Zärtliche Gefühle Arlene James
Als Royce nach einem Untat! erwacht, ist er sicher, dass er einen Engel sieht. Aber nein...
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Zärtliche Gefühle Arlene James
Als Royce nach einem Untat! erwacht, ist er sicher, dass er einen Engel sieht. Aber nein – es ist die Krankenschwester Merrily. Dass sie sich in den kommenden Wochen so liebevoll um ihn kümmert berührt ihn zutiefst. Denn fast hat Royce verlernt, an zärtliche Gefühle zu glauben: Seit zwei Jahren streitet er mit seiner Exfrau Pam um das Sorgerecht für die beiden Kinder – hat sie ihn heimtückisch die Treppe hinuntergestoßen? Er bittet Merrily, seine private Krankenschwester zu werden. Mit einer Hoffnung: Ist sie seine Chance auf ein neues Glück?
Originaltitel: „His Private Nurse“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION
1. KAPITEL Angestrengt starrte Royce in die nachtschwarze Dunkelheit. In einer warmen Sommernacht wie dieser hörte man normalerweise den Chor der Zikaden und Kojoten und manchmal auch den Ruf einer Eule auf Beutefang. Doch heute Nacht herrschte eine ungewöhnliche Stille, und Royce wusste auch, warum: Dort draußen lauerte jemand. Royce packte das Holzgeländer fester. Es fühlte sich rau und stabil an und gab ihm ein Gefühl der Sicherheit. Jenseits der Sonnenterrasse, auf der er stand, erstreckte sich unterhalb seines Hauses die schwarze unregelmäßige Silhouette der Zedern und dürren Kakteen. Dahinter in der Ebene sah er die Lichter von San Antonio, die ein unregelmäßiges buntes Muster bildeten. Sie war irgendwo hier draußen. Royce konnte sie zwar nicht sehen, aber er wusste, dass sie da war. Er spürte die Bösartigkeit seiner Exfrau regelrecht, selbst jetzt noch, wo schon so viele Monate seit der Trennung vergangen waren. Jedes Mal, wenn die Kinder bei ihm übernachteten, ruinierte sie den Abend. Diesmal würde sie bestimmt keine Ausnahme machen. Doch es war zunächst nichts zu sehen, daher drehte sich Royce um und ging zu der steilen Außentreppe, die zu einer schmalen Auffahrt hinter dem Haus führte. Er war nicht auf eine Konfrontation aus, aber dieser Wahnsinn musste endlich ein Ende haben. Royce war sicher, dass sie dort irgendwo war, ihn belauerte und ihre nächste Szene plante, um es ihm heimzuzahlen, dass er sie nicht glücklich gemacht und ihre wahnsinnigen Träume nicht erfüllt hatte. Ihr ging es nur darum, ihm wehzutun. Und vor allem darum, die Kinder gegen ihn aufzuwiegeln oder wenigstens jeden ihrer Besuche bei ihm zur Hölle zu machen. Doch erst, als er die Hände an seinem Rücken spürte, wusste er, dass sie ihn nicht nur fertig machen, sondern sogar töten wollte. Sein ganzer Körper war von Schmerz erfüllt, einem dumpfen, pochenden Schmerz. Royce war wie benebelt, er versuchte nachzudenken, aber die Gedanken glitten ihm davon. Dann war es ihm plötzlich, als risse ihm jemand mit glühenden Zangen die Muskeln vom Oberschenkel. Er hörte einen heiseren, qualvollen Schrei. Wer schrie da? War er das etwa selbst? Sein rechter Arm fühlte sich an, als wäre er festgenagelt, und wenn Royce versuchte, ihn zu bewegen, durchflutete ihn der Schmerz von neuem. Irgendjemand sagte: „Alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung.“ Es hörte sich an wie die Stimme eines Engels, melodisch und weich. Kleine, kühle Hände massierten seine Qualen fort. Die glühende Zange verschwand, und die Erleichterung war unendlich. Voll und ganz konzentrierte sich Royce nun auf diese Hände, die sich langsam sein Bein hocharbeiteten und ihn elektrisierten. Nahe der Ohnmacht, spürte er eine verlockende Erregung. Wieder flüsterte die Stimme ihm etwas ins Ohr. „So, wie fühlt sich das an? Besser? Ist der Krampf jetzt vorbei?“ Royce versuchte zu antworten, aber die Zunge lag ihm dick und schwer im Mund, daher kam nur ein Stöhnen heraus. Die wundersamen Hände verschwanden, und langsam machten sich seine schmerzenden Muskeln wieder bemerkbar. Dazu fühlte er sich wie benebelt. Wo war er bloß? Die ungewohnte Schwere auf seiner rechten Seite machte ihn bewegungslos. Dann spürte er, wie etwas über seine Lippen strich. Ah, sein Engel hatte ihn also nicht verlassen. Das Gefühl in seinen Lenden wurde deutlicher. Er schloss die Lippen um etwas Rundes. „Nippen. Nur nippen.“ Wie Honig war sie, diese Stimme. Eine kühle, süße Flüssigkeit rann ihm in den
Mund, und Royce schluckte gierig. Angestrengt versuchte er, seine Augen scharf zu stellen und den Kopf zu heben. „So ist es richtig.“ Schlanke Finger umschlossen seine. Der Nebel lichtete sich, und Royce erblickte ein hübsches, fein geschnittenes Gesicht, das er vorher noch nie gesehen hatte. Er nahm dunkle Haare wahr, die zu einem dicken Zopf geflochten waren, und freundliche grüne Augen. Die Nase war fast zu klein für das Gesicht, das Kinn eine Spur zu spitz, aber der Mund… oh, dieser Mund. Ein perfekter, rosafarbener üppiger Bogen. Ein Mund, der nur darauf wartete, von ihm geküsst zu werden. Hitze pulsierte durch seine Lenden. Royce hob den linken Arm, denn der rechte war wie aus Stein. Dann legte er dem Engel mit der süßen Stimme und den sanften Händen die Hand um den Nacken und brachte mit einem leichten Zug seinen Mund an ihren. Ihre weichen Lippen öffneten sich bei der Berührung leicht, und er nahm all seine Kraft zusammen, um sie näher an sich zu drücken. Solange er konnte, genoss er ihren süßen Geschmack, die einzige Erleichterung in seinem quälenden Alptraum. Hitze und Schmerz, Begehren und Lust ergriffen ihn. Wer war diese Frau, und warum konnte er sich an nichts erinnern? So sehr Royce sich auch bemühte, er fand keine Antwort. Langsam legte sich ein lähmender Nebel um sein Gehirn, der alle Schatten immer dunkler erscheinen ließ… bis die Welt um ihn herum wieder tiefschwarz war. Das regelmäßige Klingeln der Notfallglocke durchbrach die Stille. Merrily, die mit verschiedenen Unterlagen beschäftigt war, sah auf und zuckte zusammen. Zimmer 18. Royce Lawler mit den schweren Verletzungen und dem Aussehen eines Filmstars war selbst in halb bewusstlosem Zustand äußerst verführerisch. Offensichtlich war er gerade aufgewacht. Normalerweise wäre Merrily sofort zu ihrem Patienten geeilt, doch diesmal zögerte sie kurz. Seit sie als Krankenschwester arbeitete, hatte sie schon alles Mögliche erlebt, aber noch nie war sie von einem Patienten geküsst worden. Bei der Erinnerung an die Intensität und die Erfahrung, die in diesem Kuss gelegen hatten, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Irgendwie hatte ihre übliche Professionalität sie im Stich gelassen, als sie den Patienten massierte, der beunruhigend häufig Krämpfe bekam. Angesichts seiner schweren Verletzungen und der starken Medikamente, die er erhielt, erinnerte er sich wahrscheinlich nicht mehr an den Kuss, das hoffte Merrily jedenfalls. Trotzdem ging ihr Puls schneller, als sie die Tür zu seinem Einzelzimmer öffnete. Royce biss die Zähne zusammen und verfluchte sich im Stillen. Sein linker Arm zitterte, als er angestrengt versuchte, sich hochzustützen, während er mit dem Oberkörper halb aus dem Bett hing. Sein schmerzendes geschientes Bein war zur Fixierung in einer Schlinge aufgehängt, was es ihm unmöglich machte, das Telefon auf dem Rolltisch neben seinem Bett zu erreichen. Der Gips am rechten Arm und an der rechten Schulter schien Tonnen zu wiegen. Vom linken Arm aus führte ein Schlauch zu einer Infusionsflasche über seinem Kopf. Immer wieder kreisten Royce’ Gedanken um den Sturz. Er hatte einen Stoß im Rücken gespürt und sich verzweifelt bemüht, das Gleichgewicht zu halten, bevor er fiel. Ein glühender Schmerz durchbohrte seinen rechten Arm, als Royce auf die harten Kanten der hölzernen Stufen prallte. Sein Fuß verfing sich in den unten offenen Stufen, und er erlebte den Fall wie in Zeitlupe. An seinem Bein riss irgendetwas. Er hörte Knochen knirschen, bevor er mit dem Kopf aufschlug. Die Terrasse lag nun ein ganzes Stück über ihm, nur
schemenhaft konnte er die Liegestühle ausmachen, die er dort aufgestellt hatte… und die fahle Gestalt, die sich kaum vom dunklen Nachthimmel abhob. Dann wurde es schwarz um Royce, und er konnte sich an nichts mehr erinnern, was danach geschehen war. „Mr. Lawler!“ Endlich kam jemand. Vor Erleichterung schloss Royce die Augen und spürte, wie ihm jemand die Arme um den Oberkörper legte und ihn wieder aufrichtete. „Was machen Sie denn da?“ fragte die Stimme. Royce war so erschöpft, dass er nur das Wort „Telefon“ hervorbrachte, bevor er zurück in die Kissen sank. Langsam wurde er immer unruhiger. Er musste etwas unternehmen, bevor jemand anderes zu Schaden kam. Ganz dringend musste er telefonieren, um mit seinen Kindern zu sprechen, mit seinem Bauleiter, mit den Ärzten. Doch zuallererst mit Dale, seinem besten Freund und Rechtsanwalt. Benommen öffnete Royce die Augen und sah in ein überraschend vertrautes Gesicht. Also war es doch kein Traum gewesen. Sein Engel war Wirklichkeit. Während sie ihn routiniert versorgte, sah er, dass sie noch jung war, fast zu jung, um von jemandem wie ihm geküsst zu werden. Oder hatte er das bloß geträumt? Trotzdem stieg wieder der Wunsch in ihm auf, die Lippen auf diesen verlockenden Mund zu pressen. „Wie fühlen Sie sich?“ „Als wäre ich eine Treppe hinuntergefallen“, gab Royce mit rauer Stimme zurück. Ein pochender Schmerz durchzog seine Schulter. „Sie bekommen intravenös Morphium“, teilte die junge Frau ihm mit, während sie die Apparatur und die Schläuche überprüfte. „Kein Morphium“, brachte Royce hervor. Zwar linderte es die Schmerzen, aber er brauchte jetzt einen klaren Geist. „Keine Sorge“, beruhigte sie ihn und goss Wasser in einen blauen Plastikbecher mit Strohhalm. „Das Mittel wird ganz genau dosiert, es besteht gar keine Gefahr einer Überdosis.“ Sie hob den Strohhalm an seine Lippen, und er trank dankbar. „Aber ich muss telefonieren“, sagte Royce dann. Die Frau ignorierte seinen Einwand. „Wissen Sie, wo Sie sind?“ Er unterdrückte seine Ungeduld. „In einem Krankenhaus. Aber nicht, in welchem.“ „Big General“, informierte sie ihn, und damit wusste er, dass er in San Antonios größtem und modernsten Krankenhaus lag. „Zimmer 18. Ich bin Schwester Gage.“ „Sie sehen noch so jung aus.“ Auch diese Bemerkung wischte sie beiseite. „Wissen Sie noch, wie Sie hierher gekommen sind?“ Er rollte den Kopf auf dem Kissen hin und her. „Ich weiß nur noch, dass ich gefallen bin… die Treppe an meinem Haus hinunter.“ „Sie kamen mit dem Notarztwagen“, erklärte die Krankenschwester ihm, während sie mit dem Stethoskop seinen Brustkorb abhörte und ihm anschließend den Puls nahm. Royce bemerkte, dass ihre Hände zwar klein, ihre Finger aber schlank und lang waren und kurze ovale Nägel besaßen. „Hören Sie, ich muss telefonieren. Dringend“, meldete Royce sich erneut zu Wort. „Wenn Sie möchten, rufe ich Ihre Eltern an, sobald ich hier fertig bin.“ Resigniert senkte Royce die Lider. Seine Eltern wären sicher die Letzten, die sich um ihn kümmerten. Er nahm seine ganze Überzeugungskraft zusammen. „Hören Sie mal, ich möchte Ihnen ja keine Umstände bereiten, aber es ist wirklich wichtig. Wenn Sie mir einfach den Hörer geben und eine Nummer für mich
wählen, wäre ich Ihnen ewig dankbar.“
Er blickte hoch und sah in große blaue Augen. Und plötzlich las er in ihrem Blick,
dass der Kuss kein Traum gewesen war. Verdammt!
Die Schwester trat einen Schritt zurück und prallte gegen den Rolltisch. Um ihre
Schamesröte zu verbergen, rückte sie die Sachen darauf eilig zurecht und sagte
über ihre Schulter: „Sie sollten sich aber ausruhen.“
„Das kann ich nicht, bevor ich nicht telefoniert habe“, stöhnte Royce. „Bitte.“
Sie warf ihm einen kritischen Blick zu, dann nahm sie das Telefon und klemmte
ihm den Hörer zwischen Kopf und Schulter, ohne Royce dabei anzusehen. „Wie
ist die Nummer?“
„Danke“, seufzte er und diktierte ihr die Nummer. Während er auf das
Freizeichen lauschte, prüfte Schwester Gage den Gipsverband an seinem Bein,
wo nur die Zehen heraussahen.
Dale ging dran. „Royce! Wie geht es dir?“
„Immer noch unter den Lebenden.“
„Was zum Teufel ist denn passiert, Mann? Ich konnte es kaum glauben, als
Tammy mich anrief.“
Bei Royce gingen die Alarmglocken los. „Tammy hat dich angerufen?“
„Ja, nachdem sie den Notarzt informiert hatte. Wahrscheinlich hat sie dir das
Leben gerettet, Mann.“
Die Gefühle übermannten Royce. Er schloss die Augen, um die Tränen zu
unterdrücken. Die arme Tammy, hin- und hergerissen zwischen ihren Eltern.
Unendliche Liebe zu seiner neunjährigen Tochter erstickte ihm die Stimme. Er
räusperte sich und sagte so sachlich, wie er nur konnte: „Sie ist ein tolles
Mädchen.“
„Ja. Das hat sie von dir“, meinte Dale.
Bestimmt nicht von Pamela. Was seine Exfrau den beiden Kindern zumutete,
brach Royce fast das Herz. Seit er sich vor zwei Jahren hatte scheiden lassen,
kämpfte er um das Sorgerecht für die Kinder. Bald würde die endgültige
Verhandlung vor Gericht stattfinden, auch wenn Pamela nach Kräften alles tat,
um das zu verhindern. Wenn er auch nur einen Augenblick lang überzeugt davon
gewesen wäre, dass ihr wirklich etwas an den Kindern lag, hätte er
nachgegeben, aber für Pamela waren Tammy und Cory nur eine Waffe, mit der
sie ihn, Royce, verletzen wollte.
„Ich muss dich sehen, Dale. Wie bald kannst du hier sein?“
„In einer Stunde, passt dir das? Ich muss noch schnell in eine Konferenz. Soll ich
etwas mitbringen?“
„Nein, komm einfach.“
„Klar. Und, Royce?“
„Was?“
„Du weißt nicht, wie schön es ist, deine Stimme zu hören.“
„Ganz meinerseits.“ Royce musste nicht erst hinzufügen, dass er nicht damit
gerechnet hatte, jemals wieder mit jemandem zu sprechen.
Als Merrily ihm den Hörer aus der Hand nahm, bemerkte sie, dass Royce keinen
Ehering trug. Dass ihr das überhaupt auffiel, beunruhigte sie, und sie versuchte
sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
„Ihre Arme und Beine sehen gut aus. Sie haben eine gesunde Farbe und fühlen
sich warm an. Versuchen Sie mal, Ihre Zehen zu bewegen.“
Royce sah zu seinen Zehen hinüber, die am Bettende aus dem Gips ragten.
Offenbar hatte Schwester Gage sich mehr erhofft als das schwache Zucken, das
er zustande brachte, aber immerhin.
„Wie steht es denn nun genau um mich?“ wollte er wissen.
Sie sah ihm direkt in die Augen. „Gut. Die Gehirnerschütterung hat uns zunächst
Sorgen gemacht, aber das CT hat nichts Außergewöhnliches ergeben. Sie wurden
geröntgt und mehrfach am Bein, der Schulter und am Arm operiert.“
Während sie sprach, merkte sie, dass Royce Lawler die schönsten blauen Augen
hatte, die sie je gesehen hatte. Gut aussehend war gar kein Ausdruck für ihn.
Sein blondes Haar fiel ihm in verschiedenen Schattierungen von Kupfer bis Platin
über eine Braue. Besorgnis verdunkelte seine klaren, ebenmäßigen Züge, und die
winzigen Linien in seinen Augenwinkeln ließen darauf schließen, dass er viel an
der frischen Luft war.
„Und sonst?“ hakte er nach.
„Bloß Schürfwunden und Prellungen. Es ist ein Wunder, dass Sie keine inneren
Verletzungen davongetragen haben.“
Royce machte ein finsteres Gesicht. „Da kann ich wohl von Glück reden.“
„Ich weiß, dass Sie Schmerzen haben“, besänftigte Merrily ihn. „Wenn Sie
möchten, kann ich die Morphiumdosis etwas erhöhen. Sie sind nicht zufällig
Linkshänder?“
„Leider nein.“ Royce warf ihr einen ironischen Blick zu, der ihren Herzschlag
beschleunigte.
„Schade.“ Sie bückte sich, um ihr Stethoskop aufzuheben, das ihr entglitten war.
Was war nur los mit ihr? So nervös war sie doch sonst nicht. „Brauchen Sie noch
etwas?“
Wieder richtete sich der Blick aus diesen blauen Augen auf sie, und ein kurzes
anerkennendes Lächeln huschte über Royce’ Gesicht. „Essen.“
Merrily sah auf die Uhr. „Das Abendessen kommt in einer Stunde. Bis dahin
können Sie Cracker oder Eis haben, wenn Sie möchten.“
„Cracker wären gut.“
„Gern“, erwiderte sie und verließ den Raum.
Royce drehte sich wieder auf den Rücken. Er fühlte sich schon besser als vor
einer Stunde und ließ die Gedanken schweifen, die sich sofort auf Schwester
Gage richteten. Sie war so nett zu ihm gewesen. Mit ihr fühlte er sich nicht ganz
so hilflos, und er war ihr dankbar, dass sie den Kuss nicht erwähnt hatte. Am
besten ließ er sie in dem Glauben, er könne sich nicht mehr daran erinnern.
Anfangs hatte er ja selbst geglaubt, es sei ein Traum.
Eine merkwürdige Person, diese Schwester Gage, so klein und doch gleichzeitig
stark, unerbittlich, aber mit einem sanften Blick in den grünen Augen. Er fragte
sich, wie sie mit offenen Haaren aussehen würde. Entweder trug sie während der
Arbeit keinen Ring oder sie war nicht verheiratet. Er tippte auf Letzteres, denn
irgendwie sah sie nicht nach einer verheirateten Frau aus.
Verärgert runzelte Royce die Stirn. Eigentlich gab es wichtigere Dinge, über die
er nachdenken musste. Und außerdem war jetzt nicht die Zeit, sich für eine Frau
zu interessieren – nicht einmal, wenn er gesund gewesen wäre. Also richtete er
seine Gedanken auf andere Dinge. Wann würde er endlich mit seiner Tochter
reden können?
Er ist nicht verheiratet. Der Gedanke kreiste in Merrilys Kopf, während sie für
Royce Cracker holte. An seiner Tür angelangt, rief sie sich endlich zur Ordnung.
„Nun werd endlich vernünftig, Merrily“, schalt sie sich leise. „Er trägt vielleicht
keinen Ring, aber trotzdem gibt es bestimmt eine Frau in seinem Leben.“
Zweifellos würde die über kurz oder lang hier auftauchen. Bei einem Mann wie
ihm stand das weibliche Geschlecht sicherlich Schlange.
Diesen Kuss hatte Merrily nur dem Morphium zu verdanken. Royce Lawler würde
sich nie im Leben ernsthaft für eine Frau interessieren, die mit sechsundzwanzig
noch wie ein Teenager aussah. Nein, er war nichts für sie, da konnte sie sich jede Hoffnung sparen. Sie setzte ihre neutrale Krankenschwestermiene auf, bevor sie sein Zimmer betrat, um ihm ganz als barmherzige Schwester seine Cracker zu bringen. 2. KAPITEL „Offensichtlich hat Tammy dich gleich gefunden“, sagte Dale. Royce und er waren seit der Highschool miteinander befreundet. Royce nickte und versuchte zu lächeln. „Zum Glück.“ „Das kann man wohl sagen. Sie rief erst den Notarzt und dann mich an, warf dir eine Decke über und wartete bei dir, bis die Sanitäter kamen.“ Royce verzog das Gesicht. „Ich kann mich an nichts erinnern.“ „Ziemlich mutig von ihr“, befand der schlanke, groß gewachsene Anwalt. „Sie war voller Angst, du könntest tot sein. Sie schluchzte, das arme Kind, und war am Telefon kaum zu beruhigen. Ich bin Hals über Kopf hingefahren. Der Notarzt war schon da. Ich nehme an, sie hat auch ihre Mutter angerufen, denn Pamela ist vor mir angekommen. Seltsam, dabei wohnt sie doch viel weiter weg von dir als ich.“ Er betrachtete Royce nachdenklich und fügte hinzu: „Sie behauptete, sie sei in einem Restaurant im Süden der Stadt gewesen, aber sie wollte nicht sagen, in welchem.“ Royce bewahrte eine ausdruckslose Miene. „Tammy weiß doch, dass mit mir alles wieder in Ordnung kommt?“ „Ja, das hat der Doktor uns mitgeteilt, bevor Pamela sie und Cory mit dem Kindermädchen nach Hause geschickt hat. Deine Eltern waren übrigens auch da, aber nur so lange, bis sie wussten, dass dir nichts Ernsthaftes fehlt.“ Royce hätte nichts anderes von seinen Eltern erwartet. Seit er denken konnte, stand er mit ihnen in keinem guten Verhältnis. Als Kind meinte er manchmal, er sei bei der Geburt vertauscht worden, denn er hatte praktisch nichts mit seinen Eltern gemeinsam, die sehr auf äußere Werte und ihr Ansehen in der Gesellschaft bedacht waren. Sie hatten es ihm nie verziehen, dass er nicht wie sein Bruder ins Bankwesen gegangen, sondern lieber Architekt geworden war. Dale wechselte zum Glück das Thema. „Ich bemühe mich jetzt am besten um die Vertagung der Sorgerechtsanhörung. In deinem momentanen Zustand könntest du dich sowieso nicht um die beiden Kinder kümmern, und wir sollten die schwierige Lage nicht überstrapazieren.“ Widerwillig stimmte Royce zu und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Schulter schmerzte, der Kopf fühlte sich schwer an, und oberhalb des Knies pulsierte ein hartnäckiger Schmerz. „Wir sind ja auch noch keinen Schritt weiter mit unseren Beweisen, dass Pamela eine Bedrohung für die Kinder darstellt.“ „Ja, diese Frau ist verrückt, aber schlau. Hör zu“, schlug Dale vor und zog seinen Stuhl näher zum Bett, „wenn wir nur eins der Kinder dazu brächten, auszusagen, dass Pamela wiederholt die Geduld mit ihnen verloren hat…“ Royce schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Ich will nicht, dass meine Kinder gegen ihren Willen gegen ihre Mutter aussagen müssen. Du hast keine Ahnung, unter was für einem Druck Tammy steht. Pamela bezieht einfach alles auf sich, nimmt alles persönlich, und das bedeutet einen irrationalen Ausbruch nach dem anderen. Ich weiß Bescheid. Selbst Jahre nach der Scheidung verfolgt sie mich noch. Ganz ehrlich – wenn ich sie nicht in flagranti auf meinem Wohnzimmersofa erwischt hätte, wäre ich immer noch mit diesem Vampir verheiratet.“ „Du warst noch in der Highschool, als du Pamela geheiratet hast“, tröstete ihn Dale. „Woher hättest du wissen sollten, mit was für einem Drachen du dich da
einlässt?“ Royce lächelte über den gut gemeinten Versuch, seinen Irrtum zu entschuldigen. „Jedenfalls“, sagte er, um wieder zum Thema zu kommen, „will ich nicht, dass irgendjemand Tammy unter Druck setzt, was ihre Mutter und meinen Sturz betrifft. Ist das klar?“ Dale nickte. „Wie du willst. Jedenfalls hat Tammy dir das Leben gerettet. Wenn sie dich nicht gefunden und den Notarzt gerufen hätte, hätte der Schock wahrscheinlich…“ „…vollendet, was ihre Mutter begonnen hat“, murmelte Royce unvorsichtigerweise. „Ich wusste es!“ Dale sprang auf. „Du bist nicht von allein gefallen! Sie hat dich gestoßen, diese alte Hexe!“ Entschlossen fügte er hinzu: „Wir finden eine Lücke in ihrem Alibi, wir kriegen sie klein!“ Royce versuchte sich auf seinem linken Ellbogen aufzurichten. „Nein!“ „Aber du hast doch eben selbst gesagt…“ „Das war ein Missverständnis.“ Royce ließ sich wieder in die Kissen fallen und rieb sich die Schläfen. „Ich meinte nur, dass Pamela mich immer für alles bestraft hat, was in ihrem Leben schief gelaufen ist. Ohne Zweifel glaubt sie, dass es mir recht geschieht, wenn ich sterbe. Das erzählt sie meinen Kindern ja seit der Scheidung.“ Erheblich in seinem Eifer gedämpft, setzte Dale sich wieder hin. „Und was machen wir jetzt?“ Royce kämpfte gegen die Müdigkeit an, die von den Medikamenten gegen die Schmerzen kamen. „Ich möchte, dass du dich um eine Therapeutin für Tammy kümmerst. Das Mädchen muss mit einer neutralen Person sprechen. Sie braucht Hilfe.“ Der Rechtsanwalt straffte sich. „Gut. Ich werde mich sofort darum kümmern. Aber du weißt hoffentlich, dass Pamela alles tun wird, um das zu verhindern.“ Royce nickte erschöpft. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Schwester Gage kam mit einem grünen Plastiktablett herein. „Abendessen.“ Sie stellte das Tablett ab und wies auf Dale. „Und Sie waren lang genug hier. Er muss jetzt essen, seine Medizin nehmen und sich ausruhen.“ Dale hob die Augenbrauen. Mit einem amüsierten Blick zu Royce stand er auf und salutierte kurz vor der viel kleineren Krankenschwester. „Jawohl, Sir!“ Merrily schenkte ihm kaum einen Blick, sondern drängte ihn zur Seite, um für Royce das Tablett auf dem Bett zu richten. Dale wandte sich zum Gehen. „Bis bald!“ rief er fröhlich. Merrily stellte das Kopfteil höher. Als Royce aufrecht saß, den rechten eingegipsten Arm auf einem hohen Kissen und das geschiente Bein etwas abgesenkt in der Aufhängung, steckte sie ihm eine Serviette in den Kragen seines verhassten Krankenhauskittels. „So“, verkündete sie energisch, „dann schreiten wir zur Fütterung.“ Sie hob den Deckel vom Tablett und schnitt ihm mit Messer und Gabel das Essen in mundgerechte Häppchen. Royce fragte sich schon belustigt, ob sie ihn wirklich füttern wollte, bis sie ihm die Gabel in die Hand drückte. Ping, ping, ping, ping. Mit einem Blick auf die Notruflampen schlüpfte Merrily in ihren Arbeitskittel.
Zimmer 18, Royce Lawler. Lydia Joiner, die Oberschwester, stöhnte. „Nicht schon
wieder!“
„Was hat er denn?“ fragte Merrily und prüfte den Inhalt ihrer Taschen.
„Nummer 18 macht einen Aufstand“, erklärte Lydia und stand auf. „Er hat
erfahren, dass er noch einmal am Bein operiert werden muss, und jetzt hält er
die ganze Belegschaft auf Trab.“
„Ich gehe schon“, erbot sich Merrily, obwohl ihre Schicht noch nicht angefangen
hatte.
Lydia neigte dankbar den Kopf. „Das ist nett, Kindchen.“
Kindchen. Lydia war nur drei Jahre älter, aber Merrily blieb das Kindchen, weil sie
so jung aussah. Seufzend machte sie sich zu Royce’ Zimmer auf.
„Endlich!“ rief der. „Es wird auch Zeit, dass jemand Vernünftiges aufkreuzt. Wo
um Himmels willen waren Sie denn die ganze Zeit?“
Bei seiner Begrüßung unterdrückte Merrily ihre Genugtuung. „Meine Schicht
beginnt gerade erst.“
„Das blöde Telefon ist schon wieder außer Reichweite. Jedes Mal, wenn jemand
reinkommt, schiebt er den Tisch weg, und ich komme nicht mehr dran!“
Merrily holte den Beistelltisch heran und schob das Telefon näher zu Royce. „So
besser?“
Er ließ den Kopf in die Kissen sinken. „Danke. Wissen Sie es übrigens schon? Ich
kriege einen Metallstab ins Bein“, beklagte er sich. „Damit werde ich am
Flughafen nicht mehr durch die Kontrolle kommen!“
Merrily konnte nicht anders und lachte. Royce’ grimmiger Ausdruck legte sich,
und auch er begann zu lächeln. „Okay, okay. Und sagen Sie nicht, dass ich selbst
an allem schuld bin, das hat meine Mutter schon erledigt.“
„Ich verstehe“, sagte Merrily und prüfte seinen Puls mit den Fingern, während er
stillhielt. Dann machte sie einen Eintrag in seine Krankenakte.
Royce sah ihr zu, dann fragte er unverblümt: „Wie alt sind Sie eigentlich?“
Merrily ließ die Akte sinken. „Warum fragen Sie das?“
„Weil Sie älter sein müssen, als Sie aussehen.“
Sie richtete sich in ihrem frischen weißen Kittel auf. Schließlich konnte Royce
Lawler nicht wissen, wie heikel dieses Thema war. „Ich bin sechsundzwanzig.“
„Oh! Ich hätte Sie auf achtzehn, höchstens zwanzig geschätzt, bevor ich Sie
kennen gelernt habe!“
Entnervt gab Merrily zurück: „Wieso glauben Sie eigentlich, dass Sie mich jetzt
kennen?“
Royce zuckte mit der linken Schulter und sank in die Kissen. „Ich weiß
zumindest, dass Sie hier die Einzige mit ein wenig Mitgefühl sind. Erst soll ich
schlafen, dann werde ich die ganze Nacht mit Tests wach gehalten. Was soll das
denn? Und außerdem habe ich Hunger.“
Merrily verschränkte die Arme. Er wusste doch ganz genau, dass er vorerst
nüchtern bleiben musste. „Wann haben Sie die Operation?“
Er sah zur Decke. „Um drei.“
„Sagen Sie mir, was sie zum Abendessen wollen, dann sorge ich dafür, dass sie
es gleich nach der OP bekommen.“ Mehr konnte sie nicht für ihn tun.
Nach einem ausführlichen Seufzer überlegte Royce laut. „Also gut, Pizza mit
Huhn und Krabben, Pesto, schwarzen Oliven, Ananas und Mozzarella.“ Er hob
den Kopf, um ihre Reaktion zu sehen.
Wenn er sie damit in Verlegenheit bringen’ wollte, hatte er sich getäuscht.
Lächelnd gab Merrily zurück: „Das ist die Nummer sechs bei Riccotinis
Pizzadienst. Um die Ecke ist einer. Ich selbst nehme ja immer gern die mit Lachs
und Tomaten.“
„Nummer neun“, ergänzte Royce grinsend.
„Wollen Sie noch etwas anderes? Orangeneistee vielleicht?“
„Mmm. Ein Fünfliterkanister dürfte reichen.“
„Also Nummer sechs und einen großen Orangeneistee.“
„Und Käsekuchen.“
„Und Käsekuchen“, wiederholte sie und wandte sich amüsiert zur Tür.
„Warten Sie!“ rief Royce und winkte sie zu sich zurück. „Hier in der Schublade.“
Merrily öffnete die Schublade. Seine Brieftasche lag darin. „Das Abendessen geht
auf mich“, sagte er und griff danach, um einen Zwanzigdollarschein zu
entnehmen.
„Oh, das ist schon in Ordnung. Ich wollte sowieso hingehen.“
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Tatsächlich? Wie heißen Sie
eigentlich? Ich meine, mit Vornamen?“
„Merrily.“
Das Lächeln wurde noch breiter. „O.k. Merrily, ich bestehe darauf, Ihnen das
Abendessen auszugeben, da Sie es mir holen. Keine Widerrede. Es ist das
Mindeste, was ich tun kann.“
Unvermittelt steckte er ihr den Geldschein in die Brusttasche des Kittels. Merrily
zuckte zusammen und tat einen Schritt zurück, so dass sie gegen den Tisch
neben dem Bett stieß und das Telefon über die Kante rutschte. Zur gleichen Zeit
wie Royce griff sie danach, und während sie das Telefon gerade noch auffangen
konnte, berührten sich ihre Arme. Ihre Blicke trafen sich.
Einen Moment lang schien die Zeit stehen zu bleiben, während sie sich tief in die
Augen schauten. Dann blinzelte Royce und entzog Merrily langsam den Arm. Mit
einem Räuspern ließ er sich zurück aufs Kissen sinken. Sie stellte das Telefon
wieder auf den Tisch.
„Wann, äh, wann glauben Sie, dass ich zu Abend essen kann?“ fragte er mit
belegter Stimme.
Merrily versuchte ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen. „Etwa um acht,
würde ich sagen.“
„Ich verlasse mich darauf, dass Sie dann noch im Dienst sind.“
„Bis zehn“, versicherte sie ihm.
„Gut.“
„Ich… ahm, ich komme später noch einmal, um alles für die OP vorzubereiten.“
Royce ließ seine Hand aufs Bett fallen. „Sicher. Besser Sie als der Drachen von
Oberschwester.“
Merrily wandte sich rasch ab und verließ schnell das Zimmer, damit er nicht ihr
Lächeln sah.
Katherine Lawler reckte das Kinn vor. „Ein Jammer, dass Royce sich nicht selbst
verklagen kann.“
„Ja“, pflichtete ihr Marvin, ihr Ehemann und Royce’ Vater, bei. „Heutzutage
verklagt jeder jeden. Soll doch die Versicherung zahlen. Nicht, dass es nicht
seine eigene Schuld gewesen wäre, schließlich hat er die Treppe selbst gebaut.“
Royce stöhnte auf. Verzweifelt fragte er sich, wo Merrily mit der Pizza blieb. Seit
er nach der OP wieder aufgewacht war, hatte sie sich nicht blicken lassen. Und
seine Eltern zeigten wenig Mitgefühl.
Die Tür ging auf, und zu Royce’ unendlicher Erleichterung kam sein Schutzengel
mit einer großen Papiertüte ins Zimmer.
„Endlich!“ rief er und seufzte erleichtert.
Merrily lächelte seinen Eltern kurz zu und blickte sie aus ihren grünen Augen an,
bevor sie die Pizza und die anderen Sachen auf dem Tisch neben Royce’ Bett
abstellte. Dann klappte sie sein Kopfende hoch und gab ihm ein feuchtes
Desinfektionstuch, mit dem er sich die Hände reinigen konnte. „Ihr
Operationsbericht ist in Ordnung, also dürfen Sie jetzt essen.“
„Das wird auch Zeit.“
„Entschuldigen Sie“, sagte Merrily freundlich zu seinen Eltern, während sie Royce
ein Tablett aufs Bett stellte. „Die Zimmer hier sind so klein, vielleicht könnten Sie
etwas zurücktreten. Er ist noch etwas ungeschickt mit der linken Hand.“ Das war das Stichwort für seine Eltern, sich schnell zu verabschieden. Royce hätte Merrily küssen können. Ein zweites Mal. „Wir lassen dich lieber in Ruhe essen“, verkündete sein Vater und winkte seiner Frau. Katherine hauchte einen Kuss auf Royce’ Wange und fügte wehleidig hinzu: „Und tu dir nicht wieder weh.“ Dann verließen sie ohne einen Blick für Merrily den Raum. „Wer ist hier eigentlich für die Gehaltserhöhungen zuständig?“ fragte Royce dankbar und schloss die Augen. „Ihr Timing ist perfekt. Ich wollte schon einen Herzinfarkt vortäuschen, damit sie endlich gehen.“ Merrily lächelte und holte das Wechselgeld aus der Tasche, das sie ihm in die Schublade legte. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. „Wer war das denn?“ „Meine Eltern.“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Oh, das tut mir Leid.“ „Das macht nichts“, versicherte er ihr. „Meine Zuneigung den beiden gegenüber beruht ganz auf Gegenseitigkeit, also machen Sie sich keine Gedanken. So, wie steht es mit der Pizza?“ Merrily öffnete die Schachtel und setzte sie ihm vor. „Hier, bitte.“ Dann legte sie ihm Besteck und Serviette hin, packte den Käsekuchen aus und stellte die Getränke dazu, bevor sie nach ihrer eigenen Pizza und ihrem Becher griff. Noch vor einem Augenblick hätte Royce alles dafür gegeben, um einen Moment Ruhe zu haben, doch nun schien ihm die Vorstellung, allein zu essen, unerträglich. „Sie bleiben doch erst mal hier?“ fragte er und fasste Merrily am Handgelenk. Als er die Finger um ihre zarte Hand schloss, begriff er, dass er sie nicht nur bei sich behalten wollte. Er wollte auch dieses Gefühl von vorhin noch einmal spüren, als er ihr den Geldschein zugesteckt hatte und dabei unbeabsichtigt ihre Brust unter dem Kittel berührt hatte. Ein erregender Schauer rann ihm durch den Körper, bis in die Lenden. Im gleichen Moment fiel Merrily der Becher aus der Hand, und der Eistee ergoss sich über den Boden. Mit einem kleinen Schrei zuckte sie zurück. Royce reckte den Hals, um sich die Bescherung anzusehen, dann lächelte er Merrily schelmisch an. „Da müssen wir wohl teilen.“ Doch sie schüttelte nur den Kopf und eilte davon. Seufzend schloss Royce den Deckel seines Pizzakartons. Irgendwie sah die Pizza ohne Schwester Gage gar nicht mehr so verlockend aus wie vorher. 3. KAPITEL „Lane, würde es dir etwas ausmachen, deine schmutzige Wäsche in Zukunft in
den Wäschekorb zu tun?“ fragte Merrily verärgert.
Ihr Bruder, der gerade aus der dampfenden Dusche kam, sah sie fragend an.
„Wieso?“
Merrily stopfte die Wäsche selbst in den Korb, dann richtete sie sich auf und
strich sich den Pferdeschwanz von der Schulter. „Weil ich sie dann nicht vom
Boden aufheben müsste.“
Er zuckte die Schultern und kämmte sich. „Wenn du die Wäsche sortierst, wirfst
du sie eh wieder auf den Boden.“
„Darum geht es nicht.“
Lane ignorierte ihre Bemerkung und griff nach seinen Jeans. „Übrigens, hast du
mein rotes Hemd gebügelt? Ich habe heute Abend eine Verabredung.“
„Ich hatte keine Zeit. Bügel es doch selbst.“
„Aber ich kann nicht bügeln, das weißt du doch!“
„Dann wird es Zeit, dass du es lernst.“
Nun versuchte er es auf die wehleidige Tour. „Merrily, ich würde es nur ruinieren.
Bitte, tu es für mich.“
Merrily seufzte. „Na gut. Aber von jetzt an steckst du deine Wäsche in den Korb,
verstanden?“
Lane wandte sich abrupt ab. „Klar doch. Beeilst du dich? Ich werde in ein paar
Minuten abgeholt.“ Pfeifend verließ er das Badezimmer.
Merrily holte das Bügeleisen aus dem Schrank, dann sah sie sich um. Den ganzen
Vormittag hatte sie das Bad geputzt, und jetzt das: Die Duschmatte lag zerknüllt
in einer Ecke, ein nasses Handtuch tropfte auf den Boden – warum machte sie
sich überhaupt die Mühe? Jeden Tag musste sie von neuem hinter ihren drei
Brüdern herputzen.
Mit achtundzwanzig hätte Lane längst seinen eigenen Haushalt führen müssen,
aber dazu war er nicht fähig. Die anderen beiden waren noch schlimmer: Kyle
war schon dreißig und hielt sich für etwas Besseres, weil er studiert hatte, und
Jody, zweiunddreißig, benahm sich wie ein Pascha, seit ihre Eltern sich vor einem
Jahr von der Rente einen riesigen Caravan gekauft hatten und damit unterwegs
waren.
Und Merrily spielte für die drei das Kindermädchen, obwohl sie selbst einen
anstrengenden Ganztagsjob hatte. Sie mochte ihre Brüder, aber auf der anderen
Seite ärgerte sie sich darüber, wie selbstverständlich sie sich von ihr bedienen
ließen. Eine Zeit lang hatte sie überlegt, auszuziehen, aber wozu? Offenbar gab
es ja sowieso niemanden mehr, mit dem sie sich in ihrer Freizeit hätte treffen
können. Die meisten ihrer Freundinnen waren inzwischen verheiratet und hatten
Kinder. Sie war immer nur Tante Merrily, die ab und zu den Babysitter spielte.
Als Frau nahmen sie die wenigsten wahr. Die einzige Ausnahme war Royce
Lawler, und selbst er hatte anfangs sicher gedacht, sie sei eine jugendliche
Praktikantin.
Merrily fragte sich, wie es ihm ging. Es tat ihr Leid, dass sie gestern nicht noch
einmal nach ihm gesehen hatte, bevor sie ihre Schicht beendete, aber nachdem
sie den Eistee verschüttet hatte, hatte sie sich nicht getraut, ihm wieder
gegenüberzutreten. Sie hatte sich ja komplett lächerlich gemacht. Es war dumm,
von diesem Mann zu fantasieren. Vermutlich würde sie ihn nie mehr
wiedersehen, denn er sollte entlassen werden, bevor sie wieder Dienst hatte.
Enttäuschung stieg in ihr auf. Merrily biss sich auf die Lippen, doch als Lane nach
seinem Hemd rief, schob sie ihre persönlichen Sorgen beiseite und konzentrierte
sich auf das, was sie am besten konnte: für andere sorgen.
„Was zum Teufel soll das heißen, sie kommt heute nicht?“ empörte sich Royce,
als der Pfleger langsam sein geschientes Bein auf das Bett herabließ. So groß
seine Erleichterung darüber war, so enttäuscht war er gleichzeitig, dass
Schwester Gage heute keinen Dienst hatte. „Sie muss kommen. Sie ist
schließlich Krankenschwester, und sie hat Patienten, die sie brauchen!“
„Sie hat aber auch manchmal frei, wie jeder andere auch“, erklärte ihm der
Pfleger lächelnd. „Und heute werde ich, Carlos, mich um Sie kümmern.“
Royce unterdrückte seine Ungeduld und zwang sich zu einem Lächeln.
„Großartig. Das finde ich großartig. Ahm, wann, sagten Sie, hat Merrily, äh,
Schwester Gage wieder Dienst?“
Carlos hob unbeteiligt die Schultern. „Übermorgen.“
Übermorgen? Aber er sollte doch morgen entlassen werden! Angestrengt dachte
Royce darüber nach, wie er seinen Aufenthalt noch einen Tag verlängern könnte,
aber der Gedanke daran, noch eine Nacht in diesem Horrorbett zu verbringen,
ließ ihn schaudern. Außerdem wollte er endlich seine Kinder wiedersehen, denn
Pamela hatte ihnen verboten, ihren Vater im Krankenhaus zu besuchen. Nein, er musste hier raus, und je früher, desto besser. Auch wenn das eine Menge Probleme mit sich brachte. Allein war er hilflos, aber zu seinen Eltern wollte er auf keinen Fall ziehen. Auch Dale war nicht die geeignete Person. Immerhin hatte er sich bereits erboten, eine Schwester über einen ambulanten Pflegedienst zu organisieren, aber der Gedanke gefiel Royce nicht besonders. Es sei denn… Plötzlich begriff Royce, was er schon die ganze Zeit im Hinterkopf gehabt hatte. Wahrscheinlich würde es nicht funktionieren, aber wenigstens versuchen wollte er es. „Hören Sie“, sagte er zu Carlos. „Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Es ist sehr wichtig. Ich möchte, dass Sie Merrily, ich meine, Schwester Gage für mich anrufen. Ginge das?“ Überrascht strich sich Carlos über das Kinn. „Ich weiß nicht recht. Ich persönlich hätte ja etwas dagegen, an meinem freien Tag wegen der Arbeit angerufen zu werden.“ „Bitte“, flehte Royce. „Wehten Sie ihr nur aus, dass ich sie sehen möchte. Es ist sehr wichtig.“ „Nun gut, wenn es Ihnen so wichtig ist, will ich sehen, was ich tun kann“, beschwichtigte ihn Carlos. Royce entspannte sich etwas. „Danke. W-wann können Sie sie anrufen?“ Der Pfleger sah auf die Uhr. „In vierzig Minuten habe ich Pause, da versuche ich es.“ Vierzig Minuten. Royce biss sich auf die Zunge, um Carlos nicht zu drängen, sofort anzurufen. Vierzig Minuten, und wie lange würde es dann noch dauern, bis er von ihr hörte? Falls sie sich überhaupt meldete. Merrily saß in der Küche und blätterte durch eine Zeitschrift. Als das Telefon klingelte, sah sie nicht einmal auf, denn normalerweise ging Jody dran. Doch kurze Zeit später rief Jody nach ihr. Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer, wo er vor dem Fernseher saß. Er drehte nicht einmal den Kopf. „Der Anruf war für dich.“ Sie verschränkte die Arme. „Und warum hast du dann eingehängt?“ „Ein Kollege von dir sagte, ein Mr. Lawler wollte dich sehen. Ich sagte, ich richte es aus. Das war alles.“ Royce! Einen Moment lang war Merrily wie versteinert. Er wollte sie sehen! Sie fragte sich nicht mal, was so wichtig war, dass er sie extra zu Hause anrufen ließ. Sie wusste nur, dass er sie sehen wollte, und das war im Moment mehr als genug. „Ich muss weg“, verkündete sie und ging in die Küche. Sie ignorierte Jodys Rufe, schnappte sich ihre Handtasche und eilte zur Garage, ohne sich um ihr legeres Outfit, Sandalen, Shorts und ein Top, zu scheren. Das Krankenhaus war nur zehn Minuten entfernt, weswegen sie sich vor drei Jahren auch entschlossen hatte, dort anzufangen. Und Merrily hatte ihre Entscheidung nie bereut. Sie war gern Krankenschwester, und sie machte ihre Arbeit gut. Das Gehalt reichte aus, um die Collegegebühren zurückzuzahlen, sich einen kleinen Sportwagen zu leisten und sogar noch etwas Geld aufs Sparbuch zu bringen. Während sie auf den Parkplatz des Krankenhauses einbog, überlegte sie wieder, daheim auszuziehen. Schließlich konnte sie es sich inzwischen leisten. Warum ihr dieser Gedanke gerade jetzt kam, wollte sie lieber nicht so genau wissen, daher konzentrierte sie sich auf ihren Weg zu Royce’ Zimmer. Um sein Bett drängten sich Ärzte und Pflegepersonal. Die Aufhängung war entfernt worden, und man war gerade dabei, die dicken Bandagen an Royce’
rechtem Bein durch Gipsverbände zu ersetzen, die mit Stahlschienen verstärkt waren. Bei dem ganzen Trubel war Merrily im Moment überflüssig. Doch gerade als sie sich wieder zurückziehen wollte, erspähte Royce sie und rief: „Merrily! Hallo! Kommen Sie doch rein!“ Carlos sah über die Schulter zu ihr herüber und grinste. „Das ging aber schnell.“ Royce winkte sie heran. „Endlich frei! Dieses Ding war ja furchtbar!“ „Wenn Sie Ihr gebrochenes Bein nicht schonen, dann liegen Sie bald wieder hier“, warnte die Ärztin an seinem Bett. „Keine Sorge“, erwiderte Royce, „ich werde keine Dummheiten machen.“ Die Ärztin wandte sich an Merrily, die sich genähert hatte, und sagte: „Sorgen Sie dafür, dass er sich auch daran hält.“ Sie fand es seltsam, dass die Ärztin sie direkt ansprach, aber sie nickte nur. Während die Pfleger weiter Royce’ Bein schienten, blinzelte er Merrily zu und sagte leise: „Danke, dass Sie gekommen sind.“ Sie lächelte nur schüchtern und stieß mit Carlos zusammen, der sich fröhlich entschuldigte. Sie hingegen wurde rot. Was war nur an diesem Royce Lawler, dass sie in seiner Gegenwart zum Tollpatsch wurde? Merrily suchte nach einem Gesprächsthema, um von ihrer Ungeschicklichkeit abzulenken. „Sie brauchen ja nun keine Infusionen mehr, wie ich sehe.“ „Er bekommt noch einmal eine Spritze gegen die Schmerzen, wenn wir hier fertig sind“, informierte die Ärztin sie. „Und die braucht er auch weiterhin. Die Entzündungshemmer und die Antibiotika kann er oral einnehmen. Ich schreibe noch die Rezepte aus. Das Bein muss trocken bleiben und sooft wie möglich hochgelegt werden. In einer Woche möchte ich ihn wiedersehen. Rufen Sie mich an, um einen Termin auszumachen.“ Merrily verstand immer noch nicht, warum die Ärztin zu ihr sprach statt zu Royce, aber sie beachtete es nicht weiter. „Haben Sie sich alles gemerkt?“ fragte sie ihn. „Ja“, erwiderte er lächelnd. Der Blick aus seinen strahlend blauen Augen schien ihr irgendetwas sagen zu wollen. Die Ärztin wandte sich zur Tür. „Okay, das war’s. Schwester Gage, stellen Sie bitte sein Fußende hoch?“ Während Merrily den Knopf betätigte, fügte die Ärztin hinzu: „Ich empfehle Ihnen, für die nächsten Wochen einen Rollstuhl für daheim zu mieten. Ich gebe Ihnen noch einige Adressen mit.“ Sie zog sich die Latexhandschuhe aus. „Noch Fragen?“ Sie sah zuerst zu Royce, dann zu Merrily. Royce schüttelte den Kopf. „Nein, im Moment nicht. Danke für alles, Doc.“ Die Ärztin lächelte, dann wandte sie sich an Merrily. „Tun Sie mir bitte einen Gefallen. Halten Sie ihn von Treppen fern. Ich will ihn nicht noch einmal zusammenflicken.“ Merrily blinzelte und wollte etwas antworten, stattdessen nickte sie nur. „Dann sind Sie ja in guten Händen“, befand die Ärztin, warf die Handschuhe in den Mülleimer und verließ den Raum. Merrily sah ihr hinterher. „Hm. Wie seltsam.“ Sie wandte sich zu Royce. „Sie hat mit mir geredet, als wäre ich Ihre persönliche Betreuerin oder so.“ Royce neigte schelmisch den Kopf. „Ich, ahm, ich habe ihr vielleicht Grund zu der Annahme gegeben, es wäre so.“ „Wie? Warum denn?“ „Weil ich dieses Krankenhaus nicht ohne jemanden verlassen werde, der weiterhin für mich sorgt.“ Hatte er sie etwa bloß anrufen lassen, damit sie ihm jemanden über einen ambulanten Pflegedienst organisierte? Enttäuschung machte sich in Merrily breit. „Nun ja, ich kann Ihnen eine Reihe Pflegedienste empfehlen.“ Royce schnitt eine Grimasse. „Daran habe ich auch schon gedacht, aber ich kann
den Gedanken nicht ertragen, jemand Fremdes in meinem Haus zu haben.“
Merrily nickte mitfühlend. „Vielleicht sollten Sie eine Zeit lang bei Ihren Eltern
wohnen?“
Er wirkte schockiert. „Alles, nur das nicht! Lieber bleibe ich hier. Nein, ich sehe
nur eine Möglichkeit.“
„Und zwar?“
„Sie.“
Merrily blinzelte. „Mich?“
„Hören Sie, ich weiß, es ist eine Zumutung, aber ich vertraue niemand anderem.“
„Sie wollen, dass ich bei Ihnen einziehe?“ fragte Merrily ungläubig.
„Ich weiß, es ist egoistisch“, meinte Royce und griff mit der linken Hand nach
ihrer. Merrily zuckte, als die Berührung sie wie ein Blitz durchfuhr. „Aber ich bin
verzweifelt“, fuhr er fort. „Es soll auch nicht Ihr Schaden sein. Ich zahle Ihnen
das Doppelte Ihres jetzigen Gehalts.“
Das Doppelte? „Nein, das geht nicht“, protestierte sie.
„Bitte, Merrily. Allein komme ich nicht zurecht, und ich habe ein großes Haus, es
liegt wunderbar. Habe ich schon gesagt, dass Sie die Einzige sind, der ich
vertraue?“
Merrily konnte ihn nur noch anstarren. Dieser gut aussehende Mann wollte, dass
sie bei ihm einzog, wenn auch nur vorübergehend. Er vertraute ihr. Dann
verschwand er also doch nicht sofort aus ihrem Leben!
„Ich weiß, es ist viel verlangt“, sagte Royce und drückte ihre Hand, „aber Carlos
meint, wegen der Knappheit beim Pflegepersonal können Sie danach jederzeit
wieder hier einsteigen.“
Ihr Job war noch das geringste Problem, Arbeit würde sie immer finden. Nein,
das Problem waren ihre Brüder. Jody würde in die Luft gehen, wenn er davon
erfuhr, und die anderen wären genauso wenig begeistert. Doch vielleicht war es
endlich Zeit zu tun, was sie selbst wollte. Schließlich waren die drei erwachsen,
und es würde ihnen sicher gut tun, sich endlich einmal selbst um ihr Leben zu
kümmern.
„Hören Sie“, fuhr Royce fort. „Es würde mir auch nichts ausmachen, wenn Sie
jemanden mitbrächten. Ich meine, wenn Sie jemanden haben…“
„Nein“, murmelte Merrily, die in Gedanken schon damit beschäftigt war, alles zu
organisieren.
Wieder drückte er ihre Hand, und diesmal brannte ihr ganzer Körper vor Hitze.
Du bist ein Profi, ermahnte sie sich. Das hier ist nur ein Arbeitsverhältnis.
Trotzdem schlug ihr das Herz bis zum Hals.
„Können Sie es ermöglichen?“ fragte er sie und schaute sie dabei aus tiefblauen
Augen an.
Konnte sie? Oh, ja. Sie wagte es nicht, etwas zu sagen, sondern nickte nur.
„Und machen Sie es auch?“
Merrily holte tief Atem und nahm ihren ganzen Mut zusammen.
„Bitte“, sagte er sanft, „Merrily, ich brauche Sie.“
Etwas in ihrem Inneren schmolz, und sie sagte das Einzige, was ihr einfiel: „Ja.
Ja, ich mache es.“
„Bist du verrückt?“ fragte Jody entrüstet.
„Es ist doch nur ein Job“, erwiderte Merrily zum dritten Mal, während sie ihre
Sachen in einen Koffer auf dem Bett warf. Seit sie ihren Brüdern beim Frühstück
ihre Pläne eröffnet hatte, waren sie in heller Aufregung.
„Du arbeitest doch schon im Krankenhaus!“ rief Lane.
„Ich bin vorerst beurlaubt“, erklärte sie und wandte sich zur Kommode.
„Du kannst nicht einfach ausziehen!“
„Es ist doch nur vorübergehend.“ Merrily stopfte ein letztes Nachthemd in den
Koffer und schloss den Deckel. „Ihr werdet eine Zeit lang auch ohne mich
auskommen können.“
„Du gehst nicht“, befahl Jody wütend. „Mom und Dad…“
„… sind nicht da, und selbst wenn sie es wären, würde ich den Job annehmen“,
beendete Merrily den Satz. „Ich bin erwachsen und kann tun, was ich möchte.
Das tut ihr ja schließlich auch.“
„Aber das ist etwas anderes“, winselte Lane.
Sie sah ihn belustigt an. „Ach, ja? Nein, Lane, es ist ganz und gar nichts anderes,
und es wird langsam Zeit, dass ihr drei das begreift.“
Jody drohte ihr mit dem Finger. „Ich bin für dich verantwortlich.“
„Oh, sei still. Ich bin sechsundzwanzig. Nur ich selbst bin für mich verantwortlich,
und wenn du für etwas verantwortlich sein willst, dann fang bei dir selbst an!“
Sie schnappte sich den Koffer und ließ den völlig verblüfften Jody einfach stehen.
Einen Augenblick lang gab sie sich der Hoffnung hin, ihre Brüder würden endlich
kapieren, worum es ging, doch dann wurde ihr klar, dass es vergeblich war. Sie
atmete einmal tief durch und ging dann zur Tür. Ihre anderen Sachen hatte sie
gestern schon in den Wagen geschafft, es fehlte nur noch dieser Koffer.
„Und wer bügelt meine Hemden?“ wollte Lane wissen.
„Bring sie in die Reinigung“, schlug Merrily vor.
„Und wer kocht jetzt für uns?“ grollte Kyle.
„Es gibt ungefähr zehntausend Restaurants in San Antonio!“
„Was ist das überhaupt für ein Typ, zu dem du da gehst?“ erkundigte sich Jody.
Merrily blieb stehen und sah über die Schulter zu ihrem Bruder zurück. „Der Typ’
ist eine Treppe hinuntergefallen, hat sich die Schulter ausgekugelt und den Arm
gebrochen. Er hat ein mehrfach gebrochenes Bein, Bänderrisse und verschiedene
starke Prellungen. Er braucht jemanden, der ihn pflegt, und dafür hat er mir
doppeltes Gehalt angeboten.“
Kyle hatte den Nerv, sich ihr in den Weg zu stellen. „Aber wir brauchen dich hier
auch!“
Merrily musterte ihn abschätzig. „Das mag ja sein, aber ihr werdet euch schon zu
helfen wissen. Ich schlage vor, dass ihr eine Haushälterin nehmt. Und jetzt mach
Platz, ich muss gehen.“
Zu ihrer Überraschung trat er tatsächlich zur Seite. Ohne sich noch einmal
umzuwenden, verließ Merrily mit dem Koffer das Haus und ging hinaus. Hinaus in
die Freiheit.
4. KAPITEL „Sie folgen uns, ja?“ fragte Royce durch das heruntergekurbelte Fenster des Jeeps, obwohl sie das bereits besprochen hatten. Neben ihm, auf dem Fahrersitz, saß Dale. Merrily nickte und winkte den beiden zu, bevor sie zu ihrem eigenen Auto ging. Royce kurbelte das Fenster wieder hoch und lehnte sich zurück. Dann schloss er erschöpft die Augen, denn er war äußerst unzufrieden mit sich und seinem Verhalten. Er hatte Dale gebeten, ihn mit seinem Wagen abzuholen. Und allein die Fahrt mit dem Rollstuhl bis zum Auto hatte Royce so angestrengt, dass er sich vorkam, als hätte er gerade den Mount Everest erklommen. Wie sollte das bloß weitergehen? Dazu noch hatte er dem Krankenhaus eine sehr fähige Krankenschwester entführt, und er wusste sehr gut, dass es nicht nur aus rein medizinischen Gründen geschehen war.
Allein die Vorstellung, Merrily Gage mehrere Wochen lang unter seinem Dach zu wissen, hatte ihn erregt. Umso mehr, als sie heute in Shorts erschienen war, die ihre Beine noch viel länger wirken ließen als sonst. Dazu hatte sie ein Top angezogen, unter dem sie offenbar keinen BH trug und das keinen Zweifel daran ließ, dass ihr Körper nicht etwa der eines Mädchens, sondern der einer erwachsenen Frau war. Merrily hatte kleine, aber feste Brüste. Sie war die natürlichste und schönste Frau, die er je gesehen hatte. Und er wollte sie. Die Vorstellung, Merrily um sich zu haben, erschien Royce höchst verlockend, obwohl selbst eine vorübergehende Beziehung mit ihr oder einer anderen Frau völlig außer Frage stand. Doch er konnte nicht abstreiten, dass er sie begehrenswert fand. Zum ersten Mal fragte er sich, ob er wirklich so ein rücksichtsloser Egoist war, wie Pamela immer behauptete. Merrily fuhr rechts ran. Sie war sprachlos. Das ausladende Sandsteinhaus auf dem Hügel ließ sie vor Ehrfurcht innehalten. Die kreisförmige Auffahrt, die großzügige Garage und der hübsch gestaltete Garten vor dem Haus waren beeindruckend. Die Fenster waren hoch und schlossen mit einem Bogen ab, und das kupferne Dach und die drei aufragenden Schornsteine verliehen dem Anwesen etwas Erhabenes. Offensichtlich war Royce Lawler nicht unvermögend. Langsam fuhr sie weiter hinter dem Jeep her. Während sie parkte, stieg Dale aus und holte den Rollstuhl aus dem Laderaum. Merrily ging zu Royce, und half ihm beim Aussteigen, indem sie sich seinen gesunden Arm über die Schulter legte und Royce um die Taille fasste, während sie versuchte, das Prickeln zu ignorieren, das sie bei dieser Berührung durchfuhr. Als er im Rollstuhl saß, stellte Merrily die Fußstützen auf die richtige Länge ein, so dass sein gebrochenes Bein ausgestreckt zu liegen kam. Dale schloss die doppelflügelige Haustür auf, und Merrily schob Royce nach drinnen. Er legte den Kopf nach hinten, um sie anzusehen. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut es tut, wieder zu Hause zu sein.“ „Das kann ich mir vorstellen“, antwortete sie und schaute sich neugierig um. Die weite Eingangshalle besaß einen Steinfußboden. Rechts, einige Stufen höher, lag ein riesiges offenes Esszimmer mit einem langen Esstisch und schwarz bezogenen gepolsterten Lederstühlen. Über dem Tisch hing ein eindrucksvoller Leuchter, und an einer Wandseite entdeckte Merrily einen großen Kamin. Das Wohnzimmer links, diesmal einige Stufen tiefer, war mit gemütlichen Teppichen und Ledersofas eingerichtet, vor denen Glastische auf schmiedeeisernen Gestellen standen. Bronzeskulpturen und Tonarbeiten schmückten den einladenden Raum. Auch die anderen Räume waren durch Stufen abgesetzt. Dale hatte bereits Rampen besorgt, damit Royce sich mit dem Rollstuhl frei bewegen konnte. Am Ende des Hauptflures, der von der Eingangshalle abging, lag ein kleineres Zimmer mit einem Lehnsessel und einem Fernseher, der in die Wand eingelassen war. Auf der gleichen Ebene befanden sich ein weiteres Esszimmer und die Küche. Die gesamte Rückfront des Hauses war vollständig verglast und ging auf eine riesige Sonnenterrasse hinaus, hinter der sich der Wald erstreckte. In der Ferne war San Antonio zu sehen. „Unsere Krankenschwester ist gebührend beeindruckt“, kommentierte Dale trocken. Erst jetzt bemerkte Merrily, dass sie die ganze Zeit mit offenem Mund dagestanden hatte. „Royce findet, dass das Haus eines Architekten die Summe seiner besten Arbeiten in sich vereinigen sollte.“ „Dann hat er offenbar ein paar großartige Häuser entworfen.“ „Sie werden bald feststellen, dass das Haus zwar eine Menge Stufen besitzt, aber keine ganzen Treppen“, informierte Dale sie.
Merrily runzelte die Stirn. „Aber ich dachte, er sei eine Treppe hinuntergefallen.“ Dale deutete auf die Sonnenterrasse hinter dem Haus. „Draußen. Eine einzige, sehr lange und steile Treppe, die zur hinteren Auffahrt führt. Dort war es.“ „Hallo“, warf Royce gereizt ein. „Falls es euch entgangen ist, ich bin immer noch da. Hört auf, über mich in der dritten Person zu reden.“ Dale grinste in Merrilys Richtung. „Der Patient braucht dringend ein Nickerchen. Ich helfe Ihnen, den Rollstuhl die Rampe hinaufzufahren, dann zeige ich Ihnen, wo Sie den Kerl unterbringen können.“ „Ich schaffe das schon“, meinte Merrily, denn später würde sie es sowieso allein machen müssen. „Hey, immerhin bin ich noch nicht völlig hilflos“, beschwerte sich Royce und drehte den Rollstuhl mit der gesunden Hand in Position. Es war unmöglich für ihn, allein dort hinaufzukommen, und nicht nur er wusste das. Trotzdem wartete Merrily geduldig, bis er so weit war, dann schob sie ihn. Auf dieser Ebene gab es zwei Türen. Royce deutete auf eine davon und erklärte: „Hier sind die Handtücher, das Bettzeug und so weiter drin. Das da drüben ist mein Büro. Oben auf der nächsten Ebene liegen die Kinderzimmer.“ Hoffentlich merkte er ihr nicht an, wie sehr sie diese Neuigkeit schockierte. „Ich wusste gar nicht, dass sie Kinder haben“, sagte Merrily, als sie über die zweite Rampe hinweg waren. „Zwei“, erwiderte Royce. „Mein Sohn Cory ist fünf, und meine Tochter Tammy ist neun. Sie leben bei ihrer Mutter.“ Damit schien das Thema für ihn erledigt. Er deutete zu seiner Rechten. „Diese beiden Zimmer sind für Gäste. Suchen Sie sich eins aus. Sie haben beide ein eigenes Bad.“ Die dritte und letzte Rampe führte zu einer Art Galerie, von der eine doppelflügelige Tür abging. Dale stieß sie auf. Als Merrily den Rollstuhl hineingeschoben hatte, zitterten ihre Arme vor Anstrengung. Froh über die Ruhepause, sah sie sich um. Das Schlafzimmer war riesengroß. Es besaß einen Sitzbereich mit Kamin und große bleiverglaste Fenster. Eine Tür führte zu einem großzügigen Badezimmer, eine weitere in einen begehbaren Kleiderschrank, vermutete Merrily. Gegenüber dem Kamin stand ein breites Bett mit einem schmiedeeisernen Kopfteil. Vor dem Kamin befand sich ein Schaukelstuhl, und auf den hellen Holzbohlen lagen geschmackvolle Teppiche. In einer Wandnische standen Fernseher und Videorecorder, in den Regalen hatte Royce neben seinen Büchern auch zahlreiche Fotos aufgestellt. Merrily hatte keine Zeit, sich alles genau anzusehen, denn Royce zeigte Zeichen großer Erschöpfung. „Dann wollen wir Sie mal umziehen und ins Bett bringen“, beschloss sie also. Royce trug eine Jeans, die an seinem eingegipsten Bein aufgeschnitten war, und ein T-Shirt, dessen einer Ärmel ebenfalls fehlte. An seinem gesunden Fuß hing ein Hausschuh. „Dale“, sagte Royce müde, „könntest du mir aus der untersten Schublade der Kommode Shorts holen? Und meinen Morgenmantel, bitte. Er ist im Kleiderschrank.“ Dann wies er Merrily zum Badezimmer. „In dem Spiegelschrank gegenüber der Tür gibt es eine Schere. Ich glaube, in der obersten Schublade.“ Merrily eilte ins Bad. Hinter einer weiteren Tür erhaschte sie einen Blick auf eine riesige Badewanne aus gehämmertem Kupfer und eine Dusche, die aus einem einzigen runden Glasblock gestaltet war. Auf der anderen Seite erstreckte sich eine Ankleide mit mehreren Kommoden und einer Bank in der Mitte. Merrily hatte natürlich bereits gewusst, dass Royce Lawler in ganz anderen Verhältnissen lebte als sie selbst. Schließlich gehörte seine Familie zu den einflussreichsten in San Antonio. Dieses Haus bewies, dass er einen erlesenen
Geschmack hatte und das nötige Geld dazu besaß. Es war offensichtlich, dass er niemals ernsthaft an einer so durchschnittlichen Frau wie ihr interessiert sein konnte. Sie sagte sich, dass sie sich lieber auf ihre Arbeit konzentrieren und die seltene Gelegenheit genießen sollte, einmal frei von ihren anderen Verpflichtungen in einer so luxuriösen Umgebung zu leben. Auf Royce’ Anweisung hin schnitt Merrily ihm die Jeans buchstäblich vom Leib, während er passiv dasaß und Dale das Bett aufschlug. Royce trug nichts unter den Jeans und war froh, dass Merrily sich abwandte, als sie fertig war, und Dale das Ausziehen des T-Shirts überließ. Dann legte sie ihm von hinten den Morgenmantel über die Schultern, bevor Dale seinem Freund beim Aufstehen half. Royce schätzte es sehr, dass Merrily so sensibel war und ihm in seiner Hilflosigkeit nicht die Würde raubte. Es dauerte eine Weile, bis Dale ihm die Shorts angezogen hatte, und nur seine Schmerzen ließen Royce die Verlegenheit darüber vergessen. Dann stützten sie ihn beide, Dale und Merrily, und irgendwie schaffte Royce es, auf einem Bein zum Bett zu kommen. Dort halfen sie ihm, sich umzudrehen, so dass er sich setzen konnte. Vorsichtig legte er sich hin, während Merrily sein gebrochenes Bein auf die Matratze hob. Vor Erleichterung stöhnte er auf. Sein eigenes Bett, himmlisch. Er wandte den Blick zu Dale. „Zeigst du ihr bitte ihr Zimmer?“ „Klar, alter Junge.“ Royce lächelte. Auf Dale konnte er sich verlassen. Aber als er in den Schlaf glitt, brannte sich ein beunruhigendes Bild in sein Gedächtnis: sein bester Freund und Vertrauter, der einen Arm um die Schultern seines persönlichen Schutzengels legte. Dale setzte zwei Koffer mitten in dem großen, hellen Zimmer ab und fragte: „Und, wie gefällt es Ihnen?“ Merrily stellte ihrerseits zwei kleinere Reisetaschen ab und sah sich lächelnd um. Das Bett mit den vier Pfosten war hoch und breit, das helle Holz glänzte. In dem großzügig geschnittenen Zimmer befanden sich eine Kommode, ein großer Tisch mit bequemen Stühlen, und in einem Wandschrank hatte sie bereits einen Fernseher und einen CD-Spieler entdeckt. Auf dem Boden lag ein dicker, weicher Berberteppich, und das Bad war weiß gefliest und wie neu. Im Vergleich dazu kam ihr ihr eigenes Zimmer zu Hause klein und schäbig vor. „Nicht schlecht.“ Dale lachte. „Tja, was erwarten Sie sonst von dem exklusivsten Architekten der Stadt? Und dabei haben Sie noch gar nicht alles gesehen. Warten Sie, bis Sie den Pool unter der Sonnenterrasse zu Gesicht bekommen.“ „Ein Pool unter der Sonnenterrasse?“ Merrily staunte. Dale grinste. „Royce ist ziemlich erfinderisch. Jemand anderes hätte das Gelände hier vielleicht eingeebnet, bevor er gebaut hätte. Nicht so Royce. Er dagegen passte das Haus der Bodenbeschaffenheit an. Außerdem ist es doch praktisch, einen überdachten Pool zu haben. Kommen Sie, ich zeigen Ihnen den Rest.“ Merrily folgte Dale mit wachsendem Erstaunen. Als sie am Arbeitszimmer vorbeikamen, fragte sie: „Leitet er sein Unternehmen von hier aus?“ „Nein, eigentlich nicht“, entgegnete Dale. „Er hat ein Büro in der Stadt, aber meistens ist er auf den Baustellen. Hier ist trotzdem viel liegen geblieben.“ „Das kann man wohl sagen“, meinte Merrily mit einem Blick auf den unaufgeräumten Schreibtisch. Dann besichtigten sie die anderen Räume. Die Küche beeindruckte Merrily sehr. Die Arbeitsplatten waren aus Marmor, die Schränke aus wertvollem Holz, und die glänzenden Armaturen aus edlen
Materialien gefertigt. Über dem großzügigen Arbeitsplatz in der Mitte hingen an
einem schmiedeeisernen Gestell zahlreiche Töpfe und gusseiserne Pfannen.
Der Pool jedoch gefiel ihr am besten. Er war an zwei Seiten offen, konnte aber in
der kalten Jahreszeit an allen vier Seiten geschlossen werden. Als Merrily an der
langen Treppe hinauf zur Sonnenterrasse stand, konnte sie einen Schauder nicht
unterdrücken.
„Morgen kommt jemand und bringt oben ein Tor an“, teilte ihr Dale mit. „Royce
hatte das schon lange vor, aber er ist nie dazu gekommen.“
„Es ist ein Wunder, dass er es überlebt hat.“
Dale stimmte zu. „Ohne Tammy wäre er jetzt wahrscheinlich tot.“
„Seine Tochter?“
Er nickte. „Sie hat den Sturz offenbar von ihrem Fenster aus gesehen und gleich
den Notarzt gerufen, dann mich. Dann hat sie Royce eine Decke über den Körper
gelegt und ist bei ihm geblieben, bis der Krankenwagen da war.“
„Das hat sie genau richtig gemacht.“ Als Dale nichts weiter sagte, fragte Merrily
vorsichtig: „Der Unfall war sicher sehr traumatisch für sie.“
„Nur eine weitere schlimme Erfahrung nach den vielen, traumatischen
Erlebnissen, die das Kind schon hatte, fürchte ich.“ Dale wandte sich nervös ab.
„Hören Sie, Sie werden es früh genug erfahren, also kann ich es Ihnen auch
genauso gut gleich sagen. Royce’ Scheidung war und ist immer noch eine sehr
unangenehme Sache, und das alles ist für die Kinder sehr bitter, besonders für
Tammy.“
Irgendwie hatte Merrily ihrem Patienten so etwas nicht zugetraut. „Das finde ich
ziemlich schlimm.“
„Es liegt nicht an Royce“, versicherte ihr Dale. „Meiner Meinung nach ist seine
Exfrau eine wahre Schreckschraube. Sie versucht alles, um die Kinder gegen ihn
aufzuwiegeln. Seit zwei Jahren streiten sich die Eltern heftigst um das
Sorgerecht.“
„Sie meinen, er will der Mutter die Kinder, wegnehmen?“
„Er versucht, sie vor ihr zu schützen. Pamela ist schlichtweg verrückt.“
„Aber wenn das stimmt, wieso dauert es dann so lange?“
„Weil Pamela nicht nur verrückt, sondern auch sehr schlau ist.“
Merrily wollte das gern glauben, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass
Royce so grausam sein könnte, einer Mutter die Kinder zu entreißen.
Andererseits kannte sie ihn ja gar nicht. Außerdem war sie hier, um ihren Job zu
erledigen, nicht um über ihren Arbeitgeber zu urteilen. Achselzuckend wandte sie
sich zurück zum Haus. „Na ja, das geht mich wohl eigentlich nichts an.“
Hinter sich hörte sie Dale etwas murmeln, das sich anhörte wie: „Das wird sich
schnell ändern.“
Er folgte ihr ins Haus und wartete in der Küche, bis Merrily nach Royce gesehen
hatte, der inzwischen friedlich schlief. „Übrigens, wenn ich etwas einkaufen soll,
lassen Sie es mich wissen. Notieren Sie, was Sie brauchen, ich besorge es
Ihnen.“
Sowohl der Kühlschrank als auch die Vorratskammer waren gut bestückt, wie
Merrily feststellte, so dass sie nur wenig aufschreiben musste. Dale betrachtete
ihre Liste kritisch. „Okay, aber ich warne Sie: Royce trinkt keinen Kräutertee.“
Merrily lachte. „Er vielleicht nicht, aber ich. Und Sie werden sich wundern.
Kräutertees sind nicht nur gesund, sie schmecken auch gut.“
„Davon wird er sich nicht beeindrucken lassen“, beharrte Dale.
„Da bin ich anderer Meinung. Worum wetten wir?“
„Wie wär’s mit einem Abendessen?“
Merrily überlegte. „Gut. Aber hier. Wenn ich gewinne, besorgen Sie das Essen,
wenn ich verliere, koche ich.“
Dale streckte ihr die Hand hin. „Schlagen Sie ein.“
Merrily ergriff sie. „Innerhalb einer Woche, Sie werden sehen“, sagte sie fröhlich.
Er schüttelte lachend den Kopf. „Da sind Sie auf verlorenem Posten. Ich kenne
Royce doch.“
„Und ich kenne meine Kräutertees“, erwiderte Merrily siegessicher.
Dale legte den Kopf schief und betrachtete sie unverhohlen. Schließlich nickte er.
„Ja, ich kenne Royce, vielleicht sogar besser als er sich selbst, und langsam
verstehe ich auch, warum er darauf besteht, dass nur Sie ihn pflegen können.
Sie, Schwester Gage, haben nicht nur ein hübsches Gesicht“, befand er. „Sie
haben etwas sehr Beruhigendes an sich.“
Erfreut lächelte sie. „Sie können mir nicht solche Komplimente machen und mich
weiterhin Schwester Gage nennen. Sagen Sie einfach Merrily zu mir.“
Er grinste. „Gern. Und ich bin Dale.“
„Danke für Ihre Hilfe, Dale.“
„Kein Problem.“ Er steckte die Einkaufsliste ein. „Wenn das alles ist, dann mache
ich mich mal auf den Weg. Gegen sechs werde ich wahrscheinlich wieder da sein.
Oh, und wenn sich herausstellt, dass Sie unsere Wette verloren haben, hätte ich
gern einfach ein gutes Steak.“ Er winkte ihr zum Abschied.
Merrily musste lachen. Sie hatte das Gefühl, mit ihrem neuen Arbeitsplatz die
richtige Entscheidung getroffen zu haben. Sie seufzte zufrieden, dann machte sie
sich daran, das Abendessen für sich und ihren Patienten zuzubereiten.
5. KAPITEL Royce warf einen argwöhnischen Blick auf die Spritze in Merrilys Hand. Er hasste
den Zustand, in den ihn dieses Zeug versetzte, fast genauso wie die Schmerzen
und das Schwächegefühl.
„Nehmen sie die Spritze weg, ich will das nicht“, teilte er Merrily knapp mit.
Sie lächelte geduldig. „Das haben wir doch nun schon oft genug besprochen.“
„Aber das Zeug macht mich schläfrig. Und ich will jetzt nicht schlafen.“
Seufzend setzte sich Merrily zu Royce an die Bettkante. „Ich verstehe Ihre
Bedenken, aber Sie brauchen Ruhe. Schließlich sind sie körperlich noch ziemlich
angegriffen, aber nach einiger Zeit lässt das große Schlafbedürfnis wieder nach.
Und wenn ich das Medikament richtig dosiere, fühlen Sie sich dadurch bald auch
in wachem Zustand wohl – meistens jedenfalls.“
„Meistens jedenfalls?“ wiederholte er zweifelnd. „Sie meinen ‚ab und zu’.“
„Ihr Zustand wird sich von Tag zu Tag bessern“, versprach sie. „Sie wissen doch,
dass die Spritze nötig ist, warum müssen wir bloß immer wieder darüber
streiten?“
„Streiten ist besser als schlafen.“ Langsam fand er Gefallen an dieser Diskussion.
Sie roch gut, diese Schwester Merrily, nach Vanille und Zitrone, wie der Pudding,
den sie ihm gestern serviert hatte. Royce fragte sich, was sie dazu sagen würde,
wenn er sie aufforderte, sich zu ihm ins Bett zu legen. Royce vermutete, dass ein
Kuss von ihr ihn benommener machen würde als jede Spritze.
„Streiten nützt überhaupt nichts“, befand sie. „Ich bin hier, um Ihnen zu helfen,
und außerdem hat die Ärztin Ihnen diese Injektionen verschrieben.“
Was für einen Mund sie hatte, wie zum Küssen geschaffen, absolut köstlich.
Royce erinnerte sich trotz seines Zustands immer noch daran, wie sich ihre
Lippen angefühlt hatten. Allein der Gedanke daran linderte den Schmerz in seiner
Schulter und dem Bein. „Warum kann ich nicht einfach Tabletten nehmen?“
„Tabletten sind nicht stark genug.“ Merrily sprach die Worte deutlich aus. „Ich
sag Ihnen was. Heute bekommen Sie noch Injektionen, und morgen versuchen
wir es mit Tabletten, okay?“
„Also ab morgen keine Spritzen mehr?“
„Nur noch vor dem Schlafengehen.“
„Sie sind ein harter Brocken“, murmelte Royce.
„Ich will Ihnen nur die Schmerzen ersparen.“
„So schlimm ist es gar nicht“, log er.
Merrily senkte den Kopf und fixierte ihn. „Ich mag zwar jung wirken, aber sehe
ich auch dumm aus?“
Trotz der Schmerzen lächelte er. „Nein.“
„Also.“
Resigniert rollte Royce sich auf den Rücken und legte den gesunden Arm über die
Bettdecke. Alles tat ihm weh, dazu war er noch müde. Merrily desinfizierte seine
Ellbogenbeuge mit einem Wattebausch und setzte die Spritze an.
Als sie aufstehen wollte, griff Royce ohne nachzudenken nach ihrem
Oberschenkel. „Gehen Sie nicht.“ Sie erstarrte. Durch die Berührung wurde ihm
heiß und kalt, er war erregt. Abrupt ließ er Merrily wieder los. „Reden Sie mit
mir“, bat er. „Ich habe keine Lust mehr auf Selbstgespräche.“
„Worüber sollen wir denn reden?“
„Weiß nicht. Wie gefällt es Ihnen hier? Ist Ihr Zimmer in Ordnung?“
„Das Haus ist großartig, das wissen Sie selbst“, sagte sie anerkennend.
„Besonders die Küche.“
„Danke. Kochen Sie gern?“
„Sehr gern.“
„Ich auch. Am Wochenende habe ich immer gekocht.“ Bei der Erinnerung lächelte
er. „Aber am liebsten habe ich den Kindern Pancakes gemacht.“
Eine kurze Pause entstand, dann meinte Merrily: „Sie haben jedenfalls eine
wunderbare Küche. Eigentlich ist das ganze Haus wundervoll.“
„Warten Sie, bis Sie den Pool sehen.“
„Oh, Dale hat ihn mir schon gezeigt.“
„So? Und was habt ihr sonst noch gemacht?“
„Nichts weiter“, behauptete sie fröhlich.
Royce war sich sicher, dass sie ihm etwas verschwieg. „Ich glaube Ihnen nicht.“
Merrily hob die Brauen und lachte. „Na gut. Wir haben gewettet.“
„Gewettet?“
Sie lehnte sich zu ihm, das Gewicht auf eine Hand gestützt. „Dazu kann ich leider
nichts Genaueres sagen.“ Damit drückte sie sich ab und stand auf. „Sie müssen
jetzt schlafen.“
Royce’ Augenlider fühlten sich schwer an, und eine Schläfrigkeit machte sich in
ihm breit, aber er wehrte sich dagegen. „Warum erzählen Sie mir nicht von der
Wette?“
„Weil es nicht fair wäre.“
„Worum habt ihr denn gewettet?“
„Um ein Abendessen.“
Er kniff die Augen zusammen. „Er hat Sie zum Abendessen eingeladen?“
„Nein.“
Royce entspannte sich. „Sagen Sie’s mir.“ Seine Zunge war schwer von der
Wirkung des Medikaments, er konnte kaum noch sprechen.
„Versprochen“, entgegnete Merrily und strich die Laken glatt. „In ein paar
Tagen.“
Er wollte widersprechen, aber sein Gesichtsfeld verschwamm. „Gehen Sie nicht“,
murmelte er nur.
An seinem Fußende lächelte Merrily süßer als je zuvor. „Gut.“ Sie setzte sich in
den Sessel vor dem Kamin und drehte ihn zum Bett. „Ich bleibe noch ein wenig
hier sitzen.“ „…kay.“ Er seufzte, dann fielen ihm die Augen zu. Merrily war bei ihm, also konnte er beruhigt einschlafen. Royce wachte auf und stöhnte vor Schmerzen. Mühsam bewegte er sich, bis ihm ein Stich durch die Schulter fuhr. Der verdammte Gips machte es unmöglich, bequem zu liegen. Was hätte er dafür gegeben, das Knie und den Ellbogen einmal beugen zu können! Dann öffnete er die Augen und erinnerte sich, wo er war. „Wie haben Sie geschlafen?“ Royce wandte den Blick zur Seite. Dort saß Merrily zusammengerollt in seinem Schaukelstuhl, eine Zeitschrift auf dem Schoß. Er lächelte. „Gut, glaube ich.“ „Sie haben sogar das Mittagessen verschlafen. Offenbar brauchen Sie mehr Ruhe, als ich dachte.“ Sie legte das Heft beiseite und stand auf. „Hungrig?“ Merrily sah zum Anbeißen aus, aber er hielt an sich: „Sterbenshungrig.“ „Ich mache Ihnen was, wenn Sie Ihre Medizin genommen haben.“ Sie goss ihm ein Glas Wasser aus einem Krug auf dem Nachtschränkchen ein und holte eine Tablettendose aus der Tasche ihrer bequemen Jeans. Dann half sie Royce beim Aufsetzen. * Alles schien sich zu drehen. Sein eingegipster Arm pulsierte vor Schmerzen, als Royce auf die Tablette in der gesunden Hand starrte. Er führte sie zum Mund, nahm das Glas, das Merrily ihm reichte, und schluckte sie hinunter. Sie fühlte sich wie ein Ziegelstein an. „Ich muss auf die Toilette“, teilte er ihr mit, während er ihr das Glas in die Hand drückte. „Dann nehmen wir am besten den Rollstuhl“, verkündete Merrily fröhlich. „Etwas anderes wird mir nicht übrig bleiben“, murmelte Royce, während er mühsam versuchte, sich aufzusetzen. Merrily rollte den Rollstuhl heran, und als sie sich vorbeugte, um die Bettdecke zurückzuschlagen, sah Royce einen kurzen Moment lang in ihrem Ausschnitt den Ansatz der kleinen, festen Brüste und ihren Spitzen-BH. Er setzte den linken Fuß auf den Boden und richtete sich auf. Zu früh. „Na, na.“ Gerade noch erwischte sie seine Taille. Einen Augenblick lang überlegte Royce, ob er sich nicht mitsamt Merrily zurück aufs Bett fallen lassen sollte, doch angesichts seiner Schmerzen und der Gipsverbände verzichtete er lieber. Stattdessen drehte er sich und setzte sich umständlich in den Rollstuhl, bevor Merrily ihn zum Badezimmer schob. „Ich komme schon allein zurecht“, teilte er ihr mit, als sie ihn bis vor die Toilette gebracht hatte. Merrily stellte die Bremse fest, so dass sich Royce hochstützen konnte, und schloss die Tür hinter ihm. Als er fertig war und wieder im Rollstuhl saß, rief er sie, und Merrily rollte ihn ans Waschbecken, damit er sich die Hände waschen konnte. Beim Anblick seines eingefallenen, unrasierten Gesichts im Spiegel war Royce geschockt. „In der zweiten Schublade dort sind Zahnbürste, Kamm und Rasierapparat“, sagte er und zeigte auf ein Schränkchen. Merrily holte ihm die Sachen. Die Zähne konnte er sich gerade noch putzen, aber beim Rasieren verließen ihn die Kräfte. Schweigend nahm ihm Merrily das Gerät aus der Hand und beendete geschickt die Rasur. „Das machen Sie nicht zum ersten Mal, oder?“ fragte er. „Mein Bruder Lane hat sich einmal den rechten Daumen gebrochen und das linke Handgelenk gezerrt, als er einen Handstand machen wollte. Betrunken natürlich.“ „Ach so.“ „Und Jody hat sich einmal beide Hände auf der heißen Motorhaube verbrannt. Eine Woche lang habe ich ihm die Zähne geputzt.“ „Und wer ist Jody?“
„Mein ältester Bruder.“
„Hört sich an, als wären diese Brüder gut bei Ihnen versorgt.“
„Wahrscheinlich sogar zu gut“, gestand Merrily seufzend. „Sie hätten hören
sollen, was die drei für einen Aufstand gemacht haben, als ich ihnen sagte, dass
ich eine Weile nicht da sein würde.“
Royce hob die Augenbrauen. „Haben Sie Ihnen nicht gesagt, dass es sich um
einen Job handelt?“
„Doch. Aber ohne mich müssen sie ihre Wäsche selbst waschen, sich das Essen
kochen und putzen. Aber keine Sorge. Sie plustern sich nur auf, im Endeffekt
steckt nichts dahinter.“ Merrily legte den Kamm beiseite.
Was Royce im Spiegel sah, gefiel ihm schon viel besser. „Wieso leben Sie immer
noch alle zu Hause?“ wollte er wissen.
Merrily zuckte die Schultern und räumte die Utensilien weg. „Das ist eben so bei
uns. Mein Vater ist recht konservativ, und meine Mutter war immer da, um sich
um den Haushalt zu kümmern. Als meine Brüder und ich erwachsen waren, legte
Dad großen Wert darauf, uns nach wie vor in seiner Nähe zu wissen. Er meinte,
eine Familie muss zusammenhalten, aber ich glaube, er wollte uns in Wirklichkeit
weiterhin unter Kontrolle haben. Na ja, momentan reist er jedenfalls mit meiner
Mutter in einem Caravan durch die Staaten, und wir haben ihm versprochen,
füreinander zu sorgen.“
„Sieht mir eher so aus, als würden Sie für die drei anderen sorgen“, befand
Royce.
„Ja“, pflichtete Merrily ihm bei, „und das war mit ein Grund, weswegen ich hier
bin.“
„Mit ein Grund?“
Sie hob die Schultern. „Es kam mir gerade recht.“
Er spürte einen Stich, diese Aussage enttäuschte ihn irgendwie. Es kam ihr also
gerade recht. Warum wurmte ihn das? Was hatte er denn erwartet? Dass sie
seinen blauen Augen nicht widerstehen konnte und bei ihm blieb, bis er alle seine
Kräfte wieder beisammen hatte?
Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. „Möchten Sie jetzt etwas essen?“ erkundigte
sich Merrily.
„Gern.“
Sie fuhr ihn an den Tisch am Fenster, wo er manchmal abends die Zeitung las,
und gab ihm die Architekturzeitschrift, die sie vorhin gelesen hatte. Mit einem
Blick auf die Haussprechanlage an der Wand sagte sie: „Ich bin gleich zurück.
Schaffen Sie’s zur Anlage, wenn Sie mich brauchen?“
„Ich glaube schon.“
Zehn Minuten später kehrte Merrily mit einem Teller Suppe und einigen Crackern
zurück.
„Ich hoffe doch, dass das nicht der einzige Gang bleibt?“ fragte Royce.
„So hungrig?“
„Ich hatte auf ein fünf Zentimeter dickes Steak und gebackene Kartoffeln
gehofft.“ Und mit einem Blick auf die helle Flüssigkeit in seiner Tasse: „Und
Kaffee, starken schwarzen Kaffee.“
Gespielt streng stemmte Merrily die Hände in die Hüften. „Ich sag Ihnen mal
was. Wenn Sie die Suppe und den Tee brav zu sich nehmen, will ich sehen, was
sich machen lässt.“
„Sehen Sie nur zu, dass Sie das schaffen, bevor ich mit der Suppe fertig bin,
sonst verspeise ich noch die Serviette“, bemerkte er trocken und fing an zu
löffeln.
„Der Patient hat also einen gesunden Appetit“, verkündete Merrily.
„Mm.“ Die Suppe war richtig gut, nicht aus der Dose. Die Flüssigkeit in der Tasse
hingegen fand Royce eher verdächtig. Daher aß er zuerst die Suppe auf, dann roch er an der Tasse. Es roch nicht unangenehm, ein wenig nach Zimt vielleicht. Vorsichtig probierte er. Es schmeckte fruchtig und nach Honig. Nicht schlecht. Bis Merrily zurückkehrte, hatte er alles ausgetrunken. Lächelnd setzte sie ihm das Steak vor und füllte seine Tasse nach. „Und, hat’s geschmeckt?“ „Ziemlich gut sogar“, erwiderte er und wollte zu Gabel und Messer greifen, als er merkte, dass er das mit der verbundenen Hand nicht schaffen würde. Merrily nahm das Messer und wartete, bis Royce die Gabel ins Fleisch stieß und sie Stück für Stück abschneiden konnte. Ungeduldig schob er sich einen Happen in den Mund. „Hm!“ Als er fertig gegessen hatte, trank er die zweite Tasse Tee und lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer zurück. „Jetzt geht’s mir besser.“ Lächelnd stellte Merrily das Geschirr zusammen. „Das mag jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für meine Frage sein, aber was möchten Sie zum Abendessen?“ „Tja…“ Er überlegte. „Ich lasse mich gern überraschen.“ „Wie wär’s mit chinesisch?“ Anerkennend sah er sie an. „Das wäre toll.“ Merrily stand auf. „Haben Sie ein Lieblingsgericht?“ Um ihre Kochkünste auf die Probe zu stellen, sagte er: „Ente.“ Ihr Lächeln wurde unsicher. „Ich gebe das mal an Dale weiter.“ Royce runzelte die Stirn. „Dale?“ „Ja. Er hat eine Wette verloren.“ Sie klopfte an die Tasse. „Übrigens, wie hat Ihnen das hier geschmeckt?“ „Gut. Was war es denn?“ „Kräutertee.“ Sie lachte. „Kräutertee?“ Royce war fassungslos. „Ich trinke keinen Kräutertee. Nie!“ „Ich weiß. Das hat mir Dale auch gesagt.“ Langsam dämmerte es ihm. „Und Sie haben mit ihm gewettet, dass Sie mich dazu bringen.“ Merrily lächelte nur. „Wollen Sie immer noch chinesisch?“ Royce musste lachen. Schließlich hatte sie ihn nicht gezwungen, den Tee zu trinken, sondern ihn ihm einfach hingestellt. Das gefiel ihm. „Sagen Sie ihm, er soll zu Chung Pao’s Garden fahren. Die Ente dort ist zwar nicht die beste, aber die teuerste.“ Das amüsierte Merrily. „Ehrlich gesagt, hatten wir uns noch gar nicht darüber geeinigt, wann genau der Verlierer seine Wettschulden bezahlen muss. Kann also sein, dass wir uns heute Abend mit dem Hähnchen begnügen müssen, das gerade in der Küche auftaut.“ „Nur eins?“ „Vielleicht gibt es ja noch etwas dazu“, neckte sie ihn und wandte sich zum Gehen. „Wissen Sie“, sagte Royce zufrieden, „das ist es fast wert, eine Treppe hinunterzufallen: Kräutertee von einer so schönen Frau serviert zu bekommen.“ Die Teller auf Merrilys Arm schwankten gefährlich, dann fielen sie auf den Teppich. Peinlich berührt, sammelte sie sie auf, während Royce sich auf die Lippen biss, um nicht zu lachen. Doch als sie sich noch einmal bückte, um den Löffel aufzuheben und ihm dabei ihren verlockenden Po in den Jeans entgegenreckte, fuhr es ihm direkt in die Lenden. Er wandte den Blick ab, aber es half nichts. „Entschuldigung“, murmelte sie und eilte davon. Royce hatte das Gefühl, dass eher er sich entschuldigen müsste. Seine Krankenschwester war ja unheimlich leicht aus dem Konzept zu bringen! Aber nicht nur das, sie war auch unheimlich gut in ihrem Job. Und unheimlich
faszinierend. Wenn er nicht aufpasste, käme er bald nicht mehr ohne sie aus,
und das durfte auf keinen Fall passieren.
Als sie wiederkam, schüttelte sie sein Bett auf. „Und, möchten Sie jetzt
schlafen?“
Er schnitt eine Grimasse: „Ich bin müde, ich gebe es zu. Aber am meisten
ermüdet es mich, die ganze Zeit im Bett zu liegen.“
„Wie wäre es dann mit dem Lehnstuhl unten im Wohnzimmer?“ schlug Merrily
vor.
„Ja, bitte, Schwester Gage. Sie sind ein Engel.“
Merrily schlüpfte hinter den Rollstuhl und schob an. „Oh, danken Sie mir lieber
noch nicht. Warten Sie, bis ich Sie beim Rommee schlage.“
„Beim Rommee?“
„Oder haben Sie einen besseren Vorschlag?“
Ohne Zweifel, aber leider war er dazu nicht fähig. „Wieso glauben Sie, Sie
können mich beim Rommee besiegen?“
„Wollen wir wetten?“
Royce grinste. „Ich wette lieber nicht mit Ihnen.“
„Gute Antwort.“
Lachend lehnte er sich zurück und ließ sich fahren.
6. KAPITEL „So müsste es gehen“, meinte Merrily, in der Hand eine Rolle Klarsichtfolie,
„zumindest bis die Wasserschutzhülle für den Gips da ist, die ich bestellt habe.
Der Verband darf auf keinen Fall nass werden.“
„Also nur eine halbe Dusche“, stellte Royce unsicher fest.
Merrily sah an den Ringen unter seinen Augen, wie erschöpft er noch immer war,
obwohl er vor dem Abendessen wieder geschlafen hatte. „Ja. Am besten setzen
Sie sich mit dem Rücken zur Wand auf den Wannenrand. Breit genug ist er ja.
Das rechte Bein legen Sie hoch, und mit dem linken halten Sie Ihr Gleichgewicht,
während ich Sie einseife und abdusche.“
„Das mache ich lieber allein“, widersprach er heftig.
„Bitte“, entgegnete Merrily und machte sich daran, das Bein in Folie zu wickeln.
„Wie Sie meinen.“
Oberhalb des Gipses befestigte sie die Folie mit einem Gummi, wobei sie darauf
achtete, dass sie nicht die Blutversorgung abschnürte. Es war zwar nicht perfekt,
aber für dieses eine Mal würde es halten. Den Rest der Folie wickelte sie Royce
um die eingegipste Schulter und den Arm.
„Seien Sie vorsichtig beim Abduschen. Der Gips darf wirklich nicht nass werden.“
„Aber Sie bekommen bestimmt ein paar Spritzer ab.“
„Ich werde mich schon nicht auflösen. Und jetzt ziehen Sie sich aus“, entgegnete
sie fröhlich.
„Wenn Sie denken, ich ziehe mich hier vor Ihnen nackt aus, haben Sie sich aber
getäuscht.“
Merrily kämpfte mit einem Lächeln und wurde ein wenig rot. „Legen Sie sich ein
Handtuch über den Schoß.“ Nachdem er sich mühsam das T-Shirt ausgezogen
hatte, gab sie ihm ein Handtuch, das er sich um die Hüfte wickelte. Danach
entledigte er sich umständlich der Shorts darunter. Als er endlich einigermaßen
bequem auf dem Wannenrand saß, drehte Merrily das Wasser an, zog sich
Schuhe und Socken aus und setzte sich mit den Beinen nach innen auf den
äußeren Rand der Badewanne.
„Ist es so okay?“
„Nur zu“, murmelte er. Merrily seifte einen Waschlappen ein, damit Royce sich abreiben konnte, während sie versuchte, anderswohin zu sehen als auf seinen muskulösen gebräunten Oberkörper. „Als ich das letzte Mal mit einer Frau gebadet habe, hat es mir mehr Spaß gemacht“, bemerkte Royce trocken. Merrily ließ den Duschkopf fallen, so dass der Wasserstrahl ihr in hohem Bogen entgegenspritzte. Royce lachte, als sie sich schamesrot die Tropfen aus dem Gesicht wischte. „Das sollten Sie sich aber abgewöhnen“, riet er ihr. Sie sah auf. „Was?“ „Jedesmal einen Schreck zu bekommen, wenn ich Ihnen ein Kompliment mache.“ Merrily wandte den Blick ab. „Haben Sie mir gerade ein Kompliment gemacht?“ fragte sie und tat dabei ganz überrascht. „Ja, auch wenn Sie es ignorieren.“ „Ich weiß. Ich… ich meine, danke.“ „Gern geschehen.“ Royce reichte ihr den Waschlappen. „Und jetzt duschen Sie mich bitte ab“, fügte er ermüdet hinzu. Merrily spülte den Waschlappen aus und stand auf, um vorsichtig die Seife von Royce’ rechter Seite abzuspülen. Als sie ihr Gewicht verlagern musste, um seinen Rücken zu erreichen, glitt sie auf dem Boden der Wanne aus. „Achtung!“ Royce griff ihr rechtzeitig mit dem linken Arm um die Taille, und Merrily musste schlucken, als die feuchte Hitze seiner Hand durch ihr T-Shirt drang. „Solange ich nicht auf sie drauf falle“, murmelte sie. „Ach, ich weiß nicht. Vielleicht würde mir das ja gefallen“, zog er sie auf. Ohne Erwiderung drehte sich Merrily nach dem Duschkopf um, doch Royce ließ seinen Arm, wo er war, so dass seine Hand über ihren Bauch glitt. Der Atem stockte ihr. Es war, als gösse er flüssige Hitze in ihren Bauch, die langsam nach oben stieg. Merrily lehnte sich vor, um Royce den Rücken abzuduschen, dann seine Brust. Als ihr Blick auf die Erhebung unter dem Handtuch über seinem Schoß fiel, ließ sie wieder den Duschkopf fallen. Der Wasserstrahl spritzte ihre ganze Hose nass. Merrily rang nach Luft. „Raus aus der Wanne, bevor Sie sich noch den Hals brechen!“ schimpfte Royce verärgert und ließ sie los. Das musste er ihr nicht zweimal sagen. Während er sich unter dem Handtuch wusch, trocknete sie sich ab und drehte das Wasser ab, als er fertig war. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, ging es ans Ankleiden. Mit der gesunden Hand stützte sich Royce auf Merrilys Schulter, und Merrily legte ihm einen Arm um die Hüfte, damit ihm das Handtuch, das er sich umgewickelt hatte, nicht herabfiel. Plötzlich sah sie ihm ins Gesicht. Einen Moment lang schlug sie der Blick aus seinen blauen Augen in Bann, und sie hielt den Atem an, überzeugt, Royce würde sie gleich küssen. Doch dann sog er tief die Luft ein, und die Realität hatte sie wieder. Als Merrily bemerkte, dass er zitterte, half sie ihm eilig in den Rollstuhl. „Die können Sie später anziehen“, sagte sie so krankenschwesterlich wie möglich und warf ihm frische Shorts auf den Schoß. „Ich bringe Sie erst einmal wieder ins Bett.“ „Ist mir recht“, entgegnete Royce müde und versuchte sich die Plastikfolie vom Bein zu schälen. „Ich möchte nicht wissen, wie ich rieche wenn der Gips wieder runterkommt.“ „Ich klemme Ihnen einfach eine Wäscheklammer auf die Nase und stehe mit einem Deospray bereit“, neckte sie ihn.
Müde lachte er. „Ihnen fällt immer eine Lösung ein.“
„Das ist mein Job.“
„Nein, das ist einfach Ihre Art.“
Neben dem Bett stellte sie die Bremsen fest und schüttelte die Decke auf.
Royce gab ihr die Shorts. „Die ziehe ich nachher an. Ich gehe einfach so ins Bett
und hoffe mal, dass Sie nicht heimlich unter die Bettdecke sehen“, sagte er.
„Das war ein Witz“, fügte er schnell hinzu, als er Merrilys fassungslosen Blick
bemerkte.
„Ich weiß“, erwiderte sie leichthin, hob das Kleidungsstück auf und hoffte, dass
Royce nicht die Farbe bemerkte, die auf ihren Wangen brannte.
Als sie ihm beim Hinlegen half, meinte er versöhnlich: „Ich war vorhin ein wenig
schroff. Es tut mir Leid. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie nie die Geduld
mit mir verlieren.“
„Ich kann Sie gut verstehen“, sagte Merrily. „Sie machen sich Sorgen um Ihre
Kinder.“
„Sehr sogar“, bestätigte er, dann griff er mit seiner linken Hand nach ihrem
Pferdeschwanz und zog ihren Kopf näher zu sich heran. Sein Blick war vor
Schmerzen und Erschöpfung getrübt, doch darunter loderte etwas anderes. „Aber
das drängendere Problem sind Sie, süße Krankenschwester“, sprach er sanft.
„Sie sind eine große Versuchung, das wissen Sie doch, oder?“
Merrily riss die Augen auf. „V-Versuchung?“
„Eine große Versuchung“, wiederholte Royce. „Und wir haben beide Glück, dass
ich nicht imstande bin, ihr zu erliegen.“ Er ließ sie los und strich ihr mit dem
Daumen leicht über die Lippen, bevor er die Hand plötzlich fallen ließ. „Wie wäre
es mit einer Tasse von diesem Tee?“ fragte er. „Ich könnte jetzt etwas
Entspannendes gebrauchen.“
„Ich… ja.“ Merrily sprang auf und wäre auf dem Weg zur Tür beinahe über den
Rollstuhl gefallen.
Als sie einige Minuten später mit dem Tee wiederkam, schlief Royce schon fest.
Sie nahm die Tasse mit in ihr eigenes Zimmer und versuchte nicht daran zu
denken, was passieren würde, wenn ihr Patient eines Tages doch der Versuchung
erliegen würde, von der er gesprochen hatte.
Royce ging es allmählich immer besser, daher musste sich Merrily ständig etwas
Neues einfallen lassen, um ihn bei Laune zu halten. Sie versuchte es mit
Kartenspielen, Kreuzworträtseln und Brettspielen aus Tammys Zimmer.
Eines Abends sahen sie gemeinsam fern, als Dale kam. Er brachte einige Bücher
mit, die er auf ein Regal packte. Dann warf er Royce eine neue Schachtel
Kräutertee auf den Schoß. „Du Verräter!“
Royce grinste. „Hey, vorsichtig, ich bin ein armer, hilfloser Kranker!“
„Klar. So hilflos wie eine Klapperschlange ohne Klapper.“ Mit gespielter Besorgnis
wandte sich der schlaksige Mann an Merrily. „Fallen Sie bloß nicht auf seinen
Charme herein. Er hat immer noch seine Giftzähne.“
„Fragt sich bloß, wer hier wessen Charme erliegt“, bemerkte Royce trocken. „Es
handelt sich wohl eher um eine Schlangenbeschwörung.“
„Ah, das erklärt natürlich einiges.“ Dale drohte Merrily, die sich bestens
amüsierte, scherzhaft mit dem Finger. „Das ist aber nicht fair, Schwester Merrily.
Sie haben die Schlange dazu verführt, ihr ruchloses Gebräu zu trinken.“ Damit
meinte er den Kräutertee.
„Gib’s auf, Dale“, sagte Royce. „Die Ente musst du bezahlen.“
Merrily lachte, und Dale schnitt ein Gesicht. „Sehr witzig. Diese Wette geht dich
gar nichts an, also auch nicht der Einsatz.“
„Nicht?“ grollte Royce. „Schließlich war ich maßgeblich am Ausgang beteiligt,
steht mir da nicht auch eine Belohnung zu?“
„Schön. Ich schicke dir ein paar Bonbons vorbei. Merrily kann mit mir Ente essen
gehen.“
Royce’ Miene verdunkelte sich, und Merrily versuchte zu schlichten. „Wir hatten
doch eigentlich um ein ganz einfaches Essen hier bei Royce gewettet, entweder
selbst gekocht oder aus dem Außer-Haus-Verkauf.“
„Dann lege ich eben noch etwas drauf.“
„Und ich?“ beschwerte sich Royce. „Wollt ihr mich solange in den Kleiderschrank
sperren? Oder wollt ihr mich diesmal die Treppen hinunterstürzen, damit ihr mich
endgültig los seid?“
Merrily blieb fast das Herz stehen. „Sie sind hinuntergestürzt worden?“
Dale und Royce tauschten einen unsicheren Blick. Schließlich räusperte Royce
sich. „Das habe ich nicht gesagt.“
„Doch, das haben Sie.“
„Es war ein Witz“, versuchte er das Gesagte zu verharmlosen.
Merrily starrte ihn an. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wieso
jemand Royce die Treppe hinunterstürzen sollte. „Was ist passiert?“
„Ich… ich weiß nicht.“ Sein Blick schweifte ab. „Ich kann mich nicht mehr
erinnern.“
„Wissen Sie, wer es war?“
„Wie ich schon sagte, ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern.“
„Oh, ich bitte dich“, mischte sich Dale angeekelt ein. „Wir wissen doch beide,
dass es Pamela war.“
„Das ist deine Theorie“, gab Royce zurück. „Glaubst du nicht, dass ich etwas
unternehmen würde, wenn ich mir so sicher wäre, was in dieser Nacht geschehen
ist?“
„Nicht, wenn das hieße, dass Tammy gegen ihre Mutter aussagen müsste“, sagte
Dale leise.
Royce wandte den Blick ab. Merrilys Herz zog sich zusammen. Das arme Kind!
Hatte Tammy tatsächlich mit ansehen müssen, wie ihre Mutter ihren Vater die
Treppen hinunterstieß?
„Was ist eigentlich mit dem Therapeuten, den du für sie suchen solltest?“ fragte
Royce.
Dale seufzte. „Der Kinderarzt war dafür, aber Pamela sperrt sich dagegen. Die
Sache wird wohl vor den Richter kommen.“
„Und in der Zwischenzeit leidet Tammy weiter“, schloss Royce bitter. Er fuhr sich
mit der Hand durchs Haar. „Wenn Pamela mich nur einmal mit Tammy reden
ließe, könnte ich ihr vielleicht helfen.“
„Ich weiß“, sagte Dale. „Wir müssen den nächsten Besuchstermin abwarten, und
wenn Pamela den nicht einhält, dann wenden wir uns ans Gericht.“
„Aber sie hat doch schon den letzten Termin nicht eingehalten.“
Dale hob beschwichtigend die Hände, „ja, aber du warst im Krankenhaus. Pamela
kann sich darauf berufen, dass die Situation für die Kinder zu belastend war. Hab
einfach noch etwas Geduld.“
„Ich weiß schon, wie das ausgehen wird“, meinte Royce verbittert. „Pamela wird
es wieder über Wochen hinziehen und sich dann schließlich in letzter Minute doch
kooperativ zeigen. Dann sieht es am Ende wieder so aus, als hätte ich ihr ganz
unbegründete Vorwürfe gemacht.“ Er seufzte erschöpft.
„Ich sehe zu, was sich machen lässt“, besänftigte ihn Dale. Dann wandte er sich
an Merrily. „Sie und ich, Schwester Merrily, unterhalten uns dann später über die
Ente.“
„Du“, fuhr Royce auf, „wirst meine Pflegerin in Ruhe lassen. Und jetzt raus, du
Schürzenjäger, ich muss mich ausruhen.“
„Ist er immer so reizend?“ Dale ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Noch viel reizender“, erwiderte sie lächelnd.
Mit einem Blick auf Royce stemmte Dale die Hände in die Hüften. „Wusste ich’s
doch.“
„Wieso bist du eigentlich nicht diese Treppe hinuntergefallen?“ wollte Royce
wissen. „Wenn du dir dabei genug Knochen brichst, isst sie vielleicht sogar öfter
mit dir.“
„Du bildest dir was ein, Kumpel. Ich habe dir noch nie etwas weggenommen, also
bring mich nicht dazu, jetzt damit anzufangen.“ Augenzwinkernd wandte sich der
Rechtsanwalt an Merrily. „Bis später, liebe Schwester. Rufen Sie mich an, wenn
Sie mich brauchen.“
Royce schnaubte, als er ging.
Merrily lachte. „Kabbeln Sie sich immer so?“
„Ja.“
„Er scheint ein guter Freund zu sein.“
Royce nickte. „Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn täte… oder ohne Sie.“
„Mich können Sie bei jeder Agentur ersetzen“, konterte sie, während sie
aufstand. „Aber ein guter Freund ist unersetzlich.“
„Dann sind auch Sie meine Freundin, nicht nur meine Krankenschwester“, stellte
Royce fest, während sie den Rollstuhl vor den Lehnsessel schob. „Ich kann mir
nämlich nicht vorstellen, dass irgendjemand anderes das für mich tun würde,
was Sie für mich tun.“
„Ich tue nichts anderes als jede andere Krankenschwester auch“, erklärte Merrily
und half ihm in den Rollstuhl.
„Klar. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie Oberschwester Lydia mit mir in der
Wanne sitzt.“
Bei dem Gedanken an ihre laute, stämmige Vorgesetzte musste Merrily lachen.
Dann löste sie die Bremse und schob Royce zur Tür. „Soll ich Ihnen die Bücher
hochbringen, die Dale mitgebracht hat?“
„Nein, ich bin zu müde, um noch zu lesen, obwohl ich wieder den ganzen Tag
geschlafen habe.“
„Das wird sich bald bessern“, versprach sie. „Sie müssen nur Geduld haben.“ Ihn
die Rampen hinaufzuschieben war anstrengend, und sie musste ihre ganze Kraft
dafür zusammennehmen. Sie waren fast oben, als Royce fragte: „Werden Sie
denn wirklich mit meinem besten Freund ausgehen?“
Merrily blieb stehen. „Wie bitte?“
Royce wandte den Kopf und sah sie an. „Er ist beliebt bei den Frauen, unser
Dale. Selbst Pamela mochte ihn anfangs. Und so wie mit Ihnen habe ich ihn noch
nie flirten sehen.“
Hitze schoss Merrily in die Wangen. „Ach, das ist kein Flirten. Ich würde es eher
Scherzen nennen.“ Sie schob wieder an.
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet“, beharrte Royce. „Werden Sie mit
meinem besten Freund ausgehen?“
„Ich… ich weiß nicht. Ich… nein“, entschied sie plötzlich. „Nein, ich werde nicht
mit ihm ausgehen, und ich weiß auch nicht, warum Sie mir eine solche Frage
stellen.“
„Weil er offensichtlich Interesse an Ihnen hat. Ich kenne ihn gut.“
Merrily schüttelte den Kopf, denn sie begriff genau, worauf Royce hinauswollte.
„Hören Sie mal“, teilte sie ihm mit, „ich würde niemals meine Pflichten hier
vernachlässigen.“
„Das habe ich Ihnen auch nicht unterstellt. Ich wollte nur wissen, ob Sie an
einem gewissen Rechtsanwalt ein romantisches Interesse haben. Immerhin ist er
Single, erfolgreich, charmant, unterhaltsam und ein guter Freund.“
Was bezweckte Royce eigentlich mit diesem Verhör? „Ich bin mir sicher, dass das
alles zutrifft“, begann Merrily, „aber unglücklicherweise ist er eben nicht…“ du.
Erschüttert über ihre eigenen unvernünftigen Gedanken, schob sie den Rollstuhl
in einem heftigen Schwung die letzte Rampe hinauf.
„… ihr Typ“, beendete Royce den Satz für sie.
„Genau.“
Er nickte, aber da sie sein Gesicht nicht sah, konnte das alles bedeuten. „Dann
sollten Sie ihm vielleicht sagen, dass Sie nicht mit ihm ausgehen.“
Verwirrt und etwas verärgert schob sie den Rollstuhl ins Zimmer, dann trat sie
vor Royce. „Was haben Sie eigentlich?“
Er sah sie einen Augenblick lang an, dann versuchte er selbst weiterzufahren.
„Ich habe Augen im Kopf. Und ich beneide ihn.“
„Sie beneiden ihn?“ wiederholte Merrily erstaunt.
Royce hielt den Rollstuhl an. „Dale ist gesund, unbelastet und frei zu tun, was er
tun möchte“, sagte er mit rauer Stimme. „Und ich nicht.“
„Und deswegen missgönnen Sie ihm ein Date?“
„Nein. Aber ich missgönne ihm ein Date mit Ihnen“, gestand er freiheraus.
Merrily schlug das Herz bis zum Hals. Ihr Puls ging heftig, als sie antwortete. „Sie
werden auch wieder gesund u-und…“
„Gesund, ja“, unterbrach er sie und sah weg. „Unbelastet, nein. Ich werde nie
ganz frei von Pamela sein.“
„Ich… ich verstehe das nicht Sie sind doch geschieden.“
„Auf dem Papier.“ Royce sah sie geradeheraus an. „Aber machen Sie sich keine
Illusionen, dass ich Pamela jemals ganz aus meinen Leben streichen kann.“
Merrilys Hoffnungen schwanden. Dann liebte er seine Ehefrau also noch? Konnte
er die Frau, die ihn die Treppe hinuntergestoßen hatte, noch lieben? Wollte er
etwa deswegen nicht zugeben, dass sie es gewesen war?
„Pamela ist… na ja, sie ist auf eine bestimmte Weise sehr… fordernd. Ich weiß
nicht, wie ich mich davon frei machen kann. Ich möchte schon, aber…“
„… Sie ist die Mutter Ihrer Kinder“, flüsterte Merrily.
„Ja, aber das ist nicht alles. Wenn Pamela jemanden erst einmal am Haken hat,
dann lässt sie ihn nicht mehr los. Nie mehr. Ob Sie wollen oder nicht.“
Merrily seufzte, ja, sie verstand voll und ganz, was Royce meinte. Er fand sie
zwar attraktiv, aber er liebte seine Exfrau noch und würde es immer tun, egal
wie dumm das war.
„Ich verstehe“, sagte sie, ohne ihm ihre Enttäuschung zu zeigen. „Und jetzt
bringe ich Sie ins Bett, okay?“
Seufzend nickte er. Merrily verbarg sorgfältig ihren Schmerz und machte sich
daran, ihren Job zu erledigen.
7. KAPITEL „Ihre Eltern sind da.“ Royce saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher und schaltete die Nachrichten aus, bevor er sich umdrehte, um seine Eltern zu empfangen. Hinter ihnen stand Merrily, die ihm einen beruhigenden Blick voller Verständnis zuwarf. Die Zeit, die Royce bisher zu Hause verbringen musste, bis auf einen kurzen Besuch bei der Ärztin, war unerwartet angenehm vergangen. Merrilys natürliche Heiterkeit und ihr freundliches Wesen hatten eine Oase der Ruhe in seinem unruhigen Leben geschaffen. Wenn er sich nicht solche Sorgen um Tammy und Cory machen müsste, wäre er fast glücklich gewesen – abgesehen von seinen Verletzungen und dieser nicht ganz greifbaren, aber ständig präsenten sexuellen Anziehungskraft, die sich immer in den unpassendsten Momenten bemerkbar
machte.
Erst gestern Abend, als Royce schon fast eingeschlafen war, hatte ihn ein
Hustenanfall wieder geweckt. Einen Augenblick später war Merrily in sein Zimmer
geschlüpft, ohne das Licht anzuschalten. Mit nackten Füßen, das dichte Haar
offen über den Schultern, trat sie an sein Bett und reichte ihm ein
Hustenbonbon. Außer den offenen Haaren und den bloßen Füßen war alles wie
sonst, und das Ganze hatte nicht länger als eine halbe Minute gedauert, aber
Royce hatte noch lange wach gelegen, starr vor unstillbarem Verlangen.
Und jetzt stand sie da und ließ ihn auf ihre Art wissen, dass sie nur zu gut
verstand, wie es ihm jetzt gehen musste. Jetzt, wo seine Eltern da waren. Er
hätte sie küssen können. Aber das hätte er ohnehin am liebsten zu fast jeder
Tages- und Nachtzeit getan.
„Danke, Merrily.“
„Oh. Ja, danke Ihnen“, beeilte sich Katherine Lawler zu sagen und trat in den
Raum.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“
„Nein, danke, Merrily“, antwortete Royce für seine Eltern, „jetzt nicht.“ Das fehlte
noch, dass seine Eltern ihr Arbeit machten. Merrily verschwand leise.
„Ich werde mich mal an der Bar bedienen“, erklärte sein Vater.
„Es ist doch noch nicht einmal Mittag“, schalt ihn Katherine.
„Dann ist das eben der Aperitif“, gab Marvin Lawler zurück und sah auf seine
teure Armbanduhr.
Katherine schnaubte und ließ sich auf dem Sofa gegenüber Royce’ Lehnsessel
nieder und verschränkte die Arme, während sich Marvin einen Drink eingoss.
„Sag mal, Royce, findest du nicht, dass dieses Mädchen zu jung ist, um hier bei
dir zu wohnen?“
Royce lächelte grimmig. „Danke für das Interesse, Mutter. Mir geht es schon
besser, und wie geht es dir?“
„Lass das“, entgegnete Katherine Lawler schnippisch. „Mit einem Mädchen wie ihr
könntest du in Teufels Küche geraten.“
„Merrily ist sechsundzwanzig.“
„Aha. Und was hat sie außer ihrem hübschen Gesicht noch zu bieten?“
„Oh, ich versichere dir, dass Merrily viel mehr als ein hübsches Gesicht zu bieten
hat“, sagte er lauter als beabsichtigt. Aus der Küche folgte ein wohl vertrautes
Scheppern.
„Was war denn das, um Himmels willen?“
„Merrily macht wohl gerade das Mittagessen“, erwiderte Royce fröhlich. Dann
senkte er die Stimme. „Sie ist nämlich eine ziemlich gute Köchin, weißt du.“
„Dann sollten wir sie vielleicht anstellen“, mischte sich sein Vater ein. „Unser
Mädchen bringt nicht mehr als Reis, Bohnen und ab und zu ein Steak zustande.“
Das „Mädchen“ war, wie Royce wusste, fast fünfzig und von einem der besten
Lokale der Stadt abgeworben worden. „Merrily ist keine professionelle Köchin,
Vater. Sie ist Krankenschwester von Beruf, und ich wüsste nicht, was ich ohne
sie täte. Und jetzt würde ich euch gern um einen Gefallen bitten.“
„Wirklich? Gibt es denn etwas, was deine kleine Mary nicht kann?“ fragte seine
Mutter provozierend.
„Sie heißt Merrily, und glaub mir, Mutter, wenn sie es könnte, würde ich dich
sicher nicht darum bitten“, erwiderte er gereizt.
„Worum geht es, Royce?“ fragte sein Vater, der sich gerade den dritten „Aperitif“
einschenkte.
„Sorgt dafür, dass ich die Kinder sehen kann. Es ist jetzt schon fast zwei Wochen
her.“ Royce wusste genau, dass seine Eltern ihre Enkel regelmäßig besuchten,
auch wenn ihr Verhältnis zu Pamela nicht das allerbeste war.
Marvin und Katherine schienen unangenehm berührt. Schließlich räusperte sich seine Mutter. „Wir, ahm, wir würden ja gern, Royce, aber… na ja, ich will nicht länger um den heißen Brei herumreden: Tammy weigert sich, dich zu besuchen.“ „Ja“, ergänzte Marvin. „Und diesmal geht das nicht von Pamela aus, sondern von Tammy selbst. Sie sagte ausdrücklich, dass sie nicht mehr hierher in dieses Haus kommen will.“ Vor Verzweiflung schloss Royce die Augen. „Armes Kind“, flüsterte er. „Wenn sie nur sehen könnte, dass es mir wieder gut geht.“ „Ich fürchte, es ist immer noch der Schock über deinen Sturz. Schließlich hat sie dich gefunden“, gab Marvin zu bedenken. „Wahrscheinlich hat sie Angst, selbst einmal hinunterzufallen“, behauptete Katherine und sah ihren Sohn dabei bedeutungsvoll an. „Ich habe inzwischen ein kleines Tor oben an der Treppe anbringen lassen“, informierte Royce sie. Es war ihm klar, dass seine Eltern ihn für seinen Sturz verantwortlich machten, wie für alles, was ihnen nicht passte. Das war wohl auch der Grund, warum er selbst dazu neigte, die Schuld an allem zunächst mal bei sich zu suchen. Lange hatte er Pamelas Vorwürfe ihm gegenüber für gerechtfertigt gehalten, hatte sich einreden lassen, dass er allein für das Scheitern der Ehe verantwortlich war… bis er Pamela mit einem Kunden auf dem Sofa im Wohnzimmer erwischte. Nach dieser Szene konnte er den Schein seiner ohnehin längst zerrütteten Ehe nicht mehr aufrechterhalten. Doch was auch immer Pamela getan hatte, in den Augen seiner Eltern würde immer er, Royce, als der Sündenbock dastehen, und vielleicht hatten sie gar nicht so Unrecht. Schließlich hatte er Pamela geheiratet und war über Jahre bei ihr geblieben, obwohl das Verhältnis immer untragbarer geworden war. Doch solange er mit seinen Kindern zusammen sein konnte, hatte er alles in Kauf genommen. Und nun wollte seine Tochter nicht einmal mehr am Telefon mit ihm reden. „Vielleicht solltest du dein Testament ändern?“ schlug Katherine unverschämterweise vor. Wut stieg in ihm auf. „Um Pamela zu begünstigen, meinst du? Na, das wird meine Lebenserwartung bestimmt nicht verlängern.“ Katherine blieb der Mund offen stehen. „Du willst damit doch nicht sagen…“ Sie brach ab, und Royce bemerkte, dass Merrily ins Zimmer getreten war. „Entschuldigen Sie“, fragte sie, „ich möchte nur wissen, ob Sie zum Lunch bleiben. Es würde keine Umstände machen, heute für vier zu kochen.“ „Nein, danke“, gab Katherine knapp zurück und stand auf. „Wir haben schon in einem Restaurant in der Stadt reserviert.“ Marvin setzte sein Glas ab, erhob sich ebenfalls und sagte, zu Royce gewandt: „Das verstehst du doch sicher.“ „Oh, natürlich.“ Royce war froh, nicht weiter über das heikle Thema sprechen zu müssen. Katherine hauchte ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange, und Marvin klopfte ihm auf die gesunde Schulter. „Guter Whisky“, brummte er. „Ich bringe Sie zur Tür“, bot Merrily ihnen an. „Machen Sie sich keine Mühe, junge Dame, wir kennen uns hier aus.“ „Danke für den Besuch“, rief Royce ihnen ironisch hinterher. „In zehn Minuten gibt es Mittagessen“, sagte Merrily leise. „Das ist länger, als der Pflichtbesuch meiner Eltern gedauert hat“, fand Royce. Dann griff er wieder nach der Fernbedienung. Aber der Inhalt der Sendung ging vollkommen an ihm vorbei, denn seine sorgenvollen Gedanken kreisten um Tammy. Seine Tochter musste unbedingt wissen, dass es ihm gut ging. Royce griff zum Telefon.
„Pamela, bitte häng nicht ein!“ Merrily, die das Essen auf dem Tablett vor Royce anrichtete, verließ bei Telefonaten normalerweise diskret das Zimmer, heute allerdings brachte sie es nicht fertig zu gehen. „Ich muss mit dir reden. Es geht um Tammy. Die Bedürfnisse meiner Tochter sind mir im Moment wichtiger als meine eigenen.“ Bei der Verzweiflung in seiner Stimme biss sich Merrily auf die Lippen. „Wenn Tammy nicht allein kommen will“, flehte er, „dann komm du eben mit, aber ich bitte dich, hab doch ein bisschen Verständnis. Wenn schon nicht meinetwegen, dann ihretwegen.“ Merrily ließ den Kopf sinken. So sehr sie glauben wollte, dass es um seine Tochter ging – Royce machte eindeutig den Eindruck, als wollte er unbedingt seine Frau sehen. „Können wir nicht einfach die Vergangenheit ruhen lassen und das tun, was das Beste für unsere Kinder ist?“ beschwor er sie. „Genauso wie ihre Mutter brauchen sie doch auch ihren Vater. Ich flehe dich an, bitte komm.“ Merrily schloss die Augen. Nun, er hatte sie ja gewarnt. Egal, was Pamela angerichtet hatte, er liebte sie noch immer und litt darunter, dass seine Familie zerbrochen war. Möglicherweise fand er sie, Merrily, ja durchaus ganz interessant, aber das lag zweifellos nur daran, dass sie sich hier ständig so nahe waren. „Pamela, bitte erspare es mir, wieder vor Gericht zu gehen“, sagte Royce in den Hörer. „Du weißt, das ist das Letzte, was ich will, aber wenn du mir keine Wahl lässt, bleibt mir nichts anderes übrig… hab doch ein Einsehen!… Pam?“ Wütend schleuderte er den Hörer auf das Sofa, von wo er auf den Boden fiel, und schlug hart mit der Faust auf die Armlehne. „Verdammt! Verdammt! Verdammt!“ Ruhig nahm Merrily das leere Tablett, ging zum Sofa, um den Hörer aufzuheben, und verließ das Zimmer ohne ein Wort. Seit zwei Tagen hatte Royce ein ungutes Gefühl. Die ganze Zeit schlich Merrily wie auf Zehenspitzen um ihn herum und sagte kaum etwas. Aus welchem Grund, das wusste er nicht. Dabei hatte er sich nicht anders benommen als sonst, auch wenn er sich allmählich zu Tode langweilte. Er hatte sich noch nicht mal dazu geäußert, dass Dale neuerdings jeden Abend kam. Royce sah sehr gut, dass sein Freund kaum die Augen von Merrily lassen konnte, auch wenn er behauptete, er wolle nur ihn besuchen. Als er das Telefon irgendwo im Haus läuten hörte, wartete er ungeduldig darauf, dass Merrily es ihm brachte. Seit Tagen trug sie es ständig mit sich herum. Bekam sie etwa so viele Anrufe? Unzufrieden trommelte Royce mit den Fingern auf die Armlehne und fragte sich, ob das auch wieder einer dieser Anrufe war. Hatte sie vielleicht doch einen Freund? Und was war mit Dale? Sie hatte zwar gesagt, dass sie sich nicht von ihm angezogen fühle, aber das konnte sich ja ändern. Schließlich war Dale ziemlich charmant. Ein Klingeln an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Jetzt musste sich Merrily aber um anderes kümmern als um ihren mysteriösen Anrufer. Nicht, dass sie auch nur einmal seine Bedürfnisse vernachlässigt hätte, jedenfalls nicht die offensichtlichen. Und wenn er nicht aufhörte, an die weniger offensichtlichen zu denken, wurde er bald noch verrückt. Ungeduldig lauschte Royce, wer an der Tür war. Gelächter drang zu ihm. Es schienen mehrere Leute zu sein. Erwartungsvoll rutschte Royce auf seinem Stuhl hin und her. „Mark!“ Mark Cherry, sein Bauleiter, begrüßte ihn lächelnd. Drei andere Männer drängten sich hinter ihm durch die Tür: Vincent, sein Vorarbeiter, der ihm unentbehrlich
geworden war, Waldren, der fleißigste in der ganzen Firma, und Cooper, mit
zwanzig der Jüngste seiner Angestellten und noch recht grün hinter den Ohren.
Royce freute sich sehr, die vier zu sehen.
„Hey, Jungs, kommt rein!“ Die Männer machten es sich rund um Royce’
Lehnstuhl bequem. „Warum seid ihr eigentlich nicht bei der Arbeit?“
„Wir wollten mal nach dir sehen“, erklärte Vincent.
„Boss, Sie sehen aus, als wären Sie saftig verprügelt worden“, meinte Cooper.
„Ich finde, er sieht gut aus“, befand Vincent, „trotz allem.“
Mark schüttelte den Kopf. „Also, wie geht es dir?“
„Gut, den Umständen entsprechend.“
„Möchte jemand ein Glas Eistee?“ fragte Merrily, und alle Blicke richteten sich auf
sie.
Cooper sprang vom Fensterbrett, als fände er es plötzlich ungehörig, dort zu
sitzen. „Das wäre sehr nett“, sagte er.
„Ich bringe einen Krug. Mit Zucker oder ohne?“
„Mit!“ verkündeten die Männer einmütig.
Als sie sich wieder Royce zuwandten, sah er die unausgesprochenen Fragen im
Blick seiner Kollegen. „Nur damit ihr Bescheid wisst“, informierte er sie, „sie ist
nicht so jung, wie sie aussieht.“
„Für meinen Geschmack sieht sie alt genug aus“, ließ Cooper verlauten.
„Ruhig, Junge“, bemühte sich Royce mit neutraler Stimme zu sagen. „Sie ist ein
halbes Dutzend Jahre älter als du.“
„Und? Vielleicht steht sie ja auf jüngere Männer?“
„Vielleicht steht sie ja auf kleine Jungs, wolltest du sagen.“
„Sie ist wirklich recht hübsch“, bemerkte Waldren.
„Noch einmal, damit das klar ist: Ich habe Merrily wegen ihrer Fähigkeiten, nicht
wegen ihres hübschen Gesichts angestellt“, ließ Royce seine Besucher wissen.
„Aber das hübsche Gesicht schadet ja nicht, oder?“ fragte Mark.
Das konnte Royce nicht abstreiten. „Keineswegs“, gab er zu.
Alle lachten, und dann wandten sie sich geschäftlichen Fragen zu, bis Merrily mit
einem Krug Eistee, fünf hohen Gläsern und einem Teller Sandwichs wiederkam.
Die Männer hatten ihn bald geleert, und Merrily füllte nach. Als das Gespräch auf
ein bestimmtes Projekt kam, fiel Royce ein, dass er die Pläne dazu in seinem
Arbeitszimmer hatte. Merrily stellte ihnen gerade eine Schüssel mit Crackern hin.
„Darling, entschuldige die Bitte, aber könntest du vielleicht in mein Büro gehen
und mir etwas holen? Die Unterlagen liegen, glaube ich, auf einem Stapel auf
einem Stuhl. Es steht ‚Jensen 14-C’ drauf.“ Alle starrten ihn an, Merrily
eingeschlossen. Royce hatte keine Ahnung, was los war. Waren seine Angaben
zu ungenau? „Es ist wirklich wichtig. Du findest sie bestimmt, sie müssen da
irgendwo sein. Okay?“
Merrily senkte den Blick. „O-okay.“ Dann eilte sie davon.
Royce bemerkte, dass Cooper die Stirn runzelte, Waldren dämlich grinste und
Vincent einen bedeutungsvollen Blick mit Mark austauschte. „Was ist denn?“
verlangte er gereizt.
Die Männer schwiegen verlegen, bis Cooper die Arme verschränkte und sich
wieder auf das Fensterbrett setzte. „Du hättest uns doch gleich sagen können,
dass sie schon vergeben ist“, meinte er.
„Wie?“
„Halt einfach den Mund, Cooper“, empfahl Mark.
„Aber…“
„Ruhe“, wiederholte Waldren. Vincent räusperte sich und rutschte an die
Stuhlkante. „Wann meinst du, dass du wieder ins Büro kommen kannst, Boss?“
Royce war verwirrt, dann sammelte er seine Gedanken. „Hm, ich weiß noch nicht
genau. In einer Woche kommt dieser Eisberg von meiner Schulter herunter,
später bekomme ich einen normalen Gipsverband am Arm und kann mit Krücken
gehen. Am Freitag werden die Fäden am Bein gezogen, aber wann ich wieder voll
einsatzfähig bin, kann ich leider noch nicht sagen.“
„Na, lass dir mal lieber Zeit“, riet ihm Mark ernst.
Sie sprachen noch weiter über seine Verletzungen, aber zum Glück wollte
niemand Genaueres darüber wissen, wie es passiert war. Als Merrily mit den
Plänen zurückkehrte, hatten sie den zweiten Krug Eistee geleert. Royce breitete
die Pläne auf dem Tisch aus, und die Männer besprachen sich.
Als seine Kollegen sich später verabschiedeten, gab Royce noch einmal seiner
Freude über ihr Kommen Ausdruck. „Schön, dass ihr alle da wart, Jungs.“
„Wir haben uns Sorgen um dich gemacht“, gestand Vincent.
„Grüß die anderen schön von mir“, sagte Royce. „Und macht euch keine
Gedanken. Ich werde bald wieder so fit wie früher sein.“
„Ja, und schließlich bist du ja in guten Händen – in ziemlich süßen guten Händen
übrigens“, bemerkte Waldren.
Und Cooper murmelte: „Das muss man sich mal vorstellen: Fällt der Mann eine
Treppe hinunter und bekommt am Ende dafür so eine süße Schwester.“
Royce machte ein finsteres Gesicht, bis ihm Mark, der als Letzter ging,
besänftigend die Hand auf die Schulter legte. „Du hast sie Darling genannt, weißt
du.“
Es kam Royce vor, als hätte ihm jemand die Faust in den Magen gerammt.
„Wirklich?“
„Hm.“
Royce suchte nach einer Ausrede, aber es fiel ihm nichts ein. „Tja.“
Mark lächelte nur. „Ja. Aber das dachte ich mir schon.“ Er zwinkerte ihm zu.
„Pass auf dich auf, und mach dir keine Sorgen. Wir schmeißen den Laden schon
für dich.“
„Ja, danke“, murmelte Royce, doch er konnte nur an eines denken: Darling.
Darling Merrily.
8. KAPITEL „Bist du sicher, dass das alles war?“ fragte Royce ins Telefon. Er hörte einen Moment zu, dann nickte er. „Okay, Mark. Falls noch etwas sein sollte, ruf mich einfach an. Sicher. Kein Problem.“ Seufzend hängte er den Hörer ein. Merrily räusperte sich, und Royce drehte den Kopf. „Gibt es schon Abendessen?“ Innerlich bedauerte es Merrily, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass sie auch einmal einen anderen Grund dafür haben könnte, ihn zu sprechen. Royce hatte den Gips an der Schulter los, der durch einen kleineren um den Arm ersetzt worden war. Das Bein war noch nicht so weit, Royce konnte jedoch schon mit Krücken gehen – wenn auch nur mühsam. Den Rollstuhl hasste er zwar, aber er war immer noch das geeignetste Fortbewegungsmittel. Merrily verschränkte die Hände. „Wie wäre es, wenn wir in Ihrem Büro einmal Ordnung schaffen würden?“ schlug sie leichthin vor. „In meinem Büro?“ wiederholte Royce fragend. Beschwichtigend hob sie die Hand. „Eigentlich geht es mich nichts an, aber ehrlich gesagt war ich neulich ganz schön schockiert über das Chaos, als ich die Pläne holte.“ Er hob eine Augenbraue. „Ja?“ „Wenn ich Sie wäre“, fuhr sie fort, „würde ich die Zeit nutzen, dort klar Schiff zu machen.“
„Die Zeit nutzen? Weil ich ja schließlich bloß zum Spaß hier herumsitze?“
„Nein, dazu sind Sie nicht der Typ“, erwiderte sie knapp.
„Ich dachte schon, das sei Ihnen entgangen.“
„Und ich dachte schon, Sie wollen jetzt nur noch dasitzen und schmollen. Also,
wie sieht es aus?“
„Warum nicht?“ Royce arbeitete sich aus seinem Lehnsessel und hievte sich in
den Rollstuhl, den Merrily ihm richtig hindrehte. Dann rollte er selbstständig zur
Tür und ließ sich nur an den Rampen helfen, wo er es absolut nicht allein
schaffte. An der Tür zu seinem Büro hielt er an. Der Boden war so mit Büchern
und Unterlagen voll gestellt, dass er mit dem Rollstuhl nicht durchkommen
konnte.
Während Merrily einen Weg frei räumte, sah Royce sich um. „Ich wusste nicht,
dass es so schlimm ist“, gestand er. „Eigentlich arbeite ich gar nicht hier, aber
wenn ich etwas suche, finde ich es meistens gleich.“
„Meistens?“ Merrily verdrehte die Augen. „Wenn ich in meinem Beruf etwas
‚meistens’ richtig machen würde, hätte das schnell die Kündigung zur Folge.
Womit wollen Sie anfangen?“
Unsicher ließ er die Blicke schweifen. „Tja, ich könnte mit der Korrespondenz
anfangen, aber ohne Krücken komme ich nicht an die Regale.“
„Einen Augenblick“, sagte Merrily, „ich bin gleich zurück.“
Während Royce durch den schmalen Gang fuhr, den Merrily ihm frei geräumt
hatte, ging ihm langsam auf, was für ein Chaos in seinem Büro herrschte. Es war
wirklich Zeit, hier einmal aufzuräumen. Er manövrierte sich hinter den
Schreibtisch, schob den schwarzen Ledersessel zur Seite und machte sich daran,
seine Unterlagen durchzusehen.
Als Merrily zurück war, stellte sie ihm den Papierkorb neben den Rollstuhl und
packte ihm weitere Papierstapel auf den Schreibtisch, damit Royce sie besser
erreichen konnte. Da klingelte das Telefon im Arbeitszimmer. Royce hob den
Hörer ab. „Hallo?“
Nach einer kurzen Pause verlangte eine Stimme knapp: „Wo ist Merrily?“
„Hier. Wer spricht da?“ Verärgerung stieg in Royce auf.
„Ihr Bruder. Sagen Sie ihr, ich will sie sprechen.“
Royce unterdrückte den Wunsch, den unverschämten Anrufer einfach
abzuwürgen, und schob Merrily das Telefon hin.
„Hallo?“ Ihre Miene wurde starr, und sie wandte sich von Royce ab, bevor sie
leise antwortete. „Das haben wir doch jetzt oft genug besprochen.“ Und nach
einem Augenblick: „Ich bin erwachsen. Du hast kein Recht, mir zu sagen, was ich
tun soll. Keiner von euch.“ Dann seufzte sie. „Dann wasch deine Unterwäsche
selbst, du liebe Güte! Was kann ich dafür, dass die Haushälterin, die ihr
angestellt habt, gekündigt hat!“
Royce konnte sich das nicht länger mit anhören. Er entriss Merrily das Telefon
und fuhr den Anrufer an: „Was bilden Sie sich eigentlich ein?“
„Wer spricht da?“ kam es vom anderen Ende.
„Royce Lawler. Und wer sind Sie?“
„Lane Gage.“
Merrily versuchte, Royce den Hörer zu entwinden, aber der drehte den Rollstuhl
ab, während er sie mit seiner gesunden Hand abwehrte. „Wie alt sind Sie
eigentlich, Lane?“ fragte er streng. „Ich dachte, Merrilys Brüder wären alle älter
als sie.“
„Das stimmt auch. Und?“
„Dann wiederhole ich meine Frage“, erwiderte Royce. „Was bilden Sie sich
eigentlich ein? Merrily ist nicht Ihr Hausmädchen. Sie ist ein Profi, und ich
bezahle sie anständig. Wenn Sie sich ausheulen wollen, dann machen Sie das, aber lassen Sie in Zukunft Ihre Schwester in Ruhe.“ Damit hängte er ein. In diesem Moment traf ihn Merrilys wütender Blick. „Was erlauben Sie sich eigentlich?“ Verständnislos sah Royce sie an. „Ich? Diese Heulsuse ruft hier an, damit Sie heimkommen und seine Unterwäsche waschen!“ „Er ist mein Bruder!“ Royce konnte dafür kein Verständnis aufbringen. „Es ist mir egal, wer er ist. Er sollte zu stolz sein, um deswegen seine kleine Schwester anzurufen. Und Sie sollten zu stolz sein, ihm das durchgehen zu lassen!“ „Mag sein“, gab Merrily ärgerlich zu, „aber das ist immer noch meine Sache und geht Sie nichts an!“ „Also, entschuldigen Sie mal! Immerhin bezahle ich Sie!“ „Aber Sie haben mich nicht gekauft.“ gab sie zurück. Royce fragte sich, warum sie gegen ihren Bruder nicht auch so aufgemuckt hatte. „Immerhin verlange ich nicht, dass Sie meine Unterhosen waschen!“ Merrily seufzte und ließ sich auf die Ecke des Schreibtischs sinken. „Das verstehen Sie nicht“, entgegnete sie. „Meine Brüder meinen es ja nicht so.“ „Ist das Ihr Ernst?“ fragte Royce skeptisch. „Merrily, dafür gibt es keine Entschuldigung. Keine normale Hausangestellte würde sich so etwas bieten lassen. Ihre Brüder wollen doch nur, dass Sie für sie schuften. Um Sie geht es dabei doch gar nicht.“ „So einfach ist das nicht“, widersprach sie müde. Royce wollte schon widersprechen, doch dann besann er sich eines Besseren. „Damit haben Sie schon Recht“, pflichtete er ihr bei, nahm ihre Hand in seine und zog Merrily näher. Mit den Fingerspitzen strich er ihr übers Gesicht. „Sie wissen genauso gut wie ich, was für eine süße, fähige und liebevolle Frau Sie sind. Niemand sollte das ausnützen. Sie haben Respekt verdient und jedes Recht darauf, Ihr Leben zu gestalten, wie Sie möchten. Lassen Sie sich von ihren Brüdern nicht herumkommandieren, auch wenn Sie sie lieben.“ Merrily lachte leise. „Haben Sie noch nicht gemerkt, dass ich mich von niemandem herumkommandieren lasse? Ich schreie zwar nicht und stampfe nicht mit den Füßen auf, aber wenn ich weiß, dass ich im Recht bin, gebe ich nicht nach.“ Royce lächelte ironisch. Herumschreien und mit den Füßen aufstampfen – Merrily hatte keine blasse Vorstellung, wie weit Pamela gegangen war, um ihren Willen durchzusetzen. Mit fast schmerzlicher Klarheit wurde ihm bewusst, dass Merrily das reinste Gegenteil von Pamela war. „Darling, weißt du überhaupt, wie einzigartig und kostbar du bist?“ „Ja?“ Aus ihren sanften, moosgrünen Augen sah sie ihn so. warm an, dass ihm dieser Blick direkt ins Herz ging. Und nicht nur dorthin. Er seufzte hilflos, schob die Finger in ihr dichtes Haar und wünschte, er könnte die Spange lösen, um zu sehen, wie die glänzenden goldbraunen Locken ihr Gesicht und ihre Schultern umrahmten. „Das weißt du doch längst.“ „Danke“, flüsterte sie, und irgendwie begegneten sich ihre Lippen, zuerst ganz sanft, und dann glühender, bis Royce keine Kontrolle mehr darüber zu haben schien. Merrily stand nur vornübergeneigt da und umfasste sein Gesicht mit den Händen, während sie ihren Mund auf seinen presste, doch es kam ihm vor, als wären sie vollständig miteinander verschmolzen – ein Gefühl, das neu für ihn war und ihm gleichzeitig ganz natürlich vorkam. Merrily war anders als alle Frauen, die er bisher gekannt hatte. Zu seinem
Schrecken wurde ihm klar, dass sie etwas tief in seinem Inneren anrührte. In
den letzten Wochen, die sie gemeinsam verbracht hatten, hatte er sie gut
kennen gelernt. Sie weckte seine Bedürfnisse ebenso, wie sie sie stillte, aber sie
war unerreichbar für ihn. Merrily hatte weit mehr verdient, als er ihr bieten
konnte: eine durchgedrehte Exfrau, zwei traumatisierte Kinder, ein Leben voller
Sorgen und Angst, denn er wagte kaum daran zu denken, was Pamela ihr
möglicherweise an tun würde. Es ist hoffnungslos, dachte er und löste die Lippen
von ihren.
Einen Augenblick lang blieb Merrily, wie sie war, ohne sein Gesicht loszulassen.
Dann straffte sie sich ein wenig. „Royce?“
Ohne sie anzusehen, schüttelte er den Kopf. „Das kann ich nicht tun. Es ist nicht
fair.“
„Ich verstehe“, erwiderte sie traurig. „Du machst dir nichts aus mir.“
„Doch, mir liegt sehr viel an dir!“
„Aber nicht…so.“
Endlich wagte er es, sie anzusehen. Merrily stand mit schützend vor der Brust
verschränkten Armen vor ihm. Wie konnte sie daran zweifeln, dass er sie
attraktiv fand? „Natürlich“, fuhr er sie ärgerlich an. „Wann hast du zum letzten
Mal in den Spiegel gesehen? Dann würdest du verstehen, warum mir sehr wohl
so etwas an dir liegt!“
„Ich… ich verstehe das nicht.“
„Du liebe Güte, Merrily, ich will dich lieben! Verstehst du das?“ Royce wirkte
verzweifelt. „Du machst mich wahnsinnig! Ich will dich nicht verletzen, aber ich
kann dir nichts versprechen, geschweige denn es halten. Ich kann nur
versuchen, die Finger von dir zu lassen! Verstehst du das, Merrily? Wenn ja,
dann solltest du schleunigst hier verschwinden. Jetzt!“
Merrily drehte sich auf dem Absatz um und eilte davon, wobei sie den Papierkorb
umstieß. Ein Stapel Unterlagen verstreute sich über den Boden. Zum ersten Mal
lächelte Royce nicht über ihre Tollpatschigkeit. Er konnte nur noch daran denken,
wie sehr er sie begehrte. Und wenn sie klug war, dann kündigte sie am besten
gleich.
„Ich gebe es auf“, verkündete Dale und hob zwei große Papiertüten mit dem
Logo eines chinesischen Restaurants in die Höhe.
Zu Merrilys Erleichterung hatte Dale endlich zugestimmt, das Essen bei Royce
stattfinden zu lassen. Sie hatte fast das Gefühl, Dale wollte sie absichtlich
ausführen, um Royce zu ärgern, aber in der letzten Zeit fehlte ihr die Lust zu
solchen Spielchen.
„Tja, Sie waren immerhin sehr hartnäckig“, sagte sie versöhnlich.
„Die Ente ist zwar nicht von Chung Pao’s Garden, aber sie ist die beste Ente in
der ganzen Stadt, das versichere ich Ihnen.“
„Wunderbar“, erwiderte Merrily, ohne wirkliche Begeisterung aufbringen zu
können. Sie nahm ihm die Tüten ab und ging in die Küche. „Riecht gut.“
Dale folgte ihr. „Ist irgendetwas passiert?“
Merrily setzte ein gezwungenes Lächeln auf. „Nein. Warum?“
Dale rieb sich über den Nacken. „Oh, ich weiß nicht. Royce war vorhin am
Telefon schon so gereizt, und Ihnen scheint auch eine Laus über die Leber
gelaufen zu sein. Das kann ja ein schöner Abend werden.“
Sie gab ihr Lächeln auf. „Es tut mir Leid.“
„Was tut dir Leid?“ fragte Royce scharf, während er auf seinen Krücken in die
Küche gehumpelt kam.
Dale wirbelte herum. „Hey! Du bist ja wieder auf den Füßen… äh, auf einem
Fuß.“
Langsam und mühevoll setzte Royce sich an den Tisch. „Was du nicht sagst“, knurrte er. „Immer noch bester Laune also“, befand Dale. Royce lehnte die Krücken an den Tisch. „Was ist hier eigentlich los?“ fragte er, als er bequem saß. „Ich bezahle gerade meine Schulden“, verkündete Dale fröhlich. „Aber keine Sorge, ich habe genug für drei mitgebracht.“ Währenddessen deckte Merrily den Tisch. Royce bekam statt der Stäbchen eine Gabel. „Ich kann durchaus mit Stäbchen essen“, blaffte er. „Mit der linken Hand?“ fragte sie leise. Einen Augenblick lang starrte er nur die Gabel an, dann schüttelte er den Kopf und murmelte: „Nein.“ „Das ist doch nicht schlimm“, entgegnete sie beruhigend und tauschte einen besorgten Blick mit Dale aus. Beim Essen versuchte Dale zu scherzen und eine lockere Atmosphäre zu verbreiten, und Merrily bemühte sich nach Kräften mitzuhalten, aber es nützte nicht viel. Schließlich legte Royce seine Gabel hin, durchbohrte Dale mit seinen Blicken und forderte: „Dale, gibt es Neuigkeiten? Weißt du etwas von den Kindern?“ Seufzend legte sein Freund die Stäbchen beiseite und erwiderte Royce’ Blick offen. „Das Kindermädchen hat mich heute angerufen. Sie macht sich Sorgen.“ Royce setzte sich gerade hin, als müsste er sich auf das Schlimmste gefasst machen. Automatisch ergriff Merrily seine Hand. „Was ist denn passiert?“ Dale befeuchtete die Lippen mit der Zunge. „Gestern Abend sollte Tammy bei einer Freundin übernachten. Nach den Angaben der Mutter haben sich die beiden zunächst auch prächtig amüsiert, doch als sie sie ins Bett bringen wollte, hörte sie, dass Tammy weinte. Aber Tammy wollte nicht sagen, was sie hatte, sondern weinte immer stärker, bis die Mutter der Freundin sie nach Hause fuhr.“ Tränen standen in Royce’ Augen. „Ich muss sie sofort sehen. Sie braucht mich. Dieses Kindermädchen war bisher immer auf Pamelas Seite, das weißt du. Wenn sie dich schon anruft, muss wirklich etwas Schreckliches geschehen sein.“ Dale presste die Kiefer zusammen, und Merrily fürchtete, dass noch Schlimmeres im Anzug war. „Ja“, knurrte er. „Pamela hat Tammy geschlagen.“ „Geschlagen!“ rief Merrily. Royce starrte seinen Freund fassungslos an. „Das Kindermädchen sagte, Pamela habe Tammy geschüttelt, als sie nicht zu weinen aufhören wollte, und sie dann geschlagen, bevor sie sie auf ihr Zimmer schickte.“ Royce befreite seine Hand aus Merrilys Griff und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Teller klirrten. „Ich hasse sie! Diese Rabenmutter! Wenn ich sie nur zu fassen kriege! Wie kann sie das wagen!“ Er brach ab. „Wir müssen etwas tun.“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. „Das Kindermädchen sagte, dass sie das bezeugen würde. Morgen kommt sie in mein Büro. Mit der Aussage gehe ich zum Richter. Hör zu“, sagte Dale beschwörend. „Am Wochenende werden die Kinder dich besuchen kommen. Ich verspreche es dir.“ Royce schluckte schwer und nickte. „D-danke.“ „Das, was wir vorweisen können, wird nicht ausreichen, um Pamela das Sorgerecht zu entziehen“, fuhr sein Freund eindringlich fort, „aber wir werden dadurch weitere Besuche durchsetzen. Du wirst sehen, wir kommen unserem Ziel langsam, aber sicher näher.“ Royce nickte noch einmal. „Klar. Okay. Aber bis dahin habe ich einfach keine Ruhe.“ Er stieß seinen Teller weg und griff nach den Krücken. „Nein“, sagte Merrily und stand auf. „Ich hole dir den Rollstuhl. Das ist besser.
Du darfst jetzt keinen zweiten Sturz riskieren.“
Widerstrebend fügte sich Royce, und gemeinsam mit Dale schob sie ihn in sein
Schlafzimmer, wo er sich aufs Bett fallen ließ und den beiden signalisierte, dass
er nun allein sein wollte.
„Ich will nur schlafen“, sagte er. „Lasst mich in Ruhe und esst allein weiter.“
„Brauchst du noch etwas?“ fragte Merrily.
„Lasst mich doch einfach allein!“
Sein Ausbruch erschütterte Merrily, doch dann begriff sie, dass es das Beste war,
Royce eine Zeit lang in Ruhe zu lassen.
Schweigend ging sie mit Dale in die Küche zurück. „Was glauben Sie denn, was
mit seiner Tochter los ist?“
Dale warf ihr einen ernsten Blick zu. „Ich bin mir nicht sicher.“
„Glauben Sie, sie hat gesehen, wie Pamela ihren Vater die Treppen
hinuntergestoßen hat?“
Er schaute weg. „Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich sonst glauben sollte.“
„Das arme Kind“, meinte Merrily. „So etwas mit ansehen zu müssen. Sie muss
sich richtig mitschuldig fühlen. Aber wie käme Pamela überhaupt dazu, das zu
tun?“
Dale seufzte. „Was diese Frau denkt, ist mir immer schon ein Rätsel gewesen.“
„Aber weiß sie denn nicht, wie sehr Royce sie immer noch liebt?“
Überrascht blieb der Rechtsanwalt stehen. „Sie liebt? Pamela? Wie kommen Sie
denn auf diese absurde Idee?“
„Das hat er mir selbst gesagt“, beharrte Merrily. „Nicht, dass es nötig gewesen
wäre. Es ist auch so ziemlich offensichtlich.“
Dale starrte sie erstaunt an. „Nein. Ich weiß nicht, was Royce Ihnen erzählt hat,
aber das müssen Sie vollkommen falsch verstanden haben. Schon bevor er seine
Exfrau mit einem anderen Mann erwischt hat, waren seine Gefühle für sie längst
erloschen. Die Ehe war seit langem völlig zerrüttet.“
Merrily starrte Dale an. „Aber er sagte doch… dass er niemals frei von ihr sein
würde!“
„Weil sie ihn nicht in Ruhe lässt Merrily, Sie haben ja keine Ahnung, wie
hysterisch diese Frau ist. Es ist, als würde sie Royce für alles verantwortlich
machen, was ihr nicht passt.“
„Aber gestern hat er sie am Telefon angefleht, herzukommen.“
„Zweifellos meinte er, sie solle die Kinder bringen. Sie hat ihm das Leben zur
Hölle gemacht, denn sie benutzt seine Kinder, um ihn zu bestrafen. Sie ist
gefährlich, und eines Tages werden wir das auch beweisen können. Dann hat
Royce, wenn alles gut geht, endlich das alleinige Sorgerecht. Er würde alles tun,
um seine Kinder zu sehen, selbst vor Pamela in die Knie gehen. Können Sie ihm
das zum Vorwurf machen?“
Merrily ließ den Kopf sinken. Wenn es stimmte, was Dale sagte, dass Pamela
Royce die Treppe hinuntergestoßen hatte – und Merrily zweifelte nicht mehr
daran –, dann war es logisch, dass er sich ihr nun so hilflos ausgeliefert fühlte. Er
wäre sie gern losgeworden, aber sie gab ihn nicht frei. Plötzlich sah Merrily alles
in einem anderen Licht. Die unerklärliche Anziehung zwischen ihnen, diese süßen
Momente, wenn er ihr nachgab, bevor er sich wieder zurückzog: Er wollte sie
schützen, genauso wie er versuchte, seine Kinder zu schützen. Dieser dumme
Mann. Ein dummer, wunderbarer Mann.
„Nein“, flüsterte Merrily schließlich und lächelte dabei insgeheim. „Das mache ich
ihm nicht zum Vorwurf.“
9. KAPITEL
Royce wälzte sich auf die linke Seite. Ruhelos starrte er in die Dunkelheit, immer wieder die Gesichter seiner Kinder vor Augen. Wie sehr er es auch versuchte, die Sorge um sie machte es ihm unmöglich einzuschlafen. Seit der Gips über seiner Schulter ab war, musste er nur noch einen L-förmigen Verband tragen, der von der Hand bis zum Oberarm ging. Dadurch konnte er viel besser liegen, und auch die dauernden Schmerzen hatten nachgelassen und meldeten sich nur noch, wenn er etwas tat, was er nicht tun sollte. Aber dann war da noch Merrily. Sobald er seine Gedanken von den Kindern abwandte, dachte er an sie und die Dinge, die er nicht mit ihr teilen konnte. Verzweifelt wünschte er, ihr Kräutertee würde ihn auch von seinen Ängsten, Sorgen und seinem Begehren erlösen, die sein Hirn zermarterten. Sein Verlangen nach ihr quälte ihn, und es verlangte ihm eine geradezu übermenschliche Selbstdisziplin ab, diesem Verlangen nicht nachzugeben. Mit jedem Atemzug spürte er Merrily, sah ihre sinnlich geschwungenen Lippen vor sich, die nur auf seine Küsse warteten. Stöhnend warf Royce sich herum und zwang seine Gedanken in eine andere Richtung. Wieder beschäftigten ihn seine Kinder. Ob Tammy gerade weinte? Und Cory? Wann würde er sie endlich sehen und mit ihnen reden können? Seine Grübeleien drehten sich im Kreis, bis Royce sich schließlich aufsetzte und das Licht anknipste. Merrily zu wecken war ausgeschlossen, sie brauchte ihren Schlaf. Er war kein Invalide mehr und würde es wohl schaffen, allein in die Küche zu gelangen und sich wenigstens einen Tee zu machen. Royce entschloss sich, es mit den Krücken zu versuchen. Bis er wieder hier oben war, war er hoffentlich so weit erschöpft, dass er schlafen konnte. Langsam versuchte er aufzustehen und hüpfte im Pyjama auf seinem guten Bein zu den Krücken, die am Tisch lehnten. Die zweite Krücke half ihm nur, das Gleichgewicht zu halten. Er konnte sich nicht auf sie stützen, da er die Schulter immer noch nicht ganz belasten durfte. Als er die Krücke unter den verletzten Arm klemmen wollte, schlug er die Nachttischlampe um und stand plötzlich im Dunkeln. Fluchend versuchte er den Scherben der zerbrochenen Glühbirne auszuweichen, stolperte und fiel hart auf seine rechte Seite. Der Schmerz, der ihm durch die verletzten Gliedmaßen fuhr, ließ Royce laut aufschreien. Dann rollte er sich keuchend auf den Rücken und machte sich daran, sich aufzurichten. Im selben Moment ging das Deckenlicht an und blendete ihn, bis er Merrily erblickte, die sich neben ihn auf den Boden gekniet hatte. „Ich wollte dich nicht wecken“, sagte er reumütig. Sie ignorierte seine Bemerkung. „Hast du dir sehr weh getan?“ „Es geht schon“, knurrte er vor Scham über seinen missglückten Versuch. Merrily begann, seine Arme und Beine abzutasten, ohne ihm Vorwürfe zu machen. „Tut das weh?“ Sie beugte die Zehen seines rechten Fußes. „Nein.“ Er setzte sich auf und sah Merrily nun richtig an. Ihre Beine und Füße waren nackt, das lange Haar floss ihr um die Schultern. Sie kauerte neben ihm in einem blassgelben übergroßen T-Shirt, das sich verlockend um ihren Po spannte. Royce schluckte und wandte den Blick ab. „Pass auf, ich habe gerade eine Glühbirne kaputtgemacht“, murmelte er. Merrily strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Das habe ich schon gesehen. Die meisten Scherben liegen da drüben. Ich helfe dir auf, dann hole ich den Staubsauger.“ „Das schaffe ich schon allein“, murrte Royce und griff mit der linken Hand nach einer Krücke. Merrily hob die Brauen und zog erst einmal den Stecker aus der
Wand. Dann legte sie Royce einen Arm um die Taille und hob sich seinen gesunden Arm über die Schulter. „Ich helfe dir auf die Füße, okay?“ „Ja, okay“, gab er seufzend nach. Gemeinsam erhoben sie sich langsam, und Royce versuchte nicht daran zu denken, wie gut sich Merrily an seiner Seite anfühlte. Als er stabil stand, hüpfte er auf einem Bein langsam zum Bett, das ihm weiter weg vorkam als vorhin. Er versuchte schneller zu hüpfen, und im nächsten Moment fiel er vornüber und landete mitsamt Merrily auf der Matratze. „Verdammt!“ Royce lag halb auf Merrily, und bei dem Versuch, von ihr herunterzurutschen, hatte er das linke Knie unbeabsichtigt zwischen ihre Schenkel geschoben. Während Merrily ihren eingeklemmten Arm zu befreien versuchte, berührten ihre Brüste seinen Oberkörper. Auf der Stelle wurde Royce so hart, dass er kaum mehr zu atmen wagte. Und Merrily hatte es bemerkt, das sah er an ihrem Blick. Ihre Nasen berührten sich fast, als sie sich tief in die Augen schauten und versuchten, sich gegen das zu wehren, was unweigerlich kommen musste. Dann gab Royce es auf. Er neigte den Kopf und küsste Merrily, und sie gab sich ganz seiner Liebkosung hin. Der innige Kuss erfüllte Royce gleichzeitig mit Glückseligkeit und Entsetzen. Leise stöhnend schlang ihm Merrily die Arme um den Nacken, und Royce schob seine Zunge in ihren halb geöffneten Mund. Mit der linken Hand berührte er ihre Hüfte und tastete sich bis zu dem unbedeckten Oberschenkel vor, wo sich das Nachtshirt nach oben geschoben hatte. Er streifte es noch weiter hoch und gelangte so an den Saum ihres Slips. Das Herz hämmerte ihm wie wild gegen den Brustkorb, während er ihren Mund erkundete und die seidige Haut an ihrem Bauch streichelte. Dummerweise hatte sich das T-Shirt unterhalb ihrer Brüste fest aufgerollt und machte es Royce somit schwer, sich weiter zu den sanften, festen Rundungen vorzutasten, von denen er so lange geträumt hatte. Plötzlich unterbrach Merrily den Kuss, rappelte sich hoch und warf Royce auf den Rücken. Er gab einen Laut der Enttäuschung von sich und schloss schwer atmend die Augen. Im nächsten Augenblick spürte er etwas Weiches, Leichtes auf der Brust. Er hob den Kopf und sah, dass es Merrilys Nachtshirt war. Der Anblick, der sich ihm nun bot, raubte ihm für kurze Zeit den Atem. Merrily saß auf den Fersen neben ihm auf dem Bett, nackt bis auf einen winzigen pinkfarbenen BH und einen Slip. Ihr langes goldbraunes Haar floss ihr wie Seide über die Schultern. Mit jedem Atemzug hoben und senkten sich ihre kleinen wohlgeformten Brüste, deren rosafarbene Spitzen er erahnen konnte. Ihre Taille und der straffe Bauch, die zarte Höhlung ihres Nabels, die glatten, schlanken Oberschenkel, die samtweiche helle Haut… Royce wollte alles berühren, alles zärtlich erforschen und schließlich ganz mit Merrily verschmelzen. Er wollte etwas sagen, aber die Stimme versagte ihm vor unaussprechlichem Begehren. Langsam und anmutig lehnte sich Merrily vorwärts, beugte sich über Royce und legte sich auf ihn. Eine Flut von intensiven Empfindungen überkam ihn, und trotz des hinderlichen Gipses auf der einen Seite schlang er die Arme um Merrily. Wie konnte er vergessen haben, wie es sich anfühlte, eine nackte Frau im Arm zu halten? Aber hatte es sich jemals so angefühlt? Er versuchte, sich die letzten Male ins Gedächtnis zu rufen, aber alle Erinnerungen waren wie ausgelöscht, und er sah nur noch Merrily, als wäre sie die erste Frau für ihn. Einen langen Augenblick lagen sie nur so da, dann erhob sie sich und setzte sich ihm auf die Hüften. Royce öffnete die Augen und sah Merrily knapp über seinem Gesicht. Wie schön sie war! Ihre leuchtenden Augen, dieser üppige Mund und das
Haar, das wie ein seidener Vorhang über seinen Oberkörper streifte. Mit den Fingerspitzen spielte er darin, dann ließ er die Hand über ihren Körper gleiten, erforschte ihre sanften Kurven und die zarte Haut. Merrily stemmte die Hände oberhalb seiner Schultern auf und schob sich auf den Knien etwas vorwärts, bevor sie ihren Mund auf seinen senkte. Royce zog sie zu sich herab. Tausend Empfindungen stürmten auf ihn ein, eine Lust, die ihm durch Mark und Bein ging, tiefes Glück und unendliche Dankbarkeit. Und noch so viel anderes. Als sie begann, mit der Zunge aufregend langsam seinen Mund zu erforschen, hob er Merrily die Hüften entgegen und schloss seine gesunde Hand fest um ihre Taille. Es war ihm nicht genug. Er wollte mehr, brauchte mehr. Schwindelig vor Erregung, rieb er sich an ihrem Bauch. Unwillkürlich stöhnte er laut auf. Es war ein Flehen nach mehr, das tief aus seinem Inneren kam. Sofort zog sie sich zurück, setzte sich auf und sah ihn besorgt an. „Habe ich dir wehgetan?“ Ihm wehgetan? Das konnte man wohl sagen. „Aber auf eine ganz wunderbare Art und Weise“, flüsterte er heiser. Es war die falsche Antwort. Sie kletterte von ihm herunter. „Wo?“ Einen Augenblick lang dachte er, sie scherzte, doch dann begriff er, dass sie ihn völlig falsch verstanden hatte. Er betrachtete ihren geschmeidigen, verlockenden Körper und ihr süßes, unschuldiges Gesicht und wusste, dass er der erste Mann für sie war – und es nicht sein durfte. Er rollte sich auf die Seite, weg von ihr, und versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen. „Royce? Ist alles in Ordnung?“ „Ich… ja, aber du solltest jetzt besser in dein Zimmer zurück.“ Einige Sekunden lang herrschte absolute Stille. Dann rutschte Merrily etwas näher. „Das möchte ich aber nicht.“ Royce setzte sich abrupt auf. „Ich will es aber“, erklärte er brüsk und wagte es kaum, sie anzusehen. Er fühlte, wie sich das Bett bewegte. Merrily zog sich an. „Ich… ich verstehe das nicht.“ Royce hörte Tränen in ihrer Stimme und ballte die Hände zu Fäusten, um Merrily nicht an sich zu ziehen. „Ich habe einen Moment lang vergessen, dass das hier eine schlechte Idee ist. Bitte geh jetzt einfach.“ Merrily floh fast von seinem Bett, wobei sie die Nachttischlampe wieder herunterstieß. Royce lächelte, aber es war ein freudloses Lächeln. Das Herz zog sich ihm zusammen. Er rollte sich auf den Bauch und blieb eine lange Zeit so liegen. Was für ein rücksichtsloser Egoist war er doch, dass er es gewagt hatte, Merrily anzurühren. Vielleicht sollte ich ihr kündigen? Das wäre sicher das Beste, dachte er verzweifelt. Dann versuchte er sich vorzustellen, wie es ohne sie wäre, aber es gelang ihm nicht. Trotzdem – eines Tages würde er sie doch verlieren, denn sobald er den Gips an seinem Bein los war, gab es keinen Grund, Merrily weiterzubeschäftigen. Oh, Himmel. Erst die Kinder, dann Merrily. Wie viel konnte er noch ertragen? Am Frühstückstisch vermieden sie es, sich in die Augen zu blicken. Royce brachte kaum einen Bissen hinunter. Schließlich legte er die Gabel beiseite und rieb sich die Stirn. „Wenn du kündigen möchtest, könnte ich das nachvollziehen.“ Merrily verstand, wie er es meinte. Die vergangene Nacht war alles, woran sie denken konnte. Die Scham darüber, dass sie sich einem Mann in die Arme geworfen hatte, der sie nicht wollte, machte Royce’ Gegenwart zur Qual. Auf der anderen Seite hatte sie immer noch einen Job zu erledigen. „Ich werde aber nicht kündigen“, erklärte sie knapp. „Du brauchst meine Hilfe
immer noch.“ Einige Herzschläge vergingen. „Es wäre trotzdem besser.“ Die Worte sprudelten aus ihr heraus, bevor sie es verhindern konnte. „Du musst dir keine Sorgen machen, ich werde mich sicher nicht noch einmal so auf dich stürzen.“ Royce zuckte zusammen, und Merrily bereute noch im selben Moment, was sie da gerade gesagt hatte. „Nein“, flüsterte er kaum hörbar. „Aber du willst trotzdem, dass ich gehe?“ fragte sie leise. Er ließ den Kopf sinken und holte tief Luft, dann sah er sie entschlossen an. „Bitte, versteh das doch. Ich möchte dich nicht verletzen.“ „Das tust du doch nicht.“ „Du müsstest Pamela kennen, um nachvollziehen zu können, was ich meine.“ „Liebst du sie noch?“ „Pamela?“ Royce warf Merrily einen ungläubigen Blick zu. „Ich liebe sie überhaupt nicht! Du liebe Güte, ich verachte sie!“ Dann fasste er sich wieder. „Wenn es nur um mich ginge, wäre es gleichgültig, aber die Kinder…“ Er schüttelte den Kopf. „Sie macht ihnen das Leben zur Hölle. Das ist es, was ich nicht ertragen kann und was ich ihr nicht verzeihen kann.“ „Warum willst du dann, dass ich gehe?“ fragte Merrily, nun vollkommen verwirrt. Royce legte die Hand neben seiner Kaffeetasse flach auf den Tisch und sah Merrily an. „Merrily, Sweetheart, begreifst du denn nicht? Ich kann dich nicht in diese Tragödie hineinziehen. Es wäre nicht fair, dich in diesen Albtraum zu verwickeln. Du wärst nur eine willkommene Zielscheibe für Pamela. Und das kann ich niemandem antun, am wenigsten dir.“ Merrily war aufgestanden und neben ihn getreten. „Dann findest du mich doch attraktiv?“ Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. „Attraktiv?“ wiederholte er ihre Worte. „Attraktiv? Du hast doch wohl nicht etwa geglaubt, dass… oh, nein. Komm her.“ Er legte ihr einen Arm um die Taille und zog Merrily zu sich herab, so dass sie auf seinem Schoß zu sitzen kam, mit den Beinen über der Armlehne des Rollstuhls. Dann drehte Royce ihren Kopf zu sich und küsste sie, bis sie beide atemlos waren. Das leichte Kratzen seiner unrasierten Haut fand Merrily erotisch, aber eigentlich fand sie alles an Royce Lawler erotisch. Schließlich hob er den Kopf und murmelte: „Und jetzt sag noch mal, dass ich dich nicht attraktiv finde.“ Den Beweis dafür spürte sie hart unter sich. Sie legte Royce einen Arm um den Nacken. „Gut“, flüsterte sie schelmisch, „ich dachte schon, du hältst mich für zu jung.“ Dann schmiegte sie das Gesicht in seine Halsbeuge und bewegte sich leicht auf seinem Schoß. Seine Reaktion darauf war nicht zu verkennen, und zufrieden setzte Merrily sich ein wenig auf. Royce stöhnte, schob ihr die Hand in die Haare und löste das Band, das ihren Pferdeschwanz zusammenhielt. Merrily legte ihre ganzen Gefühle in den Kuss, den sie Royce nun gab. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie, als Royce die Hand von ihrem Nacken zur Brust gleiten ließ und sie umfasste. Sanft presste Merrily sich gegen ihn und seufzte genüsslich. Nun massierte er geschickt eine Knospe, und Merrily hielt den Atem an, als die Lust sie durchfuhr. Plötzlich nahm Royce die Hand weg und löste sich von ihrem Mund. „Ach, mein Engel, was sollen wir jetzt bloß tun?“ Er lehnte die Stirn an ihre. Seufzend barg Merrily den Kopf an seiner Schulter. „So schnell wirst du mich jedenfalls nicht los.“ „Merrily“, begann er, aber sie brachte ihn zum Schweigen, indem sie ihm einen Finger auf die Lippen legte. „Du kannst mich zwar rauswerfen“, teilte säe ihm äußerst leise mit, „aber bis du wieder auf dem Damm bist, bleibe ich, wo ich bin.“
Sie spürte, wie er lächelte. „Genau hier?“ fragte er zärtlich und streichelte ihre
Taille.
„Hast du was dagegen?“ flüsterte sie.
Seufzend drückte Royce das Gesicht an ihr Haar. „Nein. Aber sieh ein, dass das
nichts an der Sache ändert. Pamela sitzt immer noch wie eine Spinne im Netz.“
Sanft fuhr sie ihm über die Wange. „Du kannst doch nicht dein Leben
vollkommen von ihr bestimmen lassen.“
Royce schloss die Augen. „Solange sie das Sorgerecht für die Kinder hat, sehe ich
keine andere Möglichkeit.“ Er zog Merrily näher an sich heran. „Du weißt,
Darling, wenn es die Kinder nicht gäbe, würde ich einfach anderswo ein neues
Leben anfangen, wo diese Frau uns nicht finden kann.“
Uns. Merrily rieb das Gesicht an seiner Schulter und glühte vor Freude. „Das
reicht mir fürs Erste“, flüsterte sie. Fürs Erste.
10. KAPITEL „Setz dich doch wenigstens so lange hin, bis sie da sind“, drängte Merrily, als Royce schon wieder versuchte, mithilfe der Krücken aufzustehen. „Ja, ist ja gut.“ Vor lauter Konzentration presste er die Kiefer zusammen, bis er endlich stand. „Das ging doch recht schnell, oder?“ fragte er Merrily und warf ihr dabei einen unsicheren Blick zu. Sie nickte. „Du hast genug Zeit zum Aufstehen, wenn es klingelt.“ „Hast du den Rollstuhl auch wirklich gut versteckt?“ Royce ließ sich wieder in den Lehnsessel fallen. Merrily musste lächeln. Seit Royce wusste, dass Dale heute die Kinder vorbeibringen würde, saß er wie auf glühenden Kohlen. Tammy und Cory sollten ihn auf keinen Fall im Rollstuhl sehen, damit sie keinen Schreck bekamen. Merrily hatte volles Verständnis dafür. „Er steht in deinem Ankleidezimmer. Dort wird sicher niemand nachsehen.“ „Gut.“ Vorsichtig lehnte Royce die Krücken an den Sessel. „Ich wünschte, ich könnte die beiden an der Tür empfangen.“ Er strich sich die Haare zurück. „Ich sehe doch gut aus, oder? Ich meine, gesund?“ Merrily ging zu ihm und sah ihn an. Heute Morgen hatte sie ihm die Haare geschnitten und ihm beim Rasieren geholfen. Nicht, dass er nicht sowieso immer hervorragend aussah. „Du siehst fantastisch aus.“ Royce verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. „Danke.“ Die Türklingel ging, und bei dem durchdringenden Geräusch spannte sich Royce sofort an. Merrily warf ihm einen ermutigenden Blick zu und lief zum Eingang. Sie verstand Royce’ Unsicherheit, aber sie konnte sie nicht teilen – erst als sie die Tür öffnete und Pamela Lawler tatsächlich zu Gesicht bekam. Vor ihr stand eine hoch gewachsene Frau mit einer fabelhaften Figur. Die schulterlangen roten Haare waren perfekt gestylt, die Lippen rot wie reife Beeren. Die hohen Wangenknochen, die gerade Nase und die langen dunklen Wimpern gaben ihr das Aussehen einer klassischen Schönheit. Die Stilettos, der Minirock und die schicke Faltenbluse, am Nacken tief ausgeschnitten, verströmten einen unmissverständlichen Sexappeal. Neben dieser strahlenden Schönheit kam Merrily sich wie ein Bauerntrampel vor. Offenbar dachte die strahlende Schönheit genauso. Sie reckte das Kinn vor. „Wer ist denn das?“ Dale hinter ihr räusperte sich ungehalten. „Hallo, Schwester Gage“, antwortete er. „Sicher haben Sie uns schon erwartet.“
„Schwester?“ schnaubte Pamela verächtlich. „Sie sieht eher wie ein Babysitter aus.“ Merrily stieg die Röte in die Wangen, während Dale eilig die beiden Kinder ins Haus schob. „Cory, Tammy, das ist Schwester Merrily. Sie kümmert sich um euren Vater, seit er nicht mehr im Krankenhaus ist.“ Merrily fasste sich und beschloss, die Mutter einfach zu ignorieren. Sie beugte sich herab, um den Kindern guten Tag zu sagen. Cory war ein süßer blonder Fünfjähriger, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war, und obwohl er sie anlächelte, hielt er sich Schutz suchend an Dales Bein fest. Tammy trug ein pinkfarbenes Blümchenkleid und hatte die blauen Augen ihres Vaters und die glatten roten Haare ihrer Mutter. Sie starrte Merrily mit unverhohlener Feindseligkeit an, hinter der Merrily ihre Angst erriet. „Hallo“, sagte Merrily. „Ich freue mich, euch endlich kennen zu lernen. Euer Daddy spricht die ganze Zeit von euch. Er hat euch so vermisst.“ Corys Lächeln wurde offener, doch in Tammys Augen flammte Unsicherheit auf: Pamela schnaubte wieder und rauschte an Merrily vorbei in die Halle. „Bringen wir es hinter uns.“ Corys Lächeln verschwand, und auf Tammys Gesicht zeigte sich die Angst jetzt deutlicher. Sie wandte sich an Dale und sagte weinerlich: „Ich will nicht.“ „Tammy“, erwiderte Dale fest, „darüber haben wir doch schon gesprochen.“ „Euer Vater ist zwar noch nicht wieder ganz gesund, aber es geht ihm viel besser“, fügte Merrily aufmunternd hinzu. „Komm rein, dann kannst du es selbst sehen.“ Schließlich schloss sich Tammy schmollend ihrem Bruder an. Merrily tauschte einen besorgten Blick mit Dale, bevor sie die Haustür hinter ihnen schloss. Im Wohnzimmer angekommen, stürmte der kleine Cory sofort strahlend auf seinen Vater zu. Klugerweise setzte sich Royce auf die Armlehne des Sessels, bevor er seinen Sohn lachend in den Arm schloss und hochhob. Auf diese Weise hatte Royce auch ohne Krücken genug Halt. „Oh, du bist aber gewachsen!“ rief er mit zittriger Stimme. „Du bist ja richtig groß geworden!“ Merrily sah, dass er den Tränen nahe war. Der Blick, den er Dale zuwarf, war von einer solchen Dankbarkeit, dass sich ihr der Hals zuschnürte. Royce setzte sich den Jungen auf die Knie und küsste ihn. „Wie läuft es in der Schule?“ „Gut“, sagte Cory glücklich. „Ich kann schon das Afabet malen.“ „Das Alphabet? Wirklich? Das ist ja toll! Oh, ich bin richtig stolz auf dich.“ Royce drehte Cory so, dass er mit dem Rücken zu ihm saß, und blickte zur Tür, wo Tammy immer noch stand, und die Hände auf dem Rücken versteckte. Ermutigend lächelte Royce ihr zu. „Hallo, Schatz. Du hast heute aber ein hübsches Kleid an.“ Einen langen Moment richtete sie ihren gequälten Blick auf Royce, dann ließ sie die Augen sinken. Er lehnte sich über Corys Schulter vor. „Und, Tammy, wie geht es dir?“ Als sie nichts erwiderte, sprach er einfach weiter. „Magst du deine Lehrerin? Ihr habt ja jetzt eine neue. Ist sie genauso nett wie Mrs. Sands letztes Jahr?“ Mürrisch nickte Tammy. „Gut. Das ist gut. Ich möchte, dass du glücklich bist, Schatz, und nicht nur in der Schule, sondern immer.“ Schweigend sah Tammy an ihrem Vater vorbei. Royce ließ den Kopf sinken, während Pamela ein Stäubchen von ihrer Bluse wischte und tat, als ginge sie das alles nichts an. Dale räusperte sich, und Royce versuchte es noch einmal. „Tammy, ich wollte dir sagen, wie stolz ich auf dich bin und wie froh darüber, dass du damals den Notarzt gerufen hast. Das hast du genau richtig gemacht, und du warst sehr tapfer.“ Während seiner Worte begann Tammy zu zittern. Mit
gleichmäßiger Stimme fuhr er fort. „Du hast mir vielleicht sogar das Leben gerettet. Ich bin froh, dass ich so eine Tochter habe, und ich habe dich sehr lie…“ Plötzlich erwachte Tammy aus ihrer Erstarrung. „Nein!“ schrie sie. „Nein! Das will ich nicht!“ „Das meinst du doch sicher nicht so“, entgegnete Royce entgeistert. Tammy schaute Hilfe suchend zu ihrer Mutter, doch Pamela hatte nur einen unbeteiligten Blick für sie übrig. Beschwörend streckte Royce die Hand aus. „Baby, reg dich doch nicht auf. Hör mir zu. Ich hab dich doch lieb. Ich liebe dich so sehr, Tammy.“ „Royce, ich bitte dich!“ bemerkte Pamela, und Tammy begann wieder zu schreien: „Ich hasse dich! Ich wünschte, du wärst tot!“ Schluchzend wandte das Mädchen sich um und rannte davon. „Tammy, warte!“ rief Royce, aber sie hörte nicht auf ihn. Er stellte Cory wieder auf die Füße und sackte zusammen. „Und, bist du jetzt zufrieden?“ wollte Pamela wissen. „Du machst andere ja so gern unglücklich, also müsste dir das nun gefallen.“ Royce sah zu seiner Exfrau hoch. „Was hast du ihr bloß erzählt? Siehst du nicht, was du ihr damit antust?“ „Ich?“ fuhr ihn Pamela an. „Ich bin nicht diejenige, die sie hasst! Ist es etwa meine Schuld, wenn sie endlich eingesehen hat, was sie für einen lausigen Vater hat?“ Zum Glück erbarmte sich Dale in diesem Moment, schnappte sich Cory und bedeutete Merrily, ihm zu folgen. Das hier ist also die glückliche Familienzusammenführung, dachte sie traurig und warf einen letzten besorgten Blick auf Royce, der Pamela gerade anflehte: „Können wir nicht einfach offen über unsere Tochter reden?“ „Hier geht es nicht um unsere Tochter!“ schrie Pamela. „Es geht um dich! Du bist Gift, Royce! Gift!“ Im Frühstücksraum sagte Dale leise zu Merrily: „Gehen Sie bitte mit ihm in sein Zimmer und sehen Sie auch nach Tammy, ja?“ „Natürlich.“ Merrily nahm Cory an der Hand und ging mit ihm nach oben, während aus dem Wohnzimmer deutlich Stimmen zu hören waren. „Beruhige dich doch, Pamela.“ „Beruhigen? Ich habe noch nicht einmal angefangen! Du hast unser Leben zerstört!“ Merrily zwang sich ein Lächeln aufs Gesicht und wandte sich an den Jungen: „Ich wette, in deinem Zimmer finden wir ein paar gute Spielsachen.“ Cory nickte und warf einen traurigen Blick über die Schulter zurück. Um ihn abzulenken, redete Merrily munter weiter. Als sie zu Tammys Zimmer kamen, hörte sie zu ihrem Entsetzen lautes Schluchzen und Rumpeln hinter der geschlossenen Tür. Merrily schob Cory in sein eigenes Zimmer und gab ihm einen Teddybären und ein paar Spielzeugautos, bevor sie bei Tammy anklopfte und eintrat. Im selben Moment flog ein Buch an ihr vorbei und klatschte gegen die Wand neben ihr. Sichtlich erschrocken hielt Tammy inne, doch dann setzte sie wieder ihre feindselige Miene auf. Ein Stuhl lag umgeworfen auf dem Boden, Stofftiere, Kleider, Bücher und andere Sachen waren im ganzen Zimmer verstreut, selbst die Poster waren von den Wänden gerissen. Merrily schaute das Mädchen mitfühlend an, und plötzlich brach Tammy in ein solch lautes Schluchzen aus, dass Merrily selbst die Tränen in die Augen stiegen. „Weine nicht, Tammy,“ versuchte sie es und trat näher, aber die Kleine wich aus. „Lassen Sie mich in Ruhe! Sie haben doch gar keine Ahnung!“ „Immerhin weiß ich, dass dein Vater dich lieb hat.“
„Nei-i-in!“ heulte Tammy und presste die Fäuste vor den Mund. „Das stimmt nicht! Das kann er gar nicht!“ Merrily legte dem Kind eine Hand auf die Schulter. „Warum sagst du denn so etwas? Ich bin jetzt schon so lange hier, Tammy, und ich weiß, wie sehr er dich und deinen Bruder lieb hat. Er hat euch so vermisst. Jeden Tag erzählt er mir, wie tapfer und klug du bist.“ Tammy richtete einen hoffnungsvollen Blick auf Merrily. Ihre Unterlippe begann zu zittern, dann murmelte sie unverständlich: „Mommy wäre froh, wenn er tot wäre.“ Merrily zuckte zusammen. „Sag so etwas nicht. Sie streiten vielleicht, aber sicher will niemand, dass jemand stirbt.“ Tammy riss sie sich los und lief zum Fenster. Fest entschlossen, dem Mädchen irgendwie zu helfen, gesellte sich Merrily zu ihr. Die Kleine starrte aus dem Fenster auf die Treppe, die zur Auffahrt hinabführte. Von hier aus muss sie den Sturz ihres Vaters gesehen haben, begriff Merrily. „Jetzt hör mir einmal zu, Tammy“, begann sie mit fester Stimme. „Was auch immer du dort gesehen hast, es ist vorbei. Ich weiß, dass der… Sturz deines Vaters für euch alle schrecklich ist, aber dein Vater ist darüber hinweggekommen, und du solltest das auch versuchen.“ Tränen strömten über Tammys Gesicht. „Sie wissen doch überhaupt nichts“, sagte sie verächtlich und sah wieder aus dem Fenster. Merrily war voller Mitleid. „Alles wird gut“, versprach sie und zog das Kind an sich. „Alles wird gut.“ Ein Geräusch schreckte sie auf. Auf der Schwelle stand unsicher der kleine Cory. Merrily winkte ihn herein, und er sprang über das Chaos auf dem Boden und verbarg sein Gesicht an ihrer Hüfte. Merrily streichelte ihm beruhigend über den Rücken. „Was hat mein Daddy?“ Merrily kniete sich auf Augenhöhe mit ihm hin. „Dein Vater hat sich ein Bein und einen Arm gebrochen, aber der Arzt hat ihn wieder heil gemacht“, sagte sie fest. „Und bald wird alles so sein wie früher, dann kann er wieder mit euch spielen und Ausflüge machen.“ Sie umfasste sein kleines Gesicht und lächelte. „Er wird bald wieder ganz gesund sein. Alles wird wieder in Ordnung kommen.“ „Nein“, widersprach Tammy flüsternd. „Das glaube ich nicht.“ Merrily wusste nicht mehr, was sie noch sagen sollte, doch Cory befreite sie, indem er nach einem Buch griff und auf ihren Schoß kletterte. Kurz entschlossen zog sie Tammy an der Hand zu sich herunter. „Es sieht für euch vielleicht noch nicht danach aus,“ sagte Merrily so beruhigend wie möglich, „aber ich verspreche euch, es wird sich alles finden.“ Damit öffnete sie das Buch und begann vorzulesen. Sie hatte gerade ein Kapitel fertig gelesen, als Dale erschien. Sie tauschten einen Blick, und der Anwalt wandte sich an die Kinder. „Ich möchte, dass ihr jetzt mit mir kommt, Kinder. Bedankt euch schön bei Schwester Merrily.“ Tammy, die es sich gerade bequem gemacht hatte, rappelte sich widerstrebend hoch und trottete zur Tür. Cory warf Merrily ein scheues Lächeln zu, bevor er ging. „Danke.“ „Bitte“, entgegnete Merrily und stand auch auf. „Vielleicht kann ich euch bald das nächste Kapitel vorlesen.“ Unten im Wohnzimmer war von Pamela keine Spur mehr zu sehen, und Royce verabschiedete sich gerade von seinem Sohn. „Ich bin so froh, dass du gekommen bist“, sagte er. „In ein paar Wochen spielen wir wieder Minigolf zusammen. Wie war das?“
Fest an die Brust seines Vaters gedrückt, antwortete Cory: „Ja, und dann treffe
ich den Clown.“ Er deutete bekräftigend auf seinen Mund. „Genau in den Mund
nämlich.“
Royce kicherte. „Du triffst ihn garantiert.“
„Ja, und dann klingelt es“, fügte Cory hinzu. „Ich kann das nämlich gut!“
„Auf alle Fälle.“
„Ich nehm den gelben Ball“, meinte der Kleine.
Royce strahlte über das ganze Gesicht. „Ja, du kriegst den gelben, ich nehme
den blauen, und Tammy den roten. So machen wir das, wie?“
„Ja“, bestätigte Cory zufrieden.
Royce lächelte seinem Sohn ins Gesicht. „Ich hab dich lieb, mein Sohn“, sagte er
gefühlvoll.
Cory schlang seinem Vater die Arme um den Nacken. „Ich dich auch, Daddy.“
Einen langen Moment hielt Royce Cory nur an sich gedrückt, dann setzte er ihn
ab und wandte sich an Tammy, die die ganze Zeit auf den Boden gestarrt hatte.
Er holte tief Atem. „Tammy, möchtest du jetzt mit mir reden?“ fragte er sanft.
Tammy warf Merrily einen hilflosen Blick zu, schwieg aber. Merrily hätte so gern
etwas getan, doch sie begriff, dass sie sich hier nicht einmischen durfte.
Flehentlich hob Royce die Hand. „Sag mir doch wenigstens Auf Wiedersehen,
Schatz.“
Tammy wandte sich ab.
„Ich kann dich nicht zwingen, mit mir zu reden“, fuhr Royce resigniert fort. „Aber
ich weiß, dass du mich hörst. Also hör mir nun genau zu, Tammy. Egal, was du
denkst, ich hab dich lieb. Und zwar für immer, verstehst du? Egal, was passiert.“
Das Mädchen sah auf, und sie hatte Tränen in den Augen. Dann wandte sie sich
um und rannte aus dem Zimmer, doch in der Eingangshalle blieb sie noch einmal
kurz stehen. Nur für Merrily hörbar flüsterte sie: „Ich hab dich auch lieb, Daddy.“
Dann floh sie.
Royce biss sich auf die Lippen und legte den Kopf in den Nacken. Am liebsten
hätte Merrily ihn sofort getröstet, aber sie hielt an sich und schluckte die Tränen
hinunter.
Dale räusperte sich und legte Cory eine Hand auf die Schulter. „Zeit zu gehen,
Partner. Deine Mutter wartet im Auto.“
„Tschüs, Daddy!“
Royce schluckte schwer, bevor er dem Jungen noch einen Kuss gab. „Tschüs,
mein Sohn. Komm bald wieder, ja? Und sei nett zu deiner Schwester. Sie hat es
im Moment nicht leicht.“ Lächelnd tätschelte er ihm den Kopf und ließ ihn gehen.
Merrily winkte ihm zu, und der Kleine winkte zurück.
Als Dale mit den Kindern draußen war, trat sie zu Royce und legte ihm eine Hand
auf die Schulter. Er ergriff sie und warf Merrily einen Blick zu, der seine ganze
Qual verriet. „Tammy hasst mich“, sagte er bitter. „Das habe ich Pamela zu
verdanken. Meine eigene Tochter hasst mich.“
„Nein, sie hasst dich nicht“, tröstete ihn Merrily und strich Royce übers Haar.
„Hast du nicht gehört, was sie in der Eingangshalle gesagt hat?“
„Was denn?“
„Ich hab dich auch lieb, Daddy’, das hat sie gesagt, bevor sie davongerannt ist.“
Royce starrte Merrily eine Weile lang an, dann breitete sich ein zittriges Lächeln
über seinem Gesicht aus. „Das ist ja wenigstens ein Anfang“, sagte er
hoffnungsvoll.
Langsam verstand Merrily, in was für einem Albtraum Royce lebte. Sie schlang
die Arme um seine Schultern, und Royce ließ seinen Tränen freien Lauf und
schluchzte zitternd an ihrer Brust. In diesem Moment erkannte Merrily, wie sehr
sie ihn liebte. Alles hätte sie gegeben, um ihm den Schmerz und die Sorgen um
seine Kinder zu nehmen.
Schließlich fasste er sich wieder und wischte sich das Gesicht trocken. „Wie kann
ich ihnen bloß helfen, wenn ich nicht einmal mir selbst helfen kann?“ fragte er
erschöpft. „Pamela schert sich nicht darum, wie schwer Tammy es hat, solange
es mir nur weh tut.“
Merrily begriff nicht, was Pamela dazu treiben mochte, so zu denken. Doch allein
die Tatsache, dass sie ihrer Tochter sagte, sie würde den Tod ihres Vaters
herbeisehnen, ließ an ihrer geistigen Gesundheit zweifeln. „Sie hat dich
hinuntergestoßen, nicht wahr?“
Das Entsetzen stand Royce ins Gesicht geschrieben. „Warum fragst du das?“
„Tammy hat so etwas gesagt.“
„ Was hat Tammy gesagt?“ fragte er drängend.
„Sie sagte, ihre Mutter wäre froh, wenn du tot wärst.“ Royce rührte sich nicht,
daher ließ Merrily nicht locker. „Tammy hat es gesehen, nicht wahr? Sie hat
gesehen, wie ihre Mutter dich herunterstieß.“
„Das hätte Tammy dir nie gesagt“, widersprach er.
„Aber so war es doch, oder?“
„Darüber will ich nicht sprechen.“ Royce bückte sich nach seinen Krücken.
„Aber ich verstehe das nicht“, fuhr Merrily hartnäckig fort, „warum versuchst du
nicht, mit diesem Argument für das Sorgerecht zu streiten? Das willst du doch,
Pamela die Kinder entziehen, oder?“
„Du hast Recht“, gab Royce zu und holte sich mit der einen Krücke die andere
heran. „Ich will meine Kinder in Sicherheit wissen, aber du verstehst die
Zusammenhänge nicht.“
„Dann erklär sie mir“, drängte Merrily. „Wenn du dem Richter erzählst, was
vorgefallen ist…“
„Hör auf damit, Merrily!“ erwiderte Royce barsch. „Ich habe meine Gründe, und
sie gehen dich nichts an.“
Bei diesen deutlichen Worten hielt Merrily den Atem an. Es war ihm also egal,
dass sie sich Sorgen um ihn machte. Sie biss sich auf die Lippen. „Ich verstehe“,
sagte sie leise.
Auf Royce’ Miene zeigte sich Bedauern. „Es tut mir Leid. Es ist nur… ich kann
einfach nicht. Es steht so viel auf dem Spiel.“
Das konnte sich Merrily nicht länger anhören, schließlich hatte auch sie Gefühle.
„Wenn du mich bitte entschuldigst“, sagte sie steif. „Ich habe zu tun.“
Damit ließ sie Royce allein und machte sich auf, Tammys Zimmer aufzuräumen.
Was hatte sie eigentlich erwartet? Hatte Royce sie nicht gewarnt, dass er es sich
in seiner Lage nicht erlauben konnte, sich zu verlieben, bei all den Problemen,
die er gerade hatte? Es war dumm von ihr, aber sie konnte gegen ihre Gefühle
nicht ankommen. Sie liebte Royce Lawler und wollte ihm helfen. Am liebsten
hätte sie ihn und seine Kinder schützend in die Arme geschlossen und Pamela so
lange geschüttelt, bis sie wieder richtig im Kopf war und einsah, was sie
anrichtete.
Doch im Moment konnte Merrily weiter nichts machen, als Tammys Zimmer in
Ordnung zu bringen.
11. KAPITEL Merrily füllte Royce’ Kaffeetasse zum zweiten Mal, ohne dass er sie darum bitten
musste, bevor sie wieder an das Spülbecken trat. Er wünschte sich, dass er ihr
nicht sagen müsste, was er zu sagen hatte.
Royce war nicht verborgen geblieben, dass Tammy ihr Zimmer verwüstet hatte,
und gleichzeitig wusste er, dass Merrily versucht hatte, ihm dieses Wissen zu
ersparen. Sie war so liebevoll und selbstlos, seine Schwester Gage, und er hatte
sie mit unbedachten Worten verletzt. Dafür war er ihr eine Erklärung schuldig.
Seit dem vergangenen Nachmittag hatte sie nur mit ihm gesprochen, wenn er sie
anredete. In ihrer Stimme lag Mitleid und Schmerz, als hätte sie seine Probleme
auch auf die eigenen Schultern geladen, und Royce schämte sich. Wann hatte er
selbst zuletzt über seine Sorgen hinausgeblickt?
Er nahm die Gabel wieder auf. In letzter Zeit klappte es ganz gut, mit der linken
Hand zu essen, und er zwang sich noch ein paar Bissen des Rühreis hinunter.
Dann rückte er vom Tisch zurück, und wie erwartet kam Merrily sofort, um den
Teller wegzunehmen. Royce legte die Hand auf ihre.
„Können wir bitte reden?“
Sie machte sich frei und versteckte abwehrend die Hände hinter dem Rücken,
doch dann nickte sie, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich abwartend hin.
„Fang an.“
„Es tut mir Leid wegen gestern.“
„Das muss es nicht. Du konntest nichts dafür.“
„Ich meine, was ich zu dir gesagt habe… oder vielmehr, wie ich es gesagt habe.“
Sie sah weg. „Ach so. Mach dir keine Gedanken darüber. Ich verstehe dich.“
Royce versuchte die richtigen Worte zu finden. „Pamela ist sehr schwierig. Sie
will immer im Mittelpunkt stehen. Meine Aufgabe war es, sie anzubeten, egal was
sie tat oder sagte. Wenn sie etwas vollkommen Sinnloses haben wollte, habe ich
eben gezahlt, auch wenn das Geld knapp war. Sie hat keinerlei Fähigkeit zur
Selbstkritik oder Selbstbeschränkung, und es zählt immer nur, was sie will.“
„Du musst mir das nicht erklären“, sagte Merrily. „Ich konnte mir gestern ein
gutes Bild von ihr machen.“
„Oh, gestern war sie sogar richtig umgänglich, glaub mir. Was Tammy gestern
mit ihrem Zimmer gemacht hat, übernimmt normalerweise Pamela.“
Merrily stutzte. „Ich dachte, du hättest es nicht bemerkt. Ich glaube nicht, dass
sie es getan hat, um dich zu verletzen, sondern eher aus Wut.“
Royce lehnte sich vor und legte die Hand auf Merrilys gefaltete Hände. „Du
wolltest es mir ersparen“, sagte er. „Ich weiß das zu schätzen, aber so etwas war
zu erwarten. Pamela hat Tammy oft genug vorgemacht, wie man kostbare und
unersetzliche Dinge zerstört. Einmal hat sie sogar alle Fotos der Kinder
verbrannt.“
Entsetzt sah Merrily ihn an. „Doch nicht die ganzen Babyfotos? Wie konnte sie
nur?“
Royce drückte ihre Hände und lächelte müde. „Sie wollte sich unbedingt einen
teuren Pelzmantel leisten. Zu der Zeit hatte ich einen Kredit für mein
Unternehmen aufgenommen, und als ich ihr das Geld verweigerte, zerstörte sie
eben etwas, woran ich hing.“
„Das ist ja krank.“
Er nickte. „Genauso ist es. Ich habe alles versucht, Merrily. Nichts hat geholfen,
kein Reden, keine psychologische Beratung. Sie fühlt sich immer im Recht und
macht schreckliche Szenen, wenn sie nicht bekommt, was sie will. Irgendwann
fing sie sogar an, mich zu schlagen. Sie ist hoch gefährlich, aber versuch einmal,
das vor Gericht zu beweisen.“
„Oh, Royce.“ Mitleid lag in dem Blick aus Merrilys grünen Augen, und sie
streichelte tröstend seine Hand. „Vielleicht könnte Tammy vor Gericht aussagen,
wie unmöglich ihre Mutter sich benimmt.“
Er straffte sich. „Ich möchte nicht, dass meine Kinder gegen ihre Mutter
aussagen müssen. Tammy kämpft verzweifelt genug um Pamelas Liebe.“
„Aber Pamela ist das doch gar nicht wert.“
„Ich weiß, aber soll ich Tammy sagen, dass ihre Mutter eine Irre ist, die ihre Liebe nicht verdient hat? Ich weiß doch selbst, wie das ist, wenn man sich um Eltern bemüht, die niemals mit einem zufrieden sein werden. Nur dass Pamela das alles mit Absicht tut, um mich fertig zu machen.“ Merrily atmete langsam aus. „Der Gedanke, dass die Kinder bei ihr sind, muss grässlich für dich sein.“ „Er ist kaum auszuhalten. Als ich mich scheiden ließ, war ich sicher, das Sorgerecht zu bekommen, aber Pamela kann sich auch ganz normal benehmen, und vor Gericht wirkte sie trotz des Ehebruchs überzeugender“, berichtete Royce. „Mit ihrem hübschen Augenaufschlag belog sie den Richter schamlos und kam mit allem durch. Seither dreht sich mein ganzes Leben nur noch darum, die Kinder von ihr wegzubekommen.“ „Das tut mir so Leid. Aber wenn sie dich die Treppe heruntergestoßen hat…“ begann Merrily drängend. Royce schnitt ihr das Wort ab. „Das hat sie nicht.“ Erstaunt blickte Merrily ihn an. Wie passte das mit dem zusammen, was sie bereits wusste? „Du schützt sie wegen Tammy.“ „Nein. Sie hat mich nicht gestoßen.“ „Was ist denn dann passiert? Bist du einfach bloß gestolpert?“ Royce sah ihr geradewegs in die Augen. „Wie es geschah, spielt keine Rolle. Es zählt allein, dass Tammy mir das Leben gerettet hat, auch wenn sie jetzt hinund hergerissen ist, weil ihre Mutter mich vermutlich lieber tot sähe. Ich bin der Schurke in diesem Schauspiel, das lässt sich nicht ändern. Das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß, wie ich ihr helfen kann“, fuhr er fort. „Jedenfalls werde ich mich nicht der gleichen Lügen wie Pamela bedienen. Ich hoffe nur, dass sie sich irgendwann eine Blöße gibt. Es ist ja schon ein Anfang, dass das Kindermädchen gegen sie ausgesagt hat.“ „Aber das Sorgerecht hast du deswegen noch nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Bis dahin können noch Jahre vergehen, wenn es überhaupt mal so weit kommt. Pamela erzählt allen, dass es für die Kinder zu traumatisch ist, mich zu sehen, und wenn ich dann darauf bestehe, stehe ich als der Gefühllose da.“ „Das ist unfair“, flüsterte Merrily. „Ja“, pflichtete Royce ihr traurig bei, „aber jetzt siehst du vielleicht ein, warum ich dich nicht in diesen Wahnsinn hineinziehen möchte. Jeder Mensch, an dem mir etwas liegt, ist nur eine weitere Zielscheibe für Pamela.“ Er hob den eingegipsten Arm. „Und das ist der Grund, warum du wieder ausziehen musst, sobald dieser Gips ab ist.“ Merrily schaute Royce herausfordernd an. „Ist das nicht meine Entscheidung?“ „Nein, denn mir liegt wirklich etwas an dir, Merrily, und das ist für uns beide gefährlich.“ Eine lange Weile betrachtete sie ihn ernst. Dann stand sie auf und trug seinen Teller zur Spüle, kratzte die Reste in den Abfalleimer und stellte den Teller in die Spülmaschine. Danach setzte sie Wasser auf und bereitete eine Kanne für den Kräutertee vor. „Ich glaube, ich könnte jetzt etwas zur Entspannung brauchen“, meinte sie. „Möchtest du auch welchen?“ Royce musste lächeln. Wenn er nicht bereits in Merrily verliebt gewesen wäre, dann wäre er es spätestens jetzt. Welche andere Frau könnte ihn dazu bringen, diesen verflixten Kräutertee zu trinken? „Ja. Danke“, sagte er aus ganzem Herzen. Während er auf seine Kaffeetasse starrte, schwor er sich, Merrily niemals wissen zu lassen, wie tief seine Empfindungen für sie waren, denn wenn sie es erfuhr, würde sie ihn erst recht nicht verlassen. Sie war eine Frau, die ihren Mann
niemals im Stich lassen würde. Und dass er nicht dieser Mann war, war
wahrscheinlich die größte Tragödie in seinem Leben.
Als es an der Haustür klingelte, hob Merrily den Kopf vom Kissen. Wer konnte
das um diese Uhrzeit noch sein? Es war schon nach zehn, und sie sah gerade die
Nachrichten, nachdem sich Royce heute früh zurückgezogen hatte. Die letzte
Nacht hatten sie beide nicht gut geschlafen. Gefühle, die sie sich nicht
eingestehen wollten, waren immer wieder zwischen ihnen aufgelodert und hatten
jedes Wort, jede Berührung mit einer versteckten Bedeutung versehen.
Merrily hoffte, Royce habe das Klingeln nicht gehört, griff nach ihrem
Morgenmantel und eilte zur Tür. Als sie sie öffnete, blieb ihr fast die Luft weg. Es
waren Jody, Kyle und Lane.
„Was macht ihr denn hier?“
Jody, der Älteste, trat einen Schritt nach vorn. „Pack deine Sachen“, befahl er.
„Wir holen dich jetzt hier raus.“
„Was?“ Doch Jody war schon an ihr vorbei. Auf dem Rücken seines Hemdes sah
sie den bräunlichen Abdruck eines Bügeleisens. Trotz seines herrischen Tons
musste sie lachen.
Jody wirbelte herum. „Das ist überhaupt nicht lustig.“
„Genau“, bekräftigte Lane und trat ebenfalls ins Haus. „Ich habe eine
Verabredung sausen lassen, um mitzukommen und dich zu retten, und du stehst
da und lachst.“
„R-retten?“ prustete Merrily.
„Schnappt sie euch einfach und dann los“, winselte Kyle, der sich nicht
hereintraute. „Aber macht schnell, bevor dieser Brutalo aufkreuzt.“
„Brutalo?“ wiederholte Merrily. Ihre Belustigung wich allmählich einem
schlimmen Verdacht.
„Dieser Lawler ist doch in Gips“, wies Lane seinen Bruder zurecht. „Deswegen
sind wir ja auch jetzt da, da kann er uns nichts tun.“
Merrily konnte es kaum fassen. „Ich bin mir nicht ganz sicher, was hier vor sich
geht, aber ihr seid ganz schöne Idioten, wenn ihr denkt, dass Royce Lawler
brutal ist!“
„Du hast ja keine Ahnung, was er angestellt hat“, raunte Kyle verschwörerisch.
„Ja“, stimmte ihm Lane zu, „ein Glück für dich, dass uns diese heiße Rothaarige
den Tipp gegeben hat.“
Heiße Rothaarige? Tipp? „Oh, nein. Sie hieß nicht zufällig Pamela?“
„Ganz genau“, bestätigte Lane. „Heiß wie sonst was. Die hat mir vielleicht schöne
Augen gemacht!“
Kyle schnaubte. „Zu deiner Information, die stand auf mich!“
„Bloß weil du mit offenem Hemd rumläufst, mit der Bierdose in der Hand, hältst
du dich für den tollen Hecht, aber ich sage dir…“
„Ruhe, ihr beiden!“ bellte Jody. Auf der Stelle verstummten die anderen, und er
wandte sich seiner Schwester zu. „Ich wusste es von Anfang an. Es war ein
Fehler, dich hierher zu lassen. Der Typ, für den du arbeitest, schlägt seine Frau
und seine Kinder. Und er kommt nur damit davon, weil er genügend Geld hat.“
„Das ist doch absurd.“
„Ich schwöre dir, Schwesterchen, es ist die Wahrheit.“
Merrily verschränkte die Arme. „Habt ihr das von Pamela?“
„Ja, seine Exfrau hat sich an uns gewandt. Sie macht sich Sorgen um dich“,
antwortete Jody im Brustton der Überzeugung.
Wütend sah Merrily ihn an. „Das glaube ich einfach nicht! Ihr drei Trottel habt
euch von dieser Lügnerin einwickeln lassen! Diese Frau ist wahnsinnig.“
„Merrily, er ist gefährlich“, beharrte Jody.
„Ist er nicht!“
„Er benutzt dich doch bloß“, versuchte es Lane.
„Und ihr wollt doch nur, dass ich wieder nach Hause komme, um eure Hemden
zu bügeln, zu kochen und zu waschen!“
„Das ist ja auch deine Aufgabe“, rief Kyle.
„Nein! Ich bin Krankenschwester! Ich habe einen Job, für den ich bezahlt werde!“
„Es ist unsere Pflicht, dich zu beschützen“, verkündete Jody hochtrabend.
„Darum sind wir hier.“
„Jetzt mach aber mal einen Punkt!“ Merrily stemmte die Hände in die Hüften.
„Mir reicht es mit diesem Unsinn. Wenn ihr euer Gehirn auch nur ein bisschen
benutzen würdet, dann würdet ihr euch fragen, wieso Pamela sich überhaupt die
Mühe macht, euch solche Lügen zu erzählen. Aber für euch ist das ja nur ein
Vorwand, damit ich bald wieder euer Kindermädchen spiele. Tja, aber das könnt
ihr euch abschminken. Ich bin erwachsen und kann tun, was ich will, und leben,
wo ich will. Und ich kann euch sagen, wenn ich hier ausziehe, dann bestimmt
nicht zurück zu euch!“
Ungeduldig verzog Jody das Gesicht. „Red keinen Blödsinn. Du ziehst
nirgendwohin, sondern du kommst jetzt mit nach Hause“, bestimmte er und
packte Merrily am Arm. „Du bist immer noch meine kleine Schwester und gehörst
nach Hause.“
„Hände weg!“
Als sie Royce’ schneidende Stimme hörten, erstarrten alle vor Schreck. Merrily
erholte sich zuerst, befreite sich aus Jodys Griff und ging die paar Schritte zu
Royce herüber, der auf seine Krücken gestützt in der Halle stand. Er sah
fuchsteufelswütend aus.
„Was ist hier eigentlich los?“
Merrily antwortete. „Diese drei Spinner sind meine Brüder.“ Sie deutete der
Reihe nach auf sie. „Jody, Kyle und Lane. Sie bilden sich ein, dass ich mit ihnen
zurück nach Hause komme.“
„Schade eigentlich“, bemerkte Royce verächtlich. „Wenn sie nicht deine Brüder
wären, würde ich die Polizei rufen.“
„Die Polizei?“ wiederholte Kyle ängstlich und machte auf dem Absatz kehrt.
„Warum nicht? Sie begehen gerade Hausfriedensbruch und wollen meine
Angestellte entführen. Das wäre Grund genug.“
„Sie ist unsere Schwester!“
„Das gibt Ihnen nicht das Recht, sie gegen ihren Willen aus dem Haus zu zerren.“
„Das ist nur zu ihrem eigenen Besten!“ behauptete Jody.
„Sie wird schon selbst wissen, was das Beste für sie ist“, erwiderte Royce kalt.
„Außerdem – wenn Ihnen wirklich etwas an ihr läge, würden Sie ihre
Entscheidungen unterstützen und sie nicht wie ein Kind behandeln. Und ich
warne Sie, wenn Sie nicht damit aufhören, bekommen Sie es mit mir zu tun.“ Er
stieß Jody mit dem Ende seiner Krücke gegen die Brust, so dass der rückwärts
schwankte. „Ich werde nicht ewig in Gips herumlaufen.“
„Siehst du?“ kreischte Kyle. „Der Typ ist gewalttätig!“
„Sie werden bald herausfinden, wie sehr, wenn Sie sich noch einmal hier blicken
lassen“, warnte ihn Royce. „Sie sollten sich schämen: Drei erwachsene Männer,
die sich an einer Frau vergreifen!“
Jodys Gesicht färbte sich rot, aber er war noch nicht bereit aufzugeben.
„Schwesterchen, der Typ benutzt dich doch nur!“
„Wenigstens bezahle ich sie anständig dafür“, bemerkte Royce trocken.
„Aber Merrily ist gern bei uns“, widersprach Lane, dann warf er seiner Schwester
einen fragenden Blick zu. „Stimmt doch, oder?“
Merrily seufzte. Am besten machte sie ein für alle Mal reinen Tisch. „Ich glaube
nicht, Lane, dass es gut wäre, wenn ich wieder nach Hause käme. Es täte euch
nicht gut und mir auch nicht. Ihr solltet euch langsam selbst um euch kümmern,
und für mich ist es höchste Zeit, mein eigenes Leben in die Hand zu nehmen.“
Jody überging ihre Worte vollkommen. „Ach, nun komm schon, du wirst doch
immer unser kleines Äffchen bleiben, egal was passiert.“
„Kleines Äffchen?“ explodierte Royce. „Was ist denn das für ein Kosename? Hat
diese schöne Frau vielleicht Ähnlichkeit mit einem Schimpansen? Wenn ihr sie so
seht, dann stimmt wirklich etwas nicht mit euch! Euch Versagern wäre es wohl
am liebsten, wenn sie euch bis an ihr Lebensende die Strümpfe stopfen würde!
Das ist eine Beleidigung, die ich nicht dulden werde. Raus aus meinem Haus,
sofort!“
Royce machte einen Schritt vorwärts und hob eine Krücke, um den Brüdern
damit zu drohen. Die drei nahmen die Beine in die Hand, aber Jody ließ es sich
nicht nehmen, über die Schulter zurückzurufen: „Ich hoffe, du bereust das nicht,
Schwesterchen!“
„Nicht so sehr, wie ihr es bereuen werdet“, rief ihm Merrily hinterher und schloss
die Haustür. „Wenn ihr begreift, wie sehr ihr euch zum Narren gemacht habt“,
lachte sie leise.
„Dazu müssten sie aber denken können“, grollte Royce hinter ihr.
Fröhlich wandte sie sich zu Royce um. Er hatte sie eine schöne Frau genannt.
Und Respekt für sie eingefordert und sie verteidigt. So unangenehm ihr der
Auftritt ihrer Brüder war, so musste sie sich doch eingestehen, dass ihr die kleine
Szene auch etwas gegeben hatte. Da bemerkte sie Royce’ schmerzverzerrtes
Gesicht. „Royce!“
Er schwankte und stützte sich an der Wand ab.
„Du hast dein gebrochenes Bein belastet!“ rief Merrily und eilte zu ihm, um ihn
zu stützen.
„Ich habe mich wohl etwas übernommen“, gestand er. „In dem Moment hat es
gar nicht wehgetan, jedenfalls war es das wert, diese drei Holzköpfe von hinten
zu sehen.“
Merrily schlang einen Arm um seine Taille, als sie gemeinsam die Halle verließen.
„Dieser Besuch ist übrigens nicht allein auf ihrem Mist gewachsen“, informierte
sie ihn. „Pamela hat sie aufgewiegelt.“
Abrupt blieb Royce stehen. „Pamela steckt dahinter?“
Merrily nickte grimmig und erzählte ihm alles.
Er seufzte resigniert. „Diese Hexe.“ Dann straffte er sich und humpelte das letzte
Stück zu seinem Schlafzimmer. „Sie kennt meine Schwächen. Sie weiß genau,
wie sehr ich von dir abhängig bin.“
Merrily war entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. „Na ja, jedenfalls
unterschätzt sie mich, wenn sie denkt, dass ich mich von meinen Brüdern
beeindrucken lasse.“
„Ich will gar nicht daran denken, was ihr als Nächstes einfällt.“
Schließlich waren sie an seinem Bett angekommen. Royce warf den
Morgenmantel ab, den er sich über die Shorts gezogen hatte, und ließ sich in die
Kissen sinken.
„Möchtest du noch ein Schmerzmittel? Oder lieber einen Tee?“ erkundigte sich
Merrily.
Er lächelte. „Das wäre nett.“ Doch als sie sich gerade umwenden wollte, griff er
nach ihrer Hand. „Merrily, vielleicht solltest du doch zu deinen Brüdern
zurückkehren. Ich stelle dann jemand anderen ein.“
„Nein.“
„Honey, hör mir zu. Wenn dir irgendetwas passieren würde, könnte ich es nicht
ertragen.“ Er schluckte.
Sie setzte sich auf die Bettkante. „Und jetzt hörst du mir einmal zu, Royce
Lawler. Selbst wenn ich nicht verrückt nach dir wäre, würde ich mir von
niemandem mehr sagen lassen, wie ich mein Leben zu fuhren habe. Ich gehe
nicht. Daran wirst auch du nichts ändern.“
Sein Blick blieb besorgt, aber um seine Mundwinkel erschien ein kleines Lächeln.
„So etwas Ähnliches hast du schon zu deinen Brüdern gesagt.“
„Und es entspricht immer noch der Wahrheit.“
Royce strich ihr durch die Haare. „Bist du wirklich verrückt nach mir?“
„Das weißt du doch.“
Sein Blick glitt zu ihrem Mund, und einen Augenblick später schloss er die Hand
um ihren Nacken, um Merrily an sich zu ziehen. Sie gab nach und berührte
seinen Mund mit ihrem. Stöhnend verstärkte Royce den Druck, und sie öffnete
die Lippen, so dass sich ihre Zungen berührten und umspielten. Langsam zog
Royce Merrily auf sich herab. Ihre empfindlichen Brustspitzen erhärteten sich,
Hitze sammelte sich in ihrem Bauch. Unter der Hand, die sie ihm auf den
Brustkorb gelegt hatte, spürte sie sein Herz, das so schnell klopfte wie ihr
eigenes.
Es fühlte sich einfach alles so richtig an. So viele lange Jahre hatte sie auf diesen
Mann gewartet, ohne es zu wissen, und niemand würde ihn ihr wieder nehmen,
auch nicht Pamela Lawler. Sie musste Royce nur noch davon überzeugen, dass
sie zusammengehörten.
Er stöhnte auf, wandte den Kopf ab und unterbrach damit den Kuss. Sein
Brustkorb hob und senkte sich einige Male, und Merrily begriff, dass im Moment
seine Schmerzen größer waren als alles andere, auch wenn er sich vorhin nicht
ernsthaft verletzt hatte.
„Ich hole erst mal den Tee“, sagte sie und setzte sich auf.
„Gute Idee“, meinte Royce mit einem müden Lächeln. „Ein bisschen Entspannung
könnte ich jetzt wirklich gut gebrauchen.“
Sie musste nicht auf die Erhebung unter seinen Shorts schauen, um zu wissen,
worauf er anspielte. Sie tat es trotzdem, bevor sie sich in Richtung Küche
aufmachte.
Schmetterlinge begannen wild in ihrem Bauch zu tanzen, als sie an ihren Plan
dachte. Aber wenn Royce nicht so für sie empfand, wie sie glaubte? Wenn er sie
gar nicht so sehr wollte?
Nein, entschied sie. Heute Abend würde sie damit anfangen, ihr Leben selbst in
die Hand zu nehmen. Sollten Pamela Lawler und ihre dämlichen Brüder machen,
was sie wollten. Nur einer hätte jetzt noch die Macht, Merrily Gage aufzuhalten.
Und das sollte er erst einmal versuchen.
12. KAPITEL Royce verlagerte sich auf die Seite und stellte die leere Teetasse auf den Untersetzer. Dann zog er sich umständlich mithilfe seiner gesunden Hand die Shorts aus und warf sie auf den Boden. Er schlief ungern bekleidet, und das Laken fühlte sich wunderbar auf seiner nackten Haut an. Doch sein Wohlbefinden hatte vor allem mit Merrily zu tun. Er machte es sich in den Kissen bequem und genoss die Entspannung. Vor zwanzig Minuten hatte sie ihm den Tee gebracht, um gleich wieder zu gehen. Und das war gut so, wenn er es genau bedachte. Ihr Kuss hatte ihn an die Grenze seiner Beherrschung geführt, und er musste an sich halten, Merrily nicht aufs Bett zu ziehen und sich auf sie zu rollen. Trotz seiner Gipsverbände spürte er, dass dem, was er sich mit ihr erträumte, nichts mehr im Wege stand. In diesem Moment wollte Royce sich nur ein wenig entspannen, aber er konnte
seine Gedanken einfach nicht von Merrily wenden. Er überlegte, was sie alles für ihn getan hatte und was sie ihm inzwischen bedeutete. Diese Frau ließ ihn wenigstens eine Zeit lang seinen Kummer vergessen. Und dennoch durfte sie nicht länger bei ihm bleiben, sobald er wieder auf den Beinen war. Morgen würde er ihr das noch einmal verdeutlichen. Als er diesen Entschluss gefasst hatte, knipste er die Nachttischlampe aus. Gerade kuschelte er sich in die Kissen, da öffnete sich die Tür zu seinem Schlafzimmer, und Merrily glitt lautlos herein. Royce hob den Kopf und sah, dass sie etwas Hauchdünnes trug, dann wurde es wieder dunkel, weil sie die Tür hinter sich schloss. Verwirrt stützte er sich auf den gesunden Ellbogen. „Merrily? Was ist los?“ Sie sagte nichts, doch er hörte, wie sie näher kam. Dann stieß sie ans Fußende des Bettes. „Au!“ Perplex schaltete Royce die Nachttischlampe an. Merrily stand am Fußende und rieb sich das bloße Schienbein. Im Lichtschein richtete sie sich auf, und eine wilde Lust erfasste Royce. Das riesige T-Shirt, das sie sonst zum Schlafen trug, hatte Merrily gegen ein knielanges pinkfarbenes Nachthemd mit Spitzenbesatz eingetauscht. Es war gerade durchsichtig genug, dass er die Schatten zwischen den Beinen und unterhalb der Brüste sehen konnte. Der schwerelose Stoff umschmiegte ihre Kurven und überließ nichts der Fantasie. Den Pferdeschwanz hatte sie gelöst, so dass ihr das lange dichte Haar ungehindert über die Schultern floss. Royce’ Mund wurde trocken. Merrily sah an sich herunter und spielte nervös mit dem Stoff ihres Nachthemds. Dann murmelte sie entschuldigend: „Etwas Besseres habe ich im Moment nicht.“ Etwas Besseres? Royce stemmte sich ganz hoch und starrte sie nur an. Vor ihm stand eine begehrenswerte Frau, die sein Blut in Wallung brachte, eine Frau, die ihn verführen und von ihm berührt werden wollte. Schüchtern hob sie den Saum des Nachthemds und kletterte aufs Bett. Als hätte es noch der Frage bedurft, brachte Royce mit heiserer Stimme hervor: „Darling, was machst du da?“ Erst sagte Merrily nichts, dann hob sie das Kinn und sah Royce direkt in die Augen. „Ich will mit dir schlafen.“ Sein Herz machte einen Satz. Doch trotz seiner Erregung schaffte Royce es, schwach zu widersprechen. „Merrily, du weißt nicht, was du tust.“ „Nur weil ich es noch nie getan habe, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht weiß, was ich tue“, widersprach sie. Dann setzte sie sich auf die Fersen und zog sich das Nachthemd mit beiden Händen über den Kopf. Beim Anblick von Merrilys glatter Haut und den verlockenden Kurven stockte Royce der Atem. Ihre kleinen festen Brüste schienen wie für seine Hände gemacht, und die Brustknospen warteten nur darauf, von seinen Lippen verwöhnt zu werden. Von Merrilys schmaler Taille und den sanft geschwungenen Hüften glitt sein Blick zu dem Dreieck aus dichten braunen Kraushaaren zwischen ihren Schenkeln. Ihre natürliche Schönheit zog ihn unweigerlich in ihren Bann. „Sweetheart, das habe ich nicht verdient.“ „Aber ich“, erwiderte sie. Dann kroch sie auf allen vieren langsam auf ihn zu, bis sie über ihm anhielt und den Kopf senkte. „Ich will es, Royce. Schick mich nicht fort, bitte“, flüsterte sie. Als wenn er dazu imstande gewesen wäre! Royce legte die Hand an die schmälste Stelle ihrer Taille und ließ die Finger über Merrilys seidige Haut bis zur Brust gleiten. „Ach, das habe ich mir schon so lange gewünscht. Aber ich bin leider noch nicht so weit in Form, dass ich dich richtig glücklich machen kann.“ „Du musst überhaupt nichts tun“, versprach sie ihm und schmiegte sich an seine Hand. „Bleib einfach liegen und überlass alles mir.“ Sie senkte den Körper auf
seinen, ohne sich ganz auf ihn zu legen, und streichelte seinen Brustkorb. „Das ist nicht fair, Darling“, sagte Royce und atmete schwer. „Du verdienst viel mehr, als ich dir geben kann.“ „Das sehe ich anders, Royce. Du bist der erste Mann, mit dem ich je schlafen wollte.“ „Merrily“, flüsterte er. „Du weißt ja nicht, was für ein Geschenk du mir damit machst. Das bin ich gar nicht wert.“ „Pscht“, sagte sie nur und rieb sich leicht an ihn. Royce konnte das lustvolle Stöhnen nicht unterdrücken, das ihm entfuhr. Als sie das Bettlaken bis zu seinen Beinen nach unten schob, hielt er den Atem an. Leicht strich sie ihm mit der Hand über den Bauch und weckte in Royce eine Vorahnung dessen, was kommen würde. Als Merrily dann die Hand um ihn schloss, konnte er nicht mehr klar denken, für ihn gab es nur noch das quälend süße, scheinbar unstillbare Verlangen nach ihr. Er erschauerte und gab sich ganz ihrer Liebkosung hin. Dann nahm er wahr, dass Merrily ihn küsste, und er musste seine Aufmerksamkeit teilen zwischen dem geschickten Spiel ihrer Hände und der süßen Höhle ihres Mundes. Ihre Zunge folterte ihn, glitt hin und her wie ihre Hand und entzog sich seinen Versuchen, sie zu fassen. Royce raufte Merrily durchs Haar und umfasste ihren Hinterkopf, bis er mit seiner eigenen Zunge die Oberhand gewonnen hatte. Als Merrily sich ganz auf ihn schob und sich auf seine Hüften setzte, umschloss er wieder ihre Brüste, die er streichelte und sanft massierte, bis Merrily sich genüsslich streckte und räkelte wie eine Katze und damit den Kuss unterbrach. Royce zog sie näher zu sich heran, so dass er den Mund um ihre rechte Brustknospe schließen konnte. Binnen kurzer Zeit hörte er Merrily aufstöhnen, und als er zur anderen Brust überging und die Finger seiner linken Hand zu ihrer feuchten, weichen Stelle gleiten ließ, warf sie den Kopf zurück und stieß drängend die Hüfte gegen seine Hand. Während er mit den Fingerspitzen der einen Hand sanft ihre Brustwarze liebkoste, stieß er mit der anderen weiter rhythmisch in ihre intimste Stelle. Gerade als er sicher war, Merrily so zum Höhepunkt bringen zu können, zog sie sich zurück und setzte sich auf seine Schenkel. Vorwurfsvoll sah sie ihn an. „Ich sagte doch, du sollst es einfach mir überlassen.“ Royce lachte kurz auf. „Ja, Schwester.“ Ein Lächeln huschte über ihren verlockenden Mund. „So ist es fein.“ Sie schloss die Augen halb und umfasste ihn von neuem. Ein wohliger Schauer durchfuhr Royce und ließ ihn zusammenzucken. In seinem Kopf drehte sich alles vor Begehren. Nun kniete Merrily sich über ihn und senkte sich langsam auf seine Hüften herunter. Feuchte Hitze umschloss ihn langsam, während sie die beste Position für ihr Liebesspiel suchte. Ihm blieb der Atem stehen, als in seinem Kopf Sterne explodierten. Sobald er wieder klar sehen konnte, bemerkte er, dass Merrily ganz still auf ihm saß. Mühsam füllte er seine Lungen wieder mit Luft. „Habe ich dir wehgetan?“ Belustigt zog sie die Augenbrauen hoch. „Wehgetan? Eher im Gegenteil.“ Sie lächelte zufrieden. Erleichtert schloss Royce die Augen. Als Merrily ihre inneren Muskeln anspannte, umfasste er ihren Nacken mit einer Hand, sog scharf die Luft ein und stieß im gleichen Moment das Becken nach oben. „Ah“, kam es von Merrily, und dieser wohlige Laut ließ ihn die Bewegung wiederholen. Beim dritten Mal stützte sie sich vorn ab und begann sich auf den Knien auf und ab zu bewegen.
„Ja“, stöhnte er. „Oh, ja.“ Merrily bewegte sich schneller, und bald fanden sie ihren gemeinsamen Rhythmus. Die Ekstase begann sich in ausgedehnten Wellen in ihm auszubreiten. Wochen der Qual und der Sorgen waren wie weggeblasen. Bei Merrily fühlte Royce sich endlich frei. Er würde ihr geben, was er konnte, denn sie hatte einen guten Liebhaber verdient. Vorsichtig zügelte er sich und unterdrückte die bevorstehende Erfüllung. Nur Merrilys Lust im Sinn, ließ er seine gesunde Hand über ihren Körper gleiten, streichelte sie, während er mit winzigen Stellungsveränderungen experimentierte, bis Merrily aufkeuchte und den Kopf zurückwarf. Als sie zum Höhepunkt kam, saß sie aufrecht auf ihm, den Rücken nach hinten gebogen. Sie hielt ihre eigenen Brüste umfasst, und ihr langes Haar floss ihr über den Rücken und berührte seine Beine. Royce stemmte das Becken vom Bett hoch, um noch tiefer in sie einzudringen, und liebkoste sie zusätzlich mit den rhythmischen Bewegungen seiner Finger. Als die Schauer, die Merrily durchliefen, langsam verebbten und ihr Tränen über die Wange strömten, schob sie seine Hand weg, zog die Knie etwas an und wiegte sich hin und her. Royce versuchte sich aufzurichten, ohne aus ihr herauszugleiten, schlang die Arme um ihren Rücken und wiegte sich mit Merrily im Takt. „Alles ist gut, mein Engel. Du bist bei mir. Alles ist gut“, flüsterte er beruhigend. Langsam entspannte sie sich und lehnte den Kopf an seine Schulter, bis ihre Tränen getrocknet waren. Dann brachte sie sich wieder in Position, schloss die Beine um seine Hüften und begann von neuem, sich auf ihm zu bewegen. Schließlich warf sie ihr Haar zurück und sah ihn an. In ihren Augen glühte ein neues, sinnliches Wissen, das ihn so erregte, dass ihm der Atem stockte. Unvermittelt drückte sie ihn zurück auf die Kissen und streckte sich lang auf ihm aus. Mit der Zunge begann sie, seinen Mund zu erforschen, und ließ Royce damit fast vergessen, dass er noch immer in ihr war. Sein Höhepunkt kam so plötzlich, dass er es beinahe nicht geschafft hätte, rechtzeitig aus ihr herauszukommen, wenn er sie nicht beide auf die Seite geworfen und sich zurückgezogen hätte. In seinem Kopf drehte sich immer noch alles, bis Merrily ihn leicht anstieß. „Was fällt dir ein?“ Er lachte, in diesem Augenblick so glücklich, dass von ihm aus die Welt hätte einstürzen können. „Ich wollte nicht…“ Er brachte den Satz nicht zu Ende. Auf gar keinen Fall durfte ihr Liebesspiel weit reichende Konsequenzen haben. Das Bild einer hochschwangeren Merrily erfüllte ihn dennoch mit einer solchen Sehnsucht, dass ihm dabei fast die Tränen kamen. Royce schluckte seine Gefühle hinunter. „Es wäre nicht sehr klug, jetzt ein Baby zu zeugen“, brachte er hervor. „Oh.“ Sie senkte den Blick. „Du hast Recht. Daran habe ich nicht gedacht.“ „Ich hätte dich fragen sollen, bevor wir, ahm…“ „Wir uns geliebt haben“, beendete sie den Satz für ihn. Royce umfasste ihr Kinn. „Ja, bevor wir uns geliebt haben.“ Merrily lächelte auf die nachsichtige erotische Art einer Frau, die weiß, welche Macht sie über Männer hat. „Du bist enttäuschend einfach zu verführen.“ Er lachte. „Da hast du Recht.“ Mit einem zufriedenen Seufzer kuschelte Merrily sich an ihn, einen Arm locker um seine Taille gelegt. Royce zog sie ein wenig näher zu sich heran. Sie sah zu ihm auf. „Kann ich heute Nacht hier bleiben?“ Sanft tippte er mit einem Finger auf ihre Nasenspitze. „Versuch nur, dieses Bett zu verlassen.“ Lächelnd griff sie über ihn hinweg und knipste die Nachttischlampe aus. Royce
konnte nicht widerstehen und umfasste noch einmal ihre wunderschön geformten
Brüste, bis Merrily das Laken hochzog und ihren Kopf an seine Halsgrube
schmiegte.
Als er schon vermutete, dass sie schlief, sprach sie plötzlich. „Ich muss morgen
in die Stadt fahren.“
„Warum?“
„Du willst doch sicher nicht, dass ich Dale Kondome mitbringen lasse?“
Die Aussicht darauf, dass diese unglaubliche Liebesnacht nicht die einzige
gewesen sein sollte, erfüllte Royce mit Glück. „Nein, mein Engel, das wollen wir
dem armen Dale nicht antun“, lachte er.
„Siehst du.“ Dann gähnte sie laut. „Entschuldigung. Ich bin wohl doch etwas
müde“, murmelte sie, und innerhalb einiger Augenblicke war sie eingeschlafen.
Royce starrte in die Dunkelheit. Eine große Zufriedenheit durchströmte ihn. Er
fühlte sich wie auf Wolken. Auch wenn er mit Merrily keine Zukunft hatte, so
würde er doch immer diese wunderbare Erinnerung an sie zurückbehalten – und
wenn er Glück hatte, sogar noch ein paar mehr.
„Nnnneeeeiiiiiiin!“
Merrily fuhr hoch, das Herz raste ihr vor Schrecken. „Royce? Royce!“
Wild strampelnd warf er sich herum. „Ah!“
„Du hast schlecht geträumt, Royce, wach auf!“
Schwer atmend packte er Merrilys Handgelenk. „M-messer“, stotterte er. „Oh,
mein Gott. Ich habe geträumt, dass sie hier im Zimmer ist, und dann hat sie das
Messer gehoben, und ich war wie gelähmt, ich konnte nichts tun…“
„Du meinst Pamela.“
„Ja!“ Er umfasste ihren Nacken mit seiner gesunden Hand. „Und sie hat dich in
den Rücken gestochen, als wir uns liebten und du auf mir saßest. Oh, Merrily,
was habe ich getan!“
Um die Schatten zu vertreiben, schaltete Merrily erst einmal die Nachttischlampe
an. „Du hast nichts getan, was du nicht wolltest, Royce“, sagte sie pragmatisch.
„Und Pamela ist nicht hier. Es war nur ein Traum.“
Mit den Fingerspitzen strich er ihr das Haar von der Schulter. „Es war so echt!
Ich hatte noch nie solche Angst!“
Beruhigend legte Merrily ihm die Hände auf den Brustkorb. „Glaubst du wirklich,
dass sie zu so etwas fähig ist?“ Pamela durfte Royce’ Leben nicht so dominieren.
„Du weißt, ich gehe nicht, bevor du nicht wieder gesund bist.“
Er strich ihr sanft durchs Haar. „Das sollst du auch nicht.“
Merrily ignorierte das drohende Aber, das darin mitschwang, und kuschelte sich
wieder an seine Seite. „Dann haben wir das ja geklärt. Ich weiß, worauf ich mich
eingelassen habe. Und ich weiß, warum es sich lohnt.“
Royce lächelte und zog ihren Kopf zu sich heran, bis ihre Stirn seine berührte.
„Und warum, Schwester Gage?“
Mit geschlossenen Augen erwiderte sie sein Lächeln und ließ eine Hand über
seinen Brustkorb zu seinem flachen Bauch gleiten. Die Muskeln unter ihrer
Handfläche zogen sich zusammen. „Ach so, das meinst du also damit“, scherzte
er.
„Hm.“
„Wie wär’s, wenn du dir deine Belohnung sofort abholst?“
Merrily öffnete die Augen und ließ die Hand tiefer gleiten. „Meine Belohnung
wofür?“ fragte sie unschuldig.
Erregt sog er die Luft ein. „Dafür, dass du mich so berührst. Dafür, dass du so
sexy bist. Und so unvermittelt in mein Leben gestolpert bist. Du bist
wahrscheinlich… aah… a-absolut… barmherziger… bitte, Merrily, n-nicht
aufhören!“
„Nur, wenn ich meine Belohnung bekomme“, wisperte sie und schloss die Lippen
um seinen Mund. Royce schlang die Arme um Merrily und erwiderte ihren Kuss
mit wilder Leidenschaft.
Innerlich musste Merrily lächeln. Sie hatte einen Sieg errungen. Doch wie lange
würde dieses Gefühl anhalten?
13. KAPITEL Das plötzliche Losheulen der Alarmanlage erschreckte Merrily so, dass sie den
Salat fallen ließ, den sie gerade waschen wollte. Wasser spritzte über den Boden.
Seit sie und Royce ein Paar waren, war die Alarmanlage auf Royce’
ausdrücklichen Wunsch vierundzwanzig Stunden in Betrieb.
Merrily fasste sich wieder und schnappte sich ein Geschirrhandtuch, um sich die
Hände abzutrocknen. Dann eilte sie in die Halle, um das Gerät auszuschalten,
bevor die automatische Benachrichtigung der Polizei erfolgte. Von oben rief
Royce: „Was ist denn los?“
„Ich weiß noch nicht!“ gab sie zurück und drückte den Knopf der
Außensprechanlage. „Wer ist da?“
„Dale.“
„Es ist Dale!“ rief sie hinauf, dann wandte sie sich wieder dem Besucher zu.
„Warum haben Sie denn nicht geläutet? Sie haben den Alarm ausgelöst!“ sagte
sie, als er hereinkam.
„Tut mir Leid“, erklärte er. „Ich habe wohl den Türgriff angefasst, bevor ich
geklingelt habe.“
„Na ja, meinetwegen müsste die Alarmanlage auch nicht den ganzen Tag
eingeschaltet sein, aber Royce besteht darauf. Er hat Angst um mich.“
„Angst um Sie?“
Merrily senkte die Stimme. „Er hat geträumt, Pamela habe mich verletzt. Sie hat
bereits meine Brüder aufgewiegelt, die prompt hier auftauchten und mich vor
dem angeblichen .Brutalo’ retten wollten. Royce hat sie hinausgeworfen.“
„Er hat sie hinausgeworfen? Wie viele Brüder haben Sie denn?“
„Drei ganz besonders charakterstarke Exemplare, glauben Sie mir“, seufzte
Merrily.
„Offenbar, wenn sie sich von einem einzigen Mann auf Krücken davonjagen
lassen.“
„Von wem?“ Inzwischen war Royce auf seinen Krücken in die Halle gekommen.
„Von dir“, erwiderte Dale. „Du bist doch der einzige Krüppel hier.“
„Danke“, entgegnete Royce trocken. „Meine Handicaps haben wenigstens nichts
mit meinen geistigen Fähigkeiten zu tun. Komm rein, du willst sicher zum
Mittagessen bleiben.“
„Wenn es keine Umstände macht…“
„Bestimmt nicht.“ Royce ging mit Dale ins Wohnzimmer. „Engel, bist du so nett
und stellst die Alarmanlage wieder an, bevor du das Mittagessen machst?“
Merrily warf Dale einen Hab-ich’s-Ihnen-nicht-gesagt-Blick zu und gab Royce
automatisch einen Kuss auf die Wange. Im Hinausgehen hörte sie Dale leise
murmeln: „Da muss ich euch ja wohl nicht mehr fragen, wie es euch geht.“
Merrily erstarrte. Diese Küsse schienen ihr inzwischen so selbstverständlich, dass
sie gar nicht mehr darüber nachdachte.
Royce räusperte sich. „Willst du vielleicht eins mit der Krücke übergebraten
bekommen?“
Merrily wirbelte herum. „Royce, bitte!“ Sie verschränkte die Arme. „Spielt nett
miteinander, sonst schicke ich euch auf eure Zimmer!“
„Gern“, neckte Royce sie. „Aber nur, wenn du mitkommst, Darling.“ Er setzte
eine unschuldige Miene auf. „Oder wolltest du nicht, dass Dale es weiß?“
„Dale interessiert sich doch gar nicht für unsere… äh…“
„Schlafzimmergeschichten?“ ergänzte Royce fragend.
„Privatangelegenheiten“, gab sie unwirsch zurück und wurde rot.
Mit einem Blick auf Dale hob Royce eine Augenbraue. „Das scheint mir aber ganz
anders.“
„Du willst mir doch nur deine Eroberung unter die Nase reiben“, meinte Dale
bissig.
„Jetzt reicht es aber, ihr beiden!“ schalt Merrily. „Ihr benehmt euch ja wie zwei
Kampfhähne. Und dabei seid ihr doch Freunde! Was ich tue, entscheide immer
noch ich selbst.“
Dale wirkte plötzlich sehr verschlossen, Royce dagegen grinste spitzbübisch. „Ja,
Ma’am.“
Er zwinkerte ihr zu, bevor sie die Alarmanlage neu programmierte, und plötzlich
ging ihr auf, dass Royce nicht nur mit ihr prahlen wollte, sondern auch
eifersüchtig war. Er wollte Dale wissen lassen, dass sie schon vergeben war.
Lächelnd gab sie die Codenummer ein.
„Tja“, befand Dale, „vielleicht sollte ich mir auch eine Privatkrankenschwester
anschaffen.“ Die Stimmung zwischen den beiden hellte sich wieder auf.
„Brauchst du vielleicht Hilfe beim Knochenbrechen? Ich kann dir ein paar gute
Tipps geben.“
Merrily verdrehte die Augen und machte sich in die Küche auf, um das
Mittagessen zu kochen und den Tisch für drei zu decken. Beim Essen sprachen
sie über Berufliches, und als sie geendet hatten, bedankte sich Dale: „Das war
köstlich. Ihr Geschmack, was Männer betrifft, ist zwar verbesserungswürdig, aber
Ihr Essen ist immer eins a.“
„Heißt das, dass Sie dafür den Abwasch übernehmen?“ erwiderte Merrily trocken.
Dale verschränkte die Arme. „Schließlich bin ich derjenige hier, der allein nach
Hause gehen muss. Soll doch der Patient die Arbeit machen.“
Entschuldigend hielt Royce seinen eingegipsten Arm hoch. „Diese Woche nicht.“
Merrily lachte und trug das Geschirr zur Spüle, während Royce sich zurücklehnte.
„Okay, Kumpel, Scherz beiseite. Du bist sicher nicht nur wegen des Mittagessens
gekommen. Was bringt dich her?“
Dale warf Merrily einen Blick zu, als sie sich neben Royce stellte, der den Arm um
ihre Hüfte legte und auf Dales Neuigkeiten wartete. „Der Richter hat heute
morgen einen Entscheid unterzeichnet, mit dem Pamela verpflichtet wird, Tammy
zu einer unabhängigen Psychologin zu schicken.“
Merrily spürte, wie Royce erleichtert ein wenig zusammensank. „Ich bin ja so
froh“, sagte er. „Wie hast du das geschafft?“
„Mit dem Kindermädchen. Sie kam ja bereits zu mir, weil Pamela Tammy
geschlagen hat, aber erst als Pamela sie bedrohte, packte sie richtig aus.“
Royce setzte sich gerade. „Wie bedrohte?“
Dale zuckte die Schultern. „Sie sagte, sie werde dafür sorgen, dass sie die
Arbeitserlaubnis verlöre, und dass sie sie überall anschwärzen werde. Was man
eben von Pamela zu erwarten hat. Ich habe ihr geraten, sich anderswo nach
einem Job umzusehen.“
„Aber Pamela würde sie doch sicher nicht körperlich bedrohen oder?“ fragte
Merrily besorgt.
Dale warf einen Blick zu Royce, als wäre die Frage überflüssig, aber der
wechselte eilig das Thema. „Wann wird Tammy denn die Psychologin sehen
können?“
Aus seiner Jacketttasche holte Dale ein Blatt Papier und faltete es auf. „Sobald
wir eine aus dieser Liste ausgewählt und einen Termin vereinbart haben.“ Er
reichte das Blatt seinem Freund. „Ich habe schon einige angekreuzt, die ich
kenne.“
Royce studierte die Liste mit Namen und Adressen, während ihm Merrily über die
Schulter sah. Dann deutete sie auf einen Namen. „Diese Frau hier ist eine
hervorragende Ärztin.“
„Kennst du sie?“ fragte Royce und blickte auf.
Merrily nickte. „Ja, sie ist auf Kinder spezialisiert. Ich habe einige ihrer Patienten
betreut. Einmal hatte ich einen elfjährigen Jungen, dessen Eltern bei einem
gemeinsamen Autounfall ums Leben gekommen sind. Er war selbstmordgefährdet, aber Dr. Denelo hat ihn völlig umgekrempelt. Sie wird in
Fachkreisen hoch geschätzt.“
„Dann bin ich dabei“, bekundete Royce und gab Dale die Liste zurück.
„Ich mache einen Termin mit ihr aus“, versprach Dale.
„Sagen Sie Dr. Denelo schöne Grüße“, fügte Merrily hinzu. „Das beschleunigt die
Sache vielleicht ein wenig.“
„Mach ich“, stimmte Dale zu und faltete den Zettel wieder zusammen. „Sieht aus,
als hätte sich das Blatt endlich gewendet, Kumpel.“
„Das wurde aber auch langsam Zeit, wenn du mich fragst.“
„Ich muss wieder ins Büro.“ Dale stand auf. „Danke für das Mittagessen.“
„Gern geschehen. Ich bringe Sie zur Tür und schließe hinter Ihnen ab“, sagte
Merrily.
„Aber keine Dummheiten machen“, warnte Royce. „Damit kommst du mir
nämlich nicht davon!“
„Würde mir nicht im Traum einfallen“, spöttelte Dale. „Oder doch?“ Vielsagend
hob Dale eine Augenbraue in Richtung Merrily.
Merrily lächelte, nahm ihn am Arm und begleitete ihn zur Tür.
„Es ist ja ziemlich offensichtlich, was Sie für ihn empfinden“, kommentierte der
Rechtsanwalt mit gesenkter Stimme.
„Ich bin verrückt nach ihm“, gestand Merrily ebenso leise. „Absolut verrückt nach
ihm. Ich liebe ihn.“
Dale ergriff ihre Hand und drückte sie kurz. „Ich weiß.“
Merrily biss sich auf die Lippe. „Und glauben Sie, er weiß es auch?“
„Haben Sie es ihm denn noch nicht gesagt?“
Sie wandte den Blick ab. „Es war noch nicht der richtige Zeitpunkt. Er hat im
Moment so viele andere Probleme.“
Dale atmete tief ein. „Dann hat er seine Gefühle Ihnen gegenüber auch noch
nicht geäußert?“
„Nicht direkt“, erwiderte Merrily und schloss die Haustür auf. „Aber ich bin sicher,
dass er es tun wird, wenn die Zeit gekommen ist“, sagte sie fest.
„Das denke ich auch.“ Dale trat ins Freie, dann zögerte er. „Übrigens, Sie sollten
Pamela nicht unterschätzen. Wenn sie Wind von dem neuen Entscheid bekommt,
muss man mit allem rechnen. Besser, Sie lassen die Alarmanlage an.“
Merrily nickte. „Machen Sie sich keine Sorgen. Was soll Pamela schon von mir
wollen? Sie weiß ja nicht einmal, dass wir zusammen sind.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, widersprach Dale. „Ihr beiden sendet ziemlich
eindeutige Signale aus. Irgendwann wird sie es schon mitkriegen.“
„Ich habe nicht vor, klein beizugeben“, entgegnete Merrily entschlossen. „Auch
wenn Royce denkt, es sei zu gefährlich für uns zusammenzubleiben, wenn er
wieder gesund ist. Ich werde ihn auf keinen Fall verlassen.“
Dale lächelte. „Diesmal wette ich auf Sie.“
„Sie lernen schnell“, lachte Merrily. „Und Sie werden sehen, es wird gut gehen.
Denn er liebt mich auch, das weiß ich.“
„Es würde mich wundern, wenn er es nicht täte“, fügte Dale hinzu und wandte
sich zum Gehen.
Merrily schloss die Tür. Egal, was passierte, sie würde ihren Platz nicht räumen.
Nur Royce könnte sie vom Gegenteil überzeugen, wenn er ihr sagte, dass er
nicht ebenso für sie empfand wie sie für ihn. Aber das konnte sie sich nicht
vorstellen. Royce würde sie nicht so berühren und jede Nacht zu einem intimen
Abenteuer jenseits ihrer wildesten Träume machen, wenn er sie nicht wirklich
liebte. Oder doch?
„Und wie geht es bei der Ärztin, Schatz?“ fragte Royce seine Tochter. Auf seinem
Schoß hockte Cory, der seit dem letzten Besuch zwei Zentimeter gewachsen zu
sein schien, während Tammy auf dem Sofa saß und scheinbar unbeteiligt mit den
Schultern zuckte.
Royce war unendlich erleichtert, dass Dr. Denelo regelmäßige Besuchszeiten
empfohlen hatte, auch wenn Pamela durchgesetzt hatte, dass sie nicht allzu lang
dauerten.
„Beim ersten Mal habt ihr euch sicherlich erst einmal kennen gelernt“, versuchte
Dale seinen Freund zu unterstützen. Tammy schwieg.
„Hat dir Dr. Denelo schon ihre Puppensammlung gezeigt?“ fragte Merrily, die
hinter Royce’ Lehnsessel stand.
Tammy warf ihr einen erstaunten Blick zu und nickte still.
„Im Wartezimmer hat sie eine Eisenbahn“, erzählte Cory stolz. „Man kann damit
unter den Stühlen durchfahren und den Bäumen und auch sonst überall!“
„Das sind doch keine echten Bäume, sondern Zimmerpflanzen!“ sagte Tammy
besserwisserisch.
„Doch, sind sie schon!“ beharrte Cory. „Ich bin sogar auf einen geklettert!“ Er
warf seinem Vater einen vorsichtigen Blick zu. „Aber dann ist er umgefallen.“
„Ich hoffe, du hast ihn wieder aufgestellt“, mahnte Royce wohlwollend.
„ja, die Tante hinter dem Glas hat mir geholfen.“
Das musste die Frau an der Rezeption gewesen sein. Er konnte ein Lächeln nicht
verbergen. „Das war aber nett von ihr.“
„Und dann hast du weiter mit der Eisenbahn gespielt?“ fragte Merrily.
Cory nickte. „Ja, und das war schön, aber Mommy sagte, ich kriege keine, weil…“
Er unterbrach sich und schlug eine Hand vor den Mund.
„Weil Daddy uns nicht genug Geld gibt“, beendete Tammy den Satz für ihn.
Royce fühlte sich, als hätte man ihn in den Magen getreten. „Nein!“ krähte Cory
zu seiner Verteidigung. „Weil ich böse war und den Baum umgeworfen habe!“
„Ist doch egal, warum“, schlichtete Royce mit fester Stimme. „Vielleicht kann ich
ja Santa Claus überreden, dir eine Eisenbahn zu bringen. Ich bin sicher, du bist
bis dahin ein braver Junge.“
„Und übrigens bezahlt euer Vater mehr Unterhalt, als er von gerichtlicher Seite
her müsste“, erinnerte Dale sie leise.
Royce wechselte das Thema. „Übrigens, Tammy, wusstest du, dass Schwester
Merrily Dr. Denelo kennt?“
„Ja“, bestätigte Merrily. „Sie ist sehr nett. Jedes Mal, wenn sie ins Krankenhaus
kam, wo ich arbeitete, hat sie den Kindern eine andere Puppe zum Spielen
mitgebracht.“
„Warum waren die Kinder im Krankenhaus?“ fragte Tammy argwöhnisch.
„Oh, aus verschiedenen Gründen“, erwiderte Merrily. „Manche bekamen die
Mandeln heraus oder hatten eine böse Grippe. Manchmal waren sie auch da, weil
sie einen Unfall hatten.“
„Waren die verrückt?“ wollte Cory wissen und drehte sich gespannt zu Merrily
um. Aus Tammys Gesicht wich alle Farbe, und in Royce spannten sich sämtliche
Nerven an.
„Nein“, erklärte Merrily ruhig, „manche hatten große Angst, wenn sie sehr krank
waren, aber verrückt waren sie deswegen nicht.“
„Weil Mommy sagt, Dr. Denelo ist eine Ärztin für verrückte Kinder“, fuhr Cory
fort. „Daddy glaubst du, Tammy ist verrückt?“
Royce wäre fast explodiert, so wütend war er. „Auf keinen Fall!“
„Weil Mommy sagt…“
„Deine Mommy hat Unrecht“, warf Merrily dazwischen.
„Das ist mir egal“, rief Tammy und ballte die Hände zu Fäusten. „Ich will nicht zu
der doofen Dr. Denelo und ihren blöden Puppen gehen!“
„Du hast doch gesagt, dass sie nett ist!“ widersprach ihr Cory und lehnte sich
vor.
„Hab ich nicht!“ Tammy sprang auf. „Ich will jetzt nach Hause. Mommy hat
gesagt, wir dürfen nach Hause gehen, wenn wir wollen, und ich will jetzt!“
„Nein!“ brüllte Cory. „Ich will dableiben! Ich will bei Daddy bleiben! Und zwar
über Nacht!“
„Es ist ja gut“, beruhigte Royce ihn. Am liebsten hätte er geweint, aber er
schluckte seine Enttäuschung hinunter und versuchte die Dinge positiv zu sehen:
Tammy mochte Dr. Denelo lieber, als sie zugeben wollte, und Cory wollte über
Nacht bleiben. Das war doch schon ein Schritt vorwärts. Zärtlich umarmte er
Cory. „Ich bin so froh, wenn du da bist, Cory. Irgendwann kannst du auch hier
übernachten, das verspreche ich dir, aber heute ist es vielleicht besser, wenn
dich Onkel Dale wieder zu deiner Mutter fährt.“
„Sicher“, bekräftigte Dale und stand auf. „Es wird sowieso langsam Zeit.“
Widerwillig ergriff Cory die Hand, die er ihm hinstreckte.
„Tammy, willst du deinem Vater nicht Auf Wiedersehen sagen?“ sprach Dale das
Mädchen an.
Die Kleine zuckte mit den Schultern, dann winkte sie kurz in Richtung Royce.
„Tschüs.“
„Auf Wiedersehen, Schatz. Ich hab dich lieb. Und dich auch, Cory.“
„Hab dich auch lieb“, echote Cory, als er mit Dale in die Halle ging.
Als Tammy vor Royce stand, blieb sie stehen wie festgefroren. Ihr
Gesichtsausdruck war völlig reglos, nur ein leichtes Zittern in den Knien verriet
sie. Royce streckte den linken Arm aus und zog seine Tochter an sich, die es
willenlos geschehen ließ. Er umarmte sie fest, und nach einem kurzen Augenblick
machte sie sich los und schoss davon.
Royce warf den Kopf zurück, so glücklich war er darüber, dass Tammy
wenigstens kurz ihre Feindseligkeit abgelegt hatte.
Sanft legte ihm Merrily eine Hand auf die Schulter. „Sie wird langsam wieder“,
flüsterte sie.
„Das hoffe ich sehr“, gab er zurück und legte seine Hand auf ihre. Merrily trat um
ihn herum, und er zog sie auf den Schoß.
„Alles kommt in Ordnung, Royce, du wirst sehen. Vielleicht solltest du selbst mal
mit Dr. Denelo reden und ihr sagen, was du weißt.“
Royce schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, außer sie kontaktiert mich. Für
Pamela gilt das Gleiche. Es gehört zu dem Entscheid, dass die Ärztin
unvoreingenommen bleibt.“ Er seufzte. „Ich habe das Gefühl, die Zeit läuft mir
davon.“
„Wie meinst du das?“
Royce hob den rechten Arm. „Der Gips kommt nächste Woche ab“, erinnerte er
sie. „Und am Bein bekomme ich einen Gehgips. Wie kann ich da noch länger,
deine Anwesenheit rechtfertigen?“
„Wieso solltest du das rechtfertigen?“ entgegnete sie sanft. „Wenn wir zusammenbleiben wollen, dann können wir das, tun, Royce. Ich kann schon auf mich aufpassen.“ „Das weiß ich.“ Er wollte nicht mit ihr streiten. Stattdessen schob er ihr das Haar über die Schulter, um die Stelle an ihrem Hals zu küssen, an der sie es so liebte. In den letzten Wochen hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, all ihre erotischen Geheimnisse zu entdecken, und es war das Lohnenswerteste gewesen, was er je getan hatte. Merrily hatte ihn auf so vielfältige Weise geheilt und ihm die größte Lust bereitet. Wie konnte er jemals ohne sie weiterleben? „Lass uns heute früh ins Bett gehen“, flüsterte er. Merrily erhob sich lächelnd von seinem Schoß. „Ist es jetzt noch zu früh?“ fragte sie ihn sinnlich. „Jetzt ist der perfekte Zeitpunkt dazu“, erwiderte er und mühte sich aus dem Lehnsessel hoch. 14. KAPITEL „Sieh mal an, wer da ist“, sagte Merrily zu Dale, als sie auf die Terrasse kam.
„Entschuldige, Royce, dass ich nicht zur Tür gehen konnte.“
Der hoch gewachsene Anwalt erhob sich aus dem Liegestuhl neben dem seines
besten Freundes. „Einerseits ist es eine Verbesserung, dass unser armer Kranker
hier, mir inzwischen selbst die Tür aufmacht, andererseits sieht er nicht halb so
gut wie Sie aus.“ Er umarmte Merrily kurz, und sie lachten beide. „Hm, kann es
sein, dass der Wind sich doch noch dreht?“ stichelte er in Royce’ Richtung.
„Der Wind hat gerade das Bad geputzt“, informierte ihn Merrily und strich sich
eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Royce sog am Strohhalm in seinem Eistee, während Dale ihn gespielt empört
ansah. „Du Sklaventreiber!“
„Wieso?“ Er blinzelte hinter seiner Sonnenbrille hervor.
Merrily beugte sich zu ihm hinab und küsste ihn auf den Kopf, doch Royce zog sie
auf den Liegestuhl neben sich. Dale seufzte. „Irgendwas mache ich falsch.“
„Ach, irgendwo da draußen wartet bestimmt die Richtige auf Sie“, tröstete ihn
Merrily. „Sie haben sie nur noch nicht gefunden.“
„Oder jemand anderes hat sie vor mir gefunden“, brummte Dale.
„Du musst einfach Geduld haben“, riet ihm Royce. „In der Zwischenzeit wäre es
gut, wenn du aufhören würdest, mir Merrily abspenstig zu machen.“ Er legte die
Hand um Merrilys Nacken und zog sie zu einem kurzen Kuss zu sich.
Merrily legte den Kopf an Royce’ Schulter und schloss die Augen. Die Abendsonne
goss ihr mildes Licht friedlich über sie. Es war die richtige Tageszeit, um auf der
Sonnenterrasse die letzten Strahlen der Herbstsonne aufzutanken, die sich so
angenehm auf ihrer Haut anfühlte. Bald würde es kühler werden.
„Nein, ihr beiden passt perfekt zueinander, wisst ihr das?“ sagte Dale unerwartet
ernst. „Auch wenn mir das natürlich nicht gefällt.“
Royce setzte seine Sonnenbrille ab. „Manchmal hast du doch tatsächlich deine
lichten Momente.“
Merrily schüttelte den Kopf. „Ihr seid mir zwei. Dale, bringen Sie ihn bitte rein,
sonst bekommt er noch einen Sonnenbrand. Ich trage noch schnell den Müll
hinunter, dann mache ich das Abendessen.“
„Ja!“ Dale rieb sich die Hände.
„Hast du eigentlich niemanden, der dich futtert?“ fragte Royce, während er sich
an Dales Arm hochzog.
„Na ja, immerhin hast du die am besten aussehende Köchin.“
Amüsiert machte sich Merrily auf den Weg, um den schwarzen Müllsack die
Treppe hinunterzutragen, den sie eigentlich schon früher hatte wegschaffen
wollen. Unten angelangt, ging sie zu dem großen Container unter dem Fuß der
Treppe und warf den Müllsack mit Schwung hinein. Als sie den Deckel schloss,
gewahrte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Erschrocken prallte sie
zurück, als Pamela auf sie zuschoss und sie am Handgelenk packte.
„Ich will mit Ihnen reden.“
Merrily entriss ihr den Arm. „Sie sollten sich besser nicht hier sehen lassen“,
entgegnete sie atemlos.
Auch in dem grauen Sportdress und den modischen Turnschuhen wirkte Pamela
noch wie aus dem Ei gepellt. Merrily in ihren Jeans, den Leinenschuhen und dem
T-Shirt kam sich im Gegensatz dazu wie eine graue Maus vor.
„Ich sagte, ich will mit Ihnen reden, und zwar jetzt.“
Merrily verschränkte die Arme. „Dann reden Sie. Ich muss gleich das Abendessen
machen.“
Pamelas abschätziger Blick ließ keinen Zweifel daran, dass sie bereits alles
wusste. „Royce wird bald das Interesse an Ihnen verlieren.“
Bei ihrer eiskalten Stimme lief Merrily ein Schauer den Rücken hinab, doch sie
ließ sich nicht einschüchtern. „Okay. Sonst noch etwas?“
„Was hat er Ihnen erzählt?“ forderte Pamela unvermittelt.
„Worüber?“
„Ach, tun Sie doch nicht so! Ich weiß genau, wo Sie wohnen.“
„Ist das eine Drohung?“
„Sie sollten mich nicht unterschätzen, Schwester Gage. Ich habe schon mit Ihren
Brüdern geredet, und Ihre Kollegen im Krankenhaus wissen auch Bescheid.“
Merrily ärgerte sich über Pamelas Selbstherrlichkeit, aber sie zeigte es nicht.
„Worauf wollen Sie hinaus? Oder geht es nur darum, wer von uns beiden hier
besser abschneidet?“
Pamelas Gesicht verzerrte sich. „Sie wagen es, sich mit mir auf eine Stufe zu
stellen? Sie sind doch ein Nichts! Sie haben ja nicht einmal so viel Sexappeal,
dass sich ein Durchschnittsmann auch nur einmal nach Ihnen umdrehen würde!“
äußerte sie verächtlich.
„Ach, ja?“ gab Merrily spöttisch zurück. „Seltsam, Royce scheint da anderer
Meinung zu sein.“
Noch einmal flammte Wut in Pamelas Blick auf, dann schienen ihre Augen kalt
wie Eis. „Täuschen Sie sich nicht. Sex bedeutet nichts. Sie kommen Royce
gerade recht, das ist alles.“
„Wenn dem so wäre“, entgegnete Merrily und versuchte ihre Verzweiflung zu
verbergen, „dann wären Sie nicht hier.“
„Ganz im Gegenteil“, konterte Pamela. „Genau deswegen bin ich hier. Ich will Sie
aus dem Haus haben. Er hat Sie nämlich nicht verdient. Wir sind zwar
geschieden, aber so leicht kommt er mir nicht davon. Erst muss er für das
bezahlen, was er mir angetan hat!“ Sie redete sich in Rage. „Wissen Sie, wie
viele Türen mir inzwischen verschlossen sind, weil ich nicht mehr seine Frau bin?
Ich habe Freunde verloren, wichtige Leute!“
„Sie meinen wohl die Leute aus den Hochglanzzeitschriften“, sagte Merrily
angewidert. „Leute mit Geld, so oberflächlich und unehrlich wie Sie selbst!“
„Leute mit Geld!“ schrie Pamela. „Sie haben doch gar keine Ahnung! So weit
würden Sie im Leben sowieso nie kommen!“
„Und Sie dachten, mit Royce kämen Sie dorthin, wo Sie hinwollten? Tja, das
hätten Sie sich besser überlegen sollen, bevor Sie eine Affäre angefangen
haben!“
„Das sind doch Lappalien! Royce ist schuld an allem“, zischte Pamela.
„Seinetwegen habe ich alles verloren!“ „Das haben Sie sich selbst zuzuschreiben.“ Pamela rieb sich die Schläfen. „Er steht für alles, was ich immer wollte! Er ist reich, gut aussehend, aus einer der angesehensten Familien in Texas und wird zu den wichtigsten Parties, in die feinsten Häuser eingeladen! Und er? Es ist ihm alles völlig gleichgültig!“ „Ihnen offenbar nicht“, murmelte Merrily. Endlich verstand sie, wie gestört Pamela sein musste. „Wie konnten Sie nur glauben, dass ein Mann wie Royce auf solche Oberflächlichkeiten wirklich Wert legt?“ „Oberflächlichkeiten?“ schnaubte Pamela. „Was verstehen Sie denn schon davon? In der Schule waren Sie wahrscheinlich ein richtiges Mauerblümchen. Ich war das begehrteste Mädchen von ganz San Antonio! Und Royce hat mir alles verdorben. Aber gut, ich habe ihn gewarnt. Entweder bringt er es in Ordnung, oder er muss bezahlen.“ Verzweifelt sah Merrily ihre ungebetene Besucherin an. „Sie werden sich nur selbst dabei schaden. Was haben Sie denn vor? Noch einen zweiten Unfall arrangieren?“ Kurz huschte ein angstvoller Ausdruck über Pamelas Miene, dann lächelte sie überlegen. „Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden.“ „Ach, kommen Sie“, gab Merrily zurück. „Wir wissen doch beide, dass Sie Royce die Treppe hinuntergestoßen haben und Tammy es gesehen hat!“ Zu Merrilys Erstaunen warf Pamela den Kopf zurück und lachte aus vollem Halse. „Du liebe Güte, Sie sind wirklich dümmer, als ich dachte.“ „Eines Tages wird alles ans Licht kommen!“ rief Merrily mit zitternder Stimme. „Meine Tochter“, stellte Pamela eiskalt klar, „wird niemals erzählen, was in dieser Nacht geschehen ist.“ Merrily konnte sich kaum vorstellen, dass Tammy nicht irgendwann mit der Wahrheit herausrückte, aber Pamela schien offenbar davon überzeugt zu sein. „Und wieso glauben Sie das?“ „Weil sie weiß, wie gefährlich ihr Vater ist“, sagte Pamela tückisch. „Royce ist nicht gefährlich! Sie lügen!“ „Ach ja?“ fragte Pamela. „Und wenn Tammy sagte, ihr Vater hätte etwas Böses getan, würden Sie ihr dann nicht glauben?“ Merrily wurde übel. „Das würde sie nie tun.“ „Doch, wenn ich es ihr sage.“ Merrily schüttelte den Kopf. Auf einmal hatte sie furchtbare Angst um Royce. „Sie sind krank. Das wissen Sie doch, oder? Sie brauchen Hilfe.“ Sie trat einen Schritt zurück. „Sie gehören ins Krankenhaus.“ „Nein!“ Plötzlich stürzte sich Pamela auf sie und zerkratzte ihr die Arme und den Hals. „Nein! Nein!“ Wild schlug sie auf Merrily ein und versuchte, ihr die Haare auszureißen. Zuerst hielt Merrily nur schützend die Arme hoch, doch dann siegte ihre Wut darüber, was Royce und seine Kinder und nun auch sie selbst sich von dieser Frau gefallen ließen. Schließlich war sie nicht umsonst die jüngste Schwester von drei Brüdern. Geschickt hakte sie einen Fuß hinter Pamelas Bein und drückte sie gleichzeitig an den Schultern hintenüber. Pamela fuchtelte wild mit den Armen, bevor sie zu Boden ging, aber sie rappelte sie gleich wieder auf und stürzte sich von neuem auf Merrily. Doch die hatte sich gewappnet und erwischte Pamela am Handgelenk, das sie ihr gekonnt in einem Hebel nach hinten umbog. Zum zweiten Mal landete Pamela unsanft auf dem Boden. Merrily stellte einen Fuß auf ihren flachen Bauch und hielt sie so unten, wie sie es in Kindertagen immer mit Jody und den anderen gemacht hatte, wenn sie sie nicht mitspielen ließen. „So, und jetzt hören Sie mir gut zu“, zischte sie, um in Pamelas wahnsinniges
Hirn durchzudringen. „Wenn Royce oder den Kindern irgendetwas, auch nur das
Geringste, zustößt, dann sorge ich dafür, dass Sie für immer aus dem Verkehr
gezogen werden.“
„D-das können Sie nicht machen!“
„Oh, doch“, bluffte Merrily. „Ich bin weder ein Mann, der sich aus lauter Anstand
nicht wehrt, noch ein verängstigtes Kind. Ich habe die entsprechenden
Beziehungen zu Ärzten, die Sie einweisen und sogar vor Gericht stellen können.
Haben Sie mich verstanden?“
Pamela starrte sie nur an, aber die Angst in ihrem Blick sprach Bände. Merrily
nahm den Fuß weg und zog sich in eine sichere Entfernung zurück.
Pamela rappelte sich hoch. „Sie haben ja keine Ahnung“, flüsterte sie, als wollte
sie sich selbst davon überzeugen.
Plötzlich erschallte Dales Stimme von oben. „Merrily? Was machst du denn da so
lange?“
Pamela floh. „Sie haben ja keine Ahnung!“ schrie sie noch einmal.
„Merrily!“ rief Dale wieder.
„Ich weiß genug“, murmelte Merrily und fasste sich an die brennende Wange,
während Dale die Stufen hinuntergeeilt kam.
„Es war Pam, nicht wahr? Wo ist sie?“
„Weg.“
Zur Bestätigung hörten sie in einiger Entfernung Reifen quietschen. Dale drehte
Merrilys Kopf ins schwindende Licht. „Sie sind ja verletzt!“
Merrily besah sich ihren Arm. Rote Striemen zogen sich über die Haut, und auf
dem T-Shirt klebten Bluttropfen. „Es sieht schlimmer aus, als es ist“, murmelte
sie. Mit festem Blick sah sie Dale an. „Pamela hat mich angegriffen. Ich will
Anzeige erstatten. Das haben andere schon mit weniger Beweisen geschafft.“
Stirnrunzelnd untersuchte Dale ihren Arm. „Was ist denn passiert?“
„Sie hat mir aufgelauert, als ich den Müll hinuntertrug. Es gab Streit, und dann
ist sie auf mich losgegangen. Ihr habt Recht. Sie ist verrückt, und sie wird alles
tun, um Royce zu schaden, wenn wir sie nicht aufhalten.“
Dale rieb sich das Kinn. „Mit Ihrer Anzeige werden wir auf alle Fälle eine
Anhörung durchsetzen, aber Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass Pamela
das nicht auf sich sitzen lassen wird.“
„Das muss sie aber, wenn wir gewinnen“, konterte Merrily herausfordernd.
„Gerade dann nicht“, warnte Dale. „Royce wird das gar nicht gefallen.“
Im selben Moment hörten sie seine Stimme von oben. „Merrily? Dale? Was ist
denn los?“ Von der Sonnenterrasse aus war zu hören, wie er seine Krücken
aufsetzte.
„Das wird Royce aber nicht zu entscheiden haben“, informierte Merrily den
Anwalt knapp. Sie wandte sich zur Treppe und rüstete sich innerlich für die
bevorstehende Konfrontation.
15. KAPITEL „Du begreifet nicht, wie gefährlich sie ist!“ beharrte Royce, der in seinem
Lehnsessel saß.
„Oh doch“, widersprach Merrily. „Pamela lag auf der Lauer und hat mich
angegriffen. Ich habe sie zweimal überwältigt, bis sie endlich Ruhe gab.“
Dale schien das zu gefallen. „Ich wünschte, ich hätte es gesehen!“
„Tja, sie hat eben nicht bedacht, dass ich drei ältere Brüder habe“, sagte Merrily
selbstbewusst.
„Diesmal magst du ja als Siegerin hervorgegangen sein“, meinte Royce. „Aber sie
wird denselben Fehler nicht ein zweites Mal machen.“ „Und deswegen will ich Anzeige erstatten“, erklärte Merrily. „Das ist doch unsere Chance, Royce!“ Dale war ganz aufgeregt. „Endlich haben wir Beweise für Pamelas Gemeingefährlichkeit! Wir können den Fall gewinnen!“ Einen Moment lang leuchtete Hoffnung in Royce’ blauen Augen auf, doch dann schüttelte er ungläubig den Kopf. „Ich kann das nicht zulassen, Honey. Pamelas Hass ist zu stark, als dass ein Gerichtsbeschluss sie stoppen könnte, und ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir meinetwegen noch etwas Schlimmeres zustößt.“ Merrily kniete sich neben ihn. Ihr Herz klopfte, aber sie war innerlich ruhig. Jetzt, wo der Augenblick gekommen war, waren ihre ganzen lächerlichen Ängste plötzlich verschwunden. Royce war alles, was zählte. Sanft strich sie die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen glatt. „Siehst du denn nicht, dass meine Liebe zu dir stärker ist als ihr Hass?“ fragte sie zärtlich. Einen Augenblick lang sah Royce aus, als hätte er nicht gehört, was sie gesagt hatte, doch dann hob er die Hand und strich mit zitternden Fingern über die blauen Flecken auf ihrer Wange. „Ich liebe dich zu sehr, um dieses Risiko einzugehen“, flüsterte er. Das war alles, was Merrily zu wissen brauchte. Sie legte ihm die Arme um den Nacken, und Royce zog sie auf den Schoß. „Wir müssen einen Weg finden, sie aufzuhalten“, erklärte sie, „denn ich kann ohne dich nicht leben.“ „Und ich könnte nicht leben, wenn ich wüsste, dass du meinetwegen leidest“, erwiderte er und küsste sie sanft auf die verletzte Wange. „Aber du kannst doch nichts für Pamelas krankhafte Niederträchtigkeit“, versicherte sie ihm. „Lass dich nicht davon blenden. Und glaub nicht, dass du für mich mitdenken musst. Ich bin erwachsen und kann für mich selbst sorgen.“ „Das weiß ich allerdings.“ Royce küsste sie aufs Kinn. Merrily schloss genussvoll die Augen, ließ sich aber nicht ablenken. „Ich werde tun, was ich für das Beste halte“, sagte sie. „Du kannst mir entweder dabei helfen oder nicht, aber aufhalten wirst du mich nicht.“ Er legte den Kopf zurück und machte einen langen Seufzer. „Na gut, wenn ihr meint.“ „So ist es am besten“, kam ihr Dale zu Hilfe und zückte sein Mobiltelefon. „Erst einmal müssen wir die Beweise aufnehmen lassen, die uns vor Gericht in der Sorgerechtsanhörung zugute kommen sollen.“ Er tippte die Nummer der Polizei ein und reichte Merrily das Gerät. „Hallo?“ sagte sie zu dem Polizisten am anderen Ende. „Ich möchte einen Überfall melden.“ „Was ist denn das?“ fragte Merrily. Auf dem festlich gedeckten Esszimmertisch standen brennende Kerzen. „Ich dachte, wir könnten etwas feiern“, antwortete Royce, während er sich auf den Gehstock stützte, der die Krücken ersetzt hatte. „Ich habe schon lange nicht mehr gekocht.“ Der Tisch war für zwei gedeckt. Auf der feinleinenen Tischdecke standen edles Porzellan, Besteck mit Ebenholzgriffen und kristallene Champagnerflöten. Royce hatte seine beste Jeans aufgeschnitten, damit sie über den Gehverband passte, und sich einen leichten hellen Kaschmirpullover angezogen. „Das hat nicht zufällig etwas mit der morgigen Anhörung zu tun, oder?“ fragte Merrily leichthin, aber er lächelte nur. „Ich hoffe, du magst Lachs in Honigglasur. Und Champagnerjetzt, wo ich keine Medikamente mehr brauche.“ „Das lasse ich mir durchaus gefallen“, sagte sie lächelnd, und Royce deutete mit
einer Handbewegung zu einem Stuhl. Während sie sich setzte, bemerkte sie:
„Ich komme mir etwas underdressed vor.“
Royce begutachtete ihr schlichtes T-Shirt und die ausgewaschene Jeans, legte
die Wange an ihre und flüsterte: „Eher overdressed, würde ich sagen.“
Merrily lachte, und er drückte sie kurz an sich, bevor er in die Küche humpelte.
„Kann ich dir helfen?“ rief sie ihm hinterher.
„Nein. Du hast wochenlang für mich gesorgt. Heute Abend bin ich dran.“
Seit Tagen rang Royce um eine Entscheidung: Sollte er bis nach der Anhörung
warten oder nicht? Aber letztlich war ihm klar geworden, dass sich durch Warten
nichts verändern würde. Er dachte an das kleine blaue Kästchen in seiner
Hosentasche, während er die Teller auftrug und anschließend sprudelnden
goldfarbenen Champagner eingoss.
Merrily hob ihr Glas zum Toast. „Auf morgen.“
„Auf morgen und alle darauf folgenden Tage“, verbesserte er.
Merrily lächelte. „Auf morgen und alle darauf folgenden Tage“, wiederholte sie.
Sie stießen an und tranken. Dann faltete Royce seine Serviette auseinander und
begann zu essen. Er war so froh, endlich über beide Hände verfügen zu können.
Langsam fühlte er sich wieder wie ein Mensch. Und wenn seine Hände jetzt leise
zitterten, hatte er guten Grund dazu.
„Es schmeckt fantastisch“, lobte Merrily, und sie unterhielten sich übers Kochen,
bis Royce die Gläser nachfüllte. Als sie fertig waren, fragte Royce nach einer
Weile: „Bereit fürs Dessert?“
„Uff, ich weiß nicht. Ich bin ziemlich voll.“ Merrily legte sich eine Hand auf den
Bauch.
„Dann passt es ja“, sagte Royce, nahm das kleine blaue Kästchen aus der Tasche
und stellte es vor Merrily auf den Tisch.
Sie starrte das Kästchen so lange an, dass Royce schon befürchtete, er hätte den
größten Fehler seines Lebens gemacht. Doch dann öffnete sie es mit zitternden
Fingern. Ein antiker Ring mit einem großen quadratischen Diamanten kam zum
Vorschein, flankiert von vier kleineren runden Steinen. Ohne ein Wort bedeckte
Merrily den Mund mit der Hand.
Er hatte es also doch in den Sand gesetzt. „Er gehörte meiner Großmutter“,
beeilte sich Royce zu sagen. „Wenn er dir nicht gefällt, können wir einen anderen
aussuchen.“
Merrily sah ihn an. In ihren Augen standen Tränen. „Deiner Großmutter! Oh, wie
schön.“
Royce konnte kaum an sich halten. „Dann gefällt er dir also?“
„Er ist wunderschön! Ich finde ihn großartig!“
Erleichtert strich er sich über die Stirn. „Ich könnte jetzt auf ein Knie sinken
und…“
„Wag es nicht!“ unterbrach sie ihn und schob ihm das Kästchen über den Tisch
zu. Dann sah sie ihn erwartungsvoll an.
Royce nahm den Ring aus dem Kästchen und befeuchtete sich die Lippen mit der
Zunge. Dann sah er Merrily fest in die Augen. „Willst du mich heiraten?“
„Oh, ja! Als ob du das nicht schon wüsstest.“ Lachend streckte sie ihm die linke
Hand hin.
Aufgeregt streifte Royce ihr den Ring über den Finger. Er passte wie angegossen.
Sie lachten beide, den Tränen nahe.
„Wieso hast du dich umentschieden?“ erkundigte sich Merrily sanft.
„Na ja“, erwiderte er zärtlich, „vielleicht habe ich doch meine Meisterin
gefunden.“
„Meinst du, die Kinder hätten etwas dagegen?“ Bewundernd betrachtete sie den
Ring.
Royce wollte ehrlich zu ihr sein. „Ich weiß nicht. Ich hoffe es jedenfalls nicht. Und
deine Brüder?“
Sie lächelte und zwinkerte die Tränen weg. „Wenn sie wissen, was für sie gut ist,
werden sie sich hüten, etwas zu sagen.“
„Ich jedenfalls weiß, was für mich gut ist“, flüsterte Royce und zog Merrily an
sich, um sie zu küssen.
Nervös schritt Royce auf dem Gang vor dem Vorzimmer auf und ab, dabei stützte
er sich auf seinen Stock. Dales Unruhe zeigte sich darin, dass der Anwalt
permanent mit den Münzen in seiner Hosentasche spielte. Nur Merrily saß ruhig
da und betrachtete glücklich den Verlobungsring, den Royce ihr gestern Abend
geschenkt hatte. Jetzt musste nur noch der heutige Tag gut ausgehen.
Schließlich kam eine hoch gewachsene sympathische Frau mit dichtem
schwarzen Haar durch die Flügeltür des Vorzimmers. Merrily erhob sich. „Dr.
Denelo!“
„Merrily! Sie habe ich hier gar nicht erwartet.“ Merrily stellte der Psychologin die
beiden Männer vor, die ihr die Hand schüttelten. „Merrily hat nur Gutes von
Ihnen er zählt“, sagte Royce. „Ich möchte mich bedanken für das, was Sie für
meine Tochter getan haben.“
Dr. Denelo lächelte. „Sicher verstehen Sie, dass ich Ihnen nicht sagen kann, was
Ihre Tochter mir erzählt hat. Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss mich noch
beim Gerichtsdiener melden.“
Doch Dale trat ihr eilig in den Weg. „Ich muss erst mit dir sprechen, Dora.“
Bei der vertrauten Nennung des Vornamens tauschten Royce und Merrily
überraschte Blicke. Pandora Denelo schien unangenehm berührt.
„Ich habe dir schon gesagt, Dale, nicht, solange wir eine berufliche Beziehung
haben.“
Dale wurde rot. „Es geht aber um den Fall, Doktor“, sagte er durch
zusammengebissene Zähne.
„Oh.“ Sie hob das Kinn und strich sich den kurzen Rock glatt. „Wenn das so ist.“
„Entschuldigt uns“, meinte Dale und steuerte die Psychologin am Ellbogen in eine
entlegene Ecke des Raumes.
„So, so“, murmelte Royce.
„Interessant.“ Merrily legte den Kopfschief.
„Sie ist Single, nicht wahr?“
„Soweit ich weiß, ja.“
„Vielleicht ändert es sich ja bald“, kommentierte Royce und hob eine
Augenbraue. „Und Dale bekommt nicht eine Krankenschwester, sondern eine
Ärztin.“
„Dann ist doch alles gut, oder?“ Merrily küsste Royce, bis sie ein Räuspern hörte.
Dale grinste. „Ihr könnt einfach nicht die Finger voneinander lassen, wie?“
„Das sagt der Richtige“, gab Royce zurück und sah sich nach Dr. Denelo um, die
verschwunden war. „Habt ihr wirklich über den Fall geredet?“
Dales Miene nahm einen nüchternen Ausdruck an. „Ja. Hör zu, egal, was da drin
passiert, ich möchte, dass du Ruhe bewahrst.“
Bevor Royce antworten konnte, öffnete sich die Tür, und Pamela stürmte herein.
„Erzählen Sie mir nicht, ich solle ruhig sein, verdammt!“ bellte sie ihren Anwalt
an, der hinter ihr hereinkam. „Ich bezahle Ihnen ein Vermögen, damit das nicht
vor Gericht kommt, und nun das!“ Abrupt hielt sie inne und starrte feindselig
Merrily und Royce an, die eingehakt vor ihr standen. „Sie!“ fauchte Pamela
Merrily an. „Sie sollten es sich lieber noch einmal überlegen und ihre
Beschuldigungen zurücknehmen!“
Merrily schwieg, ohne den Blick zu senken. Hinter Pamela kamen verschüchtert
Tammy und Cory, begleitet von einem neuen Kindermädchen.
„Daddy!“ Cory stürmte auf seinen Vater zu, während sich Tammy verängstigt am
Kindermädchen festhielt. Merrily lächelte sie ermutigend an, als Royce seinen
Sohn umarmte. Pamelas Rechtsanwalt räusperte sich. „Wir sollten uns jetzt beim
Gerichtsdiener melden.“
„Bitte sehr“, gab Royce’ Exfrau schnippisch zurück. „Tun Sie das.“
Sie stellte eine Hüfte aus und stemmte provozierend eine Hand darauf, während
sie Merrily von oben bis unten mit einem verachtungsvollen Blick musterte – bis
sie den Ring an ihrer Hand sah. „Du willst sie heiraten?“ kreischte sie vor
Entsetzen.
„Ganz recht“, bestätigte Royce und faltete die Hände auf dem Knauf seines
Gehstocks. Cory schmiegte sich an sein gesundes Bein.
„Das werden wir noch sehen“, schnaubte Pamela, bevor sie sich wutentbrannt
abwandte und in den Anhörungsraum marschierte.
„Oho“, kommentierte Dale leise. „Das fängt ja gut an. Normalerweise droht sie
niemandem in der Öffentlichkeit.“
„Daran sieht man, wie sehr sie schon auf dem Rückzug ist“, bemerkte Merrily.
Royce senkte schweigend den Kopf. Als ihre Mutter außer Hörweite war, drängte
sich Tammy zu Merrily vor. „Wollt ihr wirklich heiraten?“ fragte sie neugierig.
Merrily lächelte. „Ja, mein Schatz.“
„Kriegen wir dann eine andere Mommy?“ erkundigte sich Cory. Fast klang es
hoffnungsvoll.
„Eine Stiefmutter“, erklärte Dale.
„Eine zweite Mutter, würde ich sagen“, verbesserte Merrily lächelnd.
Tammy biss sich auf die Lippen. „Das wird Mommy aber nicht gefallen.“
„Daran kann ich nichts ändern, Schatz“, erwiderte Royce. „Ich liebe Merrily, und
ich weiß, dass du sie auch mögen wirst, wenn du sie erst einmal richtig kennen
gelernt hast.“
„Ich mag euch schon jetzt“, versicherte Merrily den Kindern.
Tammy schien nicht überzeugt, schwieg aber. Im gleichen Moment öffnete sich
die Tür zum Anhörungsraum, und sie wurden hereingebeten.
Das Kindermädchen schob Tammy und Cory in den Raum. Dale folgte, während
Merrily Royce einen ermutigenden Blick zuwarf.
Alle Beteiligten suchten sich einen Platz an den u-förmig arrangierten Tischen,
dann verkündete eine Gerichtsbeamtin: „Den Vorsitz führt Richterin Ann Size.
Bitte setzen Sie sich.“
Eine etwas ältere Frau von stämmiger Gestalt erschien und nahm hinter dem
Richtertisch Platz. Die Robe hatte sie nur lose um ihr schickes Kostüm geworfen,
was ihrer autoritären Ausstrahlung keinen Abbruch tat. Sie setzte sich, dann rief
sie Kläger und Beklagte auf und ließ die jeweiligen Anwälte ihre Sache vortragen.
Als die Rede auf die Aussage des früheren Kindermädchens kam, dass Pamela
Tammy geschlagen habe, wurde Tammy nach vorn gerufen. Erst auf Zureden
des Kindermädchens verließ sie widerwillig ihren Platz und trottete langsam zum
Richtertisch, wo die Richterin Tammy freundlich anschaute und ihr einen Stuhl
zuwies.
„Nun, junge Dame, weißt du, was es heißt, die Wahrheit zu sagen?“ erkundigte
sie sich bei dem Mädchen.
„Ja“, flüsterte Tammy schüchtern und wiederholte es auf Aufforderung der
Richterin noch einmal lauter. „Ja.“
„Versprichst du mir dann, heute hier die Wahrheit zu sagen?“ fragte sie streng.
„Dann werden wir auch zu einer guten Entscheidung kommen. Schwörst du, die
Wahrheit zu sagen?“
Tammy holte tief Luft. „Ich schwöre es.“ Ihre Unterlippe zitterte.
Merrily sah, wie Royce die Tischkante umklammert hielt. Pamela saß nur mit
verschränkten Armen da und ließ einen Fuß rhythmisch pendeln.
„Erinnerst du dich daran, wie deine Mutter dich zuletzt geschlagen hat?“
„Ja.“
„War das das erste Mal?“
Royce lehnte sich zu Dale und flüsterte ihm etwas zu. Dale legte ihm beruhigend
eine Hand auf die Schulter. Die Richterin wiederholte ihre Frage, und Tammy
murmelte: „Ich weiß nicht.“
„Du weißt es nicht?“
„Ich kann mich nicht erinnern.“
Ungeduldig befahl die Richterin: „Sag die Wahrheit, junge Dame.“
Tammy begann leise zu weinen. „Ich weiß es nicht.“
Royce berührte Dale am Oberarm und redete beschwörend auf ihn ein, bis der
Anwalt unwillig aufstand. „Euer Ehren, wir haben eine weitere Zeugin, die über
Mrs. Lawlers jähzorniges Temperament aussagen kann.“
Die Richterin stimmte zu, Tammys Befragung zu unterbrechen, und nun war es
an Merrily, den Eid abzulegen und ihre Aussage zu machen, während Pamela
wütend auf ihren Anwalt einflüsterte. Als Merrily alles über Pamelas Attacke
erzählt hatte, war der Richterin nicht anzusehen, was sie dachte. Dann berichtete
Merrily über den ersten Besuch der Kinder bei Royce nach seinem Sturz und
Tammys seltsames Verhalten.
Schließlich wandte sich die Richterin wieder dem Mädchen zu, doch aus Tammy
war nichts herauszubekommen. „Miss Lawler, langsam verliere ich die Geduld mit
dir.“
Da erhob sich Dr. Denelo. „Wenn Sie erlauben, Euer Ehren“, unterbrach sie.
„Vielleicht sollte ich Tammy befragen. Wie Sie wissen, bin ich ihre Therapeutin,
und möglicherweise gelangen wir so zu einer befriedigenden Antwort.“
„Einspruch, Euer Ehren!“ sagte Dale, und im selben Moment sprang Pamela auf
und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Das können Sie nicht machen!“
Die Richterin lächelte milde. „Da scheinen Sie ja ausnahmsweise einer Meinung
zu sein. Das sieht mir ganz danach aus, als ob Dr. Denelo auf der richtigen
Fährte ist. Dr. Denelo, fahren Sie fort.“
Royce verbarg den Kopf in den Händen, und Pamela warf ihrer Tochter
durchbohrende Blicke zu, während sich die Psychologin einen Stuhl heranzog und
Tammy gut zuredete.
„Tammy, erinnerst du dich noch, worüber wir vor einigen Tagen gesprochen
haben? Dass man, wenn man jemanden gern hat, manchmal tut, was er sagt,
auch wenn man es eigentlich gar nicht machen will?“
Tammy nickte und wischte sich die Tränen weg.
„Erinnerst du dich daran, dass ich gesagt habe, dass die Wahrheit manchmal
hilft, eine schlimme Sache wieder gutzumachen?“
Tammy schluchzte, nickte aber erneut. Royce beugte sich vor. „Bitte, Euer
Ehren, beenden Sie das! Sie ist doch noch ein kleines Mädchen.“
Mit steinerner Miene sah die Richterin zu Dale und wies ihn an, seinen
Mandanten zu zügeln. Dann bedeutete sie Dr. Denelo, mit der Befragung
fortzufahren.
„Tammy“, fragte die Therapeutin sanft und nahm die Hände des Kindes in ihre,
„schlägt dich deine Mutter manchmal? Sag die Wahrheit, Schatz.“
„M-manchmal.“ Die Worte waren kaum hörbar.
„Jeden Tag?“ drängte die Therapeutin.
Cory kletterte dem Kindermädchen auf den Schoß, während Pamela ihrer Tochter
wütende Blicke zuwarf. Kaum hörbar erwiderte Tammy: „Fast jeden Tag.“
„Das ist gelogen!“ rief Pamela laut.
„Ruhe!“ wies die Richterin sie zurecht.
„Tammy, ich werde dir jetzt eine ganz schwierige Frage stellen, aber die Richterin muss es wissen. Hab keine Angst.“ „Oh, nein“, stöhnte Royce und ballte die Hände zu Fäusten. „Tammy“, fuhr Dr. Denelo fort, „was ist in der Nacht geschehen, als dein Vater die Treppe hinuntergefallen ist?“ „Nein!“ Mühsam rappelte sich Royce hoch. „Lassen Sie sie in Ruhe!“ „Was wollen Sie damit bezwecken?“ schrie Pamela. Einen Augenblick lang gab es einen Aufruhr, denn plötzlich schrien alle durcheinander, bis die Richterin die Anwesenden mit lauter Stimme zur Ordnung rief. Als es wieder ruhig war, befahl sie Tammy: „Antworte auf die Frage.“ Tammy zitterte von Kopf bis Fuß. Dr. Denelo fasste sie an beiden Schultern. „Tammy, warum hast du deinen Vater die Treppe hinuntergestoßen?“ Merrily stockte der Atem. Royce bedeckte das Gesicht mit den Händen. Und Tammy heulte plötzlich auf. „Mommy hat’s gesa-a-a-aagt!“ Pamela sprang auf. „Du kleine Kröte, du lügst!“ kreischte sie. Royce schüttelte Dale ab der ihn aufhalten wollte, und eilte zu Tammy. „Es ist gut, Baby, alles ist gut“, weinte er, während er vor ihr auf die Knie sank. „Es kommt alles in Ordnung.“ Tammy warf sich in seine ausgebreiteten Arme. „Ich weiß, dass du mir nicht wehtun wolltest“, sagte er und presste seine schluchzende Tochter an sich. „Du hast mich gerettet. Du hast Hilfe geholt. Du bist bei mir geblieben und hast alles genau richtig gemacht.“ „Oh, mein Gott“, flüsterte Merrily und drückte Cory schützend an sich. „Oh, mein Gott.“ Was hatte Royce alles auf sich genommen, um seine Tochter zu schützen! Merrilys Herz füllte sich mit Stolz, während Pamela weiter hysterisch schrie. „Es war Tammys Idee! Sie wollte das Geld! Sie sagte, er hätte es verdient für das, was er uns alles angetan hat, mir angetan hat!“ „Setzen Sie sich und schweigen Sie, sonst lasse ich Sie auf der Stelle verhaften!“ rief die Richterin energisch. Dr. Denelo kniete sich neben Tammy und ihren Vater. Royce warf ihr einen wütenden Blick zu, doch sie ignorierte ihn einfach. „Tammy“, fragte sie laut vernehmlich. „Wie hat dich deine Mutter dazu gebracht, deinen Vater die Stufen hinunterzustoßen?“ Tammy wandte ihr tränenüberströmtes Gesicht der Richterin zu. Totenstille trat ein. „Sie sagte, wenn ich sie liebe und wenn ich sie glücklich machen will, dann müsste ich nichts weiter tun, als ihm heimlich einen Stoß geben.“ Sie schluckte, dann sprach sie lauter. „Und als wir einmal bei Daddy übernachteten, hat sie ihn irgendwie mit Geräuschen hinaus auf die Terrasse gelockt. Ich müsste bloß warten, bis er an die Treppe kam, und ihn hinunterschubsen. Sie sagte, er kommt in den Himmel und wir könnten dann alle froh sein und dass sie mir was Schönes kaufen würde, wenn ich es tue. Und das hat sie immer wieder gesagt, immer wieder. Du musst ihn nur schubsen. Nur schubsen.“ Pamela begann laut zu weinen. Dr. Denelo sah zur Richterin, die kaum fassen konnte, was sie gehört hatte. Royce wiegte Tammy in seinen Armen und flüsterte immer wieder: „Alles ist gut, Schatz, alles ist gut. Es tut mir so Leid.“ „Es tut mir auch Leid, Daddy“, weinte Tammy, ohne ihren Vater loszulassen. „Es tut mir Leid!“ „Alles wird gut.“ Er sah über die Schulter zu Merrily. Tränen strömten über sein Gesicht. „Alles“, wiederholte er noch einmal, Reue und Hoffnung in der Stimme. Merrily nickte. Auch sie weinte inzwischen hemmungslos. „Es kommt alles in Ordnung“, flüsterte sie und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln, ein Lächeln der reinen Liebe. „Schaut mal her! Schaut mal!“ rief Cory.
„Wir schauen ja schon!“ erwiderte Merrily, während Royce für seinen Sohn
vorsichtig den Golfball platzierte und zurücktrat. Tammy drängte sich in einem
viel zu großen Sweatshirt an Merrilys Seite.
„Jetzt geht’s los“, sagte Royce, während Cory sich in Position stellte. Vor lauter
Konzentration schob er die Zunge zwischen die Lippen, dann schwang er den
Schläger. Der Golfball flog in hohem Bogen über die Hecke und landete im
Gebüsch.
„Hurra!“ Merrily klatschte in die Hände, und Tammy sprang auf. Royce schwang
Cory hoch und umarmte ihn. „Guter Schuss, Junge! Tammy, willst du es auch
mal versuchen?“
„Ja!“ Auch Tammy machte einen guten Schlag, dann war Royce dran. Er traf
ebenfalls sofort.
„Oh, du bist auch gut, Daddy“, sagte Tammy laut und klatschte in die Hände. „Er
ist gut, stimmt’s, Merrily?“
„Sehr gut“, erwiderte Merrily bedeutsam.
Royce legte einen weiteren Ball für Cory hin und zeigte ihm, wie er am besten
schlagen sollte. Plötzlich spürte Merrily Tammys Arme um ihre Hüften. Sie sah zu
dem Mädchen hinab, in dessen Augen Tränen glitzerten.
„Was ist denn, Schatz?“
„Ich bin so glücklich“, sagte Tammy mit erstickter Stimme.
„Das ist doch wunderbar. Das wollte dein Vater doch immer für dich und deinen
Bruder.“
„Aber was passiert, wenn Mommy uns wieder besuchen darf? Dann sind wir
bestimmt nicht mehr glücklich.“
Tröstend strich Merrily ihr übers Haar. „Tammy, deine Mutter muss noch eine
lange Zeit im Gefängnis bleiben, und dann bestimmen die Ärzte, ob sie euch
überhaupt besuchen darf.“
„Ich will sie nicht sehen!“ Sie umarmte Merrily fest. „Ich liebe dich und Daddy!
Ich will, dass du meine Mommy bist“, flüsterte Tammy.
Merrily umarmte sie fest. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Schatz, das bin ich
doch auch. Und das kann niemand auf der ganzen Welt ändern.“
„Juhu!“ jauchzte Cory, der den nächsten Ball schlug.
„Gut gemacht!“ Royce klopfte ihm auf die Schulter. „Aber ich glaube, wir haben
zu viele Bälle verschossen. Wir sehen mal nach, ob wir welche wieder finden.“
„Wie wär’s, wenn ich uns in der Zwischenzeit einen heißen Kakao mache?“ schlug
Merrily vor.
Royce legte einen Arm um ihre Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Lippen.
„Danke, Honey. Klingt großartig.“
Tammy beobachtete die beiden mit großen Augen. „Ist schon gut, Daddy“, sagte
sie und machte sich von Merrily los. „Ich suche mit Cory nach den Bällen. Du
kannst mit Mom inzwischen Kakao machen.“
Mom. Überrascht schaute Royce zwischen Merrily und Tammy hin und her.
Merrily lächelte und konnte die Tränen gerade noch zurückhalten. Seit ihrer
Hochzeit im November hatte Cory sie Merry Mom oder Mommy Merrily genannt,
doch aus Tammys Mund hörte sie das Wort heute zum ersten Mal.
Royce umfasste Merrily fester. „Das wäre toll, Tammy, danke. Cory, weißt du, wo
du suchen musst?“
„Ja!“ Die beiden Kinder tollten davon, während Royce Merrily an sich zog.
Seufzend barg er das Kinn in ihrem Haar, und einen Augenblick lang hielten sie
sich nur in den Armen. Dann murmelte Royce: „Ach, Engel, weißt du eigentlich,
was du angestellt hast? Du hast alles wieder repariert, erst meine Knochen, dann
mein Herz und zum Schluss meine Familie.“
„Unsere Familie“, verbesserte ihn Merrily.
Er lächelte sie an. „Wie lange werden die Kinder wohl brauchen, alle Bälle zu finden, Mom? Wenn wir uns beeilen, ist noch Zeit für ein kleines Schäferstündchen.“ Merrily lächelte zurück. „Na, das hoffe ich doch. Küsse sind das perfekte Süßungsmittel für Kakao, findest du nicht?“ „Du hast ganz Recht.“ Zur Bestätigung küsste Royce sie noch einmal. „Mm“, machte Merrily. „Aber wenn Küsse die Süße sind, dann ist Liebe die wesentliche Zutat, die alles zusammenhält.“ „Ja, und unsere Liebe ist so stark, dass wir vier immer zusammenhalten werden“, versprach er. „Ich hab schon einen gefunden!“ verkündete Cory triumphierend und hielt unten auf dem Grundstück einen Golfball hoch. Merrily und Royce winkten lachend zurück. „Ich glaube, wir sollten uns besser beeilen, wenn wir den Kakao ausreichend süßen wollen“, murmelte Royce. Merrily lachte, und dann gingen sie glücklich Arm in Arm ins Haus. Endlich waren sie eine richtige Familie, die für immer zusammengehören, würde, egal, was kommen sollte.
- ENDE -