeignet sein wird, den Herausforderungen zu begegnen, die auf unsere Gesellschaft infolge der Veränderungen im Spektrum moderner Massenkrankheiten und des demographischen Wandels zukommen werden. > Die Gesundheitssystemanalyse setzt sich dabei mit den historischen, politischen, ökonomischen, strukturellen und organisatorischen Dimensionen etablierter Versorgungssysteme, d. h. vorzugsweise mit solchen Bestimmungselementen auseinander, die nichts oder nur wenig mit der praktizierenden Medizin im engeren Sinne zu tun haben und dennoch für die Handlungsqualität ihrer professionellen Akteure von größter, vermutlich noch zunehmender Bedeutung sind (Arnold 1998).
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Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
Da es sich bei den oben erwähnten Fragen um Problemlagen handelt, mit denen sich die Versorgungspolitik in den USA und in nahezu allen entwickelten Industrieländern, vornehmlich aus Kostengründen auseinandersetzen muss, hat sich neben der jeweils nationalen eine international vergleichende Gesundheitssystemforschung (International Public Health) etabliert. Sie wird nicht nur deshalb immer wichtiger für Wissenschaft und Praxis, weil sich gezeigt hat, dass die verschiedenen Länder und Systeme von einander lernen können. Auch beim Export von Versorgungs- und Verwaltungs-Know-how in andere weniger entwickelte oder um den Neuaufbau nach politischen Umbruchphasen (z. B. in Osteuropa) bemühte Länder, hat sich der internationale Erfahrungsaustausch bewährt, weil auf diese Weise verhindert werden kann, dass sog. Schwellen- und Entwicklungsländer bei ihren Auf- und Ausbaubemühungen die Konstruktionsfehler der Industrieländer wiederholen. Einerlei ob national oder international operierend hat sich auch die Gesundheitssystemanalyse in zwei Richtungen entwickelt, die etwas über die Hauptprobleme aussagen, mit denen die Kostenträger und die Manager des Versorgungssystems überall auf der Welt zu kämpfen haben. Die eine Richtung wird als Versorgungsforschung bezeichnet. Sie konzentriert sich darauf, die verschiedenen zwischen den Dienstanbietern (Ärzte, Therapeuten, Pflegepersonal usw.) auf der einen und den Konsumenten (potenzielle und tatsächliche Patienten) kurativer Dienstleistungen ablaufenden Prozesse darauf hin zu untersuchen, ob und inwieweit sie die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen. Außerdem bemühen sich die Versorgungsforscher – wo immer diese aufgrund ihrer Basisrecherchen als nötig erweisen sollte – durch geeignete Erfolgsbewertungs-(Evaluations-)Methoden und Optimierungsvorschläge zur Qualitätsverbesserung der Dienstleitungen beizutragen. Mit einer anderen Schwerpunktsetzung kümmert sich die Gesundheitsökonomie als die zweite Richtung der Gesundheitssystemanalyse vor allem um das volkswirtschaftlich immer wichtiger werdende Verhältnis zwischen den Kosten und dem Nutzen erbrachter Versorgungsdienste. Ihre
Untersuchungen haben zum einen mit der Identifizierung kostentreibender Steuerungsdefizite in der organisierten Krankenversorgung zu tun. Zum Anderen betrachtet es die ökonomisch ausgerichtete Systemforschung als ihre selbstverständliche Aufgabe, der Gesundheitspolitik und den im Gesundheitswesen tätigen Akteuren Vorschläge zu unterbreiten, wie diese Defizite beseitigt und das Versorgungsgeschehen effizienter organisiert werden kann. Zu den von ihr beschriebenen Problemen, die im Interesse eines sozial verträglichen Kostenmanagements einer dringenden Bearbeitung bedürfen, gehören (Sachverständigenrat 2001): ▬ die überwiegend kurative Ausrichtung des Versorgungssystems, die sich für den Umgang mit chronisch Kranken in zunehmendem Maße als ungeeignet erweist, ▬ der unzureichend geregelte und eine unnötige Vielzahl an kostentreibenden Doppelbehandlungen erzeugenden Übergange von der stationären in die ambulante Versorgungsphase, ▬ der ungenügend, z. T. falsch konstruierte und organisierte Rehabilitationssektor, der in Deutschland wesentlich häufiger als in den USA und in anderen europäischen Ländern in die teurere Frühberentung und nicht zurück ins Arbeitsleben führt sowie ▬ die unflexible, von systemischen und professionellen Selbsterhaltungsinteressen geprägte Angebotsstruktur medizinischer Dienstleistungen, die zu oft an den Patientenbedürfnissen vorbei geht und ein vermeidbares Zuviel an richtig-falschen und falsch-richtigen Behandlungskarrieren generiert. Aufgabe der Gesundheitspolitik, die zu den geborenen Abnehmern der von Systemanalytikern zusammengetragenen Befunde gehört, ist es, die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Experten, die etwas von der Funktion sozialer Systeme verstehen und wissen, wie man sie dazu bringt, sich den veränderten Aufgaben anzupassen, gestalterisch tätig zu werden. Zu diesen Experten gehören aber nicht nur die VersorgungsDienstleister selbst, die reichlich spät damit begonnen haben, sich im Kontext einer von ihnen sog. evidenzbasierten Medizin erstmalig Rechenschaft
181 6.6 · Zentrale Fragestellungen und Lösungsansätze in Gesundheitswissenschaften
über die Effektivität und Effizienz ihres beruflichen Handelns abzulegen. Manager von Krankenhäusern und anderen Einrichtungen, aber auch Koordinatoren von integrierten Versorgungsangeboten, die vor allem im Ausland unter Bezeichnungen wie »disease management«, »managed care« oder »total quality management« bekannt geworden sind, gehören ebenso zu den dankbaren Abnehmern systemanalytischer Befunde, wie Gesundheitserzieher, Präventions- und Gesundheitsförderungsexperten. Sie, deren Aufgabe vor allem darin besteht, Menschen und Systeme auf den bewussteren und kompetenteren Umgang mit Gesundheit hin zu orientieren, lernen nicht zuletzt mit Hilfe solcher Befunde, ob und wo sie die Hebel ansetzen müssen und – was nicht weniger wichtig ist – mit welchen Hindernissen sie bei der Durchsetzung ihrer Strategien und Ziele zu rechnen haben.
6.6.4 Gesundheitsbezogene
Umweltforschung und ökologische Gesundheitsförderung Die gesundheitsbezogene Umweltforschung, die sich aus der Umweltepidemiologie und -toxikologie heraus entwickelt hat, gehört ebenfalls zu den jüngeren Forschungs- und Anwendungsgebieten der Gesundheitswissenschaften (BraunFahrländer u. Künzli 2002). Als solches ist sie hauptsächlich damit beschäftigt, gesundheitliche Gefahren, die sich aus längerfristig bestehenden und wirkenden Situationen und/oder kurzfristig wirkenden Ereignissen in der materiellen Umwelt ergeben, ▬ zu erkennen und aufzuzeigen (dokumentieren), ▬ über die Wirkungsmechanismen aufzuklären, ▬ die daraus resultierenden Gesundheitsrisiken quantitativ und qualitativ einzuschätzen, ▬ Wege zur Reduzierung bzw. Beseitigung solcher Risiken zu benennen und ▬ Entscheidungsträger im Bereich von Umwelt und Gesundheit zu qualifizieren. Im Einzelnen analysiert die gesundheitsbezogene Umweltforschung den Einfluss künstlich (chemisch) erzeugter Produkte auf die Biosphäre. Sie überwacht den direkten und indirekten Einfluss
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von Emissionen/Einträgen auf die Gesundheit, die mit der Landwirtschaft, dem Bausektor, dem Wohnen, der Ernährung verbunden sind. Sie rekonstruiert umwelttoxikologische Wirkungsketten, die es Politikern und anderen Akteuren ermöglichen, kriseninterventiv und präventiv tätig werden zu können. Um dieses nicht unerheblich Aufgabenspektrum bewältigen zu können, hat die gesundheitsbezogene Umweltforschung nicht nur in der Mitarbeit an Gesetzeswerken zur Kontrolle von Umweltvergehen (z. B. Deutsche Gefahrenstoffverordnung) engagiert. Mit ihrem inhaltlichen Wissen (z. B. über Inkorporationswege) und ihren umwelttoxikologischen und -epidemiologischen Methoden hat sie außerdem zur Identifikation morphologischer, subjektiver und/oder klinisch-manifester Kurzund Langzeitwirkungen, zum Aufbau einer Regelberichterstattung (z. B. Umweltgutachten, Berichte) über den Zustand der wichtigsten Trägermedien (Luft, Boden, Wasser) beigetragen. Darüber hinaus hat sie, in Umsetzung der von der Weltgesundheitsorganisation durch ein weltweit unter dem Namen »Agenda 21« bekannt gewordenes Dokument (WHO 1993) angestoßene Umweltpolitik in Deutschland damit begonnen, die Konturen für ein brandaktuelles Anwendungsgebiet von Public Health, die umweltbezogene Gesundheitsförderung auszugestalten (Fehr et al. 1998). Augenblicklich konzentrieren sich deren Akteure, die von der Analyse von Umweltproblemen ebenso viel verstehen müssen wie von Anwendungsfragen, auf folgende Gebiete: ▬ den Aufbau einer nicht nur für Experten, sondern auch für Laien verständlichen und nutzbaren Risikoberichterstattung, hauptsächlich durch optimale Nutzung und sinnvolle Zusammenführung vorhandener Berichtssysteme, ▬ die Regelüberwachung der Haupteintragsmedien unter dem besonderen Gesichtspunkt ihrer kurz- und langzeitigen Einflüsse auf die Gesundheit der Menschen, ▬ die systematische, multimediale Aufklärung der Menschen über den Einfluss ihres Lebensstils (Ernährung, Wohnen, Abfallwesen, Verkehr usw.) auf die Umwelt und die Möglichkeiten einer umweltverträglichen Lebensführung sowie
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Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
▬ die Optimierung von Schutzmaßnahmen durch die Verbesserung von Rechtsnormen sowie die Definition und Einhaltungsüberwachung von Richtwerten.
6.7
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Entwicklungsperspektiven für die Gesundheitswissenschaften
Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass es sich bei den Gesundheitswissenschaften um einen für deutsche Verhältnisse relativ neuen Bereich von Forschung und Lehre handelt, der ▬ auf einer respektablen US-amerikanischen und deutschen Tradition gründet, ▬ für Theoretiker eine überaus lohnende, weil noch von vergleichsweise Wenigen angenommene Herausforderung darstellen kann, ▬ auf methodischem Gebiet das qualitativ Beste in sich vereint, was die unter dem Dach von Public Health zusammenarbeitenden Wissenschaften zu bieten haben und ▬ darüber hinaus nicht nur Erklärungen sondern auch neue Bearbeitungsmöglichkeiten für drängende Probleme anzubieten vermag, die moderne Gesellschaften im Interesse der Selbsterhaltung eigentlich nicht ungelöst lassen dürfen, die sie aber mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nicht lösen können. Damit erfüllen die Gesundheitswissenschaften fast alle derjenigen Voraussetzungen, die den sehr genauen Beobachtungen des Wissenschaftshistorikers und -soziologen Thomas Kuhn (1967) zufolge gegeben sein müssen, damit eine neue und durchsetzungsfähige Wissenschaft entstehen kann. In der Vergangenheit hat es sich bei dermaßen legitimierten Wissenschaften immer um Einzelwissenschaften (Medizin, Biologie, Ökonomie, Soziologie, Psychologie usw.) gehandelt. Für sie war es wichtig, auf einen eigenen Erkenntnisgegenstand, spezielle Methoden, eine genuine Theorieentwicklung und auf eine ihnen erst zuwachsende, später von ihnen selbst ausgebildete Expertenschaft verweisen zu können, um als Universitätswissenschaft akzeptiert zu werden und eine akademische Eigenständigkeit (Identität) ausbilden zu können.
Auch den Gesundheitswissenschaften wird im Interesse ihres Fortbestands und der Aufrechterhaltung ihres gesellschaftlich bedeutsamen Problemlösungspotenzials ein ähnlich gearteter Prozess der Akzeptanzbeschaffung nicht erspart werden können. Allerdings sollte sie dabei nicht wie die Einzelwissenschaften vorgehen, weil auf diese Weise ein interdisziplinäres Selbstverständnis weder entstehen noch aufrechterhalten werden kann. Sie werden ihre diesbezügliche Untätigkeit aber auch nicht damit rechtfertigen dürfen, dass jede der unter ihrem Dach kooperierenden Einzelwissenschaften selbst schon über eine monodisziplinäre Identität verfügt. Denn multi-oder transdisziplinäre, meist nur auf Zeit organisierte Zusammenschlüsse dieser Art tendieren dazu, wieder auseinander zu fallen, sobald das ehemals konstituierende gemeinsame Interesse an der Klärung bestimmter Forschungsfragen aufgrund veränderter Motivlagen bei den Kooperateuren oder veränderter Rahmenbedingungen seine bindende Wirkung verliert. Es wird deshalb nicht genügen, wenn die Gesundheitswissenschaften damit fortfahren, dasjenige zu tun, was ihr Denken und Handeln im Augenblick beherrscht, nämlich neues, nur inter-, nicht monodisziplinär herstellbares Problemlösungswissen bloß zu akkumulieren. Früher oder später werden sie sich die Frage beantworten müssen, ob und wie interdisziplinäre Identität hergestellt werden kann und sie werden, sobald sie über entsprechendes Wissen verfügen, nicht umhin können, einen erheblichen Teil ihrer künftigen Entwicklungsenergien in die bestandssichernde und ihr damit ein nachhaltiges Wirken ermöglichende Aufrechterhaltung dieser Identität zu investieren.
6.7.1 Monodisziplinäre Optionen
und ihre Folgen Diejenigen, die diese Zukunftsaufgabe angehen möchten, könnten versucht sein, sich die Ausgangslage dadurch zu erleichtern, dass sie bei ihrer Entwicklungsarbeit allein die Denk- und Forschungsgewohnheiten einer der gegenwärtig mit einander konkurrierenden Public-Health-Optionen, entweder der medizinischen oder der sozialwissenschaftlichen in den Vordergrund stellen.
183 6.7 · Entwicklungsperspektiven für die Gesundheitswissenschaften
Es sollte deshalb an dieser Stelle wenigstens andiskutiert werden, welche Wirkungen mit einer derartigen tendenziell monodisziplinären Festlegung verbunden wären. Die medizinische Variante Die Medizin hat seit Beginn des 20. Jahrhunderts, und zwar vor allem in Gestalt der Sozialmedizin und als Folge ihres Engagements im öffentlichen Gesundheitswesens, ein erhebliches Maß sozialwissenschaftlicher (v. a. psychologischer, soziologischer, epidemiologischer) Kompetenzen hinzu gewonnen. Gleichwohl ist dieser Aneignungsprozess immer sehr stark von den Erkenntnisbedürfnissen einer krisen-interventionistisch eingestellten Ärzteschaft geprägt gewesen, die sich von der Hinzunahme dieser Erkenntnisse Vorteile für den diagnostischen, therapeutischen und (impf-) präventiven Umgang mit Krankheit versprachen. Beredtes Beispiel für dieses durchaus erfolgreiche Vorgehen war und ist das Schicksal der sog. Medizinsoziologie und -psychologie, die um den Preis ihrer strikten Unterordnung unter die Medizin als Leitdisziplin den medizinischen Fakultäten und Fachbereichen des In- und Auslandes eine kaum erwartete Karriere machen konnten. Die Entwicklung einer interdisziplinären Identität an diesem Modellfall auszurichten, der heute noch für das Zusammengehen von Medizinern und Sozialwissenschaftlern an vielen Einrichtungen medizinischer Forschung und Lehre aber auch im öffentlichen Gesundheitswesen Deutschlands charakteristisch ist, hätte einschneidende Konsequenzen: ▬ Es würde dazu führen, dass sich die Gesundheitswissenschaften bei der Auswahl ihrer Forschungsthemen, ihrem methodischen Vorgehen und bei der Interpretation und Umsetzung ihrer Forschungsergebnisse von den Erkenntnisbedürfnissen und Selbsterhaltungsinteressen einer Wissenschaft und eines Versorgungswesens abhängig machen müssten, die sich primär als »Krankheits-Wissenschaft« versteht. ▬ Die unter diesen Abhängigkeitsbedingungen forschenden und lehrenden Sozialwissenschaften hätten auf Dauer den Nachteil, ihre Erkenntnisse gegen die Denk- und Interven-
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tionsgewohnheiten der medizinischen Leit-
disziplin mit Aussicht auf höchst spärlichen Erfolg durchsetzen zu müssen. Dieses bliebe ihnen selbst dann nicht erspart, wenn es – wie etwa im Fall der überwiegend medizinischkurativen Behandlung von chronischen oder altersbedingten Erkrankungen – nachgewiesenermaßen zum Nachteil für Betroffene, Versorgungssystem und Gesellschaft wäre. ▬ Man würde mit nahezu unüberwindlichen Barrieren gegenüber der Reform des längst schon als dringend reformbedürftigen Gesundheitswesens rechnen müssen. Denn die Leitdisziplin würde aus Selbsterhaltungsgründen alles unterbinden müssen, was geeignet scheint, die zu Gesetzen, Strukturen, Institutionen und Ausbildungswegen geronnene Eingreifphilosophie der modernen Medizin im Interesse einer vermehrt auf die Förderung von Gesundheit und auf Vorbeugung zielenden Versorgungspolitik zu revidieren. ▬ Darüber hinaus wäre zunächst mit einer Konzentration der ohnehin nicht gerade üppigen Ressourcen der Gesundheitswissenschaften auf die Erforschung von Krankheitsproblemen und infolgedessen langfristig mit dem »Aus« für ein Projekt zu rechnen, das in Deutschland erst vor rund 15 Jahren begann. Ein Projekt, welches seine durchgreifenden Erfolge nicht nur und auch nicht in erster Linie der Krankheitsforschung, sondern primär der Ausrichtung auf das Gesundheitsthema und den zahlreichen Erkenntnisvorteilen verdankt, welche die auf Krankheit fixierten Humanwissenschaften aus der Beschäftigung mit dieser neuen, bislang vernachlässigten Materie ziehen konnten. Die sozialwissenschaftliche Variante Dass sich Gesundheitswissenschaftler auf der Suche nach Eigenständigkeit ausschließlich am Problembewusstsein und den Eingreifgewohnheiten der sozialwissenschaftlich orientierten Einzeldisziplinen orientieren könnten, ist zwar höchst unwahrscheinlich. Es sollte aber dennoch als Möglichkeit überdacht werden, weil ein derartiger Versuch mit Nachteilen für die analytische, insbesondere aber gestalterische Potenz der Gesundheitswissenschaf-
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Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
ten verbunden wäre, die vermieden werden sollten. Dazu gehört, dass ▬ die allein aus sozialwissenschaftlicher Perspektive betriebene Gesundheitswissenschaften ohne Bezugnahme auf Bio-Physiologie und Psychosomatik, die ihren Platz bis in die Gegenwart hinein eher in der Krankheits- als Gesundheitsforschung gefunden haben, keinen wirklichen Zugang zum menschlichen Organismus als dem letztendlichen Träger von Krankheit und Gesundheit hätten, ▬ dieselben in Reaktion auf die monopolistischen Verhältnisse in der Krankheitsforschung auf die Idee kommen könnten, einen Alleinanspruch auf die wissenschaftlichen Bearbeitung der Gesundheitsmaterie für sich zu reklamieren und infolgedessen einen großen Teil ihrer Energie in den untauglichen Versuch zu stecken, Gesundheit ohne Bezugnahme auf das Krankheitsphänomen zu thematisieren oder ▬ die ausschließlich auf Gesundheit und ihre psychosozialen Herstellungs- und Aufrechterhaltungsbedingungen fixierten Gesundheitswissenschaften ihrer wichtigsten Anschlussstellen gegenüber dem System moderner Krankheitsversorgung (z. B. in der Präventionspolitik, Sozialepidemiologie oder Versorgung chronisch Kranker) verlustig gehen würden, mit denen es ihnen zurzeit gelingt, ihre Existenzberechtigung gegenüber traditionalistischen Bedenken in Wissenschaft und Versorgungspraxis zu rechtfertigen.
6.7.2 Entwicklungsvoraussetzungen
für eine interdisziplinäre Variante der Gesundheitswissenschaften Es scheint an der Zeit, diesen rückwärts gewandten Varianten eine andere entgegenzusetzen, die sich verstärkt mit den Konstruktionsbedingungen einer wirklich interdisziplinären Identitätsvariante auseinandersetzt. Hierbei handelt es sich um eine derjenigen Entwicklungsaufgaben, von deren Bewältigung das Schicksal der Gesundheitswissenschaften in gleicher Weise abhängen könnte wie von der kontinuierlichen Mehrung der Erkenntnisse auf möglichst vielen und immer wieder neuen Gebie-
ten der Krankheits- und Gesundheitsforschung. Nicht auszuschließen ist, dass sie im Erfolgsfall auch zum Orientierungsmodell für weitere auf Interdisziplinarität angelegte Wissenschaftsgründungen werden könnte. Für die Gesundheitswissenschaften macht es keinen Sinn, ihre Identität nach monodisziplinärem Vorbild auf einem Monopol für den wissenschaftlichen Umgang mit dem Gesundheitsphänomen zu gründen. Denn jede der unter ihrem Dach kooperierenden Disziplinen verfügt bereits über einen eigenen Gegenstand und würde – wie in der Praxis von Public Health vielfach beobachtbar – der Versuchung kaum widerstehen können, über Gesundheit eindimensional, d. h. überwiegend in den Kategorien ihrer Herkunftsdisziplin nachzudenken und zu forschen. Erfolgversprechender wäre es demgegenüber, den Prozess der gemeinsamen Erarbeitung des Gesundheitsthemas, welches sich anerkannter Maßen nur von mehreren, paradigmatisch z. T. erheblich auseinander liegenden Disziplinen her erfassen lässt, zum Kristallisationspunkt einer Identitätssuche in Permanenz zu machen. Ein solches Vorgehen würde den Mitgliedsdisziplinen und deren Vertretern die Sorge um den Verlust ihrer Herkunftsidentität nehmen, weil diese nicht aufgegeben, sondern für die Zeit der Arbeit am Gesundheitsthema lediglich hintan gestellt werden müsste. So könnten Fehlreaktionen, wie der seit längerem schwelende, insgesamt eher unfruchtbare und fortschrittshemmende Streit um die einzig wahre Variante von Public Health verhindert werden. Dabei kann die Bewältigung einer Reihe anstehender Aufgaben äußerst hilfreich sein: 1) Um den erforderlichen Entwicklungsschritt weg vom gegenwärtigen Zustand multi- bzw. transdisziplinären Kooperierens auf Zeit zu einer als zielorientiert forschenden und lehrenden Arbeitsgemeinschaft in Permanenz überhaupt tun zu können, sind Regeln der künftigen Zusammenarbeit aufzustellen und verbindlich zu machen. Zu ihnen gehören v. a. – der Respekt vor den Erkenntnisleistungen des anderen, – die Neugier auf dessen methodische Herangehensweisen,
185 6.8 · Zusammenfassung
– das Interesse für dessen Lösungen sowie – die Leidenschaft dafür, die Sache der Gesundheitswissenschaften unter Nutzung der in diesem gemeinschaftlichen Handeln liegenden einmaligen Möglichkeiten und unter Verzicht auf monodisziplinäre Egoismen voran zu treiben. 2) Auf theoretischem Gebiet muss endlich der Versuch gemacht werden, die Gesundheitswissenschaften mit Hilfe des Salutogenese-Ansatzes von Aaron Antonovsky, insbesondere unter konsequenter Beachtung der von ihm eingeleiteten paradigmatischen und forschungsprogrammatischen Wende, derart neu zu positionieren, dass Krankheit, ihre Entstehung, ihr Vorkommen und der praktische Umgang mit ihr als integraler Bestandteil einer Theorie der Herstellungs- und Aufrechterhaltungsbedingungen von Gesundheit begriffen werden kann und nicht als deren Gegenpol aufgefasst werden muss. 3) Vor dem Hintergrund eines solchen Theorieentwurfs sollte das Methodenarsenal aller unter dem Dach von Public Health zusammenarbeitenden Disziplinen dafür eingesetzt werden, wirkliche Indikatoren der Gesundheit zu erarbeiten. Sie würden es anders als die bisher fast ausschließlich verwendeten Krankheitsindikatoren möglich machen, die gesundheitliche Lage der Menschen objektiv zu beschreiben und Maßnahmen der Gesundheitsförderung auf evidenzbasierte (erfolgskontrollierte) Weise planen und durchführen zu können. 4) Die Gesundheitswissenschaften müssen mehr Energie und methodische Phantasie in die Entwicklung von Methoden investieren, die es ihnen ermöglichen, gesundheitsbezogene Interventionsmaßnahmen – einerlei ob diese sich auf die Kompetenzverbesserung von Individuen, die Neugestaltung von Versorgungsinstitutionen oder die Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen richten – fachgerecht zu evaluieren. Dabei sollten vor allem Kriterien der Sachangemessenheit, der Bedarfsorientierung, der Nachhaltigkeit und der Wirtschaftlichkeit einen höheren und systematischeren Stellenwert erhalten als bisher.
6.8
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Zusammenfassung
In diesem Kapitel sind die historischen, theoretischen, methodischen und inhaltlichen Grundlagen der Gesundheitswissenschaften diskutiert und darauf aufbauend, vordringliche Entwicklungsaufgaben vorgeschlagen worden. Bei den Gesundheitswissenschaften handelt es sich um ein in Deutschland erst kürzlich etabliertes Projekt, welches mit seinem von keiner anderen Wissenschaft geteilten Zentralthema und seinem interdisziplinären Anspruch vom traditionell monodisziplinär ausgerichteten Wissenschaftssystem als Herausforderung empfunden werden muss. Eine Herausforderung, auf die es mit Vereinnahmung oder mit Ausdifferenzierung einer gänzlich neuen, über kurz oder lang ihre Nachahmer findenden Form wissenschaftlichen Zusammenarbeitens reagieren kann. Außerdem wurde die These vertreten, dass Vereinnahmung zu den Bedingungen von Medizin und Naturwissenschaften auf der einen oder der Sozialwissenschaften auf der anderen Seite die Gesundheitswissenschaften als Projekt zum Erliegen bringen würde. In diesem nicht mehr unwahrscheinlichen Falle wäre niemand in der Lage, die von den Gesundheitswissenschaften aufgeworfenen Versorgungsfragen weiterzuverfolgen und ihrer längst fälligen gesundheitspolitischen Lösung zuzuführen. Als Garant qualitativ hochwertiger Forschung und Lehre werden die Gesundheitswissenschaften nur dann überleben können, wenn sie zuwege bringen, was im Blick auf die Denk- und Handlungsgepflogenheiten des akademischen Systems zunächst unmöglich erscheint, nämlich eine Identität als »Inter-Disziplin« zu entwickeln und aufrecht zu erhalten. Da jetzt die Ausbauphase der Gesundheitswissenschaften zu einem unverhofft schnellen Ende gekommen zu sein scheint und früher als erwartet über Formen der Konsolidierung nachgedacht werden muss, wird sich zeigen, ob und in wieweit ihre wissenschaftlichen Vertreter bereit sind, sich im Interesse der Aufrechterhaltung ihres Fachgebietes den Mühen einer Identitätssuche und -findung zu unterziehen, deren Potenziale und Erfordernisse hier nur ansatzweise beschrieben werden konnten.
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Kapitel 6 · Grundlagen und Entwicklungsperspektiven der Gesundheitswissenschaften
Literatur ? Wissens- und Transferfragen
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1. Was hatte es zu bedeuten, wenn die klassische Sozialmedizin zu dem Schluss kam, dass die Volkskrankheiten der Neuzeit ohne »Politik« nicht heilbar wären? 2. Welche Beweggründe waren es, aus denen sich die vormoderne (antike, mittelalterliche) und die moderne (naturwissenschaftliche) Medizin mit dem Gesundheitsthema beschäftigten? 3. Welches sind die Kernfächer der Gesundheitswissenschaften und warum bezeichnet man sie auf diese Weise? 4. Welchen besonderen Beitrag leistet die Medizin als Wissenschaft zu den Gesundheitswissenschaften? 5. Welchen Beitrag leistet die Soziologie zu den Gesundheitswissenschaften? 6. Was unterscheidet Trans- von Interdisziplinarität? 7. Worum handelt es sich, wenn Erkenntnistheoretiker vom (regelgeleiteten) »Verstehen« sozialer Zusammenhänge sprechen? 8. Was versteht man unter einem quasiexperimentellen Forschungsdesign? 9. Welches sind die vier Eckpfeiler gesundheitswissenschaftlicher Theoriearbeit und warum? 10. Was trägt die Sozialisationstheorie zum besseren Verständnis des Aufrechterhaltungsprozesses von Gesundheit bei? 11. Welche Typen von Risikofaktoren gibt es und was kann man mit ihnen anfangen? 12. Was genau unterscheidet Krankheits- und Gesundheitsforschung von einander? 13. Was versteht man unter Gesundheitssystemanalyse und was leistet sie im Kontext der Gesundheitswissenschaften? 14. Um welche Eintragsmedien kümmert sich die umweltbezogene Gesundheitsforschung und warum? 15. Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile einer multi- oder einer interdisziplinären Verfassung der Gesundheitswissenschaften.
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7 Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch O. Scupin 7.1
Einleitung – 189
Wissens- und Transferfragen
7.2
Organisation und »Selbst« – 191
Literatur
7.3
Der humanontogenetische Ansatz des Pflegemanagements – 199
7.4
Pflegemanagement und Selbstorganisation – Ein Praxisbeispiel – 200
7.5
Pflegemanagement mit neuen Zielen – 210
⚉ Nachdem wir das Ziel endgültig aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen. (Mark Twain)
7.1
Einleitung
7.1.1 Pflege
Der Begriff der Pflege, als das Handlungsobjekt der »Sorge«, wird im Lexikon der Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm (um 1885) als eine »beaufsichtigende oder fürsorgende, körperlich wie geistig auf Gedeihen und Wohlbefinden hingerichtete Tätigkeit« definiert. Aber auch Begriffe wie Aufsicht, Obhut, Fürsorge, Wartung, Schirm und Schutz, Leitung und Pflicht werden genannt (Wessel 2001). Lexika sind ein guter Indikator für die Kultur einer jeweiligen Zeit. In der genannten Definition wird über die notwendige Finanzierung der Pflege nichts ausgesagt. Der heutige Pflegebegriff wird sehr eng mit denen von Krankheit, Gesundheit, Sterben und Tod in Verbindung gebracht. Wessel (2001) postuliert, dass das Menschenbild, welches »nicht die gegenseitige Pflege als einen sozialen Kontakt einschließt«, defizitär ist. In der aktuellen
– 210
– 210
Fassung des Brockhaus wird Pflege dann auch tatsächlich in einem neuen Kontext dargestellt. Schon am Anfang wird Pflege mit dem Wort Pflegebedürftigkeit und den ökonomischen Schwierigkeiten der Finanzierung erklärt. Das Stichwort der beruflichen Pflege, z. B. der Altenpflege, wird ebenfalls mit Kosten und Belastungen verbunden. Und 1988 wird erstmals von »Pflegenotstand« gesprochen, was nicht die pflegerische Versorgung der Patienten und Klienten meint, sondern die Rahmenbedingungen in denen die Berufsgruppe der Pflegenden arbeitet. Alle diese »neuen« Begriffe sind defizitär. So entsteht ein Pflegebegriff, der als belastend, zu überwinden und kaum finanzierbar gilt.
7.1.2 Zur Definition von
Managementbegriffen Erste Belege für den Begriff des Managements finden sich in der Literatur des 19. Jahrhundert erst in England, und wenig später in den USA. Staehle (1994) weist darauf hin, dass in der angloamerikanischen Literatur Management im funktionalen und im institutionellen Sinne verwendet wird. Der funktionale Aspekt beschreibt Prozesse
190
7
Kapitel 7 · Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch
und Funktionen, »die in arbeitsteiligen Organisationen notwendig werden, wie Planung, Organisation, Führung, Kontrolle«, der institutionelle Aspekt beschreibt Personen oder Personengruppen, die Managementaufgaben wahrnehmen sowie ihre Tätigkeiten und Rollen (Staehle 1994). Das Verb managen meint »geschickt bewerkstelligen, zustande bringen«, aber auch handhaben, deichseln, leiten sowie führen und leitet sich aus dem amerikanischen Managerbegriff ab. Manager ist unter anderem die Bezeichnung für den Leiter eines großen Unternehmens. Das Stammwort ist das lateinische manus für die Hand (Duden 1989). Für die Profession der Pflege ist dieser letztgenannte Aspekt der Managementdefinition interessant, wenn berücksichtigt wird, das Merleau-Ponty (1965) schreibt: »Hände reichen nicht aus für eine Berührung«. Daraus schließt der Autor, ungeachtet der etablierten Bindegliedwissenschaften, die den Managementbegriff für die jeweilige Einzelwissenschaft definiert haben, eine Übernahme eines Managementbegriffes (z. B. aus der Betriebswirtschaft) aus. Pflege als Handlungswissenschaft begreift die Hand wörtlich als Erkenntnisgegenstand. Denn im Unterschied zu allen anderen »Sinnesorganen hat die Hand die Fähigkeit des intentionalen Handelns; sie kann initiativ, aktiv oder reaktiv werden, Tätigkeiten einleiten und beenden... (D)er Handgebrauch ist, wenn er systematisch vorgenommen wird, Experimenten vergleichbar. Im Handgebrauch können Situationen und geistige Konstruktionen gebildet werden, die über den Körper selbst hinausführen« (Gebauer 1998). Pflege zur Kompensation bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit kann, allgemein ausgedrückt, als eine praktische Tätigkeit (Handlung) verstanden werden. Diese Aussagen machen deutlich, warum eine klassische Definition von Management für die Pflege und für die aktuellen Veränderungsprozesse wenig zielführend ist. Der Aspekt der »Hand« als Stammwort des Managements gewinnt hier auf einmal eine völlig neue Bedeutung. Denn Patientenorientierung kann nur durchgeführt werden, wenn der Mensch in seiner Ganzheit und damit auch im klinischen Handeln vor- und nachklinisch wahrgenommen wird. Der Mensch erlebt im Gesundheitssystem lediglich eine sensible kritische
Phase, die allerdings irreversibel ist. Management und somit auch das Pflegemanagement als anerkannte exakte Wissenschaft, mit dem Ziel pflegeintentionelles Handelns als gesellschaftliche Funktion, die gemanagt werden soll, kann zurzeit somit nicht postuliert werden. Die Pflegewissenschaft und das Management der Pflege als Lehre sind noch im wissenschaftstheoretischen Sinne so junge Wissenschaften, das sie zunächst ihren Gegenstandsbereich genauer klären sollten. Dies geschieht zurzeit in der BRD. Im anglo-amerikanischen Bereich wurde hiermit in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts begonnen. Pflege als Wissenschaft ist nicht definiert, sodass eine Trennung zwischen Pflegewissenschaft und -management nicht sinnvoll erscheint. So ist auch verständlich, dass Pflegewissenschaft und management sich ergänzende Disziplinen sind, die beim Nutzer des Gesundheitswesens auch zusammenhängend spürbar sein sollten oder müssen. Für die bundesdeutsche Pflege würde dies bedeuten, dass die Anwendung pflegetheoretischer Konzepte, deren Wirksamkeit überprüft sind, durch flankierende oder initiierende Maßnahmen des Pflegemanagements (leiten, führen oder auch geschickt bewerkstelligen) für die Patienten/Klienten transmural spürbar implementiert werden. Das aktuelle Pflegemanagement wendet (durchaus kreativ) die Funktionen der Betriebswirtschaftslehre auf die Pflegeberufe an. Das wirklich Neue im Pflegemanagement wäre die Verknüpfung zwischen der Wissenschaft der Pflege als Handlungswissenschaft und den betriebswirtschaftlichen Funktionen, unter anderem dem Management. Auf den ärztlichen Sektor übertragen würde dies bedeuten, das im Medizinstudium die Behandlung von Krankheiten vermittelt und erlernt wird, aber die Diagnostik der Krankheiten nicht. Für die Medizin wäre es nicht denkbar, dass die Wissenschaft der Medizin und die Handlungen »am« Patienten, welches auch in der Organisation einem Management entspricht, getrennt würde. Gleichwohl wird in der Medizin Wissenschaft betrieben. Diese ist in der praktischen Umsetzung im Sinne von Experimenten (Medikamentenerprobung usw.) etabliert. Die einen Ärzte forschen, die anderen Ärzte wenden die Ergebnisse an. Und es gibt den nicht seltenen Fall, dass Ärzte forschen und anwenden.
191 7.2 · Organisation und »Selbst«
Die weltweiten Erkenntnisse der Pflegewissenschaft finden erstaunlicherweise in der Praxis kaum einen Widerhall. Es sei die Frage erlaubt, ob Pflegemanager (Oberinnen, Pflegedienstleitungen, Pflegedirektoren usw.) überhaupt pflegefachwissenschaftliche Konzepte in die Praxis umsetzen können. Auch ist dem Autor bekannt, dass es an im Management erfahrenen Ärzten mangelt. Das ärztliche Handeln ist aber immer konkret auf den Patienten gerichtet. Das Management der Pflege kann dies für sich zurzeit nicht beanspruchen. Dies ist unter anderem einer der Gründe, warum auf Pflegedienstleitungen auf Direktoriumsebene oder in der Unternehmensleitung verzichtet werden kann oder könnte, wie Mühlbauer ( Kap. 10) zu Recht anmerkt. Einen »Nebenökonomen«, der sicher inzwischen gut die Sprache der Geschäftsführer und Verwaltungsleiter spricht, wird nicht gebraucht. Es sei denn, dass die Pflegenden die unternehmerischen Veränderungsprozesse maßgeblich umsetzen sollen oder müssen. Dann ist das Pflegemanagement sicher ein willkommener »Erfüllungsgehilfe« der Unternehmensleitung. Welche Funktionen und Aufgaben das zukünftige Pflegemanagement übernimmt, wird entweder selbst bestimmen oder durch andere Berufsgruppen zugeschrieben bekommen. ⚉ Richtig ist, zu denken, was möglich ist, und zu tun was sinnvoll und nötig ist. Falsch ist aber, immer das zu tun, was möglich ist. (Hl. Benedikt)
7.2
Organisation und »Selbst«
7.2.1 DRG als Impuls der Selbst-
organisation und der Organisation des »Selbst« Seit dem Jahre 2003 (Optionsphase) können, seit 2004 müssen Patientenfälle im Krankenhaus über ein fallpauschaliertes Finanzierungssystem mit den Kostenträgern abgerechnet werden. Da für eine bestimmte Erkrankung eine definierte Verweildauer festgelegt ist (untere, mittlere und obere Grenzverweildauer), bedeutet das Über- oder
7
Unterschreiten dieser Verweildauer ein ökonomisches Risiko für das Unternehmen Krankenhaus. Die Prozesse im Unternehmen müssen so gestaltet sein, das die Patienten zum »richtigen« Zeitpunkt entlassen werden können oder geplant in eine Anschlussbehandlung oder -betreuung übergeleitet werden können. Auch die Anleitung und Beratung von Klienten und Angehörigen im Umgang mit einer Krankheit oder körperlichen Beeinträchtigung spielen eine wesentliche Rolle (Re-Einweisungsproblematik). Aus dem Vorgenannten folgt, dass ein fallbezogenes Finanzierungssystem ein fallbezogenes Organisationssystem im Krankenhaus fordert. Konzeptionell könnte dies bedeutet, dass ein verantwortlicher Mitarbeiter für die Prozesse eines Patienten während und über die Entlassung aus dem Krankenhaus hinaus zuständig bleibt (Scupin 2002). > Die logische Weiterentwicklung wären sog. Managed-Care-Konzepte. Der Prämisse der Prozessorientierung folgend sollte diejenige Berufsgruppe die Prozessverantwortung übernehmen, die die größten Zeitressourcen verbraucht.
Für die Betrachtung, welche Funktionen das Pflegemanagement bei der Einführung, Etablierung und Entwicklung des Gesundheitssektors im DRGSystem wahrnehmen oder übernehmen soll und muss, ist es zunächst wichtig, die Auswirkungen der GR-DRGs zu skizzieren. Davor sei angemerkt, dass Basis- oder Kernfunktionen der Betriebswirtschaft auch für die Pflege gelten. Dies sind unter anderem die Bereiche der Personal- und Finanzwirtschaft, des Qualitätsmanagements und des Marketings. Hierunter sind die Subthemen z. B. der Führungslehre, des Rechnungswesens ebenso zu verstehen, wie die psychologischen Konstrukte wie Motivation, Verhalten, Führung und Emotion. Dieses Wissen kann in der aktuellen betriebswirtschaftlichen Literatur nachgelesen werden. > Die aktuelle Herausforderung und wesentliche Funktion für das Pflegemanagement ist es, Pflegewissenschaft und Pflegepraxis »in Einklang zu bringen« oder besser »stimmig« zu machen.
192
7
Kapitel 7 · Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch
Im Bildungssektor würde vergleichend über den Theorie-Praxis-Konflikt oder -Transfer gesprochen werden. Es ist doch erstaunlich, dass als systematische Planung der Pflege die Anwendung des Pflegeprozesses verpflichtend seit 1985 eingeführt wurde (Kurtenbach 1994), ein fachtheoretischer Bezugsrahmen zur pflegerischen Diagnostik einer Patientensituation aber nicht vorliegt. Die Einführung eines fallpauschalierten Krankenhausfinanzierungssystems hat massive Konsequenzen auf alle Sektoren des Gesundheitswesens. Eine Verweildauerreduzierung im Krankenhaus von 15–30% (je nach Diagnose) wird zum einen dadurch erreicht, dass die Vorverweildauer (Zeit zwischen Aufnahme und Therapiebeginn) verkürzt wird, zum zweiten aber auch dadurch, dass die Patienten in ihrer regenerativen oder rehabilitativen Phasen des Krankheitsgeschehens entlassen werden. Weiter kommt es zu einer Abnahme von Einweisungen, »zu einer Konzentration tendenziell schwerer Fälle im Krankenhaus [Verdünnungseffekt], zu einem Bettenabbau und auch zum Schließen von Krankenhäusern. Damit verbunden ist ein Abbau der sozialen Funktion des Krankenhauses, der durch ambulante Versorgungs- und Pflegemöglichkeiten kompensiert werden muss« (Arnold 2002). Es kommt zu Zentralisierungen der Servicebereiche und zur Auslagerung medizinunspezifischer Leistungskomplexe. Parallel wird ein höheres Kostenbewusstsein von den Mitarbeitern erwartet werden müssen. Der Anteil der Alten- und Pflegeheime wird um zweistellige Prozente wachsen. Der Personalbestand wird zugunsten des Altenhilfesektors (stationär und ambulant) verschoben. Aktuell wird der Qualifikationsmix in den Kliniken (qualifiziert zu »unqualifiziert«) auf ein Verhältnis von z. B. 70% zu 30% verändert. Diese Entwicklungen können nicht als Vermutung klassifiziert werden, sie sind in anderen Ländern, in denen fallpauschalierte Finanzierungssysteme implementiert wurden, bereits Realität und sie sind kulturunabhängig. > Durch die Verweildauerreduzierung kommt es zu Stations-, Abteilungs- und Klinikschließungen. Die damit einhergehenden Auseinandersetzung mit Phänomenen und Themen wie »Angst vor Arbeitsplatzverlust«, Lohn-
einbußen, Job-Enlargement, Überforderung, Auflösung von Teamstrukturen usw. ist eine wesentliche Herausforderung für die jeweiligen Führungskräfte in den Einrichtungen des Gesundheitswesens.
Bei einer verkürzten Verweildauer in den deutschen Kliniken sind die Selbstpflegekompetenzen der Patienten während des Klinikaufenthaltes nicht soweit fortgeschritten, so dass sie sich im häuslichen Umfeld allein versorgen können. Das Laiensystem wird hier mehr als in der Vergangenheit gefordert werden müssen. Dieser Vorrang vor einer professionellen Hilfe ist schon im Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) fixiert (Klie 2001, S. 128). Andere Patientengruppen werden über Kurzeitpflegeinrichtungen eine Verkürzung der Verweildauer im Krankenhaus ermöglichen können. In Australien ist nach Einführung der dortigen DRGs die absolute Zahl der Alten- und Pflegeheimplätze um ca. 40% gestiegen. Die ambulanten Pflegedienste werden in die Entlassungsplanung früher einbezogen werden müssen. Parallel erleben die Sektoren des Gesundheitswesens Budgetabzüge, wenn nicht entsprechende integrative Versorgungskonzepte entwickelt und durchgeführt werden. Hier kommt es darauf an, dass sektorübergreifende Versorgungsketten für ausgewählte Patientengruppen aufgebaut werden. Die Tendenz kann als der zukünftige Einstieg in sog. PRGs (»patient related groups«) gesehen werden. Hier wird eine Krankheitskarriere oder besser Fürsorgekarriere über eine pauschalierte Finanzierung sektorenübergreifend abgebildet. Durch dieses prospektive Finanzierungssystem sind die Akteure am Gesundheitsmarkt gezwungen zu kooperieren. Die bekannten demografischen Auswirkungen werden die Zahl der Nutzer im Gesundheitswesen zusätzlich erhöhen. Die Zahl der chronisch-degenerativ erkrankten Menschen wird ebenfalls zunehmen. Parallel müsste sich der Anteil der Schulabsolventen, die einen Pflegeberuf erlernen möchten, in den nächsten 15 Jahren nahezu verdoppeln. Die politisch erwünschte Mobilität der Bevölkerung führt nicht nur dazu, das die Singularisierung zu nimmt, sondern trägt auch dazu bei, das familiäre Versorgungsnetze zugunsten professio-
193 7.2 · Organisation und »Selbst«
neller oder selbstorganisierter Lebensformen (z. B. »Alten-WGs«) verdrängt werden. Wenn dieser Weg gewollt ist, müssen sich die Pflegenden fragen lassen, welchen Beitrag sie leisten können, oder welche Konzepte sie hat, um Patienten immer schneller oder in kürzerer Zeit aus der jeweiligen Versorgungsstruktur (Krankenhaus, häusliche Pflege usw.) entlassen zu können. > Hier kommt die Zielsetzung des Gesetzgebers ins Spiel. Gesellschafts- und gesundheitspolitisch wird ein möglichst hoher Grad der Selbständigkeit und Selbstbestimmung postuliert. Da Krankheit und Pflegebedürftigkeit häufig miteinander einhergehen, kommen somit die Selbstpflegekonzepte der Pflegewissenschaft zum Tragen (Sachverständigenrat 2001).
7.2.2 Prozessmanagement
und Selbstorganisation Wenn Selbstpflegekonzepte durch Anleitungs-, Beratungs- und Schulungsprogramme bei Krankheit und Hilfebedürftigkeit zur Anwendung kommen sollen (Reduzierung der Re-Einweisung, fallbezogene Entlassungsplanung usw.), müssen die im Gesundheitswesen Tätigen Methoden und Kompetenzen besitzen, die weit über die der Spezialistenwelt hinausgehen. Da die Ärzte eine Spezialwelt erlernt haben, die inzwischen »organisch« im wahrsten Sinne des Wortes organisiert ist, könnte Pflege diesen vermittelnden Part zwischen Konzepten der Spezialisten und der Laien übernehmen. Die Prozessverantwortlichen sind dann diejenigen, die täglich mit der größten Zeitbindung (Ressourcenverbrauch) für die Patienten tätig sind. Was ist damit nun gemeint? Maßstab für das Handeln im Pflegemanagement ist die Stimmigkeit der Systeme Unternehmen als Organisation, Finanzierung des Gesundheitswesens und dem Laienkonzept der Nutzer des Gesundheitswesens bei Krankheit und Hilfebedürftigkeit. Das Pflegemanagement schafft Rahmenbedingungen, in denen theoriebasierte Pflegekonzepte unternehmensspezifisch angewandt werden können. Diese Konzepte sind – und das ist überaus wichtig – Teil einer Unternehmensentscheidung.
7
Die Pflegeforschung hat diagnosebezogene Pflegekonzepte entwickelt, die sich grundsätzlich in das DRG-Vergütungsmodell einfügen. Diesen Konzepten liegt der Gedanke einer »berufsgruppenübergreifenden, ganzheitlichen Versorgung zu Grunde« (Arnold et al. 2002). Diese Konzepte berücksichtigen aber nicht nur eine berufsgruppenübergreifende Organisation, sondern auch eine übersektorale Prozessplanung. So berichtet Lohmann (2002), das zur Einführung der DRGs die »Prozessbetrachtungen mehr und mehr in den Fokus der Umstrukturierungen rücken«. Durch die ökonomischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland ist eine Prozesssteuerung der »Patientenkarrieren« notwendig. Hierfür stehen die Konzepte des Prozessmanagements oder des Fallmanagements zur Verfügung. In einer wahren babylonischen Sprachverwirrung wird aber auch von Fall- oder Case-Management gesprochen, von Prozessmanagement, Geschäftsprozessmanagement und Primary Nursing. Der Autor versteht hier unter einem Prozess eine generische Kette zwangsläufig »aufeinander aufbauender Bearbeitungsschritte, die einen definierten Beginn und ein definiertes Ende haben. Jeder Prozess setzt sich im Regelfall aus mehreren Subprozessen zusammen. Jeder Subprozess besteht aus vielen seriell und parallel ablaufenden Aktivitäten, die aus einer Vielzahl von Einzelaktivitäten bestehen« (Franz u. Scholz 1996, S. 29). Zur Kalkulation dieser Prozesse führt das Controlling der meisten Kliniken, als Reaktion auf die GR-DRG-Einführung, eine Prozesskostenoder Kostenträgerrechnung ein. Diese wird auch als prozessorientierte Kostenrechnung, Vorgangskostenrechnung oder aktivitätsorientierte Kostenrechnung bezeichnet. Gemeint ist immer ein Kostenrechnungssystem, das auf ein Vollkostenrechnungssystem zurückgeht, welches auf die traditionelle Kostenarten- und Kostenstellenrechnung zurückgreift. Die Vollkostenrechnung versucht durch eine Analyse des »Betriebsablaufes Aktivitäten, Tätigkeiten, Teilprozesse oder Hauptprozesse zu bestimmen und daraus Bezugsgrößen mit dem Ziel abzuleiten, eine verursachungsgerechte Verteilung von Gemeinkosten zu erreichen« (Wöhe 1993, S. 1335). Ein wie auch immer gearteter Input
194
7
Kapitel 7 · Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch
»
(Informationen, Materialien, Dienstleistungen) wird in ein Ergebnis verwandelt. Die Zahl der Entscheidungen, die hierfür notwendig sind, werden »unter Unsicherheit und auf der Basis unvollkommener Informationen getroffen« werden müssen (Naegler 1999). Parallel werden Kennzahlen zur Darstellung der Kosten, dem Zeiteinsatz und der Qualität und Patientenzufriedenheit entwickelt. Durch Prozessmanagement sinkt der Bedarf an Koordination und die Hierarchien werden deutlich verringert. An dieser Stelle besteht die Gefahr, dass Prozessmanagement mit Qualitätsmanagement, vor allem der DIN-ISO-Reihe, gleichstellt wird, also Prozessmanagement als »alter Hut« verstanden wird. Eine übergreifende Prozesssteuerung wird hierbei mit detaillierten, stellenbezogenen Abläufen verwechselt.
Das Organisieren besteht aus evolutionärer oder anthropologischer Sicht (»ich habe Macht über mich selbst«) nicht mehr darin einen geplanten Entwurf umzusetzen, sondern Organisation entsteht erst im Prozess, ohne das der Einzelne das Ergebnis kennt.
> Ziel des Prozessmanagements ist es, den Mit-
> Bei aller berechtigten Kritik an den Konzep-
arbeitern Hilfe zur Selbsthilfe zu geben und Unterstützung bei der Selbststeuerung ihrer Prozesse zu bieten.
7.2.3 Selbstorganisation
[Selbstorganisation ist eine Systemaufgabe:] Statt Prozesse vorzustrukturieren, ist dafür Sorge zu tragen, dass sich die Interaktionen ungehindert entfalten können, statt das Handlungsrepertoire einzuschränken, soll es möglichst weit ausgedehnt werden, statt auf einer einheitlichen Perspektive zu beharren, soll die Vielfalt der Perspektive gefördert werden (um für den evolutionären Ausleseprozeß genug »Mutationen« zu haben) (Schreyögg, 1998 S. 17)«.
ten der Selbstorganisation (zu enge Fokussierung auf Strukturen und Ordnung) haben sie sich insofern durchgesetzt, dass autonome und ungeplante Entwicklungen in Organisationen nun einmal zu beobachten sind (Staehle 1994).
und Organisation des »Selbst« In die Organisationslehre wurde das Konzept des »Selbst« im Ansatz der Selbstorganisation aufgegriffen. Die Idee der Selbstorganisation wurde bereits in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts »geboren«. Die Selbstorganisation trägt der Erkenntnis Rechnung, dass in Organisationen aus sich selbst heraus organisationale Prozesse entstehen. Diese schwächen unter anderem die Nachteile einer Bürokratie ab. In der Teamorganisation bedeutet die Selbstorganisation, dass Teams selbständig an Problemlösungen arbeiten, um »Flexibilität und Lernfähigkeit des Unternehmens zu sichern« (Schreyögg, 1998, S. 281). Die Organisationslehre leitet das Konzept aus der Biologie ab und soll das Konzept der Fremdorganisation ersetzen. Schreyögg (1998, S. 16) schreibt, dass Selbstorganisation aus der »unvorhersehbaren Interaktion der Systemelemente« entsteht und »trotzdem – so die These – entsteht Ordnung; und mehr als das, von dieser Ordnung wird gesagt, sie leiste mehr als jede geplante Ordnung je leisten kann.«
Zum Konstrukt des »Selbst« Das Konstrukt des »Selbst« wird je nach wissenschaftstheoretischem Ansatz unterschiedlich berücksichtigt. So wie wir heute »Selbst« verstehen und verwenden, z. B. im psychologischen, philosophischen oder pflegewissenschaftlichen Zusammenhang, muss berücksichtigt werden, das dieses »Produkt« eine »Hervorbringung unseres modernen Wissenschaftsdiskurses ist« (Fichtel 2003). Somit unterliegt das »Selbst« auch einem historischen Wandel. Das »Selbst« als Träger, z. B. der Selbstpflege, ist ebenso wenig eine »überzeitliche oder überkulturelle gleichsam anthropologische Konstante, wie alle anderen Begrifflichkeiten, Diskursformationen und Erscheinungsformen« in der wissenschaftlichen Betrachtung über den Menschen (Fichtel 2003, S. 12). Es muss berücksichtigt werden, dass die Architektur des pflegerischen »Selbst« in einem völlig anderen Haus seine Struktur zeigt. Es soll also versucht werden, unsere pflegerischen Begrifflichkeiten an den historischen Phänomenen zu brechen und diese im »Kaleido-
195 7.2 · Organisation und »Selbst«
skop der uns zur Verfügung stehenden Terminologie wieder zu einem Bild zusammenzufügen, in dem die Re-Konstruktion der Historie und die De-Konstruktion der Gegenwart« uns den Freiraum des Denkens gewähren kann (Fichtel 2003, S. 12). Hieraus kann dann ein Verständnis über das »Selbst« entstehen, welches die junge Disziplin der Pflegewissenschaft befruchten kann. Um nun ein Verständnis psychischer Räume, wie die Wahrnehmung des »Selbst«, zu entwickeln, sind historische Dokumente von sprachlichen Diskursen geeignet, Begriffe und Worte verstehbar zu machen. Die Gefahr der Vereinnahmung eines Vergangenheitsbegriffes in die Gegenwart ist bei diesem Versuch allerdings hoch. In der Philosophie wird das »Selbst« oder das »Selbstsein« eng mit dem Begriff der Existenz verbunden. In einer mythischen Sprache würde hier von »Seele« gesprochen werden. Existenz ist bei Jaspers der »unbedingte und absolute individuelle Kern im Menschen, der, in rationalen Begriffen nicht fassbar und daher als solcher nicht mittelbar, das bloße Leben als eine Möglichkeit begleitet, die der Mensch ergreifen oder der gegenüber er versagen kann. Existenz ist das eigentliche Selbstsein des Menschen, das sich durch freie und unbedingte Entscheidung erst verwirklichen soll« (Stegmüller 1978). Heidegger sieht diesen Existenzbegriff weiter, wenn er davon ausgeht, dass die Existenz auch die Beziehung zu sich selbst ist. Heidegger fügt der anthropologischen Charakterisierung des Menschen eine Seins- oder Existenzkategorie hinzu, und zwar die der »Sorge«. In der Auslegung der Cura-Fabel von Goethe wird die »Sorge« für jemanden oder sich selbst als menschliche Daseinsform niedergeschrieben (Heidegger 2001).
»
Als einst die Sorge über einen Fluß ging, sah sie tonhaltiges Erdreich: sinnend nahm sie davon ein Stück und begann es zu formen. Während sie bei sich darüber nachdenkt, was die geschaffen, tritt Jupiter hinzu. Ihn bittet die Sorge, dass er dem geformten Stück Ton Geist verleihe. Das gewährt ihr Jupiter gern. Als sie aber ihrem Gebilde nun ihren Namen beilegen wollte, verbot das Jupiter und verlangte, dass ihm sein Name gegeben werden müsse. Wäh-
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rend über den Namen die Sorge und Jupiter stritten, erhob sich auch die Erde und begehrte, dass dem Gebilde ihr Name beigelegt werde, da sie ja doch ihm ein Stück ihres Leibes dargeboten habe. Die Streitenden nahmen Saturn zum Richter. Und ihnen erteilte Saturn folgende anscheinend gerechte Entscheidung: »Du Jupiter, weil du den Geist gegeben hast, sollst bei seinem Tode den Geist, du, Erde, weil du den Körper geschenkt hast, sollst den Körper empfangen. Weil aber die Sorge dieses Wesen zuerst gebildet, so möge, solange es lebt, die Sorge es besitzen. Weil aber über den Namen Streit besteht, so möge es homo heißen, da es aus humus gemacht ist (Burbach 1923). Der Begriff der »Sorge« bekommt hier nicht nur eine besondere Bedeutung, als das sie zeitlebens zum menschlichen Dasein dazugehört, sondern auch dadurch, dass die »Sorge« im Zusammenhang mit Leib und Geist gesehen wird. Diese Komposition existiert durch die »Sorge«. Die »Sorge« ist somit nicht Teil des Geistes oder der Sorge um den Leib, sondern der Begriff leitet sich aus dem »Woraus« ab, nämlich aus humus (Heidegger 2001). Die Sorge als Wortgruppe ist in der klassischen griechischen Literatur geläufig. Das Verb µεριµν´αω und das Substantiv µ´ερινα haben die gleiche Bedeutungsbreite wie das deutsche »sich sorgen« oder Sorge. So kann µ´ερινα sowohl »Sorge« im Sinne von »ängstlicher Besorgnis« bedeuten, als auch »Fürsorge«, sowohl »besorgt sein«, »sich Sorgen machen« oder auch »für jemanden oder etwas sorgen«. In positiver Bedeutung wird Sorge als Fürsorge oder Vorsorge in der Weisheitsliteratur verwendet (Bibel, Altes Testament, Sprüche 14,23). Im Alten und Neuen Testament wird Sorge als natürliche Reaktion des Menschen auf Armut, Hunger, Krankheit und damit auch Pflegebedürftigkeit, die im alltäglichen Leben widerfahren können, verstanden (Goetzmann 1979, S. 1179–1181). Die Sorge für sich oder den Anderen findet seine Entsprechung in dem platonischen Wort der Selbstsorge, die nicht als etwas Selbstbezügliches verstanden wurde, sondern auch als eine gesellschaftliche Tugend. Dieser gesellschaftliche Ansatz bezieht eine Leib-Seele-Betrachtung mit ein und
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Kapitel 7 · Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch
meint die autonome Übernahme der Verantwortung für sich selbst und damit für ein gesellschaftliches Handeln der damit betroffenen Ausführenden. Bei Seneca wird erläutert, dass die Selbstsorge eine sich selbst angeeignete Eigenschaft ist, die dafür sorgt, dass der Mensch unabhängig von anderen Menschen ist, wird oder bleibt (Bekel 2003). εγχρ´ατεια oder »Selbstbeherrschung« bezeichnet die Macht und Herrschaft, die jemand über sich hat. εγχρ´ατ´ης ist somit ein Mensch, der Macht im körperlichen oder geistigen Sinne hat. εγχρ´ατεια wird eher absolut gebraucht, als Macht über sich selber zu haben. Es kann auch Selbstbeherrschung im Sinne von Ausdauer, Enthaltsamkeit und Standfestigkeit bedeuten (Baltensweiler 1979, S. 1503–1506). Das »Selbst« im Mittelalter Für die moralische Problematisierung von lebenspraktischen Handlungen und Wissensgebieten des späten Mittelalters entwickelte Foucault die Begriffe der Selbsttechnologie oder Selbsttechnik. Die Selbsttechniken sind Handlungen, »mit denen ... die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht« (Foucault 1986). Es findet im Mittelalter die Transformation vom Objekt zum Subjekt statt. Der Mensch beginnt sich vor dem Hintergrund der Eigenreflexion vom Objekt im Sinne der Fremdbestimmung zum Subjekt der frühen Aufklärung zu lösen. Auch bei dieser Betrachtung muss die Übertragung z. B. aus der Antike abgelehnt werden. Vielmehr ist es so, dass die Zivilisationstheorien (Elias 1998), hier der Beginn der Epoche der Selbstfindung des modernen Subjekts, in der Neuzeit »geboren« werden. Für den Menschen im Mittelalter war ein Bild eine symbolische Repräsentanz z. B. für das »Höhere, Himmlische, Jenseitige« oder auch die transzendente Wirklichkeit. Zu dieser Zeit war die Abbildung Christi keine Imagination oder Vorstellung und damit Abbild einer höheren Wirklichkeit, sondern war Teil einer höheren Seinsform und hatte somit einen »wesenhaften Anteil am Dargestellten selbst« (Fichtel 2003, S. 14). Bei dem
Dogma der Transsubstantiation ist die gewandelte Hostie in der Messfeier nicht nur Symbol des Leibes Christi, sondern Teil des Leibes selbst. Für diese Wahrnehmung bedarf es eines psychischen Innenraumes, die es dem Menschen ermöglicht Teil des Bildes zu sein. Es findet eine reflexive Spiegelung des eigenen Selbstverständnisses gegenüber der gemeinsamen Teilhabe an z. B. einem universellen Schöpfungsgedanken statt. So kann das Auftauchen von Spiegeln in den Bildern der frühen niederländischen Malerei als visuelle Diskursivierung von Selbstreflexion verstanden werden. Der Beginn der »Privatisierung« des »Ichs« hatte begonnen. Als weiterer Befund für die individuelle Entdeckung des »Selbst« können die Stundenbücher genannt werden. Stundenbücher waren der mit Abstand häufigste Buchtyp des gesamten Mittelalters. Sie wurden als persönliches Gebetsbuch für Laien, mit einer unterschiedlichen Zahl von Texten und Gebeten, verwendet. Manchmal waren auch Bilder mit säkularem Inhalt enthalten. Jeder Auftraggeber stellte sein eigenes Stundenbuch zusammen. Im Rohanschen Stundenbuch wird ein Totenacker dargestellt, auf dem neben menschlichen Schädeln und Gebeinen eine nackte ausgezehrte Leiche eines Verstorbenen liegt. Aus dem Mund des Verstorbenen, gleich dem letzten Atem, kommt eine Schriftrolle mit dem lateinischen Vers: »Herr in deine Hände befehle ich meinen Geist. Du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott« (Psalm 31,6). Darüber erscheint der übermächtige Gott mit einem Schwert als Sinnbild für das Gericht. Zwischen den Beiden, Gott und Leichnam ist die Seele des Verstorbenen, die vom Teufel ergriffen wird. Der Erzengel Michael versucht, die Seele dem Teufel zu entreißen. Daneben eine zweite Schriftrolle, mit dem Vers: »Für deine Sünden wirst du Buße tun. Am Tag des Gerichts wirst du mit mir sein« (Fichtel 2003). Im frühen Mittelalter kam nach dem individuellen Tod das Weltgericht, dem die Auferstehung des Fleisches folgt. Im 12. und 13. Jahrhundert wird die Frage gestellt, was zwischen »meinem« Tod und dem Weltgericht passiert. In der Vorstellung entstand das Partikular- oder Individualgericht. Das Individualgericht nimmt das Weltgericht vorweg und weist der Seele unmittelbar nach dem Tod
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einen Ort zu: Paradies oder Hölle. Das individuelle Verhalten des Menschen hatte auf einmal Einfluss auf die Konsequenz für die Zeit nach dem Tod. Stundenbücher waren somit auch individuell zusammengestellte Verhaltensregeln. Fichtel (2003, S. 25) geht hier von der Entstehung einer individuellen Kultur der Selbstsorge aus. Das »Selbst« in den Sozialwissenschaften Die aktuelle Sozialpsychologie geht davon aus, das die Vorstellungen, »die jemand von sich selbst hat, ... von Bedeutung dafür sind, wie er soziale Informationen verarbeitet und sich anschließend in sozialen Situationen verhält« (Bourne und Ekstrand 1992). Das »Selbst« geht demnach ein in die Informationsverarbeitung 1) als eine Informationsquelle, 2) als Vergleichsmaßstab oder 3) als eine motivierende Kraft, die mitbestimmt, wie wir auf Informationen reagieren und zu welchen Verhaltensweisen wir uns entschließen. Die Selbstpflege oder besser die Selbstsorge ist ein Teilkonzept der Selbstkonzepte und damit auch der Fürsorgekonzepte, also das Sorgen für andere. Pflegebedürftigkeit wird häufig subjektiv als Handlungseinschränkung wahrgenommen und empfunden (Scupin 2003). Verhaltensvorhersagen, wie ein Mensch Pflegebedürftigkeit kompensiert, sind situations- und ergebnisabhängig. Das menschliche Handeln und Erleben wird von »Merkmalen der Person und ihrer Umgebung bestimmt. Auf der Seite der Person sind es vor allem ihre Prozesse der Informationsverarbeitung, die Verhalten und Gefühle beeinflussen« (Schwarzer 1996, S. 12). Einer der wichtigsten Prozesse sind hierbei die Erwartungen. Der Umgang mit uns selbst und der Welt wird teilweise durch die Erwartungen gesteuert. Menschen hegen Erwartungen bezogen auf die Situation, die Handlungen und die Ergebnisse und deren Folgen. Die Einschränkungen in den autonomen Handlungen resultieren zum Teil aus den Erwartungen, die mit einer Situation in Zusammenhang gebracht werden. Die Handlungs-Ergebnis-Erwartungen entsprechen auf der Ebene der Persönlichkeitsmerkmale der Kontrollüberzeugung, die spezifischen Situations-Ergebnis-Erwartungen dem Vertrau-
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en und die spezifischen Situations-HandlungsErwartungen dem Selbstkonzept der Fähigkeit. So ist es auch nachvollziehbar, dass Menschen, wenn sie Misserfolge oder Rückschläge beim Versuch eine Risikosituation zu kompensieren erleben – also die Beobachtung eines scheiterndes Modells oder die Präsentation von Informationen, die nicht überzeugen – verantwortlich sind für die Defizite in der Kompetenzerwartung – also die Fähigkeit, Eigenschaft oder Überzeugung besitzen, eine individuelle Situation beeinflussen zu können (Schwarzer 1996). Das anthropologische »Selbst« in der Pflegewissenschaft Die Selbstpflege, als Handlungskonzept des Menschen, ist eine anthropologische Grundannahme. Die Wirksamkeit von Selbstpflegekonzepten ist wissenschaftlich hinlänglich belegt. An der Umsetzung in der Bundesrepublik Deutschland fehlt es zurzeit. Aus Sicht des Autors kann auf der Grundlage der Pflegewissenschaft die Wissenschaft der Selbstpflege als ein Paradigma der Pflege angenommen werden. Ein strukturierter Zugang zu den Selbstpflegekonzeptionen ist möglich und mit den Methoden der wissenschaftlichen Überprüfung evaluierbar. So haben einige Disziplinen sog. »Wissenschaftsmenschen« konstruiert, die es der jeweiligen Einzelwissenschaft erlauben, allgemeingültige Aussagen über die Verhaltensweisen von Individuum oder Gruppen zu machen. Der »homo ökonomicus« ist eine häufig verwendete Fiktion der klassischen Nationalökonomie mit der Aussage, dass Menschen ausschließlich ökonomisch-rational ausgerichtet sind. Es geht beim »homo ökonomicus« darum, durch ein abstraktes Gebilde bestimmte idealtypische menschliche Züge darzustellen (Baßeler et al. 1991). Der »homo soziologicus« bezeichnet idealtypisch den soziologischen Menschen und geht auf das Paradigma der Rollenanalyse zurück (Wiswede 1991, Dahrendorf 1977). Es geht darum, das tatsächliche faktische Handeln und Verhalten eines Menschen vorher zu sagen, ohne die »komplexen psychologischen Mechanismen von Motivation, Persönlichkeitsmerkmalen und Verhalten bemühen zu müssen« (Wiswede 1991, S. 185). Nicht individuelle Antriebskräfte des Menschen wären
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Kapitel 7 · Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch
dann Grundlage für sein Verhalten, sondern allein die Erwartungsstrukturen, denen sich ein Mensch in sozialen Positionen gegenübersieht. Menschen handeln dann nur noch als Positionsinhaber einer Rolle, z. B. als Krankenschwester oder als Mutter oder Ehefrau. Von Interesse ist dann der Rollenträger und nicht das Individuum als Mensch. Der »homo soziologicus« ist somit »die abstrakte, gedachte Personifikation von sozial determinierten Rollen« (Reinhold 1992, S. 240). Neben dem »homo ökonomicus« und dem »homo soziologicus« kann von einem »homo curare« gesprochen werden. Der »homo curare« beschreibt den Menschen als ein Wesen, welches idealtypisch danach bestrebt, sich selbst versorgen zu können oder definieren zu können, warum er welche Leistung einer Gesellschaft wahrnehmen (annehmen und geben) möchte, um eine möglichst hohe Autonomie in den Ausübungen seiner subjektiven Möglichkeiten zu erlangen. Diese subjektive Definition ist nur durch das »Fremd« möglich. Erst wer Fremdpflege erfährt, entdeckt sein Defizit in der Selbstpflege. Der Mensch definiert seinen Selbstpflegebedarf erst durch das Spürbarwerden des Fremden. Die beschriebene anthropologische Grundlage der Selbstpflege und -sorge sollte in die Organisationskonzepte des Pflegemanagements Eingang finden. Ob der Mensch zur Sicherung seines Lebensunterhaltes möglichst schnell selbständig wurde (was zum Sozialversicherungssystem führte) oder aufgrund der finanziellen Rahmenbedingungen eines postmodernen Staatsgefüges: Beides bedeutet immer, dass die Selbstpflegekompetenzen erhöht werden müssten oder müssen. So konnte in Studien zur Förderung der Selbstpflegekompetenz von Patienten und der daraus resultierenden rascheren Wiedererlangung der individuellen Handlungsfähigkeit ein direkter Zusammenhang zur Verweildauer im Krankenhaus hergestellt werden (Faucett et. al 1990). Ebenfalls konnte ein direkter Zusammenhang zwischen der Wiederaufnahme (Re-Einweisung) in die Klinik und einer unzureichenden Selbst- bzw. Angehörigenpflegekompetenz festgestellt werden. Vinson u. Rich (1990) konnten aufzeigen, dass ca. 53% der Wiederaufnahmen direkt aus den Selbstpflegedefiziten und unzureichender Entlassungsplanung resultierten. Williams u. Fit-
ton (1988) zeigten in einer weiteren Studie, dass 59% der Wiederaufnahmen vermeidbar gewesen wären. Sie untersuchten Patientengruppen mit verschiedenen Erkrankungen ab einem Alter von 70 Jahren und älter. In einer Interventionsstudie von Rich et al. (1995) konnte der ökonomische Nutzen der Förderung der Selbstpflegekompetenz im fallbezogenen Sinne nachgewiesen werden. Die Anwendung gezielter Programme zur Förderung der Fähigkeit der Patienten und deren Angehörige im Umgang mit der Erkrankung und der nachstationären Versorgung führte zu einer Vermeidung möglicher Wiederaufnahmen in die Kliniken. Auf diese Weise konnten pro Fall ca. 1058 Dollar eingespart werden. Durch die Anwendung der Selbstpflegekonzepte aus der Pflegewissenschaft konnte eine kassenrechtliche und ökonomische Wirksamkeit festgestellt werden. Auf der Grundlage einer theoriebasierten Pflegedokumentation wurde von einem Medizincontroller einer Klinik, in der die genannten Konzepte anwendet werden, dargelegt:
»
Die von den PPVlern [Primärpflegeverantwortlichen] erstellte Pflegedokumentation hat sich bereits als hilfreich bei einigen strittigen Abrechnungsfällen erwiesen... Die betreffenden Probleme bzw. die Diagnosen der Patienten und der damit verbunden Behandlungsaufwand im Sinne der Kodierrichtlinien waren aber in der Pflegedokumentation verzeichnet, sodass die Abrechnung der weiteren Prüfung stand hielt (Wille 2003)«.
> Es kann der Auftrag an die professionelle Pflege (Inhalt) und das Management der Pflege (Organisation und Entwicklung) formuliert werden, dass sie auf der Grundlage eines pflegefachtheoretischen Hintergrundes, hier der Selbstpflegekonzeptionen, die Laienkonzepte der Patienten mit der Spezialistenwelt der Ärzte in Einklang zu bringen.
⚉ Nur wer an jeder Stunde die Klauen, die Hauer, die rostigen Nägel sieht, mit denen sie unser Herz in Stücke reißt, der hat das Leben in sich aufgenommen und steht ihm nahe und darf leben. (Gottfried Benn)
199 7.3 · Der humanontogenetische Ansatz des Pflegemanagements
7.3
Der humanontogenetische Ansatz des Pflegemanagements
Die Disziplin der Humanontogenetik kann dem Pflegemanagement befruchtende Impulse bei der Anwendung der Selbstkonzepte geben. Die Humanontogenetik erforscht die Entwicklung des menschlichen Individuums von der Konzeption bis zum Tode.
»
Im Unterschied zu Einzelwissenschaften, deren Gegenstände spezielle ontogenetische sind, versteht sie den Menschen als hochkomplexe Einheit/Ganzheit personaler, biotischer und psychischer Zustände und Prozesse, eingebettet in soziokulturelle Kontexte und Vorgänge. Die Humanontogenetik ist also eine Querschnittsund Entwicklungswissenschaft, die bewusst und gezielt die Einsichten und Erkenntnisse der Einzelwissenschaften in interdisziplinärer Kommunikation und Kooperation aufnimmt, verarbeitet und generalisiert, entwickelt neue Hypothesen für die Untersuchung von Entwicklungsphänomenen, für die Formulierung von Entwicklungsregeln und -gesetzen (Wessel 2002).
Grundlagen der Humanontogenetik sind die qualitative Gliederung der Lebensspanne, die Ökologie der Humanontogenese – die Umwelt des Individuums in der Ontogenese, das Modell der hierarchischen Ordnung der Kompetenzen, die Geschlechtlichkeit des Menschen – die Sexualwissenschaft im Kontext der Humanontogenetik, die Menschenbilder in den Wissenschaften, die Zusammenhänge allgemeiner Entwicklungstheorien mit einzelwissenschaftlichen Entwicklungskonzeptionen sowie die sensiblen und kritischen Phasen humanontogenetischer Entwicklung. Die Realität der kritischen Phasen führen zu irreversiblen Folgen für die weitere Lebensspanne. Die Entwicklung des Menschen wird eben durch die Übergänge in die nächste Phase irreversibel verändert. Pflege oder besser Pflegebedürftigkeit und Krankheit kann als kritische Phase des Lebens verstanden werden, ohne defizitär zu sein. Denn in kritischen Phasen wird Selbstpflege erst präsent, da Fremdpflege notwendig wird. Fremdhilfe ist notwendig um Selbsthilfe zu fördern. Die Irrever-
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sibilität tritt immer ein, die Konsequenz für das prospektive Handeln ist aber zu beeinflussen. Die Humanontogenetik bietet einen Rahmen an, in dem fachtheoretische Konzepte (z. B. Pflegemodelle und -theorien) in die Unternehmenspraxis, nicht nur in die Pflegepraxis, umgesetzt werden. Wissenschaftsphilosophisch wird der Standpunkt vertreten, dass abgeleitet aus der Anthropologie die Humanontogenetik versucht die einzelwissenschaftlichen Fragestellungen so zu bearbeiten, dass Konzepte entstehen, die nur in einer Interdisziplinarität entstehen konnten. So wie das »Gestern« und »Morgen« nur gemeinsam erlernt und wahrgenommen werden kann, besteht eine Symmetrie zwischen den Zweckerfüllungen der Laien und des Unternehmens. Für die Zeitdimension einer Lebensspanne bedeutet dies auch, dass die Länge der Vergangenheit den Horizont der Zukunft bestimmt. In dem Moment, in dem Patienten und Ärzte in Kontakt treten, stehen sich verschiedene Lebenswelten (kritische Phase) mit ihren jeweiligen individuellen Lebenserfahrungen gegenüber. Durch die Expertenbetrachtung des Arztes verschiebt sich gleichsam die Berücksichtigung der Laienkonzeption im Umgang mit Krankheit, Gesundheit und Pflegebedürftigkeit, wenn sie durch Krankheit ausgelöst wurde. Der Arzt handelt auf der Grundlage eines fachtheoretischen Rahmens. Dies sind z. B. die Naturwissenschaften, die Psychosomatik oder auch die Genetik. Diese einzelwissenschaftlichen Disziplinen helfen den Ärzten auf der Grundlage von Symptomen Diagnostik zu betreiben und über die Diagnosestellung zu einer Therapie zu gelangen. Diese zugegebenermaßen hohe, aber organspezifische Fachlichkeit oder Expertentum ist kaum kompatibel mit den Konzepten der Laien (Patienten, Klienten). Die Erklärungsmodelle der Laien, warum eine Krankheit entsteht oder was sie tun um gesund zu bleiben, passen selten bzw. nie in die abgesicherten Ergebnisse der Ärzte. So ist auch zu erklären, warum Patienten von den ärztlichen Anordnungen abweichen. Die Pflegenden hingegen verstehen aufgrund der Ausbildung den fachtheoretischen Rahmen der Ärzte, die ihr Handeln begründet. Pflege ist, wenn sie es denn wahrnimmt, ein Bindeglied zwischen einer einzelwissenschaftlicher Fachlichkeit und den
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Kapitel 7 · Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch
kulturellen Laienkonzepten einer Population. Oder wie Kohnen (2003) es sagt: »Pflege könnte die heimliche Königin sein«, die es schafft zwischen den beiden Systemen (Laien und Ärzten) zu vermitteln und so zur Prozessgestalterin der Fürsorge zu werden. Die Entscheidung, die Selbstkonzepte in den Mittelpunkt einer beruflichen Reaktion auf die Einführung eines fallpauschalierten Finanzierungssystems zu stellen, setzt sich über ein Organisationsprinzip fort. Die unternehmerischen Organisationsprinzipien spiegeln sich in den Pflegeorganisationsprinzipien. So ist die Funktionspflege oder auch die Bereichspflege immer zunächst auch baulich gedacht. Selbst die Etablierung sog. ganzheitlicher Pflegesysteme geht immer noch von einer Stationsorganisation aus und bezieht nur in Ansätzen eine abteilungs- und sektorenübergreifende Organisation mit ein. Als Ergebnisse des Bundespflegemodells »Entwicklung und Erprobung eines ganzheitlichen Pflegesystems« wurde festgestellt, dass Tätigkeiten weniger zergliedert wurden, Arbeitsbelastungen abgebaut und die Zufriedenheit der Mitarbeiter erhöht wurde. Auch wenn weiter beschrieben wird, dass nicht nur die »Abläufe des Pflegedienstes« reorganisiert wurden, sondern auch die »angrenzenden Abteilungen« ihre Ablauforganisation überprüfen und verändern mussten, wird deutlich, dass es nicht um eine Prozessorganisation im Sinne einer Prozesssteuerung für den Behandlungsfall ging (Bleses 1997). Es werden auch keine Aussagen über die budgetrelevanten Auswirkungen eines ganzheitlichen Pflegesystems gemacht, obwohl in der Zielsetzung des Modellversuchs von der »Verbesserung der Wirtschaftlichkeit der Versorgung« gesprochen wird (Bleses 1997, S. 271). Die Zielsetzung dieser und ähnlicher Vorhaben dreht sich letztendlich um eine isolierte Betrachtung der pflegerischen Rahmen- und Arbeitsbedingungen. Echte Versorgungsketten im Sinne von der Aufnahme bis zur Entlassung- und darüber hinaus spielen hier keine Rolle. Jede Verlegung eines Patienten innerhalb einer Klinik oder übersektoral bedeuteten einen »Neuanfang« des Pflegeprozesses. Die externen Arbeitsgruppen zur Pflegeüberleitung oder das bestreben sog. gemeinsame Verlegungsberichte zwischen Kliniken und dem ambulanten und stationären Altenhilfesektor zu etablieren, sind
letztendlich untaugliche Versuche, die Schwächen einer arbeitsteiligen Organisation zu kompensieren. Es ist nun die Aufgabe des Pflegemanagements – aber nicht isoliert für die spezifische Berufsgruppe – ein Organisationsprinzip zu etablieren, welches den »Fall« oder besser den Menschen, also einen Behandlungs- und Versorgungsprozess, in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. ⚉ Ärzte! Die sind halt überall doof, in Uniform wie in Zivil. (Gottfried Benn)
7.4
Pflegemanagement und Selbstorganisation – Ein Praxisbeispiel
7.4.1 Das »klassische« Organigramm
des Pflegedienstes eines Akutkrankenhauses Das Beispiel wird in der vorliegenden Darstellung auf die isolierte Veränderung in der Pflegehierarchie und die Etablierung einer neuen Berufsgruppe innerhalb der Pflegeberufe reduziert. Bisher wird das hierarchische Liniensystem der Pflege so strukturiert, dass an der Spitze des Pflegedienstes die Pflegedienstleitung, Pflegedirektor, Oberin usw. steht. Ihr unterstellt sind, je nach Größe einer Einrichtung, eine bestimmte Anzahl von Bereichs-, Klinik- oder Abteilungspflegedienstleitungen. Diesen sind, nach Anzahl der Stationen, die Stationsleitungen zugeordnet, diesen wiederum eine oder mehrere stellvertretende Stationsleitungen. Überwiegend liegt die Führungsspanne der jeweiligen Entscheidungsebene zwischen 1 bis 120 Menschen. Die Ausprägung dieser Systematik ist in der BRD extrem heterogen. Jede Klinik, jeder Arbeitgeber, jede Rechtsform und jede Pflegedienstleitung wandelt dieses Konzept nach ihren Kriterien ab. Gleich bleibt jedoch eine Säulenorganisation nach Berufsgruppen. Die Pflege wird neben dem ärztlichen und administrativen Dienst organisiert. Jede Berufsgruppenorientierung in der Hierarchie ist für Prozesse kontraproduktiv. Wie könnte ein neuer Entwurf aussehen? Die nun vorgestellte Konzeption ist keine »neue«, sondern entspricht im Wesentlichen den
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201 7.4 · Pflegemanagement und Selbstorganisation – Ein Praxisbeispiel
Erfahrungen europäischer und anglo-amerikanischer Pflegeorganisationsmodellen, als Reaktion auf die Einführung der dortigen fallbezogenen Finanzierungssysteme. Innerhalb des Pflegedienstes werden für die Entscheidungen stringent dezentrale Organisationsformen angewandt. Neben einer Pflegedienstleitung, wenn diese überhaupt noch notwendig ist, gibt es übergeordnete Führungskräfte, z. B. Pflegeleitungen, die für mehrere Stationen zuständig sind. Die Budgetverantwortung liegt bei diesen Personen. Stationsleitung gibt es gar nicht mehr. Auf den Stationen sind Mitarbeiter aller Gesundheitsberufe tätig. Dies können Arzthelferinnen, ungelernte Arbeiter, Pflegehelfer, Sekretärinnen usw. sein. Diesen fachlich vorgesetzt sind z. B. die Care-Manager oder Pflegediagnostiker. Diese entscheiden was, wer, wann am Patienten leisten soll (⊡ Abb. 7.1).
7.4.2 Inhaltliche Ausgestaltung Im Weiteren soll der Prozess der Aufnahme, Diagnostik, Therapie und Entlassung aus der wichtigsten Bezugswissenschaft der Pflege (Medizin) vorgestellt werden. Der Arzt nimmt die Symptomatik eines Patienten wahr und entwickelt eine Vorstellung darüber, welche Krankheit der Patient haben könnte. Aufgrund seines fachtheoretischen Hintergrundes
(naturwissenschaftlich, psychosomatisch, genetisch usw.) legt er fest, welche Diagnostik notwendig ist, um zu einer Diagnose zu gelangen. Durch den fachtheoretischen Rahmen wird nicht jede Diagnostik betrieben, die betrieben werden kann, sondern die Idee oder der Verdacht einer Diagnose rechtfertigt die Diagnostik. Die dann (hoffentlich) ermittelte Diagnose wird im ICD verschlüsselt und mit dem evtl. verbundenen OPS klassifiziert und führt nach Therapieabschluss zu einer Rechnungserstellung für diesen Patientenfall. Die Pflege verfügt ebenfalls über Klassifikationssysteme (z. B. NANDA, NIC, NOC, ICNP) und auch Leistungserfassungssystemen wie der PPR oder LEP (Fischer 1997). Was bisher nicht geleistet wurde, ist den pflegediagnostischen Prozess mit einem pflegefachtheoretischen Rahmen zu verknüpfen – also die Frage: Wie gelange ich zu einer Diagnose? Hier spielt die Fachsprache eine wesentliche Rolle. Wenn Ärzte und Pflegende sich z. B. über das »Kammerflimmern« bei einem Patienten unterhalten, besitzen beide Berufsgruppen denselben Definitionsrahmen zur Erklärung dieser Krankheit. Durch anatomische und physiologische Kenntnisse wissen beide Berufsgruppen, was »Kammerflimmern« ist, wie es entsteht und wie es behandelt werden kann. Die Definitionsmacht liegt beim Arzt, er ist aber durch denn fachspezifischen Ausbildungsstand der Pflegenden in der Lage, in
5– 10% APDL
APDL (4)* Stationsleitung (34)
90– 95% Mitarbeiter (1–x) * z. B. 4 = Anzahl Stellen
⊡ Abb. 7.1 Praxisbeispiel Organisationsentwicklung Pflege (Stand bis 6/2001)
Fachlichkeit
stv. Stationsleitung (54)
Leiten und Führen
Pflegedienstleitung (1)
202
7
Kapitel 7 · Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch
seiner Fachsprache mit den Pflegenden zu kommunizieren, ohne dass er ständig die Sprache und die dahinter liegenden Inhalte erklären, vormachen oder belegen muss. Die jeweilige individuelle Intervention muss nicht immer im Konsens entschieden werden. Sie wird aber entschieden. Letztendlich trägt der Chefarzt die Letztverantwortung welche Interventionsmaßnahme durchgeführt wird. Wer ist dies für die pflegerischen Interventionen? Die Anwendung des Pflegeprozesses selbst legt ja keinen pflegerischen Diagnostikpfad (im Sinne eines Referenzsystems) fest, also die Strukturierung der Wahrnehmung einer Pflegenden. Die potentiellen Probleme oder Begleitproblematiken und Risiken, die ein Patient während seines Aufenthaltes im Gesundheitswesen erlangen oder entwickeln kann, sollten prospektiv ermittelt werden. Wie kann aber eine strukturierte Erfassung von situativen Problematiken erlernt werden? Nicht jede Pflegende ist geeignet z. B. entwicklungsbedingte oder kognitive Defizite eines Patienten zu erkennen, geschweige denn eine Intervention daraus abzuleiten. In der deutschen Pflege besteht zum Teil der Irrglaube, dass jede examinierte Pflegekraft in der Lage ist, den Pflegeprozess »mit Inhalt« zu füllen. Ohne einen fachtheoretischen Hintergrund lebt der Pflegeprozess nicht. In einem Dutzend deutscher Kliniken wird z. T. seit fünf Jahren das Projekt »Systematisierung der Pflegepraxis« angewandt und etabliert. Dieses Projekt besteht aus folgenden Zielen: a) Abbau von Diskontinuität in der pflegerischen Versorgung, b) Abbau konkurrierender Zielvorstellungen und c) Aufbau einer einheitlichen Fachsprache. Zu a) Abbau der Diskontinuität: Mit dem Abbau der Diskontinuität in der pflegerischen Versorgung ist das Phänomen angesprochen, dass jeder Pflegender in jeder Situation entscheidet was, wie »am« oder mit dem Patienten geleistet werden muss. So kann es passieren, dass der eine Pflegende bei einem Patienten mit einem Schlaganfall in »seiner« depressiven Phase die Rolle der »fürsorgenden Mutter«, die Rolle der »aktivierenden Lehrerin« oder nach gar keiner Konzeption tätig wird. Der wichtigste Diagnostikfaktor der Pflege ist die Wahrnehmung von (Pflege-)Phänomenen, z. B. wie ein Pflegender die
situative Problematik eines Patienten interpretiert und welche Handlungen daraus resultieren. Nach der Entscheidung für eine bestimmte Pflegediagnose müssten Pflegende zu übereinstimmenden Handlungen kommen oder aber durch eine definierte Fachsprache über denselben Gegenstandsbereich diskutieren können. Diese Handlungen können einen unterstützenden, übernehmenden oder beratenden Charakter besitzen. Wenn im Rahmen einer aktivierenden Pflege ein Patient mit Schlaganfall und rechtseitiger Hemiparese am dritten Tag in der Lage ist, mit der »gesunden Hand« den Kamm in die Haare zu führen, kann es nicht sein, dass eine Pflegende am nächsten Tag die Haare des Patienten »schnell selber kämmt«, nur weil es von den Abläufen her schneller ginge. Die Wahrnehmung der Pflegenden sollte so strukturiert sein, dass sie sich die Frage stellt, warum muss ich dem Patienten welche Frage stellen und wonach muss ich mich erkundigen? Zum Beispiel die Frage: Warum sind Sie hier? Weiter muss geklärt sein, ▬ ob das Pflegewissen, welches ich für die aktuelle Situation benötige vorhanden ist und welches erforderlich ist? ▬ Welchen Sinn haben meiner Meinungen nach die so erhaltenden Informationen und die von mir vorgenommenen Einschätzungen? Welche Schlussfolgerungen sind zulässig? ▬ In welcher Weise entwickelt sich mein Wissen, wenn ich mit diesen Personen arbeite, die von mir gepflegt werden? ▬ Gelange ich zu neuen Einsichten? Sollte ich diese mit Pflegekollegen diskutieren? ▬ Sollten Schritte hinsichtlich der Verifikation und Formalisierung dieses Wissens unternommen werden? ▬ Verfüge ich über das Wissen, was durch bewusstes Handeln verändert werden kann und was nicht« (Bekel 2003; Orem 1997; Scupin 2003, S 45)? Ohne die Beantwortung dieser Fragen befindet sich die Pflege auf der Ebene des »gesunden Menschenverstandes.« Sicher ist davon auszugehen, dass jede Pflegende evtl. »das Beste« für den Patienten möchte, die Leistung jedoch nicht unbedingt pflegewissenschaftlich abgesichert ist.
203 7.4 · Pflegemanagement und Selbstorganisation – Ein Praxisbeispiel
Zu b) Abbau konkurrierender Zielvorstellungen:
Die konkurrierenden Zielvorstellungen sind eines der Hauptprobleme für Veränderungsprozesse in Einrichtungen des Gesundheitswesens. Die Umsetzung von Unternehmenskonzepten erfolgt u. a. im Rahmen eines Service-Triangels, also der Abstimmung zwischen Unternehmens-, Kundenund Mitarbeiterinteressen. Die Interessenslagen des handelnden Individuums werden vor dem Hintergrund eines Wertesystems (Werte, Normen, Einstellungen und Meinungen) abgeglichen und korrespondieren mit dem individuellen Verhalten eines Mitarbeiters. Die Ziele eines Unternehmens, im Krankenhaus z. B. die Heilung von Krankheit, gelten als Handlungsmaxime. Für die professionelle Pflege muss festliegen, nach welchen Kriterien im Sinne einer Handlungskompetenz »gepflegt« werden soll. So kann als ein Paradigma der Pflege die Wissenschaft der Selbstpflege postuliert werden und legt die Pfade zur Konzeption der Pflegeorganisation und des Menschenbildes fest. > Es ist eine Aufgabe des Pflegemanagements, die Art, Form und den theoretischen Rahmen (Pflegekonzepte, -modelle und -theorien) des pflegerischen Handelns zu definieren und zur Anwendung zur bringen.
Das Vorgenannte berücksichtigt auch die Konstrukte, wie die Identifikation mit dem Unternehmen und die Motivation, wie sie in den Führungstheorien Berücksichtigung finden. Zu c) Aufbau einer einheitlichen Fachsprache: Es ist zu vermuten, dass der Aufbau einer pflegerischen Fachsprache in der bundesdeutschen Pflege eher zu einem »Dogmenstreit« führen wird. Ein wissenschaftlicher Diskurs kann zurzeit nicht beobachtet werden. Die Bestrebungen ein Klassifikationssystem und Leistungserfassungssystem zu übernehmen, zu adaptieren oder zu entwickeln sind bemerkenswert in ihrer Präsenz in der »Kongresslandschaft«. Es ist zu beobachten, dass auch hier Pflegewissenschaft und Pflegemanagement auf unterschiedlicher Ebene ohne Klärung des Gegenstandsbereiches der Pflege um ein DRG-relevantes Patientenklassifikationssystem bemüht sind. Doch was und warum soll zunächst klassifiziert werden? Um klinikinterne Budget zu ermitteln, um
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eine Strukturierung der pflegerischen Intervention vorzunehmen? Da es kein weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für die Pflege des Menschen gibt (i. S. der WHO), ist eine Vielfalt an Fachsprachen entstanden. In der ärztlichen Profession ist dies mit Einführung des ICD zur Klassifikation von Krankheiten nicht möglich. Die genannte Vielfalt ist in der aktuellen Entwicklung der weltweiten Pflege sicher sinnvoll. Denn aus dem Angebot der Vielfalt wird sich, wenn Pflege eine Wissenschaft ist, eine allgemein anerkannte Klassifikation entwickeln und »herausmendeln«. ⚉ Nicht die Umstände sind widrig: Wir haben nur eine falsche Meinung von den Dingen und den Menschen. Die aber können wir ändern. (Marc Aurel, 180 n. Chr.) Einführung eines fallbezogenen Organisationssystems Die Prozesssteuerung in den Krankenhäusern wird die Leitungsstrukturen massiv verändern ( Kap. 10). Da es zu interdisziplinären Belegungskonzepten kommt, Stationen nach Ressourcenverbrauch der Patienten organisiert werden, wird es zur Etablierung von »Kurzliegereinheiten« (Patientenversorgung für 1–3 Übernachtungen) und interdisziplinären Aufnahmestationen kommen. Versorgungsprozesse der Patienten werden als Fallmanagement organisiert werden. > Als Fallmanagement wird die Summe aller zielführenden Entscheidungen verstanden, in denen geklärt wird, wann, wo und durch wen der Patient die erforderlichen medizinischen, pflegerischen und administrativ notwendigen Leistungen erhält und diese sinnvoll koordiniert und zwar von der Aufnahme bis zur Entlassung und darüber hinaus.
Vorgehen und Umsetzung Nach einer dreimonatigen Kulturdiagnostik (Schein 2003) im Jahre 2001 wurde ein Organisationsentwicklungskonzept erstellt und zunächst in der Krankenhausleitung diskutiert und verabschiedet. Unter Organisationskultur oder Unternehmens-
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Kapitel 7 · Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch
kultur wurde hier die Gesamtheit aller im Unternehmen vorhandenen bewussten und unbewussten symbolisch oder sprachlich tradierten Wissensvorräte, Überzeugungen, Einstellungen, Werte, Verhaltensnormen und Weltinterpretationen verstanden, wie sie von den Mitarbeitern im Denken, Handeln zum Ausdruck kommen (Ulrich 1984). Nach der Konzepterstellung als Reaktion auf die DRG-Einführung wurde das Mitbestimmungsverfahren eingeleitet und die politischen Gremien der Klinik informiert. Parallel wurden Informationsmedien, wie Mitarbeiterzeitung, Projektzeitung und -börse etabliert. Die Bevölkerung sowie der niedergelassene ärztliche Bereich und die stationäre und ambulante Altenhilfe wurden über die Medien und Informationsveranstaltungen informiert und mit einbezogen. Der Konzeptentwurf Noch 2003 schrieben Dahlgaard u. Stratmeyer: »Die historische Rolle der Pflege entspricht der einer Restgröße zur Medizin. Sie ist dem medizinischen Hauptarbeitsgang vor-, zu- und nachgeordnet.« Diese Sicht- und Denkweise hat dazu geführt, dass sich die Pflege als eigenständige Berufsgruppe nicht etablieren konnte. Eine inhaltliche Neuorientierung aus dem Inneren heraus ist nicht erfolgt und so ist es auch nicht verwunderlich, dass berufliche Funktionen von anderen Berufsgruppen übernommen wurden. Als Widerspruch dazu kann postuliert werden, dass der Pflegedienst »traditionell« Veränderungsprozesse aktiv in die Institutionspraxis »getragen« hat (QM-Umsetzung, Arbeitszeitgestaltung usw.). Überwiegend haben diese Ansätze eine berufsspezifische oder sogar berufspolitische Zielsetzung. Eine Unternehmensorientierung oder Unternehmenskonzeption kann aber faktisch nicht attestiert werden. Aber kein Träger wird die Zielsetzung und die entsprechenden Veränderungsprozesse der Pflege »unterbinden«, wenn diese zum »Wohle« des Unternehmens beitragen. In der Beispielklinik wurde der Veränderungsprozess ohne Abgrenzung zum ärztlichen Dienst initiiert. Eine Tätigkeitsanalyse in Primär-, Sekundär- und Tertiärtätigkeiten hinterfragt lediglich, welcher Gesundheitsberuf oder angelernte Mitarbeiterstruktur für welche Tätigkeit qualifiziert
ist. Die Übernahme ärztlicher Tätigkeiten in den Pflegedienst ohne Budgetverschiebung führte dazu, dass Prozesse effizienter gestaltet werden konnten. Es wurde die Frage gestellt, was kann Pflege übernehmen und dadurch andere Dienste entlasten oder die Prozesskosten reduzieren. Ärztliche Bedenken, die in dem Wandlungsprozess der Pflegeberufe wieder (historisch) Autonomiebestrebungen sahen, wurden durch regelmäßige Kommunikation auf allen Beteiligungsebenen ausgeräumt. Eine strategische Lenkungsgruppe hatte unter anderem die Aufgabe der »Kompatibilitätsprüfung«. Sie sollte die Frage beantworten, ob die Entwicklungen hin zu einer Prozessorganisation zu den Entwicklungen im Gesamtunternehmen und damit auch zum ärztlichen Dienst passen. Diese strategische Lenkungsgruppe setzt sich zusammen aus dem Geschäftsführer, dem Betriebsrat, der Krankenpflegeschule, inzwischen drei Chefärzten, einem Oberarzt, drei Pflegende, drei Pflegeleitungen (ehemalige Stationsschwestern), der Pflegedienstleitung, dem Pflegecontrolling, der internen Projektleitung und optional dem Medizincontrolling. Die operative Lenkungsgruppe besteht aus der Pflegedienstleitung, der internen Projektleitung, dem Pflegecontrolling und praktisch Pflegenden, optional Ärzten. Die Zusammensetzung ist ebenfalls »evolutionär«, da sich im Laufe des Wandlungsprozesses die Inhalte ändern können. Die Krankenpflegeschule wurde mit einbezogen, da eine theoriebasierte Pflege schon in der Lehre vermittelt werden muss. Durch eine nicht akademische Pflegeausbildung muss das wissenschaftliche Verständnis zurzeit über die Krankenpflegeschulen vermittelt werden. Das Curriculum musste angepasst werden. Neue Hierarchien in der Pflege Bis zum Jahre 2001 waren in der Beispielklinik 34 Stationsleitungen und 51 stellvertretende Stationsleitungen tätig. Weiterhin gab es 4 Abteilungspflegedienstleitungen und eine Pflegedienstleitung. Der ärztliche Dienst ist »klassisch« als Chefarztsystem organisiert. Die Krankenhausleitung besteht aus dem Geschäftsführer, der Pflegedienstleitung einem Prokuristen (2-jährige Rotation) und 6 Chefärzten (2-jährige Wahlperiode) (⊡ Abb. 7.2).
205 7.4 · Pflegemanagement und Selbstorganisation – Ein Praxisbeispiel
PDL Pflegeleitung
Pflegeleitung (PL)
Station A
stv. PL
Station B
Station C
Care-Manager
optional
dienstrechtlich vorgesetzt
fachlich weisungsbefugt
Mitarbeiter KS / AH / KPH / PH / Azubi usw.
⊡ Abb. 7.2 Praxisbeispiel Organisationsentwicklung Pflege (Stand ab 1/2003)
Der Pflegedienst (620 Mitarbeiter, 34 Stationen) besteht aktuell aus der Pflegedienstleitung und 11 Pflegeleitungen. 5 stellvertretende Pflegeleitungen galten in der Gründungsphase als »doppelter Boden« für die Pflegeleitungen, um »Vorort« auf den Stationen noch organisatorische Ansprechpartner zu haben. Die fachliche Verantwortung liegt bei den Care-Managern. Die Aufgaben und Funktionen sind an die Prozessorganisation angelehnt.
Kompetenzen, Verantwortung, Autorität und Kommunikation der Care-Manager A Kompetenzen des Care-Managers ▬ Kompetenzen gegenüber den Patienten – Fachliche und erste pflegediagnostische Kompetenz – Definition der Rolle des Care-Managers gegenüber des Patienten – Strukturierung der Patientensituation durch die Entwurfseinheiten
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– Fähigkeit Patientensituation einzuschätzen in Bezug auf Einschätzung der komplexen Patientensituation und Definition des notwendigen Pflegesystems Risikokalkulation Entlassung – Klare Steuerung von komplexen Patientensituationen anhand der Struktur der Stadien der Pflege ▬ Kompetenzen gegenüber den Pflegenden – Definition der Rolle der Pflegenden anhand der Entwurfseinheiten, insbesondere durch die Entwurfseinheiten A+F, mit Festlegung der Verantwortlichkeiten – Delegation von primären, sekundären und tertiären Aufgabenbereichen – Kontrolle der Durchführung der angeordneten pflegerischen und ärztlichen Maßnahmen
▼
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206
7
Kapitel 7 · Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch
– Initiierung von korrektiven Maßnahmen bei fachlichen Defiziten, Übernahme von Maßnahmen wie Training on the job o. ä. – Weitergabe von fachlichen Mängel an die Vorgesetztenebene ▬ Kompetenzen gegenüber Ärzten – Pflegefachliche Entscheidungsträger für die zugewiesenen Fälle – Partner in Bezug auf Prozesssteuerung der Patientensituation – Garant für notwendigen Informationsfluss an die Ärzte – Strukturierte Informationsweitergabe an die Ärzte – Garant für die Durchführung der medizinisch und pflegerisch verordneten Maßnahmen – Mitwirkung am Entlassungs- und Überleitungsmanagement B Verantwortungsbereich des Care-Managers ▬ Verantwortung gegenüber den
▬ Verantwortung gegenüber den Pflegenden
▬
C
▬
Patienten – Verantwortung des Care-Managers gegenüber dem Patienten bzgl. der Prozesssteuerung – Verantwortung für die Pflegeplanung – Verantwortung gegenüber der eigenen Qualifikation und des eigenen Wissens und für die Form der Betreuung (Methoden des Helfens) – Gewährleistung einer professionellen Pflege – Verantwortung für die Kontrolle der Durchführung der angeordneten Maßnahmen – Berater, Fürsprecher, Informant für den Patienten – Richtige Einschätzung des Patienten und somit erreichen der angestrebten Gesundheitspflegeziele – Förderung der Selbstpflege – Fürsprecher des Patienten im Gespräch mit den Ärzten
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▬
▬
– Verantwortungsbereiche für die Pflegenden festlegen und Kontrolle der Pflegeinterventionen – Intervention bei Nichteinhaltung, bzw. fachlichen Mängeln – Rollenzuweisung der Pflegekräfte zur Erfüllung des situativen Selbstpflegebedarfs des Patienten – Anordnungen an die Pflegenden zur Erfüllung des Selbstpflegebedarfs und Kontrolle der Durchführung Verantwortung gegenüber den Ärzten – Weitergabe relevanter Daten an die Ärzte – Verantwortung für die Kontrolle der delegierten Aufgaben – Prozesssteuerung der Patientensituationen Autorität des Care-Managers Autorität gegenüber den Patienten – Professionelle Beziehung zu dem Patienten – Schutz vor Risiken – Pflegefachliche Beratung – Pflegefachliche Entscheidungsträger für die zugeordneten Fälle Autorität gegenüber den Pflegenden – Fachliche Weisungsbefugnis gegenüber den Pflegenden – Kontrolle der pflegerischen Intervention – Initiieren von entsprechenden Maßnahmen bei Defiziten Autorität gegenüber den Ärzten – Mitarbeit am Behandlungsplan des Patienten als Partner der Ärzte – Partner für die Prozesssteuerung der Patientensituation – Entlassungs- und Verlegungsmanagement in Absprache mit den Ärzten
D Kommunikationsstrukturen ▬ Allgemeine Kommunikation – Kontinuierlicher Ansprechpartner, Vertretung durch einen anderen Care-Manager bei Abwesenheit
▼
207 7.4 · Pflegemanagement und Selbstorganisation – Ein Praxisbeispiel
– Kommunikation mit den Pflegeleitungen über den Pflegebedarf der Station und evtl. auftretenden fachlichen Mängeln ▬ Kommunikation gegenüber den Patienten – Kontinuierlicher Ansprechpartner, Vertretung durch einen anderen Care-Manager bei Abwesenheit – Informationsweitergabe relvanter Daten – Aufklärung, Schulung etc. des Patienten unter Berücksichtigung der individuellen Selbstpflegerfordernisse und deren Maßnahmen zur Erfüllung ▬ Kommunikation gegenüber den Pfle-
genden – Kontinuierlicher Ansprechpartner – Regelmäßige Dienstbesprechungen – Fachliche und zügige Weitergabe von patientenrelevanten Daten – Kommunikation bei auftretenden fachlichen Defiziten ▬ Kommunikation gegenüber den Ärzten – Kontinuierlicher Ansprechpartner, Vertretung durch einen anderen Care-Manager bei Abwesenheit – Fachliche und zügige Weitergabe von patientenrelevanten Daten – Diskurs über Prozesssteuerung
Zur Funktion der Care- und Fall-Manager > Care-Management ist der Prozess der individuellen pflegerischen Versorgung und Überwachung des Gesundheitszustandes eines Patienten, um den größtmöglichen Nutzen bei gleichzeitiger Begrenzung der Kosten zu erreichen. Der Care-Manager ermittelt relevante Faktoren, die den Klinikaufenthalt und die Behandlung negativ beeinflussen könnten und kommuniziert diese umgehend mit den Ärzten und bearbeitet diese, um einen reibungslosen Ablauf der Diagnostik und Behandlung sicher zu stellen.
Nach der pflegerischen und ärztlichen Anamnese wird individuell für jeden Patienten entschieden, ob eine (Pflege-)Prozessplanung notwendig ist. Die Entscheidungskriterien sind hierbei z. B. die Vorer-
7
krankungen, die Einweisungsdiagnose und Krankheitsprognose, der Allgemeinzustand und das Alter. Die Care-Manager legen den situativen Selbstpflegebedarf und die notwendigen Pflegeinterventionen fest. Sie definieren, welches Pflegesystem (anleitend, beratend, teil- oder vollkompensatorisch) Anwendung findet und welche Berufsgruppen hinzugezogen werden müssen. Sie koordinieren berufsgruppenübergreifende Maßnahmen und nehmen autonom Kontakt zu den jeweils aus ihrer Einschätzung notwenig erscheinenden Berufsgruppe auf und initiieren entsprechende Interventionen. Care-Manager begutachten den Verlauf der Pflegesituation und überarbeitet ggf. die Pflege- und Fallplanung. Sie stellen den Fortbildungsbedarf bei den nachgeordneten Mitarbeitern fest und leiten diesen Bedarf an die zuständigen Führungskräfte weiter. Weiterhin ermitteln die Care-Manager eine Risikokalkulation in Bezug auf zu erwartende Begleitproblematiken, sowohl für Patienten als auch für Angehörige bei vorliegender Dependenzpflege. Ein zusätzlicher Baustein der Care-Management-Funktion ist die Entlassungsplanung und die Fallbesprechungen. Ziel dieser Fallbesprechungen ist es, pflegerische Intervention auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen, die Haltung im Sinne des Menschenbildes der Pflegenden in Bezug auf die Patientenperspektive zu schulen, fachliche Defizite und Diskontinuitäten in der pflegerischen Leistung aufzudecken und nach Lösungen zu suchen. CareManager definieren, welche Leistungen für den einzelnen Patienten notwendig sind und welche einen gezielten Beitrag zur Genesung bzw. Versorgung eines Patienten darstellen. Parallel beziehen die Care-Manager die ökonomischen Aspekte in die Steuerung der Patientensituation mit ein. Das Pflegerisiko soll kalkulierbar und damit planbar werden. Dieser diagnostische Prozess führt zu einer Diagnose, die eine Intervention initiiert. > Eine Pflegediagnose ist ein zentraler Ausgangspunkt, von dem die Art und das Ausmaß einer pflegerelevanten Problemstellung systematisch aufgezeigt wird und um welches Patientenproblem es sich handelt und ob die Bewältigung durch die Pflege oder eine andere Berufsgruppe effektiv geleistet werden kann oder soll.
208
7
Kapitel 7 · Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch
Die Zuordnung eines Care-Managers bleibt für den gesamten Krankenhausaufenthalt erhalten. Der Patient kann aufgrund seiner krankheitsbedingten Situation durchaus in einem anderen Bereich der Klinik versorgt werden, der zuständige CareManager bleibt verantwortlich und allen Pflegenden gegenüber weisungsbefugt (Görtler u. Gudat 2003). Die Aufgabe der Care-Manager im DRG-System ist es, eine individuelle Fallbearbeitung von ca. 12–15 Patienten zu initiieren, zu begleiten und auszuwerten. Bei systematischen Risiken (Diagnostik führt aufgrund von Ressourcenmangel in der Diagnostikabteilung zu verspäteter Verlaufdiagnostik) ist der Fall-Manager zu informieren. Somit haben die Care-Manager die medizinische Diagnostik und Therapie zu gewährleisten und sicherzustellen. Ebenso sind individuelle negative Begleitfaktoren, die den Ablauf der Diagnostik und Therapie negativ behindern zu bearbeiten. Sie bestimmen die Pflegeleistungen und legen so tages- und stundenaktuell für die Pflegeleitungen transparent den Personalbedarf und den Qualifikationsmix für die Patientenversorgung fest. Die Tätigkeiten gegenüber den Patienten werden nach primären, sekundären und tertiären Tätigkeiten strukturiert und an entsprechendes Assistenzpersonal delegiert. Care-Manager arbeiten gesamtinnerklinisch und übersektoral. CareManager kennen auf DRG-Grundlage die zu erzielende Verweildauern und planen so den Aufenthalt und die Überleitung in den transmuralen Sektor (integrierte Übernahme des Entlassungsmanagements). Zur Absicherung der Behandlungsziele führen die Care-Manager die pflegerische Erstversorgung der schwerpflegebedürftigen Patienten selbst durch. Im Anschluss werden Verlaufskontrollen auf den Stationen durchgeführt. Das Problem einer »Zweiklassen-Pflege« sei hier am Rande angesprochen, besitzt aber primär Auswirkungen auf die Führungsebene bei der Implementierung des vorgestellten Systems. Die Aufzählung der Verantwortung, Kompetenzen, Autorität und Kommunikation zeigt, dass die Selbstpflegedefizit-Theorie als Mainstreamtheorie Anwendung findet. Zunächst wurde vom Pflegemanagement festgelegt, dass die Wissenschaft der Selbstpflege die Konzeption ist, nach der in
der Beispielklinik die Patienten im Rahmen einer DRG-Finanzierung versorgt werden sollen. Diese Entscheidung ist eine unternehmerische und keine pflegespezifische. Die Art und Weise einer medizinischen Behandlung (Diagnostik und Therapie) findet ebenfalls nicht im berufsspezifischen Entscheidungsraum statt. Die Organisationsform und die inhaltliche Zielsetzung und Ausgestaltung der Patientenversorgung muss mit den ökonomischen, wettbewerbsrelevanten und ethischen Zielsetzungen des Unternehmens übereinstimmen. Da die Pflege die Fachsprache der Ärzte »versteht«, gleichzeitig die Laienkonzepte kennt oder kennen sollte, kommt der Pflegekonzeption eine wichtige Rolle zu. Pflegende steuern so die Behandlungsfälle im Bereich der kalkulierten Verweildauern und tragen so zur Existenzsicherung ihrer Einrichtung bei. Erste Auswertungen des veränderten Pflegesystems zeigen, dass Rechnungsprüfungen durch den MDK durch die Pflegedokumentation standhalten konnten und die Erlösseite der Klinik positiv beeinflusst wurde. So stellte der Medizin-Controller der Beispielklinik fest:
»
Die strukturierte Behandlungs- und Entlassungsplanung führt zu einer Optimierung der interdisziplinären Behandlung und zu einer Entlastung der Kostenseite. ... dass die PPVler [Primärpflegeverantwortliche oder Care-Manager] ... einen positiven Einfluss auf die Erlössituation nehmen, den ärztlichen Dienst bei der Fallkodierung entlasten und die Behandlungsunterlagen für eventuelle Krankenkassen-/ MDK-Prüfungen spürbar verbessern können (Wille 2003)«.
Um die Nachteile arbeitsteiliger Prozesse zu kompensieren ist es notwendig, die Prozesse möglichst so zu strukturieren, dass ein Anfangs- und Endpunkt benannt ist. Wenn wie aktuell aus dem »Boden sprießend« Entlassungsmanager als zusätzliche Berufsgruppe etabliert werden, unterbrechen diese den Versorgungsprozess, benötigen zusätzliche Integrationsnetze und Kommunikationswege und binden weitere Finanzressourcen. Wenn die Care-Manager fallbezogen die Ergebnisse des Behandlungsprozesses sicherstellen (Einhaltung von Diagnostikzeiten zur Bestimmung eines Entlasszeitpunktes oder auch Aufnahmedi-
209 7.4 · Pflegemanagement und Selbstorganisation – Ein Praxisbeispiel
agnostik), hat der Fall-Manager dafür zu sorgen, dass systemische Problemfelder bearbeitet werden. Bekommen z. B. die Patienten mit einem Schlaganfall ein Kontroll-MRT regelhaft 2 Tage zu spät und es liegt an den Kapazitäten des Diagnostikbereiches, dann ist die Aufgabe des Fall-Managers diese Schnittstellenproblematik im Prozess zu lösen. Die Aufmerksamkeit auf diese Problematik zu lenken ist aber Aufgabe der Care-Manager (⊡ Abb. 7.3) Da Patientenkarrieren innerhalb und außerhalb einer Institution verschiedene Versorgungskonzepte durchlaufen, sollte eine Position bestehen, die den Gesamtablauf gleichsam »im Auge hat«. Die Verknüpfung von Patientenaufnahme und Ambulanzen, die funktionale Zusammenfassung von Fachabteilungen zu Zentren, interdisziplinäre Belegungsformen (6 Fakultäten auf einer Station) sowie die Einrichtung von Kurzlieger- und
7
interdisziplinären Aufnahmestationen erfordern prozessverantwortliche Leitungsstrukturen. Auf der operativen Ebene sind dies die Pflegeleitungen und die Care-Manager. Übergeordnet für systemische Fragestellungen sind dies der oder die FallManager. Die Aufgaben des Fall-Managers liegen u. a. in der Festlegung von Zeitzielen in Zusammenarbeit mit den am Behandlungsprozess beteiligten Berufsgruppen. Auf das Krankenhaus bezogen berücksichtigt dies das Hausarztsystem und den Altenhilfesektor. Weiterhin sind Fallbesprechungen zu organisieren und durchzuführen. Die Dokumentation erlösrelevanter Nebendiagnosen und Prozeduren sind durch die Care-Manager zu koordinieren. Ebenso muss ein Screeningkonzept für »Risikopatienten« erstellt werden, um Verweildauerüberschreitungen systematisch zu vermeiden.
PROZESSBETEILIGTE Ambulanter Pflegedienst Kurzzeitpflege Haus-/Facharzt/ Selbsteinw.
Fallmanager Systembezogene Kommunikation 4 Arzt
Ambulanz/ Notaufnahme
Diagnostik / Therapie
Interdisziplinäre Aufnahmestation Stationärer Aufenthalt 4 internistisch 4 chirurgisch 4 neurologisch 4 usw. Entlassung
Fallbezogene Kommunikation
Care-Manager
Alten-/Pflegeheim Rehabilitation
Innerklinische Prozessverantwortung
Koordinationsfunktion ⊡ Abb. 7.3 Prozess- und Funktionsdiagramm im Fallmanagement einer Klinik
4 Pflege 4 Med.-techn. Dienst 4 Hauswirtschaft 4 Administration 4 weitere
210
Kapitel 7 · Gedanken zum Pflegemanagement – Ein praxisrelevanter Erweiterungsversuch
Der Verantwortungsbereich erstreckt sich auch auf eine optimale Bettenauslastung und Belegungsplanung nach Ressourcenverbrauch (high-, medi- und low-care). Der Fall-Manager ist kontinuierliches Bindeglied und Ansprechpartner für die therapeutischen Teams, für Patienten und Angehörige, soweit es sich um systemische Fragestellungen handelt. Der Fall-Manager organisiert der Personaleinsatz der Care-Manager und ist berichtspflichtig gegenüber der Krankenhausleitung. ⚉ Die Prognose ist ein schwieriges Geschäft, vor allem wenn sie die Zukunft betrifft. (Mark Twain)
7 7.5
Pflegemanagement mit neuen Zielen
Zur Anwendung der Personalwirtschaft im Pflegemanagement ist es z. B. notwendig, dass Grundlagen, evtl. vertieftes Wissen aus der Betriebswirtschaft vorhanden ist. Um fallbezogen Pflege planen und durchführen (lassen) zu können, ist Wissen aus der Pflegewissenschaft notwendig. Auch hier ist vertieftes Wissen notwendig, um überhaupt als Pflegemanager in der Lage zu sein eine Entscheidung für eine bestimmte Pflegekonzeption treffen zu können. Im Rahmen der Ökonomisierungskrise entwickelte sich das Pflegemanagement (oder anders die Führung der Pflegedienstes) immer mehr zu einem kaufmännisch verantwortlichen »Nebenökonomen«. Für die Zukunft (und damit zur Sicherung der gesellschaftlichen Funktion der Pflegeberufe als Partner im Gesundheitswesen) ist es notwendig, dass das Pflegemanagement neben ihrer ökonomischen Kompetenz pflegewissenschaftliche Kompetenzen besitzt. Bei dem vorgestellten Managementansatz kann der kaufmännisch Verantwortliche auf die Kompetenz der professionellen Pflege nicht verzichten, da ihr Tun nachweislich Auswirkungen auf die ökonomische Lage des Unternehmens besitzt. Auch die Ärzte werden diese Form des Pflegemanagements schnell zu schätzen wissen, da das Handeln der Pflegenden auf allen Ebenen nach dem Patienten ausgerichtet ist (fallbezogenes
Arbeiten). Zwar ist nicht jedes Handeln, welches auf eine Patienten- oder Mitarbeiterwirksamkeit ausgerichtet ist für jeden verständlich, dies liegt dann aber z. B. an den jeweiligen Menschenbildern der Positionsinhaber. Man wird gespannt sein dürfen, ob eine »unimodale Führungsstruktur mit einem ökonomischen Geschäftsführer oder in größeren Krankenhäusern mit einer bimodalen Führungsstruktur aus ärztlichem und ökonomischen Geschäftsführer« ( Kap. 10) etabliert wird, oder das Pflegemanagement eine Funktion einnimmt, in der Abgrenzung nach Berufsgruppen und »Säulendenken« keinen Platz mehr haben wird.
»
Mit meinem Gehirn kann ich mir nichts anderes vorstellen. Aber was ist schon mein Gehirn? Ich muss darauf gefasst sein, dass alles anders ist, als ich denke. (Mark Aurel, 180 n. Chr.)
? Wissens- und Transferfragen 1. Warum ist die Prozessorganisation im DRGSystem tautologisch? 2. Warum ist das Konstrukt des »Selbst« für das Pflegemanagement relevant? 3. Wie kann die Humanontogenetik das Pflegemanagement beeinflussen? 4. Warum sollte welche Berufsgruppe des Gesundheitswesens welche Funktion im Prozessmanagement übernehmen?
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8 Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive P. Oberender, J. Zerth 8.7
8.1
Einleitung – 213
8.2
Gesundheit und Ökonomie
8.3
Nachfrage
8.4
Krankenversicherung
8.5
Prinzipien der Gesundheitsversorgung – 221
8.6
Steuerungssysteme – 227
8.1
Einleitung
– 233
Wissens- und Transferfragen – 233
– 213
Literatur
– 215
– 234
– 217
Bei der Gesundheitsökonomie handelt es sich insoweit um eine eigenständige ökonomische Teildisziplin, als hinsichtlich der Gesundheitsgüter1 bestimmte ökonomische Besonderheiten zu beachten sind, die sich auf die Knappheit und den Umgang damit auswirken. Hierzu zählen die Vielschichtigkeit des Gesundheitsbegriffs, die Komplexität der Gesundheitsfaktoren, der mangelhafte Zugang zu Qualitätsinformationen, eine asymmetrische Informationsverteilung, externe Effekte sowie das zeitliche Zusammenfallen von Leistungserstellung und Leistungsempfang. Diese Besonderheiten werden im Folgenden erläutert.
8.2
Ausblick
Gesundheit und Ökonomie
8.2.1 Grundlagen des ökonomischen
Gesundheitsbegriffs Der Begriff der Gesundheit ist äußerst vielschichtig.
Jeder Gesundheitsbegriff impliziert auch bestimmte Annahmen über die Ursachen von Krankheiten. Diese Vermutung wird u. a. vom jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft geprägt. Deshalb spiegeln die in jeder Kultur vorherrschenden Vorstellungen den entsprechenden Stand der medizinischen Wissenschaft wider. Ein allgemeingültiger medizinischer Gesundheitsbegriff fehlt also (Payer 1993). Diese Aussage mag erstaunen, doch benötigt die Medizin in ihrer abendländischen Tradition keinen allgemeinen Gesundheitsbegriff, mittels dessen gesunde Menschen allgemeingültig von Kranken unterschieden werden könnten. Vielmehr findet in der Medizin immer nur ein spezieller Krankheitsbegriff Anwendung: Dieser knüpft jeweils an der zur Feststellung der Krankheit verwendeten Diagnose an. Aufgrund von bestimmten Symptomen wird eine Krankheit vermutet und eine entsprechende Therapie veranlasst. Eine allgemeine medizinische Definition von Krankheit und infolgedessen auch von Gesundheit ist nicht möglich. Der Gesundheitszustand unterliegt einer Vielzahl von Einflussfaktoren (Komplexität). Diese sind in ihrer Art, ihrem Wirkungszusammenhang
> Viele Kulturen verfügen über ihren eigenen Gesundheitsbegriff.
1
Der Begriff »Güter« schließt auch Dienstleistungen mit ein.
214
8
Kapitel 8 · Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive
und/oder ihrem zeitlichen Verlauf teilweise unbekannt, sodass sich auch der Gesundheitszustand im Zeitablauf – auch unerwartet – verändert. Infolgedessen kann auch der Bedarf an Gesundheitsgütern solchen (zufälligen) Änderungen unterliegen. Weiterhin ist der Zugang zu Informationen über die medizinische Versorgungsqualität erschwert. So ist für den Verbraucher die Ergebnisqualität entscheidend. Die meisten Gesundheitsgüter erlauben jedoch keinen direkten Zugang zu Informationen über die Ergebnisqualität. Die Nachfrager nach Gesundheitsleistungen kennen normalerweise weder die Notwendigkeit bestimmter medizinischer Maßnahmen, noch können sie deren Qualität beurteilen. Einem medizinischen Eingriff zurechenbar sind dagegen nur Struktur- und Prozesseigenschaften, da ein bestimmter Gesundheitszustand infolge dieses Eingriffs auf eine Vielzahl von Faktoren und nicht nur auf diesen Eingriff selbst zurückzuführen ist, und zudem medizinische Leistungen und Gesundheitsveränderungen zeitlich auseinanderfallen können (vgl. grundlegend Oberender u. Ecker 2001). > Mit dem Begriff der asymmetrischen Information wird die Situation bezeichnet, in der Anbieter und Nachfrager über unterschiedliche Informationen verfügen.
Nutzen beide Akteure jeweils die ihnen vorliegenden Informationen, so kann ein Akteur seinen Informationsvorsprung in einer Weise verwenden, dass er hierdurch eine Handlung durchsetzen kann, die ihm bei gleichverteilten Informationen durchzusetzen verwehrt wäre. Eine solche asymmetrische Informationsverteilung liegt bei Gesundheitsgütern vor: ▬ Zum einen hinsichtlich des zu erwartenden Bedarfs an Gesundheitsgütern, wobei der Versicherte hinsichtlich seines Gesundheitszustandes einen Informationsvorsprung gegenüber seiner Krankenversicherung besitzt. ▬ Zum anderen hat der Arzt einen Informationsvorsprung gegenüber seinem Patienten in Bezug auf die medizinischen Fachkenntnisse, obwohl der Patient gleichzeitig über einen Informationsvorsprung hinsichtlich seines eigenen Gesundheitszustandes verfügt. Externe Effekte einer Handlung sind dadurch gekennzeichnet, dass sich diese Handlung auf solche
Personen auswirkt, die nicht über die Durchführung einer Handlung entscheiden. Solche externen Effekte können positiver oder negativer Art sein, je nachdem, ob diese Auswirkungen für die Betroffenen von Vor- oder Nachteil sind. So entsteht ein negativer externer Effekt, wenn der Träger einer ansteckenden Krankheit andere Personen infiziert. Dagegen gehen von einer Impfung positive externe Effekte aus, da der Geimpfte hierdurch als Virusträger und damit als Infektionsquelle für andere Personen entfällt. Schließlich werden Gesundheitsgüter meist als persönliche Dienstleistungen erbracht. Die Leistungserstellung und ihr Empfang durch den Patienten fallen also in einem Akt zusammen (Uno-actu-Prinzip). Hierdurch ist die persönliche Anwesenheit des Patienten bei der Leistungserstellung erforderlich. Das Endprodukt kann deshalb weder gelagert noch transportiert werden.
8.2.2 Gesundheitsgüter besondere Güter
> Gesundheitsleistungen unterliegen wie alle Güter dem Knappheitsphänomen.
Bei der Diskussion um Gesundheitsgüter ist es zunächst sinnvoll, eine Unterscheidung zwischen dem Gut Gesundheit und solchen Gütern vorzunehmen, die darauf gerichtet sind, ein Bedürfnis nach Gesundheit – oder genauer nach dem Erhalt oder der Wiederherstellung eines bestimmten Gesundheitszustandes – zu befriedigen, nämlich Gesundheitsleistungen (Oberender et al. 2002, S. 14 ff.). Häufig wird behauptet, dass die Gesundheitsleistungen eine besondere Stellung und letztendlich eine besondere politische Behandlung des Gutes Gesundheit und der Gesundheitsleistungen rechtfertigen sollen. Nach dieser Abgrenzung können nun Gesundheitsleistungen nicht in typischen Marktprozessen koordiniert werden, weil grundsätzlich ein Versagen der Märkte bei Gesundheitsleistungen vorliegen würde. Die üblicherweise vorgebrachten Regulierungsgründe lauten wie folgt (Neubauer 1988, S. 9 ff.): ▬ Gesundheit produziert externe Effekte. So führt z. B. eine erfolgreiche Impfung bei Krankheit nicht zur Erhalt der eigenen Gesundheit, son-
215 8.3 · Nachfrage
dern auch dazu, dass andere nicht angesteckt werden. ▬ Häufig wird behauptet, dass Umfang und Ausmaß künftiger Erkrankungen systematisch unterschätzt werden. Aus diesem Grund liegt eine finanzielle Unterdeckung künftig notwendiger Ausgaben vor, so dass sich daraus ein Regulierungsbedarf ableiten lässt. ▬ Eine Regulierung ist auch deswegen notwendig, weil die Informationen über Krankheiten und deren angemessene, erfolgreiche Behandlung asymmetrisch zwischen Anbietern von Gesundheitsleistungen und den Nachfragern verteilt sind. Nach dieser Argumentationslinie ist die Konsumentensouveränität des einzelnen Versicherten/Patienten derart eingeschränkt, so dass nicht mehr von einer marktwirtschaftlichen Steuerung ausgegangen werden kann. Die Begründungsansätze für Regulierungen im Gesundheitswesen lassen sich unter diesen grundsätzlichen Ansätzen subsumieren. Vor allem unter der Maßgabe der Sicherstellung der Versorgungssicherheit und der Gewährleistung einer flächendeckenden Versorgung werden teilweise unterschiedlich intendierte Regulierungsziele und Regulierungsmaßnahmen legitimiert. Die aufgeführten Argumente gegen eine marktwirtschaftliche Steuerung im Gesundheitswesen sind jedoch nicht ausschließlich auf das Gesundheitswesen übertragbar, sondern finden Einzug in vielerlei Regulierungsdebatten. Ohne eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die Legitimation von derartigen Regulierungen führen zu wollen, lassen sich folgende Argumente aus marktwirtschaftlicher Perspektive entgegenhalten. Gesundheitsleistungen sind zunächst private Güter im ökonomischen Sinn, da sich sowohl das Ausschlussprinzip als auch das Prinzip der Nichtrivalität im Konsum, d. h. eine Koordination von Gesundheitsleistungen über Märkte, realisieren lässt. Gleichwohl existieren Wechselwirkungen bei Gesundheitsleistungen, auch bei der Nutzung von Arzneimitteln, welche einen gewissen »kollektiven« Charakter aufweisen (Breyer u. Zweifel 1999, S. 153 ff.). So ist es durchaus sachgerecht davon auszugehen, dass gewisse Hygienestandards oder allgemeine Impfprogramme durchaus volks-
8
wirtschaftliche Kosten ersparen helfen und somit problemadäquat sein können. Zwingend ist daraus kein Marktversagen abzuleiten. Die Alternative wäre die Zuweisung in das allgemeine Haftungsprinzip, was bei ansteckenden Krankheiten infolge der hohen Transaktionskosten jedoch nicht sinnvoll erscheint. Auch das Vorhandensein unterschiedlicher Grade individuell verfügbarer Information (asymmetrische Information) ist kein zwingendes Argument für ein generelles Marktversagen. Es ist vielmehr die Frage zu stellen, ob die Transaktionskosten aufgrund einer derartigen Informationsverteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt die Austauschbeziehungen derart behindern, dass Regulierungsbedarf vorhanden ist. Gleichwohl ist eine asymmetrische Informationsverteilung Kennzeichen vieler Marktbeziehungen und wird durch bestimmte Institutionen des Marktsystems wie Garantien, Standards usw. gelöst. Bei der Diskussion des Gesundheitswesens ist also weiterhin zu fragen, ob die Problematik der asymmetrischen Informationsverteilung nicht wiederum Resultat bestehender Regulierungen im System selbst ist. Bei Aufrechterhaltung des Sachleistungsprinzips und institutioneller Festigung sektoraler Versorgungsstrukturen ist kaum ein Anreiz zur Herausbildung entsprechender Informationsmärkte vorhanden. An dieser Stelle kann die Diskussion über Regulierungsgründe im Gesundheitswesen nicht weiter vertieft werden, es kann nur grundsätzlich festgehalten werden, dass die grundlegenden ökonomischen Prinzipien durchaus auf Gesundheitsgüter angewandt werden können. Dabei muss natürlich den besonderen sozialen und ethischen Schutzzielen Rechnung getragen werden.
8.3
Nachfrage
8.3.1 Nachfrage nach Gesundheitsgütern
> Das grundlegende Nachfragegesetz ist grundsätzlich unabhängig von der Art des Gutes.
Deshalb lässt es sich auch auf Gesundheitsgüter anwenden.
216
Kapitel 8 · Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive
Bei Gesundheitsgütern muss zunächst zwischen dem Bedarf an medizinischen Leistungen und der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen unterschieden werden. Als dritte Kategorie ist der Nutzen aus den Gesundheitsleistungen zu nennen. Der Bedarf, der notwendig ist, die Gesundheit eines Menschen zu erhalten, kann sowohl subjektiv empfunden als auch objektiv im Sinne einer technischen Relation festgelegt sein, wenn man von einem von außen vorgegebenen Gesundheitszustand ausgeht (Expertenurteile, z. B. des Arztes). > Gesundheitsgüter haben einen konsumtiven und einen investiven Aspekt.
8
Unmittelbares Ziel der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen ist häufig die Linderung akuter Gesundheitsstörungen. Als Investitionsgüter dienen Gesundheitsgüter aber auch dazu, den eigenen Gesundheitsstatus zu verbessern. Damit stellen sie eine Investition in das »Gesundheitskapital« dar. Gesundheit wird also als individueller Kapitalstock betrachtet, dessen Höhe sich im Zeitablauf verändert (vgl. auch Knappe u. Optendrenk 2000, S. 4 ff.). Dabei ist Gesundheit Voraussetzung für die Einkommenserzielung durch Arbeit. Damit ergibt sich folgender Zusammenhang: Aus der Nachfrage nach Arbeit leitet sich eine Nachfrage nach Gesundheit ab. Hieraus folgt wiederum eine Nachfrage nach Gesundheitsgütern. Voraussetzung für diese Nachfrage ist die Zahlungsfähigkeit, d. h. ein Einkommen. Die Höhe dieses Einkommens bestimmt sich wiederum nicht zuletzt aus dem Gesundheitszustand und den hierfür getätigten Investitionen. Der Gesundheitszustand eines Menschen bestimmt sich aus vielen, z. T. unbekannten Einflussfaktoren. Zu den bekannten Einflussfaktoren zählen Hygiene, Vererbung, Bildung, Beruf, Ernährung, Inanspruchnahme von Gesundheitsgütern, aber auch »ungesunde« Verhaltensweisen. Der Gesundheitszustand eines Individuums ist nicht nur von außen festgelegt, sondern wird von diesem selbst durch sein Verhalten positiv wie negativ beeinflusst. Zu den menschlichen Handlungen mit gesundheitsrelevanter Bedeutung zählt nicht nur die Inanspruchnahme von Gesundheitsgütern. Auch andere Güter und Verhaltensweisen können ihrerseits Rückwirkungen auf den eigenen Gesund-
heitszustand haben. Dazu zählen z. B. risikoreiche Sportarten aber auch der übermäßige Genuss von Alkohol, Tabak usw. Jedes Individuum trifft jeden Tag eine Vielzahl von Entscheidungen, die in der einen oder anderen Weise Auswirkungen auf seinen individuellen Gesundheitszustand haben. Gesundheitsgüter dienen neben der Erhöhung der Lebensqualität v. a. der Verlängerung der Lebensdauer. > Mit zunehmendem Lebensalter nimmt das Gesundheitskapital ab und der Bedarf an Gesundheitsgütern steigt.
Damit löst aber jede Lebensverlängerung einen zusätzlichen Bedarf an Gesundheitsgütern aus, die über eine höhere Lebensdauer weitere medizinische Maßnahmen erforderlich machen. Diese beiden Phänomene: Lebensverlängerung durch medizinische Maßnahmen und durch Lebensverlängerung ausgelöster zusätzlicher Bedarf an medizinischen Leistungen führen zu einem SisyphusSyndrom. Dieses zeigt die Grenze der Wirkung von Gesundheitsgütern deutlich auf: Medizinische Maßnahmen können immer nur dazu dienen, den Tod hinauszuzögern, verhindern können sie ihn nicht (vgl. auch Krämer 1992). Bislang wurde unterstellt, dass der Nachfrager die Auswirkungen von Gesundheitsgütern auf seine Gesundheit abschätzen kann, d. h., die Produktionsfunktion für Gesundheit dem Nachfrager bekannt ist. Aufgrund der Komplexität der Einflussfaktoren auf die Gesundheit ist diese Annahme jedoch kaum realistisch. Häufig kennt der Nachfrager die Auswirkungen von bestimmten Gesundheitsgütern auf seine Gesundheit nicht. Deshalb wendet er sich an Anbieter, die sich auf die Kenntnis der Auswirkungen von Gesundheitsgütern auf die individuelle Gesundheit spezialisiert haben. Solche Anbieter werden als medizinische Leistungserbringer (Ärzte usw.) bezeichnet. Diese Personen bieten an, mittels Diagnoseleistungen den tatsächlichen Gesundheitszustand eines Patienten zu erfassen und auf dieser Grundlage dem Patienten Vorschläge zu unterbreiten, mit welchen Gesundheitsgütern (Therapie) er den von ihm angestrebten Gesundheitszustand erreichen kann. Ökonomisch betrachtet ermittelt er also die Produktionsfunktion des Patienten.
8
217 8.4 · Krankenversicherung
8.3.2 Determinanten der Nachfrage
Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steht nicht im eigentlichen Interesse des Patienten. Er zieht meist keinen unmittelbaren Nutzen aus der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Ziel ist für ihn die Verbesserung seines Gesundheitszustandes. Damit entsteht aber das Problem, wie dieser Zustand festzustellen ist. Nun hängt die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen nicht nur von den Preisen, sondern von einer Vielzahl von Faktoren, insbesondere vom Gesundheitszustand ab. Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen ist darüber hinaus nicht dauerhaft gegeben. Vielmehr treten die meisten Nachfrageartikulationen selten (seltene Krankheiten) oder u. U. mit außergewöhnlicher Dringlichkeit (schwerer Unfall oder Krankheiten) auf. Häufig werden dann die Finanzierungsmöglichkeiten eines Individuums überstiegen (Bedeutung des Versicherungsschutzes). Der mikroökonomischen Theorie folgend, wird auch die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen einem »Kosten-Nutzen-Kalkül« folgen und dabei die Bedeutung der Opportunitätskosten nicht außer Acht lassen. Gleichwohl wird in einer Notsituation der (subjektive) Nutzengewinn unheimlich hoch sein. Von der primären Nachfrage nach Gesundheitsleistungen durch den Patienten selbst muss jedoch noch die sekundäre Nachfrage nach Gesundheitsleistungen unterschieden werden, die zwar letztlich durch Patienten entstanden ist, jedoch von unterschiedlichen Sachverwaltern (v. a. den Ärzten) iniitiert wurde. Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen verändert sich also, wenn ▬ das Einkommen sich verändert, ▬ das Individuum älter wird, ▬ die (alternativen) Zeitpreise sich verändern, ▬ Preise alternativer Maßnahmen sich verändern sowie ▬ die Individuen sich versichern (u. a. Santerre
u. Neun 2000, S. 84 ff.). > Eine Besonderheit der Nachfrage nach Gesundheitsgütern erwächst aus der begrenzten sachlichen sowie zeitlichen Substituierbarkeit von Gesundheitsgütern.
So sind Individuen in sog. Notfällen darauf angewiesen, umgehend ein bestimmtes Gesundheits-
Preis
Nachfrage im Normalfall
Extremfall
Menge ⊡ Abb. 8.1. Nachfrage nach Gesundheitsleistungen
gut zu erhalten, andernfalls kann die eintretende Gesundheitsverschlechterung zum Tod führen. In solchen Fällen verläuft die Nachfragekurve sehr steil nach oben. Die Nachfrage verläuft senkrecht, d. h. sie ist starr, wenn keine Alternative besteht (⊡ Abb. 8.1). Der Einzelne ist in dieser Situation bereit, jeden Preis für die Befriedigung seiner Nachfrage zu bezahlen.
8.4
Krankenversicherung
8.4.1 Formen der Daseinsvorsorge
> Krankheiten können zu physischen oder psychischen Einschränkungen führen und sowohl immaterielle als auch materielle Folgen haben.
Durch die Erkrankung können zusätzliche Ausgaben für Gesundheitsleistungen erforderlich werden (Krankheitskostenrisiko). Außerdem kann die Fähigkeit zur Einkommenserzielung durch die Krankheit zeitweise oder dauerhaft eingeschränkt werden (Einkommensausfallrisiko).
218
Kapitel 8 · Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive
Es werden daher Vorsorgemaßnahmen gegen finanzielle Krankheitsrisiken getroffen, um den Mittelbedarf im Krankheitsfall zu decken. Hierbei lassen sich die beiden folgenden Ordnungsprinzipien unterscheiden: ▬ Individualprinzip und ▬ Sozialprinzip.
8
Das Individualprinzip stellt auf die individuelle Vorsorge, das Sozialprinzip auf die gesetzlich verfügte staatliche kollektive Vorsorge ab. Als Gestaltungsprinzipien existieren das Versicherungs-, das Versorgungs- sowie das Fürsorgeprinzip. Das Individualprinzip stellt das Leitbild der Leistungsgesellschaft dar; jeder hat die Freiheit seine Lebensbedingungen selbst zu gestalten. Der Einzelne ist selbst dafür verantwortlich (Eigenverantwortung), für die Wechselfälle des Lebens vorzusorgen. Neben der Individualvorsorge gibt es Möglichkeiten der Vorsorge, die über das Individuum als Vorsorgetreibenden hinausgehen und die Sicherheit durch die Zusammenarbeit mit anderen Individuen gewinnen. Solche Vorsorgemaßnahmen, die auf der Zusammenarbeit mit anderen Individuen beruhen, werden unter dem Begriff der Kollektivvorsorge zusammengefasst. Charakteristisch für die Versorgungsformen der Kollektivvorsorge ist daher, dass hier das individuelle Risiko auf eine Gruppe von Individuen verlagert wird.
Freifahrereffekt > Erfolgt eine Vollversicherung gegen das Krankheitskostenrisiko, dann muss der Versicherte hierfür nichts mehr selbst bezahlen.
Der von ihm wahrgenommene Kaufpreis beträgt also null. Die Differenz zwischen dem Preis für den Versicherten und dem Preis, den der Anbieter für ein Gesundheitsgut fordert (Marktpreis), wird von der Krankenversicherung bezahlt. Solange die Versicherung die entstandenen Kosten der Nachfrage trägt, ist es für den Versicherten rational, Gesundheitsgüter bis zu einem Grenznutzen von Null (Sättigungsmenge) nachzufragen, da mit der Nachfrage kein Verzicht auf andere Güter verbunden ist – unabhängig vom Marktpreis. Sein Nachfrageverhalten ist also vollkommen preisunelastisch. Graphisch lässt sich diese Verhaltensänderung als Rechtsdrehung der bisher preiselastischen Nachfragekurve von N0 auf N1 darstellen (⊡ Abb. 8.2). Der zugrundeliegende Effekt wird als Freifahrereffekt bezeichnet. Moral-Hazard-Effekt Erschwert wird die Prämienkalkulation auch durch das Problem des »Moral-Hazard«. Damit werden Verhaltensänderungen von Versicherten bezeich-
Preis
8.4.2 Versicherungsinduzierte Nachfrage
nach Gesundheitsgütern > Die Eintrittswahrscheinlichkeit von Schadensfällen ist nicht unabhängig von der Existenz eines Versicherungsschutzes. N1
Es lässt sich beobachten, dass Versicherte Gesundheitsgüter nachfragen, die sie ohne Versicherungsschutz nicht nachgefragt hätten. Dieses Phänomen wird als versicherungsinduzierte Nachfrage nach Gesundheitsgütern bezeichnet. Die versicherungsinduzierte Nachfrage nach Gesundheitsgütern setzt sich aus zwei Effekten zusammen: ▬ Freifahrereffekt und ▬ Moral-Hazard-Effekt.
N0
Menge ⊡ Abb. 8.2. Freifahrereffekt
219 8.4 · Krankenversicherung
net, die nach dem Abschluss eines Krankenversicherungsvertrages auftreten. Verfügt der Versicherte über einen Versicherungsschutz, so ist es für ihn rational, bestimmte bisher durchgeführte Maßnahmen zur Schadensvermeidung (Risikominderung und Risikovorsorge) zukünftig zu unterlassen. > Das Unterlassen von Schadensvermeidung wegen des Abschlusses eines Versicherungsvertrages wird als »Moral-Hazard« bezeichnet.
Aus ökonomischer Sicht ist es wichtig, zwei Erscheinungsformen von »Moral-Hazard« zu unterscheiden. Es ist nämlich ökonomisch durchaus rational, Maßnahmen zur Schadensverhütung zu unterlassen, wenn die Versicherung das effizientere Verfahren zur Sicherheitsschaffung darstellt. Hierin liegt gerade das Motiv zum Abschluss eines Krankenversicherungsvertrages. Bei der anderen Erscheinungsform von »Moral-Hazard« handelt es sich um absichtlich gefahrgeneigtes und damit gesundheitsgefährdendes Verhalten. In diesem Fall zielen die Versicherten darauf ab, mittels einer Verhaltensänderung den Versicherungsfall eintreten zu lassen, weil sie aus dem Versicherungsfall einen Nutzenzuwachs erwarten. Dieses Problem stellt sich besonders bei Versicherungsleistungen in Geldform. Als Folge des »Moral-Hazard« steigt die Schadenswahrscheinlichkeit und die Höhe möglicher Schäden. Dies führt zu einem zusätzlichen Bedarf an Gesundheitsgütern. Hierdurch nimmt die Sättigungsmenge der Nachfrage nach Gesundheitsgütern zu. In der graphischen Darstellung verschiebt sich die Nachfragekurve nach rechts (⊡ Abb. 8.3). Selbstbeteiligung Auch wenn die versicherungsinduzierte Nachfrage versicherungsimmanent, d. h. bei Versicherungsverträgen unvermeidbar ist, so gibt es doch Steuerungsinstrumente, die den Anreiz zur versicherungsinduzierten Nachfrage reduzieren, indem die Versicherten die verursachten Kosten vollständig oder teilweise selbst direkt tragen müssen. Diese Steuerungsinstrumente werden als Selbstbeteiligung bezeichnet.
8
> Selbstbeteiligung bedeutet konkret, dass die Krankenversicherung die Krankheitskosten überhaupt nicht bzw. nicht vollständig übernimmt.
Der finanzielle Schaden verbleibt damit vollkommen oder teilweise beim Versicherten. Es lassen sich indirekte und direkte Selbstbeteiligung unterscheiden. a) Indirekte Selbstbeteiligung Eine indirekte Selbstbeteiligung liegt vor, wenn bestimmte Leistungen oder Indikationsbereiche von einer Erstattung durch die Versicherer vollkommen ausgeschlossen werden. In diesem Fall hat der einzelne Versicherte die Kosten vollständig selbst zu übernehmen. So sind z. B. alle Arzneimittel gegen Reisekrankheiten von der Erstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ausgeschlossen (Negativliste). b) Direkte Selbstbeteiligung Bei einer direkten Selbstbeteiligung muss der Versicherte einen Teil seiner Ausgaben selbst übernehmen. Dies führt zu zwei Effekten: Bezahlt der Patient einen Teil der Kosten direkt, so sinkt die Zahlungspflicht der Versicherung und damit auch die Prämie (Finanzierungseffekt). Es erfolgt eine Substitu-
Preis
N1
N2
N0
Menge ⊡ Abb. 8.3. Moral-Hazard-Effekt
220
8
Kapitel 8 · Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive
tion von Prämien durch direkte Zahlungen. Zudem reagieren die meisten Versicherten mit einem kostenbewussteren Nachfrageverhalten (Steuerungseffekt). Der Steuerungseffekt richtet sich nach den Präferenzen der Nachfrager, ausgedrückt durch die entsprechende Preiselastizität der Nachfrage. Eine Selbstbeteiligung ist in allen Versicherungen sinnvoll, in denen der Versicherte das Risiko des Eintritts eines Versicherungsfalls beeinflussen kann. Diese Anforderung wird bei der Krankenversicherung erfüllt, da der Bedarf an Gesundheitsgütern verhaltensabhängig ist. Welche Grenzen der Selbstbeteiligung sind zu beachten? Selbstbeteiligung darf nicht dazu führen, dass der Patient aus finanziellen Erwägungen eine medizinisch notwendige Gesundheitsnachfrage unterlässt. Zudem steht jede Selbstbeteiligung im Widerspruch zur Idee des Versicherungsvertrags als einer Risikoübernahme durch die Krankenversicherung. Im Vergleich zur Vollversicherung wird durch sie der Versicherungsschutz und damit die Vorsorgeleistung vermindert. Mit welcher Intensität die Selbstbeteiligung das Verhalten der Versicherten beeinflusst, d. h., wie stark sich also der Steuerungseffekt auswirkt, hängt neben der Höhe auch von der Art der Selbstbeteiligung ab. Zwei Ausprägungen der direkten Selbstbeteiligung lassen sich unterscheiden: ▬ relative Selbstbeteiligung und ▬ absolute Selbstbeteiligung. Die relative Selbstbeteiligung besteht in einem Prozentsatz der Kosten der Nachfrage nach einem im sachlichen Leistungskatalog enthaltenen Gesundheitsgut, den der Versicherte direkt selbst zahlen muss. Die Nachfrage nach Gesundheitsgütern dreht sich hierdurch wieder in Richtung der ursprünglichen Nachfragekurve, d. h., das Nachfrageverhalten wird preisempfindlicher (⊡ Abb. 8.4): Je höher die prozentuale Selbstbeteiligung ist, desto stärker streckt sich die Nachfragekurve nach links; bei einer Selbstbeteiligung von 100% wird sie deckungsgleich mit der ursprünglichen Nachfragekurve. Bei einer absoluten Selbstbeteiligung hat der Patient entweder einen vorher festgelegten absoluten Betrag der Kosten zu zahlen oder er bekommt einen festgelegten Zuschuss bei Inanspruchnahme
von Gesundheitsleistungen. Im ersten Fall trägt die Differenz zwischen Selbstbeteiligung und entstandenen Kosten die Krankenversicherung. Die Nachfragekurve verläuft in diesem Fall bis zur Höhe des Selbstbeteiligungsbetrages auf der Nachfragekurve ohne Versicherungsschutz. Übersteigt der Preis des Gesundheitsgutes die Selbstbeteiligung, dann verläuft die Nachfragekurve über diesem Punkt vollkommen preisunelastisch (⊡ Abb. 8.5). Eine
Preis
< 100% 100%
N1
N0
Menge ⊡ Abb. 8.4. Relative Selbstbeteiligung: Prozentuale Selbstbeteiligung
Preis
N1
N0
SB
Menge ⊡ Abb. 8.5. Absolute Selbstbeteiligung, Zuzahlung
221 8.5 · Prinzipien der Gesundheitsversorgung
solche Situation lag bis zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) bei der Zuzahlung für Arzneimittel vor. Je nach Packungsgröße beträgt die Zuzahlung 4,00 Euro (N1), 4,50 Euro (N2) sowie 5,00 Euro (N3). Seit Inkrafttreten des GMG sind von jedem Versicherten 10% auf den Preis zu entrichten, mindestens jedoch 5 Euro und maximal 10 Euro. Eine weitere Form der direkten Selbstbeteiligung stellt der Festbetrag (Arzneimittel) sowie der Festzuschuss (Hilfsmittel, z. B. Hörgerät) dar. In diesem Fall wird ein bestimmter absoluter Betrag der Kosten übernommen. Es bleibt dem Versicherten überlassen, eine Leistung nachzufragen, die teuerer ist. Den Differenzbetrag zwischen tatsächlichem Preis und Zuschuss hat der Versicherte dann selbst zu übernehmen. Graphisch verläuft die Nachfragekurve bis zur Höhe des Zuschusses starr, d. h. senkrecht, dann weist sie einen preisabhängigen Verlauf gemäß den individuellen Präferenzen des einzelnen Versicherten auf (⊡ Abb. 8.6). Eine Selbstbeteiligung ist jedoch dann hinsichtlich einer Steuerung unwirksam, wenn schon das ursprüngliche Nachfrageverhalten vollkommen preisunelastisch war, z. B. bei Notfallmaßnahmen.
Preis
Festbetragszuschuss
Menge ⊡ Abb. 8.6. Absolute Selbstbeteiligung: Festbetrag und Festzuschuss (Indemnität)
8.5
8
Prinzipien der Gesundheitsversorgung
8.5.1 Angebotsbedingungen
Ausgangspunkt für das Handeln eines medizinischen Leistungserbringers sind Verbraucherbedürfnisse. Können Verbraucher unter verschiedenen Anbietern auswählen, so konkurrieren diese Anbieter miteinander um die jeweiligen Verbraucher. Das bedeutet, dass jeder Leistungserbringer durch den Einsatz verschiedener Aktionsparameter versucht, seine individuelle Wettbewerbsposition zu verbessern, um Vorteile gegenüber seinen Konkurrenten zu erzielen. Ein Aktionsparameter ist eine wettbewerblich relevante Größe, die vom einzelnen Leistungserbringer beeinflusst werden kann. Die Aktionsparameter für medizinische Leistungserbringer umfassen u. a. folgende Handlungsmöglichkeiten: Honorar, Menge, Qualität, Organisation, Standort, Fort- und Weiterbildung sowie Marketing. > Im Wettbewerb können sich die Leistungserbringer innovativ oder imitativ verhalten.
Bei einem imitativen Verhalten setzt der einzelne Leistungserbringer seine Aktionsparameter in gleicher Weise wie einer seiner Konkurrenten ein. Ein innovatives Verhalten ist hingegen dadurch gekennzeichnet, dass ein Leistungserbringer sich bewusst anders verhält als seine Konkurrenten und seine Aktionsparameter in einer neuartigen Weise kombiniert. Dadurch erhofft er, gegenüber seinen Tauschpartnern eine für sich günstigere Austauschrelation durchzusetzen. Setzt sich eine innovative Lösung durch, so wird im Zeitablauf eine Imitation durch andere Leistungserbringer erfolgen. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Markttransparenz. Mit fortschreitender Marktentwicklung werden meist aufgrund der zunehmenden Markttransparenz zunächst wettbewerblich eingesetzte Parameter sukzessive wettbewerblich eingefroren. Die einzelnen Akteure erkennen, dass die mit dem Einsatz dieser Parameter beabsichtigte Wirkung, nämlich Wettbewerbsvorteile zu erringen, durch entsprechend gleichgerichtete Reaktionen der Konkurrenten neutralisiert wird. Infolgedessen werden die Akteure
222
8
Kapitel 8 · Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive
wegen der zirkularen Interdependenz der Aktionsparameter, d. h. wechselseitige Abhängigkeit, auf andere Aktionsparameter ausweichen. Scheidet z. B. der Preis als Parameter wettbewerblichen Verhaltens aus, so werden andere unternehmerische Parameter (z. B. Werbung) verstärkt eingesetzt, da diese in einem interdependenten Zusammenhang stehen. Mit zunehmendem Erfahrungsprozess kann aber auch bei diesem – zunächst aktiv eingesetztem – Parameter eine hohe Markttransparenz entstehen. Die Konsequenz hiervon ist dann, dass der wettbewerbliche Einsatz dieses Parameters sukzessive eingefroren wird, weil die einzelnen Akteure registrieren, dass die Wirkungen dieses Parameters durch die entsprechenden Reaktionen der Konkurrenten neutralisiert werden. Der Einsatz der Aktionsparameter erfolgt schließlich innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen (z. B. rechtliche Regelungen). Je nach Gestaltung der Rahmenbedingungen können bestimmte Aktionsparameter dem Wettbewerb entzogen werden. Das Gesundheitswesen lässt sich als Kombination von zumindest drei Vertragsformen zwischen Verbraucher, Krankenversicherung und Leistungserbringer beschreiben (s. ⊡ Abb. 8.7). So erwirbt der Verbraucher durch den Versicherungsvertrag einen Leistungsanspruch gegenüber seiner Krankenversicherung. Diese vereinbart mit verschiedenen Leistungserbringern, welche
Leistungen gegenüber den Versicherten erbracht werden müssen (Sicherstellungsvertrag). Der Behandlungsvertrag regelt schließlich das Verhältnis vom Patienten zu dem von ihm konsultierten Leistungserbringer. Diese Vertragsbeziehungen können entweder kollektiv, d. h., für alle Beteiligten einheitlich, oder individuell ausgehandelt werden. Letzteres wird als selektives Kontrahieren bezeichnet (vgl. Oberender u. Ecker 2001, S. 37).
8.5.2 Bedeutung ausgesuchter
Angebotsparameter > Der Aktionsparametereinsatz eines Leistungserbringers im Gesundheitswesen, namentlich eines Arztes, lässt sich mit den Elementen Honorar, Menge, Produkt und Qualität grundsätzlich beschreiben.
Honorargestaltung Will der Leistungserbringer mit seiner Tätigkeit seinen Lebensunterhalt finanzieren, so ist er auf eine entsprechende Honorierung seiner Tätigkeit angewiesen. Durch das Honorierungssystem wird festgelegt, wie Leistungserbringer vergütet werden. Das Honorierungssystem lässt sich durch drei Merkmale kennzeichnen: Honorierungsverfahren, Honorierungsform und Honorartarif.
Versicherter/Patient
Versicherungsprämie
Leistungskatalog
„Versicherungsvertrag”
„Behandlungsvertrag”
Behandlungsgutschein
Behandlung
Leistungsversprechen Krankenversicherung
Leistungserbringer Honorierungssystem „Sicherstellungsvertrag”
⊡ Abb. 8.7. Akteure und Vertragsbeziehungen im Gesundheitswesen
223 8.5 · Prinzipien der Gesundheitsversorgung
Honorierungsverfahren. Das Honorierungsver-
fahren regelt die jeweilige institutionelle Abwicklung der Honorierung. Bei einem versicherungszentrierten System sind mindestens drei Parteien daran beteiligt: Verbraucher, Leistungserbringer und Krankenversicherung. Zusätzlich kann auch eine Honorarverteilungsstelle einbezogen sein. Dadurch ergeben sich verschiedene Kombinationsmöglichkeiten, die entweder als einstufiges oder als zweistufiges Honorarverfahren ausgestaltet sein können (⊡ Abb. 8.8). Im einfachsten Fall (a) erfolgt die Honorierung direkt durch den Patienten an den Arzt, wobei der Patient wiederum eine Kompensation durch seine Krankenversicherung erhält; dies entspricht dem Kostenerstattungsprinzip. Verfügt der Patient über keinen Krankenversicherungsschutz oder sind die vom Leistungserbringer erhaltenen Leistungen nicht vom Versicherungsvertrag gedeckt, so muss der Patient die Leistung selbst bezahlen, ohne dass er hierfür eine Erstattung durch die Krankenversicherung erhält (b). Bei einer anderen Alternative (c) erhält der Leistungserbringer das Honorar von der jeweiligen Krankenversicherung und der Patient ist an der Honorierung des Leistungserbringers nicht beteiligt (Sachleistungsprinzip). Als zweistufig werden solche Honorierungsverfahren bezeichnet, bei denen zusätzlich zu den genannten Beteiligten (Krankenversicherung, Leistungserbringer und Patient) auch noch eine Honorarverteilungsstelle (kassenärztliche und kassenzahnärztliche Vereinigung) mit einbezogen wird. In diesem Fall richten sich die Zahlungen des Patienten (d, e) bzw. der Krankenversicherung
a, b
Patient
Leistungserbringer
a, d
d, e, f c
Krankenversicherung
d, e
f
8
(Sachleistungsprinzip) (f) nicht direkt an einen Leistungserbringer sondern an die Honorarverteilungsstelle, die dann die Honorare nach einem zweiten Honorierungsverfahren an die Leistungserbringer verteilt. Honorierungsform. Die Honorierungsformen un-
terscheiden sich dadurch, ob sie retrospektiv oder prospektiv angelegt sind. Bei der retrospektiven Honorierung werden dem Leistungserbringer die angefallenen und nachgewiesenen Kosten erstattet (Selbstkostendeckungsprinzip). Prospektive Honorierungssysteme machen die Vergütung dagegen von der »Leistung« des jeweiligen Leistungserbringers abhängig und nicht von den tatsächlich entstandenen Kosten. So werden bei der Einzelleistungshonorierung alle medizinischen Leistungen einzeln mit einem vorher vereinbarten Honorar vergütet. Bei der Honorierungsform Fallpauschale liegt als Bemessungskriterium für die Honorierung dagegen die Anzahl und die Struktur der Behandlungsfälle zugrunde. Dem Leistungserbringer wird für jeden Behandlungsfall ein vorher festgelegtes pauschales Honorar gezahlt, das nach Fallkategorien (z. B. Krankheitsart, Alter der Patienten) differenziert sein kann. Bei der Honorierungsform Kopfpauschale stellt das Bemessungskriterium für die Honorierung die Zahl der Personen dar, für die der Leistungserbringer sich verpflichtet, im Krankheitsfall die medizinische Versorgung zu übernehmen (Anzahl der potentiellen Patienten) oder die Zahl der Personen, denen er tatsächlich medizinische Versorgung gewährt hat (Anzahl der tatsächlichen Patienten). Voraussetzung für diese Honorierungsform ist, dass jeder Versicherte eindeutig nur einem Leistungserbringer zugeordnet ist, wobei dann nur dieser Leistungserbringer die Kopfpauschale für diesen Patienten mit der Krankenversicherung abrechnen darf. Dazu muss sich der Versicherte gegenüber seiner Krankenversicherung auf einen bestimmten Leistungserbringer festlegen. Honorartarif. Der Honorartarif bezeichnet die
Honorarverteilungsstelle
⊡ Abb. 8.8. Honorierungsverfahren von Leistungserbringern
funktionale Beziehung zwischen Honorierungsform und erbrachten Einheiten der Bemessungsgrundlage des Honorars. Er kann proportional, progressiv oder regressiv ausgestaltet werden. Bei progressivem Tarif steigt die Honorarhöhe mit
224
Kapitel 8 · Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive
wachsender Bemessungsgrundlage überproportional, bei regressivem Tarif unterproportional und bei proportionalem Tarif proportional an. Zudem kann der Honorartarif nach bestimmten Merkmalen der Patienten (z. B. Alter, Beruf und Geschlecht) differenziert werden. Honorarpolitik. Ziel der Honorarpolitik ist aus Sicht
8
des Leistungserbringers die Festlegung eines besonders vorteilhaften Honorierungssystems. Hierbei ist die Kostensituation, die Marktsituation, die Konkurrenzsituation sowie die rechtliche Situation (z. B. Kalkulationsvorschriften) zu beachten. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen kann der Leistungserbringer sein Honorar festlegen. Besondere Bedeutung hat dabei die Möglichkeit der Differenzierung des Honorartarifs. Hierzu zählen Rabatte, Zugaben, Sonder- und Lockvogelangebote. Menge Bei der Mengenfestlegung muss der Leistungserbringer u. a. die Kostensituation, das vereinbarte Honorierungssystem sowie seinen Marktanteil beachten. Dabei kommt jedoch das Phänomen der asymmetrischen Information zwischen medizinischen Leistungserbringern und Patienten zum Tragen. Der Patient als Nachfrager nach Gesundheitsleistungen verfügt hinsichtlich seiner eigenen Bedürfnisse nur über unvollständige Informationen, d. h. die Konsultation eines Leistungserbringers wird zwar in der Regel durch eine subjektiv festgestellte Befindlichkeitsstörung ausgelöst, hinsichtlich der Art und des Umfangs der erforderlichen diagnostischen und therapeutischen Leistungen greift der Konsument in der Regel auf einen medizinischen Leistungserbringer zurück. Die Informationsasymmetrie hat zur Folge, dass der Patient den besser informierten Leistungserbringer damit beauftragt, seine Interessen hinsichtlich der medizinischen Versorgung wahrzunehmen. Der Leistungserbringer tritt zwar als Agent des Patienten auf, kann jedoch aufgrund seiner besonderen Stellung eigene Interessen – primär bezüglich seines Einkommens – relativ problemlos gegenüber den Belangen seines Prinzipals (Patient) durchsetzen. Dieser Umstand ist dann ökonomisch irrelevant, wenn der Arzt bei dieser ihm überlassenen
Nachfrageentscheidung wie ein idealer Sachwalter des Patienten auftritt und sich so verhält wie sich sein Patient selbst verhalten würde, wäre er im Besitz der notwendigen medizinischen Fachkenntnisse. Lässt der Leistungserbringer jedoch in die stellvertretend für den Patienten getroffenen Entscheidungen seine eigenen Interessen einfließen, so hat dies gravierende ökonomische Konsequenzen. Unter der Zielvorgabe einer Einkommensmaximierung wird ein Leistungserbringer aufgrund des bestehenden Anreizsystems bestrebt sein, seine eigene Auslastung sicherzustellen und daher u. U. den Umfang der erbrachten medizinischen Leistung über das objektiv erforderliche Maß hinaus auszudehnen. Auf diese Weise entsteht eine angebotsinduzierte Nachfrage. Produkt Der Informationsvorsprung des Leistungserbringers spiegelt sich auch im Leistungsspektrum wider. Dieses umfasst neben den medizinischen Behandlungsleistungen (Prävention, Therapie, Rehabilitation) auch die Beratungsleistung (Information, Diagnose, Handlungsempfehlung). In der Regel wird der Leistungserbringer sowohl Behandlungsals auch Beratungsleistungen anbieten, sei es, weil Produktion oder Konsum dieser Leistungen in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen, oder sei es, um über Beratungsleistungen eine Möglichkeit zur Steuerung der Behandlungsleistung zu erhalten (angebotsinduzierte Nachfrage). Die medizinischen Leistungserbringer lassen sich in Abhängigkeit des individuell angebotenen Leistungsspektrums klassifizieren, z. B. in niedergelassener Arzt, Krankenhaus, Apotheke, Arzneimittelhersteller, Sanitätshaus, Optiker etc. Qualität Qualität bezeichnet das Ausmaß der Vortrefflichkeit und Güte einer Leistung. Wenn nun die Qualität medizinischer Leistungen unterschiedlich stark ausgeprägt ist und medizinische Leistungserbringer die Qualität ihrer Leistungen beeinflussen können, dann stellt sich für Leistungserbringer die Frage, welche Qualität ihrer Leistungen sie anstreben sollen. Dabei wird unterstellt, dass im Allgemeinen eine höhere Qualität einer Leistung mit höheren Erstellungskosten verbunden ist. Aufgrund des bei
225 8.5 · Prinzipien der Gesundheitsversorgung
Gesundheitsgütern erschwerten Zugangs zu Qualitätsinformationen besteht dann die Gefahr, dass die Anbieter kostenintensiverer, besserer Qualität vom Markt verdrängt werden, da die Verbraucher mögliche Qualitätsvorteile nicht identifizieren können (Grashamsches Gesetz). Diese Gefahr relativiert sich jedoch bei einer dynamischen, evolutorischen Betrachtung. So können Verbraucher Informationen über die Qualität medizinischer Leistungen aus der eigenen Erfahrung gewinnen oder bei anderen Verbrauchern einholen. In ähnlicher Weise können auch Krankenversicherungen sowie unabhängige Informationsdienstleister Qualitätsinformationen generieren und diese anbieten. Auch können Anbieter von medizinischen Leistungen durch Information und Werbung Informationsdefizite auf Seiten potentieller Kunden abbauen. Schließlich besteht auch die Möglichkeit einer gegenseitigen Kontrolle, wenn mehrere Leistungserbringer an einen Verbraucher medizinische Leistungen erbringen und deren Leistungen einander bedingen.
8.5.3 Steuerungsinstrumente
der Angebotserstellung Ausgangspunkt der Leistungserstellung ist die Auswahl der Leistungserbringer. Bislang gilt das Prinzip des einheitlichen und gemeinsamen Handelns. Einzelverträge mit Leistungserbringern (selektives Kontrahieren) können grundsätzlich nicht erfolgen. Unter der Voraussetzung, dass in Zukunft vielfältige Steuerungsmöglichkeiten der Angebotserstellung möglich sein werden, sollen nachfolgend die Grundzüge eines Managed-Care-Modells dargelegt werden, das auf dem Prinzip des selektiven Kontrahierens beruht. > Grundlage jedes Managed-Care-Systems ist die Auswahl der Leistungserbringer. Diese erfolgt auf der Grundlage der Eigenschaften der Leistungserbringer sowie deren Honorarforderungen.
Fehlen Informationen über die Eigenschaften der Leistungserbringer, so sind entsprechend kurzfristige Vertragslaufzeiten oder Haftungsregelungen als Substitut geeignet.
8
Das Honorierungssystem legt Verfahren, Form und Tarif der Honorierung des Leistungserbringers fest. Gesundheitsökonomisches Interesse kommt den damit verbundenen Auswirkungen auf das Verhalten von Leistungserbringern und Krankenversicherung zu. Hierzu zählen sowohl Anreize zur angebotsinduzierten Nachfrage wie auch Möglichkeiten zur (teilweisen) Übertragung des Versicherungsrisikos auf die Leistungserbringer. Gegenstand des Primärarztsystems ist die Strukturierung des Zuganges der Versicherten zu medizinischen Leistungen. Dabei kann der Zugang ausschließlich über vorher festgelegte (Allgemein-) Mediziner erfolgen (»Gatekeeper«). Damit ist auf Seiten der Krankenversicherung die Erwartung verbunden, dass der Primärarzt seine Kenntnis der Krankengeschichte bei der Diagnose und der Therapie umfassend berücksichtigen kann und zudem die Leistungen jeweils von dem günstigsten Leistungserbringer durchgeführt werden. Voraussetzung für die Erfüllung dieser Erwartungen sind entsprechende Anreize durch das Honorierungssystem. Case-Management bedeutet, dass neben den eigentlichen medizinischen Leistungserbringern eine weitere Person bestimmt wird, die die anderen an der Behandlung eines Patienten beteiligten Leistungserbringer koordiniert und für die Kommunikation mit dem Patienten zuständig ist. Auf diese Weise soll die wegen der Arbeitsteilung und Spezialisierung erforderliche Abstimmung der Leistungserbringer durchgeführt werden. Im Rahmen des Utilization-Managements berichtet der Leistungserbringer seinen Ressourceneinsatz regelmäßig prospektiv, begleitend und retrospektiv an die Krankenversicherung. Dabei kann die Krankenversicherung den Ressourceneinsatz nicht nur beobachten, sondern auch direkt in den Behandlungsablauf eingreifen. Als Qualitätssicherung werden alle Maßnahmen bezeichnet, die dazu dienen, ein bestimmtes Qualitätsniveau zu gewährleisten. Zwei Ursachen bilden den Anlass für den Einsatz von Qualitätssicherungsmaßnahmen: 1. Die Versicherten haben ein Interesse an einer hohen Behandlungsqualität und können hiervon die Wahl ihrer Krankenversicherung abhängig machen.
226
Kapitel 8 · Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive
2. Die Bereitschaft der Verbraucher nimmt auch zu, bei Unzufriedenheit mit der medizinischen Leistung die Krankenversicherung zu verlassen oder auch Haftungsansprüche zu erheben.
8
Prävention bedeutet, das Auftreten von Krankheiten zu verhindern. Im Rahmen dieses Managedcare-Instruments wird versucht, in Entstehungsprozesse von Krankheiten einzugreifen und negative Einflüsse auf den Gesundheitszustand von Individuen zu vermeiden, um so die Häufigkeit und die Schwere von Erkrankungen zu senken. Gegenstand des Disease-Managements schließlich ist die Optimierung von Therapieabläufen. Im Kern besteht dieses Instrument aus einer Behandlungsrichtlinie. Sie gibt an, worin die optimale Leistung in einer gegebenen Situation besteht, welche Art von Leistungserbringern die unterschiedlichen Therapieschritte übernehmen und welche Informationsschnittstellen daraus zwischen den beteiligten Leistungserbringern resultieren. Dadurch werden die medizinischen Leistungen standardisiert und die Informationsflüsse festgelegt.
8.5.4 Organisationsformen
Infolge der individuellen Ausgestaltung des Sicherstellungsvertrags unter »Managed Care« wird die starre institutionelle Aufgabentrennung zwischen Krankenversicherung und Leistungserbringern
aufgehoben; engere Kooperationsformen, sog. Managed-care-Organisationen, können sich bilden (⊡ Abb. 8.9). Diese Organisationsformen lassen sich nach dem Grad der möglichen Einflussnahme von Krankenversicherungen auf Leistungserbringer differenzieren und zu einer kleinen Zahl an Idealtypen verdichten. Zu den Managed-care-Organisationen zählen Health-maintenance-Organisationen und Preferred-provider-Organisationen. Die erste Health-maintenance-Organisation (HMO) gab es schon zu Beginn dieses Jahrhunderts in den USA. Sie wurde von Arbeitgebern gegründet, deren Beschäftigte in dünn besiedelten Gebieten arbeiteten, in denen kein Arzt zu finden war. Deshalb stellten diese Arbeitgeber medizinische Leistungserbringer mit einem festen Gehalt an, die ausschließlich die Beschäftigten des Arbeitgebers behandeln sollten. Inzwischen haben sich aus dieser Urform verschiedenste Varianten von HMO herausgebildet: ▬ »Staff Model«, ▬ »Group Model«, ▬ »Network Model« und ▬ Independent Practice Associations (IPA). Bei der Preferred-provider-Organisation (PPO) schließt die Krankenversicherung mit einzelnen unabhängigen Leistungserbringern Sicherstellungsverträge ab, in denen sie einen Mengenrabatt für die zumeist auf Einzelleistungsbasis honorier-
Versicherter/Patient
Versicherungsprämie
Leistungskatalog
Krankenversicherung
„Versicherungsvertrag”
„Behandlungsvertrag”
eine enge Organisationslösung Managed-care-Organisation
⊡ Abb. 8.9. Struktur von Managed-care-Organisationen
Behandlungsgutschein
Behandlung
Leistungserbringer
227 8.6 · Steuerungssysteme
ten Leistungen aushandelt. Dafür garantiert die Krankenversicherung diesem Leistungserbringer eine Mindestbeschäftigung. Eine weitergehende Einflussnahme der Krankenversicherung auf die Leistungserbringer erfolgt hingegen nicht.
8.6
Steuerungssysteme
8.6.1 Steuerungsebenen
der Gesundheitspolitik > Die Austauschbeziehungen im Gesundheitswesen sind dem Ziel untergeordnet, der Befriedigung der Patientenbedürfnisse unter der Einschränkung der Knappheit zu dienen.
Die Knappheit fordert ein gezieltes Tätigwerden, um bei gegebenen Mitteln eine möglichst umfassende Bedürfnisbefriedigung zu erreichen. Jedes Gesundheitswesen besteht zumindest aus zwei Parteien: den Patienten als Nachfrager und den medizinischen Leistungserbringer als Anbieter. Übernehmen Krankenversicherungen innerhalb des Gesundheitswesens die Aufgabe der Kollektivvorsorge, so kommen sie als dritter Part hinzu. Die Parteien stehen untereinander in Austauschbeziehungen, indem sie füreinander Leistungen abgeben (⊡ Abb. 8.10). > Die Abstimmung von Austauschbeziehungen wird als Steuerung bezeichnet (vgl. grundsätzlich Oberender 1992, 155 ff.). Sie kann auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen (⊡ Abb. 8.10).
Eine Steuerung auf der Individualebene folgt dem Prinzip einer marktwirtschaftlichen Ordnung.
8
Versicherter und Patient, Arzt und Krankenversicherung treten als Individuen oder freiwillige Organisationen einander gegenüber und stimmen auf diese Weise ihre Austauschbeziehungen miteinander ab. Der Individualebene übergeordnet ist die Ebene der Verbände bzw. Selbstverwaltungsorganisationen. Auf ihr stehen sich die entsprechenden Zwangsverbände der Leistungserbringer bzw. Patientenorganisationen gegenüber. Diese Handlungsträger sind Ausfluss einer staatlichen Zwangsgewalt und folgen nicht dem freiwilligen Austauschprinzip. Die höchste Steuerungsebene kann der staatlichen Gewalt zugeordnet werden. Hier übernehmen staatliche Organisationen die Aufgabe der Austauschbeziehungen zwischen Leistungserbringern, Versicherten und Krankenversicherungen. Während diese unterschiedlichen Steuerungsebenen theoretisch als Alternativen zu verstehen sind, kommen in der Realität generell Mischformen aus allen drei Steuerungsebenen vor. Um jedoch einen Konflikt der Steuerungsebenen zu vermeiden, ist dann eine Regel erforderlich, wann welche Steuerungsebene den Vorzug genießt. Die Bedeutung der Steuerungsebenen für die Gestaltung eines konkreten Gesundheitssystems soll durch einen Ausblick auf das deutsche Gesundheitssystem herausgearbeitet werden.
8.6.2 Diagnose des gesetzlichen
Gesundheitssystems Steuerungsmängel Die deutsche Gesundheitspolitik, v. a. die Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), steht seit Jahren unter dem Problem wach-
Konsument
Krankenversicherung
medizinischer Leistungserbringer
⊡ Abb. 8.10. Steuerungsbeziehungen im Gesundheitswesen
228
Kapitel 8 · Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive
sender Ausgaben und stagnierender Einnahmen. Trotz einer simultanen Anhebung der Beitragssätze und der Beitragsbemessungsgrenzen wurden immer mehr Mittel notwendig, um die Ausgaben der GKV zu finanzieren (vgl. ⊡ Tabelle 8.1). Die Frage ist folglich zu stellen, ob die Kostenexplosion nicht ein Ergebnis verfehlter Anreizstrukturen für die Akteure im Gesundheitswesen ist. > Durch das Sachleistungsprinzip und das Bedarfsprinzip wird im Gesundheitswesen der Preisausschlussmechanismus außer Kraft gesetzt (vgl. Oberender et al. 2002, S. 25ff.).
8
Die individuelle Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit entscheiden nicht mehr über die Inanspruchnahme einer medizinischen Leistung. Daraus resultiert eine Vollkaskomentalität der Versicherten. Der einzige limitierende Faktor ist faktisch die individuelle Zeit. Der Zusammenhang zwischen individueller Leistungsinanspruchnahme und den Beitragssätzen ist so kaum spürbar. Es liegt das sog. Moral-hazard-Problem vor: der Einzelne hat kaum Anreize zu krankheitsverhinderndem und gesundheitsförderndem Verhalten. Durch die
steigenden Krankenversicherungsbeiträge ist eher ein Anstieg des Anspruchsniveaus wahrscheinlich, da die Qualitätserwartungen steigen werden. Der einzelne Leistungserbringer, namentlich der Arzt, hat keinen Anreiz zu sparsamen Verhalten, da eine Mengenausweitung zunächst eine Gewinnsteigerung bedeutet. Es liegt eine sog. angebotsinduzierte Nachfrage vor. Möglich ist eine derartige Ausweitung der Nachfrage primär durch den Informationsvorsprung der Leistungsanbieter gegenüber den Patienten. Der Patient merkt nur selten, wann der Leistungsumfang das erforderliche Maß übersteigt. Für den Patienten als Versicherten besteht unter den gegebenen Rahmenbedingungen auch kein Anreiz, sich die fehlenden Informationen zu beschaffen, da er die ärztliche Leistung insbesondere beim Sachleistungsprinzip als fast kostenlos empfinden kann. Als eine der wichtigsten Kostentreiber im Gesundheitswesen ist der medizinische Fortschritt zu bezeichnen. Dieser lässt zwar einerseits die Diagnose- und Therapiemöglichkeiten zugunsten des Patienten ansteigen, andererseits fehlte bisher ein entsprechender Anreiz für kostensparende Pro-
⊡ Tabelle 8.1 Bezugszeit 1996–2004. (Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.3) Jahr
Beitragssatz in % / Beitragsbemessungsgrenze in DM ab 2002 in Euro – West –
– Ost –
1980
11,4 / 3.150
–/–
1990
12,6 / 4.725
–/–
1991
12,2 / 4.875
12,8 / 2.250 (ab 1.7.91: 2550)
1995
13,2 / 5.850
12,8 / 4.800
1996
13,5 / 6.000
13,5 / 5.100
1997
13,5 / 6.150
13,9 / 5.325
1998
13,6 / 6.300
14,0 / 5.250
1999
12,2 / 6.375
13,8 / 5.400
2000
13,5 / 6.450 (3.297,83 €)
13,8 / 5.325 (2.722,63 €)
2001
13,5 / 6.525 (3.336,18 €)
13,7 / 6.525 (3.336,18 €)
2002
13,97 / 3.375 €
2003
14,32 / 3.450 €
2004
14,23 / 3.487,50 €
229 8.6 · Steuerungssysteme
Makroebene = Regierung/ Parlament
Planwirtschaft
Mesoebene = Selbstverwaltung Mikroebene = alle Individuen
Marktwirtschaft
⊡ Abb. 8.11. Gesundheitsebene im Gesundheitswesen
zessinnovationen. Da die Patienten die Kosten, wie bereits oben ausgeführt, nicht berücksichtigen brauchen, haben sie kein Interesse an kostengünstigeren Technologien, sofern sie keinen medizinischen Vorteil bieten. Die mit dem technologischen Fortschritt, vornehmlich Add-on- sowie Half-way-Technologie, parallel verlaufende demographische Entwicklung verschärft die Finanzierungsproblematik des gesetzlichen Gesundheitssystems noch zusätzlich. Hinzu kommt, dass ein veränderter Gesundheitsbegriff die Herausforderungen an den Leistungskatalog der GKV kontinuierlich erhöhen1. Die Steuerungsproblematik wird durch das Prinzip der gemeinsamen Selbstverwaltung auf der institutionellen Ebene noch verstärkt. Sowohl auf Seiten der Versicherten als auch auf Seite der Leistungserbringer besteht die gesetzliche Pflicht zur verbandlichen Selbstorganisation. Diesen hoheitlichen Kollektiven auf der Mesoebene (Verbände der Krankenkassen, kassenärztliche Vereinigungen) wird die Aufgabe zugeschrieben, über den Leistungsumfang und die Leistungsentlohnung mittels Verhandlungen zu entscheiden. Dieses Verfahren ähnelt einem bilateralen Monopol. Ausgaben als volkswirtschaftliches Problem Eine Veränderung der Ausgabenanteile für bestimmte Güter und Dienstleistungen ist innerhalb
1
Hierbei seien nur Elemente der Wellness-Bewegung oder der Lifestyle-Medizin genannt.
8
einer Volkswirtschaft zunächst Ausdruck des normalen Strukturwandels einer Wirtschaft. Güter mit hoher Einkommenselastizität der Nachfrage – sog. einkommenssuperiore Güter (vgl. Fehl u. Oberender 2002, S. 324ff.) – erlangen dabei eine zunehmende Bedeutung. Die Bedeutung der Kostenfalle im Gesundheitswesen entsteht erst durch die Koppelung der Beiträge an die Lohnkosten, was unter Berücksichtigung wenig steigender Produktivität Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit mit sich bringt (⊡ Abb. 8.12). Grundsätzlich impliziert die Stabilität des Krankenversicherungsbeitrages keine Konstanz der GKV-Einnahmen. Allgemeine Lohnerhöhungen sowie die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze bescheren der GKV steigende Einnahmen. Damit ermöglicht der Grundsatz der Beitragssatzstabilität, ebenso wie ein z. B. grundlohnorientiertes Budget, im Zeitverlauf durchaus Zuwächse bei den Gesundheitsausgaben. Trotz dieser Dynamisierung kommt es jedoch zur willkürlichen Vorgabe einer Gesundheitsquote, mit anderen Worten zu einer, wenn auch dynamisierten, Obergrenze für den maximalen Anteil der Gesundheitsausgaben am Volkseinkommen. Die Realisierung von Wachstumspotenzialen eines Marktes kann aber nur bei überproportionalen Zuwächsen bei den entsprechenden Ausgaben erfolgen. Liegt die vorgegebene Gesundheitsquote darunter, wird eine Realisierung von Wachstumspotenzialen, und damit von Beschäftigungschancen, behindert. ⊡ Abbildung 8.12 zeigt einen exemplarischen Überblick über die Bedeutung des Sektors Gesundheitswesen im Strukturwandel. Wenn ein ständig wachsender Teil des Einkommens nicht mehr zur freien Disposition steht, sondern für eine solidarische Krankenversicherung aufgewendet werden muss, stellt dies einen massiven Eingriff in die Konsumentensouveränität dar. Die Nutzung des Wachstumspotenzials im Gesundheitswesen setzt somit 1. einen Verzicht auf eine Kostendämpfungspolitik voraus und bedarf 2. der Dezentralität der Leistungserbringung, entsprechend den individuellen Wünschen der Nachfrager.
230
Kapitel 8 · Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive
– 15,59%
Energie, Bergbau Chemie
– 13,13%
Stahl, Maschinen
– 8,48% – 0,39% Gesundheitswesen
Einzelhandel 12,5%
⊡ Abb. 8.12. Beschäftigungsentwicklung im Gesundheitswesen
Ihren Niederschlag finden diese Ziele in der Notwendigkeit einer Änderung der Rahmenordnung des Gesundheitswesens.
8
8.6.3 Ordnungspolitische Defizite
Spannungsfeld zwischen Subsidiarität und Solidarität Wenn das Gesundheitswesen in Deutschland einer mit Solidaritätselementen verbundenen marktwirtschaftlichen Ordnung folgen soll, bedeutet dies i. S. d. Subsidiaritätsprinzips eine eindeutige Zuordnung der Kompetenzen auf die geeigneten Ebenen. Bei ungeeigneter Wahl der Bezugsgruppe kann, wie auch der Sachverständigenrat für konzertierte Aktion im Gesundheitswesen feststellt, keine stabile Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung realisiert werden (Sachverständigenrat KaiG 1994, S. 60 f.). > Eine marktwirtschaftliche Ordnung basiert auf der individuellen Freiheit, d. h. auf der Überzeugung, dass selbstinteressierte Handlungen über wettbewerbliche Prozesse regelmäßig ein sozial erwünschtes Resultat hervorbringen.
Wenn Individuen zwangsweise in Kollektive eingebunden werden, wie etwa in ein System einer gesetzlichen Krankenversicherung, so sind solche Maßnahmen legitimationsbedürftig. Durch die Verdünnung persönlicher Haftung und deren Übertragung auf ein Kollektiv entsteht sehr schnell ein Verantwortungsvakuum, das institutionell aufwendig und kostspielig aufgefüllt werden muss. Insbesondere die Folgekosten staatlicher Eingriffe müssen bei einem Vergleich zwischen der Steue-
rungsebene Markt und der Ebene Staat verglichen werden (vgl. Streit 1996, S. 258). Element dieser Folgen sind auch dynamische Effekte, deren Wirkung u. U. erst sehr langfristig sichtbar und nicht immer leicht monetarisierbar ist. Im Hinblick auf die Systeme sozialer Sicherung muss auch die Frage erlaubt sein, welchen Einfluss die verordnete Solidarität im Makrokollektiv auf die freiwillige Solidarität, auf die Eigenvorsorge, hat. Schon Eucken weist darauf hin, dass das Konzept der sozialen Marktwirtschaft zur Durchsetzung einen von Partikularinteressen und wirtschaftlichen Machtzusammenballungen unabhängigen »starken« Staat benötigt (Vgl. Eucken 1975, S. 325 ff.). Die kontinuierliche Ausdehnung staatlicher Zuständigkeit und interventionistischer Eingriffe, wie auch mit einigen Ausnahmen die Entwicklung seit den Kostendämpfungsgesetzen deutlich macht, lassen erkennen, dass die auch von Eucken geforderten Kriterien der Ordnungskonformität und Subsidiarität nicht ausreichend waren, um diskretionäre politische Entscheidungen einzudämmen. Institutionelles Defizit in der Gesundheitspolitik Der Anspruch der sozialen Marktwirtschaft, Elemente des Marktes mit dem Anspruch eines garantierten, nach dem Bedarfsprinzip ausgerichteten gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen zu vereinbaren, verleiht dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft eine große politische Attraktivität. Die Frage nach den Ursachen der zunehmenden Interventionsspirale im Gesundheitswesen weist den Blick auf den politischen Prozess. Die theoretischen Ansätze der neuen politischen Ökonomie untersuchen die Maßnahmen des
8
231 8.6 · Steuerungssysteme
Staates durch die Anreize der Politiker innerhalb eines demokratischen Staates (vgl. Bernholz u. Breyer 1994). Wird das Verhalten der politischen Entscheider als Stimmenmaximierung aufgefasst, die auf einem Markt für Wählerstimmen agieren, so wird offensichtlich, welche Seite der sozialen Marktwirtschaft im politischen Prozess begünstigt wird. Die Sicherung einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die allgemeingültigen, möglichst diskriminierungsfreien Regeln folgt, gleicht der Produktion eines öffentlichen Gutes, wogegen spezielle sozialpolitische Maßnahmen spürbare Wirkungen für bestimmte Gruppen haben, die als Wähler genau solche Sondervorteile nachfragen. Somit besteht die Tendenz, zum einen ordnungspolitische Maßnahmen zugunsten sozialpolitischer Interventionen zu vernachlässigen und zum anderen mögliche politische Manövriermassen nach Möglichkeit zu vergrößern. Dabei sind die Einflussmöglichkeiten namhafter Interessengruppen nicht zu unterschätzen. Auch wenn diese Diagnose der politischen Ökonomie nicht uneingeschränkt zutreffen muss, sind wichtige Ansatzpunkte für Reformen ableitbar. Insbesondere ist auf eine ständige »Durchmischung« der Steuerungsebenen zu verzichten.
rung erforderlich. Wichtig ist hierbei allerdings, offenzulegen, wie und durch wen Rationalisierung und Rationierung erfolgen sollen. Rationalisierung, d. h. der Verzicht auf überflüssige Maßnahmen, muss die Handlungsbedingungen der beteiligten Akteure im Gesundheitswesen berücksichtigen. Wird diese Grundbedingung verletzt und versucht, über interventionistisches Vorgehen im Sinne zentral festgelegter Budgets und Vorschriften der Verschwendung Einhalt zu gebieten, besteht die inhärente Gefahr, dass Rationalisierung in Rationierung übergeht (vgl. ⊡ Abb. 8.13). Neben der Rationalisierung ist aber auch eine Rationierung unumgänglich. Nicht alles medizinisch Mögliche ist von der Gemeinschaft und vom Einzelnen finanzierbar, d. h. die Knappheit zwingt zur Rationierung und damit auch auf den Verzicht wirksamer Maßnahmen. Es sei davon ausgegangen, dass etwa 1 Billion Euro sinnvollerweise für Gesundheitsleistungen ausgegeben werden könnten. Gleichzeitig sollten aber aufgrund der Budgetierung nur 143 Mrd Euro im Jahr 2004 für die gesetzliche Krankenversicherung zur Verfügung stehen. Dies stellt eine Rationierung dar. Bedenkt man, dass es sich im Gesundheitswesen um einen
> Aufgabe des Staates innerhalb einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung muss es sein, möglichst gleiche Rahmenbedingungen für alle zu gewährleisten.
Qualität
8.6.4 Rationalisierung und Rationierung
Es bleibt jedoch die grundsätzliche Frage zu klären, wie anhand der knappen Ressourcen einerseits und des enormen medizinischen Fortschritts andererseits die Diskrepanz zwischen medizinisch sinnvoll Möglichem und Finanzierbarem in der Zukunft gelöst werden soll. Damit ist unmittelbar die Frage verbunden, ob der Anspruch des Sozialsystems (Erreichen der Versorgungsqualität) mit der Realität auf der Arzt-Patienten-Ebene (Erreichen der individuellen Behandlungsqualität) in Einklang gebracht werden kann. Eine derartige Situation macht in Zukunft die Notwendigkeit einer offenen Diskussion über Rationalisierung und Rationie-
Ausgaben
Rationierung
Rationalitätenfalle Verschwendung Rationalisierungsreserven ⊡ Abb. 8.13. Rationalisierung und Rationierung
232
8
Kapitel 8 · Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive
einkommensuperioren Bereich, d. h. die Ausgaben für Gesundheit wachsen schneller als das Einkommen, handelt, der mit acht bis zehn Prozent jährlich wächst, so wird ersichtlich, dass durch diese Budgetierung, die lediglich eine Steigerung der GKV-Ausgaben um die Grundlohnsummenveränderung zulässt, die Diskrepanz zwischen dem, was medizinisch sinnvoll möglich ist und dem, was finanzierbar ist, immer größer wird. Bei einer Rationierung ist zwischen einem konkreten und einem statistischen Menschenleben zu unterscheiden (vgl. Oberender 1998). Im Gegensatz zum konkreten Menschenleben hat ein statistisches Menschenleben durchaus einen Preis und es besteht die Notwendigkeit, anhand von Wahrscheinlichkeitsaussagen Grundlagen für die Rationierungsentscheidung auszuarbeiten. > Bei Berücksichtigung einer Mindestsicherung muss die Rationierungsentscheidung auf explizite und indirekte Weise, z. B. über Kapazitäten und Leistungskataloge, durch die politischen Entscheidungsgremien erfolgen.
Eine explizite Rationierungsentscheidung entspricht dabei den Ansprüchen der Transparenz und formaler Gleichbehandlung aller Bürger am weitgehendsten (Oberender 1998). Jedoch ist auch unbestritten, dass eine Rationalisierung, d. h. Verzicht auf überflüssige Maßnahmen, stattfinden muss. Hierzu bieten sich zwei Wege an: 1. planwirtschaftlicher Weg sowie 2. marktwirtschaftlicher Weg. Im Rahmen der planwirtschaftlichen Lösung wird durch zentral festgelegte Budgets und Vorschriften versucht, der Verschwendung Einhalt zu gebieten. Beispiele für diese Regulierungen und Reglementierungen sind die diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG), Positivlisten, Festbeträge und Arzneimittelbudgets. Bei einer solchen Politik besteht nicht nur die Gefahr, dass diese Rationalisierung in eine Rationierung übergeht (vgl. ⊡ Abb. 8.13), sondern es handelt sich auch um eine Anmaßung von Wissen (von Hayek, 1994). Auf diese Weise verkümmert die Gesundheitspolitik zu einer bloßen Kostendämpfungspolitik, bei der Bürokratie und Dirigismus ständig weiter vordringen. Aufgrund der Illusion der Planbarkeit und des Irrglaubens
der Machbarkeit findet dadurch eine zunehmende Bevormundung und Kontrolle aller statt. Ein Geist des Misstrauens und der Missgunst werden sich ausbreiten. Da es sich um keine ursachenadäquate Therapie handelt, werden immer wieder Interventionen des Gesetzgebers erforderlich (Interventionsspirale). Unter Berücksichtigung einer marktwirtschaftlichen Ordnung muss eine Rationalisierung an einer Rahmenordnung ansetzen, nach der für den Betroffenen individuelle Anreize geschaffen werden, sich wirtschaftlich und sparsam zu verhalten. Durch eine Verknüpfung individuellen Handelns und Haftens wird die Diskrepanz zwischen individueller und gesellschaftlicher Rationalität (Rationalitätenfalle) aufgelöst (Oberender et al. 2002, S. 148 ff.). Hierzu ist es erforderlich, den Leistungserbringern ergebnisorientierte Preise zu bezahlen. Es wird hier eine Vielfalt von Lösungen entstehen und sich im marktlichen Selektionsprozess diejenigen Leistungen durchsetzen, die eine bedarfsgerechte Versorgung sicherstellen.
8.6.5 Skizzierung einer marktwirtschaft-
lichen Gesundheitsordnung Die Umsetzung einer derartigen marktwirtschaftlichen Gesundheitspolitik in einer wohlverstandenen ordnungspolitischen Sicht benötigt zu seiner Durchsetzung einen von Partikularinteressen und wirtschaftlichen Machtzusammenballungen unabhängigen, »starken« Ordnungsstaat. Dabei müssen aber insbesondere die Interdependenzen zwischen Marktwirtschaft und Demokratie betont werden, d. h. Einflüsse des Wählerstimmenmarktes Berücksichtigung finden. Eine soziale Ordnungspolitik muss demnach dem Prinzip der allgemeinen Regeln folgen und möglich diskriminierungsfreie Politikmaßnahmen generieren. Darüber hinaus bedarf es jedoch auch der Auswahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Politikentwürfen auf der Maßnahmenebene, was als Plädoyer für dezentrale Lösungen verstanden werden soll. Die Grundsatzfrage sozialpolitischer Fragen (wer wird geschützt?) sollte auf der ordnungspolitischen Ebene als allgemeines Prinzip festgelegt, die konkrete Umsetzung durchaus dezentralen, regionalen Einheiten überlassen werden.
233 Wissens- und Transferfragen
Ziel der Reform der gesetzlichen Krankenversicherung muss es z. B. sein, Entscheidungskompetenzen auf die Ebene der einzelnen Bürger zurückzuverlagern, gleichzeitig aber eine anreizkompatible Umverteilung zu gewährleisten [insbesondere Homann u. Pies (1996) diskutieren eine »Sozialpolitik für den Markt«, die versucht, gemeinsame Interessensfelder zwischen Freiheit und Sicherheit herauszuarbeiten.]. Dabei muss es sich nicht um einen gordischen Knoten handeln, wenn berücksichtigt wird, dass eine Verschwendung der Ressourcen solange systeminhärent ist, solange Anreize bestehen, über fremde Ressourcen zu verfügen. Bei einer Zusammenführung individueller Handlung und finanzieller Verantwortung ließen sich derartige Anreizfragen lösen.
Wandel begleiten zu können. Entscheidend wird aber auch sein, ob es gelingt, die politischen Entscheidungsträger im Sinne einer liberalen Aufklärung zu überzeugen, dass der Gesundheitsbereich einer der Schlüsselbereiche der Zukunft sein wird. Insbesondere die Erfahrungen in der Bundesrepublik zeigen, dass die politische Diskussion zu leicht gesundheitsökonomische Zusammenhänge mit dem Argument der politischen Opportunität auszublenden versucht. Gesundheitsökonomisches Grundwissen wird auch aus diesem Grunde die Grundlage für ein gesamteinheitliches und zukunftsfähiges Gesundheitssystem sein müssen.
? Wissens- und Transferfragen
> Kernpunkt aller künftigen Gesundheitsreformen wird die Ausgestaltung der Leistungsbeziehung (Patienten, Leistungserbringer, Krankenversicherung) und der Umverteilung (Versicherte, Krankenversicherung, Staat) sein.
Aus marktwirtschaftlicher Sicht kann man deshalb im Hinblick auf die Krankenversicherung zwischen Versicherungsmarkt und Umverteilungsebene trennen. Bei einer Grundversicherung für alle (allgemeine Regel/Sozialpolitik), kombiniert mit der Möglichkeit risikoäquivalente Prämien zwischen Versicherten und Kostenträger zu vereinbaren (Marktlösung), ließe sich die Umverteilungskomponente über eine Subjektförderung, z. B. einer Versicherungsgeldlösung (Maßnahme/Sozialpolitik), anreizneutral gestalten. [Soweit die individuelle aktuarische Prämie einen zu definierenden Eigenanteil übersteigt, hat jeder Versicherte Anspruch auf die Zahlung eines Versicherungsgeldes. Ihm wird die Differenz auf zumutbaren Eigenanteil und aktuarischem Beitrag bis zur Höhe einer Kappungsgrenze ersetzt (vgl. u. a. Ruckdäschel 2000).]
8.7
Ausblick
Die Gesundheitsökonomie als Wissenschaft wird in der Zukunft mehr gefordert werden, Leitbilder für Reformen im Gesundheitswesen zu entwickeln. Dabei ist das Wissen über gesundheitsökonomische Grundzusammenhänge elementar, um diesen
8
1. Handelt es sich bei Gesundheitsgütern um besondere Güter? Grenzen Sie Nachfrage und Produktion von Gesundheitsleistungen voneinander ab? 2. Was verstehen Sie unter einer Asymmetrie des Wissens? Inwieweit spielt dies eine Rolle im Gesundheitswesen? 3. Warum ist bei Selbstbeteiligungen sowohl der Finanzierungs- als auch der Steuerungsaspekt zu berücksichtigen? 4. Erläutern Sie die Absicherungsfunktion einer gesetzlichen Krankenversicherung. 5. Neuere Organisationsformen des Gesundheitswesens orientieren sich am Grundsatz des »Managed Care«. Welche Bedeutung hat der Grundsatz des selektiven Kontrahierens für die Realisierung derartiger Konzepte? 6. Begründen Sie, warum Gesundheitsausgaben eine volkswirtschaftliche Wertschöpfung darstellen. Ordnen Sie dabei den Grundsatz der Beitragssatzstabilität ein! 7. Grenzen Sie Rationalisierung und Rationierung ab. Welche Bedeutung spielt das Haftungsprinzip in diesem Zusammenhang? 8. Zeigen Sie anhand der Steuerungsprinzipien im Gesundheitswesen die Möglichkeit einer wettbewerbsorientierten Gesundheitspolitik.
234
Kapitel 8 · Gesundheitsökonomie: Überblick und Perspektive
Literatur
8
Bernholz P, Breyer F (1994) Grundlagen der Politischen Ökonomie, Bd 2: Ökonomische Theorie der Politik, 3. Aufl, Mohr (Siebeck), Tübingen 1994 Breyer F, Zweifel P (1999) Gesundheitsökonomie. 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Eucken W (1975) Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 5. Aufl, Mohr (Siebeck), Tübingen Fehl U, Oberender P (2004) Grundlagen der Mikroökonomie, 9. Aufl, Vahlen, München Hayek FA von (1994) Arten des Rationalismus. In: Hayek FA von (Hrsg) Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze von FA von Hayek. 2. Aufl, Mohr (Siebeck), Tübingen, S 75–89 Homann K, Pies I (1996) Sozialpolitik für den Markt: Theoretische Perspektiven konstitutioneller Ökonomik. In: Pies I, Leschke M (Hrsg) James Buchanan konstitutionelle Ökonomik. Mohr (Siebeck), Tübingen, S 203–239 Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg) (2002) Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung Ausgabe 2002. Bundesministerium für Gesundheit, Statistisches Taschenbuch Gesundheit, Bonn. Knappe E, Optendrenk S (2000) Gesundheitsökonomie – eine einführende Analyse. In: Eiff W, Fenger H, Gillessen A et al. (Hrsg) Der Krankenhausmanager: Praktisches Management für Krankenhäuser und Einrichtungen des Gesundheitswesen. 16.05.01 bis 16.05.04, Springer, Berlin Heidelberg NewYork Tokyo, S 1–38 Krämer W (1992) Bedarf, Nachfrage und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. In: Andersen H (Hrsg) Basiswissen Gesundheitsökonomie, Bd 1. Einführende Texte. sigma, Berlin, S 63–82 Neubauer G (1988) Regulierung und Deregulierung im Gesundheitswesen. In: Thiemeyer T (Hrsg) Regulierung und Deregulierung der Sozialpolitik. Duncker & Humblot, Berlin Oberender P (1992) Ordnungspolitik und Steuerung im Gesundheitswesen. In: Andersen H, Henke K, Schulenburg, JM van der (Hrsg) Basiswissen Gesundheitsökonomie. Bd 1: Einführende Texte, Berlin, sigma, S 153–172 Oberender P (1998) Gesundheitsversorgung zwischen ökonomischer und medizinischer Orientierung. In: Fuchs C, Nagel E (Hrsg) Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen. Thieme, Stuttgart, S 10–26 Oberender P, Ecker T (2001) Grundelemente der Gesundheitsökonomie. Unter Mitwirkung von Fleischmann J, Bayreuther Gesundheitsökonomie. Studientexte Bd 2, PCO, Bayreuth Oberender P, Zerth J (2001) Gesundheitspolitik in Deutschland, Bayreuther Gesundheitsökonomie. Studientexte Bd 1, PCO, Bayreuth Oberender P, Hebborn A, Zerth J (2002) Wachstumsmarkt Gesundheit. Lucius & Lucius, Stuttgart Payer L (1993) Andere Länder, andere Leiden: Ärzte und Patienten in England, Frankreich, den USA und hierzulande. Campus, Frankfurt/M Ruckdäschel S (2000) Wettbewerb und Solidarität im Gesundheitswesen: zur Vereinbarkeit von wettbewerblicher Steu-
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9 Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel – Vom Tagessatz zum leistungsbezogenen Entgelt M. Haubrock 9.1
Rahmenbedingungen im Wandel
9.2
Abrechnung der Krankenhausleistungen – 238
Wissens- und Transferfragen Literatur
9.1
– 235
– 266
– 266
Rahmenbedingungen im Wandel
Das Haushaltsprinzip verlangt, das die Ausgaben durch die Einnahmen gedeckt werden müssen. Dies gilt auch für Sozialversicherungsträger. Die Einnahmen der Versicherungen setzen sich hierbei aus den Faktoren Grundlohnsumme (Summe der beitragspflichtigen Bruttoentgelte der Kassenmitglieder) und Beitragssatz zusammen, die Ausgaben wiederum werden zur Finanzierung der gesetzlich festgelegten Leistungen verwendet. Seit den siebziger Jahren ist die sog. Kostenexplosion im Gesundheitswesen Thema. Darunter versteht man eine Entwicklung, bei der Grundlohnsummen der einzelnen Sozialversicherungskassen nicht so schnell gewachsen sind wie die Ausgaben der Versicherungen. Aufgrund dieser scherenförmigen Entwicklung der Ausgaben- und der Grundlohnsummenentwicklungen waren bzw. sind die Kostenträger gezwungen, ihre Finanzsituation durch den zweiten Einnahmenfaktor, den Beitragssatz, zu verbessern. Kontinuierliche Beitragssatzsteigerungen, die zudem zwischen den Regionen (Süd-Nord-Gefälle) und den einzelnen Kassenarten (z. B. Ortskrankenkassen versus Betriebskrankenkassen) unterschiedlich verliefen, waren die Folge.
Mitte der siebziger Jahre setzten die finanziellen Entlastungsstrategien z. B. für das gesetzliche Krankenversicherungssystem ein. Der gesamtwirtschaftliche Auslöser dieser Reformpolitik war die potentielle Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen auf den internationalen Märkten. In diesen Kontext gehört auch die Diskussion um die steigende Belastung der Unternehmen durch die Lohnnebenkosten. Ziel dieser Politik war und ist es, eine Stabilisierung oder sogar eine Reduktion der Arbeitgeberanteile u. a. für die Krankenversicherungen zu erreichen. Diese Zwecksetzung ist unter dem Begriff »Grundsatz der Beitragssatzstabilität« in die relevante Gesetzgebung eingegangen. Zur Realisierung der Beitragssatzstabilisierung werden seit einigen Jahren u. a. folgende Lösungsansätze vorgeschlagen: 1. Individualisierung der Gesundheitsrisiken/Privatisierung des Versicherungsschutzes über eine verpflichtende Privatversicherung Instrumente: – Abkopplung der individuellen Beiträge von der Höhe der Arbeitseinkommen – Versicherungspflicht für eine medizinische Basisversorgung – Wahlfreiheit für die Versicherten, Kontrahierungszwang für die Versicherungen
236
Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
2. Wettbewerbsorientierte Weiterentwicklung des Systems Instrumente: – Begrenzung des Leistungskataloges – Einsatz von evidenzbasierten Behandlungsleitlinien – Steuerfinanzierung der sog. versicherungsfremden Leistungen – Finanzierung über Pauschalen – Ausbau der integrierten Versorgung – Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleiches – Erweiterung der Finanzierungsgrundlagen der GKV.
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Einige dieser Vorschläge sind bereits umgesetzt. Die in diesem Zusammenhang gesetzlich verordneten Sparmaßnahmen wurden in den letzten Jahren u. a. mit dem Gesundheitsreformgesetz 1989, dem Gesundheitsstrukturgesetz 1993, den Bundespflegesatzverordnungen 1995 und 2004, den Neuordnungsgesetzen von 1997, dem Gesundheitsreformgesetz aus dem Jahre 2000, dem Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung von 2003, dem Krankenhausentgeltgesetz in der Fassung vom Juli 2003 sowie der Verordnung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser für das Jahr 2004 festgeschrieben. Die Ökonomisierung des Gesundheitssektors hat dazu geführt, dass die Gesundheitseinrichtungen als Wirtschaftsunternehmen gesehen werden, die ihre Leistungserstellung unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit und der Qualität erbringen müssen. > Nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein.
Weiterhin dürfen sie das Maß des Notwendigen nicht überschreiten, damit die Versicherten sie in Anspruch nehmen können und die Krankenkassen sie bezahlen müssen. Die Wirtschaftlichkeit (Effizienz) ist ein Maß dafür, mit welchem Geldaufwand die gesetzten ökonomischen Ziele erreicht werden. Zur Berechnung der Wirtschaftlichkeit verwendet der Ökonom das Rationalprinzip mit seinen beiden Varianten Minimal- und Maximalprinzip. Beim Minimalprinzip werden
bei unveränderten Erlösen die Kosten gesenkt, beim Maximalprinzip werden die Kosten fixiert und die Erlöse verbessert. Auf der Grundlage des Rationalprinzips hat eine Budgetfixierung (starres Finanzbudget) für die Krankenhäuser die ausschließliche Verwendung des Minimalprinzips zur Folge. Die Gesundheitseinrichtungen können ihre Effizienz also nur durch eine Kostensenkungsstrategie verbessern. Unter Qualität ist nach der Norm ISO 9004 die Gesamtheit von Eigenschaften und Merkmalen eines Produktes oder einer Dienstleistung zu verstehen, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung festgelegter oder vorausgesetzter Erfordernisse beziehen. In den §§ 135 ff. SGB V sind Ausführungen über die Sicherung der Qualität der Leistungserbringung im Gesundheitssektor festgehalten. In den Regelungen für die Qualitätssicherung verpflichtet der Gesetzgeber die Leistungsanbieter, sich an Maßnahmen zur Sicherung der Struktur-, der Prozess- und der Ergebnisqualität zu beteiligen. Die gesetzlich fixierten Qualitätssicherungsaufgaben der Leistungsanbieter gehören in die Gruppe der externen Qualitätssicherungsmaßnahmen. Die Sicherung der Qualität der Leistungserbringung sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich ist hierbei zur Pflichtaufgabe der Selbstverwaltungspartner gemacht worden. Im Rahmen von Bundesverträgen sind gemeinsam durch Vorgaben Verfahren zur Qualitätssicherung aufzustellen. Ziel dieser Maßnahmen ist es, vergleichende Prüfungen von Anbietern durch eine Prüf-/Zertifizierungsstelle zu ermöglichen. Dies setzt jedoch voraus, dass eine Messlatte in Form von Kriterien aufgebaut wird, damit die Ergebnisqualitäten gemessen, verglichen, verändert oder an ein vorab definiertes Qualitätsniveau herangeführt werden können. Die Qualitätskomponenten gehören somit, neben den Quantitätskomponenten, zu den vorab festzulegenden Merkmalen von Gesundheitsgütern. Von dieser externen Qualitätssicherung muss die internen Qualitätssicherungsmaßnahmen unterschieden werden. Diese internen Regelungen liegen ausschließlich in der Hand der leistungserbringenden Unternehmen. Sie werden in der Regel
237 9.1 · Rahmenbedingungen im Wandel
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als Qualitätsmanagement bezeichnet. Logischerweise muss es eine Interdependenz zwischen den externen und den internen Maßnahmen geben. An der Schnittstelle zwischen den Innen- und den Außenaktivitäten der Gesundheitseinrichtungen steht der Patient/Kunde. Beide Qualitätssicherungsmaßnahmen zielen also auf den Kunden ab, sie sind kundenorientiert. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass der Kundenbegriff sowohl den internen (z. B. den Mitarbeiter) als auch den externen Kunden (z. B. den Patienten) umfasst.
gen mit Hilfe von Kosten-Nutzen-Untersuchungen eine Entscheidung treffen, ob und welche
> Diese Managementzielsetzung ist in allen
Mit Hilfe dieser Betrachtungen soll herausgefunden werden, wie die Ressourcen im Rahmen des Leistungserstellungsprozesses optimal zu verwenden sind. Die verfügbaren Gelder müssen bedarfsgerecht eingesetzt werden. Eine Mittelverknappung führt tendenziell zu der Forderung, die Gelder für eine Maßnahme erst nach genauer Überprüfung ihrer Gesundheitswirksamkeit zu verwenden. Das Fehlen eines funktionierenden Marktes darf die Forderung nach wirtschaftlicher Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen nicht konterkarieren. Gerade auf dem Hintergrund, dass die Steuerungsmechanismen des Marktes im Gesundheitswesen größtenteils ausgeschaltet sind, sind die Vorgaben des Qualitäts- und des Wirtschaftlichkeitsgebotes zu beachten. Hierzu bedarf es der Evaluation der Gesundheitsversorgung. Das Bestreben ökonomischer Evaluation von Gesundheitsleistungen ist es, das Verhältnis zwischen dem Ressourcenverzehr für Maßnahmen (Kosten) und den daraus resultierenden Zustandsveränderungen (Nutzen) in messbare Einheiten aufzuzeigen. Evaluationstechniken als rationale Entscheidungshilfen sind heranzuziehen, um ▬ den Nutzen und die Kosten der Maßnahmen zu messen und zu bewerten, ▬ Wirtschaftlichkeitsreserven zu aktivieren, ▬ Qualitätsverbesserungen zu erzielen.
modernen Managementmethoden (z. B. Prozess- und Qualitätsmanagement) zu finden. Eine Funktion dieser Methoden ist es, über Ansätze wie Fehlerlosigkeit (Qualität) und Verkürzung der Liegezeit (Kosten) eine Patientenzufriedenheit zu erreichen.
Hierbei sind die beiden Größen » Qualität« und »Wirtschaftlichkeit« so in Beziehung zu setzen, dass ein möglichst effizienter Gesamtbehandlungsablauf bei der Patientenversorgung und ein vorab festgelegtes qualitatives Behandlungsergebnis eintreten. Das Ziel eines erwerbswirtschaftlich orientierten Unternehmens besteht primär darin, Gewinne zu erzielen und eine möglichst hohe Rendite des eingesetzten Kapitals zu erwirtschaften. Die Deckung des Bedarfs an Gütern und Leistungen hat mehr instrumentalen Charakter. Die Gesundheitseinrichtungen hingegen werden (noch) mit dem Ziel betrieben, den Bedarf der Bevölkerung an Krankenhausleistungen zu decken. Ein wichtiges Unterziel dieser Bedarfsdeckung ist das Leistungserstellungsziel, mit dem das Krankenhausunternehmen die Erfüllung des Versorgungsauftrages gegenüber der Bevölkerung verantwortlich wahrnehmen muss. Unter der gegenwärtigen Restriktion, dass parallel zu den verbesserten Versorgungsmöglichkeiten der Medizin und der Pflege sowie den gleichzeitig steigenden Ansprüchen der Bevölkerung an die Bereitstellung der Gesundheitsgüter nur begrenzte finanzielle Mittel für die Finanzierung dieses Angebotes bzw. dieser Nachfrage zur Verfügung stehen, müssen die Gesundheitseinrichtun-
alternativen Gesundheitsleistungen aus qualitativer und aus wirtschaftlicher Sicht verwirklicht werden können bzw. sollen. > Je weniger Ressourcen in einer Gesellschaft für die Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen, desto stärkere Bedeutung erlangen Rationierungsüberlegungen, die anhand von absoluten und relativen Effizienzbetrachtungen umgesetzt werden.
Zur Umsetzung dieser Forderungen können verschiedene Kosten-Nutzen-Untersuchungen (KNU) eingesetzt werden. Zu den klassischen Formen der ökonomischen Evaluation zählen die KostenNutzen-Anlayse (KNA) und die Kosten-Wirksam-
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Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
keits-Analyse (KWA). Beide Untersuchungsverfahren basieren auf der Messung der Input-OutputRelation. Die Kosten-Nutzen-Analysen und die Kosten-Wirksamkeits-Analysen sind aufgrund konzeptioneller Besonderheiten zu differenzieren. Der Unterschied beider Techniken besteht nicht in der Erfassung der Kosten, denn diese werden immer in Geldeinheiten erfasst. Es ist vielmehr die Seite des Outputs, des Nutzens, die bei der Messung differiert. Werden bei der KWA physische Einheiten gemessen, so sind es Geldeinheiten bei der KNA. Somit werden bei der KNA Kosten und Nutzen monetarisiert, das Ergebnis lässt sich in Form der sog. absoluten Effizienz ermitteln; bei der KWA sind werden dagegen die Kosten in Geld und der Nutzen in Wirkungseinheiten (Wirksamkeiten) erfasst. Das Resultat erscheint in Form der sog. relativen Effizienz. Als ein Indikator für die Wirksamkeit von Gesundheitsleistungen ist die Qualität zu nennen. Neben diesen Aspekten werden die Gesundheitseinrichtungen zur Zeit mit Forderungen konfrontiert, nach denen sich ein so wichtiger Teil der Volkswirtschaft wie das Gesundheitswesen den Regeln des freien Marktes und der damit verbundenen Wettbewerbsdynamik und Entsolidarisierung unterwerfen sollte. Die zunehmende Interpretation der Krankenhausbehandlung als Dienstleistung wird diese Entwicklung unterstützen. Hinzu kommt, dass die Einführung des DRG-Systems den Prozess beschleunigen wird, der die Ablösung der Philosophie der » Daseinsfürsorge » durch die Konzeption des »freien Marktes« vollzieht. Für die Krankenhäuser ergeben sich hieraus in den nächsten Jahren u. a. die folgenden Problemfelder: ▬ Problemfeld Transparenz Die mit der DRG-Einführung verbundene umfassende Transparenz wird als Folge des Ökonomieprinzips und der steigenden Qualitätsanforderungen bei den Krankenhäusern verstärkt Kooperations- und Konzentrationsprozesse auslösen bzw. die Neigung zu Kartellen und Fusionen verstärken. ▬ Problemfeld Investitionsbedarf Bei den Krankenhäusern sind kurz- und mittelfristig bundesweit Investitionen in Milli-
ardenhöhe erforderlich, um in dem sich als Folge der DRGs schnell entwickelnden Leistungs- und Qualitätswettbewerb bestehen zu können. Die notwendigen Geldmittel werden nur partiell durch Steuern aufgebracht, da die öffentlichen Hände weder willens noch in der Lage sind, diese aufzubringen. Durch das wettbewerbsorientierte Denken in sektorübergreifenden Prozessen wird es zwangsläufig eine schnelle Ablösung der bisherigen Investitionsfinanzierung kommen. Diese politisch ausgelöste drastische Veränderung wird somit ohne privates Kapital der Angebots- und Leistungsstruktur nicht zu meistern sein. Folglich wird die Zukunft vieler Häuser durch die fehlende Investitionsfinanzierung gefährdet sein. Die Lösung des Investitionsproblems ist z. B. durch den Einsatz von privatem Kapital aus dem Industriebereich zu sehen (industrielle Konvergenz).
9.2
Abrechnung der Krankenhausleistungen
9.2.1 Veränderungen des Rechtsrahmens
bis 2002 Im Dezember 1999 wurden nach langer und kontroverser Debatte die beiden folgenden Gesetze vom Bundestag und Bundesrat verabschiedet, die am 1.1.2000 in Kraft getreten sind: ▬ GKV-Gesundheitsreform 2000 (nicht zustimmungspflichtig) ▬ GKV-Rechtsangleichungsgesetz (zustimmungspflichtig). Das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Gesundheitsreform 2000) bewirkte u. a. Veränderungen, Ergänzungen bzw. Streichungen im Sozialgesetz 5. Buch (SGB V), im Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) und in der Bundespflegesatzverordnung (BPflV). Auf die Modifikationen, die für die Krankenhausfinanzierung relevant sind, wird später genauer eingegangen. Zusammenfassend sind die wesentlichen Aspekte im Gesundheitsreformgesetz genannt:
239 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
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PauschalierteVergütung Wichtige Aspekte des Gesundheitsreformgesetz
▬ Verzahnung der ambulanten und der stationären Versorgung,
▬ Stärkung der hausärztlichen Versorgung, ▬ Stärkere Orientierung auf Prävention,
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
bedarfsgerechte Behandlung und Qualitätssicherung in der zahnmedizinischen Versorgung, Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung, Einführung eines leistungsorientierten pauschalierten Preissystems für Krankenhäuser, Stärkung der Gesundheitsförderung und der Selbsthilfe, Förderung der Rehabilitation, Verbesserung der Qualität der gesundheitlichen Versorgung, Erweiterung er Patientenrechte, Beibehaltung der Beitragssatzstabilität, Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung, Abbau der Überversorgung.
Das GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 beinhaltet nach Meinung der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) » ... außerordentlich tief greifende und nachhaltige Neuerungen, die ... die Krankenhauslandschaft in Deutschland im Laufe der nächsten Jahre drastisch verändern werden.« (Deutsche Krankenhausgesellschaft 2000) Nach Auffassung der DKG zählt dazu ▬ die schärfere Fassung des Prinzips der Beitragssatzstabilität, ▬ die Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems, ▬ die Verpflichtung zur Qualitätssicherung und zum einrichtungsinternen Qualitätsmanagement, ▬ die Regelungen zur Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, ▬ der Komplex der vertragsgesteuerten integrierten Versorgung, ▬ die Verschärfung im Bereich der Ausnahmetatbestände nach § 6, Abs. 1 BPflV.
Im Rahmen der Gesundheitsreform 2000 hat der deutsche Gesetzgeber die Einführung eines neuen pauschalierenden Vergütungssystems für die allgemeinen voll- und teilstationären Krankenhausleistungen beschlossen. > Es sollen die allgemeinen Krankenhausleistungen abgegolten werden, welche im Einzelfall für eine medizinisch zweckmäßige und ausreichende Versorgung des Patienten nötigwendig sind. Dabei ist die Leistungsfähigkeit des Krankenhauses und die Art und Schwere der Erkrankung zu berücksichtigen (§ 2 Krankenhausentgeltgesetz 2002).
Die Reform zielt auf die Behandlungseinrichtungen, die nach den Begriffsbestimmungen des § 2 Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) in der Fassung von 1991 in die relevanten Regelungen aufgenommen worden sind. Hierbei handelt es sich um Einrichtungen, die nach den Vorschriften des KHG gefördert werden und in den Krankenhausplänen der Bundesländer aufgenommen worden sind. Einrichtungen der Psychiatrie sind jedoch davon ausgenommen. Die neuen Entgelte sollen für voll- und teilstationäre Leistungen gelten. Bei einem vollstationären Krankenhausaufenthalt nimmt der Patient ununterbrochen, Tag und Nacht, die stationären Leistungen des Krankenhauses in Anspruch. Bei einem teilstationären Aufenthalt ist seine Aufenthaltsdauer pro Tag zeitlich begrenzt. Trotzdem müssen die Merkmale einer stationären Behandlung erfüllt sein und die medizinische und organisatorische Infrastruktur des Krankenhauses muss benötigt werden. Eine teilstationäre Krankenhausbehandlung kann eine vollstationäre ersetzten oder verkürzen. Vorgaben für das neue Vergütungssystem durch § 17b KHG
▬ Die Vergütung hat je Behandlungsfall zu erfolgen und gilt für allgemeine voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen, ▬ das Vergütungssystem hat Komplexitäten und Comorbitäten abzubilden, dabei soll der Differenzierungsgrad praktikabel bleiben,
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240
Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
▬ es soll Zu- und Abschläge für die Notfallversorgung, die Sicherstellung der Versorgung von nicht kostendeckend finanzierbaren Leistungen mit geringem Versorgungsbedarf, Ausbildungskosten und Begleitpersonen geben, ▬ Fallgruppen und Bewertungsrelationen sind bundeseinheitlich festzulegen, ▬ Punktwerte können nach Regionen differenziert festgelegt werden, ▬ das neue Vergütungssystem soll auf der Grundlage der Diagnosis Related Groups aufgebaut sein und bereits international eingesetzt sein.
Diagnosis Related Groups (DRGs). Weiterhin wird
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in § 17b KHG festgeschrieben, dass die betroffenen Selbstverwaltungsorgane u. a. ein Vergütungssystem vereinbaren müssen, das sich an einem international bereits eingesetzten Vergütungssystem auf der Grundlage der Diagnosis Related Groups (DRGs) zu orientieren hat. Hierdurch wurde sichergestellt, dass das Vergütungssystem nicht durch den Staat sondern durch die relevanten Gruppen des Gesundheitssystems festzulegen ist. Die Spitzenverbände der Krankenkassen, der Verband der privaten Krankenversicherung und die DKG hatten bis zum 30.6.2000 Zeit, sich im Rahmen einer Vereinbarung auf die Grundstrukturen des Vergütungssystems und des Verfahrens zur Ermittlung der Bewertungsrelationen auf Bundesebene sowie auf die Grundzüge des Verfahrens zur laufenden Pflege des Systems festzulegen. Die Vertragsparteien haben sich für die Australian Refined Diagnosis Related Groups (AR-DRGs) entschieden. > Die AR-DRGs, die nach Einschätzung der Selbstverwaltungspartner zum damaligen Zeitpunkt das modernste DRG-System waren, bilden somit die Grundlage des deutschen DRG-Systems. Sie wurden der Krankenhausversorgung in Deutschland angepasst und als German Diagnosis Related Groups (G-DRGs) bezeichnet.
In der Vereinbarung vom Juni 2000 wurden weiterhin die Grundsätze über die Kalkulation der
Entgelte vereinbart. Zudem legten die Selbstverwaltungspartner fest, dass sich an die budgetneutrale Einführung des neuen Vergütungssystems im Jahre 2003 für den Zeitraum vom 1.1.2004 bis zum 31.12.2006 eine dreijährige Konvergenzphase anschließen sollte. Dieser Zeitrahmen wurde im Jahr 2002 aufgrund eingetretener zeitlicher Verzögerungen u. a. im Zusammenhang mit dem Kalkulationsverfahren um ein Jahr nach hinten verschoben. Zusätzlich ist ein sog. Optionsjahr eingeführt worden. Danach konnten die Krankenhäuser im Jahre 2003 freiwillig die DRGs einführen, die Abrechnungspflicht mit dem DRG-System begann somit erst am 1.1.2004. Die Konvergenzphase umfasst die Jahre 2005 bis 2009. Die Anzahl der voll- und teilstationär abrechenbaren Fallgruppen wurden zunächst auf ca. 800 DRGs festgelegt. Die Vertragspartner einigten sich außerdem über zeitliche Fristen zur Schaffung der bis zur Einführung des neuen Vergütungssystems notwendigen Voraussetzungen. Hierzu zählen unter anderem die ▬ Modifizierung der Konditionen des Vertrages zwischen der Australischen Regierung und der Selbstverwaltungsparteien, ▬ Übersetzung der Handbücher für die computergestützte Abrechnung und ergänzender systembeschreibender Materialien in die deutsche Sprache bis zum 30.11.2000, ▬ Festlegung der Kodierregeln für die Dokumentation der diagnosen-, prozeduren- und sonstiger gruppierungsrelevanter Merkmale bis zum 30.11.2000, ▬ Entwicklung eines bundesweit einheitlichen Kalkulationsschemas zur Ermittlung und Pflege der Relativgewichte, ▬ Festlegung des Verfahrens zur jährlichen Ermittlung des bundeseinheitlichen Basisfallwertes ggfs. in regionaler Differenzierung jeweils bis zum 30.9. des laufenden Jahres für das Folgejahr, ▬ Festlegung der Regelungen der bundeseinheitlichen Zu- und Abschläge. Die Ermittlung und Fortschreibung der Relativgewichte der Fallgruppen wurde auf der Basis bundesdeutscher Daten vorgenommen. Hierzu vereinbarten die Selbstverwaltungspartner zur Auswahl
241 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
der an der Kalkulation beteiligten Krankenhäuser eine repräsentative Stichprobe. Die Datenerhebung erfolgte retrospektiv und hatte sich grundsätzlich auf ein abgeschlossenes Kalenderjahr zu beziehen. Für die im Jahr 2003 gültigen Relativgewichte wurden jedoch Daten des Jahres 2002 verwendet, die unterjährig erfasst worden sind, d. h. es wurden nur die Daten von einigen Monaten in die Berechnung einbezogen. > Wichtig ist, dass das neue Finanzierungssystem im Jahre 2003 und 2004 budgetneutral umgesetzt wurde. Nach Ablauf der Übergangsfrist von drei Jahren haben die Krankenhäuser für alle voll- und teilstationären somatischen Leistungen die auf Landesebene zwischen den Krankenkassen und den Krankenhausgesellschaften ausgehandelten Festpreise zu akzeptieren. Disease Management Programme. Das Rechtsan-
gleichungsgesetz wurde am 17.12.1999 mit den Stimmen der SPD-regierten Bundesländer und den Voten der Länder Bremen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen vom Bundesrat verabschiedet. Ziel dieses Gesetzes ist die stufenweise Einführung des gesamtdeutschen Risikostrukturausgleiches (RSA). Der gesamtdeutsche Risikostrukturausgleich begann im Jahr 2001. Insgesamt ist vorgesehen, die Einführung in 8 Stufen von je 12,5 v.H. Anpassung zu realisieren. Das Transfervolumen wird in der Endstufe des Risikostrukturausgleichs auf ca. 5 Mrd. DM pro Jahr geschätzt. Ergänzend zu diesem Gesetz wurde Ende 2001 das Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs verabschiedet. Kernstück der zum 1.1.2002 in Kraft getretenen Neureglungen des RSA sind der so genannte Risikopool, die Einführung eines besonderen Ausgleichsverfahrens für Versicherte, die in Disease Management Programmen (DMP) eingeschrieben sind, sowie die Eröffnung eines mittelfristigen Umbaus des RSA zu einem unmittelbaren »morbiditätsorientierten Ausgleichssystem«. Somit wird den gesetzlichen Krankenkassen seit Januar 2002 die Möglichkeit eröffnet, gezielt DMP zur optimalen Behandlung chronischer Erkrankungen einzurichten. Die Details zu den strukturierten Behandlungsprogrammen bei chronischen Krankheiten sind in § 137 f. SGB V gere-
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gelt. Bei der Auswahl der vom gemeinsamen Bundesausschuss (ehemals Koordinierungsausschuss) zu empfehlenden chronischen Krankheiten sind u. a. die folgenden Kriterien zu berücksichtigen: ▬ Zahl der von der Krankheit betroffenen Versicherten, ▬ Möglichkeiten zur Verbesserung der Versorgungsqualität, ▬ Verfügbarkeit von evidenzbasierten Leitlinien, ▬ Sektorübergreifender Behandlungsbedarf, ▬ Hoher finanzieller Aufwand der Behandlung. Die Zulassung der strukturierten Behandlungsprogramme erfolgt nach den Vorgaben des § 137g SGB V. Danach hat das Bundesversicherungsamt auf Antrag einer Krankenkasse oder eines Verbandes der Krankenkassen die Zulassung von DMPs zu erteilen, wenn die Programme die gesetzlich geregelten Voraussetzungen erfüllen. Im Sinne des Risikostrukturausgleiches ergeben sich zwischen den Krankenkassen finanzielle Erstattungen. Erstattungen für Maßnahmen im Rahmen strukturierter Behandlungsprogramme sind dann möglich, wenn ▬ das jeweilige DMP durch eine neutrale Akkreditierungsstelle die Zulassung erhält, ▬ sowohl die Akkreditierung selber als auch die einzelne Einschreibung qualitätsgesichert erfolgt und Akkreditierung und Einschreibung kontrolliert und evaluiert werden. Langfristiges Ziel ist es, bis zum Jahr 2007 einen morbiditätsorientierten RSA einzuführen. Damit wird die direkte Erfassung von Morbiditätsunterschieden zwischen den Versicherten möglich. Dieses bedeutet, dass die Krankenversicherungen künftig keine Beitrags- und Wettbewerbsvorteile dadurch erzielen, dass sie vor allem gesunde Versicherte an sich binden. Gesunde und kranke Versicherte werden entsprechend ihrer Risikobelastung unterschiedlich berücksichtigt. Wie erwähnt sind im Gesetz zur Reform des RSA die DMPs festgeschrieben worden. In diesen Programmen werden Versicherte mit chronischen Erkrankungen, die in zugelassenen strukturierten Behandlungsprogrammen eingeschrieben sind, behandelt. Zu den finanzierten Behandlungen gehören auch die stationär erbrachten Leistungen.
242
Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
Wie für viele der aus dem amerikanischen Gesundheitswesen importierten Begriffe fehlt auch für Disease Management (DM) eine einheitliche Definition. Von den vielen begrifflichen Festlegungen soll in diesem Zusammenhang die Definition von Lauterbach herangezogen werden.
»
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Disease Management ist ein systematischer, sektorenübergreifender und populationsbezogener Ansatz zur Förderung einer kontinuierlichen, evidenzbasierten Versorgung von Patienten mit chronischen Erkrankungen über alle Krankheitsstadien und Aspekte der Versorgung hinweg. Der Prozess schließt die kontinuierliche Evaluation medizinischer, ökonomischer und psychosozialer Parameter sowie eine darauf beruhende kontinuierliche Verbesserung des Versorgungsprozesses auf allen Ebenen ein (Lauterbach 2003)«.
Im Kern steht das DM also für die indikationsbezogene Optimierung von Versorgungsprozessen unter medizinischen und ökonomischen Gesichtspunkten. Es steuert die Therapie als Ganzes und nicht nur einzelne, ambulante oder stationäre Teilprozesse. Die Umsetzung von DM erfolgt in Form von Programmen, die eine Zusammenstellung aufeinander abgestimmter Maßnahmen beinhalten. Ein DM-Programm behandelt alle relevanten Behandlungsaspekte einer bestimmten Krankheit. Hierbei sollen sektorübergreifende Prozesse aufgebaut werden, d. h. präventive, kurative und rehabilitative logisch und zeitlich optimierte Prozesse sind zu verbinden. Letztlich ist ein DMP ein speziell für eine Erkrankung entwickelter Tätigkeitsablauf, an dem sich alle am Versorgungsprozess Beteiligten orientieren sollen.
Grundprinzipien der DMP. (Broweleit 2003)
▬ Sie gewährleisten eine sektorenübergreifende medizinische Versorgung.
▬ Durch Vermeidung von Über-, Unterund Fehlversorgung erfolgt ein effizienter Umgang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen des Gesundheitssystems.
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▬ Sie orientieren sich an medizinischen Leitlinien und medizinischer Evidenz.
▬ Sie ermöglichen dem Arzt eine optimale und regelmäßige Versorgung seiner Patienten. ▬ Die Teilnahme an strukturierten Behandlungsprogrammen ist für die Versicherten freiwillig. ▬ Sie helfen den Patienten, ihre Erkrankung besser zu verstehen und danach zu handeln.
Im Rahmen der Zieldefinition von DM wird ersichtlich, dass grundsätzlich alle Personen, Gruppen und Institutionen, die mit der Behandlung einer chronischen Krankheit zu tun haben, als Zielgruppen in Frage kommen könnten. In diesem Zusammenhang sind z. B. Ärzte, Apotheker und Krankenhäuser zu nennen. Primäre Zielgruppe sind jedoch die chronisch kranken Versicherten. Durch ein für das jeweilige Krankheitsbild relevantes Programmangebot können die Krankenkassen den Gesundheitszustand ihrer Mitglieder verbessern oder eine Verschlechterung verhindern. In diesem Zusammenhang spielt die aktive Mitwirkung der Versicherten eine große Rolle. Ein informierter und motivierter Patient trägt zum Programmerfolg bei. Daher können Kassen durch eine patientenzentrierte Informationspolitik die Programmeffektivität erheblich steigern.
Vorteile der Disease Management Programme (Broweleit 2003) Vorteile für Patienten: ▬ Optimierte Krankheitswahrnehmung ▬ Verbesserung der Krankheitssymptomatik ▬ Komplikationsvermeidung ▬ Anstieg der Lebensqualität ▬ Anstieg der Patientenzufriedenheit ▬ Eigenständiges Krankheitsmanagement Vorteile für Kostenträger:
▬ Versichertenbindung durch Zufriedenheit ▬ Kompetenzzuwachs als Prozesskoordinator ▼
243 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
▬ Effizienter Ressourceneinsatz ▬ Hochwertige Behandlungsprogramme ▬ Langfristige Kosteneinsparungen Vorteile für Ärzte: Der »mündige Patient« wird angestrebt Kompetente Behandlungsunterstützung Aufwertung des ambulanten Bereichs Sektorenübergreifende Versorgung Bessere Patienten-Compliance Kompetenzzuwachs des Arztes Rascher Informationsmaterialzugriff
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Vorteile für die Gesellschaft:
▬ Leistungsfähiges, finanzierbares Gesundheitswesen
▬ Arbeitsplatzentlastung durch geringere Fehlzeiten
▬ Entlastung des sozialen Umfeldes eines chronisch Krankens
SGB V. Das Reformgesetz 2000 hat auch Auswir-
kungen auf den Inhalt des SGB V gehabt. Unabhängig von den aktuellen Veränderungen legt das SGB V seit 1993 in § 39 Abs. 1 SGB V die folgenden Formen der Krankenhausbehandlung fest: ▬ Vollstationäre Behandlung, ▬ teilstationäre Behandlung, ▬ vor- und nachstationäre Behandlung, ▬ ambulantes Operationen. Gleichzeitig ist seit dieser Zeit der Vorrang der ambulanten, teil-, vor- und nachstationären Behandlung vor der vollstationären Behandlung explizit verankert. Für den Krankenhausbereich sind somit die folgenden zwei Vorgaben besonders relevant, die durch zwei- bzw. dreiseitige Verträge und Rahmenempfehlungen zwischen Krankenkassen, Krankenhäusern und Vertragsärzten geregelt worden sind: ▬ Die gesetzliche Möglichkeit und Verpflichtung zur vor- und nachstationären Behandlung im Krankenhaus (§ 115a SGB V); ▬ die gesetzliche Zulassung zum ambulanten Operieren und sonstiger stationsersetzender Eingriffe im Krankenhaus (§ 115b SGB V).
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Folglich haben nach § 39 SGB V Versicherte erst dann Anspruch auf eine vollstationäre Behandlung, wenn nach Prüfung durch das Krankenhaus eine stationäre Aufnahme deshalb erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch eine andere Behandlungsform einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann. Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität wird durch den § 71 SGB V erneut unterstrichen. Danach haben die Krankenkassen und die Leistungserbringer in ihren Verträgen die Leistungsvergütungen so zu vereinbaren, dass Beitragssatzsteigerungen ausgeschlossen werden. Als Ausnahmenregelungen werden explizit nur die Fälle zugelassen, bei denen die notwendige medizinische Versorgung auch nach dem Ausschöpfen aller Rationalisierungsreserven nicht ohne eine Beitragssatzsteigerung gewährleistet werden kann. Zur Fortschreibung der Krankenhausbudgets stellt das Bundesgesundheitsministerium bis zum 15.9. die retrospektiven durchschnittliche Veränderungsraten der beitragspflichtigen Bruttoentgelte der Versicherten (Rate für das gesamte Bundesgebiet sowie Raten für die alten und neuen Bundesländer) per Veröffentlichung im Bundesanzeiger fest. Diese Raten gelten für das jeweils folgende Kalenderjahr. Sie errechnen sich aus den Lohnveränderungen, die sich in der zweiten Hälfte des Vorjahres und in der ersten Hälfte des laufenden Jahres ergeben haben. Nach § 118 SGB V sind Psychiatrische Krankenhäuser vom zuständigen Zulassungsausschuss der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung zur ambulanten psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung zu ermächtigen. Eine Ermächtigung erhalten auch die Allgemeinkrankenhäuser, die über eine selbständige, fachärztlich geleitete psychiatrische Abteilung mit regionaler Versorgungsverpflichtung verfügen. Zur Festlegung der Patientengruppe werden seitens der Spitzenverbände der Krankenkassen, der DKG und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vertragliche Vereinbarungen getroffen. Hierbei sollen die Patienten erfasst werden, »die wegen ihrer Art, Schwere oder Dauer ihrer Erkrankung der ambulanten Behandlung durch die Einrichtungen ... bedürfen« (§ 118 SGB V).
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Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
Die Ausführungen zum internen Qualitätsmanagement (§ 135a SGB V), zu den Vorschriften für die externe Qualitätssicherung (§§ 137 ff. SGB V) sowie zu der integrierten Versorgung (§§ 140a ff. SGB V) sind bereits an anderer Stelle angesprochen worden. Ergänzend wird hier nur die Verpflichtung der zugelassenen Krankenhäuser angesprochen, nach § 137 Abs. 1 SGB V im Abstand von zwei Jahren einen strukturierten Qualitätsbericht zu veröffentlichen. Der Bericht ist erstmals im Jahre 2005 für das Jahr 2004 zu erstellen. Abschließend ist exemplarisch eine Veränderung in § 301 SGB V zu nennen, die mit der Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems zusammenhängt. Nach den Bestimmungen dieses Paragraphen sind die Krankenhäuser verpflichtet, den Krankenkassen genau festgelegte Angaben maschinenlesbar zu übermitteln. Zu den bisherigen Aufgaben kommt nunmehr die folgende Verpflichtung hinzu:
»
Die Operationen und sonstigen Prozeduren ... sind zu verschlüsseln; der Schlüssel hat die sonstigen Prozeduren zu umfassen, die nach § 17b des Krankenhausfinanzierungsgesetzes abgerechnet werden können. Das Bundesministerium für Gesundheit gibt den Zeitpunkt der Inkraftsetzung der jeweiligen Fassung des Diagnoseschlüssels ... sowie des Prozedurenschlüssels ... im Bundesanzeiger bekannt (§ 301 SGB V)«.
Die Duale Finanzierung
Das Krankenhausfinanzierungsgesetz ist das zweite Gesetz, was durch die Reformen der letzten Jahre mehrfach geändert worden ist. Die Regelungen des KHG gelten nach § 2 für alle »Einrichtungen, in denen durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistung Krankheiten, Leiden oder Körperschäden festgestellt, geheilt oder gelindert werden sollen oder Geburtshilfe geleistet wird und in denen die zu versorgenden Personen untergebracht und verpflegt werden können«. Bei den Grundsätzen zur Krankenhausfinanzierung wurden 1993 und 2002 entscheidende Weichenstellungen vorgenommen. So sind 1993 die Regelungen des KHG, in denen der Anspruch
der Krankenhäuser auf Deckung der vorauskalkulierten Selbstkosten eines sparsam wirtschaftenden und leistungsfähigen Krankenhauses festgeschrieben war, außer Kraft gesetzt worden. Mit dieser Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips war jedoch nicht die vollständige Streichung des § 4 KHG verbunden. Nach wie vor wird dort festgelegt, dass die Krankenhäuser dadurch wirtschaftlich gesichert werden, dass ▬ ihre Investitionskosten im Wege öffentlicher Förderung übernommen werden und sie ▬ leistungsgerechte Erlöse aus den Pflegesätzen, die nach Maßgabe des KHG auch Investitionskosten enthalten können, sowie aus den Vergütungen für die vor- und nachstationäre Behandlung und für ambulantes Operieren erhalten. > Mit dieser dualen Finanzierung ist seitdem festgeschrieben worden, dass die Krankenkassen die ärztlichen und pflegerischen Leistungen sowie die Versorgungsgüter zu finanzieren haben, während die Investitionen durch die Länder im Wege der öffentlichen Förderung übernommen werden. Investitionen. Zur Verwirklichung der Investiti-
onen haben die Länder auf der Grundlage der bundesweit geltenden Grundsätze der Investitionsförderung (§§ 8–11 KHG) Krankenhauspläne und Investitionsprogramme aufzustellen. Hieraus wird deutlich, dass diese Aufgabe auf der Grundlage des Bundesstaatsprinzips den jeweiligen Bundesländern übertragen worden ist. Die Länder müssen nun in ihren eigenen Landeskrankenhausgesetzen die Details regeln. In § 4 wird nach wie vor festgelegt, dass die Krankenhäuser dadurch wirtschaftlich gesichert werden, indem u. a. ihre Investitionskosten im Wege öffentlicher Förderung übernommen werden. Die öffentlichen Fördermittel und die von den Kostenträgern aufzubringenden Finanzmittel müssen somit nach Maßgabe des Bundesgesetzes und der jeweiligen Landeskrankenhausfinanzierungsgesetze zusammen die Gewähr dafür bieten, dass einerseits eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit leistungsfähigen und eigenverantwortlich wirtschaftenden Krankenhäusern
245 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
gesichert werden kann sowie andererseits dies bei sozial tragbaren Vergütungen. Zur Realisierung dieses Zieles müssen nach den Grundsätzen für die Pflegesatzregelung die Pflegesätze medizinisch leistungsgerecht sein und sie müssen es einem Krankenhaus bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, den Versorgungsauftrag zu erfüllen. Bei der Ermittlung der Pflegesätze ist u. a. der Grundsatz der Beitragssatzstabilität zu berücksichtigen. Das duale Finanzierungssystem ist in der Bundesrepublik mit der Einführung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes im Jahre 1972 relevant geworden. Hintergrund waren einerseits die Finanzierungsprobleme der Krankenhäuser in den sechziger Jahren, die unter dem Stichwort »Investitionsstau« zusammengefasst werden können, und andererseits die Annahme, dass die Krankenkassen aufgrund ihrer bruttolohnbezogenen Einnahmenentwicklung nur bedingt die wirtschaftliche Sicherung der Häuser garantieren können. Durch die im Rahmen der dualen Finanzierung vorgenommene Trennung in eine Beitrags- und in eine Steuerfinanzierung ergibt sich das Problem, wie die Zuordnung der Wirtschaftsgüter erfolgen soll. Die Wirtschaftsgüter sind hierbei einerseits dem Bereich der Investitionskosten und andererseits dem Bereich der Betriebskosten zuzuordnen. Zu den Investitionskosten zählen u. a. ▬ Kosten der Errichtung von Krankenhäusern einschließlich der Erstausstattung der mit den für den Krankenhausbetrieb notwendigen Anlagegütern, ▬ Kosten der Wiederbeschaffung von Anlagegütern mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von mehr als drei Jahren, ▬ Kosten, die den Investitionskosten gleichgestellt sind (z. B. Zinsen und Tilgung von zweckbezogenen Darlehn). In der Verordnung über die Abgrenzung der im Pflegesatz nicht zu berücksichtigenden Investitionskosten von den pflegesatzfähigen Kosten der Krankenhäuser vom 12.12.1985 (Abgrenzungsverordnung – AbgrV) werden im § 2 die Begriffe gegeneinander abgegrenzt. Danach sind ▬ Anlagegüter die Wirtschaftsgüter des zum Krankenhaus gehörenden Anlagevermögens,
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▬ Gebrauchsgüter die Anlagegüter mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer bis zu drei Jahren und ▬ Verbrauchsgüter die Wirtschaftsgüter, die durch ihre bestimmungsgemäße Verwendung aufgezehrt oder unverwendbar werden oder die ausschließlich von einem Patienten genutzt werden und üblicherweise bei ihm verbleiben (geborene Verbrauchsgüter, ohne Wertgrenze). Als Verbrauchsgüter gelten auch die wiederbeschafften, beweglichen Anlagegüter, die einer selbständigen Nutzung fähig sind und deren Anschaffungs- oder Herstellungskosten für das einzelne Anlagegut ohne Umsatzsteuer 51 Euro nicht übersteigen (geborene Verbrauchsgüter, alles unter 51 Euro). Anlagegüter. Eine differenzierte Betrachtung zeigt
die einzelnen Bestandteile dieser Güter auf. Zu den Anlagegütern eines Krankenhauses gehören nach der Krankenhausbuchführungsverordnung (KHBV) z. B. ▬ Grundstücke und grundstücksgleiche Rechte mit Betriebsbauten einschließlich der Betriebsbauten auf fremden Grundstücken, ▬ Grundstücke und grundstücksgleiche Rechte mit Wohnbauten einschließlich der Wohnbauten auf fremden Grundstücken, ▬ Grundstücke und grundstücksgleiche Rechte ohne Bauten, ▬ technische Anlagen sowie ▬ Einrichtungen und Ausstattungen. > Anlagegüter sind somit diejenigen Güter/ Wirtschaftsgüter, die zum Anlagevermögen des Krankenhauses gehören. Was im Einzelnen zum Anlagevermögen eines Krankenhauses gezählt wird ist in der Anlage 1 zur KHBV, Kontenklasse 0, festgehalten.
Nach dem Merkmal der Verwendbarkeit handelt es sich um solche Güter, die mehrfach verwendet werden können, also mehrfach im Leistungsprozess des Krankenhauses eingesetzt werden können. Diese Anlagegüter werden nun unter dem Aspekt der Förderung in kurz-, mittel- und langfristige Anlagegüter eingeteilt.
246
Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
Einteilung der Anlagegüter
▬ kurzfristige Anlagegüter die Anlagegüter mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von mehr als 3 bis zu 15 Jahren, ▬ mittelfristige Anlagegüter die Anlagegüter mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von mehr als 15 bis zu 30 Jahren und ▬ langfristige Anlagegüter die Anlagegüter mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von mehr als 30 Jahren.
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Nach § 9 Abs. 3 KHG ist für die Wiederbeschaffung von kurzfristigen Anlagegütern sowie für kleine bauliche Maßnahmen eine pauschale Förderung vorgesehen, während die anderen Anlagegüter über Einzelanträge gefördert werden. Hieraus wird deutlich, dass alle Anlagegüter, die länger als drei Jahre genutzt werden können, im Rahmen der dualen Finanzierung durch Fördermittel der Länder finanziert werden. Zur Finanzierung der Instandhaltungskosten der Anlagegüter werden seitens der Krankenkassen Pauschalen bezahlt. Die dadurch entstehenden Kosten, unabhängig von ihrer Höhe, zählen somit zu den Betriebskosten. Sie gehen damit in das Krankenhausbudget ein, das von den Krankenkassen zu finanzieren ist. Eine Ausnahmeregelung greift in Bayern. In Bayern übernimmt das Land die Instandhaltungskosten. Auch nach der GKVGesundheitsreform 2000 ist festgehalten worden, dass die Kosten für die Instandhaltung der Anlagegüter des Krankenhauses pauschal in Höhe von 1,1% des Budgets einzurechnen sind. Gebrauchsgüter. Gebrauchsgüter sind Anlagegü-
ter, die eine kürzere Nutzungsdauer als kurzfristige Anlagegüter aufweisen. Sie werden deshalb als ultrakurzfristige Anlagegüter bezeichnet. > Im Sinne der AbgrV sind Gebrauchsgüter die Anlagegüter mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer bis zu drei Jahren.
Bei den Gebrauchsgütern wird unterschieden zwischen beweglichen, selbständig nutzungsfähigen Gebrauchsgütern, deren Anschaffung- und Herstellungskosten für das einzelne Gebrauchs-
gut 410 Euro nicht übersteigen und »sonstigen Gebrauchsgütern«. Gebrauchsgüter sind z. B. ▬ Dienst- und Schutzkleidung, Wäsche, Textilien, ▬ Glas- und Porzellanartikel, ▬ Geschirr, ▬ sonstige Gebrauchsgüter des medizinischen Bedarfs wie Atembeutel, Heizdecken und -kissen, Hörkissen und -muscheln, Magenpumpen, Nadelhalter, Narkosemasken, OperationstischAuflagen, Polster und Decken, Schienen, Spezialkatheter und Kanülen, Venendruckmesser, Wassermatratzen, ▬ sonstige Gebrauchsgüter des Wirtschafts- und Verwaltungsbedarfs wie Bild-, Ton- und Datenträger, elektrische Küchenmesser, Dosenöffner, Quirle und Warmhaltekannen. Hinsichtlich der Finanzierung von Gebrauchsgütern ist zu sagen, dass diese Güter pflegesatzfähig sind, d. h. sie gehen in die Betriebskostenkalkulation ein und werden durch die gesetzlichen Krankenkassen finanziert. Im Einzelnen gelten die folgenden Bestimmungen Liegt der Anschaffungspreis dieser Gebrauchsgüter im Einzelfall über 51 Euro, aber unter bzw. gleich 410 Euro, dann zählen die Kosten zu den Betriebskosten. Sind die Gebrauchsgüter im Einzelfall teuerer als 410 Euro werden die Anschaffungs-/Wiederherstellungskosten auf die Jahre der Nutzung verteilt und die dadurch entstehenden Abschreibungsbeträge den Betriebskosten zugeordnet. Verbrauchsgüter. Auch die Verbrauchsgüter sind pflegesatzfähig. Sie sind die zum Krankenhaus
gehörenden Wirtschaftsgüter, die ▬ durch ihre bestimmungsgemäße Nutzung – aufgezehrt werden (z. B. Arzneimittel, Lebensmittel, Wasch-, Reinigungs- und Desinfektionsmittel, Brennstoffe), – unverwendbar werden (z. B. Verbandsmaterial, Einwegspritzen, sonstige Einwegartikel) oder ▬ ausschließlich von einem Patienten genutzt werden und üblicherweise bei ihm verbleiben (z. B. Endoprothesen, Herzschrittmacher). Diese Sach-/Wirtschaftsgüter werden zusammen mit Produktionsfaktor »Mitarbeiter« als Inputfak-
247 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
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toren in den Krankenhausbetriebsprozess eingesetzt und dienen der Erstellung von Krankenhausleistungen.
▬ Regelung der Zu- und Abschläge ▬ Einrichtung der DRG-Projektstelle.
Einführung von Fallpauschalen. Zur Erzielung der leistungsgerechten Erlöse, dem zweiten Ansatz
9.2.2 Veränderungen des Rechtsrahmens
der dualen Finanzierung, sind im KHG ebenfalls Vorschriften erlassen worden. Durch die Reformen seit 2000 ist im April 2001eine wesentliche Veränderung des Gesetzes erfolgt. Mit dieser Novellierung ist der § 17b KHG (Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems) eingeführt worden. Danach wird für die Vergütung der allgemeinen Krankenhausleistungen für alle Krankenhäuser, für die die Bundespflegesatzverordnung gilt, ein leistungsorientiertes und pauschalierendes Vergütungssystem eingeführt. Mit den Entgelten werden die allgemeinen voll- und teilstationären Leistungen für einen Behandlungsfall vergütet. > Von § 17b KHG sind neben den ambulanten Krankenhausleistungen auch die Einrichtungen ausgenommen, in denen die Psychiatrie-Personalverordnung Anwendung findet. Hieraus folgt, dass die Leistungen der Psychiatrie auch weiterhin nach Pflegesätzen abgerechnet werden.
Weiterhin wird festgelegt, dass das Fallpauschalensystem die Komplexitäten und die Comorbiditäten abzubilden hat. Bei diesen sog. CC-Kriterien handelt es sich in der Regel um Nebendiagnosen, die zu einer nachgewiesenen Aufwandserhöhung führen (signifikante Nebendiagnosen). Auf der Grundlage des § 17b KHG haben die Spitzenverbände der Krankenkassen, der Verband der privaten Krankenversicherung sowie die DKG die Vereinbarung über die Einführung eines Fallpauschalensystems getroffen, die mit Wirkung vom 30.6.2000 in Kraft getreten ist. In dieser Vereinbarung sind u. a. die folgenden Punkte festgeschrieben worden: ▬ Übernahme der Australian Refined Diagnosis Related Groups (AR-DRG) ▬ Festlegung der voll- und teilstationären abrechenbaren Fallgruppen auf ca. 800 DRGs ▬ Aufstellung von einheitlichen Kodierregeln ▬ Festlegung des Verfahrens zur Ermittlung und Pflege der Relativgewichte
ab 2002 Am 23.4.2002 trat das Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser (Fallpauschalengesetz – FPG) in Kraft. Mit diesem Artikelgesetz wurden Regelungen des SGB V, des KHG, der BPflV verändert. Der Art. 5 dieses Gesetzes hat die Einführung des Gesetzes über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen (Krankenhausentgeltgesetz-KHEntgG) zum Regelungsgegenstand. Die genannten rechtlichen Vorschriften wurden bereits am 17.7.2003 durch das Fallpauschalenänderungsgesetz (FPÄndG) an einigen Stellen überarbeitet. Weitere Veränderungen hat das Fallpauschalen-Änderungsgesetz vom 26.11.2004 mit sich gebracht. Durch das Fallpauschalengesetz bzw. die Fallpauschalenänderungsgesetze ergaben sich Novellierungen im SGB V u. a. beim § 137 SGB V. Es geht hierbei um die Ausnahmeregelung bei den erforderlichen Mindestmengen.
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Wenn die ... erforderliche Mindestmenge bei planbaren Leistungen voraussichtlich nicht erreicht wird, dürfen ab dem Jahr 2004 entsprechende Leistungen nicht erbracht werden. Die für die Krankenhausplanung zuständige Landesbehörde kann Leistungen aus dem Katalog ... bestimmen, bei denen die Anwendung von Satz 4 die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung gefährden könnte; sie entscheidet auf Antrag des Krankenhauses bei diesen Leistungen über die Nichtanwendung von Satz 4 (§ 137 SGB V).
Die Neuformulierungen im KHG betreffen primär § 17b KHG. Die Vorschriften regeln u. a. die optionale Einführung des neuen Vergütungssystems für das Jahr 2003, die Verpflichtung zur Einführung der Fallpauschalenabrechnung ab 2004 sowie die Umsetzung der Übergangsregelungen für den Zeitraum 2005 bis 2009. Neu eingeführt wurde § 17c KHG (Prüfung der Abrechnung von Pflegesätzen), in dem u. a. die Krankenhäuser verpflichtet wer-
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Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
den, durch geeignete Maßnahmen darauf hin zu wirken, dass ▬ keine Patienten aufgenommen werden, die nicht der stationären Krankenhausbehandlung bedürfen (Fehlbelegungen), ▬ eine vorzeitige Verlegung oder Entlassung aus wirtschaftlichen Gründen unterbleibt, ▬ die Abrechnung der Fallpauschalen ordnungsgemäß erfolgt.
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Außerdem wurde in dem veränderten § 17a KHG z. B. neu festgeschrieben, dass die Finanzierung von Ausbildungsstätten und Ausbildungsvergütungen der Krankenpflege und Kinderkrankenpflege bis Ende 2004 im Pflegesatz zu berücksichtigen sind. Bei der Ermittlung der Ausbildungsvergütung sind Personen, die in Kranken- und in der Kinderkrankenpflege ausgebildet werden, im Jahre 2004 im Verhältnis 7 zu 1 und seit 1.1.2005 im Verhältnis 9,5 zu 1 auf die Stelle einer vollausgebildeten Person anzurechnen. Für den Ausbildungsbereich der Krankenpflegehilfe gilt die Relation 6 zu 1. Seit 1.1.2005 erfolgt die Ausbildungsfinanzierung pauschaliert über einen Zuschlag je Fall, den alle Krankenhäuser im Land einheitlich erheben. Die Kosten der Ausbildungsvergütung sind hierbei jedoch nur für die Ausbildungsplätze zu berücksichtigen, die die anzurechnenden Stellen übersteigen. Die Änderung der Bundespflegesatzverordnung erfolgte in zwei Stufen. Die erste Reform erfolgte durch das Beitragssicherungsgesetz vom Dezember 2002. Die Änderungen in der sog. BPflV 95 berücksichtigten den Sachverhalt, dass die verpflichtende Einführung der Fallpauschalen nicht wie ursprünglich geplant zum 1.1.2003 2003, sondern erst im Jahre 2004 erfolgen sollte. Zum 1.1.2004 trat die zweite Reformstufe in Kraft. In der sog. BPflV 2004 wird festgelegt, dass der Anwendungsbereich dieser Verordnung auf die voll- und teilstationären Leistungen der Krankenhäuser oder Krankenhausabteilungen beschränkt wird, die nicht in das DRG-Vergütungssystem einbezogen sind. Die Finanzierung der allgemeinen Krankenhausleistungen erfolgt über tagesgleiche Pflegesätze. Die Finanzierung der Ausbildungsstätten und der Ausbildungsvergütung erfolgt durch einen Zuschlag für jeden Behandlungsfall. Die Vorschriften über Fachpauschalen und Sonderentgelte
(§ 11 BPflV 95) entfallen. Weiterhin wird festgehalten, dass die vor- und nachstationären Leistungen weiterhin auf der Grundlage des § 115a SGB V finanziert werden. Abschließend ist festzuhalten, dass die Vorschriften über »Gesondert berechenbare ärztliche und andere Leistungen » (§§ 22 ff. BPflV 2004) überarbeitet worden sind. Das KHEntgG regelt die Vergütung für die vollund teilstationären Leistungen der Krankenhäuser durch Fallpauschalen.
Wichtige Vorschriften des KHEntgG
▬ Festschreibung der budgetneutralen Ein▬
▬
▬ ▬
führung des Fallpauschalensystems für die Jahre 2003 und 2004. Stufenweise Angleichung des krankenhausindividuellen Basisfallwertes und des Erlösbudgets des Krankenhauses an den landesweit geltenden Basisfallwert und dem sich daraus ergebenen DRG-Erlösvolumens jeweils zum 1.1.2005, 2006, 2007, 2008 und 2009. Festschreibung der Vereinbarungen auf der Bundesebene der Selbstverwaltungspartner (z. B. Fallpauschalenkatalog, Bewertungsrelationen). Festschreibung der Vereinbarungen auf der Landesebene der Selbstverwaltungspartner (z. B. landesweit geltender Basisfallwert). Festschreibung der Vereinbarungen auf der Krankenhausebene (z. B. Gesamtbetrag, Erlösbudget, krankenhausindividueller Basisfallwert).
Für die Vergütung der vor- und nachstationären Leistungen werden für alle Benutzer einheitlich die Rechtsnormen des § 115a SGB V festgeschrieben. Die ambulante Durchführung von Operationen und stationsersetzenden Eingriffen wird für die gesetzlich Versicherten der § 115b SGB V zugrunde gelegt, für die sonstigen Patienten gelten die jeweiligen Tarife bzw. Vereinbarungen. Als Ergänzung zu den dargestellten gesetzlichen Rahmenbedingungen, die für die Einführung des Fallpauschalensystems und die freiwillige Abrechnung der Krankenhausleistungen im Jahre 2003 notwendig waren, wurde am 19.9.2002
249 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
die Verordnung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser (KFPV) in Kraft gesetzt. Diese Verordnung musste im Sinne einer Ersatzvornahme nach § 17b KHG durch den Gesetzgeber festgelegt werden, da die Vertragsparteien (Spitzenverbände der Krankenkassen, Verband der privaten Krankenversicherung, DKG) kein Einvernehmen über den Fallpauschalenkatalog erzielen konnten. Die Verordnung bestand aus einem Textteil und zwei Anlagen. Die Abrechnungsbestimmungen für DRG-Fallpauschalen und Zusatzentgelte galten nur bis zum 31.12.2003. Die Anlage 1 umfasste den Fallpauschalen-Katalog als Optionsmodell 2003. In der Anlage 2 wurden die Leistungen von Tagesund Nachtkliniken oder organisatorisch ausgegliederten teilstationären Einrichtungen genannt, die nicht mit dem Katalog der Fallpauschalen abgerechnet werden konnten. Diese Entgelte waren krankenhausindividuell zu vereinbaren. Am 20.12.2002 hat der Bundestag mit der sog. Kanzlermehrheit den Einspruch des Bundesrates gegen das Beitragssicherungsgesetz zurückgewiesen. Damit konnte das Gesetz am 1.1.2003 in Kraft treten. In diesem Gesetz waren die Ausnahmetatbestände festgehalten, um nicht unter die sog. Nullrunde des Jahres 2003 zu fallen. Ein Ausnahmetatbestand war die freiwillige Teilnahme am DRG-System im Jahre 2003. Die Frist zur Erklärung der Teilnahme (Optionsfrist) endete nach den Vorgaben des Gesetzes regulär am 31.10.2002. Alle Krankenhäuser, die sich bis zu diesem Zeitpunkt für eine Teilnahme entschieden hatten, bekamen somit die Steigerungsrate der Grundlohnsumme des Zeitraumes 1.1.2001 bis 30.6.2002 als Budgetzuwachs gutgeschrieben. Am gleichen Tage wurde das 12. SGB-V-Änderungsgesetz durch den Bundesrat abgelehnt. Diese Ablehnung betraf die Verlängerung der Frist zur Erklärung der Teilnahme am DRG-System bis zum 31.12.2002. Erst im Laufe des Jahres 2003 konnten sich Bundestag und Bundesrat auf einen Kompromiss verständigen, so dass diese Regelung rückwirkend in Kraft gesetzt werden konnte. Im Herbst des Jahres 2003 wurde das Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG)
vom Bundestag und Bundesrat verabschiedet. Es trat am 1.1.2004 in Kraft. Für den Krankenhausbereich traten einige wesentliche Veränderungen ein.
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Medizinische Versorgungszentren. Medizinische
Versorgungszentren nach § 95 SGB V nehmen an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Bei diesen Versorgungszentren handelt es ich um fachübergreifende ärztlich geleitete Einrichtungen, in denen Ärzte, die in das Arztregister eingetragen sind, als Angestellte oder als Vertragsärzte tätig sind. Die Zentren können sich aller gesetzlich zulässigen Organisationsformen (z. B. Gesellschaft mit beschränkter Haftung, BGB-Gesellschaft) bedienen. Die Gründung eines Versorgungszentrums kann von allen Leistungserbringern, die auf der Grundlage einer Zulassung, einer Ermächtigung oder aufgrund eines Vertrages an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen dürfen, bei dem zuständigen Zulassungsausschuss beantragt werden. Somit können auch Krankenhäuser Träger dieser Versorgungszentren werden. Mit der Zulassung ist die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung in den Fachgebieten erteilt, für die die in dem Zentrum tätigen Ärzte die weiterbildungsrechtlichen Befähigungen haben. Die gesetzlichen Vorschriften für die sächlichen und personellen qualitativen Anforderungen nach § 135 SGB V sind mindestens zu erfüllen. Ambulante Behandlung bei Unterversorgung.
Der Zulassungsausschuss kann den Krankenhäusern, die zugelassen sind, für die entsprechenden Fachgebiete, in denen der Landesauschuss der Ärzte und Krankenkassen eine Unterversorgung festgestellt hat, auf deren Antrag eine Ermächtigung (Ermessensentscheidung) zur ambulanten Behandlung erteilen (§ 116a SGB V). Die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung ist abhängig von der Dauer und der Intensität der Unterversorgung. Die Leistungen des Medizinischen Versorgungszentrums werden aus der vertragsärztlichen Gesamtvergütung honoriert. Ambulante Behandlung im Rahmen von DMP. Die Krankenkassen, die Landesverbände der Krankenkassen oder die Verbände der Ersatzkassen können mit den zugelassenen Krankenhäusern, die stationär an der Durchführung von strukturierten Behandlungsprogrammen teilnehmen, auch Verträge über ambulante ärztliche Behandlungen abschließen (§ 116b SGB V). Seitens der Kran-
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Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
kenhäuser besteht jedoch kein Rechtsanspruch auf Abschluss eines Vertrages. Die gesetzlichen Vorschriften für die sächlichen und personellen qualitativen Anforderungen nach § 135 SGB V sind mindestens zu erfüllen. Die vertraglich erbrachten Leistungen des Krankenhauses werden unmittelbar von der Krankenkasse vergütet. Ambulante Behandlung bei hochspezialisierten Leistungen, seltenen Krankheiten und Erkrankungen mit besonderem Behandlungsverlauf. Die
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Krankenkassen, die Landesverbände der Krankenkassen oder die Verbände der Ersatzkassen können mit den zugelassenen Krankenhäusern Verträge über spezielle ambulante Leistungen abschließen. Die relevanten Leistungen sind in § 116b Abs. 3 SGB V aufgelistet. Der Gemeinsame Bundesausschuss muss diesen Katalog kontinuierlich um Erkrankungen und hochspezialisierte Leistungen erweitern. Seitens der Krankenhäuser besteht jedoch kein Rechtsanspruch auf Abschluss eines Vertrages. Die gesetzlichen Vorschriften für die sächlichen und personellen qualitativen Anforderungen nach § 135 SGB V sind mindestens zu erfüllen. Die vertraglich erbrachten Leistungen des Krankenhauses werden von der Krankenkasse vergütet. Die Vergütung hat der Vergütung vergleichbarer vertragsärztlicher Leistungen zu entsprechen. Integrierte Versorgung (§§ 140a–e SGB V). Die
Krankenkassen können seit dem 1.1.2004 u. a. mit den folgenden Partnern Einzelverträge über eine verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung der Versicherten oder über eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung (integrierte Versorgung) abschließen: ▬ Einzelnen, zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Ärzten und Zahnärzten; ▬ Trägern zugelassener Krankenhäuser; ▬ Trägern von stationären Vorsorge- und Nachsorgeeinrichtungen; ▬ Trägern von ambulanten Rehabilitationseinrichtungen; ▬ Trägern von medizinischen Versorgungszentren. Bei den in § 140b Abs. 1 SGB V aufgeführten Vertragspartnern handelt es sich um eine abschließende Aufzählung. Hieraus lässt sich ableiten, dass
die kassenärztlichen Vereinigungen seit 2004 nicht mehr als Vertragspartner zugelassen sind. Ein Beitritt Dritter zu den abgeschlossenen Verträgen ist nur mit Zustimmung aller Vertragspartner möglich. Als Rechtsformen stehen sämtliche Rechtsund Gesellschaftsformen zur Verfügung (z. B. Personengesellschaften, juristische Personen des Privatrechts, Kapitalgesellschaften, Vereine). Hinsichtlich der Vergütung ist für die Jahre 2004 bis 2006 geregelt, dass die Krankenkassen jeweils bis zu 1 v.H. der vertragsärztlichen Gesamtvergütung und der Krankenhausrechnungen für die voll- und teilstationäre Versorgung einbehalten sollen. Diese einbehaltenen Geldbeträge sind ausschließlich zur Finanzierung der Leistungen vorgesehen, die auf der Grundlage der Verträge zur integrierten Versorgung erbracht werden (Anschubfinanzierung). Für die teilnehmenden Krankenhäuser bedeutet diese Regelung, dass die Krankenhausbudgets nicht um die Leistungen bereinigt werden, die ein Krankenhaus in der Integrationsversorgung erbringt. Die darüber hinausgehenden vereinbarten Leistungen werden unmittelbar über die pauschal einbehaltenen Mittel vergütet. Werden die von den Krankenkassen einbehaltenen Geldbeträge jedoch nicht innerhalb von drei Jahren für den vorgesehenen Zweck verwendet, sind die nicht verwendeten Mittel auszuzahlen. Ein zusätzlicher Anreiz ist darin zu sehen, dass für die Integrationsverträge, die bis zum 31.12.2006 geschlossen werden, der Grundsatz der Beitragssatzstabilität aufgehoben worden ist. Am 13.10.2003 wurde die Verordnung zum Fallpauschalen für Krankenhäuser für das Jahr 2004 (Fallpauschalenverordnung 2004 – KFPV 2004) im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Diese
Verordnung musste ebenso wie die Verordnung für das Jahr 2003 im Sinne einer Ersatzvornahme nach § 17b KHG durch den Gesetzgeber festgelegt werden, da die Vertragsparteien (Spitzenverbände der Krankenkassen, Verband der privaten Krankenversicherung, DKG) wiederum kein Einvernehmen über den Fallpauschalenkatalog erzielen konnten. Die Verordnung besteht aus einem Textteil und vier Anlagen. Der Textteil beinhaltet u. a. die Abrechnungsbestimmungen für DRG-Fallpauschalen und für andere Entgeltarten sowie sonstige Vorschriften, u. a. Geltungsdauer. Die Anlage 1
251 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
umfasst den erweiterten und überarbeiteten Fallpauschalen-Katalog. In diesem Katalog sind nunmehr über 800 DRGs aufgeführt. Die Anlage 2 ist der Zusatzentgelte-Katalog. Hier sind die bundeseinheitlich festgelegten Zusatzentgelte aufgelistet, die zusätzlich zu einer Fallpauschale oder zu den Entgelten für die Leistungen, die noch nicht sachgerecht über die DRG-Fallpauschalen vergütet werden, abgerechnet werden können. In der Anlage 3 sind die sonstigen Entgelte festgeschrieben, die krankenhausindividuell vereinbart werden können. Es handelt sich also um Leistungen, die noch nicht im Fallpauschalen-Katalog aufgeführt sind. In der Anlage 4 befinden sich die Zusatzentgelte, die zusätzlich zu einer Fallpauschale bezahlt werden können. Diese Leistungen sind jedoch nicht bundeseinheitlich festgeschrieben worden, sie können somit zwischen den Vertragsparteien krankenhausindividuell vereinbart werden. Im Jahre 2005 erfolgt die Abrechnung von stationären Krankenhausleistungen erstmalig nach einer Vereinbarung zum Fallpauschalensystem. Auf diese Vereinbarung einigten sich die Selbstverwaltungspartner (Deutsche Krankenhausgesellschaft, Spitzenverbände der Krankenkassen, Verband der Privaten Krankenversicherung) am 16. September 2004 in Berlin. Die Gliederung der Vereinbarung entspricht im Wesentlichen der Verordnung zum Fallpauschalensystem für das Jahr 2004.
9.2.3 Finanzierung der allgemeinen
Leistungen der somatischen Krankenhäuser Finanzierung der teil- und vollstationären Leistungen Bevor die Frage beantwortet werden kann, wie die Leistungen eines Krankenhauses vergütet werden können, ist es sinnvoll, die allgemeinen Krankenhausleistungen zuerst einmal zu definieren. Nach der Definition des Krankenhausentgeltgesetzes sind allgemeine Krankenhausleistungen die Leistungen, die unter Berücksichtigung der Leitungsfähigkeit des Krankenhauses im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinisch zweckmäßige und ausreichende Versorgung des Patienten notwendig sind.
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Mögliche allgemeine Krankenhausleistungen 1. Die während des Krankenhausaufenthaltes durchgeführten Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten; 2. die vom Krankenhaus veranlassten Leistungen Dritter; 3. die aus medizinischen Gründen notwendige Mitaufnahme einer Begleitperson des Patienten; 4. die besonderen Leistungen von Zentren und Schwerpunkten für die stationäre Versorgung von Patienten, insbesondere die Aufgaben von Tumorzentren und geriatrischen Zentren sowie entsprechenden Schwerpunkten; 5. die Frührehabilitation.
Nicht zu den Krankenhausleistungen kann unter bestimmten Voraussetzungen die Dialyse gehören.
> Krankenhausleistungen sind überwiegend Dienstleistungen, d. h. personenbezogene körperliche und/oder geistige Tätigkeiten.
An der Bereitstellung von Dienstleistungen in stationären Einrichtungen sind sowohl ärztliche, pflegerische und medizinisch- technische Dienste als auch Versorgungs- und Verwaltungsdienste beteiligt. Darüber hinaus werden eine Vielzahl von Sachgütern des medizinischen, technischen und wirtschaftlichen Bedarfs sowie entsprechende Gebäude, einschließlich ihrer Einrichtung und Ausstattung, benötigt. Aufgrund der Art der überwiegend bereitgestellten betrieblichen Leistungen gehören Krankenhäuser zu den Dienstleistungsbetrieben, genauer zu den kundenpräsenzbedingten Dienstleistungsbetrieben. Für die Dienstleistung im Krankenhaus gilt das »uno-actu-Prinzip«. Es besagt, dass die Tätigkeit nur erbracht werden kann, wenn der Leistungserbringer (z. B. die Pflegekraft) und der Leistungsempfänger (Patient) zur gleichen Zeit im gleichen Raum anwesend sind. Der Patient ist aber nicht nur Empfänger, sondern ist auch selber am
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Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
Leistungserstellungsprozess beteiligt. Sein Mitwirken an der Dienstleistung hat somit unmittelbaren Einfluss auf das Ergebnis ( Kap. 15). Daneben gibt es aber noch weitere Punkte, die bei Krankenhausleistungen zu beachten sind. Dazu gehört z. B., dass Dienstleistungen nicht lager- oder transportfähig sind. Sie müssen also immer dort erbracht werden, wo sie zum gegebenen Zeitpunkt benötigt werden. Die Leistungen müssen zudem das ganze Jahr über vorgehalten werden, daher sind für Krankenhäuser die Bereithaltungskosten besonders hoch. Krankenhausleistungen sind u. a. aus diesen Gründen nur schwer rationalisierbar. Dieses wiederum schränkt die Möglichkeiten ein, die Leistungen immer wirtschaftlich erstellen bzw. bereitstellen zu können. ▬ Das Ziel des Krankenhauses (Primärleistung) ist die Veränderung, im optimalen Fall die Verbesserung des Gesundheitszustandes des Patienten. ▬ Zur Erreichung dieses festgelegten Zieles müssen Einzelleistungen der Diagnostik, Therapie, Pflege und Hotelversorgung bereitgestellt und eingesetzt werden. ▬ Diese Leistungen wiederum werden durch die Kombination von sog. Produktionsfaktoren (Dienstleistungen und Sachgütern) erzeugt. Unter ökonomischen Aspekten erzeugen der Einsatz und die Kombination der Produktionsfaktoren Kosten. So müssen z. B. die Pflegekräfte entlohnt oder die Rechnungen für die Verbandsmaterialien bezahlt werden. Auf der anderen Seite bekommen die Krankenhäuser z. B. für die Bereitstellung der pflegerischen Leistungen Gelder von den Krankenkassen. Diese Gelder stellen sog. Erlöse dar. Diese Erlöse wurden in der Vergangenheit überwiegend durch Pflegesätze erzielt, in der Zukunft setzen sie sich im somatischen Bereich nahezu ausschließlich aus Fallpauschalen zusammen. > Durch die Gegenüberstellung von Erlösen und Kosten lässt sich die Wirtschaftlichkeit (Effizienz) einer Leistungserstellung ermitteln. Die Effizienz ist somit das Ergebnis der Division zweier Geldbeträge.
Soll die Effizienz erhöht werden, so kann dieses grundsätzlich durch die Erhöhung der Erlöse
oder durch eine Kostensenkung erfolgen. Im Krankenhausbereich ist aufgrund der Budgetierung (Gesamt- oder Fallbudgetierung) die Möglichkeit über eine Erlössteigerung nahezu ausgeschlossen. Die Krankenhäuser können somit (auch in der Zukunft)im Wesentlichen nur die Variante der Kostenreduktion anwenden. Bereits mit der Bundespflegesatzverordnung (BPflV) aus dem Jahre 1995 wurden in Deutschland leistungsbezogene Preise in Form von Fallpauschalen und Sonderentgelten eingeführt. Diese umfassten aber nur ca. 25% der Krankenhausleistungen. Neben diesen Entgelten wurden für die Finanzierung der vollstationären Krankenhausleistungen differenzierte Pflegesätze (Abteilungs- und Basispflegesatz) eingeführt. Weiterhin konnten teilstationäre Leistungen über spezielle Pflegesätze, vor- und nachstationäre Leistungen über Festbeträge sowie ambulante Operationen und ambulante Leistungen über Gebührenordnungen bzw. Pauschalen abgerechnet werden. Fallpauschale. Eine Fallpauschale ist ein Festbetrag, der für ein festgelegtes Leistungspaket bezahlt wird. Mit diesem Betrag werden somit alle Leistungen für einen Patienten, die von einer Gesundheitseinrichtung für die Behandlung erbracht werden, finanziert. Die ab 1995 festgelegten Fallpauschalen umfassten operative Leistungen. Die Höhe des Erlöses aus einer Fallpauschale ergibt sich aus dem Produkt der Punktzahl der Leistung (Bewertungsrelationen) und dem dazugehörigen Punktwert (Preis pro Punkt, Base rate). Während die Bewertungsrelationen bundesweit gelten, werden die Punktwerte je Bundesland bestimmt. Sonderentgelte. Sonderentgelte hingegen deckten lediglich die direkt mit operativen Eingriffen verbundenen Kosten. Die Erlösermittlung der Sonderentgelte ist mit der Erlösermittlung der Fallpauschalen identisch. Neben den Sonderentgelten wurden bis Ende 2003 folglich für jeden Aufenthaltstag verminderte Basis- und Abteilungspflegesätze abgerechnet. Durch diese Pflegesätze werden die nichtoperativen Leistungen vergütet. Der Katalog der Fallpauschalen und Sonderentgelte war der BPflV 95 als Anlage beigefügt worden.
253 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
Restbudget. Alle anderen vollstationären Leistungen, die nicht einer Fallpauschale bzw. einem Sonderentgelt zugeordnet werden können, mussten für alle Krankenhäuser, die sich nicht als sog. Optionshäuser gemeldet hatten, bis Ende 2003 über krankenhausindividuelle Basis- und Abteilungspflegesätze abgegolten werden. Diese wurden über das sog. Restbudget ermittelt. Vereinfacht gesagt ist das Restbudget die Differenz zwischen dem vorab festgelegten Gesamtbudget und den geplanten Beträgen für die vereinbarten Fallpauschalen und Sonderentgelte. Dieses Restbudget wurde mittels der Kosten- und Leistungsrechnung auf die verschiedenen Fachabteilungen und weiter auf die Pflegetage verteilt. Aus dieser Verrechnung ergaben sich die verschiedenen Abteilungspflegesätze und der Basispflegesatz. Diese konnten dann pro Tag und pro Patient den Krankenkassen oder anderen zur Zahlung Verpflichteten (z. B. Sozialamt) in Rechnung gestellt werden. Ausgleichsverfahren. Am Ende des Jahres konnte
es vorkommen, dass mehr oder weniger Operationen und/oder Pflegetage abgerechnet worden sind als im Vorfeld vereinbart wurden. Daher hatte der Gesetzgeber differenzierte Ausgleichsverfahren vorgeschrieben. Diese waren sowohl für die Fallpauschalen und Sonderentgelte als auch für die tagesgleiche Pflegesätze (Abteilungs- und Pflegesätze) festgelegt worden. Die Zahlung der Differenzbeträge erfolgte über Zu- und Abschläge, die auf die neu verhandelten Pflegesätze aufgeschlagen oder ggf. abgezogen wurden. Das Ziel dieser flexiblen Budgetierung war es, eine gewisse Kontrolle über die von den Krankenhäusern erbrachten Leistungsmengen zu haben. Entgeltsystem auf Grundlage von DRGs
Mit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 ist die Einführung von Fallpauschalen für alle voll- und teilstationären somatischen Leistungen festgeschrieben worden. Ziel des neu geschaffenen § 17b KHG war es, auf der Grundlage der Diagnosis Related Groups (DRGs) ein Entgeltsystem für die stationären Leistungen der deutschen Krankenhäuser zu entwickeln. > Die DRGs sind das heute weltweit am meisten verbreitete Patientenklassifikationsystem (PKS).
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DRGs werden z. B. in den USA, Skandinavien, Frankreich, Großbritannien und Australien eingesetzt. Ziel dieser Systeme ist es, alle stationären Behandlungsfälle nach medizinischen Kriterien in Gruppen mit ähnlichen Kosten zusammenzufassen. Basis sind routinemäßig erhobene Daten, wie z. B Alter, Geschlecht, Austrittsart und evtl. das Geburtsgewicht. DRGs beziehen sich aber in erster Linie auf die Hauptdiagnose. Hierbei wird unter einer Hauptdiagnose derjenige Zustand des Patienten verstanden, der am Ende der Gesundheitsbetreuung als Diagnose feststeht und der Hauptanlass für die Behandlung und Untersuchung des Patienten war. Wird mehr als eine Diagnose aufgeführt, ist diejenige auszuwählen, die den größten Aufwand an Mitteln erfordert. Bei chirurgischen Behandlungsfällen werden die Gruppen durch die wichtigste Prozedur bestimmt. Liegt ein Fall mit mehreren Prozeduren vor, so bestimmt ein Gruppierungsprogramm, welche Prozedur als wichtigste zu gelten hat. Diese Programme, die alle relevanten Daten des Patienten verarbeiten, um ihn einer Gruppe zuzuordnen, werden Grouper genannt. Pro Behandlungsfall wird ein Gesamtkostengewicht generiert und jeder Behandlungsfall wird nur genau einer Behandlungsfallgruppe zugeordnet. DRG- Systeme sind also eindimensional. Setzt man sie als Vergütungssystem ein, so heißt das, dass pro Krankenhausaufenthalt nur eine Pauschale abgerechnet werden kann. Mit dem Einsatz der DRG-Systeme sind Hoffnungen verbunden. Einerseits erwarten die Krankenkassen, dass sich durch die pauschalierte Fallabrechnung ein Anreiz zur Kostenersparnis ergibt, beispielsweise durch das Senken von Verweildauern und durch die Verlagerung der Leistungserstellung in Richtung ambulanter und teilstationärer Versorgung. Andererseits dürfen die vereinbarten Entgelte aber nicht zu sehr unter den durchschnittlichen Istkosten einer Behandlung liegen, damit die deutliche Mehrheit der Leistungserbringer wirtschaftlich nicht gefährdet wird. Patientenklassifikation. Ziel der für die DRGs rele-
vanten Patientenklassifikation ist es, Patienten aufgrund medizinischer und ökonomischer Kriterien den sog. homogenen Fallgruppen zuzuordnen. Unter Homogenität versteht man die Fähigkeit
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Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
von Patientenklassifikationssystemen, Patienten mit möglichst gleichartigen Behandlungsabläufen und Ressourcenverbräuchen zu Gruppen zusammenzufassen. Hierbei sollen sich diese homogenen Patienten einerseits deutlich von den Fällen außerhalb der Kategorie unterscheiden, aber andererseits im Innenverhältnis große Ähnlichkeiten aufweisen. Je besser dies gelingt, umso besser ist die Homogenität der Behandlungsfallgruppe. Die PKS müssen wie erwähnt die Ansprüche der Ärzte auf der einen Seite und die der Kostenträger auf der anderen Seite in Einklang bringen. Bei einer medizinischen Homogenität ist es wichtig, dass Ärzte und Pflegekräfte auf der Grundlage der Zuordnung zu einer Behandlungsfallgruppe ein bestimmtes Krankheitsbild ableiten können. Idealerweise sollte auch eine evidenzbasierte Behandlungsleitlinie bzw. ein Medical pathway (Clinical pathway, Behandlungspfad) hinterlegt sein. Die Definition von Behandlungspfade bzw. Leitlinien soll die optimale Behandlung fördern und die Diagnostik und Therapie wirtschaftlicher gestalten. Für die maßgeblichen Diagnosen soll der notwendige Umfang an Krankenhausleistungen festgelegt werden. Während durch DRGs das Leistungsgeschehen eines Krankenhauses klarer wird, wird durch die Behandlungspfade die DRG an sich transparent. > Pathways definieren in standardisierter Form die Reihenfolge und Umfang von medizinischen Prozessen, die bei einem bestimmten Behandlungsfall durchgeführt werden müssen.
Damit soll ein vorgegebenes Behandlungsergebnis in einem festgelegten Zeitraum erreicht werden. Pathways sind fachdiziplinübergreifend zu verstehen. Alle am Behandlungsprozess Beteiligten müssen die erforderlichen Maßnahmen und Abläufe kennen. Bei Behandlungsmethoden, deren Erfolgsnachweis gesichert ist, kann von einer ethisch und rechtlich verbesserten Entscheidungsgrundlage für die Leistungserstellung ausgegangen werden. Durch die erhöhte Transparenz der Vorgänge lassen sich auch die Kosten von Krankheitsbildern vorab kalkulieren. Für die Kassen und ihre Mitglieder wird es einfacher, Leistungen und Qualität verschiedener Anbieter im Gesundheitswesen besser zu vergleichen.
In der Praxis wird von ärztlicher Seite oft bemängelt, dass die Gruppen in den PKS zu undifferenziert sind und regen eine Erhöhung der Zahl der homogenen Gruppen an. Hierbei besteht jedoch die Gefahr, dass es zu einer nicht mehr zu bewältigenden Anzahl von Gruppen kommt. Nach Fischer (1999) sind 20 bis 30 Behandlungsfallgruppen pro Fachabteilung als sinnvoll anzusehen. Ermittlung der gruppenspezifischen Kosten
> Neben einer möglichst genauen Abbildung des medizinischen Spektrums muss auch die kostenmäßige Homogenität beachtet werden. Hierbei werden Behandlungsfälle mit ähnlichen Kosten zu Gruppen zusammengefasst.
Zur Messung der Homogenität einer Gruppe sind statistische Verfahren gebräuchlich. So wird z. B. mit Hilfe der Varianzreduktion die Streuung der Werte innerhalb einer Gruppe untersucht. Einige DRG-Systeme erreichen Varianzreduktionen von 50 v.H. Dies wird momentan als ausreichend betrachtet, obwohl dies aus statistischer Sicht ungenügend ist. HCFA-DRGs. Die Klassifikation von Behandlungs-
fällen nach der Art und Weise der DRGs wurde Ende der 60er Jahr an der Yale Universität im US-Bundesstaat Connecticut entwickelt. Die ursprüngliche Zielrichtung war es, ein Instrument zur Qualitätskontrolle und Qualitätssicherung in der Krankenhausversorgung zu haben. Ab 1983 wurde das System dann von der staatlichen Medicare Versicherung, in der Rentner und Rentnerinnen versichert sind, für die Vergütung von stationären Behandlungsfällen verwendet. Diese Versicherung wurde bzw. wird von der Health Care Financing Administration (HCFA) des amerikanischen Gesundheitsministeriums betrieben. Es entstanden die HCFA-DRGs. In der aktuellen Version der HCFA-DRGs gibt es 499 Behandlungsgruppen. Dies ist im Gegensatz zur ersten Version mit 470 Gruppen nur ein geringer Anstieg. AP-DRGs. Diese erste Generation von DRGs wies aber noch eine Reihe von Unzulänglichkeiten auf, so dass in der Mitte der 80er Jahre im Staat New York
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beschlossen wurde, das System weiterzuentwickeln. Es sollte für alle stationären Patienten anwendbar sein und nicht nur auf die Medicare Versicherten. Die All-Patient-DRGs (AP-DRGs) wurden im Auftrag des New York State Department of Health von der Firma 3 M Health Information Systems entwickelt und zum Beginn des Jahres 1988 eingeführt. Gegenüber den HCFA-DRGs gab es eine Reihe von Veränderungen. Es wurden zusätzliche neue Gruppen gebildet. Weiterhin sollten Multimorbidität und Komplikationen besser als bisher abgebildet werden. Daher wurden für besonders schwerwiegende Begleiterkrankungen sog. MajorCCs definiert. CC steht dabei für comorbidity and complications. Für diese wurden eigene DRGs geschaffen, da bestimmte schwerwiegende CCs zu einer ungewöhnlich aufwendigen Behandlung führen können. Das AP-DRG- System beinhaltet in seiner derzeitigen Version 641 DRGs. APR-DRGs. Das Problem der möglichst exakten Berücksichtigung der Multimorbidität und der Komplikationen veranlasste die HCFA dazu, ihre DRGs von der Yale Universität weiterentwickeln zu lassen. Auch die Firma 3 M überarbeitete ihre AP-DRGs. Diese neue Generation der »RefinedDRGs« bekam den Namen All-Patient-RefinedDRGs, da diese für alle Patienten und nicht nur für die Medicare-Versicherten anwendbar sind. In einem ersten Schritt wurden die verschiedenen AP-DRGs aufgrund neuer Daten überarbeitet. Im Anschluss daran wurden alle MDCs nach den beiden CC-Dimensionen unterteilt. Anhand der angegebenen Nebendiagnosen wurden vier Komplexitätsunterklassen unterschieden. Das APRDRG-System von 3 M umfasst in der Version von 1998 1422 Behandlungsfallgruppen. Ein Vertreter der nächsten und damit der vierten Generation von DRG- Systemen sind die International All-Patient-DRGs, die ebenfalls von 3 M entwickelt werden. Über diese neuen DRGs liegen wenige Informationen vor. Grundlage sind die firmeneigenen APR-DRGs. Bei der Berücksichtigung der Fallschwere werden hier nur drei Unterscheidungen getroffen. Die Klassen drei und vier werden zusammengefasst. Die Zuordnung der Fallschwere erfolgt, anders als bei den Systemen der dritten Generation, ausschließlich über die schwerste vor-
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liegende Nebenerkrankung. Das Verfahren wird durch die Veränderungen zwar wesentlich vereinfacht, aber es wird befürchtet, dass das System dadurch gegenüber Manipulationen anfälliger wird. AR-DRGs. Ein weiteres DRG-System der vierten Generation sind die Australian Refined-DRGs (AR-DRGs). Im Jahre 1991 leitete das australische Gesundheitsministerium die Entwicklung und die Einführung eines eigenen DRG- Systems ein, indem es das Australian Casemix Clinical Committee (ACCC) gründete. Diese Einrichtung war auch für die Ermittlung der Kostengewichte zuständig und wurde durch das Casemix Applications and Developement Advisory Committee (CADAC) unterstützt. In Zusammenarbeit mit der amerikanischen Firma 3 M wurde die erste Version der Australian National-DRGs entwickelt. Diese AN-DRGs verfügten zu Beginn über 527 Behandlungsfallgruppen. Die aktuellste Version beinhaltet 667 abrechenbare Gruppen. Ab 1995 wurden die AN-DRGs mit Hilfe von Praktikern aus dem klinischen Alltag wesentlich überarbeitet. Ziel war es, das PKS an neue Entwicklungen in der Medizin und im Bereich der Diagnose- und Prozedurverschlüsselung anzupassen. Darüber hinaus sollte die Homogenität im medizinischen und im ökonomischen Bereich verbessert werden. Als Ergebnis dieser Bemühungen wurden Mitte 1998 die AR-DRGs in der Version 4.0 eingeführt. Zur selben Zeit wie die AR-DRGs wurde in Australien eine Modifikation der Diagnose- und Prozedurencodierung eingeführt. Die Version 4.1 der AR-DRGs verschlüsselt daher auch nach ICD10-AM (ICD-10-Australian Modifikation) und nicht wie der Vorgänger nach ICD-9-AM. Der Gruppierungsprozess und die Anzahl der Fallgruppen sind aber in beiden Versionen identisch. In Australien sind zwischenzeitlich die Versionen 4.2 und 4.3 der AR-DRGs eingeführt worden. Die nächste Version ist im Jahre 2003 erschienen. Nach australischer Einschätzung hat sich die Selbstverwaltung in Deutschland aber trotzdem nicht für ein veraltetes System entschieden, da in den Versionen 4.2 und 4.3 keine neuen DRGs aufgenommen worden sind; weiterhin hat es keine Veränderungen in der Schweregradeinteilung gegeben.
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Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
Deutsches DRG-System. Die Mitglieder der deut-
Neu hinzugekommen sind die Angaben ▬ Tagesfallstatus und ▬ Beatmungsstundenzahl.
Prozeduren, die nicht zu der angegebenen Hauptdiagnose passen. In die neun Pre-MDCs werden die Behandlungsfälle klassifiziert, die durch besonders kostenintensive Prozeduren gekennzeichnet sind wie etwa Organtransplantationen. In der Regel werden die Patienten aber aufgrund ihrer Hauptdiagnose einer von 23 Major Diagnostic Cateogies (MDCs) zugeteilt. Die einzelnen MDCs werden durch die Buchstaben A–Z gekennzeichnet. So steht z. B. der Buchstabe B für die Hauptdiagnosegruppe Nervensystem. Eine Ausnahme bilden die Fehlergruppen (ErrorDRGs). Diese Gruppen werden durch die Ziffer 9 ausgewiesen. Bei den MDCs ist darüber hinaus zu beachten, dass die Liste der MDCs indirekt erweitert wurde. So wurde z. B. die Kategorie »infektiöse und parasitäre Erkrankungen« aufgeteilt, so dass die Infektion mit HIV in einer eigenen MDC berücksichtigt wird. Die Ebene der MDCs wird weiter unterteilt. So werden drei Partitionen unterschieden. ▬ Die chirurgische Partition enthält die Fälle, bei denen ein operativer Eingriff unter Nutzung des Operationssaales erbracht wurde. MDCs bei denen eine solche Unterteilung vorliegt, haben in der Spalte »Sub-MDCs« den Buchstaben »S«. Das S ist der Anfangsbuchstabe für das englische Wort »surgical«. ▬ Die Abkürzung »O« steht für »others« und umfasst die »anderen Partitionen«. Hier werden Fälle gruppiert, bei denen ein diagnostischer oder therapeutischer Eingriff stattgefunden hat, der aber nicht an die Nutzung eines Operationssaales gebunden ist. Ein Beispiel wäre eine endoskopische Untersuchung. ▬ Die dritte Gruppe ist mit dem Buchstaben »M« gekennzeichnet für den englischen Terminus »medical«. Diese Behandlungsfälle werden konservativ behandelt bzw. es findet keine Prozedur statt, die gruppierungsrelevant ist.
Mit Hilfe dieser Informationen werden den Behandlungsfällen abrechenbare DRGs zugeordnet. Gleich zu Beginn werden die Fälle ausgesondert, die falsch codiert sind oder aufgrund ihres besonderen Aufwandes aus dem Rahmen fallen. Die sieben sog. Error-DRGs beinhalten Tatbestände wie z. B. ungruppierbare oder falsch gruppierte Fälle oder
Nach der Aufteilung in eine der hier beschriebenen Klassen werden die Fälle einer Basis-DRG zugeordnet. Im AR-DRG-System werden sie AdjacentDRGs genannt. Vergleichbare Fälle werden in der Regel anhand ihrer Hauptdiagnose und/ oder eines Eingriffes einer Basis-DRG zugeordnet. Als weitere Gruppierungskriterien könnten z. B. das Alter oder
schen Selbstverwaltung haben sich am 27.6.2000 im Sinne des §17b KHG auf ein PKS geeinigt und sich für die AR-DRGs entschieden. In der engeren Auswahl standen noch eine Reihe von anderen, international bereits eingesetzten Systemen, wie die HCFA-DRGs und AP-DRGs aus den USA, den sog. Nord-DRGs der skandinavischen Länder Schweden, Norwegen, Dänemark Finnland und Island und den Groupes homogènes de malades aus Frankreich. Aufbau der AR-DRGs
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Der grundlegende Aufbau der AR-DRGs in der Version 4.1 ist typisch für ein DRG-System. Ziel ist es auch hier, Behandlungsfälle mit einem ähnlichen Ressourcenverbrauch anhand medizinischer Kriterien einer gemeinsamen Fallgruppe zuzuordnen und mit einem Kostengewicht zu verbinden, welches den durchschnittlichen Kostenaufwand aller Fälle dieser Gruppe widerspiegelt. Die Zuordnung der Fälle ist immer eindeutig, gleichartig codierte Fälle werden immer derselben DRG zugeordnet. Es handelt sich um ein eindimensionales PKS. Das heißt, jeder Behandlung wird genau eine DRG zugeordnet. Die vom System benötigten Informationen für den Gruppierungsprozess sind schon fast vollständig im Datensatz nach § 301 SGB V enthalten: ▬ Haupt- und Nebendiagnosen (laut ICD-10-AMBand 1), ▬ Haupt- und Nebenleistungen (laut ICD-10-AMBand 2), ▬ Alter, ▬ Geschlecht, ▬ Geburts- bzw. Aufnahmegewicht, ▬ Verweildauer, ▬ Entlassungsart.
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das Geburtsgewicht eine Rolle spielen. Von diesen Basis-DRGs bestehen im australischen System 409 Gruppen. Im nächsten Bearbeitungsschritt wird für jeden Fall der individuelle Schweregrad berechnet. Pro Adjacent-DRG ist die Aufteilung in fünf Schweregrade möglich. Hieraus ergeben sich maximal 2045 Fallgruppen. Diese werden aber nicht direkt in abrechenbare DRGs umgesetzt. Die medizinischen und ökonomischen Fallgruppen werden in einem weiteren Bearbeitungsschritt zu abrechenbaren DRGs zusammengefasst. Hierbei dürfen aufgrund der Vereinbarung der DKG und der Krankenkassen vom Juni 2000 je Basis-DRG maximal drei abrechenbare Fallgruppen entstehen. Wie erwähnt ist die Einordnung der Fälle in eine Basis-DRG der Ausgangspunkt für eine weitere Unterteilung. Anhand aller dokumentierten Nebendiagnosen und der sonstigen Angaben über den Patienten wird der patientenindividuelle Schweregrad berechnet. Im AR-System bestimmen Art und Anzahl aller Daten das Maß der Fallschwere. Im australischen System ist für insgesamt 3215 Diagnosen ein klinischer Schweregrad festgelegt. Dabei ist zu beachten, dass zwei CC-Listen eingesetzt werden. Es gibt eine Liste für Neugeborene, die 3100 Diagnosen umfasst und eine für alle anderen Patienten, die 2802 relevante Komplikationen und Comorbitäten beinhaltet. Zwischen beiden Listen gibt es Überschneidungen. Der Gesamtschweregrad errechnet sich aus den Schweregraden der einzelnen Nebendiagnosen bzw. der anderen Angaben. Pro Datum wird ein »Complication and Comorbidity Level« (CCL) errechnet. Die CCL-Einstufung der Nebendiagnosen ist dabei nicht starr für das gesamte System, sondern sie variiert in Abhängigkeit von der Grunderkrankung und damit von der Basis-DRG. In einigen Fällen kann die Nebendiagnose sogar ihren CCL-Status verlieren. Dies geschieht, wenn die Nebendiagnose ▬ der Hauptdiagnose sehr ähnlich ist, ▬ bereits zur Definition der Basis-DRG verwendet wurde, ▬ einem bereits verarbeiteten Diagnosecode entspricht. Die einzelnen Schweregrade der einzelnen Nebendiagnosen können aber nicht einfach addiert wer-
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den, weil sich so ein unrealistisch hoher Schweregrad ergeben würde. Aus diesem Grunde wurde eine statistische Glättungsformel entwickelt, mit der patientenbezogene Gesamtschweregrad, der »Patient Complication and Comorbidity Level« (PCCL), errechnet wird. Bei den Schweregraden wird eine Skala von null bis vier verwendet. Vier stellt dabei den höchsten Schweregrad und damit auch den höchsten Ressourcenverbrauch dar. Diese Kategorie wird mit dem Buchstaben A gekennzeichnet. Es folgen, analog zur Abstufung, die Buchstaben B, C, D und Z. Z besagt, dass die Basis-DRG nicht weiter unterteilt wird. Kommen zu einer schwerwiegenden CCLNebendiagnose noch weitere hinzu, so bewirkt die Glättungsformel, dass der PCCL in der Regel nur im Nachkommabereich gesteigert wird. Liegen aber mehrere hohe CCLs vor, so ergibt sich über den Rundungseffekt eine Anhebung des PCCL über den Ausgangswert der schwersten Nebendiagnose hinaus. Dadurch ist das AR-System in der Lage, extreme Multimorbiditäten darzustellen. Eine Vorgabe der Rahmenvereinbarung der Selbstverwaltungspartner zur Einführung des DRG-Systems in Deutschland war die Beschränkung der abrechenbaren DRGs auf ca. 800 Gruppen. Aus diesem Grunde werden z. B. zwei oder drei Schweregradgruppen zu einer Abrechnungsgruppe zusammengefasst. Es werden sogar alle fünf PCCL-Gruppen zu einer Abrechnungs-DRG zusammengefasst. Eine wichtige Voraussetzung ist dabei, dass sie sich in ihren Kosten ähneln. > Aus der Nomenklatur (Benennung) der DRGs lassen sich medizinische und ökonomische Informationen gewinnen.
Das AR-DRG-System verwendet sowohl Buchstaben als auch Zahlen zur Beschreibung der DRGs. Basis-DRGs werden dabei immer dreistellig, abrechenbare DRGs vierstellig benannt. Die ersten drei Stellen sind identisch. Der erste Buchstabe gibt die entsprechende MDC an. Danach folgt eine zweistellige Zahl, die die Basis-DRG definiert. Es ergeben sich die folgenden Ordnungen: ▬ 01–39 ⇒ operative Partition, ▬ 40–59 ⇒ sonstige Partition, ▬ 60–99 ⇒ medizinische Partition.
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Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
Nach der Ermittlung der PCCL-Einstufung wird ein weiterer Buchstabe angehängt. Mit »A« wird die jeweils kostenaufwendigste Variante bezeichnet. Die Buchstaben »B« bis »D« werden bei weniger ressourcenintensiven Fällen verwendet. Der Buchstabe »Z« wird verwendet, wenn die Basisund die abrechenbare DRG in ihrem Aufwand übereinstimmen. Erlösberechnung
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Für die Höhe der Erlöse, die Krankenhäuser aus den Fallpauschalen erzielen können, sind die folgenden Faktoren wichtig: ▬ Die richtige Klassifikation der Patienten durch die vollständige Eingabe aller relevanten Daten, ▬ das Kostengewicht (Relativgewicht, cost weight) einer Fallpauschale, ▬ der Basisfallwert (base rate), ▬ die Anzahl der Behandlungsfälle. Die Einstufung der Patienten erfolgt seitens der Mediziner durch die Eingabe der in den Deutschen Kodierrichtlinien festgelegten Daten. Die Einordnung der Patienten in die relevante Fallgruppe erfolgt mittels einer speziellen EDV-Software (Grouper). Kostengewichte. Bei der Verwendung von PKS
wird in der Regel jeder homogenen Behandlungsfallgruppe ein Kostengewicht (cost weight) zugeordnet. > Kostengewichte sollen die durchschnittliche Aufwendigkeit einer Behandlung widerspiegeln und werden gewöhnlich als Bewertungsrelationen in Form von Relativgewichten angegeben. Das mittlere Gewicht über alle Fälle wird üblicherweise auf 1,0 festgesetzt.
Kostengewichte sind zwar nicht zwangsläufig mit einem PKS verbunden, können aber in vielfältiger Weise verwendet werden. Sie können z. B. zur Aufteilung von Budgets, sowohl in einer Region als auch in einem einzelnen Krankenhaus, dienen. Weiterhin lassen sie sich zum Leistungsausweis einer Einrichtung oder zur Wirtschaftlichkeitsbeurteilung nutzen, indem die Kostengewichte, die auf der Basis von Soll-Kosten ermittelt wurden, den Ist-Kosten gegenüber gestellt werden. Wird
das PKS als Instrument zur Vergütung benutzt, so können in den Entgelten die unterschiedlichen Tarifhöhen der jeweiligen Region berücksichtigt werden, indem unterschiedliche Kostengewichte berechnet werden. Für die Ermittlung der Relativgewichte stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung. Sie können im Voraus kalkuliert werden. Dies setzt voraus, dass die Behandlungspfade festgelegt worden sind. Das amerikanische Fallklassifikationssystem der »Patient Management Categories« (PMCs) nutzt diese Vorgehensweise. Die Gruppen werden ausschließlich anhand von typischen Behandlungswegen im Krankenhaus gebildet. Die Kostengewichte der ersten DRGs wurden aufgrund von durchschnittlichen Verweildauern berechnet. Diese Verfahren wurden bis vor kurzem auch für die englischen »Healthcare Resource Groups« verwendet. Eine weitere Möglichkeit ist die Nachkalkulation in repräsentativ ausgewählten Krankenhäusern. Dieser Weg wurde z. B. 1992 für die deutschen Fallpauschalen und Sonderentgelte gewählt. Letztlich könnte man auch die Kostengewichte eines international bereits eingesetzten Systems übernehmen und den deutschen Verhältnissen anpassen. Dies ist aber problematisch, da in den verschiedenen Ländern oft unterschiedliche Kosten eingerechnet werden und sich damit eine nicht vergleichbare Gewichtung ergibt. In den USA sind beispielsweise die Arztkosten nicht enthalten, da dort das Belegarztsystem vorherrscht und deren Leistungen separat vergütet werden. > Ein internationaler Vergleich von Gesundheitsleistungen anhand der Kostengewichte ist nur schwer möglich ist.
Die Festlegung der Kostengewichte muss mit großer Sorgfalt erfolgen, da es sonst zu unerwünschten Anreizen kommen kann. Werden z. B. die Kostengewichte für stationäre Behandlungen zu hoch angesetzt, führt dies zu einer Erhöhung der Krankenhausfallzahlen, die durch eine Umschichtung der Fälle vom ambulanten in den stationären Bereich einhergehen kann. Der durchschnittliche Ressourcenverbrauch einer Behandlungsfallgruppe soll sich also im jeweiligen Kostengewicht widerspiegeln. Gewichtet und summiert man alle Behandlungsfälle einer Periode, so erhält man den sog.
259 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
Case-Mix. Der Case-Mix ist folglich die Summe
der Relativgewichte aller Behandlungsfälle. Wird von diesem Wert der gewogene Durchschnitt berechnet, ergibt sich der durchschnittliche Aufwand der Fälle. Das durchschnittliche Kostengewicht pro Behandlungsfall wird Case-Mix-Index (CMI)genannt. Er ist das Ergebnis der Division aus der Summe der Kostengewichte aller Behandlungsfälle und der Anzahl der Behandlungsfälle. Der Case-Mix-Index gibt Aufschluss darüber, wie hoch der durchschnittliche Ressourcenverbrauch der behandelten Fälle war. Der Index kann sowohl für ein Land, eine Region oder für ein einzelnes Krankenhaus ermittelt werden. Werden die Relativgewichte einer DRG mit dem Basisfallwert, der Base-rate, multipliziert ergeben sich die sog. Fallerlöse. Werden die Fallerlöse addiert, ergibt sich das Krankenhausbudget. Das Krankenhausbudget lässt sich aber auch aus Fallzahl, CMI und Basisfallwert berechnen. > Krankenhausbudget = ∑ Fallerlöse = Fallzahl × CMI × Basisfallwert
In Deutschland ist vorgesehen, dass die Vertragsparteien auf Landesebene die Höhe des durchschnittlichen Basisfallwertes, ggfs. in regionaler Differenzierung, jeweils bis zum 30.9. des laufenden Jahres für das Folgejahr vereinbaren. Die Details sind in einer Vereinbarung festgelegt worden. Der Basisfallwert soll die mittleren Fallkosten über alle Patientenfälle darstellen. Die erste Ermittlung des Basisfallwertes ist besonders wichtig, da erfahrungsgemäß nachträgliche Veränderungen in großem Umfang auf dem Verhandlungsweg kaum durchzusetzen sind. Die Selbstverwaltung muss erstmalig für das Jahr 2005 auf Landesebene einen einheitlichen Basisfallwert vereinbaren. Hieraus folgt, dass alle Krankenhäuser in einem Bundesland den gleichen Eurobetrag für das Relativgewicht 1 bekommen. Danach wird jeweils bis zum 30.9. des laufenden Jahres der Wert für das Folgejahr bestimmt. Der Gesetzgeber hat zudem die Option vorgegeben, zu einem späteren Zeitpunkt die Basisfallwerte regional festzulegen. Verweildauer. In der Praxis kommt es häufig vor,
dass Behandlungsfälle viel mehr Kosten verursachen, die durch eine lange Verweildauer verursacht
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worden sind. Ein entgegengesetzter Effekt kann bei einer starken Verkürzung der medizinisch notwendigen Aufenthaltsdauer eintreten. Solche sog. Ausreißer können u. a. auf eine nichthomogene Zusammenstellung der Fallgruppe zurückzuführen sein. Damit solche Fälle nicht mit einem zu niedrigen bzw. zu hohen Entgelt vergütet werden, sind in den meisten PKS Grenzwerte definiert. Aus diesem Grunde ist in der Verordnung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser für das Jahr 2004 (KFPV 2004) vom 13.10.2003 eine mittlere, eine untere und eine obere Verweildauer festgelegt worden. Die mittlere Verweildauer ist die Grundlage der ermittelten Bewertungsrelationen. Ist die Verweildauer der Patienten länger als die obere Grenzverweildauer, wird für den dafür im Fallpauschalenkatalog (Anlage 1 der KFPV 2004) ausgewiesenen Tag und für jeden weiteren Tag im Krankenhaus zusätzlich ein belegungstagesbezogenes Entgelt abgerechnet. Dieses zusätzliche Entgelt wird ermittelt, indem die für die obere Grenzverweildauer festgesetzte Bewertungsrelation/Tag mit der Zahl der Mehrtage und dem Basisfallwert multipliziert wird. Ist die Verweildauer der Patienten kürzer als die untere Grenzverweildauer, so wird ein Abschlag von der Fallpauschale vorgenommen. Dieser wird ermittelt, indem die aus dem Katalog zu entnehmende Bewertungsrelation mit den Mindertagen und dem Basisfallwert multipliziert wird. ⊡ Tabelle 9.1 zeigt einen Auszug aus dem Fallpauschalenkatalog, der für das Jahr 2004 gültig ist. Liegt also ein Patient außerhalb des jeweils festgelegten zeitlichen Korridors, der durch die untere und obere Grenzverweildauer vorgegeben ist, wird er gesondert vergütet. Die obere Grenze sorgt dafür, dass das Krankenhaus auch für aufwendigere Behandlungen ein angemessenes Entgelt erhält. Die untere Grenze kann sicherstellen, dass Patienten nicht zu früh entlassen werden, um einen Erlös zu erzielen, der für die mittlere Verweildauer berechnet war. Einführungsverfahren. Die Entscheidung der Selbstverwaltung am 27.6.2000 wurde getroffen, ohne den zukünftigen finanzpolitischen Ordnungsrahmen zu kennen. Die AR-DRGs stellen nur die Basis für ein neues pauschalierendes Entgeltsystem dar. Die DKG hatte frühzeitig eine Reihe von
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Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
⊡ Tabelle 9.1. Auszug aus dem Fallpauschalenkatalog 2004: Bewertungsrelationen bei Versorgung durch Hauptabteilungen am Beispiel der DRG F01Z (Bewertungsrelation 10,283; mittlere Verweildauer: 14,3). (KU-Sonderheft KFPV 2004, S. 17) Grenzverweildauer
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Berechnungstag
Bewertungsrelation/Tag
Untere Verweildauer:
Erster Tag mit Abschlag: 4
0,382
Obere Verweildauer:
Erster Tag zusätzliches Entgelt: 29
0,094
Externe Verlegung
Abschlag/Tag
0,125
Anforderungen aufgestellt, die die Einführung der DRGs in Deutschland begleiten müssen. Zu diesen Forderungen gehören: ▬ Die DRGs sind als Optionsmodell im Jahr 2003 und als Pflichtmodell im Jahre 2004 einzuführen. Die Umsetzung soll in diesen beiden Jahren budgetneutral erfolgen, d. h. die DRGs dürfen keine negativen Auswirkungen auf die jeweiligen Budgets der Krankenhäuser haben. Die DKG erwartet tiefgreifende strukturelle und finanzielle Änderungen in den Krankenhäusern. Daher wird gefordert, der Einführung eine Einführungsphase folgen zu lassen, damit sich die Krankenhäuser auf die veränderten Rahmenbedingungen einstellen können. ▬ Die Auswirkungen des neuen Entgeltsystems sollen durch eine krankenhaus- und patientenbezogene Forschung evaluiert werden. Dabei ist besonders auf Veränderungen der Qualität, der Leistungserfassung und der Krankenhausstruktur einzugehen. ▬ Nach Ansicht der DKG ist es nicht ausreichend, nur die Leistungen der Psychiatrie aus dem DRG-System herauszunehmen. Darüber hinaus sollen bestimmte Patientengruppen, z. B. die Bluter und die Dialysepatienten, aus System der pauschalen Entgeltfindung herausgenommen werden.
Die DKG lehnt es weiterhin ab, dass das neue Entgeltsystem für die Verteilung von Globalbudgets oder sektoralen Budgets verwendet wird. Darüber hinaus soll mit der Einführung die Deckelung des Krankenhausbudgets aufgehoben werden. Eine Budgetierung hätte einen »floatenden« Punktwert zufolge, wie er aus dem Bereich der Vertragsärz-
te bekannt ist. Höchst- und Richtpreise werden von der DKG nicht empfohlen, vielmehr sollen die regional bestimmten Punktwerte als Festpreise ausgestaltet werden. So wissen die Krankenhäuser im Voraus wie viel Geld sie mit welchen Leistungen erzielen können. Die DKG räumt aber auch ein, dass auch mit ihren Vorstellungen über einen ordnungspolitischen Rahmen das Problem der Mengensteuerung nicht gelöst ist. Durch die Einführung eines durchgängig pauschalierenden Entgeltes für Krankenhausleistungen werden sich auch die Art und der Umfang der Verhandlungen zwischen Kassen und Krankenhäusern ändern. In Zukunft wird es keine Budgets mehr geben, die aus krankenhausindividuellen Kosten abgleitet worden sind. Solche Etats sind meistens historisch aus auf Selbstkosten beruhenden Budgets entstanden und seit dem fortgeschrieben worden. Nach der Einführung der DRGs werden während der Konvergenzphase in den Verhandlungen zwischen Krankenhäusern und Kassen die krankenhausindividuelle DRG-Preise sowie die Leistungsmengen im Mittelpunkt stehen. Mit der endgültigen Einführung der DRGs im Jahre 2009 muss das Problem der Mengensteuerung geklärt sein. Beinhaltet das Entgeltsystem auf DRGBasis keine Mengenausgleiche, würden Mehrleistungen in voller Höhe vergütet. Ein Krankenhaus kann durch Leistungsausweitung Gewinne erwirtschaften. Dieser Gewinnmöglichkeit der Leistungserbringer stehen auf Seiten der Kassen Ausgabensteigerungen gegenüber. Dieser Effekt ist nicht mit dem Grundsatz der Beitragsstabilität zu vereinbaren. Im Folgenden werden vier Modelle genannt, die versuchen, diese Problematik zu lösen. Auf eine differenzierte Darstellung der Modelle wird verzichtet.
261 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
▬ 1. Vorschlag: Preisverfall bei Überschreitung der vereinbarten Mengen, ▬ 2. Vorschlag: Höchstpreissystem mit Mengenöffnung, ▬ 3. Vorschlag: Erlösbudget mit Mehrerlösausgleichen, ▬ 4. Vorschlag: Landesbudget mit Punktwertabsenkung. Neben dem Aspekt, dass ein auf Fallpauschalen beruhendes Entgeltsystem den Anreiz der Ausweitung der Leistungsmengen mit sich bringen kann, müssen noch weitere Umstände beachtet werden. Es gibt viele Leistungen, bei denen die Frage nach der medizinischen Notwendigkeit und dem nötigen Leistungsumfang nicht eindeutig zu klären ist. Um einer unangemessenen Steigerung der Leistungsmengen entgegenzuwirken, sind u. a. die folgenden Instrumente denkbar: ▬ Eine verstärkte Überprüfung der Krankenhausaufnahmen und der DRG-Einstufung der Patienten seitens der Krankenkassen, ▬ eine Begrenzung der Krankenhauszulassungen. Bei gerechtfertigten Mengensteigerungen besteht im Wesentlichen die Möglichkeit, die Auswirkung auf die Ausgabenentwicklung der Kassen durch eine entsprechende Senkung der DRG-Preise abzufangen, um den Grundsatz der Beitragsstabilität nicht zu verletzen. Es ist vorgesehen, dass mit den DRGs die Kosten der voll- und teilstationären Behandlungsfälle eines Krankenhauses vergütet werden. Dennoch gibt es Leistungen, die zwar erbracht werden, aber nicht oder nur unzureichend in die Fallpauschalen mit eingerechnet sind. Daher haben sich die Vertragsparteien auf Bundesebene verständigt, für eine Reihe von Finanzierungstatbeständen Zuund Abschläge vom Basisfallwert zu vereinbaren. Danach sollen ▬ Abschläge für die Krankenhäuser, die nicht an der Notfallversorgung teilnehmen, erhoben werden, ▬ Zuschläge für die notwendige Vorhaltung von stationären Leistungen, die auf Grund des geringen Versorgungsbedarfs mit den Entgelten nicht kostendeckend finanzierbar sind, gezahlt werden,
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▬ Ausbildungsstätten und Ausbildungsvergütungen durch eine Fondslösung finanziert werden, ▬ Zuschläge für die Aufnahme von Begleitpersonen gezahlt werden. Die Berücksichtigung von Tatbeständen, die die Finanzierung der Pflege und Weiterentwicklung des neuen Entgeltsystems sicherstellen, ist durch das DRG-Systemzuschlagsgesetz vom 16.3.2001 sowie durch die Vereinbarung der Selbstverwaltungspartner zur Umsetzung des DRG-SystemzuschlagsGesetzes vom 3.5.2001 erfolgt. Danach wird vom Krankenhaus für jeden abgerechneten voll- und teilstationären Krankenhausfall ein Systemzuschlag zusätzlich in Rechnung gestellt. Die Vertragsparteien vereinbaren jeweils bis zum 30.9. eines Jahres die Höhe des Zuschlages für das Folgejahr. Unterschiede der Finanzierungssysteme
Abschließend soll an einem konkreten Beispiel aus einer Kinderklinik verdeutlicht werden, welche Unterschiede sich zwischen der Pflegesatzfinanzierung und der Finanzierung aus Fallpauschalen ergeben können. Beispiel Die Arbeit mit CF-Patienten (Diagnose: Cystic Fybrosis) stellt einige besondere Anforderungen an den klinischen Alltag. Die CF-Therapie hat einige Hauptelemente, die patientenindividuell abgestimmt, immer wieder vorkommen. Die Ernährung muss kalorien- und fettreich sein. Zur besseren Verdauung der Nahrung müssen zusätzlich Pankreasenzyme zugeführt werden. Einige Patienten werden zusätzlich über eine Bauchsonde ernährt. Im Verlauf der Erkrankung kann die Bauchspeicheldrüse ihre Funktion ganz einstellen, dies führt zu einer sog. Typ-III-Diabetes. Der Patient wird insulinpflichtig. Die CF-Patienten werden täglich krankengymnastisch betreut. Dazu gehört unter anderen die autogene Drainage, eine Übung, die dem Betroffenen hilft, seine Lunge von Schleim zu befreien. Darüber hinaus gibt es Atemmuskeltraining und allgemeines Sportund Konditionstraining. Mukoviszidosepati-
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Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
enten müssen eine Reihe von Medikamenten einnehmen. Neben oral eingenommenen Mitteln müssen die Mukoviszidosepatienten verschiedene Präparate inhalieren. Dazu gehören ebenfalls die Antibiotika, die auch intravenös verabreicht werden können. Um die Ansteckungsgefahr während des Klinikaufenthaltes so gering wie möglich zu halten, gibt es umfangreiche Hygienevorschriften. Um den Zustand des Patienten beurteilen zu können, werden während des stationären Aufenthalts regelmäßig eine Reihe von Laborwerten erhoben. Dazu gehört neben dem Nachweis von Krankheitserregern unter anderen auch das Maß der Fettaufnahme, die Sauerstoffsättigung des Körpers und der Blutzucker. Über das Jahr verteilt werden aber noch zusätzlich standardmäßig eine Reihe weiterer Parameter erhoben. Zu beachten ist noch, dass es sich im Fall der Mukoviszidoseerkrankten in der Regel um Kinder handelt, bei denen immer noch ein besonderes Maß an Aufsicht nötig ist und deren Kooperation, etwa beim Anlegen einer Infusion, nicht mit der eines erwachsenen Patienten zu vergleichen ist. In der MDC-Kategorie »Respiratory System« (Atmungsorgane) gibt es unter der Partition »medizinisch« die DRG »Cystic Fibrosis«. Diese Basis-DRG teilt sich zweifach auf: mit oder ohne katastrophalen, bzw. schweren Komplexitäten und Komorbitäten. Zwischen diesen beiden gilt es sich zu entscheiden. Aus Australien sind Listen verfügbar, die für jede abrechenbare DRG ein klinisches Profil darstellen. Hier sind Informationen über Aufenthaltsdauern, Altersverteilungen, die Art der Entlassung und die Häufigkeit der DRG in den einzelnen australischen Staaten zu finden. Hauptsächlich enthalten diese Listen aber Rangfolgen der häufigsten Haupt- und Nebendiagnosen, sowie der häufigsten Prozeduren. In der Übersicht für die DRG E60A steht Mukoviszidose in Verbindung mit einer Schädigung der Lunge an erster Stelle der Hauptdiagnosen. An oberster Stelle bei den Nebendiag-
nosen ist der Befall mit Pseudomonaserregern zu finden und bei den Prozeduren die Gabe von Antibiotika. Das entspricht der Kombination, die auch bei der hier betrachteten Patientengruppe vorliegt. Darüber hinaus wird hier die Aussage der Ärzte der Klinik, dass im Falle einer Pseudomonasbesiedlung sich der Aufwand für den Patienten beträchtlich erhöht, bestätigt. Auch vor der Einführung eines neuen Entgeltsystems werden Patienten schon in Schweregrade eingeteilt. Im Untersuchungskrankenhaus wird der sog. Shwachmann-Score zur Bestimmung des Schweregrades der Erkrankung verwendet. Nach diesem Score sind die CF-Patienten, die zur Therapie aufgenommen werden, alle in den Bereich der mittelschwer und schwer erkrankten Patienten einzustufen. Die abrechenbare DRG für diese Patienten lautet demnach: E60A. In ⊡ Tabelle 9.2 sind die einzelnen Kostensegmente aufgeführt, die den Leistungen zur Behandlung des Krankheitsbildes entsprechen. Für die zweiwöchige Therapie ergeben sich Kosten in Höhe von 5969,26 Euro. Geteilt durch dreizehn Berechnungstage ergeben sich Kosten pro Tag von 459,17 Euro. Besonders auffällig ist der große Anteil der Medikamentenkosten mit 42%. Dies liegt in erster Linie an dem hohen Antibiotikabedarf. Vergleicht man das Ergebnis der Kalkulation mit den Erlösen aus dem Abteilungsund Basispflegesatz, die pro Tag zusammen 308,22 Euro umfassten, so wird deutlich, dass diese nur ungenügend den Bedarf des Behandlungsfalles decken. Den hier ermittelten Kosten pro Tag in Höhe von 459,17 Euro stehen nur 308,22 Euro gegenüber, die von den Kassen erstattet werden. Hierbei ist zu beachten, dass die genannten Pflegesätze für die Pädiatrische Abteilung gelten. Innerhalb des Leistungsspektrums der dieser Abteilung stellt die aufwendige und kostenintensive Behandlung von Mukoviszidoseerkrankten einen besonderen Fall dar. Mit der Einführung der DRGs und der darauf basierenden Vergütung je Behandlungsfall ist zu erwarten, dass die Leistungen des Kran-
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263 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
kenhauses besser und differenzierter berücksichtigt werden. Voraussetzung dafür ist eine entsprechende Kalkulation dieser Diagnose. Die verwendeten Daten basieren auf den Kostengewichten/Bewertungsrelationen für das Optionsjahr 2003. Im Jahre 2004 gibt es nur noch die DRG E60Z (Zystische Fibrose, Mukoviszidose), die eine andere Bewertungsrelation hat. Die relevanten Daten aus dem Jahre 2003 sind der ⊡ Tabelle 9.3 zu entnehmen. Für Deutschland sind zurzeit keine Basisfallwerte festgesetzt worden. Daher wird in diesem Beispiel die australische Base rate zur Berechnung herangezogen, die in Euro umgerechnet worden ist. Sie beträgt bei dieser DRG 93,44 Euro. Unterstellt man, dass dieser Wert auch in Deutschland gültig wäre, so ergibt sich ein Fallerlös von 814,05 Euro. Auch bei einer Pauschalfinanzierung und einer mittleren Verweildauer von 7,1 Tagen ergibt sich eine Unterdeckung. Erst bei einer Liegezeit unter 1,7 Tagen ergibt sich eine Gewinnsituation. Der Gesetzgeber hat bei dieser DRG für 2003 bei der unteren Grenzverweildauer den Aufenthalt von einem Tag als den ersten Tag mit Abschlag festgelegt. Aus der Gegenüberstellung dieser beiden Verweildauerangaben ergibt sich der zeitlich enge Handlungsrahmen für die stationären Einrichtungen, wenn sie Gewinne erzielen wollen. Die Behandlung dieses Krankheitsbildes ist für die Klinik bei einer Liegezeit von zwei Tagen und länger unwirtschaftlich. Das Krankenhaus muss zunächst versuchen, die Kosten zu senken. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, eine Mischkalkulation mit kostengünstigen Krankheitsbildern durchzuführen. Im Extremfall ist im Rahmen eines Spezialisierungsansatzes der Versuch zu starten, das Krankheitsbild aus dem Leistungskatalog der Klinik auszugrenzen.
Finanzierung der ambulanten Leistungen Mit dem GSG von 1993 ist die bis dahin übliche Aufgabenstellung der Krankenhäuser in Form der voll- und teilstationären Krankenhausbehandlung um die Formen der vor- und nachstationären Behandlung und des ambulanten Operie-
⊡ Tabelle 9.2 Kostensegmente Kostensegmente
Kosten
Ärztlicher Dienst
192,33 Euro
Pflegedienst
736,94 Euro
Übrige Berufsgruppen (Erzieher, Sozialpädagogen, Krankengymnasten, Diätassistenten, Reinigungskräfte)
1131,50 Euro
Medikamente
2501,17 Euro
Material Labordiagnostik
80,38 Euro 157,61 Euro
Unterkunft
639,88 Euro
Verpflegung
529,25 Euro
Summe
5969,26 Euro
pro Tag
459,17 Euro
⊡ Tabelle 9.3 DRG-Kosten DRG
E60A
Beschreibung
Cystic Fibrosis
Kostengewicht
1,227
Mittlere Verweildauer (in Tagen)
7,1
Kostengewicht × mittlere Verweildauer
8,7117
rens erweitert worden. Damit ist die bislang im deutschen Gesundheitssektor herrschende strikte Trennung zwischen ambulanter Versorgung, deren Sicherstellung über die Kassenärztlichen Vereinigungen erfolgt, und stationärer Behandlung, deren Gewährleistung traditionell die Krankenhäuser übernehmen, aufgehoben worden. Eine Erweiterung gab es außerdem durch das GKV-Reformgesetz 2000, indem in § 115b SGB V der Begriff »Ambulantes Operieren« um den Terminus »Stationsersetzende Eingriffe« ergänzt wurde. Mit dieser Maßnahme wurden die ambulant durchführbaren Eingriffe erweitert. Mit dem GKVModernisierungsgesetz wurden zum 1.1.2004 weitere Versorgungsformen eingeführt. Beispielhaft
264
Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
sollen an dieser Stelle die Medizinischen Versorgungszentren und die ambulanten Behandlungen im Rahmen von Disease Management Programmen genannt werden. > Der Grundsatz »So viel ambulant wie möglich und so wenig stationär wie nötig« ist durch die Erweiterung bzw. Einführung der ambulanten Behandlungsformen im Krankenhausbereich um einen wichtigen Schritt erweitert worden.
9
Danach können Krankenhäuser neben den ambulanten Leistungen durch Krankenhausärzte (personenbezogene Ermächtigungen und Privatambulanzen) und den sog. Institutsleistungen, die in den Notfall-Ambulanzen, Polikliniken, Psychiatrischen Institutsambulanzen und in den Sozialpädiatrischen Zentren durchgeführt werden können, weitere Behandlungen ambulant erbringen. Hierdurch will man zukünftig alle nicht notwendigen oder zu langen Krankenhausaufenthalte vermeiden. Die Verzahnung der ambulanten und der stationären Bereiche hat somit die Zielsetzung, Unwirtschaftlichkeiten, die sich durch die weitgehende Trennung dieser beiden Sektoren ergeben, abzubauen. Ambulanten Operieren. Als Beispiel für die ambulanten Tätigkeiten von Krankenhäusern sollen zunächst die ambulanten Leistungen dargestellt werden. Zum 1.4.1993 kam erstmalig der Vertrag nach § 115b Abs. 1 SGB V zustande. Dieser Vertrag ist in veränderter Form zum 1.1.2004 zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen gemeinsam, der DKG und der Kassenärztlichen Vereinigung neu abgeschlossen worden. Es handelt sich um einen sog. dreiseitigen Vertrag auf Bundesebene. In diesem Vertrag ist u. a. geregelt, dass die Krankenhäuser als Institution die Möglichkeit haben, gleichberechtigt neben den niedergelassenen Ärzten ambulant zu operieren. Die Teilnahme am ambulanten Operieren setzt hierbei lediglich eine Mitteilung an die Landesverbände der Krankenkassen, an die Verbände er Ersatzkassen, an die Kassenärztliche Vereinigung und an den Zulassungsausschuss voraus. Weiterhin hat der Patient beim ambulanten Operieren die freie Wahl zwischen einem niedergelassenen Arzt und dem Krankenhaus. Bei
der Entscheidung für ein Krankenhaus ist eine Überweisung oder Einweisung des Vertragsarztes ist nicht erforderlich. Der Katalog ambulant durchführbarer Operationen und sonstiger stationsersetzender Eingriffe ist dem Vertrag als Anlage beigefügt. Seit dem 1.1.2000 werden die Spitzenverbände der Krankenkassen, die DKG oder die Bundesverbände der Krankenhausträger sowie die Kassenärztliche Bundesvereinigung nach § 115b SGB V (ambulantes Operieren im Krankenhaus) verpflichtet, im Rahmen des dreiseitigen Vertrages neben einen Katalog ambulant durchführbarer Operationen und sonstiger stationsersetzender Eingriffe, einheitliche Vergütungen für Krankenhäuser und Vertragsärzte sowie Maßnahmen zur Sicherung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit zu vereinbaren. In dieser Regelung sind speziell die Eingriffe katalogisiert, die i. d. R. ambulant durchgeführt werden können bzw. die Tatbestände festzulegen, bei denen diese Operationen stationär erbracht werden können. Weiterhin sind in diesem Vertrag Qualitätsvoraussetzungen sowie Vergütungsabschläge bestimmt, wenn Krankenhäuser und Vertragsärzte ihre Verpflichtungen zur Qualitätssicherung nicht einhalten. Als Ziele des Gesetzgebers, das ambulante Operieren einzuführen, sind zusammenfassend zu nennen: 1. Vermeidung von vollstationären Behandlungen ist im Interesse des Patienten, 2. Senkung der Behandlungskosten und Verminderung des Planbettenbestandes durch Nutzung der Einrichtungen des Krankenhauses für die ambulante Krankenversorgung. Vor- und nachstationäre Behandlung. Im Kran-
kenhausentgeltgesetz vom April 2002 wird ausdrücklich festgehalten, dass die somatischen Krankenhäuser neben der ambulanten Durchführung von Operationen und stationsersetzenden Eingriffen die vor- und nachstationäre Behandlung nach § 115a SGB V durchführen sollen. Danach sollen Krankenhäuser Versicherte, die von niedergelassenen Ärzten zur stationären Behandlung eingewiesen worden sind, in medizinisch geeigneten Fällen ohne Unterkunft und Verpflegung behandeln, um ▬ die Notwendigkeit einer vollstationären Behandlung zu klären,
265 9.2 · Abrechnung der Krankenhausleistungen
▬ die vollstationäre Behandlung vorzubereiten (vorstationäre Behandlung), ▬ im Anschluss an eine vollstationäre Behandlung den Behandlungserfolg zu sichern (nachstationäre Behandlung). Für die vorstationäre Behandlung sind maximal drei Tage innerhalb eines Zeitraumes von fünf Tagen vor Beginn der stationären Behandlung vorgesehen. Bei der nachstationären Behandlung sind sieben Tage innerhalb von 14 Tagen festgeschrieben worden. Zur Finanzierung dieser Leistungen haben die Landesverbände der Krankenkassen, die Verbände der Ersatzkassen, der Landesauschuss des Verbandes der privaten Versicherung gemeinsam mit der Landeskrankenhausgesellschaft und im Benehmen mit der kassenärztlichen Vereinigung die Vergütungen für die Leistungen festzulegen. Diese Vergütungen sollen als Pauschale gezahlt werden. Sie müssen geeignet sein, eine Verminderung der stationären Kosten herbeizuführen. Aus den Vorschriften wird deutlich, dass die Festpreise von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sein können. Aufgrund einer Rahmenvereinbarung auf Bundesebene ist festgelegt worden, dass die vorstationären Tage insgesamt durch eine tagesunabhängige Komplexpauschale und die nachstationären Leistungen durch eine tagesabhängige Pauschale vergütet werden. Zudem wird der Einsatz von bestimmten medizinischen Großgeräten separat bezahlt.
9.2.4 Finanzierung der allgemeinen
Leistungen der psychiatrischen Krankenhäuser Der Gesetzgeber hat durch die Regelungen des §17b KHG festgelegt, dass die Vorschriften für die Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems keine Anwendung für Leistungen der in § 1 Abs. 2 der Psychiatrischen-Personalverordnung genannten Einrichtungen findet. Damit sind alle psychiatrischen Krankenhäuser und die psychiatrischen Abteilungen der somatischen Krankenhäuser von der Einführung der DRGs ausgeschlossen. Unabhängig von dieser Festsetzung gilt die Regelung des § 39 SGB V. Danach darf eine vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Kran-
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kenhaus erst dann vorgenommen werden, wenn das Behandlungsziel nicht durch die anderen Behandlungsformen einschließlich der häuslichen Krankenpflege erreicht werden kann. Das Krankenhaus hat dies bei der Aufnahme zu prüfen. Erst wenn andere Behandlungsformen dies nicht gewährleisten, darf eine vollstationäre Behandlung erfolgen. Nach § 2 BPflV 2004 umfasst eine allgemeine Leistung auch in der Psychiatrie alle Leistungen, die unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Krankenhauses im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinisch zweckmäßige und ausreichende Versorgung der Menschen notwendig sind. In diesem Sinne gehören auch die im Krankenhaus durchgeführten Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten, die vom Krankenhaus veranlassten Leistungen Dritter und die aus medizinischen Gründen notwendige Mitaufnahme einer Begleitperson des Patienten zu den Krankenhausleistungen. Zur Finanzierung der stationären Leistungen werden aber nur Abteilungs- und Basispflegesätze herangezogen. Die Abteilungspflegsätze beinhalten die Kosten, die aufgrund der ärztlichen und pflegerischen Leistungserbringung in einer organisatorisch selbständigen, bettenführenden Abteilung entstehen. Bei den Abteilungspflegesätzen handelt es sich um sog. tagesgleiche Pflegesätze, d. h., jeder Tag während des Aufenthaltes wird gleich entgolten. Die Ermittlung des Abteilungspflegesatzes erfolgt anhand einer Kalkulationsvorgabe, die als Anlage K7 der BPflV 2004 beigefügt ist. In den für das ganze Krankenhaus einheitlichen Basispflegesatz fließen alle nicht medizinischen und pflegerischen Leistungen, wie beispielsweise die Kosten der Unterkunft, Verpflegung und Verwaltung, ein. Die Kostenbestandteile sind der Anlage K6 der BPflV 2004 zu entnehmen. Bei dem Basispflegesatz handelt es sich ebenfalls um einen sog. tagesgleichen Pflegesatz. Die vollstationären Abteilungspflegesätze und der Basispflegesatz sowie die entsprechenden teilstationären Pflegesätze werden für den Aufnahmetag und jeden weiteren Tag des Krankenhausaufenthaltes berechnet (Berechnungstage). Der Entlassungsoder Verlegungstag, der nicht zugleich Aufnahmetag ist, wird nur bei teilstationärer Behandlung berechnet.
266
9
Kapitel 9 · Finanzierung von Krankenhausleistungen im Wandel
Das Budget und die Pflegesätze sind für einen zukünftigen Zeitraum, den sog. Pflegesatzzeitraum, vereinbart. Das prospektive Budget und die Pflegesätze müssen medizinisch leistungsgerecht sein. Sie müssen einem Krankenhaus bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, den Versorgungsauftrag zu erfüllen. Hierbei ist der Grundsatz der Beitragssatzstabilität nach § 6 BPflV 2004 zu beachten. Für den Fall, dass die Gesamterlöse des Krankenhauses aus den Pflegesätzen höher ausfallen als das festgelegte Budget, werden die durch eine abweichende Belegung entstandenen Mehrerlöse zu 85% (bei Mehrerlösen bis zu 5%) bzw. zu 90% (bei Mehrerlösen über 5%) ausgeglichen; d. h. die Krankenhäuser müssen dieses Geld an die Krankenkassen abführen. Treten Mindererlöse ein, so werden diese nur zu 40% anteilig durch die Kassen finanziert. In beiden Fällen führen die Mehr- bzw. Minderleistungen zu finanziellen Verlusten. Bei den Mehrleistungen werden die zusätzlichen variablen Kosten (i. d. R. 25 v.H. der Gesamtkosten) nicht gedeckt, bei den Minderleistungen ist eine Unterdeckung der Fixkosten (i. d. R. 75 v.H. der Gesamtkosten) zu verzeichnen. Für die Krankenhäuser ist es somit aus wirtschaftlichen Gründen notwendig, am Ende des Haushaltjahres eine » Punktladung« zu erzielen.
? Wissens- und Transferfragen 1. Erläutern Sie den Terminus »Grundsatz der Beitragsstabilität« und zeigen Sie Lösungsansätze auf, mit denen dieser Grundsatz eingehalten werden soll. 2. Differenzieren Sie zwischen der externen Qualitätssicherung und dem Qualitätsmanagement. 3. Zeigen Sie die Unterschiede zwischen der Kosten-Nutzen-Analyse und der KostenWirksamkeits-Analyse auf. 4. Nennen Sie die wesentlichen gesetzlichen Vorgaben für das Vergütungssystem G-DRG. 5. Welche Formen der Krankenhausbehandlung werden unterschieden?
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6. Was ist unter der dualen Krankenhausfinanzierung zu verstehen? 7. Stellen Sie die Differenzierung der Gesundheitsgüter nach der Abgrenzungsverordnung dar. 8. Kennzeichnen Sie die Merkmale von Dienstleistungen. 9. Welche Funktionen hat eine Patientenklassifikation und wie erfolgt die Klassifikation im Rahmen der DRG? 10. Welche Bedeutung haben Leitlinien und Behandlungspfade für die Patientenversorgung? 11. Kennzeichen Sie die historische Entwicklung der DRG. 12. Stellen Sie den Aufbau der DRG dar. 13. Wie wird der PCCL ermittelt? 14. Stellen Sie die Nomenklatur der DRG dar. 15. Was ist unter den folgenden Begriffen zu verstehen: – Relativgewicht, – Basisfallwert, – Case-Mix-Index, – Grenzverweildauer. 16. Wie werden auch in Zukunft die Leistungen der psychiatrischen Krankenhäuser bezahlt?
Literatur Broweleit K (2003) Disease Management Programme im Wettbewerb. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Flensburg Commonwealth of Australia (2000) Development of the Australian Refined Diagnosis Related Groups (AR-DRG) Classifikation Version 4. Online www.health.gov.au/casemix/ volume1.pdf Deutsche Krankenhausgesellschaft (1994) Hinweise und Empfehlungen der DKG zu den Budget- und Pflegesatzverhandlungen 1995. Krankenhaus 9, Redaktionsbeilage Deutsche Krankenhausgesellschaft (2000) GKV-Gesundheitsreform 2000. Krankenhaus 1, Redaktionsbeilage Deutsche Krankenhausgesellschaft (2002) Verordnung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser (KFPV). Krankenhaus 10, Redaktionsbeilage Eichhorn S (1988) Handbuch Krankenhaus-Rechnungswesen. 2. Aufl. Kohlhammer, Wiesbaden Fischer W (1999) Diagnosis Related Groups (DRGs) im Vergleich zu den Patientenklassifikationssystemen von Österreich und Deutschland. ZIM-Forschungsbericht, Wolfertswil (CH)
267 Literatur
Fischer W (2000a) AR-DRG-Liste (Version 4.1) Online www. fischer-zim.ch/tab/DRG-AR-v4-0010.htm Fischer W (2000b) Diagnosis Related Groups und verwandte Patientenklassifikationssysteme. Zentrum für Informatik und wirtschaftliche Medizin. ZIM-Forschungsbericht, Wolfertswil (CH). Online www.fischer-zim.ch/studien/DRGSysteme-0003-Info.htm Gesetz über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen (Krankenhausentgeltgesetz – KHEntgG) (2003) Krankenh Umsch, Sonderheft 7: 92–114 Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser (Fallpauschalengesetz – FPG) (2002) DKG-aktuell 6/7: 47–56 Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Krankenhausfinanzierungsgesetz- KHG) vom 29.6.1972. BGBl I, S 1009, in der Fassung vom 17.7.2003 Mansky T (1997) Bewertung von Krankenhausleistungen mit Hilfe von Fallgruppensystemen: Neuere Entwicklungstendenzen. In: Mayer E (Hrsg) Vom Krankenhaus zum Medizinische Leistungszentrum (MLZ): ambulante und stationäre Patientenversorgung der Zukunft. Schäffer & Poeschel, Köln, S 219–234 Lauterbach KW (2003) Disease Management in Deutschland. Gutachten für den VdAK/AEV. Online www.vdak-aev.de/ download/endgutachten_rsa.pdf Neubauer G, Nowy R (2000) Wege zur Einführung eines leistungsorientierten und pauschalierenden Vergütungssystems für operative und konservative Krankenhausleistungen in Deutschland. Studie des Instituts für Gesundheitsökonomie, München. Online www.aaoz.de/domino/ aaoz/news1.nsf/b7349077b66ea642c1256ae90045a821/ e4e58df23f0edab6c1256a4f0043141b!OpenDocument Niedersächsisches Gesetz zum Bundesgesetz zur wirtschaftlichen Sicherung und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Nds.KHG) in der Fassung vom 19.12.1995. NdsGVBl, S 463 Rochell B, Roeder N (2000a) Australian Refined-Diagnosis Related Groups (AR-DRG’s) – Ein Überblick. Krankenhaus 8, Redaktionsbeilage Rochell B, Roeder N (2000b) Import aus Übersee – Die Selbstverwaltung entscheidet sich für ein modernes Patientenklassifikationssystem aus Australien. Krankenh Umsch 8: 658 Roeder N, Rochell B, Scheld HH (2000) Das australische System wird Ärzten und Ökonomen am besten gerecht. f&w 17(4): 344 –346 Schmidt KJ, Heuser U (1994) Weiterentwicklung der Fallpauschalen zu Patientenbehandlungsleitlinien. Führen Wirtsch 3: 173–177 SGB V. Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V) vom 20.12 1988. BGBl I, S 2477, in der Fassung vom 17.7.2003 Verordnung zur Regelung von Krankenhauspflegesätzen (Bundespflegesatzverordnung – BPflV) vom 26.09.1994. BGBl I, S. 2750, in der Fassung vom 23.12.2002 (BPflV 95) sowie in der Fassung vom 17.7.2003 (BPflV 2004) Verordnung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser (KFPV) vom 19.9.2002. BGBl I, S. 1412
9
10 Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses B. H. Mühlbauer 10.1
Einleitung
– 269
10.2
Zur Lokalisierung des Ausgangspunktes – 270
10.3
Krankenhausmanagement nach Hentze – 270
10.5
Konsequenzen aus der Diskussion des situativen Managementansatzes im Krankenhaus – 285 Wissens- und Transferfragen
10.4
Transformation des Hentze-Ansatzes auf die heutige Managementdiskussion im Krankenhaus – 277
10.1
Einleitung
Dieser Beitrag geht zunächst davon aus, dass Krankenhäuser Wirtschaftsbetriebe sind, die ebenfalls unter dem Prinzip des Rationalprinzips (Wirtschaftlichkeitsprinzip) in bestimmter Variante betrieben werden. Bei der Durchsicht der wesentlichen Managementliteratur zum Krankenhausbereich wurde ein Beitrag von Hentze aus dem Jahr 1984 identifiziert, der aus der Sicht des Autors eine sehr klare und anschauliche Darstellung eines heute dominanten theoretischen Denkstils über Krankenhausmanagement geliefert hat. Die wesentlichen Punkte des Beitrags von Hentze bilden damit den Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen. In der Folge werden einige aktuelle Beiträge vorwiegend
Darstellung des Situativen Managementansatzes nach Hentze
Darstellung der aktuellen Managementdefizite und Handlungsparameter nach Eichhorn/ Schmidt-Rettig
Literatur
– 288
– 288
aus der Krankenhauspraxis in das Grundgerüst von Hentze integriert und in die aktuellen Problemstellungen überführt. Gegenstand dieser Überlegungen ist dann v. a. die Frage, wie sich die Krankenhäuser auf die zukünftigen Herausforderungen des neuen DRG-Finanzierungssystems (DRG = »Diagnosis Related Groups«) vorbereiten und einstellen sollen. Daraus ergibt sich u. E. ein zutreffendes Bild sowohl der herrschenden Krankenhausbetriebswirtschaft als auch des theoretischen und praktischen Krankenhausmanagements und seiner wesentlichen Denkprinzipien, das abschließend einer Kritik unterzogen werden soll. Die Argumentation des Beitrages gliedert sich somit in die nachfolgenden Teile, die graphisch noch einmal zum besseren Verständnis dargestellt werden (⊡ Abb. 10.1).
Darstellung der managementrelevanten Grundstrukturen und -mechanismen des DRG-Systems
Identifikation einer Struktur dominater Managementstrategien und Gestaltungsaufgaben im Krankenhausbereich – Handlungsmaximen
Kritik der Struktur dominater Managementstrategien im Krankenhausbereich
⊡ Abb. 10.1. Aufbau der Argumentation zu einem Konzept dominanter Managementstrategien und Konzeptionen im Krankenhausbereich
270
Kapitel 10 · Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses
10.2
Zur Lokalisierung des Ausgangspunktes
In seiner Dissertation zitiert Kaltenbach eine Publikation von Zimmermann mit den Worten:
»
10
Das Erstellen einer Leistung im Krankenhaus bedarf, wie dies bei anderen Wirtschaftssubjekten auch der Fall ist, planvoller und damit an Zielen ausgerichteter Handlungen (Kaltenbach 1991, S. 8)«.
Organisationen, z. B. Krankenhäuser, werden gegründet, um bestimmte Zwecke zu erfüllen und Ziele zu erreichen. Manager, insbesondere TopManager (Geschäftsführer, Vorstandsmitglieder) verstehen sich als autorisierte und unternehmerisch tätige Personen (»agents«), die Ziele und Zwecke der Organisation bzw. der Eigentümer, Gesellschafter (»principals«) verwirklichen sollen. Ausgehend von diesen Überlegungen müsste eigentlich über die Verschiedenheit der Krankenhäuser, ihre Ziele und den Prozess der Zielbildung, ihre Führung als Institution (Management) und als Tätigkeit (managen) zu sprechen sein. Als junge Disziplin verfügt die Managementlehre kaum über ein eigenständiges Lehrgebäude, das ausschließlich dem Bereich der Krankenhauswirtschaft zugeschrieben werden kann. Vielmehr präsentiert sich die Lehre über das Management von Krankenhäusern als eine Art Puzzle aus Versatzstücken verschiedener Denkrichtungen und -traditionen, die ihren Ursprung sowohl in der allgemeinen Managementlehre industrieller Prägung als auch in anderen eher produktions- und damit betriebswirtschaftlichen und v. a. volkswirtschaftlichen Konzeptionen haben. Neben diesen wissenschaftlichen Perspektiven gewinnen mehr und mehr Überlegungen aus Medizin, Technik und Pflege mit dem Zusatz »Management« für die Krankenhauswirtschaft an Bedeutung. Wissenschaftliche Hochschulen beschäftigen sich mit Medizin-, Technik- oder Pflegemanagement, deren wissenschaftliches Sammelbecken vielleicht einmal die Gesundheitswissenschaften als allgemeine Zusammenführung darstellen können. Das Verhältnis von Managementkonzeptionen und Managementpraxis ist ebenfalls mehr als undeutlich. Oftmals verstärkt sich der Eindruck, dass
viele Einzelbeobachtungen aus der vermeintlich erfolgreichen Praxis zu einer Art verallgemeinerter Managementkonzeption hochstilisiert werden, die dann als Leitidee für viele Krankenhäuser, gleich welcher Größe, Trägerschaft und Standort dienen soll. Einige Managementkonzeptionen werden durch theoretische Destillierung auf scheinbar wesentliche Aspekte aus anderen Branchen und sogar aus anderen Ländern mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund gewonnen und sollen dann auf das deutsche Krankenhausmanagement in gleicher Weise übertragen werden. > Es ist ein Kennzeichen junger Wissenschaften, die sich erst in der Entwicklung befinden, dass sich die Praxis und die in der Wissenschaftsentwicklung tätigen Wissenschaftler um eine Systematisierung ihres Gegenstandsbereiches bemühen.
Gleichzeitig verlangt die Politikberatung und Managementpraxis oft nach Hilfestellungen, Ratschlägen und Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Problemstellungen, die sie allein aus praktischer Erfahrung auf eine bessere Zukunftsgestaltung hin nicht so ohne weiteres lösen kann. Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich weder abschließend für eine Diskussion aller Denkrichtungen und Perspektiven einer sich erst entwickelnden Managementlehre noch als endgültige Feststellung über ein Wissensgebiet, das sich bis in seine Grundfesten hinein noch in Bewegung befindet. Sie sollen eher ein Beitrag für die Entwicklung systematischer Überlegungen zur Konstruktion wesentlicher Grundsachverhalte sein, der für weitere Diskussionen fruchtbar und für Studierende und andere Wissenschaftler vielleicht stimulierend sein kann, sich vertiefend und grundlegend mit diesem Gebiet auseinanderzusetzen.
10.3
Krankenhausmanagement nach Hentze
Hentze hat m. E. eine sehr genaue Charakterisierung der Funktion des Krankenhausmanagements umrissen (Hentze 1984, S. 31ff.). Sie zeigt einen Entwurf des Managementhandelns, wie er seitdem Theorie und Praxis der Krankenhausbe-
271 10.3 · Krankenhausmanagement nach Hentze
»
Wirtschaftswissenschaften
Rechtswissenschaften
KrankenhausManagementlehre
Sozialwissenschaften
Medizinwissenschaften
⊡ Abb. 10.2. Krankenhausmanagementlehre als verhaltenswissenschaftlicher Ansatz. (Aus Hentze 1984, S. 36)
triebswirtschaftslehre kennzeichnet. Wegen der
Klarheit der Darstellung sollen die wesentlichen Bausteine seines Konzeptes kurz nachgezeichnet werden (⊡ Abb. 10.2). Die Krankenhausmanagementlehre verwendet nach Hentze gleichermaßen wirtschafts-, rechts- sozial- und medizinwirtschaftliche Erkenntnisse, deren Verwendung für Forschungszwecke und -ziele sie benötige, eigenständige, teilweise übergreifende Erkenntnisse hinzufüge und in einer Art verhaltenswissenschaftlichen Ansatz integriere (vgl. Hentze 1984, S. 34). Interessanterweise zählt Hentze die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften nicht zu den Sozialwissenschaften. Hierbei sei im verhaltenswissenschaftlichen Ansatz eine Analyse des menschlichen Verhaltens im Krankenhaus ein Ausgangspunkt, in dem als Bezugspunkt der Patient eine besondere Rolle spiele (vgl. Hentze 1984, S. 34).
10.3.1 Ziele und Zwecke
Unter Berufung auf P. Eichhorn folgert Hentze aus der 1984 gültigen Krankenhausfinanzierung, der Bundespflegesatz- und Krankenhausbuchführungsverordnung sowie den Krankenhausgesetzen und -verordnungen der Länder, dass Krankenhäuser als Unternehmen zu qualifizieren sind (Hentze 1984, S. 31 unter Berufung auf Eichhorn 1979, S. 1–22). > Als auf Ziele ausgerichtete offene, soziotechnische Systeme sind bei Krankenhäusern Formal- und Sachziele zu unterscheiden.
10
Das Ziel, bestimmte Sachgüter bzw. Dienstleistungen nach Art, Menge und Zeitpunkt zu erstellen und an »Dritte« zu verwerten, wird als Sachziel des Betriebes bezeichnet (Hentze 1984, S. 31)«.
Viele Betriebswirtschaftler unterscheiden zwischen einem Zweck als der Leistung einer Organisation für die Umwelt oder die Gesellschaft, aus deren Erfüllung die Organisationen ihre gesellschaftliche Existenzberechtigung ableiten. Ziele sind von der Organisation bzw. von ihren Teilnehmern selbst formulierte Vorstellungen über erwünschte organisatorische Zustände oder Verhaltensweisen, wie z. B. Stabilität, Wachstum, Effizienz (vgl. Staehle 1999, S. 438). Durch die Erbringung des Sachziels leistet ein Krankenhaus eine Betrag zu gesellschaftlich bestimmten Aufgaben (z. B. durch einen Versorgungsauftrag), wodurch es seine Existenzberechtigung erhält und damit seinen Hauptzweck erfüllt. Nach heutiger Gesetzgebung wären die Sachziele eines Krankenhauses nach § 39 SGB V ▬ Wiederherstellung, Aufrechterhaltung und Verbesserung des Gesundheitszustandes von Individuen und ▬ Wahrung und Erhöhung der Funktionsfähigkeit und der Effektivität des Gesundheitswesens (einschließlich Aus- und Fortbildung, Forschung). Formalziele bezeichnen demgegenüber die kon-
kreten Handlungsprogramme eines Krankenhauses. Hentze stellt vor diesem Hintergrund heraus, dass Krankenhäuser nach ihrer Trägerschaft unterschiedliche Ziele verfolgen.
»
Während erwerbswirtschaftliche Privatkrankenhäuser in einem marktwirtschaftlichen System durchaus das Formalziel der Rentabilität anstreben können, ist bei öffentlichen und freigemeinnützigen Krankenhäusern vom Kostendeckungsprinzip auszugehen (Hentze 1984, S. 32)«.
> Für öffentliche und freigemeinnützige Krankenhäuser steht das Sachziel gegenüber dem Formalziel im Vordergrund; bei privaten Krankenhäusern ist dies umgekehrt (vgl. Hentze 1984, S. 32).
272
Kapitel 10 · Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses
10.3.2 Wirtschaftlichkeitsprinzip
> Ein wesentliches Leitprinzip des Managementhandelns stellt das Wirtschaftlichkeitsprinzip dar.
Das Wirtschaftlichkeitsprinzip als Inbegriff ökonomischer Rationalität wird in seiner Minimalvariante als Erreichung eines bestimmten Zweckes mit möglichst geringen Mitteln interpretiert. Dementsprechend ist über Ziele und Zwecke und in der Folge über die mögliche Erreichung des minimalen Mitteleinsatzes im Krankenhaus durch das Management vor dem Hintergrund aktueller und zukünftiger Entwicklungen zu sprechen, wie es derzeit durch die Krankenhausbetriebswirtschaftslehre dominant und insbesondere literarisch vertreten wird.
10.3.3 Krankenhausmanagement
10
Obwohl sich der Begriff des Krankenhausmanagements in den vergangenen Jahren gegenüber einem Begriff wie Betriebsführung durchgesetzt habe, müssten die Inhalte mithilfe der Begriffe Institution und Funktion später dann auch Prozess unterschiedlich abgedeckt werden (vgl. im folgenden Hentze 1984, S. 37ff.). Die Krankenhausleitung als Entscheidungsträger setze sich nach Vorgaben verschiedener Krankenhausgesetze und -verordnungen in seiner Struktur, ja sogar über den Ablauf der Willensbildungsprozesse zusammen. Grundsatzentscheidungen, sofern nicht vom Träger oder von einem Krankenhausausschuss wahrzunehmen, werden von einem Krankenhausdirektorium aus ärztlichem Leiter, einem Krankenpflegedirektor und einem Verwaltungsleiter getroffen (Hentze 1984, S. 37). Ähnliche Vorschläge zur Abgrenzung zwischen Träger- und Krankenhausmanagement sind später immer wieder, z. B. von Müller, der Fachvereinigung der Verwaltungsleiter oder zuletzt durch von Kries 2001 und Strehl 2001, unterbreitet worden (vgl. Müller 1982; Verband der Krankenhausdirektoren Deutschlands 1993; Kries 2001; Strehl 2001). Hentze zitiert dann verschiedene Aufgabenfelder dieser Berufsgruppenvertreter, verweist als einer der wenigen Vertreter der Krankenhausmanagementlehre explizit auf das ge-
setzliche Mitspracherecht (Mitbestimmung durch Personal- oder Betriebsrat) als passive Partizipation des Krankenhauspersonals, die in Krankenhauskonferenzen geschehe. Managementziel allgemein und sicher auch für Krankenhäuser ist es, möglichst alles so zu steuern, damit ein monolithisches Handlungsgefüge geschaffen wird, in dem alles transparent und erwartbar gestaltet wird (vgl. Schreyögg 1998). Ein an der Spitze gebildeter Wille soll in verschiedenen Ebenen und Stellen reibungslos zur Ausführung gebracht werden. So soll der Träger des Krankenhausmanagements Entscheidungen über Ziele und Mitteleinsatz, diese Zielentscheidungen natürlich vor den Mittelentscheidungen treffen. Hentze gesteht ein, dass sich eine Trennung von Ziel- und Mittelentscheidungen wegen der Interdependenz zwischen Zielen, Mitteln und zu nachfolgenden Entscheidungen in der Realität nicht eindeutig vornehmen lässt. Gerade die Erklärung und Gestaltung der menschlichen Entscheidungen auf allen Ebenen der betrieblichen Hierarchie und
auf allen Teilbereichen des Krankenhausbetriebes (Zentren der Willensbildung) machen den Inhalt der Krankenhausmanagementlehre aus (vgl. Hentze 1984, S. 38). Entscheidungen in dem komplexen Prozess der Willensbildung zwischen den verschiedenen Interessengruppen und den konkurrierenden Zielen sind fast immer ein Kompromiss, bei dem keiner seine vollen Vorstellungen und Wünsche durchsetzen kann (vgl. Hentze 1984: 38).
10.3.4 Management als Funktion
Im Gegensatz zum Instanzenbild eines Krankenhauses und der Bezeichnung der obersten Führungsebene als das Krankenhausmanagement im engeren Sinne, stellt der Begriff des Managements als Funktion auf alle ausführenden Gestaltungsund Steuerungsaufgaben ab (vgl. Hentze 1984, S. 33). Im Zentrum der Managementliteratur steht damit die Steuerungsfrage. Konzepte und Methoden werden benötigt, um komplexe und arbeitsteilige Krankenhäuser zur Zielerfüllung zu führen, sie also zu gestalten (vgl. Schreyögg 2000, S. 17ff.). Die wesentlichen Ansätze unterscheiden dabei fünf universelle Managementfunktionen:
10
273 10.3 · Krankenhausmanagement nach Hentze
1. 2. 3. 4. 5.
Planung, Organisation, Personaleinsatz, Führung und Kontrolle.
Die genannten Management-Funktionen stehen in einem komplementären Verhältnis zu den betrieblichen Sachfunktionen, wie z. B. Fertigung, Einkauf, Verkauf, Finanzierung.
»
Man stellt sich das Management als eine übergreifende Aktivität vor, die in alle Sachfunktionen steuernd eindringt und sie in einem komplexen Verknüpfungsgeschehen miteinander wie Kette und Schuss zu einem Ganzen verwebt (Schreyögg 2000, S. 17)«.
Der Managementprozess bildet eine systematische Abfolge von Phasen ab, die jede eine Stufe der fünf universellen Managementfunktionen umfasst. Nach der Planung, die einen geistiger Entwurf der zu erreichenden Ziele und das Programm für die zur Zielerreichung erforderlichen Maßnahmen enthält, folgt die Realisation. Die Organisation, die Personalsuche, der Personaleinsatz, die Personalpflege und die Führung als Managementfunktion sind Bestandteil der Realisation. In der Phase des Organisierens wird das Handeln der Organisationsmitglieder in die Bahnen gelenkt, die mithilfe der Planung dafür bestimmt worden sind. Das notwendige Personal bildet die Ausstattung der Organisation, das darüber hinaus gezielt einzusetzen und dessen Arbeitskraft zu erhalten ist. Führung beschreibt die Funktion, die Leistungserbringung zu veranlassen und zu überwachen. Der Prozess wird dann in die Managementfunktion »Kontrolle« überführt, die den Grad der Übereinstimmung zwischen Planung und Vollzug ermittelt. Kontrollinformationen führen dann zu einem neuen Managementprozess, wonach am Anfang wieder die Planung steht (vgl. Schreyögg 2000, S. 17f., ferner zu den verschiedenen Managementkonzeptionen Staehle 1999, S. 81ff.; ⊡ Abb. 10.3). Hentze kennzeichnet den Managementprozess als Führungsprozess, der sowohl Zielsetzungs- als auch Zielerreichungsentscheidungen beinhalte (Hentze 1984, S. 33. Eine differenziertere Abbildung des funktionsorientierten Modells des Kran-
Sachbezogene Aufgaben
Personalbezogene Aufgaben
Planung Realisation • Organisation • Personal • Führung
Kontrollinformationen
Kontrolle ⊡ Abb. 10.3. Die Phasen des klassischen Management-Handelns. (Nach Schreyögg 2000, S. 19)
kenhausmanagements findet sich bei Hentze 1984, S. 35). Als Zielerreichungsentscheidungen werden die Mittel oder Instrumente eingeschlossen, die sich auf die Erfüllung der Krankenhausaufgaben sowie auf die Erreichung der Individualziele beziehen (vgl. Hentze 1984, S. 33). Die Gestaltungsaufgabe des Managements ist neben der internen Abstimmung von Willensbildungsprozessen mehr und mehr auf die Diskontinuität und Turbulenz der Umwelt und deren Anforderungen zurückzuführen. Daraus ergeben sich die notwendige Forderung nach einer qualifizierten Planung mit einer strategischen Orientierung (vgl. Hentze 1984, S. 39). Die Gründe für
eine solche Notwendigkeit ergeben sich aber auch aus den festgelegten Zielsetzungen, die als Handlungsmaximen für das Krankenhausmanagement nicht unmittelbar anwendbar sind (vgl. Hentze 1984, S. 39). Anpassung des Managements an die gesetzlichen Umstellungen, Neuerungen und Forschungsprogramme ist die angemessene Form der Planung von Krankenhausaktivitäten, die sich auf die Planung krankenhausbetrieblicher Ziele, auf die Planung krankenhausbetrieblicher Maßnahmen zur Zielerreichung als auch auf die Potenziale beziehen (vgl. Hentze 1984, S. 40).
10.3.5 Planung durch das Krankenhaus-
management Im Rückgriff auf die Krankenhaus(bedarfs-)planung verstanden als nicht einseitiger und nichtschematischer Prozess des Gesetzes- und Verordnungs-
274
Kapitel 10 · Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses
gebers (Landesregierung), sondern als Gegenstromoder Dialog- und Aushandlungsprozess zwischen den Beteiligten (Landesregierung, Krankenkassen und Krankenhausträger), wird eine politische Planung konstruiert, die v. a. »… jene schlecht strukturierten innovativen Entscheidungen, für die es keine verbindlichen Wertprämissen gibt, in den Planungsprozess einbringt« (Hentze 1984, S. 41). Strategische Planung ist eine »Krankenhausentwicklungs- und Innovationsplanung« (Hentze 1984, S. 43). Operative Pläne bestehen in einem ▬ Krankenhauserfolgsplan, ▬ Krankenhausvermögensplan und ▬ fünfjährigen Krankenhaus-Finanzplan. Die taktische Planung versteht sich als Realisierung von Teilaufgaben durch Mittelsteuerung und -überwachung, damit Leistungen termingerecht und möglichst wirtschaftlich erstellt wird (vgl. Hentze 1984, S. 43f.).
10
10.3.6 Organisation durch das
Krankenhausmanagement Die Ziele und Zwecke des Krankenhausträgers bzw. des Managements müssen in der Gebilde(Aufbauorganisation) und in der Prozessstruktur (Ablauforganisation) dargestellt werden. Dabei bedient sich das Krankenhausmanagement der Funktion »Organisation«.
»
Organisation ist eine weitere Managementfunktion, in deren Mittelpunkt diejenigen Bestrebungen stehen, bei denen die krankenhausbetrieblichen Geschehnisse mittels genereller, allgemeiner Gültigkeit besitzende Regelungen in eine Ordnung gebracht werden sollen. Diese Regelungen oder Strukturierungen betreffen alle im Krankenhaus anfallenden Aufgaben und Arbeitsabläufe, mit denen die Schaffung bzw. Erhaltung einer gewollten Ordnung (Soll-Struktur) angestrebt wird (Hentze 1984, S. 44)«.
▬ Leitungshilfsstellen, ▬ Abteilung und Abteilungsbildung und ▬ Verkehrswege (vgl. Hentze 1984, S. 45). Instrumentalvariablen (Strukturierungsprinzipi-
en), also die eigentlichen Mittel, die eine Gestaltung der Gebilde und Prozessstruktur ermöglichen und die eine Krankenhausleitung relativ autonom variieren kann, sind ▬ Zentralisierung/Dezentralisierung, ▬ Spezialisierung, ▬ Koordination, ▬ Konfiguration, ▬ Formalisierung und ▬ Flexibilität (vgl. Hentze 1984, S. 45f.). Mithilfe der Organisation, insbesondere wohl durch die zuletzt genannten Strukturierungsprinzipien oder Instrumentalvariablen wird das Verhalten des Krankenhauspersonals als Verhaltenserwartungen so strukturiert und koordiniert, dass die in der Planung konkretisierten Ziele und Maßnahmen realisiert werden können. Ein bewusster Gestaltungsakt, eine unpersönliche und schriftliche Fixierung formaler Regelung reicht dafür aus, die Struktur des Kranken-
hauses und die Arbeitsabläufe festzulegen (vgl. Hentze 1984, S. 44). Die Zerlegung der Aufgaben in Teilaufgaben und auf Aufgabenträger (Differenzierung) sowie die Koordination der aufeinander dann wieder abzustimmenden Teilaufgaben, um sie zu einer Gesamtleistung zusammenzusetzen (Koordination), sind als sich gegenseitig bedingende und gleichgewichtig anzustrebende Funktionen des Managements zu gestalten. Ablaufregelungen und Funktionsverknüpfungen zeitlich-rhythmischer Art, hierarchische Verknüpfungen in Form von Leistungsregelungen, Koordinationsregelungen, Aufsichts- und Kontrollregelungen, Führungsprinzipien, Verhaltensregeln und Managementkonzepte sowie Informations- und Kommunikationsregelungen sind nach Hentze deshalb zu erlassen (vgl. Hentze 1984, S. 46; ⊡ Abb. 10.4).
Formale Elemente einer Organisation sind nach
Hentze ▬ Aufgaben und Aufgabenträger, ▬ Stelle und Stellenbildung, ▬ Kompetenz und Instanzenbild,
> Die Effizienz oder Leistungsfähigkeit der Organisation hängt wesentlich von der vorhandenen Organisationsstruktur ab (Hentze 1984, S. 45).
10
275 10.3 · Krankenhausmanagement nach Hentze
Leistungsziel
Zielanalyse (als Kern organisatorischer Systemanalyse)
Zweck
Verrichtung
Objekt
Gesundheitsförderung
Versorgung (mittelbare Ziele)
Versorgung (unmittelbare Ziele)
Prävention
Therapie
Rehabilitation
Ambulante Krankenversorgung
Stationäre Krankenversorgung
Leitung
Ausführung
Intensiv-
Rang
Ärztliche Leitung
PflegedienstLeitung
Normal-
Arztdienst
Langzeit-
MinimalBehandlung
Pflegedienst
Systemgestaltung (Ausschnitt aus Leistungssystem)
Obere Leitung
Mittlere Leitung
Operative Leitung
Ausführung
Messdatenermittlung
Ve rordnungsvollzug
Körperpflege
Bettenmachen
Speisenverteilung
Kontrolle
Phase
Planung
usw.
Krankenpflegedirektion
Abteilungsschwester (Abt. 1)
Stationsschwester (Stat. 1A)
Abteilungsschwester (Abt. 2)
Stationsschwester (Stat. 1B)
Stationsschwester (S tat. 1C)
Krankenschwestern, Krankenpfleger, Hilfspersonal und SchülerInnen
⊡ Abb. 10.4. Zusammenhang zwischen gesellschaftspolitischer Zwecksetzung, krankenhausspezifischer Zielanalyse
und krankenhausspezifischer System- und Organisationsgestaltung. (Nach von Eiff 1985, S. 89)
276
Kapitel 10 · Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses
Gern wird im Gesundheitswesen ein Zusammenhang zwischen der gesellschaftspolitischer Zwecksetzung, krankenhausspezifischer Zielanalyse und krankenhausspezifischer System- und Organisationsgestaltung gedacht, wie es z. B. von Eiff in der ⊡ Abb. 10.4 dargestellt hat, womit gleichzeitig zentrale Gedanken des bisher Gesagten zusammengefasst werden können. Neben der formal-instrumentellen Darstellung der Krankenhausorganisation darf allerdings der dynamische Aspekt der Organisation als Prozess
10
und als »logisch konsequent aufeinander folgende Aktivitäten zur Zielerfüllung und die Tätigkeit des Organisierens in den Mittelpunkt der Betrachtungen« (Hentze 1984, S. 46) nicht fehlen. Diesen Prozess des Organisierens sollen sich die Leser wie eine Stufen- und Prozessabfolge vorstellen, die aus einer ▬ Organisationsplanung, ▬ Organisationsgestaltung, ▬ Organisationsrealisierung, ▬ Organisationsimplementierung und ▬ Organisationskontrolle bestünde. Die miteinander korrespondierenden und sich gegenseitig determinierenden Phasen des Organisationsprozesses werden durch die Organisationskontrollen als Feedback-Funktion abgerundet (vgl. Hentze 1984, S. 46). Abweichungen zwischen den einmal gefundenen Organisationsstrukturen, den internen Organisationsbedingungen und den sich permanent wandelnden Umsystemen (Umwelt) eines Krankenhauses verlangen nach einer dauernden Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie die Steigerung der Flexibilität und Veränderbarkeit der Organisation, was durch Bemühungen zur Organisationsentwicklung und zunächst durch die Veränderung formal-struktureller Bedingungen erreicht werden soll (vgl. Hentze 1984, S. 47). Die Einstellungen und Verhaltensweisen der Organisationsmitglieder werden aber auch berücksichtigt (vgl. Hentze 1984, S. 47f. unter Bezug auf Gebert).
10.3.7 Personalführung als Management-
funktion Hentze konstatiert, dass Organisation und Personalführung eng zusammenhängen. Die gegensei-
tige Beeinflussung und deren Konsistenz untereinander ergibt sich durch die in der Organisation verfestigten Regeln zur Aufgabenerfüllung, die durch Führung als Verhaltensbeeinflussung zur Zielerreichung auszufüllen sind. Eine situationsspezifische Festlegung der gegenseitigen Verhaltenserwartungen erfolgt durch Kommunikation und Interaktion zwischen Führer und Geführten. Durch Führungsverhalten beeinflussen die einzelnen Vorgesetzten die Einstellung, Motivation und das Mitarbeiterverhalten letztlich zielführend. Das Führungsproblem stellt sich damit in zweifacher Hinsicht: Einerseits als Frage, wie der Vorgesetzte das Verhalten seiner Untergebenen beeinflussen kann und andererseits, welche Maßnahmen im Rahmen der Gesamtorganisation getroffen werden können, um das Verhalten der Mitarbeiter und ihrer jeweils Vorgesetzten auf die Erreichung der Krankenhausziele auszurichten (vgl. Hentze 1984, S. 49). Das zweite Problem wird eher der Organisation und ihren Möglichkeiten zugeordnet, das Verhalten der Mitarbeiter zu strukturieren. Die erste Fragestellung ist im Wesentlichen als Frage des richtigen Führungsstils, also als eine Art situationsunabhängiges Verhaltensmuster mit einheitlicher methodischer Grundhaltung oder auch als situationsspezifisches Führungsverhalten des Vorgesetzen zu behandeln. Die Wahl des Führungsstils hängt von verschiedenen Variablen ab, die sich als Persönlichkeiten der Führer und der Mitarbeiter, die Struktur und Funktion der Gruppe als Ganzes sowie die spezielle Situation der Gruppe, verstanden als Aufgabenstruktur, Ziele usw. verstehen. Eine heterogene Aufgabenstruktur eines Krankenhauses bedingt dabei einen unterschiedlich praktizierten Führungsstil, wobei die Effektivität der Maßstab für das Ausmaß der Zielerreichung (Aufgabenerfüllung) ist (vgl. Hentze 1984, S. 49). Die Effektivität (Leistungswirksamkeit) kann allerdings auf Dauer nur erhalten bleiben, wenn die menschliche Arbeitskraft ebenfalls erhalten, stimuliert und ihre laufende Ergänzung durch entsprechende Regelungen durch das Krankenhaus sichergestellt werden kann. Die Zufriedenheit der Mitarbeiter mit ihrer Organisation und der Personalführung durch ihre Vorgesetzten ist dafür eine wesentliche Voraussetzung. Neben der eben genannten Aufgabenerfül-
277 10.4 · Transformation des Hentze-Ansatzes auf die heutige Managementdiskussion
lung ist als Effizienzkriterium für die Organisation und Führung das Kriterium der Mitarbeiterziele (Mitarbeiterbedürfnisse) heranzuziehen, deren Erfüllung wiederum vom Leistungsverhalten und der Arbeitszufriedenheit abhängt (vgl. Hentze 1984, S. 50). Das richtige und situationsspezifische Verhältnis von Aufgabenzielen und Mitarbeiterzielen stelle damit das eigentliche Grundproblem für den einzelnen Vorgesetzen dar, für das es kein Patentrezept gibt (vgl. Hentze 1984, S. 50).
»
10
Sie stellen das organisatorische Gefüge dar und abstrahieren weitestgehend von den Organisationsmitgliedern (Leitern und Mitarbeitern) und den Organisationsteilnehmern (z. B. Patienten) als den von Organisationsstruktur und -ablauf direkt Betroffenen. Personenbezogene bzw. humane Überlegungen spielen bei der Gestaltung einer Organisation eine (wenn überhaupt) untergeordnete Rolle. Denn Organisationen sind vom Menschen geschaffene teleologische, künstliche Systeme (Hentze
1984, S. 46/47)«. 10.3.8 Controlling als Management-
funktion 10.3.9 Die Kultivierung des zentralen
Die letzte Führungsfunktion, die aus dem Konzept von Hentze vorgestellt werden soll, ist das Controlling (⊡ Abb. 10.5). Controlling erschöpft sich nicht nur in einem Soll-Ist-Vergleich, sondern beinhaltet auch eine Abweichungsanalyse sowie die Einleitung von Korrekturmaßnahmen, dass damit auf dem Prinzip der Rückkopplung i. S. d. Regelung und i. S. d. Steuerung als Vorwärtskopplung besteht (vgl. Hentze 1984, S. 50f.). Störungsprognosen auf der Basis beobachteter Inputveränderungen führen zu Abwehrmaßnahmen und lassen bereits vor dem Eintritt von Störungseinflüssen mögliche Wirkungen erkennen, erfassen und kompensieren. Eine enge Beziehung zwischen Planung und Controlling ist hier bereits erkennbar. Die Zielplanung führt zur Abweichungsanalyse und zur Einleitung von Gegenmaßnahmen, wobei nicht nur operative sondern auch strategische Informationen, die über das Controlling zu beschaffen sind, in diese Gestaltungsfunktion einfließen sollen. In dem oben dargestellten System dominieren die klassischen Controlling-Instrumente aus dem Finanzbereich, müssen aber durch andere Kennzahlen und Informationsinstrumente aus der Patientenbehandlung, Aus- und Fortbildung, Beschaffung und Lagerhaltung, technische Verund Entsorgung sowie der Personalwirtschaft noch ergänzt werden (Hentze 1984, S. 52 unter Berufung auf Miller). Letztlich bestimmen nach Hentze die sachorganisatorischen bzw. strukturellen Bedingungen einer Organisation das äußere Erscheinungsbild einer Unternehmung.
Managementansatzes Wenn man die zentralen Managementüberlegungen von Hentze weiter verfolgt, so wurden sie in den folgenden Jahren weiter verfeinert. Diese Verfeinerung darf nicht als bewusster Gestaltungsakt vor dem Hintergrund der Ausführungen von Hentze verstanden werden. Der Ansatz von Hentze wurde hier wegen seiner Klarheit und Transparenz eingeführt, um die wesentlichen Handlungsparameter krankenhausökonomischer Managementkonzepte zu verdeutlichen. Andere Autoren greifen diesen Ansatz nicht bewusst sondern eher implizit auf, weil in dieser Vorstellung eine dominante Sichtweise der Managementfunktionen aufscheint, die es situativ anzupassen, zu ergänzen oder auch zu kultivieren gilt. Diese »Kultivierung« ändert jedoch überhaupt nichts, so die hier vertretene These, an den Grundstrukturen der Überlegungen von Hentze, die praktisch überaus relevant sind.
10.4
Transformation des HentzeAnsatzes auf die heutige Managementdiskussion im Krankenhaus
Zunächst einmal können die zentralen Handlungsparameter des von Hentze als situativer Ansatz gekennzeichnete Managementmodell wie in ⊡ Abb. 10.5 graphisch veranschaulicht werden. Hentze schreibt abschließend dazu selbst:
278
»
10
Kapitel 10 · Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses
Ein auf diesem Modell aufbauendes Krankenhausleitungs-Konzept kann nur ein situatives Konzept sein. Das Ziel beim situativen Denken besteht darin, situativ relativ (begrenzt gültige) Aussagen zu gewinnen in der Form: Wenn die Situation X bzw. Y gegeben ist, dann ist die Maßnahme A bzw. B am geeignetsten, das Ziel zu erreichen. Das situative Denken ist nicht nur für die Theorie, sondern auch für die Praxis grundlegend (Hentze 1984, S. 53)«.
Wird der Ansatz von Hentze im Folgenden auf die heutigen Diskussionsstränge krankenhausrelevanter Managementüberlegungen transformiert, so muss auf die inzwischen eingetretene Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen eingegangen werden. Dazu zählt insbesondere das DRGFinanzierungssystem, das zwischen den Jahren 2003 und 2007 in Deutschland eingeführt wird (⊡ Abb. 10.6). Im Sinne Hentzes würde es sich hier um sog. situative Faktoren handeln, die zu entsprechenden Anpassungen in der Krankenhausstruktur sowie daraus folgend in den verschiedenen Handlungsparametern des Krankenhausmanagements führen müsste. Deshalb wird zunächst eine Situationsanalyse des Krankenhausmanagements vorge-
Ex-postKontrolle Finanzbuchhaltung
nommen, wie sie Eichhorn u. Schmidt-Rettig vorgelegt haben (Eichhorn u. Schmidt-Rettig 2001). Die Situationsanalyse zeigt einerseits, wie vielfältig die Einflussfaktoren auf die Gestaltungsaufgaben des Krankenhausmanagements sein können. Dadurch wird deutlich, welche Faktoren bei der Gestaltung zu berücksichtigen wären. Andererseits wird durch die kurze Darstellung der prinzipiellen Mechanismen des DRG-Systems aufgezeigt, worauf sich trotz wissenschaftlich inzwischen breit aufgefächerter Einflussfaktoren die Aufgabenstellungen des Krankenhausmanagements letztlich reduzieren und die Denkstruktur von Hentzes Managementkonzeption noch weiter zuspitzt: > Die kostengünstige Produktion von kurativen Krankenhausleistungen.
10.4.1 Der Zustand des Krankenhaus-
managements nach Eichhorn u. Schmidt-Rettig Nach Eichhorn u. Schmidt-Rettig ergibt sich u. a. vor dem Hintergrund der zukünftigen DRG-Einführung und unter Vernachlässigung anderer, von anderen Autoren lediglich benannter, Einflussfak-
Taktisches Controlling
Operatives Controlling
Strategisches Controlling
Jahresplanung
Mittelfristplanung (bis 5 Jahre)
Strategische Planung (bis 12 Jahre)
Heute ⊡ Abb. 10.5. Zusammenhang zwischen taktischem, operativem und strategischem Controlling. (Aus Hentze 1984, S. 52)
Effizienz (wenn fit) ⊡ Abb. 10.6. Deterministischer, quasi-mechanistischer situativer Managementansatz (Staehle 1999, S. 51)
Situation Kontext
Organisationsstruktur
Verhalten der Organisationsmitglieder
279 10.4 · Transformation des Hentze-Ansatzes auf die heutige Managementdiskussion
▬ bereichbezogen-berufsständische Leitungsorganisation, verbunden mit einer vertikal versäulten Organisationsstruktur mit der Folge, dass es an der notwendigen Koordination der Leistungsbereiche Diagnostik und Therapie, Pflege und Versorgung fehlt[,] ▬ fehlende Integration des klinisch eigenständigen Arztdienstes in die Gesamtorganisation des Krankenhauses[,] ▬ mangelnde Beachtung der ökonomischen Zielvorgaben im Bereich des ärztlichen und pflegerischen Dienstes[,] ▬ Fehlen einer entscheidungsorientierten Berichterstattung und Information[,] ▬ unzureichende Qualifizierung des Führungsprozesses [und] ▬ unzureichende Managementausbildung der Führungskräfte auf allen Managementebenen (Eichhorn u. Schmidt-Rettig 2001, S. 4).
toren (z. B. Integration, Vernetzung, Globalisierung), das z. B. im folgenden entworfene Bild (vgl. zum folgenden Eichhorn u. Schmidt-Rettig 2001). Die Ausgangssituation vieler Krankenhäuser stellt sich
»
… unter anderem wie folgt dar: erweiterte Aufgabenstellung des Krankenhauses mit der Einführung der vor- und nachstationären Behandlung sowie der stationsersetzenden Leistung einschließlich des ambulanten Operierens[,] Vorrang integrierter Versorgungsformen vor der vollstationären Krankenhausversorgung sowie Einführung eines durchgängig pauschalierenden Fallpauschalsystems auf der Basis von DRGs ab dem Jahr 2003 (Eichhorn u. SchmidtRettig 2001, S. 3)«.
Dem Krankenhausmanagement werden sowohl unter strukturellen als auch prozessualen Gesichtspunkten erhebliche Managementdefizite nachgesagt, die insbesondere vor dem Hintergrund der DRG-Einführung auszuräumen sind.
»
Die wichtigsten Defizite des gegenwärtigen Krankenhausmanagements lassen sich dabei wie folgt definieren: ▬ Überbetonung des Verwaltungshandelns auf Seiten des Krankenhausträgers und Vernachlässigung seiner krankenhausspezifischen Managementaufgaben[,] ▬ unzureichendes Verständnis der Mitglieder der Trägerorgane für Managementaufgaben[,] ▬ Versäumnis des Krankenhausträgers, die trägerspezifischen Werte und Ziele des Krankenhauses zu verdeutlichen und Sorge dafür zu tragen, dass diese in den Leitbildern und Führungsrichtlinien des Krankenhauses ihren Niederschlag finden und bei der Gestaltung und Durchführung des Führungsprozesses berücksichtigt werden, ▬ falsche und/oder mangelnde Abgrenzung der Managementkompetenzen zwischen Krankenhausträger und Krankenhausleitung – unangemessene Entscheidungs- und Handlungsautonomie der Krankenhausleitung[,]
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Die neuen externen (situativen) Anforderungen, die u. a. mit der sicheren Reduzierung der stationären Versorgungsmöglichkeiten zugunsten der ambulanten Versorgung mit der Folge einhergehen, dass bereits heute ein regionaler Preis- und Qualitätswettbewerb die Position des einzelnen Krankenhauses im Krankenhausmarkt bestimmen, müssen nun sukzessive mit der Beseitigung der (situativen) Managementdefizite durch das Krankenhausmanagement bewältigt werden (vgl. hierzu auch Eichhorn 2001, S. 52f.).
»
Der sich daraus ergebenden Herausforderung kann das Krankenhaus nur dann entsprechen, wenn das bisher mehr reaktive Verwaltungshandeln durch ein proaktives Management abgelöst wird und zwar unter gleichzeitiger Anpassung und Reorganisation von Struktur und Organisation des Krankenhausmanagements auf Ebene des Krankenhausträgers und der Krankenhausleitung (Eichhorn u. Schmidt-Rettig 2001, S. 3).
Der als Paradigmenwechsel gekennzeichnete Anpassungsprozess kann sich damit auf drei wesentliche Bausteine konzentrieren:
»
1. Veränderungen von Rahmenbedingungen und Paradigmenwechsel von Managementaufgaben (und daraus abgeleitet:)
280
Kapitel 10 · Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses
2. notwendiger Strukturwandel der Leitungsorganisation (und daraus abgeleitet:) 3. Anforderungen an die Managementqualifikation und Managementausbildung (Eichhorn u. Schmidt-Rettig 2001, S. 9).
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Unschwer können die Gestaltungsvorschläge in die einzelnen Kästchen der ⊡ Abb. 10.5 und damit in die von Hentze bereits 1984 für die Krankenhausbetriebswirtschaftslehre grundgelegte Managementkonzeption eingepasst werden: ▬ Definition und Gestaltung strategischer, operativer und dispositiver Managementaufgaben, ▬ Gestaltung der Leitungsorganisation sachlich und formell über die Unternehmensphilosophie, die Unternehmenskultur, die Unternehmensverfassung, die Unternehmensorganisation und die Unternehmenspolitik sowie die Persönlichkeitsmerkmale der Führungskräfte und die Determinanten der Leistungsstruktur, ▬ Gestaltung der Rechtsform, ▬ Abgrenzung der Managementaufgaben zwischen Krankenhausträger und Krankenhausleitung als eine Frage der Zentralisierung und Dezentralisierung, ▬ Direktorial- und Kollegialprinzip bei pluraler Leitungsstruktur sowie ▬ eines ziel- und ergebnisorientierten Konzeptes sog. Leistungszentren durch Ablösung der funktionalen Arbeitsgliederung durch objekt-/ produktorientierte Divisionalisierung der Krankenhausabteilungen und -bereiche, für die verschiedene Varianten diskutiert werden (vgl. Eichhorn u. Schmidt-Rettig 2001, S. 18–46).
Veränderung der Aufbauorganisation Anforderungen des DRG-Systems Veränderung der Prozessorganisation
Anlass, Reiz, Motiv, Herausforderung
Bei näherer Betrachtung konzentrieren sich die Empfehlungen verschiedener Autoren im zitierten Sammelband von Eichhorn u. Schmidt-Rettig dann auf organisationsstrukturelle Konzepte vor dem Hintergrund unterschiedlicher Krankenhausgrößen, Trägerschaften und Rechtsformen (vgl. Eichhorn u. Schmidt-Rettig 2001, S. 63ff.). Diese Wendung kann i. S. d. situativen Ansatzes nur so interpretiert werden, dass bei allen zuvor aufgezählten Einflussfaktoren v. a. die Gestaltung der Managementstruktur von Krankenhäusern eine wesentliche Bedingung für ihre Effizienz dar-
stellen. An anderer Stelle hatten Eichhorn u. SchmidtRettig bereits ihre Vorstellungen über die Ausgestaltung einer Krankenhausorganisation durch das sog. Profitcenter-Konzept und eine verstärkte Prozessorientierung vorgelegt (vgl. Eichhorn u. Schmidt-Rettig 1999). Gerade in der von Eichhorn selbst gegebenen Einführung zeigt sich nochmals das von Hentze treffend dargestellte Managementprogramm: > Gestaltung der Aufbau- und Ablauforganisation über eine objekt-/produktorientierte Divisionalisierung, Dezentralisierung und Zentralisierung von Aufgaben, Diskussion und Lösung auftretender Koordinationsprobleme durch entsprechende Instrumente (Pläne und Budgets, Koordinierungsinstanzen, koordinierte Programme, Verrechnungspreise und Controlling), Gestaltung einer prozessorientierten Ablauforganisation (Eichhorn 1999, S 1–13).
Verhaltensbeeinflussung v.a. durch • Erfolgsbeteiligung • Information • Führung • Strategie
Handlungsparameter, Instrumente, Mittel, Reaktion
⊡ Abb. 10.7. Vereinfachtes Schema der Handlungsparameter des Krankenhausmanagements
Effizienz
Zweck, Ergebnis, Wirkung
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281 10.4 · Transformation des Hentze-Ansatzes auf die heutige Managementdiskussion
Das effizienzorientierte Verhalten insbesondere der leitenden ärztlichen Mitarbeiter soll letztlich durch eine Erfolgsbeteiligung durch leistungsabhängige Chefarztverträge gesichert werden (vgl. Wagner 1999; Bohle 1999, 2001; Kuck 1999). In Ergänzung und Konzentration der ⊡ Abb. 10.7 könnte v. a. unter dem Eindruck, dass von den vielen Einflussfaktoren auf das zukünftige Krankenhausmanagement, die von Eichhorn et al. genannt worden sind, alle in die Gestaltung der finanzwirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch DRG eingehen und v. a. eine einfache und finanzwirtschaftlich geprägte Argumentationsstruktur ausgemacht werden kann (vgl. ⊡ Abb. 10.7).
wird nun der zentrale Gedanke aus der obigen Abbildung noch einmal aufgegriffen und spezifiziert. Es zeigt sich letztlich, dass ein als situatives Krankenhausmanagementkonzept gestartetes System letztlich zu einem produktionswirtschaftlichen Ansatz notwendig degeneriert. Grundzüge des DRG-Systems Während Krankenhäuser bisher ein leistungsbezogenes Budget zu erfüllen hatten, das zum größten Teil aus der Erreichung von Fallzahlen und Berechnungstagen bestand, wird im Unterschied dazu das zu behandelnde Krankheitsartenspektrum vollständig transparent. Wegen der wichtigen Anstöße zur Rationalisierungsdiskussion soll das neue Finanzierungssystem hier kurz vorgestellt werden (vgl. Kap. 9 sowie zur ausführlichen Diskussion des Systems und seiner Auswirkungen auf das Krankenhaus Mühlbauer et al. 2002a).
10.4.2 DRG und strategisches
Krankenhausmanagement Gerade vor dem Hintergrund eines Krankenhausfinanzierungssystems, das aus Fallpauschalen für definierte Krankheitsartengruppen (DRG) besteht,
Ebene des Patientenklassifizierungssystems (Medizinische Sicht)
DRGFallpauschalensystem
> Das DRG-System stellt zunächst ein Patientenklassifikationssystem dar.
Diagnosenklassifikation ICD-Verschlüsselung
Prozedurenklassifikation OPS 301 SGB V Weitere Merkmale
Hauptdiagnose
Nebendiagnose
Haupteingriff
Nebeneingriff
DRG-Fallgruppen (ca. 800)
Vergütungsmodell für Krankenhausleistungen Ebene des Patientenvergütungssystems (Ökonomische Sicht)
Preissystem
Konstruktionsprinzipien der Fallgruppen
Kalkulationsmethoden
⊡ Abb. 10.8. Das DRG-System als Klassifizierungs- und Vergütungssystem. (Nach Robbers 2000, S. 6)
282
10
Kapitel 10 · Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses
Mithilfe von eindeutig festzustellenden Patientenund Krankheitsmerkmalen wird ein Patient in eine Liste mit Krankheitsarten und -schweregraden kategorisiert. Jede Krankheit bzw. Krankheitsartengruppe wird mithilfe eines Relativgewichtes qualitativ bewertet. Eine quantitative Bewertung in Geld erfolgt durch eine »base-rate«, die einen Euro-Betrag für eine Krankheitsartengruppe mit dem Relativgewicht 1 politisch festlegt (Beispiel: »Base-rate« von Euro 2.000,–). Über das Relativgewicht jeder anderen Krankheit kann also per Multiplikation mit der »base-rate« der Preis jedes Patienten ermittelt werden. Diese Preise stellen ein administriertes Festpreissystem dar, wobei die Patientenbehandlung zu diesen Preisen unabhängig von der konkreten Verweildauer erbracht werden soll. Wenn ein Patient mit einer so bestimmten DRG kürzer im Krankenhaus verweilt, wird er prinzipiell mit dem gleichen Preis (Erlös) durch die Kostenträger vergütet, wie ein Patient, der mit gleicher DRG seinen Aufenthalt länger im Krankenhaus verbringt (vgl. ⊡ Abb. 10.8). > Der wesentliche Anreiz besteht also in der Reduzierung der Krankenhausvergütung durch Festpreise bei Reduzierung der Verweildauer auf ein medizinisch minimal vertretbares Maß.
Die Besonderheit dieses Pflegesatzsystems besteht ferner darin, dass sich das Produktionsvolumen in Form der Summe aller Relativgewichte der Patienten ermitteln lässt. Diese Schlüsselgröße wird »case-mix« genannt. Der »case-mix« zeigt damit die Summe aller Schweregrade der Patienten, sodass das tatsächlich behandelte Leistungsvolumen genau ausgedrückt werden kann. Nicht die Effektivität der Patientenbehandlung sondern die produzierte und genau ex post analysierbare Produktionsmenge und -qualität, ausgedrückt in den klassifizierten DRG-Kategorien und -Relativgewichten, kann nun erstmals abgebildet werden. Außerdem kann durch die Division des »casemix« mit der gesamten Fallzahl der sog. Casemix-Index ermittelt werden. Der Case-mix-Index gibt den durchschnittlichen Schweregrad aller Patienten an. Diese wenigen Schlüsselgrößen lassen nun einen Zeit- und Betriebsvergleich aller
Krankenhäuser und selbst der Fachabteilungen untereinander zu. Im Unterschied zum früheren Budgetsystem, wo keinerlei Informationen über die tatsächliche Leistungsintensität der Patienten vorlag, stellt dies eine wesentliche Verbes-
serung des Informationssystems und eine größere Transparenz des Krankenhausgeschehens dar. Für das Krankenhausmanagement ist nicht nur entscheidend, wie hoch die »base-rate« politisch zwischen den Krankenkassen und den Vertretern der Krankenhäuser festgelegt wird. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass den Krankenhäusern zugemutet wird, a priori die Zahl der zu behandelnden Patienten (DRG) zu bestimmen. Für Mehr- oder Minderleistungen sind Ausgleichsmechanismen bestimmt worden. Der Gesetzgeber plant jedoch, eine Mengenbegrenzung in anderer Form durchzusetzen. Es sollen Mindestleistungszahlen für einzelne DRG vereinbart werden, sodass letztlich die Zahl der behandelbaren Patienten entlang unterschiedlicher Krankenhaus- und Abteilungsgrößen festzulegen ist. > Konkret bedeutet diese Regelung, dass kleinere Krankenhäuser mit geringerem Patientenaufkommen bestimmte Leistungen nicht mehr erbringen dürfen, da sie die geplante Leistungszahl nicht erreichen werden.
Der Gesetzgeber sieht darin eine Qualitätsverbesserung für die Patientenversorgung, da eine größere Zahl von Leistungen, die durch ein Krankenhaus erbracht wird, zu einer größeren Sicherheit der Patienten beitragen kann, da die Ärzte eine entsprechende Routine in der Leistungserbringung nachweisen können. Durch die Wahl der Größe der Fachabteilung, das festzulegende Leistungsspektrum und damit die quantitative und qualitative Bestimmung des Leistungsvolumens über Krankheitsarten, Patientenstrukturen und Vergütungen wird im Wesentlichen das Erlösbudget eines Krankenhauses für eine Periode bestimmt. Der finanzwirtschaftliche Kerngedanke wird literarisch nun auf das Ziel der möglichst konkreten Leistungserbringung so vorgegebener Leistungsgrößen zugespitzt. Andere Einflussfaktoren auf diese Leistungserbringung,
10
283 10.4 · Transformation des Hentze-Ansatzes auf die heutige Managementdiskussion
Kostenseite Sachkosten pro Fall
Kosten pro Zeiteinheit
Erlösseite Zeit pro Fall
„base rate”
Variable Fallkosten
Fallerlöse
DRGRelativgewicht
Fallzahl
Deckungsbeitrag
Fixkosten
Überschuss ⊡ Abb. 10.9. Quantitative Erfolgsgrößen und ihr Zusammenhang im DRG-System
wie z. B. die Rolle der Konkurrenz- oder Komplementäranbieter (z. B. niedergelassene Ärzte, andere Krankenhäuser) müssen dabei bedacht werden, weil sie die Zahl der abrechenbaren DRG-Fälle bereits bei der Aufnahme beeinflussen können. Die Ablauforganisation bekommt einen neuen Stellenwert (vgl. Mühlbauer et al. 2002b). Unter der Maßgabe der Beschleunigung der Patientenbehandlung muss die Verweildauer der aufzunehmenden Krankenhauspatienten auf ein medizinisch vertretbares Maß reduziert werden, um die positiven Differenzen zwischen externem Preis und internen Kosten so groß wie möglich werden
zu lassen (vgl. ⊡ Abb. 10.9). Die Abklärung, ob eine stationäre Behandlungsbedürftigkeit überhaupt vorliegt, soll über sog. Aufnahmestationen organisiert werden. Bereits vor der Aufnahme in ein Krankenhaus muss die stationäre Behandlungsbedürftigkeit (potenzielle Fehlbelegung, vorstationäre und ambulante
Versorgungsmöglichkeit) abgeklärt werden, damit später die Krankenkassen die Fallpauschalen für behandelte Patienten tatsächlich vergüten. Fälschlicherweise aufgenommene und zu lange sowie zu kostenintensiv behandelte Patienten bergen das Risiko fehlender Kostendeckung und verschlechtern mindestens die Erlössituation eines Krankenhauses, weil die Krankenkassen die Zahlung der Fallpauschale verweigern. Als Folge ergeben sich hieraus die weiteren Forderungen nach einer transparenten Kosten- und Leistungsdarstellung auf der Basis von DRG bzw. Patienten, einem umfassenden technisch-gestützten und strategisch ausgerichteten Managementinformationssystem sowie einer effizienten Aufbau- und Ablauforganisation. Eine »schlankere« Aufbauorganisation wird vorrangig durch eine unimodale Führungsstruktur mit einem ökonomischen Geschäftsführer oder in größeren Krankenhäusern mit einer bimodalen Führungsstruktur aus ärztlichem und
284
10
Kapitel 10 · Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses
ökonomischen Geschäftsführer angestrebt. Der Zuschnitt des DRG-Systems auf ärztliche Entscheidungstatbestände (zentrale Aufnahme-, Diagnose-, Therapie- und Entlassungsentscheidung) veranlasst Krankenhäuser zur Verstärkung ihrer medizinischen Leitungskompetenz. Pflegedienstleitungen werden zukünftig stärker als Mitglieder einer erweiterten Betriebsleitung oder einer Krankenhauskonferenz beteiligt, möglicherweise neben oder unter den Chefärzten und Leitern von Fachabteilungen tätig (Pflegedienstleitungen im Nebenamt). Das Interessante an dieser Entwicklung ist nun, und dies soll die These von einer dominanten Managementkonzeption stützen, dass diese Entwicklung alle Krankenhäuser, also sowohl nach Größe und Trägerschaft als auch nach Aufgabenstellung in der stationären Krankenversorgung in gleicher Weise trifft. Die volkswirtschaftliche Theorie hat dazu die notwendigen Anreizmechanismen in Form des Fallpauschalgesetzes geschaffen, in dessen Folge die Variation des Managementverhaltens innerhalb dieses Vergütungssystems nur noch ein Resultat der krankenhausspezifischen Ausgangssituation darstellt. Eine moderne Bausubstanz, kurze Wegestrecken, eine hinreichend gesicherte Vermögensstruktur zur Finanzierung von Umbaumaßnahmen, Mitarbeiter, die sich schnell und flexibel den neuen Anforderungen des Finanzierungssystems anpassen und »mitziehen« usw. stellen nur einige situative Faktoren dar, die jetzt »Erfolgsfaktoren« für die Organisationsentwicklung und letztlich für die Effizienz des Krankenhauses sind. Während der Autor in den vorhergehenden Abschnitten insbesondere die strukturellen Vorstellungen zum zukünftigen Krankenhausmanagement diskutiert hat, können jetzt die formalen Gesichtspunkte des Krankenhausmanagements hervorgehoben werden. Es erhebt sich nämlich die Frage, ob gemeinnützige, kommunale und private Krankenhausmanager in der gleichen Weise vom neuen Finanzierungssystem und den inhärenten Anreiz- und Steuerungsmechanismen betroffen sein werden. Dazu soll das Anreizsystem des DRG-Systems unter dem formalen Aspekt des Wirtschaftlichkeitsprinzips einer genaueren Darstellung unterzogen werden.
10.4.3 Handlungsspielräume und -maxime
des zukünftigen Krankenhausmanagements Eine Handlungsmaxime stellt eine »höchste Regel«, einen Grundsatz dar, die weder beweispflichtig noch beweiszugänglich ist und von der andere Sätze hergeleitet werden kann (Brockhaus 1986, S. 339). > Ein DRG stellt sich als zunächst regional administrierter Preis für eine vorgegebene Leistungsdefinition (Patientenkategorie, Krankheits- und persönliche Merkmale der Patienten) dar.
Der Preis kann durch ein Krankenhaus nicht beeinflusst werden. Wird die Zahl der zukünftig zu behandelnden Patienten vorher kontingentiert, ist eine kapazitätsorientierte und damit fallkostenreduzierende Mengenausweitung pro DRG durch die Ausnutzung des dadurch entstehenden Kostendegressionseffektes nicht möglich. Eine entsprechende Möglichkeit besteht nun darin, durch die Zusammensetzung des Fallspektrums eine möglichst hohe Auslastung bestimmter sekundärer Leistungsbereiche zu erreichen, um in insbesondere die Fixkosten dieser Bereiche innerhalb bestimmter Bandbreiten (sprungfixe Kosten) zu reduzieren. Die Fixkosten pro Fall lassen sich aber nicht nur durch Leistungskonzentration und eine möglichst hohe Auslastung senken. Eine Externalisierung von vormals originären Krankenhausleistungen (z. B. Reinigung, Wäschereien, Wachdienste, zentrale Dienstleistungen wie EDV, technische Servicedienste, Transportdienste, medizinische Leistungen wie Anästhesie und OP-Leistungen) bietet einerseits die Möglichkeit, die eigenen Personalkosten zumindest in einigen Kapazitätsbereichen zu variabilisieren. Andererseits wird durch die Externalisierung realisierten Vergütungstarifwechsel bei den Dienstleistern (z. B. durch einen Wechsel vom BAT in den viel günstigeren anderen Tarifvertrag des Reinigungshandwerks) u. a. ein geringerer Ecklohn möglich. Damit sinken die Personalkosten sogar so sehr, dass ein zusätzlicher Gewinn des Dienstleisters sowie die bei gemeinnützigen und
285 10.5 · Konsequenzen aus der Diskussion des situativen Managementansatzes
10
kommunalen Krankenhäusern zu zahlende Mehrwertsteuer immer noch unterhalb der bisherigen Kostenbelastungen bleibt. Die Kosten verbleibender Personalgruppen lassen sich natürlich mengenmäßig durch eine genaue Personalbedarfsberechnung feststellen. Dabei wirkt das Arbeitszeitgesetz allerdings als eine regulierende Bedingung, da nach arbeitsgesetzlichen Vorgaben eine zeitbezogene Mindestbesetzung und damit eine bestimmte Anzahl von Mitarbeiter sogar »unabhängig von einer Leistungsinanspruchnahme« vorgehalten werden muss. Größere Krankenhäuser mit einer vollkräftemäßig höheren Personalbesetzung sind hier eindeutig im Vorteil, da eine arbeitszeitbezogene Umsetzung von Präsenz-, Bereitschafts- und Rufbereitschaftsdiensten eher möglich ist. Nicht zuletzt dadurch entsteht neben der Möglichkeit zur Externalisierung eine DRG-induzierte Tendenz zum Kapazitätswachstum, also zum Zusammenschluss mehrerer Krankenhäuser. Den Vorteil solcher Ketten- oder Netzwerkbildungen nutzen private Krankenhäuser schon länger, da v. a. die Zentraleinheiten der Geschäftsführung, Verwaltung und Versorgung (z. B. durch ein Logistik- oder technisches Servicezentrum) innerhalb solcher Ketten nur einmal vorgehalten werden müssen. Daneben ergeben sich bei größeren Zusammenschlüssen verbesserte Finanzierungsmöglichkeiten, sei es durch die Bildung von Aktiengesellschaften oder die gemeinsame Bewirtschaftung von sonst verstreut vergebenen Investitionsmitteln der Kostenträger. Horizontale
übernehmen, stellen die wesentlichen Handlungsparameter des DRG-angepassten Krankenhausmanagements dar. Die Wahl der Handlungsmaximen hängt dabei von der Situation des jeweiligen Krankenhauses ab. Kostendruck, spezifische Konkurrenzverhältnisse innerhalb der stationären und/ oder der ambulanten Krankenversorgung, eine unterschiedlich ausgeprägte Kooperationsbereitschaft zwischen verschiedenen Trägern oder innerhalb einer Region bilden spezifische Ausprägungen des situativen Handlungsspielraums des Krankenhausmanagements.
und vertikale Unternehmenszusammenschlüsse
> Das Wirtschaftlichkeitsprinzip in seiner
durch Fusionen helfen ebenfalls bei der Umsetzung von medizinisch-therapeutischen Schwerpunktsetzungen, die bei krankenhausübergreifenden Kooperationen eher durchgreifend gestaltbar sind. In produktionswirtschaftlicher Sicht können die Personalkosten des verbleibenden Personals durch die kostengünstigere Zusammensetzung des Personal versucht werden. Verschiebungen von Tätigkeitsinhalte auf solche Personalgruppen, die tariflich geringer vergütet werden, Einstellung jüngerer Mitarbeiter, weil ältere, verheiratete und kinderreiche Mitarbeiter tariflich teurer sind, Spezialisierung und Differenzierung durch Einführung neuer Berufsbilder, deren Mitarbeiter Aufgaben aus anderen ebenfalls höher vergüteten Berufsgruppen
10.5
Konsequenzen aus der Diskussion des situativen Managementansatzes im Krankenhaus
Nach Auffassung des Autors tritt durch die bisherigen Ausführungen das Managementkonzept eines Krankenhauses der Zukunft offen zu Tage. In wenigen Sätzen können die Überlegungen und Konsequenzen nachfolgend zusammengefasst werden. Die Aufgabe des Krankenhausmanagements als Funktion erstreckt sich auf eine sachgerechte Anpassung an die externen Rahmenbedingungen. Wesentlicher Einflussfaktor und Ausdruck der externen Bedingungen stellt das DRG-System dar, dessen Auswirkungen das gesamte, von Hentze so klar dargestellte Handlungsspektrum des Krankenhausmanagements umspannen wird. Minimalvariante leitet das Krankenhausmanagement unabhängig von seiner Trägerschaft dazu an, die Kosten der Krankenhausproduktion so gering wie möglich zu halten, damit möglichst hohe Differenzen zwischen Kosten und Erlösen entstehen.
Diese Differenzen können entweder als Gewinne ausgewiesen oder für andere, nicht kostendeckende Aktivitäten eines Krankenhauses im Rahmen ihrer Gemeinnützigkeit eingesetzt werden. Die Leistung eines Krankenhauses wird vollständig ökonomisch abbildbar, weil erstmals ein Maßstab für die Krankenhausleistung in Form des Casemix-Index als Input-Leistung definiert wird. Über
286
10
Kapitel 10 · Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses
die Effektivität der Krankenhausleistung gibt dieser Maßstab keine Auskunft, sodass eine weitergehende Wirtschaftlichkeitsbetrachtung ausgeschlossen bleibt. Unabhängig von der Trägerschaft wird das Krankenhausmanagement »quasi hinter dem Rücken« den Anreizmechanismen des DRG-Systems unterworfen. Wie es die Wirtschaftlichkeit der Krankenhausproduktion verwirklicht, stellt einen Maßstab für die organisatorische und führungsbezogene Effizienzdiskussion dar, nur kostengünstig muss es sein. Die klassische Managementliteratur diskutiert z. Z. nur sehr eingeschränkt verschiedene Gestaltungsvarianten organisatorischer oder verhaltenssteuernder Art (Profit-Center, Erfolgsbeteiligungsmodelle). Das Krankenhausmanagement erscheint nunmehr als Erfüllungsgehilfe der »invisible hand« des Gesetzgebers, der die Interessen der Volkswirtschaft nach Senkung der Lohnnebenkosten über die Vergabe von administrierten Preisen und mithilfe der darin enthaltenen Anreizmechanismen auf das Krankenhausmanagement überträgt und seine Strategien innerhalb der Handlungsparameter des DRG-Systems adäquat zu suchen hat. Bei aller Diskussion über den möglichen Handlungs- und Gestaltungsspielraum, den ein trägerbezogenes Leitbild bieten kann, das es durch ein Krankenhausmanagement aktiv zu verwirklichen gilt, zählt letztlich doch nur die kostengünstigste Produktion des Krankenhausleistungsprozesses. Damit siegt jedoch die betriebswirtschaftliche Theorie der Krankenhausproduktion, die sich ebenfalls als Verlängerung der volkswirtschaftlichen Nachfragekurve nunmehr den Modellen einer mathematisch-naturwissenschaftlichen Theorie annähert. Interdisziplinarität als eine Forderung zukünftiger Managementkonzeptionen wird auf das Erlernen finanzierungsrelevanter und ökonomischer Verhaltensparameter durch andere Berufsgruppen reduziert – auch und gerade für Ärzte und Pflegekräfte. Die Ökonomisierung des Krankenhausmanagements erreicht dann ihren Höhepunkt, wenn alle Beteiligten die Sprache und Mechanismen der Produktionslehre erlernt haben, wobei diese Art der Ökonomisierung als solche funktional und damit als einzig rationale Form des Krankenhausmanagements erscheint.
Die Fähigkeiten der Führungskräfte zeigen sich im erfolgsbezogenen und im Finanzierungssystem fest definierten Verhalten. Sie selbst degenerieren jedoch zur »Blackbox«, da »… das richtige und situationsspezifische Verhältnis von Aufgabenzielen und Mitarbeiterzielen … das eigentliche Grundproblem für den einzelnen Vorgesetzen dar(stelle), für das es kein Patentrezept gebe (vgl. Hentze 1984, S. 50). Somit kommt es weniger auf den Inhalt sondern gerade auf ihre Funktionalität als »homo oeconomicus« im modernen Krankenhausmanagement an. Diese »halbierte Rationalität« des Krankenhausmanagements, dass nur noch nach der teleologischen Erreichung kostenoptimaler Krankenhausproduktion und nicht mehr tiefer nach dem Sinn und der Effektivität ihrer Leistungen fragt, wird als solche nicht mehr transparent. Die Möglichkeiten eines solchen Management begrenzen sich auf die nachfolgende beispielhaft genannten Aufgabenstellungen (⊡ Abb. 10.10). Das Konzept des so entworfenen situative Krankenhausmanagements entpuppt sich als Verlängerung volks- und produktionswirtschaftlicher Theorie und Praxisanleitung. Zwischen der »WennKomponente« (Kontext, Dimensionen der Situation – dominant dabei das DRG-System) und der »Dann-Komponente« (Effizienz) steht dann nur noch das behavioristisch reaktive Handeln der Manager, das sich ganz i. S. d. dargestellt Hentze-Managementkonzeption lehren, lernen und anwenden lässt und für eine Vielzahl von Krankenhäusern zu Schrumpfungsprozessen, für einen anderen Teil zur Kettenbildung und Konzentration führt. Darin steckt sogar die Erfüllung des eigenen Anspruchs:
»
Personenbezogene bzw. humane Überlegungen spielen bei der Gestaltung einer Organisation eine (wenn überhaupt) untergeordnete Rolle. Denn Organisationen sind vom Menschen geschaffene teleologische, künstliche Systeme
(Hentze 1984, S. 46f.). Der Patient steht hier, nicht einmal als »Kunde« im Mittelpunkt. Der Mitarbeiter ist Einsatzfaktor und das Management eine Maschine, das die Anforderungen nur sachgerecht und zeitlich genau umzusetzen hat.
287
Strategische Analyse
10.5 · Konsequenzen aus der Diskussion des situativen Managementansatzes
Entwicklung der Rahmenbedingungen, vorrangig des DRG-Finanzierungssystems
Marktchancen und Risiken
Strategische Erfolgsfaktoren
Stärken und Schwächen des Krankenhauses
Eigene Zwecksetzung durch den Krankenhausträger/Handlungsspielraum
Managementfunktionen
Aufgabenfelder innerhalb der Funktionsbereiche des Managements (Planung, Steuerung, Kontrolle)
10
Zentrale Fragestellungen unter Managementaspekten
Konstitutive Faktoren
Strategische Partner (Kooperation, Fusion) suchen? Struktur-/Prozessorganisation ändern, technolog. Innovationen reaslisieren? Rechtsform ändern?
Leistungswirtschaft
Out-/Insourcing? Horizontale oder vertikale Leistungsdifferenzierung/-konzentration durchführen? Qualitätsmanagement implementieren?
Personalwirtschaft
Systematische Personalauswahl, -beurteilung und -entwicklung, Personalbedarfsberechnung, Personalentlassung, neue Belohnungssysteme
Informationswirtschaft
DRG-konformes Leistungsdokumentations- und -abrechnungssystem einführen, neues EDV-MIS-System realisieren? Neue Medien nutzen (z.B. Internet)
Kapitalwirtschaft
Verbesserung der Kapitaldecke, Erlössicherung durch Fehlbelegungsprüfung und Risikomanagement, „Public-Private-Partnership”, Erschließung neuer Finanzquellen?
Materialwirtschaft
Neue Logistikstrukturen aufbauen, Facility-Management realisieren, Just-in-time?
Absatzwirtschaft
Neue Marketingkonzeptionen einführen, Direktmarketing, neue Medien, zielgruppenkonforme Werbestrategien?
⊡ Abb. 10.10. Hauptaufgaben des Krankenhausmanagements in Zeiten turbulenten Wandels – Eine Übersicht
288
Kapitel 10 · Managementkonzepte und -strategien im Gesundheitswesen am Beispiel des Krankenhauses
? Wissens- und Transferfragen 1. Welchen Zusammenhang zeigt der situative Ansatz des Managements zwischen externen Bedingungen und organisatorischer Effizienz auf? 2. Welche Bedeutung hat die Organisationsstruktur für die Effizienz der Organisation im Ansatz von Eichhorn u. Schmidt-Rettig? 3. Welche zentralen Herausforderungen werden aus dem DRG-Finanzierungssystem für Krankenhäuser abgeleitet? 4. Was bedeutet es, wenn Ulrich vom Management weniger Systemsteuerung und mehr Kulturentwicklung fordert? 5. Ist es nach Hentze notwendig, den Menschen in die Frage der Gestaltung der Organisation einzubeziehen? Wenn ja, mit welcher Aufgabenstellung und Funktion?
10 Literatur Bohle T (1999) Profitcenter und Chefarztvertrag. In: Eichhorn S, Schmidt-Rettig B (Hrsg) Profitcenter und Prozessorientierung – Optimierung von Budget, Arbeitsprozessen und Qualität. Kohlhammer, Stuttgart, S 155–163 Braun GE (Hrsg) Handbuch Krankenhausmanagement. Schaeffer & Pöschel, Stuttgart Brockhaus-Enzyklopadie (1986) 19. Aufl, Brockhaus, Mannheim Dieckmann M (1999) Neue Anforderungen an Leitende Ärztinnen und Ärzte, In: Hellmann W (Hrsg) Der Arzt mit Managementkompetenz – Ideenbörse zur Übernahme von Leitungsaufgaben im Krankenhaus. Kohlhammer, Stuttgart S 5–21 Eichhorn P (1979) Krankenhäuser als Unternehmen, Geleitwort. ZögU, Beiheft 2, S 1–11 Eichhorn S (1993) Leitung und Leistung im Krankenhaus: Führungsorganisation aus der Sicht des Krankenhausträgers. Symposium der Bertelsmann-Stiftung, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh Eichhorn S (1999) Profitcenter-Organisation und Prozessorientierung – Optimierung von Budget, Arbeitsprozessen und Qualität. In: Eichhorn S, Schmidt-Rettig B (Hrsg) Profitcenter und Prozessorientierung – Optimierung von Budget, Arbeitsprozessen und Qualität. Kohlhammer, Stuttgart, S 1–13 Eichhorn S (2001) Zukunft der Krankenhäuser in veränderten Strukturen – Gegenwärtige Situation, zukünftige
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289 Literatur
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10
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11 Projektmanagement M. Ahne, B. Seeberger Wissens- und Transferfragen
11.1
Vorbemerkung
– 291
11.2
Projektmanagement als Instrument der Organisationsentwicklung – 291
11.3
Einführung in das Projektmanagement – 293
11.4
Rahmenbedingungen von Projekten – 297
11.5
Projektplanung
11.6
Projektdurchführung
11.1
Vorbemerkung
– 313
– 305 – 309
Dieses Kapitel gibt eine Einführung in die Methoden des Projektmanagements und ermöglicht einen Überblick über die diesbezüglichen Begrifflichkeiten und Instrumente. Zu Beginn soll die wachsende Bedeutung des Projektmanagements als Instrument der Organisationsentwicklung angesichts der zunehmenden Komplexität der Umwelt kurz dargestellt werden. Im Anschluss geht es um die praktische Umsetzung von Projektarbeit in Organisationen, wobei auch der systemtheoretische Ansatz Beachtung findet. Entsprechend der Zunahme des Projektmanagements im Tätigkeitsbereich des Pflegemanagements wurde ein besonderes Augenmerk auf die Führungsaufgaben im Projektverlauf gelegt.
11.2
Literatur
– 313
Projektmanagement als Instrument der Organisationsentwicklung
11.2.1 Projektmanagement als Antwort
auf den ökonomischen Wandel Bis vor wenigen Jahren waren ökonomisches Denken und eine strikte Orientierung an den Erfordernissen des Marktes im deutschen Sozial- und
Gesundheitswesen nur sehr schwach ausgeprägte Fähigkeiten. Mit Verweis auf den hilfsbedürftigen Patienten oder Klienten jenseits der gängigen Kundendefinition und den eigenen altruistisch orientierten Auftrag, wurden Forderungen nach mehr Wirtschaftlichkeit in der Regel als unethisch abgewiesen. Und gerade im Krankenhaussektor verhinderte über viele Jahrzehnte eine Finanzierung nach dem Prinzip der Kostenerstattung eine Hinwendung zu mehr Effizienz und Effektivität im eigenen Handeln. Schließlich erlaubte es die finanzielle Situation den Trägern in den meisten Fällen sogar, aufgetretene Defizite auszugleichen. Doch diese Zeiten gehören mittlerweile der Vergangenheit an. Der dramatische Einnahmeneinbruch in den Sozialversicherungen konfrontiert die Leistungserbringer mit einer bisher unbekannten ökonomischen Realität, der innerhalb der hergebrachten Strukturen nicht mehr adäquat begegnet werden kann. Die Einführung des DRGAbrechnungssystems im Krankenhausbereich war ein Schritt in diese Richtung mit dem Ziel, über eine Homogenität der Kostenerstattung das Kostenbewusstsein der Kliniken insgesamt auf einem höheren Niveau zu nivellieren. Gleichzeitig verlangen Gesetzgeber und Kunde im gesamten sozialen Dienstleistungssektor nach mehr Qualität im
292
11
Kapitel 11 · Projektmanagement
Hinblick auf die Erbringung der Leistung sowie der Orientierung am Kunden. Die wachsende Bedeutung des Qualitätsmanagements gerade im Gesundheitswesen trägt diesem Umstand Rechnung, bedingt aber gleichzeitig neue Strukturen und Denkweisen. Dieser Spagat zwischen höherer Wirtschaftlichkeit und Kostensenkung auf der einen und der Verpflichtung zu einer höheren Qualität der eigenen Leistung auf der anderen Seite verlangt nach neuen Führungsmethoden und Arbeitsweisen, die dabei helfen sollen, die eigenen Ressourcen effektiver zu nutzen. Dabei wird der zur Verfügung stehende Zeitraum für derartige Veränderungen immer kleiner, was eine neue Herangehensweise erforderlich macht. Eine derartige zukunftsfähige Führungs- und Planungsmethode stellt das Projektmanagement dar. Es bietet die Chance, abseits ausgetretener formaler Organisationsstrukturen neuartige Herausforderungen angehen und bewältigen zu können. Dabei weist es den Weg, hin zu einer Neuinterpretation, dessen was Organisationen und Unternehmen hinsichtlich ihrer Neuausrichtung wie ihres Selbstverständnisses in der Zukunft erwarten wird.
11.2.2 Projektmanagement als
Neuinterpretation der Hierarchie Mit der Anwendung der Methoden des Projektmanagements liefert die Organisation einen möglichen Gegenentwurf ihrer selbst. Sie implementiert damit das Eingeständnis der Insuffizienz der eigenen Organisation dahingehend, innerhalb dieser die Komplexität der gestellten Aufgabe nicht bewältigen zu können. Das gewachsene, traditionell hierarchische System der Linienorganisation mit ihren vertrauten Instrumenten aus Arbeitsteilung, funktional abgegrenztem Spezialistentum und hierarchischen Machtpositionen stößt angesichts der zunehmenden Komplexität des Marktes und der damit verbundenen Entscheidungserfordernisse zunehmend an seine Grenzen. Es ist immer weniger in der Lage, die Leistungsfähigkeit der Organisation sowie ihre Anpassungs- und Innovationsfähigkeit in dem Maße der Erfordernisse des Marktes zu steigern. Während die zunehmende Komplexität nach
immer mehr Reaktionszeit verlangt, schrumpft diese gleichzeitig aufgrund der wachsenden Dynamik des Marktes und lässt damit die Anpassungszeit für das Unternehmen immer kürzer werden. Zukünftig noch viel mehr als heute wird deshalb das erfolgreiche Bestehen des Unternehmens mit der Fähigkeit verknüpft sein das eigene Potential, die eigene Kreativität und die Bereitschaft für Neues bestmöglich zur Entfaltung zu bringen. Hierfür braucht es eine Atmosphäre der Offenheit im gegenseitigen Umgang anstelle des in starren Hierarchien üblichen Anordnungsklimas. Der Schritt in die Zukunft und damit zur Sicherung der Organisation besteht also darin, das Potential und die Leistungsbereitschaft aller Mitarbeiter in einer human gestalteten Arbeitswelt zu fördern. Der wachsende Einfluss des Projektmanagements macht die zunehmende Überforderung der traditionellen Organisationsstrukturen deutlich sichtbar. Mit seinen Instrumenten stellt es einen Gegenentwurf dar und macht den zumeist erfolgreichen Versuch, Spezialisten aus verschiedenen Abteilungen und aus verschiedenen Ebenen der Hierarchie zum Zwecke einer Problemlösung temporär zu kombinieren. Damit hält es der Restorganisation den Spiegel vor. Plötzlich gelingt das zuvor Unmögliche, nämlich in mehr egalitär als hierarchisch ausgerichteten Strukturen und unter Umgehung von Abteilungsegoismen an einer Zielerreichung zu arbeiten. Das Bild und damit das Selbstbild des Mitarbeiters wandeln sich in der Folge, weil plötzlich in der Bedeutung für das Unternehmen das projektrelevante Wissen gegenüber der Linienposition in den Vordergrund tritt. Der Prozess der Problembearbeitung wandelt sich, weil Informationen nicht mehr monopolisiert und als hierarchisches Machtmittel missbraucht werden, sondern das Projekt verlangt, diese Informationen vorurteilsfrei dem Entscheidungsprozess in der Gruppe zu offenbaren (Heintel u. Krainz 2000, S. 16). Damit zwingt das Projektmanagement die Hierarchie zu einer Neudefinition ihres Selbstbildes. Entscheidungen werden nicht mehr qua Autorität, sondern in einer Gruppe von Fachleuten auf Augenhöhe getroffen, wobei als Effekt dieser Partizipation die Entscheidungen aus einem größeren Pool an Informationen heraus bewertet und gewählt werden können.
293 11.3 · Einführung ins Projektmanagement
Aufgabe der Hierarchie ist es nun nicht mehr
aus von untergeordneter Stelle vorbereiteten (und nicht selten im Sinne der Abteilung manipulierten) Informationen heraus Einzelentscheidungen zu treffen, sondern vielmehr die Gruppe gemeinsam zu einer Entscheidung zu führen (Heintel u. Krainz 2000, S. 30). Der Schritt hin zum Projektmanagement ist damit auch der erste Schritt in Richtung einer wirklichen Weiterentwicklung der Organisation. Es bewegt sich in Differenz zur Linienorganisation und stellt damit deren Strukturen zur Disposition, es hinterfragt Hierarchien in ihrem Selbstverständnis und trägt in sich eine mögliche Zukunftsalternative von Organisation. Damit wird auch klar, dass das Projektmanagement nicht folgenlos für einen begrenzten Zeitraum der Organisation angehängt werden kann, sondern vielmehr zwangsläufig einen Wandel nach sich zieht. Plötzlich erfahren die Mitarbeiter in der Projektarbeit eine Alternative von Organisation und werden dadurch vor allem in üblicherweise starr in Linie strukturierten Organisationen nachhaltig geprägt. Die Erfahrung einer höheren Transparenz von Entscheidungsprozessen, mehr Wertschätzung, weniger Anordnung und damit einem Vielfachen mehr an eigener (und damit primärer) Motivation und Eigeninitiative zieht ein Differenzbewusstsein gegenüber der bisherigen Tätigkeit nach sich. Unternehmen sollten sich dieses Wandels im Gefolge der Projektarbeit bewusst sein und die Bereitschaft besitzen, ihre Strukturen diesem Wandel zu öffnen. In Anbetracht der Chancen im Sinne einer wirklichen Weiterentwicklung der Organisation in Richtung Zukunftsfähigkeit sollte dieser Weg in Angriff genommen werden – auch wenn die Widerstände des Systems vor allem in der Anfangsphase enorm sein können. Diese Systemabwehr resultiert aus der nachhaltigen Erschütterung der Organisation durch das Projektmanagement, das zur gewohnten Sozialstruktur in Konkurrenz tritt und damit Ängste und Abwehrreaktionen auslösen kann (Heintel u. Krainz 2000, S. 36). > Projektmanagement kann gelingen wenn es diese Ängste ernst nimmt und trotzdem vor dem Konservativismus der Organisation nicht kapituliert.
11.3
11
Einführung ins Projektmanagement
11.3.1 Projekte Warum Projekte? Derzeit ist für Unternehmen der Verbleib im Markt mit immer größeren Herausforderungen verbunden. Schlüsselqualifikationen wie Flexibilität und Innovationsbereitschaft sind dabei mittlerweile genauso überlebenswichtig wie die Fähigkeit, Veränderungen des Marktes sicher zu erkennen und zügig in eigenes Handeln und damit in neue Produkte oder Dienstleistungen umzusetzen. Eine härter werdende Konkurrenz auf allen Märkten spornt zu immer größeren Anstrengungen an mit dem Ziel, die von externer wie interner Seite an das Unternehmen gestellten Anforderungen zu erfüllen oder bestenfalls sogar zu übertreffen. Komplexe Kundenwünsche oder aufwändige Umstrukturierungsmaßnahmen innerhalb der Organisation führen oftmals dazu, dass die gestellten Aufgaben nur außerhalb der üblichen Linienorganisation und unter Einbeziehung verschiedenster Fachdisziplinen gelöst werden können. Aus diesem Grund werden derartige Vorhaben immer öfter in Form eines Projektes geplant und umgesetzt. Attribute wie stärkere Transparenz, höhere Flexibilität und eine Beschleunigung der Entscheidungsfindung sind idealerweise typische Projektmerkmale. Oftmals stellen sie die einzige Möglichkeit dar, innerhalb einer sehr funktional und hierarchisch strukturierten Organisation komplexe Aufgaben zu bewältigen. Merkmale. Ein Projekt ist durch folgende Merkma-
le gekennzeichnet: ▬ Einmaligkeit, d. h. es stellt keine Routineangelegenheit im Unternehmen dar; ▬ komplexe Aufgabenstellung; ▬ klare Zielsetzung hinsichtlich des Ergebnisses; ▬ zeitliche Begrenzung; ▬ monetäre und personelle Ressourcenfestlegung; ▬ eigene, spezifische Organisationsform; ▬ fachübergreifende Zusammenarbeit mehrer Mitarbeiter oder Abteilungen. Ein Projekt ist immer einmalig zu sehen und stellt die Organisation vor Herausforderungen, die innerhalb der üblichen formalen Struktur nicht befriedigend bewältigt werden könnten. Dabei sind Pro-
294
Kapitel 11 · Projektmanagement
jekte kein Produkt allein unserer modernen Zeit. Der Bau der Pyramiden in Ägypten vor über 4000 Jahren, die Entdeckung Amerikas, aber auch die Mondlandung waren alle für sich herausragende Leistungen, die man mit gutem Recht als Projekte im Sinne der Definition verstehen kann. Doch auch fernab dieser weltgeschichtlich bedeutenden Errungenschaften kann im heutigen Wirtschaftsleben das Umstrukturieren einer Abteilung, das Entwickeln eines neuen Produktes oder das Einführen eines Qualitätsmanagementsystems Anlass sein, in Form von Projekten zu arbeiten. Ebenso wie einen Kongress vorzubereiten, eine Betriebsfeier zu organisieren oder sogar das eigene Haus zu bauen. Projektmanagement geht also (fast) jeden an.
11
Begriffsabgrenzung. Die DIN 69 901 definiert Vorhaben und Aufgabenstellungen als Projekte, die »im Wesentlichen durch die Einmaligkeit der Bedingungen in ihrer Gesamtheit gekennzeichnet sind, z. B. ▬ Zielvorgabe ▬ zeitliche, finanzielle, personelle oder andere Begrenzungen ▬ Abgrenzung gegenüber anderen Vorhaben ▬ projektspezifische Organisation« (Ewert et al. 2001, S. 11 f.).
Aber: Nicht bei jeder neuartigen und/oder komplexen Aufgabe in einem Unternehmen muss es sich automatisch um ein Projekt handeln. Vielmehr sollte zuvorderst geprüft werden, ob die gestellte Aufgabe nicht auch innerhalb des üblichen Routineablaufs der Organisation bewältigt werden kann. Zumeist nämlich ist es mit einem hohen zeitlichen, finanziellen und teilweise auch personellem Aufwand verbunden, ein Projekt zu initiieren, es zu implementieren und schließlich durchzuführen. Somit sollte im Vorfeld sichergestellt sein, dass sich das zu erreichende Ziel unter Beachtung ökonomischer Gesichtspunkte in adäquater Relation zum tatsächlichen Aufwand bewegt. Alles auf den ersten Blick Neue oder Ungewohnte automatisch zu einem Projekt zu ernennen entwertet den Begriff. Einteilung von Projekten. Projekte können in einem Unternehmen hinsichtlich ihrer verschiedenen Funktionen unterschieden werden (Burghardt 2001, S. 20 ff.):
▬ Entwicklungsprojekte besitzen ein klar definiertes Entwicklungsziel, etwa die Entwicklung einer Software; ▬ Forschungsprojekte mit relativ klar umrissener Forschungsaufgabe, jedoch meist noch nicht klar voraussagbarem Ergebnis; ▬ Rationalisierungsprojekte, etwa zur Straffung/ Optimierung eines bestehenden Prozesses, z. B. der Patientenaufnahme in einem Krankenhaus; ▬ Projektierungsprojekte werden auch System-, Anlagen- oder Kundenprojekte genannt. Die Elemente des zu entwickelnden Systems sind nicht komplett neu zu erstellen, sondern können aus bestehenden Systemen kombiniert werden; ▬ Vertriebsprojekte sind ähnlich den Projektierungsprojekten. Ein Kunde wird gezielt mit einem System beliefert; ▬ Betreuungsprojekte werden auch als Pflegeoder Wartungsprojekte bezeichnet. Sie berühren bereits die Grenze der Projektdefinition, da ein Betreuungsprojekt auch Dauercharakter haben kann; ▬ Sonderformen: – Organisationsprojekte dienen zumeist der Neugestaltung der Ablauf- oder Aufbauorganisation in einem Unternehmensbereich zum Zwecke der Rationalisierung; – Unternehmensprojekte haben z. B. den Zweck der Restrukturierung des gesamten Unternehmens; – Planungsprojekte dienen etwa der Planungsvorbereitung für ein nachgelagertes Entwicklungs- oder Rationalisierungsprojekt; – Vorleistungsprojekt zur Entwicklung eines Produkts oder Produktbestandteils ohne gegenwärtig konkreten Kundenauftrag; – Pionierprojekte sind eigentlich Forschungsabschnitte innerhalb eines Entwicklungsprojektes. Voraussetzungen für Projektarbeit. Ein Projekt stellt eine Organisation vor ungewohnte und komplexe Herausforderungen, die es im Sinne eines erfolgreichen Projektverlaufs zu meistern gilt. Im Hinblick darauf ist es entscheidend, auf die im Zusammenhang mit Projektarbeit oftmals auftretenden Besonderheiten besonders zu achten.
295 11.3 · Einführung ins Projektmanagement
Die Komplexität eines Projekts macht in den meisten Fällen die Zusammenarbeit von Spezialisten aus verschiedenen Fachbereichen erforderlich. Dabei treffen unterschiedliche Charaktere aufeinander, die möglicherweise noch nie in einer derartigen Konstellation zusammengearbeitet haben und über höchst unterschiedliche Sichtweisen und Arbeitsstile verfügen. Diese Verschiedenartigkeit zugunsten des gesteckten Ziels synergetisch zu einem höheren Ganzen zusammenzuführen, stellt hohe Ansprüche an die Sozialkompetenz jedes Einzelnen, insbesondere aber auch an die Führungsqualitäten des Projektleiters. Weiter wird zu Beginn des Projektes wird zwar das Ziel klar definiert, jedoch kann der Weg dorthin höchst unterschiedlich verlaufen. Schließlich steht das Erreichen des Projektziels im Vordergrund und nicht die lehrbuchhafte Anwendung bestimmter Methoden. Projektmitglieder müssen also in der Lage sein, ggf. gewohnte Denkmuster zu verlassen und sich auf neues und ungewohntes Terrain fernab der Routine zu begeben. Neue Arbeitstechniken, ungewohnte Wege der Entscheidungsfindung und die Fähigkeit zu abstraktem Denken sind nur einige der Herausforderungen, vor die Projektmitarbeiter gestellt werden.
11
Dabei verfolgt das Projektmanagement drei zentrale Ziele: ▬ Erreichen des Sachziels in Bezug auf Funktionalität und Qualität; ▬ Erreichen des Kostenziels in Bezug auf Einhalten des geplanten Budgets; ▬ Erreichen des Terminziels hinsichtlich Einhalten der Terminvorgabe. Diese drei Ziele bilden das so genannte magische Dreieck des Projektmanagements. Sie hängen direkt und unmittelbar voneinander ab, so dass das Beeinflussen einer Zielgröße automatisch eine Veränderung der übrigen Zielgrößen hervorruft. Beispielsweise würde das Überschreiten des Terminziels aufgrund notwendiger Qualitätsnachbesserungen durch die Mehrarbeit der Projektmitglieder auch automatisch höhere Kosten nach sich ziehen. Daraus folgt die Notwendigkeit, ein Projekt immer in seiner Gesamtheit, also als System zu betrachten, wobei nach den Erkenntnissen der Systemtheorie aus Veränderung eines Parameters immer die Veränderung aller anderen Parameter folgt. Verständlicher wird dies mit einem kurzen Exkurs in die Grundlagen der Systemtheorie.
11.3.2 Bedeutung und Ziele von
Projektmanagement Beim Projektmanagement handelt es sich um eine Führungsmethode mit dem Ziel, das Projekt kostengünstig, termingerecht und in hoher Qualität zu realisieren. Dies geschieht unter Anwendung der klassischen Managementmethoden. Klassische Managementmethoden
▬ Ziele setzen, also Definition des Projektziels ▬ Planen der zur Zielerreichung notwendigen Schritte
▬ Entscheiden über die in der Planung festgelegten Maßnahmen
▬ Realisieren der Planung in die Realität ▬ Kontrollieren der Maßnahmen hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur Zielerreichung im Rahmen der Projektplanung
11.3.3 Systemtheoretische Aspekte
Die Systemtheorie ermöglicht das Bearbeiten und Betrachten organisierter Komplexität und beobachtet die Wechselwirkungen und gegenseitigen Beeinflussungen in Systemzusammenhängen. Ein System ist ein aus Teilen bestehendes Ganzes. Folgende Bedingungen kennzeichnen ein System. Bedingungen eines Systems
▬ Nach außen abgrenzbar ▬ Von anderen Systemen unterscheidbar ▬ Systemspezifische Anordnung der Teile ermöglicht bestimmte Operationen und Prozesse ▬ Abhängigkeit der Teile voneinander ▬ Bildung mit dem Ziel »Problemlösung«
296
11
Kapitel 11 · Projektmanagement
Diese Aufzählung macht deutlich, dass auch ein Projekt ein eigenes System innerhalb des Systems Unternehmen darstellt. Es ist vom Rest des Unternehmens durch den spezifischen Projektauftrag unterscheidbar und auch abgrenzbar. Die spezifische Anordnung der Elemente des Projektes, also etwa der Projektmitglieder, der Projektstruktur und der Arbeitsweisen schafft erst die Voraussetzungen dafür, das Projektziel zu erreichen. Weiter hängen die Systemteile direkt voneinander ab, sind also nur im Zusammenspiel projektrelevant. Und schließlich bildet sich das Projekt mit dem Zweck, ein Problem wie etwa einen speziellen Kundenwunsch oder eine Organisationsveränderung zu lösen. Zu Beginn der Systembetrachtung sollte analysiert werden, in welcher Beziehung die einzelnen Elemente zueinander stehen. Erst das Verstehen und Sortieren dieser Beziehungen ermöglicht es, die Komplexität von Systemen durchschaubarer und damit leichter handhabbarer zu machen. Durch eine gründliche Analyse ist es möglich, sich entwickelnden Fehlern oder unerwünschten Tendenzen einfacher entgegenzuwirken. Dieses Aufschlüsseln in einzelne Elemente darf aber nie den Blick auf die Ganzheit des Systems überlagern. Die Systemtheorie zeigt uns mehrere Eigenschaften von Systemen auf, die gerade im Hinblick auf das Projektmanagement von Bedeutung sind.
wäre. Schon Aristoteles erkannte, das ein System mehr sei als die Summe seiner Teile. In einem Projektteam kann also das Zusammenwirken verschiedener Spezialisten mehr bewirken als dies getrennt voneinander möglich wäre. Der Erfolg eines Projekts hängt also entscheidend von der bestmöglichen Auswahl von Projektmitgliedern wie Rahmenbedingungen ab. Systeme sind komplex. Aufgrund ihrer vielfältigen Beeinflussungsmöglichkeiten sind Systeme nicht vollständig zu kontrollieren, da eine derartige Kontrolle das System aufgrund der Überzahl an notwendigen Regeln erstarren lassen würde. Daher muss versucht werden, durch Anwendung von Regeln oder Normen das System in die gewünschte Richtung zu lenken, ohne es übermäßig in seiner Beweglichkeit zu blockieren. Gerade in einem Projektteam ist dieser Umstand nicht selten ein Balanceakt, da einerseits ein Zuwenig an Regeln eine Atmosphäre der Beliebigkeit schafft und das Erreichen des Projektziels gefährdet, andererseits ein Zuviel an Regeln die Kreativität und Entfaltungsmöglichkeit der Mitglieder unnötig einschränkt und damit Potential minimiert. Eine geschickte Steuerung ist also eine Hauptaufgabe erfolgreichen Projektmanagements.
Systeme sind synergetisch. Das Zusammenspiel
Systeme sind selbstreferentiell. Die spezifische Struktur des Systems determiniert einerseits die Fähigkeit zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen aus der Umwelt, anderseits determiniert sie die Art und Weise einer möglichen Reaktion. Das System bewertet also autonom und kann von externer Seite nicht zwangsläufig beeinflusst werden. Projekten wohnt damit die Gefahr inne, auf im Projektverlauf neu auftretende Aspekte nicht adäquat reagieren zu können oder zu wollen. Ist beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer Projektgruppe mit einem hohen Prestige verbunden, werden die Mitglieder nur zögerlich bereit sein, auf solche Informationen zu reagieren, die eine Statusminderung nach sich ziehen würden (z. B. Verkleinerung der Gruppe, Budgetkürzung). In einem solchen Fall verringert sich der Bezug zur Realität und damit die Chance auf einen Erfolg des Projekts.
der einzelnen Elemente innerhalb eines Systems bringt diese auf ein höheres Gesamtniveau als dies bei Summierung der isolierten Elemente der Fall
Systeme sind konservativ. Systeme und besonders soziale Systeme wie Gruppen oder Organisatio-
Systeme sind zirkulär. In komplexen lebenden Systemen wie etwa einem Projekt ist eine eindeutige Ursache-Wirkungs-Zuordnung nicht mehr möglich, da die Variablen des Systems auf vielfältige Weise ineinander wirken. Die oftmals hohe Komplexität von Projekten erlaubt es daher nicht, in tradierten linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu denken, etwa beim Auftreten von Fehlern. Denn meist ist nicht ein einzelnes Element, sondern vielmehr die Gesamtstruktur des Systems ausschlaggebend für das Auftreten von Störungen oder Fehlern. Man sollte beim Auftreten von Fehlern also die Zeit nicht mit der Suche nach Schuldigen vergeuden, sondern vielmehr versuchen Lösungen zu finden.
297 11.4 · Rahmenbedingungen von Projekten
nen sind durch ein hohes Maß an Konservatismus geprägt (Heintel u. Krainz 2000, S. 3). Sie neigen dazu, die gegenwärtige Struktur beizubehalten und gegen Einflüsse aus der Umwelt zu verteidigen. Gleichzeitig ist das System aus Überlebensgründen aber bemüht, die Diskrepanz zur Umwelt nicht zu groß werden zu lassen. Aus diesem Grund wehren sich Organisationen anfangs gegen Neuerungen wie etwa Projekt- oder Qualitätsmanagement, weil damit in der Regel eine Veränderung der Organisationsstruktur einhergeht. Erst wenn der Umwelteinfluss zu stark wird, also etwa der Markt die Veränderung erzwingt steigt die Veränderungsbereitschaft. Diese Systemabwehr ist ein typischer Reflex von Organisationen und gerade im Zusammenhang mit Projekten ein nicht zu unterschätzendes Risiko.
11.4
Rahmenbedingungen von Projekten
11.4.1 Organisationsstrukturen
11
ein reguläres Mitglied der Linienhierarchie wie z. B. ein Gruppen- oder Abteilungsleiter für diese Aufgabe bestellt. Die Mitglieder der Projektgruppe rekrutieren sich aus den untergeordneten Instanzen und verbleiben auch während des Projekts in ihren Linienpositionen. ▬ Vorteile: – Kein Konfliktpotential gegenüber Projektmitgliedern, da Projektleitung klare Weisungsbefugnisse und Kompetenzen besitzt. – Keine Organisationsänderung oder Personalversetzung erforderlich. ▬ Nachteile: – Doppelbelastung Linientätigkeit/Projektarbeit kann Engagement für Projekt beeinträchtigen. – Nicht immer ist das fachlich und qualitativ beste Personal verfügbar. Die Linienorganisation eignet sich nur für kleine, überschaubare Projekte oder zum Vorbreiten eines größeren Projekts.
von Projekten Die Merkmale eines Projekts wie Einmaligkeit, zeitliche Befristung sowie zumeist enges finanzielles wie personelles Budget verlangen nach einer geeigneten Organisationsform, mittels der das Projektziel schnell und effizient erreicht werden kann. Dabei kann es die optimale Projektstruktur nicht geben, da je nach Komplexität und Größe der Aufgabe unterschiedliche Erfordernisse an die jeweilige Organisationsform gestellt werden. Auch spielt das Beachten der jeweiligen Linienorganisation eine große Rolle, um das Projekt nicht durch Konflikte zwischen Projekt und Linie zu beeinträchtigen. Gerade im Hinblick auf das Platzieren des Projektleiters innerhalb der Organisationsstruktur und den damit einhergehenden Weisungsbefugnissen sowie Kompetenzen stellt die Wahl der bestmöglichen Projektorganisation eine der wichtigsten Aufgaben im Verlauf der Projektplanung dar. Projektmanagement in der Linienorganisation.
Wird das Projekt in Form einer Linienorganisation durchgeführt, so wird völlig auf die Schaffung eigener Projektstellen verzichtet. Es existiert also keine eigene Projektleitung, vielmehr wird
Projektmanagement in der Stabs-Projektorganisation. Hier ist die Projektleitung in Form eines
Stabes nahe an der obersten Leitung angesiedelt (⊡ Abb. 11.1). Die Mitarbeiter verbleiben in der Linienorganisation und sind auch während des Projekts den Linienvorgesetzten unterstellt, die weiterhin die Entscheidungen treffen. Der Projektleiter hat also nur eine koordinierende bzw. lenkende Funktion ohne nennenswerte Kompetenzen und kann deshalb für Erfolg oder Misserfolg des Projekts nicht verantwortlich gemacht werden. Durch das Ansiedeln des Projektleiters nahe an der obersten Leitung kann sich diese aber qua Autorität entscheidend für das Projekt einsetzen. ▬ Vorteile: – Wie bei reiner Linienorganisation wird kaum Organisationsänderung notwendig. – Projekt erhält eigene Instanz. – Oberste Leitung kann besser in Projektarbeit involviert werden. ▬ Nachteile: – Fehlende Autorität der Projektleitung. – Hohes Konfliktpotential zwischen Projektleitung und Linienvorgesetzten. – Doppelbelastung der Projektmitarbeiter.
298
Kapitel 11 · Projektmanagement
Oberste Leitung
⊡ Abb. 11.1. Die Stabs-Projektorganisation
Abteilung I
Abteilung II
Abteilung III
Abteilung IV
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Die Stabs-Projektorganisation ist wie die reine Linienorganisation nur für kleine Projekte oder zur Projektvorbereitung geeignet. Projektmanagement in der Matrix-Organisation.
11
Projektleitung
In der Matrix-Organisation muss sich die Projektleitung die Weisungsbefugnis mit den Linienvorgesetzten teilen, denen die Projektmitarbeiter weiterhin disziplinarisch unterstellt bleiben (⊡ Abb. 11.2). Die Projektleitung besitzt nur ein fachliches, rein projektbezogenes Weisungsrecht. Aufgrund dieses Kompetenzzuwachses trägt die Projektleitung die volle Verantwortung für das Projekt. ▬ Vorteile: – Projektleitung hat fachliche Weisungsbefugnis gegenüber den Projektmitgliedern. – Bessere Identifikation der Projektleitung mit dem Projekt. ▬ Nachteile: – Doppelbelastung der Mitarbeiter. – Möglicherweise Ressourcenwettbewerb zwischen Projekt und Linie. Die Matrix-Organisation ist bereits für die Durchführung komplexerer Projekte geeignet. Projektmanagement in der reinen Projektorganisation ( Taskforce). Sie stellt die beste, aber auch
aufwändigste Organisationsform für ein Projekt dar. Das Projekt bildet eine vollkommen autonome Organisation innerhalb des Unternehmens, wobei
die Projektleitung die gesamte Weisungs- und Entscheidungsbefugnis trägt und den für die Dauer des Projekts abgestellten Projektmitgliedern auch disziplinarisch vorgesetzt ist (⊡ Abb. 11.3). ▬ Vorteile: – Projektleitung besitzt volle Kompetenzen und Weisungsbefugnisse. – Hohe Effizienz, da Mitglieder nur für das Projekt arbeiten. – Höhere Identifikation und Motivation der Mitglieder für das Projekt. ▬ Nachteile: – Mitglieder müssen aus Linienorganisation abgezogen oder extra eingestellt werden. – Gefahr der Verselbständigung des Projekts. – Mitglieder müssen nach Projektabschluss in Linie reintegriert bzw. entlassen werden. Die reine Projektorganisation ist besonders für große und komplexe Projekte geeignet. Problematisch an der reinen Projektorganisation ist die Tatsache, dass sie durch ihre Linienstruktur mit eindeutiger Hierarchie in gewisser Weise die Struktur der Restorganisation für sich übernimmt. Allerdings wurde das Projekt ja gerade deswegen erforderlich, weil die Aufgabenstellung in der regulären Struktur nicht hätte bewältigt werden können. Der reinen Projektorganisation wohnt also das Risiko inne, durch die Ausbildung einer zu formalen Struktur die Projektarbeit vielmehr zu erschweren als zu fördern.
299 11.4 · Rahmenbedingungen von Projekten
11
Oberste Leitung
Projektleitung
Abteilung I
Abteilung II
Abteilung III
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
Stelle
⊡ Abb. 11.2. Die Matrix-Projektorganisation
Oberste Leitung
Projektleitung
Abteilung I
Abteilung II
Abteilung III
Team I
Stelle
Stelle
Stelle
Team II
Stelle
Stelle
Stelle
Team III
Stelle
Stelle
Stelle
11.4.2 Das Projektteam
Der Erfolg eines Projektes ist in hohem Maße vom Know-how sowie der Kreativität und Innovationsfähigkeit der Projektmitglieder abhängig. Je komplexer und je unübersichtlicher das Projekt zu Beginn, desto mehr muss die Teamstruktur des Projekts bereit und fähig sein, diese Herausforderungen meistern zu können. Die Projektleitung Das Gelingen eines Projektes innerhalb des vorgegebenen Rahmens hängt neben der Qualifikation des gesamten Teams entscheidend von der Kompetenz
⊡ Abb. 11.3. Die reine Projektorganisation (Taskforce)
der Projektleitung ab. Sie wird vom Auftraggeber oder vom Projektlenkungsausschuss für die Dauer des Projekts bestellt und je nach Form der Projektorganisation mit den notwendigen Kompetenzen und Weisungsbefugnissen ausgestattet. Gewissermaßen wird mit der Implementierung der Projektleitung die Verantwortung personifiziert. Die Tätigkeit der Projektleitung beginnt mit der Bestellung und endet mit der Abgabe des Projektabschlussberichts. Auswahl der Projektleitung
In der Regel wird die Projektleitung vom Auftraggeber und/oder (sofern vorhanden) vom Projektlenkungsausschuss ausgewählt und bestellt. Hier
300
Kapitel 11 · Projektmanagement
gilt es zu klären, ob sie sich aus dem Unternehmen selbst rekrutiert oder von externer Seite für die Dauer des Projekts im Unternehmen tätig wird. Auch der für die Aufgabe notwendige zeitliche Aufwand im Hinblick auf Voll- oder Teilzeit sollte im Vorfeld ermittelt und festgelegt werden. > Eine interne Projektleitung muss entweder für die Dauer des Projekts von der Linienfunktion freigestellt oder es muss von übergeordneter Stelle eine verbindliche Regelung über die zeitliche Aufteilung zwischen regulärer Tätigkeit und Projektarbeit vorgegeben werden, etwa wenn das Projekt Vorrang vor den Linienaufgaben erhalten soll.
Hinsichtlich der Qualifikation der Projektleitung sollte gerade bei einer internen Lösung die Stellung in der Hierarchie keine Rolle spielen. Entscheidender für das Erreichen der Projektziele ist das Vorhandensein projektrelevanter Qualifikationen wie Führungskompetenz, Handlungsorientierung, Entscheidungsfreudigkeit, Kreativität und Kommunikations- und Durchsetzungsfähigkeit.
11 Aufgaben der Projektleitung
▬ Erreichen des Projektziels unter Einhaltung des Kosten- und Terminrahmens
▬ Auswahl der Projektmitglieder (abhängig von Organisationsstruktur)
▬ Organisieren von Projektgruppe(n) und Projektstruktur
▬ Steuern der Aufgabenverteilung im Team ▬ Verantwortlichkeit für Termineinhaltung ▬ Planen und Kontrollieren der Projektaufgabe hinsichtlich der Zielerreichung
▬ Koordinieren und Steuern der Projektgruppe
▬ Führen der Projektmitglieder ▬ Ausüben des projektbezogenen Weisungsund Entscheidungsrechts
▬ Definieren der einzelnen Arbeitspakete und
Anforderungen an die Projektleitung
Die folgenden Fähigkeiten und Fertigkeiten zeichnen eine gute Projektleitung aus, wobei je nach Projektstruktur und Projektumfeld die eine gegenüber der anderen unterschiedlich gewichtet sein kann. Ihnen gemeinsam ist aber, dass sie zwingend zum erforderlichen Qualifikationsrepertoire zu zählen sind. Der Projektleiter braucht Führungskompetenz.
Schon bei der Auswahl der Projektmitglieder zeigt sich die Führungsqualität der Projektleitung in der Fähigkeit, Menschen hinsichtlich deren Eignung für eine zukünftige Aufgabe zielsicher beurteilen zu können. Erschwerend kommt hinzu, dass zu Beginn der Projektbildung oftmals noch keine detaillierten Angaben darüber gemacht werden können, welche Qualifikationen für welche Stellen erforderlich sein werden, um eine bestmögliche Zielerreichung zu gewährleisten. Gerade bei hochkomplexen und in ihrer Art bisher einmaligen Vorhaben kann aufgrund fehlender Erfahrungswerte über die Zahl der erforderlichen Stellen und noch mehr über deren exaktes Tätigkeitsprofil oftmals nur spekuliert werden. Auch der weitere Verlauf der eigentlichen Projektarbeit wird entscheidend von der Führungsfähigkeit der Projektleitung geprägt. In der Regel durchläuft die neu gebildete Gruppe mehrere Phasen ( Kap. 11.5.1), in denen die Projektleitung jeweils als Moderator, Motivator, Förderer oder Mediator auftreten muss. Dabei ist gerade in der mit Tiefen und Höhen reich gesegneten Projektarbeit ein partizipativer Führungsstil für die Entfaltung des Leistungspotentials der Mitarbeiter am ehesten geeignet. Angesichts der Notwendigkeit der Zielerreichung als eigentlichen Zweck der Arbeit muss aber ebenso der Mut und die Fähigkeit vorhanden sein, den Führungsstil situativ verändern und der augenblicklichen Lage anpassen zu können.
deren Freigabe
▬ Vertretungs- und Repräsentationsaufgaben gegenüber dem Auftraggeber bzw. dem Projektlenkungsausschuss ▬ Durchführen des Projektabschlusses
Der Projektleiter braucht Kommunikationsfähigkeit. Projekte bilden zumeist noch die Ausnah-
me in einer Organisation und werden deshalb von Seiten der Mitarbeiter besonders aufmerksam verfolgt. Dabei manifestiert sich die Angst vor
301 11.4 · Rahmenbedingungen von Projekten
Neuerungen, ein übersteigertes Hierarchie- oder Besitzstandsdenken oder schlichter Neid nicht selten in offenen Angriffen gegen die Projektleitung als Repräsentant des Projekts. Je nach Vehemenz des Widerstands und Positionierung der Widerständler in der Organisationshierarchie kann dies das Projekt letztendlich sogar zu Fall bringen. Die Art der Interventionen kann dabei völlig unterschiedliche Formen annehmen. Hierzu zählen Kompetenzstreitigkeiten mit Linienvorgesetzten um Ressourcen ebenso wie Differenzen mit dem Auftraggeber über das Projektziel oder das benötigte Budget. Ein hohes Prestige der Projektgruppe kann Neid und Missgunst bei Außenstehenden provozieren und sich in einem offenen oder versteckten Boykott des Projekts niederschlagen. In solchen Fällen kann und muss eine offene, sachliche und wertschätzende Art der Kommunikation dazu beitragen, Konflikte abzumildern oder ganz zu beseitigen. Oft muss auch das Kommunikationsangebot an die Gegenseite mehrmals wiederholt werden, um schließlich angenommen zu werden. In Anbetracht der Zielerreichung darf aber die Bereitschaft zur Konfliktlösung nicht mit der Abgabe von Kompetenz im Sinne von Unterordnung missverstanden werden. Schließlich wird besonders bei Restrukturierungs- oder Rationalisierungsprojekten die Projektleitung von Seiten der Betroffenen nicht selten mit Misstrauen und Angst konfrontiert, die es mittels proaktiver Kommunikation zu beseitigen gilt. Somit ist Kommunikation zusammenfassend die Schlüsselkompetenz der Projektleitung in Bezug darauf, Projektaufgabe und -ziel sowohl intern wie extern positiv zu transportieren. Der Projektleiter braucht Kreativität. Die Fähigkeit zum kreativen Denken ist im Management überhaupt und besonders im Projektmanagement eine Begabung, die sich gängiger Bewertungsraster entzieht und deswegen oft ein Schattendasein fristet. Umso wichtiger ist sie angesichts der Komplexität vieler Projekte und damit der Notwendigkeit, eingefahrene Wege zu verlassen und sich manchmal ganz ohne Kompass und Karte auf einen neuen Kurs zu wagen. Kreativität bedeutet dabei auch, gängige Denkmuster zu durchbrechen,
11
um im Mittelweg zwischen Tradition und Utopie Lösungswege zu finden. Damit verknüpft ist ein starkes Maß an Selbstbewusstsein, um das Ungewöhnliche gegenüber dem Altbekannten gerade in starren Strukturen vertreten und auch durchsetzen zu können. Neben der eigenen Kreativität muss die Projektleitung aber auch die Ausbildung kreativen Denkens bei den Projektmitgliedern zulassen und die Fähigkeit besitzen, diesen Prozess forcieren zu können. Führungs- versus Fachkompetenz
Bei der Wahl der Projektleitung stellt sich oft die Frage nach der Notwendigkeit des Vorhandenseins sowohl von Führungs- als auch Fachkompetenz. Natürlich sollte eine Projektleitung auch in der Lage sein, die fachlichen Anforderungen des Projekts überblicken und einschätzen zu können. Allerdings kann gerade bei Projekten mit vielfältiger fachlicher Beteiligung von der Projektleitung nur schwerlich erwartet werden, die erforderliche disziplinübergreifende Fachkompetenz in sich zu vereinen. Schließlich sind ja für diesen Zweck die entsprechenden Spezialisten im Projektteam versammelt. Stattdessen muss es für die Projektleitung darauf ankommen, das Projektteam mit der nötigen Kompetenz im Sinne der Zielerreichung führen zu können. Somit ist letztendlich das Vorhandensein von Führungskompetenz gerade im Umfeld von Projekten wichtiger als der umfassende Besitz projektrelevanter Fachkompetenz. Interne oder externe Projektleitung
Die Projektleitung kann sowohl aus dem Unternehmen selbst rekrutiert und dem Projekt für die Dauer des Vorhabens zugewiesen werden; sie kann aber auch in Form einer externen Ausschreibung für die Dauer des Projekts im Unternehmen tätig werden und dieses nach Projektabschluss wieder verlassen. Sowohl die interne wie externe Lösung birgt Vorteile in sich, wobei gerade bei hochkomplexen, innovativen oder besonders in die Unternehmensstruktur einschneidenden Projekten eine externe Projektleitung von Vorteil sein kann. Zudem dürfte klar sein, dass erst eine gewisse Projektgröße eine externe Projektleitung rechtfertigt.
302
Kapitel 11 · Projektmanagement
Vorteile einer externen Projektleitung
▬ Ein externer Mitarbeiter verfügt zwar nicht ▬
▬
▬
11
▬
über Insiderwissen, ist aber auch nicht betriebsblind. Ein externer Mitarbeiter ist in der Regel unbekannt. Er wird mit Skepsis zu rechnen haben, erfährt aber auch durch seine Erfahrung einen größeren Respekt als ein interner Mitarbeiter. Der externe Projektleiter verfügt, wenn er bereits in vielen Unternehmen gearbeitet und in seiner Funktion tätig gewesen ist, möglicherweise über ein fach- und unternehmensübergreifendes Wissen. Er wird deshalb auch eher bereit sein, neue »Pfade« zu betreten, und kann zudem das Risiko besser abschätzen. Ein externer Berater/Projektleiter ist nicht politisch in das Unternehmen eingebunden und wird eher nicht an einem unternehmenspolitischen Rahmen (Leitbild) orientiert oder ausgerichtet sein. Auch dadurch wird es ihm leichter fallen, neue und innovativere Wege zu beschreiten. Ein externer Projektleiter wird im Anschluss an das Projekt – aller Regel nach – mit einem neuen beginnen. Er muss daher nicht wieder an seinen Arbeitsplatz, den er zum Zweck des Projekts verlassen hat, zurückkehren und liegen gebliebene Arbeit nachholen.
Als Fazit lässt sich festhalten: Die Doppelbelastung, die ein interner Mitarbeiter aufgebürdet bekommt, entfällt für den externen Berater – es sei denn, man stellt den internen Mitarbeiter für den Verlauf des Projekts gänzlich von der Erledigung von Routineaufgaben frei. Möglicherweise wird er nur zeitweise für das Projekt abgestellt und kann sich daher nur »halbherzig« um das Projekt kümmern. Damit wird es für ihn schwierig, die Ressourcen (v. a. die Zeit) im Auge zu behalten (Guddat u. Seeberger 1999, S. 214). Die Subteamleitung
Bei größeren oder komplexeren Projekten kann es notwendig sein, die Projektgruppe in mehrere Untergruppen zu teilen, um die Zahl der Pro-
jektglieder in den einzelnen Gruppen nicht zu groß werden zu lassen. Auch erlaubt dies, das parallele Bearbeiten mehrerer Arbeitsblöcke. Die Untergruppen werden von so genannten Subteamleitern geführt, welche wiederum der eigentlichen Projektleitung direkt zugeordnet sind. Die Aufgaben von Subteamleitern sind: ▬ Verantwortlichkeit für das Subteam; ▬ Festlegen der Aufgabenverteilung im Team; ▬ Festlegen der Ablauforganisation im Team; ▬ Kommunikation und Information der Projektleitung. Auswahl des Projektteams Mit der gelungenen Auswahl der Projektmitarbeiter hat die Projektleitung den entscheidenden Grundstein für einen erfolgreichen Projektverlauf gelegt. Im Gegenzug kann eine an Hierarchien oder sonstigen Sachzwängen gebundene Personalauswahl ohne Berücksichtigung projektrelevanter Qualifikationen das Vorhaben schon in der Entstehungsphase nachhaltig lähmen. Allerdings besitzt nicht jedes Projekt auch zwangsläufig ein Projektteam. Bei sehr kleinen Projekten besteht das Vorhaben nur aus der verantwortlichen Projektleitung, während die Erledigung der Arbeitspakete in der Linienorganisation erfolgt. Zumeist aber gibt es ein Projektteam mit mehreren Mitarbeitern, die für die Dauer des Projekts teilweise oder ganz aus der Linienorganisation herausgenommen oder von externer Seite bestellt werden. Die Auswahl der Projektmitglieder liegt je nach Projektorganisation und Entscheidungskompetenz ganz oder teilweise in den Händen der Projektleitung; manchmal wird sie aber auch komplett vom Auftraggeber oder übergeordneten Gremien vorgenommen. Im Hinblick auf eine gelungene Zusammenarbeit des Projektteams sollte die Entscheidung aber im Zuständigkeitsbereich des Projektleiters liegen. Wer gehört ins Team? Der richtige Mix aus Bega-
bung und Qualifikation ist die Richtschnur der Personalauswahl und gerade deshalb oftmals ein sehr schwieriges Unterfangen. Hinzu kommt gerade bei Projekten die Problematik der Personalrekrutierung. Nicht selten geht das Unternehmen dabei den einfacheren und auch kostengünstigeren
303 11.4 · Rahmenbedingungen von Projekten
Weg und entnimmt die Projektmitglieder der eigenen Organisation, auch wenn sie hinsichtlich ihrer Qualifikation gegenüber externen und deswegen oft teureren Mitgliedern im Nachteil sind. Hier muss im Einzelfall eine Kosten-Nutzen-Analyse ( Kap. 9.1) die Entscheidung herbeiführen. Auswahlkriterien für Projektmitglieder. Die Mit-
glieder des Projektteams sollten besonders verfügen über: ▬ hohe fachliche, projektrelevante Qualifikation, ▬ hohe Teamfähigkeit, ▬ hohe Kommunikationsfähigkeit, ▬ hohe Integrationsfähigkeit, ▬ Kreativität, ▬ generelles Interesse an Projektarbeit sowie der spezifischen Projektaufgabe Sicher stellen diese Kriterien ein Idealmaß dar und stehen in dieser Form wohl nur in den seltensten Fällen zur Verfügung. Trotzdem sollte man sie immer im Hinterkopf behalten auch aus dem Grund, die Ausbildung fehlender oder ungenügend entwickelter Eigenschaften im Verlauf des Projekts zu fördern. Gerade im Hinblick auf zukünftige Projekte und im Sinne einer umfassenden Personalentwicklung kann diese Bemühung eine wichtige Investition in die Zukunft darstellen. Die optimale Teamstärke. Ein Projektteam kann aus zwei, aber auch aus bis zu 15 Mitgliedern bestehen ( Kap. 16.4.1). Dabei richtet sich die für das spezifische Projekt ideale Teamgröße zum einen nach dem zu erwartenden Tätigkeitsbedarf, zum anderen aber auch danach, den mit steigender Gruppengröße zunehmenden Planungs- und Verwaltungsbedarf nicht zu sehr ansteigen zu lassen. Je größer die Gruppe, desto mehr Meinungen gilt es zu integrieren und desto länger dauert die Entscheidungsfindung. Ziel ist es, die größtmögliche Effizienz und Effektivität zu erreichen.
Bildung von Teilprojektgruppen. Sollte der veran-
schlagte Arbeitsaufwand des Projekts die Zahl von acht Mitgliedern überschreiten, bietet es sich an, Teilprojektgruppen zu bilden und deren Leitung an Subteamleitungen abzugeben. In diesem Fall bilden die Subteamleiter die Projekt-Kerngruppe. Besonders wenn der notwendige Arbeitsaufwand plötzlich ansteigt, kann die rasche Integration zusätzlicher Mitglieder die Projektarbeit eher behindern als beschleunigen, gerade was den zusätzlichen Verwaltungsaufwand, die Probleme der Integration von Neumitgliedern oder aufkommende Kompetenzstreitigkeiten anbelangt. Teilprojektgruppen stellen hier eine gute Lösung dar und bieten zudem in Extremfällen die Chance, im Konkurrenzkampf sich befindliche Mitglieder in getrennten Teams voneinander zu isolieren ohne sie komplett aus dem Projekt abziehen zu müssen.
11.4.3 Der Auftraggeber und der
Projektlenkungsausschuss Der Auftraggeber bzw. der Projektlenkungssausschuss ist ein temporäres Kontroll- und Entscheidungsgremium. Es ist der Projektleitung und der Projektgruppe vorgeschaltet. Der Projektlenkungsausschuss setzt sich zusammen aus Entscheidungsträger, deren Mitarbeiter und Organisationseinheiten von dem Projekt betroffen sind sowie der Projektleitung, allerdings nur als beratendes Mitglied ohne Stimmrecht.
Aufgaben von Auftraggeber/Projektlenkungsausschuss
▬ Festlegen des Projektauftrages in schriftlicher Form
▬ Formulieren des (groben) Ziels ▬ Benennen der Projektleitung ▬ Genehmigen der Projektgruppe auf Vorschlag des Projektleiters (Ideallösung)
> In der Praxis hat sich besonders für die Kerngruppe des Projekts eine Teamgröße von sechs bis acht Mitgliedern bewährt. Bei dieser Größe ist die Steuerung des Teams einfacher und der Abstimmungs- und Kommunikationsaufwand steht in guter Relation zum erwarteten Nutzen.
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▬ Genehmigen der Projektplanung ▬ Festlegen der Sachmittelausstattung ▬ Vermitteln zwischen Projektleitung und Linieninstanzen
▬ Genehmigen des Projektabschlussberichts
304
Kapitel 11 · Projektmanagement
Für die Projektleitung wie für das ganze Projekt ist es wichtig, dass Auftraggeber bzw. Projektlenkungsausschuss sich mit den Zielen des Projekts identifizieren und diese auch gegen Widerstände in der eigenen Organisation sozusagen als Machtpromotor vertreten können (Ewert et al. 2001, S. 86 f.). Zwischen Auftraggeber/Ausschuss sollte eine Atmosphäre des Vertrauens herrschen, die innovatives und kreatives Arbeiten ermöglichen hilft. Statt destruktiver Detailkontrollen sollte das Augenmerk vielmehr auf die Kontrolle des Ergebnisses gerichtet sein, wobei auf dem Weg dorthin dem Projekt möglichst großzügige Gestaltungsspielräume einzuräumen sind.
11.4.4 Zieldefinition
> Unter einem Ziel versteht man einen gedanklich vorweggenommenen, zukünftigen Zustand, der bewusst ausgewählt, gewünscht und durch aktives Handeln erreicht wird (Boy et al. 1995, S. 43).
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Warum Ziele? Die Frage nach dem Ziel des Projekts ist die wichtigste Frage überhaupt, denn nur wenn es klar und eindeutig formuliert ist, ebnet es dem Projekt den Weg aus der diffusen Unbestimmtheit einer Idee oder eines Problems hin zu einem konkreten Ergebnis. Aus systemischer Sicht beginnt ein Projekt im Chaos, da jede beliebige Anordnung der einzelnen Elemente möglich ist und das Ziel somit in jede Richtung entwickelt werden kann. Ein konkretes Ziel dagegen gibt eine bestimmte, zu dessen Erreichung notwendige Struktur und damit auch Richtung vor. Aus ihm lassen sich konkrete Aufgaben und Fragestellungen ableiten und mittels einer Wirksamkeitskontrolle fortlaufend auf den Grad der Zielerreichung hin überprüfen. Wie sollten Ziele gestaltet sein? Ein Ziel muss fol-
genden Kriterien genügen: ▬ Es sollte vollständig und so genau wie möglich formuliert sein. ▬ Einzelne Ziele sollten sich nicht im Widerspruch zueinander befinden. ▬ Nur realistische Ziele motivieren dazu, sie auch zu erreichen.
▬ Zum Abschluss des Projekts muss das erreichte Ergebnis anhand der anfangs formulierten Ziele nach dem Grad der Zielerreichung überprüfbar sein. Zieldefinition im Projektauftrag. Zu Beginn
der Zieldefinition ist es unbedingt notwendig, dass sich Auftraggeber und Projektleitung über das angestrebte Ziel verständigen, um evtl. vorhandene Missverständnisse schon zu Beginn zu beseitigen und ein einheitliches Zielverständnis herzustellen. Aus diesem Grund sollte das angestrebte Ziel in einem Projektauftrag schriftlich fixiert werden. Er stellt sozusagen das Bindeglied zwischen den beiden Parteien dar und legitimiert das Projekt im weiteren Verlauf. Durch die beidseitige Unterschrift wird der Projektauftrag bindend und startet damit die konkrete Projektarbeit.
Bestandteile des Projektauftrags
▬ Zielsetzung des Projekts ▬ Nutzen für den Auftraggeber/zu erwartende Ergebnisse
▬ Aufgabenstellung ▬ Vorgehensweise zur Erreichung des Projektziels
▬ wichtige Termine und Meilensteine ▬ geplante Aufwendungen/Gesamtbudget ▬ Namen und Unterschrift von Auftraggeber und Projektleitung
Der Zielformulierung zwischen Auftraggeber und Projektleitung sollte die Besprechung der Ziele im Team folgen, um Klarheit über die Ziele herzustellen, Missverständnisse auszuschließen und den Teammitgliedern die Chance zu geben, sich mit ihnen zu identifizieren. Schließlich sollte das Projektziel zwischen allen am Projekt beteiligten Abteilungen abgeklärt werden, um spätere Interessenskollisionen zu vermeiden.
305 11.5 · Die Projektplanung
11.5
Die Projektplanung
Die Projektplanung ist neben dem Projektauftrag das entscheidende Werkzeug zur erfolgreichen Realisierung des Projekts und stellt die Weichen für die zukünftige Arbeit. Der Planungsprozess sollte systematisch und sorgfältig durchgeführt werden und dabei helfen, die Komplexität und das Risiko vor allem in der Anfangsphase zu minimieren. Dabei sollte die Planung immer nahe an der Realität bleiben und so dynamisch gestaltet sein, dass etwaige Veränderungen im Verlauf des Projekts möglichst komplikationslos integriert werden können. Einen Überblick über die Elemente der Projektplanung gibt ⊡ Abb. 11.4.
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Die Projektplanung beschreibt, ▬ welche Tätigkeiten ▬ durch wen (Person, Gruppe, Abteilung usw.) ▬ zu welcher Zeit ▬ mit welchen Ressourcen ▬ zu welchen Kosten erforderlich sind, und schreibt dies in Plänen wie Ablauf- oder Balkenplänen fest (Ewert et al. 2001, S. 102). Die Planung obliegt der Projektleitung in Zusammenarbeit mit der Projektgruppe, wobei keine fachinhaltlichen Lösungen erarbeitet werden. Vielmehr beschreibt die Projektplanung die Voraussetzungen dafür, diese zu entwickeln. Der Projektauftrag bildet die planerische Ausgangssituation für die folgenden Arbeitsschritte.
11.5.1 Phasenplan Projektauftrag
Phasenplan
Projektstrukturplan
Ablauf- und Terminplanung Listentechnik
Meilensteinplan
Netzplan
Balkenplan
Kapazitätsplan
Kostenplan
Projektrealisierung ⊡ Abb. 11.4. Elemente der Projektplanung
Warum Aufteilung in Phasen? Abhängig von Dauer und Komplexität besteht ein Projekt aus mehreren Phasen, die auch als Lebensphasen bezeichnet werden. Das Aufteilen in Phasen hat den Zweck, das Projekt sowohl sachlich wie auch zeitlich in einzelne Etappen zu gliedern. Das Aufteilen in Phasen soll ▬ das Projekt durch sachlich abgegrenzte Teile überschaubarer und damit auch planbarer machen; ▬ Orientierungshilfen geben hinsichtlich Projektstrukturierung und Terminplanung; ▬ Komplexität verringern, da jede Projektphase nur einen Teil des Ganzen darstellt; ▬ die Kontrolle des Projektfortschritts erleichtern und so Risiken minimieren. Typische Projektphasen Abhängig vom Umfang des Projektes oder seiner Komplexität kann es notwendig sein, das Projekt in mehr oder weniger Phasen zu untergliedern. In der Praxis hat sich jedoch grundsätzlich die Einteilung in die vier typischen Projektphasen als sinnvoll erwiesen: ▬ Definitions- oder Vorlaufsphase: Sie bildet gewissermaßen das Fundament des gesamten Projekts. In dieser Phase wird der Projektauftrag zwischen Projektleiter und Auftraggeber
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Kapitel 11 · Projektmanagement
auf Durchführbarkeit und Wirtschaftlichkeit geprüft und schließlich festgeschrieben. ▬ Planungsphase: Ein detaillierter Projektplan wird entworfen, Verantwortlichkeiten geklärt, Schnittstellen definiert, mögliche Risiken analysiert, das Projekt in einzelne Arbeitspakete zerteilt und schließlich der Meilensteinplan erstellt. ▬ Realisierungsphase: Sie beinhaltet neben der Umsetzung der Projektplanung in die Realität auch die stetige Kontrolle des Projektfortschritts anhand der Meilensteine. So können mögliche Abweichungen schnell erkannt und evtl. korrigiert werden. ▬ Abschlussphase: Das erreichte Projektziel wird vom Auftraggeber angenommen und der Projektabschlussbericht vorgelegt. Je nach Einbindungsgrad der Projektbeteiligten in das Projekt müssen diese nun in ihre reguläre Position reintegriert werden (Boy et al. 1995, S. 35 f.).
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Da jede Projektphase auf der vorhergehenden aufbaut werden mit zunehmender Dauer des Projekts die Einflussmöglichkeiten immer geringer. Dies betrifft sowohl die Einflussnahme auf das Endergebnis wie auch die Einflussnahme auf die Projektkosten. > Je später lenkend in den Projektverlauf eingegriffen wird, desto höher ist der dafür notwendige Kostenaufwand und desto geringer die Beeinflussbarkeit des Projekts.
11.5.2 Projektstrukturplanung
Ziel des Projektstrukturplans (PSP) ist die Erfassung, Strukturierung und Darstellung aller zu leistender Arbeiten. Der vollständige PSP dient dann dazu, die für die Zielerreichung des Projekts notwendigen Arbeiten in übersichtlicher und nachvollziehbarer Form darzustellen. Es ist allerdings weder Aufgabe des PSP, etwaige Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Tätigkeiten darzustellen, noch sie hinsichtlich des Zeitpunkts ihrer Abarbeitung chronologisch zu ordnen. Der vollständige und inhaltlich korrekte PSP stellt das zentrale Dokument der Projektsteuerung dar.
Drei Arten von Projektstrukturplänen
▬ Der funktionsorientierte PSP zerlegt das Projekt in Form von Tätigkeiten.
▬ Der objektorientierte PSP teilt das Projekt nach Objekten ein.
▬ Der gemischte PSP teilt das Projekt nach Objekten und Funktionen ein.
Erstellung des PSP. Es ist sinnvoll, aus Gründen der
Vollständigkeit den PSP mit der gesamten Gruppe zu erstellen. Dabei gibt es zwei Arten des Vorgehens: ▬ Top-Down: Das Projekt wird ausgehend von den Oberpunkten immer detaillierter in einzelne Arbeitsschritte zerlegt, wobei in der Reihenfolge Oberpunkt-Teilaufgabe-Unteraufgabe(n)Arbeitspaket vorgegangen wird. ▬ Bottom-Up: Hier wird vom Einzelnen zum Allgemeinen geplant, also die einzelnen Arbeitspakete gesammelt und zu logischen Oberpunkten zusammengefasst. Gliederung des PSP. Die Hauptaufgabe bildet die Spitze des PSP und ist für das gesamte Projekt gültig und bindend. Diese wird in einzelne, hierarchisch untergeordnete Teilaufgaben zerlegt, welche je nach Umfang des Projekts wiederum in Unteraufgaben gegliedert werden können. Diese werden schließlich in Arbeitspakete zerlegt, also Aufgaben, die so klar abgrenzbar sind, dass sie in einer organisatorischen Einheit (z. B. Mitarbeiter, Abteilung) abgearbeitet werden können. Ein Arbeitspaket beinhaltet eine konkrete Ergebniserwartung und einen eindeutigen Verantwortungsbereich sowie eine ungefähre Schätzung hinsichtlich des benötigten finanziellen und zeitlichen Aufwands.
11.5.3 Projektablauf- und Terminplanung
In dieser Phase findet eine weitere Detaillierung des PSP dahingehend statt, dass nun die ermittelten Arbeitspakete in einen zeitlichen Bezug zueinander gesetzt werden. Dazu müssen die Arbeitspakete ggf. weiter in einzelne Vorgänge
307 11.5 · Die Projektplanung
zerlegt und deren logische Ausführungsreihenfolge ermittelt werden. Dabei wird auch sichtbar, welche Tätigkeiten parallel abzuarbeiten sind und welche möglichen Abhängigkeiten zwischen Tätigkeiten bestehen. In dieser Planungsphase wird zum ersten Mal der Aufwand der einzelnen Arbeitspakete deutlich und erlaubt eine Schätzung in zeitlicher wie finanzieller Hinsicht. Die Addition der Ausführungszeiten erlaubt die Berechnung der Gesamtprojektdauer und kann einen Hinweis auf vielleicht notwendige Puffer zwischen kritischen Tätigkeitsschritten geben. Für die Darstellung des Projektablaufplans gibt es drei gebräuchliche Darstellungsformen: Listentechnik (Terminplan). Die Vorgänge werden
in Form einer Liste und in der Reihenfolge ihrer Abarbeitung übersichtlich aufgeführt. Dabei werden die Bearbeitungsdauer sowie die Anfangs- und Endtermine des jeweiligen Vorgangs dargestellt. Diese Art der Terminplanung stellt hinsichtlich des benötigten Arbeits- und Mittelaufwands die einfachste Lösung dar und eignet sich deshalb am besten für kleine und überschaubare Projekte ohne komplexe Abhängigkeiten. Netzplantechnik. Die Darstellung von Projektab-
läufen mittels Netzplänen ist eine sehr verbreitete Methode und hat zum Ziel, komplexe Arbeitsabläufe, logische Verknüpfungen und zeitliche/terminliche Abhängigkeiten analysieren, planen, steuern und überwachen zu können. Die Netzplantechnik (NPT) hat die Beantwortung folgender Fragen zum Ziel: ▬ Wann kann frühestens und wann muss spätestens mit der Aufgabe begonnen werden? ▬ Wann ist die Tätigkeit frühestens beendet und wann muss sie es spätestens sein? ▬ Die Verzögerung welcher Aktivitäten würde sich besonders auf den geplanten Endtermin auswirken? ▬ Welcher zeitliche Spielraum ist in dem Projekt vorhanden und müssen eventuelle Puffer eingeplant werden? Die Netzplantechnik ist sehr komplex und verlangt nach einer entsprechenden Software zur Abwicklung der aufwändigen Rechenvorgänge. Aufgrund
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dessen eignet sie sich vor allem für Projekte mit sehr komplexen Arbeitsabläufen, deren logischen und terminlichen Abhängigkeiten mit anderen Methoden (z. B. Balkenplantechnik) nicht umfassend genug dargestellt werden können. Balkenplantechnik. Die Balkenplantechnik (auch
Gantt-Diagramm genannt) ist eine weitere, im Gegensatz zur Netzplantechnik aber weniger aufwändige Möglichkeit der Ablaufdarstellung. Die graphische Darstellung ermöglicht die Visualisierung eines Projektverlaufs anhand von Balken, die über einer waagrechten Zeitachse eingetragen werden. Es handelt sich also um einen Kalender mit einer horizontalen Zeitachse, einer vertikalen Vorgangsliste und den entsprechend eingetragenen Aktivitätenbalken. Die Länge des Balkens zeigt die jeweilige Vorgangsdauer, der Anfang und das Ende des Balkens den geplanten Vorgangsbeginn und -abschluss an. Die Darstellungsweise erlaubt es, diese Technik sowohl für die Fein- als auch die Grobplanung einzusetzen. Der Vorteil der Balkenplantechnik im Vergleich zur Netzplantechnik liegt zum einen in der Übersichtlichkeit, da die grafische Darstellung die Orientierung im Projekt erleichtert, zum anderen in der geringeren Komplexität, was die Erstellung und Fortschreibung erleichtert. Nachteilig ist die fehlende Darstellungsmöglichkeit von Abhängigkeiten zwischen den Tätigkeiten zu werten. Die Balkenplantechnik eignet sich aus diesen Gründen vor allem für weniger komplexe Projekte mit wenigen Abhängigkeiten untereinander, aber auch zur Groborientierung neben einem Netzplan.
11.5.4 Meilensteintechnik
Innerhalb jeder Phase gibt es wichtige Ergebnisse oder Ereignisse, die mittels sog. Meilensteine markiert werden können. Diese definieren ein überprüfbares Zwischenergebnis sowohl in inhaltlicher als auch terminlicher Hinsicht. Somit erlauben sie eine präzise Beurteilung des Projektfortschritts sowohl gegenüber der Projektleitung als auch gegenüber dem Auftraggeber. Erst wenn die vorher mit dem Meilenstein verknüpften Anforderungen auch tatsächlich erfüllt wurden, kann die-
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Kapitel 11 · Projektmanagement
ser überschritten und so der Eintritt in den nachfolgenden Projektabschnitt vollzogen werden. Mit jedem Meilenstein ist eine Berichterstattung an den Projektentscheider (Auftraggeber und/oder Projektlenkungsausschuss) verknüpft. Die wichtigsten Meilensteine markieren die Übergänge zwischen den Hauptphasen des Projekts. Gerade bei Projekten mit mehreren parallel verlaufenden Aufgaben greifen oftmals verschiedene Phasen ineinander. In solchen Fällen ist für den Projektleiter die strikte Beachtung der Meilensteine von entscheidender Bedeutung. Ist nämlich ein Meilenstein ohne Eintritt des damit verknüpften Ergebnisses überschritten, ist ein sofortiges Eingreifen erforderlich, um Zeit- oder Budgetüberschreitungen zu vermeiden.
11.5.6 Kostenplanung
> An einen Meilenstein ist demnach ein in sich
Personalkosten. Sie beziehen sich zum einen auf die in der Kapazitätsplanung ermittelten Kosten für eigene Mitarbeiter, aber auch für externe Projektmitarbeiter wie Berater usw. Maßgeblich ist der Kostenaufwand pro Mitarbeiter innerhalb der gesamten Projektlaufzeit, da auch interne Mitarbeiter für die Dauer des Projekts von ihrer Linienfunktion abgezogen werden und dadurch an anderer Stelle Kapazitäten fehlen oder ersetzt werden müssen.
geschlossenes Arbeitsergebnis gebunden, dessen Kontrolle den Projektfortschritt belegen kann (Litke u. Kunow 2002, S. 38).
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11.5.5 Kapazitätsplanung
In dieser Planungsphase werden die zur Projektdurchführung erforderlichen Ressourcen den jeweiligen Tätigkeiten zugeordnet. Als Grundlage dient die Termin- und Ablaufplanung, die angibt, wann welcher Vorgang abzuarbeiten ist. Hier zeigt sich, ob die vorhandenen Ressourcen, also Personal und Betriebsmittel (z. B. Sachmittel, Räumlichkeiten), im geplanten Zeitraum und in der benötigten Menge überhaupt zur Verfügung stehen. Gerade hier ist besondere Sorgfalt geboten, denn eine zu optimistische Ressourceneinschätzung kann die Zeitplanung durcheinander bringen, die Projektkosten steigen lassen und Ressourcenkonflikte mit der Linienorganisation provozieren. Nur eine realistische und sorgfältige Planung der benötigten Ressourcen des Projekts mit genügender Einrechnung von Puffern für eventuelle Ausfälle lässt für alle Beteiligten Planungssicherheit entstehen und hilft Konflikte schon im Vorfeld zu vermeiden. Ziel jeder Kapazitätsplanung muss die Kongruenz zwischen Ressourcenbedarf des Projekts und Ressourcenkapazität der beteiligten Organisation sein.
Letztendlich sind es meist die geschätzten Gesamtkosten, die im Rahmen von Kosten-Nutzen-Überlegungen über die Durchführung oder Nichtdurchführung eines Projekts entscheiden. Aus diesem Grund hat der Faktor Kosten neben dem Faktor Zeit innerhalb der Projektplanung den höchsten Stellenwert. Doch gerade bei Projekten ist die Kostenplanung meist nicht viel mehr als eine grobe Schätzung anhand des geplanten Verlaufs, weil Erfahrungswerte zumeist fehlen und der tatsächliche Projektverlauf nicht realistisch genug antizipiert werden kann. Einteilung der Projektkosten
Sachkosten. Hierbei handelt es sich um den Verbrauch von Gütern bzw. Dienstleistungen zum Zweck der Projektdurchführung, also beispielsweise EDV-Anlagen, Büromaterial, Büromieten usw. Da die Kosten in den meisten Fällen parallel zum Projektfortschritt steigen, ist eine gewissenhafte Kostenplanung im Vorfeld des Projekts unabdingbar. Doch genau hier liegt die Problematik dieses Planungsschritts. Zu Beginn des Projekts sind die Kosten noch nicht exakt überschaubar, dafür ist die Einflussnahme auf den weiteren Kostenverlauf noch sehr hoch. Wenn dann im fortgeschrittenen Stadium des Projekts aber die Kosten klar erkennbar werden, tendiert deren Beeinflussbarkeit meist gegen Null und müssen wohl oder übel in Kauf genommen werden. Am Ende der Kostenplanung steht die Summierung der einzelnen Kostenpakete zur Gesamtkostensumme. Spätestens hier zeigt sich, ob der zu leistende Aufwand in vernünftiger Relation zum erwarteten Nutzen steht. Die Ausnahme bilden
309 11.6 · Projektdurchführung
hierbei nur Muss-Projekte, deren Durchführung aufgrund von geänderten gesetzlichen Vorgaben unbedingt erforderlich wird.
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Vor allem außerhalb der reinen Projektorganisation ist es oft schwer, die anfallenden Kosten genau zwischen Projekt und Linie zuzurechnen, etwa in der Stabs- oder Matrix-Projektorganisation, wo anfallende Projektarbeiten innerhalb der Linienorganisation erledigt werden. Im Vorfeld sollte also geklärt werden, welche Kosten überhaupt ermittelbar sind und in die Kostenplanung übernommen werden können.
Gruppe zueinander. Gerade in Krisen- oder Konfliktphasen kann ein solcher Puffer helfen das Verhältnis untereinander und zum Projekt neu zu ordnen und damit den Blick wieder auf die eigentliche Tätigkeit zu fokussieren. Die Anzahl und Dauer solcher Pufferzeiten kann sicher im Vorfeld des Projekts nicht vollständig antizipiert werden, dennoch aber sollte die eigentliche Projektplanung auf deren generelle Notwendigkeit Rücksicht nehmen. Die Form der Gestaltung dieser Puffer sollte jede Gruppe für sich definieren, wobei sich in der Praxis eine projektbegleitende Supervision mit einem externen Moderator als eine derartige Möglichkeit bewährt hat.
11.5.7 Risikoanalyse
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Jedes Projekt birgt in sich eine Vielzahl von Risiken, die sich vor allem aus der Tatsache ableiten, dass zumeist Erfahrungswerte fehlen. Hier hilft die Risikoanalyse dabei, mögliche im Projektverlauf auftretende Probleme und Schwierigkeiten schon im Planungsstadium zu analysieren und hinsichtlich ihrer Relevanz zu bewerten. Besonders heikle Projektphasen, Planungslöcher oder noch unklare Ressourcenkapazitäten bieten sich besonders zur genaueren Betrachtung an. Ziel der Risikoanalyse sollte es sein, Alternativen und Notfallpläne zu erarbeiten und laufend fortzuschreiben. Auch wenn nicht jede Eventualität im Vorfeld antizipiert werden kann, ist die Risikoanalyse doch ein wichtiges Hilfsmittel dabei, in plötzlichen Krisensituationen schneller und zielgerichteter reagieren zu können.
11.6.1 Der Projektstart
Zurechnungsproblematik
11.5.8 Bedeutung von Sozialpuffern
Durch den in den meisten Projekten oft vorherrschenden Termindruck wird ein wichtiger, die Projektplanung beeinflussender Faktor oft übersehen, der im Sinne einer effektiven und kreativen Arbeit von besonderer Bedeutung ist. Die Rede ist von der Notwendigkeit sog. Sozialpuffer, also Zeiträumen innerhalb des Projekts mit dem Ziel, der Gruppe Gelegenheit zur Selbstreflexion zu geben. Hierbei geht es weniger um die eigentliche Projektarbeit als vielmehr um das Verhältnis der
Projektdurchführung
Die Projektplanung ist abgeschlossen und mit Auftraggeber oder Lenkungssausschuss abgestimmt, alle relevanten Abteilungen des Unternehmens sind über das Vorhaben informiert und bestenfalls sogar mit den Projektzielen identifiziert. Das Projektteam hat sich gebildet und wartet gespannt darauf mit der Arbeit zu beginnen. Nun ist es an der Zeit, alle Projektbeteiligten und -unterstützer wie Abteilungen, Zuarbeiter usw. mit einem Kick-Off-Meeting auf die kommende Arbeit vorzubereiten. Ziel der Veranstaltung sollte es sein, allen Beteiligten ein Bild vom Ziel des Projekts zu vermitteln, Unterstützer zu begeistern und den Mitgliedern der Projektgruppe selbst einen weiteren Motivationsschub zu liefern. Ein gelungenes Kick-Off-Meeting kann dem Projekt einen wichtigen Bonusvorschuss gerade auch in der Restorganisation bescheren.
11.6.2 Steuerung im Projektverlauf
Nach Abschluss der Planung beginnt die eigentliche Projektarbeit. Hier zeigt sich, ob die gedankliche Vorwegnahme des Projektverlaufs in der Projektplanung mit der Realität mithalten kann. Dabei treten immer kleinere oder größere Abweichungen auf, die es im Rahmen der Projektsteue-
310
Kapitel 11 · Projektmanagement
rung zu erkennen und je nach Relevanz für den weiteren Verlauf zu korrigieren gilt. Die Projektsteuerung ist »die konsequente Fortführung der Projektplanung in der Realisierungsphase« (Boy et al. 1995, S. 89). Wie funktioniert Projektsteuerung? Ziel der Projektsteuerung ist die kontinuierliche Überwachung des Projektverlaufs anhand besonders projektrelevanter Parameter wie beispielsweise Terminen, Kosten und Ergebnissen (Meilensteinen). Hierbei wird der reale Ist-Zustand laufend mit dem SollZustand der Projektplanung abgeglichen, auftretende Abweichungen analysiert und interpretiert und Korrekturmaßnahmen eingeleitet. Ziel der Projektsteuerung. Zwei Ziele hat die Pro-
jektsteuerung: Durch einen kontinuierlichen IstSoll-Vergleich und der Anwendung von Korrekturmaßnahmen soll zum einen das Projekt nah am Plan bleiben. Zum anderen wird die Projektplanung durch Einarbeitung neuer Erkenntnisse ständig verbessert.
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Wer steuert das Projekt? Die Hauptverantwortung
für das Gelingen des Projekts liegt bei der Projektleitung. Sie hat die ordnungsgemäße Abarbeitung der einzelnen Arbeitspakete im Sinne der Planung zu überwachen und zu steuern. Je nach Entscheidungsbefugnis hat sie im Störungsfall die Aufgabe selbständig Gegenmaßnahmen einzuleiten oder den Auftraggeber/Lenkungssausschuss über die Situation zu informieren und das weitere Vorgehen abzustimmen. Steuerung über Meilensteine. Anhand der im Rah-
men der Projektplanung festgeschriebenen Meilensteine kann der Fortgang des Projekts sowohl auf der Leistungs- wie der Zeitebene kontrolliert und beurteilt werden. Die Überwachung von Zwischenergebnissen liefert gute Informationen über den aktuellen Termin- und Kostenrahmen und ist weniger aufwändig als die Kontrolle jedes einzelnen Arbeitspakets. Agieren statt reagieren. Die Problematik der regulären Projektsteuerungsmechanismen liegt darin, dass erst eine eingetretene Abweichung vom Plan-
Soll eine Korrekturmaßnahme einleiten kann. Dann aber ist der Fehler schon eingetreten und kann nur noch behoben, jedoch nicht mehr verhindert werden. Besser wäre es, mögliche Fehler schon im Vorfeld ihrer Entstehung zu erkennen und zu neutralisieren. Dies setzt neben einer exakten Planung auch eine erfahrene Projektleitung mit dem nötigen Gespür dahingehend voraus, bereits Entwicklungstendenzen wahrnehmen und deuten zu können. Besonders im sensiblen Bereich der Arbeit im Projektteam kann diese Fähigkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden. Projekte vorzeitig beenden. Manchmal kann es im
Verlauf des Projekts zu Veränderungen kommen, die das Projekt unter Beachtung ökonomischer Gesichtspunkte nicht mehr sinnvoll erscheinen lassen oder keine realistische Aussicht mehr darauf zulassen, das Projektziel zu erreichen. In einem solchen »schmerzlichen Fall« sollten die Projektleitung und das gesamte Team den Mut besitzen, das Projekt zu beenden anstatt z. B. aus Prestigegründen oder aus Gründen der eigenen Existenzsicherung (bei externen Mitarbeitern) den Blick vor der Wahrheit zu verschließen und weitere unnötige Kosten zu verursachen und damit den Auftraggeber zu belasten. Im Hinblick auf die Zukunft würde ein solches Verhalten weitere Projekte von vornherein belasten.
11.6.3 Führung im Projektteam Teamentwicklung. Ob das Projektteam in der Lage ist, gemeinsam erfolgreich im Projekt zu arbeiten, zeigt sich erst in der eigentlichen Arbeit. Da das Team sich zumeist für das jeweilige Projekt neu formiert hat, steht zu Beginn der Projektarbeit die Teamentwicklung im Vordergrund. Aus diesem Grund beginnt die Projektarbeit nicht sofort mit »Volllast«, sondern muss sich erst auf das zukünftige Niveau zu bewegen. Die Teamarbeit vollzieht sich in vier Phasen (Witt 1999, S. 82 ff.). 1. Initialphase: Diese erste Phase der Teambildung ist von großer Ambivalenz gekennzeichnet. Zum einen herrscht eine Atmosphäre von Unsicherheit
311 11.6 · Projektdurchführung
und Orientierungsmangel hinsichtlich Zielsetzung und Anforderungen des Projekts, die von Seiten des Auftraggebers an das Team gestellt werden. Zum anderen aber tragen die Teammitglieder aber auch positive Erwartungen und Hoffnungen in sich, die sich auf das Projekt selbst, aber auch auf die gemeinsame Arbeit im Team beziehen. In dieser Phase sind vor allem die emotionalen Fähigkeiten der Projektleitung dahingehend gefragt, die Teammitglieder füreinander und für die Projektaufgabe zu motivieren. 2. Organisationsphase: Hier steht die Aufgabenverteilung innerhalb des Projekts im Vordergrund. Nach der Initiierung der Gruppe steht nun die Strukturierung der Beziehungen innerhalb der Gruppe auf der Tagesordnung. Erste Konflikte und Diskussionen kommen auf, die z. B. dem Erkennen einer Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität entspringen, das Projektziel thematisieren oder sich im zwischenmenschlichen Bereich von Sympathie und Antipathie bewegen. In dieser Phase sollte die Projektleitung nur zögernd eingreifen, um der Gruppe die Gelegenheit zu geben, im offenen Austausch zueinander zu finden. 3. Integrationsphase: Die in der Organisationsphase thematisierten Problematiken und Lösungsvorschläge müssen nun sachlich bewertet und anhand von Projektziel und Forderungen des Auftraggebers abgewogen werden. Ziel ist es, einen Konsens über die weitere Projektarbeit zu finden, der zwar mit Mehrheitsentscheidung getroffen werden kann, jedoch von allen vertreten und vor allem verstanden werden sollte. Das Team muss sich über den nun abgesteckten Weg einig sein und auch bereit, diesen zusammen zu gehen. Die Funktion der Projektleitung erstreckt sich in dieser Phase auf die des Moderators mit dem Ziel, die teilweise konträren Meinungen zu einem Konsens zusammenzuführen. 4. Konsolidierungsphase: Der in der Integrationsphase gefundene Konsens muss nun in die konkrete Arbeit umgesetzt werden, was aber nicht bedeuten soll, dass nun alle weiteren Konflikte und Diskus-
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sionen sofort unterbunden werden müssen. Nicht selten entsteht erst aus Konflikten die Chance auf eine bessere Lösung. Spätestens jetzt sollte auch das Team zu einer wirklichen Gruppe verschmolzen sein und geschlossen hinter dem Projekt stehen in der festen Überzeugung, nur gemeinsam das Projekt erfolgreich durchführen zu können. Die Projektleitung nimmt jetzt ihre eigentliche Aufgabe wahr, durch Forderung und Förderung die Gruppe zum Erfolg zu führen. Kommunikation als Führungsinstrument. Kommunikation ist das wichtigste und effektivste Instrument der Projektleitung und gerade für
die erfolgreiche und zielgerichtete Führung des Projektteams unabdingbar. Durch die besondere Struktur von Projekten außerhalb der formalen Linienorganisation und den damit veränderten Unterstellungsverhältnissen kommt es im Projekt besonders darauf an, vor allem über Kommunikation und weniger über Weisungen und Anordnungen zu führen. Eine Projektleitung, die es versteht, das Projektziel transparent zu machen, alle Beteiligten in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, laufend umfassend zu informieren und generell eine Atmosphäre von Wertschätzung und Achtung untereinander zu schaffen, wird weder besonders autoritär auftreten noch das ganze Arsenal an mitunter fragwürdigen Motivationswerkzeugen einsetzen müssen, um erfolgreich zu sein. Denn Begeisterung ist der beste Motivator und ein begeistertes Team versteht es viel besser sich selbst zu führen. Konflikte im Team. Auch eine noch so gute Team-
zusammensetzung in Kombination mit einer kompetenten und sozio-emotional erfahrenen Projektleitung kann Konflikte in der Gruppe nicht gänzlich ausschließen. Vielmehr als Konflikte inhaltlicher Art sind es Konflikte sozialer Art, die auftreten und das gesamte Projekt zum Einsturz bringen können (vgl. Litke u. Kunow 2002, S. 114). Konflikte sind kommunikative Auseinandersetzungen und können aus den unterschiedlichsten Gründen entstehen. Je mehr Uneinigkeit über Ziel und Richtung des Projekts besteht, je unrealistischer der Plan sich in der Realität erweist
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Kapitel 11 · Projektmanagement
und je schlechter es um den Teamgeist bestellt ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit für Konflikte. Auch wenn sich Konflikte nie ganz vermeiden lassen kann doch im Vorfeld des Projekts viel dafür getan werden, ihre Anzahl deutlich zu minimieren.
Strategien der Konfliktlösung
▬ Verlierer-Gewinner-Strategie: Der Kon-
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flikt wird widerstandslos zugunsten des Konfliktgegners beendet. Damit wird der aktuelle Konflikt zwar beendet, das eigentliche Problem aber nicht gelöst. Eine Konflikteskalation droht. ▬ Gewinner-Verlierer-Strategie: Man setzt sich durch und lässt den Konfliktgegner als Verlierer zurück. Auch in diesem Fall ist der »Frieden« schnell wieder hergestellt, doch nicht selten nimmt der Unterlegene zu einem späteren Zeitpunkt den Kampf plötzlich wieder auf. ▬ Verlierer-Verlierer-Strategie: Keine der beiden Seiten gewinnt, vielmehr ist für beide die Situation schlechter als zuvor. Eine Möglichkeit der Lösung wäre die Delegation des Konflikts an einen unparteiischen Dritten, dessen Urteil von beiden Parteien akzeptiert wird. Oder aber man geht den schwierigeren Weg der gemeinsamen Suche nach einem Kompromiss, der von beiden Seiten Abstriche vom eigenen Standpunkt verlangt. ▬ Gewinner-Gewinner-Strategie: Die wirkliche und konstruktive Konfliktbewältigung im Sinne eines Konsenses lässt nur Gewinner zurück und eröffnet die Möglichkeit, den Konflikt auch als Chance zu sehen. Die Diskussion der widerstrebenden Meinungen führt dazu, diese zu einem höheren Ganzen zusammenzuführen (Boy et al. 1995, S. 62 f.).
Verständlicherweise sind Konflikte auf den ersten Blick immer negativ besetzt, können sie doch die Arbeitsatmosphäre vergiften sowie wertvolle Zeit und Ressourcen kosten. Man wird deshalb bemüht
sein, sie zu vermeiden oder zumindest schnellstmöglich zu unterbinden. Doch wohnt Konflikten auch ein enormes Potential inne, welches vernünftig genutzt dem Projekt mehr nutzen als schaden kann. > Oft bringen erst Konflikte die notwendige Energie hervor, überfällige Probleme oder kreative Blockaden in Angriff zu nehmen und zu überwinden und oft lenkt erst ein wirklicher Konflikt die Aufmerksamkeit auf ein schon länger schwelendes Problem.
Den Konflikt sofort wieder zuzudecken würde bedeuten, das Problem nur mit stärkerer Intensität auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Natürlich ist nicht jeder Konflikt erwünscht oder gar notwendig, sondern verlangt nach einer vernünftigen und ehrlichen Klärung. Hierbei ist im Sinne einer Konfliktanalyse zuerst zu ermitteln, wer alles am Konflikt beteiligt ist und um welche Art von Konflikt es sich handelt. Erst jetzt kann beurteilt werden, welche Relevanz der Konflikt besitzt und welche Maßnahmen am besten geeignet sind ihn zu beenden. Je nachdem, ob der Konflikt z. B. zwischen Mitgliedern des Projektteams, zwischen Projektteam und Restunternehmen oder auch zwischen Projektleitung und Linienvorgesetzten oder Auftraggeber besteht, können völlig unterschiedliche Strategien zur Konfliktbewältigung notwendig werden. Generell ist es wichtig, einen erkannten Konflikt so früh wie möglich anzugehen anstatt ihn aufgrund eines nur oberflächlichen Teamgefühls zu kaschieren. Meist nämlich löst sich ein Konflikt nicht von selbst, sondern neigt vielmehr mit zunehmender Dauer zur Eskalation.
11.6.4 Der Projektabschluss
Ein erfolgreicher Projektabschluss setzt ein erfolgreiches Projekt voraus. Nur wenn das Projekt für alle Beteiligten als ein Erfolg zu werten war wird man sich auch die Mühe machen, das Ende positiv zu gestalten und auf den eigenen Erfolg zu verweisen. Demgegenüber wird nach einer destruktiven Projektarbeit vermutlich niemand mehr die Kraft und die Motivation besitzen, das Projektende
313 Literatur
bewusst zu gestalten und stattdessen das ganze Vorhaben stillschweigend begraben. Vielleicht ist auch der Auftraggeber selbst unzufrieden mit dem Ergebnis und möchte dem Projekt keine weitere Aufmerksamkeit widmen. Im Normalfall aber hat sich die Projektplanung in der Realität als vernünftig und tragbar erwiesen und das Projekt unter Einhaltung der Zielvorgaben hinsichtlich der erreichten Ergebnisse, der benötigter Ressourcen oder Kosten sowie der eingehaltenen Termine erfolgreich zum Ziel geführt. Die vorrangige Aufgabe der Projektleitung zum Projektabschluss ist die Erstellung und Abgabe des Projektabschlussberichts an den Auftraggeber oder den Lenkungsausschuss. Der Abschlussbericht enthält alle projektrelevanten Daten wie erreichte Ziele, Ergebnisse, Leistungen, Gesamtkosten und wird unter Beteiligung des Projektteams erstellt und meist im Rahmen einer Abschlusssitzung übergeben. Die formale Annahme des Berichts in der vorliegenden Form beendet das Projekt offiziell. Mit der Annahme des Projektergebnisses durch den Auftraggeber hat die Projektgruppe ihre Daseinsberechtigung verloren und muss aufgelöst werden. Zuvor sollte man noch einmal gemeinsam, z. B. in einer Supervision, offen und konstruktiv über das Erreichte und den Weg dorthin reflektieren. Aufgabe der Projektleitung ist es hier vor allem die Leistungen der Gruppe zu würdigen und das Ergebnis entsprechend hervorzuheben. Besonders bei internen Projektmitarbeitern stellt sich jetzt die Frage nach der Reintegration in die Linienorganisation, gerade wenn das Projekt über einen längeren Zeitraum und in Vollzeit bearbeitet wurde. Die Projektleitung sollte unterstützend zur Seite stehen und den Kontakt zu Linienvorgesetzten suchen. Ein Projektmitglied, das durch ein Projekt in der nachfolgenden Linientätigkeit im Vergleich zu der Zeit vor dem Projekt Nachteile in Kauf nehmen muss, ist für weitere Projekte in der Regel verloren, zumindest was Motivation und Einsatzbereitschaft angeht. Und schließlich sollte ein feierlicher Abschluss das Projekt für die Beteiligten mit einem besonderen Höhepunkt abschließen. In der späteren Rückschau wird das Projekt so immer mit einem glanzvollen Ende verbunden sein und zugleich für weitere derartige Vorhaben motivieren.
11
? Wissens- und Transferfragen 1. Wodurch ist ein Projekt gekennzeichnet? 2. Wodurch ist der wachsende Einfluss des Projektmanagements im Wirtschaftsleben zu erklären? 3. Welche Elemente sind in der Projektplanung von Bedeutung? 4. Was ist ein Meilenstein? 5. Welche systemtheoretischen Aspekte sind im Projektmanagement von Bedeutung? 6. Welche vier Phasen der Teamentwicklung kennen Sie? 7. Welche Arten der Organisationsstruktur von Projekten gibt es? 8. Durch welche Fähigkeiten zeichnet sich eine gute Projektleitung aus? 9. Welche Strategien zur Konfliktlösung gibt es? 10. Wie gestaltet sich der Projektabschluss?
Literatur Boy J, Dudek C, Kuschel S (1995) Projektmanagement. 2. Aufl. Gabal, Offenbach Burghardt M (2000) Projektmanagement. 5. Aufl. Publicis, Erlangen Burghardt M (2001) Einführung in Projektmanagement. 3. Aufl. Publicis, Erlangen Ewert W et al (2001) Handbuch Projektmanagement Öffentliche Dienste. 4. Aufl. Kellner, Bremen Guddat C, Seeberger B (1999) Projektmanagement. In: Kerres A et al (Hrsg) Lehrbuch Pflegemanagement. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Heintel P, Krainz E (2000) Projektmanagement. 4. Aufl. Gabler, Wiesbaden Kliebisch U, Sommer P (1997) Projektarbeit. Schneider, Baltmannsweiler Kraus G, Westermann R (1998) Projektmanagement mit System. 3. Aufl. Gabler, Wiesbaden Litke H, Kunow I (2002) Projektmanagement. 3. Aufl. Haufe, Planegg Luhmann N (1993) Soziale Systeme. Suhrkamp, Frankfurt/M Roth E (1999) Erfolgreich Projekte leiten. 2. Aufl. Gabler, Braunschweig Schlick G (1997) Projektmanagement – Gruppenprozesse – Teamarbeit. 2. Aufl. expert, Renningen-Malmsheim Schwarze J (2001) Projektmanagement mit Netzplantechnik. 8. Aufl. nwb, Herne Witt M (1999) Teamentwicklung im Projektmanagement. Dissertation. Universität der Bundeswehr, Hamburg
12 Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie B. H. Mühlbauer – 315
12.5
Zusammenfassung und Ausblick
12.1
Einführung
12.2
Kultur und Unternehmenskultur – 317
Wissens- und Transferfragen
12.3
Strategie und Unternehmenskultur – 327
Literatur
12.4
Unternehmensethik und Unternehmenskultur – 330
12.1
Einführung
Wenn Menschen als Patienten in ein Krankenhaus kommen, sind sie in der Regel durch niedergelassene Ärzte eingewiesen worden. Aus den hilfebedürftigen, akut erkrankten Menschen werden durch die Entscheidung von niedergelassenen Ärzten erst Patienten für das eine oder andere Krankenhaus. Sie beraten den Patienten bei der Wahl des Krankenhauses, nennen Chefärzte und Indikationen in einem Atemzug, um den Patienten die Entscheidung zu erleichtern. Oftmals konkurrieren die Ratschläge des niedergelassenen Arztes mit denen der Angehörigen, Freunde und Bekannten, die bereits über Erfahrungen mit Krankenhäusern als ehemalige Patienten verfügen oder sich durch Dritte eine Meinung über ein Krankenhaus gebildet haben. Der Empfehlung durch niedergelassene Ärzte dürfte eine große Bedeutung zukommen. Den Patienten bereits hier als mündigen Bürger zu akzeptieren, seine Wahl durch Beratung zu unterstützen und ihm nicht die Wahl abzunehmen, bedarf einer hohen menschlichen Kompetenz, die als Anforderung an niedergelassene Ärzte zu richten ist. Nicht alle Patienten kommen jedoch auf diesem Weg in ein Krankenhaus. Viele Menschen sind in ihrer Entscheidungsfähigkeit getrübt, sind nicht bei Bewusstsein, kommen als Notfall in ein Krankenhaus. Für sie muss durch Dritte entschieden
– 335
– 336
– 336
werden, seien sie nun Angehörige und/oder Ärzte, die als Sachwalter und Experten Entscheidungen für den Patienten treffen müssen. Auch hier kommt es darauf an, alles zum Wohl des Patienten zu richten, die richtige Diagnostik und Therapie zu bestimmen, ungetrübt von außermedizinischen Erwägungen Verantwortung für den Patienten zu übernehmen. Die Qualität der Beziehung zwischen niedergelassenem Arzt und einem Krankenhaus ist für die Belegungssituation, für die Quantität und Qualität der notwendigen und angebotenen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, für die Vorhaltung und zeitliche Beanspruchung des Personals und für den Einsatz von Materialien (z. B. Medikamente, Verbandsstoffe) von besonderer Bedeutung. Neben medizinische Erwägungen treten damit zunehmend ökonomische Überlegungen einer notwendigen betriebswirtschaftlichen Auslastung. Im Verlauf der hoffentlich erfolgreichen Behandlung wandelt sich das Bild des Patienten. Seine Interessen erstrecken sich bei positivem Behandlungsverlauf mehr auf Service- und Hotelfaktoren, die ihm seinen Aufenthalt im Krankenhaus so angenehm wie möglich machen sollen. Ein freundliches, vor allem ärztliches und pflegerisches Personal, ein gutes Essen, ein Ein- oder Zweibettzimmer, möglichst mit Dusche und WC, eine hervorragende Ausstattung mit Fernseher, Telefon, Radio, vielleicht sogar Internet-Anschluss und PC, farbige
316
12
Kapitel 12 · Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie
Bettwäsche, lassen mehr die Erwartungen des Patienten als Kunden entstehen, der zudem bereit ist, für besondere Leistungen auch als »Nachfrager« gesondert zu bezahlen. Das Wahlleistungsangebot des Krankenhauses stellt hier eine breite Offerte dar, aus denen Patienten eben kaufkräftig wählen können und bezahlen wollen. Nicht selten sind viele Patienten für solche Zusatzleistungen auch privat versichert, wodurch sich die Erwartung an einen besonderen Service in unbedingtes Muss verwandelt, zu deren kompromissloser Inanspruchnahme der Patient sich im Recht wähnt. Die Bezeichnungen »Patient« und »Kunde« stellen sich damit als prozessuale Kategorie einer Versorgungskette dar, in der sich der »Charakter« eines Menschen, die Perspektive der Akteure und die Wahrnehmung auf ihn häufig wandelt. Aus einem abhängigen, auf die Hilfe Dritter notwendig angewiesenen Mensch als Patient wird bei einem positiven Behandlungsverlauf ein erwartungsgesteuerter Kunde. Menschen als Mitarbeiter im Krankenhaus müssen verstehen, mit solchen Veränderungen der Patienten umzugehen. Die unterschiedlichen und immer individuell höchst abweichenden Verhaltensweisen und Erwartungen der Patienten erfordern neben einer durchaus standardisierbaren, sachbezogenen Diagnostik und Therapie vor allem die Offenheit der Mitarbeiter, sich auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen als Patienten und Kunden einzustellen. Neben allen qualitätsgesicherten und standardisierten Abläufen ist die spezielle Situation mit ihren Anforderungen an eine mitfühlende, mitmenschliche Beziehung zwischen den Akteuren eine Besonderheit der Dienstleistungsarbeit im Krankenhaus. Wärme, Empathie, Empfindsamkeit, die Fähigkeit mitzufühlen und zu trauern, die Sprache des Patienten zu sprechen, seine Informationswünsche ernst zu nehmen usw. sind Attribute, die nicht selten als »soziale Kompetenz« in die Lehrbücher zur Personalwirtschaftslehre eingegangen sind. Diese Interaktionsqualität zwischen Mitarbeitern und Patienten kann nicht nur als Kennzeichen für eine funktionierende Arzt-Patienten- oder Pflege-Patienten-Beziehung gedeutet werden. Die Interaktionsqualität, die auf den Patienten gerichtet ist, hat ihre Bestimmungsgründe nicht nur in der indi-
viduell und über verschiedene Sozialisationsmechanismen erworbenen Persönlichkeit eines Mitarbeiters. Sie ist ebenso abhängig von der Interaktionsqualität der Mitarbeiter untereinander. Die Kultur eines Krankenhauses, Art der Führung der Mitarbeiter, die Kunst, Konflikte zwischen Mitarbeitern gleicher und verschiedener Hierarchieebenen und Berufsgruppen als Motivationsquelle zur ständigen Veränderung zu nutzen, stellen auch Quellen dar, aus denen sich ein Commitment der Mitarbeiter zu »ihrem« Krankenhaus, zu »ihrer« Station und zu »ihrer« Führung herleiten lässt. Arbeitszufriedenheit erwächst aus der Qualität dieser Beziehung, ist Teil einer Umgangskultur zwischen Menschen als Mitarbeiter, die das abgestimmte Miteinander eines nur arbeitsteilig zu organisierenden Krankenhauses besonders betont. Das Team wird zum Inbegriff einer vormals hierarchisch und fachlich verteilten Kompetenz und Verantwortung, das situativ die zunehmende Arbeitsteilung wieder zu einem abgestimmten Ganzen zusammenführt. Menschen als Mitarbeiter können mittelfristig in der Patientenbehandlung nur erfolgreich sein, wenn sie selbst erfahren, was es bedeutet, als ganzer Mensch ernst genommen zu werden. Ihre Qualität darf deshalb nicht nur auf die Fachlichkeit reduziert werden. Ihre Qualität besteht auch in der Möglichkeit, durch die Kultur eines Krankenhauses erst zu dem zu werden, was die Organisation als sozialen und ökonomischen Menschen braucht: eine interessierte, kritikund damit lernfähige Persönlichkeit, die sich in den Dienst eines Krankenhauses stellt, um damit den Zielen des Krankenhauses zu dienen, ohne dabei die persönlichen Ziele zu vergessen. Dies ist im Übrigen ein überaus ökonomisches Argument, da Geld als alleinige Motivationsquelle für Mitarbeiter schon lange an Bedeutung verloren hat, Betriebsklima, Arbeitszufriedenheit und soziale Anerkennung als nichtmonetäre Motivationsfaktoren an Bedeutung gewonnen haben. Wenn es gelingt, bei gleichen Tarifverträgen und Vergütungen für Mitarbeiter eine bessere Unternehmenskultur im Vergleich zur Konkurrenz zu schaffen, dann sind diese »weichen« Faktoren echte ökonomische Erfolgsfaktoren, die kostenmindernd und/oder leistungsund qualitätssteigernd wirken können.
Diese einführenden Bemerkungen können geradezu als Prüfraster für die Diskussion über
317 12.2 · Kultur und Unternehmenskultur
Unternehmenskultur im Krankenhaus genutzt werden. Bevor dies jedoch geschehen kann, sollen einige grundsätzliche Ausführungen über Kultur und Unternehmenskultur gemacht werden.
12.2
»
Kultur und Unternehmenskultur
12
Kultur [ist] ein System von Wertvorstellungen, Verhaltensnormen und Denk- und Handlungsweisen, welches von einem Kollektiv von Menschen erlernt und akzeptiert worden ist und welches bewirkt, dass sich die soziale Gruppe deutlich von anderen Gruppen unterscheidet (zit. in Bea u. Haas 1997, S. 15).«
12.2.1 Kultur
Besonders populär und für die folgenden Argumentationen fruchtbar ist die Definition von Schein:
Bei der Suche nach Spitzenleistungen in der Wirtschaft ist es nicht verwunderlich, dass Wissenschaftler auf die besonderen, nämlich die »weichen« Erfolgsfaktoren hingewiesen haben (vgl. u. a. Peters u. Waterman 1982). Nicht so sehr die »hardfacts« lösen demnach den eigentlichen Erfolg eines Unternehmens aus, sondern die »softfacts« werden als entscheidende Erfolgsfaktoren angesehen.
»
»
Die Unterteilung in »harte« und »weiche« Faktoren soll zum Ausdruck bringen, dass es Subsysteme gibt, die eher rationalquantitativer Natur sind, und solche, die eher emotionalqualitativen Charakter aufweisen (Bea u. Haas 1997, S. 15).«
Unter den »softfacts« gilt die Unternehmenskultur als wesentlicher Erfolgsfaktor, wobei sie selbst entweder als ein Faktor unter mehreren (instrumenteller Kulturbegriff) oder als die ganze Organisation umspannendes Geflecht unterschiedlichster Elemente und Beziehungen gesehen wird, in das andere Faktoren eingebettet sind (institutionaler Kulturbegriff). Diese Unterscheidung führte sprachlich zu der Formel »Organisationen haben eine Kultur« oder »Organisationen sind eine Kultur«. Verschiedene Definitionen deuten dementsprechend den Begriff Unternehmenskultur unterschiedlich. Für Heinen u. Dill ist
»
Kultur ein Muster von gemeinsamen Wert- und Normvorstellungen, die über bestimmte Denkund Verhaltensmuster die Entscheidungen, Handlungen und Aktivitäten einer sozialen Gruppe beeinflussen« (zit. in Bea u. Haas 1997, S. 15).«
Staerkle betont demgegenüber den Prozesscharakter eines Lernvorgangs beim Erwerb einer Kultur:
Culture is a pattern of basic assumptions – invented, discovered, or developed by a given group as it learns to cope with its problems of external adaptation and internal integration– that has worked well enough to be considered valid and, therefore, to be taught to new members as the correct way to perceive, think, and feel in relation to those problems (zit. in Bea u. Haas 1997, S. 15).«
Die Unternehmenskultur eines Krankenhauses ist dementsprechend immer eingebettet in eine Gesellschaftskultur (Deutschland), eine Branchenkultur (Gesundheitswesen), eine Institutionenkultur (Krankenhaus- oder Unternehmenskultur) und innerhalb eines Krankenhauses auch als Gruppenkultur (z. B. einer Berufsgruppe oder einer Station bzw. Fachabteilung).Von Individual- oder Privatkultur wird im Zusammenhang individueller Bezugspunkte in der Lebenswelt gesprochen. Die Eigenschaften, die Bleicher (1993) einer Kultur zuschreibt, können auch für eine Unternehmenskultur unterstellt werden:
»
▬ Kultur ist menschgeschaffen: Sie ist ein Produkt kollektiven gesellschaftlichen Denkens und Handels einzelner Menschen. ▬ Kultur ist überindividuell: Sie ist ein soziales Phänomen, das den Einzelnen überdauert. ▬ Kultur ist verhaltenssteuernd: Sie drückt sich in (nichtformalisierten) Regeln, Normen und Verhaltenskodizes aus. ▬ Kultur strebt nach innerer Konsistenz und Integration: Sie ist jenes Instrument, mit dem eine Gesellschaft die Anpassung an Umweltveränderungen bewerkstelligt. Gleichzeitig stellt sie jedem einzelnen Individuum bewährte Methoden zur Lösung der
318
Kapitel 12 · Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie
Probleme des täglichen Überlebens und zur Befriedigung biologischer und sozialer Grundbedürfnisse zur Verfügung. ▬ Kulturen sind anpassungsfähig und unterliegen Anpassungsprozessen, die im Falle der Kultur-Evolution (im Gegensatz zur Kultur-Revolution) graduell und allmählich ablaufen. ▬ Kultur wird erlernt (Bleicher 1993, zit. in Bea u. Haas 1997, S. 466-467).« Starke Kulturen zeichnen sich dadurch aus, dass
die Normen und Werte von den Gesellschafts- und Organisationsmitgliedern geteilt und akzeptiert werden. Äußere Einflüsse, also Erwartungen oder Wünsche beispielsweise der Kostenträger, der Landesbehörden, von Gesundheitsämtern oder anderen Personen, Gruppen und Institutionen prallen an starken Kulturen eher ab als an schwachen. Die Art einer Kultur wird nach der Ausprägung kollektiver oder individueller Elemente unterschieden. Kollektive Kulturen sind durch eine stärkere Ausprägung des gemeinsamen Willens und der Bindung des Individuums an die Gemeinschaft (z. B. Krankenhaus) gekennzeichnet. In individua-
listischen Kulturen stehen das Wohl des Einzelnen und damit auch die Anforderungen an ihn im Vordergrund.
12.2.2 Unternehmenskultur
Unternehmenskultur ist nicht nur ein Begriff für das gelebte und sichtbare Werte- und Normensystem eines Krankenhauses. Unternehmenskultur ist nur zum Teil sichtbar. Der größere Teil eines kulturellen Systems zeigt sich in den verschiedenen Schichten, die als Ebene der Symbole, der Ebene der Normen und Werte und der Ebene der Grundannahmen von Schein im sog. Schichtenmodell gekennzeichnet wurde. Damit wird die Metapher als »Eisberg« auch verständlich, nach der nur ein Teil der Unternehmenskultur sozusagen aus der Wasseroberfläche herausragt, ein anderer Teil jedoch verborgen bleibt. Die Begriffe Grundannahmen, Werte, Normen und Symbole werden im folgenden kurz erklärt, vgl. dazu Steinle et al. 1992, S. 3 und ⊡ Abb. 12.1. Die Basis jeder Unternehmenskultur bilden Grundannahmen. Darunter versteht man unter-
12
⊡ Abb. 12.1. Schichtenmodell der Unternehmenskultur. (Nach Schein 1995)
319 12.2 · Kultur und Unternehmenskultur
bewusste Annahmen und Überzeugungen, die von den Organisationsmitgliedern geteilt werden und das innerste Wesen der Unternehmenskultur darstellen. Sie werden für selbstverständlich gehalten und deshalb nicht mehr hinterfragt. Grundannahmen bilden die Grundlage für Werte, Einstellungen und Normen. Sie definieren die externen Beziehungen und internen Handlungsabläufe einer Gruppe und bestimmen das Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Verhalten der Mitarbeiter. Auf einer höheren Ebene des Bewusstseins befinden sich Werte. Aufbauend auf Grundannahmen, können sie als bewusste Präferenzstrukturen bezeichnet werden, die wie Entscheidungsregeln wirken und helfen, den jeweiligen Entscheidungsrahmen einzuschränken und das Verhalten der Mitarbeiter zu beeinflussen. Werte sind bewusste, situationsunabhängige Vorstellungen der Organisationsmitglieder darüber, »was sein sollte«, und können bei langfristiger Bewährung zu Grundannahmen transformiert werden. Beispiele für Werte sind mitarbeiterorientiertes Führungsverhalten oder der Grundsatz der Fairness beim Umgang mit Kunden und Lieferanten. Mit dem Wertebegriff in engem Zusammenhang stehen Einstellungen. Im Gegensatz zu Werten handelt es sich dabei um objektbezogene, situationsabhängige Beurteilungsmaßstäbe, die auch leichter verändert werden können, weniger leicht allerdings als Meinungen, die den Alltag in vielen Krankenhäusern bestimmen. Normen sind Verhaltensregeln und ebenso wie Einstellungen situationsbezogen. Sie sind in der Regel bewusster als Werte und werden aus diesen, z. B. als Anweisungen, Gebote und Verbote abgeleitet. Normen stellen Vorschriften und Gebräuche dar, die Sollcharakter (Affirmationscharakter) besitzen und das Verhalten der Organisationsmitglieder in klar definierten Situationen regeln. Das in wechselseitigen Beziehungen zueinander stehende Geflecht aus Grundannahmen, Werten und Normen äußert sich in Symbolen, die die sichtbare Ebene der Unternehmenskultur bilden. Beispiele für Symbole sind Sprache, Rituale, Gewohnheiten, Kleidung, etc. So können beispielsweise einzelne Hierarchieebenen durch unterschiedliche Bekleidungsvorschriften symbolisiert werden, wodurch eine starke Hierarchiebetonung und Berufsgrup-
12
penzugehörigkeit zum Ausdruck kommt. Auch das Vorhandensein von Ritualen wie Jubiläumsfeiern, Betriebsfesten u. a. sind Ausdruck der Unternehmenskultur. Gleiche Handlungen und Gegenstände können jedoch in unterschiedlichen Kulturen verschiedene Bedeutungen annehmen. Aus diesem Grund können Symbole nur von denen richtig verstanden und gedeutet werden, die die ihnen zugrunde liegenden Interpretationsmuster aus Werten und Normen sowie Grundannahmen erkennen und entschlüsseln können. ⊡ Abb. 12.2 zeigt die 3 Ebenen der Unternehmenskultur, Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Ebenen sowie Beispiele für Grundannahmen, Werte, Normen und Symbole. ⊡ Abb. 12.2 zeigt auch, dass Unternehmenskultur mehr ist als Corporate Identity, Corporate Design oder Betriebsklima. Während der Begriff Corporate Identity die Identität als einheitliches Erscheinungsbild eines Krankenhauses beschreibt, das häufig aus der Zeichen- und Symbolwelt besteht und sich als unverwechselbares System von Gestaltungsmerkmalen darstellen lässt, ist Corporate Design eher mit dem optischen Konzentrat eines inhaltlichen, sozialen Konzeptes in Form eines formulierten Selbstverständnisses gleich zu setzen. Corporate Design kann dementsprechend in den zur Zeit besonders aktuellen »Leitbildern« oder »Unternehmensgrundsätzen« identifiziert werden. Corporate Identity kann man verstehen als
»
strategisch geplante und operativeingesetzte Selbstdarstellung und Verhaltensweise eines Unternehmens nach innen und außen auf der Basis einer festgelegten Unternehmensphilosophie, einer langfristigen Unternehmenszielsetzung und eines definierten (Soll-) Images (Birkigt u. Stadler 1988, zit. in Boehm-Tettelbach 1990, S. 60).«
Ziel ist eine einheitliche Darstellung des Krankenhauses und all seiner Handlungsinstrumente nach innen und außen. Für die Schaffung einer Corporate Identity können 3 Gestaltungselemente eingesetzt werden (vgl. Kap. 17; Zulauf 1994, S. 16; Steinle et al. 1992, S. 17): ▬ Corporate Communications: der systematisch kombinierte Einsatz der Kommunikationsinstrumente Werbung für Dienstleistungen, Perso-
320
Kapitel 12 · Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie
nalwerbung, Öffentlichkeitsarbeit, Sponsoring, Mitarbeiterkommunikation u. a.; ▬ Corporate Design: die symbolische Identitätsvermittlung durch eine einheitliche Krankenhausdarstellung mit Hilfe von Logos, Briefköpfen, Produktdesign, Raumgestaltung oder Festlegung einheitlicher »Krankenhausfarben« sowie ▬ Corporate Behaviour: der Verhaltensstil aller Organisationsmitglieder nach innen und außen (dieser sollte möglichst schlüssig und widerspruchsfrei sein). Die Corporate Identity als Selbstbild der Unternehmung ist klar abzugrenzen vom Unternehmensimage als Fremdbild der Unternehmung. Als Idealzustand ist anzustreben, dass das Unternehmensimage mit dem im Rahmen der Corporate Identity entwickelten Selbstbild weitestgehend identisch ist (vgl. Boehm- Tettelbach 1990, S. 60 f.). Sowohl Unternehmensimage als auch Corporate Identity sollten darüber hinaus mit der Unternehmenskultur und somit mit den tatsächlichen Gegebenheiten harmonieren, um längerfristig glaubwürdig sein zu können.
Sofern dies der Fall ist, kann die Corporate Identity eine spezielle Ausdrucksform der Unternehmenskultur sein und die Identität des Unternehmens nach außen hin vermitteln. Betriebsklima wiederum ist als Grad der Übereinstimmung zwischen den Erwartungen und Bedürfnissen der Organisationsmitglieder und der Arbeitsatmosphäre in einem Krankenhaus anzusehen. Unternehmenskultur in Krankenhäusern – einige empirische Beispiele An dieser Stelle soll nicht auf die Vielzahl unterschiedlicher Ansätze zur Beschreibung und Erfassung von Unternehmenskulturen eingegangen werden. Das Thema Unternehmenskultur und seine Bedeutung für Krankenhäuser hat bislang zu keiner weiteren expliziten Reflexion in der Krankenhausmanagement-Literatur geführt. Einzelne Aspekte spielen zwar in der Innen- und Außendarstellung eines Krankenhauses eine wichtige Rolle, werden jedoch eher auf Fragen des Corporate Design, der darstellenden Kunst in Krankenhäusern oder bestimmter Eigen- und Fremdbilduntersuchungen zum Image eines Krankenhauses reduziert. Als Beispiel mag die nachfolgende ⊡ Abb. 12.3 dienen,
12 Mechanismen Neue Symbole können neue Werte hervorrufen
»Erfolgreiche« Werte diffundieren zu Grundannahmen
Werte rufen Symbole hervor bzw. leiten Symbole an
Grundannahmen »überprüfen« neue Werte
Ebenen
Kennzeichen
Inhalte (Beispiele)
Sichtbar, aber oft nicht direkt entzifferbar (interpretationsbedürftig)
Architektur, Bürogestaltung, Kleidung, Sprache, Jargong, Anekdoten, Legenden, Witze, Geschichten, Rituale, Zeremonien, Sitten, Gewohnheiten, Prämien, Titel, Helden, Produkte, Dokumente, Firmenwagen, Tabus
Werte und Normen
Höhere Ebene des Bewusstseins; je nach Grad der Bewährung diskutierbar und offen
Unternehmens- und Führungsgrundsätze, Verhaltensvorschriften, Regeln, Prinzipien, Moral, Ethik, Handlungsmaximen, Einstellungen, Richtlinien
Grundannahmen
Selbstverständlich, unsichtbar, unterbewusst
Beziehung zur Umwelt, Wahrnehmung von Realität, Zeit und Raum, Menschenbild, Weltinterpretation, Hintergrundüberzeugungen
Symbole
⊡ Abb. 12.2. Ebenen der Unternehmenskultur. (Mod. nach Steinle et al. 1992)
321 12.2 · Kultur und Unternehmenskultur
die das Ergebnis einer Image- Untersuchung ist. Aus einer telefonischen Befragung niedergelassener Ärzte, ehemaliger Patienten und Besucher konnte eine Vier-Felder-Matrix ermittelt werden, nach der neben den Ärzten die Pflegekräfte von besonderem Einfluss für das Image des Krankenhauses waren. Ergebnisse einer Imageanalyse und Imagefaktoren eines Krankenhauses der Grundversorgung. Die Bewertungen bewegen sich auf einer Skala von 1 = sehr gut bis 6 = sehr schlecht; Einfluss auf den Ruf: O = kein Zusammenhang, 1 = perfekter Zusammenhang Doch bei einer einfachen Analyse des Eigenund Fremdbildes zum Image eines Krankenhauses erschließt sich noch nicht die gesamte Breite zur Erfassung der Unternehmenskultur. In insgesamt 18 Krankenhäusern in NordrheinWestfalen wurde im Rahmen eines Projektes zum Arbeitszeitmanagement eine sog. Cross-CheckAnalyse durchgeführt. Mit Hilfe dieses Instrumentes konnten in der Art eines Workshops pro Krankenhaus insgesamt 305 Mitarbeiter aus unterschiedlichen Berufsgruppen zu dem Thema befragt werden, welche Probleme und Herausforderungen
⊡ Abb. 12.3. Ergebnisse einer Imageanalyse und Imagefaktoren eines Krankenhauses der Grundversorgung. Die Bewertungen bewegen sich auf einer Skala von 1 = sehr gut bis 6 = sehr schlecht; Einfluss auf den Ruf: 0 = keine Zustimmung, 1 = perfekter Zusammenhang
12
es in ihrem Krankenhaus gibt. Die Studie wurde nach der Moderationsmethode durchgeführt, Meinungskarten beschriftet und die entsprechenden Themen zu Überschriften oder Leitthemen zusammengefasst (Mühlbauer u. Lang 1999). Die Themen zeigen eindeutig den großen Handlungsbedarf, der in den Krankenhäusern besteht (folgende Übersicht). Viele dieser Themen haben natürlich eine enge Verbindung zum Thema Unternehmenskultur. So wird beklagt, dass ein Leitbild fehlt, dass Führungskräfte schlecht führen, der Führungsstil verbesserungsbedürftig ist, usw. Hauptproblemfelder nach Einzelproblemen aus den Cross-Check-Analysen der 18 Modellkrankenhäuser in NRW aus der Sicht der Mitarbeiter (n = 305) 1. Problemfeld: Mangelnde Kooperation zwischen den Berufsgruppen (9 Nennungen/1. Rang) – Kooperations- und Organisationsdefizite führen zu Chaos – Unzureichende Kooperation der Abteilungsleitungen stört die Organisation des Tagesablaufs – Mangelnde Kooperation der Bereiche – Keine gute Vernetzung (Info/Unterstützung) der Abteilungen untereinander – Mangelnde Kooperation zwischen den Berufsgruppen – Berufsgruppen grenzen sich voneinander ab – zu wenig Zusammenarbeit – Schwierigkeiten in der stationsübergreifenden und stationsinternen Zusammenarbeit 2. Problemfeld: Personalmangel schafft erhöhten Leistungsstress, führt zu Unzufriedenheit und Qualitätseinbußen (7 Nennungen/2. Rang) – Eklatanter Personalmangel – Personalengpass von OP-Schwestern – Die anfallende Arbeit ist mit dem ärztlichen Personal nicht in der tariflichen Arbeitszeit zu erledigen – Probleme durch Personalmangel – Zu wenig Personal, um qualifiziert zu arbeiten – Viele Probleme entstehen durch Personalmangel
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Kapitel 12 · Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie
– Ärztlicher Personalmangel – Urlaubsplanung bei dünner Personaldecke der Ärzte oft erschwert – Arztbriefe werden erst nach Wochen/ Monaten geschrieben 3. Problemfeld: Mangelhafte/r Führungsqualität/ -stil (6 Nennungen, 3. Rang) – Mangelhafte Führungsqualität der Betriebsleitung – Demotivation von Mitarbeitern – Zu autoritärer Führungsstil – Ineffektiver Führungsstil – Eigenverantwortung und Eigeninitiative oft nicht erwünscht! – Pläne der Betriebsleitung (Umstrukturierungen, Bauvorhaben) für Mitarbeiter oft undurchsichtig – Falsches Führungsverhalten bzw. -stil – Zu wenig Mitspracherecht bei Personalentscheidungen – Wir sind in viele Entscheidungen nicht eingebunden – Mangelndes Interesse für die geleistete Arbeit durch Führungskräfte – Personal ist Spielball der Betriebsleitung – Wenig Rückendeckung bei Verantwortungsfragen – Mangel an Transparenz – Kontraproduktiver und unzeitgemäßer Führungsstil – Auf die Meinung und Erfahrung langjähriger Mitarbeiter legen die Vorgesetzten keinen Wert – Die Abhängigkeit und das Wohlwollen von den leitenden Chefärzten verhindert konstruktive Kritik 4. Problemfeld: Schlechte Arbeitsorganisation führt zu Störungen bei Patienten und Mitarbeitern (6 Nennungen, 3. Rang) – Unzufriedenheit bei Patienten und Mitarbeitern durch schlechte Arbeitsorganisation bzw. Arbeitsabläufe – Verzögerung des Arbeitsbeginns durch schlechte zeitliche Organisation – Ungünstige Visitenzeiten morgens und abends
– Organisation Station – OP – Organisationsmangel auf allen Ebenen – Unbefriedigende Arbeitsorganisation/ Arbeitsabläufe berufsgruppenübergreifend – Problematisches Ordnungssystem für nachkommende Befunde – Einseitiges Festlegen von OP-Plänen 5. Problemfeld: Suboptimaler Informationsfluss bzw. -weitergabe zwischen den Berufsgruppen (5 Nennungen, 5. Rang) – Fehlendes Verständnis und fehlende Information unter den Berufsgruppen – Informationsfluss und Austausch zwischen Ärzten, Therapeuten und Stationen ist zu gering – Oft gehen wenige Informationen unter oder werden nicht weitergegeben – Informationsfluss zu träge – Schlechter Informationsaustausch – Informationsdefizite – Unterschiedlicher Informationsstand auch innerhalb der Berufsgruppen – Informationsmangel durch fehlende Präsenz – Mangelnder Informationsfluss – Nicht ausreichende Informationen über OP-Eingriffe – Wegen ungleicher Arbeitszeit schlechter Informationsfluss zwischen Pflegepersonal und ärztlichem Personal 6. Problemfeld: Schlecht koordinierte Arbeitsabläufe (5 Nennungen, 5. Rang) – Suboptimale Koordination der Arbeitsabläufe – Andere Berufsgruppen kennen unseren Arbeitsablauf nicht – Große Probleme in der Ablauforganisation – Arbeitsspitzen werden künstlich aufgebaut – Nichtkoordinierte Tagesabläufe – Ärzte nehmen oft zu spät das Blut ab, Patienten nicht mehr nüchtern – Routinekontrollen werden in den Bereitschaftsdienst verlagert (an Labor) – Verzögerung des Arbeitsbeginns durch schlechte zeitliche Organisation
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323 12.2 · Kultur und Unternehmenskultur
– Zwischen den einzelnen Untersuchungen zu lange Wartezeiten – Wenig Absprachen über Behandlungsabläufe – Einseitiges Festlegen von OP-Plänen 7. Problemfeld: Kommunikation zwischen verschiedenen Bereichen und Berufsgruppen problematisch (3 Nennungen, 7. Rang) – Mangelnde interdisziplinäre Kommunikation – Kommunikationsprobleme zwischen unterschiedlichen Abteilungen – Kommunikation zwischen den einzelnen Berufsgruppen klappt nicht – Verwaltung und »patientennah« arbeitendes Personal kommunizieren zu wenig 8. Problemfeld: Mangelnde Patientenorientierung: wenig (Zeit für) Gespräche mit Patienten (7. Rang, 3 Nennungen) – Mangelnde Sensibilität für den Patienten – Patienten verstehen häufig nicht, was über sie besprochen wird (Fachchinesisch) – Unfreundlicher Umgang mit den Patienten bei der Aufnahme – Keine Zeit für Gespräche mit Patienten/ Angehörigen – Nur oberflächlicher Patientenkontakt möglich – Viele verschiedene Meinungen werden zum Patienten getragen – Reibungsloser und patientenfreundlicher Umgang ist durch die Fülle der Arbeit nicht leistbar – Ambulanz: Diskussion ärztlicher Anordnungen vor den Patienten – Gefühl, dem Patienten nicht gerecht zu werden, da ständig Personalmangel
Bei dieser Analyse darf natürlich nicht stehen bleiben, wer sich tiefergehend mit dem Thema Unternehmenskultur beschäftigt. Ein Konzept zur Analyse der Unternehmenskultur wurde von Goffee und Jones (1997) vorgeschlagen ( Kap. 5). Dieses Modell wurde für Krankenhäuser modifiziert und konnte ebenfalls in insgesamt 10 von 18 beteiligten Krankenhäusern eingesetzt und die Unterneh-
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menskultur in den Modellstationen durch Befragungen ermittelt werden. Goffee und Jones unterscheiden in ihrem Konzept zur Unternehmenskultur die zwei Dimensionen Soziabilität und Solidarität, die in einem engen Bezug zueinander stehen. Sozialbilität steht für das Maß an Freundlichkeit zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft, also beispielsweise eines Krankenhauses. Solidarität stellt demgegenüber ein Maß für die Fähigkeit eines Krankenhauses dar, gemeinsame Ziele, unabhängig von persönlichen Bindungen, rasch und effektiv zu verfolgen. Solidarität ist weniger eine Frage des Herzens als des Kopfes. Die beiden Dimensionen führen, wenn sie gegenübergestellt werden, zu einem Modell mit 4 Kulturen, von denen keine »die Beste« ist (⊡ Abb. 12.4). Welche die passende ist, entscheidet das jeweilige Geschäftsumfeld! Im Rahmen des Projektes interessierte nun die Frage, wie sich die einzelnen Kulturen der Modellstationen, gemessen an den Meinungen der Ärzte und Pflegekräfte unterscheiden. Ferner sollten die Unterschiede in der Kultur je nach Krankenhaus deutlich gemacht werden. Das vernetzte Krankenhaus – sehr soziabel und wenig solidarisch Das vernetzte Krankenhaus ist sehr soziabel und wenig solidarisch (siehe ⊡ Abb. 12.4). Kennzeichen einer solchen Kultur sind häufig die Rituale, die vernetzte Organisationen kennzeichnen. Mitarbeiter bleiben oft für ein Gespräch auf dem Flur stehen, gehen in das Büro anderer Mitarbeiter, nur um »hallo« zu sagen, treffen sich außerhalb des Krankenhauses zu verschiedenen sozialen Anlässen oder veranstalten Partys, um langjährige und verdienstvolle Mitarbeiter oder Pensionäre zu ehren. Es existieren eine ganze Reihe von versteckten Symbolen und Riten, die sich auch in der Sprache äußern. Mitarbeiter eines vernetzten Krankenhauses sind wie eine Familie, feiern gemeinsame Geburtstage, wohnen häufig am gleichen Ort. In vernetzten Organisationen ist nicht ein Mangel an Hierarchie feststellbar, sondern eine Vielzahl an Wegen, diese zu umgehen. Cliquen und »Freundeskreise« sorgen dafür, dass selbst Entscheidungen vor Besprechungen schon gefallen sind. Mitarbeiter wechseln in solchen Organisationen die Positionen,
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Kapitel 12 · Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie
in hohem Maße
Soziabilität
Gemeinsinnige Kultur
Vernetzte Kultur
einigermaßen
Materialistische Kultur
Zersplitterte Kultur
wenig
einigermaßen
in hohem Maße
Solidarität ⊡ Abb. 12.4. Zwei Dimensionen, vier Kulturen im Krankenhaus?
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ohne dass sie eine notwendige Schulung, Einarbeitung oder manchmal auch die entsprechende Qualifikation haben. Das »ein Mitarbeiter einen anderen kennt«, ist das probate Mittel, bürokratische Hemmnisse zu umgehen, was in Bezug auf die Flexibilität eines Krankenhauses kein Nachteil sein muss: Die Mitarbeiter haben die Fähigkeit erworben, möglichst viele Informationen auf informellem Wege zu sammeln, zu selektieren und in Entscheidungsprozessen Verbündete und Fürsprecher zu finden. Kennzeichen des vernetzten Krankenhauses ist der niedrige Solidaritätsgrad, weshalb in solchen Krankenhäusern häufig der Ruf nach einem »starken Führer« laut wird. Die Tatsache, dass in vernetzten Krankenhäusern auch Leistungsvorgaben, Verfahrensregeln von den Mitarbeitern oft angefochten oder missachtet werden, verstärken diesen Ruf noch. In den untersuchten Modellstationen haben wir keine vernetzte Krankenhauskultur feststellen können! Insbesondere im Blick auf die Berufsgruppe Pflege gab es innerhalb der Projektgruppe die Erwartung, dass die Mitarbeiter dieser Gruppe der Kultur den Stempel vernetzter Merkmale aufdrücken würden. Dies hat sich in keinem Fall bewahrheitet. Die zersplitterte Kultur eines Krankenhauses – isoliert und unregierbar Hinsichtlich der häufig geäußerten These, dass die Mitarbeiter in Krankenhäusern je nach Berufs-
gruppe stark »versäult« oder zersplittert sind, hatte die Projektgruppe die Erwartung, in diesem Segment zur Unternehmenskulturanalyse einige Modellstationen wiederzufinden. Zersplitterte Unternehmenskulturen sind vor allem durch den Mangel der Mitarbeiter an Zugehörigkeitsgefühl gekennzeichnet. Ärzte sind in solchen Krankenhäusern zunächst einmal »Chirurg« oder »Arzt«, aber nicht Mitarbeiter eines Krankenhauses. Sie definieren sich über ihr persönliches Image, ihren Ruf und ihre persönliche Qualifikation und Tätigkeit, nicht durch ihre Zugehörigkeit zum Krankenhaus. In solchen Organisationen wird das Gründen einer Betriebssportgruppe zu einem erfolglosen Versuch, da es den Mitarbeitern an Soziabilität und Solidarität mangelt. Typische Rituale, die in einer vernetzten Kultur wichtig waren, wie z. B. die Teilnahme an geselligen Ereignissen, werden hier für Zeitverschwendung gehalten. Die Menschen arbeiten hier allein oder in Kleingruppen hinter verschlossenen Türen, schweigen sich über ihr Arbeitsverhalten und ihre Arbeitsfortschritte aus und reden häufig nur dann, wenn sie direkt mit Fragen angesprochen werden. Auch in puncto Solidarität zeigt eine solche Kultur erhebliche Risse. Hier existieren kaum vereinbarte Leistungsstandards und gemeinsame betriebliche Ziele, auf denen sich Mitarbeiter verständigt haben oder verständigen könnten. Appelle von Führungskräften zu mehr Solidarität stoßen deshalb auf taube
325 12.2 · Kultur und Unternehmenskultur
Ohren, so dass Führungskräfte glauben, ein solches Krankenhaus sei »unregierbar«. In den betrachteten Modellkrankenhäusern haben wir keine eindeutig zersplitterten Organisationen gefunden. Nur in einem Krankenhaus neigten Assistenzärzte und Ärzte im Praktikum dazu, ihrer Krankenhauskultur den Titel »eher zersplittert« zu geben. In einem anderen Krankenhaus fanden sich die Ärzte gerade auf der Grenze zwischen einer zersplitterten und einer materialistischen Kultur, die sich vor allem von der Einschätzung der Pflegekräfte deutlich unterschied. Das gemeinsinnige Krankenhaus – Begeisterung statt Zynismus Allein die Bezeichnung »gemeinsinnige Kultur« lässt auf eine positive, auch für die Patienten förderliche Kultur hoffen. Hier kommt es scheinbar zu einer positiven Verbindung zwischen Solidarität und Soziabilität. In einem gemeinsinnigen Krankenhaus arbeiten Mitarbeiter schon viele Jahre zusammen. Dadurch sind auch Freundschaften und viele gemeinsame Ziele entstanden. In solchen Krankenhäusern kommt es zu einer fast völligen Identifikation der Mitarbeiter mit »ihrem« Krankenhaus. Im Betriebsalltag kommt es auch zu Feiern und Festen, die aber eine stark rituelle Bedeutung haben. Besondere Betriebsfeste an ausgesuchten Orten und Tagungsstätten mit externen, häufig berühmten Rednern, Auszeichnungen für erfolgreiche Mitarbeiterteams (z. B. Qualitätszirkel des Jahres), öffentlich bekannt zu gebende Beförderungen usw. In solchen Krankenhäusern wird auf Fairness und Gerechtigkeit besonders viel Wert gelegt. Trotz anstrengender »Rosskuren«, in denen sich manche Krankenhäuser im Sinne einer verschärften Rationalisierung befinden, wird die Notwendigkeit dazu von vielen Mitarbeitern anerkannt. Die rationalisierenden Führungskräfte werden weiterhin mit Respekt, Achtung und sogar Zuneigung betrachtet, solange es ein hohes Ausmaß an Solidarität gibt. In solchen Krankenhäusern dürften die Ziele und Werte aus den Unternehmensleitlinien und Führungsgrundsätzen an den Wänden hängen. Mitarbeiter, die darauf angesprochen werden, antworten auf Fragen zu zentralen Werten und Zielen mit Begeisterung und eben nicht, wie so oft, mit zynischen Bemerkungen. Nicht zuletzt
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wird ein hohes Maß an Soziabilität und Solidarität insbesondere durch Führungskräfte konstituiert. In den Modellkrankenhäusern wurde häufig eine gemeinsinnige Kultur angetroffen, was die Hypothese von Goffee und Jones (1997) stützen dürfte, dass eine solche Kultur gut zu sozialen, politischen Organisationen passen dürfte. Dabei überraschte jedoch das Ergebnis in sofern, als sowohl Ärzte als auch Pflegekräfte sich mit ihrer Meinung über die herrschende Unternehmenskultur im oberen oder unteren Teil des 3. Quadranten befanden. Das materialistische Krankenhaus – wenig soziabel, sehr solidarisch Den Gegenpol zur vernetzten Organisation stellen materialistische Krankenhäuser dar. Sie zeichnen sich durch hohe Solidarität und geringere Soziabilität aus. In solchen Krankenhäusern dreht sich fast jede Kommunikation um »das Krankenhaus« oder »das Geschäft«. Individuelle Ziele decken sich mit den Zielen des Krankenhauses, so dass es nicht schwer fällt, einen gemeinsamen, oft äußeren »Feind« im Umfeld des Krankenhauses zu bekämpfen. Materialistische Krankenhäuser verfügen über die Fähigkeit, rasch und mit vereinten Kräften auf Marktchancen oder neue Konstellationen im »Gesundheitsmarkt« zu reagieren. Prioritäten werden unverzüglich, häufig durch das Topmanagement festgelegt und im Krankenhaus ohne große Diskussion umgesetzt. Zwischen Arbeit und Vergnügen kann in einer solchen Organisation nur strikt getrennt werden. In materialistischen Unternehmenskulturen trafen wir Menschen, die ihre Arbeit weit über das Privatleben stellten. Wenn sich die Mitarbeiter außerhalb der Arbeit überhaupt zusammenfinden, dann feiern sie gemeinsame Erfolge als Sieg über Konkurrenten oder die erfolgreiche Umsetzung strategischer Maßnahmen. Da starke persönliche Bindungen fehlen, werden schwache Leistungsergebnisse im allgemeinen nicht toleriert. Wer die volle Leistung nicht bringt, muss mit Abmahnungen rechnen oder wird sehr schnell entlassen. In der Regel kennen die Krankenhausmitarbeiter diese Mechanismen sehr genau, weshalb sie sich alle an diesen Spielregeln orientieren. Das Commitment in solchen Organisationen ist wegen der geringen sozialen Bindung der
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Kapitel 12 · Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie
Mitarbeiter untereinander frei von Sentimentalität und natürlich keine Bastion der Treue zum Krankenhaus. In solchen Krankenhäusern bleiben Mitarbeiter nur so lange, wie es ihren persönlichen Interessen dienlich ist. Sobald sich persönlich bessere Chancen und Möglichkeiten ergeben, wird das Krankenhaus gewechselt. Mancher Krankenhausmanager mag bei diesem Kulturtyp schon aufhorchen. Entspricht nicht dieser Typ genau den Anforderungen, die an ein zukunftsfähiges Krankenhaus gerichtet werden? Mangelt es in den Krankenhäusern nicht oft an einer solchen ausgeprägten Solidarität? Sind Krankenhäuser nicht zu weich im Umgang mit unsolidarischen Berufsgruppen und Mitarbeitern? Neben den Vorteilen einer solchen Unternehmenskultur sollten die Nachteile jedoch nicht übersehen werden. In Organisationen, die sich vollständig der Zielerreichung verschreiben, fehlt es an der Bereitschaft zur Zusammenarbeit, zum freien Informationsaustausch, an Diskussionsbereitschaft oder auch an kreativen, alle Mitarbeiter verbindenden Visionen. Noch unwahrscheinlicher ist die Kooperation zwischen Abteilungen mit unterschiedlichen Zielen, die aber gerade im Krankenhaus häufig benötigt wird. Vielfältige Kulturwirklichkeiten In den Modellkrankenhäusern wurden auf den Modellstationen häufig zwei Kulturtypen oder auch Mischungen zwischen den Kulturtypen festgestellt. Die günstigste Konstellation bestand darin, dass Ärzte und Pflegekräfte dem gleichen Quadranten zuzuordnen waren, da beide Berufsgruppen entweder über eine gemeinsinnige Kultur oder eine materialistische Kultur verfügten. Im anderen Fall unterschied sich jedoch die Kultur der Pflegekräfte deutlich von der Einschätzung der Ärzte, so dass sie in zwei Quadranten angesiedelt war. Überaschenderweise gab es jedoch auch Modellstationen, wo Ärzte gemeinsinniger und Pflegekräfte materialistischer ausgerichtet waren, was den üblichen Vorurteilen sowohl über Ärzte als auch über Pflegekräfte widerspricht: Ärzte werden eher als materialistisch und Pflegekräfte eher als gemeinsinnig im Sinne der hier angebotenen Systematik eingeschätzt, was sich damit nicht bestätigt.
Gesamtanalyse der Unternehmenskultur in einem Krankenhaus In einem Modellkrankenhaus konnte die Unternehmenskultur des Krankenhauses für alle patientennahen Berufsgruppen und damit für alle zentralen Bereiche des Krankenhauses ermittelt werden. Mit Hilfe der ⊡ Abb. 12.5 lässt sich das aus unserer Sicht typische Bild für die Unternehmenskultur ableiten, deren Bewertung durch die Mitarbeiter sich auf den materialistischen und gemeinsinnigen Quadranten verteilt. Zudem macht die Darstellung die Existenz von Subkulturen deutlich, da nicht alle Mitarbeitergruppen nach Fachabteilungen oder Krankenhausbereichen im gleichen Quadranten liegen. So differieren die Kulturausprägungen nach Meinung der Ärzte der Chirurgie (6) und der Pflegekräfte in der Anästhesie/Chirurgie (3) nur leicht. Die Ärzte der Inneren Abteilung (7) weichen wiederum deutlich von der Gruppe der Chirurgen ab, ohne außerhalb des Quadranten einer materialistischen Organisation zu liegen. Die Pflegekräfte der Pflegestationen (4) sind deutlich gemeinsinniger ausgerichtet. Bei diesem Krankenhaus handelte es sich um ein kleines Krankenhaus mit einer geringen Bettenzahl (unter 200). Für ein solches Krankenhaus ist der Existenzkampf in den nächsten Jahren überaus hart, da tendenziell davon auszugehen ist, dass kleinere Krankenhäuser stark mit größeren Kliniken, aber auch mit anderen Dienstleistungsanbietern konkurrieren müssen. Ferner kommen diese Krankenhäuser wegen der hohen Fixkostenstruktur und dem geringen Kostendegressionseffekt bei einer Leistungsausweitung schnell in einen überaus problematischen Wirtschaftlichkeitsvergleich, der immer häufiger von den Krankenkassen zur Bestätigung bzw. Verneinung der Existenzfähigkeit von kleineren Krankenhäusern herangezogen wird. Für ein solches Krankenhaus ist die Stellung der Unternehmenskultur vorrangig im materialistischen und nahe am gemeinsinnigen Quadranten überaus wichtig. Die Solidarität der Mitarbeiter ist notwendig, um möglichst kurzfristig auf Veränderungen des Umfeldes (z. B. Druck der Kostenträger) reagieren zu können. Sie erfordert ein hohes Maß an strategischem Fokus sowie die Einhaltung von Standards zur Umsetzung solcher Strategien, damit das Vertrau-
327 12.3 · Strategie und Unternehmenskultur
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in hohem Maße
Soziabilität
Gemeinsinnige Kultur
Vernetzte Kultur
Pflege Ambulanz einigermaßen
Ärzte Chirurgie
Pflege OP/Anästhesie Materialistische Kultur
Zersplitterte Kultur
wenig
Pflege Stationen Pflege Intensiv Ärzte Innere
einigermaßen
in hohem Maße
Solidarität ⊡ Abb. 12.5. Unternehmenskultur in einem Modellkrankenhaus. Der »niedrige« Wert der OP- und Anästhesie-Pflege wurde in einer Nachbesprechung darauf zurückgeführt, dass kurz vor dem Erhebungszeitraum eine intensive Diskussion über die Arbeitszeitregelung und den Ausgleich von Überstunden
geführt wurde. Im Sinne der Goffee-Jones-Typisierung passt ein (vermuteter) Rückgang in die materialistische Denkhaltung, da die Diskussion um vertragliche bzw. materielle Fragen das Denken bestimmt
en der Beteiligten in die Überlebensfähigkeit des Krankenhauses gestärkt wird. Die fatalen Folgen einer falschen Strategie bedeuten aber in einer solchen Konstellation der Unternehmenskultur einen sofortigen »Selbstmord«, weil alle Beteiligten mit Macht und Energie auf die falsche Strategie gesetzt haben, die konstitutiv für die Unternehmenskultur war.
Die Bedeutung der Kundenorientierung im Rahmen des strategischen Managements wird immer wieder betont. Ein strategisch ausgerichtetes Qualitätsmanagement ist ohne eine entsprechende Ausprägung des Begriffes Patienten- und Kundenorientierung überhaupt nicht denkbar. So verwundert es, dass bei den hoch in der Diskussion stehenden Zertifizierungskonzepten des Qualitätsmanagements und den damit in Verbindung stehenden externen Zertifizierungsverfahren, z. B. KTQ, das Konstrukt »Unternehmenskultur« für die Qualität oder die Effizienz und Effektivität nicht explizit, sondern höchstens implizit in Form einzelner Bewertungskriterien erfasst wird [vgl. Kooperation für Transparenz und Qualität im Krankenhaus – KTQ (2000)]. Wenn u. a. davon ausgegangen wird, dass ▬ die eingangs geschilderten Problemfelder als Ergebnisse der Cross-Check-Analyse in vielen Krankenhäusern eine große Bedeutung für die Unternehmenskultur haben, somit einer positiven Entwicklung der Unternehmenskultur und damit der Ausprägung als Erfolgsfaktor entgegenstehen, ▬ die Unternehmenskultur eines Krankenhauses und seiner Bereiche unterschiedliche Ausprä-
12.3
Strategie und Unternehmenskultur
Die bisherigen Versuche, Unternehmenskultur als Begriff für die Krankenhauspraxis verstehbar und auch handhabbar zu machen, sind als erste konzeptionelle Schritte zu verstehen, zu einem umfassenden Verständnis dieses Phänomens zu gelangen. Wenn Unternehmenskultur quasi als Hintergrund verstanden wird, der Krankenhäuser hindert oder fördert, zu strategischen Zielen und deren Umsetzung zu gelangen, wird die Wichtigkeit dieses Konzeptes vielleicht noch einmal deutlich. Der Grundsatz »structure follows strategy« oder »strategye follows structure« müsste dementsprechend in »strategy follows culture« umformuliert werden.
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12
Kapitel 12 · Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie
gung hat und entlang der Anforderungen der konkreten Umwelt (Kostenträger, Bevölkerung, andere Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte usw.) gestaltet werden muss, ▬ die Unternehmenskultur letztlich ein Erfolgsoder ein Misserfolgsfaktor bei der Erreichung strategischer Ziele eines Krankenhauses ist, ▬ die Krankenhäuser insbesondere ihre patientennahen Dienstleistungen verbessern müssen, um sich gegen andere Krankenhäuser im aufkommenden Gesundheitsmarkt abgrenzen und profilieren zu können und ▬ der Krankenpflege eine erhebliche Bedeutung bei der Entwicklung und Umsetzung solcher Strategien als patientennahem Dienstleister zukommen muss, dann kann eine systematische Beschäftigung mit den Konzepten zur Unternehmenskultur der Krankenpflege helfen, sich zukünftig richtig und strategisch erfolgreich zu positionieren. Dabei muss jedoch eine Verbindung zwischen den Konzepten zum Qualitätsmanagement als derzeitige »route methaphor« des Krankenhausmanagements und den ökonomischen Anforderungen eines DRG-basierten Krankenhausfinanzierungssystems gelingen, das zukünftig die »Spielregeln« im Gesundheitsmarkt wesentlich determinieren wird.
Leitbild und Leitlinien Als Korrektiv gegenüber zu starken Kundenerwartungen muss das eigene Leitbild verstanden werden. Im Leitbild drückt das Krankenhaus aus, welche Erwartungen der Kunden tatsächlich erfüllt werden können und welche aus weltanschaulichen oder aus medizinisch-pflegerischen Erwägungen von Dritten auch nicht erwartet werden dürfen. So könnten beispielsweise Patienten eine hotelähnliche Versorgung im Einzelzimmer erwarten, bei der ihnen jeder Wunsch von den Augen abgelesen und sie zu extremer Passivität animiert würden. Demgegenüber wird aus pflegerischer Perspektive eine aktivierende Pflege angeboten, bei der der Patient seine eigenen Ressourcen so früh wie möglich in die Behandlung einbringen sollte und bei der ein Bruch mit seiner früheren Lebens- und Arbeitsweise akzeptiert werden muss, da in ihr ein Auslöser für die Krankheit gesehen werden kann (z. B. Ernährung, Übergewicht, Rauchen, Stress). Ausdruck der eigenen Krankenhaus- und Pflegephilosophie sind Grundsätze und Leitlinien, aus denen sich die Werte und Normen pflegerischen Handelns ableiten lassen. Sie gehen u. a. in die Personalentwicklung, in die Auswahlkriterien neuer Mitarbeiter und in Führungsgrundsätze zur Beurteilung der Führungsqualität ein.
> Unstrittig dürfte sein, dass Krankenhäuser
> Die Unternehmenskultur zeigt sich in den
künftig mit Hilfe von Instrumenten des strategischen Managements ihre Marktchancen und Marktrisiken abschätzen müssen (vgl. Morra u. Francesco 1996, s. 162 ff). Zur Ausschöpfung ihrer Marktchancen brauchen sie, unabhängig von der genauen Auswahl ihrer Zielgruppen, Krankheitsbilder und Diagnosen usw. kundenorientierte Dienstleistungen, die in einer Art erbracht werden, die sowohl die Atmosphäre in einem Krankenhaus als auch das Betriebsklima, die Kommunikationskultur, die Arbeitszufriedenheit usw. mit den Erwartungen der Patienten, Angehörigen usw. in Einklang bringt.
Stärken und Schwächen eines Krankenhauses lassen sich so entlang zukünftiger Markterfordernisse klassifizieren und auch als Anforderungen für die Berufsgruppen entwickeln.
Symbolen und Zeichen, mit denen die Krankenpflege sich selbst und ihre Dienstleistungen darstellen möchte. Die Kleidung der Mitarbeiter, die Architektur der Pflegestationen, die Bilder auf dem Krankenhausflur, die Gestaltung der Krankenzimmer, der Garten auf dem Gelände, die Sprechweise über und mit Patienten usw., die lebensweltlichalltagssprachliche oder wissenschaftlichmedizinische Terminologie werden damit zur symbolischen Ausdrucksform, mit der die Krankenhausphilosophie mit Leben gefüllt wird.
Sie werden systematisch aus dem Krankenhausleitbild abgeleitet, um den Typ des Krankenhauses unverwechselbar zu symbolisieren. Kunst im Krankenhaus ist dann nicht mehr eine Frage der kostengünstigen Dekoration beliebig aus-
329 12.3 · Strategie und Unternehmenskultur
tauschbarer Kunstdrucke weltbekannter Künstler, sondern bewusst gestalteter Ausdruck einer Pflege- und Behandlungsphilosophie, die Menschen als Patienten und Mitarbeiter zum Nachdenken ihrer eigenen Rolle, ihrer Erwartungen, zur Bestärkung ihres Glaubens usw. auffordern will (vgl. zur Rolle von Kunst im Krankenhaus allgemein Heeck 1997, zur Inszenierung von Kunst als imageförderndes und sozial verbindendes Projekt an einem Krankenhaus Bernhardt et al. 2000). So können die in einer Kunst- und Maltherapie hergestellten besonderen Kunstwerke von Patienten ebenfalls eine Darstellungsform des Krankenhauses und seiner Dienstleistung werden. Technische Kommunikationsmittel im Patientenzimmer verschwinden dann, wenn die Wiedergewinnung mitmenschlicher und damit persönlicher Kommunikation im Behandlungsprozess eine systematische Rolle spielen soll. Niemand wird in einem solchen Krankenhaus eine Gesprächsführung der Patienten mit der allgegenwärtigen »Schwester Eva« in der Rufzentrale über einen im Nachtschrank verstauten Lautsprecher verlangen, um Wegezeiten für Pflegekräfte auf den Stationen zu ersparen, da der persönliche Kontakt zwischen Pflegekraft und Patient Ausdruck der Patientenorientierung, der Zuwendung und auch der ständigen Krankenbeobachtung in einer erweiterten Sichtweise ist. Wenn sich diese Form der Gestaltung der Unternehmenskultur dann noch mit den Ideen und eigenen Gestaltungsmöglichkeiten der Mitarbeiter verbinden lässt, können Unternehmenskultur und Empowerment der Mitarbeiter zusammengeführt werden. Warum muss denn für jede Kleinreparatur auf der Pflegestation der technische Dienst gerufen werden, der deshalb nicht zu den großflächigen oder wichtigen Instandhaltungen kommt? Mitarbeiter auf den Stationen müssen sich nicht in der selbstbestätigenden Arbeitsteilung zwischen Berufsgruppen ergehen, um damit die Konflikte zwischen Reparaturanforderung und viel zu später Reparaturausführung durch den technischen Dienst zu akzeptieren. Der einfache Austausch von Glühbirnen, das Anschrauben von sich lösenden Schranktüren im Patientenzimmer können in der gleichen Zeit ausgeführt werden, wie das Ausfüllen von Reparatur-Anforderungsscheinen und ständige Aufforderungen zur Reparatur benötigen.
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Dienstleistungskultur Umgekehrt kann durch eine entsprechende Unternehmenskultur eine interne Dienstleistungskultur wieder hergestellt werden. Dezentrale Verwaltungs-, technische und sonstige sekundäre Dienstleister haben ihre Dienste an den Erwartungen der primären Dienstleister, nämlich der Ärzte und Pflegekräfte auszurichten. Ärzte und Pflegekräfte auf den Stationen haben die Anforderungen an einen problemnahen und optimalen Service durch diese sekundären Dienstleister im Krankenhaus zu stellen, die diese wiederum erfüllen müssen. Nicht die Organisationsabläufe in der Krankenhausküche, im Labor oder in der Röntgenabteilung dürfen die Abläufe auf den Stationen determinieren, sondern umgekehrt: Die Erwartungen der Patienten, determiniert durch die Arbeitsabläufe auf den Stationen, bestimmen die Erwartungen an die Qualität und den Zeitpunkt, an dem sekundäre Dienstleister ihre Aufgaben zu erfüllen haben (vgl. hierzu Germer u. Malytczuk 1999). Wirtschaftliche Vorteile Die ökonomischen Vorteile einer so gestalteten Unternehmenskultur liegen auf der Hand. Das unverwechselbare Image, die Leitlinien, an denen sich die Behandlung und Erwartungen der Patienten und das Verhalten der Mitarbeiter orientieren können, die nicht jeder modisch-funktionalen Entwicklung hinterherlaufende Architektur und Ausstattung des Krankenhauses, die mögliche größere Bleibebereitschaft der Mitarbeiter (Integrationswirkung) in einer so gestalteten und mit Leben gefüllten Krankenhauskultur, bewusst gestaltete Arbeitsabläufe für und mit Patienten sprechen sich nicht nur unter der Bevölkerung, bei niedergelassenen Ärzten, bei Mitarbeitern anderer Krankenhäuser oder auch den Kostenträgern herum (Repräsentationswirkung). Bislang unerschlossene Rationalisierungsreserven werden damit ausgeschöpft, weil es sich für die Mitarbeiter lohnt, in ihr eigenes Lebensumfeld, das Krankenhaus heißt, mit Engagement zu investieren (Motivations- und Integrationswirkung). Der frühere autoritäre kann durch einen partizipativen Führungsstil abgelöst werden, die Selbstbestimmung an die Stelle einer früheren persönlichen Anweisung als Koordinationsmechanismus treten. Die dazugehörigen Infor-
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Kapitel 12 · Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie
mations-, Kommunikations- und Koordinationsmechanismen lassen sich in einer solchen Kultur natürlich anders, vielfach kostengünstiger organisieren. So könnte Information nicht als ausschließlich in einer Mailbox hinterlegte Bringschuld Dritter, sondern als eigene, über persönlich anzustoßende Aktivitäten, als Holschuld inszeniert werden. Eine Matrix-Organisation mit dem ihr innewohnenden Konfliktpotenzial anstelle einer klassisch funktional- hierarchischen Gliederung der Organisationsstruktur kann bereits eine andere Unternehmenskultur hervorbringen. Die Symbolik des Organigramms zeigt schon die Bereitschaft, Konflikte als Bestandteil arbeitsteiliger Organisationen zu akzeptieren und mit ihrer Lösung beispielsweise kreativere Entwicklungen hervorzubringen, als dies mit einer funktionalen Organisation möglich ist, da hier Konflikte als bedrohlich und kontraproduktiv interpretiert werden.
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Negative Auswirkungen Allen Euphorie auslösenden Überlegungen hinsichtlich der geschilderten positiven Wirkungen, die von einer bewusst gestalteten Unternehmenskultur ausgehen können, muss jedoch eine mögliche Negativwirkung gegenübergestellt werden (vgl. ⊡ Tabelle 12.1; Bea u. Haas, S. 486). Die positive Integrationswirkung, die ein ausgeprägtes »WirGefühl« und eine subjektive Zufriedenheit fördern kann, kann zu »Selbstüberschätzung« und mangelnder Sensibilität gegenüber Anforderungen und
⊡ Tabelle 12.1. Positive und negative Wirkungen einer starken Unternehmenskultur. (Nach Bea u. Haas 1997) Positive Wirkung
Negative Wirkung
Koordination
Selbstüberschätzung
Integration
Reduktion der Umfeldsensibilität
Motivation
Wahrnehmungsfilter
Repräsentation
Behinderung von strategischer Neuorientierung struktureller Anpassung Innovation organisationalem Lernen
Veränderungen im Umfeld führen. Die eigenen Normen und Werte schieben sich quasi unbemerkt als Wahrnehmungsfilter zwischen Organisation und Umfeld und behindern das rechtzeitige Erkennen relevanter Entwicklungen und Signale. So können zunehmende Patientenbeschwerden als individuelle Erscheinungen überzogener Patientenerwartungen gedeutet, die Hinweise auf potentielle Verbesserungsmöglichkeiten nicht rechtzeitig erkannt werden. Erst wenn Patienten sich für ein anderes Krankenhaus entscheiden und die Belegung zurückgeht, kann dies zu einer notwendigen Einsicht bei den Beteiligten führen. Zu starkes Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und die Unterschätzung der Dynamik finanzwirtschaftlich determinierter Entwicklungen im Krankenhausfinanzierungssystem (DRG) können innovationshemmend wirken sowie langfristig auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit gehen. Eine starke Unternehmenskultur kann damit eine strategische Neuorientierung und Strukturanpassung verhindern oder hemmen. Damit beeinträchtigt eine starke, krankenhausweite Unternehmenskultur die Lernfähigkeit des Krankenhauses und seiner Mitarbeiter.
12.4
Unternehmensethik und Unternehmenskultur
Bereits an vielen Stellen ist damit die Beziehung von Unternehmenskultur und -ethik deutlich geworden. Allerdings haben wir es bislang vermieden, dieses Verhältnis systematisch zu bestimmen. Auch in dieser Beziehung muss konstatiert werden, dass sowohl die Krankenhauspraxis als auch die betriebswirtschaftliche Theorie im Gesundheitswesen erst wenige Anstöße zur Diskussion dieses Beziehungsfeldes geliefert hat. Die Bedeutung in und für die Praxis ist jedoch unübersehbar. Die häufig auf Kosten und Leistungen verengte betriebswirtschaftliche Diskussion in den Krankenhäusern ist für sich allein nicht sinnstiftend! Die Frage, warum ein Krankenhausträger ein Krankenhaus betreibt, kann nicht durch ein häufig zu eng gefasstes ökonomisches Verständnis beantwortet werden. Dies ist eine ethische Frage. Ohne Antwort auf diese Frage lassen sich die Zwecke
331 12.4 · Unternehmensethik und Unternehmenskultur
und in der Folge auch die Ergebnisse des medizinisch-ökonomischen Zusammenhangs der Krankenhausarbeit nicht wirklich interpretieren. Die Welt der »reinen« ökonomischen Rationalität, in der es allein um ökonomische Sachgerechtigkeit (Effizienz) geht und die Welt der »reinen« außerökonomischen Moralität, der es um Humanität geht, müssen miteinander verknüpft werden. Eine wertorientierte Unternehmensführung im Krankenhaus ist unstrittiger Bestandteil der Unternehmenskultur. Was aber macht eine Bestimmung ethischer Grundsätze und deren Umsetzung in der Krankenhauspraxis so schwierig? Mit dieser Frage berühren wir einerseits bereits die Wirkungsdiskussion von Unternehmensleitbildern im Krankenhaus, die als bedruckte Hochglanzbroschüre kaum Wirkung bei den Mitarbeitern erzeugen kann. Unternehmensethik ist sicher mehr als ein in Papier gekleidetes und unter Krankenhausmitarbeitern verteiltes Leitbild. Unternehmensethik ist gelebte Führung, ist Prüfstein für Alltagserfahrungen im Umgang mit sterbenden, kranken oder auch wiedergenesenden Patienten, mit Angehörigen und deren Erwartungen, aber auch mit den Mitarbeitern im Krankenhaus, um nur einige Gruppen zu nennen. Andererseits kommen wir auf weitere Fragen, die im Krankenhausalltag für schwierige Diskussionen sorgen: Was hat Unternehmensethik mit den ökonomischen Rahmenbedingungen zu tun? Können wir zukünftig im Krankenhaus nur noch unter den Gesetzen der Ökonomie ethisch handeln? Bestimmen sich aus den ökonomischen Spielregeln die Rahmenbedingungen für ethisches oder unethisches Handeln? Wird das verfügbare Geld (Budget) zur Maxime für therapeutische Entscheidungen, weil eine politische Zielbestimmung für eine Anzahl, Qualität und Quantität von Gesundheitsleistungen fehlt? Rationieren wir unsere Krankenhausversorgung durch die Ressourcen, die uns die Kostenträger nicht oder nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stellen? An diesen Fragen zeigt sich ebenfalls, dass ethische Antworten im Gesundheitswesen auf zwei Ebenen zu suchen sind. Auf der Ebene des Gesundheitssystems müssen bestehende Systemzwänge kritisch hinterfragt und durch eine kritische Öffentlichkeit für ordnungsbedingte
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Reformen der Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen gesorgt werden. Auf der Ebene der »Geschäftsethik« wird nach rentablen Wegen ethisch-sinnvollen Wirtschaftens innerhalb vorgegebener Rahmenbedingungen gesucht. Ethik und Erfolg können so betrieblich integriert werden, da beispielsweise umwelt- und ressourcenschonendes Handeln auch ökonomisch effizientes Handeln im Krankenhaus darstellen kann. Unternehmensethik steht damit nicht notwendig in Konkurrenz zum Gewinnprinzip oder zu einer marktwirtschaftlichen Orientierung im Gesundheitswesen. > Ethische Anworten werden auf der Ebene der Mittel zur Verwirklichung situationsgerechter Anwendung des Gewinnprinzips gefunden. Im Spannungsfeld zwischen gesetzlichen Verpflichtungen und quasi marktwirtschaftlicher Organisation mit administrierten Preisen tritt eine ethische Verpflichtung als dritte Steuerungsfunktion hinzu (⊡ Abb. 12.6).
Damit kommt es in der modernen Krankenhausorganisation als Unternehmen darauf an, die drei Steuerungsgrößen unternehmerischen Handelns
diskursiv miteinander zu vereinbaren. Denn das Verhältnis und die Ausprägung dieser drei Steuerungsgrößen sich inhaltlich nicht abstrakt bestimmen, sondern muss im Dialog zwischen allen Beteiligten und Betroffenen immer wieder neu hergestellt werden. Die angemessenen Strategien eines Krankenhauses müssen damit ethisch legitimiert werden. Dazu dienen formale Regeln mit drei Kennzeichen: Unternehmensethik ▬ enthält eine prozessuale Anleitung zur Entwicklung von personen- und situationsübergreifenden Normen. Diese Normen können inhaltlicher Art sein (z. B. Verhaltenskodizes) oder prozessualer Art (z. B. Ethikkommissionen). ▬ rechtfertigt Normen durch den Nachweis guter Gründe, die nicht allein aus Tradition oder Autorität entstehen. ▬ fordert und fördert eine argumentative Verständigung zwischen allen Betroffenen im rationalen Dialog. Eine krankenhausspezifische Verständigung erwächst nicht aus innerer stiller Zustimmung der Betroffenen, sondern durch wechselseitigen Dialog, den es zu installieren und immer neu zu beleben gilt.
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Kapitel 12 · Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie
Krankenhauspolitische Entscheidungen im Recht Markt Rahmen der Unternehmenskultur Preise Verfassung Unternehmensethik
Ethik ⊡ Abb. 12.6. Markt, Recht und Ethik als Steuerungsgrößen unternehmerischen Handelns im Krankenhaus. (Nach Steinmann u. Löhr 1994)
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Im Rahmen der Unternehmenskultur im Krankenhaus gilt es deshalb zu hinterfragen, ob alle Entscheidungen und Handlungen einer ethischen Prüfung erwünschter Wirkungen stand halten. Zwischenstationen ethischer Reflexion sind die in Form gegossenen Leitbilder mit ihren Normen und Werten, die allerdings eher als Anleitung und nicht als raumzeitlich immer gültige Grundsätze zu interpretieren sind. Neben die zunehmend anzutreffenden Leitbilder treten damit institutionell zu verankernde Grundformen ethischer Diskurse zur immer neuen Bestimmung ethischen Handelns eines zunehmend marktwirtschaftlich organisierten Gesundheitswesens und seines rechtlichen Rahmens. Damit kann zur Frage übergegangen werden, wie Grundwerte, Normen und Symbole eines Krankenhauses aufgespürt, diagnostiziert werden können.
12.4.1 Diagnose der Unternehmenskultur
Um die bewussten und unbewussten Bestandteile einer Unternehmenskultur im Krankenhaus deutlich zu machen, bedarf es einer Schrittfolge aus gezielten Diagnose- und Gestaltungselementen, die durchlaufen werden kann.
»
In einem ersten Schritt gilt es, sich das Symbolsystem eines Krankenhauses zu vergegenwärtigen. Am besten ist es, hierzu mit der Historie des Krankenhauses zu beginnen und herausragende Ereignisse und ihre Dramaturgie zu rekonstruieren. Von besonderer Bedeutung ist hier herauszufinden:
▬ Was war der Anlass für die Krankenhausgründung? Welcher Hintergrund ist für die Gründung kennzeichnend (Schwesternschaft, Stiftung, Kapitalgesellschaft usw.)? Gab es eine herausragende Gründerpersönlichkeit oder mehrere Gründerpersönlichkeiten? Was waren die Hauptprobleme, die am Anfang gelöst werden mussten? Haben sich schon gleich zu Anfang Problemlösungsmuster herausgeschält, die bis heute Geltung haben? Sodann ist herauszufinden, ob und wann die Kontinuität der Gründungstradition gebrochen wurde: ▬ Durch wen oder durch welche Gruppe wurde der Wandel ausgelöst? Was war die Reaktion im Unternehmen? Wie lange hat es gedauert, bis sich der erste Erfolg gezeigt hat? Wie hat die Unternehmensumwelt auf die Veränderung reagiert? Über welche Themen wurde in der Übergangsphase am häufigsten gesprochen? usw. Sodann gilt es, mit einem wachen Auge solche Plätze zu studieren, an denen sich die Kultur am wahrscheinlichsten offenbart. Solche Plätze sind z. B. der Empfang, das Büro der Geschäftsleitung, der Chefärzte, die Aufnahme und Pforte und andere Arbeitsplätze, der Eingangsbereich, die Flure usw. Des Weiteren sind die Menschen in dem Unternehmen genau zu beobachten: ▬ Wie kleiden sie sich? Welche Kontakte nehmen sie auf? Wie gehen sie miteinander um? In welcher Form werden Entscheidungen getroffen? Wie kontrollieren sich die Mitarbeiter untereinander? Welche Verhaltensweisen werden an Nonkonformisten am schärfsten kritisiert? Wodurch unterscheiden sich erfolgreiche von weniger erfolgreichen Mitarbeitern? Welche Geschichten und/oder Witze werden am häufigsten erzählt? Schließlich sind die Rituale und Feiern zu studieren, wie es sie in jedem Krankenhaus gibt: ▬ Welche Feste werden gefeiert? Wer arrangiert sie? Wer nimmt daran teil? Wie ist der Ablauf? Welche Reden werden gehalten? Gibt es bestimmte Themen, die in solchen
333 12.4 · Unternehmensethik und Unternehmenskultur
Reden, etwa anlässlich von Jubiläen oder Weihnachtsfeiern, immer wieder auftauchen? In welcher Weise begegnen sich Führungskräfte und Mitarbeiter bei solchen Feiern? usw. Alle diese Beobachtungen können nur direkt und mit Hilfe von Interviews gemacht werden. Standardisierte Fragebogenerhebungen eignen sich für die Erfassung von Unternehmenskulturen nicht. Man kann sich auf diese Weise nur sehr oberflächlich einer Kultur nähern, nicht aber sie wirklich verstehen. Eine Unternehmenskultur kann nur derjenige verstehen, der sich mit den Sinngehalten und den Bedeutungen der Begriffe und Symbole vertraut gemacht hat. Es erfordert deshalb immer Zeit und Geduld, eine Unternehmenskultur verstehen zu lernen. Die Erscheinungsformen der Unternehmenskultur beobachten heißt jedoch noch nicht, sie zu verstehen. Dem oben dargestellten Schema entsprechend kann die Analyse nicht bei den sichtbaren Elementen stehen bleiben, sondern muss in einem nächsten Schritt die Verhaltensstandards und Regeln herausarbeiten, die von den Organisationsmitgliedern typischerweise beachtet werden (müssen). Auch geben die in Dokumenten und Broschüren niedergelegten Leitlinien und Musterlösungen nur selten Auskunft über die tatsächlich verfolgten Grundsätze. Sie gilt es aus den gesammelten Beobachtungen und Erklärungen behutsam herauszuschälen... . Der letzte und schwierigste Schritt ist die »Herausfilterung« der zentralen Kulturinhalte, eben der Basisannahmen, aus den kulturellen Manifestationen, den Symbolen, den Festen, den Dokumenten usw. Diese letztlich nicht ohne Phantasie lösbare Aufgabe ist–wie bereits betont–deshalb so schwierig, weil es sich bei diesen Annahmen um stillschweigende Annahmen handelt, um die Selbstverständlichkeiten in unserem Handeln. Die wenigsten Menschen denken über diese Annahmen nach. Kaum jemand ist deshalb auch in der Lage, über diese Annahmen Auskunft zu geben. Wir sind gezwungen, sie auf indirektem Wege aus den gesammelten Beobachtungen zu erschließen, langsam nach vorne tastend Vermutungen
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über die Basisannahmen aufzustellen und dann anschließend mit den Organisationsmitgliedern in einen Dialog über die Haltbarkeit der aufgestellten Vermutungen einzutreten. Dabei wird es sich häufig als notwendig erweisen, die aufgestellten Vermutungen zu revidieren, zu ergänzen und erneut zu diskutieren. In diesen Rückkoppelungsgesprächen ergibt sich als besondere Schwierigkeit, dass die Vorstellungen und Eigeninterpretationen der Organisationsmitglieder nicht selten von der Fremdwahrnehmung und -interpretation erheblich abweichen. Dies wird vor allem dann zum Problem, wenn die Organisationsmitglieder ein idealistischeres Bild von der eigenen Unternehmung zeichnen wollen und dementsprechend dann davon abweichende Ausdeutungen des Orientierungssystems strikt zurückweisen (mod. für Krankenhäuser nach Schreyögg, Diagnose der Unternehmenskultur, S. 9–11).«
12.4.2 Gestaltung der Unternehmenskultur
im Krankenhaus Unstrittig dürfte nach den bisherigen Ausführungen eine notwendige Gestaltung der Unternehmenskultur sein, die sich dem Flickwerk einzelner Projekte und unzusammenhängender Konzepte organisatorischer Gestaltung im Krankenhaus entgegenstellt. Die umfeldangepasste Gestaltung der Unternehmenskultur, die letztlich zu einer Repräsentanz im gleichen Quadranten führt, der sich aus dem Kreuzungspunkt zwischen Soziabilität und Solidarität ergibt, gelingt mit Hilfe des Ansatzes von Goffee und Jones sowie der dort empfohlenen Instrumente. Sie können sowohl beeinflussend, verändernd oder auch kulturerhaltend eingesetzt werden. > Bei der Wahl der entsprechenden Strategie zur Gestaltung der Unternehmenskultur werden in der Literatur revolutionäre und evolutionäre Gestaltungsansätze unterschieden. Plötzliche und besonders radikale Einschnitte, beispielsweise durch einen schlagartigen Austausch von Führungskräften, die Auflage eines radikalen Kostensen-
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Kapitel 12 · Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie
kungs- und Rationalisierungsprogramms, der massive Einsatz von Krankenhausberatern mit direktiver Vorgehensweise können als Beispiele für revolutionäre Gestaltungsformen dienen. Der hier eher vertretene Ansatz einer evolutionären Gestaltung der Unternehmenskultur setzt eine hinreichende Kulturdiagnose, eine entsprechend diskursive Zielbildung und Wirkungsanalyse unternehmensethischer Entscheidungen sowie die Realisation und Kontrolle der Entwicklungsschritte von Krankenhäusern voraus.
Klassische Instrumente der Befragung und Beobachtung von Organisationsmitgliedern, ein anschließender Diagnose- und Interpretationsworkshop sowie
gestaffelte Interviews mit Führungskräften können der Ermittlung wesentlicher Kulturmerkmale dienen (vgl. Lehnert et al. 1997). Befragungsergebnisse können durch Rundgänge im Krankenhaus mit Hilfe von Beobachtungsinstrumenten verifiziert werden. Darüber hinaus lassen sich beispielsweise die Atmosphäre und die Architektur über solche Instrumente entsprechend bewerten. Der sachkundigen Ermittlung und Bewertung der Ist-Kultur folgt dann die Gestaltung der Unternehmenskultur. Goffee und Jones haben aus dem Blickwinkel einer umfeldangepassten Unternehmenskultur eine Reihe von Instrumenten vorgeschlagen, mit der eine umfeldadäquate Unternehmenskultur positiv beeinflusst werden kann (folgende Übersicht).
Beispielhafte Maßnahmen zur Erhöhung der Soziabilität und der Solidarität. (Mod. nach Goffee u. Jones 1997) Maßnahmen zur Erhöhung der Soziabilität
Maßnahmen zur Erhöhung der Solidarität
Begünstigung gemeinsamer Ideen, Interessen und Gefühle
Schaffung eines Bewusstseins bei den Mitarbeitern darüber, was die »Konkurrenz« leistet, z. B. durch Benchmarking-Kreise, durch Veröffentlichungen in Mitarbeiterzeitungen, durch Videos, Intranet, Rundschreiben usw.
Einstellung umgänglicher Mitarbeiter, von Menschen, die vielleicht Freunde werden
Schaffung eines Gefühls der Dringlichkeit
Ankündigung der Absicht zur Einstellung bestimmter Mitarbeitertypen
Entwicklung eines Leitbildes, einer Vision
Verbesserung der sozialen Interaktion zwischen Beschäftigten durch zwanglose Zusammenkünfteinnerhalb und außerhalb des Krankenhauses
Planung und Steuerung durch Zielvereinbarung (MBO, Personalentwicklung)
Einladung von Familienmitgliedern zu gemeinsamen Veranstaltungen im Krankenhaus
Häufige Vernetzung zwischen den Fachabteilungen, Berufsgruppen und Hierarchieebenen durch Projektgruppen, Qualitätszirkel und Task-Forces
Begrenzung hierarchischer Unterschiede (Abflachung der Hierarchie, gleiche Sozialleistungen für alle Mitarbeiter, keine Parkplätze für Priviligierte), Prämien auf gleicher Basis
Stärkung des Engagements für gemeinsame Unternehmensziele
12
Leitende Mitarbeiter müssen wie Freunde auftreten und in puncto Freundlichkeit und Wohlwollen mit gutem Beispiel vorangehen
12
335 12.5 · Zusammenfassung und Ausblick
»
Bleicher ...schlägt folgenden Katalog rahmengebender kulturverändernder Maßnahmen vor: ▬ sinnvermittelnde Maßnahmen (zur Verdeutlichung der »Mission« der Unternehmung), ▬ unterstützende Maßnahmen (z. B. Vorgabe bzw. Entwicklung eines Unternehmensleitbildes), ▬ Durchführung gemeinsamer Projekte (Überlagerung der formalen Organisationsstruktur durch zeitlich befristete interdisziplinäre Organisationsformen), ▬ Rotation von Subkulturträgern (zur Förderung der internen Kenntnis und Akzeptanz der subkulturellen Struktur ) ▬ Maßnahmen zur Personalentwicklung (z. B. Personalauswahl oder interdisziplinäre Lerngruppenzusammensetzung), ▬ Ausrichtung von Anreizsystemen (subsystemische und unternehmensweite Orientierung) ▬ (Bleicher 1986 zit. in Bea u. Haas 1997, S. 506).«
Da sich auf dem Weg der Gestaltung einer Unternehmenskultur Widerstände ergeben können, sind Maßnahmen zur Bewältigung dieser Widerstände notwendig. Ausgangspunkt für eine Veränderung
der Unternehmenskultur kann das Wissen um die Notwendigkeit zur Veränderung, um die Veränderungsinhalte oder die Schrittfolge der zu erwartenden Diagnose- und Therapiemaßnahmen im Rahmen einer Organisationsentwicklung sein. Nieder (1997), der Willens-, Fähigkeits- und Funktionalbarrieren bei organisationalen Veränderungsprozessen unterscheidet, nennt folgende Instrumente zur Steigerung der Innovationsbereitschaft und Innovationsfähigkeit (⊡ Abb. 12.7). Maßnahmen zur Erhöhung des Innovationspotenzials und Beseitigung von Willens- sowie Fähigkeitsbarrieren. (Nieder 1997, S. 110)
12.5
Zusammenfassung und Ausblick
Die hier aufgezeigten Zusammenhänge zwischen Unternehmenskultur und Krankenhaus stellen bislang erste Überlegungen dar, die sich weitgehend auf Einzelerfahrungen und nicht auf theoretisch gesicherte und bestätigte Konzepte beziehen. Die empirischen Untersuchungen mit Hilfe des Konzeptes von Goffee und Jones machen jedoch deutlich, wie unterschiedlich Krankenhauskulturen ausgeprägt sein können. Die dargestellten Problemfelder, die Mitarbeiter selbst über den Zustand ihrer Krankenhäuser angeben, lassen einerseits eine Bearbeitung Barrieren
I N S T R U M E N T E
zur Steigerung der Innovationsbereitschaft
zur Steigerung der Innovationsfähigkeit
Allgemeine Maßnahmen zu Schaffung einer innovationsfreundlichen Unternehmenskultur
W illensbarriere
Spezielle Maßnahmen
Gestaltung des Anreizsystems
Organisatorische Maßnahmen
Interne und externe Kooperaton Innovationsfördernde Organisationsstrukturen
Funktionalbarriere
Personale Maßnahmen
Auswahl innovativer Mitarbeiter
Fähigkeitsbarriere
Informationspolitik Partizipation
Veränderung der Gruppenstruktur
Fähigkeitsbarriere
Wissenvermittlung
⊡ Abb. 12.7. Maßnahmen zur Erhöhung des Innovationspotenzials und Beseitigung von Willens- sowie Fähigkeitsbarrieren. (Nieder 1997, S. 110)
336
Kapitel 12 · Unternehmenskultur im Krankenhaus zwischen Ethik und Ökonomie
unternehmenskultureller Fragestellungen im Krankenhaus jenseits einer aktionistischen und segmentiert-symptomatischen Bekämpfung von aktuellen »Brandherden« erkennen. Eine Beschäftigung mit unternehmenskulturellen und unternehmensethischen Fragestellungen hilft einem Krankenhaus, sich in Zukunft ökonomisch und ethisch neu zu positionieren. Als wesentlicher Akteur im Rahmen personenbezogener Dienstleistungen muss das Krankenhausmanagement diskursive Inizialzündungen auslösen. Letztlich zählt Unternehmenskultur zu den Erfolgsfaktoren, die über den ökonomischen Erfolg von Krankenhäusern mitentscheiden. Krankenhausmanagement ist nicht nur eine Frage der funktionalen Gestaltung »harter« Fakten, sondern ebenfalls eine Aufgabenstellung, die aus ethischer und ästhetischer Sinnvermittlung resultiert – gerade zur Sicherung und Entwicklung ökonomischer Erfolgspotenziale.
? Wissens- und Transferfragen
12
1. Welche drei Ebenen zur Unternehmenskultur unterscheidet Schein? 2. Stellen Unternehmensethik und Gewinnprinzip im Krankenhaus Gegensätze dar? 3. Welche vier Felder zur Ausprägung einer Unternehmenskultur unterscheiden Goffee und Jones?
Literatur Bea FX, Haas J (1997) Strategisches Management, 2. Aufl. Lucius & Lucius, Stuttgart Bea FX, Dichtl E, Schweitzer M (Hrsg) (1993) Führung (Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Bd 2) 7. Aufl. Lucius & Lucius, Stuttgart Jena Berkel K, Herzog R (1997) Unternehmenskultur und Ethik. Sauer, Heidelberg Bernhardt H, Mühlbauer BH, Rottländer C (2000) Tschau Grau. In: Krankenhaus Umschau 6: 523–527 Bleicher K (1993) Organisation. In: Bea FX, Dichtl E, Schweitzer M (Hrsg) Führung (Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Bd 2) 7. Aufl. Lucius & Lucius, Stuttgart Jena, S. 103–186 Boehm-Tettelbach P (1990) Unternehmenspolitischer Rahmen und strategisches Management. Kirsch, Herrsching
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13 IT-Anwendungen R. Trill 13.1
Information als Erfolgsfaktor – 337
13.8
Qualifizierung
– 358
13.2
Geschichte der IT im Krankenhaus – 337
13.9
Ausblick
13.3
Technische Grundlagen – 339
Wissens- und Transferfragen
13.4
EDV-Anwendungen in der Pflege – 343
Literatur
13.5
Software-Auswahl – 349
13.6
Kosten
13.7
Der IT-Markt
13.1
Information als Erfolgsfaktor
– 359 – 360
– 361
– 356 – 357
Der Einsatz der Informationstechnologie ist im deutschen Gesundheitswesen, so auch in den Krankenhäusern, in den letzten Jahren zu einer Normalität geworden. Kaum ein Arbeitsplatz kommt noch ohne die Unterstützung der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) aus. Dieser Trend ist zunehmend. Die Information selbst ist in den letzten Jahren in die Rolle eines Erfolgsfaktors gelangt, d. h. die Wahrscheinlichkeit für ein Krankenhaus, erfolgreich am Markt zu agieren, steigt in dem Maße, in dem ein planerischer und aktiver Umgang mit den Informationen erfolgt. In diesem Zusammenhang wurde in den letzten Jahren der Begriff des Informationsmanagement geprägt. > Unter Informationsmanagement sollen alle Führungsaufgaben eines Unternehmens in Bezug auf die Anwendung von Information und Kommunikation verstanden werden.
Wenn auch verspätet, so wurden die Arbeitsprozesse der Krankenpflege in den letzten Jahren vermehrt durch die Einführung der EDV unterstützt. Im Folgenden sollen insbesondere die Fragestellungen behandelt werden, die sich mit der Informationstechnologie (IT) für den Bereich der Kran-
kenpflege beschäftigen. Hierbei sind insbesondere zwei Blickrichtungen von Interesse: a) die Gestaltung der Arbeitsprozesse in der Krankenpflege und deren Unterstützung mit leistungsfähigen EDV-Systemen; b) der Einsatz der EDV an den Arbeitsplätzen des Pflegemanagement selbst. Während zu a) beispielsweise der Auswahlprozess zu thematisieren sein wird, sollen zu b) die Anforderungen an die Unterstützung seitens der Datenverarbeitung zum Beispiel an den Arbeitsplätzen der Pflegedienstleitung, der Stationsleitung oder der Heimleitung beschrieben werden. Für das Verständnis des heutigen Entwicklungsstandes der IT-Verbreitung in den Einrichtungen des Gesundheitswesens, insbesondere der Krankenhäuser, ist ein kurzer Blick in die Historie der EDV-Entwicklung hilfreich. Vor diesem Hintergrund sind viele der heutigen Diskussionen besser einzuordnen.
13.2
Geschichte der IT im Krankenhaus
Langläufig datiert man den Startpunkt der mittlerweile rasant gewordenen Verbreitung der IT im
338
13
Kapitel 13 · IT-Anwendungen
Gesundheitswesen bzw. Krankenhauswesen auf das Jahr 1972. Mit der Einführung des ersten Krankenhausfinanzierungsgesetzes wurde nicht nur die duale Finanzierung in das deutsche Krankenhauswesen eingeführt, sondern die Einrichtungen wurden auch zur Anwendung des kaufmännischen Rechnungswesens gezwungen. Das kaufmännische Rechnungswesen ersetzte die bis dahin vorherrschende Kameralistik, was zu einem nicht unerheblichen Mehraufwand für die Krankenhausverwaltungen führte. Was lag näher als die steigende Arbeitsbelastung durch den Einsatz der EDV »abzufangen«, indem man verwandte Produkte aus anderen Branchen auf das Krankenhaus (unter Verwendung des Krankenhauskontenrahmens) zuschnitt. Über lange Jahre (für viele Krankenhäuser bis in die frühen 90er Jahre hinein) herrschten dann zentrale Verfahren der Datenverarbeitung im Krankenhauswesen vor. Unter zentralen Verfahren versteht man die Verarbeitung der Daten in Rechenzentren. In den einzelnen Einrichtungen wurden die Daten gesammelt und anfangs auch noch per Boten, später mittels Datenfernübertragung an das Rechenzentrum übermittelt. Dort wurden die Verarbeitungsschritte (z. B. die Buchungen) durchgeführt und an das Krankenhaus zurückgemeldet. Zu dieser Zeit bestimmten die administrativen Verfahren (Rechnungswesen, Lohn-/Gehaltsabrechnung, stationäre Patientenabrechnung) die EDV-Landschaft. Hierbei handelt es sich in der Regel um nicht zeitkritische Anwendungen, für die die Rechenzentrumslösung solange adäquat war, wie die IT selbst für die Krankenhäuser nicht erschwinglich war bzw. die Anforderungen an das Aufstellen der »Maschinen« (Hardware) räumlich oder finanziell nicht erfüllbar waren (Großrechner oder mittlere Datentechnik). Je mehr sich die Anwendungen aus dem reinen administrativen Bereich hin in die Leistungsfelder von Medizin und Pflege entwickelten und je größer der Anteil der zeitkritischen Anwendungen wurde, desto eher gelangten diese zentralen Verfahren (mittels Rechenzentrum) an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Immer mehr Anwendungen werden auf sog. autonome Systeme übertragen, wobei die Datenverarbeitung (Hardware und Software) im Krankenhaus selbst zur Verfügung gestellt wird. Allein die Lohn- und Gehaltsabrechnung verbleibt
(oft noch bis heute) im Rechenzentrum, da es sich hierbei um eine Massendatenverarbeitung mit festgelegten Abrechnungszyklen handelt. Die 90er Jahre sind eindeutig geprägt von autonomen Verfahren. Die Anzahl der Rechenzentren für Einrichtungen des Gesundheitswesens nimmt in diesem Zeitraum dramatisch ab. Mittelständische IT-Anbieter beherrschen die Märkte. Zunehmend werden Applikationen (Programme = Software) für die Unterstützung der medizinischen und pflegerischen Arbeitsprozesse angeboten. Ab 2000/2001 verändert sich die Landschaft wieder geringfügig. Die Anforderungen an die finanziellen Möglichkeiten einzelner Kliniken geraten an den Rand der Belastbarkeit, da die Veränderungszyklen der Technologie immer kürzer und damit die Investitionsnotwendigkeiten immer größer werden. Insbesondere kleinere Krankenhäuser beginnen einzelne oder komplette Anwendungen nach draußen zu verlagern. Die Überlegungen zum Outsourcing (bekannt aus anderen Leistungsbereichen wie beispielsweise Küche, Wäscherei und Reinigung) gelten nun auch hinsichtlich der EDV. Eine besondere Form des Outsourcing stellt das Application Service Providing (ASP) dar. Hierbei können alle Aktivitäten hinsichtlich des Betriebes der Datenverarbeitung an einen großen Dienstleister ausgelagert werden und verbleiben somit in einer Hand. ASP geht somit weiter als das »klassische« Outsourcing. Inwieweit ASP eine Lösung für große Teile der stationären Einrichtungen sein kann, wird im Folgenden noch zu hinterfragen sein. In der Praxis werden gegenwärtig Lösungen angeboten, bei denen die eher kaufmännischen Verfahren im Sinne des ASP in Rechenzentren ausgelagert werden, während die patientenorientierten Anwendungen im Krankenhaus selber verbleiben. Die Betreiber sind meist keine selbstständigen Rechenzentren, sondern solche von großen IT-Anbietern wie z. B. Siemens oder T-Com. Die Veränderung in der Struktur der stationären Versorgung zeigt Konsequenzen auch hinsichtlich der IT-Architektur. Es entstehen zunehmend Konzerne, die auf eine gemeinsame Dienstleistung »Datenverarbeitung« zurückgreifen. Mit dieser Entwicklung einher geht eine Zentralisierung anbieterseitig, auf die später noch kurz einzugehen sein wird.
339 13.3 · Technische Grundlagen
Letztendlich sind die letzten Jahre durch das Vordringen der Internettechnologien auch im Krankenhaus geprägt. Kaum ein Krankenhaus verzichtet heute auf die Präsentation der eigenen Einrichtung im Internet (mittels einer sog. Homepage). Des Weiteren hat das Intranet in vielen Krankenhäusern das Schwarze Brett bzw. Rundschreiben ganz oder teilweise abgelöst.
13.3
Technische Grundlagen
Obwohl im Mittelpunkt die Anwendungen für die Pflege stehen, können einige technische Definitionen und Beschreibungen nicht vermieden werden. Die hierzu notwendigen Ausführungen werden sich auf die beiden Punkte »Hardware« und »Software« konzentrieren.
13.3.1 Hardware
Die Hardware wird somit als Gesamtheit oder Teil der apparativen Ausstattung von Rechnersystemen beschrieben. Oder, ganz einfach ausgedrückt, Hardware ist das, was man hinsichtlich der Computertechnik »anfassen« kann. Der Aufbau der Rechnersysteme ist unabhängig von der Größe sehr ähnlich. Somit kann auch der PC (Personal Computer) als Beispiel für die Beschreibung der Hardware herangezogen werden. Im Mittelpunkt steht die Zentraleinheit, die aus Rechenwerk, Steuerwerk und dem internen Speicher besteht. Hier werden die einzelnen Rechenoperationen vorgenommen. Daneben existieren externe Speichermedien (z. B. Festplatten, Disketten, CDs oder neuerdings Memorysticks), die die Speicherung großer Datenmengen ermöglichen. Für die Eingabe steht in der Regel eine Tastatur, ergänzt durch eine Maus, zur Verfügung. Die Interaktionen mit dem Rechner können auf dem Bildschirm nachvollzogen werden. Die Ausgabe erfolgt häufig über Drucker (Tintenstrahloder Laserdrucker). Ergebnisse können aber auch anderen Rechnern (Nutzern) zur Verfügung gestellt werden, z. B. indem Dateien mittels E-Mail (elektronischer Post) über das Internet verschickt werden.
13
In Unternehmen wird man in aller Regel nicht nur einen Rechner finden, sondern eine Vielzahl. Einzelne Krankenhäuser betreiben mehr als 500 Datenendgeräte und mehr als 10 Server (für Rechner in Datennetzwerken hat sich der Begriff des Servers eingebürgert von »serve« = versorgen, hier mit Daten und Programmen). > Je nachdem, was der Server dem Anwender »anbietet«, werden Datenbankserver (Daten) und Applikationsserver (Anwendungen) unterschieden.
Beschränkt sich das Netzwerk auf ein Unternehmen so bezeichnet man es als Local Area Network (LAN), umfasst es weitere Bereiche, so wird es als Wide Area Network (WAN) bezeichnet. In der Vergangenheit benutzten diese Netzwerke physisch vorhandene Leitungen für die Übertragung. Mittlerweile gewinnen sog. Wireless-LAN an Bedeutung. Die Datenkommunikation erfolgt hierbei über Funk. Hiermit steigt die Flexibilität der Anwendung, da auch in Räumen mit der Datenverarbeitung (mit Endgeräten) gearbeitet werden kann, in die keine Leitungen verlegt wurden. Insbesondere für die Ausbreitung von Anwendungen der Pflege dürften diese Funknetze von großer Bedeutung sein. Für die Ein- und Ausgabe werden mobiler Datenendgeräte (Handhelds, Tablett-PC, Notebooks, Palmtops) genutzt. Aufwändige bauliche Maßnahmen sind somit auf den Stationen in der Regel nicht mehr notwendig. Damit entfällt ein Argument gegen eine Investition in Pflegeinformationssysteme (PIS). Letztendlich sollen noch die beiden Begriffe »Client-Server-System« (CSS) und »Window-Terminal-Server-System« (WTS) eingeführt werden. Beide Systeme stehen für die gängigsten Konzepte hinsichtlich der IT-Architektur. Als Client bezeichnet man einen selbstständigen Arbeitsplatzrechner, meist einen Personal Computer (PC). Die ⊡ Abb. 13.1 und ⊡ 13.2 sollen die Unterschiede verdeutlichen. Der wesentlichste Unterschied besteht (vereinfacht gesagt) darin, dass beim Window-TerminalServer-System die Intelligenz auf den zentralen Servern konzentriert ist und der Endnutzer an seinem Arbeitsplatz in der Regel nur einen Bildschirm mit Tastatur zur Verfügung hat. Ein Vorteil
340
Kapitel 13 · IT-Anwendungen
Client
Client Netzwerk
Client
Server ⊡ Abb. 13.1. Beispiel eines Client-Server-Systems
Terminal
Terminal
13
TerminalServer
Netzwerk TerminalServer
Terminal
Terminal
⊡ Abb. 13.2. Beispiel eines Window-Terminal-Server-Systems
Server
341 13.3 · Technische Grundlagen
dieser Lösung soll es sein, dass die Infiltrierung von Viren über dezentrale User-Arbeitsplätze verhindert werden kann. Ein Nachteil ist sicherlich die zunehmende Abhängigkeit von einem zentralen Server. Wenn dieser ausfällt, besteht keine Möglichkeit, am dezentralen Arbeitsplatz die Anwendungen »weiter zu fahren«. Für die Leistungsfähigkeit von Rechnersystemen ist aus Sicht des Anwenders die Software immer stärker in den Mittelpunkt gerückt. So beschäftigt man sich in Ausschreibungsverfahren konsequenter Weise überwiegend mit der Software.
13.3.2 Software
Software ist der Sammelbegriff für alle verwendeten Programme. Software stellt somit die Intelligenz von Rechnersystemen dar. Man unterscheidet in Systemsoftware (häufig auch als Betriebssystem bezeichnet) und Anwendersoftware. Die Systemsoftware regelt das Zusammenwirken der einzelnen Hardwarekomponenten und stellt den Anwenderprogrammen grundlegende Dienste zur Verfügung. Benutzeraufträge (z. B. an Arbeitsplatz- oder Netzwerkdrucker) werden verwaltet, Ressourcen (z. B. externe Speichermedien) werden zugeordnet und Programme werden ausgeführt (Hansen 2001, S. 150). Die bekannteste Systemsoftware dürfte WINDOWS (für PC heute nahezu ein »Quasi-Standard«) sein. Für größere Rechnersysteme ist nach wie vor UNIX die vorherrschende Systemsoftware. Relativ bekannt ist auch LINUX, das als OpenSource-Software frei verfügbar ist und deshalb eine besondere Stellung einnimmt. Die Anwendersoftware hat die Aufgabe, informationelle Probleme der Anwender zu lösen. Programme kann man sich als für Rechnersysteme verständliche Algorithmen vorstellen, vergleichbar Rezepten oder Strickanleitungen. In ihnen werden die einzelnen Schritte der Verarbeitung im Detail (eindeutig) beschrieben. So lösen Anwenderprogramme beispielsweise das Problem der Dienstplanschreibung, andere sind in der Lage, Patienten in Funktionsstellen anzumelden und wieder andere haben die Aufgabe, die Pflegeplanung und Pfle-
13
gedokumentation im Rahmen des Pflegeprozesses zu unterstützen. Bei der Anwendersoftware unterscheidet man Standardsoftware und die Individualsoftware. Während Standardsoftware von einer größeren Zahl von Unternehmen angewendet wird, wird Individualsoftware für einen ganz bestimmten Kunden entwickelt. Die Software ist dann optimal auf die Unternehmensanforderungen ausgerichtet, ist aber in aller Regel in der Beschaffung sehr teuer (da der Programmieraufwand von einem Kunden finanziert werden muss). In Krankenhäusern findet man fast ausschließlich Standardsoftware, die in gewissen Grenzen auf die jeweiligen Gegebenheiten des Krankenhauses angepasst werden kann (sog. Customizing). Die Software von SAP ist dafür ein gutes Beispiel. Eine Standardsoftware besonderer Art stellt die sog. Office-Software dar. Dieser Markt wird weitgehend von Microsoft-Produkten dominiert. Programme wie Word, Excel, Access oder Powerpoint sind weit verbreitet und werden in der einen oder anderen Form in fast jedem Krankenhaus eingesetzt. Word ist eine sehr leistungsfähige Textverarbeitung, die zum Beispiel in Verbindung mit der Arztbriefschreibung zum Einsatz kommen kann. Excel wiederum ist ein Tabellenkalkulationsprogramm (mit Datenbankfunktionen), das häufig vom Controller für die Planung und Dokumentation von Kostenverläufen herangezogen wird. Hierfür werden häufig Daten aus den umfangreichen Datenbeständen der Krankenhausinformationssysteme (KIS) extrahiert und in Excel für die jeweiligen Benutzer aufbereitet. Excel ist von der Anlage grundsätzlich auch für die Dienstplanung geeignet. Access ist eine Datenbank, die insbesondere auf PC eingesetzt wird. Sie erlaubt z. B. im Rahmen der internen Qualitätssicherung das Aufbewahren und die Auswertung umfangreicherer Datenbestände. Powerpoint ist mittlerweile nahezu zu einem Allgemeingut geworden, wenn es um die Gestaltung von Präsentationen geht. Programme verarbeiten bzw. manipulieren Daten. Daten in unterschiedlicher Form (als formatierte Daten, aber auch als Bilder, unformatierte Texte oder Sprache) werden in sog. Datenbanken gespeichert.
342
Kapitel 13 · IT-Anwendungen
> Eine Datenbank ist ein zentraler Datenbestand, der mittels eines Verwaltungssystems anwendungsunabhängig auf einem Speichermedium verwaltet wird.
Gegenüber den in der Vergangenheit üblichen Dateien bietet eine Datenbank den großen Vorteil der Redundanzfreiheit, was inkonsistente Daten vermeiden hilft. Auf Personal Computer (Clients) dürfte Access nach wie vor weit verbreitet sein, darüber hinaus ist von Microsoft die Datenbank MS-SQL gut eingeführt und auch in Krankenhausinformationssystemen weit verbreitet. Die führende Datenbank in komplexen Anwendungen dürfte aber nach wie vor Oracle, gefolgt von Informix sein. Die Frage, welche Datenbank zum Einsatz kommen soll, kann im Rahmen von Auswahlprozessen durchaus von Bedeutung sein, wobei die Auseinandersetzung in erster Linie dem EDV-Spezialisten überlassen bleiben sollte. Für den Benutzer dürfte vornehmlich die Sicht aus der Arbeitsplatzperspektive von Bedeutung sein (zur technologisch-orientierten Vertiefung Hansen 2001; Heinrich 2002). Diesen Gliederungspunkt sollen einige wenige Bemerkungen zur Nutzung von Internet und Intranet abschließen. > Das Internet ist ein weltweites weitgehend
13
offenes Netz mit hoher Standardisierung mit mittlerweile schier unübersehbaren Informationsmengen, auf das leicht zugegriffen werden kann.
Das world wide web (WWW) benutzt als Benutzeroberfläche einen sog. Webbrowser (am bekanntesten dürften Explorer und Netscape sein) und verwendet einheitliche Datenformate (bevorzugt HTML). Über das Internet können Daten ausgetauscht werden (z. B. in Form von elektronischer Post/E-Mail), es können Suchanfragen »gestartet« werden (Dokumente zu bestimmten Fragestellungen werden in verschiedensten Datenbanken gesucht und zumeist auch gefunden). Diese Technik kann aber auch im Rahmen von Gesundheitsnetzen zum Einsatz kommen, dann in Form eines abgeschirmten Kanals (Virtual Private Network = VPN) (Trill 2002, S. 333 ff.). Die Nutzung des Internets ist heute in vielen deutschen Haushalten bereits zu einer Selbstver-
ständlichkeit geworden (Internet-Banking, Buchen von Bahnfahrten oder Flügen). Die Bedienung ist einfach, was immer mehr Anwendungen für immer neue Anwenderkreise möglich macht. Das Internet ist aber auch ein Präsentationsmedium, das von Unternehmen, so auch von Einrichtungen des Gesundheitswesens, als Teil der Kommunikationspolitik (Marketing) zunehmend genutzt wird. Mittlerweile ist es nicht mehr strittig, dass auch Krankenhäuser das Internet für die Information der unterschiedlichsten Kundengruppen nutzen dürfen und sollten. Allerdings haben Einrichtungen des Gesundheitswesens eine erhöhte Verantwortung hinsichtlich des Inhaltes, die sich auf eine objektive Information der Besucher dieser Webseiten beschränken sollte. Der »Besuch« einer Krankenhauswebseite sollte für alle Kundengruppen interessant sein. So sollten wichtige Informationen für Patienten (z. B. zur Vorbereitung eines unmittelbar bevorstehenden Krankenhausaufenthaltes) ebenso dort dokumentiert sein wie Hinweise für Besucher und Angehörige. Geschäftspartner sollten Informationen ebenso vorfinden wie beispielsweise die Medien, denen man »Krankenhausaktualitäten« (auch ein Thema für das Pflegemanagement) in besonderen Informationsbereichen anbieten kann. Letztendlich sind auch die niedergelassenen Ärzte (als Gatekeeper) in das Informationsangebot einzubeziehen, was z. B. hinsichtlich von Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen auf Interesse stoßen wird. Oberstes Kriterium bei der Gestaltung der Inhalte sollte deren Ausrichtung auf die (teilweise) genannten Zielgruppen sein. Des Weiteren müssen folgende Kriterien berücksichtigt werden (Trill 2002, Beitrag 0.5): ▬ Gestaltung, ▬ Navigation, ▬ Interaktivität, ▬ Aktualität, ▬ Homogenität. Die Gestaltung sollte ansprechend sein und sich in das Corporate Design der jeweiligen Einrichtung einfügen. Auch nicht geübte Nutzer sollten mit einer einfachen Navigation die für sie relevanten Informationen schnell auffinden können.
343 13.4 · EDV-Anwendungen in der Pflege
Die Möglichkeiten, Anfragen in Form von E-Mails an das Krankenhaus schicken oder ein Merkblatt bezüglich der Krankenhausaufnahme herunterladen zu können (sog. Download) sind Beispiele für eine gewünschte Interaktivität. Die Aktualität der Inhalte ist von hoher Relevanz. Stellenangebote oder Seminarangebote haben nur Bedeutung, wenn sie aktuell sind und nach Erledigung relativ schnell wieder entfernt werden. An dieser Stelle wird der nicht unerhebliche Pflegeaufwand einer Webseite für das Krankenhaus deutlich. Letztendlich spielt die Homogenität eine wesentliche Rolle. Hier geht es insbesondere um die Verwendung gleichartiger Stilelemente. Verwendet man die im Internet eingesetzten Techniken im Rahmen eines Unternehmens, so haben wir es mit einem Intranet zu tun. Bereits zwei in einem Netzwerk verbundene Computer mit der Anwendung eines Standardnetzwerkprotokolls (TCP-IP) stellen ein Intranet dar, wenn ein Browser und ein Webserver zum Einsatz gelangen. Das Intranet ist relativ einfach installierbar und kann die interne Kommunikation in einem Unternehmen »revolutionieren«. Da Internetstandards sich in den letzten Jahren weltweit als De-facto-Standards in der Informationstechnologie durchgesetzt haben, lässt sich aufgrund der damit verbundenen Unabhängigkeit von Hardware und Systemsoftware ein Einsatz auf fast allen Rechnern realisieren. Das Intranet kann dann als ein Medium für die innerbetriebliche Kommunikation dienen. »Klassische« (und einfach zu realisierende) Beispiele für Intranetanwendungen sind der Speiseplan oder das Telefonverzeichnis. Weitere Anwendungen lassen sich denken, so der Katalog der innerbetrieblichen Fortbildungsveranstaltungen mit der Möglichkeit zur interaktiven Anmeldung für diese Veranstaltungen. Im Bereich des Qualitätsmanagement lassen sich Intranetanwendungen gut nutzen, um im Krankenhaus vereinbarte Leitlinien und Standards zu pflegen und den Nutzern anzubieten. Als Diskussionsforum ist es darüber hinaus geeignet, die Integration aller Berufsgruppen voranzutreiben. Es muss aber bedacht werden, dass auch das Intranet einer regelmäßigen Pflege bedarf und dass die Verantwortlichkeiten für die Inhalte innerhalb des Krankenhauses eindeutig und dauerhaft
13
geregelt werden müssen. Unter dem Aspekt der Pflegbarkeit dürfte eine Investition in ein sog. Content-Management-System (CMS), das die Pflege auch für den Nicht-EDV-Fachmann erleichtert, sinnvoll sein.
13.4
EDV-Anwendungen in der Pflege
13.4.1 Überblick
Der Einsatz von EDV für die Unterstützung der Arbeit der Pflegekräfte ist in den letzten Jahren wesentlich vorangekommen. Bis weit in die 90er Jahre hinein beschränkte sich die Nutzung der EDV im Rahmen der umfassenden Krankenhausinformationssysteme für die Krankenpflege eher auf die Zuarbeit für andere Berufsgruppen. So mussten beispielsweise im Rahmen von Patientenmanagementsystemen Verlegungen und Entlassungen eingetragen werden. Versuche, die Datenverarbeitung zu dieser Zeit »an die Patientenbetten« zu bekommen, um die Pflegeplanung und Pflegedokumentation zu unterstützen, scheiterten oft daran, dass die dafür notwendigen Netzwerke zu unflexibel oder die Datenendgeräte nicht ausgereift (teilweise zu schwer) und zu teuer waren. Erst das kabellose Netzwerk (WirelessLAN), die Miniaturisierung von Hardwarekomponenten sowie die sinkenden Preise eröffneten der Krankenpflege neue Einsatzgebiete. Der Markt hat darauf reagiert und bietet zunehmend Programme für die Krankenpflege an. Bevor auf die insbesondere für die Krankenpflege wichtigen Anwendungen eingegangen werden kann, sollen die Funktionen eines umfassenden Krankenhausinformationssystems dargestellt und in Bezug zur Krankenpflege gesetzt werden. Dabei wird eine Darstellungsweise gewählt, die weitgehend schon den Prozesscharakter aufgreift und damit die (gewünschte) Workflow-Unterstützung abbildet. Ein Krankenhausinformationssystem unterscheidet drei Anwendungsebenen (⊡ Abb. 13.3). Die sog. operative Ebene umfasst die meisten Anwendungen. Diese Anwendungen unterstützen unmittelbar den primären Leistungsprozess. Sie liefern die notwendigen Daten und bilden damit
344
Kapitel 13 · IT-Anwendungen
die Basis für die Applikationen der darüber liegenden Ebenen. Die mittlere Ebene in der Darstellung kann mit Fug und Recht als Controllingebene bezeichnet werden, wobei nicht nur das rein kaufmännische Controlling, sondern auch das Medizin- sowie Pflegecontrolling hier ihren Niederschlag finden. Es geht bei der Abbildung des Leistungsgeschehens im Krankenhaus neben den rein fiskalischen Daten zunehmend auch um
Funktionsdiagnostik
die Darstellung der erreichten bzw. angestrebten Qualität. Es werden Daten zusammengefasst, aggregiert und aufbereitet, so dass sie für Planungs-, Steuerungs- und Kontrollprozesse im Krankenhaus einsetzbar sind. Die hinsichtlich der Zahl der Anwender kleinste aber für die Steuerung des Krankenhauses sehr wesentliche Ebene wird durch das sog. Führungsinformationssystem (oder Executive Information System) gebildet. Adressat ist beispielsweise auch die Pflegedirektion. Es werden Daten in sehr stark aggregierter Form hinsichtlich der steuerungsrelevanten Parameter einer Gesundheitseinrichtung für die Geschäftsführung aufbereitet. Simulationen und Zeitreihenanalysen vor dem Hintergrund strategischer Entscheidungen sind an dieser Stelle von sehr hoher Bedeutung. Es ist trivial, aber trotzdem immer wieder sinnvoll darauf hinzuweisen, dass die Daten in der Controlling- bzw. Führungsebene nur dann verarbeitet werden können, wenn sie im Laufe der KernArbeitsprozesse dokumentiert werden. Insofern besteht eine starke Abhängigkeit der einzelnen Ebenen untereinander. Allein aus dieser Betrachtungssicht ist der Integration von Anwendungen das Wort zu reden. Es muss im Interesse der Mitarbeiter der Krankenpflege liegen, ihre Leistungen (natürlich auch den Ressourcenverbrauch ausgedrückt in Kosten) zu erfassen und im Rahmen der Planungs- und Steuerungssysteme des Unternehmens einfließen zu lassen. Aufgrund der kürzer werdenden Entscheidungszyklen, z. B. auch im Hinblick auf verkürzte Verweildauern bei den Patienten, spielt die Aktualität der Daten eine wesentliche Rolle.
ABK
> Daten sollten dem Grundsatz nach nur ein-
Personalmanagement
mal und zwar zum Zeitpunkt ihrer Entstehung erfasst und in die Datenverarbeitung eingegeben werden.
FIS Controlling (Entscheidungsunterstützung) Administrator
-
Pflege
-
Medizin
Planung + Dokumentation EPA Patientendatenmanagement/stat. + amb. Lohn + Gehalt
Dienstplanung OP + Anästhesie
13
ITS Labor Radiologie
Materialwirtschaft + Apotheke Buchhaltung Kostenrechnung + Budgetierung Technik ⊡ Abb. 13.3. Das Krankenhausinformationssystem und seine Subsysteme
Dies ist in der Praxis noch oft eine idealtypische Forderung. Leider haben wir es noch zu häufig mit tendenziell funktionsorientierten und weniger ablauforientierten Informationssystemen zu tun. Sie beinhalten die Gefahr von Medienbrüchen und Koordinationsproblemen. Je komplexer eine Organisation ist, umso schwerwiegender sind diese Koordinationsprobleme. Ein Krankenhaus im
345 13.4 · EDV-Anwendungen in der Pflege
13
DRG-Zeitalter kann sich solche Schnittstellenprobleme eigentlich nicht leisten.
▬ Zurverfügungstellung von Daten für die
Ein Blick auf ⊡ Abb. 13.3 zeigt die enge Verknüpfung der einzelnen Leistungsbereiche und damit der Berufsgruppen. Nur sehr wenige Prozesse beanspruchen nur eine Berufsgruppe. So erfordert z. B. das integrative Patientendatenmanagement eine Zusammenarbeit von Verwaltungsmitarbeitern, von Pflegekräften und Ärzten. Der gesamte administrative Prozess von der Aufnahme bis zur Entlassung steckt hinter dieser Betrachtungsweise. Ähnlich verhält es sich z. B. beim Prozess der Materialwirtschaft. Die Lagerhaltung und das Bestellwesen sind unmittelbar dem Wirtschaftsdienst zuzuordnen. Aber fortschrittliche Warenwirtschaftssysteme werden hinsichtlich der Anforderung auf interaktive Systeme setzen, in die der Arzt oder die Pflegekraft ihre Bestellungen online (aufgrund einer bereichsspezifischen »Hitliste« der verbrauchten Artikel) eingeben können. Beide Beispiele verdeutlichen, dass EDV- oder IT-Einsatz kein »Steckenpferd« einer Berufsgruppe sein kann und darf. Nur Lösungen, die von allen Anwendern mitgetragen werden, können letztendlich im Sinne der Gesamtorganisation sein.
Qualitätssicherung, aber auch für die Pflegeforschung ▬ Verbesserte Wirtschaftlichkeit – reduzierte Koordinationsprobleme (hierbei geht es insbesondere auch um die Abstimmung zwischen der Pflege und anderen Berufsgruppen, die letztendlich gemeinsam für den Patienten tätig werden.)
Zielsetzungen für den EDV-Einsatz in der Pflege
▬ Übersichtliche und vollständige Patienteninformationen an den verschiedenen Arbeitsplätzen ▬ Schnellstmöglicher Zugang zu allen Daten ▬ Vorhandensein strukturierter Behandlungsund Pflegeinformationen (eine Trennung von medizinischer und pflegerischer Information ist vor diesem Hintergrund nicht sinnführend.) ▬ Kontrolle über die Qualität von Pflegeplanung und Pflegedokumentation (hier wird Transparenz über Pflegearbeit hergestellt, die nicht nur unter qualitativen Aspekten künftig von besonderer Bedeutung ist; in diesem Zusammenhang sei an das Schlagwort der Ökonomisierung des Gesundheitswesens erinnert.)
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Bei der Beurteilung der Einsetzbarkeit von Pflegeinformationssystemen (PIS) spielt ein Tatbestand eine wichtige Rolle, der für andere Unternehmen weit weniger wichtig ist. Die Mitarbeiter der Pflege haben in der Regel keinen festen Arbeitsplatz (an dem sie ihre Arbeitszeit zu 100% verbringen), sondern haben diverse Arbeitsbereiche, z. B. am Bett des Patienten, im Stationszimmer, in der Stationsküche usw. IT-unterstützte Lösungen müssen also den genannten Zielsetzungen entsprechend einen Zugriff von jedem Arbeitsplatz aus ermöglichen. IT-Systeme werden dann (berechtigterweise) nicht angenommen, wenn sie gegenüber der herkömmlichen Abwicklung (meistens mittels Papier, Planetten usw.) keinen Fortschritt bringen. Doppelerfassung, d. h. zunächst Aufzeichnungen auf Papier und dann deren Übertragung in die EDV, kann in keiner Weise zufrieden stellen. Diese Besonderheit ist bei der Ausstattung von Stationen/Abteilungen mit Hardware zu bedenken. Netzwerke müssen es ermöglichen, eine Dokumentation am Bett des Patienten direkt vorzunehmen. Eine Visitenbegleitung hat per se den Charakter einer Ortsungebundenheit. Demgegenüber lassen sich Pflegepläne durchaus im Stationszimmer am stationären Stations-PC erarbeiten und eingeben. Berücksichtigt man diese Anforderungen, so ergibt sich eine recht umfangreiche IT-Architektur in den Pflegebereichen. Wie schon erwähnt wurde, haben viele Krankenhäuser über eine lange Zeit die hierfür notwendigen Investitionen eher gescheut. In Zeiten der Einführung der Diagnosis Related Groups (DRGs) werden sich auch der Stellenwert und der Charakter der Krankenpflege ändern. Nicht wenige gehen davon aus, dass auch die Krankenpflege die Rolle
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Kapitel 13 · IT-Anwendungen
des Casemanager für die Patienten wahrnehmen kann, wozu eine intelligente Software zur Verfügung stehen muss. Vor diesem Hintergrund werden sich Investitionsentscheidungen im Pflegebereich zukünftig leichter begründen und treffen lassen. Im Folgenden sollen die in der vorangegangenen Übersicht dargestellten einzelnen Einsatzgebiete der EDV für die Krankenpflege etwas näher beleuchtet werden.
13.4.2 Einsatz für das Management
der Pflegebereiche Unter dem Begriff »Management« sollen alle die Funktionen zusammengefasst werden, die keinen unmittelbaren Patientenbezug haben und zur Organisation der Prozesse in der Station bzw. innerhalb des Krankenhauses notwendig sind. Hierbei soll folgender Differenzierung gefolgt werden: ▬ Anforderungswesen, ▬ Personalbedarf und Personaleinsatz, ▬ Stationsmanagement. Mit Hilfe eines EDV-gestützten Anforderungswesens sollen die Beschaffungsvorgänge der Pflege-
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bereiche beschleunigt werden. Hierbei geht es z. B. um die Anforderung von Materialien (z. B. pflegerisches Verbrauchsmaterial), die Anforderung von Speisen, aber auch von Dienstleistungen wie die der Handwerker usw. Durch eine Verknüpfung mit der Materialwirtschaft soll es möglich werden, anhand einer vorgegebenen sog. Hitliste (hier werden die am häufigsten in der Vergangenheit angeforderten Artikel zuerst genannt) den Beschaffungsvorgang selber zu beschleunigen. Bei der Bestellung werden die bestellrelevanten Daten (z. B. Lieferfristen, Preise, Alternativartikel) vorgeblendet, so dass aufgrund umfassender Informationen seitens der Leitungskraft bestellt werden kann. Ziel ist es, Formulare, die in unterschiedlicher Form, Farbe und Format weit verbreitetet sind, durch eine EDVSchnittstelle in die jeweiligen Abteilungssysteme (z. B. die Materialwirtschaft) zu ersetzen. Grundsätzlich soll damit die Zielsetzung verfolgt werden, die Beschaffungsvorgänge für die Mitarbeiter zu erleichtern, zu beschleunigen und auch die Qualität der Beschaffungsvorgänge zu erhöhen. Die
Kommunikation muss von vorn herein bidirektional ausgelegt werden, d. h. Daten fließen in beide Richtungen. Die Budgetierung verspricht eine weitgehend eigenverantwortliche Steuerung der durch die Leitungskraft beeinflussbaren Kosten und Leistungen. Hierzu ist es notwendig, zunächst einmal den einzelnen Leistungsbereichen (Stationen, Abteilungen) eigene Budgets zuzuordnen und diese gemeinsam mit den Führungskräften zu vereinbaren. Wichtig ist es dabei darauf zu achten, dass nur beeinflussbare Kostenarten (leistungswirksam) budgetiert werden. Die Anforderung an die Aktualität der Daten ist bei dieser Applikation besonders hervor zu heben, da zu jedem Zeitpunkt deutlich werden muss (wenn es z. B. um die Frage der Einstellung einer Vertretung geht), ob das Budget entsprechende Spielräume aufweist oder nicht. Darüber hinaus müssen Hochrechnungen und Zeitreihenvergleiche möglich sein. Verknüpfungen mit der Kostenrechnung und dem Controlling sind in diesem Zusammenhang unabdingbar. Die Budgetierung auf Stationsebene ist in noch nicht sehr vielen Krankenhäusern in der Routine eingeführt. Um diesen Schritt zu gehen, bedarf es des unternehmerischen Willens, Entscheidungen auf nachgeordnete Mitarbeiter und Ebenen delegieren zu wollen. Wird dieser Schritt aber gegangen, so ist dieser ohne die Unterstützung eines leistungsfähigen EDV-Systems nicht Erfolg versprechend umsetzbar. An dieser Stelle wird evident, wie eng Management, Organisation und IT miteinander verknüpft bzw. verwoben sind. Im Rahmen des Stationsmanagement werden die überwiegend administrativen Daten des Patienten geführt. Hierbei geht es zunächst einmal um die allseits bekannte Stationsübersicht, aus der die Belegung der Zimmer ersichtlich sein sollte. Durch die Einführung kleiner Piktogramme können bereits auf der Stationsübersicht relevante Merkmale (Selbstzahler, Religionszugehörigkeit usw.) dargestellt werden. Dies hilft schnell eine Übersicht zu erhalten, ohne auf nachgeordnete Programmebenen zurückgreifen zu müssen; stark verschachtelte Programme, die Verzweigungen in darunter liegende Programmebenen notwendig machen, beeinflussen die Produktivität der Mitarbeiter negativ und sind fehleranfällig. Die Stati-
347 13.4 · EDV-Anwendungen in der Pflege
onsübersicht muss klar und übersichtlich gestaltet werden, für Spielereien ist an dieser Stelle kein Platz. Es ist sinnvoll, die Stationsübersicht mit einer (hoffentlich existierenden) Bettendisposition zu verknüpfen, die – so in der Planung begriffen – das Krankenhaus bis in den niedergelassenen Bereich hinein vernetzen kann. Mit dieser Forderung bewegt man sich heute noch auf Neuland, in drei bis fünf Jahren könnte eine solche Kommunikation schon eine Selbstverständlichkeit sein. Dieser Blick in die Zukunft beweist, dass die Dynamik nicht nur für die Hardware oder die Vernetzung gilt, sondern ganz wesentlich auch auf der Applikationsebene wirkt. Eine Verknüpfung von Unternehmens- und ITStrategie ist daher unentbehrlich. Im Rahmen des Stationsmanagement erfolgt auch die Eintragung abrechnungsrelevanter Informationen, so z. B. der Wechsel einer Wahlleistungsart. Entlassungen und Verlegungen werden auf der Station eingegeben und stehen für administrative Prozesse zur Verfügung. Da auch die Krankenpflege dem Trend der Ökonomisierung des Gesundheitswesens nicht widerstehen kann, eine Reduzierung von Pflegekräften in vielen Krankenhäusern in letzter Zeit spricht Bände, muss auch die Berechnung des Personalbedarfs und die Einteilung der Mitarbeiter zu einzelnen Diensten (Personaleinsatzplanung) höchsten ökonomischen Ansprüchen genügen. Hierbei ist es unerheblich, ob der Personalbedarf aufgrund der Pflege-Personalregelung (PPR) oder des LEP-Konzeptes errechnet wird. Eine Verknüpfung mit den Daten aus der Pflegedokumentation wäre wünschenswert, ist gegenwärtig allerdings noch nicht oft realisiert. Der Personalbedarf darf nicht nur rein quantitativ ausgerichtet sein, sondern muss auch qualitative Merkmale berücksichtigen. Hierunter ist insbesondere zu verstehen, dass bei der Festlegung von Mindestbesetzungen auch die Qualifikation Berücksichtigung findet (z. B. mindestens zwei examinierte Krankenpflegekräfte pro Frühschicht). Es ergibt sich eine Schnittstelle zur Personaleinsatzplanung, die sich im Dienstplan konkretisiert. Dieser Dienstplan sollte in der Regel halbautomatisiert nutzbar sein. Ein halbautomatisierter Dienstplan erlaubt es dem Vorgesetzten (der Stationsleitung),
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aufgrund eines Vorschlages durch das Programm Veränderungen vorzunehmen bzw. auch vorher begrenzende Faktoren (Mitarbeiterwünsche) einzugeben. Der Dienstplan muss veränderbar sein. Darüber hinaus ist es hinsichtlich der Entlastung der Führungskräfte auf den Stationen/ Abteilungen wünschenswert, wenn die Daten der Ist-Arbeitszeiten (ggf. erfasst über ein Zeiterfassungssystem) direkt in die Abrechnung eingehen. Ein Bearbeiten oder Nacharbeiten per Hand wird dann nicht mehr notwendig sein. Diese Anwendung ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass einzelne Programme (mit dem Ziel der Integration) ineinander greifen. Bei Programmen unterschiedlicher Hersteller treten allerdings leider oft Probleme auf. Andererseits wird durch den effektiven Einsatz der EDV Arbeitszeit frei, die für die Führung von Mitarbeitern genutzt werden kann und genutzt werden sollte.
13.4.3 Stationskommunikation
Synonym zum Begriff der Stationskommunikation findet man in der Literatur auch den der AuftragsBefund-Kommunikation (ABK). Es geht um das Zusammenspiel seitens der Station von Pflegekraft und Arzt einerseits sowie den Funktionsbereichen, die Dienstleistungen für die Stationen erbringen, anderseits. Auch wenn es das beleglose Krankenhaus in absehbarer Zeit wohl nicht geben wird, lassen sich viele Vereinfachungen (und Beschleunigungen) mit Hilfe einer EDV-gestützten Anforderung von medizinischen Leistungen und der Rückmeldung von Befunden erkennen. Vordringlich sollte eine EDV-gestützte Verknüpfung zu den Bereichen mit einer relativ hohen Kommunikationsintensität hergestellt werden. Es sind dies insbesondere: ▬ das Labor, ▬ die Radiologie, ▬ die Funktionsdiagnostik. Hierbei darf die Kommunikation in keinem Falle unidirektional sein, da in diesem Fall die Rückmeldung der Befunde doch wieder mittels Papier geschehen müsste. Die Rückmeldung der Befunde muss am besten direkt an die Arbeitsplätze der
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Kapitel 13 · IT-Anwendungen
damit befassten Mitarbeiter (z. B. als To-do-Listen für den Arzt) erfolgen. Ein derartiges Kommunikationssystem wird zu einer nicht unerheblichen Veränderung von Arbeitsprozessen führen. So lässt sich visionär sogar erahnen, dass in einer großen Anzahl von Fällen die Beauftragung einer Leistung (z. B. eines CT) direkt am Bett des Patienten während der Visite erfolgt und über das Funknetzwerk unmittelbar an die Radiologie übermittelt wird. Hierbei würde es sich beschleunigend bemerkbar machen, wenn diese Daten seitens des Arztes eingegeben würden. An dieser Stelle wird deutlich, dass der Einsatz der EDV nicht nur Prozesse innerhalb einer Berufsgruppe verändert, sondern auch über eine veränderte Arbeitsteilung nachdenken lässt. Überzeugen wird ein derartiges System, wenn es die bereits erfassten Daten für einen Patienten (z. B. Vorbefunde) vorblenden kann und somit die Anforderung erleichtert. Je weniger Daten eingegeben werden müssen, desto überzeugender wird das System auf die Mitarbeiter wirken. Befundinformationen werden nicht nur auf der Station sichtbar, sondern wären gleichzeitig Bestandteil einer elektronischen Patientenakte. Ist dieser Arbeitsprozess »durchorganisiert«, wird man nur noch für sehr wenige Leistungen Anforderungsbelege (Markierungsbelege) und handgeschriebene Befunde benötigen. Besonders effektiv und effizient wird ein System dann sein können, wenn in den Funktionsbereichen im Rahmen der dort eingesetzten Abteilungssysteme eine EDV-gestützte Befunderfassung vorhanden ist. Ein Diktat beispielsweise von Sonographiebefunden und eine Eingabe durch den ärztlichen Schreibdienstes verlängert die Durchlaufzeit dieses Prozesses und damit auch die Aufenthaltsdauer des Patienten, was in Anbetracht des neuen Finanzierungssystems für das Krankenhaus auch aus wirtschaftlicher Sicht nicht hinnehmbar sein wird.
Pflegeprozesses, beginnend mit der Pflegeanamnese bis hin zur Pflegedokumentation EDV-technisch erfasst und gespeichert. Sie stehen jederzeit aktuell allen Mitarbeitern auf der Station zur Verfügung. Für die Effektivität derartiger Instrumente ist es von großer Bedeutung, dass diese Systeme mobil eingesetzt werden können. Wie bereits vorne dargestellt, bieten Kommunikationstechnologien wie Funk hierzu nunmehr eine verlässliche Basis. In ⊡ Abb. 13.4 wird dargestellt, welche Teilprozesse des Pflegeprozesses mit Hilfe der EDV unterstützt werden können und inwieweit eine mobile Form der Datenverarbeitung notwendig ist, um die Mitarbeiter spürbar zu unterstützen. Von großer Bedeutung für den weiteren Ablauf ist die Erfassung der Pflegeanamnese, da von ihr die Auswahl von Pflegezielen und Pflegestandards abhängig ist. Die Pflege eines Patienten wird sich in der Regel aus zwei Elementen zusammensetzen. Die sog. Makrostandards ergeben sich weitgehend aus der medizinischen oder der Pflegediagnose. Die Mikrostandards (auf der Ebene der einzelnen Pflegetätigkeiten) berücksichtigen die individuellen Probleme und Ressourcen des Patienten. An dieser Stelle ist ein enger Kontakt und ist eine umfassende (integrative) Kommunikation zwischen Arzt und Pflegekraft unabdingbar. Von daher erscheint es wenig hilfreich, Ansätze einer prinzipiellen Trennung von Pflegedokumentati-
Pflegeanamnese
PflegeControlling/ QM
PflegeZielsetzung
EDV
13.4.4 Pflegeprozess
Der Arbeitsprozess in der Krankenpflege, der bisher am seltensten mit intelligenten IT-Systemen unterstützt wird, ist der Pflegeprozess. Bei sog. Pflegeinformationssystemen (PIS) werden alle Daten des
Pflegedokumentation
Pflegeplanung
⊡ Abb. 13.4. Pflegeprozess und IT-Unterstützung
349 13.5 · Software-Auswahl
on und medizinischer Dokumentation weiter zu verfolgen. Die Auswahl von Pflegestandards muss für die Mitarbeiter variabel gestaltet sein, d. h. das System darf Standardisierungen empfehlen, die endgültige Freigabe kann aber nur der Mitarbeiter geben, der den Patienten kennt, weil er ihn pflegt. Ein derartiges System wird nur dann zu einem akzeptierten Werkzeug in der Routineanwendung werden, wenn die Anzahl des Freitexteingebens auf ein Minimum reduziert wird. Der klassisch in Freitext gehaltene Pflegebericht sollte bei EDVgestützten Systemen weitgehend durch Auswahllisten und Kataloge ersetzt werden können. »Intelligente« Auswahllisten werden die Reihenfolge der anzuklickenden Items nach der bisher dokumentierten Häufigkeit anordnen. Man darf sich allerdings nichts vormachen, die Erstellung dieser Listen, Menüs und Kataloge erfordert sehr viel Zeit. Zwischen den einzelnen Katalogen bestehen teilweise Abhängigkeiten, die über Plausibilitäten abgeprüft werden können. So bestehen z. B. Verknüpfungen zwischen den Katalogen der Pflegeziele und Pflegeplanung. Die Listen, Kataloge usw. müssen ständig aktualisiert werden. Hierfür muss das Krankenhaus ausreichende Ressourcen zur Verfügung stellen. Die in großer Zahl nunmehr verwertbar zur Verfügung stehenden Daten können nun vom Pflegemanagement für das Pflegecontrolling und die Qualitätssicherung in der Pflege ausgewertet werden. Dies stellt hinsichtlich der für die Führung der Pflegebereiche notwendigen Transparenz einen nicht hoch genug einzuschätzenden Vorteil des EDV-Einsatzes dar. Auch im Rahmen herkömmlicher Dokumentationssysteme werden eine große Menge von Daten gespeichert, doch sind sie nur unter großen Mühen gezielt (statistisch) und aktuell auswertbar. Beispielsweise wird man die Frage, welche Pflegetechnik einen überdurchschnittlich positiven Einfluss auf den Behandlungsverlauf hatte, meist nur aus dem Gefühl heraus beantworten können. Dieses Beispiel zeigt auch den positiven Nutzen des flächendeckenden IT-Einsatzes für die Pflegeforschung Das Pflegecontrolling wird in Zeiten der »Durchökonomisierung« aller Krankenhausbereiche weiter an Bedeutung gewinnen. Eine Integra-
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tion zum Unternehmenscontrolling ist auch EDVtechnisch (z. B. durch vorn erwähnte Managementinformationssysteme) zwingend. Diese Aussagen haben deutlich gemacht, dass fast alle Bereiche der Krankenpflege vom EDVEinsatz betroffen sind oder aber in den nächsten Jahren stark betroffen sein werden. Aus Sicht der Berufsgruppe sind die in diesem Werkzeug steckenden Chancen heraus zu arbeiten. Das Pflegemanagement hat die Aufgabe, diesen Prozess zu moderieren. Eine Verweigerung gegenüber neuen Einsatzgebieten erscheint wenig Erfolg versprechend. Es wird vielmehr eine wichtige Aufgabe der Führungskräfte in der Pflege sein, an der Auswahl der für ihre Berufsgruppe relevanten Software teilzunehmen und die Sicht der Nutzer (User) in diese Auswahlprozesse einzubringen.
13.5
Software-Auswahl
In diesem Gliederungspunkt wird insbesondere der Entscheidungsprozess bei der Software-Auswahl dargestellt, da sich die einzusetzende Hardware (insbesondere die Server) relativ wenig voneinander unterscheiden und sich die Qualität der Systeme aus Sicht der Nutzer insbesondere durch die Anwendungssoftware manifestiert. > Die Beteiligung der späteren Benutzer am Prozess der Softwareauswahl ist wichtig, eine ehrliche und umfassende Information aller Mitarbeiter ist notwendig.
Wie wichtig diese Information ist zeigen Erfahrungen aus Praxisprojekten der jüngsten Vergangenheit. In welcher Form diese Information projektbegleitend erfolgt, muss projektabhängig in der jeweiligen Einrichtung entschieden werden. Eine gute Möglichkeit über EDV-Projekte zu informieren und gleichzeitig unter Umständen bestehende Akzeptanzprobleme abzubauen, bietet das Intranet. Die Wahrscheinlichkeit, dass Führungskräfte der Pflege in der nahen Zukunft verstärkt in Entscheidungsprozesse involviert werden, steigt in dem Maße, in dem die Vernetzung aller Leistungsbereiche des Krankenhauses voran schreitet. Wenn mit dem DRG-System auch die Erwartung
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Kapitel 13 · IT-Anwendungen
einer Verweildauerverkürzung verknüpft wird, so ergeben sich hieraus für den Behandlungs- und Pflegeprozess insbesondere Forderungen nach einer Beschleunigung des Informationsprozesses. Die Behandlung und Pflege des Patienten muss zukünftig, möglichst noch bei weiter gesteigerter Qualität, in noch kürzerer Zeit realisiert werden. Ein Blick in andere Staaten zeigt, dass eine Verweildauerverkürzung bei vergleichbaren Indikationen möglich sein wird. Die Beschleunigung kann nur erreicht werden, indem der Transport der Informationen (Kommunikation) beschleunigt wird, Doppelarbeiten vermieden, Suchzeiten verkürzt und Fehler bei der Übermittlung von Informationen (die ggf. Rückfragen notwendig machen) ausgeschlossen werden. Alle diese Ziele sind nur erreichbar, wenn ein flächendeckender IT-Einsatz im Krankenhaus realisiert wird. Somit stellt sich die Frage in den Krankenhäusern, ob EDV eingesetzt werden soll in der Regel gar nicht mehr. Es geht vielmehr jetzt und in den kommenden Jahren darum ein Informationssystem zu beschaffen, das leistungsfähig und wirtschaftlich arbeitet und die Mitarbeiter bei ihren Arbeitsprozessen wirkungsvoll unterstützt. > Es ist darauf Wert zu legen, dass sich die
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Arbeitsprozesse der Mitarbeiter nicht im Sinne des IT-Systems »verbiegen« müssen, sondern dass die EDV in der Lage ist, optimierte Arbeitsprozesse (die z. B. im Rahmen des Qualitätsmanagement erarbeitet wurden) zu unterstützen.
Dem Grundsatz der weitgehenden Userbeteiligung folgend wird ein EDV-Projekt in der Regel mit einer Informationsveranstaltung begonnen, an der möglichst alle Mitarbeiter teilnehmen. Damit dies sichergestellt ist, sollten mehrere Veranstaltungen zum gleichen Thema zu unterschiedlichen Tageszeiten angeboten werden. Man begegnet damit dem Argument, man hätte nicht informiert bzw. nicht informieren wollen. Bei diesen Informationsveranstaltungen sollte die Geschäftsführung anwesend sein, um den Bezug zur Unternehmensstrategie und zum Unternehmenserfolg deutlich zu machen. Es muss eindeutig kommuniziert werden, dass die Auswahl einer geeigneten Software (eines KIS oder eines Teilsystems) für das Unterneh-
men von großer Wichtigkeit ist und die Geschäftsführung (also auch das Pflegemanagement) voll dahinter steht. An die Informationsveranstaltung schließen sich Gespräche oder Interviews mit den Mitarbeitern an, die das Ziel haben, die gegenwärtigen Informationsprozesse zu analysieren und zu dokumentieren, Schwachstellen zu identifizieren sowie Vorschläge für das anschließend zu erarbeitende EDV-Konzept zu sammeln. Für den Erfolg dieser Gespräche ist es notwendig, die späteren User direkt anzusprechen und sich nicht allein auf Gespräche mit Leitungskräften zu beschränken. Erfahrungsgemäß fehlen diese wichtigen Detailinformationen über die Arbeitsprozesse. Das halbstandardisierte Interview sollte nicht unter zeitlichem Druck stattfinden (eine Zeitdauer von bis zu einer Stunde sollte eingeplant werden) und man sollte dafür rechtzeitig (das entspannt die Atmosphäre von vornherein) Termine vereinbaren. Dass diese in einem Krankenhaus nicht immer eingehalten werden können, ist zu erwarten. Das Ergebnis dieser Analyse wird oftmals zum ersten Mal die tatsächliche Situation der Kommunikation beschreiben. Die Analyse soll eine gute Grundlage für die Reorganisation bilden. Die Ergebnisse müssen dazu nachvollziehbar dokumentiert (beispielsweise in Form von Flussdiagrammen) werden. In den Gesprächen mit den Mitarbeitern sind auch Verbesserungsvorschläge seitens der Mitarbeiter abzufragen, da diese erfahrungsgemäß ihre Arbeitsprozesse relativ gut kennen und sich ggf. auch schon Gedanken über Verbesserungspotentiale gemacht haben. Es ist hilfreich für den weiteren Verlauf des gesamten Entscheidungsprozesses, wenn die Ergebnisse der Analyse seitens der Geschäftsführung bestätigt werden. Auf Basis der Analyse und der Aufarbeitung der festgestellten Schwachstellen lässt sich nun ein EDV-Konzept erstellen, das integrativ möglichst alle Bereiche (oder möglichst viele Bereiche) des Krankenhauses abdecken sollte. Hierbei sind zunächst einmal die Ziele zu definieren, die sich aus einer (hoffentlich) existierenden IT-Strategie ableiten lassen sollten (Trill 2002, S. 34 ff.). Es sollte festgelegt werden, welche Applikationen (Anwendungen) zu welchem Zeitpunkt eingesetzt werden sollen, Verantwortlichkeiten sind zu fixieren.
351 13.5 · Software-Auswahl
Darüber hinaus müssen Festlegungen hinsichtlich der Art der Ausschreibung (offen, beschränkt, freihändig) getroffen werden. Es ist bereits zu diesem Zeitpunkt sinnvoll, die später für die Auswahl heranzuziehenden Kriterien festzulegen. Leider ist es in der Praxis oft so, dass diese Kriterien erst während der Auswertung der Angebote festgelegt werden. Manipulationsvorwürfe finden dann hier ihre »Nahrung«. Hinsichtlich der Kriterien ist nicht nur festzulegen, welche angewendet werden sollen, sondern auch welche Gewichte ihnen zuzuordnen sind bzw. welche Mindestabdeckung (Abdeckungsgrad in Prozent) erwartet wird. Wichtig ist die Beschlussfassung über das Konzept seitens der Geschäftsleitung. Dies wirkt hinsichtlich der Verbindlichkeit für alle Mitarbeiter der Organisation positiv. Aus dem Konzept wird der detaillierte Anforderungskatalog abgeleitet, der Basis für die folgende Ausschreibung ist. Falls nicht ein gesamtes Krankenhausinformationssystem ausgeschrieben werden soll, sondern nur Teile, so ist auf die Schnittstellen zu bereits vorhandenen Systemen bzw. geplanten Systemen besonderer Wert zu legen. In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage der Integration, die über Individualschnittstellen oder über einen sog. Kommunikationsserver hergestellt werden kann. Hinsichtlich des Integrationsgrades muss entschieden werden, ob eine Applikation (möglichst) aus einer Hand beschafft werden soll, oder ob man die Programme von unterschiedlichen Herstellern beziehen möchte; das kann aber die »SisyphusArbeit« der Integration zur Folge haben. Das sog. Pflichtenheft bzw. der Anforderungskatalog formuliert zu den einzelnen ausgeschriebenen Teilprozessen Anforderungen in Frageform. In jüngster Zeit reduziert sich der Umfang der Pflichtenhefte, da die zum Teil mehrere DIN-A4Ordner umfassenden Pflichtenhefte der Vergangenheit für beide Seiten wenig arbeitsökonomisch waren und auch Trennschärfe vermissen ließen. Bei der Erstellung des Anforderungskataloges ist die Mitarbeit eines Beraters in der Regel von Vorteil. Er sollte die Produkte in soweit kennen, dass nur noch wenige Fragen gestellt werden müssen, um die Einsetzbarkeit für gerade diesen Kunden beurteilen zu können.
Gliederung eines Anforderungskatalogs 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.4.1 1.1.4.2 1.1.4.3 1.1.4.4 1.1.4.5 1.1.4.6 1.1.4.7 1.1.4.8 1.1.4.9 1.1.5 1.1.6 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1
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Prozesse und Teilprozesse Patientendatenmanagement Ambulanz und ambulantes Patientendatenmanagement Stationäres Patientendatenmanagement Dezentrales Patientendatenmanagement Diagnostik, Therapie und Pflege Medizinisches Informationssystem (MedIS) Pflegeinformationssystem (PIS) Auftrags- und Befundkommunikation (ABK) Funktionsdiagnostik Anästhesie OP Intensiv (ITS) Physikalische Therapie Röntgeninformationssystem (RIS) Qualitätssicherung Arztbriefschreibung Administration, Versorgung, Management Finanzbuchhaltung Anlagenbuchhaltung Kosten- und Leistungsrechnung (KLR) und Controlling MIS / EIS Materialwirtschaft (MaWi) Facility Management Allgemeine Funktionen Terminierung Auswertungen Archivierung Externe Kommunikation Eigenschaften Technologie Arbeitsplatz- und -prozessgestaltung Datenbank Technologie Fremdsysteme Dienstleistungen Einführungsleistungen
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352
Kapitel 13 · IT-Anwendungen
2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.4 2.5 2.6
Projektmanagement Schulungsleistungen Wartung und Kommunikation Datenschutz, Datensicherung Vertragsinhalte Firmendaten Kosten
muss entschieden werden, wie mit diesen Angeboten weiter umgegangen werden soll. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Angebote nur nach der reinen Papierform bewertet, was für einen Vertragsabschluss gänzlich unzureichend ist. Es hat sich in der Praxis bewährt, nunmehr sog. Inhouse-Präsentationen durchzuführen und diese durch Referenzbesuche zu ergänzen. > Hinsichtlich der Inhouse-Präsentationen und
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Es folgt die Ausschreibung, die z. B. in Abhängigkeit von der Trägerschaft besonderen Anforderungen entsprechen muss. So ist für öffentliche Krankenhäuser eine offene und EU-weite Ausschreibung vorgeschrieben, wenn eine Wertgrenze von 200.000 Euro erreicht wird Nachdem die Firmen ihre Angebote (in der Regel in einem Zeitraum von drei bis sechs Wochen) abgegeben haben (wobei es während dieser Zeit zu häufigen Kontakten zu den Anbietern kommen wird), sind diese nach einheitlichen Maßstäben zu bewerten. Wichtig ist auch hier die Herstellung von Transparenz für alle Beteiligten, welche Angebote bevorzugt werden und warum dies der Fall ist. Die genannten Kriterien kommen zur Anwendung, nachdem die einzelnen Angebote systematisch ausgewertet wurden. Es ergibt sich eine sog. Hitliste, aus der die Vor- und Nachteile der einzelnen Angebote hervorgehen. Man sollte allerdings nicht erwarten, dass ein Angebot durchgängig allen anderen überlegen ist, so dass eine Abwägung z. B. hinsichtlich der angesetzten Kriterien notwendig wird. Spätestens an dieser Stelle macht es sich positiv bemerkbar, wenn ein Minimalabdeckungsgrad bereits in der Konzeptphase festgelegt wurde. So könnte beispielsweise formuliert werden, dass bei allen Anwendungen wenigstens ein Deckungsgrad von 80% erreicht werden sollte. Auf die besonderen Aspekte der verschiedenen Ausschreibungsverfahren wird an dieser Stelle bewusst verzichtet. In der Praxis empfiehlt sich die Hinzuziehung eines einschlägigen Rechtanwaltes. Am Ende der Ausschreibungsphase wird das Krankenhaus bzw. die damit betraute Projektgruppe eine beschränkte Anzahl von Angeboten in die engere Wahl ziehen, meist nicht mehr als vier. Jetzt
deren Vergleichbarkeit ist es hilfreich, wenn man den anbietenden Unternehmen identische Aufgaben stellt. Man sollte auf jeden Fall darauf achten, dass die späteren Anwender beteiligt werden.
Der gleiche Grundsatz gilt auch für die Referenzbesuche, die intensiv vorzubereiten sind. Der Aufwand ist gegenüber den Inhouse-Präsentationen höher, da hierfür eine Gruppe von Mitarbeitern in andere Krankenhäuser, in denen die ausgeschriebenen Applikationen angewendet werden, fahren muss. Bei der Auswahl der Krankenhäuser sollte man zum einen darauf achten, die Reisezeiten möglichst zu minimieren, auf der anderen Seite sich aber nicht mit der Nennung von Referenzhäusern seitens des Anbieters zu begnügen. Eine Ergänzung durch Telefoninterviews bzw. weitere Stichproben im Markt können sehr hilfreich sein. Die Ergebnisse der Inhouse-Präsentationen und der Referenzbesuche sollten systematisch erfragt und in den Entscheidungsprozess eingebracht werden. Am Schluss des Ausschreibungsprozesses steht ein Entscheidungsvorschlag, der in der Regel ein bis zwei Unternehmen umfassen wird. Mit diesen Anbietern werden Verhandlungen geführt. Man sollte allerdings nur mit den Unternehmen in Verhandlungen eintreten, mit denen man sich einen Vertragsabschluss im Grundsatz auch vorstellen könnte. Die Auswahl eines EDV-Systems ist eine typische Projektmanagementaufgabe. Es erscheint sinnvoll, in diese Projektgruppen auch Vertreter der späteren User zu integrieren. Ob der EDVLeiter der Einrichtung immer der geeignetste Projektleiter ist, muss im konkreten Fall kritisch hinterfragt werden. Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass für die Leitung eines Projektes oft kommu-
353 13.5 · Software-Auswahl
nikative Fähigkeiten wichtiger sind als die reinen Fachkenntnisse. > Somit stellt sich die Entscheidung als eine Abfolge aus vier wesentlichen Teilschritten dar: ▬ Auswertung des schriftlichen Angebotes, ▬ Auswertung der Eindrücke der InhousePräsentationen, ▬ Auswertung der Eindrücke der Referenzbesuche, ▬ Auswertung der Eindrücke der Verhandlung.
Die ⊡ Abb. 13.5 gibt noch mal in Stichworten einen Überblick über die einzelnen Phasen des Auswahlprozesses und deren wesentliche Teilaufgaben. Eine systematische Durchführung des Auswahlprozesses wird eine Fehlentscheidung auch nie ganz ausschließen können, wird sie aber wesentlich unwahrscheinlicher machen. Eine Auswahlentscheidung allein auf Ebene der Geschäftsführung ist nicht anzuraten. Sie wird dann leider in der Praxis oft auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen werden müssen. Im Weiteren sollen nun die Kriterien »andiskutiert« werden, die im Rahmen dieses Auswahlprozesses von besonderer Bedeutung sein können. Die Kriterien lassen sich drei großen Gruppen zuordnen: ▬ Investitionssicherheit ▬ Benutzerakzeptanz und Funktionalität ▬ Wirtschaftlichkeit Investitionssicherheit
Eine Investition in IT ist fast immer eines der größten Investitionsprojekte eines Krankenhauses. In der Regel geht man von einem Amortisationszeitraum von fünf bis sieben Jahren aus, d. h. die Lebensdauer einer Software muss wenigstens diesen Zeitraum umfassen. Somit sollte hinsichtlich der Investitionssicherheit dafür Sorge getragen werden, dass ▬ der EDV-Partner wenigstens für diesen Zeitraum weiterhin erfolgreich am Markt präsent ist und die Software den sich verändernden Erfordernissen anpasst; ▬ eine Technologie eingesetzt wird, die dem jeweiligen technologischen Standard entspricht und keine einseitigen Abhängigkeiten zu bestimmten Fabrikaten herstellt;
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▬ die Anforderungen des gesetzlichen Datenschutzes (am besten darüber hinaus gehend) berücksichtigt werden. Insbesondere der letzte Punkt erscheint im Gesundheitswesen von besonderer Bedeutung zu sein. Bei Patientendaten handelt es sich um hochsensible Daten, die einen sehr umfassenden Schutz genießen müssen. Die Mitarbeiter in den Krankenhäusern tragen Verantwortung für die Daten der ihnen anvertrauten Patienten. Somit ist es notwendig Datenschutzkonzepte zu entwickeln, die einerseits die Daten des Patienten umfassend schützen (so dass z. B. nicht jeder im Krankenhaus die Daten aller Patienten des Krankenhauses sehen darf), die andererseits aber auch die Arbeitsprozesse von Ärzten und Pflegekräften nicht durch Hürden behindern. Die Datenschutzkonzepte müssen beispielsweise umfassende Berechtigungskonzepte für den Zugriff auf einzelne Datensätze und Datenfelder beinhalten. Allein auf Passworte bzw. Passworthierarchien zu setzen, dürfte auf mittlere Sicht nicht ausreichend sein. Hardwaretechnische Sicherheitseinrichtungen (wie beispielsweise Fingerabdruck oder Irisabtastung) werden in der Zukunft insbesondere in besonders sensitiven Bereichen des Gesundheitswesens an Bedeutung gewinnen. Dass die Kommunikationsprozesse umfassend dokumentiert werden müssen (sog. Logbuch), um ggf. später eine strafrechtliche Verfolgung von Missbrauch möglich zu machen, dürfte heute eine Selbstverständlichkeit sein. Der Markt für IT-Anwendungen ist in stetiger Bewegung. Konzentrationstendenzen mit Firmenübernahmen sind in den letzten Jahren an der Tagesordnung. Krankenhäuser bzw. Auftraggeber stehen somit vor der Herausforderung eine Firma auszuwählen, die über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgreich am Markt bestehen wird. Woran kann ein Krankenhaus nun aber feststellen, inwieweit ein Unternehmen, ein IT-Anbieter, Fähigkeiten aufweist, deren Existenz die Wahrscheinlichkeit einer dauerhaften Marktpräsenz erhöhen? Die Größe allein ist nicht maßgebend, doch ist sie nicht unwesentlich. In den letzten Jahren sind insbesondere mittelständische Unternehmen von
Kapitel 13 · IT-Anwendungen
Information
Unternehmensleitung einbeziehen alle Mitarbeiter
Analyse
Termine vereinbaren offen informieren halb-standardisierte Interviews Enduser bevorzugen alle Prozesse ansprechen Ergebnis autorisieren lassen
Konzept
Ziele definieren Kriterien entwickeln/gewichten Applikationen definieren Art der Ausschreibung festlegen Beschluss der Geschäftsführung
Ausschreibung
Präsentation/ Referenzbesuche
Pflichtenheft entwickeln/versenden Ausschreibung durchführen Angebote auswerten Hitliste erstellen Vorgehen nächste Phase entscheiden Vorbereiten, durchInhouse-Präsentation führen u. auswerten Referenzbesuche Stichprobenhafte Marktanalyse Entscheidungsvorschlag unterbreiten
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Verhandlungen
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großen (teilweise international tätigen) Konzernen übernommen worden. Die Entwicklungsfähigkeit einer Unternehmung macht sich insbesondere an seiner Kraft für die Softwareentwicklung fest. Eine Analyse der Mitarbeiterstruktur eines Unternehmens kann durchaus wertvolle Einblicke geben. Stellt man das Verhältnis des Umsatzes des Software-Anbieters ins Verhältnis zu den Mitarbeitern, so erfährt man einiges über die Produktivität dieses Unternehmens. Eine Analyse der Kunden, insbesondere deren Entwicklung in den letzten ein bis drei Jahren kann Trendaussagen über einen Wachstums- bzw. Schrumpfungsprozess geben. Egal wie viele Informationen man sammelt, hundertprozentige Sicherheit wird man an dieser Stelle nicht herstellen können. Benutzerakzeptanz und Funktionalität
Unter Funktionalität soll der Deckungsgrad verstanden werden, der sich aus dem Verhältnis der geforderten Funktionalitäten (des Anforderungs-
⊡ Abb. 13.5. Phasen des Auswahlprozesses
kataloges) und der angebotenen Funktionalität (des Angebotes) ergibt. Eine sehr gute oder gute Funktionalität bedeutet, dass die gewünschte Unterstützung in den Arbeitsprozessen weitestgehend erreicht wird. Auch hier sollte man sich davor hüten, eine hundertprozentige Abdeckung zu fordern. Wenn man dieser Maxime folgen würde, würde man nie zu einer Entscheidung gelangen. Wichtig in Bezug zur Funktionalität wäre beispielsweise die Frage, ob ein Informationssystem sich dem Prozessgedanken verschrieben hat, d. h. den Workflow im Krankenhaus zu steuern in der Lage ist. Ein solches System müsste die folgenden Eigenschaften ausweisen: ▬ Eine Terminierung von Leistungen in den einzelnen Organisationsbereichen muss möglich und ggf. veränderbar sein (Flexibilität). ▬ Aus dem System heraus müssen sich die Ressourcen zuordnen lassen, beispielsweise müssen in Abhängigkeit von einer Leitlinie OPKapazitäten »gebucht« werden können.
355 13.5 · Software-Auswahl
▬ Unter Integrationsfähigkeit soll hier die Eigenschaft verstanden werden, eine Kommunikation mit anderen Systemen (beispielsweise Abteilungssystemen) vorzunehmen. ▬ Alle Arbeitsprozesse müssen dokumentiert und auswertbar sein, so dass der Ansatz der permanenten Verbesserung der Arbeitsprozesse Berücksichtigung findet. ▬ Lernfähigkeit: Dieses System ist in der Lage, Varianten von festgelegten Arbeitsabläufen festzustellen und sie für die Entscheider auswertbar zu machen (z. B. indem Varianten zu festgelegten Leitlinien quantitativ erfasst werden können). ▬ Standardisierung: Insbesondere die Fähigkeit Standardprozesse zu definieren, die dann bis zu einer Veränderung in der vorgegebenen Art und Weise für die Steuerung der Prozesse herangezogen werden können.
Vorteile dieser Prozesssteuerung
▬ verbesserte Prozesssteuerung ▬ automatische Überwachung von Bearbeitungsfristen
▬ Vereinfachung bzw. Verkürzung von Transportzeiten und Wegen
▬ Steigerung der Geschwindigkeit und der Flexibilität der Auftragsbearbeitung
▬ Verbesserung der Qualität der Auftragsbearbeitung
▬ umfassender und dauerhafter Überblick ▬
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
über den Umfang und die Fälligkeit anstehender Prozesse Auswertbarkeit von Arbeitsabläufen mit dem Ziel einer intelligenten und optimierten Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen Planungsmöglichkeit für den Kunden (Kundenorientierung!) Vermeidung zeitaufwendiger und wenig effektiver Telefonate Verkürzung der Verweildauer Reduzierung bzw. Vermeidung von Datenverlusten allgemeine Steigerung der Transparenz des Leistungsprozesses für den Kunden
13
Neben der reinen Funktionalität ist hinsichtlich der Benutzerakzeptanz auch die Gestaltung der Benutzerschnittstelle von großem Interesse. Allgemein dürften grafikorientierte Oberflächen und die Benutzung der Maus mittlerweile selbstverständlich geworden sein. In der Zukunft wird die Sprachsteuerung an Bedeutung gewinnen, was Benutzungsbarrieren zur Technik weiter abbauen hilft. Die Produktivität der Benutzer hängt weitgehend von der Qualität der Ersteinführung (Schulung) und der dauerhaften Betreuung während des Routinebetriebs ab. Hierbei spielen Schulungskonzepte (z. B. Train the Trainer) sowie der Benutzerservice eine wesentliche Rolle. Die Schulung sollte nicht allein den Softwareanbietern überlassen bleiben, da von deren Seite der »Draht« zu den Mitarbeitern nicht in jedem Falle hergestellt werden kann. Wichtig ist es, dass die Mitarbeiter auch während des Routinebetriebes das Gefühl von Sicherheit haben. Hierzu sollten einrichtungsinterne Betreuungskonzepte aufgebaut werden, die nicht nur allein von der EDV-Abteilung getragen werden können. Hierauf wird unter dem Punkt »Qualifizierung« ( Kap. 13.8) noch einzugehen sein. Zur Benutzerakzeptanz trägt es auch bei, wenn Probleme, die nicht innerhalb der Einrichtung selber gelöst werden können, über eine Hotline mit dem Software-Anbieter kurzfristig und zur Zufriedenheit des Mitarbeiters gelöst werden können. Hierbei muss innerhalb des Krankenhauses organisiert werden, dass nicht gleich jeder Fehler zur Hotline des IT-Partners gemeldet wird, sondern nur solche, die innerhalb des Krankenhauses mit eigenen Mitarbeitern (Help-Desk-Service) nicht abgefangen werden können. > Der Betreuung der User muss durchgängig ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Hier dürfte in der Praxis noch erheblicher Handlungsbedarf bestehen. Wirtschaftlichkeit
Die Wirtschaftlichkeit wird im IT-Bereich heute weitgehend allein durch den Kostenbezug vermittelt. Wirtschaftlichkeit an sich würde sich aber aus dem Verhältnis von Kosten und Nutzen herleiten.
356
13
Kapitel 13 · IT-Anwendungen
Eine Nutzenzurechnung auf komplexe IT-Systeme ist nicht nur im Gesundheitswesen ein sehr schwieriges Unterfangen. Hinsichtlich der Kosten müssen Einmalkosten und laufend wiederkehrende Kosten unterschieden werden. Als Einmalkosten fallen Lizenzgebühren für die Software sowie der Kaufpreis für Hardware und Netzwerk an. Hinzu kommen die Aufwendungen für die Dienstleistungen, die beispielsweise die Schulung und die Einführung umfassen. Häufig werden zusätzliche Beratungsaktivitäten vereinbart. Interessant ist es zu beobachten, dass nicht nur die absoluten Preise für in etwa vergleichbare Produkte stark differieren, sondern dass auch die Anteile der Dienstleistungen am Gesamtpreis zum Teil sehr stark voneinander abweichen. Laufende Kosten fallen an für die Wartung, d. h. für die Fehlerbehebung, Weiterentwicklung und die Betreuung der Hotline. In der Regel werden Prozentsätze in Abhängigkeit von den Lizenzkosten (Listenpreise) vereinbart, wobei diese Prozentsätze gegenwärtig zwischen 1,5 und 3% schwanken. Auch an dieser Stelle ist es hilfreich, sich die einzelnen Bestandteile eines Angebotes genauestens anzuschauen. Da die Verträge im ITBereich sehr kompliziert sind und deren Wirkungen finanziell sehr weitreichend sein können, empfiehlt es sich, den Vertrag abschließend durch einen auf den IT-Sektor spezialisierten Anwalt prüfen zu lassen. Unter ökonomischen Aspekten stellen die Kosten natürlich einen besonders wesentlichen Parameter dar. Aus diesem Grund sollen die Kosten etwas genauer untersucht und behandelt werden.
konsensfähig sein. Dabei ist es offensichtlich, dass die Investitionen in Informationssysteme in starker Konkurrenz zu anderen Investitionsbereichen (z. B. Medizintechnik) stehen. Umso wichtiger ist die Formulierung einer im Krankenhaus akzeptierten und gelebten IT-Strategie. In ihr werden über die nächsten Jahre die Investitionsschwerpunkte verbindlich festgeschrieben. So entsteht eine akzeptierbare Planungsgrundlage für alle Berufsgruppen im Krankenhaus. Investitionen fallen insbesondere für folgende Produkte an: ▬ Anwendersoftware, ▬ Datenbanken, ▬ Betriebssystem, ▬ Schnittstellen, ▬ Dienstleistungen.
Kosten
Insbesondere bei der Anwendersoftware schwanken die Investitionsvolumina erheblich. Bei einem Krankenhaus mit ca. 800 Betten ergab sich z. B. in einer Ausschreibung allein für die Anwendersoftware eine Spanne von 425.000 bis 1,4 Mio. Euro. Dies entspricht einer Spannweite von 520 bis 1750 Euro pro Bett. Ein Investitionsaufwand für Informationssysteme pro Bett von 1100 Euro dürfte als Benchmark geeignet sein. Ebenfalls große Unterschiede gibt es bei der Bemessung der Dienstleistungen (für Projektmanagement, Schulung, Einführung). Die Tagessätze schwanken zwischen 800 und 1600 Euro. Der »Manntag« für das Projektmanagement ist am teuersten, während Schulungsleistungen in der Regel mit einem vergleichsweise niedrigen Tagessatz angesetzt werden. Beratungstage im Rahmen von Analysen liegen oft noch jenseits der genannten Sätze.
13.6.1 Investitionen
> Ein EDV-Projekt auf Kosten beispielsweise der
Mittlerweile dürfte das durchschnittliche deutsche Krankenhaus ca. 1,5–2% des Umsatzes pro Jahr in Informationstechnologie investieren. Die Experten sind sich einig, dass diese Investitionsquote der Bedeutung der Informationssysteme für den weiteren Ausbau der Krankenhäuser nicht gerecht wird. Allenthalben wird eine Erhöhung dieser Investitionsquote verlangt. Eine Zielgröße von 3–5% dürfte
Bei der Kalkulation müssen auch die Nebenkosten bedacht werden. Fahrtkosten, Übernachtungssätze usw. differieren nicht unerheblich. Für das Krankenhaus ist es kalkulierbarer, einen Pauschalpreis für den gesamten Projektablauf zu vereinbaren. So kann vermieden werden, dass diese Kosten unkontrolliert »aus dem Ruder laufen«.
13.6
Schulung »billiger« zu machen, ist falsch verstandene Sparsamkeit.
357 13.7 · Der IT-Markt
13.6.2 Betriebskosten
Nur sehr wenige Krankenhäuser bemühen sich um eine vollständige Erfassung der durch die EDV verursachten Betriebskosten. Nachstehend sind wesentliche Kostenarten zusammengestellt: ▬ Personalkosten EDV-zentral, ▬ Personalkosten EDV-dezentral, ▬ Personalentwicklungskosten, ▬ Wartungsgebühren (Hardware), ▬ Supportgebühren (Software), ▬ Servicegebühren (Rechenzentrum), ▬ Instandhaltung/Instandsetzung, ▬ Verwaltungsbedarf, ▬ Energie, ▬ Leitungskosten (Rechenzentrum), ▬ Umlagen (Management), ▬ Raumkosten (ggf. kalkulatorisch), ▬ Abschreibungen. Neben der Berücksichtigung der in der EDVAbteilung tätigen Mitarbeiter müssen auch anteilige Personalkosten für die EDV-Beauftragten in den dezentralen Bereichen des Krankenhauses (sog. Key-User) aufgeführt werden. Kosten der Personalentwicklung werden gesondert aufgeführt, da damit der Blick auf deren zukünftig wachsende Bedeutung gelenkt wird. Wartungs- und Supportgebühren für Hardware und Software gehören zu den Kostenarten, die in der Regel relativ leicht aus der Buchhaltung »herausgezogen« werden können. Die Supportgebühren hinsichtlich der Anwendungssoftware schwanken in der Regel zwischen 1,5 und 3%. Bezugsgröße ist hier meist der Listenpreis, wobei aber auch diese Bezugsgröße Verhandlungsgegenstand sein kann. Bei den Wartungsgebühren (meistens durchgereichte Kosten seitens der Hardware-Lieferanten) besteht in aller Regel geringer Verhandlungsspielraum. Mit Servicegebühren sind die Aufwendungen für externe Dienstleistungen gemeint, beispielsweise für die Lohn- und Gehaltsabrechnung in Rechenzentren. Leitungskosten fallen insbesondere dann an, wenn mit externen Geschäftspartnern kommuniziert wird. Dieser Posten wird vom Umfang her in der Zukunft ansteigen. Schon heute bezahlen Krankenhäuser Leitungskosten von bis zu 50.000 Euro im Jahr.
13
Die Vollständigkeit der erfassten Kostenarten ist nur dann gewährleistet, wenn auch Abschreibungen und (in der Regel kalkulatorische) Raumkosten verrechnet werden. Die genannten Kostenarten sind Grundlage für ein immer wichtiger werdendes IT-Controlling. In der Zukunft wird mit der wachsenden Bedeutung dieses Faktors für die Unternehmensentwicklung auch jeweils immer die Frage beantwortet werden müssen, welchen Nutzen das Unternehmen aus einer EDV-Investition ziehen kann. Es muss versucht werden, den genannten Kostengrößen entsprechende Nutzenpotentiale gegenüber zu stellen. Gerade im Bereich der Informationstechnologie ist es allerdings relativ schwer, die erreichbare Vollständigkeit der Informationsübermittlung sowie deren Beschleunigung in quantitative Größen zu fassen. Erfahrungsgemäß bietet sich beispielsweise die Kosten-Nutzen-Analyse für eine derartige Betrachtung an. Da die EDV kein Selbstzweck sein darf, sondern als wichtiges Instrument für die Unternehmensentwicklung gilt, hat sich die Informationstechnologie dieser Betrachtungsweise zu stellen. In den Krankenhäusern wird zunehmend über eine Delegation von Verantwortung nachgedacht. Die interne Budgetierung schafft solche Verantwortungsbereiche und budgetiert im engeren Sinne Kosten, im weiteren Sinne Kosten und Leistungen. Um zukünftig auch die Datenverarbeitung in diese Budgetierung mit einbeziehen zu können, muss eine »saubere« Zuordnung zu der Dienstleistungsstelle EDV (oder besser: Informationsmanagement) hergestellt und es müssen sachgerechte Verrechnungsschlüssel gesucht werden. Erst dann werden sich die komplexen Transferprozesse zukünftig fundiert bewerten lassen.
13.7
Der IT-Markt
Bereits bei den Erläuterungen zur Auswahl eines EDV-Systems wurde deutlich wie wichtig es ist, einen Partner auf IT-Anbieterseite zu finden, der langfristig am Markt bestehen kann (Investitionssicherheit). Vor diesem Hintergrund soll an dieser Stelle ein kurzer Abriss über die gegenwärtig am Markt agierenden Anbieter erfolgen.
358
13
Kapitel 13 · IT-Anwendungen
Die letzten Jahre waren durch einen fortwährenden Konzentrationsprozess gekennzeichnet. Dies ist Ausdruck der von diesem Markt ausgehenden Attraktivität, die aus Sicht der Unternehmen noch in der Zukunft zunehmen wird. Aktueller Höhepunkt des Konzentrationsprozesses war Ende 2004 die Übernahme der GWI, des letzten Mittelständlers, durch den Agfa-Konzern. Daneben stehen so bedeutende und weltweit tätige Unternehmen wie Siemens, iSOFT und SAP. SAP hat allerdings für die Pflege bisher nur eine sehr eingeschränkte Bedeutung, da es sich auf administrative Prozesse konzentriert. Das Einsatzgebiet ist gegenwärtig überwiegend auf größere Krankenhäuser, Verbünde sowie Rechenzentren beschränkt. Der Konzentrationsprozess wird auch in der Zukunft weiter gehen. Allerdings werden für Spezialapplikationen auch zukünftig Klein- und Kleinstfirmen als Innovatoren eine wichtige Rolle spielen (z. B. bei Dienstplanungsprogrammen). Eine Marktbetrachtung ohne einen kurzen Blick auf die Nachfrager (Kunden) zu werfen, wäre unvollständig. Es wird mit einer abnehmenden Anzahl von Krankenhäusern gerechnet. Anderseits entstehen vermehrt Gesundheitskonzerne, die eine zunehmende Marktmacht haben werden. Insbesondere die an Bedeutung gewinnenden privaten Klinikbetreiber werden darauf achten, dass sich die IT im betriebswirtschaftlichen Verständnis weiter entwickelt. Die Bildung der oben erwähnten Gesundheitskonzerne wird auch dazu führen, dass sich die Portfolio der Anbieter aus dem »klassischen« Bereich der Akutversorgung auf alle Versorgungseinrichtungen und ihre Schnittstellen ausbreiten werden.
13.8
Qualifizierung
Durch die zunehmende Verbreitung der IT kommen immer mehr Mitarbeiter damit in Berührung. Auch die Krankenpflegekräfte werden für immer mehr Aufgaben auf Programme zurückgreifen können. Wie bereits dargestellt, ist eine umfassende Unterstützung der Kernaufgaben der Pflege, nämlich die Pflege selbst, in Kürze zu erwarten. Eine zunehmende Zahl von Anwendungen einerseits und immer intelligenter werdende Tech-
nologie andererseits (bei eingeschränkten finanziellen Spielräumen) werden im Krankenhaus nur beherrscht werden können, wenn eine IT-Strategie als Orientierung, als »roter Faden«, erarbeitet wurde. > Die IT-Strategie (die allerdings nur in einer Minderzahl der deutschen Krankenhäuser ausformuliert ist) zu entwickeln und im Unternehmen zu kommunizieren ist eine Aufgabe des Informationsmanagement (Heinrich 2002, S. 79 ff.).
Nicht mehr die Maschinenbedienung, sondern das Informationsmanagement wird zur vordringlichen Aufgabe in modernen Krankenhäusern. Einige Stichpunkte sollen die Aufgaben des Informationsmanagement beispielhaft kurz umreißen: ▬ Entwicklung einer IT-Strategie (und deren Anpassung und Kommunikation), ▬ Modellierung von integrierten Informationssystemen, ▬ Institutionalisierung von Verantwortlichkeiten bezogen auf den IT-Einsatz, ▬ Wissensmanagement, ▬ Vertragsmanagement, ▬ Sicherheitsmanagement, ▬ Produktmanagement, ▬ Problemmanagement, ▬ Benutzerservice. Insbesondere der Benutzerservice spielt bei den Nutzergruppen eine große Rolle, die im Umgang mit der EDV (noch) nicht so versiert sind und die es noch nicht gewohnt sind, sie in die eigenen Arbeitsprozesse zu integrieren. Die Pflege gehört sicher zu diesen Nutzergruppen. Somit müssten die zur Anwendung kommenden Konzepte für den Benutzerservice für das Pflegemanagement von besonderem Interesse sein. Das Pflegemanagement muss sich »einmischen«. Der störungsfreie Betrieb der IT an allen Arbeitsplätzen, insbesondere an denen der Pflege und der Medizin, wird sich nur noch im Rahmen eines dezentralen Betreuungskonzeptes aufrechterhalten lassen. Dies bedingt, dass zunehmend Mittler zwischen der reinen Prozessaktivität und den EDV-Technikern zum Einsatz kommen müssen. Hierfür eignen sich insbesondere Pflegekräfte, die
359 13.9 · Ausblick
sich in Bezug auf den Technologieeinsatz (nicht auf die Programmierung) fort- bzw. weiterbilden. Nur so ist es möglich, dass Probleme der Anwender vor Ort kurzfristig besprochen werden können und ihnen abgeholfen werden kann. Treten z. B. Probleme hinsichtlich der Kataloge (Pflegeprobleme, Pflegeziele usw.) im Rahmen der Pflegeplanung auf, so ist nur jemand in der Lage kurzfristig zu helfen, der die Funktionsweise, den Aufbau und die Inhalte dieser Kataloge versteht. Neben den Stabsstellen für die EDV, die man in der Vergangenheit in Krankenhäusern der Pflegedienstleitung zugeordnet hat, müssen in den Stationen bzw. Abteilungen weitere Positionen ausgebaut werden, die diese Unterstützungsfunktion ermöglichen. Sie sind unbedingt notwendig, um die Produktivität der Mitarbeiter aufrecht zu erhalten. Seitens des Managements ist dieser Bedarf festzustellen und es sind geeignete Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für Maßnahmen der Fort- und Weiterbildung auszuwählen. Ziel dieser Fort- und Weiterbildung ist es nicht, das virtuose Programmieren von eigenen Programmen zu erreichen, sondern vielmehr Eigenschaften des Informationsmanagement für die Nutzer, hier aus Sicht der Krankenpflege, anwendbar zu machen. Hier sei beispielhaft auf eine Weiterbildungen zum »IT-Manager im Gesundheitswesen« hingewiesen, wie sie z. B. von der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Flensburg angeboten wird. Einige Inhalte dieser Weiterbildung geben einen guten Einblick in vorhandene Kompetenzdefizite und zeigen die Breite der notwendigen Qualifikationen: ▬ Grundzüge des Gesundheitswesens, ▬ Krankenhaus-Betriebswirtschaftslehre, ▬ Informationsmanagement, ▬ Informations- und Kommunikationstechnik, ▬ Projektmanagement, ▬ Personalmanagement, ▬ Nutzergerechte Gestaltung von Informationssystemen, ▬ Beschaffungs- und Vertragsmanagement, Diese Maßnahmen müssen eingebunden werden in ein Gesamtkonzept der Personalentwicklung,
13
da letztendlich unter erschwerten Bedingungen der Betrieb nur mit hochqualifizierten Mitarbeitern aufrechterhalten werden kann. Personalentwicklung wird damit zu einem wesentlichen Instrument der Personalbindung. In Zeiten knapper werdender qualifizierter Mitarbeiter ist eine Investition in die Qualifikation der Mitarbeiter ein wichtiges Signal für die Weiterentwicklung der Einrichtung.
13.9
Ausblick
Die zu erwartende Entwicklung der IT im Gesundheitswesen lässt sich mit den Adjektiven globaler, intelligenter, schneller, kleiner und leichter umschreiben. Man muss nicht Prophet zu sein, um die weitere Ausbreitung der IT im Gesundheitswesen vorherzusagen. Durch gesundheitspolitische Entscheidungen wird die Gesundheitskarte in Deutschland ab 2006 zur Pflicht; kleinere Verzögerungen in diesem Prozess stellen diesen Trend nicht grundsätzlich in Frage. Die Zukunft liegt in der sektorübergreifenden Vernetzung mittels Datenverarbeitung, da nur so die anspruchsvollen Konzepte wie das Modell der Integrierten Versorgung oder Disease Management Programme überhaupt realisierbar sind. Kommunikation wird über die Sektorengrenzen hinaus intensiviert werden wird, ist aber ineffizient mittels Papier und Formularen überhaupt nicht mehr denkbar. Insofern sind gesundheitspolitische Zielsetzungen eindeutig mit technologischen Entwicklungen verknüpft. Hinsichtlich der elektronischen Gesundheitskarte wird es u. a. darum gehen, auf ihr den sog. Notfalldatensatz (im Rahmen der freiwilligen Daten) abzuspeichern und sie darüber hinaus als Zugriffsmedium auf dezentrale Server einsatzbereit zu machen. Es werden nicht alle Daten eines Patienten auf der Gesundheitskarte abgelegt werden können und sollen. Die Karte soll aber dem Arzt mit Zustimmung des Patienten einen Zugriff auf vielfältige Datenbestände ermöglichen. Die Schnelligkeit der Realisierung dieser Vorstellungen wird insbesondere auch davon abhängen wie es rasch es gelingt, eine Einigung über eine deutschlandweite oder gar europaweite Telematikplattform zu erzielen.
360
13
Kapitel 13 · IT-Anwendungen
Die Dienstleister im Gesundheitswesen werden sich ihrerseits mit Hilfe der Health-ProfessionalCard (HPC), identifizieren und authentifizieren, so dass ein gesicherter Zugriff auf die Daten des Patienten ermöglicht wird. Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder werden Sorge dafür treffen, dass unberechtigte Zugriffe sehr unwahrscheinlich werden. Insgesamt wird die Sicherstellung des Datenschutzes an Bedeutung gewinnen. Die mobile Datenverarbeitung wird – auch durch neue Anwendungen des Mobilfunks – einen Siegeszug antreten, wobei die Geräte selbst leichter werden. Für die Pflegekraft wird das Tragen des Handheld somit während des Arbeitsprozesses kein Hindernis mehr darstellen. Die Rechner werden weiter an Geschwindigkeit zunehmen, so dass auch größere Datenmengen noch effizienter verarbeitet werden können. Die Kommunikation von Bildern und Audiosequenzen ist schon heute möglich, ihr Einsatz im Rahmen der Telemedizin wird stark zunehmen. Telemedizin wird zwischen Schwerpunktzentren und Krankenhäusern der Grundversorgung zu einer Normalität werden. In der Patientenbetreuung ermöglicht die mobile Kommunikation mit Hilfe des Mobilfunks (der Begriff »Gesundheitshandy« wurde schon geprägt) eine ortsunabhängige medizinische Versorgung. Dadurch gewinnt v. a. der chronische Patient Bewegungsfreiheit und Sicherheit. Dieses Beispiel sollte die weitreichenden Veränderungen im Gesundheitswesen skizzieren. Die Sprachsteuerung wird in naher Zukunft Einzug halten und den Weg der Spracherkennung und Sprachverarbeitung, z. B. bei Diktaten, konsequent fortsetzen. Mit Hilfe der Sprache wird es möglich sein, Computer bzw. Computersysteme zukünftig umfassend zu steuern. Damit setzt sich der Trend fort, die Nutzung der Technik immer »normaler« werden zu lassen, d. h. ihre Nutzung immer weiteren Bevölkerungs- und Berufsgruppen zu erschließen. Die Benutzung der Tastatur oder der Maus könnte dann auch für die Pflege der Vergangenheit angehören. Die Nutzung des Internet wird zunehmend zu einer Selbstverständlichkeit. Seit 1998 hat sich in Deutschland die Internetnutzung von 51% auf 69% im Jahre 2003 erhöht. Gerade auch ältere Menschen entdecken die Möglichkeiten dieses
Mediums. Im Gleichgang mit einer zunehmenden Kundenorientierung wird es, wie heute schon in den USA möglich, Datenbanken mit den wesentlichen Informationen über die Leistungsfähigkeit (insbesondere die Ergebnisqualität) der Krankenhäuser und sonstiger Einrichtungen im Gesundheitswesen geben. Für die Krankenhäuser und die angesprochenen Einrichtungen wird es daher noch wichtiger werden, sich umfassend und informativ im Internet darzustellen. Die Informationsgesellschaft nimmt auch im Gesundheitswesen immer konkretere Formen an (eHealth). Informationstechnik wird auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen (z. B. eGovernment) zu einer Selbstverständlichkeit. Es wird für die Krankenpflege sicher nicht leicht werden, die Technik zu nutzen und sich gleichzeitig die sie auszeichnende Menschlichkeit zu bewahren. Die Herausforderung für die Krankenpflege wird darin bestehen, die eigenen Arbeitsprozesse weiter mit Hilfe der Technologie zu optimieren, andererseits die damit gewonnenen Freiräume für die Ausgestaltung im Sinne der Kunden, der Patienten zu nutzen.
? Wissens- und Transferfragen 1. Welchen Einsatz von IT-Technologien sehen Sie für den Pflege- und Servicebereich? 2. Stellen Sie einen Projektplan auf für die IT-Einführung Ihrer Wahl in einem mittelgroßen Krankenhaus/Altersheim. 3. Skizzieren Sie für dieses mittelgroße Krankenhaus/Altersheim auch einen groben Finanzplan. 4. Welchen Stellenwert hat die Fort- und Weiterbildung in Ihrem Projekt? 5. Zählen Sie Argumente auf, warum dieses Projekt finanziell unterstützt werden soll. 6. Welche Schwierigkeiten sehen Sie bei der Einführung von EDV-Tools im Gesundheitsbereich? 7. Zeichnen Sie ein Zukunftsszenario bezogen auf das Thema »IT-Technologien in der Gesundheitswirtschaft«.
361 Literatur
Literatur Hansen HR, Neumann G (2001) Wirtschaftsinformatik I. 8. Aufl. Lucius & Lucius, Stuttgart Heinrich LJ (2002) Informationsmanagement. 7. Aufl. Oldenbourg, München Wien Trill R (Hrsg) (2002) Informationstechnologie im Krankenhaus. Luchterhand, Neuwied Kriftel Trill R, Tecklenburg A (Hrsg) (2000) Das erfolgreiche Krankenhaus. Loseblattsammlung. Luchterhand, Neuwied Kriftel
13
14 Psychologische Aspekte der Personalführung A. Kerres 14.6
Die Betrachtung der eigenen Person als ein Aspekt der Personalführung – 364
Personalentwicklung unter dem Blickwinkel der Gender-MainstreamDiskussion – 382
14.7
Personalentwicklung unter dem Blickwinkel des Diversity Management – 386
Die Betrachtung der Dynamik in der Personalführung – 369
14.8
Bedeutung einiger psychologischer Aspekte der Personalführung für die Zukunft – 388
14.1
Einführung
14.2
14.3
– 363
14.4
Psychologisches Fachwissen in der Personalführung – 372
14.5
Gestaltung der Personalentwicklung als ein Baustein der Personalführung – 378
Wissens- und Transferfragen
14.1
Einführung
Personalführung – was ist das? Die Führung von Menschen, von Mitarbeitern, hin zu einem Ziel. Was braucht man dazu (⊡ Abb. 14.1)? Neben fachlichem Wissen sind zweierlei Dinge wohl von besonderer Bedeutung. Zum einem bedarf es der Reflexion der eigenen Person: Wer bin ich? Warum bin ich in diesem Beruf? Was kann ich? Was kann ich nicht so gut? Worin brauche ich Unterstützung? Wie gehe ich mit Gefühlen um und warum? Welche Gefühle leiten mein Handeln? Welche Emotionen machen mir Angst? Welche Emotionen beflügeln mich? Welches Menschenbild liegt meiner Personalführung zu Grunde? Zum anderen ist die Gestaltung der Beziehungen zu einzelnen Mitarbeitern sowie zu einer Gruppe von Mitarbeitern, zu den dort tätigen Menschen von besonderer Bedeutung. D. h. die Gestaltung von Beziehung, die damit verbundene Dynamik ist hier ein Schwerpunkt der Betrachtung. Wodurch wird Dynamik aus psychologischer Sicht mitbestimmt? Sicherlich durch die eigene Geschichte, die Sozialisation, die einen zu dem macht, was man ist ( Kap. 14.2.1) und durch psychologische Mechanismen (z. B. Abwehrmechanismen) die unser Verhalten mitbestimmen.
Literatur
– 390
– 390
Das notwendige Know-how, also das fachliche Wissen, unterliegt einem Zeitgeist. Was heute wichtig ist, kann morgen schon fast ohne Bedeutung sein. Aber was könnte möglicherweise ein psychologisches Wissen sein, welches in der Personalführung dem Zeitgeist nicht so massiv unterliegt? Hier ist einerseits das Wissen um die Grundlagen zur Gestaltung einer Personalentwicklung sowie zur Gestaltung einer Kommunikationskultur ( Kap. 17) ein relevantes Thema. Warum? Weil hier der Mitarbeiter als Führungskraft im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen und menschlichen Anforderungen besonders in der Ausgestaltung
Fachwissen
Personalführung
Dynamik des Systems
Reflexion der eigenen Person
⊡ Abb. 14.1. Bausteine für eine gelungene Personalführung
364
14
Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
der Personalentwicklung ( Kap. 14.5) gefragt ist. Andererseits ist Wissen gefragt aus dem Bereich der Lernpsychologie ( Kap. 14.4), da in der heutigen Zeit Bildung ein großes Gut ist, das zu individuellen Entwicklung sowie zur Weiterentwicklung der Organisation notwendig ist. Hier lassen sich Begriffe wie Wissensmanagement, Lernende Organisation, Veränderungsmanagement oder Change Management nennen, deren Grundlagen u. a. auch in der Lernpsychologie liegen. Warum ist die Betrachtung dieser drei Bereiche ▬ der Umgang mit der eigenen Person (hier im Schwerpunkt die Reflexion der Emotionen, Kap. 14.2), ▬ Dynamik in der Gestaltung von Beziehungen ( Kap. 14.3) und ▬ das psychologische Fachwissen ( Kap. 14.4 u. 5), die im Folgenden vorgestellt werden, für das Pflegemanagement von besonderer Bedeutung? Die Führung von Menschen in einem Beruf, der immer wieder Mitarbeiter an persönliche Grenzerfahrungen heranbringt, z. B. in der Auseinandersetzung mit dem Thema Leben und Tod, Umgang mit Schmerzen, das Leid von Eltern usw, benötigt in diesen Bereichen eine besondere Sensibilität im Umgang mit Mitarbeitern. Diese möglichen Grenzerfahrungen lösen in der Interaktion (Mitarbeiter – Betroffene sowie Mitarbeiter – Führungskraft) vielfach eine spezifische Dynamik aus: Man will Dinge nicht wahrnehmen, man will Dinge vergessen usw.; dies sind Schutzmechanismen, die uns helfen, mit dem Alltag fertig zu werden. Einer Führungskraft sollten diese dynamischen Interaktionen sowohl auf einer theoretischen wie auch in der Reflexion bezogen auf die eigene Person bekannt und bewusst sein. Das psychologische Fachwissen unterstützt die Führungskraft in ihrem täglichen operativen Geschäft. Es unterstützt sie auch in der Begleitung von Veränderungsprozessen, die in erster Linie durch Lernprozesse zustande kommen. Darüber hinaus trägt es zur Professionalisierung bei, denn Veränderungsprozesse müssen auch in der Berufsgruppe stattfinden. Das Umlernen bezieht sich dabei auf das Selbstverständnis der Mitarbeiter. In dem Moment, in dem Führung ein Teil ihrer Tätigkeit ist, ist es wichtig,
neben den Interessen der eigenen Berufsgruppe, auch die Interessen der Gesamtorganisation im Blick zu haben (Geißner 2003).
14.2
Die Betrachtung der eigenen Person als ein Aspekt der Personalführung
Wer bin ich? Sollte ich nicht, bevor ich andere anleite und Personalverantwortung übernehme, für mich reflektieren, wieso ich diesen Beruf gewählt habe und an der Position bin an der ich im Moment bin? Die einen können mit der Personalverantwortung besser umgehen als die anderen. Die einen werden charismatische Führer genannt, andere als autoritär bezeichnet. Woran liegt das? Es liegt wohl an dem Selbstverständnis, mit dem ich mit mir und anderen umgehe, an meinem Menschenbild, das mein Handeln bestimmt und an der eigenen Reflexionsfähigkeit über die Person und die ihr eigenen Emotionen, die unser Dasein prägen und somit auch die Arbeit im Personalmanagement. Gonschorrek (2002, S. 165) meint dazu: »Nur wer sich selbst achtet, kann auch andere achten.« Daher ist die Auseinandersetzung mit der personalen Kompetenz die Grundvoraussetzung für das Eingehen einer Dynamik und somit eben auch eines Führungsverhaltens. Im Management arbeiten Menschen, Persönlichkeiten, die sich durch ihren Umgang mit ihren eigenen und fremden Emotionen auszeichnen. Der Erwerb von Wissen ist oft leichter als der Umgang mit der eigenen Person. Warum ist das so? Was macht eine Person aus? Sicherlich zu einem großen Teil die Emotionen, die einen jeden von uns prägen und somit auch die Arbeit im Management.
14.2.1 Emotionen und ihre Bedeutung
für das Pflegemanagement Was sind Emotionen? Der Duden (1982) definiert Emotionalität als inneres gefühlsmäßiges Beteiligtsein an etwas. Die Wurzel des Wortes Emotion, welches umgangssprachlich benutzt wird, so Golemann (1998, S. 22), movere, lateinisch für bewegen, wobei das Präfix »e« hinbe-
365 14.2 · Die Betrachtung der eigenen Person als ein Aspekt der Personalführung
wegen bedeutet; dies deutet darauf hin, dass jeder Emotion eine Tendenz zum Handeln innewohnt. Nach Golemann weckt jede Emotion eine spezifische Handlungsbereitschaft, die uns eine Richtung weist, welche sich in der Evolution angesichts von Umständen, die in jedem Menschenleben immer wieder vorkommen, gut bewährt hat. So hat sich ein überlebensnotwendiges Repertoire an Emotionen herausgebildet, das sich als angeborene, automatische Tendenz der menschlichen Reaktionen in unsere Nerven eingeprägt hat. Emotionen wirken somit als Handlungsimpulse, werden sie nicht reflektiert oder verarbeitet, dann können wir »Opfer« unserer Gefühle werden. Sie bestimmen dann unser Handeln. Herkunft der Emotionen? Das Wortfeld dazu ist
groß: Gefühl, Affekt, Empfindungen, Trieb, Instinkt, Motivation – um nur einige zu nennen. Nach Rost (2001) bezeichnet ein Gefühl einen Augenblickszustand (wie man sich gerade fühlt) und eine Emotion einen variablen zeitlichen Ablauf, dessen einzelne Momente sich durchaus anders anfühlen können. Erfreulicherweise scheint sich in der Literatur die Einsicht durchzusetzen, dass Emotionen, Gefühle, Wollen und Fühlen untrennbar miteinander verbunden sind und im Grunde das gleiche Phänomen beschreiben (Rost 2001, S. 51), so dass eine entsprechende Unterscheidung zukünftig wohl ausbleiben wird. Emotionen basieren direkt auf Wahrnehmungen, stellt Rost (2001, S. 31) fest, dessen Buch sehr ausführlich neuere Theorien zum Thema Emotionen beschreibt. Nach Hug u. Spisak (1999) wird die Emotion gleichgesetzt mit dem Wort Gefühl. Gefühle beschreiben die Befindlichkeit der Menschen und haben neben einer körperlichen Komponente (Erregung) auch eine psychische. Die Erregung wird interpretiert als Angst, Freude, Aggression usw. Unsere Emotionen steuern unser Handeln. Die Entstehung von Gefühlen wird auf zwei Arten erklärt (zitiert nach Hug u. Spisak 1999, S. 91). Im ersten Ansatz sind Gefühle angeboren. Diese werden im Laufe des Lebens weiterentwickelt. Im zweiten Ansatz werden Gefühle mit Hilfe der Wahrnehmung und des Denkens erlernt. Sie entwickeln sich aufgrund von Erfahrungen. Untersuchungen geben beiden Ansätzen Recht. Wahr-
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scheinlich ist dem Menschen die Anlage zur Entwicklung von Emotionen angeboren, die Ausprägung der Emotionen wird kulturspezifisch erlernt. > Emotionen sind in ihrer Bewertung von der Gesellschaft abhängig.
Überträgt man das auf die Arbeit in Organisationen, dann würde man in diesem Zusammenhang den Begriff der Organisationskultur wählen, der etwas über die emotionale Kultur in einem Unternehmen aussagt. Im Folgenden sollen nun zwei spezifische Emotionen, nämlich die Emotion Angst und Freude, und ihre Bedeutung für das Management vorgestellt werden. Warum die Auswahl gerade dieser beiden Emotionen? Die Frage ist berechtigt! In intensiven Gesprächen u. a. mit Führungskräften wird immer wieder deutlich, wie stark Angst unser Handeln in vielfältiger Weise beeinflusst. Eine bewusste Reflexion der eigenen Ängste hilft sehr oft in das persönliche Gleichgewicht zurück zukommen. Um in dieses Gleichgewicht zu kommen und es stabil zu halten, ist es vielfach notwendig, in die andere Waagschale eine positive Emotion, z. B. die der Freude, zu legen. Für eine Managementtätigkeit ist es von besonderer Bedeutung, sowohl mit sich selbst als auch mit dem Interaktionspartner in einen positiven emotionalen Kreislauf zu kommen. Fakt ist, dass für die Mitarbeiter täglich Herausforderungen und Veränderungen in der Arbeit anstehen, die vielfach als erstes Angst und Sorge auslösen. Dieses Bewusstsein hat im Bereich des Veränderungsmanagements bereits zum Einsatz einiger neuerer Interventionstechniken geführt.
14.2.2 Die Emotion Angst im Kontext
des Managements Angst kennt jeder! Der Eine hat sie vor Spinnen, der Andere vor Hunden oder weiten Plätzen und ein Dritter vor möglichen Auseinandersetzungen. Kinder haben Angst im Dunkeln oder dem »Schwarzen Mann«. Manche Ängste können wir besser nachvollziehen als andere. Eine oft so leicht dahin gesagte Äußerung wie »Da braucht man doch keine Angst vor haben« ist wenig hilfreich,
366
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Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
zeigt eher eine gewisse Ignoranz und mangelnde Empathie, denn die geäußerte Angst wird subjektiv als solche empfunden. Ob sie realistisch ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle (für den gesamten Abschnitt vgl. Kerres 2002a). Was Angst ist, weiß also jeder, auch wenn man es nur schwer definieren kann. Es handelt sich vielfach um ein körperliches Unbehagen, um ein Gefühl der Bedrohung, das nicht wirklich verlässlich beurteilt werden kann (Tölle 1991) und dem man sich eher hilflos ausgeliefert fühlt. Angst bezieht sich auf Gegenwärtiges oder Zukünftiges, Erwartetes ebenso wie auf das Dasein schlechthin. Angst ist ursprünglich gegenstandslos, wird aber vielfach sekundär auf etwas Bestimmtes bezogen. Angst ist somit ein fester Bestandteil unseres Lebens. Sie spiegelt unsere Abhängigkeiten wider, sowie das Wissen um unsere Sterblichkeit. Die Wissenschaft versucht seit jeher ein Mittel gegen die Angst zu finden – vergebens. Es werden eigentlich »nur« Hilfestellungen im Umgang mit der Angst gefunden. Angst ist etwas Abstraktes und etwas sehr Persönliches. Angst besitzt einen Doppelaspekt (Jung 2000). Sie kann aktiv machen aber auch lähmen und uns damit – je nach Sozialisation und Veranlagung – zu ihrem »Opfer« machen. Angst äußert sich in Organisationen in den verschiedensten Formen: Die Entscheidungsqualität, die Produktivität und vor allem die Kommunikation werden von ihr beeinflusst. Es gibt kein Unternehmen, welches frei von Angst ist, denn Angst ist ein menschliches Urgefühl (Steiger u. Hug 1999), das somit jeden Menschen begleitet. Angst erfasst den Menschen dann, wenn er erkennt, dass er in den gesetzten Grenzen glaubt (bewusst oder unbewusst), sich nicht verwirklichen zu können. Diese vermeintlichen Grenzen sind lebensgeschichtlich bedingt bzw. gesetzt. Angst erfasst uns aber auch, wenn wir erkennen, dass wir für uns leben, »isoliert und einsam in Distanz zum Mitmenschen, zum anderen existieren« (Steiger u. Hug 1999, S. 261). Ebenso erfasst uns Angst, wenn wir erkennen, wie kurz unsere Lebensspanne ist und in welchen existentiellen Abhängigkeiten wir uns bewegen. Falls wir versuchen dies zu verleugnen, entwickeln wir ein grandioses »falsches« Selbst, das unweigerlich von Ängsten geplagt ist.
Organisationen aktualisieren aber auf unterschiedlichste Art frühkindliche Konstellationen z. B. durch die hierarchischen Strukturen einer Organisation, die es vielfach in Familien gibt. Das Angenommensein durch eine Führungsperson, ebenso wie erlittene Ablehnung durch den Vorgesetzten können entsprechende Ängste wieder aktualisieren. Die Sorge um den Arbeitsplatz und die damit verbundenen existenziellen Fragen aktualisieren möglicherweise frühkindlichen Erfahrungen, bezogen auf die Frage: Werde ich wirklich geliebt? Angst spielt in Unternehmen auch dann eine Rolle, wenn für Mitarbeiter in einer Organisation kaum mehr nachvollziehbare Veränderungen vor sich gehen. Familiäre Prozesse, die das Kind zwar spürt, aber keiner ihm erklärt, können hier die Basis sein für die Aktualisierung von Angst. Angst gehört also zum Menschsein, ist weder gut noch schlecht, weder krank noch gesund. Lediglich die Art und Weise wie der Mensch die Angst verarbeitet kann günstig oder weniger günstig sein – für die Organisation und den Einzelnen selbst. Je nach Organisationsstruktur und -kultur wird mit der Angst umgegangen. > Wird die Ansicht vertreten, Führungskräfte haben keine Angst, nur Verantwortung, dann löst diese Beschränkung auf jeden Fall Ängste aus. Eine solche Kultur lässt keine Veränderung zu, eine solche Kultur ist gefährlich und macht krank.
Konstruktiv dagegen ist der individuelle Versuch, die Angst anzunehmen, sich mit dieser auseinander zusetzen. Dies führt in die richtige Richtung, nämlich diese Angst möglicherweise zu überwinden. Eine Verdrängung der Angst führt dagegen immer eher zu einer Stagnation der individuellen Weiterentwicklung und zieht somit die Starrheit einer Abteilung, eines Unternehmens nach sich.
14.2.3 Die Emotion Freude im Kontext
des Managements Freude, Spaß an der Arbeit – Zufriedensein mit seinem Handeln im Umgang mit den Mitarbeitern, den Kassen usw. So sehr uns allen das Gefühl der
367 14.2 · Die Betrachtung der eigenen Person als ein Aspekt der Personalführung
Freude vertraut ist, so schwer ist es andererseits diese Emotion zu definieren (Hülshoff 2001). Wie oft wird der arbeitenden Person das bewusst? Wie viel Zeit nehmen wir uns im Alltag darüber nachzudenken? Fragt man Kollegen aus unterschiedlichsten Bereichen, was ihnen zum Thema Freude und Management einfällt, erhält man ein ernüchterndes Ergebnis, denn die Reaktion ist gering. Es werden Umschreibungen genannt wie die Wirksamkeit der Tätigkeit, die Leichtigkeit mit der jedem die Arbeit von der Hand geht, die Produktivität. Konzepte der Work-life-balance versuchen sich wohl auch diesem Thema zu nähern, z. B. durch einen Ausgleich zwischen Beruf und Familie bzw. Freizeit. Bei der Literatursuche zu genau dieser positiven Emotion stellt sich heraus, dass die Emotion Freude im Bereich der Emotionspsychologie eher ein Stiefkind ist. Es gilt das Motto: »Über das, was gut ist, braucht man nicht zu schreiben bzw. zu reden«. Es ist schon ein Phänomen, dass Menschen lang und breit über »vermeintlich« Schlechtes reden können; doch auf die Frage: »Was ist gut, was macht Ihnen Spaß/Freude?« beginnt die Antwort meist mit einer Pause. Man muss die Dinge erst wieder in sein Bewusstsein rücken. Dabei hat ein Versuch gezeigt, dass Versuchspersonen, die in eine gute Stimmung versetzt wurden, eine Rätselaufgabe dreimal so erfolgreich lösen konnten, wie eine Gruppe von Versuchspersonen, die vorher einen ernsten Film gesehen hatten (Rost 2001, S. 429). Die Wissenschaft hat darüber hinaus gezeigt, dass Lachen die Atmungsaktivität, den Sauerstoffaustausch und die Herzfrequenz steigert. Zudem wird wahrscheinlich die EndomorphinProduktion im Gehirn stimuliert. Dadurch wird Depression abgebaut und die Langlebigkeit gefördert. Wodurch erkennt man Freude, Spaß oder Zufriedenheit? Hier beginnt der Versuch, Freude zu operationalisieren. Vielfach an einem Lachen, äußerlich oder innerlich, an einer Ausgeglichenheit, an der Ausstrahlung, könnte die Antwort lauten. Natürlich gibt es noch andere Formen des Lachens wie z. B. das Lachen nach einem Schock, das Lachen bei Verlegenheit oder bei Unsicherheit,
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das Belächeln anderer als Ausdruck der Geringschätzung. Die Literatur befasst sich weniger mit dem Lachen der Freude, mehr mit dem Lachen beim Witz als Ausdruck von aggressiven Impulsen. Nach Freud bietet der Witz vergleichbar dem Traum die Möglichkeit, dem Über-Ich zu entgehen. Er bietet eine Art Verkleidung um die jeweiligen aggressiven oder sexuellen Impulse darzustellen. Nach Hülshoff (2001, S. 105) kann Freude als ein Gefühl verstanden werden, das durch Selbstvertrauen und das Gefühl geliebt zu werden und liebenswert zu sein charakterisiert ist, vertrauensvolle Beziehungen zu anderen ermöglicht und insofern unsere Bereitschaft zu sozialen Beziehungen einerseits und Aktivitäten andererseits erhöht. Das Gefühl der Freude geht mit körperlichen und psychischen, positiven Empfindungen, oft auch mit Lust einher. Kommt die Freude in einem extremen Ausmaß zum Vorschein, kann man auch von einer Manie reden. Es ist wohl auch leichter über das Fehlen von Freude zu schreiben wie die Depression, die Unlust in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen. Die Burn-out-Problematik ist wohl auch dazu zu zählen. Oft sind es ja die Kleinigkeiten des Alltages, die uns das Leben angenehm machen. Das »Danke« eines Mitarbeiters für ein Gespräch, oder das »Danke« eines Patienten für die Unterstützung beim Heilungsprozess, die gute Zusammenarbeit mit der Geschäftsleitung, die Tasse Kaffee, die uns morgens den Tageseinstieg erleichtert. Für die Freuden des Alltages ist jeder einzelne selbst verantwortlich: Nämlich sie wahrzunehmen und sich Zeit zu nehmen, sie zu erleben. In diesem Zusammenhang werden unzählige Seminare zum Thema Selbst- und Zeitmanagement angeboten, die dabei Unterstützung geben sollen. Sie geben Handlungsimpulse und gute Ratschläge. Die eigentliche Freude oder Zufriedenheit kommt wohl aus dem Inneren eines jeden – dann, wenn er seinen Sinn im Leben gefunden hat und für sich weiß wie er das im Arbeitsprozess umsetzen kann. Freude fördert das Interesse aneinander und ermöglicht leichter soziale Kontakte. Im Zusammenhang mit positiven Emotionen fällt vielfach das Wort »flow« (Fließen, Eins-Sein)
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Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
oder auch der Begriff Leistungsglück. Darunter versteht man die Befriedigung, die man aus seiner Tätigkeit schöpfen kann. Dadurch wird das Selbstwertgefühl gestärkt – wir wachsen über uns hinaus (Gonschorrek 2002). Das Flow-Gefühl ist demnach die Einsicht, dass die einzelne Person die Fähigkeit hat, seine Ziele in einem Handlungssystem zu erreichen. Das gelingt dann besonders gut, wenn dieses System regelmäßig Rückmeldung bietet. Hierfür sorgen Führungskräfte in einem Unternehmen oder z. B. Erzieher im Kindergarten und Lehrer in der Schule. Physiologisch und biologisch sind die Septumkerne, das mediale Vorderhirnbündel und der damit verknüpfte Hypothalamus und die lateralen Bezirke des Mandelkerns für freudige Emotionen zuständig, wie man aus Elektro- Reizversuchen weiß (Hülshoff 2001, S. 107). Das Gefühl der Freude, schreibt Hülshoff weiter, sei evolutionär so sehr von Vorteil gewesen, dass es in den Dienst von familiärer und sozialer Bindung sowie erhöhter individueller Leistungsbereitschaft gestellt werden konnte. In diesem Zusammenhang werden durch die Forschung genetisch verankerte Verhaltens- Ausdrucks- und Wahrnehmungsdispositionen vermutet, die zum Teil kulturell geformt sind. Freude kann nach Hülshoff (2001) sozialisiert werden, indem z. B. dem natürlichen Interesse und dem Erkundungstrieb der Kinder Rechnung getragen wird, die Umgebung stimulierend wirkt, überschaubare und verlässliche Sozialbeziehungen aufgebaut werden. Diese Möglichkeiten lösen Freude aus und die Lust auf mehr. Freude ist in der Erziehung somit eher ein »Nebenprodukt«. Wir können nicht Freude dauernd stimulieren, aber wir können eine entsprechende Atmosphäre schaffen, in der sich Freude entwickeln kann. Vergleichbares gilt für das Management, Vergleichbares wurde von Sprenger für das Thema Motivation bereits formuliert. Die Führungskraft stellt den Rahmen für die Freude, für die letztendlich jeder selbst in seinem bewussten Erleben verantwortlich ist. Nach Gonschorrek (2002) gibt es zwei Hauptstrategien, die das Flow-Gefühl erzeugen können: ▬ Zum einen die Anpassung der äußeren Rahmenbedingungen an die Ziele.
▬ Zum anderen die Verbesserung der eigenen Erlebnisfähigkeit, dahingehend, dass der Mensch sensibler für sich und somit auch für andere wird. Das heißt für die Personalführung: Nicht mehr Macht als unbedingt notwendig. Stattdessen gilt es Unterstützung und professionelle Hilfen bereitzustellen, damit Mitarbeiter in orientierungsschwierigen Zeiten (Einarbeitung, usw.) Stabilität beibehalten. Jedes Flow-Erlebnis stärkt die Persönlichkeit und führt sowohl zu einer Integration dieser Erfahrung in das Selbst als auch zu einer Ausdifferenzierung und somit Weiterentwicklung des Selbst.
14.2.4 Personalführung unter dem
Blickwinkel der Emotionen In unserer Gesellschaft wird nach wie vor der kognitiven und rationalen Fähigkeit eine größere Bedeutung zugeschrieben. Ein Wandel vollzieht sich, allerdings im Schneckentempo. Häufig werden Emotionen als unreif, als störend erlebt. In vielen (auch Kommunikations-)Seminaren wird Wert darauf gelegt bzw. das Ziel formuliert, auf der Sachebene zu kommunizieren. Wer erkennbare Gefühle hat, wer zu viele Gefühle gar offen zeigt, der gilt als labil oder kopflos (Hug u. Spisak 1999, S. 92). Emotionen haben keinen Platz im Unternehmen. Sie gehören in den privaten Raum. Dabei sind die Emotionen das Entscheidende für die Gestaltung von Beziehungen. Und Management, insbesondere die Personalführung, ist gleichzusetzen mit der Gestaltung von Beziehungen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Sie sind daher die Motoren für unser soziales Leben, die aus unterschiedlichsten Gründen tabuisiert werden. Und das ist auch das Verbindende zwischen den hier ausgewählten Emotionen. Beide Emotionen sind tabu: Die Angst, weil sie zu negativ bewertet wird, möglicherweise auch als unmännlich erlebt wird und die Freude, weil es nach außen komisch anmutet, immer gut gelaunt zu sein. Hülshoff (2001) beschreibt das Tabu der Freude als einen Akt der Unsolidarität. Man darf sich nicht freuen bei dem Leid, das auf dieser Welt
369 14.3 · Die Betrachtung der Dynamik in der Personalführung
herrscht. Ein Tabu, welches sich lohnt in Zukunft näher betrachtet zu werden. D. h. man sollte Freude in seiner Unternehmenskultur erlauben. Emotionen kennzeichnen das Pflegemanagement. Welche Emotionen im Management von
Bedeutung sind, ist wahrscheinlich abhängig von der Institution bzw. Branche in der man arbeitet. D. h. die Emotionen, die durch die Arbeit angesprochen werden, werden durch das Umfeld vermehrt aktiviert – in dem Fall vom Umfeld Pflege (⊡ Abb. 14.2). Dabei handelt es sich sicherlich um eine Wechselwirkung dahingehend, dass sich einerseits eine spezifisch disponierte Gruppe von Menschen den Beruf aussucht, andererseits aber durch den Beruf spezifische Emotionen ausgelöst werden. Ein Beispiel: Die Bedeutung der Emotionen Ekel oder Scham spielen im Bereich Stationsmanagement der Pflege eine größere Rolle als wahrscheinlich bei einem Abteilungsleiter eines Autokonzerns. Die Emotionen sind das Kennzeichnende im Pflegemanagement. Sie sind das Besondere, das jedes Management spezifisch für sich ausmacht. So ist zu vermuten, dass entsprechend der Sozialisation sich ein jeder seinen Beruf wählt, und dort Spezifisches für sich sucht und von sich gibt. So wird die Dynamik der Interaktionen sowohl
Emotionen
Emotionen
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Management
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Industrie
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Pflege ⊡ Abb. 14.2. Die Bedeutung der Emotionen im Management
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durch den Mitarbeiter als auch durch das Umfeld bestimmt. Darüber hinaus mag es in jedem Management spezielle Emotionen geben, die mehr als anderswo auftreten. Im Bereich des Pflegemanagements sind dies möglicherweise Ekel, Scham oder Gewalt, die spezifische Auswirkungen auf die Dynamik der Personalführung haben werden.
14.3
Die Betrachtung der Dynamik in der Personalführung
Es geht in der Personalführung nicht nur um die Führung der eigenen Person, sondern auch um die Führung einer Abteilung, dass heißt um die Führung eine Anzahl von Personen. Daraus entsteht eine spezifische Dynamik, nach dem Prinzip der Gestaltpsychologen: Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile. Nach Brocher (1999) bezeichnet man dieses Phänomen auch als Gruppendynamik. Darunter versteht man, die Lehre von der Gesetzlichkeit vorbewusster und unbewusster Prozesse in Gruppen, unabhängig vom Intelligenzgrad der einzelnen und weitgehend unabhängig von deren Sozialschichtung. Dabei wird Führung verstanden als eine Funktion, die die Gruppe selbst übernimmt. Die Dynamik verläuft dabei auf zwei Ebenen ab. Die erkennbare Dynamik ist das sichtbare Verhalten des Einzelnen zueinander der Führungskraft gegenüber. Die zweite Ebene sind die unausgesprochenen Erwartungen, Befürchtungen, Wünsche und Hoffnungen des Einzelnen, die das Verhalten unbewusst mitbestimmen. Der Führungskraft kommt eine wichtige Funktion zu, nämlich die Gruppe entsprechend ihres Entwicklungsstandes zu führen, so dass sich z. B. keine infantile Abhängigkeit entwickeln kann. Beim Eintritt in eine neue Gruppe wiederholt sich nun unbewusst das Modell der frühen Sozialbeziehungen und zwar solange, bis eine befriedigende und angstfreie Kommunikationsmöglichkeit der Gruppenmitglieder untereinander und der Führungskraft gefunden wurde. Die Dynamik entsteht u. a. dadurch, dass sich dies für jedes Gruppenmitglied wiederholt (Kerres 2002b). Jedes Gruppenmitglied wiederholt seine persönliche
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Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
Geschichte, seine Erfahrung mit Autoritäten in neu zusammengesetzten Gruppen. Nach Brocher (1999, S. 44) sind daher die affektiven Reaktionsmöglichkeiten der Führungskraft für die Bedeutung des Lernprozesses einer Gruppe besonders wichtig. Sie sollten weitgehend vom Bewusstsein kontrolliert sein, d. h. die Führungskraft sollte die erforderliche Reflexionsfähigkeit besitzen, um wahrnehmen zu können, was zwischen ihr selbst und dem Mitarbeiter sowie in den Beziehungen der Mitarbeiter untereinander vorgeht. > Die Führungskraft benötigt demnach eine erhöhte Sensibilität für die Vorgänge in der ihr anvertrauten Gruppe.
14.3.1 Mechanismen der Dynamik
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In einer Gruppe, einem Projektteam, einer Abteilung – wie auch immer man eine regelmäßige Zusammenkunft von Menschen in einer Organisation nennen mag, es treffen Menschen aufeinander mit unterschiedlichsten Erfahrungen und dementsprechend breit gestreuten Bedürfnissen, Werten und Prinzipien. Jeder Mitarbeiter bringt sich nun entsprechend seiner persönlichen Ziele und Möglichkeiten ein. Diese Ziele können konträr sein: Ein Mitarbeiter möchte Geld verdienen um sein Haus zu bezahlen, ein Mitarbeiter möchte keine Überstunden machen, um möglichst viel Zeit bei seiner Familie zu sein, ein Mitarbeiter möchte in der Organisation etwas bewegen und engagiert sich daher sehr usw. Ebenso können die sozialen Möglichkeiten, z. B. die Fähigkeit Konflikte auszuhandeln, verschieden sozialisiert sein. Der eine spürt den Konflikt nicht, der nächste lenkt ab und ein dritter Mitarbeiter wird laut oder äußert seine Angst. Aus dieser kurz dargestellten Situation ergeben sich eine Vielzahl von Spannungen bzw. Dynamiken. Diese Dynamik wird zudem mitbestimmt durch verschiedene persönliche Mechanismen, die es uns erlauben, unser eigenes Weltbild aufrecht zu erhalten. Dazu gehören Effekte wie der Haloeffekt oder das Phänomen des ersten Eindrucks. Ebenso gehört dazu das Phänomen der selektiven
Wahrnehmung, Festingers Modell zur Reduktion der kognitiven Dissonanz, analytische Überlegungen zum Thema Abwehrmechanismen ebenso wie Modelle zum Selbstkonzept und damit verbundene Wahrnehmungsvorgänge oder gruppendynamische Rollentheorien. Diese Nennungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es würde den Rahmen spengen, wenn alle dynamischen Konzepte ausführlich dargestellt werden würden. Theorie der kognitiven Dissonanz Kognitive Dissonanzen entstehen dann, wenn nach einer für uns wichtigen Entscheidung auf einmal Widersprüche auftreten, z. B. dadurch, dass wir weitere neuere Informationen bekommen. Menschen neigen dann dazu, diese neuen Informationen entsprechend umzudeuten, so dass sie wieder in ihr Weltbild bzw. in ihre getroffene Entscheidung passen. Wir werten für gewöhnlich die neu hinzugefügte Information ab, ebenso wie den dazugehörigen Überbringer der Nachricht. Beispiel Beispiel für einen Prozess zur Beilegung der kognitiven Dissonanz Die Führungskraft hat sich entschieden, einen Mitarbeiter besonders zu fördern. Entsprechende Prozesse sind bereits initiiert worden. Durch Zufall erfährt die Führungskraft beim Mittagessen von einem Kollegen, das der Mitarbeiter in einem Projekt vor zwei Jahren »versagt« hat. Auch kursiert ein Gerücht, dass der Mitarbeiter Alkoholprobleme hat. Ihr Kollege versteht überhaupt nicht, wieso in die Fort- und Weiterbildung dieses Mitarbeiters so viel Zeit und Geld investiert wird. Eigentlich schätzt die Führungskraft den Kollegen. Was passiert nun? Die Führungskraft wird wahrscheinlich die zusätzliche Information abwerten, indem sie denkt: Mein Kollege ist nur neidisch auf meinen guten Mitarbeiter. Der gönnt mir nicht den Erfolg. Außerdem ist das eine zwei Jahre her und das andere nur ein Gerücht. Diese Selbsthilfe bestätigt sie in ihrer Entscheidung. Sie gewinnt ihren inneren Frieden zurück.
371 14.3 · Die Betrachtung der Dynamik in der Personalführung
Mit einem solchen Dissonanzproblem muss die Pflege ständig leben. Auf der einen Seite das Bedürfnis zu helfen, auf der anderen Seite kommen immer mehr administrative Tätigkeiten dazu. Auf der einen Seite der eigene Anspruch, wie man selber gerne pflegen möchte, auf der anderen Seite Ressourcennot. Auf der einen Seite der Anspruch genug Personal zur Verfügung zu stellen, um eine gute Pflege zu gewährleisten, auf der anderen Seite, finanzielle Einsparungsprogramme. Diese Widersprüche lösen zu Pflegende in unterschiedlichster Art: Die einen fangen an zu studieren, die anderen passen sich an, die nächsten engagieren sich in einem sehr hohen Maß, andere brennen aus oder kündigen innerlich. Darüber hinaus sind aber wohl gerade für die Interaktion die Abwehrmechanismen nach Freud von Bedeutung, die unser Verhalten prägen. Die Abwehrmechanismen sollen im Folgenden anhand von Beispielen aus der Personalführung vorgestellt werden. Dynamik der Abwehrmechanismen Unter einem Abwehrmechanismus versteht man eine Umgangsform des »Ichs« mit bedrohlichen inneren wie äußeren Reizen umzugehen. Um mit der Angst fertig zu werden, wehrt sich das Ich mit Abwehrmechanismen. Es sollen einige davon vorgestellt werden (Asendorpf 1999). ▬ Der Abwehrmechanismus der Verdrängung: Hierbei werden angsterregende Impulse ins Unbewusste gedrängt. Im Schlaf können z. B. solche Impulse in direkter oder verschlüsselter Form erneut zum Ausdruck gebracht werden. Beispiel: Eine Führungskraft »vergisst« ein für die Organisation wichtiges Meeting, weil er es nicht gut vorbereitet hat. ▬ Beim Abwehrmechanismus der Projektion werden vielfach negativ bewertete Eigenschaften, die man bei sich selbst nicht akzeptiert, auf andere Menschen übertragen. Damit besteht die Möglichkeit diese Eigenschaft bei anderen zu kritisieren ohne sich selbst zu hinterfragen. Beispiel: Ein Mitarbeiter wird als äußerst aggressiv von der Führungskraft wahrgenommen. In einem deshalb anberaumten Gespräch, kritisiert die Führungskraft lauthals das aggressive Verhalten des Mitarbeiters. Seine eigenen
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aggressiven Impulse will bzw. kann die Führungskraft nicht bei sich selbst wahrnehmen. Das Mitarbeitergespräch ermöglicht aber der Führungskraft »offiziell«, ihre aggressiven Tendenzen auszuleben. ▬ Die Rationalisierung erlaubt es einer Person inakzeptables Verhalten so umzudeuten, dass es sowohl vor der eigenen Person als auch vor anderen als akzeptabel erscheint. Beispiel: Eine Führungskraft stellt eine offensichtlich inkompetente aber äußerst attraktive Mitarbeiterin ein. Er begründet seine Entscheidung durch scheinbar fachliche Gesichtspunkte. ▬ Bei der Verkehrung ins Gegenteil werden aus negativen Emotionen positive gemacht, um nicht in eine Drucksituation zu geraten. Beispiel: Ein Mitarbeiter bekommt eine Stelle, für die man selbst mindestens so gut qualifiziert war. Der Mitarbeiter wird von allen Seiten in höchsten Tönen gelobt. Nun bekommt man mit wie der Mitarbeiter zu seiner Leistung kommt – nämlich auf dem Rücken seiner Kollegen. Auch sonst mögen Sie ihn nicht. Um nicht in eine Außenseiterposition zu kommen, und um zudem nicht als Neider zu gelten, fängt man an eigene negative Emotionen dem Kollegen gegenüber zu ignorieren, und schwärmt ebenfalls für den neuen Mitarbeiter, gibt allerdings z. B. nicht sofort alle Informationen an ihn weiter. In Anlehnung an Degenhardt (1998, S. 111) soll ein weiteres Beispiel aus der Personalführung genannt werden, in dem deutlich wird, dass auch gleichzeitig mehrere Abwehrmechanismen unser Handeln bestimmen können: Eine ältere Führungskraft (Abteilungsleitung) hatte sich um ein Projekt beworben, ebenso ein ihm unterstellter jüngerer Mitarbeiter (Stationsleitung), der allerdings auch schon Personalverantwortung hatte. Der jüngere Mitarbeiter hatte den Zuschlag bekommen. Das hatte für den Abteilungsleiter erhebliche Konsequenzen, über die nie gesprochen worden waren. Vielmehr erklärte er, er hätte sich mit der Situation abgefunden und sehe ein, dass das Alter wohl bei der Entscheidung ausschlaggebend war (=Rationalisierung). Die jün-
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Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
gere Führungskraft beklagte sich seit Übernahme des Projektes über erhebliche Terminprobleme, die ihm sein Abteilungsleiter mache. Erst in Gesprächen wurde dem Abteilungsleiter seine Wut und Aggression auf den jüngeren Mitarbeiter deutlich (=Verdrängung). Dies war auch die Ursache für die immer wiederkehrenden Terminschwierigkeiten.
14.3.2 Die Betrachtung der Dynamik
in der Personalführung – eine Zusammenfassung Deutsche Manager haben keine Zeit für Beziehungsarbeit. Sie halten diese zwar für wichtig, aber dennoch geben sie in einer Studie an, dafür keine Zeitreserven zu haben. (Gonschorrek 2002, S. 337 ff.). Deutsche Manager praktizieren keine effektive Kommunikation und verursachen damit 18% der Produktivitätsverluste. Informationen werden nur unzureichend weitergegeben und müssen immer wieder von unterschiedlichsten Stellen eingefordert werden. Solche Organisations- und Managerfehler verursachen mangelnde Arbeitsmoral. Damit werden ca. 78 Arbeitstage jährlich verschleudert. Führung ist aber Kommunikation. > Gespräche führen heißt Menschen führen
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und auch schrittweise verändern. Veränderungen bzw. Ziele lassen sich nur über Kommunikationsprozesse durchsetzen bei entsprechenden kommunikativen Umfeldbedingungen.
Kommunikation ist im beruflichen Bereich äußerst selten wirklich zweckfrei – es hat eine Funktion, nämlich Mitarbeiter in eine Richtung zu bewegen. Je besser die Führungskraft mit dieser Dynamik umgeht, umso erfolgreicher wird der Mitarbeiter sein und somit das Unternehmen. Um eine Unternehmenskultur wachsen zu lassen, die neben wirtschaftlichen Bedingungen und den sog »hard facts« auch emotional soziale Faktoren berücksichtigt, benötigen Unternehmen einen ganzheitlichen Managementansatz wie er z. B. im TQM gefordert wird.
14.4
Psychologisches Fachwissen in der Personalführung
Beispiel Der Chefarzt sagt zu seinem nach dem dritten Herzinfarkt genesenem Patient, er müsse seine Lebensweise ändern, wenn er noch länger leben wollte. Die Medikamente alleine würden ihm zwar kurzfristig helfen, aber ihn nicht von der Verantwortung befreien sich gesünder zu ernähren oder beruflich kürzer zu treten. Es läge nun in seiner Hand wie sein Leben weiter verlaufen würde. Der Arzt ist seiner Führungsaufgabe, den Patienten zu einer Verhaltensänderung anzuleiten, nachgekommen. Die Mühen des Veränderungsmanagements liegen beim Patienten selbst.
Vor einer vergleichbaren Aufgabe stehen viele Unternehmen im Gesundheitsbereich. Sie müssen sich den ständig ändernden Herausforderungen stellen und das Unternehmen entsprechend anpassen. Die Globalisierung und die Technologisierung lösen einen sehr schnellen Wandel aus. Heifetz u. Laurie (1997, S. 45) schreiben dazu: »Die schwierigste Aufgabe, die Unternehmensführer beim organisatorischen Wandel lösen müssen, besteht darin, die Mitarbeiter unternehmensweit für die Anpassungsarbeit zu mobilisieren.« Das Unternehmen wird scheitern, wenn es nicht gelingt, seine Arbeitsweise einem veränderten geschäftlichen Umfeld anzupassen. Aber die Menschen im Unternehmen dazu zu bringen, diese Arbeit zu leisten, ist nicht eben leicht. Heifetz u. Laurie nennen zwei Gründe (S. 46): ▬ Führungskräfte müssen ihre eigenen Verhaltensmuster aufgeben. In Organisationen die vor Anpassungsaufgaben stehen, wird das Lösen einer Aufgabe zu einer Verpflichtung für alle Mitarbeiter. Vielfach sind Führungskräfte aber in eine entsprechende Position gekommen, weil sie Antworten auf Fragen haben und bereit sind Verantwortung zu übernehmen. ▬ Anpassungsvorgänge lösen Beunruhigung aus, denn es müssen neue Aufgaben, Pflichten und Rollen erlernt werden. Viele Mitarbeiter sind dem Prozess gegenüber daher ambivalent
373 14.4 · Psychologisches Fachwissen in der Personalführung
eingestellt. Sie fragen sich, ob sich die Mühen lohnen werden. Viele Versuche, Unternehmen zu verändern – sei es u. a. durch Fusionen, Übernahmen oder Umstrukturierungen – scheitern, weil die Führungskräfte nicht ausreichend berücksichtigen, dass dazu zahlreiche Anpassungsschritte erforderlich sind. Dabei handelt es sich nicht um fachliche Probleme, die von willensstarken Führungskräften gelöst werden können, sondern es handelt sich um Lernschritte, die gemeinsam mit den Mitarbeitern gegangen werden müssen. Angemerkt sei, dass neben diesen »großen« Aufgaben die Anleitung von Lernprozessen auch in »kleinen« Bereichen von Bedeutung ist. Wenn unter Führung »verstehen und fördern von Mitarbeitern« verstanden wird, dann findet Lernen tagtäglich statt, sei es in Besprechungen, in Zielvereinbarungsgesprächen oder im Konfliktfall. Ein Unternehmen lebt und existiert durch seine Mitarbeiter. Entwickeln sich die Mitarbeiter weiter, tut dies auch das Unternehmen. Das eine bedingt das andere. In der Verantwortung der Führungskraft wird es liegen, ein Arbeitsumfeld zu gestalten, das ein lebenslanges Lernen ermöglicht. Dazu gehört es Fort- und Weiterbildungen zu initiieren, zu planen sowie Lehr- und Lernprozesse zu gestalten. > Basis zur Anleitung solcher Lernprozesse ist die Autorität im Fachlichen, Grundlegendes pädagogisches und psychologisches Wissen zur Gestaltung von Lernprozessen und die Reflexion der eigenen Person (Kerres 2002b).
Im Folgenden soll das Thema der Gestaltung von Lernprozessen schwerpunktmäßig betrachtet werden. Begonnen wird dazu mit methodisch-didaktischen Prinzipien für das Lernverhalten, die auf den Grundlagen der Mechanismen unseres Gedächtnisses basieren. Die Reflexion der persönlichen Lerngeschichte wird unter verschiedenen Gliederungspunkten immer wieder angesprochen. Auf die Aneignung des fachlichen Wissens wird im Rahmen dieses Artikels nicht eingegangen, allerdings wird die Bedeutung des fachlichen Wissens im Rahmen eines innovativen Unternehmens u. a. in Kap. 14.4.4 hervorgehoben.
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14.4.1 Die Gestaltung von Lernprozessen
»Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr« – diese Volksweisheit hat schon lange an Gültigkeit verloren. Schulisches Lernen und die entsprechenden Leistungen galten früher als Garant für eine gesicherte berufliche Zukunft. Doch mit zunehmender Technologisierung hat eine Wissensexplosion stattgefunden, die zu einer schnelllebigen Gegenwartskultur geführt hat und somit zu einer Entwertung des schulischen Wissens. Die berufliche Erstausbildung (Sacher 1999) dient als Einstieg in das Berufsleben, das Bestehen in der Profession kann damit allerdings nicht mehr gesichert werden. Was heute in den Hochschulen gelehrt wird, kann nach Abschluss des Studiums bzw. nach einigen Jahren in manchen Bereichen schon wieder veraltet sein. Somit muss die Volksweisheit neu formuliert werden: »Was Hänschen jetzt lernt, kann Hans zukünftig nur schlecht gebrauchen. Was Hans zukünftig braucht, kann Hänschen jetzt noch nicht lernen.« Gerade im Gesundheitsbereich war dies in den letzten 10 Jahren so. Immer wieder führten z. B. Gesetzesänderungen und -erneuerungen zu Handlungsunsicherheiten. Aufgabe der Hochschulen konnte und kann es demnach nur sein, die Studenten auf den schnellen Wandel der Zeit vorzubereiten (Kerres u. Seeberger 1998), den sie dann in ihrer beruflichen Managementposition entsprechend weiter ausgestalten. Zur Gestaltung dieser Prozesse, sowohl für den eigenen als auch für den Lernprozess der Mitarbeiter, ist methodisch-didaktisches Wissen hilfreich und notwendig. Was wird nun unter den Begriffen Methodik und Didaktik verstanden? Vom ursprünglichen Wortsinn her ist der Begriff Didaktik mehrdeutig zu verstehen: Das griechische »didaskein« bedeutet lehren, passiv lernen, substantivisch Lehre, Unterricht, Schule usw. In der Pädagogik wird bis heute der Begriff in unterschiedlichen Sinnzusammenhängen gebraucht. Ganz allgemein umfasst der Begriff »Didaktik« die Fragen nach der Sinngebung, den Zielen und Inhalten, während unter »Methodik« die Wege, Verfahren und Mittel des Lehrens und Lernens verstanden werden (Klafki, 1964). Traditionelle Didaktiken haben den Anspruch, für Lehrende als eine Art umfassendes
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Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
Steuerungsmittel zu fungieren. Dadurch suggerieren sie die illusionäre Hoffnung, dass sie einheitliche bzw. einheitsstiftende Antworten geben könnten auf unterschiedliche fachliche, didaktische und ausbildungsrelevante Fragen (Kerres u. Falk 1996a). In der derzeitigen erziehungswissenschaftlichen und berufspädagogischen Diskussion werden vielfältige didaktische Konzeptionen erörtert. Vor allem in der Berufspädagogik wird auf das Konzept der Handlungsorientierung und der Schlüsselqualifikationen zurückgegriffen (Meifort 1991). Schlüsselqualifikationen sollen befähigen, mit zukünftigen wechselnden situativen beruflichen Anforderungen umzugehen. Das Ziel von Schlüsselqualifikationen ist es, dass der Lernende nicht nur in der Lage ist, das Gelernte situationsspezifisch und flexibel anzuwenden, sondern dass er vielmehr sein Handlungsrepertoire aus einer in sich begründeten Synergie erweitern kann, also aus der Verknüpfung seiner bisherigen Fähigkeit mit neu gelernten Fähigkeiten zu weiteren Verhaltensalternativen zu gelangen (Kerres u. Seeberger 1998). Neben fachspezifischen werden berufsübergreifende und persönlichkeitsorientierte Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt. Dazu zählen u. a. die Verantwortungs- und Kooperationsfähigkeit, Flexibilität, Selbständigkeit, kommunikative Kompetenz, Planungs- und Problemlösungsfähigkeit, Kreativität und Lernbereitschaft.
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> Die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen verlangt veränderte didaktisch-methodische Konzepte. Es müssen auf Seiten der Theorie und auf Seiten der Praxis Rahmenbedingungen geschaffen werden, die ein selbständiges, selbstverantwortliches, planvolles und strukturiertes Lernen und Ausbilden ermöglichen.
Schlüsselqualifizierung ist ein entscheidender LernSchritt in der Persönlichkeitsentwicklung.
Kommunikative Kompetenz Kommunikative Kompetenz umfasst den professionellen Umgang mit Distanz und Nähe. Die Gestaltung einer professionellen Beziehung bedeutet, Begleiter von Ratsuchenden, kranken
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und alten Menschen zu sein bzw. in der Arbeitswelt die Gestaltung von Beziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter. Das erfordert einerseits Anteilnahme sowie die Bereitschaft sich einzulassen und sich mit der beruflichen – manchmal auch privaten – Lebens- bzw. Problemlage des anderen auseinanderzusetzen. Andererseits ist Abgrenzung und Distanzierung notwendig, um nicht von der Problemsituation des Mitarbeiters erdrückt zu werden (Kerres u. Falk 1996a).
Für die kommunikativen Lernarrangements heißt das, eine Lehr-Lernkultur zu gestalten, in dem die Selbsttätigkeit der Lernenden nicht Ziel des Lehrens ist, sondern seine Bedingung. Für die Führungskultur bedeutet dies: Führungskräfte und Mitarbeiter kommen als gleichberechtigte Partner im Arbeits- bzw. Lernprozess zusammen. Methodische Kompetenz der Führungskräfte wie z. B. der Einsatz von Metaplan- und Moderationstechnik helfen, dass sich der Mitarbeiter als gleichberechtigter Partner in den Arbeitsbzw. Lernprozess einbinden kann (Kerres u. Falk 1997). Der Mitarbeiter bleibt dabei für sein eigenes Lernen verantwortlich. Grundannahme ist, dass Lernen eine höchst individuelle, von biographischen Erfahrungen und individuellen Erwartungshaltungen geprägte Tätigkeit ist. Wenn Mitarbeiter sich für einen bestimmten Berufsweg entscheiden, dann ist diese Entscheidung auch lebensgeschichtlich motiviert. Lernprozesse sind immer Bestandteil der Lebensbiographie eines Menschen und haben Einfluss auf die weitere Lebens- und Lerngeschichte. Erfahrungen, die Menschen in der biographischen Entwicklung erworben haben, sind Anknüpfungspunkte für neue Lernprozesse im positiven wie im negativen Sinn. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass autonomes Lernen sich nicht im Einzelnen festlegen und vorausbestimmen lässt. Die Führungskraft vermag dem Mitarbeiter Lernangebote zu unterbreiten und angemessene Kontexte zu schaffen, in denen individuelles Lernen, das die ganze Person einbezieht, stattfinden kann. Die Annahme des Angebotes wiederum liegt in der Biographie des Mitarbeiters.
375 14.4 · Psychologisches Fachwissen in der Personalführung
14.4.2 Lernen in der Erwachsenenbildung
Mitarbeiter sind Erwachsene, daher müssen erwachsenengemäße Lehr-Lernformen gewählt werden. Will man sich die Besonderheiten zum Thema »Lernen in der Erwachsenenbildung« vergegenwärtigen ist es sinnvoll, die Besonderheiten der Lernfähigkeit Erwachsener zu kennen. Erwachsene verarbeiten den zu lernenden Inhalt dann besser, wenn sie Verknüpfungen zu bekanntem Wissen herstellen können. Dadurch nimmt die Verarbeitungstiefe zu. Ebenso ist die Anregbarkeit von Lernprozessen stärker vorhanden als bei Kindern, da ein Interesse an einem Thema besser geweckt werden kann. Im Alter nimmt allerdings die Menge des Lernstoffes im Vergleich zu Kindern ab, ebenso die Lerngeschwindigkeit. Die Lernintensität ist bei Kindern und Erwachsenen gleich stark ausgebildet, wenn das Interesse an dem zu lernenden Inhalt geweckt wurde. Weitere Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern zeigen sich im Zusammenhang zwischen einem Lernprozess und der geteilten Aufmerksamkeit. Kinder können im Gegensatz zu Erwachsenen auch dann gut lernen, wenn im Hintergrund Musik läuft. Zudem können Kinder auch auswendig lernen ohne den Sinn zu verstehen. Mit dem Lernen im Erwachsenenalter ist sehr oft eine Veränderung von Einstellungen verbunden, die mit Angst einhergehen und somit auch zu Widerstand führen kann. Die Aneignung von neuer Information ist oft leichter als die Veränderung von bestehendem Wissen. Insbesondere stößt eine Veränderung von Wissen dann auf Widerstand, wenn sie eng mit dem Selbstbild zusammenhängt oder in eine Gruppenmeinung hineinpasst. Wichtig ist daher beim Lernen, die »Lockerung eines Gedankengebäudes« herbeizuführen und nicht den Umsturz (Heckhausen 1980).
14.4.3 Pädagogische Aspekte
im Führungsverhalten Pädagogik und Führung – wie hängt das zusammen? Pädagogik definiert der Duden: Theorie und Praxis der Erziehung und Bildung. Pädagogik wird vielfach im Zusammenhang mit Unterricht assozi-
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iert. Betrachtet man diesen Teilaspekt, dann lehrt der Lehrer einer Gruppe von Schülern Inhalte, die im Curriculum festgelegt sind. Er führt die Gruppe zu Zielen, sei es der entsprechende Schulabschluss oder sei es als Teilziel von Schuljahr zu Schuljahr oder von Unterrichtsstunde zu Unterrichtsstunde. Angemerkt sei, dass der gesellschaftspolitische Auftrag für die Schulen auch im Bereich der Erziehung liegt, wenngleich für die Erwachsenenbildung in einem geringeren Ausmaß. > Unterricht verläuft zielorientiert. Dabei wird zwischen kognitiven, affektiven und handlungsorientierten Zielen unterschieden.
Dies gilt ebenso für Führungskräfte, auch deren Aufgabe ist es, Mitarbeiter zu Unternehmenszielen zu führen. Dabei wird zwischen inhaltlichen und persönlichen Zielen unterschieden. Hier wird als ein Mittel der Wahl (Methodik) das Zielvereinbarungsgespräch geführt, das eben auch persönliche Ziele festlegt. Die Führungskraft muss sich dazu z. B. vergegenwärtigen, welches Abteilungsziel erreicht werden soll. Um nicht an den Mitarbeiterbedürfnissen vorbei zu planen und zu handeln, ist es notwendig, diese in die Zielerreichung mit einzubeziehen. Wenn die Mitarbeiter nicht verstehen, warum ein Ziel und somit z. B. ein Thema, ein Projekt für das Unternehmen wichtig ist, kann keine themenspezifische Motivation und somit kein zielorientiertes Verhalten beim Mitarbeiter entstehen. Berufliche Bildung bzw. Lernen hat damit nicht nur etwas mit Fachwissen zu tun, sondern weist immer auch Komponenten von Persönlichkeitsentwicklung auf. Somit bringt fachliche Qualifizierung auch eine Erweiterung der persönlichen und sozialen Kompetenzen mit sich. Wenn durch die Zielvereinbarungsgespräche eine Reflexion der eigenen Kompetenzen stattfindet und damit einhergehend entsprechende Lernprozesse initiiert werden, wird Lernen zu einem selbstverantwortlichen beruflichen Handeln, das nicht von der Person unabhängig betrachtet werden kann. Berufspädagogische Professionalisierung wird demnach verstanden als eine lebenslange Auseinandersetzung mit ▬ sozialen, ▬ kognitiven, ▬ personalen,
376
Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
▬ intuitiven und kreativen Dimensionen der persönlichen berufsbiographischen Entwicklung (Sacher 1999, S. 104).
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Aus diesem Grund sollte eine Rolle im Führungsverhalten die pädagogischen Aspekte im Rahmen der Mitarbeiterführung beinhalten. In vielen Unternehmen gibt es dazu Konzepte wie z. B. Training on the job oder Training near the job. Hier wird der Lernerfolg in Beziehung zur konkreten Arbeitsrealität des Mitarbeiters gesetzt. Die zukünftigen Diplom-Pflegewirte werden im Gesundheitssystem in sehr unterschiedliche Arbeitsfelder treten: Angefangen bei Versicherungen, Unternehmensberatungen, Fort- und Weiterbildungszentren in der Industrie bis hin zum klassischen Arbeitsplatz in einem Krankenhaus. Sie müssen vielfach im Team arbeiten oder Projekte leiten. Sie vermitteln Wissen, sollen Inhalte überzeugend darstellen, Mitarbeiter motivieren, neue Technologien einführen, Mitarbeitergespräche führen usw. Immer wird kommuniziert mit dem Blick auf ein spezifisches Ziel. Vergleichbares gilt für die Didaktik ( Kap. 14.4.1). Im Mittelpunkt der Didaktik stehen die Fragen: Wer soll Lernen? Was soll gelernt werden? Wie soll gelernt und gelehrt werden? Wie soll der Lernende gefördert, geprüft und bewertet werden? Didaktische Leitfragen helfen Lernprozesse entsprechend der Zielvorgaben zu initiieren. Im Bereich der angesprochenen Führungsprozesse können Leitfragen auch bei der Vorbereitung eines Lern- oder Anpassungsprozesses hilfreich sind. Die nachstehend aufgelisteten Fragen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Leitfragen zur Gestaltung von Lernprozessen bei Mitarbeitern
▬ Personenbezogene Fragen
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– Welchen Erfahrungshintergrund bringt der Mitarbeiter für das Thema mit? – Was sind seine Stärken bei dem Thema? – Wie kann er unterstützt werden diese Stärken weiter auszubauen? – Wie können seine Schwächen ausgeglichen werden?
– Gibt es Widerstände bei dem Thema und wenn ja warum? ▬ Fachliche Fragen – Warum und für welchen beruflichen Zusammenhang soll der Mitarbeit etwas über das Thema (z. B. Umsetzung von QM-Strategien) lernen? – Was ist Wichtig und was Unwichtig für den beruflichen Zusammenhang? – Was ist fachlich unbedingt erforderlich, um das Thema, den Gegenstand, das Problem richtig, angemessen und fachlich vertretbar anzubieten? – Lassen sich anschauliche Beispiele finden? – Wieso ist das Thema für die Mitarbeiter an ihrem Arbeitsplatz wichtig? – Was lernen die Mitarbeiter vermutlich leichter, was schwerer, schneller, wo werden sie eher gefordert? – Was ist mir vom Kenntnisstand der Mitarbeiter zum Thema bekannt? – Gibt es bei den Mitarbeitern ein besonderes Interesse am Thema? Welches ist das? Und Warum? Was kann ich daher kürzer/länger behandeln? – Welches Material habe ich zur Verfügung? – Welches Interesse hat die Institution an dem Thema? – Welche Rahmenbedingungen sind durch die Organisation vorgegeben? ▬ Zielorientierte und strukturelle Fragen – Was soll erreicht werden? – Auf welcher Ebene soll sich der Lernprozess bewegen (emotionale, kognitive oder auf der Handlungsebene)? – Mit welchem Gewicht und welcher Intensität soll das Thema behandelt werden? – Welche anderen Abteilungen sind bei dem Thema involviert? – Welche Inhalte können von welcher Abteilung umgesetzt werden?
Basierend auf Grundlagen der Lern- und Gedächtnispsychologie (Kerres 2001) ergeben sich u. a. nachfolgend erläuterte Konsequenzen für das Verhalten der Führungskraft.
377 14.4 · Psychologisches Fachwissen in der Personalführung
▬ Selbstverantwortliches Arbeiten: Der Lernende ist für seinen Lernprozess selbst verantwortlich. Die Führungskraft kann die Eigenständigkeit des Lernens durch den Einsatz von spezifischen erwachsenengerechten Methoden fördern, ebenso wie durch transparente Zielsetzungen und Sinngebungen (Didaktik). ▬ Mit der Erfahrung arbeiten. Erwachsene sind motiviert, wenn sie neues Wissen mit bekanntem verknüpfen können. Lernen ergänzt und differenziert vorhandene kognitive Strukturen. Wird Neues gelernt, müssen die Verwendungssituationen für die Lerninhalte einsichtig sein. ▬ Mit den Mitarbeitern planen. Die Führungskraft muss sich vergegenwärtigen, welches Ziel erreicht werden soll. Um nicht an den Mitarbeiterbedürfnissen vorbeizuplanen und zu handeln, ist es notwendig, diese mit einzubeziehen. Wenn die Mitarbeiter nicht verstehen, warum ein Thema, ein Projekt für das Unternehmen wichtig ist, kann keine themenspezifische Motivation entstehen. ▬ Die Mitarbeiter da abholen, wo sie stehen. Förderung von Lernprozessen muss an dem Erfahrungshorizont der Mitarbeiter anknüpfen und darauf aufbauen. Unterforderung bereitet Langeweile, Überforderung weckt Ängste und entmutigt. ▬ Förderung der sozialen Einbindung. Der Mensch ist ein soziales Wesen und Lernen ist ein sozialer Vorgang. Team- oder Projektarbeit fördert die Selbständigkeit und die Motivation der Lernenden und trägt zur Verbesserung der sozialen Kompetenzen, der Kommunikation und Kooperation bei. ▬ Für den »roten Faden« in der Kommunikation sorgen. Können Mitarbeiter im Rahmen von Lernprozessen die Fragen Was? Warum? Wozu? Wohin? Womit? beantworten, fördert dies die Lernbereitschaft. Dadurch wird die Transparenz von Gesprächen erhöht. Dies ist insbesondere bei Beurteilungsgesprächen von besonderer Wichtigkeit. ▬ Gebrauch einer verständlichen Sprache. Die verwendete Sprache kann Distanz und Nähe zwischen Mitarbeitern und Führungs-
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kraft erzeugen. Kurze, knappe Sätze verbunden mit der entsprechenden Fachsprache stellen eher eine Nähe her als eine Sprache, die man weder gesprochen noch geschrieben versteht. ▬ Für ein positives soziales Klima sorgen. Ein entspanntes und angstfreies Klima begünstigt die Lernbereitschaft. Angst und Aggressivität blockieren Lernprozesse. Dazu gehört es auch, sich z. B. mit Fragen der Raumgestaltung, des Settings zu beschäftigen. Lernwiderstände, Gruppenkonflikte, Probleme u. ä. sind u. a. mit Hilfe von Regeln der Themenzentrierten Interaktion zu klären.
14.4.4 Die Gestaltung von Lernprozessen
– eine Führungsaufgabe der Zukunft Die Vorstellung, später in einem Krankenhaus für 200 Mitarbeiter verantwortlich zu sein, versetzt viele Studenten am Anfang des Studiums in Angst und Schrecken. Wie kann das gehen? Besitze ich genügend Autorität, Wissen und Macht, um der Aufgabe gerecht zu werden? Das Thema Motivation ist für viele eine »Zauberthema«. Umso ernüchternder ist es dann, wenn die Aussage Sprengers (1997) zur Diskussion gestellt wird, dass Motivation die Sache des Einzelnen ist. Ihr Freiraum zu geben ist Sache der Führung – genauso wie die Gestaltung dieses Freiraumes, in dem eine persönlichkeitsspezifische Entwicklung möglich ist. Grundlage dafür sind Lernprozesse, über die der Vorgesetzte theoretisch im Bilde sein sollte (pädagogisches und psychologisches Wissen), um als Modell fungieren zu können. Sowohl Vorgesetzter als auch Mitarbeiter verfügen über spezifische Lernerfahrungen, die sich auch auf die Gestaltung von Lernprozessen auswirken, und somit die Lernkultur prägen. In Zeiten der Veränderung ist eine Bewusstmachung dieser Kultur von Bedeutung, um ein positiv verlaufendes Veränderungsmanagement gestalten zu können. Durch das Lernen am Modell des Vorgesetzten werden sowohl Erfolgsfaktoren weitergegeben als auch möglicherweise die persönliche Ohnmacht des Vorgesetzten beim Mitarbeiter verinnerlicht. Dies spiegelt sich in emotionalen Verhaltensweisen wie z. B. Angst oder Resignation wider.
378
Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
Herrscht einmal in einem Unternehmen die Lernkultur, persönliche und fachliche Weiterentwicklung ist nicht erwünscht, sondern es sind dies eher inaktive und »folgsame« Mitarbeiter, dann ist es schwer diese Einstellung durch neue positive Erfahrungen zu verändern. Die »alte Erfahrung« ist emotional stark besetzt und somit gut im Langzeitgedächtnis gespeichert. Eine Reflexion der eigenen Lernerfahrung bzw. der Lernkultur im Unternehmen ist daher zwingend notwendig, wenn Veränderungen und/ oder Innovationen notwendig werden. Innovationen entstehen durch Wissensvorsprung. Führungskräfte bzw. ein Unternehmen muss lernen, den Wissensvorsprung, der durch Lernprozesse entsteht, zu Wettbewerbsvorteilen zu nutzen (Graf 1997). Dazu ist es notwendig, einen veränderten Umgang mit der Ressource Wissen zu schaffen. Nach Probst und Raub (zitiert nach Graf 1997) sind dazu acht Aspekte besonders wichtig, die die Grundlage eines ganzheitlichen Wissensmanagement darstellen.
Acht Aspekte des ganzheitlichen Wissensmanagement
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1) Wissensidentifikation: Lokalisierung der Wissensquellen im Unternehmen, um es anderen Mitarbeitern transparent und zugänglich zu machen. 2) Wissenserwerb: Suche nach den geeigneten Möglichkeiten, die Wissensbasis eines Unternehmens durch externe Quellen zu erweitern. 3) Wissensentwicklung: Maßnahmen zur gezielten Förderung und systematischen Weiterentwicklung des internen Wissens. 4) Wissensverteilung: Koordination wissensrelevanter Aktivitäten und Sicherstellung des Transfers von Wissen über Abteilungsgrenzen hinweg. 5) Wissensbewahrung: Instrumente und Maßnahmen, um den Verlust von Wissen zu vermeiden. 6) Wissensnutzung: Förderung der Teilung und Anwendung des Wissens.
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7) Wissenscontrolling: Maßnahmen zur Steuerung und Messung der operativen Aspekte und der damit verbundenen Lernprozesse. 8) Wissensziele: Kompetenzen und Maßnahmen, die notwendig sind, um die Unternehmensziele zu erreichen.
Sollen im Rahmen der Führung diese Prozesse initiiert werden, dann heißt Führung ein Management der Menschlichkeit, im Rahmen dessen es gilt, sich diese Prozesse bewusst machen, die einen selber, die Mitarbeiter und das Unternehmen diesbezüglich geprägt haben. Führung heißt dann Wachstum zulassen und fördern. Dann ist Innovation im Sinne einer lernenden Organisation auch möglich.
14.5
Gestaltung der Personalentwicklung als ein Baustein der Personalführung
Jedes Unternehmen ist Veränderungen unterworfen, seien sie gesetzlicher, gesellschaftlicher oder personeller Art. Diesen Anforderungen gilt es gerecht zu werden über entsprechende Maßnahmen. Wer seine Mitarbeiter nicht ständig weiterbildet, nimmt schon bald nicht am Lernen der Organisation teil. Bildung heißt den Menschen ganzheitlich zu erfassen und entsprechend ganzheitlich zu bilden. In der aktuellen Bildungsdiskussion wird berufliche Bildung daher nach Gonschorrek (2002, S. 162) in drei Richtungen weiterentwickelt: ▬ Sie vermittelt Kompetenzen für zusammenhängende Teilbereiche beruflicher Leistungen und beruflichen Verhaltens. ▬ Sie steigert das Anspruchniveau, das Niveau auf dem es gelingen kann, Komplexität wirksam zu reduzieren. ▬ Sie vermittelt vielfach verwendbare Schlüsselqualifikationen, die in möglichst vielen Anforderungsbereichen die Funktion einer Kernkompetenz besitzt. Personalentwicklungsmaßnahmen sind zukunftssichernde Maßnahmen, die eine verbesserte Qua-
379 14.5 · Gestaltung der Personalentwicklung als ein Baustein der Personalführung
lifikation der Mitarbeiter für betriebliche Aufgaben zum Inhalt haben. Dabei geht es sowohl darum, den Stand zu sichern wie auch auf zukünftige Aufgaben vorzubereiten. Personalentwicklung (PE) ist somit keine isolierte Aufgabe, sondern muss als »Querschnittsfunktion aufgefasst werden.« (Neuberger 1994, S. 157). Nach Neuberger hinterlassen alle betrieblichen Gestaltungsmaßnahmen im Personal Spuren. Es prägt sich in die Unternehmensgeschichte, in die Überlieferung ein, wie mit Personal in einem Unternehmen umgegangen wird. Solche konfliktreichen Prozesse bleiben lange in der Erinnerung der Mitarbeiter, selbst wenn eine neue Kultur geschaffen wurde. Auch apersonale Maßnahmen, wie z. B. das Absetzen eine Besprechung oder die Einführung von Mitarbeitergesprächen, sagt etwas über die Bedeutung und den Stellenwert von Mitarbeitern aus. Ziele von geplanten Maßnahmen der Personalentwicklung sind es, für künftige Aufgaben gerüstet zu sein, qualifizierte Mitarbeiter an das Unternehmen zu binden und zufrieden zu stellen, das Image des Unternehmens auf dem Personalmarkt zu verbessern oder innerbetriebliche Konflikte durch Erfüllung von Forderungen z. B. des Betriebsrates oder der Gewerkschaft zu reduzieren oder gar zu vermeiden. Eine Priorisierung betrieblicher Ziele heißt dabei keineswegs, dass Zielvorstellungen des Einzelnen verletzt oder unberücksichtigt bleiben müssen. Gerade auf dem Feld der Personalentwicklung ist Zielkongruenz vermutlich sehr häufig. Einerseits legt der Betrieb großen Wert darauf, die zukünf-
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tigen Aufgaben zu meistern. Andererseits liegt dies sicherlich auch im Interesse des einzelnen Mitarbeiters, diesen Aufgaben gewachsen zu sein. Nur so entstehen berufliche Zufriedenheit, sowie Möglichkeiten zur Karriereplanung. D. h. hier geht um es die Passung von Prozessen. Somit wird Personalentwicklung auch als Anreiz für die Personalbeschaffung im Rahmen der Qualitätspolitik gesehen. > Personalentwicklung ist daher eine notwendige, keinesfalls aber eine hinreichende Bedingung für unternehmerischen Erfolg.
Im Folgenden sollen kurz die Schritte im Rahmen der klassischen Personalentwicklung aufgezeigt werden, die zur Feststellung des Bildungsbedarfs führen. Danach wird auf die Bedeutung der Frauen (Gender Mainstream, Kap. 14.5.2) sowie auf die interkulturellen Besonderheiten (Diversity Management, Kap. 14.5.3) in der Personalentwicklung und Personalführung aufmerksam gemacht.
14.5.1 Erster Schritt des PE-Prozesses: Die
Personalbildungsbedarfsermittlung Unter Personalbildungsbedarfsermittlung versteht man landläufig den Bildungsbedarf der im Unternehmen arbeitenden Mitarbeiter zu eruieren. Dieser personelle Zugang soll auch im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Apersonale Maßnahmen lassen sich im Bereich Organisationsentwicklung finden. In ⊡ Tabelle 14.1 werden einige Beispiele
⊡ Tabelle 14.1. Beispiele für konzeptionsloses Handeln Bedarfsermittlungsmethode
Rollenverständnis des Bildungsverantwortlichen
Oder auch ...
Was möchten Sie, wir liefern
Bildungswesen Christkind
Abfrage und Befriedigung subjektiver Wünsche und Bedürfnisse
Wie bieten an, greifen Sie zu – Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!
Bildungswesen als Verkäufer mit Bauchladensortiment
Angebot einer Seminarpalette und Bedarfsermittlung durch die Zahl der Buchungen
Kamillentee / Verhaltenstraining hilft bei jeder Krankheit
Bildungswesen als Wunderheiler
Standardisierte Programme, die zu durchlaufen sind
380
Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
für konzeptionslose Vorgehensweisen und ein vermutetes dahinterstehendes Rollenverständnis des entsprechenden Bildungsverantwortlichens vorgestellt. Wird Bedarfsermittlung als Problemlöseprozess angesehen, dann kann diese nach Neuberger (1994, S. 161) wie folgt definiert werden:
»
Bedarf ist ganz allgemein eine Lücke oder Abweichung, eine Diskrepanz zwischen Ist und Soll. Erst wenn beide Größen bestimmt sind, kann man von Bedarf reden – woraus ersichtlich wird, dass die Definitionsmacht eine buchstäblich entscheidende Voraussetzung für PE-Maßnahmen ist.
▬ Hochstrukturierte Fragebögen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten. ▬ Checklisten. ▬ Schwachstrukturierte Fragebögen. ▬ Gruppendiskussionen. Ziel ist es, Aussagen über die Qualifikation der Mitarbeiter treffen zu können, die ggf. verändert werden sollen. Dabei muss im Hinterkopf die Frage stehen bleiben, wer hat eine solche Aktion durchgeführt; entsprechend werden die Inhalte ausfallen.
14.5.2 Zweiter Schritt des PE-Prozesses:
Die Bedarfsdeckung Domsch beschreibt die in ⊡ Tabelle 14.2 dargestellte Möglichkeiten einer partizipativen Bildungsbedarfsermittlung. Allgemein kann man sagen, dass es durch eine Reihe von Zugängen möglich ist, den Bedarf festzustellen: ▬ Befragung von Experten oder Betroffenen; dabei kann u. a. zwischen mündlichen, schriftlichen, strukturierten, teilstrukturierten, regelmäßigen, bei Bedarf, gezielten oder allgemeinen Varianten unterschieden werden.
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Ist der Bedarf festgestellt, kann der Prozess der Bedarfsdeckung eingeleitet werden. Es ist durchaus möglich, dass aus finanziellen Gründen der Bedarf nicht gedeckt werden kann oder aus ideologischen, politischen oder strategischen Gründen auch nicht gedeckt werden soll. Es schließt sich also ein eigenständiger und durchaus problembeladener Prozess an. Nimmt man den Prozess der Bedarfsdeckung ernst, dann darf es Äußerungen wie »Jeder macht
⊡ Tabelle 14.2. Möglichkeiten einer partizipativen Bildungsbedarfsermittlung. (zitiert nach Neuberger 1994, S. 166) Methode
Vorgehen
Bedarfsplanung mit Hilfe gemeinsam erarbeiteter oder vorgegebener Lernzielkataloge
Erstellung eines detaillierten Lernzielkatalogs mit Beteiligung der betroffenen Mitarbeiter und Festlegung von Prioritäten. Die Basis dazu ist i. d. R. eine Arbeitsplatzbeschreibung oder dergleichen.
Bedarfsplanung auf der Basis kritischer Vorfälle
Schilderung von gewesenen positiven oder kritischen Ereignissen. Selbstanalyse durch die Mitarbeiter und Empfehlung gezielter Bildungsmaßnahmen.
Bedarfsplanung mit Hilfe gegenseitiger Interviews
Vorbereitung des Interviews und des Erfassungsbogens/Schulung in Interviewtechnik Mitarbeiter mit vergleichbaren Tätigkeiten sprechen über ihre Tätigkeit und Bildungsbedürfnis
Bedarfsplanung mit Hilfe von Beurteilungs- und Förderungsgesprächen
Gespräche zwischen vorgesetzten und Mitarbeitern über bisherige Zeit und zukünftige Anforderungen und Entwicklungschancen. Gemeinsame Erarbeitung von konkreten Bildungsmaßnahmen
Bedarfsplanung mit Hilfe von Mitarbeiterbefragungen
Entwicklung eines Fragebogens zur Erfassung des Bildungsbedarfs
381 14.5 · Gestaltung der Personalentwicklung als ein Baustein der Personalführung
ein Moderationstraining mit, denn das schadet auf keinen Fall« nicht mehr geben. Denn dadurch werden individuelle Unterschiede und Bedürfnisse wieder nivelliert und den Prozess der Bedarfserhebung hätte sich das Unternehmen ersparen können. Als Beispiel für Methoden der Personalbedarfsdeckung lassen sich alle gängigen Bildungsmaßnahmen nennen. Man kann davon ausgehen, dass eine Maßnahme umso wirkungsvoller ist, je mehr Perspektiven (personal, apersonal, interpersonal) bzw. umso mehr Lernebenen (emotional, kognitiv) sie integriert. Prinzipiell gilt: Es gibt nicht die Methode. Ebenso unmöglich ist es, für alle Methoden ein entsprechendes Anforderungsprofil zu erstellen, um so eine Gegenüberstellung Bedarf – Methode zu ermöglichen. Die Güte einer Personalentwicklungsmaßnahme ist also von einer Vielzahl von Kriterien abhängig und kann immer nur bezogen auf das vorher festgelegte Ziel bewertet werden.
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selbsterarbeitete Beurteilungsbögen evaluiert. Da wird der Trainer, die Teilnehmerunterlagen, die Bildungsstätte, das Essen usw. anhand von Skalen beurteilt. Die Auswahl der Fragen erscheint oft willkürlich und unsystematisch, wenig am tatsächlichen Bildungsziel ausgerichtet. Was passiert dann mit den Ergebnissen? Welche Konsequenzen haben die Auswertungen? Wem werden die Ergebnisse mitgeteilt?
Mögliche Fragen zur Evaluation einer Veranstaltung
▬ Wie beurteilen Sie die fachliche Kompetenz des Referenten?
▬ Wie beurteilen Sie die methodischen Kompetenzen des Referenten?
▬ Wie fanden Sie die Präsentation der Inhalte?
▬ Sind die Inhalte verständlich dargestellt worden?
▬ Konnte ein ausreichender Praxisbezug hergestellt werden?
14.5.3 Dritter Schritt des PE-Prozesses:
Die Evaluierung
▬ Haben Ihnen Inhalte gefehlt? ▬ Waren Sie mit den Teilnehmerunterlagen zufrieden?
Nach der Bedarfsdeckung, d. h. nach der Durchführung entsprechender Maßnahmen, erfolgt die Evaluierung derselben. Nach Wottawa und Thierau (zitiert nach Thierau-Brunner et al. 1999, S. 261) sind die wichtigsten Kennzeichen von Evaluierung folgende: ▬ Evaluation dient als Planungs- und Entscheidungshilfe und hat daher mit der Bewährung von Handlungsalternativen zu tun. ▬ Evaluation ist ziel- und zweckorientiert. Sie hat primär das Ziel, praktische Maßnahmen zu überprüfen, zu verbessern oder sie zu entscheiden. Ihr Zweck liegt in der Handlungsoptimierung. ▬ Evaluation sollte dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Techniken und Forschungsmethoden angepasst sein. Bildungsevaluierung ist bedingt durch die Ressourcenknappheit ein zunehmend wichtiger gewordenes Thema, aber leider auch ein unbeliebtes! Viele Seminare werden durch standardisierte,
▬ Waren Sie mit der Unterbringung zufrieden? Die Beantwortung der Fragen erfolgt vielfach über eine Notenskala.
Viele Dozenten schauen sich die ausgefüllten Fragebögen direkt nach der Rückgabe durch die Teilnehmer an. Eine systematische Auswertung findet allerdings selten statt, so dass dann Aussagen gemacht werden könnten, wo der einzelne Referent im Vergleich zu den anderen Referenten steht. Welchen Sinn hat dann Evaluation? In neueren Konzepten tritt die Beurteilung der Referenten in den Hintergrund und die Selbstevaluierung kommt mehr in den Mittelpunkt. Es findet darüber hinaus auch eine Einschätzung der eigenen Person sowohl zu Beginn einer Veranstaltung, nach jedem Tag und nach dem Ende der Veranstaltung statt, um den Lernzuwachs individuell erfassen zu können.
382
Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
Beispiel Beispiele für Evaluierungsbögen (in Anlehnung an Neuberger 1994)
▬ Evaluierung nach jedem Seminartag (Auszug) Formulieren Sie bitte das Ziel für den heutigen Tag. Wie weit wurde dieses Ziel erreicht? Warum nicht ganz? Wie gut war das Thema für die Gruppe? Wie aktiv waren Sie heute selber? wenig |_____________________| sehr ▬ Evaluierung nach Seminarende (Auszug) Was sind positive Erlebnisse des Seminars? Was waren negative Ereignisse? Welche Veränderungen haben Sie über den Seminarverlauf an sich festgestellt? Welche Konsequenzen möchten Sie aus der Teilnahme an dem Seminar ziehen?
14.5.4 Vierter Schritt des PE-Prozesses:
oder der Strategie auf die Aufgabenerfüllung am Arbeitsplatz. Der Transfernachweis ist methodisch schwierig und daher auch ein Stiefkind. Der Transfernachweis erfordert Mehrpunktmessungen, mindestens ein Prä-Post-Design, idealerweise ein Zeitreihendesign. Ein Versuch-Kontrollgruppendesign ist wünschenswert. Es ist ein hoher Zeitaufwand erforderlich, das Neuerlernte auch im Arbeitsplatz umzusetzen. Der Transfer ist umso leichter, je mehr die vorher angewandte Methode den Einzelnen bereits involviert hat (Projektarbeit vs. Vortrag). Das Transferproblem sollte in einem Seminar thematisiert werden z. B. durch Rollenspiele. Dabei simulieren Teilnehmer die Situation »Zurück am Arbeitsplatz« und konfrontieren sich und die Anderen nicht nur mit erwarteten befürchteten Problemen, sondern entwickeln gleichzeitig auch Strategien, wie sie damit umgehen können. Eine andere Möglichkeit die Transferproblematik anzugehen sind Selbstkontrakte und Transferplanungen, die zu Seminarende ausführlich besprochen werden (⊡ Tabelle 14.3).
Der Transfer 14.6
14
Zum Schluss eines PE-Prozesses steht der Transfer. Darunter versteht man die Übertragung des Gelernten auf den Arbeitsplatz. Vor dem Hintergrund kurzlebiger Qualifikationen, sich schnell verändernder Arbeitsanforderungen stellt der Lerntransfer eine kritische Erfolgsgröße in der betrieblichen Bildung dar. Nach Bergmann u. Sonntag (1999) ist das Hauptziel einer Weiterbildungsmaßnahme nicht das Erlangen einer hohen Zuwachsrate an Wissen während des Lehrganges, sondern das Übertragen des erworbenen Wissens, Verhaltens
Personalentwicklung unter dem Blickwinkel der GenderMainstream-Diskussion
Gender Mainstreaming ist ein Konzept mit europäischem Ursprung. Mit dem Begriff »gender« wurde in den 70er und 80er Jahren das soziale Geschlecht und mit dem Begriff »sex« das biologische Geschlecht bezeichnet. Die Bezeichnung »gender« verweist darauf, dass es sich hierbei um etwas handelt, dass historisch-gesellschaftlich hervorgebracht wird und beständig neu hervor-
⊡ Tabelle 14.3. Selbstkontrakt und Projektplanungsbeginn. (angelehnt an Neuberger 1994) Aktionsplan Dieses Thema will ich anpacken
1. 2.
Ab
Wer kann mir dabei helfen?
Wessen Okay brauche ich dazu
Wer soll mir sagen welche Fortschritte ich mache?
Mit dem Ergebnisse der Aktion bin ich nach 3 Monaten zufrieden
383 14.6 · Personalentwicklung unter dem Blickwinkel der Gender-Mainstream-Diskussion
gebracht werden wird. Der Begriff bezieht sich demnach auf eine kulturelle Konstruktion des Geschlechtes (Krell et al. 2001, S. 59 ff.). Mainstream(ing) bedeutet Hauptstrom. Man kann z. B. als Wissenschaftlerin im Strom schwimmen, ein Nischendasein führen oder gegen den Strom schwimmen. Vieles wird im Alltag als geschlechtsneutral dargestellt. Fakt ist aber auch, dass viele Regelungen im Alltag das nicht sind bzw. eindeutig männlich ausgelegt sind (z. B. Arbeitszeiten, Abendtermine, Besetzung von Stellen). Das liegt vielfach im Nicht-Wahrnehmen-Wollen von Unterschieden bzw. im Nicht-Wahrnehmen-Wollen von Realität. D. h. der Mainstream ist männlich dominiert. Hier setzt das Konzept des Gender Mainstreaming an, nämlich diesen Hauptstrom zu verändern, umzuleiten. Ziel des Konzeptes ist es, tatsächliche Gleichheit zwischen den Geschlechtern herzustellen und zwar auf allen Ebenen, wobei damit nicht alle Personen über einen Kamm geschert werden sollen. Gleichheit heiß die unterschiedlichen Bedingungen wahrzunehmen und bei der politischen Gestaltung zu berücksichtigen. Gleichstellung heißt nicht Frauenförderungsprogramme zu initiieren, die wiederum Frauen als ein defizitäres Wesen sehen. Gleichheit heißt, Veränderung von Politik und Verwaltung mit dem Ziel, allen Mitgliedern der Gesellschaft eine Entwicklung und Entfaltung zu ermöglichen, die ihren Voraussetzungen und Möglichkeiten entspricht (Tondorf u. Krell 2001). Dieser Ansatz hat ökonomische Vorteile: ▬ Das Beschäftigungsstruktur-Argument. Der Frauenanteil in der Gesellschaft nimmt zu. Es ist daher nicht angemessen sich in der Personalpolitik am männlichen Normalarbeitgeber zu orientieren. In einem von Frauen dominierten Beruf dann schon gar nicht. ▬ Das Kosten-Argument Jegliche Art der Diskriminierung verursacht Kosten (Demotivation, Mobbing, Krankheit). D. h. dass eine optimale Nutzung der Mitarbeiter als Ressource die Kosten senkt bzw. dass die Umsetzung einer Gender Mainstreaming orientierten Personalpolitik die Kosten senkt. ▬ Das Kreativitäts- und Problemlösungsargument. Gemischt zusammengesetzte Gruppen sind kreativer und kommen zu tragfähigeren Problemlösungen.
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▬ Das Marketing-Argument. Wer ist in vielen Bereichen der Kunde? Gerade in Bereichen, in denen die Frau der Kunde ist, sollten die Teams gemischtgeschlechtlich zusammengesetzt werden um so den Bedürfnissen dieser Personengruppe besser gerecht werden zu können. ▬ Das Personalmarketing-Argument. Organisationen, die Gender Mainstreaming praktizieren und somit Chancengleichheit anstreben, haben Vorteile auf dem Arbeitsmarkt, v. a. im öffentlichen Dienst. Denn gerade hier ist das Entgelt im Vergleich zur Privatwirtschaft deutlich geringer, so dass eine chancengerechte Personalpolitik ein wichtiger Kompensationsfaktor sein kann. ▬ Das Systemflexibilitäts-Argument. Bestimmt eine spezifische Personengruppe eine Organisation, dann führt dies zu einer Art Monokultur. Diese wiederum, so sagen die Organisationskulturforscher, sind extrem änderungsresistent. Die Integration von Randgruppen erhöht die Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit. ▬ Das Modernisierungs-Argument. Frauen sind Bündnispartner im Modernisierungsprozess eines Unternehmens. ▬ Das (Wieder-)Wahlargument. Die Orientierung einer Politik an einer Gender Mainstreaming Ausrichtung kann zu einer höheren Popularität führen und somit zu einer Wiederwahl in einem Amt. Unternehmen, die sich dieser Punkte tatsächlich angenommen haben, haben in Befragungen festgestellt, dass das Betriebsklima sowie die Nutzung des Humanpotentials zur Erschließung neuer Märkte durch eine verbesserte Kundenorientierung und zu einer Stärkung der Wettbewerbsposition geführt haben. Im Folgenden soll die Umsetzung dieser eben dargestellten Argumente in die Personalpolitik anhand eines Sechs-Schritte-Modells vorgestellt werden. 1) Definition der gleichstellungspolitischen Ziele.
Im ersten Schritt muss der Sollzustand beschrieben werden, der durch eine entsprechende Politik
384
Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
erreicht werden soll. Solche Ziele lassen sich auf der Grundlage aller einschlägigen Rechtsnormen, Programme, Leitlinien sowie der Definition des augenblicklichen Ist Zustandes am besten formulieren. Grundsätzlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass außer den Verantwortlichen die Mitarbeiter (z. B. in einem Krankenhaus) wirklich über diese Themenbereiche informiert sind. Es ist auch zu vermuten, dass das Bewusstsein zu einem solchen Thema möglicherweise auch im Gesundheitsbereich noch geweckt werden muss. Die Pflege ist ein Frauenberuf, ein Helferberuf, in dem sich die Mitarbeiter über die Chancengleichheit eher selten Gedanken gemacht haben. Es entspricht nicht unbedingt ihrer Sozialisation. Erst durch die Studiengänge bzw. durch die Berufsverbände kommen solche Themen mehr zu den Mitarbeitern. Betroffene Frauen erfahren leibhaftig, was Chancengleichheit bedeutet. Die Strukturen sind von anderen – eher männlich dominierten – Berufsgruppen (Ärzten, Betriebswirten) gemacht worden. D. h. Chancengleichheit ist in dem Zusammenhang auch berufsgruppenübergreifend zu verstehen. Probleme gibt es nicht nur in der eigenen Berufsgruppe, sondern auch bezogen auf andere Berufsgruppen, die die Strukturen für sich selbst machtvoll generiert haben. Anders gesagt »kämpfen« hier Frauen auf zwei Fronten. 2) Analyse der Probleme und der Betroffenen.
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Hierbei geht es um zwei Fragen. Zum einen wird der Frage nachgegangen, welches sind die Hemmnisse auf dem Weg zu mehr Chancengleichheit? Hierbei geht es um das Aufspüren von diskriminierenden Regeln, Prozessen, Praktiken, die Frauen bzw. Männer benachteiligen (z. B die Anzahl der weiblichen/männlichen Führungskräfte, das Personalauswahlverfahren, das in erster Linie männliche Eigenschaften enthält). Zum anderen geht es um die Frage: Welche Gruppen sind von der Benachteiligung betroffen? Dabei kann es sich neben Frauen auch um spezifische Nationen (Diversity Management, Kap. 14.7) handeln. Überträgt man die Inhalte auf den Gesundheitsbereich, lauten die Fragen: Was sind die Hemmnisse für Chancengleichheit hier? Welche Gruppen von Mitarbeitern werden benachteiligt? Eine Antwort auf die zweite Frage lautet: Wel-
che Statistik man auch liest, sie zeigen immer, dass Frauen in Unternehmen als Führungskräfte ab einer gewissen Ebene unterrepräsentiert sind (⊡ Tabelle 14.4 und ⊡ 14.5). Im Jahre 2000 waren etwa 85% der Teilzeitbeschäftigten Frauen. Dieser Prozentsatz wird nach Einschätzungen des Institutes für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) in den kommenden Jahren noch ansteigen (Bensel 2002, S. 60.) Forschungsergebnisse aus einem Projekt des öffentlichen Dienstes im Bereich der Personalbeurteilung zeigen (Tondorf u. Krell 2001, S. 13), dass ▬ Teilzeitbeschäftigte i. d. R. in der Beurteilung schlechter abschneiden als Vollzeitbeschäftigte. ▬ In frauendominierten Bereichen die Beurteilungen im Durchschnitt schlechter sind als in männlich dominierten. Ursachen für solche Auffälligkeiten sehen Tondorf und Krell darin: Personalbeurteilung findet vielfach anhand von eigenschaftsbezogenen Kriterien (z. B Durchsetzungsvermögen, Belastbarkeit) statt. Diese Kriterien aktivieren eine stereotype Beurteilung z. B. dahingehend, dass diese Eigenschaften vielfach männlichen Führungskräften zugeschrieben werden. Ebenso spielen bei der Personalbeurteilung unbewusste Wahrnehmungsverzerrungen eine Rolle. Dazu zählen nach Tondorf und Krell folgende: ▬ Der Hierarchieeffekt: In der Hierarchie höher stehende Personen werden – unabhängig von
⊡ Tabelle 14.4. Frauenanteil im Management. (Hadler 2001, S. 402) Frauen in
Top Management
Middle Management
Großunternehmen
5,03%
7,89%
Mittelständische Unternehmen
8,04%
15,77%
10,63%
17,60%
Verbände, Organisationen, Behörden
385 14.6 · Personalentwicklung unter dem Blickwinkel der Gender-Mainstream-Diskussion
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ihrer Leistung – besser beurteilt als die auf niedrigen Hierarchieebenen. ▬ Der Klebereffekt: Personen, die lange nicht befördert wurden, werden tendenziell schlechter beurteilt als Personen, die häufig befördert werden. ▬ Der Ähnlichkeitseffekt: Beurteilte, die den Beurteilenden hinsichtlich bestimmter Merkmale ähnlich sind, werden tendenziell besser beurteilt.
»wahren« Geschlechtsunterschiede in Führungseigenschaften, -verhalten, und -erfolg einzustellen. Denn zur Frage nach den wahren Geschlechtsunterschieden kann es aus reflektiert-objektivistischer Perspektive keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse oder richtigen Antworten geben.
Warum ist das so? Führen Frauen denn schlechter? Führen Frauen anders oder sogar besser? Dazu Krell (2001, S. 396): Trotz fundamentaler erkenntnistheoretischer Unterschiede legen alle drei skizzierten [Forschungs-]Ansätze nahe, das Jagen nach und das Sammeln von Erkenntnissen über die
4) Analyse der Optionen und Entwicklung eines Lösungsvorschlages. Die unter 3) ausgearbeite-
3) Entwicklung von Optionen. Hier sollen aufgrund
der Problemanalyse des zweiten Schritts entsprechende Gestaltungsoptionen entwickelt werden.
ten Optionen werden im nächsten Schritt mittels vorher festgelegter Kriterien (⊡ Tabelle 14.6) untersucht und bewertet. Aufgrund dieser Ergebnisse werden Lösungsvorschläge erarbeitet.
⊡ Tabelle 14.5. Anteil der Frauen in Führungspositionen (Bensel 2002, S. 64) Land
Frauenanteil
Großbritannien (2000)
25% der Führungskräfte Frauen in der Privatwirtschaft
Frankreich
20% der Topmanager in Wirtschaftsunternehmen sind Frauen
Belgien
15% der Topmanager in Wirtschaftsunternehmen sind Frauen
Niederlande
13% der Topmanager in Wirtschaftsunternehmen sind Frauen
Luxemburg
12% der Topmanager in Wirtschaftsunternehmen sind Frauen
Deutschland
11% der Topmanager in Wirtschaftsunternehmen sind Frauen
16% davon im Topmanagement
6% aller Vorstandsmitglieder waren Frauen
5% aller Aufsichtsratmitglieder waren Frauen
⊡ Tabelle 14.6. Mögliche Prüfkriterien für die Bewertung von Lösungsvorschlägen. (Krell et al. 2000, S. 12) Prüfkriterien
Prüffragen
Rechtliche Gleichstellung
Inwieweit tragen die jeweiligen Optionen zum Abbau mittelbarere und unmittelbarer Diskriminierungen bei?
Gleichstellung hinsichtlich verschiedener Ressourcen
Inwieweit fördern die jeweiligen Optionen die Gleichstellung von Frauen und Männern in Bezug auf Einkommen, Vermögenswerte, Bildung und Ausbildung, Aufstieg, Zeitressourcen, Information, Gesundheitsvorsorge, Erholung, Mobilität oder Persönlichkeitsentwicklung?
Gleichstellung hinsichtlich der Beteiligung an Entscheidungen
Inwieweit fördern die jeweiligen Optionen eine ausgewogene Mitwirkung von Frauen und Männern an Entscheidungsprozessen?
386
Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
5) Umsetzung der getroffenen Entscheidungen.
Die Umsetzung von Maßnahmen erfordert ein großes Maß an Informations- und Kommunikationsfluss zu den Mitarbeitern in der entsprechenden Organisation. Auch hier gilt das Prinzip der Organisationsentwicklung, Betroffene zu Beteiligten zu machen. 6) Erfolgskontrolle und Evaluation. In der letzten Phase wird überprüft, inwieweit das vorher definierte Ziel mit den entsprechenden Maßnahmen nun erreicht wurde. Falls nicht stellt sich die Frage nach dem Warum. Eine entsprechende Analyse müsste dann durchgeführt werden. Frauen an die Macht – aber wie? Alter Wein in neuen Schläuchen? Das Thema gab es bereits in den 60 und 70 Jahren. Es hat sich sicherlich einiges in der Zeit verändert. Trotzdem muss man zugestehen, dass Frauen nach wie vor und trotz all ihrer Bemühungen immer noch nicht die gleichen Chancen haben. In einem Frauenberuf, der sich seit geraumer Zeit um die eigene Professionalisierung kümmert, ist dieses Thema daher sehr aktuell.
14.7
14
Personalentwicklung unter dem Blickwinkel des Diversity Management
Warum sollte Personalentwicklung ein Thema im Gesundheitsbereich sein? Darauf gibt es verschiedene Antworten. Nach Bensel (2002, S. 50 ff.) wird sich das 21. Jahrhundert durch drei Megatrends auszeichnen: Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Das Anwachsen des Dienstleis-
tungssektors zeigt sich bereits seit den 70er Jahren, auch in Deutschland. Unternehmen, die sekundäre, personenbezogene Dienstleistungen erbringen, werden die größten Gewinner des wirtschaftlichen Strukturwandels sein. Zu diesen zukunftsträchtigen Dienstleistungen zählen u. a. Beratungs- und Betreuungsfunktionen. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet damit, dass in diesem Bereich mehr als eine halbe Million zusätzliche Arbeitsplätze für Männer und über 850.000 neue Arbeitsplätze für Frauen entstehen werden.
Dienstleistungen heißt, dass der Mitarbeiter mit seinem Know-how, seiner Motivation, seiner Kundenorientierung und seiner Teamfähigkeit für den Geschäftserfolg entscheidend ist. Nach Bensel (2002, S. 52) sind Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen die »Wissensarbeiter der Dienstleistungsgesellschaft«. Die Globalisierung der Wirtschaftsströme. Die
internationale Vernetzung nimmt mit jedem Tag zu. Die unmittelbare Verfügbarkeit sowie der schnelle Austausch von Informationen eröffnet Horizonte – auch im Gesundheitsbereich. Das Abwandern von Patienten ins Ausland, weil der Service dort besser ist, die OP billiger, der Dienst am Kunden ganzheitlicher usw. hat bereits angefangen, z. B. für die Zahnmedizin. Die Veränderung der Bevölkerungsstruktur. Es steht ein demographischer Wandel an. Die Anzahl ältere Mitbürger sowie der Geburtenrückgang macht die Erschließung neuer Mitarbeiterpotentiale unumgänglich. In Deutschland werden seit nunmehr 30 Jahren deutlich weniger Kinder geboren als zur zahlenmäßigen Nachfolge ihrer Elterngeneration notwendig wäre. Das Bundesamt für Statistik (zitiert nach Bensel 2002, S. 54) erwartet bis zum Jahr 2050 eine langfristige Migration von 100.000 bis 200.000 Menschen pro Jahr. Dies hat Einflüsse auf die Einstellungspolitik in Deutschland. Bedingt durch den Pflegenotstand beginnend in den 90er Jahren wurde damals bereits Pflegepersonal aus dem nahen Ausland rekrutiert. Vergleichbares gab es u. a. auch im IT-Bereich den 90er Jahren. Eine Möglichkeit prospektiv auf solche Herausforderungen zu reagieren, ist Managing Diversity. Was heißt das? Die dargestellten massiven anstehenden Veränderungen in Deutschland führen dazu, dass in den kommenden 50 Jahren immer mehr Mitarbeiter keinen deutschen Pass mehr haben werden und das europaweit kommuniziert werden wird. Die Zusammenarbeit wird multikulturell, die Bedeutung der Kommunikation und Informationstechnologie wird noch mehr zunehmen. Kooperationsfähigkeit wird darüber hinaus ein wichtiger Bestandteil für den Erfolg sein. Managing Diversity bedeutet in diesem Sinne, für das Unternehmen Rahmenbedingungen zu schaf-
387 14.7 · Personalentwicklung unter dem Blickwinkel des Diversity Management
fen, in denen unter diesen Bedingungen effizient gearbeitet werden kann. Die Bereitstellung neuer Medien und Technologien gehört dazu ebenso wie das spezifische Anbieten von Trainings im Bereich Projektmanagement oder interkulturelle Trainings für Führungskräfte. Managing Diversity ist ein umfassendes und ganzheitliches Konzept. Ein Beispiele dazu ist die Lufthansa (Rühl 2001). Sie hat als erstes deutsches Unternehmen sich den Inhalten angenommen. Warum? Lufthansa verkörpert Internationalität, sowohl bei den Kunden als auch bei den Mitarbeitern. Damit Lufthansa ein erfolgreiches internationales Unternehmen bleibt und auch so von Kunden und Mitarbeitern gesehen wird, muss das Unternehmen es schaffen, mehr als »nur« ein Botschafter für Deutschland zu sein. Nicht nur wegen der großen Abhängigkeit vom nicht deutschen Markt, sondern auch aus ethischen Gründen ist es für ein global wirkendes Unternehmen notwendig, sich für die Integration aller Menschen zu engagieren. Eine Ist-Analyse zeigte, dass die oberste Führungsebene eher »deutsch« besetzt war. Ebenso hatten Schwerbehinderte oder Frauen keine wirkliche Chance in den Vorstand zu kommen. Das Alter ist eher eine positive Variable. Um in den Vorstand zu gelangen musste man in der fünften Lebensdekade sein. Die schwierige Rekrutierung von Mitarbeitern war ein ausschlaggebender Grund, sich dem Thema Diversity anzunehmen. Die Hinwendung zu diesem Thema hat zu einer veränderten Personalstruktur geführt, die noch nicht am Ende sein soll. Zwar hört sich eine Prozentzahl von 2% Frauen im Cockpit sehr wenig an, wenn man aber dazu die Information hat, dass bis vor 12 Jahren noch gar keine Frauen zugelassen waren für diesen Beruf, dann zeigen sich hier die ersten Gehversuche. Ein anderes Beispiel ist General Electric (Stahrenberg 2001). Diversity ist für General Electric (GE) ein Wettbewerbsvorteil, nämlich möglichst viele Mitarbeiter mit unterschiedlicher Herkunft und Hintergrund in ihrem Unternehmen zu haben. Die Herausforderung liegt darin, diesen unterschiedlichen Persönlichkeiten ein Gefühl der Zugehörigkeit zu geben und somit eine Arbeitszufriedenheit zu schaffen. Diversity-orientiertes Verhalten kann sich z. B. in folgenden Aktivitäten zeigen:
14
▬ Konkrete Zielsetzungen für Mitarbeiter mit »diversem« background. ▬ Gezielte Einführung von Mitarbeitern in das Thema. ▬ Aktive Kommunikation des Themas in der Belegschaft bzw. im Team. ▬ Gezielte Entwicklung und Förderung von Mitarbeitern. ▬ Honorierung von diversity-orientiertem Verhalten. ▬ 360-Grad-Beurteilungen u. a zu diesem Thema (siehe die folgenden Beurteilungskriterien).
Beurteilungskriterien für Diversity bei der General Electric
▬ Der Mitarbeiter zeigt globales Bewusstsein/ Sensitivität und fühlt sich wohl dabei, globale Teams zu bilden. ▬ Er erkennt und schätzt Talente und Fähigkeiten aller Menschen, unabhängig irgendwelcher Unterschiede. ▬ Er initiiert und unterstützt Bestrebungen, Diversity in der Belegschaft zu erhöhen. ▬ Er behandelt Menschen mit Fairness und Respekt.
Dieses Beispiel zeigt viele Parallelen zum Gesundheitsbereich auf. Die Personalrekrutierung gestaltet sich schwierig. Die Krankenhäuser suchen einen neuen Markt. Die EU ermöglicht das auch und gleichzeitig wird durch diese Öffnung auch die Konkurrenz erhöht. Es ist nun die Frage, welches Image Krankenhäuser sich in grenznahen Regionen bzw. ambulante Institutionen geben möchten? Es gibt also Parallelen – aber ist es wirkliche ein Thema im Gesundheitsbereich und somit ein Thema für Pflegemanager? Versuchen wir eine Ist-Analyse am »grünen Tisch«. Im Gesundheitsbereich arbeitet auf der untersten Ebene sicherlich wesentlich mehr Frauen als Männer. Auch in der ersten und zweiten Hierarchieebene ist zu vermuten, dass der Frauenanteil noch bei 50% liegt. Und dann? Auch dann dürfte die Luft dünner werden. Warum suchen sich Frauen einen solchen Beruf? Neben dem Argument der Hilfswunsch spricht sicherlich die flexible Arbeitszeit für den
388
14
Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
Beruf. Schichtdienst und ebenso Nachtwachen bedeuten eine Möglichkeit, in Voll- bzw. Teilzeit in seinem Beruf zu arbeiten und für die Kinder da zu sein. Die Möglichkeiten flexibler Arbeitszeitmodelle sind sicherlich noch nicht ausgereizt. Es müssten für Frauen vielerorts flexible Zeitmodelle erstellt werden, um den Schichtdienst an die Kindergarten- und Schulzeiten anzupassen. Hilfreich wären sicherlich auch betriebseigene Kindergärten, über die leider selbst große Krankenhäuser selten verfügen. Arbeitszeitmodelle, im Sinne eines Arbeitszeitkontos wären für Frauen ebenfalls hilfreich, um z. B. im Krankheitsfall der Kinder sich eine Auszeit nehmen zu können. Vergleichbares wäre auch gut für die Überbrückung von Ferien. Selten haben Berufstätige so viel Urlaubsanspruch wie Kinder Schulferien. Auch hier müssen flexiblere Regelungen die Frauen unterstützen. Auf politischer Ebene sind Frauenförderungsprogramme eingeführt worden. Zauner (zitiert nach Hadler 2001, S. 417) versteht darunter folgendes: Frauenförderung umfasst im Sinne von Personalentwicklung Maßnahmen zur Verbesserung der individuellen Qualifikation von Frauen. Zum größeren Teil aber zielt sie im Sinne der Organisationsentwicklung auf die Schaffung von strukturellen Regelungen und die Veränderung der Haltung von männlichen Führungskräften gegenüber Frauen in Führungspositionen und auf allen Führungsebenen. Deshalb wird eine Frauenförderpolitik, die nur auf Verbesserung individueller »Defizite« der Frauen zielt, letztendlich scheitern an den strukturellen Barrieren, die Frauen am Aufstieg hindern. Es sollten eigentlich keine Sonderprogramme notwendig sein, damit Frauen erfolgreich sind. Frauen bekommen dadurch wiederum einen besonderen Status, dem sie gerecht werden müssen. Es sollten die gesetzlichen Vorgaben zur Gleichberechtigung sowie der Einsatz der Instrumente des Total E (=Equality) Quality Managements im Sinne eines Unternehmensentwicklungsprozesses zum Einsatz kommen (Hadler 2001). Schließt man sich diesen Überlegungen an, dann spiegelt sich das u. a. in folgenden Bereichen bzw. Maßnahmen wider (Busch u. Engelbrech 2001, S. 5): ▬ Ein neues Bewusstsein von Management: Identifikation von Chancengleichheit als Unterneh-
▬
▬ ▬
▬
mensziel, Überzeugungs- und Öffentlichkeitsarbeit, darauf abgestellte Marketingstrategien und Personalwerbung. Bewusste betriebliche Reaktion auf sozio-kulturelle Veränderungen und gesellschaftlichen Wertewandel als integrierter Bestandteil der Unternehmensphilosophie. Neue Arbeitsformen und Arbeitsabläufe: Implementierung von Gruppen- und Projektarbeit und Beteiligung von Frauen. Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Regelungen zur flexiblen Arbeitszeitgestaltung auf allen Funktionsebenen, betriebliche Unterstützung von Kinderbetreuung, Regelungen zur Berufsunterbrechung und Unterstützung bei der Wiedereingliederung. Institutionalisierung der Aktivitäten zur Chancengleichheit: Einrichtung einer verantwortlichen Stabsstelle, Gesprächskreise für Fach- und Führungskräfte, Gestaltung von Betriebsvereinbarungen, Tarifverträgen und Arbeitsordnungen.
Pflege und ihr Management ist also ein Beruf, der in einem gewissen Maße Flexibilität ermöglicht. Aber ob bis zur Spitze wird sich erst noch zeigen, insbesondere wenn man die Lebenswege der studierten Pflegemanagerinnen verfolgt. Dazu fehlen im Moment genauere Zahlen.
14.8
Bedeutung einiger psychologischer Aspekte der Personalführung für die Zukunft
In wirtschaftlich harten Zeiten mit »soft skills« als Berater zu fungieren, das ist ein schwieriges Unterfangen. In wirtschaftlich harten Zeiten mit Fragen der Gleichstellung bzw. Beachtung der menschlichen Vielfältigkeit zu kommen ist wahrscheinlich für einige Verwaltungsdirektoren oder auch für einige Ärzte ein schwieriges Thema, so nach dem Motto »Wie wenn wir sonst keine Probleme haben.« Aber gerade das ist das Problem: Wir müssen umlernen, wir müssen uns verändern, unsere Ansichten in einigen Bereichen aktualisieren. Wir müssen uns selbst modernisieren. Dazu gehört ein großes Maß an Reflexion, an Zugeständnissen z. B.
389 14.8 · Bedeutung einiger psychologischer Aspekte der Personalführung
vor Machtverlust, vor Transparenz – Eingeständnisse, die unabhängig von der Position in einem Unternehmen sind. Wenn ich seit 20 Jahren in einem Unternehmen in leitender Position arbeite, wenn in diesem Unternehmen seit 20 Jahren Männer das Sagen hatten, dann ist es verständlich, wenn moderne und globale Managementstrategien Angst machen. Die Angst lähmt und behindert, solange sie nicht wirklich bewusst wird, solange es keine Antwort auf die Frage nach dem Warum gibt. > Laut Peters (2002) wird in Zukunft der Unterschied zwischen den Unternehmen in der Qualität der interaktiven Formen auf der Basis der psychosozialen Kompetenzen wie Kooperationsfähigkeit, Einsatzbereitschaft, Angstfreiheit und Verantwortungsbewusstsein liegen.
Die Gesellschaft hat sich verändert. Noch nie war das Bildungsniveau der Frauen so hoch, noch nie gab es so viele berufstätige Frauen. Aber hat sich deshalb in Unternehmen etwas geändert? Die Aufmerksamkeit des Unternehmens richtet sich vielfach auf die »normalen« Karriereschritte des Mannes. Aber auch das hat sich geändert. Die Bildungszugänge und Möglichkeiten sind besser und vielfältiger geworden. Das Arbeitsleben ist und wird in der Zukunft sicherlich noch stärker durch einen Wechsel zwischen verschiedenen, möglicherweise auch temporärer Berufstätigkeit, Aus- und Weiterbildungsbildungsphasen, Teilzeitbeschäftigungen, Projektarbeit usw. gekennzeichnet sein. Dies trifft bereits für die Pflege zu. Eine Hochschulvoraussetzung ist z. B. eine langjährige Tätigkeit in der Pflege. Entsprechende Masterstudiengänge, führen vielfach zu einer Reduzierung der Arbeitszeit. D. h. Bildung und Lernphasen können und werden zunehmend in einen Arbeitsprozess integriert werden. Es findet immer wieder eine Rollenwechsel statt, dessen Begleitung und Unterstützung Aufgabe einer Führungskraft ist und der wiederum vom Betroffenen eine hohe Flexibilität voraussetzt. Die Abkehr von traditionellen Berufsbildern, starren Arbeitszeiten und fixierten Arbeitsorten eröffnet Chancen für Frauen und Männer in der Arbeitswelt. Mehr Flexibilität ermöglicht mehr Gestaltungsspielraum, mehr Möglichkeiten Beruf-
14
und Privatleben miteinander zu verbinden. Der Anspruch an das Berufsleben steigt an, ebenso der Anspruch an das Privatleben. In diesem Zusammenhang werden Work-life-Balancing-Konzepte von Bedeutung, die für potentielle Bewerber durchaus ein Entscheidungskriterium darstellen. Beide Seiten – Unternehmen und Mitarbeiter – müssen gleichermaßen dazu beitragen, dass Flexibilität erfolgreich genutzt werden kann (Bensel 2002). Arbeitgeber müssen entsprechende Strukturen für ein selbständiges Handeln bereitstellen. Arbeitnehmer müssen diese Strukturen zu füllen wissen. Für das Pflegemanagement würde das bedeuten, z. B. die Budgetmacht weiter nach unten zu verlagern, Fragen der Personalentwicklung zu delegieren usw. Flexibilität erfordert andere Strukturen wie z. B. möglichst flache Hierarchien, Team- und Projektarbeit, eine effiziente Kommunikation. Bensel (2002) schlägt in diesem Zusammenhang vor, Mitarbeiter als Unternehmer in eigener Sache zu betrachten. Sie sind für ihren beruflichen und privaten Lebensweg eigenverantwortlich tätig. Sie planen ihr lebenslanges Lernen, sind proaktiv und für die Entfaltung ihres Potentials selber verantwortlich. Führungskräfte nehmen dabei die Aufgabe eines Coaches wahr. Sie verstehen sich als Dienstleister der Mitarbeiter. Lebenslanges Lernen wird und ist Grundvoraussetzung für die Beschäftigten und für eine erfolgreiche Erwerbstätigkeit. Dabei heißt lebenslanges Lernen nicht nur der Erwerb einer fachlichen Qualifikation sondern eben auch der Erwerb von Schlüsselqualifikationen, der von Bereich zu Bereich schwanken wird, wobei uneingeschränkt für fast alle Branchen gelten wird, dass Kommunikationsfähigkeit und emotionale Stabilität von größter Bedeutung sind. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, muss es zu einem Ausgleich, zu einem persönlichen Gleichgewicht von Arbeit, Lernen und Leben (Work-life-Balancing) kommen. Der Respekt vor dem individuellen Lebensplan und der individuellen Priorisierung der beruflichen und privaten Aufgaben ist Ausdruck der Wertschätzung und produktiver Förderung der Vielfalt – so das Konzept. Die Ausgestaltung dieser Beziehung ist sowohl Aufgabe des Unternehmens als auch des Menschen. Dadurch würde eine sehr individuelle Zufriedenheit entstehen, die wiederum Einfluss auf das berufliche Wohlbefinden hat.
390
Kapitel 14 · Psychologische Aspekte der Personalführung
Hemmnisse auf diesem Weg sind, ▬ dass im Jahr 1999 der Bruttostundenlohn bei Frauen immer noch etwa 20% weniger war als bei Männern; ▬ dass im Jahre 2000 etwa 85% der Teilzeitbeschäftigten Frauen waren; ▬ dass im Jahr 1999 etwa lediglich ein Drittel der Studierenden im mathematisch-naturwissenschaftlichem Bereich Frauen waren (Bensel 2002).
Das heißt: Neben der gewünschten Vielfalt (Managing Diversity), spielt die Individualisierung eine große Rolle. Die Wahrnehmung und die Akzeptanz des Einzelnen als etwas Besonderes wird die Aufgabe der Zukunft sein – und zwar nicht als Lippenbekenntnis, sondern als strategische Aufgabe der Zukunft.
? Wissens- und Transferfragen
14
1. Welche Emotionen sind für Sie für Sie oft handlungsleitend? 2. Was macht Ihnen im Beruf Angst? Wann empfinden Sie Freude? Wie erklären Sie sich das? 3. Welche schwierigen gruppendynamischen Situationen haben Sie im Beruf erlebt? Was war für Sie in der Situation schwer? Welche Unterstützung hätten Sie sich gewünscht? 4. Benennen Sie die Abwehrmechanismen und erläutern Sie sie anhand von Beispielen aus ihrem Berufsleben. 5. Welche Lernvoraussetzungen sind für Sie wichtig? 6. Erklären Sie den Zusammenhang zwischen Lernen und Führung. 7. Erläutern Sie die vier Bausteine zur Personalentwicklung. 8. Was bedeutet Gender Mainstream und welche Berührungspunkte gibt es zur Personalführung? 9. Erläutern sie das Konzept des Diversity Management und seine Folgen für die Personalentwicklung.
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391 Literatur
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14
15 Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements S. Fließ, A. Marra, M. Reckenfelderbäumer 15.1
Betriebswirtschaftliche Grundgedanken – 393
15.5
Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe – 409
15.2
Besonderheiten von Pflegedienstleistungen – 395
15.6
Zusammenfassung
15.3
Managementaufgaben im Pflegebereich – 399
Wissens- und Transferfragen
15.4
Gestaltung als Managementaufgabe – 400
15.1
Betriebswirtschaftliche Grundgedanken
Gesundheitsreform, Kosteneinsparungen, Pflegeversicherung – dies sind Schlagwörter, die die Situation im Pflegemanagement beschreiben; auch Pflegeeinrichtungen sind zu Rationalisierungsmaßnahmen gezwungen. Gravierende Einschnitte ergeben sich z. B. für Krankenhäuser, die nach dem neuen System von den Krankenkassen nicht mehr nach Tagessätzen, sondern anhand von Pauschalen für bestimmte Krankheitsbilder bezahlt werden. Die erwartete Folge: Patienten werden künftig kürzer in den Kliniken liegen, die Krankenhäuser weniger Betten haben. Vor diesem Hintergrund wird die Forderung nach betriebswirtschaftlichem Management von Pflegeeinrichtungen wie Krankenhäusern, Pflegebetrieben etc. immer lauter. Was bedeutet aber betriebswirtschaftliches Handeln für das Pflegemanagement? Welche »Stellschrauben« gibt es für das Management, um wirtschaftlich effizient zu handeln? Im Kern der Betriebswirtschaftslehre stehen die folgenden Grundüberlegungen: Es existieren menschliche Bedürfnisse, zu deren Befriedigung oder Bedarfsdeckung Güter im Sinne von
Literatur
– 433 – 434
– 434
Produkten und Dienstleistungen angeboten und nachgefragt werden. So wird etwa das Bedürfnis des Hungers durch Essen, das Bedürfnis nach Schutz durch Kleidung und eine Wohnung und das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung durch die Nutzung von Bildungsangeboten, Freizeiteinrichtungen, Hobbys u. ä. befriedigt. Einen Teil dieser Bedürfnisse kann der Mensch selbst befriedigen (z. B. Anbau von Feldfrüchten), einen Teil der Bedürfnisse befriedigt er durch die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen auf dem Markt. Die Betriebswirtschaftslehre beschäftigt sich nur mit der Befriedigung solcher Bedürfnisse, zu deren Deckung Produkte und Dienstleistungen auf dem Markt angeboten und nachgefragt werden. Auch die Pflege stellt ein menschliches Bedürfnis dar, das daraus resultiert, dass Personen sich unter bestimmten Bedingungen nicht selbst versorgen können, etwa weil sie gesundheitlich hierzu nicht in der Lage sind, oder sich nicht selbst versorgen sollen, etwa weil sie unter medizinischer Beobachtung stehen, die Selbstversorgung den Heilungsprozess behindern würde oder ihnen auch das Wissen fehlt, um etwa Wunden nach Operationen fachgerecht zu versorgen. Zur Befriedigung dieses Bedürfnisses werden daher Pflege-
394
15
Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
einrichtungen in Krankenhäusern, Reha-Kliniken, Altenheimen o. ä. in Anspruch genommen. Zur Befriedigung der Bedürfnisse über den Markt werden Produkte und Dienstleistungen benötigt, zu deren Erzeugung wiederum Mittel oder Ressourcen eingesetzt werden. Im Falle der Pflege umfasst dies u. a. das Personal, die Ausstattung der Pflegeeinrichtung (Betten, Schränke, Küchen), Finanzmittel, Arznei- und Verbandsmittel etc. In der Regel stehen hierbei Mittel nur in begrenztem Maße zur Verfügung. Demgegenüber sind jedoch die Bedürfnisse nicht in gleichem Maße begrenzt. Man denke etwa an die Zeit einer Pflegerin oder eines Pflegers und das Bedürfnis des Patienten bzw. der Patientin umsorgt und unterhalten zu werden. Das betriebswirtschaftliche Grundprinzip stellt das ökonomische Prinzip dar, das auch als Wirtschaftlichkeitsprinzip bezeichnet wird. Dieses bezieht sich auf den wirtschaftlichen Einsatz von knappen Mitteln oder Ressourcen, welche direkt oder indirekt der Befriedigung von Bedürfnissen dienen (Korndörfer 1996, S. 4). In seiner allgemeinen Formulierung besagt das ökonomische Prinzip, dass ein bestimmter Zweck mit möglichst geringem Mitteleinsatz (Minimalprinzip) oder dass mit gegebenem Mitteleinsatz eine möglichst maximale Zweckerfüllung (Maximalprinzip) anzustreben ist (Heinen 1976, S. 15). Ein Krankenhaus, das versucht mit einer gegebenen Ausstattung (Betten, Personal, Medikamente, Geräte etc.) die Zahl der zu behandelnden Patienten zu maximieren, handelt nach dem ökonomischen Prinzip in der Maximalausprägung. Demgegenüber ist die Befriedigung einer gegebenen Zahl von Patienten mit minimalem Mitteleinsatz (Personal, Betten, Arzneimittel etc.) ein Verhalten nach dem ökonomischen Prinzip in der Minimalausprägung. Wird ein gegebenes Ziel mit minimalem Mitteleinsatz erreicht oder wird mit gegebenem Mitteleinsatz der höchste Wirkungsgrad oder Zielerreichungsgrad erreicht, so bezeichnet man eine solche Handlung als effizient. > Effizienz befasst sich mit der Frage, welche Mittel erforderlich sind, um ein angestrebtes Ziel im gegebenen Ausmaß zu erreichen. Das Effizienzziel setzt das erreichte Ergebnis (Output) in Beziehung zum Mitteleinsatz (Input).
Als Inputgrößen sind dabei die eingesetzten Ressourcen oder Mittel anzusehen. Hierzu zählen im Pflegemanagement das Personal, Verbrauchsmaterialien wie Verbände und Betriebsmittel wie Betten, Räume, Kücheneinrichtung etc. Als Outputgrößen können dabei quantitative Größen, z. B. die Zahl der behandelten Patienten insgesamt oder mit einer bestimmten Krankheit oder Behandlungsmethode, herangezogen werden, aber auch qualitative Größen, wie z. B. die Qualität der Pflege oder die Zufriedenheit der Patienten. Pflege ist dann effizient, wenn ein gegebenes Ziel mit möglichst geringen Mitteln erreicht wird – hier wird das Ziel als gegeben angenommen und die eingesetzten Mittel sollen minimiert werden. Pflege ist aber auch dann effizient, wenn mit vorhandenen Mitteln ein möglichst hoher Zielerreichungsgrad erreicht werden kann: Wie kann mit den gegebenen Mitteln ein möglichst hohes Maß beispielsweise an Patientenzufriedenheit erreicht werden? Ob eine Pflegeeinrichtung effizient arbeitet, kann dabei nicht absolut, sondern immer nur im Vergleich mit anderen Maßstäben – etwa im Vergleich zu einer anderen Pflegeeinrichtung oder im Vergleich zu einem anderen Zeitpunkt wie dem vergangenen Jahr – festgestellt werden. Warum? Es lässt sich kaum objektiv feststellen, ob bei gegebenen Mitteln noch mehr Patienten hätten behandelt werden können oder ob eine gegebene Anzahl von Patienten in kürzerer Zeit oder mit weniger Mitteln hätte gepflegt werden können, da es keinen allgemein gültigen Wert dafür gibt, welche Art der Pflege bei welchem angestrebten Ziel wie viel Input erfordert. Dennoch wird Effizienz als Ziel angestrebt in dem Sinne, dass die sparsame Mittelverwendung oberstes Gebot sein sollte. Als Maßstab der Inputseite der Effizienz werden dabei in aller Regel Kostengrößen verwendet, um die verschiedenen Inputs besser miteinander vergleichen zu können. Gerade im Gesundheitswesen ist aufgrund des Kostendrucks auch das Pflegemanagement zunehmend dem Wirtschaftlichkeitsprinzip der Kostenminimierung unterworfen. Die starke und notwendige Betonung effizienten Arbeitens darf jedoch nicht vernachlässigen, dass es sich bei der Pflege um »Dienstleistung am Patienten« handelt. D. h. trotz aller kostensen-
395 15.2 · Besonderheiten von Pflegedienstleistungen
kenden Maßnahmen darf der Patient nicht außer Acht gelassen werden. Dies ist die Zielrichtung des zweiten grundlegenden Gebots betriebswirtschaftlichen Handelns, der Effektivität. Effektivität bezieht sich auf die Wirksamkeit einer Handlung im Sinne der Erreichung der mit der Handlung angestrebten Ziele. Stellt man den Patienten in den Mittelpunkt pflegerischer Aktivitäten, so ist dieser auch Ausgangspunkt pflegerischer Zielsetzungen. Die Unterstützung des Heilungsprozesses, die Steigerung des Wohlbefindens des Patienten, die Erreichung von Zufriedenheit bei den Patienten können solche Ziele sein. > Effektivität fragt nach dem Zielerreichungsgrad: In welchem Ausmaß wurde das gesteckte Ziel erreicht?
Effizienz im Sinne von Kostenbewusstsein und Kostenorientierung stehen – im pflegerischen Bereich wie in jedem anderen Unternehmen – gleichberechtigt neben den Fragen der Effektivität im Sinne von Qualitätssicherung des Angebotes und damit der Kundenzufriedenheit im weitesten Sinne. Effizienz und Effektivität stellen somit Oberziele eines jeden Wirtschaftsbetriebes, d. h. eines jeden Unternehmens, dar. Die Betonung von Effizienz und Effektivität sorgt für Wettbewerb unter den pflegerischen Einrichtungen. Wenn klar ist, dass Krankenhausbetten und Personal abgebaut werden müssen und Mittel bzw. Ressourcen nicht mehr in gleichem Maße wie früher zur Verfügung stehen, kämpfen insbesondere Krankenhäuser um das Überleben. Dieser Überlebenskampf bezieht sich auf Effizienz und Effektivität gleichermaßen. Im Kampf ums Überleben können Pflegeeinrichtungen im Prinzip zwei Strategien verfolgen: ▬ die Strategie der Kostenführerschaft oder ▬ die Strategie der Qualitätsführerschaft bzw. Differenzierung. Die erste Strategie verfolgt eine Minimierung der Kosten, wobei ein vorgegebener Mindestqualitätsstandard nicht unterschritten werden darf. Die zweite Strategie zielt darauf ab, sich über eine bessere pflegerische Leistung von der Konkurrenz anderer Einrichtungen abzuheben, ohne jedoch das Effizienzziel aus den Augen zu verlieren.
15
In dem Maße, in dem sowohl das Ziel der effizienten (d. h. kostenorientierten) als auch der effektiven (d. h. kunden- und letztlich wettbewerbsfähigen) Leistungserstellung für die Anbieter relevant wird, steigt auch die Bedeutung der Management- und damit betriebswirtschaftlicher Instrumentarien, mit deren Hilfe diese Ziele erreicht werden können. Dies gilt besonders, weil gerade die Anbieter von Gesundheitsleistungen bei steigenden Leistungsanforderungen massivem Kostendruck ausgesetzt sind und sich ohne ein gewisses Maß an betriebswirtschaftlicher Methodik kaum aus dieser Zwickmühle befreien können. Im Folgenden wird versucht, Managementaufgaben darzustellen, mit deren Hilfe es möglich ist, diesen Anforderungen im Pflegemanagement gerecht zu werden. Da der Bereich der Pflege hauptsächlich durch das Dienstleistungsmanagement geprägt ist, bilden dessen Wesensmerkmale und Besonderheiten den Ansatzpunkt für die weiteren Erläuterungen.
15.2
Besonderheiten von Pflegedienstleistungen
Betrachtet man die Pflege als Dienstleistung (Falk 1999), so lässt sich feststellen, dass die Mitwirkung des Patienten an der Pflegeleistung charakteristisch ist: Zunächst einmal muss der Patient physisch anwesend sein und gewissermaßen seinen Körper zur Verfügung stellen, damit er gepflegt werden kann. Ohne dass der Patient in das Sanatorium, die Pflegestation im Krankenhaus oder das Pflegeheim gelangt, kann keine Pflegedienstleistung erfolgen. Aber nicht nur die »Initialzündung« der Dienstleistung geht vom Patienten aus. Auch während des Dienstleistungsprozesses ist seine permanente Anwesenheit erforderlich. Am Patienten werden die Pflegedienstleistungen wie etwa Waschen, Füttern oder Medikation erbracht. Dass die Pflegeleistung am Patienten erbracht wird, darf jedoch nicht dazu führen, dass der Patient lediglich als »Gegenstand« der Pflege betrachtet wird. Ein Betroffener schildert seine Erfahrung (Blum 1997):
396
Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Beispiel Die Vormittage verstreichen noch relativ schnell. Alle paar Minuten steht etwas anderes an: Bettenmachen, Frühstück, Blutdruckmessen, Pillenvergabe, Krankengymnastik, Arztvisite. Einmal schneit sogar der Chefarzt herein. Mich würdigt er keines Wortes. Nach dem Mittagessen hingegen zieht sich die Zeit wie Kaugummi. Einziger Höhepunkt: die tägliche Spritze in den Bauch. Vorbeugung gegen Thrombose. Haben wir Glück? Oder macht es heute wieder Schwester Barbara?
Neben ihrem Körper bzw. ihrer physischen Anwesenheit integrieren sich Patienten mit verschiedenen Informationen in den Pflegeprozess. So kann ein Patient Auskunft darüber geben, wie er sich fühlt und was sein Wohlbefinden und seine Zufriedenheit während des Pflegeprozesses erhöht. Patienten können aber nicht nur Informationen liefern, um den Pflegeprozess besser zu gestalten, sie können auch aktiv an der Pflege teilnehmen. Sie haben es in der Hand, durch ihre Abwehr oder ihre Motivation den Heilungsprozess zu behindern oder zu fördern, wie das folgende, sicherlich nicht typische Beispiel verdeutlicht (Blum 1997). Beispiel
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In meinem Dreibettzimmer in der Nürnberger Erler-Klinik läuft der Fernseher, wie immer. Bettnachbar Thomas steht auf Dauerberieselung. Er schaut kaum hin. Früh beim Aufwachen schaltet er die Glotze ein, und wenn er abends eingeschlafen ist, mache ich sie wieder aus. Schwacher Trost: Markus, der auf meiner anderen Seite liegt, ist genauso genervt wie ich. Im Laufe des Nachmittags betrinkt sich Thomas mit Kumpels, die ihn besuchen. Abends lässt er seine aggressive Stimmung dann an uns aus.
Pflegeleistungen sind somit, wie jede andere Dienstleistung, dadurch charakterisiert, dass der Patient bzw. der Kunde in einer mehr oder weniger aktiven Form an der Erstellung der Leistung mitwirkt.
Dienstleistungsdimensionen
Eine Dienstleistung lässt sich im Allgemeinen in die folgenden drei Dienstleistungsdimensionen unterteilen (Engelhardt et al. 1993): ▬ das Leistungspotential im Pflegebereich, ▬ den Leistungserstellungsprozess der Pflege und ▬ das Leistungsergebnis der Pflege. Zunächst bedarf es des sog. Leistungspotentials (oder auch Bereitstellungsleistung), das den Anbieter grundsätzlich in die Lage versetzt, eine bestimmte Leistung überhaupt erbringen zu können. Gebäude, Anlagen und Maschinen, eine Praxis oder eine Pflegeeinrichtung, Ressourcen des Pflegebereichs, wie beispielsweise das Personal, aber auch eine bestimmte Qualifikation, wie z. B. die Approbation eines Arztes, sind die Voraussetzung dafür, dass eine Leistung überhaupt erstellt werden kann. Die Ressourcen werden miteinander kombiniert, um die Leistungsbereitschaft des Pflegebereichs herzustellen. So sorgen etwa Personalpläne dafür, dass die Station besetzt ist. Verbandsmaterial und Medikamente werden beschafft und auf Lager genommen. Der Leistungserstellungsprozess umfasst den eigentlichen Pflegevorgang. Im Leistungserstellungsprozess wird das Leistungspotential aktiviert, um die Pflegeleistung zu »produzieren«. Die Aktivierung erfolgt dabei durch die Integration des Patienten und seiner externen Faktoren. So werden etwa Arzneien aus dem Lager entnommen und dem Patienten verabreicht. Im Leistungserstellungsprozess werden die bereits vorkombinierten Potential- und Verbrauchsfaktoren mit weiteren internen Faktoren sowie den vom Patienten zur Verfügung gestellten externen Faktoren kombiniert und so zum Leistungsergebnis zusammengeführt (Engelhardt et al. 1993, S. 398). Dabei ist zu beachten, dass erst mit der Einbindung dieses externen Produktionsfaktors der Prozess zur Leistungserstellung angestoßen und somit erst möglich gemacht wird. Externe Faktoren sind bei Dienstleistungen generell die eigene Person oder (bei Unternehmen) Mitarbeiter des Unternehmens, Objekte, Tiere, Rechte, Nominalgüter und/oder Informationen (Engelhardt et al. 1993, S. 401). Die dargestellten Zusammenhänge verdeutlicht ⊡ Abb. 15.1.
397 15.2 · Besonderheiten von Pflegedienstleistungen
Leistungserstellungsprozess
Leistungspotenzial
Verbrauchsfaktoren
Leistungsergebnis
Interne Faktoren
Krankenhaus Potenzialfaktoren
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z.B. Räumlichkeiten z.B. Pflegepersonal Vorkombination z.B. Medikamente z.B. Verbände Leistungsbündel
Körper Mitwirkung And. Patienten Patient
Informationen .... Externe Faktoren
⊡ Abb. 15.1 Pflege als Dienstleistung. (In Anlehnung an Kleinaltenkamp 1997, S. 351)
> Dienstleistungen weisen neben anderen Merkmalen ein herausragendes Charakteristikum auf: die Mitwirkung des Kunden. Jede Dienstleistung ist dadurch charakterisiert, dass der Kunde in einer mehr oder weniger aktiven Form an ihrer Erstellung mitwirkt. Diese Mitwirkung des Kunden wird auch als Kundenintegration bezeichnet (Kleinaltenkamp et al. 1996).
Die Erbringung von Pflegedienstleistungen besteht aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen Stufen. In einer ersten Stufe werden die internen Potential- und Verbrauchsfaktoren im Rahmen des Leistungspotentials vorkombiniert, um die Leistungsbereitschaft der Pflegestation zu erzeugen. Erst auf der zweiten Stufe kommen die Patienten als externe Faktoren hinzu. Hier findet der eigentliche Pflegeprozess statt. Leistungspotential und Leistungserstellungsprozess unterscheiden sich damit in grundlegender Weise durch den Kontakt zu einem konkreten Patienten (Kleinaltenkamp u. Haase 1998, S. 5). Immer dann, wenn die vom Patienten zur Verfügung gestellten externen Faktoren bzw. der Patient
selbst integriert werden, beginnt der Leistungserstellungsprozess. Also erst dann, wenn ein konkreter Patient gepflegt werden soll bzw. gepflegt wird, beginnt der Pflegeprozess im engeren Sinne. Demgegenüber finden die Aktivitäten im Rahmen des Leistungspotentials ohne die Mitwirkung eines konkreten Patienten statt. Veränderungen hinsichtlich der Produktionsfaktoren und ihrer Kombination können daher ohne Berücksichtigung eines konkreten Patienten vorgenommen werden. Hier sind alle Aktivitäten der Pflege einzuordnen, die vorbereitenden Charakter haben und unabhängig von einem konkreten Patienten durchgeführt werden können. Beide Formen von Aktivitäten unterscheiden sich im Hinblick auf die Disposition des Anbieters der Pflegedienstleistung. Aktivitäten im Rahmen des Leistungspotentials können autonom disponiert werden. Autonome Disposition bedeutet, dass alle Aktivitäten geplant und durchgeführt werden können, ohne dass auf einen konkreten Patienten, etwa Frau Müller, Rücksicht genommen werden muss. Dies heißt keinesfalls, dass die Wünsche und Belange von Patienten nicht berücksichtigt werden sollen. Patientenorientierung ist auch
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Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
hier erforderlich. Aber: Es geht nicht um konkrete Wünsche und Belange von Frau Müller, sondern um die Belange von bis dahin noch nicht namentlich bekannten Patienten. Personaleinsatzpläne werden nicht erst erstellt, wenn ein Patient auf der Station angekommen ist, sondern bereits im Vorfeld. Sie sollten aber so abgefasst werden, dass die Belange des Patienten berücksichtigt werden können. Medikamente werden nicht erst beschafft, wenn einer Patientin diese vom Arzt verordnet werden. Demgegenüber haben wir es im Rahmen des Leistungserstellungsprozesses mit integrativer Disposition zu tun; hier ist der konkrete Patient mit seinen Belangen und Wünschen einzubeziehen. Erst wenn bekannt ist, unter welcher Krankheit Frau Müller leidet, kann ihr ein Medikament verordnet und verabreicht werden. Weiterhin können die externen Faktoren im Leistungserstellungsprozess auch untereinander interagieren. Liegt Frau Müller in einem Dreibettzimmer, so kann der Kontakt zu den Mitpatienten ihren Heilungsprozess fördern, aber auch behindern. Patientenintegration
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Welche tief greifenden Konsequenzen die Patientenintegration auf die betrieblichen Abläufe des Pflegemanagements hat und welche spezifischen Problemstellungen daraus erwachsen, soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Je weniger ein Patient in der Lage ist, seine Wünsche oder Beschwerden zu äußern, desto schwieriger und zeitintensiver wird die Behandlung. Der externe Faktor »Informationen über das zu behandelnde Problem« muss vom Personal in Form einer Untersuchung bzw. Befragung erst beschafft werden. Dies setzt nicht nur besondere Fähigkeiten oder Geräte voraus, was eigene Anforderungen auf die Ausstattung der Pflegeeinrichtung bzw. die Fähigkeiten des Personals zur Folge hat. Vor diesem Hintergrund darf das Personal nicht nur darauf bedacht sein, die internen Abläufe zu beherrschen, sondern auch die Patienten bzw. Kunden im Sinne der Betriebsabläufe zu lenken und wesentliche Informationen bzw. die »Mitarbeit« des Kunden, der hier häufig auch als Koproduzent bezeichnet wird, in die für die
Leistungserstellungsprozesse notwendigen Aktivitäten einzubinden. Neben dem dafür nötigen Einfühlungsvermögen gilt es hier besonders ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, schließlich sind die Patienten in den seltensten Fällen in der Lage, die Notwendigkeit bestimmter Maßnahmen einschätzen und beurteilen zu können, was u. U. zu Unsicherheiten seitens der Leistungsempfänger und zu weiteren Schwierigkeiten in den Abläufen führen kann. Auch die Planung der Arbeitsabläufe gestaltet sich schwierig, da nicht im Vorhinein geplant werden kann, welche Abläufe wie viel Zeit in Anspruch nehmen. Davon müssen nicht unbedingt nur komplexe Prozesse wie Diagnosen betroffen sein. Auch vergleichsweise einfache Abläufe wie u. a. fehlende, vom Kunden bzw. Patienten beizubringende Unterlagen, Unpünktlichkeit oder sogar Unwilligkeit führen abseits der sowieso auftretenden Unwägbarkeiten zu ernsthaften Problemen bei der Planung der betrieblichen Abläufe. Dass allgemein Dienstleistungen von diesem Phänomen betroffen sind, äußert sich nicht nur durch volle Wartezimmer, Verspätungen von Verkehrsmitteln, nicht rechtzeitiges Freiwerden von gebuchten Hotelzimmern oder die alltäglichen Schlangen an diversen Schaltern. Sie sind der sichtbare Ausdruck dessen, dass es sich hier um ein generelles Planungsproblem handelt, mit dem besonders Dienstleister zu kämpfen haben. Damit ist auch die Kapazitätsplanung davon abhängig, ob und inwieweit Kunden in der Lage sind, den Leistungserstellungsprozess wirksam zu unterstützen. Ähnliche Effekte lassen sich auch im Hinblick auf die wahrgenommene Qualität der Leistung vorbringen. Dabei ist es nicht nur so, dass die nur eingeschränkt mögliche Absehbarkeit der notwendigen Ressourcen zu Wartezeiten führt, die vom Kunden als negativ beurteilt werden. Ist der Kunde nicht in der Lage, das Problem genau genug zu spezifizieren oder behindert er sogar die Leistungserstellung, kann dies durchaus zu mehr und langwierigeren Aktivitäten führen, die negativ beurteilt werden, obwohl dem Anbieter keine offensichtlichen Fehler zugeschrieben werden können. Auch die Abbildung der Vorgänge in Kostendimensionen und damit in der Kalkulation der einzelnen Leistungsbestandteile unterliegt dem-
399 15.3 · Managementaufgaben im Pflegebereich
nach Unwägbarkeiten, die nur schwer erfassbar und transparent gemacht werden können. > Pflege als Dienstleistung lässt sich in drei Leistungsdimensionen unterteilen: das Leistungspotential, den Leistungserstellungsprozess und das Leistungsergebnis. Während das Leistungspotential vom Anbieter autonom disponiert werden kann, ist im Leistungserstellungsprozess aufgrund der Mitwirkung des Patienten nur integrative Disposition möglich.
Diesen Besonderheiten der Pflege als Dienstleistung müssen die Managementaufgaben Rechnung tragen, wobei insbesondere die Unterteilung in Leistungspotential und Leistungserstellungsprozess bzw. in autonome und integrative Disposition von besonderer Bedeutung ist.
15.3
Managementaufgaben im Pflegebereich
Die Managementaufgaben im Pflegebereich lassen sich in drei große Bereiche unterteilen: die Aufgabe der Gestaltung, die Aufgabe der Steuerung und die Aufgabe der Entwicklung. Die Gestaltungsaufgabe bezieht sich darauf, den Prozessablauf der Leistung so zu gestalten, dass Effektivität und Effizienz erreicht werden können. Dies ist die Voraussetzung für die Realisierung von Wettbewerbsvorteilen. Ansatzpunkte für eine Gestaltung bietet die Art und Weise der Faktorkombination als interne Aufgabe sowie die Patientenintegration im Sinne einer Beteiligung des Patienten am Pflegeprozess als interaktive Aufgabe. Die Herausforderungen der Steuerung des Prozesses im Rahmen einer Pflegeleistung ergeben sich aus der erforderlichen Mitwirkung des Patienten. Da der Pfleger auf die Mithilfe des Patienten bei der Behandlung oder Therapie angewiesen ist, ergeben sich für den Pfleger bzw. für den Dienstleister als anbietendes Unternehmen Unsicherheiten, welche die Qualität der Pflegeleistung, die Kosten sowie den zeitlichen Aufwand betreffen. Ein weiteres gravierendes Problem besteht in der Auslastung der Kapazitäten in quantitativer und
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qualitativer Hinsicht: Die Kapazitäten eines Krankenhauses können nur dann ausgenutzt werden, wenn sie von den Patienten »nachgefragt« werden. Damit kann es sowohl zu einer Bettenunterauslastung kommen, als auch zu einer Überauslastung. In jedem Fall resultieren Unsicherheiten für den Anbieter, die natürlich durch Schwankungen im eigenen Personalbereich (z. B. krankheitsbedingt) erhöht werden. Diese Unsicherheiten zu bewältigen, stellt eine zentrale Steuerungsaufgabe dar. Die mehr oder weniger erfolgreiche Bewältigung von Unsicherheiten wirkt sich auf die Effizienz der Leistung aus. Die Art und Weise der Leistungsabgabe an den Kunden bzw. Patienten beeinflusst schließlich die Effektivität der Dienstleistung. Während bei den Gestaltungs- und Steuerungsaufgaben eher die operative Ausrichtung dominiert, besitzt die Entwicklungsaufgabe eine enge Verbindung zu den strategischen Managementaufgaben. So zielt die Entwicklung auf eine Verbesserung der Leistungserstellung und des vorgehaltenen Potentials ab, um die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens auch in einer sich strukturell und radikal wandelnden Umwelt sicherzustellen. Die Kürzung von Leistungen im Gesundheitswesen betrifft somit nicht nur die Patienten auf der einen Seite, sondern auch die Institutionen des Pflegemanagements auf der anderen Seite, die mit innovativen Weiterentwicklungen auf diese Herausforderungen unter Beachtung des stetig wachsenden Wettbewerbsdruck reagieren müssen. Als Folge der Rationalisierungsmaßnahmen spezialisieren sich die Krankenhäuser immer mehr und teilen etwa innerhalb der Städte die einzelnen Fachabteilungen zwischen den Krankenhäusern auf. Die aufgezeigten zentralen Managementaufgaben werden im Folgenden näher untersucht: Zunächst wird die Gestaltung mit Hilfe von Planungsinstrumenten wie z. B. dem Blueprinting dargestellt. Anschließend werden Controllingaspekte zur Steuerung und Entwicklung von Pflegedienstleistungen aufgezeigt. Diese beinhalten sowohl Instrumente des Qualitätscontrollings als auch Instrumente des Kostencontrollings. Im Mittelpunkt sämtlicher Ausführungen steht dabei stets die Betrachtung und Zuordnung zum Effizienz- und Effektivitätsziel. In ⊡ Abb. 15.2 wer-
400
Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Gestaltung
Planungsinstrumente
Steuerung
Entwicklung
Controlling
⊡ Abb. 15.2 Die Managementaufgaben bei Dienstleistungen
den die Aufgaben des Dienstleistungsmanagements verdeutlicht und ein Überblick über den Aufbau der folgenden Ausführungen gegeben.
15.4
Gestaltung als Managementaufgabe
15.4.1 Die Beschaffungssituation
der Nachfrager als Ansatzpunkt des Managements
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Ausgangspunkt der Gestaltung von Pflegeleistungen ist der Kunde der Pflegeleistung – der Patient. Versucht man, die Beschaffungssituation eines Nachfragers näher zu charakterisieren, so kann zunächst festgestellt werden, dass i. d. R. keine homogene Einzelleistung den Kern der Leistungserbringung darstellt, sondern vielmehr Leistungsbündel bezogen werden. Nimmt man einen Krankenhausaufenthalt als Beispiel, so besteht die Behandlung nicht nur aus hochspezifischen und für den Nachfrager kaum einsichtigen Behandlungsprozeduren. Daneben stehen ebenso Leistungselemente wie die Lage des Krankenhauses, die Unterbringung an sich, die Restauration, das Freizeitangebot, die Freundlichkeit des Personals etc., die der Nachfrager bereits im Voraus oder über Erfahrungen aus der Vergangenheit und die aktuellen Erlebnisse zumindest im Nachhinein beurteilen kann. Als Anhaltspunkt für die Einteilung der Leistungselemente können hier die Kategorien der Such-, Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften herangezogen werden (Nelson 1970; Darby u. Karni 1973). Sucheigenschaften einer Leistung beschrei-
ben dabei die Leistungen bzw. Leistungselemente, die der Nachfrager bereits vor der Beschaffung der Leistung beurteilen und zwischen den Anbietern vergleichen kann. Als Beispiel können hier u. a. die Lage der Pflegeeinrichtung, der allgemeine Zustand des Gebäudes etc. herangezogen werden. Somit liegen Sucheigenschaften lediglich für die Potentialdimension vor, da der Nachfrager nach diesen Leistungselementen explizit suchen kann. Als Erfahrungseigenschaften hingegen werden die Leistungsbereiche beschrieben, die erst nach dem Kauf bzw. während der Inanspruchnahme beurteilt werden können. Hierzu zählen z. B. das Niveau des Umgangs, die Intensität und Fürsorge während des Behandlungszeitraumes, so, wie sie sich den Patienten darstellen. Übertragen auf die Dienstleistungsdimensionen ist im Allgemeinen die Prozessdimension durch derartige Erfahrungseigenschaften charakterisiert. Vertrauenseigenschaften hingegen können weder vor noch nach der Inanspruchnahme seitens der Kunden beurteilt werden. Aufgrund der fehlenden Kenntnisse muss sich der Leistungsnehmer bei diesen Leistungsarten ganz auf den Anbieter verlassen, da er zu keiner Zeit die Möglichkeit hat, die Aktivitäten der Experten beurteilen zu können. Ärztliche Untersuchungen, die Anwendung spezieller Behandlungsverfahren oder Therapien sind weder transparent in ihrer Notwendigkeit, noch lassen sich vor der Inanspruchnahme oder danach identische Zustände herstellen, die eine Vergleichbarkeit möglich machen. Die Vertrauenseigenschaften manifestieren sich demnach in der Ergebnisdimension der Pflegeleistung. Damit steht praktisch keine Gesamtleistung im Brennpunkt des Interesses, sondern ein Bündel unterschiedlicher Leistungselemente, die auch jeweils verschieden zu handhaben sind. Während die »Hotelleistung« durchaus standardisierbar gestaltet und einheitlichen Qualitätsmaßstäben unterworfen werden kann, sind die Bereiche wie individuelle Beratung und Behandlung hingegen hochspezifisch und individuell abzustimmen und zu gestalten. Sie sind damit kaum standardisiert zu erbringen oder einheitlich zu messen. Zudem sind es gerade diese zumeist den Kernbereich der Leistung bestimmenden Elemente, die hochintegrativ und damit einer engen Zusammen- und Mitarbeit
401 15.4 · Gestaltung als Managementaufgabe
des Kunden unterworfen sind, was sie zu besonders sensiblen Faktoren in der Leistungserstellung werden lässt. Die Konsequenzen aus diesen Zusammenhängen sind vielschichtig. Die Managementaufgabe der Gestaltung richtet sich nicht auf eine homogene Leistung im Ganzen, sondern sieht sich vielmehr unterschiedlichen Leistungselementen gegenüber, die jeweils gesondert zu behandeln sind. Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass vor allem der integrative Leistungsteil den Eindruck der Gesamtleistung aus Nachfragersicht prägt. Nicht nur, dass es gerade diese Bereiche der Leistung sind, die u. U. unmittelbar am Kunden bzw. Patienten durchgeführt werden und damit direkt unter seiner Beobachtung stehen. Vielmehr stellen diese Leistungen zudem auch die Kernleistung an sich dar, weshalb der Kunde das gesamte Leistungspaket überhaupt in Anspruch nimmt. In vielerlei Hinsicht ist dies damit der sensibelste Leistungsbereich überhaupt. Vertrauenseigenschaften beginnen dabei z. B. nicht erst bei operativen Eingriffen, wie es zunächst den Anschein hat. Der Ausspruch des französischen Sonnenkönigs: »Der einzige Mensch, dem ich vertraue, ist mein Friseur, denn er setzt mir jeden Tag das Messer an den Hals« macht nur zu sehr deutlich, dass Vertrauenseigenschaften und die nachfragerseitig
reine Vertrauenskäufe
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damit verbundenen Unsicherheiten bereits bei viel unkritischeren Aktivitäten relevant sein können. Gerade dieser Bereich ist es allerdings, der nur sehr schwer einheitlich organisiert und gestaltet werden kann, da er eines hohen Maßes an individueller Anpassung bedarf. Die ⊡ Abb. 15.3 verdeutlicht nochmals den Eigenschaftsraum, in dem die einzelnen Leistungselemente positioniert werden können. Bedeutsam ist die Analyse der Gesamtleistung aus Sicht des Anbieters, weil sie eine der Grundlagen für die notwendige Struktur und die Prozesse des Anbieterbetriebes gibt. Dabei spielen nicht nur Qualitäts-, sondern auch und vor allem Kostenaspekte eine Rolle. Wie noch näher zu zeigen sein wird, eröffnet die Analyse Chancen, Bereiche zu standardisieren und damit kostengünstig zu gestalten. Welche Bedeutung einer solchen Analyse zukommt, wird vor allem dann deutlich, wenn man sich die möglichen Spannungsfelder vor Augen führt, die sich in diesem Raum ergeben können. Dabei spielen nicht nur unterschiedliche Interessen zwischen Anbieter und Nachfrager eine Rolle. Bereits auf Seiten des Nachfragers können Interessenkonflikte auftreten. Das Interesse an einer schnellen Behandlung tritt z. B. neben den Bedarf nach einer ausführlichen Beratung und Erklärung, die allerdings wiederum zeitintensiv sein kann.
Ausmaß an Vertrauenseigenschaften 100%
100%
Ausmaß an Erfahrungseigenschaften
100% Ausmaß an Sucheigenschaften
reine Suchkäufe
reine Erfahrungskäufe
⊡ Abb. 15.3 Typologisierung von Austauschprozessen. (Nach Weiber u. Adler 1995)
402
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Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Auch zwischen Anbieter und Nachfrager divergieren die Interessen u. U. erheblich. Ruft man sich nochmals ins Gedächtnis, dass die drei Qualitätsarten der Such-, Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften die subjektive Sicht des Nachfragers beschreiben, auf die der Anbieter im Sinne einer zu schaffenden Kundenzufriedenheit eingehen sollte, stehen aller Sorgfalt in diesem Zusammenhang dennoch ebenso Kostenargumente gegenüber. Während die Kostenbetrachtung, stark übertrieben formuliert, im Extremfall eine unpersönliche Fließbandabfertigung diktiert, verbinden sich mit der Kundenzufriedenheit, verstanden als Differenz zwischen der vom Kunden erwarteten und der tatsächlich erhaltenen Leistung, im Grunde genommen kundenindividuell abgestimmte Programme. Hier den Kompromiss zu finden, ist oft schwierig: »Wo liegt die zumutbare Wartezeit?«, »Wie viel Zeit darf ein Beratungsgespräch in Anspruch nehmen?«, »Was bedeutet Freundlichkeit?« oder »Auf welcher Höhe werden die Aufwendungen für Ernährung festgesetzt?« sind nur einige Beispiele dafür, dass betriebliche Notwendigkeiten hier durchaus Konfliktpotential mit sich bringen. Dennoch liefert der Analyseraum von Such-, Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften auch wertvolle Hinweise für die Gestaltung der Leistung. Sucheigenschaften beziehen sich auf die Potentialdimension, die dem Nachfrager noch vor Inanspruchnahme der eigentlichen Dienstleistung zugänglich ist. Die Anmutung der Räumlichkeiten, die Sauberkeit, Freundlichkeit und Helligkeit, der Gesichtsausdruck des Personals, seine Kleidung, die Erreichbarkeit des Gebäudes und insbesondere die Darstellung des Leistungsbündels in Prospekten oder im Internet prägen in hohem Maße die Erwartungen des Patienten an die Pflegeeinrichtung. Im Rahmen von Sucheigenschaften wird er speziell auf Indikatoren achten, die die nicht beurteilbare Vertrauensdimension des Leistungsergebnisses vorweg nimmt. Der Kommunikationspolitik und der Gestaltung des Leistungspotentials kommt daher herausragende Bedeutung zu. Im Bereich der Erfahrungseigenschaften ist der Patient vor der Wahl einer Pflegeeinrichtung – sei es ein Krankenhaus, eine Reha-Klinik oder ein Altenheim – besonders an einer Vorwegnahme möglicher Erfahrungen interessiert. Tage der offe-
nen Tür, Gespräche mit Patienten bzw. Heiminsassen, Probezeiten (im Altenheim), Berichte von (zufriedenen) Patienten auf Internetseiten oder in Patientenzeitungen u. ä. stellen sinnvolle Maßnahmen dar. Im Bereich der Vertrauenseigenschaften ist eine wirkliche Beurteilung durch den Patienten nicht möglich. Daher greifen hierbei insbesondere reputationsaufbauende und vertrauensbildende Maßnahmen im Vorfeld der Leistungserbringung. Das Renommee einer bestimmten Einrichtung, die Qualifikation der Ärzte oder des Pflegepersonals, Tests und Gütesiegel können solche Maßnahmen darstellen.
Beurteilung der Pflegeleistung Generell lässt sich Folgendes festhalten: Pflegeleistungen stellen Leistungsbündel dar, die vom Patienten in unterschiedlichem Ausmaß vor der Inanspruchnahme der Leistung beurteilt werden können. Sucheigenschaften sind vor der Inanspruchnahme beurteilbar. Sie entscheiden über die Qualitätserwartungen vor Inanspruchnahme der Leistung. Erfahrungseigenschaften zeigen sich während der Inanspruchnahme. Sie fließen in das Qualitätsurteil des Patienten ein, wobei erschwerend hinzukommt, dass sein eigenes Integrationsverhalten entscheidenden Einfluss ausüben kann. Erfahrungen anderer Patienten, Tage der offenen Tür, Besuche der Station wie bei bevorstehenden Entbindungen können Erfahrungen der eigentlichen Leistungsinanspruchnahme vorweg nehmen. Vertrauenseigenschaften können vom Patienten nicht beurteilt werden. Hierbei kommt dem Aufbau von Image oder Reputation und der Erzeugung von Vertrauen entscheidende Bedeutung zu.
Während gestalterische Maßnahmen auf der Ebene der Such-, Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften vor allem im Vorfeld der Leistungserbringung ansetzen, also bevor der Patient die Einrichtung betreten hat, geht es im Folgenden um die Gestaltung des Leistungserstellungsprozesses, d. h. des Pflegeprozesses im engeren Sinne.
403 15.4 · Gestaltung als Managementaufgabe
15.4.2 Prozessevidenz als Gestaltungs-
aufgabe bei integrativer Leistungserstellung Wie die bisherigen Ausführungen verdeutlicht haben, kommt der Integration des Kunden bzw. Patienten besondere Bedeutung für eine effektive und effiziente Pflege zu. Leistungspotential und Leistungserstellungsprozess sind daher so zu gestalten, dass der Kunde bzw. Patient möglichst patientenfreundlich, kostengünstig und einfach in den pflegerischen Prozess integriert wird. Welche Anstrengungen besonders im Bereich der Pflege unternommen werden, damit das Pflegepersonal in die Lage versetzt werden kann, die Sicht des Kunden einzunehmen, kann allein daran aufgezeigt werden, welche Ausbildungsmethoden hier zum Einsatz kommen. Beispiel Eine beachtenswerte Methode im Bereich der Ausbildung in der Altenpflege stellt der »Age Simulator« dar. Mit diesem auch »Feeling 70« genannten Anzug, der bei der Münchenstift GmbH zum Einsatz kommt, wird es möglich, die alltägliche Situation älterer Menschen zu simulieren und so erlebbar zu machen. Manschetten an den Gelenken schränken dabei die Bewegungsfreiheit ein, ein spezielles Visier simuliert das im Alter häufig zu beobachtende eingeschränkte Gesichtsfeld bzw. schwindende Sehkraft. Kopfhörer schränken zudem auch das Gehör ein, so dass der Träger bzw. die Trägerin des Anzugs mit genau den gleichen Gegebenheiten umgehen müssen, mit denen ältere Menschen konfrontiert sind. Dadurch soll es dem Personal möglich gemacht werden, die Situation älterer Menschen plastisch nacherleben zu können, damit sie in ihrem späteren Beruf diese Situationen besser einschätzen und sich darauf einstellen können.
Dieses Beispiel macht deutlich, wie zentral die Erfassung, Analyse und das Management der Interaktion mit den Kunden für den Anbieter ist. Wichtig ist dabei nicht nur, dass der Anbieter »eigene« Einblicke in die Abläufe erlangt. Der
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Dienstleistungsbetrieb macht es in zunehmendem Maße notwendig, die Welt »mit den Augen der Kunden« zu betrachten, damit die Planung der eigenen internen Abläufe eine entsprechende Ausrichtung erlangen kann. Bedeutsam wird diese Perspektive vor allem dann, wenn die Bereiche ermittelt werden müssen, in denen der Kunde faktisch einen Leistungsbeitrag erbringen muss, damit eine reibungslose Leistungserstellung möglich wird. Da sich diese Leistungsbeiträge gerade nicht im Dispositionsbereich des Anbieters befinden und damit nicht der eigenständigen Planung des Anbieters unterliegen, können vor allem von hier ungeplante Einflüsse auf die Prozesse des Anbieters ausgehen, die auch für andere Nachfrager durchaus nachhaltige Wirkungen entfalten können. Der erste Schritt, diesen Leistungsbeitrag des Nachfragers für das Management erreichbar zu machen, liegt darin, beim Nachfrager zunächst einmal Evidenz zu schaffen, dem Kunden also zu verdeutlichen, welche Bedeutung seinem Leistungsbeitrag bzw. seiner Mitwirkung in der Leistungserstellung zukommt. Die Bedeutung der Prozesstransparenz im Leistungserstellungsprozess Das vordringliche Ziel besteht bei der Schaffung von Nachfragerevidenz vor allem darin, dem Nachfrager seine Rolle zu verdeutlichen, die er in dem Leistungserstellungsprozess einnimmt. Dabei geht es hier zunächst weniger darum, konkrete Schritte einzuleiten. Vielmehr zielen die zu treffenden Maßnahmen vordringlich darauf ab, die Aufmerksamkeit des Nachfragers zu wecken und herauszustellen, welche Leistungselemente aktiver Unterstützung bedürfen. Häufig wissen die Kunden nicht, wann sie sich wie zu verhalten haben oder welche Schritte im Rahmen des Leistungserstellungsprozesses aufeinander folgen. Dies behindert nicht nur den Fortgang der Aktivitäten, sondern kann aufkommende Unsicherheiten des Nachfragers oder Unzufriedenheit bzw. Unwillen hervorrufen, was i. d. R. mit negativen Konsequenzen für die Leistungserbringung verbunden ist. Die ⊡ Abb. 15.4 fasst das Problem der Prozesstransparenz auf Seiten des Kunden nochmals zusammen. Eine der Aufgaben, die es hier entsprechend zu bewältigen gilt, zielt auf die Prozesstransparenz
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Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Der Kunde ist sich der Bedeutung seiner Mitwirkung nicht bewusst. Mangelndes Prozessbewusstsein
Dienst-
leistungs-
erstellungs-
prozess
Der Kunde ist sich der Bedeutung seiner Mitwirkung nicht bewusst. Mangelndes Prozessbewusstsein ⊡ Abb. 15.4 Der Einfluss der Prozesstransparenz auf den Leistungserstellungsprozess
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der Kunden ab, die bereits vor den eigentlichen Leistungserstellungsprozessen geschaffen werden kann. Ablaufpläne, Infobroschüren oder Vorbereitungsgespräche können hier dazu eingesetzt werden, um dem Kunden die Leistungsbeiträge nahe zu bringen, die innerhalb des Leistungserstellungsprozesses von ihm erbracht werden müssen. Diese Erklärungen erfüllen gleichzeitig auch den Zweck, dem Kunden Klarheit über die Anbieterleistung zu verschaffen. Die hier geschaffene Transparenz dient dabei auch dazu, Unsicherheiten des Nachfragers abzubauen und dessen Leistungswahrnehmung zu verändern. Die Erläuterung z. B. von umfangreichen Behandlungen wird vom Nachfrager u. U. nicht nur als Zeichen besonderer Sorgfalt gewertet. Entstehen vor einer solchen Behandlung für den Kunden Wartezeiten, so kann sie der Nachfrager leichter bzw. selbst erklären. Eine höhere Toleranz bzw. ein geringeres Unzufriedenheitspotential, das mit der Prozesstransparenz einhergeht, hat damit ebenso positiven Einfluss auf die Qualitätswahrnehmung der Nachfrager. Die Bedeutung des Prozessbewusstseins im Leistungserstellungsprozess Waren die Maßnahmen der Leistungstransparenz vordringlich darauf ausgerichtet, den Nachfrager für die anstehenden interaktiven Aktivitäten im Rahmen des Leistungserstellungsprozesses zu sensibilisieren, stehen die konkreten Aktivitäten und deren Bedeutung im Mittelpunkt des Prozessbewusstseins, das ebenso einflussreich auf den Leis-
tungserstellungsprozess ist. Vereinfacht gesagt, nützt die größte Leistungs- und Prozesstransparenz wenig, wenn der Nachfrager die Bedeutung und die Folgen nicht abschätzen kann, die das Fehlen oder die falsche Erbringung seines Leistungsbeitrages zur Folge haben können. Greift man das Beispiel der Blutuntersuchung auf, so kann hier die Tatsache eines Fehlverhaltens des Kunden dazu führen, dass die Gesamtleistung nicht erbracht werden kann, weil der Patient z. B. nicht nüchtern zur Untersuchung erscheint. Der Abbruch des Leistungserstellungsprozesses führt in der Konsequenz logischerweise dazu, dass sich die angestrebten Leistungsergebnisse verzögern oder gar nicht einstellen. Vor allem im Gesundheitsbereich lassen sich beliebig viele Beispiele nennen, bei denen das Kundenverhalten massiven Einfluss auf das Leistungsergebnis des Anbieters hat. Bewegungsloses Verharren vor Röntgenuntersuchungen kann hier ebenso genannt werden wie das Befolgen von Diätplänen, das Einhalten verordneter Bettruhe oder die zeitgenaue Einnahme von Medikamenten. All diese Aktivitäten, die vom Kunden erbracht werden müssen, sind tragende Elemente des Leistungserstellungsprozesses und damit notwendige Voraussetzung dafür, dass die angestrebten Ergebnisse erreicht werden. Die Notwendigkeit für Managementaktivitäten ergibt sich hierbei aus der Tatsache, dass der Anbieter nur dann eine erfolgreiche Leistungserbringung gewährleisten kann, wenn er sicherstellt, dass die notwendigen Leistungsbeiträge der Kunden auch tatsächlich erfolgen. Anders als bei Sachleistungen, bei denen die Kunden i. d. R. von der Leistungsfähigkeit der Anbieter abhängen, ergibt sich bei Dienstleistungen das Problem, dass der Anbieter aufgrund der geschilderten Zusammenhänge in ganz erheblichem Maße auch von der Leistungsfähigkeit und dem Leistungswillen seiner Kunden abhängt. Erschwerend kommt für den Anbieter hinzu, dass durch den Kunden induzierte Leistungsstörungen zumeist nicht dem Kunden, sondern dem Anbieter angelastet werden. Damit stellt sich im Extremfall nicht nur die Frage, wie die Entlohnung eines im Grunde genommen nicht oder nicht vollständig erbrachten Leistungsergebnisses erfolgen kann oder soll. Zudem können solche Ereignisse
405 15.4 · Gestaltung als Managementaufgabe
auch Außenwirkung in Form von Reputationsverlust bzw. sinkendem Ansehen verursachen. Um diesen Problemfeldern zu entgehen, ist es angebracht, den Kunden frühzeitig in die geplanten Maßnahmen einzubinden. Dabei muss der Anbieter seine Aufmerksamkeit vor allem auch darauf richten, ob die Kunden auch tatsächlich die notwendige Leistungsfähigkeit und auch den Leistungswillen haben, um ihren Leistungsbeitrag erbringen zu können. Damit muss der Kunde nicht nur überzeugt werden, dass er bestimmte Vorschriften zu erfüllen hat. Auch die »Schulung« der Kunden im Falle fehlender Leistungsfähigkeit kann hier u. U. notwendig sein: Erklärungen, wie bestimmte Präparate zu verwenden sind, können hier ebenso genannt werden wie das Erlernen veränderter Bewegungsabläufe bei Rehabilitationsmaßnahmen oder die Erläuterung von gesundheitlich richtigem Verhalten (z. B. richtiges Sitzen, Heben, Sport etc.) im Bereich der Prävention. Der große Einfluss, den die Kunden auf das Erreichen der Ziele des Anbieters haben, macht es notwendig, auch die Leistungsfähigkeit und den Leistungswillen in die Planungen der internen Abläufe einzubinden und aktiv zu gestalten. Die in ⊡ Abb. 15.5 aufgezeigten Zusammenhänge fassen die wesentlichen Ansatzpunkte noch einmal zusammen, die im Hinblick auf die Einbindung der Kunden in die betrieblichen Abläufe zu beachten sind. Wie bei allen Dienstleistungen ist auch hier darauf hinzuweisen, dass diese Aspekte nur sehr schwer
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allgemein gültig zu bestimmen sind, sondern vielmehr individuell auf den Kunden hin ermittelt werden müssen. Die schwierige Messbarkeit der Kriterien erschwert zudem eine exakte Bestimmung der Fortschritte, die hier im Sinne der Qualitätssicherung im weiteren Sinne erreicht worden sind bzw. erreicht werden können. Befragungen als Hilfsmittel, aber auch die persönliche Erfahrung des Personals spielen in diesem Bereich eine große Rolle. Die Tatsache, dass es sich hier um sehr »weiche«, schwer erfassbare Faktoren handelt, schließt allerdings nicht per se aus, dass im Rahmen des Managements versucht wird, diese Erfahrungswerte zu erfassen und zu systematisieren, um eine zielgerichtete Planung der innerbetrieblichen Abläufe zu gewährleisten. Auch hier kann wiederum auf die neuen Managementkonzepte in der Industrie verwiesen werden, bei denen versucht wird, ähnlich gelagerte Probleme über betriebliches »Wissensmanagement« zu lösen. Innerbetrieblich oder auch zusammen mit Kunden wird hier versucht, den Erfahrungsaustausch zu forcieren, damit erkannte Schwierigkeiten innerhalb der Leistungserstellung in dem hier zu diskutierenden Bereich systematisch eingegrenzt und gelöst werden können. > Prozessbewusstsein und -transparenz des Patienten erleichtern die Integration in den Pflegeprozess. Pflegeprozesse sind daher so zu gestalten, dass Prozessbewusstsein und -transparenz geschaffen werden. Dies kann durch die Gestaltung des pflegerischen Ablaufs geschehen, stellt aber auch besondere Anforderungen an das pflegerische Personal.
Prozessevidenz
15.4.3 Das Blueprinting als PlanungsDer Kunde muss sich der Bedeutung seiner Mitwirkung bewusst sein.
Der Kunde muss wissen, wann er welche Leistung zu erbringen hat.
Prozessbewusstsein
Prozesstransparenz
Willensbarrieren
Fähigkeitsbarrieren
⊡ Abb. 15.5 Elemente der Prozessevidenz. (Nach Fließ 1996)
instrument Beim Blueprinting (Marra 1999; Fließ 2000) handelt es sich zunächst um eine chronologische Darstellung der Aktivitäten eines Pflegeprozesses, die auf der horizontalen Achse dargestellt werden (⊡ Abb. 15.6). Auf der vertikalen Achse werden die Aktivitäten – ausgehend vom Kunden und immer tiefer in die Pflegeeinrichtung eindringend – weitergehend strukturiert. Hierbei sind die folgenden Ebenen voneinander zu unterscheiden:
406
Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Kunden- bzw. Patientenaktivitäten
unmittelbar kundeninduzierte Aktivitäten
Onstage-Aktivitäten
Backstage-Aktivitäten
Sichtbarkeitslinie
Linie der internen Interaktion
Support-Aktivitäten
PotentialAktivitäten
sekundäre Aktivitäten
unsichtbare Aktivitäten
Anbieter- bzw. Krankenhausaktivitäten
Interaktionslinie
Vorplanungslinie Preparation-Aktivitäten Facility-Aktivitäten
Implementierungslinie
⊡ Abb. 15.6 Die Struktur des Blueprints. (Nach Fließ 1999, S. 43; in Anlehnung an Kleinaltenkamp 1999, S. 34)
Interaktionslinie
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Die Interaktionslinie (line of interaction) trennt die Kundenaktivitäten von den Anbieteraktivitäten, d. h. die Aktivitäten des einzelnen Patienten von denen des Pflegepersonals. Zu den Patientenaktivitäten zählt beispielsweise, dass der Patient über Schmerzen klagt, dass er nach dem Pflegepersonal klingelt, dass er isst oder seine Tabletten nimmt. Unterhalb der Interaktionslinie vollziehen sich die Anbieteraktivitäten, d. h. die Aktivitäten des Pflegepersonals. Sichtbarkeitslinie
Die Sichtbarkeitslinie (line of visibility) trennt die sichtbaren Aktivitäten von den für den Patienten unsichtbaren Aktivitäten im Rahmen der Pflege. Unterhalb der Sichtbarkeitslinie sind die sog. »Backstage-Aktivitäten« einzuordnen, oberhalb der Sichtbarkeitslinie die »Onstage-Aktivitäten«. Sichtbar sind für den Patienten alle Handgriffe, die das Pflegepersonal an seinem Körper vornimmt, z. B. Waschen, Fiebermessen. Sichtbar ist weiterhin, was innerhalb des Zimmers passiert, z. B. was der Arzt über den Gesundheitszustand eines anderen Patienten während der Visite äußert oder welche Fragen dem Pflegepersonal im Beisein des Patien-
ten gestellt werden. Nicht sichtbar sind demgegenüber alle Aktivitäten, die innerhalb der Schwesternzimmer stattfinden, die Einsatzbesprechungen des Pflegepersonals mit der Pflegedienstleitung oder die Übergabegespräche zwischen Tages- und Nachtschicht. Linie der internen Interaktion
Mit Hilfe der Linie der internen Interaktion (line of internal interaction) lassen sich unterstützende Aktivitäten von den primären kundenbezogenen Aktivitäten trennen. Unterstützende Aktivitäten, auch als Support-Aktivitäten bezeichnet, dienen der weiteren Fortführung des Kundenintegrationsprozesses, ohne jedoch (anders als die primären Aktivitäten) dem Kunden einen unmittelbaren Nutzen zu stiften. Es handelt sich um solche Tätigkeiten, die das Pflegepersonal für die Steuerung und Planung seiner eigenen Tätigkeit oder der anderer Abteilungen benötigt. Hierzu zählt etwa die Dokumentation der Behandlung für den Arzt oder für die spätere Abrechnung der Krankenhausleistungen. Diese Aktivitäten haben nichts mehr direkt mit dem Patienten zu tun, werden aber durch seine externen Faktoren angestoßen. Die Linie der internen Interaktion trennt somit Aktivitäten, die unmittelbar dem Kunden dienen
407 15.4 · Gestaltung als Managementaufgabe
(primäre Aktivitäten) von solchen Aktivitäten, die nur noch mittelbar mit dem Kunden zu tun haben (sekundäre Aktivitäten). Die primären Aktivitäten umfassen dabei die Kombination der internen und externen Faktoren, und zwar sowohl die für den Kunden sichtbaren als auch die für den Kunden nicht sichtbaren Aktivitäten. Die sekundären Aktivitäten während des Leistungserstellungsprozesses entsprechen den unterstützenden oder SupportAktivitäten. Hier ist sowohl die Disposition über die internen Faktoren anzusiedeln, soweit sie während des Leistungserstellungsprozesses vorgenommen wird, z. B. Anweisungen an das Pflegepersonal, als auch die durch den Kunden induzierten Aktivitäten, die notwendig sind, damit eine Kombination aus internen und externen Faktoren durchgeführt werden kann. Vorplanungslinie
Die Vorplanungslinie (line of order penetration) trennt die Aktivitäten des Leistungserstellungsprozesses von den Aktivitäten des Leistungspotentials. Sie bildet die Trennlinie zwischen den integrativ disponierten und den autonom disponierten Aktivitäten des Pflegepersonals. Alle Aktivitäten oberhalb der Vorplanungslinie sind unmittelbar kundeninduziert; sie können erst durchgeführt werden, wenn der Patient mit seinen externen Faktoren integriert wird. Alle Aktivitäten unterhalb der Vorplanungslinie können unabhängig von einem konkreten Kunden vordisponiert werden; ihre Durchführung ist unabhängig von einem bestimmten Patienten möglich. Implementierungslinie
Die Prozesse innerhalb des Leistungspotentials können wiederum in Preparation-Aktivitäten und in Facility-Aktivitäten unterschieden werden. Zwischen beiden ist die Implementierungslinie (line of implementation) einzuziehen. Preparation-Aktivitäten umfassen solche Aktivitäten, die autonom vom Anbieter disponiert werden, aber dazu dienen, den Leistungserstellungsprozess vorzubereiten. Hierzu zählt etwa die Aufstockung des Vorrates von Medikamenten in der Abteilung aus den Beständen des Krankenhauses. Zu den Facility-Aktivitäten sind die autonomen Dispositionen zu rechnen, die den Preparation-Aktivitäten
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logisch und meist auch zeitlich noch vorgelagert sind. Hierzu zählt die Einrichtung von Krankenhauszimmern, die Einstellung und Weiterbildung des Personals, der Kauf von EDV und die Implementierung neuer Software. Ein Beispiel für ein Blueprint zeigt ⊡ Abb. 15.7. Hierbei handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem Pflegeprozess auf einer Entbindungsstation. Eingetragen sind die für einen Vormittag typischen Abläufe. Aus dem Blueprinting selbst ergeben sich bereits erste Anhaltspunkte für Schwachstellen und darauf aufbauende Gestaltungsmöglichkeiten. Mit dem Ziel der herausgearbeiteten Effizienzund Effektivitätsverbesserung können die folgenden Überlegungen angestellt werden: ▬ Wie hoch ist der Anteil der Aktivitäten ober- und unterhalb der Interaktionslinie? Je mehr Aktivitäten oberhalb der Interaktionslinie liegen, desto mehr wirkt der Patient selbst am Pflegeprozess mit. Das Ausmaß der eigenen Mitwirkung kann von den Patienten dabei sehr unterschiedlich bewertet werden. Der Einsatz zusätzlicher Controllinginstrumente ( Kap. 15.4), z. B. Zufriedenheitsbefragungen, kann hier Aufschluss über die wahrgenommene Qualität geben. Die Mitwirkung der Pflegeperson hat jedoch auch Einfluss auf die Effizienz des Prozesses. Ob mehr Mitwirkung zu niedrigeren oder höheren Kosten führt, kann mit Hilfe der Prozesskostenrechnung aufgedeckt werden (Bogaschewskaja et al. 1998). ▬ Wie hoch ist der Anteil der Aktivitäten oberhalb und unterhalb der Linie der internen Interaktion? Da der Patient im Mittelpunkt des Pflegeprozesses steht, sind alle Aktivitäten, die den Patienten einbeziehen und seinem direkten Nutzen dienen, von größerer Bedeutung als die Support-Aktivitäten. Betrachtet man das Blueprint, so sollte der größte Teil der Aktivitäten oberhalb der Linie der internen Interaktion liegen. Befindet sich demgegenüber ein größerer Teil der Aktivitäten unterhalb der Linie der internen Interaktion, so deutet das auf eine Dominanz verwaltungstechnischer Aktivitäten hin, die vornehmlich der eigenen Prozessorganisation dienen und weniger dem Patienten zugute kommen. Hier besteht ein erster Ansatzpunkt für die Steigerung der Pflegequalität.
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Windeln, Kleidung auf die Station bringen
Gewicht eintragen etc.
Baby wickeln wiegen etc.
Baby abholen
Besprechung Arzt/Pflegepersonal bzw. Pflegeleitung
Personaleinsatzplanung
Speiseplan erstellen
dokumentieren
Medikamente zusammenstellen, Frühstück zubereiten
Frühstück u. Medikamente bringen
Mutter isst
Geschirr und Besteck spülen
Frühstücktabletts abholen
dokumentieren
Rückbildungsgymnastik
Gymnastikprogramm ausarbeiten
dokumentieren
Untersuchung bei der Ärztin
Personal einstellen, schulen, weiterbilden Lebensmittel beschaffen Informationssystem konzipieren und implementieren, EDV beschaffen und implementieren Räume errichten, mieten, ausstatten etc.
Mutter stillt bzw. füttert
⊡ Abb. 15.7 Beispiel eines Blueprints – Aktivitäten auf einer Entbindungsstation (Ausschnitt). (Nach Fließ 2000)
Baby zur Mutter bringen
Ausschnitt aus dem Pflege-Blueprint einer Entbindungsstation
Badezusätze beschaffen
dokumentieren
Bad vorbereiten
spezielle Anwendungen, z.B. Bäder
Zeit
Facility Aktivitäten
line of implementation
Preparationaktivitäten
line of order penetration
Supportaktivitäten
line of internal interaction
line of visibility nicht sichtbare primäre Aktivitäten
sichtbare primäre Aktivitäten
line of interaction
Patientenaktivitäten
408 Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
409 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
▬ Welche Aktivitäten sind oberhalb der Vorplanungslinie und welche unterhalb eingetragen? Aktivitäten oberhalb der Vorplanungslinie werden kundeninduziert durchgeführt; sie kosten während des Pflegeprozesses Zeit. Daher ist zu fragen, ob alle Aktivitäten erst durch die Pflegepersonen angestoßen werden oder ob manche Aktivitäten nicht auch von Patienten unabhängig durchgeführt werden können. Solche Aktivitäten etwa lassen sich bündeln und aus dem eigentlichen Pflegeprozess auskoppeln; sie sind dann dem Potential zuzurechnen und autonom zu gestalten. Manche dieser Aktivitäten sind dann u. U. auch nicht notwendigerweise vom Pflegepersonal durchzuführen, sondern können von anderen Personen übernommen werden und somit die Effizienz der Pflege steigern. ▬ Werden Abteilungen und Stellen eingetragen, so lassen sich Schnittstellen erkennen. Schnittstellen bedürfen zwecks optimaler Prozessgestaltung der Koordination durch Übergaben, Absprachen etc. Sind sehr viele unterschiedliche Abteilungen und Stellen beteiligt, so kann dies zu Übergabe- und Abstimmungsproblemen führen. ▬ Hilfsmittel: Sind die technischen Hilfsmittel adäquat für die Aufgaben, für die sie eingesetzt werden? Hilft die EDV oder führt sie eher zu zeitlichen Verzögerungen, Fehlern o. ä.? ▬ Räumlichkeiten: Werden die verschiedenen Aktivitäten an vielen verschiedenen Orten durchgeführt, so können dadurch lange Wegzeiten entstehen, die der Patientenpflege entzogen werden.
Zwischenfazit Blueprinting Mit der Methode des Blueprinting können nahezu alle Bereiche der betrieblichen Planung erfasst werden. Im Pflegemanagement steht die Interaktion mit dem Patienten im Mittelpunkt. Das Blueprint bildet hier die Grundlage, einerseits zur Gestaltung der Interaktion aus Sicht des Patienten mit Ziel der Verbesserung der Effektivität und andererseits zur Gestaltung
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der innerbetrieblichen und organisatorischen Abläufe mit dem Ziel der Verbesserung der Effizienz der Pflegeeinrichtung. Anhaltspunkte für Verbesserungen können durch das Blueprint in qualitativer, zeitlicher und wirtschaftlicher Hinsicht gewonnen werden. Um daraus konkrete Maßnahmen zur Steuerung und Entwicklung abzuleiten, sind häufig weitere Informationen erforderlich. Entsprechend den Controllinggrößen sind hierbei insbesondere qualitätsbezogene Informationen, Zeitangaben und Kostengrößen zu nennen. Hierfür ist der Einsatz von Einzelinstrumenten erforderlich. Die aus dem Einsatz der Einzelinstrumente erhaltenen Ergebnisse können dann wiederum in das Blueprint eingeordnet werden. Während die Controllinginstrumente also jeweils einzelne Controllinggrößen beleuchten, stellt das Blueprinting hingegen eine Methode dar, die es erlaubt, verschiedene Controllinggrößen und -objekte miteinander zu verbinden.
15.5
Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
15.5.1 Aufgabenbereiche des Pflege-
controllings »Der Begriff des Controlling wird in der Literatur fast einhellig als unklar oder schillernd charakterisiert.« (Schildbach 1992, S. 21). Verantwortlich für diese terminologischen Unklarheiten sind insbesondere die folgenden Gründe (Steinmann u. Scherer 1996, S. 139 ff.): ▬ Im Laufe der Zeit wurde dem Controlling ein immer breiteres Aufgabenspektrum zugewiesen, so dass sich in manchen Controllingdefinitionen die Gesamtheit der üblichen Managementfunktionen wiederfindet (Planung, Organisation, Personalführung, Leitung, Kontrolle). Die Folge ist im Extremfall eine Gleichsetzung von Unternehmensführung und Controlling, womit der Controllingbegriff ähnlichen Kritikpunkten ausgesetzt ist wie der MarketingBegriff (Schneider 1983).
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Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
▬ Bedingt durch die Anwendung des Controllingkonzeptes in der Praxis haben sich frühzeitig entsprechende Institutionalisierungsformen (Stellen; Abteilungen) in den Unternehmungen etabliert. In der Literatur wird dies aufgegriffen, dann aber oft nicht sorgfältig genug zwischen Controlling als Institution und Controlling als Funktion getrennt. ▬ Sehr kontrovers diskutiert wird auch die Frage, ob Controlling lediglich der Unterstützung der Unternehmensführung dienen soll oder ob es sich um eine Funktion mit echten Leitungsbzw. Steuerungsaufgaben handelt. ▬ Schließlich findet sich keine Einigkeit darüber, ob das Controlling unmittelbar auf die Formulierung von Plänen Einfluss nehmen oder aber sich auf die Steuerung und Gestaltung von Planungssystemen und -prozessen konzentrieren und damit nur einen mittelbaren Einfluss auf die Planung nehmen sollte. Je nachdem, wie der einzelne Betrachter diese strittigen Punkte für sich löst, ergeben sich höchst unterschiedliche Interpretationen des Controllings, seiner Aufgaben und Instrumente (Horváth 1998, S. 15 ff.). Für die vorliegenden Zwecke kann daher nur eine Definition verwendet werden, die dem Zweck der Überlegungen angemessen erscheint. Daher wird im Folgenden von nachstehender Begriffsfassung ausgegangen.
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Controlling ist das Subsystem der Führung, das Planung, Steuerung und Kontrolle mit der Informationsversorgung zielorientiert koordiniert (Horváth 1993, Sp. 322)«.
Ein derartiger Controllingbegriff weist somit einige wichtige Kennzeichen auf: ▬ Es wird ein funktionales Verständnis des Controllings zugrunde gelegt. Damit ist Controlling nicht an bestimmte Institutionen (z. B. organisatorische Einheiten) gebunden, die die alleinige Verantwortung tragen. ▬ Das Controlling dient der Unterstützung der Führung bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, speziell bei der Entscheidungsfindung, durch die Bereitstellung von Informationen. Controlling ist somit keine Führungsfunktion im engeren Sinne, sondern eine Führungsun-
terstützungsfunktion. Horváth (1993, Sp. 323) bezeichnet insofern die Koordinationsleistung des Controlling als »Sekundärkoordination«, die der Führung bei der »Primärkoordination« des Unternehmensgeschehens zur Seite steht. ▬ Controlling ist eine Querschnittsfunktion mit Relevanz für alle Teilbereiche der Unternehmung, in denen Entscheidungen zu treffen, umzusetzen und zu kontrollieren sind. ▬ Controlling erfolgt zielorientiert, d. h. es soll zur Realisierung der Unternehmensziele beitragen. Aus der Perspektive der marktorientierten Unternehmungsführung, die im Rahmen des vorliegenden Beitrags eingenommen wird, bedeutet dies die Orientierung an der Erlangung von Wettbewerbsfähigkeit bzw. Wettbewerbsvorteilen. Als betriebswirtschaftliche Zielgrößen der Unternehmungsführung können insofern vor allem wiederum die Effektivität und die Effizienz hervorgehoben werden (Plinke 1995, S. 82 ff.).
Controlling soll also durch die Bereitstellung von Informationen dazu beitragen, dass die Entscheidungen in der Unternehmung den Anforderungen an Effektivität und Effizienz gerecht werden können. Beide Zielsetzungen stellen an das Controlling neben einer Reihe von gemeinsamen auch jeweils einige besondere Herausforderungen, so dass im Verlauf der weiteren Ausführungen die zu behandelnden Controllinginstrumente danach unterschieden werden, ob sie schwerpunktmäßig auf Effektivität oder vor allem auf Effizienz abzielen. Dabei wird sich aber auch zeigen, dass aufgrund der vielfältigen Interdependenzen der Entscheidungen eine theoretisch exakte Grenze zwischen beiden Bereichen nicht immer gezogen werden kann. Welche Controllinginstrumente einzusetzen sind, hängt nun davon ab, welche Zielsetzungen mit dem Controlling verfolgt werden. Darüber hinaus stehen mit den Ansatzpunkten Leistungspotential, Leistungserstellungsprozess und Leistungsergebnis wesentliche Controllingobjekte fest. Im Kap. 15.1 wurde außerdem gezeigt, dass die betriebswirtschaftlichen Zielsetzungen der Effektivität und der Effizienz im Mittelpunkt stehen. Die Überprüfung und Steuerung der Erreichung dieser Ziele wird
411 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
durch die Controllinggrößen Qualität, Zeit und Kosten ermöglicht. Stellt man Controllinggrößen und Controllingobjekte einander gegenüber, so erhält man die in ⊡ Abbildung 15.8 dargestellte Controllingmatrix. Die Qualität des Leistungspotentials bezieht sich auf Qualitätselemente, über die die Pflegeinstitution autonom disponieren kann. Diese werden im Hinblick auf ihren Beitrag zur Erreichung des Effektivitätsziels, z. B. Zufriedenheit des zu Pflegenden, Wohlbefinden des Patienten, beurteilt. Die Felder der Matrix zeigen entsprechende Beispiele. Qualitätsaspekte des Leistungserstellungsprozesses beziehen sich auf die Mitwirkung der zu pflegenden Person an der Erbringung der Pflegeleistung. Wie oben bereits dargestellt, kann hiervon ein fördernder, unterstützender, neutraler oder hemmender Einfluss auf die Dienstleistungsqualität ausgehen. Qualitätsaspekte des Leistungsergebnisses beziehen sich auf die Gesamtheit der Pflegedienstleistung, nicht auf einzelne Aspekte des Leistungspotentials oder des Leistungserstellungsprozesses. Ein Beispiel hierfür ist etwa das Gesamtqualitätsurteil eines Patienten, wie es sich in der Antwort auf die Frage »Wie zufrieden waren sie mit der Pflege insgesamt?« ausdrückt. Kostenaspekte des Leistungspotentials beziehen sich etwa auf die Höhe der Kosten für die Bereitstellungsleistung insgesamt, z. B. für die Ausstattung der Zimmer. Die Kosten des Leistungserstellungsprozesses werden durch die Ausgestaltung desselben beeinflusst. Bewohner eines Pflegeheims, die sich selbst anziehen, reduzieren die Kosten des
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Leistungserstellungsprozesses, während Bewohner, die angezogen werden müssen, die Pflegekosten entsprechend erhöhen. Das Ausmaß der Patientenmitwirkung hat damit erheblichen Einfluss auf die Höhe der Kosten. Die Gesamtkosten des Leistungspotentials und des Leistungserstellungsprozesses bestimmen die Höhe der Kosten je Kostenträger, d. h. je Leistungsbündel. Zeit als Controllinggröße ist sowohl für Kontroll- als auch für Steuerungszwecke insbesondere auf der Ebene des Leistungspotentials und des Leistungserstellungsprozesses von Bedeutung. Die Öffnungs- oder Besuchszeiten eines Krankenhauses, einer Pflegestation oder eines Sanatoriums etwa sind dem Leistungspotential zuzurechnen, während Wartezeiten, die Gesamtdauer des Pflegeprozesses sowie einzelner Aktivitäten innerhalb des Pflegeprozesses sich zum einen auf die Qualitätswahrnehmung der Pflegedienstleistung auswirken, zum anderen die Höhe der Kosten maßgeblich beeinflussen. Bestimmte Controllinginstrumente können nun entsprechend ihrem jeweiligen Schwerpunkt in die Controllingmatrix eingeordnet werden (⊡ Abb. 15.9). Manche Controllinginstrumente beziehen sich dabei lediglich auf einen Aspekt, während andere mehrere Aspekte betrachten. Im Folgenden werden nun die verschiedenen Controllinginstrumente näher betrachtet. Dabei erfolgt eine Differenzierung entsprechend den betriebswirtschaftlichen Zielen, über deren Erreichung das Controlling Auskunft geben soll, nämlich zwischen effektivitätsbezogenen und effizienzbezogenen Controllinginstrumenten.
Controllinggrößen Controllingobjekte
Qualität
Zeit
Kosten
Leistungspotential
Qualifikation, Freundlichkeit des Pflegepersonals
Öffnungszeiten, Besuchszeiten
Kosten der EDV-Ausstattung
Leistungserstellungsprozess
Gespräche mit den Patienten
Dauer des Pflegeprozesses
Kosten des Waschens einer Person
Leistungsergebnis
Zufriedenheit der Pflegepersonen
Wirkung der Pflege
Kosten für den Aufenthalt in einem Pflegeheim
⊡ Abb. 15.8 Aufgabenbereiche des Pflegecontrollings – die Controllingmatrix
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Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Controllinggrößen Controllingobjekte
Qualität
15.5.2 Effektivitätsbezogene
Instrumente des Controllings im Pflegemanagement
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Einordnung der effektivitätsbezogenen Controllinginstrumente Die Aufgabe des effektivitätsorientierten Controllings besteht darin festzustellen, in welchem Maße die Pflegedienstleistung den Qualitätsanforderungen entspricht, wo möglicherweise Abweichungen bestehen (Aufgabe der Steuerung), um ggf. Ansatzpunkte für Entwicklungsmaßnahmen aufzuzeigen. Damit lassen sich die folgenden Schritte im Rahmen des effektivitätsbezogenen Controllings definieren: 1) Identifikation von Qualitätsmerkmalen: Welche Aspekte machen die Qualität einer Pflegedienstleistung aus? 2) Messung der Qualitätsmerkmale: Wie sind diese Qualitätsaspekte zu bewerten? 3) Aufdeckung von Qualitätsabweichungen: Bei welchen Aspekten werden die Qualitätsanforderungen nicht erreicht? 4) Aufdeckung möglicher Ansatzpunkte für Verbesserungsmaßnahmen: Welche Möglichkeiten gibt es, die Qualität zu steigern? Die hierbei einzusetzenden Controllinginstrumente lassen sich nun nach verschiedenen Kriterien systematisieren: ▬ Nach dem Standpunkt des Betrachters lassen sich anbieterorientierte und kundenorien-
Target Costing
Leistungsergebnis
Zeitvorgaben, Dauer von Aktivitäten
Cost Benchmarking
⊡ Abb. 15.9 Systematik der Controllinginstrumente
Gap-Analyse, sequentielle Ereignismethode, Beschwerdeanalyse, CriticalIncident-Methode, Frequenz-Relevanz-Analyse
Kosten
Prozesskostenrechnung
Kundenbefragung zur Wahrnehmung von Qualitätsdimensionen, Qualitätsaudits
Leistungspotential
Leistungserstellungsprozess
Zeit
Globale Zufriedenheitsanalysen
tierte Controllinginstrumente voneinander un-
terscheiden. Kundenorientierte Controllinginstrumente betrachten die Pflegedienstleistung aus der Sicht der Pflegepersonen. Sie fragen danach, wie die Pflegepersonen die Qualität der Pflegeleistung beurteilen, an welchen Stellen sie unzufrieden sind und möglicherweise auch, warum. Die Pflegeperson definiert hierbei, was unter Qualität zu verstehen ist, bewertet diese Qualität und gibt Auskunft über Abweichungen zwischen ihren Vorstellungen und der tatsächlichen Pflegedienstleistung. Anbieterorientierte Controllinginstrumente prüfen, ob die Pflegedienstleistung den vom Anbieter gesetzten Standard erfüllt; sie decken die Ursachen möglicher Abweichungen auf und zeigen auch Ansatzpunkte für Verbesserungsmöglichkeiten auf. ▬ Nach der Art der Erfassung von Missständen lassen sich ereignisorientierte, auf den Einzelfall abstellende und einer systematischen Erfassung von Qualitätsmerkmalen dienende Instrumente voneinander unterscheiden. Ereignisorientierte Controllinginstrumente stellen das Einzelerlebnis i. d. R. des Kunden in den Mittelpunkt. Ein Beispiel hierfür ist die Beschwerdeanalyse, die sich mit kritischen Erlebnissen der Pflegepersonen auseinandersetzt. Die merkmalsorientierten Instrumente stellen demgegenüber auf eine systematische Erfassung von Qualitätsurteilen ab, die sich auf übliche, durchschnittliche und im Gegensatz
413 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
zu den ereignisorientierten Verfahren auf nicht herausragende Erfahrungen beziehen. ▬ Nach der Art der Messung können objektive und subjektive Methoden unterschieden werden. Von objektiven Methoden spricht man, wenn eine dritte, d. h. nicht die durchführende Person zu denselben Ergebnissen gelangt. Beispiele hierfür sind etwa Expertenbeobachtungen, aber auch Qualitätsaudits, Qualitätskostenanalysen oder statistische Auswertungen. Subjektive Methoden stellen demgegenüber auf den individuellen Eindruck von Personen ab. Hierzu zählen etwa Befragungen von Patienten zu ihrer Qualitätseinschätzung der Pflegeleistung. ▬ Nach dem Bezugsobjekt der Maßnahmen lassen sich potential-, prozess- und ergebnisbezogene Controllinginstrumente voneinander unterscheiden. Potentialorientierte Controllinginstrumente stellen die vom Anbieter autonom zu gestaltenden und zu steuernden Aktivitäten in den Mittelpunkt, während prozessbezogene Controllinginstrumente den Leistungserstellungsprozess betrachten und die Integration der Pflegeperson mit berücksichtigen. Ergebnisorientierte Instrumente versuchen, das Leistungsbündel der Pflegedienstleistung in seiner Gesamtheit zu erfassen. Im Folgenden soll eine Auswahl von Instrumenten des Qualitätscontrolling vorgestellt werden, die –
entsprechend den Dimensionen der Dienstleistung – in potential- und prozessbezogene Controllinginstrumente unterschieden werden. Ergebnisorientierte Instrumente spielen im Controllingbereich eine untergeordnete Rolle, da sie lediglich die Zufriedenheit mit der Pflegedienstleistung insgesamt erfassen, nicht aber auf die einzelnen, dieser zugrunde liegenden Dimensionen eingehen. ⊡ Abb. 15.10 gibt einen Überblick über die verschiedenen, im Folgenden zu behandelnden Controllinginstrumente. Anzumerken ist hierbei, dass die Zuordnung der Instrumente nicht immer ganz eindeutig möglich ist, so dass die Einordnung danach erfolgt, welche Charakteristika überwiegen. Prozessbezogene Instrumente des Qualitätscontrollings Die prozessbezogenen Instrumente des Qualitätscontrollings setzen am Ablauf des Dienstleistungsprozesses an. Der Grundgedanke besteht darin, dass die Pflegeperson während eines Pflegeprozesses in unterschiedlichen Situationen mit dem Pflegepersonal konfrontiert wird. Jeder Kontakt zwischen Pflegepersonal und Pflegeperson entspricht einem »Augenblick der Wahrheit«. Dieser wird als entscheidend für die Qualitätswahrnehmung der Pflegeperson angesehen. Im Rahmen der patientenorientierten prozessbezogenen Controllinginstrumente geht es nun darum, die Kontaktpunkte zu identifizieren, die Qualitätswahrnehmung an diesen Kontaktpunkten
Effektivitätsbezogene Controlling-Instrumente im Pflegemanagement
Prozessbezogene Instrumente
kundenbezogen Seqentielle Ereignismethode Critical IncidentMethode
Potentialbezogene Instrumente
anbieterbezogen Gap-Analyse
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kundenbezogen SERVQUAL Penalty-RewardFaktoren-Analyse
Beschwerdeanalyse Frequenz-RelevanzAnalyse ⊡ Abb. 15.10 Effektivitätsbezogene Controllinginstrumente des Pflegemanagements
anbieterbezogen Qualitätsaudit
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Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
zu messen, Qualitätsabweichungen zu erfassen und im Hinblick auf Verbesserungsmaßnahmen zu analysieren. Eine systematische Erfassung der Kontaktpunkte und der Kontaktpunktqualität ermöglicht dabei die sequentielle Ereignismethode. Die Sequentielle Ereignismethode
Bei der sequentiellen Ereignismethode geht es darum, die Pflegepersonen in die Pflegesituation zu versetzen und nach ihren jeweiligen Eindrücken im Kontakt mit dem Pflegepersonal zu befragen. Eine gute Grundlage für die Ermittlung der Kontaktpunkte bietet das Blueprint. In dem in ⊡ Abb. 15.7 dargestellten Prozess auf einer Entbindungsstation wären dies die Punkte Baby bringen, Baby abholen, Frühstück erhalten, Medikamente erhalten, Frühstück abholen, Arztuntersuchung, Gymnastik, Bäder. Im Rahmen persönlicher Interviews werden die Befragten gebeten, die jeweilige Situation nochmals gedanklich-emotional zu erleben und ihre jeweiligen Erlebnisse ausführlich zu schildern.
Fragen im Rahmen der sequentiellen Ereignismethode
▬ »Ich möchte Sie bitten, sich nochmals in ▬
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▬ ▬ ▬
den gestrigen Tag zurückzuversetzen. Womit begann für Sie der Tag?« »Als die Kinderschwester das Baby wieder abholte, wie fühlten Sie sich da?« »Und was passierte dann?« »Wie empfanden Sie die Situation?« »Was hat Ihnen gefallen? Was hat Ihnen weniger gefallen?«
reitung des Methodeneinsatzes der Personal- oder Betriebsrat einzuschalten. Die erhaltenen Ergebnisse können in das Blueprint eingetragen werden und Aufschluss über kritische Punkte geben. Diskussionen mit dem Pflegepersonal oder die Einrichtung von Qualitätszirkeln können Hinweise für mögliche Verbesserungen liefern. Sowohl die Erfassung der Erlebnisse mit Hilfe der sequentiellen Ereignismethode als auch die Auswertung ist aufgrund der Technik der persönlichen Interviews sehr aufwendig. Eine Vereinfachung besteht darin, den Pflegepersonen bereits standardisierte, typische Pflegeabläufe vorzulegen und sie gezielt zu ihrer Bewertung der einzelnen Kontakterlebnisse zu befragen. Hierbei gehen allerdings individuelle Erlebnisse der Befragten verloren. Eine Methode, die diese individuellen Erlebnisse erhebt und auswertet, ist die Critical Incident Methode. Die Critical-Incident-Methode
Bei der Critical-Incident-Methode werden kritische Kontaktpunkterlebnisse abgefragt (Bitner et al. 1990; Stauss 1995). Kritische Erlebnisse sind dabei nicht nur im negativen Sinne zu verstehen, sondern beziehen sich ausdrücklich auch auf positive Ereignisse. Als kritisch sind solche Erlebnisse zu betrachten, die entweder besonders positiv oder besonders negativ aus den allgemeinen Erlebnissen herausstechen. Die Critical-Incident-Methode orientiert sich somit an der Ausnahmesituation, nicht an der Routinesituation.
Fragen im Rahmen der Critical-IncidentMethode
▬ »Erinnern Sie sich an einen besonders Wie diese Fragen zeigen, kommt es bei der Anwendung der Methode auf besonders behutsames Fragen an. Daher ist Anonymität sowohl der Befragten als auch des zur Debatte stehenden Pflegepersonals von besonderer Bedeutung. Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, die Methode nur von geschulten Interviewern/Interviewerinnen durchführen zu lassen, die zudem auch noch einer externen Institution, also nicht der Pflegeinstitution, angehören. Wie bei allen Methoden, in denen das Verhalten des Personals eine Rolle spielt, ist bei der Vorbe-
▬ ▬ ▬ ▬
zufrieden stellenden Kontakt mit dem Pflegepersonal?« »Erinnern Sie sich an einen Kontakt mit dem Pflegepersonal, der Sie überhaupt nicht zufrieden stellte?« »Wann ereignete sich dies?« »Welche besonderen Umstände führten zu dieser Situation?« »Was sagte oder machte das Pflegepersonal genau?«
415 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
Für die Anwendung der Methode gelten die gleichen Überlegungen hinsichtlich der Durchführung wie bezüglich der sequentiellen Ereignismethode. Eine Methode, die sich lediglich auf die negativ heraus fallenden Ereignisse bezieht, ist die Beschwerdeanalyse. Die Beschwerdeanalyse
Beschwerden werden allgemein als sehr negativ eingestuft. Sicherlich ist es richtig, dass es das Ziel des Pflegemanagements sein sollte, Beschwerden überflüssig zu machen. Auf der anderen Seite stellen Beschwerden jedoch eine wichtige Informationsquelle für eine Pflegeinstitution dar (Dullinger 1998), und zwar aus folgenden Gründen (Günter u. Huber 1996): ▬ Nur ein Bruchteil aller unzufriedenen Kunden äußern ihre Unzufriedenheit über eine Beschwerde. Sich beschwerende Kunden stellen somit nur die Spitze des Eisberges dar. Für den Pflegebereich ist zu vermuten, dass sich unzufriedene Kunden – wenn überhaupt – erst dann äußern, wenn sie die Pflegeeinrichtung verlassen, aus Angst, durch ihre Beschwerden während des Pflegeprozesses Repressalien ausgesetzt zu sein. Aus diesem Grund ist auch zu vermuten, dass sich eher Angehörige als die Pflegepersonen selbst beschweren werden. ▬ Unzufriedene Kunden, die sich nicht beschweren, reagieren mit negativer Mund-zu-MundPropaganda, d. h. sie berichten über ihre schlechten Erfahrungen anderen potenziellen Kunden (Stauss u. Seidel 1998). In Zeiten zunehmenden Wettbewerbs und knapper Kassen ist auch für den Pflegebereich eine Auslastung der vorhandenen Kapazitäten von besonderer Bedeutung. Beschwerden dürfen daher nicht vernachlässigt werden. ▬ Schließlich ist es möglich, aus Beschwerdeführern nicht nur zufriedene, sondern auch treue Kunden zu machen, wenn es gelingt, die Beschwerde zur Zufriedenheit des Kunden zu beseitigen. Hier besteht die Chance, durch »begeisternden« Service besondere Leistungsfähigkeit zu dokumentieren. Für den Pflegebereich bedeutet eine solche Beschwerdebehandlung, dass die Pflegepersonen zwar nicht
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unbedingt wiederkommen, aber durch positive Empfehlungen dafür sorgen, dass andere den Weg dorthin finden (Helm u. Günter 2000). Beschwerden stellen allerdings kein routinemäßig anzuwendendes Instrument des Qualitätscontrollings dar, da weder die Beschwerdeführer noch die Beschwerden repräsentativ für Qualitätsmängel sind. Dennoch sollte die Beschwerde auch im Pflegebereich nicht unterdrückt werden. Zwar kann die Forderung, Beschwerden zu fördern, durchaus kritisch betrachtet werden, allerdings sollte es den unzufriedenen Pflegepersonen leichter gemacht werden, ihre Beschwerden zu äußern, ohne Konsequenzen hinsichtlich ihrer persönlichen Behandlung fürchten zu müssen. »Kummerkästen« in Verbindung mit der Zusage vertraulicher Behandlung etwa stellen eine hierfür geeignete Maßnahme dar. Auch die Benennung von Vertrauenspersonen kann eine Möglichkeit sein. Die aus den verschiedenen prozessbezogenen Methoden gewonnenen Erkenntnisse sind im letzten Schritt auszuwerten, um Anhaltspunkte für Schwächen und Verbesserungsmöglichkeiten zu finden. Eine Möglichkeit besteht darin, die Beschwerden den verschiedenen Aktivitäten im Blueprint zuzuordnen. Hierbei kann die Häufigkeit der Beschwerden im Blueprint farblich hervorgehoben werden, um neuralgische Punkte besonders zu kennzeichnen. Die Frequenz-Relevanz-Analyse
Ein weiteres Auswertungsverfahren, das zudem Auskunft über die Bedeutung der Schwachstellen gibt, ist die Frequenz-Relevanz-Analyse, auch kurz als FRAP bezeichnet. Sie wertet die aufgetretenen Probleme nach der Häufigkeit des Auftretens (Frequenz) und der Bedeutung der Ereignisse in der Wahrnehmung des Kunden (Relevanz) aus (Stauss u. Hentschel 1990, S. 247 ff.). Während die Häufigkeit der aufgetretenen Probleme sowohl bei der sequentiellen Ereignismethode als auch bei der Critical-Incident-Methode und der Beschwerdeanalyse recht einfach zu ermitteln ist, erfordert die Bestimmung der Relevanz jeweils Zusatzfragen. So kann etwa die Frage »Wie wichtig war dieses Erlebnis für Sie?« Auskunft über die Bedeutung geben.
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Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Hoch Sondersituation (Garantiefall, Einzelbeschwerde)
Systematisches kritisches Kundenproblem:
Individuelle Behebung
Sofortaktion!
Lappalie:
Systematische Schwäche im Routinebetrieb:
Wichtigkeit Beobachtung Niedrig
Kontinuierliche Verbesserung
Niedrig
Hoch Häufigkeit
⊡ Abb. 15.11 Frequenz-Relevanz-Analyse. (Nach Stauss u. Seidel 1998)
Alle ermittelten Probleme können dann nach ihrer Wichtigkeit und nach der Häufigkeit des Auftretens in eine Matrix eingeordnet werden (⊡ Abb. 15.11). Ihre jeweilige Position in den Feldern gibt gleichzeitig Auskunft darüber, wie dringlich eine Beseitigung des Problems ist.
Nachfrager Mundzu-MundKommunikation
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Erfahrungen der Vergangenheit
Erwartete Leistung
Die Gap-Analyse
Die bisher vorgestellten Methoden nehmen eine Bewertung aus der Sicht des Kunden vor. Hierbei kann der Kunde allerdings nur die Aktivitäten bewerten, die er auch sieht bzw. an denen er teilhat. Aktivitäten, die unterhalb der »Sichtbarkeitslinie« stattfinden, sind für ihn nicht bewertbar, aber auch diese Aktivitäten sollten Gegenstand des Controllings sein. Daher wird mit der Gap-Analyse eine Methode vorgestellt, um Qualitätslücken auf Anbieterseite zu identifzieren, die in den Strukturen der Pflegeinstitution selbst begründet sind. Werden die Ergebnisse der Gap-Analyse mit dem Blueprint kombiniert, so zeigen sich hier insbesondere Schwachpunkte an den Schnittstellen im Blueprint. Die Gap-Analyse versucht, die Ursachen aufzudecken, die dazu führen, dass die Pflegeperson nicht die Qualität der Pflegeleistung erhält, die sie erwartet. Hintergrund ist dabei, dass es insbesondere die Integration der »externen Faktoren«, aber auch Tagesform, Stimmungsschwankungen etc. des Pflegepersonals schwierig machen, eine gleich bleibende, den Kunden zufriedenstellende Leistung zu erbringen. In ausführlichen Gesprächen
Individuelle Bedürfnisse
Gap 5
Wahrgenommene Leistung
Gap 1
Leistungserstellung Gap 4 Kommuni(abgegebene kationsLeistung) politik Gap 3
Spezifizierung der Leistung Gap 2
Kundenerwartungen in der Wahrnehmung des Anbieters
Anbieter ⊡ Abb. 15.12 Das Gap-Modell. (Nach Zeithaml u. Bitner 1988, S. 36)
mit Mitarbeitern in Unternehmen verschiedener Branchen wurden die folgenden Gaps identifiziert (⊡ Abb. 15.12). Im Einzelnen lassen sich die Gaps wie folgt charakterisieren:
417 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
Gap 1: Abweichung zwischen Kundenerwartungen
und der Wahrnehmung durch das Management – was glaubt das Management, was die Kunden erwarten? Eine Lücke (Gap) kann auf vielfältige Ursachen zurückzuführen sein. Ein Grund kann darin bestehen, dass die Erwartungen der Kunden nicht erfasst werden, also keine Befragungen durchgeführt werden oder in Gesprächen nicht auf die Erwartungen der Patienten geachtet wird. Eine weitere Ursache mag darin liegen, dass das Pflegepersonal zwar die Erwartungen der Patienten kennt, diese aber nicht oder missverständlich an das Management weitergibt. Schließlich können zu viele Hierarchiestufen verhindern, dass die Informationen vom Pflegepersonal an die Krankenhaus- oder Heimleitung weitergegeben werden, oder aber die Informationen werden zwar weitergeleitet, aber das Management hält sie für unglaubwürdig, überzogen und nicht wert, darauf einzugehen. Beispiel So mag etwa das Management glauben, dass Patienten in einem Krankenhaus vor allem Ruhe wünschen, während die Patienten sich während des Tages langweilen und nach einer Beschäftigung suchen. Eine systematische Erfassung der Kundenerwartungen etwa im Rahmen von Befragungen oder Gespräche mit den Pflegepersonen würde hier Abhilfe schaffen.
Gap 2: Abweichung zwischen der Umsetzung von
Kundenerwartungen in Spezifikationen der Dienstleistung – was soll angeboten werden? Manchmal ist den Führungskräften zwar klar, was die Pflegepersonen möchten, sie sehen sich jedoch nicht in der Lage, diese Anforderungen zu erfüllen. Die Ursache hierfür mag darin liegen, dass nicht dem Qualitätsziel, sondern dem Kostenziel (Kostensenkung, Wirtschaftlichkeit) Vorrang eingeräumt wird. Zum Teil fehlen auch Zielsetzungen, wie Dienstleistungsqualität erreicht werden kann, oder Aufgaben sind zu wenig standardisiert. Weitere Ursachen liegen darin, dass Fähigkeiten oder Voraussetzungen zur Erfüllung der Anforderungen fehlen.
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Zwar ist dem Pflegepersonal durchaus klar, dass die Patienten gerne mehr Zuwendung hätten. Das Personal selbst würde sich auch gerne mehr Zeit nehmen, um die Patienten besser zu betreuen, aber es gibt vielfältige insbesondere Verwaltungsaufgaben, die auch zu erledigen sind (Berichte schreiben, Besprechungen etc.). Des Weiteren sind die Wege sehr weit, so dass die Wegezeiten von den Betreuungszeiten abgehen. Zusätzlich sind die erarbeiteten Standardvorgaben für die verschiedenen Aufgaben des Pflegepersonals so gehalten, dass insbesondere Wirtschaftlichkeitsziele erreicht werden. Beispiel »Wenn in einer Frühschicht von 6.15 bis 14.15 Uhr in einer Station der inneren Medizin zwischen 410 und 555 Pflegeminuten für die Mitarbeit bei medizinischer Diagnostik und Therapie aufgebracht werden müssen, und damit in der Woche zwischen 32,5 und 42,25 pflegerische Arbeitsstunden, lässt sich bei einer Besetzung mit durchschnittlich 3 bis 4 Pflegepersonen (einschließlich Schülern und ungelernten Aushilfskräften) ermessen, wie wenig Zeit für die direkte Pflege des Patienten bleibt« (Schröck 1995, S. 5).
Gap 3: Diskrepanz zwischen den Spezifikationen
der Leistung und der Erstellung der Dienstleistung – wie wird die Dienstleistung erbracht? Dieses Gap entsteht, wenn zwar klar ist, welche Anforderungen an die Dienstleistung zu stellen sind, die Voraussetzungen auch stimmen, die tatsächliche Pflegeleistung jedoch nicht so erbracht wird, wie es sein sollte. Teamwork, die Entsprechung von Mitarbeiter und Arbeitsplatz, die Ausstattung der Arbeitsplätze, das wahrgenommene Ausmaß der Kontrolle, die entsprechenden Kontrollsysteme sowie Rollenkonflikte und unklares Rollenverständnis sind Ursachen für dieses Gap. Beispiel Zwar bemüht sich die Pflegerin, immer alles richtig zu machen, aber sie ist noch neu in ihrem Job und verfügt nicht über so viel Erfahrung (Mitarbeiter-Arbeitsplatz-Entsprechung).
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Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Zudem versteht sie sich nicht mit allen Kolleginnen gleich gut, was die Zusammenarbeit beeinträchtigt (Teamwork). Die mangelnde Erfahrung, die fehlende Vertrautheit mit den Kolleginnen (Teamwork) und die gleichzeitige Erwartung, bereits alles wissen und richtig machen zu müssen, um akzeptiert zu werden (Rollenkonflikt), führen dazu, dass die Pflegerin sich nicht traut, Fragen zu stellen und um weitere Informationen zu bitten. Zudem gibt es keine standardisierten Übergabeprotokolle oder Empfehlungen, wie solche Gespräche abzulaufen hätten – jeder handhabt dies, wie er/sie möchte (Verbindung zu Gap 2).
Gap 4: Abweichung zwischen der erstellten Dienst-
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leistung und der an den Kunden gerichteten Kommunikation über diese Dienstleistung Die Qualitätsbeurteilung der Pflegedienstleistung hängt auch davon ab, wie die Pflegeleistungen gegenüber den Pflegepersonen dargestellt werden. Hören Patienten immer nur davon, wie überlastet die Krankenschwestern sind, wie stark der Personalmangel ist und u. U. wie schlecht sie ausgebildet werden, so wird selbst in einer Umgebung, in der diese Aspekte nicht zutreffen, der Patient die Dienstleistung entsprechend schlechter wahrnehmen. Allerdings gilt auch der umgekehrte Fall – übertriebene Versprechungen führen zu höheren Erwartungen, die dann u. U. nicht erfüllt werden. ⊡ Tabelle 15.1 fasst nochmals die möglichen Ursachen der Gaps zusammen. Alle vier Gaps gemeinsam sind die Ursache für das Auftreten des Gaps 5: die Abweichung zwischen erwarteter und wahrgenommener Dienstleistung. Dieses Gap wird durch das SERVQUAL-Instrumentarium (SERV=service, QUAL=quality) gemessen. Über die Gründe, die zum Auftreten des Gaps führen und die im Anbieterunternehmen begründet liegen, gibt SERVQUAL jedoch keine Auskunft. Daher kann die Gap-Analyse ergänzend hinzutreten. Während die prozessbezogenen Instrumente des Qualitätscontrolling vor allem Auskunft über Problembereiche in den kundeninduzierten Akti-
vitäten geben, sind die potentialbezogenen Instrumente geeignet, Schwachstellen im Rahmen der autonom gestaltbaren Aktivitäten aufzudecken. In Bezug auf das Blueprint handelt es sich um solche Ansatzpunkte für Verbesserungsmöglichkeiten, die unterhalb der Vorplanungslinie liegen. Potentialbezogene Instrumente des Qualitätscontrollings Merkmalsorientierte, multiattributive Verfahren – das SERVQUAL-Instrumentarium
Merkmalsorientierte, multiattributive Verfahren sind durch die Vorstellung gekennzeichnet, dass sich Qualitäts- oder Zufriedenheitsurteile von Personen aus mehreren Einzelurteilen zusammensetzen. Daher werden – um die Qualität der Pflegedienstleistung oder die Zufriedenheit der Pflegepersonen zu erfassen – mehrere (multi) Merkmale (Attribute) erfasst und bewertet. Merkmalsorientierte Verfahren basieren auf standardisierten Fragebögen, die den Personen, die interessieren, vorgelegt werden. In der Praxis sind insbesondere Zufriedenheitsbefragungen und Befragungen zur Qualitätsbeurteilung von Bedeutung. Beispiel Eine Befragung von 122 Verwaltungsdirektoren baden-württembergischer Krankenhäuser zeigt, dass 88,1% der öffentlichen, 79,1% der privaten und 68,6% der freigemeinnützigen/ kirchlichen Kliniken Befragungen zur Patientenzufriedenheit durchführen. Zielsetzung ist dabei in erster Linie, die Qualität der Leistungen zu verbessern, Verbesserungen einzelner Leistungskomponenten aufzuzeigen und zur Imageverbesserung der Klinik beizutragen. Befragt werden die Patienten insbesondere zur ärztlichen Versorgung, zur pflegerischen Betreuung, zur Qualität des Essens und zur Kommunikation zwischen Patient und Personal. Insbesondere in öffentlichen Krankenhäusern führen die Ergebnisse der Befragungen zu entsprechenden Veränderungen. 51,4% der öffentlichen Kliniken, 38,2% der privaten und 33,3% der gemeinnützig/kirchlichen Einrichtungen haben ihre Pflegeleistung verbessert (Tscheulin u. Helmig 1999).
419 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
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⊡ Tabelle 15.1 Fragen zur Erfassung der Ursachen von Qualitätsabweichungen nach dem Gap-Modell Gap
Ursachen des Gaps
Hilfreiche Fragen zur Aufdeckung von Ursachen
Gap 1: Wahrnehmungslücke
Berücksichtigung der Marktforschung
Werden Kundenbefragungen durchgeführt? Werden die Ergebnisse berücksichtigt? Spricht das Pflegepersonal mit den Kunden über ihre Erwartungen? Spricht das Management mit den Pflegepersonen? Wie oft?
Kommunikation zwischen Pflegepersonal und Managementebene
Wie oft sprechen Pflegepersonal und Management miteinander? Werden Anregungen des Pflegepersonals berücksichtigt? Wie ist die Qualität der Kontakte zwischen Pflegepersonal und Management zu beurteilen?
Hierarchiestufen
Wie viele Hierarchieebenen bestehen zwischen Pflegepersonal und oberster Managementebene?
Verpflichtung des Managements gegenüber dem Prinzip der Dienstleistungsqualität
Wie viele Mittel (Geld, Personal etc.) stehen für die Verbesserung der Dienstleistungsqualität zur Verfügung? Existieren interne Qualitätsprogramme? Werden Bemühungen um die Pflegequalität anerkannt?
Zielformulierung
Gibt es einen formalen Prozess zur Aufstellung von Qualitätszielen?
Standardisierung von Aufgaben
Gibt es Vorgaben für die Erledigung von Aufgaben? Gibt es unterstützende Techniken (Formulare, EDV) für die Durchführung von Aufgaben?
Wahrnehmung der Durchführbarkeit
In welchem Maße sind die Kundenerwartungen erfüllbar? Sind die Voraussetzungen erfüllt, um Kundenerwartungen zu erfüllen? Welche Maßnahmen müssten ergriffen werden?
Teamwork
In welchem Maße sind Mitarbeiter der Überzeugung, dass sich Vorgesetzte um sie kümmern? In welchem Maße engagieren sich Mitarbeiter, in welchem Maße identifizieren sie sich mit dem Unternehmen?
Wahrgenommene Kontrolle
Technologie-ArbeitsplatzEntsprechung
In welchem Maße haben Mitarbeiter das Gefühl, ihre Aufgaben unter Kontrolle zu haben? In welchem Maße hat das Pflegepersonal den Eindruck, auf Patientenwünsche eingehen zu können? Wie klar sind die Ziele für das Pflegepersonal? Wie umfangreich sind die erforderlichen Schreibarbeiten bei der Pflege? In welchem Maße stehen Geräte und Technologien zur Unterstützung der Pflegedienstleistung zur Verfügung?
Mitarbeiter-ArbeitsplatzEntsprechung
In welchem Maße fühlen sich Mitarbeiter ihren Aufgaben gewachsen?
Horizontale Kommunikation
In welchem Maße werden Anregungen des Pflegepersonals bei der Planung und Durchführung von Werbemaßnahmen berücksichtigt? In welchem Maße ist das Pflegepersonal darüber informiert, wie die Pflegeeinrichtung sich nach außen darstellt, wie und womit sie wirbt? In welchem Maße fühlt sich die Einrichtung gefordert, neue Kunden anzuwerben?
Gap 2: Spezifikationslücke
Gap 3: Durchführungslücke
Rollenkonflikt, Rollenverständnis
Gap 4: Kommunikationslücke
Neigung zu übertriebenen Versprechungen
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Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
In der Praxis von Dienstleistungsunternehmen hat sich insbesondere ein Instrument durchgesetzt, das daher hier auch behandelt wird. Es handelt sich um das SERVQUAL-Instrumentarium, ein von den Amerikanern Zeithaml, Berry und Parasuraman entwickelter Fragebogen zur Messung der Dienstleistungsqualität. Dieses Instrument erhebt den Anspruch, alle qualitätsrelevanten Merkmale in allen Dienstleistungsbranchen mit Hilfe ein- und desselben Fragebogens erheben zu können, wobei branchenspezifische Anpassungen notwendig sind (zur Anwendung auf den Pflegebereich Curry et al. 1999; Lee et al. 2000). Auf der Basis empirischer Untersuchungen insbesondere in Banken wurden die folgenden fünf Dimensionen der Dienstleistungsqualität herauskristallisiert (Parasuraman et al. 1988): ▬ Zuverlässigkeit (reliability): Zuverlässigkeit bezieht sich auf die Fähigkeit und Bereitschaft eines Dienstleisters, die gegebenen Versprechen auch einzulösen. In einem Pflegebetrieb könnte hierunter etwa die Sorgfalt im Umgang mit dem Patienten oder die Pünktlichkeit von Mahlzeiten gemeint sein. Bisherige Untersuchungen aus verschiedensten Dienstleistungsbereichen zeigen, dass dieser Dimension die größte Bedeutung im Qualitätsurteil der Kunden zukommt (Zeithaml u. Bitner 1996, S. 121). ▬ Reaktionsfähigkeit (responsiveness): Die Reaktionsfähigkeit bezieht sich auf den Willen, Kunden zu helfen und sie zufrieden zu stellen. Sie konzentriert sich insofern auf den Umgang mit Kundenwünschen, die Bereitschaft und Fähigkeit, auf Kundenfragen zu antworten, Beschwerden zu handhaben und mit Problemsituationen umzugehen. ▬ Leistungskompetenz (assurance): Leistungskompetenz bezieht sich auf die Kenntnisse und Fähigkeiten der Mitarbeiter, auf die Höflichkeit im Umgang mit Pflegepersonen und die Fähigkeit der Pflegeinstitution und ihrer Mitarbeiter, Vertrauen zu erzeugen. ▬ Einfühlungsvermögen (empathy): Hierunter verbirgt sich die Fähigkeit von Mitarbeitern, Kunden als Individuen zu behandeln. Kunden möchten sich verstanden und als Personen, nicht als Nummern, behandelt fühlen. Dies gilt auch für den Pflegebereich.
▬ Annehmlichkeit des tangiblen Umfeldes (tangibles): Diese Dimension bezieht sich auf die physische Repräsentation der Dienstleistung. Hierunter fällt im Pflegebereich etwa die Ausstattung der Zimmer, der Aufenthaltsräume, das Erscheinungsbild des Pflegepersonals. Die Wahrnehmung der Ausstattung wird häufig als Indikator für die Qualität einer Dienstleistung herangezogen. Der Schwerpunkt der erhobenen Merkmale liegt auf der Bewertung des Leistungspotentials; es werden jedoch auch prozessrelevante Merkmale erhoben. Die Messung der Dienstleistungsqualität erfolgt in zwei Schritten. Zunächst werden die Pflegepersonen danach befragt, was sie von einer Pflegeeinrichtung oder der Pflege auf einer Krankenstation erwarten (Soll-Komponente). In einem zweiten Schritt werden sie gebeten, die konkrete Pflegeeinrichtung zu bewerten (Ist-Komponente). Die Soll-Komponente (Erwartungen) und die Ist-Komponente (Erfüllung) werden für alle fünf Dimensionen der Pflegedienstleistung erfasst. Gemessen wird auf einer siebenstufigen Skala, wobei 1 einer geringen Ausprägung und 7 einer hohen Ausprägung entspricht. ⊡ Abb. 15.13 enthält einen Auszug aus dem SERVQUAL-Fragebogen, wie er für eine Pflegeeinrichtung formuliert werden könnte. In ⊡ Abb. 15.14 sind Ergebnisse einer Untersuchung in amerikanischen Pflegeheimen über die Zufriedenheit der Heimbewohner dargestellt. Zur Auswertung werden zunächst die Differenzen zwischen den Erwartungen und der Erfüllung dieser Erwartungen ermittelt. Eine Übererfüllung der Erwartungen wird als hohe Qualität, eine Untererfüllung der Erwartungen als geringe Qualität interpretiert. Zu beachten ist hierbei, dass die Ergebnisse keine Aussagen über das Qualitätsniveau zulassen. Eine Erwartung von 7 und ein Erfüllungsgrad von 5 führen ebenso zu einer Unterschreitung der Erwartung in Höhe von 2 wie eine Erwartung von 3 und ein Erfüllungsgrad von 1. Häufigkeitsauswertungen und Mittelwertverteilungen geben dann Auskunft darüber, welche Qualitätsmerkmale den Anforderungen entsprechen und in welchen die Erwartungen der Befragten nicht erfüllt werden.
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421 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
Erwartung der Dimension »Zuverlässigkeit« Wenn ich ein Problem habe, erwarte ich von einem Pflegeheim ein ernsthaftes Interesse, dieses Problem zu lösen
Stimme überhaupt nicht zu
1 Ich erwarte, dass eine Pflegeleistung gleich beim ersten Mal richtig erbracht wird
2
3
4
5
stimme vollkommen zu 6
7
Stimme überhaupt nicht zu 1
2
3
4
5
stimme vollkommen zu 6
7
Erfüllung der Dimension »Zuverlässigkeit« Wenn ich ein Problem habe, zeigt das Pflegeheim XY ein ernsthaftes Interesse, mein Problem zu lösen
1 Das Pflegepersonal macht gleich beim ersten Mal alles richtig
stimme vollkommen zu
Stimme überhaupt nicht zu
2
3
4
5
6
7
Stimme überhaupt nicht zu 1
2
3
4
5
stimme vollkommen zu 6
7
Erfüllung der Dimension »Reaktionsfähigkeit« Das Pflegepersonal des Pflegeheims XY reagiert sofort, wenn man klingelt
1 Das Pflegepersonal des Pflegeheims XY ist immer bereit zu helfen
stimme vollkommen zu
Stimme überhaupt nicht zu 2
3
4
5
6
7 stimme vollkommen zu
Stimme überhaupt nicht zu 1
2
3
4
5
6
7
⊡ Abb. 15.13 Auszug aus einem SERVQUAL-Fragebogen für eine Pflegeeinrichtung
Zuverlässigkeit Verwandte Heimbewohner
Reaktionsfähigkeit Leistungskompetenz Einfühlungsvermögen Tangibles Umfeld 0
20
40
60
80
in %
⊡ Abb. 15.14 Ergebnisse einer Befragung von Bewohnern amerikanischer Pflegeheime. (Nach Curry et al. 1999)
422
Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Bei der Anwendung von SERVQUAL ist insbesondere auf die folgenden Aspekte zu achten: Wer soll befragt werden? Damit stellt sich die Frage nach der Auswahl der zu befragenden Personen. Als zu Befragende bieten sich zunächst die Kunden an. Hierbei ist möglicherweise zwischen verschiedenen Kundengruppen zu unterscheiden. So können in einem Pflegeheim sowohl die Heimbewohner als auch ihre Verwandten als Kunden gelten. Während die Heimbewohner direkt gepflegt werden, wählen die Verwandten u. U. das Pflegeheim aus und kommen für die Kosten oder einen Teil der Kosten auf. Die Ergebnisse einer Befragung von 78 Heimbewohnern und 75 Verwandten dieser Bewohner in 88 amerikanischen Pflegeheimen zeigt, dass die Erwartungen der Befragten durchaus variieren können (⊡ Abb. 15.14). Als weitere Gruppe von zu Befragenden kommen die Mitarbeiter der Pflegeeinrichtung, insbesondere das Pflegepersonal selbst, in Betracht. Stellt man die Ergebnisse von Mitarbeiter- und Kundenbefragung einander gegenüber, so zeigen sich in den Abweichungen der Qualitätsbeurteilung deutliche Ansatzpunkte für Verbesserungsmaßnahmen. Bei der Befragung von Mitarbeitern ist allerdings der Personal- bzw. Betriebsrat zu beteiligen. Wie viele Personen sollen befragt werden? Wenn
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die Kundengruppe nur wenige Personen umfasst, so sollten alle Personen befragt werden (Vollerhebung). Wenn die Kundengruppe aus sehr vielen Personen besteht, wie etwa in einem Krankenhaus, so sollte eine Auswahl getroffen werden (Teilerhebung). Hierbei sollte die Auswahl so getroffen werden, dass die zu Befragenden die Kundengruppe möglichst gut repräsentieren (Weiber u. Jacob 2000, S. 532 ff.). Als Faustregel kann gelten, dass die Zahl der ausgefüllten Fragebögen mindestens der Zahl der Fragen entsprechen (bei 20 Fragen also mindestens 20 ausgefüllte Fragebögen), besser aber das Dreifache der Fragenanzahl betragen sollte (also 60 ausgefüllte Fragebögen bei 20 Fragen). Zu beachten ist hierbei, dass nicht alle ausgegebenen Fragebögen auch beantwortet zurückkommen. Je nach Interesse der Befragten liegt die Rücklaufquo-
te zwischen 5 und 30%. Ist also damit zu rechnen, dass etwa ein Drittel der Befragten den Fragebogen auch tatsächlich ausfüllt, so müssen, um 60 Fragebögen zu erhalten, 180 Fragebögen verteilt werden. Über die Rücklaufquote kann nur die Erfahrung Auskunft geben. Anpassung des Fragebogens. Der Standardfragebogen sollte keinesfalls unkritisch übernommen werden. Die Fragen sind an die Besonderheiten der Pflegeeinrichtung anzupassen. Durchführung der Befragung. Hierbei ist insbesondere der Zeitpunkt von Bedeutung, wobei die unterschiedlichen Situationen der Befragten in Krankenhäusern und Pflegeheimen zu berücksichtigen sind. Grundsätzlich kommen die folgenden Zeitpunkte infrage: Bei Betreten der Pflegeeinrichtung zur Erfassung der Erwartungen, nach einiger Zeit des Aufenthaltes zur Erfassung der Erfahrungen und bei Verlassen der Pflegeeinrichtung. Alternativ können auch einheitliche Zeitpunkte gewählt werden, etwa im Frühjahr und im Herbst, wobei die unterschiedlichen Befragungssituationen durch Zusatzfragen erfasst werden. SERVQUAL gilt als bewährtes, einfach zu handhabendes Controllinginstrument. Als nachteilig zu bewerten ist, dass das Qualitätsniveau bei der Auswertung verschwindet, ebenso die Beschränkung auf potentialorientierte Dimensionen. Des Weiteren werden nur solche Qualitätsmerkmale gemessen, die bereits im Fragebogen enthalten sind. Neue Qualitätsdimensionen oder von der üblichen Erfahrung abweichende Qualitätserlebnisse werden nicht erfasst. Darüber hinaus gibt SERVQUAL keine Hinweise darauf, welche Verbesserungsmaßnahmen ergriffen werden sollen (zu weiteren Kritikpunkten Hentschel 1990). SERVQUAL ist daher besonders zur regelmäßigen, routinemäßigen Erfassung der Pflegequalität geeignet. Insbesondere ein Vergleich der Ergebnisse unterschiedlicher Befragungszeitpunkte gibt Auskunft über Veränderungen in der Erreichung des Effektivitätsziels. Um Anhaltspunkte für gezielte Verbesserungsmaßnahmen zu erhalten, sollte SERVQUAL mit weiteren Methoden kombiniert werden. Ereignisorientierte, prozessbezogene Methoden wie die Critical-Incident-Technique oder die
423 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
Gap-Analyse bieten sich hier an, aber auch der im Folgenden vorgestellte Penalty-Reward-FaktorenAnsatz.
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Neben diesen kundenbezogenen, subjektiven Controllingmethoden soll abschließend noch kurz auf eine anbieterorientierte, objektive Controllingmethode eingegangen werden, das Qualitätsaudit.
Der Penalty-Reward-Faktoren-Ansatz
Der Penalty-Reward-Faktoren-Ansatz (vgl. Brandt 1987, 1988) geht davon aus, dass nicht alle Merkmale den gleichen Einfluss auf die Dienstleistungsqualität ausüben. Die Qualitätsmerkmale lassen sich vielmehr in zwei Gruppen unterteilen: ▬ Die erste Gruppe umfasst solche Faktoren, deren Nicht-Erfüllung zu Unzufriedenheit führt. Sie werden als Penalty- oder Bestrafungsfaktoren bezeichnet, da die Nicht-Erfüllung dieser Faktoren zu einer Qualitätsabstufung in den Augen des Kunden führt. Eine Übererfüllung dieser Faktoren bzw. besondere Leistungen des Anbieters in diesem Bereich führen aber nicht zu einem höheren Qualitätsurteil. ▬ Die zweite Gruppe beinhaltet demgegenüber solche Faktoren, die zu Zufriedenheit führen, und dementsprechend als Reward- oder Belohnungsfaktoren bezeichnet werden können. Eine bessere Ausprägung dieser Faktoren führt zu einem höheren Qualitätsurteil, eine schlechtere Erfüllung wirkt sich aber nicht negativ auf die Qualitätswahrnehmung aus. Qualitätsmerkmale fallen entweder in die Gruppe der Penalty-Faktoren oder in die Gruppe der Reward-Faktoren, nicht aber in beide Gruppen gleichzeitig. Welche Merkmale für die Pflegedienstleistung als Penalty-Faktoren und welche als Reward-Faktoren einzustufen sind, darüber liegen bisher noch keine Erkenntnisse vor. Die Penalty-Reward-Faktoren-Methode weist den Vorteil auf, nicht nur das Qualitätsurteil der Pflegepersonen zu erfassen, sondern gleichzeitig gezielte Ansatzpunkte für Verbesserungsmöglichkeiten zu liefern: Penalty-Faktoren sind nur dann zu verbessern, wenn ihre Ausprägungen hinter den Erwartungen zurückbleiben, während Reward-Faktoren dazu genutzt werden können, die Erwartungen der Pflegepersonen zu übertreffen und damit zur Erreichung einer höheren Qualität beitragen. Ein Nachteil mag darin bestehen, dass für die Auswertung die Beherrschung multivariater Analysemethoden erforderlich ist.
Das Qualitätsaudit
Das Qualitätsaudit befasst sich weniger mit der Messung der Pflegequalität an sich als vielmehr mit der Überprüfung der Voraussetzungen, um Pflegequalität zu erzeugen. Hierbei wird von unternehmensexternen Experten überprüft, in welchem Maße die Ressourcen, wie etwa Personal, Anordnung von Zimmern und »Arbeitsplätzen«, Organisationsstrukturen, technische Ausstattung u. ä. geeignet sind, um Pflegequalität zu erzeugen (Gaster 1994). Gegenstand des Qualitätsaudits sind auch solche Aspekte des Leistungspotentials, die eine Patientenintegration ermöglichen oder erleichtern. Hierzu zählt etwa die Ausbildung des Pflegepersonals, die Orientierung am Patienten in Leitlinien oder im Führungssystem, Weiterbildungsmöglichkeiten im Hinblick auf eine verbesserte Pflegequalität, Informations- und Kommunikationssysteme, die es erleichtern, Informationen über Pflegepersonen auszutauschen und Pflegehinweise weiterzuleiten oder das Vorhandensein von Instrumenten des Qualitätscontrolling. Qualitätsaudits spielen eine große Rolle im Rahmen der Zertifizierung von Pflegeinstitutionen (Schröder u. Schulze 1999). Blueprints können ebenfalls Eingang in Qualitätsaudits finden, sei es, dass sie als Analyseinstrument benutzt werden, sei es, dass sie der Dokumentation von Pflegeprozessen dienen und bereits dadurch die Qualität zu verbessern helfen. Nach den effektivitätsorientierten Instrumenten soll im Folgenden auf die effizienzbezogenen Controllinginstrumente eingegangen werden.
15.5.3 Effizienzbezogene Instrumente des
Controllings im Pflegemanagement Einordnung der Instrumente eines effizienzorientierten Controllings Das Controlling kann zur Steigerung der Effizienz der Unternehmung vor allem durch die Bereitstellung kostenbezogener Informationen beitragen.
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Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Kostensenkung ist auch im Pflegemanagement ein zentrales Thema. Dies ist zum einen durch die zahlreichen Initiativen begründet, die nicht zuletzt durch gesetzgeberische Maßnahmen in den letzten Jahren ausgelöst worden sind. Schließlich muss es aber auch im ureigensten Interesse eines jeden Trägers von Pflegedienstleistungen liegen, die Kosten im Auge zu behalten, denn dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit muss Rechnung getragen werden, um die Existenz von Krankenhäusern, Sanatorien und Heimen dauerhaft sichern zu können. Insofern können auch die vielfältigen Reglementierungen, die im Bereich der Be- und Abrechnung von Kosten und Erlösen im Pflegebereich bestehen (für Krankenhäuser siehe z. B. Keun 2000, S. 8 ff.), nicht über die große Bedeutung eines systematischen Effizienz- bzw. insbesondere Kosten-Controllings als Bestandteil des Pflegemanagements hinwegtäuschen. Dieser Notwendigkeit ist im Rahmen des vorliegenden Abschnitts die entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken, wobei es hier nicht darum gehen kann, die Feinheiten der Kostenrechnung im engeren Sinne im Pflegebereich zu erörtern. Dies wird ausdrücklich ausgeklammert und bleibt der jeweiligen Spezialliteratur vorbehalten (z. B. Keun 2000). Vielmehr sollen Instrumente aufgezeigt werden, die losgelöst von den jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen Verwendung finden können und somit interessante Optionen zur Ergänzung der bestehenden Controlling-, insbesondere Kostenrechnungsinstrumente von Pflegeleistungsanbietern darstellen sollten, die gesetzlich vorgeschriebenen Methoden aber nicht zu ersetzen vermögen. In erster Linie werden dabei drei instrumentelle Ansätze vorgestellt, die die vorstehenden effektivitätsorientierten Instrumente abrunden und dabei gleichfalls an dem grundlegenden, die Klammer um alle weiteren Überlegungen bildenden Blueprinting ansetzen; folgende Instrumente sind zu betrachten: 1) die Prozesskostenrechnung, verbunden mit der Prozesswertanalyse, als Ansatz zur kostenseitigen Abbildung und Bewertung von Pflegeprozessen; 2) das Target Costing als marktorientiertes Konzept des Kostenmanagements, das eine Orientierung des Kosten-Controllings an patienten-
und konkurrenzbestimmten Größen ermöglicht; 3) das Cost Benchmarking, das dem Pflegedienstleister hilft, die eigenen Prozesse durch »Lernen von den Besten der Besten« kostenseitig zu optimieren. Bevor auf diese Instrumente im Einzelnen eingegangen wird, erscheint es zweckmäßig, einige Besonderheiten hervorzuheben, mit denen sich das Effizienz-Controlling auseinandersetzen muss. Sie ergeben sich deshalb, weil das Pflegemanagement als Dienstleistungsmanagement (Falk 1999; Fließ 2000) dem Dienstleistungscharakter der Pflegeleistungen eben auch in kostenseitiger Hinsicht gerecht wird und sich daher mit den kostenbezogenen Besonderheiten des Dienstleistungsmanagement beschäftigen muss. Diese sind – mit Relevanz für die vorliegende Thematik – nicht zuletzt die folgenden Gesichtspunkte (Reckenfelderbäumer 1995, S. 39 ff.): ▬ In Institutionen, die Pflegeleistungen anbieten, dominieren die Kosten der Leistungsbereitschaft gegenüber den variabel im Fall der einzelnen Leistung hinzukommenden Kosten in starkem Maße. Derartige Bereitschaftskosten fallen z. B. für Personal, Gebäude, medizintechnische Einrichtungen, in jüngerer Zeit aber auch für informations- und kommunikationstechnische Ausstattung an. Bei diesen Bereitschaftskosten handelt es sich überwiegend um Fixkosten, die unabhängig davon anfallen, ob und in welchem Umfang tatsächlich konkrete Pflegeleistungen erbracht werden. Zudem handelt es sich überwiegend um Gemeinkosten, die einem einzelnen Kostenträger (insbesondere bestimmten Pflegeleistungen oder Patienten) nicht direkt, sondern nur unter Zuhilfenahme mehr oder weniger willkürlicher Schlüsselungen zugerechnet werden können. So werden für Krankenhäuser 70 bis 80% der Gesamtkosten als fixe Gemeinkosten eingestuft (Dullinger 1998, S. 1827). ▬ Viele Pflegeeinrichtungen unterliegen starken Auslastungsschwankungen, sind aber gezwungen, ein relativ hohes Maß an Leistungsbereitschaft jederzeit vorzuhalten, um im Notfall aufnahmebereit zu sein. Andere Pflegedienst-
425 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
leister (z. B. viele Sanatorien) könnten prinzipiell ihre Kapazitäten reduzieren, stehen aber dann vor dem Problem, in Spitzenzeiten potenzielle Patienten abweisen bzw. ihnen Wartezeiten zumuten zu müssen, was sich negativ auf die Patientenzufriedenheit (und damit auf die Effektivität) auswirken kann. Es stellt sich in diesen Fällen die Frage, in welchem Umfang Leerkosten in Kauf genommen werden müssen bzw. sollen und wie sich dies auf das Erreichen des Ziels der Effizienz auswirkt. ▬ Eine zentrale Aufgabe des Pflegemanagements ist die Integration des Patienten in die Prozesse des Pflegedienstleisters ( Kap. 15.2; Fließ 2000, S. 5). Daraus resultiert für den Anbieter das Problem, dass er die Kosten seiner Prozesse nur teilweise autonom disponieren kann: Planung, Steuerung und Kontrolle unterliegen den Einflüssen des Patienten. Diese Einflussnahme kann Kosten steigernd wirken (z. B. bei fehlender Kooperationsbereitschaft und/oder -fähigkeit des Patienten), sie kann aber im günstigen Fall auch die anbieterseitigen Kosten reduzieren (z. B. wenn der Patient sehr exakt seine Beschwerden schildert und dadurch langwierige Befragungen seitens des Arztes überflüssig werden). Ein Folgeproblem besteht dann nicht zuletzt darin, wie die Kostenwirkungen der Patientenintegration im Rahmen des Rechnungswesens dokumentiert werden können. Oft wird darauf mangels geeigneter Konzepte ganz verzichtet. ▬ Schließlich sorgt die Notwendigkeit der Patientenintegration dafür, dass viele Pflegeleistungen hochgradig individuell sind und im Hinblick auf jeden einzelnen Patienten angepasst werden müssen. Insofern sind Pflegeleistungen immer nur bedingt untereinander vergleichbar, was die Definition und Quantifizierung von Leistungen (genauer: Leistungsarten) als Kalkulationsobjekte erschwert. Damit stellt sich die Frage nach der geeigneten Kostenzurechnungsbasis im Rahmen der Kalkulation. Auf die einzelnen Probleme wird immer wieder Bezug zu nehmen sein, wenn im Folgenden die Instrumente des Effizienz-Controllings vorgestellt werden.
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Prozesskostenrechnung und Prozesswertanalyse
Die im Pflegebereich bestehenden Rahmenbedingungen bringen es mit sich, dass eine komplette Umstellung auf die Prozesskostenrechnung in vielen Pflegeinstitutionen problematisch oder sogar unmöglich ist. Daher erscheint es in diesen Fällen vorläufig angebracht, die Prozesskostenrechnung (grundlegend Horváth und Partner 1998; Männel 1995; Reckenfelderbäumer 1998) zunächst als Parallelrechnung zu den bestehenden Rechenwerken zu implementieren (Chen u. Zimmermann 1995, S. 527). In jedem Fall stellt sie eine wichtige und sinnvolle Ergänzung des Controllinginstrumentariums dar, wofür die folgenden Gründe anzuführen sind: ▬ Die Prozesskostenrechnung fasst das gesamte Geschehen in einer Unternehmung bzw. Organisation als System von Aktivitäten und Prozessen auf und ist somit ausgesprochen ablauforientiert. Damit bietet sie eine adäquate Basis für die kostenseitige Bewertung und kostenbasierte Gestaltung von Pflegeprozessen, wie sie im bisherigen Verlauf des Beitrags in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wurden. ▬ Zudem wurde die Prozesskostenrechnung primär konzipiert, um die Gemeinkosten in Unternehmungen genauer analysieren und unterschiedlichen Kalkulationsobjekten exakter, speziell verursachungsgerechter zurechnen zu können. Insofern verspricht sie für den durch einen hohen Gemeinkostenanteil gekennzeichneten Pflegebereich einen erheblichen Erkenntnisfortschritt. ▬ Durch die Identifikation so genannter Kostentreiber (Cost Driver) verdeutlicht die Prozesskostenrechnung, welche Größen letztlich für die Kostenhöhe verantwortlich sind und dementsprechend die Stellschrauben für das Kostenmanagement darstellen. Diese lassen sich nicht immer in eine beliebige Richtung verändern, aber ihre Kenntnis sorgt zumindest für mehr Transparenz im Controlling. Bei Einführung und Aufbau einer Prozesskostenrechnung wird üblicherweise in sechs Schritten vorgegangen (⊡ Abb. 15.15; zu ausführlichen Erläuterungen Reckenfelderbäumer 1998, S. 34 ff.). Die einzelnen Schritte seien kurz erläutert.
Gesamtunternehmung
Kostenstelle
Geschäftsführung
426
Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Einführungsentscheidung
Auswahl geeigneter Unternehmensbereiche
Tätigkeitsanalyse
Teilprozessbildung
Hauptprozessbildung
Kalkulation
T1 T2 T3 T4
T5 T6 T7 T8
TP 1
TP 3
TP 2
HP 1 KO 1
TP 4
HP 2 KO 2
KO 3
⊡ Abb. 15.15 Einführung und Aufbau einer Prozesskostenrechnung
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Einführungsentscheidung: Auf einer ersten Stufe muss die Geschäftsführung entscheiden, ob sie überhaupt eine Prozesskostenrechnung implementieren will. Dies wird nur der Fall sein, wenn die Einsicht vorhanden ist, mittels dieses Instruments zusätzliche Controllinginformationen erhalten zu können, die die Qualität der Entscheidungen spürbar verbessern können. Im Pflegebereich sollte die Prozesskostenrechnung dabei wie schon angedeutet zunächst als Parallelrechnung zum bestehenden Kostenrechnungssystem eingeführt und genutzt werden.
renden Aktivitäten vergleichsweise standardisiert bzw. repetitiv sind und verhältnismäßig geringe Entscheidungsspielräume für die die Aktivitäten ausführenden Personen beinhalten. Dies sind im Pflegebereich vor allem diejenigen Aktivitäten, die im Blueprint hinter der »line of visibility« angesiedelt sind; aber auch viele Aktivitäten, die in Kontakt mit dem Kunden durchzuführen sind, erweisen sich bei näherer Betrachtung nicht selten als hochgradig repetitiv (z. B. Anmeldung im Krankenhaus, Essensausgabe).
Auswahl geeigneter Unternehmensbereiche: Aus Praktikabilitäts- und Aufwandsgründen ist es in vielen Fällen zweckmäßig, die Prozesskostenrechnung nicht sofort »flächendeckend« in der ganzen Organisation einzuführen, sondern zunächst in ausgewählten Pilotbereichen, in denen sie besonders große Erkenntnisfortschritte verspricht. Als Pilotbereiche sind vor allem solche Organisationseinheiten geeignet, in denen die dort durchzufüh-
Tätigkeitsanalyse: Gegenstand dieses Schrittes ist die Analyse jeder für den Einsatz der Prozesskostenrechnung ausgewählten Kostenstelle hinsichtlich der dort im Einzelnen ausgeführten Tätigkeiten. Ergänzend wird erhoben, welcher Zeitbedarf jeweils mit den verschiedenen Tätigkeiten verbunden ist. Verdichtung zu Teilprozessen: Anschließend werden sachlich zusammengehörige Tätigkeiten inner-
427 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
halb der Kostenstelle zu Teilprozessen zusammengefasst. Insofern stellen Teilprozesse die Beschreibung eines bestimmten Tätigkeitsgebietes innerhalb einer Kostenstelle dar. Wichtig ist sodann, dass jedem Teilprozess der Anteil der Kostenstellenkosten zugerechnet wird, der mit ihm in Zusammenhang steht. Oft kann aufgrund der Dominanz der Personalkosten eine Verteilung pauschal auf Basis der Personalkostenrelationen zwischen den verschiedenen Teilprozessen erfolgen, Kosten für andere Produktionsfaktoren (z. B. technische Ausstattung) werden dann aus Gründen der Handhabbarkeit proportional zu den Personalkosten den Teilprozessen zugerechnet. Verdichtung zu Hauptprozessen: Dieser Schritt
stellt eine Neuerung der Prozesskostenrechnung im Vergleich zu herkömmlichen Kostenrechnungsverfahren dar, da die Hauptprozesse (in der Regel) kostenstellenübergreifend gebildet werden: Sachlich zusammengehörige Teilprozesse werden zu derartigen Hauptprozessen zusammengefasst, die dann die Grundlage für das Gemeinkostenmanagement im allgemeinen und die Kalkulation im besonderen bilden. Darüber hinaus sind die Hauptprozesse die oberste Stufe einer durch die genannten Verdichtungs- bzw. Zusammenfassungsschritte gebildeten Prozesshierarchie. Kostenträgerkalkulation: Im letzten Schritt werden die Prozesskosten der Hauptprozesse auf die Kalkulationsobjekte zugerechnet, wobei im Pflegebereich vor allem die Pflegeleistungen sowie die Patienten als Zurechnungsobjekte in Frage kommen. Angestrebt wird eine Verteilung über Prozesskostensätze, die die Kosten der einmaligen Durchführung eines Prozesses wiedergeben, gemäß der tatsächlichen Inanspruchnahme der Hauptprozesse durch die jeweiligen Kalkulationsobjekte. Als Bezugsgrößen dienen dabei die schon angesprochenen Kostentreiber (Maßgrößen für die Hauptprozesse). In der Praxis gestalten sich die Zusammenhänge sehr viel komplexer, als es die sehr kurze Skizzierung des Verfahrens an dieser Stelle möglicherweise vermuten lässt. Allerdings gibt es in der Zwischenzeit ausgebaute Software-Tools, die genutzt werden können (Berkau u. Scheer 1995).
15
Auch für den Pflegebereich finden sich diesbezügliche Konzepte (vgl. Chen u. Zimmermann 1995, S. 534 f.). Zentrale Bedeutung für das Kosten-Controlling kommt im vorliegenden Kontext der Ermittlung der Prozesskostensätze auf Teil- und Hauptprozessebene zu, da mittels dieser Prozesskostensätze Informationen für eine Reihe von Entscheidungen zur Verfügung gestellt werden können. Die ⊡ Abb. 15.16 zeigt zur Verdeutlichung (nach Patientengruppen differenzierte) alternative Zusammensetzungen des Hauptprozesses »Patientenbehandlung« in einem Krankenhaus unter Berücksichtigung der seitens verschiedener Abteilungen/Kostenstellen beizusteuernden Teilprozesse. Jeder dieser Teilprozesse lässt sich unter Einsatz von Blueprints im Rahmen der Tätigkeitsanalyse auf eine Reihe von Einzelaktivitäten einschließlich der damit verbundenen Kosten zurückführen, so dass sich detaillierte, ablauforientierte Kosteninformationen ergeben. Derartige alternative Verläufe von Hauptprozessen erübrigen sich, wenn die Kundenbedürfnisse eine durchgängig homogene Form der Leistungserstellung erlauben. Eine solche prozessorientierte Vorgehensweise dient etwa in Krankenhäusern der Verfolgung der nachstehend genannten Zwecksetzungen (Chen u. Zimmermann 1995, S. 530), deren Erreichung dann nicht zuletzt auch Effizienz steigernde Wirkungen hat. Dabei wird deutlich, dass Effizienzund Effektivitätskonsequenzen wiederum nicht völlig voneinander isoliert werden können: ▬ Verkürzung der Verweildauer durch eine verbesserte Abstimmung einzelner Funktionen und Teilprozesse, ▬ Verringerung der administrativen Tätigkeiten für Ärzte und Pfleger und damit Verbesserung der medizinischen Behandlungsqualität sowie Erhöhung der pflegerischen Zuwendung für das einzelne Individuum, ▬ Verbesserung und Beschleunigung der medizinischen sowie logistischen Versorgung der Patienten, ▬ Patientenflussorientierte Datenerfassung und -bereitstellung sowohl in den Leistungsstellen als auch für die »nachgelagerten« Funktionen wie Abrechnung, Kosten- und Leistungsrechnung, Controlling.
428
Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Behandlungsfall Variante 1
Behandlungsfall Variante 2
Ambulante Untersuchung
Ambulante Untersuchung
Behandlungsfall Variante 3
Behandlungsfall Variante 4
Behandlungsfall Variante 5
Poliklinik
Stationäre AufStationäre AufStationäre AufStationäre Aufnahme/Anamnese nahme/Anamnese nahme/Anamnese nahme/Anamnese
Station
Radiologische Untersuchung
Radiologie
Laboruntersuchung
Labor
Operation
Operation
Operation
OP
Stationäre Pflege
Stationäre Pflege
Stationäre Pflege
Station
Abrechnung/ Kostensicherung
Abrechnung/ Kostensicherung
Abrechnung/ Kostensicherung
Abrechnung/ Kostensicherung
Abrechnung/ Kostensicherung
Finanzen/Kostensich.
Controlling
Controlling
Controlling
Controlling
Controlling
Controlling
⊡ Abb. 15.16 Prozessorientierung auf Basis von Behandlungsfällen/Varianten. (Nach Chen u. Zimmermann 1995, S. 529)
15
Ein interessantes Controllinginstrument, das gleichsam als Bindeglied zwischen Blueprinting und Prozesskostenrechnung aufgefasst werden kann und daher in diesem Abschnitt noch kurz Erwähnung findet, ist die Prozesswertanalyse. Sie lässt sich in sieben Teilschritte untergliedern (Beischel 1990, S. 54 ff.; zu einer abweichenden Sichtweise der Prozesswertanalyse Jehle u. Willeke 1998): 1) Die Erstellung einer bestimmten (Pflege-)Leistung wird in einem Ablaufdiagramm dargestellt (wie beim Blueprinting). 2) Die einzelnen Teilprozesse werden dahingehend analysiert und gekennzeichnet, ob sie aus Kunden- bzw. Patientensicht wert- bzw. nutzenstiftend sind oder nicht. 3) Insbesondere die nicht-werterhöhenden Prozesse (z. B. viele Prozesse hinter der »line of visibility«) werden bezüglich ihrer Notwendigkeit untersucht. Verzichtbar ist ein Prozess dann, wenn sein Wegfall zu keinerlei direkten oder indirekten Nutzeneinbußen auf der Pati-
4)
5)
6) 7)
entenseite führt, jedoch Kosteneinsparungen mit sich bringt. Entsprechend dem Vorgehen der Prozesskostenrechnung werden die Kosten auf die einzelnen Teilprozesse zugerechnet. Wiederum in Verzahnung mit der Prozesskostenrechnung sind die Kosten auf die Absatzobjekte, speziell die Pflegeleistungen der Organisation zu verteilen. Die Prozess- und Kosteninformationen werden für das Management aufbereitet. Alternative, speziell wirtschaftlichere Vorgehensweisen der Leistungsgestaltung werden identifiziert und umgesetzt.
Die Prozesskostenrechnung bietet – insbesondere im Zusammenspiel mit dem Blueprinting und der Prozesswertanalyse – insofern ein interessantes Controllinginstrument für die kostenseitige Gestaltung von Pflegeleistungen insgesamt, aber auch für die effizienzorientierte Planung, Steuerung und
429 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
Kontrolle einzelner Teilprozesse. Es erscheint daher durchaus interessant, die hier nur grob umrissenen Möglichkeiten weiter zu vertiefen. Target Costing
Die Wurzeln der methodischen Ansätze, die heute unter dem Begriff des Target Costing diskutiert werden, finden sich im japanischen Rechnungswesen der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Im deutschsprachigen Raum ist das Target Costing seit Beginn der 90er Jahre in den Vordergrund gerückt, wobei sich verwandte Überlegungen bis weit in die Vergangenheit zurück verfolgen lassen (Paul u. Reckenfelderbäumer 1995, S. 231 f.). Das Wesen des modernen Target Costing (ausführlich z. B. Buggert u. Wielpütz 1995; Seidenschwarz 1993) zeichnet sich dadurch aus, dass es eine Brücke zwischen Markt- und Kostenorientierung bildet und damit in auch für das Pflegemanagement hochinteressanter Weise eine unmittelbare Anbindung der Effizienzüberlegungen an die Effektivitätsbestrebungen ermöglicht. Target Costing kann in gewisser Weise als Kernstück eines marktorientierten Kosten- und Effizienz-Controllings gesehen werden. Grundlegend für das Konzept ist nämlich, dass bei der Kostenplanung nicht wie sonst üblich zunächst einmal von den organisationsinternen Gegebenheiten ausgegangen wird, sondern von den vom Markt »erlaubten« Kosten, die unter Berücksichtigung von Kunden- und Wettbewerbsinformationen ermittelt werden. Diese erlaubten Kosten sollen schon in frühen Phasen der Entwicklung neuer Leistungen Berücksichtigung finden, um von vornherein Leistungen auf einem Kostenniveau anbieten zu können, das außerhalb der Unternehmung akzeptiert wird. Gelingt dies auf Basis der bestehenden Potential- und Prozesskonstellationen nicht, so sind entsprechende Anpassungs- bzw. Verbesserungsmaßnahmen in Bezug auf die Kostensituation in Angriff zu nehmen. Bei der Festlegung der erlaubten Kosten als Zielkosten für eine Leistung sollten also zunächst einmal marktseitige Informationen berücksichtigt werden (speziell die Zahlungsbereitschaft der Kunden/Patienten sowie das Preisniveau vergleichbarer Konkurrenzleistungen). Für das Pflegemanagement werden aber in vielen Fällen auch die gesetzlichen
15
Reglementierungen die Zielkosten beeinflussen, z. B. in Form der Festlegung von Höchstsätzen für bestimmte Pflegeleistungen. Umso wichtiger ist dann die durch das Target Costing vorgesehene retrograde Ermittlung der erlaubten und vertretbaren Kosten jedes einzelnen Teilprozesses, der im Hinblick auf die Erbringung der betreffenden Pflegeleistung erforderlich ist. Dieses Herunterbrechen der Zielkosten für einzelne Prozesse erfolgt im Rahmen der so genannten Kostenspaltung (Fröhling 1994), das durch die folgenden Schritte grob skizziert werden kann, wobei bereits eine Anpassung der originär industriell geprägten Vorgehensweise an die Bedingungen vorgenommen wurde, die sich bei Pflegedienstleistungen finden: 1) Bestimmung der Funktionsstruktur der Leistung: Über Markt- und Patientenanalysen wird das Nutzenanforderungsprofil der Dienstleistung (in Form der Leistungsfunktionen) ermittelt. Bei Pflegeleistungen können dabei Aspekte wie z. B. Heilungserfolg, Freundlichkeit des Pflegepersonals, Ausstattung der Räumlichkeiten oder auch Wartezeiten Berücksichtigung finden. Hier ist eine enge Verzahnung mit den effektivitätsorientierten Controllinginstrumenten angebracht. 2) Gewichtung der Leistungsfunktionen: Wiederum insbesondere auf der Basis von Patientenbefragungen ist nunmehr zu analysieren, welche Wichtigkeit den verschiedenen im ersten Schritt ermittelten Funktionen der Leistung beigemessen wird. Diese Analyse muss in eine prozentuale Gewichtung der einzelnen Funktionen in Relation zum Gesamtnutzen der Pflegeleistung münden. Auf der Grundlage dieser Gewichtung werden dann später die Zielkosten verteilt. 3) Entwicklung eines Grobentwurfs für die Leistung: Im dritten Schritt geht es darum festzulegen, welche Teilprozesse und Aktivitäten jeweils zur Erfüllung der einzelnen Funktionen bzw. Nutzenkomponenten erforderlich sind, um so zu Anhaltspunkten für die qualitative Ausgestaltung der Pflegeleistung zu gelangen. 4) Kostenschätzung für die Teilprozesse als Komponenten der Leistung: An dieser Stelle muss das Target Costing mit der Prozesskos-
430
Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
tenrechnung verknüpft werden, denn letzterer ist nunmehr zu entnehmen, welche Kosten die einzelnen Teilprozesse absolut und relativ im Hinblick auf die Gesamtkosten der Leistung bei Beibehaltung der gegenwärtigen organisatorischen Gegebenheiten (z. B. personelle und technische Ausstattung) vermutlich verursachen werden. Wird eine neue Leistung aus schon bekannten Prozessen zusammengesetzt, ist eine derartige Abschätzung unproblematischer als im Falle der Notwendigkeit völlig neuartiger Prozesse, für die noch keine Erfahrungen über die mit ihnen verbundenen Kosten zur Verfügung stehen.
15
5) Gewichtung der Teilprozesse als Leistungskomponenten: In diesem wichtigen Schritt wird in einer so genannten Funktionskostenmatrix vermerkt, welchen Beitrag die einzelnen Teilprozesse jeweils zur Erfüllung der einzelnen Nutzenkomponenten (Leistungsfunktionen) beisteuern. Auch dieser Schritt kann zuverlässig wiederum nur auf der Basis von Patienteninformationen vollzogen werden. 6) Bestimmung des Zielkostenindex der Teilprozesse: Grundgedanke des Target Costing ist es, dass ein Teilprozess im Idealfall genau in dem Umfang Kosten verursachen sollte, wie er zur Erfüllung des Gesamtnutzens bzw. der Funktionen der Leistung beiträgt. Zur Überprüfung dieses Zusammenhangs wird für jeden Teilprozess der Zielkostenindex als Quotient aus Beitrag zur Funktionserfüllung (Zähler) und Kostenanteil (Nenner) gebildet. Aus theoretischer Sicht optimal wäre dann für jeden Teilprozess ein Indexwert von 1. 7) Optimierung des Zielkostenindex mit Hilfe des Zielkostenkontrolldiagramms: Im nächsten Schritt können die Indexwerte für die einzelnen Teilprozesse anschaulich in einem Diagramm abgebildet werden, bei dem die eine Achse den Beitrag der Prozesse zur Funktionserfüllung der Leistung, die andere Achse den Anteil der Kosten der jeweiligen Teilprozesse an den Gesamtkosten der Leistung enthält. Teilprozesse mit einem Indexwert unter 1 sind tendenziell zu teuer, da die tatsächlichen Prozesskosten die Zielkosten, die sich aus dem Nutzenbeitrag des Teilprozesses ergeben, über-
steigen. Bei diesen Teilprozessen ist nach Kostensenkungsmöglichkeiten zu suchen. Liegt der Indexwert über 1, so bestehen Spielräume für z. B. Qualitätsverbesserungen im Hinblick auf den Teilprozess, da die tatsächlichen Kosten unter den Zielkosten liegen. Allerdings sollten gewisse Toleranzen für Abweichungen der Indexwerte von 1 eingeplant werden, um nicht zu akribisch und einseitig auf eine exakte Angleichung der tatsächlichen Kosten an die Zielkosten hinzuwirken, die sich in der Realität kaum für alle Teilprozesse gleichzeitig erreichen lässt. 8) Einleitung weiterer Kostensenkungsmaßnahmen: Teilweise sind grundlegendere Strategien der Kostenreduzierung und Leistungsoptimierung erforderlich, die über eine reine Indexanpassung im oben beschriebenen Sinne hinausgehen. Hier liefert das Target Costing als Controllinginstrument dann aber zumindest wertvolle Hinweise für das weitere Vorgehen. Die Ermittlung des Zielkostenindex sowie die Darstellung der Kostensituation im Zielkostenkontrolldiagramm seien an einem Beispiel aus dem Pflegebereich erläutert. Dabei wird auf den Behandlungsfall A Variante 2, aus ⊡ Abb. 15.16 zurückgegriffen, der in vereinfachter Form aus den Teilprozessen »Ambulante Untersuchung«, »Stationäre Aufnahme«, »Operation«, »Stationäre Pflege«, »Abrechnung/Kostensicherung« und »Controlling« bestehen möge. ⊡ Tabelle 15.2 zeigt die entsprechenden Prozesse mit den wie oben beschrieben ermittelten Anteilen der prozessbezogenen Zielkosten und Standardkosten an den Gesamtkosten des Behandlungsfalls. Die rechte Spalte liefert die resultierenden Werte für den Zielkostenindex als Quotient aus Zielkostenanteil (der den Beitrag des betreffenden Prozesses zum Gesamtnutzen des Behandlungsfalls angibt) und Standardkostenanteil (der auf Basis der bestehenden Kostensituation ermittelt wurde). Die Übertragung der Indexwerte in das Zielkostenkontrolldiagramm ist in ⊡ Abbildung 15.17 zu sehen. Entsprechend dem Grundgedanken des Target Costing wären insofern die Prozesse 1, 4 und 5 als zu teuer einzuordnen, da sie einen Indexwert
431 15.5 · Steuerung und Entwicklung als Managementaufgabe
15
Standardkostenanteil (in %) 100
80
60
40 4 20
3
1 5 2 6 20
40
60
80
100
1
Ambulante Untersuchung
2
Stationäre Aufnahme
3
Operation
4
Stationäre Pflege
5
Abrechnung/Kostensicherung
6
Controlling
Zielkostenanteil (in %)
⊡ Abb. 15.17 Zielkostenkontrolldiagramm
⊡ Tabelle 15.2 Ermittlung des Zielkostenindex im Target Costing Teilprozess
Zielkostenanteil
Standardkostenanteil
Zielkostenindex
Ambulante Untersuchung
10%
15%
0,67
Stationäre Aufnahme
10%
10%
1,00
Operation
50%
30%
1,67
Stationäre Pflege
20%
30%
0,67
Abrechnung/Kostensicherung
5%
10%
0,50
Controlling
5%
5%
1,00
kleiner 1 aufweisen, die Standardkosten somit über den Zielkosten liegen. Allerdings zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass alle drei Prozesse noch innerhalb des durch die gebogenen Linien gekennzeichneten Toleranzbereichs liegen, so dass ein Kostensenkungsbedarf offenbar zumindest nicht zwingend diagnostiziert werden muss. Die zulässigen Abweichungen sind dabei prozentual um so größer, je geringer der Anteil des betreffenden Prozesses an den Zielkosten ist, denn desto gerin-
ger ist die Bedeutung des Prozesses aus Kundensicht. Bei den Prozessen 2 und 6 entsprechen die Standardkosten exakt den Zielkosten, bei Prozess 3 (Operation) hingegen wären aufgrund der Wichtigkeit dieses Prozesses aus Sicht der Kunden sogar höhere Kosten grundsätzlich vertretbar, solange der Gesamtrahmen der Zielkosten für die betreffende Leistung nicht überschritten würde. Das Target Costing schafft auf die erläuterte Art und Weise für das Pflegemanagement die
432
Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Möglichkeit, die Kostenstrukturen in den Pflegeorganisationen stärker auf die Patientenbedürfnisse abzustimmen und vor allem dort die oft zwingend erforderlichen Einsparungen vorzunehmen, wo dies nicht zu Lasten des Patientennutzens geht. Damit sollte das Target Costing für viele Anbieter von Pflegedienstleistungen ein überaus interessantes Konzept sein, auch wenn noch nicht alle Probleme im Zusammenhang mit diesem Verfahren als abschließend geklärt gelten können. Cost-Benchmarking
Ein in den letzten Jahren ebenfalls stark in den Vordergrund getretener Ansatz ist das Benchmarking: Dieses ist ein in der Praxis inzwischen vielfach bewährtes Instrument zur Unterstützung der Unternehmungsanalyse und zur Leistungsmessung, das den Vergleich der eigenen Potentiale, Leistungen, nicht zuletzt aber auch Prozesse mit denen von Benchmarking-Partnern, die sich durch eine »Superior Performance« auszeichnen sollten, beinhaltet. Von diesen »Besten der Besten« soll gelernt werden, wo und wie Verbesserungen in der eigenen Organisation möglich sind (Davies 1992, S. 181; Newell 1992, S. 146). Neben der Qualität und der Kundenzufriedenheit sowie der Zeit sind die Kosten eine wichtige Zielgröße des Benchmarking (Horváth u. Herter 1992, S. 7). Auch dieses Instrument dient insofern wieder sowohl der Verbesserung der Effektivität
15
als auch der Effizienzsteigerung. Im vorliegenden Abschnitt interessiert allerdings vor allem das Cost Benchmarking (Horváth u. Lamla 1995), zumal die Durchführung von Kostenvergleichen bei der Einführung des Benchmarking in der Praxis sehr häufig ohnehin der erste Schritt ist. Es lassen sich unterschiedliche Arten von Benchmarking unterscheiden, abhängig davon, wer als Benchmarking-Partner dient. Drei wichtige Formen skizziert ⊡ Tabelle 15.3 hinsichtlich ihrer typischen Vor- und Nachteile. Alle drei in der Tabelle allgemein gekennzeichneten Formen des Benchmarking lassen sich grundsätzlich auch im Pflegemanagement nutzen. Dies sei am Fall eines Krankenhauses mit einer großen Zahl unterschiedlicher Stationen und Arbeitsgebiete kurz anhand einiger Beispiele verdeutlicht: ▬ Internes Benchmarking bietet sich hinsichtlich bestimmter Prozesse an, die auf allen Stationen in vergleichbarer Form, aber unterschiedlich effizient ablaufen, z. B. Essensausgabe oder bestimmte Verwaltungstätigkeiten. Hier können die besonders effizienten Stationen als Vorbild für die weniger effizienten dienen. ▬ Wettbewerbsorientiertes Benchmarking kommt dort in Frage, wo mehrere Krankenhäuser unterschiedlicher Träger miteinander verglichen werden können. So lassen sich beispielsweise Effizienzvergleiche für Abrechnungs- oder Laborleistungen anstellen.
⊡ Tabelle 15.3 Arten von Benchmarking und ihre Bewertung. (Nach Pieske 1994, S. 20) Art
Vorteile
Nachteile
Internes Benchmarking (... innerhalb eines Unternehmens)
▬ Datenerfassung relativ einfach ▬ Gute Ergebnisse für diversifizierte »herausragende« Unternehmen
▬ Begrenzter Blickwinkel ▬ Interne Vorteile
Wettbewerbsorientiertes Benchmarking (... mit Mitbewerbern)
▬ ▬ ▬ ▬
▬ Schwierige Datenerfassung ▬ Gefahr branchenorientierter »Kopien«
Funktionales Benchmarking (... mit Branchenexternen)
▬ Relativ hohes Potential zum Finden innovativer Lösungen ▬ Vergrößerung des Ideenspektrums
Geschäftsrelevante Informationen Leistungen/Prozesse vergleichbar Relativ hohe Akzeptanz eindeutige Positionierung im Wettbewerb
▬ Relativ schwierige Transformation von »anderem« in ein betriebliches Umfeld ▬ Gegenargument: Vergleichbarkeit ▬ Zeitaufwendige Analyse
433 15.6 · Zusammenfassung
▬ Funktionales Benchmarking kommt insbesondere für Prozesse in Betracht, die nicht unbedingt pflegespezifisch sind, so z. B. in den Bereichen der Gebäudereinigung oder der Telefonzentrale. Hier können auch von branchenfremden Unternehmungen nicht selten Hinweise für Kosteneinsparungen gewonnen werden. Dies soll an dieser Stelle als kurzer Hinweis auf die Nutzbarkeit des Benchmarking als effektivitätswie auch effizienzorientiertes Controllinginstrument genügen. Es rundet vor allem in Kombination mit der Prozesskostenrechnung das Spektrum der Controllinginstrumente mit Effizienzbezug auf sinnvolle Art und Weise ab und wurde daher an das Ende gestellt.
15.6
Zusammenfassung
Will man die betriebswirtschaftlichen Aspekte des Pflegemanagements zusammenfassen, so kann vor allem herausgestellt werden, dass die Betriebswirtschaft, die häufig mit reinem Kosten-/Nutzendenken gleichgesetzt wird, auch im Bereich der Pflege sinnvolle Verwendung finden kann. Augenfällig wird dabei besonders, dass die logische Durchdringung der Abläufe in vielerlei Hinsicht Fortschritte mit sich führt. Zum einen konnte herausgearbeitet werden, welche grundlegenden Besonderheiten mit der Dienstleistungserstellung verbunden sind. Als wesentlichstes Ergebnis ist hier zu nennen, dass vor allem die Mitwirkung des Kunden bzw. die notwendige Kundenintegration einschneidende Veränderungen in der Analyse und Planung der Abläufe nach sich zieht. Insoweit unterscheidet sich der Bereich der Pflege von keiner anderen Dienstleistung. Auch und besonders hier konnte aufgezeigt werden, dass die betriebswirtschaftlichen Methoden geeignet und in der Lage sind, die notwendige Transparenz zu schaffen. Erst Methoden wie das Blueprinting und die systematische Anwendung dieses universellen Instruments machen es möglich, gezielte und rationelle Maßnahmen einzuleiten, die sowohl die Anbieter- als auch die Nachfragerinteressen in gleichem Maße berücksichtigen. Das Blueprinting dient sowohl als Grundlage zur
15
Identifikation von Schwachstellen und Verbesserungsvorschlägen, lässt sich aber gleichzeitig mit einzelnen Controllinginstrumenten mit dem Ziel einer vertiefenden Analyse verbinden. Die so zusätzlich erhaltenen Informationen können wiederum in das Blueprint integriert werden und so weiteren Informations- oder Handlungsbedarf aufzeigen. Als übergeordnete Ziele können dabei die betriebswirtschaftlichen Zielsetzungen der Effizienz und der Effektivität identifiziert werden. Das Controlling im Pflegebereich erfordert – wie das Dienstleistungscontrolling überhaupt – die Berücksichtigung der Mitwirkung des Patienten. Daher wird im Rahmen des Pflegecontrollings zwischen kundeninduzierten Aktivitäten (Leistungserstellungsprozess) und kundenunabhängigen Aktivitäten (Leistungspotential) unterschieden. Aktivitäten im Rahmen des Leistungserstellungsprozesses und Aktivitäten im Rahmen des Leistungspotentials fließen im Leistungsergebnis zusammen. Leistungspotential, Leistungserstellungsprozess und Leistungsergebnis bilden als Dimensionen der Pflegedienstleistung die Controllingobjekte. Als Controllinggrößen werden Qualität, Kosten und Zeit herangezogen, wobei die Zeit sowohl einen Qualitäts- als auch einen Kostenaspekt beinhaltet. Die Controllinginstrumente können nun danach unterschieden werden, welches Controllingobjekt näher beleuchtet wird und auf welche Controllinggröße sie sich beziehen. Dementsprechend lassen sich effektivitätsbezogene Controllinginstrumente und effizienzbezogene Controllinginstrumente unterscheiden. Im Rahmen der effektivitätsbezogenen Controllinginstrumente lassen sich prozess- und potentialbezogene Instrumente weiter differenzieren. Unter den prozessbezogenen Controllinginstrumenten wurden die sequentielle Ereignismethode, die Critical-Incident-Methode, die Beschwerdeanalyse und die Frequenz-RelevanzAnalyse als kundenbezogene Instrumente sowie die Gap-Analyse als anbieterbezogenes Instrument betrachtet. Im Rahmen der potentialbezogenen Controllinginstrumente wurden die kundenbezogenen Instrumente SERVQUAL und Penalty-RewardFaktoren-Analyse sowie das anbieterbezogene Instrument des Qualitätsaudits näher betrachtet.
434
Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
Im Rahmen der effizienzbezogenen Instrumente wurden die Prozesskostenrechnung verbunden mit der Prozesswertanalyse, das Target Costing und das Cost-Benchmarking vorgestellt.
? Wissens- und Transferfragen
15
1. Erläutern Sie, was unter Effektivität und Effizienz zu verstehen ist. Geben Sie Beispiele aus Ihrem Bereich. 2. Was versteht man unter dem Leistungspotential, dem Leistungserstellungsprozess und dem Leistungsergebnis – allgemein und bezogen auf den Pflegebereich? 3. Was bedeutet Integration externer Faktoren? Bilden Sie ein Beispiel. 4. Welche Konsequenzen ergeben sich für den Anbieter aus der Integration externer Faktoren? Warum spielt diese Integration eine so große Rolle? 5. Was kennzeichnet einen Blueprint? 6. Für welche Einsatzfelder lässt sich das Blueprint verwenden? 7. Was versteht man unter Controlling? 8. Geben Sie Beispiele dafür, wie die Tatsache der Patientenintegration das Controlling erschwert. 9. Welche effektivitätsbezogenen Instrumente kennen Sie? Für welche Zwecke eignen sich welche Instrumente? 10. Bestimmen Sie ein Effektivitätsziel für Ihren Bereich. Überlegen Sie, welches der aufgeführten effektivitätsbezogenen Controllinginstrumente geeignet ist, die Zielerreichung zu überprüfen und Ansatzpunkte für Verbesserungen aufzudecken. Entwickeln Sie erste Überlegungen zur Ausgestaltung des Instrumentes. 11. Erläutern Sie die effizienzbezogenen Controllinginstrumente. Für welche Zwecke eignen sich welche Instrumente? Zeigen Sie ihre jeweiligen Vor- und Nachteile auf. 12. Vergegenwärtigen Sie sich die Vorgehensweise der Prozesskostenrechnung. Wählen Sie dann einen Hauptprozess aus Ihrem
▼
Bereich und zerlegen Sie diesen in Teilprozesse. Welche möglichen Kostentreiber der Teilprozesse können Sie identifizieren? 13. Erstellen Sie ein Blueprint für einen ausgewählten, nicht zu umfangreichen Prozess aus dem Pflegebereich, den Sie aus eigener Anschauung kennen. Wo zeigen sich mögliche Probleme? Mit welchen weiteren Controllinginstrumenten ließen sich diese Probleme näher untersuchen?
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436
Kapitel 15 · Betriebswirtschaftliche Aspekte des Pflegemanagements
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15
16 Teamentwicklung R. Bögel, L. von Rosenstiel Wissens- und Transferfragen
16.1
Einleitung
– 437
16.2
Erwartungen an die Teamentwicklung – 437
16.3
Was ist ein Team? – 437
16.4
Bedingungen für die Teamentwicklung – 441
16.5
Strategie der Teamentwicklung – 443
16.6
Zukunft der Teamarbeit
Literatur
– 446
– 446
– 446
16.1 Einleitung
An die Entwicklung von Teams werden vielfältige Erwartungen gerichtet, die eine Reihe von Bedingungen haben. Die Teamentwicklung ist ein Prozess und keine einmalige Aktion, die losgelöst von Personen, Arbeitsbedingungen, Arbeitsinhalten und organisationalem Kontext betrachtet werden darf, als ob durch einmalig und einseitig angewandte Sozialtechnologie die erhofften Effekte sich erzielen ließen.
▬ Aufbrechen hierarchischer Verkrustungen, ▬ Entlastung der Führung und des Managements durch Selbststeuerung, ▬ Erarbeitung optimaler Lösungen, ▬ Qualifizierungs- und Lernchancen, ▬ Partizipationsgewinne für das Team und seine Mitglieder, ▬ verbesserte Akzeptanz von gemeinschaftlich gefällten Entscheidungen, ▬ Rückgang von Fluktuation und Fehlzeiten (Bungard u. Antoni 1995; Antoni 1996).
16.2 Erwartungen an die Teamentwicklung
16.3 Was ist ein Team?
Hoffnungen, die mit einem entwickelten Team im Vergleich mit einer nicht besonders entwickelten Arbeitsgruppe verbunden werden, sind Leistungsund Qualitätssteigerungen sowie motiviertere und zufriedenere Mitarbeiter. Die Team-Philosophie erwartet Effekte wie z. B.: ▬ Synergieeffekte durch Zusammenführung fachlicher Kompetenzen, ▬ flexiblere Reaktionsmöglichkeiten auf veränderte Anforderungen, ▬ Abbau von Kommunikations- und Kooperationshemmnissen,
Aufgrund der allgemeinen Teameuphorie und der inflationären Verwendung des Teambegriffs für unterschiedlichste Gruppen und Aktivitäten ist häufig unklar, was damit gemeint ist (Bungard 1990; Hackman 1990). Eine wissenschaftlich eindeutige oder verbindliche Definition gibt es nicht. Die Zusammenarbeit in Gruppen und die Ergebnisse können auf unterschiedlichen Dimensionen mit unterschiedlichen Kriterien definiert und gemessen werden. Hinter der umgangssprachlichen Verwendung des Teambegriffs können Arbeitsgruppen mit ver-
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Kapitel 16 · Teamentwicklung
schiedenen Zielsetzungen, Aufgaben, Positionen, Gruppengrößen, Hierarchien usw. stecken. Erinnert sei hier an teilautonome Arbeitsgruppen, Fertigungsinseln, Projektteams, TQM-Teams, Qualitätszirkel, Lamda-Teams usw. (Frieling u. Freiboth 1997). Hackman (1990) differenziert nach Aufgabenbereichen und nennt neben anderen Teams in der industriellen Produktion, »Top management groups«, »Sales teams« und »Human service teams« und als typisch dafür Krankenhaus- und Therapeutenteams. Am Beispiel Krankenhaus wird auch deutlich, dass hier Teams mit unterschiedlichsten Aufgaben am Werk sind; man denke nur an Verwaltung, Labor, OP und die verschiedenen Pflege- und Rehaeinrichtungen (Bornewasser u. Schnippe 1998). Aus der Sicht des Klienten ist das stabile und für ihn überschaubare Team von Betreuern wichtig, wenn man von der spezifischen Tätigkeit und Qualifizierung absieht. Im Folgenden werden die Begriffe Gruppe, Arbeitsgruppe oder Team synonym verwendet.
16.3.1 Hintergrund der Gruppenarbeit
> Den Hintergrund für die Gruppenarbeit bildet die Leistungsorganisation, die nach zweckrationalen Gesichtspunkten die Zusammenarbeit von Menschen erzwingt, die arbeitsteilig und in einer Hierarchie von Verantwortung organisiert sind.
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Als bekannte Beispiele (Autoindustrie) dürfen hier tayloristische und fordistische Formen der Arbeitsorganisation und ihre Nachteile genannt werden, bei denen ja nicht nur Hand- und Kopfarbeit getrennt sind, sondern die Menschen mehr nebeneinander als miteinander arbeiten und z. T. wohl auch gegeneinander. Es zeigten sich die Grenzen extremer Arbeitsteilung, da Spezialisten in Gruppen koordiniert umfassendere Aufgaben bewältigen können als Einzelne. Die Human-relations-Bewegung hat in der Mitte des vorigen Jahrhunderts nach der Entdeckung des Menschen als eines auch sozialen Wesens und seiner Bedürfnisse einseitig die Gruppe als die Lösung aller Probleme propagiert. Das Modell des »homo oeconomicus«, des umfassend informier-
ten und allzeit rational entscheidenden Menschen wurde durch das des »social man« ersetzt (Roethlisberger u. Dickson 1939). > Die Beeinflussung von sozialen Beziehungen und informellen Gruppen wurde daraufhin Programm psychologischer und soziologischer Interventionen in Organisationen.
Die Redensart »Gückliche Kühe geben mehr Milch« führte zur Pflege des »Betriebsklimas«, und diese sollte gradlinig zur Leistungssteigerung beitragen (Briefs 1934; Götte 1962; von Rosenstiel u. Bögel 1992). Auch aufgrund empirischer Untersuchungen verbreitete sich der (in dieser Form nicht haltbare) Glaube an den Leistungsvorteil der Gruppe. Er besagt, dass die Gruppe bessere Leistungen erbringe als der durchschnittliche Einzelne oder gar der beste Einzelne. Man erhoffte, dass der Einzelne in der Gruppe mit aus Organisationszielen abgeleiteten Gruppenzielen sich stärker identifiziere und für diese engagiere (Leistungsdimension) und sich entsprechend auch intensiver über das Erreichen dieser Ziele freuen könne (Zufriedenheitsdimension). Diesen Annahmen folgend stellt die Gruppenarbeit in ihren verschiedenen Ausprägungen mit die attraktivste Alternative zu traditionalen Formen der Arbeitsteilung dar, werden doch in den Philosophien der Team- und Gruppenarbeit die Kriterien gesteigerter Effizienz zusammen mit menschengerechter Arbeit hervorgehoben. Die Bedürfnisse des Menschen nach Abwechslung, vollständiger Tätigkeit, Entspannung, Zusammengehörigkeit und Unterstützung ließen sich dabei verwirklichen. Neu belebt wurde die Philosophie der Gruppenarbeit durch notwendig gewordene Qualitätssteigerungen, die dazu geführt haben, nach neuen Formen der Zusammenarbeit zu suchen. Als vorbildlich galten in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts die in japanischen Unternehmen erreichten Qualitätssteigerungen und wirtschaftlichen Erfolge durch Gruppenarbeit, denen Konzeptionen des Lean Management oder des Total-Quality-Management zugrunde lagen (Antoni 1996) Heute sind es neue Technologien und Arbeitssysteme, das Versagen autokratischer Kontrolle und der Wissenszuwachs im Team, die die Teamarbeit
439 16.3 · Was ist ein Team?
aus funktionaler Sicht in vielen Arbeitsbereichen für erstrebenswert bzw. als notwendig erachten und weniger humane Ziele; entsprechende Organisationsphilosophien heißen: Dezentralisierung, Autonomie, »small is beautiful«, »managing by cooperation« usw. (Bungard u. Antoni 1995).
16.3.2 Was spielt sich in Gruppen ab?
Um die Ausgangslage für Teamentwicklung verständlich zu machen, bedarf es einiger Grundbegriffe zur Gruppe und zum Geschehen in Gruppen, die für die Diagnose wichtig sind, ehe man zur gezielten Therapie »Teamentwicklung« schreiten kann. Beliebig durchgeführte Maßnahmen, wie z. B. Team-Trainings, denen keine gründliche Bedarfsanalyse und Diagnose der Ist-Situation vorausgehen, können ihr Ziel verfehlen, d. h. es findet dann kein positiver Transfer in den Alltag statt. Da nicht nur Sach- sondern auch Sozialbezüge wichtig sind, sollen folgende Bestimmungen für die Arbeitsgruppe bzw. das Team gelten: ▬ mehrere Personen arbeiten mehr oder weniger intensiv zusammen, ▬ sie stehen in direkter Interaktion, ▬ sie haben untereinander mehr Kommunikation als mit anderen, ▬ sie verfolgen gemeinsame Normen und Ziele, ▬ kennzeichnend sind komplementäre Rollendifferenzierungen, ▬ sie sind räumlich und zeitlich von anderen Gruppen abgehoben ▬ und sie sind durch ein Wir-Gefühl verbunden. Die Definitionen sind manchmal auch weiter oder enger gefasst (von Rosenstiel 2003; Sader 1991). > Von grundlegender Bedeutung für die Zusammenarbeit in Gruppen ist, ob diese durch die Organisation der Tätigkeit von außen erzwungen wird und von Abhängigkeit (Dependenz) geprägt ist, oder ob diese von den Mitgliedern als erstrebenswert erachtet wird, was zum Zusammenhalt (Kohäsion) beiträgt, das Wir-Gefühl steigert und die Akzeptanz von gemeinsamen Zielen und Normen fördert.
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Allgemeine Annahmen sind z. B., dass mit der Häufigkeit der Kontakte die zwischenmenschliche Sympathie ansteigt (Homans 1960), oder dass der Einzelne bei Anwesenheit von anderen mehr die Verhaltensweisen zeigt, die er gut kann und weniger solche, die er nicht so gut beherrscht bzw. risikoreiche oder neue. Dies hängt vom Verhalten, der Anzahl und Bedeutung der anwesenden Personen ab. Gruppen sind nach unterschiedlichen Aufgaben und Rollen differenziert. Die Rollendifferenzierung und damit der Status des Einzelnen in der Arbeitsgruppe sind in der Regel nach Organisationsplan festgeschrieben. Differenzierungen entwickeln sich aber auch informell in der Gruppe horizontal wie vertikal; diese Entwicklung der informellen Gruppe sieht man heute als notwendige Differenzierung an und weniger als Gegensatz zur formellen Organisation (von Rosenstiel 2003). Damit sind auch unterschiedliche Typen von Mitarbeitern in Gruppen angesprochen, die durch Selbst- oder Fremdselektion in die Gruppe gekommen sind; nicht alle eignen sich für hochgesteckte Ziele der Teamentwicklung. Jedoch sei hier vor schnellen Personifizierungen gewarnt, wenn die Entwicklung nicht so läuft, wie man sich das »auf dem Reißbrett« vorgestellt hat. Zweifellos gibt es Mitarbeiter wie Vorgesetzte, die für die Teamarbeit und -entwicklung nicht geeignet sind. Die Gründe mögen in der Person liegen, in Erfahrungen, die die Person gemacht hat oder z. B. in dem bekannten Fehler, nämlich den tüchtigsten Sachbearbeiter in die Führungsposition zu befördern, ohne sich um seine Führungsfähigkeiten zu kümmern. > Die Sachebene (Lokomotion) und die Beziehungsebene (Kohäsion) manifestieren sich in Gruppen in der Regel in verschiedenen Rollen.
In der Praxis ist häufig ein sog. Führungsdual zu beobachten. Das beliebteste Gruppenmitglied pflegt die Beziehungsebene, während die nach Gesichtspunkten der Lokomotion eingesetzte Führungskraft sich in erster Linie um die Erreichung der Sachziele kümmert (Bales u. Cohen 1982). Konflikte – auch größeren Ausmaßes – sind programmiert, wenn sich die beiden Rollenträger nicht ergänzen, häufig wird dann der Konflikt in Stellvertreterkriegen ausgetragen. Soziale Rollenkon-
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Kapitel 16 · Teamentwicklung
flikte wie Interrollenkonflikte der Führungskraft sind angesagt, wenn sie nicht nur die tüchtigste, sondern auch die beliebteste Kraft in der Gruppe sein will. Die in den beiden Rollen angelegte Komplementarität und Brisanz ist von Außenstehenden meistens schwer zu durchschauen. Mit steigender Kohäsion wird die Toleranz der Gruppe für abweichendes Verhalten von Mitgliedern geringer. Das kann positive wie negative Folgen haben. Beispielsweise wird schlechte Leistung eines Einzelnen ab einer bestimmten Grenze nicht mehr geduldet, aber auch eine die Gruppennorm weit übersteigende Leistung findet die Ablehnung durch die Gruppe; man denke an den »Streber«, der von der Gruppe geschnitten wird (Jackson 1966). Unter Führungsgesichtpunkten sieht es dann so aus, dass mit zunehmender Kohäsion die Toleranz für Abweichungen von der Gruppennorm abnimmt. Ob nun aber die Gruppennorm für die Leistung sich verbessert oder verschlechtert hängt vor allem von der Einstellung zum Vorgesetzten und der Organisation ab (Seashore 1954). Hier werden Bedeutung der Führungskraft, ihr Verhalten, ihre Führungsqualitäten sowie die Abhängigkeit von der Gruppe deutlich. > Die Spielregeln in Gruppen dürfen nicht losgelöst von strukturalen Rahmenbedingungen der Organisation betrachtet bzw. verändert werden; sie sind eingebettet in die Gesamtorganisation bzw. die Unternehmenskultur.
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Das Beispiel aus der Beförderungspraxis zeigt diese Abhängigkeit; denn dass Gruppen ihre Vorgesetzten selber wählen dürfen, ist sicher nicht die Regel. Das Ausmaß des Einflusses einer Gruppe auf die Besetzung von Positionen kann jedoch ein Gradmesser für ihre Autonomie sein (Bungard u. Jöns 1997). Werte und ihre Menschenbilder, die in der Gesamtorganisation gelten, prägen auch das Verhalten in der Gruppe und können nicht von heute auf morgen verändert werden, sie sind in der Struktur und der gelebten Kultur verankert. Hier gilt es zu fragen, wozu die Teamentwicklung führen soll. Sind die Ziele der Qualitätssteigerung der Arbeit und die Konsequenzen auch ernst gemeint und glaubwürdig, oder stehen Rationalisierung
und Arbeitsverdichtung an erster Stelle? Besteht die Bereitschaft, mehr Befugnisse in die Verantwortung der Gruppe zu delegieren? Das Menschenbild in der Organisation prägt auch das in der Gruppe mit. Hat das Management Vertrauen in die Leistung und Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter? Wie wird informiert? Welches Verhalten wird belohnt? Welche Leitbilder bzw. Philosophien von Total Quality, Nullfehler, Lean Management, Reengineering, Lernende Organisation, Netzwerkorganisation usw. stehen im Hintergrund?
16.3.3 Vor- und Nachteile
der Gruppenarbeit Gruppenarbeit hat ihre Vor- und Nachteile. Ob nun die eine oder andere Seite überwiegt, ist oft schwer zu sagen. So mag z. B. in einem bestimmten Zeitraum die quantitative Leistung steigen, die zwischenmenschlichen Beziehungen aber stagnieren; dann kann es wieder umgekehrt sein. Die Teamarbeit ist durch Ambivalenzen gekennzeichnet.
Ambivalenzen der Teamarbeit
▬ Die Gruppe vermag einerseits Leistungen zu vollbringen, die dem Einzelnen oft nicht möglich sind, insbesondere, wenn verschiedene Fähigkeiten, die zur Lösung der Aufgabe nützlich sind, sich ergänzen; andererseits gibt es zweifellos Aufgaben, die der Einzelne »im stillen Kämmerlein« besser bewältigen kann. ▬ Das Urteilsvermögen der Gruppe ist einerseits besser als das des Einzelnen, wenn verschiedene Meinungen zu einer optimalen Lösung beitragen; andererseits verbeißen sich Gruppen insbesondere in Konfliktsituationen in einseitige Lösungen und verhindern mittels Autoritäts- und Gruppendruck alternative Vorschläge (Janis 1972). ▬ Einerseits ist die Information bei intensivem Kontakt aller Gruppenmitglieder besser, wenn sie nur einmal und für alle gleich
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441 16.4 · Bedingungen für die Teamentwicklung
als jedem einzeln gegeben wird oder den Weg der »stillen Post« (Antons 1992) geht; andererseits kann der intensive Kontakt bei Gruppen- und Autoritätsdruck auch die Meinungsäußerung behindern; dies betrifft vor allem die nicht so redegewandten Gruppenmitglieder, die nachweislich keineswegs weniger wissen als die Vielredner (von Rosenstiel 1995). ▬ Die kollektive Kontrolle bietet einerseits Vorteile für die Zielerreichung sowie die Rückmeldung an den Einzelnen und seine Qualifizierung, wenn sie fair und konstruktiv gestaltet wird; andererseits kann sie zu einer »Laissez-faire-Haltung« verkommen, wenn man sich »ja nicht weh tun« darf, oder z. B. unter internen Wettbewerbshaltungen und -bedingungen, Cliquenbildung und Gruppendruck zu Mobbing oder Verhinderung von Initiativen führen. ▬ Zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehört einerseits, Kontakt mit anderen Menschen zu haben und Sicherheit und Geborgenheit in der Gruppe zu erleben; andererseits kann die Gruppe auch zu eng werden. Die Ambivalenz von Nähe und Distanz, Sicherheit und Selbstbestimmung ist für den Einzelnen wie die Gruppe ein permanenter Balanceakt.
16.4
Bedingungen für die Teamentwicklung
Im Folgenden werden die angesprochenen Erkenntnisse zum Geschehen in Gruppen und ihre Bedeutung für die Teamentwicklung näher betrachtet.
16.4.1 Strukturelle Voraussetzungen
Die Anzahl der Gruppenmitglieder spielt eine wichtige Rolle, weil in großen Gruppen die direkte Interaktion und Kommunikation nur sehr begrenzt möglich ist. Hier sind evtl. strukturale Eingriffe eher angebracht als z. B. Gruppentrainings der
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Teamentwicklung. Die Gruppengröße hängt von der Aufgabe ab. Im Sinne intensiver Kontakte und Absprachen kann das je nach Aufgabe unterschiedlich sein. Das mögen einmal 3 bis 4 Mitglieder sein und bei anderen Aufgaben vielleicht bis zu 20, dann dürfte es allerdings schwierig werden, die in der Definition geforderten Kontakte zu koordinieren, in der Praxis bilden sich dann meistens Untergruppen oder Cliquen heraus. Die direkte Interaktion erfordert sowohl räumliche wie personelle Bedingungen, d. h. die räumliche Nähe muss konkret gegeben sein, Telekommunikation reicht nicht aus, ein Großraumbüro wiederum wird häufig als zu eng erlebt. Die Kommunikationsstruktur, d. h. die Intensität, Anziehungen und Abstoßungen oder Anzahl der Kontakte kann gemessen werden. Wer hat die meisten Kontakte, wer ist der Beliebteste, gibt es Außenseiter usw. (Moreno 1934). Die »FließbandStruktur« – die es nicht nur in der Produktion gibt – ist z. B. eine schlechte Voraussetzung für die Teamentwicklung, wenn diese Struktur nicht zumindest für bestimmte Zeiten und Aufgaben aufgelöst werden kann. Die Kommunikationsmöglichkeiten müssen im Idealfall tatsächlich jedem mit jedem möglich und die Zeit dafür muss auch gegeben sein; denn nur zu oft hört man bei einschlägigen Untersuchungen: »Dafür haben wir keine Zeit.« In der industriellen Produktion haben sich z. B. in der Ablösung der Fließbandfertigung in manchen Bereichen »Fertigungsinseln« bewährt, in denen ein Team von Mitarbeitern gemeinsam ganzheitliche Tätigkeiten organisiert und ausführt (Antoni 1996). Rollendifferenzierungen sind einerseits durch klare Absprachen möglich, andererseits sind Überschneidungen von Aufgaben durchaus wünschenswert, denn in einem gut funktionierenden Team sollten die Mitglieder teilweise für einander einspringen können. Dem steht eine starke vertikale Hierarchisierung, als auch eine starke horizontale Spezialisierung mit starren Grenzen entgegen (wie dieses für Projekte typisch ist, in denen meist zeitlich begrenzt Spezialisten nur ihren jeweiligen Spezialbeitrag einbringen). Die angesprochenen Überschneidungen sind natürlich konfliktanfällig, wenn Kommunikationsstruktur und -möglichkeiten nicht offen und konstruktiv genutzt werden
442
Kapitel 16 · Teamentwicklung
können. Allgemein werden ja Teams unter gemeinsam getragenen Normen und Werten ob ihrer Harmonie und Einigkeit gepriesen, dabei wird leicht übersehen, dass abweichende Meinungen und der Dissens von Minderheiten fruchtbare Prozesse stimulieren bzw. die Erstarrung verhindern können (Nemeth u. Owens 1996). Die Frage lautet also, wie geht man mit »Abweichlern« und der Meinung von Minderheiten um, wie viel Toleranzspielraum ist möglich?
16.4.2 Widerstände und Anreize
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Ist der Zusammenhalt der Gruppe überwiegend von Dependenz geprägt, müssen zweifelsfrei Anreize geschaffen werden, die es dem Einzelnen ermöglichen, die Vorteile, die das Team ihm bietet, einsehen zu können. Mitarbeiter erleben die Einführung von Gruppenarbeit häufig nicht als Chance, sondern als Bedrohung ihrer bisherigen Verhaltensweisen. Die Chancen sind dem Einzelnen nicht klar oder geheuer, wenn sie nicht oder nicht richtig kommuniziert werden. So wurde die Nullfehler-Philosophie z. B. häufig mit Plakaten kommuniziert, die so verstanden wurden, dass man jetzt keine Fehler mehr machen dürfe; die Folge davon war, dass man sich sehr vorsichtig und zurückhaltend verhielt. Die Anreize der Teamarbeit wie vollständige Aufgaben, d. h. Vorbereitung, Planung, Ausführung, Kontrolle und Korrektur in einer Hand – der Gruppe – beinhalten Qualifizierung und Lernmöglichkeiten für den Einzelnen (Hacker 1994) und damit Arbeitsplatzsicherheit, fachliche wie soziale Kompetenz und verbesserte Mobilitätschancen. Materielle Anreize, an die man vielleicht zuerst denken mag, stehen nur scheinbar im Vordergrund, vielmehr sind es häufig Bedenken und Ängste vor erhöhter Arbeitsbelastung, Überforderung, notwendig werdenden Umstellungen, Verlust von Status und Einfluss. Gewinn und Verlust wollen abgewogen und diskutiert werden, mit vordergründigen »Überredungskünsten« kommt man da nicht an (von Rosenstiel 1997). Den Hintergrund bilden wiederum Organisationsstruktur und -kultur.
> Wenn auf der strukturellen Ebene die individuumszentrierten Rahmenbedingungen beibehalten werden, z. B. die individuelle Belohnung von Informationsvorsprung, sind Teamentwicklungsmaßnahmen, die an der Person ansetzen längerfristig nicht erfolgreich (Bungard 1990).
Allerdings erwarten Mitarbeiter mit gewachsenen Aufgaben, Qualifizierung und gestiegener Verantwortung auch eine entsprechende materielle Belohnung. Insofern sind entwickelte Teams meist teurer als nichtentwickelte und die möglichen Qualitätssteigerungen rechnen sich nicht bzw. nicht kurzfristig, z. B. gehen bestimmte Qualitätsgewinne nicht in das Controlling ein. Der bereits angesprochene Zusammenhang von Motivation und Zufriedenheit ist nicht eindimensional. Unzufriedenheit kann ein Motiv sein, etwas ändern zu wollen und sich in Bewegung zu setzen. Zufriedenheit bedeutet aber auch »Sättigung« und nicht unbedingt den Wunsch Neues, Herausforderndes anzupacken.
16.4.3 Voraussetzungen für Teamarbeit
Im Folgenden werden sozusagen »minimale« Voraussetzungen für die Teamentwicklung zusammengefasst. Fehlen diese ganz oder sind sie stark eingeschränkt, dann wird eine effiziente Teamarbeit kaum möglich sein und die Anstrengungen der Entwicklung verlaufen im Sand.
»Mindest-Voraussetzungen« für die Teamentwicklung
▬ Beschränkte Gruppengröße ▬ Gemeinsam festgelegte Spielregeln und Ziele Klar festgelegter Verantwortungsbereich Vollständige Tätigkeit Unterstützung von »oben« Positive Gestaltung des Kommunikationsprozesses ▬ Ausreichende zeitliche Kapazitäten
▬ ▬ ▬ ▬
443 16.5 · Strategie der Teamentwicklung
16.5
Strategie der Teamentwicklung
Die bis hierher dargelegten Aspekte des Verhaltens in Gruppen und Bedingungen, die eine Teamentwicklung fördern bzw. behindern, legen nahe, dass es alle idealen Voraussetzungen wohl nur selten gibt. Kompromisse müssen gemacht bzw. der situationsgemäß richtige Ansatzpunkt gefunden werden. Man kann zwischen Input-, Prozess- und Output-Variablen unterscheiden (Tannenbaum et al. 1996). Zum Input gehören Aufgabencharakteristiken und Arbeitsstrukturen sowie Personale- und Gruppencharakteristiken; im Prozess geht es um die Koordination, Kommunikation, Konfliktbewältigung, Entscheidungsfindung und damit verschiedene Trainings; den Output stellen die neuen Normen und Verhaltensweisen, die Leistungen und Einstellungen des Teams dar. Insbesondere für den Prozess gilt, dass die Teamentwicklung immer partizipative Elemente beinhalten muss, d. h. die Betroffenen weitgehend zu beteiligen sind. Somit sollten Zielsetzungen und Erfahrungen der Organisationsentwicklung psychologischer Prägung wie z. B. der Aktionsforschung genutzt werden (Gebert 1995). Personelle und strukturelle Maßnahmen müssen sich ergänzen, wenn die Entwicklung Bestand haben soll. Einmalige Aktionen sind skeptisch zu beurteilen und deren Ergebnisse kaum von Dauer.
16.5.1 Bedarfsanalyse
Die Teamentwicklung setzt eine Bedarfsanalyse voraus, u. a. ist der Anlass ausschlaggebend: Geht es um aktuelle Krisenbewältigung, Schwachstellenbeseitigung oder soll eine bestimmte Organisationsphilosophie zum tragen kommen? Aktuelle Krisenbewältigung setzt selbstverständlich zuerst punktuell an, z. B. an der Bewältigung eines aufgebrochenen Konflikts oder der Verbesserung der Zusammenarbeit und Kommunikation mit anderen Gruppen, kann dann aber auch weiterführen, insbesondere wenn es um die Analyse und Bewältigung der Ursachen geht. Manchmal scheint es leichter zu sein, ein neues Team zusammenzustellen als eine bereits bestehende Gruppe zu entwickeln; letzteres dürfte jedoch
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der Normalfall sein. Während im ersten Fall neben der klaren Zielsetzung und Beachtung der organisationalen Rahmenbedingungen die Personalauswahl entscheidend ist, wird im zweiten Fall die Bedarfsanalyse auf der Aufgaben- und Beziehungsebene in der Gruppe und der Ebene der Organisation bzw. Kultur notwendig. Tests für Personen können zur Auslese und der spezifischen Förderung fachlicher oder sozialer Kompetenzen führen, die für die Arbeit im oder mit dem Team nützlich sein können. Für die Personalauswahl bzw. -beurteilung muss hier angemerkt werden, dass die klassischen Test-Arsenale individuumszentriert sind und nur bedingt geeignet, die Teamfähigkeit zu messen. Bestimmte Aufgaben aus dem Assessment Center scheinen dafür besser geeignet zu sein; es sind jedoch gerade diejenigen Aufgaben, die im klassischen Ansatz als nicht sehr valide eingeschätzt werden (Schuler 1990). Spezifisch auf das Team gerichtet sind Befragungen der Mitarbeiter über Schwachstellen, den Ist-Zustand der Organisation und/oder ihre Wünsche zum Soll-Zustand. Die von den Mitarbeitern aufgezeigten Schwachstellen zeigen Bedarfe auf, die Wünsche zum Soll-Zustand Bedürfnisse, die die Tür zur Teamentwicklung öffnen können. Ein Beispiel für eine schriftliche Befragung soll hier pauschal Inhalte, Operationalisierungs- und Messmöglichkeiten mittels einer sog. Kuninskala zeigen, die eine quantitative Auswertung ermöglicht, denn man kann den mehr oder weniger lachenden oder weinenden Gesichtern Zahlen einer Skala von 1 bis 5 zuordnen und diese von gut bis schlecht interpretieren (⊡ Abb. 16.1). Eine derartige quantitative Erfassung und die Berechnung von z. B. Durchschnitts- und Streuungswerten usw. kann hilfreich sein, bedarf aber selbstverständlich der sorgfältigen qualitativen Analyse und zwar nicht nur von Beratern und Außenstehenden, sondern von den betroffenen Teammitgliedern selbst. Es gibt zahlreiche Beispiele für Fragebögen, Interviews, Stimmungsbarometer, Erstellung von Problemkatalogen, Bericht über »Kritische Ereignisse«, Verhaltensbeobachtung, »Arbeitsanalyse zur prospektiven Gestaltung der Gruppenarbeit« (Hacker 1994), zu Kommunikationsstruktur und Verhaltensweisen in Gruppen (Moreno 1934;
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Kapitel 16 · Teamentwicklung
Kommunikation und Information: Wird ausreichend und offen kommuniziert......................... 5
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1
Aufgabenkoordination: Werden die Aufgaben im Team ausreichend abgestimmt... Ausgewogenheit der Beiträge: Können sich alle Mitglieder in das Team einbringen.......... Gegenseitige Unterstützung: Helfen und Ergänzen sich die Mitglieder nach Kräften..... Arbeitsnormen: Setzen sich die Mitglieder voll für die gemeinsame Aufgabe ein........................................................................ Kohäsion: Herrscht ausreichend Zusammenhalt im Team.................
⊡ Abb.16.1. Beispiel für eine schriftliche Befragung
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Francis u. Young 1982; Bales u. Cohen 1982; Blake et al. 1987; Comelli 2003). Ansätze neueren Datums wollen das Teamklima unter Begriffen wie Visionen, Zielorientierung, Verantwortungsübernahme, Exzellenz, Synergie usw. untersuchen (Kauffeld u. Frieling 2001; Brodbeck 2001); diese sind evtl. in einem fortgeschrittenen Stadium der Teamentwicklung angebracht. Im Gegensatz dazu sind umfangreicher angelegte Organisationsklimauntersuchungen, die das für die Gruppe wichtige Vorgesetzten- und Managementverhalten nicht ausklammern, für die Diagnose und die Richtung einzuleitender Maßnahmen aufschlussreicher (Bögel u. von Rosenstiel 2001; 2004). Für die Analyse der Kultur und Werte der Gesamtorganisation wie des Teams ist der Ansatz von Schein erfolgreich, weil er einen längeren Prozess verfolgt und keinen Schnellschuss verpasst (Schein 1995; Bögel 2003). Der Reifegrad einer Gruppe – Vorgesetzte selbstverständlich eingeschlossen – für eine qualifizierende Teamentwicklung zeigt
sich z. B. darin, ob die Bereitschaft besteht, sich in bestimmten Phasen der Entwicklung von einem gruppenerfahrenen Supervisor begleiten zu lassen. Dieser sollte mit der Vollmacht ausgestattet sein, spezifische Aussprache- und Lernphasen einzuschalten, wenn er diese für notwendig hält.
16.5.2 Maßnahmen
Zu unterscheiden gilt es Maßnahmen, die außerhalb des Teams angesiedelt sind und sich auf die Teamentwicklung auswirken sollen von solchen, die im Team selbst vor Ort ablaufen. Zum ersten Fall gehören strukturelle Voraussetzungen wie die Festlegung der Rahmenbedingungen oder Spielräume für das Team, d. h. Ziele, Gruppengröße, Personalauswahl etc., aber auch persönliche Treatments wie z. B. Trainings für Einzelne. Musterbeispiele dafür sind Trainings für Führungskräfte zur Kooperation, denn Grup-
445 16.5 · Strategie der Teamentwicklung
penarbeit erfordert grundsätzlich einen partizipativen Führungsstil, oder zur Sensibilisierung der Wahrnehmung des eigenen Verhaltens und für gruppendynamische Prozesse (Antons 1992). Vorgesetzten fällt es häufig schwer, den Übergang vom Boss zum Coach, vom Alleskönner zum Berater oder vom Alleinentscheider zum Moderator zu meistern. Mögliche Trainings sind die zum Kommunikationsverhalten, zum Mitarbeitergespräch, zur Zielvereinbarung im Team im Gegensatz zum Zieldiktat etc. Im zweiten Fall gestalten sich die Maßnahmen anders, die innerhalb des Teams und im Prozess ablaufen, auch wenn sie sich auf dieselben Inhalte beziehen. Neben den Arbeitsaufgaben muss Zeit für gruppenspezifische Lernprozesse, Experimentierphasen und Trainings gegeben sein; weshalb sich Teamarbeit zu Beginn kaum kostengünstig rechnen kann. Einzelne Gruppentechniken sind zwar auch individuell und außerhalb der Gruppe erlernbar, aber »Gruppen müssen langsam laufen lernen«. > Eine Metaanalyse über Interventionstechniken, in denen Befunde verschiedener Untersuchungen zusammengefasst und im Hinblick auf verschiedene Leistungen verglichen wurden, erbrachte, dass alle diese Maßnahmen erfolgreich waren und deutliche Leistungssteigerungen zur Folge hatten; am erfolgreichsten waren Trainings.
Im Zusammenhang mit der Teamentwicklung interessiert hier nicht das methodische Vorgehen dieser Studie und ihre Probleme, sondern die verschiedenen Interventionstechniken, die in unterschiedlichen Situationen und Kontexten hilfreich sein können: ▬ Rekrutierung und Personalauswahl, z. B. Realistische Arbeitsplatzbeschreibung, ▬ Trainings- und Arbeitsanweisungen, z. B. Lernprogramme und Management Seminare, ▬ Beurteilung und Feedback, z. B. Das Mitarbeitergespräch, ▬ Management by Objectives, Zielsetzung und Zielvereinbarung, ▬ monetäre Anreize, z. B. Prämien für das Team, ▬ Arbeitsdesign, z. B. Verbesserung von Arbeitsplatzbedingungen, job-enrichment,
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▬ Techniken der Entscheidungsfindung, z. B. Beteiligung der Betroffenen, ▬ Führungsstil bzw. -methoden, z. B. Einführung partizipativer Führung, ▬ Arbeitszeitgestaltung, z. B. flexible Arbeitszeiten, ▬ sozio-technische Interventionen, z. B. psychologische Organisationsentwicklung (Guzzo et al. 1985). Trainings zu Entscheidung, Visualisierung, Kreativität, Konferenz- und Gesprächsführung oder Konfliktregelung werden z. B. von Fittkau u. Fittkau-Garthe (1994) angeregt, dabei werden vor allem die Lernprinzipien der Teamentwicklung betont: ▬ Integratives ganzheitliches Lernen (Förderung des kognitiven, emotionalen und aktionalen Bereichs im Sinne integrierter Persönlichkeitsentwicklung, ▬ Öffnung der Lernbereitschaft und Schaffung einer angstfreien Atmosphäre, ▬ Lernen durch eigenes Tun und Praxissimulation (Rollenspiele), ▬ Lernen durch Selbsterfahrung, ▬ Lernen durch Rückkoppelung (Feedback), ▬ Lernen an den aktuellen Gruppenprozessen im »hier und jetzt«, ▬ Lernen an Verhaltensmodellen der Teilnehmer. Ein mehrstufiges »Kooperationstraining in Arbeitsgruppen zur Förderung sozialer Handlungskompetenz (SOKO) hat Udris (1998) entwickelt, das sich aus verschiedenen Elementen (Bausteinen) zusammensetzt. Neben Lernprinzipien, die in etwa denen von Fittkau und Fittkau-Garthe entsprechen, sind die Lernschritte: 1. Identifizierung von Problemen durch Analyse und Differenzierung relevanter sozialer Situationen in der Arbeit. 2. Bewusstmachen und Formulieren von Zielen und Handlungsplänen. 3. Entwickeln alternativer Lösungen und Auswahl situationsangemessener Verhaltensmuster. 4. Verhaltenseinübung und Überprüfung dieser Verhaltensmuster in der alltäglichen Praxis. 5. Evaluation und eventuelle Modifikation in nachfolgenden Trainingseinheiten.
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Kapitel 16 · Teamentwicklung
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Zukunft der Teamarbeit
Teamarbeit hat sicher Zukunft, auch wenn es Rückfälle in monotone Fließ- und Fließbandarbeit (z. B. in der Autoindustrie oder bei Computerarbeit) gibt, mit kurzen Taktzeiten für die einzelnen Mitarbeiter und Handgriffe, die leicht angelernt werden können. So wird zumindest argumentiert. Es gibt Arbeitsgebiete in denen es Nachholbedarf für die Einführung von Teamarbeit gibt und Gruppenarbeit, die verbessert oder erst noch entwickelt werden muss. Die Teamentwicklung muss sorgfältig angegangen werden, wurde hier mehrfach betont; das meinen auch Katzenbach u. Smith (1993) deren Prämissen hier zusammengefasst werden.
Prämissen der Teamentwicklung
▬ Die Identifikation mit dem Leistungsziel ▬
▬ ▬
▬
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▬ ▬ ▬ ▬
und dem Zweck ist für den Erfolg wichtiger als die Teambildung an sich. Möglichkeiten für die Teambildung gibt es auf allen Arbeitsgebieten und Bereichen und entgegen häufig Behauptung nicht nur auf bestimmten. Die formale Hierarchie steht nicht im Widerspruch zur Teamarbeit, beides passt gut zusammen. Erfolgreiche Teamleiter weisen sich durch kein besonderes Profil aus und müssen nicht die älteren oder erfahrenen Gruppenmitglieder sein. Das Bemerkenswerteste an erfolgreichen Veränderungsprozessen sind Teams. Teams an der Spitze sind meist kleiner und schwieriger einzurichten. Im Gegensatz zur wachsenden Zahl von Teams ist ihr Leistungspotential weitgehend unbekannt und zu wenig genutzt. Die Beendigung der Teamarbeit zu managen kann genau so bedeutend sein wie deren Anfang. Teams bringen eine einheitliche Mischung von Leistung und personalem Lernen hervor.
? Wissens- und Transferfragen 1. Wie ist Gruppe bzw. Team definiert? 2. Was sind Vor- bzw. Nachteile der Gruppe? 3. Welche Erwartungen werden mit einem entwickelten Team verbunden? 4. Nennen Sie Voraussetzungen für die Teamarbeit. 5. Welche Fähigkeiten/Fertigkeiten sollte ein Vorgesetzter in der Teamarbeit haben? 6. Welche Vorteile kann die Teamarbeit für den Einzelnen bringen? 7. Welche Befürchtungen haben Einzelne vor der Teamarbeit? 8. Nennen Sie Anlässe für eine Teamentwicklung. 9. Nennen Sie Ansätze der Bedarfsanalyse für die Teamentwicklung? 10. Nennen Sie spezielle Maßnahmen der Teamentwicklung?
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447 Literatur
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17 Public Relations (PR) J. Falk 17.1
Einführung »Man kann nicht nicht kommunizieren« – 449
17.2
Die Ziele von PR – 450
17.3
Aufgaben von PR-Beauftragten
17.4
Relevante Zielgruppen – 453
17.5
Image und Corporate Identity – 458
17.6
Strategiekonzept zur PR-Arbeit – 460
17.7
Pressearbeit
17.1
Einführung »Man kann nicht nicht kommunizieren«
17.8
Zusammenfassung
Wissens- und Transferfragen Literatur
– 471 – 472
– 472
– 452
– 467
Beispiel Sie stehen am Aufzug eines Krankenhauses. Neben Ihnen unterhalten sich zwei Pflegerinnen: »Der muss ja gestern wieder schwer versackt sein!« »Es geht offensichtlich um einen Kollegen, Alltagstratsch, völlig harmlos, einfach menschlich«, denken Sie sich und schmunzeln. Tage darauf verfolgen Sie ein Gespräch, in dem im Schwesternzimmer über die Macken eines Patienten hergezogen wird. Außerdem bekommen Sie den lautstarken Streit zwischen zwei Kollegen mit, wo der eine den anderen beschuldigt, nicht das getan zu haben, was angeordnet wurde.
Welchen Eindruck gewinnen Sie als Besucher oder Patient, wenn Sie zufällig solche Äußerungen hören? Sie denken, das ist doch eine Banalität. Selbst wenn Sie so denken, bestätigt sich das kommunikative Grundaxiom von Watzlawick (1969): »Man kann nicht nicht kommunizieren.« Verhalten wird wahrgenommen – auch und gerade dann, wenn es unbeabsichtigt ist. Amerikanische Forscher haben in
einer Untersuchung bestätigt, dass kommunikative Übergriffe einem Krankenhaus schaden können (Psychologie Heute 1997). Das Personal erscheint in einem schlechten Licht und erweckt den Eindruck unprofessionellen Verhaltens. Bei Patienten und Besuchern wird der Eindruck hervorgerufen, dass man an solchem Ort nicht gut aufgehoben ist. Für PR-Arbeit eröffnet sich hier ein weites Handlungsfeld. Ihre Aufgabe ist die Gestaltung der Kommunikation. Gemeinhin nimmt man an, dass sich PR ausschließlich um die Außenwirkung der Organisation kümmert. Das ist auch weit gehend richtig, nur das äußere Ansehen hängt entscheidend von der Qualität der internen Kommunikation ab. Daher fangen PR nicht erst vor der Haustür an, sondern beginnen innen. Die Verbesserung der Kommunikation nach innen und außen ist Aufgabe von PR-Managern. Sie wird von der obersten Leitung verantwortet. PR arbeiten an der Corporate Identity (CI) eines Unternehmens. Die Kommunikation eines positiven Selbstbildes soll zu sozialem Vertrauen führen. Über Vertrauensbildung tragen PR dazu bei, den unternehmerischen Handlungsspielraum zu erhalten und zu erweitern. PR unterscheiden sich je nach strukturellen, personellen, finanziellen und sachlichen Voraus-
450
Kapitel 17 · Public Relations (PR)
setzungen. Sie haben die spezifischen Bedingungen eines Krankenhauses, einer ambulanten Pflegeoder Altenhilfe-Einrichtung zu berücksichtigen, die Einbindung in die Stadt, die Besonderheit der Bevölkerungsstruktur, die Konkurrenzsituation, vorhandene Kooperationsstrukturen usw. Grundlegende theoretische Kenntnisse zur PR-Arbeit bilden daher die Voraussetzung, um PR-Arbeit flexibel entsprechend der unterschiedlichen Voraussetzungen zu gestalten. Die folgenden Ausführungen zu PR wollen Lernende in die Lage versetzen, für Ihre eigene Einrichtung ein PR-Konzept zu erarbeiten. Grundlage dazu ist das Wissen um ▬ die Ziele von PR, ▬ die Aufgaben von PR-Managern, ▬ die relevanten Zielgruppen, denen sich PRBeauftragte in ihrer Arbeit vorrangig zuwenden. Die Frage nach dem Selbstbild und Fremdbild einer Organisation, die sowohl Ausgangspunkt als auch Gestaltungsauftrag für PR sind, schließt sich an. In diesem Kontext interessiert der Zusammenhang zwischen ▬ Image und Corporate-Identity und ▬ die Bedeutung von Corporate Behavior, Corporate Design und Corporate Communications für das einheitliche Erscheinungsbild einer Organisation.
17
Sollen PR wirksam sein, sind sie strategisch geplant und konzeptionell untermauert. Daher geht es im Weiteren darum, ein Strategiekonzept zur PRArbeit zu entwickeln mit den Aspekten: ▬ Das Fünf-Phasen-Modell als Planungsgrundlage, ▬ Ist-Image, ▬ Stärken-Schwächen-Profil, ▬ Soll-Image, ▬ Kommunikations-Instrumente, ▬ Implementierung/Durchführung, ▬ Controlling. Die Hauptaufgabe von PR-Beauftragten ist die
17.2
Die Ziele von PR
Wozu braucht eine Organisation Public Relations? Der Begriff »Public Relations« bedeutet in deutsch zunächst nichts anderes als Beziehungen zur Öffentlichkeit unterhalten – also Öffentlichkeitsarbeit. Public Relations sind Bemühungen von Unternehmen um Vertrauen in der Öffentlichkeit. Will man es plakativ formulieren, dann sind PR Werbung um öffentliches Vertrauen! Vertrauen soll entstehen durch die Pflege von Beziehungen und Kontakten. PR tragen dazu bei, eine Kommunikationskultur zu entwickeln, die glaubhaft und nachvollziehbar die fachliche Qualität und den gesellschaftlichen Stellenwert der Dienstleistung transportiert. Public Relations, Öffentlichkeitsarbeit und Unternehmenskommunikation sind Begriffe, die häufig synonym gebraucht werden. > Es gibt zahlreiche Definitionen von PR. James Grunig und Todd Hunt haben 1984 PR als »das Management von Kommunikation von Organisationen mit deren Bezugsgruppen« definiert (zit. nach Herbst 1997).
Das Management der Kommunikation beinhaltet zwei Aspekte, einmal die organisatorische Einbindung des mit dieser Aufgabe betrauten Mitarbeiters und zum andern in funktioneller Hinsicht die Analyse, Planung, Steuerung und Kontrolle von Kommunikation mit den relevanten Bezugsgruppen (⊡ Abb. 17.1).
PR wollen
Kommunikation analysieren planen steuern kontrollieren auswerten
Pressearbeit. Im Mittelpunkt stehen
▬ das Verfassen von Meldungen/Artikeln und ▬ die Durchführung von Pressekonferenzen.
⊡ Abb. 17.1. Anliegen von PR
Information Kommunikation einheitlich darstellen in Aktivität münden lassen transparent machen verbessern
17
451 17.2 · Die Ziele von PR
Ziele des Managements der Kommunikation
▬ Die interne und externe Öffentlichkeit ▬
▬
▬ ▬
kontinuierlich über das Unternehmen zu informieren. Über die unterschiedlichen Kommunikations- und Werbemaßnahmen hinweg auf eine einheitliche Darstellung der PR-Botschaft bedacht sein. Kommunikation nicht folgenlos, sondern in gemeinsame Aktivität mit den internen und externen Kunden sowie den interessierten Parteien münden zu lassen. Das Unternehmen für die interne und externe Öffentlichkeit transparent zu machen. Die Verbesserung der Kommunikationsbeziehungen als einen kontinuierlichen Prozess zu betrachten.
PR vermeiden Widersprüche im Auftreten des Unternehmens in der Öffentlichkeit. Die Botschaft ist einheitlich. Jeder Mitarbeiter ist sich bewusst, dass er sowohl Träger als auch Vermittler des Interesses des Gesamtunternehmens ist. PR verbessern die Kommunikation durch Transparenz, d. h. dass auch negative Entwicklungen, wie z. B. die Schließung von Abteilungen, kommuniziert werden. Sie sind zukunftsorientiert und innovativ, spüren Trends auf, um diese Themen inhaltlich zu besetzen. Sie wirken absichtlich beeinflussend auf das Zielpublikum ein. PR sind ein Äquivalent zum Wettbewerb am Markt um Produkte und Dienstleistungen. Einrichtungen im Gesundheits- und Sozialwesen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Leistungsangebotes kaum voneinander. Kunden im Gesundheits- und Sozialwesen sind häufig ratlos, nicht nur wegen der Angebotsvielfalt, auch wegen der mangelnden Kostentransparenz. In dieser Situation können Gesundheitseinrichtungen über eine profilierte Selbstdarstellung Wettbewerbsvorteile erzielen. PR – im Sinne der Corporate Communications als Teilaspekt der Corporate Identity – kommen unter dem Aspekt der Beziehungsgestaltung eine besondere Bedeutung zu. Gilt es doch, das positive Image der Organisation herauszustellen. Imagepflege ist wichtig. Image dient als Ersatz von Wissen und ermöglicht Orientierung. Image »materiali-
siert« eine Dienstleistung und zeigt sich für Kunden im Service, den Imagebroschüren, den Beratungsangeboten, der Gesprächsführungskompetenz, für Mitarbeiter in geschlechtsspezifischer Chancengleichheit, flexiblen Arbeitszeitmodellen usw. und beeinflusst somit das Verhalten der Kunden. PR pflegen zwischenmenschliche Beziehungen in zwei Richtungen: einmal zur externen Öffentlichkeit, zum andern zur internen Öffentlichkeit. Die externen Zielgruppen sind z. B. Presse, Rundfunk, für Krankenhäuser zukünftige und derzeitige Patienten und niedergelassene Ärzte, Verbände, Krankenkassen, für Altenpflege-Heime die Angehörigen, ältere Menschen im Stadtteil als zukünftige Bewohnerinnen, die Gemeinde usw. Mit dem Begriff Corporate Relations wird die Beziehungspflege der nach außen gerichteten Kontakte verstanden. Die unternehmensinterne Öffentlichkeit sind die Mitarbeiter, die unterschiedlichen Berufsgruppen, die in einem Unternehmen arbeiten. PR-Maßnahmen, die die Beziehungspflege nach innen zum Ziel haben, bezeichnet man als Human Relations (⊡ Abb. 17.2). PR, Corporate Communications oder Öffentlichkeitsarbeit handeln aus einem Eigeninteresse heraus. Zusammenfassend lassen sich folgende Ziele herausstellen (Radel 1996): ▬ PR wollen Meinungen und Auffassungen des Zielpublikums im Sinne des Unternehmens beeinflussen; ▬ PR wollen das Image eines Unternehmens nach innen und außen positiv beeinflussen; ▬ PR wollen die Service-Aufgaben des Unternehmens durchzusetzen verhelfen.
Beziehungspflege Unternehmensleitung Pflege der Human Relations Mitarbeiter
Pflege der Corporate Relations
externe Kunden interessierte Parteien Öffentlichkeit
Sozialpolitische, wirtschaftliche, technologische Umweltfaktoren ⊡ Abb. 17.2. Beziehungspflege als Auftrag von PR
452
Kapitel 17 · Public Relations (PR)
Die öffentliche Meinung soll positiv beeinflusst werden, um langfristig gute Arbeitsbedingungen und bessere Marktchancen zu erreichen.
17.3
Aufgaben von PR-Beauftragten
PR sind Teil der Unternehmenspolitik. Da der Austausch mit Bezugsgruppen die Unternehmenspolitik direkt betrifft, müssen PR von der Geschäftsführung getragen werden. PR helfen die Unternehmensziele zu erreichen. Die Stellung der Abteilung oder des beauftragten Mitarbeiters innerhalb des Unternehmens ist daher von entscheidender Bedeutung. Die PR-Stelle sollte organisatorisch bei der Unternehmensführung angesiedelt sein, z. B. als Stabsstelle. Diese Zuordnung ist erforderlich, da der PR-Beauftragte in den internen Informationsfluss und die Meinungsbildung im Unternehmen eingebunden sein muss. Damit PR ihre Ziele erreichen, sollten die in PR innewohnenden Potentiale für das Unternehmen voll zum Tragen kommen. Häufig werden PR als Einbahnstraße aufgefasst. Die Unternehmensleitung glaubt, sich ein Sprachrohr zu verschaffen, dass ungehindert Jubelmeldungen von oben nach unten transportiert (⊡ Tabelle 17.1). Welche Aufgaben kommen auf einen PRManager zu? Grundsätzlich zeigt sich PR-Arbeit im gesellschaftlichen Engagement des Unternehmens. Im Gesundheits- und Sozialbereich wird die Lobby-Arbeit immer wichtiger, da sie zu einem – zunehmend bedrohten – sozial verant-
wortlichen Klima für Patienten, Pflegebedürftige und in den Einrichtungen arbeitende Menschen beiträgt. PR-Manager bedienen sich vorrangig der Presse- und Medienarbeit. Aber auch die Arbeit in Arbeitskreisen, Konferenzen und Gremien schafft Raum für eigene Anliegen. Im Folgenden werden Aufgaben im Zusammenhang mit der Pflege der Human Relations und Aufgaben im Zusammenhang mit der Pflege der Corporate Relations unterschieden, wobei die Übergänge fließend sind. Human Relations. Ein PR-Manager begleitet die Entwicklung und Umsetzung des CI-Gedankens in einem Unternehmen. PR basieren auf einem strategischen Konzept, durch das sich Unternehmen mit der interessierten bzw. relevanten Öffentlichkeit austauschen sowie interne Kommunikationsbedürfnisse feststellen und erfüllen. Er entwickelt Kommunikationskonzepte und -maßnahmen, die die Mitarbeiter langfristig an das Unternehmen binden. Er gibt z. B. eine Mitarbeiterzeitschrift heraus. Er hält die im Unternehmen Tätigen auf dem Laufenden über die Schwerpunkte der Unternehmenspolitik, die damit verbundenen Probleme, aber auch über Personalentscheidungen, wer eingestellt wird, wer das Unternehmen verlässt oder die Ehrung von Jubilaren. Corporate Relations. Die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ist die Hauptdomäne des PR-Beauftragten. Dazu gehört neben der Pflege von Jour-
⊡ Tabelle 17.1. Anspruch und Wirklichkeit von PR (Weber 1998, S. 5)
17
Dimensionen
Anspruch
Wirklichkeit
Kommunikationszielsetzung
Integration
Information
Kommunikationsfunktion
Managementfunktion zur Steuerung der neutralen Vermittlung von Informationen
überwiegend Managementfunktion als »Sprachrohr« des Managements
Kommunikationsrichtung
in alle Richtungen (vertikal – sowohl top-down als auch bottom up – und horizontal)
vorwiegend vertikal als top-downKommunikation
Kommunikationsstil
involvierend-partizipativ
vorwiegend informierend
453 17.4 · Relevante Zielgruppen
nalistenkontakten die klassische Pressearbeit, wie Meldungen verfassen oder Artikel für Fachzeitschriften schreiben. Dazu gehört ebenfalls, Pressekonferenzen durchzuführen und die Herausgabe von Pressemappen. Die Leitung von Diskussionsrunden und Informationsveranstaltungen fällt ebenfalls in den Aufgabenbereich von PR-Beauftragten. Die Event-Organisation ist ein weiterer Schwerpunkt der PR-Arbeit. Events sind Ereignisse und Veranstaltungen unterschiedlichster Art. Zur Aufgabe des PR-Beauftragten gehört z. B. die Organisation von Messen und Kongressen oder von Ausstellungen. Events sollten originell und zielgruppengerecht sein, damit sie ihre Wirkung nicht verfehlen. Wenn z. B. jährlich ein »Tag der offenen Tür« veranstaltet wird, sollte das Programm variieren am besten unter verschiedene Mottos, um Besucher neugierig zu machen. EventMarketing bedeutet auch, Ereignisse zu schaffen, wenn sie nicht da sind, in Statistiken zu recherchieren, nachzuforschen, wer hat z. B. den tausendsten Patienten, ein neues Gerät, eine neue Funktion, ein Jubiläum usw. Marketing und Produktmanagement sind Tätigkeitsfelder, die in Wirtschaftsunternehmen dazukommen. Verkauft ein Unternehmen Produkte oder Dienstleistungen auf dem Markt, gehört zu den Aufgaben des PR-Managers die Koordination von Werbung und Pressearbeit. Die Botschaft soll einheitlich sein. Dazu gehört ebenfalls die Einflussnahme auf die Produktgestaltung im Sinne des Corporate Designs sowie die Abstimmung unterschiedlicher Abteilungen – Marketing, Entwicklung, Produktion, Vertrieb usw. – im einheitlichen Auftreten. Übergreifende Aufgaben liegen in der Entwicklung und inhaltlichen Gestaltung von Multimediaprodukten für verschiedene Bereiche, z. B. der Produkt- oder Dienstleistungspräsentation, der Werbung oder der Schulung. Die Hauptaufgaben von PR-Beauftragten werden im Folgenden näher erläutert. Dazu gehören die Identifikation der relevanten Kundengruppen und die Pflege der Kundenbeziehungen, die Erarbeitung eines Strategiekonzeptes im Sinne der Corporate Identity und die exemplarische Umsetzung des PR-Konzepts in Form von Pressearbeit.
17.4
17
Relevante Zielgruppen
Die Pflege der Beziehung zu Kunden und interessierten Parteien setzt voraus, dass man sich vergegenwärtigt, welche Kundengruppen Vorrang genießen und welche Rolle sie für die Organisation spielen. Allgemein lassen sich folgende Zielgruppen benennen.
Relevante Zielgruppen
▬ extern – Medien (Presse, Rundfunk) – politische und öffentliche Institutionen und Personen – Banken und Investoren – potentielle Geschäftspartner
▬ intern – – – – – – –
Kunden, Lieferanten Verbände und Gewerkschaften Nachbarn potentielle Mitarbeiter Mitarbeiter und ihre Familien Führungskräfte Pensionäre
PR richten ihr Augenmerk aber nicht nur auf bereits existierende Zielgruppen. Sie öffnet sich aufgrund zukünftiger Entwicklungstendenzen auch weiteren Gruppen. Mit welchen Kundengruppen hat das Krankenhaus zu tun? ⊡ Abb. 17.3 zeigt, dass Krankenhäuser in eine Vielfalt von Beziehungen zu Kommunikationspartnern eingebunden sind. Für das Krankenhaus besteht die Aufgabe darin, die Erwartungen und Anforderungen der relevanten Kundengruppen festzustellen. Im Folgenden werden drei Kundengruppen herausgegriffen: die Mitarbeiter, die Hausärzte und die Patienten. Deren Anforderungen an die Dienstleistung des Krankenhauses werden erläutert. PR haben die Aufgabe, diese Anforderungen zu identifizieren und in entsprechende Kommunikationsmaßnahmen umzusetzen. Die Patienten stellen die wichtigsten Kunden dar. Die Zufriedenheit der Patienten mit dem Krankenhaus ist einer der entscheidenden Aspekte,
454
Kapitel 17 · Public Relations (PR)
GKV-Patienten Selbstzahler
Patienten
Kommune: Organe und Verwaltung
Selbsthilfegruppen
Mitarbeiter
Leitende (Management) Nichtleitende
Bevölkerung / Anrainer potenzielle Patienten
Einweisende Ärzte
Besucher
Landesbehörden
Ambulante OP-Zentren
Kundengruppen Krankenhaus
Krankenhausträger
Lieferanten
Krankenkassen
Sozialstationen / Private Pflegedienste Ehrenamtliche Örtliche Medien
Sponsoren / Spender / Freunde Netzwerkpartner
⊡ Abb. 17.3. Kundengruppen des Krankenhauses
17
über die sich Krankenhäuser profilieren und differenzieren können. Dass dieses Faktum noch nicht allgemein akzeptiert ist, verdeutlichen die Berichte von drei Enquete-Kommissionen des Bundestages: »Das bundesdeutsche Gesundheitswesen muss sich stärker als bisher am Patienten orientieren. Dafür müssen aber Strukturen verändert werden«, so der Tenor (Sitte 2002, S. 38). Ziel müsse es sein, die Patientenorientierung (die Kommissionsmitglieder sprechen vom »Patient als Partner«) bei der Leistungserbringung nachhaltiger zu verankern und somit seine Mitbestimmung und Selbstverantwortung zu stärken. Gleiches gilt für den Kunden »niedergelassener Arzt«, der Leistungen für seine Patienten nachfragt und dessen Meinung über das Krankenhaus maßgeblich über die Auslastungsquote entscheidet. Die Mitarbeiter als interne Kunden stellen ebenfalls eine relevante Zielgruppe dar. Sie verkörpern die Dienstleistungsqualität eines Unternehmens, und sie verfügen in der Regel über direkten Kundenkontakt.
> Für ein Krankenhaus bedeutet dies, seine PR-Maßnahmen konsequent von diesen Kunden her zu denken und sie in den Mittelpunkt aller PR-Bemühungen zu stellen (Falk 2002a; 2002b).
Die Mitarbeiter Die Mitarbeiterinnen stellen eine besondere Zielgruppe dar. Mitarbeiter verkörpern durch den direkten Kontakt mit den Kunden die Dienstleistungsqualität eines Hauses. Wenn wie erwähnt die informellen zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Einrichtung gestört sind, das Betriebsklima belastet ist, dann hat das Auswirkungen auf die Zufriedenheit der externen Kunden. Die sich in dem Krankenhaus bildenden Meinungen bleiben nicht dort, sie werden nach außen getragen. Andere orientieren sich an den Meinungen. So formt die negative interne Meinung sukzessive die öffentliche Meinung. Mitarbeiterzufriedenheit und Kundenzufriedenheit gehören daher eng zusammen. Zufriedene Mitarbeiter haben eine positive Ausstrahlung. Die
455 17.4 · Relevante Zielgruppen
positive Ausstrahlung wirkt sich angenehm auf die Atmosphäre eines Hauses aus. Dies wiederum unterstützt das Wohlbefinden der Patienten. Darüber hinaus identifiziert die Öffentlichkeit die Mitarbeiter mit der jeweiligen Einrichtung, so dass Mitarbeiter aktiv das Fremdbild des Unternehmens mit prägen. Die Mitarbeiter leisten aber nur dann ihren Beitrag zur Kundenzufriedenheit, wenn sie sich mit ihrem Unternehmen identifizieren. Mitarbeiterorientierung ist daher eine wesentliche Anforderung an die Unternehmensführung. Mitarbeiterorientierung zeigt sich u. a. in einer transparenten Arbeitsablauforganisation und in eben solchen Informationsstrukturen, in partizipativen und innovativen Freiräumen sowie in der Ermöglichung von Fortund Weiterbildung. Die Aufgabe von PR besteht darin, die Bedeutung des einzelnen Mitarbeiters für das Wohl und Gedeihen der Gesamtorganisation hervorzuheben, z. B. durch Ehrungen der Jubilare, die Prämierung innovativer Leistungen, durch Informationen über die Entwicklung des Unternehmens in wirtschaftlicher und personeller Hinsicht, z. B. über Neueinstellungen und Kündigungen usw.
17
Folgenden werden die Ergebnisse von Befragungen vorgestellt, welche die Picker-Institute in den USA und Europa erhoben haben (Ruprecht 2004). Zugang zur Versorgung. Patienten erwarten einen ungehinderten, niedrig schwelligen Zugang zur Versorgung. Beklagt wurden dagegen Mängel, wie Unübersichtlichkeit des Angebots, fehlende entscheidungsleitende Struktur- und Qualitätsinformationen oder »telefonische Triagen« je nach Versicherungsart beim Versuch, Termine zu bekommen sowie lange Wartezeiten. Rücksicht auf individuelle Präferenzen und Werte, Respekt und würdevolle Behandlung. Patienten
beschreiben eine Anonymisierung und einen Verlust an Identität im Krankenhaus oder in anderen medizinischen Einrichtungen. Sie äußern ein starkes Bedürfnis, gerade als Kranke mit Würde und Respekt behandelt zu werden. Sie machen sich Sorgen, wie ihr Kranksein und die Behandlung ihr weiteres Leben beeinflussen wird. Sie möchten darüber informiert und daher in die diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen einbezogen werden.
Der Patient Aus Sicht der Patienten ist das medizinische Angebot das Hauptkriterium. Patienten interessieren sich dafür, wie oft und mit welchem Resultat eine bestimmte Behandlung in einem Krankenhaus durchgeführt wurde. Sie erwarten, über ihre Krankheit genau aufgeklärt und informiert zu werden. Im Weiteren spielt die Atmosphäre im Krankenhaus eine wichtige Rolle. Patienten registrieren, ob sich das Personal gegenseitig grüßt oder wie der Umgangston bei einer Visite ist. Geringere Priorität genießt dagegen die Hotellerie (Braun 2001). Möglicherweise werden die Ansprüche an diesen Servicebereich steigen, wenn sich Patienten längere Zeit im Krankenhaus aufhalten. Aber bei extrem kurzen Liegezeiten dürfte dies seltener vorkommen.
Koordination. Patienten erfahren »hautnah«, ob die verschiedenen Versorgungsleistungen und -prozesse aufeinander abgestimmt sind und in einander greifen. Sie nehmen die Versorgungsstrukturen und das behandelnde Personal als kompetent und effizient wahr, wenn die einzelnen Maßnahmen und Prozesse gut koordiniert sind.
Erwartungen an den Dienstleister »Krankenhaus«
Leibliches Wohlbefinden. Patienten leiden unter körperlichen Missempfindungen und Behinderungen, die mit der Krankheit verbundenen sind. Eine Behandlung und Pflege, die darin Erleichterung
Welche konkreten Erwartungen Patienten an den Dienstleister »Krankenhaus« haben, konnte in einer Reihe von Interviews festgestellt werden. Im
Information, Kommunikation und Anleitung. Pati-
enten äußern häufig die Befürchtung, dass ihnen Informationen vorenthalten, dass sie nicht vollständig und ehrlich über ihre Krankheit und die Prognose aufgeklärt werden. Vor allem möchten sie über ihren momentanen klinischen Status, ihre Fortschritte und die weitere Prognose informiert werden, dazu über Möglichkeiten, soweit wie möglich ohne fremde Hilfe zurecht zu kommen.
456
Kapitel 17 · Public Relations (PR)
verschafft, ist aus Patientensicht einer der elementarsten und wichtigsten Dienste, die Mitarbeiter eines Krankenhauses leisten können. Patienten berichten auch über eine verstärkte Empfindlichkeit gegenüber Außenreizen wie Kälte und ängstigenden, bedrückenden Baulichkeiten und, analog dazu, eine besondere Dankbarkeit für saubere, bequeme und erbauliche Umgebung. Zuwendung und emotionale Unterstützung. Die
Krankheit löst beim Patienten Befürchtungen und Ängste aus. Patienten ängstigen sich vor allem im Hinblick auf ihre Krankheit selbst, auf deren Folgen und die langfristige Prognose, des Weiteren über die Auswirkungen auf ihr tägliches Leben, auf ihre Fähigkeit, ohne fremde Hilfe zurechtzukommen und weiterhin für ihre Angehörigen sorgen zu können. Auch Sorgen über die finanziellen Folgen spielen eine erhebliche Rolle. Einbeziehung von Familie und Freunden. Patien-
ten verlassen sich auf ihre Familie und enge Freunde, wenn es um emotionale und soziale Unterstützung geht, um die Vertretung ihrer Interessen oder um Hilfe bei Entscheidungen, ebenso um die weitere Betreuung und Pflege außerhalb des Gesundheitssystems. Sie sorgen sich um die Auswirkungen ihrer Krankheit auf das Verhältnis zu ihren Angehörigen und Freunden.
> Bei guter Beziehungsqualität akzeptieren Patienten ihre Therapie viel eher, haben weniger Schmerzen, weniger chirurgische Eingriffe, weniger Komplikationen, deutlich geringere Verweildauern, höhere Überlebensraten und sind schneller wieder arbeitsfähig.
Das Konzept »Shared Decision-Making« (SDM) ist eine Antwort auf die beschriebenen Mängel. SDM rückt den Patienten stärker in den Mittelpunkt des Versorgungsprozesses (Scheibler u. Pfaff 2003). Beide Partner – der Arzt und der Patient – tragen in gleich berechtigter Weise zu Behandlungsentscheidungen bei. Der Patient bringt seine individuelle Lebenssituation und seine Erwartungen an das Behandlungsergebnis ein, der Arzt sein medizinisches Fachwissen. Ziel des SDM-Prozesses ist eine Behandlungsentscheidung, die auf gegenseitigem Einverständnis und beidseitiger Bereitschaft zur aktiven Umsetzung beruht. Zahlreiche empirische Studien, vornehmlich aus den USA, Kanada, England und den Niederlanden, belegen, dass die aktive und verantwortliche Mitentscheidung von Patienten zu besseren subjektiven Ergebnissen der Patienten – z. B. Zufriedenheit, Lebensqualität – führt (Scheibler 2004). Die organisatorischen Rahmenbedingungen der veränderten Interaktion sind durch die Krankenhausleitung zu veranlassen, PR begleiten diesen Prozess öffentlichkeitswirksam.
Kontinuität der Behandlung. Patienten erleben oft
17
herbe Brüche, wenn sie zwischen den verschiedenen Versorgungssektoren wechseln müssen – z. B. von dem stationären zum ambulanten Bereich. Sie verstehen die institutionellen Barrieren nicht und empfinden es als schwierig, das System effektiv für sich zu nutzen. Die Ergebnisse der Picker-Institute belegen, dass Patienten, die die emotionale Unterstützung als nicht ausreichend erlebt haben, zehn Mal häufiger angeben, ein Krankenhaus ihrer Familie und ihren Freunden nicht uneingeschränkt weiterempfehlen zu wollen. Dieser Tatbestand wird durch Erhebungen der Volkswagen AG in Wolfsburg bestätigt. Eine Untersuchung von 1996 besagt, dass unzufriedene Kunden ihre Negativ-Erlebnisse im Schnitt an neun bis zehn andere Gesprächspartner weiter geben (Busch 1998).
Der Hausarzt Ökonomisch gesehen ist der einweisende Arzt der Hauptkunde eines Krankenhauses. Denn der Hausarzt nimmt entscheidenden Einfluss auf die Wahl eines Krankenhauses, insofern er den Patienten informiert, welches Krankenhaus er für eine bestimmte Behandlung präferiert. Bei der Wahl des Krankenhauses berücksichtigen etwa 70% der Patienten die Empfehlung des niedergelassenen Arztes (Braun 2001). Was erwarten niedergelassene Ärzte vom Krankenhaus? An erster Stelle stehen die medizinische Kompetenz und die persönliche Betreuung. Hausärzte beraten ihre Patienten. Von daher brauchen sie vom Krankenhaus Informationen, und zwar so zeitnah wie möglich. Dazu gehört auch der Austausch von Patientendokumenten zwischen
457 17.4 · Relevante Zielgruppen
Krankenhaus und Hausarzt. Diese Schnittstelle ist ein wichtiges Beurteilungskriterium für Hausärzte. Weniger bedeutend ist der Standort des Krankenhauses und die Entfernung zum Wohnort des Patienten. Auch die interne Organisation interessiert den niedergelassenen Arzt wenig, ihn interessiert ausschließlich der Behandlungserfolg.
17
gung getroffen. In einem Qualitätszirkel wird z. B. die Pharmakotherapie zwischen den Kooperationspartnern optimiert. Auf Basis einer qualifizierten Analyse ihrer Arzneimittelverordnungen überprüfen die Ärzte kontinuierlich ihr Verordnungsverhalten. Die Instrumente, die die Qualitätsgemeinschaft einsetzt, zeigt die folgende Übersicht.
Modellprojekt
Im Folgenden wird ein Modellprojekt vorgestellt, in dem ein Krankenhaus mit niedergelassenen Haus- und Fachärzten zum gegenseitigen Nutzen kooperieren (Falk 2000). Die »Medizinische Qualitätsgemeinschaft Modell Herdecke« ist ein Zusammenschluss der niedergelassenen Ärzte in Herdecke, NRW, mit dem Gemeinschaftskrankenhaus Witten/Herdecke und den Ersatzkassen. Sie ist ein Beispiel für gelungene Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen. Die »Medizinische Qualitätsgemeinschaft Modell Herdecke« ist eine Antwort auf die Trennung unseres Versorgungssystems in verschiedene Leistungsbereiche. Diese institutionelle Trennung bewirkt Nachteile für die an der Versorgung beteiligten Leistungserbringer, weil sie kostentreibend ist. Nachteilig wirkt sich das »versäulte« Versorgungssystem aber vor allem auf die Patienten aus. Der medizinische Nutzen der Qualitätsgemeinschaft liegt darin, dass das Krankenhaus durch Absprachen mit den kooperierenden Haus- und Fachärzten die prästationäre Diagnostik als Vorleistung beziehen und durch internistische Abklärung vor Aufnahme die Verweildauer verkürzen können. Durch Absprachen und gezielte Behandlungsangebote kann die postoperative Phase gestrafft und die pflegerische Nachsorge vom stationären in den ambulanten Bereich verlagert werden. Darüber hinaus können Therapiekonzepte auf Grund einer verbesserten Information individueller an die Bedürfnisse einzelner Patienten angepasst werden. Die Qualität wird darüber gesichert, dass die niedergelassenen Ärzte und das Krankenhaus evidenzbasierte Leitlinien erarbeiten und übernehmen und arbeitsteilig bestimmen, welcher Behandlungsprozess das Optimum ist. Für ausgewählte Indikationen (z. B. chronische Erkrankungen) werden Verfahrensabsprachen zu den einzelnen Leistungskomplexen und Vereinbarungen über die Leistungserbrin-
Qualitätsinstrumente
▬ Fallklassifikationssystem:
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Darstellung des Patientengutes nach dem Schweregrad; Finanzierung der Umstrukturierung aus dem Gewinnanteil der Fallpauschalen Großgerätenutzung: Gemeinsame Nutzung und damit bessere Auslastung von Großgeräten (z. B. Radiologie) Notfallversorgung durch das Netz: Rückführung vermeidbarer Krankenhausaufnahmen Patientenbuch: Verlaufssteuerung bei der Behandlung chronisch kranker Patienten Qualitätszirkel: Absprachen zwischen ambulanten Ärzten und Krankenhaus zu Behandlungsschemata und zur Arbeitsteilung im Behandlungsprozess; Fallkonferenzen und TherapiezielBeurteilung Fehlbelegungsprüfung (AEP): Beobachtung des Leistungstransfers vom Krankenhaus in den ambulanten Sektor Katalog prästationärer Diagnostik: Vermeidung von Doppeluntersuchungen im Netz, Senkung der Fallkosten im Krankenhaus Patientenbegleitbrief: Verbesserung der Überweisung zwischen niedergelassenen Ärzten; Verbesserung der Einweisung bzw. Entlassung ins /aus dem Krankenhaus Pharmakotherapieberatung: Einhaltung des Arzneimittelbudgets, Erstellung einer netzinternen Arzneimittelliste
458
Kapitel 17 · Public Relations (PR)
▬ Evidenzbasierte Leitlinien für ausgewählte Indikationsgruppen: Wirksame, kostenbewusste Behandlungsschemata als Basis von Kooperationsabsprachen
17
Für die beteiligten Akteure der Qualitätsgemeinschaft ergibt sich der Vorteil, die Effizienz der Behandlung zu erhöhen sowie zu einer besseren Auslastung vorhandener Kapazitäten zu kommen. Daraus folgt ein Zeitgewinn für die individuelle Patientenbehandlung. Die verbesserte Kommunikation zwischen den Ärzten vermeidet informationsbedingte Redundanzen, fördert die Arbeitsteilung und baut systembedingte Konkurrenz ab. Die Vorteile der Kooperationsgemeinschaft liegen für die Patienten auf der Hand: Durch die Verbesserung der Kooperation zwischen Krankenhaus sowie Haus- und Fachärzten werden unnötige belastende Doppeluntersuchungen vermieden. Die Patienten werden an den Ort der optimalen Leistungserbringung geführt. Die Anforderungen und Wünsche der Patienten, wie sie oben dargestellt worden sind, finden weit gehend Berücksichtigung. Das Gemeinschaftskrankenhaus Witten-Herdecke ist Initiator dieser Kooperationsgemeinschaft. Am Anfang des Projektes musste dem Misstrauen über mögliche »verdeckte« Motive durch vertrauensbildende Maßnahmen begegnet werden. Vertrauensbildende Maßnahmen werden durch die Geschäftsführung veranlasst. PR können diese Maßnahmen nicht initiieren, sie begleiten sie aber nach dem Motto: »Tue Gutes und rede darüber!« Die Einrichtung von Clinical Pathways im Zuge der Implementierung der DRGs kann als eine weitere Initiative betrachtet werden, die Versorgung der Patienten stärker von ihren Bedürfnissen her zu organisieren. Als »Pfade gegen das Chaos« (Halber u. Brenzel 2003) können diese Bemühungen zur Festlegung institutioneller Leitlinien typischer Behandlungsabläufe mit entsprechender Beschreibung der berufsgruppenübergreifenden und prozessbezogenen Leistungen und Ressourcen charakterisiert werden. In Patientenpfaden werden die patientenbezogenen Aktivitäten koordiniert.
Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte müssen sich gegenseitig informieren, abstimmen und Vereinbarungen über die durchzuführenden Maßnahmen und Therapien treffen. Diese Übereinkünfte werden in Form von Patientenpfaden standardisiert. Die Abläufe werden über Krankenhausgrenzen hinweg bereichsübergreifend, mit klaren Verantwortlichkeiten und definierten Ergebnissen verbindlich festgelegt, so dass die Leistungen von der vorstationären Abklärung über Patientenaufnahme, Diagnostik, Therapie, Entlassung und den Schnittstellen zur ambulanten Behandlung geregelt und mit Qualitätsanforderungen hinterlegt sind. Ziel ist es, die Abläufe in der Patientenversorgung zu optimieren, um so die medizinische und pflegerische Qualität zu sichern, die Patientenzufriedenheit zu erhöhen und eine verbesserte Transparenz von Leistungen und Kosten zu erreichen. > PR können diese Entwicklungen nicht initiieren, sie können nur das wirksam unterstützen, was bereits vorhanden ist. Indem sie aber diese Entwicklungen positiv hervorheben und darüber informieren, erhalten die beteiligten Organisationen einen Imagegewinn und damit letztlich einen Marktvorteil.
17.5
Image und Corporate Identity
Epiktet von Hierapolis stellte vor über 2000 Jahren fest, dass nicht Tatsachen unser Zusammenleben bestimmen, sondern die Meinungen über Tatsachen. Heute besitzt diese Erkenntnis mehr denn je Gültigkeit: In unserer immer komplexer werdenden Zeit können wir uns nicht über einzelne Sachverhalte informieren; wir übernehmen die Meinungen derjenigen Gruppen, die für uns sozial relevant sind (Knauthe 1998). Von daher ist es für ein Unternehmen von elementarer Bedeutung, welches Ansehen es in der Öffentlichkeit genießt und wie z. B. Patienten und Angehörige über das Krankenhaus reden. Hier setzen PR an. PR sind nicht zweckfrei. PR vertreten die Interessen des Unternehmens. PR sollen das Image gestalten und so das Erscheinungsbild des Unternehmens in der Öffentlichkeit beeinflussen. Darum ist Imagepflege so wichtig. Image dient als Ersatz
459 17.5 · Image und Corporate Identity
von Wissen und ermöglicht Orientierung. Image leitet, indem es Vielgestaltigkeit verringert und die Wahrnehmung und das Verhalten der Bezugsgruppen beeinflusst. Ein positives Image führt dazu, dass sich die Bezugspersonen dem Unternehmen gegenüber offen und zugewandt verhalten. Hinter dem Wunsch der Unternehmensleitung nach mehr oder bessere Öffentlichkeitsarbeit verbirgt sich oft die Erkenntnis, dass für das Unternehmen irgendetwas verbessert werden muss. Öffentlichkeitsarbeit verwandelt aber ein schlechtes Image nicht automatisch in ein gutes. > PR können nur das positiv herausheben, was bereits da ist. Daher sollte geprüft werden, ob nicht gleichzeitig ein Prozess der Neuorganisation und Neupositionierung notwendig ist.
Wenn ein Unternehmen anders handelt als es nach außen hin propagiert, wird es unglaubwürdig. Wenn das Selbstbild und Fremdbild eines Unternehmens auseinanderklaffen, also eine Diskrepanz besteht zwischen dem Bild, das das Unternehmen von sich selber hat und dem, was in der Öffentlichkeit transportiert wird, müssen PR und Organisationsentwicklung ineinander greifen und über unterschiedliche Maßnahmen versuchen, eine »Kongruenz« zwischen Worte und Taten herzustellen. Das Konzept der Corporate Identity ermöglicht dem Unternehmen, Selbstbild und Fremdbild in Übereinstimmung zu bringen. Stimmen Worte und Taten überein, wirkt das Unternehmen glaubwürdig. Was ist Corporate Identity (CI)? CI ist die durchgängige und einheitliche Erscheinung des Unternehmens in der Öffentlichkeit. Es ist quasi das Selbstbild eines Unternehmens, das in Worten und Taten zum Ausdruck kommt. CI ist schwer fassbar. Sie ist ein Mosaik, ein Puzzle, das sich in bestimmten Verhaltensweisen, Denkmustern und Wertmaßstäben zeigt und letztlich das Gesamtbild eines Unternehmens prägt. CI beeinflusst die Kommunikationsprozesse und organisatorischen Abläufe in einem Unternehmen. Sie prägt die Art und Weise der formellen und informellen Beziehungen und bewirkt damit, ob ein Unternehmen in den Augen des Betrachters ein positives Image hat oder nicht. Im Gegensatz dazu ist Fremdbild das Image, das sich eine interne und externe Öffentlichkeit vom Unternehmen macht.
17
CI hat zwei Wirkungsrichtungen, die sich ergänzen und überschneiden, sie wirkt nach außen und nach innen: ▬ CI nach innen (die Pflege der Human Relations) ist mitarbeiterorientiert. Ihr Ziel ist es, durch ein »Wir-Gefühl« eine weit gehende Übereinstimmung der Interessen der Mitarbeiter mit denen des Unternehmens zu schaffen. Die Mitarbeiter müssen den »Geist des Unternehmens« in sich tragen, so dass sie aus diesem Geist heraus handeln. Damit wirkt CI motivationsfördernd und leistungssteigernd. ▬ CI nach außen bezieht sich auf die Pflege der Corporate Relations zu den relevanten Kunden und Kooperationspartnern und bezweckt Vertrauensbildung. Die Öffentlichkeit reagiert mit Vertrauen, Akzeptanz und Zuneidung. Der Begriff »Corporate« drückt aus, dass jede Einzelaktivität in die Gesamtkommunikation des Unternehmens eingebettet ist. Das Unternehmen tritt nach innen und außen auf »wie aus einem Guss«. Diese gemeinsame Identität wird deutlich im Unternehmensverhalten, dem Corporate Behavior, in der visuellen Präsentation, im Corporate Design, und der Unternehmenskommunikation, Corporate Communications. Diese drei Bereiche transportieren das unverwechselbare Profil eines Unternehmens (⊡ Abb. 17.4). Die Bedeutung von Corporate Behavior, Corporate Design und Coporate Communication für das einheitliche Erscheinungsbild Corporate Behavior stellen die Leitlinien des Handelns gegenüber internen und externen Kunden dar wie der Mitarbeiter und Lieferanten, Abnehmer, Wettbewerber usw. Gemeinsame Identität formt sich, indem das Unternehmensverhalten bestimmten ethischen, sozialen und ökonomischen Werten und Normen folgt. Um die Identität eines Unternehmens in der Öffentlichkeit zu kommunizieren, müssen diese Werte und Normen in gemeinsamen Zielen und Grundsätzen bzw. dem Leitbild ausgedrückt werden. Diese bieten Orientierungspunkte für das Verhalten und die Geschäftstätigkeit des Unternehmens. CI zeigt sich zunächst im Modellverhalten der obersten Leitung. Ihre Integrität und Servicehaltung ist Vorbild für die übrigen Mitarbeiter.
460
Kapitel 17 · Public Relations (PR)
Corporate Design ist das sichtbare Pendant zum Verhalten als visuelle Gestaltung der materiellen Umgebung. Nach außen wirkt CI zunächst durch die Wiedererkennbarkeit über Firmenlogo, Firmen- und Produktdesign. Es ist die Gesamtheit der Erscheinungsmerkmale, mit denen sich ein Unternehmen in der Öffentlichkeit präsentiert. Corporate Communications ist Unternehmenskommunikation bzw. Public Relations/ Öffentlichkeitsarbeit. Corporate Communications vermitteln und prägen die Identität eines Unter-
Corporate Behavior
Identitätsvermittlung
Corporate Corporate CommuniDesign cations
17.6
Identitätsvermittlung
Corporate Identity
Wir-Gefühl
Corporate Image
nehmens. Besteht zwischen dem Soll- und dem Ist-Image eine Diskrepanz, hat Corporate Communications die Aufgabe, ein strategisches Konzept zur Veränderung vom Ist zum Soll zu erarbeiten. Es transformiert das Ist-Image in ein Soll-Image. Einflussfaktoren, die ein positives Image bewirken, sind in der ⊡ Abb. 17.5 beschrieben. Das Soll-Image hat Anteil an der Realität; es hat aber auch zugleich einen visionären Charakter. Das Soll-Image weist in die Zukunft und gibt dem institutionellen Handeln Richtung. Es ermöglicht Identifikation und schafft Vertrauen.
Identifikation
Wirkungen: intern: extern: 4 Glaubwürdigkeit 4 Koordination 4 Vertrauen 4 Motivation 4 Akzeptanz 4 Leistung 4 Zuneigung 4 Synergie
Strategiekonzept zur PR-Arbeit
PR transportieren das Bild, das Soll-Image, des Unternehmens in die Öffentlichkeit, welches den Verhaltensgrundsätzen der Institution entspricht. PR sollen strategisch geplant sein und konzeptionell eingebunden sein, damit sie wirksam und effizient sind, d. h. dass geeignete Kommunikationsmaßnahmen das avisierte Ziel erreichen und der Einsatz der Ressourcen dem Ergebnis bzw. Erfolg angemessen ist. > Kommunikationsmaßnahmen dürfen sich nicht widersprechen und inhaltlich unterschiedliche Botschaften vermitteln. Wenn Kommunikationsmaßnahmen unkoordiniert eingesetzt werden, verpuffen sie und bleiben wirkungslos.
⊡ Abb. 17.4. Corporate Identity (CI)
Glaubwürdigkeit
17
en hr
4 Kompetent 4 Offen 4 Zuverlässig/ehrlich 4 Innovativ
zu
fü
beides schafft Vertrauen ins
fü
hr en
⊡ Abb. 17.5. Einflussfaktoren des Images
zu
Sympathie
Image
461 17.6 · Strategiekonzept zur PR-Arbeit
17.6.1 Das Fünf-Phasen-Modell
17
17.6.2 Phase 1: Ist-Erhebung
als Handlungsgrundlage zur Erarbeitung eines Strategiekonzeptes Um Arbeit auf eine konzeptionelle Grundlage zu stellen ist es hilfreich, sich als Planungsgrundlage das Regelkreismodell zu vergegenwärtigen. Strategisch geplante PR-Arbeit unterliegt diesem zielorientierten Problemlösemodell (⊡ Abb. 17.6). Die Erarbeitung eines Strategiekonzeptes ist vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsbezogen. Sie beginnt mit einer Bestandsaufnahme, analysiert und gewichtet diese Daten und entwickelt auf dieser Grundlage – unter Berücksichtigung zukünftiger Marktentwicklungstendenzen – ein Konzept, welches den Bezugsrahmen für die zu planenden Kommunikationsmaßnahmen abgibt. Auf der Basis des Konzeptes werden erkannte Defizite in der öffentlichen Wahrnehmung abgebaut und bereits vorhandene Stärken und gute Positionen strategisch genutzt. Das IstImage wird in ein Soll-Image transformiert. Das Soll-Image hat Anteil an der Realität; es hat aber auch zugleich einen visionären Charakter. Es weist in die Zukunft. Die fünf Phasen werden im Einzelnen erläutert (⊡ Abb. 17.7).
Bei der Bestandsaufnahme geht es darum, Informationen zu den Kunden- und Mitarbeitererwartungen, zur Kommunikationsstruktur, zur Wettbewerbssituation und zur geleisteten PR-Arbeit zu erheben, und zwar im Einzelnen. ▬ Zur Stellung des Unternehmens auf dem Markt im Vergleich zu anderen Anbietern, Benchmarking genannt: Welche Gesundheitseinrichtungen sind in der Region mit welchen Angeboten und Leistungen vertreten? Wo liegen nach Einschätzung der Befragten deren Stärken und deren Schwächen? ▬ Zur geleisteten PR-Arbeit: Durch welche Kommunikationsmaßnahmen und -instrumente ist das Unternehmen bisher in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten? Existiert ein einheitliches visuelles Erscheinungsbild? Wo und mit welchen Themen ist das Unternehmen in der Öffentlichkeit präsent? Welche Zielgruppen wurden mit den PR-Maßnahmen erreicht? Wurden in den einzelnen Kommunikationsmaßnahmen das Leistungsprofil und die Corporate Identity transparent? Welche finanziellen und personellen Mittel wurden bereitgestellt?
Ist-Erhebung
Controlling StärkenSchwächenAnalyse
Implementierung/ Durchführung Soll-Formulierung ⊡ Abb. 17.6. Das Fünf-Phasen-Modell zur Public Relations
462
Kapitel 17 · Public Relations (PR)
Bestandsaufnahme: Konkurrenzsituation interne und externe Kommunikation Kommunikationsinstrumente
Controlling: Effektivität und Effizienz
Erarbeiten eines StärkenSchwächen-Profils auf der Grundlage der Erhebungsdaten
Realisation: Organisatorische und personelle Maßnahmen Budget Entwicklung eines Strategiekonzeptes: Festlegung der USP Bestimmen der Ziele und Zielgruppen sowie der Kommunikationsinstrumente Aufstellen eines Kommunikationsplanes
⊡ Abb. 17.7. Planungsprozess zur Erarbeitung eines Strategiekonzeptes zur PR-Arbeit
17
▬ Zur Zufriedenheit der Kunden: Die Stärken und die Schwächen eines Unternehmens sind sowohl aus der Sicht der externen wie der internen Kunden zu untersuchen: Welche Anforderungen haben die Patienten, welche die Angehörigen, welche die niedergelassenen Ärzte usw. in Bezug auf das Leistungsangebot? Was sollte verbessert werden? Welche Vorstellungen verbinden die Mitarbeiter mit ihrer Arbeit? Welches Image hat die Einrichtung nach Meinung der Mitarbeiter intern? Welche Vorstellungen haben sie vom Image der Einrichtung in der Öffentlichkeit? Welche Schwerpunkte bzw. welche Veränderungen sehen sie in ihrer Tätigkeit in der Zukunft? Was sollte ausgebaut, weiterentwickelt, was verändert werden und wodurch? Welche Vorstellungen haben sie von der Qualität des Angebotes anderer Unternehmen; wo sehen sie deren Stärken, wo deren Schwächen?
Die Vorstellungen der Mitarbeiter spielen eine große Rolle, denn sie wissen am besten, wo Schwachstellen sind und wissen auch, wie sie am besten zu beseitigen sind. Wenn das Wissen von Mitarbeitern eingefordert wird, sind sie darüber hinaus motiviert, den CI-Gedanken mitzutragen. ▬ zu den Kommunikationsstrukturen: Unterstützen die Kommunikationsstrukturen die Durchsetzung des Service-Auftrags? Klafft zwischen dem Informationsangebot seitens des Unternehmens und dem Informationsbedarf der Mitarbeiter eine Lücke, wird diese meist mit Klatsch und Tratsch gefüllt. Um Missverständnisse, »Geheimniskrämerei« und Manipulationsspielräume zu begrenzen, braucht es daher einer transparenten Informationspolitik – ein originäres Aufgabenfeld von PR. Transparente Kommunikation bezieht sich darüber hinaus auf Orientierungshilfen für Besu-
463 17.6 · Strategiekonzept zur PR-Arbeit
cher und Patienten. Sind z. B. Wegbeschreibungen und Hinweistafeln so verständlich, dass sich Patienten und Besucher in der Umgebung und im Gebäude zurecht finden? Auch ein freundlich gestalteter Empfangsbereich ist von Bedeutung. Am Informationszentrum erhält das Publikum Informationen, ohne lange warten zu müssen. Der Telefondienst ist freundlich und hilfsbereit. Dass einige Krankenhäuser dazu übergegangen sind, ihre Mitarbeiter von Lufthansa-Personal schulen zu lassen, ist eine Antwort auf die von Patienten bemängelten kommunikativen Warteschleifen und Informationslücken und verweist auf die Bedeutung, die dem Service am Kunden im Hinblick auf Information und Kommunikation eingeräumt wird.
17.6.3 Phase 2: Stärken-Schwächen-Profil
Aus dem Vergleich mit Selbstbild und Fremdbild ergibt sich ein bestimmtes Stärken-SchwächenProfil. Auf dessen Grundlage kann das Unternehmen entscheiden, welche Stärken oder Kernkompetenzen ausgebaut werden und welche Schwachstellen beseitigt werden sollen. Über die Befragung der Mitarbeiter können darüber hinaus weitere Impulse und Anregungen gewonnen werden, welche Leistungsangebote zusätzlich entwickelt werden könnten. Die Analyse der Stärken und Schwächen eines Unternehmens berücksichtigt darüber hinaus zukünftige Marktentwicklungen. Bei aufmerksamer Beobachtung des Marktes können Trends und Marktlücken aufgespürt werden. Sie geben Hinweise auf die zukünftige Weiterentwicklung des Unternehmens. So haben Krankenhäuser im Zuge des »ambulanten Operierens« ambulante Dienste in ihr Leistungsspektrum aufgenommen, haben Modelle von Überleitungspflegen entwickelt oder Kurzzeitpflege-Einrichtungen aufgebaut. Aus dem Stärken-Schwächen-Profil, dem Vergleich zu anderen Anbietern und der Marktentwicklung ergibt sich das Alleinstellungsmerkmal eines Unternehmens, sein Profil, welches es von anderen Anbietern abhebt und unterscheidet. Das Alleinstellungsmerkmal kann eine hervorragende geriatrische Rehabilitation sein, für eine stationäre Altenpflege-
17
Einrichtung eine fachlich und menschlich kompetent durchgeführten Sterbebegleitung. Sie kann ein umfassendes Informations- und Kulturangebot sein. Weiteres Alleinstellungsmerkmal, das eine Gesundheitseinrichtung im Vergleich zur Konkurrenz heraushebt, können mitarbeiterbezogene Angebote wie Kinderkrippen oder -gärten sein, flexible Arbeitszeiten, Modelle eines »Sabbat-Jahres«, Jobcharing usw. sowie Karriereberatung und -planung im Rahmen einer systematischen Personalpolitik.
17.6.4 Phase 3: Soll-Formulierung
Die Ergebnisse der Bestandsaufnahme auf dem Hintergrund zukünftiger Entwicklungstendenzen bilden die Grundlage der PR-Strategie. Das Alleinstellungsmerkmal – Unique Selling Proposition (USP) – bildet das Zentrum der Kommunikationsstrategie eines Unternehmens. Denn die Öffentlichkeit soll das Besondere, nicht Vergleichbare des Unternehmens wahrnehmen (Thill 1996). PR kommunizieren das Alleinstellungsmerkmal. Das Alleinstellungsmerkmal aus der Sicht des Unternehmens zu kommunizieren, reicht aber nicht aus. PR-Manager müssen sich fragen, welchen Nutzen die jeweiligen Zielgruppen vom Leistungsangebot haben. Er muss einen Perspektivwechsel vornehmen und klären, welche Erwartungen die Zielgruppen haben, welche Interessen sie verfolgen und aus welchen Motiven heraus sie ihr Handeln leiten, welchen Nutzen die Kunden davon haben, wenn sie sich dem Anliegen des Unternehmens wohlwollend zuwenden. Um die Bedeutung einer zielgruppengerechten Kommunikation zu verdeutlichen, sollen zunächst die Grundlagen von Kommunikation dargestellt werden. Kommunikation bedeutet Senden und Empfangen von Informationen mit dem Ziel, das positive Image zu präsentieren. Dazu ist es notwendig, die Sprache und Erlebniswelt des Empfängers zu beachten. Entscheidend für die Motivation des Empfängers ist die Frage, ob die PR-Information nützlich und hilfreich für ihn ist. Das Kommunikationsmodell von Schulz von Thun (1987) soll das Anliegen nach zielgruppengerechter Kommunikation verdeutlichen. Kommunikation ist aufgebaut nach dem Regelkreismodell (⊡ Abb. 17.8).
464
Kapitel 17 · Public Relations (PR)
Der Sender codiert (verschlüsselt) mittels geeigneter Medien bzw. Kommunikationsinstrumente seine Nachricht. Die Botschaft ruft beim Empfänger eine bestimmte Wirkung hervor. Entsprechend decodiert (entschlüsselt) der Empfänger die Botschaft in seinem Verständnishorizont. Sein Feedback gibt dem Sender Rückmeldung darüber, ob seine Nachricht im beabsichtigten Sinne angekommen ist. In der PR-Kommunikation ist die gesendete Nachricht von nachrangiger Bedeutung. Von Interesse ist, wie die Botschaft empfangen wird. Erweitert man dieses Kommunikationsmodell um die Aspekte Selbstoffenbarung, Inhalt, Beziehung und Appell, dann werden weitere Dimensionen einer PR-Botschaft deutlich (⊡ Abb. 17.9). ▬ Auf der Inhaltsebene: PR-Sprache ist die Sprache der Information. Welche Inhalte sollen vermittelt werden? Die Sachinformation sollte klar und verständlich formuliert sein. Die Sachaussage bezieht sich entweder auf die zu erbringende Dienstleistung oder auf das zu verkaufende Produkt.
Sender
codiert
Nachricht decodiert Wirkung
Medien Feedback
⊡ Abb. 17.8. Sender-Empfänger-Modell
Empfänger
▬ Auf der Beziehungsebene: In PR-Maßnahmen wird eine positive Beziehung zu den Kunden aufgebaut. Wie gestalten wir unsere Beziehung zu den Kunden? PR ist Werbung um öffentliches Vertrauen, Vertrauen schaffen durch eine offene, ehrliche und glaubhafte Information. Das Interesse am Kunden muss deutlich werden. »Beziehungspflege« zum Kunden bedeutet nicht nur den Status quo zu halten, sondern diese Beziehungen ständig zu verbessern. ▬ Der Appellaspekt: Informationen allein genügen nicht. Hinter jeder PR-Arbeit steckt ein Eigeninteresse. Was wollen wir mit unseren PR-Maßnahmen erreichen? Jede PR Maßnahme will ihre Zielgruppe beeinflussen. D. h. dass die jeweiligen Informationen für die Zielgruppe aufbereitet werden. Der Appell muss also verbunden werden mit der Frage: Welches sind die Motive der Zielgruppe entsprechend der übermittelten PR-Botschaft zu handeln? Eigeninteresse und Motive der Zielgruppe müssen in Übereinstimmung gebracht werden. ▬ Der Selbstoffenbarungsaspekt: Die Selbstoffenbarung bezieht sich auf das SollImage, welches auf den Grundsätzen der CI fußt. Welche positiven Aspekte unseres Unternehmens wollen wir vermitteln, welches ist unser Alleinstellungsmerkmal, wodurch wir uns positiv von unserer Konkurrenz abheben?
Feedback/Rückmeldung
Inhalt: klare PR-Information
17 Sender
Botschaft Soll-Image
Beziehung: Vertrauen schaffen ⊡ Abb. 17.9. Erweitertes Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun
Appell: Motive der Zielgruppe und Eigeninteresse in Übereinstimmung bringen
Empfänger ist bereit, Verhalten und Meinung im Sinne der PRBotschaft zu verändern
465 17.6 · Strategiekonzept zur PR-Arbeit
17.6.5 Kommunikationsinstrumente
Im Weiteren werden die geeigneten Kommunikationsinstrumente festgelegt. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Kommunikationsinstrumenten zur internen Kommunikation und Instrumenten, mit denen man die externen Kunden erreicht.
Kommunikationsinstrumente
▬ Interne Kommunikation – – – – – – – – – – –
Haus- und Mitarbeiterzeitschriften, Jubiläen, Betriebsfeste, Schwarzes Brett, Rundschreiben PC/Intranet, Betriebsversammlung Telefon/Fax informelle Kommunikation Schulung, Personalplanung und -entwicklung usw. ▬ Externe Kommunikation – Pressemappen, -artikel – Pressekonferenzen, – Plakate, – Anzeigen, – Prospekte/Flugblätter, – Einladungskarten, – Visitenkarten, – Präsentationsmappen – Firmenbroschüren, – Informationsveranstaltungen, – Betriebsführungen – Events, – Fernseh- und Hörfunksendungen, – Internet, – Multimedia-Produkte, – Geschäftsberichte, – Messen, Kongresse usw.
Welche Maßnahmen und Medien wählt der PRManager aus? Das hängt vom Zielpublikum, dem Anlass und den situativen Erfordernissen des Unternehmens ab. Grundsätzlich sind folgende
17
Anforderungen an PR-Maßnahmen zu stellen
(Radel 1996). ▬ Treffsicherheit der Medien und Maßnahmen: Es müssen die geeigneten Medien und Maßnahmen für die geeignete Zielgruppe ausgewählt werden. ▬ Kongruenz der Medien und Maßnahmen: Die Aktivitäten müssen aufeinander und über die verschiedenen Medien genau abgestimmt sein. Sie dürfen sich also nicht in ihren Einzelaussagen widersprechen. ▬ Kontinuität der Maßnahmen: Das Unternehmen bleibt kontinuierlich mit seinen Zielgruppen in Kontakt. Punktuelle Maßnahmen geraten wieder in Vergessenheit. Wichtig ist darauf zu achten, dass in allen Maßnahmen die CI transparent wird. Am besten beschränkt man sich auf wenige, immer wiederkehrende Botschaften. »Auftreten wie aus einem Guss!« so das CI-Anliegen.
17.6.6 Jahresplanung
Die PR-Strategie dient zur Auswahl und Koordinierung der Kommunikationsmaßnahmen und -mittel sowie deren Inhalte. Sie bildet gleichzeitig den Orientierungsrahmen für alle am Kommunikationsprozess beteiligten Mitarbeiter. Ein konkreter Jahresplan wird aufgestellt. Welche Veranstaltungen, Themen liegen an? Veröffentlichungswürdige Ereignisse sind z. B. ▬ Unternehmensergebnisse ▬ große Aufträge, Innovationen ▬ Jubiläen, Ehrungen ▬ Messen, Ausstellungen ▬ Präsentationen, öffentliche Reden ▬ Spenden ▬ Tag der offenen Tür. Aber auch Entlassungen, Schließung von Abteilungen oder Betrieben sollten veröffentlicht werden. Glaubwürdigkeit und Offenheit setzen voraus, auch negative Fakten einzugestehen. Die folgenden Fragen helfen, konkrete Kommunikationsmaßnahmen zu planen.
466
Kapitel 17 · Public Relations (PR)
17.6.7 Phase 4: Implementierung/
Durchführung
Leitfragen
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Was wollen wir (Botschaft) Wem (Zielgruppe) Warum (Anlass) Auf welchem Wege (Instrumente) Wie (Methode) Mit welchen Zielen (Wirkung) mitteilen?
Ein Beispiel (Pfannendörfer 1995, S. 65) veranschaulicht das Vorgehen in Bezug auf zwei unterschiedliche Kommunikationsmaßnahmen. Beispiel Eine sozialpsychiatrische Initiative will eine Tagesstätte mit Werkstatt einrichten, die für ehemalige Patienten eines Psychiatrischen Krankenhauses Verdienst- und Beschäftigungsmöglichkeiten bietet. Räume und Mitarbeiter sind bereits vorhanden; es fehlt jedoch ein städtischer Zuschuss, um die Werkstatt einrichten zu können. Die Planung unterschiedlicher Kommunikationsmaßnahmen zeigt ⊡ Tabelle 17.2.
Für die einzelnen Aktivitäten wird ein detaillierter Arbeitsplan erstellt, der gut sichtbar aufgehängt wird, so dass jederzeit transparent ist, was wer zu tun hat. In einer abschließenden Querspalte kann deutlich gekennzeichnet werden, was bereits erledigt ist. Nach dieser Vorgehensweise wird nicht nur eine Planung für die Zukunft möglich, sondern auch deutlich, was bereits alles geleistet wurde. Für die im obigen Beispiel genannten zwei Aktivitäten könnte dieser Arbeitsplan wie in ⊡ Tabelle 17.3 folgendermaßen aussehen. Mit dem systematischen Vorgehen werden bessere Ergebnisse, eine bessere Kontrolle und eine größere Zufriedenheit der Mitarbeiter erzielt, weil die Zuständigkeiten der am Prozess beteiligten Personen klar geregelt sind.
17.6.8 Phase 5: Controlling
Der Erfolg der Kommunikationsmaßnahmen muss kontrolliert werden. Controlling bezieht sich auf den gesamten Prozess der PR-Arbeit, auf die Zielsetzung, die Planung, die Kontrolle von Zwischenergebnissen und die Korrekturen bei Abweichungen. Die Erfolgskontrollen werden vorher geplant,
⊡ Tabelle 17.2. Planung unterschiedlicher Kommunikationsmaßnahmen Leitfragen
1. Kommunikationsmaßnahme
2. Kommunikationsmaßnahme
Was wollen wir (Botschaft)
Verdienst- und Beschäftigungsmöglichkeiten für ehemalige Patienten des Psychiatrischen Krankenhauses
Verdienst- und Beschäftigungsmöglichkeiten für ehemalige Patienten des Psychiatrischen Krankenhauses
Wem (Zielgruppe)
Gemeinderatsmitgliedern
Lokaljournalisten
Warum (Anlass)
Einsicht in die Notwendigkeit einer Werkstatt schaffen
Verbreitung unserer Ansichten fördern
Auf welchem Wege (Medium)
Persönliche Kontakte
Pressearbeit
Wie (Methode)
Besichtigung der leeren Werkstatt und Gespräch mit Besuchern der Tagesstätte
Pressekonferenz in der leeren Werkstatt
Mit welchen Zielen mitteilen? (Wirkung)
Zuschuss der Stadt bewilligt erhalten
Öffentliche Meinung für unser Anliegen einnehmen
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467 17.7 · Pressearbeit
17
⊡ Tabelle 17.3. Handlungsplan. (Pfannendörfer 1995, S. 66) Handlungsplan
1. Kommunikationsmaßnahme
2. Kommunikationsmaßnahme
Was
Vorbereitungsgespräch mit den Besuchern der Tagesstätte
Einladungsschreiben und Pressemappe zusammenstellen
macht wer
Sozialarbeiter
Geschäftsführer
mit wem
Geschäftsführer
Vereinsvorstand
bis wann
drei Tage vor der Besichtigung
drei Wochen vor der Pressekonferenz
zu welchen Kosten
keine
Kopier- und Portokosten
die gedeckt sind durch
entfällt
Haushaltsmittel
erledigt am:
...
...
so z. B. die Checklisten oder Befragungsbögen, die eingesetzt werden. Ebenso sind der Zeitpunkt und die Zielgruppen, die befragt werden sollen, im Vorfeld bekannt zu geben. Dadurch wird der Charakter von Willküraktionen vermieden. Die Akzeptanz zur Überprüfung des Erfolgs steigt. Ein Zeitrahmen wird absteckt und Kriterien für den Erfolg werden definiert. Prüfkriterien sind z. B. hausinterne Statistiken, die über die quantitative Entwicklung der Einrichtung Auskunft geben. Die qualitativen Daten ergeben sich aus Befragungen zur Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit. Die Kommunikationsmaßnahmen werden im Hinblick auf Effizienz und Effektivität überprüft. Effizienz meint in diesem Zusammenhang die Frage, ob mit wirtschaftlich knappem Einsatz der bestmögliche Erfolg erzielt wurde. Effektivität überprüft die Angemessenheit der eingesetzten Instrumente zum avisierten Ziel. Falls Abweichungen von den geplanten Zielen festzustellen sind, muss überprüft werden, welche Ursachen dafür verantwortlich sind und welche Korrekturmaßnahmen sich daraus ergeben.
17.7
»
Pressearbeit
Sprich mit langen, langen Sätzen – solchen, bei denen Du, der Du Dich zu Hause die Ruhe, deren Du so sehr benötigst, Deiner Kinder ungeachtet, hast, vorbereitest, genau weißt, wie das Ende ist, die Nebensätze schön ineinander geschachtelt, so daß der Hörer ungeduldig auf
seinem Sitz hin und her träumend, sich in einem Kolleg wähnend, in dem er früher so gern geschlummert hat, auf das Ende solcher Periode wartet ... nun, ich habe Dir eben Beispiel gegeben; so mußt Du sprechen. (Tucholski 1975) Dieser Rat-«Schlag« von Kurt Tucholski ist auch heute noch aktuell, und gilt nicht nur für Redner, sondern auch für Autoren. »Wer einen Satz über 19 Zeilen mit Wörtern wie Strukturcrash, Infrastruktur, Rationalisierung und Potentialen voll stopft, hat schon ganz verloren«, so Niels C. Nagel (1991, S. 9). »Wer ein einfaches Wort anstelle eines geschwollenen nimmt, hat ... halb gewonnen: ,sagte’ statt ,betonte’ zum Beispiel.« Und weiter: »Niemand interessiert, dass jemand eine Versammlung eröffnet oder dem Vorredner dankt. Auch Geschäftsordnung und Satzung ziehen selten einen Leser an. Und dass ein Bevollmächtigter sich darüber freut, dass ein Bezirksleiter zitiert, was ein Vorsitzender gesagt hat, eignet sich auch nicht zur Presseerklärung.« Welche Anforderungen an PR-Texte zu stellen ist, formuliert Georg Hensel (zit. nach Pfannendörfer 1995, S. 87): »Ich liebe Sätze, die aus Subjekt, Prädikat und Objekten bestehen, und zwar in dieser Reihenfolge, sie zwingen zur Klarheit.« Autoren müssen sich vergegenwärtigen, warum sie Nachrichten oder Artikel verfassen: Sie wollen Menschen erreichen und ihr Verhalten im Sinne der eigenen Interessen beeinflussen. Dazu muss man die Zielgruppe, die erreicht werden soll, genau ken-
468
Kapitel 17 · Public Relations (PR)
nen. Wenn man sie im Auge behält, entgeht man der Gefahr, für ein Expertenpublikum bzw. für sich selbst zu schreiben. Dabei gilt es den Grundsatz zu beachten, nicht die gesendete, sondern die empfangene Botschaft ist wichtig. Ein Perspektivwechsel hilft, aus der Sicht der Zielgruppe zu schreiben. Fragen Sie sich: Für wen könnte die Nachricht relevant sein, was können die Leser damit anfangen? Dieses Wissen ist von herausragender Bedeutung, denn davon hängt die Sprache und Wortwahl in PR-Texten ab.
17.7.1 Nachrichten verfassen
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PR sind weit gehend Pressearbeit. Sie ist eine der Hauptaufgaben von PR-Beauftragten. Traditionelle Pressearbeit beinhaltet, Nachrichten und Artikel zu verfassen. Deshalb ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, was eine Nachricht ist und wie sie aufgebaut ist. Nachrichten sind Neuigkeiten, d. h. sie befassen sich mit aktuellen Tatsachen oder Ereignissen. Nachrichten sind interessant, vielleicht sogar relevant, d. h. sie betreffen eine größere Zahl von Menschen. Kürzere Nachrichten sind Meldungen. Längere Nachrichten sind Berichte. Nachrichten haben einen bestimmten formalen Aufbau: ▬ Über der Presseinformation steht ein einzeiliges Motto – das ist die Headline. Dieses Motto fasst den Inhalt der Pressemitteilung plakativ zusammen. Mit der Headline ist bereits das Gerüst der Pressemitteilung umrissen. Eine Headline soll ins Auge springen und zum Weiterlesen animieren. ▬ Das Wesentliche einer Mitteilung steht am Anfang. Bereits im ersten Absatz – Lead genannt – werden alle wesentlichen Informationen und Fakten zusammengefasst. Das Lead enthält die Quintessenz, dessen was ausgesagt werden soll. Dieser erste Absatz sollte alle relevanten »6 Ws« beantworten: Was? Wer? Wo? Wann? Wie? Warum? – Was ist passiert/wurde unternommen? – Wer hat das veranlasst/verursacht oder war/ ist daran beteiligt bzw. davon betroffen? – Wo hat das Ereignis stattgefunden/wird es stattfinden? – Wann war/ist das?
– Wie ist das Ereignis abgelaufen? – Warum wird etwas unternommen/ist etwas passiert? Der erste Absatz könnte demnach als abgeschlossene Nachricht laufen. Die anschließenden Absätze nehmen in ihrer Bedeutung nacheinander ab. Das Unwichtigste steht zuletzt. Der Vorteil des hierarchischen Aufbaus einer Nachricht besteht darin, dass die jeweilige Redaktion, der die Nachricht zur Veröffentlichung zugesandt wurde, sie schneller bearbeiten und, wenn Platzmangel herrscht, sie von hinten (also vom Unwichtigen her) kürzen kann. Pressemitteilungen müssen so veröffentlichungsreif wie möglich geschrieben werden. Je weniger geändert oder nachgefragt werden muss, desto größer ist die Abdruckchance. Unklare, nicht mediengerechte Formulierungen, stilistisch überfrachtet mit Fett- und/oder Kursivschrift, haben wenig Chancen gedruckt zu werden. Meldungen sollten also so knapp gehalten werden, wie es die Sache erlaubt. Die Sieben-SchritteFormel kann als eine Art Richtschnur gelten:
Sieben-Schritte-Formel 1. Thema und Anlass der Meldung; 2. Name der Firma/Organisation; 3. Ort des Geschehens, der für die angekündigte Organisation oder neue Dienstleitung relevant ist; 4. Spezielle Vorzüge und Vorteile für den Leser und potentielle Kunden; 5. Herausstellen der Zielgruppe oder Teile der Öffentlichkeit für die die Information besonders wichtig ist; 6. Einzelheiten über die Ankündigung (Preis, Termine usw.); 7. Anschrift und Telefonnummer, unter denen weitere Informationen, z. B. Prospekte, zu erhalten sind.
Nachrichten, Meldungen und Berichte sind tatsachenbetonte journalistische Darstellungsformen. Zu den meinungsbetonten Formen gehören u. a. (Leit-)Artikel, Kommentare und Rezensionen.
469 17.7 · Pressearbeit
Artikel sind in der Regel länger als Nachrichten. Sie werden durch Zwischenüberschriften gegliedert. Der Leser kann dann leichter die komplexen Informationen aufnehmen und durcharbeiten. Auch im Zusammenhang mit Artikeln gilt es zu berücksichtigen, dass Menschen über eine begrenzte Aufnahmekapazität verfügen. Deshalb ist die Botschaft, die vermittelt werden soll, im Auge zu behalten. Weitschweifige Texte verwirren die Leser. Angesichts der täglichen Informationsflut legt man »ausufernde« Texte schnell beiseite. Damit Leser die neue PR-Botschaft annehmen, sollte an Bekanntes angeknüpft werden. Wird der Leser da abgeholt, wo er steht, können ihm leichter neue Wege und Perspektiven eröffnet werden. PR-Arbeit ist zwar Auftragsarbeit. Dennoch ist auf eine ausgewogene Recherche zu achten. Alle verfügbaren Aspekte eines Tatbestandes werden aufgeführt. Das Zielpublikum wird durch Informationen und Argumente überzeugt, so dass es sich selbst ein Urteil bilden kann. Insofern wahren PR-Beauftragte »Distanz«. Sie texten so, wie ein unabhängiger Journalist über ihr Unternehmen berichten würde. Das bedeutet auch, auf übertriebenes Eigenlob oder Superlative zugunsten einer eher indirekten Argumentation zu verzichten. In ⊡ Abb. 17.10 sind einige grundlegende Argumentationsmuster aufgeführt. Sie können helfen, die Gedanken in eine Struktur zu bringen. »Practice makes perfect« – Übung macht den Meister! Pressearbeit sollten Kommunikationsprofis übernehmen. Professionalität setzt Übung voraus. Wer ab und zu »die Feder in die Hand nimmt« kann vielleicht nicht so überzeugend schreiben, wie es der Sache bzw. der Botschaft gut täte.
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▬ sie stellen für den Veranstalter hervorragende Gelegenheiten dar, Journalisten und deren spezifische Interessen kennen zu lernen; ▬ das eigene Unternehmen wird »personalisiert«. Die Nachteile sind ebenfalls einsichtig: ▬ Gesagtes ist gesagt und kann nicht mehr zurückgeholt werden; ▬ der organisatorische Aufwand ist relativ hoch; ▬ der Anlass muss herausragend sein. Das Vorgehen bei der Organisation von Pressekonferenzen wird im Folgenden beschrieben (Pfannendörfer 1995, S. 91). Anlass. Der Anlass für die Pressekonferenz ist so genau wie möglich zu beschreiben. Nur wer sich selbst im Klaren ist, was er will, kann anderen Rede und Antwort stehen. Pressekonferenzen sollten nur dann einberufen werden, wenn auch ein wirklich wichtiger Anlass gegeben ist und die »Botschaft« nicht durch eine Presseinformation genauso gut oder besser vermittelt werden kann. Termin und Ort. Normalerweise eignet sich die erste Wochenhälfte gut für Pressekonferenzen, weil man nicht mit vielen anderen Terminen konkurrieren muss. Wer jedoch eine Pressekonferenz ab Mittwoch veranstaltet, hat möglicherweise Chancen, in die Wochenendausgabe zu kommen. Am besten fragt man bei den Lokalredaktionen nach dem günstigsten Termin. Als Uhrzeit für den Beginn von Pressekonferenzen bietet sich der späte Vormittag an, also etwa 10.30 oder 11.00 Uhr. Der Veranstaltungsort sollte mit dem Auto gut erreichbar sein, Parkplätze sollten ausreichend zur Verfügung stehen. Vorbereitung des Pressematerials. Auf der Presse-
17.7.2 Pressekonferenzen organisieren
Pressekonferenzen stellen ein wichtiges Mittel kontinuierlicher Öffentlichkeitsarbeit dar. Sie vermitteln Journalisten gezielte Informationen und Hintergrundkenntnisse aus erster Hand. Die Vorteile von Pressekonferenzen liegen auf der Hand: ▬ Fakten können diskutiert und eingeordnet werden;
konferenz sollte den anwesenden Journalisten eine klar gegliederte Pressemappe angeboten werden. Auf deren Vorbereitung und Zusammenstellung ist große Aufmerksamkeit zu legen. Journalisten stützen sich in ihren Artikeln neben ihren eigenen Aufzeichnungen auf das zusammengestellte Pressematerial. Die Pressemappe enthält eine Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen der Referenten. Darüber hinaus erwartet der Journalist eine Referentenliste, auf welcher der aus-
470
Kapitel 17 · Public Relations (PR)
Logische Kette ← ⇓ ↑ ⇓ → ⇓ ↓ ⇓
logisch
zeitlich
∂ Dies und jenes ist so und so …
∂ Ich kann mir folgenden Ablauf
• Das aber führt dazu …
• Zunächst …
÷ Und wenn es so ist, dass …
÷ Dann …
≠ Dann folgt daraus …
≠ Nach Abschluss …
vorstellen …
o
≡ Deshalb müssen wir … ≡ Damit ist schließlich … Zeitliche oder logische Folge soll so zwingend erscheinen, dass an der Aussage o kein Zweifel aufkommt.
Synthetisch angelegter Kompromiss ←
∂ A meint …
↑ → ⇓ ↓ ⇓
• B hält dagegen …
÷ Beide sind sich darin einig … ≠ Gerade dort sollte man ansetzen, denn …
o ≡ Daraus ergibt sich der Vorschlag … Darstellung eines Kompromissvorschlags o, der sich aus den Gemeinsamkeiten → der Positionen ← und ↑ ergibt.
Gegenposition durch Ablehnung ← ⇓ ↑⇒→ ⇓
∂ Wir reden dauernd über … • Dabei geht es um … ÷ Darauf kommt es aber gar nicht an … ≠ Vielmehr geht es um …
↓ ⇓
o ≡ Daher muss … Gegenpositionen ← ausklammern und eigene Position o begründen.
Vom Allgemeinen zum Besonderen ← ⇓
∂ Gewöhnlich sieht man die Sache so …
↑
• In dieser besonderen Situation aber …
→ ⇔↓
÷ erstens nämlich … ≠ Und zweitens …
o
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≡ Darum … Die Ausnahme von der Regel o ergibt sich aus der besonderen Situation ↑, die durch → und ↓ begründet ist.
Wertender Vergleich ← ⇓ ↑
→ ⇓ ↓
∂ A meint …
÷ hält dagegen …
• Dies wird begründet mit … ≠ Mit der Begründung …
o ≡ Beide Auffassungen überzeugen nicht, weil … ⇓ ± ∉ Daraus ergibt sich … Positionen ← und → werden wegen o abgelehnt; daraus ergibt sich ±.
⊡ Abb. 17.10. Grundlegende Argumentationsmuster. (Bredemeier 1996, S. 139–143)
471 17.8 · Zusammenfassung
geschriebene Vor- und Familienname, eventuelle akademische und beamtenrechtliche Titel sowie die Funktionsbezeichnungen vermerkt sind. Nicht fehlen sollte ein Kurzporträt der einladenden Organisation: Name, Rechtsform, Arbeitsgebiet, Anschrift der Geschäftsstelle mit Telefon- und Faxnummer, Vor- und Zuname sowie eventuelle akademische Titel des Vorsitzenden, Mitgliederzahl, Gründungsdatum usw. Alle Materialien sollten zusätzlich auf der Homepage hinterlegt und für die Presse abrufbar sein.
17
se Zusage muss, unter den zuvor geklärten Bedingungen nach Umfang, Übermittlungsart (Fax, per Post oder E-Mail, Fotos) zum vereinbarten Termin eingelöst werden. An Journalisten und Redaktionen, die zwar eingeladen aber nicht gekommen sind, kann die Pressemappe mit einem kurzen Begleitschreiben geschickt werden. Die bei Pressekonferenzen geknüpften persönlichen Kontakte zu Journalisten sollten weiter gepflegt werden. Dokumentation. Die aus der Pressekonferenz
Einladung. Die Einladung sollte etwa zwei Wochen
vor der Pressekonferenz an die Tagespresse verschickt werden. Neben der Termin- und Ortsangabe sind auch einige inhaltliche Hinweise zu geben – eine Art »Appetitanreger«, warum das Thema für die Öffentlichkeit von Belang ist. Zwei, drei Tage vor der Veranstaltung sollte man dann in der Lokalredaktion anrufen und durch die Blume an den Termin erinnern (»Haben Sie unsere Einladung erhalten?«, »Wen dürfen wir erwarten?«). Ablauf. Der Moderator der Pressekonferenz stellt
sich und die Referenten vor und skizziert den organisatorischen Rahmen: geplante Dauer der Veranstaltung (nicht länger als eineinhalb Stunden), vorliegendes Pressematerial, Bitte um Eintrag in die Anwesenheitsliste (Adressenmaterial für künftige Pressekonferenzen), Bewirtungsmöglichkeit und Einladung, sich bei den bereitstehenden Getränken (kein Alkohol) und beim Imbiss zu bedienen usw. Die Referenten führen in kurzen Statements in das Thema ein (maximal zehn Minuten pro Sprecher, nicht mehr als drei, vier Redner). Den Journalisten sollte dann ausführlich Gelegenheit zu Fragen gegeben werden. Das Fragen stellen ist ja der spezifische Vorteil von Pressekonferenzen. Auch bei provokanten Fragen immer ruhig und freundlich bleiben, Fachlichkeit herausstreichen, nicht aber arrogant auftreten. Der Moderator beschließt die Pressekonferenz mit dem Dank für das Kommen. Er bietet allen Interessierten Unterstützung bei besonderen Anliegen an (Fototermine, Interviews usw.). Nacharbeit. Einige Redaktionen, die niemand zur
Pressekonferenz schicken konnten, bitten manchmal den Veranstalter selbst um einen Bericht. Die-
hervorgegangenen Veröffentlichungen (Artikel, Agenturberichte, Radiosendungen usw.) werden gesammelt. Sie können als Beleg für die erfolgte Öffentlichkeitsarbeit dienen und Grundlage für das Controlling sein: Was war gut? Was kann das nächste Mal besser gemacht werden?
17.8
Zusammenfassung
PR sind Arbeit an der Corporate Identity eines Unternehmens. Nach innen führen PR zur Identifikation und Bindung der Mitarbeiter an das Unternehmen. Nach außen bewirken PR gesellschaftliches Ansehen und Vertrauenswürdigkeit – sie stärken die Integrität eines Unternehmens. PR ersetzen keine falschen Managemententscheidungen. Sie können nur das positiv verstärken, was bereits vorhanden ist. Sie tragen zum wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens bei, insofern sie durch Maßnahmen zur Kundenbindung und -gewinnung Arbeitsplätze langfristig sichern helfen. Public Relations arbeiten im Hier und Jetzt, verweisen aber auch in die Zukunft. Sie verbinden Selbstbild und Fremdbild, orientiert an den Verhaltensgrundsätzen, dem Corporate Behavior, des Unternehmens. Sie verwandeln das Ist-Image in ein Soll-Image. Im Soll-Image verbinden sich dann Ideal und Realität zu einer Einheit – einer Einheit, die herausfordert. Denn ein Unternehmen wird sich daran messen lassen müssen, wie ernsthaft es auf das Einhalten seiner eigenen Prinzipien achtet. Traditionelle PR-Arbeit ist Pressearbeit. Einzelne operative Maßnahmen zur Verbesserung des Images werden wirksam untermauert durch ein Strategiekonzept. Dieses Strategiekonzept schließt
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Kapitel 17 · Public Relations (PR)
die Analyse der strukturellen Bedingungen und die konzeptionelle Arbeit zur Kommunikation mit ein. So verstandene PR-Arbeit unterstützt Unternehmen in ihrer Organisations- und Qualitätsentwicklung.
? Wissens- und Transferfragen
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1. Was verstehen Sie unter Corporate Identity? Finden Sie Beispiele aus Ihrem bisherigen Arbeitsbereich als Merkmale positiv gelebter Unternehmenskultur. 2. Erarbeiten Sie ein Konzept zur Öffentlichkeitsarbeit für eine Ihnen bekannte Einrichtung. Folgende Leitfragen sollen helfen, das Konzept zu erarbeiten. IST: Wie ist die Einrichtung bisher in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten? Welche ethischen, sozialen und organisatorischen Leitsätze geben Orientierung für das Corporate Behavior? Verfügt das Haus über ein einheitliches visuelles Erscheinungsbild, angefangen vom Logo des Briefpapiers bis hin zur Werbebroschüre? Wie beschreiben Sie Ihr Alleinstellungsmerkmal? Wurde in den PR-Maßnahmen das Alleinstellungsmerkmal (USP) und die CI transparent? Wo und mit welchen Themen ist die Einrichtung in der Öffentlichkeit präsent? Welche Zielgruppen wollen Sie erreichen? Welche Instrumente wollen Sie einsetzen? Welche finanziellen und personellen Ressourcen werden für die PR-Arbeit bereitgestellt? SOLL: Planen Sie, wie diese Einrichtung zukünftig in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten soll. 3. Erstellen Sie für ein »Event« Ihrer Wahl eine Pressemitteilung. Beachten Sie dabei den formalen Aufbau einer Nachricht. 4. Schreiben Sie einen Artikel, indem Sie eines der grundlegenden Argumentationsmuster anwenden.
▼
5. Bereiten Sie eine Pressekonferenz (Thema nach Ihrer Wahl) vor. Die Leitfragen sollen Ihnen Hinweise für die Vorbereitung und den Ablauf geben: Wie heißt die Botschaft? Was ist der Anlass? Wann ist der richtige Termin (Tag und Uhrzeit)? Wann müssen die Pressevertreter eingeladen werden? Welche »Handouts« und Imagebroschüren stellen Sie zur Verfügung? Welche Pressefotos bieten Sie an? Auf welche Fragen müssen Sie sich präzise vorbereiten? Wer nimmt zu welchen Bereichen Stellung? Wer beantwortet Fragen? Wo und wie lange sind Rückfragemöglichkeiten zu organisieren?
Literatur Braun GE (2001) Qualität und Marketing. In: Die Freien, Verband freigemeinnütziger Krankenhäuser in Hamburg eV (Hrsg) Immer schneller, immer mehr. Wer bestimmt Qualität im Krankenhaus? Tagungsband zum 7. Symposium, S 31–32 Busch G (1998) Aktive Kundenbindung. Cornelsen, Berlin Bredemeier K (1996): Provokative Rhetorik? Schlagfertigkeit! Orell Füssli, Zürich DIN Deutsches Institut für Normung (2001) Qualitätsmanagement. DIN Taschenbuch 226. Beuth, Berlin Wien Zürich Falk J (2000) Zukunft gestalten. Integrierte Versorgung erprobt im »Modell Herdecke«. Pflegemagazin 5: 49 Falk J (2002a) Führung und Kommunikation: Informationsund Kommunikationsmanagement. Studienbrief der FFH Fern-Fachhochschule Hamburg, Pflegemanagement II Falk J (2002b) Führung und Kommunikation: Dienstleistungsmanagement. Studienbrief der FFH Fern-Fachhochschule Hamburg, Pflegemanagement II Halber M, Brenzel G (2003) Pfade gegen das Chaos. Die Chance für effizientere Zusammenarbeit im Krankenhaus. Pflegemagazin 6: 4–7 Herbst D (1997) Public Relations. Cornelsen, Berlin Knauthe G (1998) Altenpflegeschulen: Ein Berufsimage und seine Prägung. PflegePädagogik 1 27–30 Nagel NC (1991) Die Presseerklärung: Sagen, was ist. Der Gewerkschafter 5: 9 Pfannendörfer G (1995): Kommunikationsmanagement. Das ABC der Öffentlichkeitsarbeit für soziale Organisationen. Nomos, Baden-Baden Psychologie Heute (1997) Nur Tratsch und Klatsch? 3: 55
473 Literatur
Radel W (1996) Public Relations, BRAIN PRODUCTS. Unveröffentlichtes Manuskript Ruprecht TM (2004) Experten fragen, Patienten antworten. Versorgungsqualität aus Sicht der Betroffenen. Pflegemagazin 2: 18–28 Scheibler F, Pfaff H (2003) Shared Decision-Making. Der Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess. Juventa, Weinheim und München Scheibler F (2004) Shared Decision-Making. Von der Compliance zur partnerschaftlichen Entscheidungsfindung. Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle Schulz von Thun F (1987) Miteinander Reden: Störungen und Klärungen. Rowohlt, Reinbek Schwalbe H (1992) Die Basis des PR-Textens. In: Manekeller W, Manekeller FW (Hrsg) Der Textberater. Haufe, Freiburg, S 83–94 Sitte M (2002) Skizzen für die Zukunft. In: Gesundheit und Gesellschaft. Das AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft, Ausgabe 10, S 38–41 Thill KD (1996) Ideenhandbuch für erfolgreiches KrankenhausMarketing. ku-profi, Kulmbach Tucholsky K (1975) Gesammelte Werke in 10 Bänden. Rowohlt, Reinbek Watzlawick P, Beavin JH, Jackson DD (1996) Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 9.Aufl. Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle Weber B (1998) Einführung in die Öffentlichkeitsarbeit. Skript für den Weiterbildungsstudiengang »Soziale Gerontologie«, Universität Dortmund
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Stichwortverzeichnis
A Abgrenzungsverordnung 245 Ablauforganisation 294 Abschlussberichte 154 Abschlussfreiheit 50 Abteilungspflegsätze 265 Abwehrmechanismen 371 Access 341 Add-on-Technologie 229 Affirmationscharakter 319 agents 270 Age Simulator 403 Aktiengesellschaft (AG) 35 Aktionsforschung 133 Aktivitäten – primäre 407 – sekundäre 407 Anforderungskatalog 351 Angst, Sozialisation 366 Anlagegüter 245 Annehmlichkeit 420 Ansatz, technomorpher 59 Anstalten des öffentlichen Rechts 30
Anthropologie 10 Anwendersoftware 341 Application Service Providing (ASP) 338 APR-DRGs 255 AR-DRGs 255 Arbeitsplatz, Schutz von Leben und Gesundheit am 53 Arbeitsverhältnis 45 Arbeitsvertrag 47, 54 Arbeitsvertragsrichtlinien 39 Arbeitszufriedenheit 137 Argumentationsmuster 470 Assessment Center, Teamentwicklung 443 Äthos 4 Aufbauorganisation 294 Aufhebungsvertrag 55 Aufsichtsrat 34 Auftrags-Befund-Kommunikation (ABK) 347 Ausgleichsverfahren 253 Austauschprozesse 401 Auswertungsmethoden – qualitative 129 – quantitative 130
B Backstage-Aktivitäten 406 Basispflegesatz 265 Bedarfsdeckung, Bildungsmaßnahmen 380 Bedarfsprinzip 228 Bedürfnisbefriedigung, zur Theorie 12 Bedürfnisse, menschliche 393 Befragung – alte Menschen 142 – Betreuer 140 – halbstrukturierte 126 – qualitative 124 – Techniken 124 – telefonische 140 Behandlung – ambulante 249 – vor- und nachstationäre 264 Behandlungspfad 254 Behandlungsqualität, Erreichen der 231 Beitragssatzstabilität 235 – Grundsatz der 243 Beitragssicherungsgesetz 249
476
Stichwortverzeichnis
Benchmarking 334, 432 Beobachtung 127 Beschwerdeanalyse 415 Beschwerdemanagement 149 Bestimmungen für Schwerbehinderte 55 Betreuerbefragungen 140 Betriebskosten 357 Betriebsrat 49 Betriebsverfassungsgesetz 29 Betriebswirtschaftslehre 21 Bevölkerungsstruktur 386 Bewerbungskosten 47 Beziehung, kausale 101 Bildungsmaßnahmen – Bedarfsdeckung 380 – Evaluierung 381 – Transfer 382 Biographieforschung 134 Blueprint – Beschwerdeanalyse 415 – Gap-Analyse 416 – Prozesskostenrechnung 426 – Qualitätsaudit 423 Blueprinting 405 – Beispiel 408 – Zwischenfazit 409 Bottom-Up 306 Bruttoentgelte 235 Budgetierung 346, 357 Budgetverantwortung 201 Bundeserziehungsgeldgesetz 55 Bundespflegesatzverordnung 236, 248, 252 Burn-out-Problematik 367
C Care-Management 207 Care-Manager 201, 205 Case-Management 225 Case-Mix 259 Casemanager 346 Chancengleichheit, Verstoß gegen 48 Change Management 364
Client-Server-System (CSS) 339 Clients 342 Coaches 389 Codierung, undifferenzierte 68 Commitment 137, 325 Complication and Comorbidity Level (CCL) 257 Content-Management-System (CMS) 343 Controlling 193, 344, 400 – Aufgabenbereich 409 – Budget 346 – Controllinggrößen 411 – Controllingobjekte 411 – Fünf-Phasen-Modell 466 – Instrumente 413 – – effizienzbezogene 412, 423 – – effektivitätsbezogene 412 Corporate Behaviour 320, 459 Corporate Communications 319, 451, 460 Corporate Design 342, 460 Corporate Identity (CI) 449, 451, 459 Corporate Relations 452 Cost-Benchmarking 424, 432 Cost Driver 425 Critical-Incident-Methode 414 Critical-Incident-Technique 422 Cross-Check-Analyse 321 Customizing 341 Cystic Fybrosis 261
D Dass-Systematisierungen 99 Daten – empirische Messung 131 – inkonsistente 342 Datenbank 342 deduktiv 119 Definitionsmacht 201 Delphisches Orakel 93 Denken – ethisches 4 – lineares 101 – reflexives 92, 101
Dependenz 439 Depression 367 Diagnosis Related Groups (DRGs) 240 – Krankenpflege 345 Didaktik 373 – Personalführung 376 Dienstleistung 22, 397 – Leistungsdimensionen 396, 399 Dienstleistungsqualität 420 Differenzierung 274 Dilemma 5 Disease Management (DM) 242 Disease Management Programme (DMP) 241, 359 – Grundprinzipien 242 – Vorteile 242 Disposition – autonome 397 – integrative 398 Dissonanz, kognitive 370 Diversity Management 379, 384, 386 – Frauenförderungsprogramme 388 – General Electric 387 – Gesundheitsbereich 387 Divisionalisierung 280 Dokumentenanalyse 143 Download 343 DRG (Diagnosis Related Group) 191, 330 DRG-Finanzierungssystem 269, 278 DRG-System 280 – Effizienz 284 – Einführung 291 – Grundzüge 281 – quantitative Erfolgsgrößen 283 – Software 349 Driften, strukturelles 66
E E-Mail 339, 342, 343 EDV-System, Auswahl 352 Effektivität 276, 286, 395
477 Stichwortverzeichnis
– Blueprinting 409 – Controlling 410 – Instrumente, effizienzbezogene 425 – Kommunikationsmaßnahmen 467 – Managementaufgaben 399 Effizienz 236, 252, 410 – Blueprinting 409 – Gruppenarbeit 438 – Instrumente, effizienzbezogene 425 – Kommunikationsmaßnahmen 467 – Krankenhausmanagement 271 – Managementaufgaben 399 – Managementstruktur 280 – Prinzip, ökonomisches 394 eGovernment 360 eHealth 360 Einfühlungsvermögen (empathy) 420 Einführungsverfahren 259 Einkommensausfallrisiko 217 Einzelfallbeobachtung 128 Emergenz 67 Emotion 365 – Angst 365 – Freude 366 – Manie 367 – Personalführung 368 Empirismus 104 Empowerment 329 Entgeltsystem 253 – pauschalierendes 244 – Einführung eines pauschalierenden 247 Entscheidungssituation 3 Epidemiologie 163 Ereignismethode, sequentielle 414 – Blueprint 414 Erlösberechnung 258 Erwachsenenbildung 375 Erweitertes Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun 464 Ethik 1 – als Führungsinstrument 16 – deskriptive 6
– diskursive 6 – Kompetenz 7 – normative 6 – Theorien 6 – wissenschaftliche 3 Ethikzirkel 17 Ethik und Wirtschaft 21 Ethos 4 Evaluierung, Bildungsmaßnahmen 381 Event-Organisation 453 Evidenz 403 Excel 341 Executive Information System 344 Existenzbegriff 195 Explorer 342
F Fachsprache 203 Facility-Aktivitäten 407 Fall-Kontroll-Studien 168 Fall-Manager 209 Fallmanagement 203 – Prozess- und Funktionsdiagramm 209 Fallpauschale 247, 252 Fallpauschalengesetz – FPG 247 Fallpauschalenkatalog 259 Fallpauschalensystem 236 Falsifikation 104 falsifizieren 119 Feedback 464 – Funktion 276 Feldforschung 133 Finanzierung 261 – duale 338 Finanzierungssystem – Fallpauschalen 261 – Pflegesatz 261 – prospektives 192 flow 367 Flow-Gefühl 368 Forschung, qualitative 122 Forschungs- und Feldgespräch 124 Forschungsgemeinschaft 106
C–G
Fragearten 123 Fragebogen 122 – Alten- und Pflegeheim 142 – Altenheim 155 – für Betreuer 141 – Pflegestation 144 – standardisierter 135 Fragestellungen, Beispiel 123 Frauen – Bildungsniveau 389 – Führungspositionen 385 Freifahrereffekt 218 Fremdbewertungsverfahren 153 Frequenz-Relevanz-Analyse 415 Freude 366 – Sozialisation 368 Führung, authentische 24 Führungsinformationssystem 344 Führungskonzept 14 Führungskräfte 372 Führungspersönlichkeit 10 Führungspositionen, Anteil der Frauen 385 Führungsstil 14 – partizipativer 300 Führungsverhalten 375 Fünf-Phasen-Modell – Controlling 466 – Implementierung/Durchführung 466 – Ist-Erhebung 461 – Soll-Formulierung 463 – Stärken-Schwächen-Profil 463 Fürsorge 195 – Pflichten 53
G Ganzheitlichkeit 11 Gap 417 Gap-Analyse 416 Gap-Modell 416 – Fragen 419 – Ursachen von Qualitätsabweichungen 419 Gatekeeper 225, 342
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Stichwortverzeichnis
Gebietskörperschaften 30 Gebrauchsgüter 246 Geisteswissenschaften 120 Geld- und Sachspenden 37 Gemeinnützigkeit 36 Gemeinschaftsbezogenheit 11 gender 382 Genderansatz 134 Gender Mainstream 379, 382 Gerechtigkeit – ausgleichende 7 – austeilende 7 German Diagnosis Related Groups (G-DRGs) 240 Geschäftsbetrieb, wirtschaftlicher – körperschaftssteuerpflichtig 32 Geschichtlichkeit 11 Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) 37 Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) 33 Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) 236, 249 Gesundheitsbegriff 213 Gesundheitsepidemiologie 163 Gesundheitsförderung 176ff. Gesundheitsgüter 214, 216 Gesundheitskapital 216 Gesundheitsleistungen, Nachfrage 217 Gesundheitsökonomie 213 – Ausblick 233 – Konzepte 108 – Maximalprinzip 107 – Minimalprinzip 107 Gesundheitspolitik 227 Gesundheitspsychologie 164 Gesundheitsreformen 233 Gesundheitsreformgesetz 236 – Aspekte 239 Gesundheitsstrukturgesetz 236 Gesundheitssystemanalyse 179 Gesundheitswesen 222 – Ausgaben 229 – Austauschbeziehungen im 227 – Beschäftigungsentwicklung 230
– Gesundheitsebene 229 – Kostenexplosion 235 – Vertragsbeziehungen 222 Gesundheitswissenschaften 117, 119, 159 – Alma Ata 161 – Disziplinen 162 – Kuration 160 – Ottawa Charta for Health Promotion 161 – Voraussetzungen 182 – Wohlfahrtspflege 161 Gesundheitszustand 216 GKV-Gesundheitsreform 238 GKV-Rechtsangleichungsgesetz 238 Gleichbehandlung, Recht auf 53 Grenzverweildauer 259 Grounded Theory 130 Grundlohnsumme 235 Grundsätze der Gemeinnützigkeit 36 Grundsatz der Beitragssatzstabilität 235 Gründungskonzepte 29 Gruppen, Spielregeln in 440 Gruppenarbeit 438 – strukturelle Voraussetzungen 441 – Vor- und Nachteile 440 – Voraussetzungen 442 Gruppenbefragung 127 Gruppendynamik 369 – Mechanismen 370 Güterabwägung 5
H Haftung 32 – deliktische 42 – vertragliche 41 Haftungsgrundlagen 40 Half-way-Technologie 229 Haloeffekt 370 Handeln, konzeptionsloses 379 Handelsgesetzbuch (HGB) 31
Handhelds 339, 360 Handlungs-Ergebnis-Erwartungen 197 Handlungswissenschaft 190 Hardware 338, 347, 356 – Betriebskosten 357 – Stationen 345 hard facts 317, 372 Hauptpflichten 51 Haushaltsprinzip 235 Hawthorne-Experimente 60 Health-maintenance-Organisation 226 Health-Professional-Card (HPC) 360 Health Care Financing Administration (HCFA) 254 Heim- oder Behandlungsvertrag 39 Help-Desk-Service 355 Hempel-Oppenheim-Schema 102 Hermeneutik 103 Hilfswissenschaften 90 Homepage 339 Homöostase 59 homo curare 198 homo oeconomicus 197, 286, 438 homo soziologicus 197 Honorarpolitik 224 Honorartarif 223 Honorierungssystem 222 Honorierungsverfahren 223 Hotline 355, 356 HTML 342 Human-Relations-Bewegung 61, 438 Humanontogenetik 199 Human Relations 452 Human service team 438 Hygienefaktoren 12
I Image 460 Imageuntersuchungen 140 Implementierungslinie 407
479 Stichwortverzeichnis
Individualprinzip 218 Induktion 104 – vollständige 119 induktiv 119 Information, asymmetrische 214 Informationspflicht 47 Informix 342 Inhaltsanalyse 120, 129 Inhouse-Präsentationen 352 Inputgrößen 394 Instandhaltungskosten 246 Instrumentalvariablen 274 Interaktionslinie 406 Interaktionsqualität 316 International All-Patient-DRGs 255 Internet 339, 342, 360 – Banking 342 Internetseiten 402 Interpretation 105 Interventionstechniken, Metaanalyse 445 Interview 125 – fokussiertes 126 – halbstandardisiertes 350 – narratives 126 – offenes 124, 126 – qualitatives 125 Interview- und Verfahrenstechniken 149 Intranet 339, 343, 349 Investitionen 244, 356 Investitionsbedarf 238 invisible hand 286 Ist-Komponente, Dienstleistungsqualität 420 IT – Anwendungen 354 – Investition 353 – Strategie 358
K Kameralistik 338 Kapitalgesellschaften 31 Karriereplanung 47
Key-User 357 KIS 350 Knappheitsphänomen 214 Know-how 386 Kohäsion 439 Kommanditgesellschaft (KG) 31 – auf Aktien 35 Kommunikationsinstrumente 465 Kommunikationsmaßnahmen, Planung 466 Kommunikationssystem 75 Kompetenz – ethische 9 – kommunikative 374 – soziale 316 Komplexe Systeme – allopoietische 64 – Definition 62 – Entropie 63 – Kommunikation 67 – Maschine 64 – Nervensystem 66 – nichttriviale 64 – Organisation 63 – Perturbationen 67 – Sprache 67 Konfliktlösung, Strategien 312 Konsensbedarf 33 Konservatismus 297 Konservativismus 293 Konstruktivismus 68 Konsumentensouveränität 215 Konzepte 90 Kooperations- und Konzentrationsprozesse 238 Kooperationsgemeinschaft 458 Koordination 274 Korrelation 132 Kosten – Hardware 356 – Hotline 356 – Software 356 Kosten-Nutzen-Analyse 237, 357 Kosten-Wirksamkeits-Analyse 237 Kostendegressionseffekt 326 Kostenerstattungsprinzip 223 Kostengewichte 258 Kostenträger 235
H–L
Krankenhaus – Ablaufprozesse 152 – Kundengruppen 454 – Mitarbeiter 454 Krankenhausbuchführungsverordnung 245 Krankenhausbudget 259 – Fortschreibung des 243 Krankenhausentgeltgesetz 236 Krankenhausfinanzierungsgesetz 244 Krankenhausinformationssystem (KIS) 341, 343, 351 – Controlling 344 Krankenhausmanagement – Defizite 279 – DRG-System 286 – Effizienz 286 – Handlungsparameter 280 – Handlungsspielräume 284 – Hauptaufgaben 287 – Managementziel 272 – Organisation 274 – Planung 273 – Wirtschaftlichkeitsprinzip 285 Krankenversicherung, gesetzliche 227 Krankheiten 217 Krankheitsgenese 178 Krankheitskostenrisiko 217 KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Krankenhaus) 150, 327 Kultur-Evolution 318 Kundenbegriff 237 Kundengruppe Krankenhaus – Hausarzt 456 – Patient 455 Kündigung 55 Kündigungschutz 55, 56 Kybernetik 62
L Lagemaße 132 Laienkonzept 193
480
Stichwortverzeichnis
Laissez-faire-Haltung 441 Lamda-Team 438 Laufzettel 149 Lean Management 438 Leib-Seele-Betrachtung 195 Leistungen, teil- und vollstationäre, Finanzierung 251 Leistungserfassungssystem 203 Leistungserstellung – Prozessbewusstsein 404 – Prozessevidenz 405 – Prozesstransparenz 403 Leistungskompetenz (assurance) 420 Leistungspotential 396 Leitbild 75 Leitfaden-Interview 125 Lernprozesse 373 – Gestaltung 377 – – Leitfragen 376 line of implementation 407 line of interaction 406 line of internal interaction 406 line of order penetration 407 line of visibility 406 – Prozesskostenrechnung 426 Linienorganisation 292, 297 – Kapazitätsplanung 308 – Projektabschluss 313 – Projektmanagement 293 – Projektteam 302, 311 Liniensystem 200 Linienvorgesetzten 297 – Kompetenzstreitigkeiten 301 Linie der internen Interaktion 406 Local Area Network (LAN) 339 Lokomotion 439
M Macht 14 Mainstream(ing) 383 Makrokollektiv 230 Managed-Care-Konzepte 191 Managed-care-Organisationen, Struktur 226
Managed-Care-System 225 Management 189 – Anforderungen 77 – Auseinandersetzung, kritische 113 – Controlling 277 – Einflussfaktoren 84 – Emotionen 369 – Entwicklungsaspekte, historische 109 – Frauenanteil 384 – Gestaltungsaufgabe 273 – Kommunikation 79 – Managementansätze, situative 110 – Öffentlichkeit 79 – Organisationsklima 111 – Organisationskultur 111 – Personalführung 276 – Qualität 77 – systemexternes 77 – systeminternes 77 Management-Handeln, Phasen 273 Managementansatz – deterministischer 278 – quasi-mechanistischer situativer 278 Managementaufgaben 400 Managementforschung 111 Managementmoden 112 Managementpraxis, Entwicklungstendenzen 111 Manie 367 Marketing 342, 453 Markttransparenz 221 Marktversagen 215 Marktwirtschaft, soziale 230 Maximalprinzip 394 – Gesundheitsökonomie 107 Medizin-Controller 208 Medizinische Versorgungszentren 249 Medizinsoziologie 165 Memorysticks 339 Menschenbild 10, 72 – ökonomisches 11 – soziales 11
Merkmale – qualitative 131 – quantitative 131 Meta-Sicht 92 Metaethik 6 Metaplantechnik 374 Methode – experimentelle 167 – sozialwissenschaftliche 167 Methodik 373 metrische Skala 131 Mindeststammkapital 34 Minimal- und Maximalprinzip 236 Minimalprinzip 394 – Gesundheitsökonomie 107 Mitarbeiterfragebogen – Befragungsstruktur 138 – Ergebnisse 139 Mitbestimmung, Regelungen zur 48 Mitbestimmungsrecht 40 Mitgliedsbeiträge als Spende 37 Mobbing 383 Moderationsmethode 321 Moderationstechnik 374 Moral 3 – Gesellschaft 4 Moral-Hazard-Effekt 218 Moral-Hazard-Problem 228 Motivation 1, 12 – christliche 2 MS-SQL (Microsoft-Datenbank) 342 Mutterschutzgesetz 55
N Nachfragegesetz 215 Nachrichten 468 Nebenpflichten 51 Nebentätigkeitenverbot 51 Netscape 342 Nominalskala 131 Normen 5 Notebooks 339
481 Stichwortverzeichnis
O Objekt 91, 118 Objektivität 132 Offene Handelsgesellschaft (oHG) 31 Öffentliches Recht 29 – Anstalten 30 – Körperschaften 30 – Stiftungen 30 Öffentlich-rechtliche Träger 39, 42 Office-Software 341 Ökonomie 165 online 345 Onstage-Aktivitäten 406 Open-Source-Software 341 Operationen 68 Operieren, ambulantes 264 Oracle 342 Ordinalskala 131 Organisation – autopoietische 65 – Effizienz 274 Organisationsentwicklung – Konzept 203 – Praxisbeispiel 201, 205 Organisationskultur 136 – Analyse 143 – Untersuchungsmethoden 143 Organisationslehre 194 Organisationstheorie 59 Outputgrößen 394 Outsourcing 338
P Pädagogik 164 Palmtops 339 Paradigma 22, 106 Paradigmenwechsel 106 Partnerschaft 38 Patchwork-Identität 24 Patientenbefragungen 134 Patientenintegration 398 Patientenkarrieren 193
Patientenklassifikation 253 Patientenmanagementsysteme 343 Patient Complication and Comorbidity Level (PCCL) 257 patient related groups 192 Pauschalierte Vergütung 239 PDCA-Zyklus 150 Penalty-Reward-Faktoren-Ansatz 423 Personalauswahl – Arbeitserlaubnis 50 – gesetzliche Qualifikationserfordernisse 49 – Jugendarbeitsschutz 50 – Mutterschutz 50 – Regelungen zur 49 Personalbildungsbedarfsermittlung 379 Personalführung 18 – Bausteine 363 – Emotionen 368 Personalvertretungen 140 Personalvertretungsgesetze 29 Personen – juristische 29 – natürliche 29 Personengesellschaften 31 Perspektive 96 Perturbationen 69 Pflege 204 Pflegebedürftigkeit 189 Pflegebegriff 189 Pflegediagnose 207 Pflegeheime, Befragung 421 Pflegeinformationssysteme (PIS) 339, 345, 348 Pflegeleistung 402 Pflegenotstand 189 Pflegeorganisationsmodellen 201 Pflegepraxis 191 Pflegeprozess 202 – Pflegeinformationssystemen (PIS) 348 Pflegeversicherungsgesetz 192 Pflegewissenschaft 119, 190, 210 Pflicht der Nichtannahme von Geschenken 51
M–P
Phänomene – Untersuchung 121 – Wahrnehmung 202 Philosophie 89 Popper-Hempel-Schema 102 Positivismus 97, 104 Powerpoint 341 PR-Strategie, Jahresplanung 465 Prä-Post-Design 382 Prädikation 99 Präferenzstrukturen 319 Präsentationen 154, 353 Preparation-Aktivitäten 407 Primärarztsystems 225 Primärkoordination, Controlling 410 Prinzip, ökonomisches 394 Privatisierung 33 Privatrecht 29 Profit-Center 286 – Konzept 280 Programme 341 Projekt – Linienorganisation 297 – Team 299 Projekt-Kerngruppe 303 Projektdurchführung 309 – Projektabschluss 312 Projekte – Einteilung 294 – Merkmale 293 – Zieldefinition 304 Projektleitung 299 – Anforderungen 300 Projektlenkungsausschuss 303 Projektmanagement – Bedeutung und Ziele 295 – Matrix-Organisation 298 Projektplanung – Bedeutung von Sozialpuffern 309 – Elemente 305 – Kapazitätsplanung 308 – Kostenplanung 308 – Meilensteintechnik 307 – Projektphasen 305 – Projektstrukturplanung 306 – Risikoanalyse 309
482
Stichwortverzeichnis
Projektteam – Auswahl 302 – Führung 310 – Teamstärke, optimale 303 Prozessanalyse und -management 149 Prozessbewusstsein 404 Prozessevidenz 405 Prozesskostenrechnung 407, 426 Prozessmanagement 150, 194 Prozessorientierung 428 Prozesstransparenz 403 Prozesswertanalyse 428 Psychologie 164 Psychosomatik 173 Public Health 162, 176 – Optionen 182 – Aufgaben 184 Public Relations 450 – Beziehungspflege 451 – Fünf-Phasen-Modell 461 – Kommunikationsmaßnahmen 460 – Nachrichten 468 – Pressekonferenzen 469
Q Qualität 236 Qualitätsaudit 413, 423 Qualitätsgemeinschaft, Modellprojekt 457 Qualitätsinstrumente 457 Qualitätsmanagement 74, 150 – internes 244 Qualitätssicherung 236
R Rationalisierung 231 Rationalismus, kritischer 118 Rationalität 107 – begrenzte 72 Rationalprinzip 236, 269
Rationierung 231 Reaktionsfähigkeit (responsiveness) 420 Realität 70 Rechtsfolgen 38 Rechtsform 29 Rechtsgerechtigkeit 7 Rechtsträgerschaften 38 Redundanzfreiheit 342 REFA-Methode 147 Reflexion 9 – ethische Grundlagen 2 Reliabilität 132, 420 Ressourcenverzehr 237 Restbudget 253 Risikostrukturausgleiches (RSA) 241
S Sachleistungsprinzip 228 Sachverständigenrat 193 Sales team 438 Salutogenese 175 Satzung 33 Scheinselbständigkeit 45 Schlüsselqualifikationen 18, 82, 374, 389 Sekundärkoordination, Controlling 410 Selbstbeteiligung 219, 220 Selbstbewertungsverfahren 153 Selbstkostendeckungsprinzip 244 Selbstorganisation 194 Selbstpflege 194, 197 – Kompetenzen 192 Selbstsorge 195, 197 Sender-Empfänger-Modell 464 Server 339, 349, 359 SERVQUAL-Fragebogen 421 SERVQUAL-Instrumentarium 418 Shared Decision-Making (SDM) 456 Sichtbarkeitslinie 406 Sinnsystem 71, 76
social man 438 softfacts 317 Software 338, 341, 349, 355, 356 – Betriebskosten 357 – Krankenpflege 346 Software-Tools, Kostenträgerkalkulation 427 soft skills 388 Solidarität 230 – Maßnahmen zur Erhöhung 334 Soll-Komponente, Dienstleistungsqualität 420 Somatogenese 172 Sonderentgelte 252 Soziabilität, Maßnahmen zur Erhöhung 334 Sozialepidemiologie 163 Sozialforschung – empirische 120 – Methoden 169, 170 Sozialisation 175, 363, 366, 384 – betriebliche 136 Sozialisationsforschung 163 Sozialmedizin 177 Sozialprinzip 218 Sozialpsychologie 197 Sozialrecht 39 Sozialversicherungspflicht 53 Sozialversicherungsträger 235 Soziologie 165 Soziopsychosomatogenese 174 Speichermedien, externe 341 Spenden 37 Spendenquittung 37 Sponsoring 37, 320 Stabs-Projektorganisation 297 Standardnetzwerkprotokoll (TCP-IP) 343 Stehgreiferzählungen 126 Stellvertretung 46 Steuerbefreiung 29 Stiftungen des öffentlichen Rechts 30 Streuungsmaße 132 Subjekt 91 Subsidiarität 230 Subsidiaritätsprinzip 33, 38 Subsumtion 99
483 Stichwortverzeichnis
Superior Performance, Cost-Benchmarking 432 Supervision 313 Supervisor 444 Support-Aktivitäten 406 System 59, 64 – allopoietisch 64 – autonomes 338 – Definition 62 – Entropie 63 – interaktives 345 – Komplexität 62 – Maschine 64 – Organisation 63 Systemsoftware 341 Systemtheorie 59 – allgemeine 62 – Chaos- und Frustrationstoleranz 82 – Experten 83 – Kategorien 80 – Konstruktivismus 81 – Kontingenz 74 – Politik 79 – Professionalisierung 86 – Spannungsfeld 81
T Tablett-PC 339 Tagebuchniederschriften 124 tangibles 420 Target Costing 424, 429 – Zielkostenindex 431 – Zielkostenkontrolldiagramm 431 Tarifbindung 29 Tarifrecht 40 Task-Forces 334 Taskforce 298 Teamentwicklung 442 – Bedarfsanalyse 443 – Maßnahmen 444 – Prämissen 446 Teamwork 417 Telematikplattform 359
Telemedizin 360 Tendenzschutz 40 Theorie 98, 99 – deduktive 104 Theorieentwicklung 171 Top-Down 306 Top management groups 438 Total-Quality-Management 438 Total E (=Equality) Quality Management 388 TQM 372 Tradition, hermeneutische 118 Trägerformen 29 Trägerhaftung 42 Train the Trainer 355 Transaktionskosten 215 Transfer, Bildungsmaßnahmen 382 Transkript 125
U Über-Ich 367 Umweltprobleme, Analyse 181 Uno-actu-Prinzip 214 Unternehmensethik, Aufgabe der 23 Unternehmensgründung 29 Unternehmenskultur 145, 317 – Analyse 146 – Auswirkungen, negative 330 – Corporate Design 319 – Corporate Identity 319 – Cross-Check-Analyse 327 – Diagnose 332 – Dienstleistungskultur 329 – Ebenen der 320 – Erhöhung des Innovationspotenzials 335 – Gesamtanalyse 326 – Gestaltung 333 – Kunst 328 – Leitbild und Leitlinien 328 – Modellkrankenhaus 327 – positive und negative Wirkungen 330
Q–V
– Schichtenmodell 145, 318 – Solidarität 323 – Sozialbilität 323 – Steuerungsgrößen 332 – Vorteile, wirtschaftliche 329 Unternehmenskulturmodell 143 Unternehmensumwandlung 29 User 350, 352, 355 Utilization-Management 225
V Validität 122, 132 Veränderungsmanagement 364 Verantwortlichkeit als Verschuldensform 41 Verbrauchsgüter 246 Vereinsgründung 31 Vereinszweck 33 Verein e.V., eingetragener 31 Verfahren, nonreaktive 129 Vergütungssystem 239 Verifikation 104 verifizieren 119 Verlässlichkeit 122 Vermögensverwaltung 32 Vernunft 82 Verschwiegenheitspflicht 51 Versicherungsschutz 218 Versorgung, integrierte 250 Versorgungsforschung 165, 180 Versorgungsqualität, Erreichen der 231 Versorgungsvertrag nach SGB XI 39 Vertragsabschluss 50 Verwaltungsakt 40 Verweildauer 191, 259 Viabilität 76 Virtual Private Network (VPN) 342 Vorher-Nachher-Untersuchungen 137 Vorplanungslinie 407 Vorschlagswesen, betriebliches 149
484
Stichwortverzeichnis
W Wahrheit 118 Webbrowser 342 Webseite 342, 343 Weil-Systematisierungen 100 Weisungsgebundenheit 45 Weltgesundheitsorganisation (WHO) 159 Werbekosten 37 Werte 5 Wide Area Network (WAN) 339 Willensbildung, Organe der 30 Willenserklärungen 39 Window-Terminal-Server-System (WTS) 339 Wireless-LAN 339, 343 Wirtschaftlichkeitsgebot 236 Wirtschaftsethik 22 Wirtschaftswissenschaft 165 Wissenschaft 89, 92, 95 Wissenschaftsgeschichte 94 Wissenschaftssoziologie 94 Wissenschaftstheorie 92, 93, 95 – Entwicklung 97 Wissensmanagement 378 Word 341 Work-life-balance 367 Work-life-Balancing-Konzepte 389 Workflow 343, 354 world wide web (WWW) 342
Z Zielkostenkontrolldiagramm 431 Zuverlässigkeit (reliability) 420 Zweckbetrieb 36 Zweckkörperschaften 30