John Grey
Stadt in Angst Ronco Band Nr. 165/14
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stie...
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John Grey
Stadt in Angst Ronco Band Nr. 165/14
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Dreizehnjährig und in einer für ihn neuen Welt – der Welt der Weißen, die ihn als »Wilden« betrachten. Noel Custer – Ein gerissener Trader, der Ronco an einen Storebesitzer verschachert. Tyron Delmar – Store-Besitzer in Silverton – geizig, verschlagen und doppelzüngig. Ireen Delmar – Tyron Delmars Tochter, ein intrigantes kleines Biest, das Ronco das Leben zur Hölle macht. Marshal Memming – Sorgt in Silverton für Ordnung und faßt Vertrauen zu Ronco. Matt Latimer – Raubt und mordet und wird steckbrieflich gesucht.
Stadt in Angst 1. Februar 1879 Bis vor einer Viertelstunde bin ich westwärts geritten. Jetzt raste ich im Windschatten eines Arroyos. Es herrscht heftiges Schneetreiben. Man kann keine fünf Schritte weit sehen. Der Schnee wird meine Fährte zudecken. Das ist gut. Vielleicht werde ich auf diese Weise die Verfolger los, die auf meiner Spur reiten. Viel Hoffnung habe ich nicht. Menschenjäger verlieren selten eine Fährte. Dennoch bin ich nicht unzufrieden, auch wenn meine Lage sich seit meiner letzten Eintragung nicht geändert hat, auch wenn ich immer noch gejagt werde und um mein Leben kämpfen muß. Mein größter Gegner, die Andrew-Hilton-Company, hat einen schweren Schlag hinnehmen müssen. Was sich daraus für mich ergeben wird, weiß ich in diesem Augenblick noch nicht. Ohne Folgen wird das aber sicherlich nicht bleiben. Ich will mich nicht voreilig in Erwartungen hineinsteigern, denen dann womöglich wieder eine bittere Enttäuschung folgt. Diejenigen, die mir ihre Verbrechen in die Schuhe geschoben haben, sind immer noch einflußreich und mächtig. Sie sind nicht leicht aus dem Sattel zu heben. Aber sie sind auch nicht unverwundbar. Das haben mir die letzten Tage gezeigt. Mir ist klar geworden, daß ich eine gute Chance habe, sie eines Tages zu überführen und mich zu rehabilitieren, und das stärkt meine Hoffnung. Jetzt jagen sie mich wieder. Aber sie sind angeschlagen, und der Tag wird kommen, da werden sie die Gejagten sein. Doch noch begegnet mir fast überall mein eigener Steckbrief. Und solange das so ist, kann ein einziger Schuß meine Hoffnungen und Ziele zerstören. Heute schon, oder morgen, oder sonst irgendwann. Ich bin nicht kugelfest. Ich bin allein, während ich das schreibe. Lobo liegt verletzt in einem alten Heuschober im Farmland, und ich bin unterwegs, um unsere Spuren zu verwischen, damit er Ruhe hat und sich von seiner
Verwundung erholen kann. Der Schnee hat mir die Arbeit abgenommen. Sowie das Schneetreiben etwas nachläßt, reite ich zu ihm zurück. Bis dahin schreibe ich weiter an meiner Geschichte, die wenig Höhepunkte hat, dafür aber lang und bitter ist, vor allem bitter. So wie damals im Jahre 1859, als ich aus der Stammesgemeinschaft der Chiricahuas herausgerissen worden war und gefesselt auf dem Wagen eines Traders lag, der nordwärts rollte und das Land der Apachen, meine Heimat, weit hinter sich zurückließ …
1. Das eintönige Knarren der Wagenräder hatte etwas Einschläferndes. Ich wandte den Kopf und spähte durch einen Schlitz in der verwaschenen Plane des Conestogaschoners. Draußen wurde es dunkel. Ich konnte den Himmel sehen. Er hatte die rötliche Farbe eines verglühenden Lagerfeuers. Ich legte den Kopf wieder zurück und starrte in die Finsternis des Wageninnern. Die Luft unter der Plane war stickig und abgestanden. Ich war sie schon gewöhnt. Seit vier Tagen und drei Nächten lag ich, gefesselt an Händen und Füßen, auf dem Deckenstapel im Innern des Conestogaschoners. Nur zu den Mahlzeiten durfte ich den Wagen kurz verlassen. Vorn auf dem Bock saß der Trader. Er hieß Noel Custer. Sehen konnte ich ihn nicht, aber hören. Er sang die meiste Zeit vor sich hin. Er sang nicht schön und immer dasselbe Lied, eine traurige Ballade über einen Goldgräber, der über Nacht reich wird und mit einem Schlag sein ganzes Vermögen am Kartentisch wieder verliert. Das Lied schien unzählige Strophen zu haben, und die ersten beiden Tage wurde ich fast verrückt dabei, als ich es von morgens bis abends hören mußte. Jetzt hatte ich mich daran gewöhnt. Ich dachte an Flucht. Vom ersten Tage an hatte ich an nichts anderes gedacht. Viel mehr hatte ich nicht tun können. Noel Custer hatte höllisch auf mich aufgepaßt und mich so gefesselt, daß ich mich kaum hatte rühren können. Ich hatte ihm keine Schwierigkeiten bereitet, mich ruhig verhalten und ihn glauben lassen, ich hätte mich mit stoischem
Gleichmut in mein Schicksal ergeben. Sein Mißtrauen war geschwunden. Seit heute früh fesselte er mir die Arme nicht mehr gegen den Oberkörper. Seit heute früh habe ich etwas Bewegungsfreiheit. Seitdem stand für mich fest, daß ich die erste Gelegenheit ergreifen würde, um zu verschwinden. Ich warf wieder einen Blick durch den Schlitz in der Wagenplane. Draußen überzog die Dämmerung den roten Abendhimmel wie ein dicht gewebtes Netz. In spätestens einer Viertelstunde würde Custer den Wagen anhalten und sein Nachtlager aufschlagen. Dann war es zu spät. Der Wagen rollte durch ein tiefes Schlagloch. Er schwankte heftig, so daß ich zur Seite fiel und hart mit dem Kopf gegen eine Kiste stieß. Die Wagenachsen knarrten klagend, vor mir klirrten ein paar übereinandergestapelte Eisenkessel. Ich lauschte, richtete mich mühsam wieder auf, beugte mich vor und erreichte mit den zusammengebundenen Händen meine gefesselten Füße. Es war zu dunkel im Wageninnern, als daß ich die Fesseln hätte sehen können. Mit den Fingerkuppen tastete ich über die Knoten und begann sie zu lösen. Es schien endlos zu dauern. Schweiß rann mir über Gesicht und Oberkörper. Meine Hände begannen zu zittern, meine Muskeln zu schmerzen. Der Planwagen schien sich in einen Backofen zu verwandeln. Die Luft wurde immer stickiger, immer heißer. Schon glaubte ich, es nie zu schaffen, und erwartete jede Minute, daß Custer den Wagen vom Weg lenkte und anhielt. Dann wäre alles aus gewesen. Da fielen die Fesseln. Schwer atmend sank ich zurück und wartete, bis meine Muskeln und Sehnen sich etwas entspannt hatten. Ich zog die Beine an den Körper, stieß sie wieder weg, hob und senkte sie und massierte, so gut es mit den gefesselten Händen ging, die Fußgelenke. Ich fühlte, wie das Blut stärker durch meine Beine pulsierte, wie die Steifheit allmählich aus Muskeln und Gelenken wich. Meine Nervosität ließ nach. Ich wußte jetzt, daß ich es schaffen würde. Ich wälzte mich auf den Bauch und robbte mit gefesselten Händen über den Deckenstapel zum hinteren Ende des Wagens. Die Fesseln
an den Händen konnte ich jetzt nicht lösen, das hätte zuviel Zeit in Anspruch genommen. Ich löste die Verschnürung der Plane und schaute hinaus. Es war bereits sehr dunkel. Im Westen versank die Sonne wie ein feuriges Rad. Ich durfte nicht länger zögern. Noch einmal lauschte ich nach vorn und glitt dann über die Rückwand des Wagens hinaus. Langsam ließ ich mich hinabgleiten, bis ich glaubte, ganz dicht über dem Boden zu hängen. Dann ließ ich mich fallen. Ich spürte sofort Boden unter den Füßen, verlor jedoch das Gleichgewicht und stürzte mit dem Gesicht voran auf den staubigen, harten, ausgefahrenen Karrenweg. Der Schmerz durchzuckte mich heftig, aber ich preßte die Zähne zusammen und richtete mich rasch wieder auf. Ich knickte in den Knien ein, und feine Stiche tobten in meinen Knöcheln, als ich mich in Bewegung setzte. Aber die Schwäche vom langen, bewegungslosen Liegen wich nach den ersten Schritten. Ohne mich noch einmal umzuschauen, schlug ich mich seitlich in die Büsche und begann zu rennen. Der Trader hatte nichts bemerkt. * Ich lief durch die Nacht. Südwestwind umfächelte meinen nackten Oberkörper. Es war kühl, aber ich fror nicht. Ich dachte nur daran, daß ich frei war. Frei! Und das sollte so bleiben. Ich lief, bis ich nicht mehr konnte. Neben einigen Juniperen ließ ich mich fallen. Nach Atem ringend lag ich auf dem Rücken und schaute zum sternenübersäten Nachthimmel. Um mich herum war nichts als die Stille der Nacht. Ich wußte nicht, wo ich mich befand, wohin ich zu gehen hatte oder wohin ich besser nicht ging. Ich wußte gar nichts, nur, daß ich verdammt allein war. Ich führte die Hände an meinen Mund und begann, am Knoten der Fesseln zu nagen. Es war schwer, und es dauerte lange. Meine Kiefer begannen zu schmerzen, mein Zahnfleisch wurde wundgescheuert und begann zu bluten. Ich hielt nicht inne, bis ich es geschafft hatte. Danach erhob ich mich und schaute mich unschlüssig um. Das
Land sah überall gleich aus. Im Westen hoben sich vor dem silbrig schimmernden Nachthimmel die schroffen Konturen von Bergen ab. Es waren die Pinal-Mountains, was ich damals nicht wußte. Im Süden buckelten sich Hügel, nach Norden und Westen hin dehnte sich die Ebene bis in die Unendlichkeit der Finsternis. Nach einigem Überlegen setzte ich mich in Bewegung und lief im gleichförmigen Wolfstrott südostwärts. Ich weiß nicht mehr, ob ich damals in den langen Stunden der Nacht wirklich die Hoffnung hatte, zu den Apachen zurückzukehren, zu denen ich mich noch immer zugehörig fühlte. Vermutlich habe ich keinen festen Plan gehabt. Ich wollte nur einfach nicht in diese Welt der Weißen, die ich haßte, obwohl meine Haut ebenfalls weiß und mein Haar blond war. Ich wollte mich nicht verkaufen lassen wie ein Pfund Pulver, so wie es der Trader Noel Custer vorgehabt hatte. Heute noch meine Gedanken von damals nachzuvollziehen, ist mir wirklich unmöglich. Ich weiß nur, daß ich nach knapp einer Stunde entsetzlichen Durst verspürte. Es wurde noch schlimmer, weil meine Mundhöhle durch das Nagen an den Fesseln leicht entzündet und ausgetrocknet war. Ich hatte Kopfschmerzen, und meine Füße wurden immer schwerer. Müdigkeit lähmte meinen Körper. Ich trottete nur noch dahin und hatte dabei das Gefühl, nicht um ein Stück voranzugelangen. Ich taumelte einen Hügel hinauf, oben stolperte ich und fiel nach vorn ins hohe Gras. Schwer atmend blieb ich liegen und preßte mein heißes Gesicht gegen den kühlen Boden. Als ich nach langen Minuten den Kopf hob, sah ich die Farm vor mir. Sie lag unterhalb der Hügelkette in einer weitflächigen Senke. Die Gebäude waren in Hufeisenform angeordnet. Seitlich davon waren zwei Korrals angelegt worden. In einem standen zwei Pferde. Vielmehr aber als die beiden Tiere interessierte mich der Brunnen in der Mitte des Hofes. Wasser! Ich war fast verrückt vor Durst. Ich richtete mich auf und wankte in die Senke hinunter. Düster und still lag die Farm vor mir. In den Fensterscheiben des Farmhauses spiegelte sich das Mondlicht. Ich erreichte den Hof, stolperte an den Korrals vorbei und sank neben dem Brunnen auf die Knie. Mit beiden Armen stützte ich mich
auf den aus rohen Feldsteinen gemauerten Brunnenrand. Darauf stand ein hölzerner Eimer. Ich griff nach dem frei baumelnden Haken am Ende der auf eine schenkelstarke Winde gewickelten Kette, zog ihn heran und hängte den Eimer daran. Ich erhob mich und löste die Sperre der Winde. Dann ließ ich den Eimer langsam, jedes Geräusch vermeidend, in den finsteren Schacht hinunter, aus dem es feucht und kühl aufstieg. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ich den Eimer ins Wasser eintauchen hörte. Ich griff nach der Kurbel der Winde und begann, den Eimer wieder heraufzuziehen. Die Kurbel war rostig und quietschte. Das Geräusch fuhr mir bis ins Mark. Es klang in der Stille der Nacht übermächtig laut. Ich hielt erschrocken inne und lauschte zum Haupthaus hinüber. Aber dort rührte sich nichts, und so drehte ich die Kurbel weiter und ertrug das nervenzermürbende Quietschen, bis der Eimer aus dem finsteren Schacht auftauchte. Ich griff mit beiden Händen nach ihm. Er war sehr schwer, ich konnte ihn kaum halten. Als er neben der Brunnenfassung am Boden stand, hockte ich mich neben ihn und schob kurzerhand meinen Kopf hinein. Die eisige Kälte des Wassers schien meinen ganzen Körper zu durchströmen. Ich zog den Kopf wieder aus dem Eimer, schöpfte mit beiden Händen Wasser heraus und trank. Ich trank gierig und schöpfte mehr Wasser heraus. Mit einer flüchtigen Bewegung schob ich mit dem Unterarm die nassen Strähnen meines langen blonden Haares aus meinem Gesicht und trank weiter. Als ich mich schließlich aufrichtete, ging es mir besser. Das Wasser rann mir in schmalen Bächen über den bloßen Oberkörper. Ein kühler Wind strich um die Ecken der Gebäude über den Hof. Ich fröstelte. Noch immer herrschte Stille. Ich ging zum Haupthaus hinüber und umrundete es. An jedem Fenster blieb ich stehen, preßte mein Gesicht gegen die Scheibe und versuchte, einen Blick ins Innere des Hauses zu werfen. Hunger nagte in meinem Magen. Ich dachte daran, daß im Haus eine Speisekammer sein mußte. Der Gedanke allein erregte mich. Ich war mutig geworden, nachdem bis jetzt trotz des durchdringenden Quietschens der Brunnenwinde niemand wach geworden war.
Warum sollte ich nicht versuchen, in das Haus einzudringen? Ich ging zum nächsten Fenster und preßte mein Gesicht dagegen. Da schwang der Fensterflügel lautlos nach innen. Ich glaubte, zu träumen. Angespannt lauschte ich ins Haus. Aber es blieb alles still. Da schwang ich mich auf die Fensterbank und ließ mich ins Innere gleiten. Ich war in einem Wohnraum gelandet. In einer Ecke befand sich ein rußiger Kanonenofen. In der Mitte der Kammer standen ein einfacher Tisch mit vier Stühlen. Ich ging zu den Schränken, öffnete Türen und Schubladen, fand aber nichts Eßbares, nur ein Messer. Das steckte ich mir in den Gürtel. Ich ging zur Tür. Sie war angelehnt. Ich öffnete sie einen schmalen Spalt und schlüpfte auf den Gang hinaus. Es gab hier drei Türen. Hinter einer hörte ich Atemgeräusche von Schlafenden, hinter der anderen war es ruhig. Ich öffnete sie und stand in der Küche. Auf einem Wandbord sah ich einen Schinken liegen, so groß wie mein Kopf. Ich überlegte nicht lange, ging darauf zu und zog das Messer aus meinem Gürtel. Als ich mir ein Stück von dem Schinken abschneiden wollte, brach das Wandbord plötzlich aus seiner Halterung und polterte mit ohrenbetäubendem Krachen zu Boden. Ich hatte das Gefühl, mir würde das Blut in den Adern gefrieren. Sekundenlang stand ich wie gelähmt da und starrte fassungslos auf das Wandbord und den Schinken, die zu meinen Füßen lagen. Laut und dröhnend pochte das Blut in meinen Schläfen. Eine stählerne Faust schien nach meinem Hals zu greifen und mir die Kehle zuzupressen. Als ich vom Nebenzimmer her ein Geräusch vernahm, löste sich meine Erstarrung. Ich drehte mich um und eilte zur Tür. Als ich sie aufriß, sah ich bereits Licht auf dem Gang. Dielen knarrten unter schweren Schritten. Der Schatten eines Mannes schob sich auf die Küche zu. Ich drehte mich um und hastete durch die Küche zum Fenster. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich sprang auf einen Stuhl und griff nach dem Fensterriegel. Der Stuhl schwankte. Ich verlor das Gleichgewicht, versuchte, mich am Fensterriegel festzuklammern,
und stürzte dann doch, als der Stuhl unter mir umkippte. Mit dem Kopf schlug ich hart gegen einen Schrank. Benommen richtete ich mich auf. Da stand der Farmer schon in der Tür, groß, vierschrötig, breit und knorrig wie ein Baum. In der linken Hand hielt er eine Petroleumlampe, in der Rechten eine doppelläufige Schrotflinte. Als er sich in Bewegung setzte, ging ich rückwärts. Ohne meinen Blick von ihm zu wenden, glitt ich um den breiten Küchentisch herum. Mit dem Rücken stieß ich gegen eine Stuhllehne. Ich drehte mich um und sprang mit einem Satz zur Tür. »Bleib stehen!« hörte ich den Farmer hinter mir rufen. Aus dem Gang ertönte die Stimme einer Frau: »Was ist denn passiert, Henry? Um Himmels willen, was ist los?« Ich lief aus der Tür und sah die Frau im Gang stehen – hager, mit gebeugten Schultern und faltigem Gesicht, in einem langen Nachthemd. Als ich mich herumwarf, stand der Farmer bereits hinter mir, und die Frau stieß ein schrilles Geschrei aus. Der Farmer rammte das Gewehr vor. Ich duckte mich und versuchte, mich an ihm vorbeizudrängen. Da ließ er das Gewehr fallen und packte mich. Seine große, schwielige Faust krallte sich in mein langes Haar. Er riß mir den Kopf zurück, so daß ich auf den Rücken stürzte. Ich bäumte mich auf, kam auf die Beine und riß das Messer aus dem Gürtel. Der Farmer fluchte, und ich warf mich gegen ihn. Jetzt kämpfte ich, wie ich es bei den Apachen gelernt und in den letzten Jahren immer wieder getan hatte. Den Schlag sah ich nicht, denn der Farmer hatte die Laterne abgesetzt, und es war wieder finster im Gang. Die Rechte des Mannes traf mich seitlich an den Schädel. Ich sah Sterne und wurde quer durch den Gang geschleudert. Willenlos prallte ich gegen die Wand und rutschte daran hinunter. Ich fühlte die rauhen, ausgetretenen Dielen unter meinen Händen, als ich mich aufstützte, und hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Ich stand auf, und der Farmer war schon da und schlug wieder zu. Seine Fäuste trafen mich rechts und links und trieben mich in eine
Gangecke. Ich hatte keine Chance, mich zu wehren. Als mich ein Fausthieb in den Magen traf, stürzte ich auf die Knie und übergab mich. In meinem Kopf drehte sich alles, Schmerzen durchflossen meinen ganzen Körper bis in die Zehenspitzen. Als ich mir mit dem Handrücken der Linken über den Mund wischte und den Oberkörper langsam wieder aufrichtete, stand der vierschrötige Farmer breitbeinig vor mir. Seine großen Fäuste hingen unweit von meinem Kopf. Sein Gesicht wirkte im Zwielicht des Ganges hart wie Stein und völlig ausdruckslos.
2. »Steh auf«, sagte er. Ich stand auf, wagte aber nicht, mich ganz aufzurichten, da ich befürchtete, daß mein Leib dann platzen würde, so groß waren die Schmerzen. »Wer bist du?« Die Stimme des Farmers klang knarrend wie eine rostige Türangel. »Kannst du nicht reden?« Er hob die rechte Faust. »Du siehst aus wie ein Indianer.« »Ich bin ein Apache«, sagte ich. »In dieser Gegend gibt es keine Apachen.« Die Stimme des Farmers klang drohend. »Du hast blondes Haar. Also lüg mich nicht an. Wer bist du?« »Ich heiße Ronco.« »Woher kommst du?« »Ich bin ein Apache«, sagte ich. Der Farmer schlug zu. Er schlug mit der flachen Hand. Die Ohrfeige warf meinen Kopf in den Nacken. Vor meinen Augen verschwammen die Konturen. Meine linke Wange brannte wie Feuer. »Du wolltest klauen«, sagte der Farmer. »Du bist mit einem Messer auf mich losgegangen. Warte nur, Bürschchen, morgen bringe ich dich in die Stadt zum Marshal. Der wird dir die Flausen austreiben.« Wie ein Schraubstock umspannte seine rechte Faust meinen linken Oberarm. Er schleifte mich durch den Gang, öffnete die Haustür und
schleppte mich auf den Hof hinaus. Ich wehrte mich jetzt wieder, versuchte, mich loszureißen. Es war sinnlos. Der Farmer sagte kein Wort mehr. Er behandelte mich wie einen Putzlappen. An die Scheune war ein Hühnerstall angebaut. Dahin zerrte er mich. Er öffnete die Tür des kleinen Schuppens, der zwei schmale Fensterchen hatte, und stieß mich hinein. Es befanden sich keine Tiere darin. Ich taumelte gegen die Querstangen, die für die Hühner angebracht worden waren. Die Tür flog zu, der Riegel rastete ein. Ich war allein und hockte mich auf den Boden. Mit dem Rücken lehnte ich mich an die rissige Bretterwand. Die Schritte des Farmers draußen hörte ich nicht mehr. Die Schmerzen in meinem Körper ließen nach. Ich richtete mich auf und ging einen Schritt in die Richtung, in der ich die Tür vermutete. Mit dem Kopf stieß ich gegen einen Balken, zuckte zurück und stieß sofort gegen einen zweiten. Mit eingezogenem Kopf tastete ich mich weiter, erreichte die Tür und suchte nach einem Griff, einer Querlatte oder etwas anderem, wo ich mit meinen Händen Halt finden konnte. Nichts. Die Tür war glatt. Wütend schlug ich mit beiden Fäusten dagegen. Sie zitterte nur etwas, rührte sich aber sonst nicht. Es war eine solide, feste Tür. Es hatte keinen Sinn, daß ich versuchte, sie aufzubrechen. Es wäre reine Kraftverschwendung gewesen. Geduckt tappte ich an der Wand entlang zu einem der Fenster. Sie lagen im Schatten der Scheune, daher fiel kein Schimmer des Mondlichts in mein Gefängnis. Sie waren gerade breit genug, daß ich einen Arm hindurchschieben konnte. Resignierend hockte ich mich auf den Boden. Ich hatte meine gerade gewonnene Freiheit schon wieder verloren. Ich begriff, daß es sinnlos war, jetzt noch etwas zu erhoffen. Fürs erste hatte ich meine Chance vertan. Mit dem Nachlassen meiner inneren Anspannung kehrten der Hunger, die Erschöpfung und die Müdigkeit zurück. Ich zog die Beine an den Leib und schlang die Arme um die Knie. So kauerte ich in der Finsternis und versuchte, an gar nichts zu denken. Aber es gelang mir nicht. Immer wieder wanderten meine Gedanken zurück
zu den Apachen, zurück zu meinem Blutsbruder Little Friend, zurück zu Cochise und Black Hawk. Und ich dachte an den nächsten Tag, dachte daran, daß der Farmer mich in eine mir unbekannte Stadt zu einem Marshal schleppen wollte. Was würde dann mit mir geschehen? Die immer stärker werdende Müdigkeit befreite mich von der Last der bohrenden Ungewißheit. Ich schlief ein, obwohl ich es gar nicht wollte. * Sonnenstrahlen fielen durch die beiden schmalen Fenster in mein Gefängnis und zeichneten zwei helle Vierecke auf den Boden. Millionen von Staubteilchen tanzten in den Lichtbahnen. Ich hob schwerfällig den Kopf, der auf meinen Knien geruht hatte. Verschlafen blinzelte ich in das grelle Tageslicht. Ich streckte meine Beine aus und erhob mich. Stechende Schmerzen durchzuckten meine Gelenke. Meine Glieder waren steif von der unnatürlichen Haltung, in der ich geschlafen hatte. Der Hunger fraß in mir wie ein wütendes Raubtier. Mit unsicheren Schritten bewegte ich mich zu einem der Fenster. Ich warf einen Blick hinaus. Draußen auf dem Hof stand ein kleiner Kastenwagen. Wahrscheinlich wollte mich der Farmer darin in die Stadt bringen. Ich schloß die Augen und lehnte mich neben dem Fenster an die Wand. Ich fühlte mich kraftlos, schlapp, leer und ausgebrannt. Jede Bewegung bereitete mir Schmerzen. Eine große Hoffnungslosigkeit erfüllte mich. Wagengeräusche klangen von draußen herein. Ich registrierte es, kümmerte mich aber nicht weiter darum. Männerstimmen waren zu hören, aber sie schienen sehr weit weg zu sein. Ich nahm sie kaum wahr. Ich wollte raus, raus aus diesem düsteren, engen, staubigen und muffigen Loch, in dem sich am Tage vermutlich die Hitze staute wie in einem Ofenloch. Nur raus hier. Etwas anderes konnte ich nicht denken.
Wie in Trance wankte ich zur Tür und schlug mit beiden Fäusten dagegen. Mit jedem Schlag wurden meine Arme schwerer, schließlich sanken sie ganz herab. In diesem Moment hörte ich, wie der Riegel der Tür aus der Halterung gehoben wurde. Ich trat zwei Schritte zurück und blieb mit hängenden Schultern stehen. Die Tür schwang auf, und zwei Männer standen vor mir. Ich fühlte mich elend. Sie waren so groß und erdrückend mit ihrer Kraft und der Energie, die sie ausstrahlten. Sie hatten nicht gehungert, nicht gedürstet. Sie waren nicht erschöpft und übermüdet. Der eine war der Farmer, der mich hier eingesperrt hatte, ein Mann wie aus Ackerkrumen geformt, er roch sogar nach feuchter, fetter Erde. Der Mann neben ihm war Noel Custer, der Trader. Vor meinen Augen begann sich alles zu drehen. Ich war sicher, daß ich träumte. »Ist er das?« hörte ich den Farmer fragen. »Das ist er«, sagte Custer. Es mußte ein Traum sein, ein böser, verrückter Traum. »Sie können ihn haben«, sagte der Farmer. Ein Traum? Custers Schlag weckte mich aus der Erstarrung. Seine Faust traf mich an die Stirn. Ich riß unwillkürlich beide Arme hoch, als ich nach hinten stürzte und zu Boden ging. Da stampfte der Trader bereits in den niedrigen Hühnerstall, den Kopf eingezogen und die Hände zu Fäusten geballt. Er bückte sich, packte mich an den Schultern und zerrte mich hoch. »Du wolltest schlau sein, wie?« sagte er. »Du hast gedacht, du könntest mich reinlegen, was? Aber so leicht ist das nicht. Du bist nicht mehr unter den Rothäuten. Bei mir ziehen deine Tricks nicht.« Er schlug wieder zu. Rechts und links trafen mich seine Fäuste und schleuderten mich abermals zu Boden. »So ein Zufall«, hörte ich den Farmer sagen. »Sie haben Glück gehabt, daß Sie gerade hierhergekommen sind, um zu fragen, Mr. Custer.« »Kein Zufall«, sagte Custer. »Es gibt nur ein paar Farmen in der Gegend, und der Bengel hatte nichts zu essen mitgenommen. Wasser
hatte er auch nicht. Er mußte versuchen, eine menschliche Ansiedlung zu finden, wenn er nicht verrecken wollte. Er hatte ja auch keine Waffe.« Er wandte sich mir wieder zu. »Du hast wohl gedacht, ich laß dich einfach so laufen? Merk dir, daß Noel Custer niemals etwas freiwillig herausgibt, das ihm gehört.« Er zog mich hoch und gab mir einen Stoß, der mich aus dem Stall hinaustaumeln ließ. Draußen fing mich der Farmer auf und versetzte mir zwei schallende Ohrfeigen, die mich gleich wieder in den Staub warfen. »Was meinen Sie, was der Bastard kaputtgeschlagen hat, Mr. Custer«, sagte er. »Gut, daß Sie hier sind, sonst würde mir das keiner ersetzen.« »So schlimm wird's auch nicht gewesen sein.« »Nicht schlimm? Na, hören Sie mal, Mr. Custer. Ein Wandbord hat er runtergerissen. Dabei ist ein großer Schinken in den Dreck gefallen. Einen Stuhl hat er zerbrochen …« Custer stand neben mir und versetzte mir einen Tritt in die Seite, daß ich vor Schmerzen aufstöhnte. »Hoch mit dir«, sagte er. »Drei Dollar wird es schon kosten, Mr. Custer.« »Du spinnst wohl.« Custer wandte sich dem Farmer zu. »Drei Dollar für ein paar Bretter? Ich glaube, ich werd dich nicht mehr beliefern, Henry. Dann kannst du zusehen, wo du deine Nägel und dein Werkzeug herkriegst. Dann beliefere ich eben direkt den miesen Store in Pinal-Bend. Wenn du dort einkaufst, sind die Sachen doppelt so teuer.« Custer packte mich an der linken Schulter, als ich mich erhoben hatte, und schob mich vor sich her quer über den Hof zu seinem Wagen. Der Farmer folgte ihm auf dem Fuße. »Das können Sie doch nicht tun, Mr. Custer. Sie wissen genau, daß wir hier draußen auf Sie angewiesen sind.« »Weiß ich das?« Custer blieb am Wagen stehen, zog ein paar Lederriemen aus der Tasche und schnürte mir Hände und Füße zusammen. Dann warf er mich gefesselt auf den Wagen, kletterte hinterher und band mich an einem eisernen Bügel der
Planenhalterung fest. »Schulde ich dir noch etwas, Henry?« »Nein, Mr. Custer.« Die Stimme des Farmers klang jetzt kleinlaut. »Ich dachte bloß …« »Fein, daß du aufgepaßt hast, Henry. Wenn du den Bengel nicht festgehalten hättest, hätte ich wahrscheinlich länger nach ihm suchen müssen.« »War doch klar, Mr. Custer. Was hätte ich auch sonst tun sollen. Ich konnte ihn ja nicht einfach laufenlassen.« »Nein, das konntest du nicht, Henry. Du hast mir viel Arbeit erspart. Wenn du bei meiner nächsten Tour durch diese Gegend etwas brauchst, dann sag es nur. Ich mach dir einen Sonderpreis.« »Ich brauche nichts.« Ich hörte, wie Custer auf den Bock stieg. Der Wagen schwankte ein wenig. Eine Peitsche knallte. Dann rollte das Gefährt an. Ich schloß die Augen und versuchte, meinen zerschlagenen, geschundenen Körper zu entspannen. Es hatte keinen Sinn, jetzt darüber nachzugrübeln, warum ich Pech gehabt hatte. Es war vorbei, und ich war wieder genausoweit wie am Anfang. Ich lag wieder unter der Plane des Conestogaschoners, der nordwärts rollte, ich war wieder gefesselt, und diesmal waren meine Chancen, noch einmal zu fliehen, erheblich geringer, wenn es überhaupt noch welche gab. Ich machte mir nichts vor: Ich hatte verloren. Daran war nichts mehr zu ändern. * Die Fahrt nach Norden dauerte drei Wochen, vielleicht auch vier. Custer ließ mich nicht mehr aus den Augen, und ich begann mich damit abzufinden, daß es kein Zurück mehr gab, daß ich nur die Wahl hatte, die neue Welt, in die ich eintreten würde, zu akzeptieren oder aber zu sterben. Ich wollte weiterleben. Den Tod hatte ich mir nur am Anfang und auch nur für kurze Zeit gewünscht. Der Tod war keine Lösung. Es war Anfang Mai 1859, als Noel Custer mit seinem Wagen über die Coloradogrenze rollte. Ich durfte jetzt ab und zu den Wagen
verlassen. Natürlich blieb ich gefesselt, aber es hätte auch keinen Sinn gehabt, noch einmal zu fliehen. Das Land, in dem ich mich jetzt befand, war mir so fremd, daß ich mich genausogut auf dem Mond hätte befinden können. Hunderte von Meilen trennten mich von meiner ehemaligen Heimat, dem Land der Apachen. Noel Custer brauchte sich nicht zu sorgen, ich würde keinen Fluchtversuch mehr unternehmen. Er behandelte mich jetzt einigermaßen anständig und gab mir auch mehr zu essen, offenbar sollte ich dort, wo er mich hinzubringen gedachte, einen guten Eindruck erwecken. Mir war das alles egal. Ich war froh, nicht mehr hungern zu müssen, am Verlust meiner Freiheit trug ich schon schwer genug. Meine erste richtige Begegnung mit der neuen Welt und ihren Gesetzen hatte ich am Rio de los Manos. Am Tage hatte es geregnet. Gegen Abend war die Luft klar. Die Kuppen der Mesa Verde, die sich nördlich von uns in den Abendhimmel reckten, wirkten wie frisch gewaschen. Sie glänzten im rötlichen Schein der untergehenden Sonne wie pures Gold. Es war kühl. Ein leichter Wind strich von den Bergen heran und fächelte über die vom Regen verschlammten Niederungen beiderseits des schmalen Flusses. Die Pferde vor dem Conestogaschoner stemmten sich schnaubend ins Gespann, um den schweren Wagen auf dem durchweichten Boden voranzubringen. Die breiten Wagenräder fraßen tiefe Spuren in den Schlamm. Am Ufer des Flusses, im Schatten einiger Eiben, zügelte Noel Custer das Gespann. Er stieg vom Bock und schirrte die Pferde aus. Wenig später holte er mich aus dem Wagen. Er setzte mich gefesselt unter einen Baum und suchte nach halbwegs trockenem Reisig. Als er endlich genug gefunden hatte, um ein Feuer anzufachen, hatte sich die Dämmerung bereits wie ein fein gesponnener Schleier über das Land gesenkt. Die Flammen des Lagerfeuers züngelten hoch. Custer hatte ein Dreibein aufgestellt und einen zerbeulten, mit Wasser gefüllten Kessel daran gehängt. Als das Wasser zu kochen begann, warf er eine Handvoll Arbuckle-Kaffee hinein. Ich weiß noch genau, als wäre es gestern gewesen, daß ich den
Hufschlag von rasch näherkommenden Reitern hörte. Custer erhob sich, ging zum Wagen und holte zwei Blechbecher. Ich konnte die Reiter nicht sehen. Sie näherten sich von Norden. Ich lehnte mit dem Rücken an der Südseite einer knorrigen Eibe. Umdrehen konnte ich mich wegen der Fesseln nicht. Custer warf einen Blick zu den Bergen hinüber. Er nahm seinen abgeschabten, schwarzen Zylinder vom Kopf und legte ihn sorgfältig auf den Bock. Mit lässiger Handbewegung strich er sich die Strähnen seines langen, ungepflegten Haares nach hinten. Dann streifte er den knöchellangen Mantel ab, den er zum Schutz gegen den Regen getragen hatte. Darunter erschien der breite Gurt aus Büffelleder, der eine handgearbeitete Revolverhalfter hielt, in der ein schwerer NavyColt steckte. Ohne etwas zu sagen oder zu tun, kehrte Custer mit den beiden Blechbechern zum Feuer zurück und hockte sich auf die Stiefelabsätze. Der Hufschlag wurde immer lauter. Custer füllte scheinbar unberührt die beiden Becher und drückte mir einen in die gefesselten Hände. Er nahm einen Schluck aus seinem eigenen, als die Reiter am Wagen vorbeiritten und das Feuer erreichten. Es waren vier Männer, die mir nicht besonders gefielen. Nicht nur, weil sie harte, grobschlächtige Gesichter hatten, weil sie nicht rasiert und ziemlich abgerissen gekleidet waren. Sie strahlten Gefahr aus. Ich spürte das beinahe körperlich, und ich hatte bei den Apachen einen starken Instinkt dafür entwickelt, Gefahren zu erkennen und einzuschätzen. »Hallo«, sagte einer der Reiter, ein großer, hagerer Mann mit abstehenden Ohren und einer gebrochenen Nase. »Feine Sache, so ein heißer Kaffee nach dem Sauwetter.« Noel Custer antwortete nicht. Er trank wieder von seinem Kaffee, und auch ich führte meinen Becher an den Mund und nahm einen Schluck. »Trader, wie? Fahrender Händler?« Der Mann mit den abstehenden Ohren grinste. Er deutete auf den Wagen, an dessen Seitenbracken flache Kisten an starken Ledergurten hingen. Die Kisten enthielten einfache Ackergeräte.
»Ich bin Noel Custer.« Custer blickte den Reiter scharf an. »Man kennt mich von Colorado bis nach Mexiko. Ich handle mit jedem, und es gibt fast nichts, was ich nicht besorgen kann, und was ich nicht verkaufe. Wenn ihr ein Geschäft mit mir machen wollt, dann nennt eure Namen, steigt ab und setzt euch ans Feuer. Wenn nicht, schert euch zum Teufel.« »Du bist sehr unfreundlich.« Das Grinsen im Gesicht des Reiters gefror. »Ich kenne keinen Noel Custer, aber ein Geschäft können wir trotzdem tätigen.« Er hob die Linke, ohne den Blick von Custer zu wenden, und deutete wieder auf den Wagen. »Seht mal nach, was da drin ist«, sagte er über die Schulter. Seine drei Begleiter sprangen aus den Sätteln und gingen zum Wagen hinüber. »Laßt das lieber bleiben«, sagte Custer. Seine Stimme klang auf einmal ein wenig dunkler. »Ich habe viele Freunde. Ich sagte doch, man kennt mich von Colorado bis Mexiko.« »Schön für dich.« Der Kerl mit den abstehenden Ohren grinste wieder. »Wir haben auch viele Freunde. Schon mal was von Matt Latimer gehört?« Custer zuckte mit den Schultern. »Strauchdiebe gibt es viele. Sein Steckbrief hängt ja in jeder Stadt.« Ich trank wieder von meinem Kaffee und schaute zu dem Wagen hinüber. Dort kletterte gerade einer der Banditen auf den Bock und zerrte an der Bockbank herum. Sie ließ sich aufklappen. Er beugte sich triumphierend darüber, während die beiden anderen unter die Plane des Conestogaschoners schlüpften. Der Mann mit den abstehenden Ohren stieg jetzt aus dem Sattel und trat zum Feuer. Er starrte mich neugierig an. »Was hast du da für einen, Custer?« »Sag deinen Leuten, sie sollen von meinem Wagen runterkommen«, erwiderte Custer, ohne auf die Frage des anderen einzugehen. »Du machst mir Spaß, Custer«, sagte der Bandit. »Krieg ich einen Kaffee?« In diesem Moment rief der Mann auf dem Wagenbock: »He, Joe! Ich hab was gefunden.«
Der Mann am Feuer drehte sich um. Der Kerl auf dem Bock hob einen prall gefüllten Lederbeutel hoch, in dem es leise klirrte, als er ihn schüttelte. Ich sah, wie es in den Augen Custers kurz aufblitzte. Da sagte der Mann mit den abstehenden Ohren: »In der Weltgeschichte herumzuziehen und den Leuten Krimskrams anzudrehen, ist anscheinend ein gutes Geschäft.« »Ich denke, du willst einen Kaffee«, sagte Custer. Er sprach so ruhig, als ginge ihn das alles gar nichts an. »Ich sehe, du trägst es mit Fassung. Du bist ein kluger Mann.« Der Bandit mit dem Geldbeutel stieg vom Bock, und auch die beiden anderen tauchten wieder unter der Plane auf. Sie brachten nur ein paar Konserven mit, von denen Custer einige Kisten voll geladen hatte. Der Mann mit den abstehenden Ohren beugte sich vor und griff nach Custers Becher. Custer rührte sich kaum, als er dem Banditen den kochendheißen Kaffee ins Gesicht schüttete.
3. Das Geschrei des Mannes gellte mir in den Ohren. Er taumelte zurück und schlug beide Hände vor das verbrannte Gesicht, dessen Haut sich sofort rötete und anschwoll. Brüllend sackte er in die Knie. Noel Custer ließ seinen Becher fallen und federte aus der Hocke hoch. Da lag der schwere Navy-Colt mit dem kantigen Lauf schon in seiner Faust. Er schoß über das Feuer hinweg. Der Mündungsblitz zuckte orangerot durch die Dämmerung. Der Mann, der den ledernen Geldbeutel in der Faust hielt, wurde vom Aufprall der Kugel herumgerissen und stürzte neben dem linken Vorderrad des Conestogaschoners auf den Rücken. Der Geldbeutel entfiel seiner Rechten. Blut spritzte aus der großen Wunde. Custer stand jetzt breitbeinig neben dem Feuer und zielte mit dem Navy-Colt auf die beiden anderen Banditen, die erschrocken ihre Hände gehoben hatten. Der Mann mit den abstehenden Ohren wimmerte durchdringend und klagend. »Schert euch zum Teufel«, sagte Custer. »Schnell! Bevor ich es
mir anders überlege.« Sie liefen zu den Pferden, nachdem sie ihre Revolvergurte abgeschnallt hatten, wie Custer es forderte. Sie warfen auch ihre Gewehre zu Boden und bestiegen ihre Tiere. Der Mann mit den abstehenden Ohren taumelte heulend zu seinem Pferd. Er schien kaum etwas sehen zu können, denn der heiße Kaffee hatte auch seine Augen getroffen. Sein Gesicht war von Brandblasen entstellt. Er zog sich schwerfällig in den Sattel und sank nach vorn auf den Pferdehals. »Das wirst du noch bereuen«, sagte einer der beiden anderen. Er warf einen Seitenblick auf den Toten neben dem Wagen, dessen Hemdbrust sich mittlerweile dunkel gefärbt hatte. Custer erwiderte nichts. Er hob lediglich den Navy-Colt etwas an. Die Banditen schwiegen und zogen ihre Pferde herum. Sie ritten davon und nahmen auch das Pferd ihres toten Kumpans mit. Der Trader blieb mit dem Revolver in der Faust stehen und schaute ihnen nach, bis sie in der sich rasch verdichtenden Dunkelheit untertauchten. Mit einer eckigen Bewegung schob er den Revolver in die Halfter zurück. Er zog die Schultern hoch, als friere er, und hockte sich wieder neben das Feuer. Wortlos griff er nach dem Blechbecher, den er während des Kampfes fallengelassen hatte, und füllte ihn aus dem Kessel neu auf. Ich führte meinen Becher wieder zum Mund und trank den Rest des Kaffees. Noel Custer trank seinen Kaffee ebenfalls. Er gab mir kaltes Fleisch zu essen, rauchte selbst aber nur eine Zigarette und löschte dann das Feuer. Inzwischen war es Nacht geworden. Custer hatte sich erhoben und lief nachdenklich auf und ab. Schließlich ging er zu dem grasenden Gespann hinüber und führte es zum Wagen. Er schirrte die Pferde wieder an und nahm die Bremsklötze unter den Rädern des Conestogaschoners fort. Dann kam er zu mir. »Steh auf«, sagte er. Ich erhob mich und ging zum Wagen. Er hob mich hinein und band mir wieder die Füße zusammen. Er war unruhig, aber er hatte anscheinend keine Angst. Er bestieg den Bock und trieb die müden Gespannpferde an. Langsam rollte der Wagen am Flußufer entlang
nordostwärts. Die Leiche des Mannes, den er erschossen hatte, ließ Custer einfach liegen. Die Aasvögel würden sich um den Toten kümmern, vielleicht gab es auch Wölfe in der Gegend. Ich dachte an die Banditen, dachte an ihre Gesichter und daran, wie sie gesprochen hatten. Ich fragte mich, wieso die Apachen als Wilde bezeichnet wurden. Woher nahmen Männer wie Custer und seinesgleichen das Recht, so über die Indianer zu reden? Sie waren selbst Wilde, mehr als die Apachen. Ich lauschte dem Knarren der Wagenräder und dem leisen Rauschen des Nachtwindes und versuchte mir vorzustellen, wie es wohl in der sogenannten Zivilisation aussah. Wahrscheinlich ganz anders als in der Mission am Pease-River, in der ich aufgewachsen war. Ich war dreizehn Jahre alt, in meinem Denken und Fühlen ganz ein Apache. Wer mich sah, hielt mich für siebzehn. Die harten Jahre bei den Chiricahuas hatten mich körperlich, aber auch geistig reifen lassen. Bei den Apachen war ich ein vollwertiger Krieger gewesen, in der Welt der Weißen würde ich mir meinen Platz erst erkämpfen müssen, und das würde nicht einfach sein. Ich war gegen Weiße in den Krieg gezogen, hatte mit weißen Soldaten gekämpft und hatte einige von ihnen getötet. Ich hatte gesehen, wie weiße Männer Indianerfrauen abgeschlachtet, wie sie die toten Apachen verstümmelt hatten. Ich konnte das nicht einfach alles vergessen. Little Friend hätte mir sicher einen Rat geben können, wie ich mich zu verhalten hatte. Aber Little Friend war nicht da, und vielleicht würde ich ihn nie wiedersehen. Ich schloß die Augen. Es würde eine schlimme Zeit für mich anbrechen. Es würde sich zeigen, ob ich hart genug war, sie zu meistern. Bei den Apachen hatte ich gelernt, hart gegen mich selbst zu sein. Das würde mir nutzen. Alles andere mußte ich dem Schicksal überlassen. Ich hätte viel in diesem Moment gegeben, hätte ich gewußt, was mir bevorstand. Ich wußte es nicht, und vielleicht war das gut so. *
Noel Custer schonte die Pferde nicht. Er rastete in den nächsten Tagen immer nur kurz. Nach wenigen Stunden ging es stets sofort wieder weiter. Custer rechnete anscheinend damit, daß die Banditen ihren Racheschwur wahrmachen und ihn verfolgen würden. Aber während der ganzen Fahrt tauchte nicht ein Mensch auf. Das Land wurde unwegsamer. Die Wagenstraßen führten in die Berge. Fünf Tage nach dem Zwischenfall am Rio de los Manos erreichte Custer mit mir eine Stadt. Sie hieß Silverton. Ich saß neben Custer auf dem Bock, als der Wagen das Ortsschild passierte, und wunderte mich, daß ich die ungelenk in ein rohes Eichenbrett gebrannten Buchstaben noch entziffern konnte. Seit ich aus der Mission am Pease-River verschleppt worden war, hatte ich keine Gelegenheit mehr zum Lesen gehabt. Meine Hände waren noch gefesselt, aber Custer hatte mich am Morgen aus dem Wagen geholt und neben sich gesetzt, wohl, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich müßte wie ein wildes Tier gefangengehalten werden. Er wollte mich schließlich nicht noch länger mit sich herumschleppen. Die Stadt war klein. Sie war in den Ausläufern der Sierra San Miguel errichtet worden. Der Nordteil der Stadt lag höher als der Südteil, die Häuser waren an Hügel und an Felshänge gebaut worden. Die Geschäfte und Werkstätten befanden sich im Südteil von Silverton. Östlich der Stadt dehnte sich ein sanft abfallendes Hügelland, aus dem sich hier und da einige kleinere Gebirgsmassive erhoben. Custer lenkte den Conestogaschoner durch die breite, staubige Main Street. Hier und da blieben Leute auf den hölzernen Gehsteigen stehen und grüßten ihn. Er hob dann jedesmal seinen Zylinder und nickte schweigend. Die Leute starrten hinter dem Wagen her. Sie starrten mich an, und ich wünschte mich in diesem Moment unter die Plane des Wagens zurück. Ich war fremd in dieser Welt, ich gehörte nicht hierher. Deshalb glotzten mich alle an. Sie sahen, daß ich keiner von ihnen war, und vielleicht würde ich nie einer von ihnen werden, vielleicht würde ich ewig ein Außenseiter bleiben. Ich trug noch immer meine Wildlederhosen, die in der
Zwischenzeit sehr gelitten hatten und stellenweise zerrissen waren. An den Füßen trug ich die hochschäftigen Mokassins, an denen die Verzierungen aus Stachelschweinborsten mittlerweile abgerissen waren. Mein Oberkörper war nackt, und mein blondes Haar fiel glatt auf meine Schultern. Ich sah immer noch wie ein Indianer aus. Und wahrscheinlich hielten die Leute auf den Gehsteigen mich auch dafür. Ich glaubte, Feindseligkeit in ihren Blicken zu entdecken. Aber ich ertrug sie mit ausdruckslosem Gesicht und mit dem stoischen Gleichmut, der den Apachen eigen war. Custer zügelte das Gespann vor einem General-Store mit zwei großen Schaufenstern. Schräg gegenüber befand sich das Bankgebäude, daneben eine Pferdetränke. Als Custer steifbeinig vom Bock kletterte, trat ein kahlköpfiger Mann in weißem Hemd und mit einer sauberen Schürze durch den Perlenvorhang im Türrahmen auf den überdachten Vorbau hinaus. »Na, Custer?« Die Stimme des Storemannes klang merkwürdig hell, fast wie die einer Frau. »Lange nicht gesehen.« Er schaute mich neugierig an. »Ich hab dir die Decken mitgebracht, die du haben wolltest«, sagte Custer. »Erstklassige Ware aus Mexiko.« Der Storemann trat zum Rand des Gehsteigs und schüttelte Custer die Hand. »Komm rein.« Er wandte sich halb um und zeigte auf mich. »Wer ist der Junge?« »Darüber müssen wir noch reden«, sagte Custer. »Der Teufel soll mich holen, wenn er nicht wie eine gottverdammte Rothaut aussieht«, sagte der Storemann. Ich hatte solche Sprüche schon zu oft gehört und fühlte Zorn in mir und keine Scheu mehr. »Ich bin eine gottverdammte Rothaut«, sagte ich. Der Storemann schluckte. Sein rundes, rosiges Gesicht erinnerte mich plötzlich an ein Schwein. Die kleinen spitzen Ohren, die von dem kahlen Schädel abstanden, verstärkten diesen Eindruck. Custer drehte sich um, trat zum Wagen und packte mich am rechten Arm. Wortlos zerrte er mich vom Bock, so daß ich neben dem rechten Vorderrad in den Staub fiel. Custer hob mich hoch,
holte aus und versetzte mir eine Ohrfeige, daß ich dachte, mir würde der Kopf von den Schultern gerissen. »Er hat eine Zeit bei den Apachen gehaust«, sagte Custer. »Dort hat er sich eine Menge Gemeinheiten angewöhnt. Aber er wird schon wieder. Er hat gute Anlagen.« »Und warum ist er gefesselt?« Der Storemann schaute mich immer noch aus großen Augen an. »Einmal ist er mir davongelaufen, unten in Arizona.« Custer stieß mich auf den Vorbau. Auf der Straße waren Menschen stehengeblieben, auf den Gehsteigen ebenfalls. »Jetzt wird er das schön bleiben lassen.« »Hat er Angehörige?« »Nein,« »Er sieht sehr kräftig aus.« »Das will ich meinen. Er ist gesund und stark, er hat keine Eltern, steht ganz allein auf der Welt und hat sein Leben als Apache noch zu verkraften. Es ist die verdammte Pflicht eines guten Christen, sich um einen solchen Jungen zu kümmern.« »Das glaube ich auch, Custer.« »Es ist eine Aufgabe für einen Christenmenschen, diesen Halbwilden zu einem anständigen Menschen zu erziehen, eine Aufgabe, die sich bestimmt eines Tages auszahlt. Ich denke, euer Pfaffe wird mir da recht geben.« »Das denke ich auch.« Der Storemann drehte sich um und stieß den Perlenvorhang an der Tür zur Seite. »Komm rein und bring den Jungen mit.« »Ab und zu eine Tracht Prügel«, sagte Custer, während er mich vor sich her stieß, »und der Junge wird ein Prachtkerl.« Wir traten in den Laden. Er war groß und geräumig. Den Mittelpunkt bildete eine gut fünfzehn Fuß lange Theke, an deren hinteren Ende ein halbes Dutzend hohe Gläser aufgestellt waren, die mit bunten Süßigkeiten gefüllt waren. In Regalen an den Wänden stapelten sich Konserven und andere Lebensmittel. Der Storemann führte Custer und mich durch eine Seitentür in das rückwärtige Lager des Stores. Hier befanden sich Mehl-, Zucker- und Kaffeesäcke und hundert andere Dinge. Ich sah
mich nicht um. Meine Wange brannte noch immer von dem heftigen Schlag, den Custer mir versetzt hatte. Neben dem Magazinraum befand sich ein kleines Office. Hier bot der Storemann Custer Platz an. Ich mußte stehenbleiben. »Whisky?« fragte der Storebesitzer. Er hieß Tyron Delmar, war verheiratet und hatte eine Tochter, wie ich später noch erfahren sollte. Er holte eine bauchige Flasche mit rotem Kentucky-Whisky aus einem Wandschrank und stellte zwei dickwandige Gläser auf den Tisch. »Wo hast du den Jungen aufgegabelt?« fragte Delmar. »Meine Sache.« Custer nahm sein Glas, in das der Storemann Whisky eingeschenkt hatte. »Wichtig ist, er hat keine Eltern, und er ist noch nicht völlig verwildert. Er kann seine Muttersprache noch, und wenn man ihn eine harte Hand fühlen läßt, kriegt man ihn wieder hin.« »Du willst, daß ich ihn behalte?« Delmar schaute mich wieder an. Er trat auf mich zu, sein Glas in der Hand. Er legte mir die Linke auf die Schulter, drehte mich hin und her und nickte dann. »Ich könnte ihn schon brauchen. Die Arbeit wächst mir über den Kopf, Custer. Ich brauche einen kräftigen Burschen, der mir hilft. Aber ein halber Indianer …« Er wiegte skeptisch den kahlen Schädel. »Er ist so weiß wie du und ich, Delmar.« Custer stellte sein geleertes Glas ab. »Ein guter Whisky, alles, was recht ist. Hör zu, Delmar. Ich habe wegen des Jungen Ausgaben gehabt. Kosten, verstehst du?« Ich staunte. Custer log, ohne mit der Wimper zu zucken. »Er denkt vielleicht noch ein bißchen wie eine Rothaut«, sagte Custer. »Aber das läßt nach. Der Junge ist gut, Delmar. Du wolltest eine Hilfskraft haben, ich hab ihn dir mitgebracht.« »Gut, gut, Custer.« Delmar setzte sich. »Wieviel willst du für ihn haben?« »Hundert Dollar. Er ist stark genug für alle Arbeiten hier.« »Nimm ihn wieder mit, Mann.« Tyron Delmar lehnte sich zurück. Sein rosiges, glattes Gesicht war so undurchdringlich wie das Antlitz einer Wachspuppe.
»Achtzig, Delmar.« Custer rang die Hände. »Dabei setze ich zu. Ich habe ihn freikaufen müssen, und er hat mir die Haare vom Kopf gefressen.« »Davon sieht man nichts, und das ist deine Sache, Custer. Ich habe gedacht, du würdest mir einen Farmersohn bringen.« »Aber der Junge ist doch viel besser.« Custer schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du sparst Lohn, weil dir keine Angehörigen im Nacken sitzen, und der Junge ist auf dich angewiesen. Der wird noch zahm werden wie ein kleiner Hund.« Ich dachte, daß sich Tyron Delmar, falls er mich hierbehielt, noch wundern würde, aber ich sagte nichts. Ich hatte keine Lust, mich noch einmal schlagen zu lassen. »Der Padre wird verlangen, daß er in die Schule geht«, sagte Delmar. »Ich brauche keinen zusätzlichen Esser, sondern einen Arbeiter.« »Schick ihn in die Sonntagsschule«, sagte Custer. »Nach allem, was ich von ihm weiß, kann er lesen und schreiben, das reicht.« »Sechzig Dollar«, sagte der Storemann. Er strich sich über seine Glatze. »Keinen Cent mehr, sonst nimm ihn wieder mit.« Custer schnitt ein Gesicht, als hätte er den Befehl erhalten, sich selbst umzubringen. Ich schloß die Augen und zwang mich, ruhig zu bleiben. Sie feilschten um mich wie um ein Stück Vieh, und immer wieder war die Rede davon, daß es Christenpflicht sei, aus mir armer mißbrauchter Kreatur wieder einen richtigen Menschen zu machen. Es war schlimm, aber sie einigten sich auf fünfundsechzig Dollar, die ich abarbeiten sollte. Bei fünf Dollar monatlich bedeutete das, daß ich über ein Jahr ohne Lohn zu schuften hatte. Merkwürdigerweise dachte ich überhaupt nicht an Flucht. Wo hätte ich auch hinlaufen sollen? Ich mußte im Grunde sogar froh sein, daß Tyron Delmar, der Storebesitzer, mich nahm. Ein neuer Lebensabschnitt hatte für mich begonnen, und ich kannte mich noch nicht aus in dieser neuen Welt. Ich mußte erneut Erfahrungen sammeln und lernen, mich durchzubeißen. In ein paar Monaten würde alles anders aussehen, glaubte ich, eigentlich hoffte ich es nur. In ein paar Monaten, hoffte ich, würde ich auch in der Welt der Weißen fest Fuß gefaßt haben, so wie es mir in der Welt der
Apachen gelungen war. Schweigend blickte ich Tyron Delmar an, der meine Fesseln an den Händen durchschnitt und mir auf die Schulter klopfte. Ich schwieg auch noch, als er mich in eine zugige Dachkammer über dem Magazinraum führte, in der es ein wackliges Bettgestell mit einer alten Matratze, eine uralte Kommode mit einer Porzellanschüssel darauf und einen Stuhl gab. Durch ein verstaubtes Fenster fiel ein wenig Tageslicht. Das würde von jetzt an mein Zuhausesein. Als ich allein war, setzte ich mich auf die Bettkante und stützte den Kopf in beide Hände. Ich hätte heulen können, aber ich tat es nicht, ich hatte es verlernt. Ein Krieger zeigt keine Gefühle. Aber die Bitterkeit, die in mir fraß, die Hoffnungslosigkeit und das Gefühl der Verlorenheit schienen mich von innen heraus zu erdrücken. Es gab nichts, was mir hätte Mut einflößen können. Ich ließ mich rücklings auf die muffig riechende Matratze sinken und schloß die Augen. Ich versuchte, an nichts zu denken, innerlich ruhig zu werden. Aber in meinem Kopf drehte sich alles, und tausend Gedanken, Befürchtungen und Ängste stürmten auf mich ein.
4. Die Tür meiner Kammer schwang knarrend nach innen. Ich richtete mich halb auf und sah ein Mädchen auf der Schwelle stehen. Sie war vielleicht einen halben Kopf kleiner als ich und sehr dünn, obwohl unter ihrem buntbestickten Kleid bereits Brüste zu knospen schienen. Ihr Gesicht war schmal, erinnerte aber doch irgendwie an das rosige Schweinegesicht des Storebesitzers. Sie hatte ihr langes blondes Haar zu zwei dicken Zöpfen geflochten. Sie starrte mich aus großen braunen Augen an. Ihre Blicke tasteten neugierig über meinen nackten, narbigen Oberkörper, so daß mir unwillkürlich heiß wurde. »Wer bist du?« fragte ich. Ein hochmütiger Zug trat in ihr Gesicht. »Ireen Delmar«, sagte sie. »Meinem Vater gehört der Store. Und du bist der Wilde, nicht wahr?«
»Nicht wilder als du«, sagte ich. Sie wurde rot und schnappte nach Luft. »Ich habe gewußt, daß du ein unverschämter, widerlicher Bengel bist«, sagte sie. »Ich werde meinem Vater sagen, daß er dir beibringen soll, wie du dich mir gegenüber zu benehmen hast.« Sie hielt ein paar Kleider in der rechten Hand und warf sie jetzt einfach auf den Fußboden. »Du sollst das anziehen und dann zu meinem Vater kommen.« Damit drehte sie sich um und warf die Tür krachend zu. Ich erhob mich vom Bett und hob die Kleidungsstücke auf. Es waren eine einfache Leinenhose, ein einfaches Hemd aus festem Stoff mit kurzen Ärmeln und ein paar Schuhe. In mir empörte sich alles, diese Sachen anzuziehen. Aber ich wollte mir nicht wegen ein paar Stoffetzen gleich wieder Ärger einhandeln. Ich zog mich aus und schlüpfte in die neuen Kleider. Die Hose paßte, wenn die Beine auch ein Stück zu kurz waren. Das Hemd war etwas zu eng an den Schultern. Nachdem ich auch die Schuhe angezogen hatte, verließ ich die Kammer und ging die ausgetretene Bodentreppe hinunter in den Lagerraum. Die Tür zum Office stand offen, und so trat ich hinein. Tyron Delmar saß hinter seinem wurmstichigen Schreibtisch. Daneben standen seine schnippische Tochter Ireen und eine große, hagere Frau mit strengem Gesicht und straff nach hinten gekämmtem Haar. Delmar musterte mich. Er sagte: »Jetzt siehst du schon ganz anders aus.« Er zeigte auf das Mädchen und dann auf die Frau. »Ireen kennst du schon. Das ist Martha, meine Frau. Du wirst sie Mrs. Delmar nennen, verstanden? Sie wird dir gleich die Haare schneiden, und dann zeige ich dir, was du hier zu tun hast …« Ich hörte nicht, was Delmar noch alles sagte. Seine Worte versickerten im Raum. Und dann trat Martha Delmar auf mich zu. Ihr hageres Gesicht erschien mir wie eine häßliche Fratze. Verschwommen sah ich seitlich von ihr die hämisch grinsende Ireen stehen. Martha Delmar sagte etwas. Ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Aber ich hörte nichts. Ich warf mich herum, um aus dem
Office zu fliehen. Eine knochige Hand krallte sich um meine linke Schulter und hielt mich fest. Ich stürzte fast, und dann war das Gesicht von Martha Delmar dicht vor mir, und ich hörte auch ihre Stimme. »Was ist denn los? Warum willst du weglaufen. Du bist ein unverschämter Bengel!« Ich riß mich los und stürmte durch den Lagerraum. Ich stolperte über eine im Weg stehende Kiste und stürzte. Als ich mich aufrichtete, hörte ich hinter mir Schritte und schweres Atmen. Mr. Tyron Delmar höchstpersönlich keuchte heran. Sein Gesicht war puterrot, sogar sein kahler Schädel. Ich lief auf eine Tür zu, riß sie auf und lief auf einen Hof hinaus. Hier stapelten sich leere Kisten und Fässer. Ein weit geöffnetes Hoftor in dem mannshohen Zaun führte zur Straße. Ich jagte darauf zu, blieb kurz stehen, schaute mich um, sah Tyron Delmar und seine Familie heranlaufen, und setzte mich wieder in Bewegung. Ohne nach rechts oder links zu sehen, hastete ich die Main Street hinunter. Mein Herz klopfte wild. Hinter mir hörte ich die helle Stimme des Storebesitzers rufen. Sie klang jetzt schrill und überschlug sich fast. »Haltet ihn fest! Haltet den Jungen fest!« Seitlich von mir tauchte ein Schatten auf, dann sprang ein Mann vom Stepwalk und stellte sich mir in den Weg. Er sah aus wie ein Handwerker, war hager und mittelgroß. Ich rannte weiter, duckte mich und rammte ihm den Kopf in den Leib. Er schnaufte wie ein sattes Schwein, taumelte und versuchte trotzdem, nach mir zu greifen. Ich schlug beidhändig zu und traf ihn gegen Brust und Hals. Er warf beide Arme hoch und stürzte auf den Rücken. Als er sich stöhnend hochstemmte, hatte ich bereits die Straße überquert und lief in Richtung Schmiede. Hinter mir wurde das Geschrei Tyron Delmars, der anscheinend befürchtete, seine fünfundsechzig Dollar, die er für mich an Noel Custer gezahlt hatte, zu verlieren, immer lauter. Auch seine Frau stimmte mit ein. Vor mir tauchten mehrere Männer auf. Einer davon trug einen
blinkenden Messingstern auf einer schwarzen Lederweste. Seitlich von mir öffnete sich ein Hofeingang. Kurzentschlossen hetzte ich hinein. Es war inzwischen Mittag geworden. Die Sonne stand hoch, und zwischen den Gebäuden staute sich die Hitze. Heiße, stinkende Luft waberte mir entgegen, als ich in den Hof lief. Es war der Hof eines Saloons. Berge von leeren, zerbrochenen Flaschen türmten sich hier, unweit von stinkenden Unrathaufen, über denen Fliegenschwärme wimmelten. In diesem dreckigen, stinkenden Hof war die Welt zu Ende. Ein hoher Bretterzaun umgab dieses dreckige Loch, zu hoch, als daß ich hätte darüber klettern können. Ich blieb stehen. Hilflose Wut erfüllte mich. Hinter mir hörte ich die Schritte und die Stimmen der Verfolger. Sie würden mich wieder einfangen, und sie würden mir ihren Willen auf zwingen. Ich hatte keine Chance. Aber ich würde mich nicht wie ein Schaf scheren lassen. Ich besann mich darauf, daß ich bei den Apachen auch in ausweglosen Situationen gekämpft hatte. Ich drehte mich um. Durch den Hofeingang stürmten sie heran. Der Mann mit dem Stern vorn, gefolgt von Mr. Delmar und seiner Familie und einigen anderen Neugierigen. Ich bückte mich und hob eine leere Whiskyflasche auf, die direkt neben mir lag. Ich zerschlug sie an einem Stein und richtete mich mit dem gezackten Flaschenrest in der Faust wieder auf. Die nadelscharfen Splitter glitzerten im Sonnenlicht wie Kristall. Der Marshal blieb stehen, und auch Mr. Delmar verhielt im Schritt. Martha Delmar schrie hysterisch, sie werde gleich in Ohnmacht fallen, und Ireen starrte mich an wie ein Weltwunder. In den Augen der anderen Gaffer war ich wohl so etwas wie ein Monstrum. »Laß die Flasche fallen, Junge«, sagte der Marshal. Er war etwas beleibt und schien gutmütig zu sein. Jetzt war er allerdings nervös, und seine Rechte glitt zu dem Revolver, den er sich hoch an die rechte Hüfte geschnallt hatte. Ich hob den Flaschenrest, als wenn ich ihn werfen wollte. Der Beamte zog den Kopf ein, und Mr. Delmar gestikulierte abwehrend
mit beiden Armen in der Luft herum. »Sei doch vernünftig, Junge. Wir wollen dir doch nichts tun.« Seine helle Stimme klang jetzt beinahe quäkend und bittend. »Wir meinen es doch nur gut mit dir.« »Sie können eine Menge mit mir tun«, sagte ich. »Aber ich lasse mir nicht die Haare abschneiden. Ich bin ein Apache, und ich werde einer bleiben.« Der Marshal wandte sich Delmar zu und tuschelte etwas, und Delmar sagte: »Also gut. Du sollst nicht sagen müssen, daß ich dich unmenschlich behandele. Mit der Zeit wirst du schon lernen, daß du kein Indianer bist.« Ich sagte nichts. »Du hast gehört, was Mr. Delmar gesagt hat«, sagte der Marshal. »Jetzt laß die Flasche fallen. Du wirst dich schneiden.« »Ich schneide mich nicht«, sagte ich. »Ich schneide höchstens andere. Hat Mr. Custer Ihnen nicht gesagt, daß ich dem Mann, der mich von den Apachen verschleppt hat, den Skalp abgerissen habe?« Der Storebesitzer schnappte nach Luft, und seine Frau schrie: »Ich habe dir immer gesagt, daß dieser Custer ein Betrüger ist.« »Niemand wird dir etwas tun, Junge«, sagte der Marshal. Er gefiel mir direkt. Er hatte ein ehrliches Gesicht, und in seinen Augen war kein Falsch. Ich ließ die Flasche fallen. Die Haltung des Marshals entspannte sich. Tyron Delmar aber reagierte schnell. Er fuhr wie eine Natter auf mich los, bevor ich mich noch einmal nach der Flasche bücken konnte, packte mich am Haar und zerrte mich hinter sich her. »Das wirst du bereuen!« schrie er. »Noch einmal veranstaltest du nicht so ein Theater, und wenn ich dir jeden Knochen aus dem Körper prügeln müßte.« Er drehte sich zu mir um und schlug mich ins Gesicht, so daß ich auf den Boden stürzte. »Und dein Haar wird abgeschnitten«, schrie er. »Ich kriege dich schon hin, so wie ich dich haben will.« »Lassen Sie das lieber bleiben, Delmar. Der Junge hat Ihr Versprechen. Ein Versprechen bricht man nicht.« »Wollen Sie mir sagen, was ich zu tun habe, Memming?« sagte
Delmar. »Ich will nur sagen, daß der Junge offenbar noch wie ein Apache denkt. Ich weiß nicht, wo Sie ihn herhaben, aber ich möchte nicht, daß Sie eines Tages als skalpierte Leiche vor mein Office gelegt werden.« Tyron Delmar schluckte, und seine Frau wimmerte leise. Ireen war ganz blaß. Delmar sagte kein Wort mehr. Er packte mich am Arm und schob mich vor sich her. Ich wehrte mich nicht mehr. Flucht hatte doch keinen Sinn, das hatte ich seinerzeit auch bei den Apachen einsehen müssen. Es kam nur darauf an, daß ich mich nicht zerbrechen ließ. Nach dem, was jetzt geschehen war, war ich sicher, daß Tyron Delmar mich erst einmal in Ruhe lassen würde. Nur Mrs. Delmar schien das nicht zu begreifen. Sie rannte mit tippelnden Schritten, ihre Tochter an der Hand, hinter uns her und keifte, ihr Mann habe einen wilden Mörder ins Haus geholt, der ihnen noch allen die Kehlen durchschneiden werde. Damit war ich gemeint. Sie verlangte, daß Tyron Delmar mich sofort zum Teufel jage. Aber der antwortete nicht. Vermutlich dachte er an die fünfundsechzig Dollar, die er Noel Custer für mich bezahlt hatte.
5. »Custer hat dich gar nicht freigekauft?« Die Stimme Tyron Delmars unterbrach mich beim Essen. Ich hockte auf einem Zuckersack im hintersten Winkel des Magazinraumes und hatte vor mir auf einer Kiste mit Konservendosen meine Abendmahlzeit stehen, eine dünne Suppe und einen Teller mit Broten. Dazu gab es dünnen Kaffee. Ich hob den Kopf. Tyron Delmar stand an der Tür zum Laden. Er hatte den Store gerade geschlossen und nahm die weiße Leinenschürze ab, die er zum Bedienen immer anlegte. »Mich hat niemand freigekauft«, sagte ich. Ich löffelte den Rest meiner Suppe und schob den Teller zur Seite. »Woher hat er dich denn dann?« »Mein Stamm hat ein paar Waffenschmuggler in Mexiko angegriffen«, sagte ich. »Einer von denen hat mich gefangen und
mich gezwungen, ihm den Weg zur Grenze zu zeigen. In Arizona traf er auf Custer. Die beiden stritten sich, und Custer hat ihn erschossen. Dann hat er mich mitgenommen.« Delmar fluchte leise, während er die Schürze an einen Nagel hängte. »Er hat keinen Cent für dich ausgegeben?« »Ich habe nichts davon gemerkt«, sagte ich. »Dieser Drecksack.« Delmar walzte schwerfällig auf mich zu und blieb vor mir stehen, die Fäuste in die Hüften gestemmt. »Ab Morgen fängst du mit der Arbeit an. Benimm dich anständig, damit es keinen Ärger gibt. Ich glaube, du bist gar nicht so dumm. Du weißt ganz genau, was du tust. Wenn ich Lieferungen kriege, dann hilfst du beim Abladen und stapelst die Sachen hier im Magazin. Wenn Kunden einkaufen, wirst du die Ware aufladen, klar? Außerdem hältst du den Laden und das Lager und auch den Hof sauber. Sonntags gehst du zur Sonntagsschule, damit ein anständiger Mensch aus dir wird.« Ich nickte nur und aß weiter. Delmar musterte mich unsicher, drehte sich dann aber um und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich erhob mich, als ich fertig war, stellte das Geschirr zusammen und trug es in die Wohnung der Delmars hinüber, die sich neben dem Magazinraum befand. Martha Delmar stand in der Küche und wurde ganz grün im Gesicht, als sie mich sah. Ich stellte das Geschirr wortlos hin und verließ die Küche. Draußen ging bereits die Sonne unter. Die Dämmerung lag wie eine schützende Decke über der Stadt. Ich begab mich in meine Dachkammer und legte mich auf das wacklige Bett, ohne mich vorher der Kleider zu entledigen. Es war ein schlimmer Tag gewesen. Ich verfluchte ihn, und ich verfluchte den Tag meiner Geburt. Und dann schlief ich ein, obwohl ich mich elend und verlassen fühlte. Am nächsten Morgen erwachte ich, ohne daß mich jemand wecken mußte. Ich ging die steile Stiege hinunter und auf den Hof hinaus, wo es eine rostige Pumpe gab. Hier streifte ich das Hemd ab und betätigte den Pumpenschwengel, bis kristallklares und eiskaltes Wasser in armdickem Strahl aus der Pumpe floß. Ich wusch mir
Gesicht und Oberkörper. Als ich mich abwandte und mein Hemd aufhob, bemerkte ich, daß mich von einem Fenster im ersten Stock des Hauses jemand beobachtete. Es war Ireen Delmar. Als sie sah, daß ich sie entdeckt hatte, zog sie sich rasch zurück. Ich streifte das Hemd über und ging ins Haus. Tyron Delmar war bereits da und hatte mir Kaffee und Brote auf eine Kiste gestellt. Seine Frau weigerte sich, mich in der Küche essen zu lassen. Mir war das egal. Ich schlang hungrig die Mahlzeit hinunter und bekam dann auch gleich zu tun. Den ganzen Vormittag über schleppte ich schwere Kisten und Säcke, belud flache Farmwagen oder lud Waren ab und trug sie ins Magazin. Die Kunden bestaunten mich, denn Tyron Delmar erzählte jedem, daß ich ein weißer Apache gewesen sei. Kurz vor Mittag tauchte auch der Padre von Silverton auf. Er war ein kleiner, dicker Mann mit einem Gesicht wie ein Posaunenengel. Er klopfte mir freundlich auf die Schulter und sagte, nachdem ich jahrelang unter Heiden gelebt hätte, würde es mir guttun, wieder christliche Worte zu hören. Er lud mich in die Sonntagsschule ein, und Tyron Delmar beeilte sich, zu versichern, daß er mich ohnehin hätte hinschicken wollen. Gegen Mittag wurde das Geschäft ruhiger. Ich erhielt ein gebratenes Stück Fleisch mit Kartoffeln und Gemüse und gewöhnte mir nach und nach wieder den Umgang mit Messer und Gabel an. Am Nachmittag erschienen Männer aus den Bergen, die Stores in einigen kleinen Silberminenstädten unterhielten. Sie kauften viel ein, und ich schuftete bis zum Sonnenuntergang. Mit schmerzenden Muskeln wankte ich dann in meine Kammer und sank müde auf mein Lager. Die ungewohnte Arbeit nahm meine ganze Energie in Anspruch. Ich hatte keine Zeit mehr, über mein Schicksal nachzugrübeln – und vielleicht war das gut so. In den nächsten Tagen änderte sich nichts. Ein Tag war wie der andere. Ich arbeitete wie ein Pferd. Tyron Delmar tat nicht einen Handschlag, und er hielt auch die Kunden an, mich die ganze Arbeit allein tun zu lassen. Anfangs erschien mir alles unerträglich. Langsam aber gewöhnte
ich mich daran. Die Arbeit fiel mir nicht mehr so schwer, und ich schnappte eine Menge von dem auf, was sich im Store abspielte. Ich sah und hörte, wie Geschäfte abgewickelt wurden und lernte, wie eine Stadt wie Silverton verwaltet wurde und wer im Ort alles besonders wichtig war oder sich zumindest dafür hielt. Bei den Apachen hatte ich eine Gemeinschaft erlebt, die in jeder Situation zusammenhielt. So mußte es sein. Die Indianer kämpften ums Überleben und vermieden es, sich gegenseitig zu zerfleischen, zumindest in der Zeit, in der ich bei ihnen gelebt hatte. Früher war es anders gewesen. In Silverton aber gab es viele Intrigen, Streitereien, Neid und Mißgunst – Dinge, die ich bei den Indianern kaum kennengelernt hatte. Am Sonntag mußte ich ein weißes Hemd anziehen und in die Kirche gehen. Der Padre begrüßte mich als »einen verlorenen Sohn, der unter die Heiden gefallen und nun zurückgekehrt sei«. Die anderen Kinder, es waren etwa dreißig, starrten mich an, aber nicht feindselig, nur neugierig und teilweise sogar mit Respekt und Bewunderung, zumal Ireen Delmar, die ebenfalls die Sonntagsschule besuchte, ihnen wilde Geschichten über mich erzählte. Ich beteiligte mich nicht an der Unterhaltung, sondern hörte nur schweigend dem Padre zu. Ich fühlte mich an die Mission am Pease River erinnert und ging später nachdenklich zurück zum Haus der Delmars. Die anderen Kinder liefen mir nach. Ein großer Junge, der vielleicht fünfzehn Jahre alt war, hielt mich fest. »He, Ronco«, sagte er. »Woher hast du diesen Namen? Haben die Rothäute ihn dir gegeben?« »Nein«, sagte ich, »das waren Padres.« »Und wie viele Menschen hast du umgebracht?« Die Kinder umringten mich jetzt, auch Ireen Delmar war unter ihnen. Ich schwieg und wandte mich ab. »Du sollst antworten«, sagte der Junge. »Ich will es, und du wirst es tun.« Ich beachtete ihn nicht und wollte weitergehen, als ich Ireen Delmars Stimme hörte: »Gib's ihm, Fred. Er benimmt sich auch bei uns immer noch wie ein Indianer.« »Antworte«, sagte der Junge. Er puffte gegen meine Schulter.
Er tat mir beinahe leid. Er war ein Grünschnabel gegen mich, obwohl ich jünger war als er. Aber ich hatte in den letzten Tagen schon zuviel geschluckt, als daß ich auch jetzt stillgehalten hätte. Der Zorn, der sich in mir angestaut hatte, war schon zu groß. Es gibt für alles eine Grenze, und ich wollte mich nicht weiter demütigen lassen. Ich drehte mich um und schlug mit der rechten Faust zu. Der Junge war so überrascht, daß er den Schlag voll nahm und wie vom Blitz getroffen zu Boden stürzte. Aus seiner Nase tropfte Blut. Wimmernd wälzte er sich über den Boden. Von der Seite sprangen mich zwei andere Jungen an. Ich riß das rechte Bein hoch und gab dem einen einen Tritt in den Leib. Er sackte in die Knie und übergab sich. Dem zweiten schlug ich beide Fäuste gegen die Stirn. Er sank benommen in den Staub. Als ich weiterging, hielt mich niemand mehr auf. Ich begab mich sofort auf meine Dachkammer und zog das weiße Hemd aus. Dann streckte ich mich auf meinem Lager aus und starrte stumm zur Decke. Es erfüllte mich nicht im geringsten mit Befriedigung, daß ich ein paar Jungen verprügelt hatte. Das würde nichts daran ändern, daß sie mich weiter als Außenseiter behandeln würden. Sie würden von jetzt an vielleicht etwas leiser über mich reden und mir aus dem Wege gehen. Aber damit war nichts gewonnen. Ich blieb für den Rest des Tages in meiner Kammer und ging auch nicht zu den Mahlzeiten hinunter. In der Nacht öffnete ich zum erstenmal das schräge Dachfenster und schaute lange zum klaren Sternenhimmel hinauf, der sich über der Sierra San Miguel wölbte. Der Himmel war weit und groß wie die Prärien und das Land der Apachen. Es war derselbe Himmel, unter dem ich frei und glücklich gewesen war. Die Herzen der Menschen aber waren so eng und finster wie meine winzige Kammer – und genauso kalt und unwirtlich. Eine Sternschnuppe fiel, kurz bevor ich das Fenster schließen wollte. Sie verglühte irgendwo in der Unendlichkeit, und ich wünschte mich zurück zu den Apachen. Aber dieser Wunsch war unerfüllbar. Ich wußte es und hatte mich innerlich damit abgefunden, auch wenn ich es immer noch nicht wahrhaben wollte. Doch es würde wohl noch einige Zeit dauern, bis ich darüber hinweg war.
* Der nächste Tag war ein Montag. Ich ging am frühen Morgen wieder an meine Arbeit. Obwohl ich sicher war, daß Ireen ihrem Vater brühwarm von der Prügelei alles erzählt hatte, sagte er kein Wort darüber. Ich tat ebenfalls, als sei nichts geschehen. Es war Mitte April 1859. Der Himmel war an diesem Tag bewölkt. Trotzdem kamen viele Farmer aus den tiefer gelegenen Tälern nach Silverton, um einzukaufen. In dieser Gegend von Colorado gab es nur wenige Ortschaften, wo sie sich versorgen konnten, und manche Farmer hatten einen Weg von zwei Tagen hinter sich, als sie bei uns eintrafen. Das Geschäft wurde gegen Mittag ruhiger. Aber als ich beim Essen saß, hielt ein Frachtwagen mit einem Doppelgespann auf dem Hof. Er hatte Kaffee- und Zuckersäcke geladen. Tyron Delmar rief mich zu sich. »Du wirst sofort den Wagen abladen«, sagte er. Neben ihm stand ein lederhäutiger Driver. »Sofort, wenn ich gegessen habe«, sagte ich. »Nein«, sagte Delmar. »Das Essen hat Zeit. Es sieht nach Regen aus. Ich will nicht, daß die Ware versaut wird.« In mir ballte sich wilde Wut zusammen. Ich war es gewohnt, selbst zu entscheiden, was ich tat und was nicht. Aber ich beherrschte mich, diese Zeiten waren vorbei. Ich ging auf den Hof hinaus, während der Wagendriver erklärte, daß er ins nächste Speisehaus gehen wolle. Hungrig begann ich mit meiner Arbeit. Es waren Zentnersäcke, und ich fühlte mich nach einer halben Stunde wie ein Maulesel. Die grauen Wolken, die von den Bergen herantrieben, wurden immer dichter, ein kühler Wind strich durch die Straßen. Auf dem Wagen standen noch sechs Mehlsäcke, als Ireen plötzlich im Hof stand und scheu herüberäugte. Ich betrachtete sie nicht, sondern fuhr in meiner Arbeit fort. Als ich einen Sack ins Haus geschleppt hatte und wieder heraustrat, stand sie neben dem Wagen.
Sie lehnte herausfordernd am rechten Hinterrad. »Gestern«, sagte sie, »das war gemein.« Ich sagte nichts, sondern bestieg den Wagen, um den nächsten Mehlsack zu holen. »Ich fand es prima, wie du Fred und die anderen verhauen hast.« »Ich habe gehört, daß du gestern etwas anderes gerufen hast«, sagte ich. »Ach …« Sie winkte ab, und als ich vom Wagen sprang, stand sie so dicht vor mir, daß ich sie fast umstieß. »Das sind doch alles Kinder«, sagte sie. »Auch wenn du nicht älter bist, kommst du mir schon wie ein Mann vor.« Sie griff nach dem silbernen Medaillon, das ich an einem dünnen Kettchen um den Hals trug. »Wer ist das?« fragte sie. Sie schaute das zierliche Frauenbild an und ließ das Medaillon dann wieder auf meine Brust zurückfallen. »Meine Mutter«, sagte ich. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl im Magen, und meine Stimme klang rauh. »Gibt es bei den Apachen auch hübsche Mädchen?« »Sicher.« Meine Kehle wurde eng. Da legte sie die Hände auf meine Schultern. »Du bist aber stark.« Mit schmachtenden Blicken schaute sie mich an. Ihre Stimme senkte sich. »Meine Freundinnen sagen alle, daß sie schon mal geküßt worden sind. Ich noch nicht.« Ich schwieg, und in meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Einen Moment lang wollte ich sie wegstoßen, aber ich konnte es nicht. Ihr Gesicht rückte dem meinen immer näher. Ihr Atem streifte mich. »Hast du schon mal geküßt?« fragte sie. »Wenn – uns dein Vater sieht«, sagte ich und wunderte mich, daß ich überhaupt sprechen konnte. »Ich weiß einen Platz, wo uns niemand sieht«, flüsterte sie. Sie lehnte sich kurz an mich, so daß ich ihre Brüste auf meinem Oberkörper spürte. »Komm.« Sie griff nach meiner Hand. »Ich muß doch …« Ich zeigte auf die Säcke. Sie lachte nur und zog an meiner Hand. Da folgte ich ihr. Es war ihr gelungen, mich völlig zu verwirren. Mein Instinkt für Gefahren
hatte mich im Stich gelassen. Wir liefen aus dem Hof und bogen in eine schmale Seitengasse, in der es nur Lagerschuppen, Remisen und Ställe gab. Kein Mensch war zu sehen. Über uns am Himmel verdichtete sich die graue Wolkenwand mehr und mehr. Ein paar Regentropfen fielen kalt und schwer. Ireen Delmar hatte meine Hand losgelassen. Ich folgte ihr um die Ecke eines alten Schuppens, und erst da kapierte ich, daß sie mich hereingelegt hatte. Fred, der große Junge, den ich am Vortage niedergeschlagen hatte, stand da und grinste mir hämisch entgegen. Und es waren noch drei andere Jungen da. Sie hielten dicke Kanthölzer in den Fäusten und schlugen sofort zu, als ich um die Ecke bog. Ich hatte gerade noch Gelegenheit, zu erkennen, auf was ich mich eingelassen hatte. Reagieren konnte ich nicht mehr. Die Schläge prasselten auf mich nieder. Trotzdem wehrte ich mich. Die Schmerzen zerrissen mich fast und trieben mir das Wasser in die Augen. Ein Knüppelhieb traf mich auf die linke Schulter. Ich sackte in die Knie, zog den Kopf ein und warf mich zur Seite. Das rettete mich vor einem Schlag auf den Schädel, der nur mein linkes Ohr streifte. Dennoch dachte ich, es wäre abgerissen. Stöhnend kämpfte ich mich hoch und sah abseits Ireen Delmar stehen. Ihre Augen glitzerten. Sie hatte in ihrer Aufregung die Hände zu Fäusten geballt. Fred schrie: »Wir schlagen dich zu Kleinholz, du dreckiger Bastard. Daran wirst du dein Leben lang denken.« Eine kantige Latte traf mich seitlich an den Kopf. Ich stürzte und fühlte, wie meine Sinne schwanden. Meine Glieder wurden schwer, vor meinen Augen wallten rote Nebel. Verzweiflung stieg in mir auf. Ich kämpfte gegen die Bewußtlosigkeit, denn ich befürchtete, daß die Jungen mich töten, oder zumindest zum Krüppel schlagen würden, wenn ich erst wehrlos und hilflos am Boden lag. Wieder traf mich ein Schlag gegen die Brust. Ich kippte um und stützte mich auf. Ein Hieb ins Gesicht warf mich abermals in den Staub. Ich schmeckte Blut auf der Zunge und fühlte, wie an meiner linken Kopfseite das Blut hinunterrann, mein langes Haar verklebte
und auf meine Schultern tropfte. Wie aus endlos weiter Ferne klangen die Stimmen der Jungen an meine Ohren. »Dir werden wir es schon zeigen. Du schlägst uns nicht mehr. Hier sind wir die Stärkeren, und wenn du das nicht lernst, wirst du hier nicht alt.« Ich kam hoch und hielt abwehrend die Arme vor das Gesicht. Stockschläge trafen meine Ellenbogen, und ich hätte schreien mögen vor Schmerzen, aber ich biß die Zähne zusammen. Regentropfen trafen mein Gesicht, meinen Kopf, meine Schultern. Von Schlägen getrieben taumelte ich gegen die Schuppenwand, hinter der die Jungen auf der Lauer gelegen hatten. Als ich das rauhe Holz in meinem Rücken spürte, fühlte ich mich wieder sicherer. Ich hatte einen Halt, und die Kälte des Regens, der immer heftiger fiel, vertrieb die Schleier der Benommenheit. Rasende Wut erfaßte mich und drängte die Schmerzen in meinem Körper in den Hintergrund. Ich hörte Ireen, dieses falsche Biest, hell kichern und rufen: »Beeilt euch, macht ihn richtig fertig. Ich habe keine Lust, noch lange im Regen zu stehen.« Meine Blicke wurden wieder klarer. Ich sah eine Latte auf mich zusausen und riß instinktiv die Arme hoch. Mit der offenen linken Hand fing ich den Schlag auf und schrie dabei, weil der Hieb mir fast den Daumen abriß. Aber ich hielt fest, packte auch mit der Rechten zu und zerrte mit aller Kraft an der Latte. Sie schlugen auf mich ein, aber ich brachte die Latte an mich und hielt sie als Deckung über meinen Kopf. Die nächsten Schläge prallten daran ab, und dann schlug ich zu. Ich sah ihre verzerrten Gesichter dicht vor mir und hämmerte mit dem langen Kantholz mitten hinein. Einer der Jungen ging mit einer gebrochenen Nase zu Boden. Er blutete wie ein Schwein und schrie wie verrückt. Das schaffte mir Luft. Ich lehnte mich fest gegen die Schuppenwand und benutzte die Latte wie eine Lanze. Ich stieß sie Fred in den Leib, daß er zusammenklappte wie ein Taschenmesser. Die anderen beiden Jungen ließen ihre Latten fallen und ergriffen die Flucht.
Ich stand im strömenden Regen da, zerschlagen, blutend, und fühlte mich sauelend. Zu meinen Füßen wälzten sich die beiden Burschen, die ich niedergeschlagen hatte. Ein Stück abseits davon stand Ireen Delmar und hatte ein entsetztes Gesicht. Ihr Kleid war ganz naß, und der Regen rann ihr über das Gesicht. Als ich einen Schritt auf sie zuging, drehte sie sich um und stürzte schreiend davon. Ich ließ die Latte fallen und bewegte mich mit tappenden Schritten auf die Straße hinaus. Schwerfällig schritt ich zur Main Street hinunter. Bei jeder Bewegung durchzuckten mich heftige Schmerzen. Der Regen klatschte mir ins Gesicht und wusch das Blut von meiner Stirn und meinen Wangen. Das Hemd klebte mir am Körper. Jeder Atemzug schien ein Feuer in meinen Lungen anzufachen. Als ich den Hof des General-Stores erreichte, mußte ich mich gegen den Hofzaun lehnen, um eine leichte Schwäche zu überwinden, sonst wäre ich zusammengebrochen. Der Regen prasselte mir auf Hinterkopf und Rücken. Ich spürte es kaum. Ich taumelte weiter, quer über den Hof und vorbei an dem Frachtwagen, auf dem noch immer fünf Mehlsäcke standen. Sie waren völlig durchnäßt. Tyron Delmar konnte das Mehl wegschmeißen. Er würde eine wahre Freude daran haben. Mich interessierte das im Moment nicht. Ich schaffte es bis zur Pumpe, hielt den Kopf darunter und betätigte den Pumpenschwengel. Das eisige Wasser floß mir in dickem Strahl über den Kopf. Schwer atmend und vor Nässe triefend wankte ich schließlich in den Lagerraum des Stores. In einer Ecke hockte ich mich auf eine Kiste. Hier stand ein Korb mit kleinen Taschenspiegeln, die Tyron Delmar für zwanzig Cents verkaufte. Ich nahm mir einen und warf einen Blick hinein. Das Gesicht, das ich sah, konnte ich kaum als mein eigenes erkennen. Es war verschwollen. Quer über die linke Wange zeichnete sich ein breiter, knallroter Streifen mit blutverkrusteten Rändern ab, den einer der Schläge mit der Latte verursacht hatte. Ich legte den Spiegel wieder weg und lehnte mich zurück. Ich fror, aber ich blieb sitzen und zog auch die nassen Kleider nicht aus. Mir war alles egal. Was hatte ich den Jungen getan? Was hatte ich Ireen Delmar
getan? Am Sonntag hatten sie mich auch angegriffen, ich hatte mich nur verteidigt. Das war kein Grund, mir heute eine so heimtückische Falle zu stellen. Und vielmehr als die Schmerzen der Schläge fraß in mir das Unverständnis für den Haß, der in ihnen zum Ausdruck gebracht worden war. Wahrscheinlich sahen mich alle hier in Silverton als monströsen Wilden, und weil ich mich ihnen nicht anpaßte und unterwarf, betrachteten sie mich als Feind. Draußen schlug der Regen gegen die Scheiben. Ich hörte es nicht. Um mich herum versank alles im Nichts. Ich fühlte mich ausgebrannt, meinte, innerlich abzusterben und brachte lange Zeit nicht die Energie auf, meinen inneren Halt und meinen Lebensmut wiederzufinden.
6. Tyron Delmar erschien als erster. Es war schon spät am Nachmittag. Als er durch das Magazin auf mich zuschnaufte, rührte ich mich nicht. Ruhig, gleichgültig fast, schaute ich ihm entgegen. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, der Himmel hatte aufgeklart. Der Storebesitzer baute sich vor mir auf. Sein kahler Schädel glänzte so rot wie eine glühende Ofenplatte. »Ich war gerade auf dem Hof«, sagte er. Ich antwortete nicht. Die vor Aufregung quäkende Stimme des Mannes drang mir durch Mark und Bein. »Fünf Säcke Maismehl …« Er schien nach Worten zu suchen und fuchtelte mit den fleischigen Fäusten vor meinem Gesicht herum. »Weißt du, was der Regen daraus gemacht hat? Einen klumpigen Brei, hörst du? Bestes Maismehl …« Dann erst schien er mein Aussehen zu bemerken. »Was ist los? Wie siehst du aus? Hast du dich wieder herumgeprügelt? Was habe ich mir mit dir bloß ins Haus geholt?« Ich schaute ihn ruhig an. »Das fragen Sie besser Ihre Tochter«, sagte ich. »Meine Tochter? Was hat meine Tochter damit zu tun? Er schlug plötzlich zu. Die Ohrfeige warf mich fast von der Kiste, auf der ich
hockte. Sofort setzten meine Kopfschmerzen wieder ein. Ich sprang auf, und da wich Delmar zurück. »Bleib mir vom Leibe!« kreischte er mit seiner hellen Stimme. »Du bist ja ein Raubtier!« Er drehte sich um und rannte durch den Lagerraum. »Ich werde den Marshal holen, damit er dich einsperrt!« Er lief durch die Verbindungstür in den Verkaufsraum, und da war der Marshal schon da. Er wurde von zwei Männern und zwei Jungen begleitet. Einer davon war der große Fred, der andere war jener, dem ich das Nasenbein zerschlagen hatte. Er hatte ein dickes weißes Pflaster im Gesicht. Ich versuchte nicht, davonzulaufen. Ich setzte mich wieder auf die Kiste und wartete, während ich die Stimme des Marshals hörte. »Der Junge, den Sie in Pflege genommen haben, Delmar, dieser Ronco, soll diese beiden Burschen überfallen und zusammengeschlagen haben.« »Das sieht ihm ähnlich«, hörte ich Delmar quäken. »Gerade hat er mich bedroht, und fünf Säcke Mehl hat er im Regen stehen lassen.« »Ist er hinten?« fragte der Marshal. »Er sitzt im Lager, aber halten Sie Ihren Revolver bereit, Memming.« Dann erschienen sie. Erst der Marshal, dahinter die beiden Jungen mit ihren Vätern und am Schluß Delmar. Sie blieben vor mir stehen. Ich sagte kein Wort. Der Vater des Jungen, dem ich das Nasenbein eingeschlagen hatte, sagte: »Ich möchte dir sämtliche Knochen brechen, du dreckiger Bastard.« »Solange ich hier bin, werden niemandem die Knochen gebrochen«, sagte der Marshal. Er musterte mich mit ausdruckslosem Gesicht. »Was war los?« fragte er. Ich war sicher, daß mir doch keiner glauben würde, deshalb schwieg ich. »Er hat uns überfallen!« schrie Fred. »Er hat uns aufgelauert und ist mit einem dicken Knüppel über uns hergefallen!« Ich hob den Kopf und schaute ihn an. Irgend etwas muß in meinem Blick gelegen haben, denn er schwieg sofort und wich einen Schritt zurück. »Was ist mit deinem Kopf los?« fragte der Marshal. Er musterte die Striemen und Risse. Ich stand schweigend auf und zog mir das
Hemd über den Kopf. Mit nacktem Oberkörper stand ich dann vor ihnen, und sie konnten alle die dunklen Verfärbungen auf meiner Brust und meinen Schultern sehen. Der Marshal drehte sich um und sagte: »Ich denke, ihr geht jetzt alle mal raus.« »Was soll das heißen?« fragte einer der Väter. »Das soll heißen, daß ich mich nicht gern belügen lasse«, sagte der Marshal. »Hören Sie …« setzte Freds Vater an, aber als er dem Beamten ins Gesicht sah, ging auch er. Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, zog sich der Marshal eine Kiste heran und setzte sich mir gegenüber. »Na«, sagte er, »was war los?« Ich dachte an den Tag, als ich im Hinterhof eines Saloons gestanden hatte und Tyron Delmar mir das Haar hatte abschneiden wollen. Da hatte der Marshal mir auch geholfen. Er strahlte Vertrauen aus, und er war der erste, der mich nicht feindselig musterte. »Ein Apache klagt nicht«, sagte ich. »Ein Apache kämpft.« »Hör zu«, sagte er. »Ich will mich nicht mit dir darüber streiten, ob du ein Apache bist oder nicht. Du wirst noch früh genug lernen, daß das Leben kein gerader Weg ist, daß es dich immer wieder in neue Situationen hineinstellt, die dich irgendwann auch zwingen, die Vergangenheit zu vergessen. Du warst lange bei den Apachen und hast nach ihren Gesetzen gelebt. Jetzt bist du wieder bei den Weißen, und deine Haut ist genauso weiß wie meine. Auch wir haben unsere Gesetze, und daran muß sich jeder halten. Du auch. Ich denke, du hast mich verstanden. Also sag mir jetzt, was passiert ist.« Ich schaute ihn an und sah, daß er es ehrlich meinte. Ich erzählte ihm alles. Die Striemen und blauen Flecke auf meinem Körper waren Beweis genug. Er schwieg dann eine Weile, nachdem ich geendet hatte, und blickte nachdenklich auf den Boden. Schließlich erhob er sich, legte mir schwer die Rechte auf die Schulter und ging, ohne ein Wort zu sagen. Ich blieb sitzen und hörte wenig später aus dem Store einen erregten Wortwechsel. Dann wurde es ruhig. Nach einiger Zeit
öffnete sich die Verbindungstür zum Geschäft und Tyron Delmar kam herein. Er blickte mich nicht an, als er in sein Office hinüberging und sagte: »Lad die restlichen Säcke draußen ab und wirf sie in den Abfall.« Ich erhob mich und ging wortlos hinaus. Auf dem Hof hatten sich Pfützen gebildet. Kühl strich der Wind von den Bergen herunter. Die Sonne stand weit im Westen und färbte sich rötlich. Ich erledigte meine Arbeit und ging ins Haus zurück. Auf meiner Kiste in der Ecke des Lagerraums stand schon meine Abendmahlzeit. Von den Delmars ließ sich den ganzen Abend niemand mehr sehen, und so ging ich in meine Kammer und legte mich hin. Ich fühlte an diesem Abend keine Bitterkeit in mir, denn ich wußte nun, daß es in Silverton einen Menschen gab, der mich nicht als bösartigen Wilden betrachtete, bei dem mein Wort genausoviel galt wie das Wort der anderen Bürger. Ich fühlte mich nicht mehr ganz so allein. * Als ich am nächsten Morgen aufstand, hatte ich am ganzen Körper Schmerzen, schlimmer als am Vortag. Ich vermochte zunächst die Arme kaum zu heben und stieg steifbeinig die Treppe hinunter. Das kalte Wasser aus der Pumpe auf dem Hof tat mir gut. Als ich ins Haus zurückging, sah ich, wie mir Mrs. Martha Delmar das Frühstück auf meine Kiste stellte. Als sie mich entdeckte, wurde sie wie immer blaß. Ihre Haltung straffte sich, sie rauschte wortlos an mir vorbei. Ich frühstückte und nahm dann meine Arbeit wieder auf, die Tyron Delmar mir wortkarg zuteilte. Am späten Vormittag war ich allein im Magazin. Delmar hatte den Store abgeschlossen und war mit einem Viehhändler zum Stadtrand gefahren, um sich eine kleine Rinderherde anzusehen. Da tauchte Ireen im Lagerraum auf. Sie blieb zögernd an der Tür stehen und schaute unsicher zu mir herüber. Ich beachtete sie nicht, obwohl sich kalter Zorn in mir zusammenballte. Ich arbeitete weiter.
Sie schlenderte langsam durch den Raum und blieb neben einer Kiste mit Tonpfeifen stehen, die gerade heute geliefert worden waren. »Ronco.« Ihre Stimme klang so unschuldig, daß ich mich beherrschen mußte, ihr nicht den Hals umzudrehen. Ich tat so, als hätte ich nichts gehört und fuhr in meiner Arbeit fort. »Ich hab doch nicht gewußt, was die Jungen mit dir vorhatten.« Ich stellte mich taub und zwang mich, ruhig zu bleiben. »Ehrlich«, sagte sie. »Sie haben mir nur gesagt, sie wollen dich erschrecken, und dann haben sie mit mir gewettet, daß ich es nicht schaffe, dich zu ihnen zu bringen.« Ich gab keine Antwort, aber ich hatte das Gefühl, die Luft im Raum würde immer dicker. Schweiß rann mir über das Gesicht. »Ich hatte keine Ahnung«, sagte Ireen, »daß sie dich so gemein verprügeln wollten.« Ich drehte mich um. »Was willst du?« Sie versuchte ein Lächeln und ging zwei Schritte auf mich zu. »Was ich gestern gesagt habe, Ronco«, sagte sie leise, »das war ehrlich gemeint. Ich meine …« »Verschwinde«, sagte ich. »Verschwinde ganz schnell!« »Hör zu«, sagte sie. »Du gefällst mir besser als die Jungen aus der Stadt.« Sie trat wieder einen Schritt auf mich zu. Ich hatte noch ihr widerliches Schreien im Ohr, als sie gestern die Jungen angefeuert hatte, mich zusammenzuschlagen. »Hau ab«, sagte ich. »Du verlogene Schlange.« »Wie kannst du so etwas sagen?« Ihre Stimme klang jetzt ganz weich, aber ich sah in ihren Augen ein höhnisches Glitzern, und ich wußte, daß sie wieder versuchte, mit mir zu spielen. Wahrscheinlich hielt sie mich für einen dämlichen, primitiven Wilden, den sie ungestraft aufziehen konnte. Sie schien es für einen Riesenspaß zu halten, mich zu verwirren. Sie stand jetzt wieder vor mir, und da packte ich sie an beiden Armen und drängte sie gegen einen Kistenstapel. Für einen Moment fühlte ich, wie es heiß in mir aufstieg, als ich ihr Gesicht dicht vor mir hatte. Dann aber dachte ich daran, daß sie sich über mich amüsiert hatte, daß sie mich eiskalt in eine Falle gelockt und
zugesehen hatte, wie ich beinahe zum Krüppel geschlagen worden wäre. Ich sah Angst in ihren Augen, und dann schrie sie auf. »Sei still!« fuhr ich sie an und packte ihre langen Zöpfe. Sie schrie noch lauter, und ich zerrte sie zu einem Fenster, wo ein langes Messer auf dem Fensterbrett lag. »Du wirst mich von jetzt an in Ruhe lassen«, sagte ich, und als ich nach dem Messer griff, wurde sie ganz still. »Treib deine Späße mit anderen. Und merk dir: Man lockt mich immer nur einmal in eine Falle.« Sie rührte sich nicht. Ich hielt sie noch immer an den Zöpfen fest und sagte: »Früher habe ich denen, die glaubten, mich reinlegen zu können, den Skalp abgeschnitten. Dir schneide ich nur die Zöpfe ab, damit du es dir merkst.« Da fing sie wieder an zu schreien, und ich nahm das Messer. Sie kreischte und brüllte wie am Spieß. Tränen rannen ihr aus den Augen. Auf einmal war Tyron Delmar da. Ich hatte ihn nicht gehört. Er stampfte wie ein wilder Büffel heran und schlug mir die Rechte auf den Kopf. Ich stürzte rücklings gegen eine Kiste und dachte, mein Rückgrat zerbreche. Ireen rannte schreiend an ihrem Vater vorbei. Er rief ihr hinterher: »Ich habe dir hundertmal gesagt, du sollst dich von ihm fernhalten!« Dann wandte er sich mir wieder zu. Ich hatte mich wieder erhoben und hielt das Messer noch immer in der Faust. »Ich habe dir gesagt, du sollst die Finger von meiner Tochter lassen.« Seine kleinen Augen waren rotunterlaufen. »Du hast versucht, ihr Gewalt anzutun. Diesmal gibt es keine Ausreden. Ich hab es gesehen, und ich …« Ich hob das Messer etwas an, da war er plötzlich still, und die Hand, die er zum Schlag erhoben hatte, sank herab. »Schlagen Sie mich nicht noch einmal«, sagte ich. »Und sagen Sie Ihrer Tochter, sie soll mir aus dem Wege gehn. Sie wissen genau, daß ich nichts von ihr will. Sie läuft mir ständig nach. Gestern hat sie mich in eine Falle gelockt, und heute erschien sie wieder.« »Meine Tochter läuft keinem Halbwilden nach!« brüllte er.
Ich antwortete ihm nicht, sondern steckte das Messer in den Gürtel und wandte mich wieder meiner Arbeit zu. Er stand noch eine Weile da und schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Dann drehte er sich um und eilte aus dem Lagerraum. Später hörte ich seine Stimme durch das Haus schallen, als er mit Ireen herumschrie. Dazwischen keifte Mrs. Delmar, und ich dachte, daß ich hier nicht mehr lange bleiben würde. Ich wollte nur noch solange warten, bis ich mich wieder einigermaßen unter den Weißen zurechtfand. Bis jetzt hatte ich noch nicht viel mehr als den Store und das Magazin Tyron Delmars gesehen. Für den Rest des Tages hatte ich Ruhe. Am Abend begab ich mich in meine Kammer, und als es Nacht wurde, öffnete ich das kleine Fenster und zwängte mich hinaus. Es war nicht sehr schwierig, bis zur Dachkante hinunterzuklettern. Ein Stück darunter lag ein flacher Schuppen. Über den gelangte ich in den Hof. Ich begab mich auf die Straße hinaus, um mich in der Stadt umzuschauen, um zu sehen, wie die Weißen lebten, zu denen ich jetzt wieder gehören sollte. Ziellos streifte ich umher. Ich stand lange vor einem Saloon und lauschte der Musik eines Pianisten, der sich verzweifelt mit einem verstimmten Klavier abmühte. Später trat eine Sängerin auf, die eine Stimme wie eine Türangel hatte. Die Männer im Schankraum jubelten ihr jedoch zu. Als ich einen Blick durch eines der Fenster warf, sah ich auch Mr. Tyron Delmar, der schwitzend an einem Tisch dicht vor der kleinen Bühne saß. Ich schaute durch die Fenster in die Speiselokale und in eine Spielhalle, und ich dachte, daß das Leben bei den Apachen viel unkomplizierter und einfacher gewesen war. Es war fast Mitternacht, als ich sah, wie Marshal Memming sein Office verließ. Er trug eine doppelläufige Schrotflinte unter dem Arm und übernahm mit einem zweiten Mann einen Rundgang durch die Stadt. Er betrat die Saloons und Spielhallen und ging auch in ein etwas abseits stehendes Haus am Stadtrand, vor dem eine rote Laterne hing. Es war ein Bordell, aber das wußte ich damals noch nicht. Ich wollte dem Marshal nicht in die Arme laufen und kehrte zum
General-Store zurück. Es war nicht schwer, das Schuppendach zu erklimmen und von hier aus zurück zu dem schmalen Dachfenster zu klettern. Ich schlüpfte in meine Kammer und legte mich auf mein Lager. Bevor ich einschlief, hörte ich Tyron Delmar nach Hause kommen. Dann wurde es still.
7. Es war Vormittag, drei Tage später. Ich fegte den Vorbau des Stores mit einem einfachen Reisigbesen. Ab und zu blieben Leute stehen, um mich anzustarren. Ich hatte mich schon daran gewöhnt und achtete nicht mehr darauf. Die letzten Tage waren ohne Zwischenfälle verlaufen. Ireen hatte ich nur noch von weitem gesehen, ihre Mutter überhaupt nicht. Tyron Delmar sprach nur das Nötigste mit mir. Über das Essen konnte ich mich nicht beklagen, aber die Arbeit war nach wie vor schwer, und abends fiel ich wie tot ins Bett. An diesem Vormittag war es sehr warm. Der Himmel war wolkenlos blau wie im Hochsommer. Die Sonne stand über der Ebene im Osten wie eine Vollreife Orange, als sich über die ausgefahrene Wagenstraße westlich der Stadt Reiter näherten. Ich war mit dem Fegen fertig und schaute den Reitern entgegen. Es waren fünf Männer. Sie trugen breitrandige Hüte und derbe Kleidung. Ich wollte mich schon uninteressiert abwenden, als ich das Gesicht des einen sah. Es war ein hagerer, großer Mann mit einer gebrochenen Nase und abstehenden Ohren. Die Haut seines Gesichts war dunkel und faltig, fast schrumplig, so, als wäre sie einmal verbrannt worden. Da erkannte ich ihn. Und zwei der Männer, die neben ihm ritten, erkannte ich auch wieder. Sie waren es gewesen, die Noel Custer, den Trader, am Rio de los Manos überfallen hatten. Ich nahm den Rutenbesen und verließ den Vorbau des Stores. Eilig ging ich zum Hofeingang und blieb im Schatten des Hoftores
stehen. Von hier aus beobachtete ich die Männer. Sie ritten in die Stadt und hielten vor dem Green-Mountain-Saloon an. Sie wanden die Zügel ihrer Pferde um den Querholm vor dem Saloon und gingen hinein. Ich blieb noch eine Weile am Hofeingang stehen und schaute zum Saloon hinüber. Als Tyron Delmar mich rief, ging ich ins Haus. »Wo bleibst du?« Delmar stand an der Verbindungstür zwischen Laden und Magazin. Er trug ein blütenweißes, frischgestärktes Hemd, eine ebensolche Schürze und eine samtene, braune Schnürsenkelkrawatte. »Hast du wieder Löcher in die Luft gestarrt?« rief die quäkende Stimme. »Ich habe fünfundsechzig gute Dollars für dich bezahlt, die du abarbeiten mußt. Abarbeiten, verstehst du?« Ich antwortete nicht, sondern begann, Patronenschachteln, die am frühen Morgen geliefert worden waren, ins Lager zu räumen und hier aufzustapeln. Delmar war verärgert. Der Grund dazu war nicht ich. Delmar hatte am Morgen ein Schild an die Tür gehängt, mit dem er ein Sonderangebot von Tonpfeifen ankündigte. Aber bis jetzt war noch kein Stück verkauft worden, und es sah ganz so aus, als würde Delmar auf einer ganzen Kiste mit Tonpfeifen sitzenbleiben. Er sah einen Moment zu, wie ich arbeitete, und verschwand dann wieder schnaufend im Laden. Kundschaft erschien, und ich hatte meine Ruhe. Während ich arbeitete, gingen mir die fremden Männer nicht aus dem Kopf. Was wollten sie hier? Der Rio de los Manos war weit, und wenn sie, wie sie zu Custer gesagt hatten, aus den Bergen kamen, war ihr Weg nach Silverton noch weiter gewesen. Ihr Erscheinen konnte nichts Gutes bedeuten, davon war ich überzeugt. Ich fühlte es, und auf meinen Instinkt konnte ich mich verlassen. Doch es geschah nichts, und mir blieb keine Zeit, weiter über die Banditen nachzudenken. Die Sonne stieg höher. Es wurde Mittag. Als ich dicht neben der Tür zum Laden Kaffee in Tüten abfüllte, hörte ich das Klirren des Perlenvorhangs am Storeeingang. »Guten Tag, Gentlemen«, hörte ich die helle Stimme Delmars sagen. »Womit kann ich dienen?«
»Hast du Zigarren?« fragte eine Stimme, bei der ich zusammenzuckte und beinahe die Tüte fallen ließ, die ich gerade in der Linken hielt. Ich kannte die Stimme. Es war der Mann mit den abstehenden Ohren, der da sprach, der Mann, dem Noel Custer den heißen Kaffee ins Gesicht geschüttet hatte. Ich trat zur Tür, die einen Spalt offenstand, und spähte in den Verkaufsraum. Da sah ich sie stehen, alle fünf. Der Mann mit den abstehenden Ohren lehnte direkt an der Ladentheke. Tyron Delmar stand gebückt ihm gegenüber und legte ihm, als er sich aufrichtete, mehrere Zigarren auf die Theke. »Das sind die verschiedenen Sorten, Sir«, sagte Delmar. »Die billigste zu zwei Cent das Stück, die teuerste zu einem Dollar. Die raucht immer unser Bürgermeister, Sir.« »Dann nehmen wir die auch«, sagte der Bandit. »Oder sind wir schlechter als der Bürgermeister von so einem Drecknest?« Seine Kumpane lachten, und Delmar schwieg kriecherisch, wie es seine Art war, wenn er ein Geschäft machen wollte. »Gib uns eine Kiste«, sagte der Mann. »Eine Kiste von dieser Sorte kostet zwanzig Dollar, Sir.« Delmar legte ein buntbedrucktes Holzkistchen auf die Theke. Einer der Männer nahm es und steckte es ein, aber keiner bezahlte. »Hat dir diese Zigarren ein Trader geliefert, der Custer heißt?« fragte der Mann mit den abstehenden Ohren. »Nein, Sir«, sagte Delmar. »Diese Zigarren werden direkt aus Denver geliefert. Hergestellt werden sie in Kentucky. Sie sind außerordentlich günstig im Preis, Sir, und …« »Wann war dieser Custer zuletzt hier?« »Was weiß ich, zehn Tage, zwei Wochen … Warum wollen Sie das wissen, Sir?« »Er kreuzt doch oft hier auf. Du kennst ihn gut. Wohin ist er gezogen, wann kehrt er zurück?« »Keine Ahnung. Tut mir leid, Sir. Ich kann Ihnen nicht helfen. Wenn ich jetzt bitten dürfte: Zwanzig Dollarkostet …« »Er hatte doch einen Jungen bei sich«, sagte der Mann mit den abstehenden Ohren. »Einen Weißen, der wie eine Rothaut aussah.
Der Salooner hat uns alles gesagt. Es hat keinen Sinn, daß du versuchst, uns zu belügen. Wir haben uns vorhin erkundigt. Er hat den Jungen hiergelassen. Hol ihn her. Wir werden ihn fragen. Er wird schon wissen, wo Custer geblieben ist.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Sir. Bitte, die zwanzig Dollar für die Zigarren …« »Er weiß nicht, wovon wir reden.« Der Bandit drehte sich zu seinen Kumpanen um. Sie grinsten dreckig, und mir war klar, daß Delmar lediglich Angst hatte, die Kerle könnten mich mitnehmen, bevor ich die fünfundsechzig Dollar abgearbeitet hatte. »Glaubst du, du kannst uns für dumm verkaufen!« schrie der Mann mit den abstehenden Ohren. »Ich hab dir doch gesagt, wir haben uns vorher erkundigt. Wir wollen wissen, wo Custer ist. Er war hier, und er wird wiederkommen. Ich habe eine Rechnung mit ihm zu begleichen, und ich kriege ihn. Hol den Jungen her, du fette Qualle!« »Aber …« Tyron Delmar hob zitternd die Hände und machte eine hilflose Geste. Da zog der Mann vor ihm seinen Revolver. Delmar schrie, und der Mann schlug zu. Er drosch Delmar über die Theke hinweg den Revolverlauf auf den kahlen Schädel. Delmars Glatze war ganz blutig, als er gurgelnd zu Boden ging und still liegenblieb. Der Bandit stieß einen Fluch aus. »Seht euch hier um«, sagte er. »Durchsucht alles. Und dann gehen wir rüber in die Bank. Wenn wir diesen Custer hier schon nicht finden, dann soll der Ritt hierher wenigstens nicht umsonst gewesen sein.« Er umrundete mit dem Revolver in der Faust die Theke und ging auf die Tür zu, hinter der ich stand. Da warf ich mich herum und jagte durch das Magazin. Ich hatte keine Waffen, konnte mich nicht wehren, und hatte oft genug Männer wie diese Halunken gesehen. Sie waren mir in der Gestalt von Skalpjägern begegnet. Killer waren sie, eiskalte Killer. Diese hier unterschieden sich von den Skalpjägern nur dadurch, daß sie nicht auf Indianerjagd gingen, sondern andere Weiße überfielen. Ich dachte auch an meine Zeit am Pease River in Texas. Auch da hatte ich einmal weißen Banditen gegenübergestanden. Aber das war lange her, und die Erinnerung
war schwach. Diese Männer hier schienen schlimmer zu sein. Ich hetzte auf den Hinterausgang des Lagerraums zu und erreichte ihn. Als ich auf den Hof hinauslief, entdeckte mich der Bandit mit den abstehenden Ohren. Er schrie nach seinen Kumpanen. Aber da war ich bereits auf dem Hof und stürmte auf die Main Street hinaus und die Stepwalks hinunter. * Sie waren hinter mir her. Ich spürte es, obwohl ich nicht zurückschaute und sie nicht sehen konnte. Ich bog in die Gasse ein, in der ich mich mit den Jungen geprügelt hatte, und rannte in einen alten Schuppen. Er war nur klein, durch ein Loch im Dach fiel Sonnenlicht. Ich lief zu einem zerbrochenen Fenster an der Rückseite und kletterte hindurch. Wenig später hörte ich die Banditen in den Schuppen laufen. Sie rannten wild fluchend hin und her, fanden mich nicht und verließen den Schuppen wieder. Ich hockte hinter einigen leeren Regentonnen und wagte nicht, mich zu rühren. Auf der Straße und rings um den Schuppen herum suchten die Kerle noch ein paar Minuten, dann wurde es still. Trotzdem blieb ich noch eine Weile in meinem Versteck sitzen. Es war heiß. Die Sonne stand senkrecht über der Stadt, und in den Hinterhöfen gab es kaum Schatten. Hier staute sich die heiße Luft. Ich schwitzte, wurde von Fliegen geplagt und fragte mich, ob Tyron Delmar tot war. Schließlich wagte ich mich wieder hervor und ging vorsichtig zur Straße. Kein Mensch war zu sehen. Da lief ich zur Main Street zurück. Auch hier war kaum ein Mensch zu sehen. Die meisten Bürger waren vor der Mittagshitze geflohen und hielten Siesta in ihren Häusern. Die Pferde der Banditen standen unweit vom General-Store an einem Querholm neben der Pferdetränke, direkt gegenüber vom Bankgebäude. Ich lief auf die Main Street hinaus und zum Marshal-Office hinunter.
Der Weg erschien mir in diesem Moment meilenweit. Drückend lastete die Hitze auf mir, ein stählernes Band schien um meine Brust zu liegen und mich langsam, aber stetig zu zerquetschen. Meine Füße schienen aus Blei zu sein, als ich den Vorbau des Officegebäudes hochstolperte und vor der Tür stehenblieb. Mit der rechten Faust schlug ich dagegen, dann trat ich ein. Marshal Memming saß hinter seinem Schreibtisch. Er hatte die Füße hochgelegt und sog an einer Zigarre, die gewiß nicht so teuer war wie die Sorte, die die Banditen aus Tyron Delmars Store mitgenommen hatten. Er war allein. Sein Deputy war nicht zu sehen. »Banditen«, konnte ich nur sagen, und lehnte mich nach Atem ringend gegen den Türrahmen. Der Marshal nahm die Zigarre aus dem Mund und blickte mich erstaunt und ein wenig erschrocken an. »In der Bank«, sagte ich. »Vorher waren sie im Store. Sie haben – Mr. Delmar …« »Erschossen?« Der Marshal sprang auf. »Ich habe keinen Schuß gehört.« »Niedergeschlagen«, sagte ich. Der Marshal griff nach seinem Revolvergurt, der neben dem Schreibtisch an einem Haken hing, und schnallte ihn sich im Laufen um. Er eilte an mir vorbei auf die Straße. Ich blieb noch einen Moment stehen, um Atem zu schöpfen, und folgte ihm dann. Er hatte bereits den Weg bis zur Bank zur Hälfte zurückgelegt. Ich lief ihm nach. Als er die Bank erreichte, langte ich am Hofeingang des Stores an. Ich warf einen letzten Blick auf den breiten Rücken des Marshals, dann hastete ich in den Hof und von da aus ins Haus. Mr. Delmar saß im Magazin auf einer Kiste, neben der Tür zum Laden. Seine Frau und seine Tochter standen neben ihm. Ireen hielt eine Schüssel mit Wasser in den Händen, und Martha Delmar bereitete ihm einen feuchten Umschlag, während er vor sich hinjammerte. Ich blieb mitten im Lagerraum stehen und war fast froh, als ich sah, daß er noch lebte. Er dagegen schien gar nicht froh zu sein, als er mich sah. Seine
quäkende Stimme traf mich wie ein Wurfgeschoß. »Da bist du ja! Alles wegen dir! Alles nur wegen dir!« schrie er anklagend und deutete auf seinen Kopf. »Dieser Custer hat mir mit dir ein Ei ins Nest gelegt, da ist alles dran. Jetzt muß ich mich sogar noch ausrauben und halbtot schlagen lassen – wegen ihm und wegen dir.« »Jag ihn zum Teufel, Tyron, ich habe dir von Anfang an gesagt, du sollst ihn davonjagen«, sagte Martha Delmar. »Und mein Geld? Mein schönes Geld. Fünfundsechzig Dollar habe ich Custer gezahlt, diesem Halunken, der mich von vorn bis hinten belogen und betrogen hat. Noch nicht mal fünf Dollar hat der Bursche abgearbeitet. Ich möchte nur wissen, was es mit diesen Banditen auf sich hat.« Er schaute mich wieder an. »Warum haben die Kerle mit Custer eine Rechnung zu begleichen?« In dem Moment krachten Schüsse auf der Straße. Ich antwortete Delmar nicht, sondern lief an ihm, seiner Frau und Ireen vorbei in den Laden. Durch eins der großen Schaufenster sah ich einen Mann aus der Bank torkeln. Er hatte beide Hände vor den Leib gepreßt. Blut rann ihm durch die Finger. Es war Marshal Memming. Mir stockte der Atem. Er taumelte über den Gehsteig vor der Bank und stürzte dann vom Stepwalk in den Staub der Straße. Hier krümmte er sich zusammen und wälzte sich vor Schmerzen am Boden. Eine eisige Faust schien nach meinem Herzen zu greifen. Da lag der Mann, der mich als einziger in dieser Stadt fair und vorurteilslos behandelt hatte, im Dreck der Main Street zusammengeschossen von ein paar hundsgemeinen Killern, weil er seine Pflicht hatte tun wollen. Der Zorn stieg wie eine Flamme in mir auf. Ich wandte mich ab, um dem Todeskampf des Marshals nicht länger zusehen zu müssen, und dann wußte ich plötzlich, was ich zu tun hatte. Ich verließ den Laden und lief nach hinten ins Magazin. Tyron Delmar, seine Frau und Ireen befanden sich noch immer auf ihren Plätzen. Sie starrten mir neugierig entgegen. Martha Delmar keifte: »Was ist denn passiert? Seit du da bist, gibt es keinen Frieden mehr in der Stadt!«
Ich antwortete nicht, lief an ihnen vorbei ins Office und riß hier einen großen Aktenschrank auf. Ich wußte, wo Tyron Delmar sein Gewehr aufbewahrte. Ich hatte es oft genug gesehen. Es war eine Sharps-Rifle. Ich holte sie heraus und lief zurück ins Magazin. »Was willst du mit dem Gewehr?« schrie Delmar, als er mich sah. »Bleib hier und laß sofort das Gewehr stehen.« Ich nahm mir eine Patronenschachtel mit, als ich zum Hof hinauslief, eine von den Schachteln, die ich vorhin selbst ausgepackt und aufgestapelt hatte. Im Laufen riß ich sie auf und steckte mir ein paar Patronen in die Hosentasche. Eine schob ich in den Lauf der Sharps. Dann stand ich schon auf der Main Street. Aus der Bank stürmten die Banditen, vorbei an Marshal Memming, der reglos in einer dunklen Pfütze im Staub lag.
8. Die Banditen hielten ihre Revolver in den Fäusten. Der Kerl mit den abstehenden Ohren hatte über der linken Schulter ein Paar prallgefüllte Satteltaschen hängen. Sie sprangen auf ihre Pferde und feuerten ihre Waffen ab. Die Fensterscheiben der Bank zerbarsten unter den Kugeleinschlägen. Ich hatte nur Augen für den Marshal. Er hatte mir beigestanden, er hatte mir geglaubt, als alle mich verleumdet hatten. Er war gerecht zu mir gewesen und hatte mich nicht wie ein Stück Dreck behandelt. Er hatte dazu beigetragen, daß ich neuen Mut gefaßt hatte. Ich lief auf die Main Street und blieb mitten auf der Straße stehen. Knapp zwanzig Yards entfernt vor mir rissen die Banditen ihre Pferde herum. Staub wirbelte unter den stampfenden Pferdehufen auf. Der Wind, der von den Bergen heranstrich, wehte den Staub in feinen Schleiern durch die Straße. Ich preßte den Kolben der langläufigen Sharps-Rifle fest gegen die Hüfte und feuerte. Der harte Rückschlag war mir vertraut und vermittelte mir das Gefühl, wieder im Kampf zu stehen – wie damals, als ich noch zu den Apachen gehört hatte. Dumpf und dröhnend brach sich die Detonation der schweren
Waffe an den Häuserfassaden. Eine Feuerlanze stieß aus der Mündung auf den Mann mit den abstehenden Ohren zu. Ich sah, wie er im Sattel zusammenzuckte. Ich riß die abgeschossene, rauchende Patronenhülse aus dem Lauf und schob eine frische Patrone nach. Dann feuerte ich ein zweites Mal. Der Bandit warf den rechten Arm hoch, sein Revolver wirbelte durch die Luft, dann stürzte er selbst. Er kippte rücklings aus dem Sattel, während sein Pferd weitergaloppierte. Die prall gefüllten Satteltaschen rutschten mit dem Banditen herunter und gingen im aufwirbelnden Staub unter. Der Mann war tot. Ich hatte schon zu oft Männer sterben sehen. Ich wußte, wie es aussah, wenn ein Mann, von einem Schuß getroffen, stürzte und sich nicht mehr erheben würde. Ein schnurrbärtiger Reiter zerrte sein Pferd herum und schien es auf die Satteltaschen abgesehen zu haben, in denen sich die Beute befand. Er schoß auf mich. Ich spürte den sengend heißen Luftzug der Kugeln und ließ mich auf die Knie fallen. Im Staub liegend lud ich die Sharps neu und legte sie an. Als ich abdrückte, gab der Mann gerade seinem Pferd die Sporen. Er beugte sich nach vorn, und so traf die Kugel ihn nur seitlich in die rechte Schulter. Seinen Schrei hörte ich trotz der Schußdetonationen und des donnernden Hufschlags. Er schwankte im Sattel, konnte sich aber halten und ließ sich auf den Pferdehals fallen. Im vollen Galopp jagte er hinter seinen Kumpanen her nach Westen aus der Stadt. Pulverdampf stieg mir ätzend und stinkend in die Nase. Ich erhob mich. Der Wind trieb mir den Gestank von Schweiß, Blut und Pulverrauch entgegen, der in der Hitze des Mittags besonders intensiv war. Der Bandit mit dem verbrannten Gesicht und den abstehenden Ohren lag in verrenkter Haltung am Boden. Keine zwei Yards von ihm entfernt lagen die Satteltaschen mit der Beute aus der Bank. Ich setzte mich wie mechanisch in Bewegung. Meine Beine schienen von allein zu laufen. Mit dem Gewehr in der rechten Faust ging ich die Straße hinunter und bemerkte kaum, daß sich rechts und
links der Main Street die Türen der Häuser öffneten und Menschen heraustraten. Ich ging bis zu dem toten Banditen. Meine Kugeln hatten ihn in die linke Hüfte und in die Brust getroffen. Ich beachtete ihn kaum, hob die Satteltaschen auf und lief zur Bank. Neben dem Körper des Marshals kniete ich nieder. Memmings volles Gesicht war jetzt eingefallen. Die Haut war wächsern bleich. Er war voller Schmutz und Blut. Sein Hut lag ein paar Schritte weiter auf der Straße. Ich griff nach seinen Händen. Sie waren blutig und kalt. Stumm schaute ich ihm ins Gesicht. Ich hatte ihn kaum gekannt, aber ich wußte, daß er ein guter Mann, ein anständiger und aufrechter Mann gewesen war. Meine Augen brannten. Ich richtete mich langsam auf, als ein magerer, weißhaariger Mann auf der anderen Seite des Körpers niederkniete und Memming mit flinken Fingern untersuchte, ihm das Hemd aufriß und ihm ein Stethoskop auf die behaarte Brust drückte. Was der Arzt tat, war sinnlos. Der Marshal war tot, das wußte ich bereits. Ich stützte mich schwer auf den Lauf der Sharps-Rifle und versetzte den Satteltaschen zu meinen Füßen einen Tritt. Sie platzten auf, und ein paar Banknoten und Münzen aus Gold und Silber quollen heraus. Um mich und den toten Marshal herum hatten sich die Bürger von Silverton geschart und glotzten mich und den Toten an. Männer, Frauen und Kinder. Erschütterte, betroffene, erschrockene, sensationslüsterne und neugierige Gesichter gafften mich an. Ich sah ein paar Frauen, denen Tränen über die Wangen liefen. Einige Männer hatten die Hüte abgenommen. Ich senkte den Kopf und ging. Schweigend traten die Umstehenden zur Seite. Wortlos ging ich davon, die Sharps hinter mir herschleifend. Ich trottete quer über die Straße zum General-Store und betrat ihn diesmal von vorn, was mir sonst ausdrücklich verboten war. Hilfspersonal, so hatte Mr. Tyron Delmar, der ehrenwerte Bürger, mir gleich erklärt, habe nicht den Vordereingang, sondern nur die hintere Tür zu benutzen.
Er stand im Laden, der Mr. Tyron Delmar, zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter. Ich hörte den Perlenvorhang hinter mir zusammenklirren und lehnte die Sharps gegen die Ladentheke. »Ihr Gewehr«, sagte ich. »Da haben Sie es zurück.« »Was – was ist denn passiert?« fragte Delmar mit seiner hohen Stimme. »Marshal Memming ist tot«, sagte ich. Meine Stimme zitterte jetzt. »Er ist tot, verstehen Sie?« »Und – und die Bank?« fragte Martha Delmar. Wahrscheinlich dachte sie an das Geld, das sie und ihr Mann in der Bank deponiert hatten. »Das gottverdammte Geld ist noch da«, sagte ich. Dafür war Marshal Memming gestorben. Ich rannte aus dem Laden in das Lager, und von hier aus die Stiege hinauf in meine Kammer. Hier ließ ich mich auf das Bett fallen. Der Lärm, der von der Straße heraufschallte, erschien mir so laut wie das Toben eines Orkans. Ich preßte die Fäuste auf die Ohren und vermochte in der kleinen Kammer, in der sich die Hitze des Mittags wie in einem Ofen staute, kaum zu atmen. Unten trugen sie ihn jetzt weg. Sie brachten den Marshal zum Sargtischler, und wahrscheinlich schleppten sie auch den toten Banditen dahin. Dort würden sie dann nebeneinander liegen – der Mörder und das Opfer. Die Bank konnte zufrieden sein. Sie hatte ihr Geld zurück. Die Bürger konnten auch zufrieden sein. Sie brauchten nicht um ihre Ersparnisse zu fürchten. Ein Überfall auf ihre Bank war gescheitert. Ein Bandit war tot. Auch der Marshal war tot. Aber der hatte ja nur seine Pflicht getan. Der hatte den Stern getragen. Berufsrisiko. Das Gefühl der Verlorenheit in mir war grenzenlos. Immer wieder sah ich das Gesicht des Marshals vor mir, hörte seine Stimme, als er auf mich eingesprochen hatte, als ich zum heimtückischen Schläger gestempelt werden sollte. Er hatte mir geholfen. Der einzige Mensch in Silverton, zu dem ich Vertrauen hatte, war tot. Ich war wieder völlig allein, und ich war sicher, daß alles für mich viel schwerer werden würde.
* Sie kamen die Treppe herauf. Ich hörte ihre Schritte auf der knarrenden, ausgetretenen Stiege. Tyron Delmar war dabei. Er redete ununterbrochen. Es war vielleicht eine halbe Stunde seit der Schießerei vergangen. Drückende Stille hatte seitdem in der Stadt geherrscht. Ich war innerlich ruhiger geworden. Als ich die Schritte auf der alten Stiege hörte, wandte ich nicht einmal den Kopf. Ich blieb auf meinem Bett liegen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte zur Decke, die nur aus schmutzigen, ungehobelten, rauhfaserigen Brettern bestand, in denen sich schon die Fäulnis festgesetzt hatte. Sie verströmten einen unangenehmen, strengen Geruch, wenn die Sonne auf das Dach brannte. Die Tür meiner Kammer schwang nach innen. Der Luftzug traf mich, und dann standen sie auf der Schwelle. Tyron Delmar, schwitzend, grinsend, ein breites Pflaster auf dem kahlen Schädel. Bill Farrel, der junge Deputy des toten Marshals Memming, der, wie ich gleich entdeckte, bereits den großen Messingstern Memmings an seinem Hemd trug. Und ein Mr. Doubleday, den ich mehrmals im Store Delmars gesehen hatte. Ich wußte, daß er der Mayor von Silverton war. Eigentlich gehörte ihm die Tischlerei. Nun, wahrscheinlich wollte er sich bedanken, daß ich ihm Arbeit verschafft hatte. Ich blieb liegen, schaute die drei Männer nur kurz an und blickte dann wieder zur Decke. »Wahrscheinlich hat er einen Schock«, hörte ich Tyron Delmar flüstern. »Er ist eben doch noch ein Kind, und nach allem, was passiert ist …« »Steh auf, Ronco«, sagte er dann laut. »Ich habe dir hohen Besuch mitgebracht.« Ich überlegte, ob ich seine Aufforderung nicht einfach ignorieren sollte. Dann setzte ich mich und schwang die Beine vom Bett. »Viel Mühe haben Sie sich mit der Unterbringung des Jungen aber
auch nicht gegeben«, hörte ich den Mayor flüstern. Tyron Delmar wurde puterrot und flüsterte zurück: »Es sollte ja alles erst richtig eingerichtet werden. Die Kammer ist ja nur als Übergang gedacht.« Zu mir sagte er lauter: »Mr. Doubleday, unser Bürgermeister, und Mr. Farrel, der neue Marshal.« »Ich freue mich, dich kennenzulernen«, sagte Mr. Doubleday. Ich musterte ihn erstaunt. Wenn das stimmte, was er sagte, dann war er der erste Mensch, den mein Anblick erfreute. »Durch dein tapferes und unerschrockenes Verhalten, äh, hast du unserer Stadt …« Doubleday zog ein weißes Taschentuch hervor und tupfte sich den Schweiß von der Stirn, »… einen großen Dienst erwiesen, was wir gebührend zu würdigen wissen.« »Marshal Memming ist leider tot«, ließ sich Farrel vernehmen. »Aber dafür hat es auch einen der Banditen erwischt, und seine Kumpane mußten ohne die Beute abziehen. Ohne dich wäre der Stadt ein schwerer Verlust entstanden.« »Ich habe immer gesagt, der Junge ist gut«, quäkte Tyron Delmar. »Natürlich hatte er anfangs seine Schwierigkeiten, sich bei uns zurechtzufinden. Aber wie er sich mein Gewehr geholt hat und auf die Straße gelaufen ist, ohne zu zögern …« Er zitterte geradezu vor Begeisterung. »Tja«, sagte Doubleday. »Wir wollten uns also bei dir bedanken. Und dann …« Er wandte sich unschlüssig an Delmar. »Sagen Sie es ihm, Mr. Delmar.« »Die Bank zahlt dir eine Belohnung«, sagte Delmar. »Du hast nicht umsonst in einer kritischen Situation kühlen Kopf bewahrt.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Mich interessierte das alles kaum. Marshal Memming war tot. Darüber redeten sie nicht. Belohnung? Davon wurde der Marshal nicht mehr lebendig. Ich hörte nicht, was sie sonst noch sagten. Delmar lächelte so freundlich wie eine Qualle. Er trat auf mich zu, nahm mich am Arm und klopfte mir väterlich auf die Schultern, als ich aufgestanden war. Seine Worte flossen an mir vorbei wie ein beständiger Strom heißer Luft. Beinahe willenlos ließ ich mich aus der Kammer die Stiege hinabführen. Unten standen Martha und Ireen Delmar. Diesmal
glaubte ich in Ireens Blicken ehrliche Bewunderung zu entdecken. Aber das war mir gleichgültig. Martha Delmar mußte sich dagegen zu dem Lächeln, mit dem sie ihr knochiges Gesicht verunzierte, zwingen, das sah man ihr an. Wir traten auf die Straße hinaus. Ein paar Menschen standen noch auf den Vorbauten und Stepwalks und schauten zur Bank hinüber. Als wir aus dem Store auftauchten, richteten sich sofort alle Blicke auf mich. Wir überquerten die Straße, gingen vorbei an dem Querholm, an dem noch vor einer halben Stunde die Pferde der Banditen gestanden hatten, und vorbei an dem großen dunklen Fleck im Sand, dicht neben dem Vorbau der Bank. Hier hatte Marshal Memming gelegen und war verblutet. Wir betraten den Gehsteig, und Farrel, der neue Marshal, stieß die Tür der Bank auf. Ich war noch nie in einer Bank gewesen. Irgendwie hatte ich mir alles großartiger vorgestellt, als es war. Der Schalterraum war nicht sehr groß, aber hoch. Er wurde von einer breiten Theke geteilt, auf die halbhohe Gitter geschraubt waren. Die Theke war mit grünem Samt bespannt. Dahinter arbeiteten zwei Männer in weißen Hemden und schwarzen Westen, die graue Ärmelschoner trugen. Ihre Schreibtische standen links und rechts von einem mehr als mannshohen Tresor. Als wir eintraten, öffnete sich seitlich der Schalter eine Tür und ein bulliger, massig wirkender Mann trat heraus. Er trug einen grauen Tuchanzug und eine geblümte Weste. Im rechten Mundwinkel hing eine schwarze Zigarre. »Da ist ja unser junger Held«, sagte er schnarrend wie eine Kreissäge. Er schlug mir auf die Schultern, daß ich dachte, er wollte mich ungespitzt in den Boden rammen. »Mutig und kühn, so sollte die ganze heranwachsende Generation sein. Das braucht Amerika.« Er führte mich zu einem der Schalter in der vergitterten Theke und winkte die beiden Clerks heran. »Zahlen Sie die Belohnung aus«, sagte der Bankdirektor. Er wandte sich mir wieder zu. »Zwanzigtausend Dollar hätten uns die Kerle geraubt, wenn du nicht gewesen wärst. Wir haben daher
beschlossen, dir eine Belohnung von zweihundert Dollar zuzuerkennen.« »Ich werde das Geld in Empfang nehmen«, meldete sich Delmar eilfertig zu Wort. »Ich bin ja so eine Art Vormund für den Jungen. Er weiß ja noch nicht, wie man mit Geld umgeht.« »Damit bist du doch einverstanden, nicht wahr?« Der Bankdirektor nahm die Zigarre aus dem Mund und lächelte mich herablassend an. »Mr. Delmar ist ein in Geschäften sehr erfahrener Mann. Dem kannst du dein Geld schon anvertrauen. Du bist jetzt beinahe reich, und soviel Geld will gut angelegt sein.« »Dafür werde ich sorgen, Sir«, quäkte Delmar. Ich sagte gar nichts. Ich war viel zu verwirrt. Der plötzliche Ansturm der Freundlichkeit kam viel zu überraschend für mich, nachdem ich bis heute allenfalls mit Neugier, meistens aber mit Feindseligkeit betrachtet worden war. Ich sah, wie einer der beiden Clerks zehn goldene ZwanzigdollarStücke vor Tyron Delmar aufbaute. Mein Geld. Das erste Geld, das mir gehörte. Bis ich nach Silverton gekommen war, hatte ich gar nicht mehr richtig gewußt, was Geld eigentlich war und zu was es diente. Bei den Apachen gab es nur Tauschhandel, und während meiner Zeit in der Mission am Pease River hatte dort kein sonderlich lebhafter Geldverkehr geherrscht. Während meiner Arbeit im Store bei Tyron Delmar war mir die Bedeutung des Geldes nach und nach klar geworden. In der Welt der Weißen war Geld ungeheuer wichtig. Wer keins besaß, wurde verachtet, wer viel hatte, war angesehen. Bei den Apachen war ein Mann um seiner selbst willen geachtet worden. Bei den Weißen war das anders. Jetzt besaß ich auch Geld, viel Geld. Aber eigentlich besaß ich es ja gar nicht. Tyron Delmar hatte sich die Goldmünzen längst eingesteckt, und als ich in sein zufriedenes Gesicht sah, wußte ich, daß er gar nicht daran dachte, mir jemals auch nur einen Cent davon zurückzugeben. Ich sagte nichts, auch nicht, als der Bankdirektor mir die Hand schüttelte und davon sprach, daß ich ein wertvolles Mitglied der
Gemeinschaft werden würde, daß Silverton nie vergessen werde, was ich getan hätte. Dann verließen wir die Bank. Der Bürgermeister verabschiedete sich und strebte eilig seiner Werkstatt zu. Wahrscheinlich würde er nun damit beginnen, zwei Särge zu bauen, für Marshal Memming und für den toten Banditen. Marshal Farrel führte mich zu seinem Office. Mit geschwellter Brust stolzierte Tyron Delmar neben mir her und genoß die Blicke, die uns zugeworfen wurden.
9. »Erzähl mal, wie das mit Custer und den Banditen war«, sagte der neue Town-Marshal. Er umrundete den Schreibtisch und setzte sich in den Stuhl, in dem ich vorhin noch hatte Marshal Memming sitzen sehen. Mir war nicht gut bei dem Gedanken, und ich setzte mich rasch auf einen unbequemen Hocker vor dem Schreibtisch. Tyron Delmar blieb stehen. Er hatte die Hände auf dem Rücken übereinandergelegt. »Es war an einem Fluß, fünf Tage westlich von hier«, sagte ich. »Da tauchten vier Kerle auf, die Custer ausrauben wollten. Der Mann mit den großen Ohren war dabei.« »Der, den du erschossen hast?« fragte Farrel. »Ja.« »Was ist passiert?« »Custer hat dem Mann seinen Kaffee ins Gesicht geschüttet. Einen anderen hat er erschossen.« »War das alles?« Farrel machte sich mit einem Bleistiftstummel Notizen. »Sie waren zu viert, sagst du. Aber jetzt waren es fünf Männer, die unsere Bank überfielen. Es muß also eine größere Bande sein.« »Der Mann mit den großen Ohren sprach von einem anderen Mann, der Matt Latimer hieß«, sagte ich. »Latimer …« Farrel beugte sich vor und stützte beide Hände auf den Schreibtisch. Er warf Delmar einen Blick zu und lehnte sich dann wieder zurück.
»Das weißt du genau?« »Das weiß ich genau.« Er fluchte leise, zog ein paar Schubladen des Schreibtisches auf, wühlte in ihnen herum und förderte schließlich ein Papier zutage. Er faltete es auseinander, und ich sah, daß darauf mit wenigen Strichen das Bild eines Mannes gezeichnet war. Darüber stand in dicken Lettern »Gesucht, tot oder lebendig«. Darunter stand der Name: Matt Latimer. »Jetzt kriegen wir diesen Strauchdieb auch auf den Hals«, sagte Tyron Delmar. Ich sagte nichts, denn ich verstand nicht, um was es ging. Ich kannte Matt Latimer nicht, aber die Bürger von Silverton schienen ihn zu kennen, und auch Noel Custer hatte seinen Namen gekannt. »Vielleicht«, sagte Farrel. »Vielleicht macht er aber mit seinen Leuten in Zukunft einen Bogen um die Stadt, nachdem seine Männer hier eine Abfuhr erhalten haben.« »Wenn, dann verdanken wir das dir«, sagte Delmar und legte mir seine fleischige Hand auf die linke Schulter. »Ein Prachtkerl, dieser Junge, nicht wahr, Mr. Farrel?« »Ich wollte, es gäbe mehr Bürger in dieser Stadt, die so schießen können wie er«, sagte Farrel. Er strich den Steckbrief glatt. »Ich werde den Steckbrief aushängen. Nutzen wird es nichts, aber die Leute sollen sehen, daß ich etwas unternehme.« Er nickte mir zu. »Du kannst jetzt gehen, Ronco.« Ich erhob mich, und Tyron Delmar schob mich zur Tür. Nebeneinander gingen wir die Straße hinunter. Die Gehsteige waren jetzt belebter, und die Leute blieben stehen, einige klatschten sogar, als wir vorübergingen. Für mich war es wie ein Spießrutenlaufen, aber Delmar genoß es. Er erwiderte gnädig die Grüße der Leute, und ich hatte wieder einmal Gelegenheit, darüber zu staunen, wie schnell die Menschen ihre Meinung ändern, und wie leicht es war, sie zu überzeugen. Ich hatte dazu nur einen Banditen erschießen müssen. Das hatte gereicht, um vom verachteten Außenseiter zum Helden des Tages zu werden. An Marshal Memming dachte wahrscheinlich kaum noch einer. Bestimmt nicht Tyron Delmar, in dessen Haus ich lebte, was einen
Teil meines Ruhms auf ihn fallen ließ, und der meine zweihundert Dollar in der Tasche trug. Ich brauchte Zeit, das alles zu verdauen. * »Wann kriege ich meine zweihundert Dollar, Mr. Delmar?« fragte ich. Über Delmars rundes Gesicht breitete sich ein gewinnendes Lächeln aus. »Aber du kannst mir doch vertrauen«, sagte er. Er legte mir beide Hände auf die Schultern. »Zweihundert Dollar sind viel Geld. Um eine solche Summe zu verwalten, braucht man Erfahrungen. Ich versichere dir, daß deine zweihundert Dollar gut aufgehoben sind. Du brauchst dir keine Sorgen darüber zu machen. Oder glaubst du, daß ich dich betrügen würde?« Das glaubte ich allerdings, aber ich sagte es nicht. Und mein Schweigen schien Tyron Delmar als Zustimmung für seine Worte zu deuten. »Na also«, sagte er. »Ich wußte, daß du vernünftig bist. Wenn du uns eines Tages mal verläßt, dann haben sich deine zweihundert Dollar längst verzinst. Und wenn du hier in Silverton bleibst, dann werden sie die Grundlage deiner Existenz sein. Du kannst dich ganz auf mich verlassen. Ich werde dafür sorgen, daß du dich nicht zu beklagen brauchst.« Ich nickte nur, und er klopfte mir noch einmal auf die Schultern. Aber mir war nicht das tückische Flackern in seinen Augen entgangen. Ich würde es mir merken. Der Perlenvorhang an der Tür klirrte leise, als ein Kunde in den Store trat. Ich arbeitete jetzt im Laden, nicht mehr im Lager. Das war gut für's Geschäft. Tyron Delmar hatte zwar gesagt, ich sollte es leichter haben, aber der eigentliche Grund war ein anderer. Wenn ich mich nämlich im Store aufhielt, kamen Leute in den Laden und kauften nur etwas, um mich zu sehen. Die letzte Schießerei, so hatte Mr. Delmar mir erzählt, hatte es in Silverton vor sechs Jahren gegeben. Damals hatte ein stadtbekannter
Säufer im Vollrausch seine Frau umgebracht und war anschließend wild um sich schießend durch die Stadt gelaufen. Marshal Memming hatte ihn mit einem Schuß in die linke Schulter gestoppt. Später war der Mann gehenkt worden. Seitdem war das Leben in Silverton, von einigen Prügeleien abgesehen, sehr friedlich verlaufen. Zwar besaß fast jeder Bürger eine Waffe, aber die wenigsten trugen einen Revolver, und wenn die Waffen überhaupt benutzt wurden, dann auf der Jagd in den Bergen. Langsam begriff ich, wieso die Bürger von Silverton eine Art Wundertier in mir sahen. Sie waren es schon lange nicht mehr gewohnt, zu kämpfen. Sie hatten es nicht nötig gehabt. Darin unterschieden sie sich von den Siedlern und Bewohnern der kleinen Städte weit im Süden, an der Grenze des Indianerlandes. Sie waren träge und feige geworden und verließen sich auf die Männer, denen sie einen Stern angeheftet hatten und denen sie Geld bezahlten, damit sie über ihre Sicherheit wachten. Nun, mir war es recht, für einen Helden gehalten zu werden. Ich wurde endlich nicht mehr wie ein Vieh behandelt und führte ein besseres Leben. Ich arbeitete auch nicht ungern im Store, denn dabei lernte ich mehr als beim Kistenschleppen über die Gewohnheiten und Lebensweise der Weißen, zu denen ich jetzt wieder gehörte. Am Nachmittag betrat der Padre von Silverton das Geschäft. Er schüttelte mir die Hand, beglückwünschte mich zu meiner mutigen Tat und schien mir doch irgendwie betrübt zu sein. Er zog sich mit Tyron Delmar in den Lagerraum zurück. Ich hielt mich nahe bei der Tür auf, so daß ich hören konnte, was sie miteinander sprachen. »Ich bin wegen Ronco gekommen«, sagte der Padre. »Haben Sie Klagen, Padre?« »Nein, Mr. Delmar. Aber ich halte es nicht mehr für gut, daß Sie ihn weiter in die Sonntagsschule schicken.« »Warum nicht, Padre, hat er sich das letztemal nicht gut benommen?« »Im Gegenteil, Mr. Delmar. Er war der Aufmerksamste von allen. Aber die anderen Kinder waren völlig durcheinander. Sie haben nur ihn angesehen und mir nicht mehr zugehört. Das hätte sich wahrscheinlich gegeben, Mr. Delmar, aber nach dem unglücklichen
Vorfall gestern … Was soll ich groß sagen, Mr. Delmar. Ein Junge, der einen Menschen getötet hat, der gehört nicht mehr in die Sonntagsschule, in der ich den Kindern von guten und schönen Dingen berichte.« »Aber er hat unserer Stadt einen großen Dienst erwiesen«, sagte Delmar. »Die Bank hat ihm eine Belohnung gezahlt, der Mayor war hier und …« »Sicher, Mr. Delmar. Natürlich. Diese Welt ist voller Gewalt. Aber ich bin dazu da, um die Liebe zu verkünden. Ich bin sicher, daß Ronco seinen Weg im Leben finden wird, aber er ist viel älter und reifer als andere seines Alters.« »Ich werde ihn nicht mehr in die Sonntagsschule schicken, Padre«, sagte Delmar. Ich hörte, wie sich beide der Tür zum Laden näherten, und beeilte mich, zum anderen Ende der Ladentheke zu gehen. Gleich darauf traten der Padre und Delmar wieder in den Store, und der Padre verabschiedete sich, auch bei mir. Delmar trat wenig später zu mir, als ich neuen Kandis in ein großes Glas füllte. »Ich habe mit dem Padre gesprochen«, sagte er. »Du brauchst nicht mehr zur Sonntagsschule. Der Padre meint auch, daß du dafür schon zu groß bist.« Ich nickte wortlos. Er wollte mir die Laune nicht verderben, aber ich hatte schon begriffen: Auch wenn alle in Silverton von mir redeten, wenn sie mich als Helden feierten, ich blieb ein Außenseiter. Und wieder dachte ich, daß es besser war, nicht mehr lange hierzubleiben. Aber davon sagte ich nichts. * Der Steckbrief Matt Latimers hing neben der Bank am Vorbau eines Saloons. Er hing seit vier Tagen da. Am ersten Tag, und auch noch am zweiten, waren ab und zu Menschen stehengeblieben und hatten sich das Bild angeschaut. Es zeigte einen Mann mit grobschlächtigen Zügen und großen Pockennarben. Jetzt achtete niemand mehr auf den Steckbrief, und von dem Banküberfall wurde nur noch abends in den Saloons gesprochen.
Vor drei Tagen war Marshal Memming beerdigt worden. Die Delmars waren mit mir auf dem Boothill gewesen. Die halbe Stadt war hinter dem Sarg hergezogen, aber es waren viele dabei gewesen, die noch während der Beerdigung getuschelt hatten, daß Memming ja im Grunde für seine Aufgabe schon viel zu alt gewesen sei. Daß eines Tages etwas passieren würde, sei ohnehin klar gewesen. Jetzt war auch die Beerdigung bereits wieder vergessen, und das Leben in Silverton nahm seinen gewohnten Verlauf. Der April neigte sich dem Ende zu, und das Wetter war beinahe schon wie im Mai. Ich brauchte nicht mehr im Lagerraum zu essen. Martha Delmar hatte ihre Abneigung gegen mich überwunden, und so saß ich mit der ganzen Familie während der Mahlzeiten am Tisch. An diesem Vormittag schlich Ireen um mich herum. Sie traute sich nicht heran, solange ihr Vater in der Nähe war. Als er einmal in die Bank hinüberging, stand sie plötzlich neben mir hinter der Ladentheke. »Kann ich dir helfen?« fragte sie. »Verschwinde«, sagte ich. Sie war mir regelrecht zuwider. Ich wußte, daß sie bei ihren Freundinnen damit prahlte, ihr Vater habe mich, den Helden von Silverton, als Pflegesohn bei sich aufgenommen. Sie erzählte wilde Geschichten über mich, daß ich bei den Indianern Menschen zu Tode gemartert hätte. Ich hatte auch ihre Hinterhältigkeit und ihren Hochmut nicht vergessen. »Es tut mir ja leid, was ich getan habe«, sagte sie. »Ich hab dich ganz falsch gesehen.« »Hau ab«, sagte ich, »sonst bist du deine Zöpfe los.« »Sei doch nicht so nachtragend«, sagte sie. »Ich meine es ehrlich. Meine Freundinnen würden dich auch gern kennenlernen und …« Ich griff nach einem Messer aus der Besteckkollektion in Delmars General-Store. Mit dem letzten Satz hatte Ireen ihre wahren Absichten verraten. Ihr Säuseln hatte kein anderes Motiv, als mich wie einen dressierten Bären ihren Freundinnen vorzuführen. Als sie sah, daß ich das Messr hob, wurde sie käsebleich und rannte aus dem Laden ins Magazin. Ich grinste und legte das Messer zurück, zumal ich durch die Schaufensterscheibe sah, daß Tyron
Delmar aus der Bank trat und die Straße überquerte. Gerade als er den Vorbau seines Stores erreichte, klang Hufschlag auf. Delmar blieb stehen und schaute nach Westen. Ich hatte auf einmal ein ungutes Gefühl und umrundete die Ladentheke. Dicht am Schaufenster blieb ich stehen und schaute hinaus. Da sah ich eine Reiterhorde, die sich im Galopp der Stadt näherte. Es waren zehn oder zwölf Männer. Sie ritten in breiter Front heran, nahmen die Straße in ihrer ganzen Breite in Anspruch und schienen bereit zu sein, alles, was sich ihnen in den Weg stellte, in Grund und Boden zu stampfen. Voran ritt ein großer Mann mit kantigem Schädel und mächtigen Schultern. Er saß wie ein Felsblock im Sattel, und es schien mir wie ein Wunder, daß das Pferd, das er ritt, nicht unter ihm zusammenbrach. Seit Mangas Coloradas und Cochise, den beiden tapferen und körperlich riesigen Apachenhäuptlingen, hatte ich einen so massigen und gewaltigen Mann nicht mehr gesehen. Ich kannte ihn, zumindest sein Gesicht, denn es war auf dem Steckbrief abgebildet, der seit vier Tagen am Vorbau des Saloons neben dem Bankgebäude hing. Der Mann war Matt Latimer. Die Bürger auf den Gehsteigen sahen ihn und blieben stehen, genau wie Tyron Delmar, der noch immer auf dem Vorbau vor seinem Store stand, und auch ich wartete wie angewurzelt, was der Bandit tun würde. Die Männer ritten die Main Street herauf. Staub wallte unter den trommelnden Hufen ihrer Pferde in dichten Schleiern hoch. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet, und es war ihnen anzusehen, was sie waren: menschliche Wölfe, die von Blut und Tod lebten. Revolvergeier, deren Gesetz der Colt war, den sie im Halfter trugen. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß mehrere Menschen, die sich auf den Gehsteigen befunden hatten, schleunigst in ihre Häuser verschwanden. Da schien die Horde den Steckbrief entdeckt zu haben. Einer hob seine Rechte und deutete zu dem Saloon neben der Bank hinüber. Die anderen zogen ihre Pferde herum und ritten auf den Saloon zu. Dort hielten sie an. Latimer beugte sich im Sattel vor, schien den Steckbrief genau zu studieren und stieß ein dröhnendes Gelächter
aus, das sich dumpf an den Fassaden der Häuser brach. Dann riß er den Steckbrief ab, zog ein Zündholz aus der Tasche seiner Weste und riß es am Sattelhorn an. Das aufzuckende Flämmchen setzte das Papier des Steckbriefes in Brand. Latimer ließ ihn fallen und schaute zu, wie er verbrannte, bis nur ein Häufchen Asche übrigblieb, über das er sein Pferd trieb. Es war still in der Stadt geworden. Nur der Wind von den Bergen sang leise um die Ecken der Gebäude. Ab und zu schnaubte ein Pferd. Von Marshal Farrel war nichts zu sehen. Ich hörte eilige Schritte auf dem Vorbau des Stores. Auch Mr. Delmar schien sich in Sicherheit bringen zu wollen. Matt Latimer hatte seinen Steckbrief mitten in Silverton verbrannt. Er hatte sich aufgeführt wie ein Herrscher. Sein Auftreten war eindeutig: Er hatte der Stadt den Krieg erklärt.
10. Matt Latimer war erschienen, um Rache zu nehmen. Er würde die Stadt unter seine Faust zwingen. Mich würde er töten, und es gab niemanden in Silverton, der seine Waffe nehmen und kämpfen würde. Ich drehte mich um, lief zur Tür ins Magazin und verschwand im Lagerraum, bevor Tyron Delmar den Store wieder betrat. Ich hatte keine Wahl, ich konnte nicht allein gegen die Banditen kämpfen. Schutz durfte ich von den Bürgern von Silverton auch nicht erwarten. Ich mußte mich verstecken. Ireen befand sich im Lagerraum. Ich lief an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. »Was ist denn draußen los?« rief sie hinter mir her. »Warum ist alles so still? Was sind da für Reiter gekommen?« Ich gab ihr keine Antwort, sondern verließ das Haus durch den Hinterausgang. Als ich das Hoftor erreichte, sah ich, daß die Banditen von den Pferden gestiegen waren. Einige standen auf dem Vorbau des Saloons neben der Bank, andere auf dem Gehsteig vor dem Bankgebäude, wieder andere hatten sich quer über die Straße verteilt.
Die Bürger waren alle verschwunden. Ich sah nur einen einzigen Menschen auf der Main Street, der nicht zu den Banditen gehörte. Es war der junge Marshal Farrel. Er hatte sein Office verlassen und näherte sich mit ruhigen Schritten. Ich mußte weg. Den Hof durch das Tor zu verlassen, war unmöglich. Einen Moment lang schaute ich Farrel entgegen. Das Licht der Vormittagssonne ließ seinen Messingstern wie pures Gold blinken. Ich drehte mich um. Ich hatte einmal einen Marshal verbluten sehen, das hatte mir gereicht. »Sterne gehören an den Himmel«, hörte ich einen der Banditen sagen, als ich durch den Hof lief. »Dahin sollte man ihn schicken.« »Der kommt sicher in die Hölle«, sagte eine andere Stimme. Mehr hörte ich nicht. Als ich über den rückwärtigen Hofzaun kletterte, wehte der Wind den Klang von Farrels Stimme herüber. Was er sagte, war nicht zu verstehen. Ich ließ mich auf der anderen Seite des Holzzaunes hinuntergleiten und stand im Hof einer Stellmacherwerkstatt. Hier war kein Mensch zu sehen. Ich lief zum Hoftor, das auf eine Seitenstraße führte, und schlüpfte hinaus. Die Straße war menschenleer. Ich lief sie hinunter und bog in eine Seitengasse ein. Wenig später hatte ich die Gegend erreicht, in der mich die Jungen überfallen hatten. Hier fühlte ich mich einigermaßen sicher. Ich fand einen unverschlossenen Lagerschuppen, in dem Säcke mit Mais aufbewahrt wurden. Die Säcke stapelten sich teilweise bis zur Decke. Ich erklomm mit einiger Mühe einen solchen Stapel, der einige Male bedenklich schwankte. Aber er kippte nicht um, und ich beeilte mich, nachdem ich oben angelangt war, mich in die Mitte des Stapels zu begeben. Durch einen fingerbreiten Spalt im Dach drang etwas Sonnenlicht ein, sonst war es stockfinster hier oben. Mir war das gerade recht. Hier würde man mich bestimmt nicht suchen. Während ich mich auf den Säcken ausstreckte, hörte ich das Krachen von Schüssen. Es klang gedämpft in mein Versteck. Ich hob den Kopf und lauschte. Revolver belferten dumpf. Ich zählte sechs oder sieben Schüsse. Danach wurde es still. Mir war plötzlich kalt. Ich zog fröstelnd die
Schultern hoch und preßte mein Gesicht auf das rauhe Sackleinen. Ich dachte an den jungen Marshal. Er war stolz auf seinen Stern gewesen, den er von dem toten Marshal Memming übernommen hatte. Er hatte ein guter Marshal sein wollen und auch nicht daran gedacht, einer Auseinandersetzung mit dem steckbrieflich gesuchten Matt Latimer aus dem Wege zu gehen, der die ganze Stadt herausgefordert hatte. Als alle anderen sich feige verkrochen hatten, war er auf die Straße gegangen. Und jetzt? Mir wurde plötzlich bewußt, wie sehr ich am Schicksal des jungen Marshals und am Schicksal von Silverton Anteil nahm. Nicht nur, weil ich selbst betroffen war. Es hatte keinen Sinn, daß ich mir selbst etwas vorgaukelte. Mir wurde gerade in diesem Moment bewußt, wie sehr ich mich schon wieder jenen Menschen verbunden fühlte, deren Hautfarbe ich auch hatte. Vielleicht dachte ich in vielen Dingen anders als sie. Aber ich merkte gerade jetzt, daß ich mehr und mehr wieder einer der ihren wurde, daß ich mich in ihr Leben einzufügen begann. Ein Zurück zu den Apachen gab es nicht mehr. Ich verspürte auch den anfangs noch stark gewesenen Wunsch nach einer Rückkehr nicht mehr, nur noch ein leises Sehnen, das zu schwach war, um Gestalt anzunehmen, das mich aber bis heute nicht ganz verlassen hat. Noch heute fühle ich in vielen Dingen wie ein Indianer. Ich glaube, daß das gut ist. Damals gingen mir diese Gedanken im Kopf herum, ohne daß ich sie in ihrem ganzen Umfang völlig begriff. Dazu war ich zu jung. Aber ich spürte die Nähe des Todes, und das war es wohl, was mich so nachdenklich werden ließ. In meinem Versteck war es still wie in einem Sarg, und von draußen drang auch kein Geräusch mehr herein. War der Kampf schon vorbei, oder gingen die Killer jetzt in der Stadt um? Wieder krachten Schüsse. Ich zuckte beim Klang der Detonationen zusammen. Schreie von Menschen waren zu hören. Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Ich streckte mich flach auf den mit Mais gefüllten Säcken aus und zwang mich, ruhig zu atmen. Aber das Herz schlug mir bis zum Hals, und die innere Anspannung ließ nicht nach.
Vielleicht suchten sie mich bereits. Immerhin waren an dem Tag, als ich den einen Banditen erschossen hatte, vier seiner Kumpane entkommen. Einen hatte ich noch verwundet. Sie wußten, wer geschossen hatte und am Scheitern des Banküberfalls die Schuld trug. Sie wußten auch, wo sie mich zu suchen hatten – bei den Delmars. Aber da würden sie mich nicht finden. Und dann? War ich ihnen wichtig genug, daß sie wegen mir die ganze Stadt durchsuchten? Ich hätte eine Waffe mitnehmen sollen. Ich hätte mir auch etwas zu essen und eine Flasche mit Wasser mitnehmen müssen. Was wurde, wenn ich auch morgen noch in meinem Versteck bleiben mußte, vielleicht auch noch übermorgen? Ich konnte inmitten der Stadt verdursten oder verhungern. Schon der Gedanke daran genügte, um in mir das Verlangen nach Wasser aufkommen zu lassen, zumal die Luft in dem Lagerschuppen abgestanden, heiß und staubig war. Wenn ich aber entdeckt wurde, sollte ich mich dann wehrlos abschlachten lassen? Womit sollte ich mich verteidigen? Ich war zu überstürzt geflohen. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Jetzt mußte ich ausharren. Wieder hörte ich Schüsse von der Hauptstraße, und mir wurde immer klarer, wie ernst meine Lage war. * Ich war eingeschlafen. Die Hitze war daran schuld. Die Sonne hatte, je höher sie am Firmament gestiegen war, immer gnadenloser auf das Dach des Lagerschuppens gebrannt und die abgestandene Luft darunter beinahe in heißen Dampf verwandelt, der mich, wie ich anfangs meinte, zu ersticken drohte. Zeitweise hatte ich meinen Mund gegen den Spalt im Dach gepreßt, durch den etwas Tageslicht hereinfloß, und wie ein Ertrinkender nach Luft geschnappt. Aber die Haltung war unbequem und beschwerlich, ich hatte sie schließlich aufgeben müssen und mich flach auf den Säcken ausgestreckt. Müdigkeit war durch meine Glieder gekrochen. Ich hatte mich nicht dagegen wehren können. Jetzt erwachte ich. Es war finster um mich herum. Ich hatte lange geschlafen. Träge richtete ich den Oberkörper auf. Ich hatte
pochende Schmerzen in den Schläfen und fühlte mich wie nach einer Bewußtlosigkeit, schlapp und schwach. Ich preßte mein Gesicht an den Spalt über mir im Holz und versuchte, hinauszuspähen. Ich sah nur einen düsteren Himmel. Es mußte Abend sein, vielleicht sogar schon Nacht. Hufschlag donnerte durch die Gasse, in der sich der Lagerschuppen befand. Männerstimmen johlten und grölten. Ab und zu krachte in der Stadt ein Schuß. Das Schuppentor knarrte plötzlich. Ich erstarrte und lauschte angespannt. Die dumpfe Müdigkeit wich aus meinem Körper. Schritte waren zu hören. Ich nahm einen schwachen Lichtschimmer wahr. Die Säcke am Rande des hohen Stapels wackelten plötzlich. Meine Kehle wurde eng, eine unsichtbare Hand schien sie mit gewaltiger Kraft zusammenzupressen. Jetzt war es soweit. Woran ich vorhin nur gedacht hatte, war Wirklichkeit geworden. Sie suchten mich, und einer der Killer suchte in diesem Schuppen und schien die Absicht zu haben, die gestapelten Maissäcke zu erklettern. Er würde mich finden, und ich – ich war waffenlos. Das Schnaufen eines Mannes war zu hören. Dann fluchte eine Stimme. Ich zwang mich, ruhig zu atmen und dachte daran, daß ich noch nie kampflos aufgegeben hatte. Der Mann schien allein zu sein. Vielleicht hatte ich gegen ihn eine Chance. Er besaß eine Waffe, aber ich hatte das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Das mußte genügen. Vorsichtig kroch ich auf allen vieren zum Rande des hohen Stapels, auf dem ich lag. Die erste Erregung war überwunden. Ich spürte, wie ich innerlich ruhig wurde. Ich lauschte dem angestrengten Atmen des Mannes und sah das Licht, das er bei sich trug, langsam höher steigen. Es war ein trübes, schwaches Licht – wie von einer alten Stallaterne mit verdrecktem Glaszylinder. Er war schon sehr nahe. Im Laufe der nächsten Sekunden mußte er über die obere Kante des Stapels schauen können. Meine Fäuste umkrallten aus einer plötzlichen Eingebung heraus einen prall mit Mais gefüllten Sack. Ich hatte keine Ahnung, wie schwer er war, und wußte nicht, ob ich ihn heben konnte. Meine
Muskeln spannten sich, und ich dachte, meine Sehnen würden reißen, als ich ihn hochhob und meinen Oberkörper aufrichtete. Da sah ich den Mann. Er befand sich vielleicht anderthalb Yards unter mir, hielt in der Linken eine kleine Petroleumlaterne und starrte mit entsetzt geweiteten Augen zu mir hoch. Er hatte ein knochiges, rohes Gesicht mit zwei Narben auf der linken Wange und Lippen, die so dünn waren wie ein Bleistiftstrich. Als ich den Sack zu ihm hinunterschleuderte, stieß er ein gurgelndes Geheul aus, das sofort erstarb, als der Sack ihn traf. Er ließ die Lampe fallen und versuchte, sich an den Säcken festzuklammern. Aber das Gewicht riß ihn mit. Ich sah einen Moment nur seine Arme und Beine, die grotesk verrenkt in der Luft hingen. Einen Sekundenbruchteil später prallte er mit häßlichem Laut auf den Boden des Schuppens. Der Sack rollte von ihm hinunter. Er blieb liegen und rührte sich nicht mehr. Sein Kopf war zur Seite gedreht und schien nicht mehr zum Körper zu gehören. Aus Mund und Nase rann Blut. Die Petroleumlampe war ein Stück hinter ihm am Boden zerschellt. Sie war jedoch nicht erloschen. Die Füllung war ausgelaufen und hatte sofort Feuer gefangen. Das Holz der Bodendielen war spröde und morsch wie Zunder. Die Flammen fanden reichlich Nahrung. Wenn ich nicht bei lebendigem Leibe gebraten werden wollte, war es besser, zu verschwinden. Ich kletterte von den Säcken herunter, schnell, aber auch vorsichtig, um nicht den ganzen Stapel zum Einsturz zu bringen. Inzwischen griff unten das Feuer rasch um sich und erreichte bereits die ersten Säcke. Die Flammen leckten mir gierig entgegen, als ich zu Boden sprang. Beißender Rauch drang mir in Mund, Nase und Augen. Ich beugte mich über den Banditen, dessen wachsbleiches Gesicht vom Feuer grell angestrahlt wurde. Er war tot. Er hatte sich das Genick gebrochen. Ich richtete mich rasch auf, nachdem ich ihm den Revolver aus dem Halfter gezogen hatte. Dem Mann war nicht mehr zu helfen, und das Feuer war nicht mehr einzudämmen. Ich eilte zum Tor und warf einen Blick auf die Straße. Sie war leer, bis auf das Pferd des
Banditen, das in etwa zwanzig Yards Entfernung mit hängenden Zügeln am Straßenrand stand. Ich überlegte nur kurz, dann lief ich auf das Pferd zu. Fast gleichzeitig klang auf der Main Street Hufschlag auf. Zwei Reiter preschten in die Gasse, gerade, als ich das Pferd des toten Banditen erreicht hatte. Ich griff nach dem Sattelhorn und wollte mich auf den Rücken des Tieres ziehen, da warf das Pferd wiehernd den Kopf hoch und drehte sich zur Seite. Es keilte aus. Mit viel Glück entging ich den wirbelnden Hufen, stürzte aber durch die jähe Drehung des Tieres dennoch in den Staub. Das Pferd tänzelte dicht neben mir. Ich sprang rasch auf, um nicht doch von einem Huftritt an den Kopf getroffen zu werden. Da hatten die Reiter mich schon entdeckt und jagten auf mich zu. Ich hob den Colt, den ich dem Toten abgenommen hatte, und feuerte durch die dunkle Straße. Eins der Pferde bäumte sich auf. Der Reiter stürzte aus dem Sattel und schlug schwer zu Boden, schien aber unverletzt zu sein. Ich drehte mich um und rannte in die Finsternis, während hinter mir Revolverschüsse krachten. Einmal spürte ich den heißen Luftzug eines Geschosses, dann tauchte ich hinter einer alten Scheune unter. Ohne mich umzuschauen, lief ich durch die dunklen Hinterhöfe. Einmal stolperte ich und stürzte. In meiner Nähe quiekte eine Ratte und lief mir über die rechte Hand. Ich schauderte, sprang auf und stürmte weiter, bis ich keinen Hufschlag und keine Stimmen mehr hinter mir hörte. Als es ganz still um mich herum war und ich nicht mehr wußte, wo ich mich befand, als ich kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte, kauerte ich mich unter ein Holzgestell irgendwo am Rande der Stadt. Ich hatte Durst und Hunger. Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich zog die Beine fest an den Leib. Einmal hatte ich mich während meiner Flucht umgedreht. Da hatten die Flammen des brennenden Schuppens ein Loch in die schwarze Decke der Nacht gefressen. Sie hatten zum Himmel hoch gelodert, und viele Menschen hatten durcheinandergeschrien. Der Revolver des toten Banditen drückte gegen meinen Bauch. Ich hatte ihn schräg im Hosenbund stecken. Ich zog ihn heraus und wog
ihn in der Hand. Es war ein Navy-Colt, stark gebraucht, abgenutzt und zerschrammt. Am liebsten hätte ich ihn weggeworfen. Ich konnte ihn nicht essen; ich konnte ihn nicht trinken. Was ich brauchte, waren Wasser und ein Stück Brot. Aber der Colt war eine Waffe, und vielleicht würde ich ihn noch benötigen. Ich steckte ihn zurück in den Gürtel. Lange hockte ich in meinem Versteck und lauschte in die Nacht. Als alles still blieb, streckte ich mich auf dem nackten Boden aus und versuchte, Hunger und Durst zu vergessen. Die Nächte waren noch kalt, und ich fror, aber ich schlief doch ein. Was weiter geschehen sollte, wußte ich nicht.
11. Die Frühsonne und die Morgenkälte weckten mich. Steifgefroren rollte ich mich auf den Rücken. Es dauerte eine Zeit, bis die bleierne Schwere des Schlafes aus meinem Körper gewichen war und mir alles wieder einfiel. Die Banditen, die Flucht, der Kampf im Schuppen, die erneute Flucht in die Nacht … Ich richtete den Oberkörper auf und schaute mich um, um festzustellen, wo ich mich befand. Es war der Hof eines Mietstalls. Das Holzgestell, unter dem ich mich in der Nacht verkrochen hatte, war ein aufgebockter Frachtwagen ohne Räder. Ich kroch aus dem Versteck und richtete mich auf. Der Hunger fraß in meinen Eingeweiden, und meine Kehle war geschwollen, meine Mundhöhle wund vom Durst. Mitten im Hof befand sich ein Brunnen, in der Nacht hatte ich ihn nicht gesehen, obwohl ich es da schon vor Durst kaum ausgehalten hatte. Ich lief hin und ließ einen Eimer in den Schacht hinunter. Als ich ihn gefüllt wieder heraufzog, hörte ich, wie vorn das große Stalltor geöffnet wurde. Ich vernahm die schlurfenden Schritte des Stallmannes, beeilte mich, ein paar Schlucke zu trinken, mir eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen und kauerte mich dann hinter eine leere Regentonne. Wenig später tauchte der Stallmann auf und holte Wasser, um die
Pferde zu tränken. Ich wartete, bis er den Hof wieder verlassen hatte, dann erhob ich mich, stieg über den niedrigen Zaun und lief durch eine schmale Gasse in Richtung Stadtmitte. Ein paar Frauen, die mit schweren Wäschetrögen zu einem Brunnen unterwegs waren, sahen mich. Sie blieben stehen und riefen mir etwas zu. Ich achtete nicht darauf, verstand nicht, was sie sagten, und eilte rasch an ihnen vorbei. Nach einigen Minuten erreichte ich den niedergebrannten Schuppen. Einen Moment blieb ich neben der Ruine stehen, über der der scharfe Geruch von verkohltem Holz und verbranntem Getreide hing. Irgendwo inmitten der Trümmer glaubte ich einen menschlichen Körper zu entdecken, aber das bildete ich mir wahrscheinlich nur ein. Ich wandte mich rasch ab und lief weiter. Die Stadt war eigenartig still und friedlich. Der neue Tag schien den Terror der Banditen wie einen üblen Spuk in den Schatten der Nacht zurückgelassen zu haben. Als ich die Main Street erreichte, hielt ich mich im Schatten der Vorbauten. Hier und da sah ich zerbrochene Fensterscheiben. Das blinkende Blechschild vor dem Barbiersalon lag im Staub der Main Street. Es war verbeult, und eine Revolverkugel hatte ein häßliches Loch hineingerissen. Auf dem Vorbau eines Saloons lagen zerbrochene Whiskyflaschen. Hier und da glaubte ich ein Gesicht hinter zerborstenen Scheiben und hinter weißen Gardinen zu entdecken. Auf der Straße befanden sich nur wenige Menschen. Jetzt spürte ich es auch: Eine Atmosphäre der Angst, der Verzweiflung und der hilflosen Wut lag über der Stadt, ein Hauch von Furcht und Entsetzen strich durch die Straßen und Gassen. Ich war froh, als ich den Hofeingang des General-Stores erreichte und hineinschlüpfen konnte. An der Hintertür verhielt ich für ein paar Minuten und lauschte ins Innere des Hauses. Aber da blieb alles ruhig. Dafür spürte ich um so heftiger meinen Hunger. Ich stieß die Tür auf und betrat den Lagerraum. Hier schien sich nichts verändert zu haben. Es sah alles noch genauso aus wie gestern vormittag, als ich fortgelaufen war. Von
Tyron Delmar und seiner Familie keine Spur. Ich schritt durch das Magazin und blieb schließlich an der Verbindungstür zum Laden stehen. Auch hier war alles still. So betrat ich das Geschäft. Es sah aus, als habe eine Granate eingeschlagen. Die Theke war umgestürzt, die hohen Gläser mit den bunten Bonbons und dem Kandis waren in tausend Stücke zersprungen, ihr Inhalt war über den ganzen Boden des Stores verstreut. Das große Schaufenster mit der kunstvollen Aufschrift »Tyron Delmars General-Store« war zerschlagen. Die Regale mit den Konserven lagen am Boden, der Perlenvorhang an der Tür war abgerissen. Fassungslos starrte ich auf die Trümmer. Als ich mich umdrehte, stand Tyron Delmar hinter mir im Lagerraum. Ich hatte nicht gehört, daß er sich genähert hatte. Sein rundes Gesicht trug Abschürfungen und dunkle Flecke, es war verschwollen und ließ ihn noch erbärmlicher aussehen, als es sonst der Fall war. In seinen kleinen Schweinsaugen, mit denen er mich fixierte, lagen grenzenloser Weltschmerz, Traurigkeit und nackte Wut dicht beieinander. Ich schwieg, als ich ihn sah, und er schwieg auch – wenigstens zunächst. So starrten wir uns fast eine Minute lang an. Dann sagte er: »Ich hätte nicht gedacht, daß du dich noch einmal hierher traust.« Ich antwortete nicht. Was hätte ich auch sagen sollen? »Aber du hast ja weder ein Schamgefühl noch sonstige menschliche Eigenschaften.« Seine helle Stimme hob sich, wurde lauter, steigerte sich fast zu einem hysterischen Kreischen. »Hast du dir meinen Store angesehen? Hast du gesehen, was sie daraus gemacht haben, diese Irren?« Ich nickte. »Wegen dir!« kreischte er. »Alles wegen dir! Das hat man davon, wenn man sich einen Wilden ins Haus holt. War es deine Aufgabe, diesen Bankräuber zu erschießen? Was ging dich die Sache überhaupt an? Wir hatten schließlich einen Marshal, dessen Pflicht es
war, den Bankraub zu verhindern. Wieso mußtest du dich da einmischen? Die ganze Stadt hast du ins Unglück gestürzt.« So war das also. Gestern noch ein Held und heute … »Was bist du überhaupt für ein Junge!« schrie Delmar bereits weiter. »Ein Gewehr zu nehmen und einen Menschen zu erschießen. Es gibt keinen Bürger in der Stadt, der das so einfach fertigbrächte. Du hast den Mann abgeknallt, als wäre er eine Schießbudenfigur.« »Dafür haben Sie mir auf die Schulter geklopft«, sagte ich. »Sie und der Bürgermeister und auch der neue Marshal von diesem feigen Nest.« Das gab Delmar ein neues Stichwort: »Der Marshal ist auch tot. Der zweite Marshal binnen weniger Tage! Den hast du auch auf dem Gewissen. Du Mörder, du eiskalter Killer! So einen jungen Menschen wie Marshal Farrel. Zusammengeschossen haben sie ihn, diese Schweine. Und alles wegen dir. Hättest du den Mann vor der Bank nicht erschossen, wären die Kerle nie hierhergekommen, dann hätten sie uns in Ruhe gelassen, und Farrel wäre noch am Leben, und mein Laden wäre noch heil.« »Gestern haben Sie anders geredet«, sagte ich. »Da hat noch keiner ahnen können, was für ein Unheil du angerichtet hast.« »Ich gehe«, sagte ich. »Sie brauchen sich nicht weiter aufzuregen. Ich verlasse die Stadt. Geben Sie mir meine zweihundert Dollar, Mr. Delmar.« Sein Gesicht hatte plötzlich Ähnlichkeit mit einer Kröte. »Was hast du gesagt?« »Ich will meine zweihundert Dollar, Mr. Delmar. Es ist mein Geld.« »Dein Blutgeld willst du haben?« Delmar blähte die Backen, bis sein Kopf wie ein Ballon aussah. »Das Geld, daß du für deinen Mord erhalten hast, soll ich dir geben? Hör zu, Bengel, fünfundsechzig Dollar habe ich an Custer für dich Ausgeburt der Hölle gezahlt. Bleiben einhundertfünfunddreißig Dollar. Dafür hast du dich bei mir durchgefressen. Und jetzt sieh zu, daß du verschwindest. In meiner Gutmütigkeit gebe ich dir noch einen guten Rat: Nimm dich in acht. Latimer hat einige seiner Leute
in der Stadt zurückgelassen. Wenn du ihnen in die Arme läufst, ist es aus mit dir.« Ich musterte ihn ungläubig. Er konnte nicht ernst gemeint haben, was er eben gesagt hatte. »Was ist?« schnauzte er. »Was stehst du noch hier? Verschwinde! Ich möchte nicht, daß die Halunken noch einmal in mein Haus eindringen und alles kurz und klein schlagen.« »Ich kriege zweihundert Dollar von Ihnen, Mr. Delmar«, sagte ich. »Ich habe in Ihrem Saftladen schwer geschuftet, und was Sie mit Mr. Custer ausgehandelt haben, geht mich nichts an.« »O doch, mein Junge, es geht dich etwas an. Und wer bezahlt mir den Schaden, der mir wegen dir entstanden ist? Du hast das Geschäft ja gesehen. Glaubst du, deine zweihundert Dollar reichen, um hier wieder Ordnung zu schaffen?« »Ich habe den Laden nicht zerschlagen«, sagte ich. »Ich will mein Eigentum, dann gehe ich.« Da beugte er sich vor und griff mit beiden Fäusten nach mir. Das hätte er nicht tun sollen. Aber er fühlte sich wieder stark, seit er wußte, daß die Banditen hinter mir her waren und ich keine Unterstützung mehr in der Stadt besaß, die mich bis gestern vormittag noch als Helden gefeiert hatte. Außerdem brauchte er einen Sündenbock für die Schäden, die die Banditen angerichtet hatten, und er brauchte jemanden, an dem er seine Wut auslassen konnte. Vor den Banditen hatte er wahrscheinlich gewinselt und gekuscht, wie ich ihn kannte. Seine Fäuste umspannten meine Oberarme. Er zerrte mich zu sich heran, ließ mit der Rechten los, holte aus und wollte mich schlagen. Da stieß ich ihm die gespreizten Finger meiner rechten Hand ins Gesicht. Sie bohrten sich in seine Augen. Er heulte auf und ließ mich los. Wimmernd taumelte er rückwärts gegen eine Kiste und stürzte beinahe auf den Rücken. Ich zog den Navy-Colt aus dem Gürtel und war jetzt sehr froh, daß ich ihn nicht weggeworfen hatte. Ich wartete, bis Delmar wieder sehen konnte, und richtete den Revolver auf ihn. Er wurde käsebleich. »Ich will mein Geld«, sagte ich. »Und ich will etwas Proviant.« »Steck den Revolver weg, Junge.« Delmar hob die Hände. »Es
war doch nicht so gemeint und …« »Ich weiß, was Sie gemeint haben«, sagte ich. »Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir gezeigt haben, was Heuchelei ist. In den letzten Tagen hat man mir in diesem Kaff ständig auf die Schultern geklopft. Jetzt haben euch die Banditen das Fell über die Ohren gezogen, und dafür gebt ihr mir die Schuld, weil ihr zu feige gewesen seid, euch zu verteidigen. Ich habe bei den Apachen gelernt, daß ein Mann sich wehrt, wenn er angegriffen wird. Ihr aber duckt euch und verkriecht euch. Aber ihr seid nicht nur feige, ihr seid auch hinterhältig und verlogen. Und Sie, Mr. Delmar, sind ein Dieb. Sie wollen mich um mein Eigentum betrügen.« »Nein, nein«, sagte Delmar. »Du hast mich völlig mißverstanden.« »Ihr seid sogar zu feige, zu eurem Wort zu stehen«, sagte ich. Ich hob den Colt etwas an. »Gehen Sie voran, Mr. Delmar. Wir gehen jetzt in Ihr Office.« Er drehte sich um und beeilte sich, meiner Aufforderung nachzukommen. Wir betraten sein Office. Ich blieb an der Tür stehen, und Tyron Delmar verhielt am Schreibtisch. »Holen Sie das Geld raus«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob ich noch alles habe«, erwiderte er. »Die Halunken haben mich völlig ausgeplündert, und …« »Mein Geld, Mr. Delmar«, sagte ich eisig. »Schnell!« Er umrundete den Schreibtisch und zog eine Schublade auf. Ich spürte instinktiv die Gefahr und sprang zum Schreibtisch. Tyron Delmar jaulte auf wie ein getretener Hund, als ich mit dem Lauf des Navy-Colts zuschlug. Seine Hände zuckten zurück. Er krümmte sich vor Schmerzen zusammen und schlenkerte brüllend die rechte Hand hin und her. Ich blickte ihn mitleidlos an. Über den Tisch hinweg hatte ich gesehen, daß in der offenen Schublade eine kleine, einschüssige Derringer-Pistole lag. Ich beugte mich vor und nahm sie heraus. Sie lag leicht in meiner Hand, fast wie ein Spielzeug. Ich nahm das Zündhütchen vom Piston und warf sie in eine Ecke des Raums. »Den Banditenüberfall haben Sie überlebt«, sagte ich. »Noch so einen Trick überleben Sie nicht.«
Delmar warf mir einen haßerfüllten Blick zu. Dann öffnete er eine zweite Schublade, entnahm ihr eine Stahlkassette und holte aus dieser meine zehn Goldmünzen heraus. Er schien sich zwingen zu müssen, die Münzen auf den Tisch zu legen. Ich steckte sie mit der linken Hand ein. Sie bedeuteten mir nichts. Auch wenn ich inzwischen die Bedeutung von Geld kannte, fehlte mir jede innere Beziehung dazu. Ich dachte aber auch nicht daran, dem betrügerischen Tyron Delmar etwas zu schenken, was mir gehörte. Die zweihundert Dollar waren mein Eigentum. Das allein zählte. Und wenn es sich um eine Schaufel Dreck gehandelt hätte, ich hätte sie nicht hiergelassen. »Wir gehen jetzt in die Küche«, sagte ich. »Vorwärts.« Delmar schien zu zögern, nickte dann und bewegte sich gehorsam vor mir her. Wir gingen durch den Lagerraum in den Teil des Hauses hinüber, in dem sich die Wohnräume der Familie Delmar befanden. Ich hatte es eilig und stieß Tyron Delmar häufig die Mündung des Revolvers in den Rücken, denn mein Hunger war jetzt so groß, daß ich ihn kaum noch zu ertragen vermochte. Als wir die Küche erreichten, wurden wir mit einem spitzen Schrei aus dem Mund von Mrs. Martha Delmar empfangen, die am Tisch stand und einen Teig knetete. Ireen saß auf einem Stuhl mit einer Schüssel auf den Knien und schälte Kartoffeln. Sie ließ die Schüssel fallen und sprang auf. Die Kartoffeln rollten über den Boden der Küche, das Wasser aus der Schüssel bildete eine große Lache auf den Dielen. »Seien Sie still«, sagte ich und richtete den Revolver auf Martha Delmar. Sie schnappte nach Luft wie ein sterbender Fisch und rang die Hände. »Machen Sie mir was zu essen«, sagte ich. »Aber schnell. Ich habe es eilig.« Sie warf einen Blick auf den Navy-Colt in meiner Faust, dann ging sie zum Küchenschrank, holte Brot heraus und stellte eine Pfanne auf die Ofenplatte, in die sie drei Eier schlug. Sie bewegte sich wie eine an Faden aufgehängte Puppe. »Setzen Sie sich, Mr. Delmar.« Ich deutete mit dem Revolver auf einen Stuhl.
Delmar nahm Platz, als ließe er sich auf rohen Eiern nieder. Auch Ireen setzte sich. Ihr rannen Tränen aus den Augen, aber sie gab keinen Laut von sich. »Sie haben gesagt, daß die Banditen noch in der Stadt sind«, sagte ich zu Delmar. »Ich will mehr darüber wissen.« Er schwieg verbissen. Ich zog den Hammer des Navy-Colts zurück. Das metallische Klicken zauberte Schweißperlen auf Tyron Delmars Stirn. »Sie haben die ganze Nacht gesoffen«, sagte er. »Ohne zu bezahlen. Vorher haben sie die Stadt durchsucht und viele Geschäfte zerschlagen. Die Bank haben sie auch ausgeraubt. Als sie dich nicht gefunden haben, hat Latimer einigen seiner Leute gesagt, sie sollen in der Stadt bleiben. Dann ist er davongeritten. Aber er will zurückkommen. Er hat jedem Bürger, der dich ihm ausliefert, eine Belohnung angeboten.« »Das wäre doch was für Sie«, sagte ich kalt. »Versuchen Sie doch, mich auszuliefern.« Er antwortete nicht, er schwitzte nur ein bißchen mehr und wischte sich mit einer nervösen Handbewegung über die Stirn. Ich sah ihm an, daß er tatsächlich mit dem Gedanken gespielt hatte. Er war nur zu feige, ihn in die Tat umzusetzen. »Ich habe keinen Banditen gesehen«, sagte ich. »Sie wissen also nicht, wo die Kerle stecken?« »Überall in der Stadt«, sagte Delmar. »Es sind ja nur drei oder vier. Vielleicht sitzen sie in einem Saloon.« »Ich hoffe, Sie lügen nicht«, sagte ich. »Warum sollte ich dich belügen. Du siehst das alles ganz falsch, Ronco. Ich wollte immer nur dein Bestes, und das will ich auch jetzt noch.« »Ich bin zutiefst gerührt.« Ich lehnte mich zurück, als Martha Delmar die heiße Pfanne auf den Tisch stellte, mir eine Gabel daneben legte und einen breiten Kanten Brot abschnitt. »Machen Sie mir ein Proviantpaket fertig, während ich esse«, sagte ich. »Brot, kaltes Fleisch, Käse oder so. Und holen Sie eine Feldflasche aus dem Laden. Aber ich warne Sie, schlagen Sie keinen
Krach, wenn Sie allein sind. Denken Sie daran, daß Ihr Mann und Ihre Tochter hier sind.« »Tu, was er sagt, Martha«, sagte Tyron Delmar. »Er hat schon viele Menschen getötet. Ihm kommt es auf uns nicht mehr an.« Ich warf ihm einen scharfen Blick zu, da schwieg er. Dann wechselte ich den Navy-Colt von der rechten in die linke Hand und griff nach der Gabel. Der Duft der Rühreier stieg mir in die Nase, und ausgehungert, wie ich war, konnte ich mich kaum noch beherrschen. Ich gab mir keine Mühe, meine Gier zu unterdrücken. Ich schlang die Eier in mich hinein und aß auch das Brot. Als ich dann nach Kaffee verlangte, beeilte Ireen sich, ihn für mich aufzubrühen. Martha Delmar kehrte mit einer nagelneuen Feldflasche zurück. Sie schaute mich nicht an, und irgendwie schien sie mir verändert. Ich konnte mir nicht erklären, warum. Es war nur ein unbestimmtes Gefühl. Ich beobachtete sie scharf, aber ihr knochiges, schmales Gesicht war undurchdringlich wie eine Maske. Ireen brachte mir den Kaffee. Ich trank und wurde dabei die Unsicherheit, die mich befallen hatte, seit Martha Delmar den Raum wieder betreten hatte, nicht los. Als ich den leeren Becher abstellte, sah ich, daß Martha Delmar mir einen hämischen Blick zuwarf. Ich vermochte nicht, ihn zu deuten, aber er bestärkte mich in meinem Verdacht, daß sie etwas wußte, was mir unter Umständen gefährlich werden konnte. Ich schob den Stuhl zurück und stand auf. Den Revolver auf Tyron Delmar gerichtet, sagte ich: »Kommen Sie mit. Ich möchte nicht, daß man mir in den Rücken schießt.« »Bleib hier!« Martha Delmar stand am Küchenschrank und fuhr herum wie eine zustoßende Natter. »Geh nicht mit ihm mit, Tyron. Er bringt dich um, dieser Wilde.« »Halten Sie den Mund«, sagte ich. »Solange es keinen Ärger gibt, schieße ich nicht. Oder gibt es da draußen etwas, was ich nicht weiß?« »Was soll es denn da draußen geben?« Die Stimme der Frau zitterte etwas. Sie wich meinen Blicken aus. »Verschwinde endlich. Du hast uns genug Unglück gebracht. Wahrscheinlich wirst du am
Galgen enden.« »Wir gehen, Mr. Delmar«, sagte ich. »Geh nicht mit ihm!« Die Stimme der Frau klang jetzt schrill. »Bleib hier. Versprich ihm, daß wir nichts unternehmen, solange er in der Stadt ist.« »Entweder Sie gehen jetzt vor mir her«, sagte ich, »oder ich schieße.« Ich nahm das Proviantpaket, das Martha Delmar mir gepackt hatte, von einer Kommode neben der Tür und hängte die Feldflasche an den Gürtel. Tyron Delmar blickte seine Frau verständnislos an, dann setzte er sich in Bewegung. Ich folgte ihm, aber ich war auf der Hut. Meine Sinne waren bis zum Äußersten gespannt. Hinter mir hörte ich, daß Martha Delmar ihrer Tochter etwas zuflüsterte. Ich konnte es nicht verstehen, überlegte kurz, ob ich noch einmal zurückgehen und fragen sollte, sagte mir aber dann, daß die Frau mich doch nur belügen würde. Ich hielt mich dicht hinter Delmar, preßte ihm die Mündung meines Revolvers in den Rücken und dachte daran, mir sein SharpsGewehr zu holen, um eine Waffe zu haben, die mir vertraut war. Mit Revolvern kannte ich mich nicht so gut aus. Sie waren bei den Apachen selten gewesen. Ich hatte meistens Gewehre in die Hand bekommen. Außerdem waren nur noch fünf Kammern des NavyColts geladen, ein bißchen wenig, wenn ich daran dachte, daß irgendwo in der Stadt Banditen steckten, die nur das Ziel hatten, mich abzuknallen. »Hören Sie zu, Mr. Delmar«, sagte ich. »Wir gehen noch einmal in Ihr Office und holen Ihr Gewehr.« »Mein Gewehr?« Delmar drehte sich um. »Hast du mich nicht schon genug ausgeplündert, du Monstrum? Was bist du nur für ein Kind?« »Ich bin kein Kind mehr, Mr. Delmar, schon lange nicht mehr«, sagte ich. »Ich werde Ihnen das Gewehr bezahlen. Gehen Sie voran. Wir holen die Sharps.« Wir betraten den Lagerraum und steuerten die Office-Tür an. Da sah ich die beiden Männer. Sie saßen auf zwei Kisten mitten im Raum und hielten ihre Revolver in der Hand. Es waren hagere
Männer mit kalten Augen und in abgewetzter Kleidung. Einer hatte eine fast geleerte Flasche neben sich stehen. Jetzt wußte ich, warum mir Martha Delmars Benehmen merkwürdig erschienen war. Sie hatte gewußt, daß die beiden Männer hier waren. Deshalb hatte sie verhindern wollen, daß ihr Mann mich begleitete. »Hallo, Kleiner«, sagte der Kerl, der die Flasche neben sich stehen hatte. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und zerdrückte die Glut auf dem Metallbeschlag der Kiste, auf der er saß. »Wir haben schon gedacht, die Frau hätte nicht den Mund gehalten, und wir müßten dich holen. Aber nun bist du ja da.« Er lachte grimmig, und seine Blicke sagten mir, daß ich für ihn bereits tot war.
12. »Geh zur Seite, Opa«, sagte der Killer zu Delmar. »Ich würd's nicht tun«, sagte ich. »Laßt mich da raus!« schrie Delmar. Seine quäkende Stimme überschlug sich fast. »Was habe ich damit zu tun? Ich will damit nichts zu tun haben. Ich …« »Halt die Schnauze und geh zur Seite!« schrie der Killer. Delmar heulte wie ein getretener Hund und ließ sich zur Seite fallen. Ich warf mich hinter einige Kaffeesäcke. Fast gleichzeitig krachte ein Schuß. Ich spürte den heißen Luftzug der Kugel, dann prallte ich hart am Boden auf. Tyron Delmar schrie noch immer. Er kroch auf allen vieren durch den Lagerraum und brüllte, als sei er bereits von Kugeln durchlöchert. »Gib es auf, Kleiner!« schrie der zweite Bandit. »Du hast keine Chance!« »Der Teufel ist dein Kleiner«, sagte ich. Ich kniete hinter den Kaffeesäcken und feuerte, als sich die Banditen in Deckung bringen wollten. Ich traf den einen von hinten in den rechten Oberschenkel. Er sackte zu Boden und wälzte sich hinter eine Konservenkiste.
Tyron Delmar schrie: »Laßt mich leben! Ich hab doch nichts getan.« Er kroch auf die Verbindungstür zum Laden zu, erhob sich, als er das Schußfeld verlassen hatte, und floh in den zerschlagenen Store. »Ich blute wie ein Schwein, Ned!« rief der Kerl, den ich verwundet hatte. »Wenn ich lange hier liegen muß, kannst du mich einscharren.« »Den Jungen haben wir gleich«, antwortete der andere. »Keine Bange.« Eine Blechdose flog plötzlich durch die Luft. Es war ein uralter Trick, mit dem er mich ablenken wollte. Aber er unterschätzte mich. Ich störte mich nicht an der Dose, die laut scheppernd zu Boden fiel. Ich wartete, bis sich der Mann hinter der Kiste aufrichtete. Dann schoß ich. Ich traf den Killer in die rechte Seite. Sein Revolver ging los, und die Kugel schlug krachend in die Decke. Die Detonation staute sich dröhnend im Raum. Pulverdampf schwebte durch das Magazin. Der Killer wurde vom Aufprall der Kugel einmal um die eigene Achse geschleudert und stürzte gegen vier übereinandergestapelte ZwanzigLiter-Weinfässer. Er riß sie um und blieb zwischen ihnen liegen. Ich sprang auf und stürmte durch den Magazinraum. Der zweite Bandit kauerte am Boden und hatte beide Hände auf seine stark blutende Wunde im rechten Oberschenkel gepreßt. »Schieß nur«, sagte er gepreßt. Seiner Stimme waren die Schmerzen anzuhören, die er ertragen mußte. »Aber es sind noch zwei von uns in der Stadt, und die kriegen dich. Du gelangst nicht weit.« Ich wollte im ersten Moment wirklich schießen, dann ließ ich es. Er hatte seine Waffe verloren und war hilflos. Ich war kein Mörder. Und es war auch nicht so, wie Tyron Delmar annahm, daß mir das Töten Spaß bereitete. Es hat mir nie Spaß bereitet, und ich verfluche noch heute den Tag, an dem alles begann. Ich habe oft töten müssen, viel zu oft, aber immer nur in Notwehr. Und jedesmal danach blieb für lange Zeit ein bitteres Gefühl in mir. So war es damals auch. Ich wandte mich ab und lief hinaus auf den Hof, den Navy-Colt, in dem sich jetzt nur noch drei Ladungen befanden, in der rechten
Hand, das Proviantpaket unter dem linken Arm. Ich gelangte bis zum Tor zur Main Street, als ich die beiden anderen Kerle sah, von denen der verletzte Bandit gesprochen hatte. Sie liefen vom Stadtrand heran. Offenbar hatten sie sich in dem abseits stehenden Haus mit der roten Laterne aufgehalten, von dem ich damals noch nicht wußte, was es war. Vermutlich waren sie von den Schußdetonationen alarmiert worden, genau wie einige neugierige Bürger, die sich aus ihren Häusern getraut hatten, auf den Stepwalks und Vorbauten standen und zum Store herübergafften. Ich blieb stehen und hob den Colt. Da hatten sie mich schon entdeckt. Ein Schuß krachte, eine Handbreit über meinem Kopf grub sich mit häßlichem Laut eine Kugel ins Holz und wirbelte eine kleine Wolke aus Staub und Spänen auf. Holzsplitter trafen mein Gesicht. Ich warf den Kopf herum und verfluchte Silverton und die feigen Bürger, die erst zugeschaut hatten, wie ihr Marshal zusammengeschossen worden war, die mir auf die Schulter geklopft hatten, weil ich einen Banditen getötet hatte, und die nun zuschauten, wie ich ermordet werden sollte. Ich war in ihren Augen immer »der Wilde« geblieben. Vielleicht wetteten sie sogar, ob ich es schaffen würde, oder ob die Banditen mich umbringen würden. In ihren Augen hatte ich wahrscheinlich schon verloren. * Ich lief über den Hof des Stores zum rückwärtigen Zaun. Auch gestern war ich über diesen Zaun entwischt. Ich erklomm ihn. Gerade aber, als ich mich auf der anderen Seite hinunterlassen wollte, traf mich eine rauhe Stimme. »Bleib oben sitzen, Freundchen, oder spring noch besser wieder dahin zurück, wo du hergekommen bist.« Ich wandte den Kopf. Im Hof der Stellmacherwerkstatt stand ein untersetzter, muskulöser Mann mit nacktem Oberkörper und abgewetzter Lederschürze. In der rechten Faust hielt er locker einen riesigen Hammer. »Wir wollen keinen Ärger mit dir«, sagte er. »Wenn du herunterspringst, kriegen Latimers Leute dich als Paket sauber
verpackt geliefert, mit einer roten Schleife dran, und ich kassiere die Prämie, die Latimer ausgesetzt hat, wenn wir dich ausliefern.« Ich musterte ihn. Er meinte es völlig ernst. Ich hätte ihn niederschießen können, aber es war schon zuviel Blut geflossen, und Feinde hatte ich wahrhaft bereits genug. Er schwenkte den Hammer. Ich dachte, er wolle ihn nach mir schleudern. Ich griff nach dem Colt, den ich schräg in den Hosengurt gesteckt hatte. Da wich der Mann zurück und wurde blaß. Ich sprang zurück in den Hof von Delmars Store und lief zum Haus, als ich bereits auf der Straße die Schritte der heranstürmenden Banditen hörte. Ich saß in der Falle. Zum Tor hinaus konnte ich nicht mehr. Der Weg über den Zaun war mir versperrt, und da einer der beiden Kerle, die ich hatte heranlaufen sehen, wahrscheinlich durch den Store ins Haus eindringen und durch das Lager in den Hof kommen würde, war ein Zurück ins Haus ebenfalls unmöglich. Ich saß fest. Es gab keinen Ausweg. Gnadenlos brannte die Sonne des Vormittags in den Hof, der mir auf einmal lächerlich klein erschien – wie eine Gefängniszelle. Er schien zu schrumpfen, schien mir immer weniger Platz zum Ausweichen zu lassen. Sämtliche Winkel, die es gab, schienen plötzlich zu eng zu sein, um mir als Versteck zu dienen. Ich dachte an meine Kammer, dachte an die Nacht, als ich aus dem Fenster gestiegen war, um mich in der Stadt umzusehen. In der Kammer über dem Store würde mich niemand suchen. Der Gedanke war verrückt, aber etwas anderes fiel mir nicht ein. Wenn ich im Hof stehenblieb, war ich verloren. Das war ich wahrscheinlich ohnehin, aber ich wollte wenigstens die Genugtuung haben, nicht kampflos aufgegeben zu haben. Ich wich bis in die hinterste Ecke des Hofes zurück. Hier befand sich der Schuppenanbau, über den ich auf das Dach gelangen konnte. Ich stieg über eine Regentonne auf das Schuppendach, als die beiden Banditen in den Hof stürmten. Der eine kam durch das Tor von der Main Street, der andere, so wie ich vermutet hatte, durch das Haus. Mir blieb gerade noch Zeit, mich flach auf dem geteerten Schuppendach auszustrecken und, zum erstenmal seit Jahren wieder,
zu beten. Die beiden Kerle standen im Hof und machten sich gegenseitig lauthals Vorwürfe, daß ich entwischt sei. Sie liefen schließlich zum rückwärtigen Bretterzaun. Im Hof der Stellmacherwerkstatt stand noch immer der untersetzte Mann mit dem Hammer. Ich hörte, wie er sagte, er habe mich zum Teufel gejagt. Daraufhin durchsuchten die beiden Männer den ganzen Hof. Sie schauten in jede Kiste und jede leere Tonne. Schließlich zogen sie fluchend ins Haus. Ich hatte weiche Knie, als ich mich aufrichtete. Meine Hände und Ärmel waren schwarz vom Teer, der in der Sonnenhitze weich geworden war. Ich kümmerte mich nicht darum, sondern erklomm das Dach und kletterte zu meinem Kammerfenster hoch. Es stand ein Stück offen, und so schlüpfte ich hinein und setzte mich drinnen auf das Bett. Unten hörte ich die Stimmen der Banditen. Die beiden Verletzten schrien nach einem Arzt, und die helle Stimme Tyron Delmars drang durch das ganze Haus. Nach und nach wurde ich ruhiger. Ich war sicher. Während die Banditen das Haus verließen, um die ganze Stadt zu durchsuchen, streckte ich mich auf mein Lager aus und wartete auf den Abend. * Ich stieg aus dem Fenster und kletterte auf das Schuppendach hinunter. Von hier aus sprang ich in den Hof. Hinter den Fenstern war es dunkel, von den Banditen war nichts zu sehen. Ich ging zum Hoftor und spähte auf die nächtliche Main Street von Silverton. Silbern lag das Mondlicht auf der Stadt. Ich schlich hinaus auf den hölzernen Gehsteig und hielt mich im Schatten der Häuser. So gelangte ich unentdeckt zum Stadtrand im Osten. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, ein Pferd zu stehlen. Bei den Apachen galt ein Mann, der viele Pferde gestohlen hatte, als großer Krieger. Ich wußte aber auch, daß in der Welt der Weißen anders darüber gedacht wurde. Außerdem wollte ich weder etwas hierlassen, das mir gehörte, noch etwas mitnehmen, das mir nicht gehörte: Die Stadt widerte mich an. In ihr hatte ich Feigheit kennengelernt und
Gleichgültigkeit, Sensationshunger und Heuchelei, Lüge und Betrug. Mir war klar: Die Brücken zu den Apachen waren abgebrochen, aber in einer Stadt wie Silverton wollte ich nicht leben. Ich trottete zu den Ausläufern der Sierra San Miguel und schaute nicht mehr zurück. Silverton war nur eine Station in meiner neuen Welt gewesen. Ich hoffte damals, als ich im gleichförmigen Wolfstrott durch das Land lief, daß ich es bald besser treffen würde als hier. Aber neben der Hoffnung waren auch Unsicherheit und ein wenig Furcht vor dem unbekannten, Ungewissen Morgen in mir. Meine Zukunft lag in tiefer Finsternis, so wie die Nacht, durch die ich ostwärts lief …
ENDE
Vorschau Ronco stieg die Leiter hoch, das Gewehr in der rechten Hand. Seine Gedanken waren bei Lobo, der schwerverletzt auf dem Heuboden lag. Dreihundertfünfzig Yards entfernt war Monk Cavallo auf ein Knie niedergegangen, stützte den rechten Ellbogen auf das rechte Knie und visierte Roncos Rücken an. Ronco packte die letzte Sprosse. Da spürte er einen gewaltigen Schlag hoch in der linken Schulter und flog nach vorn gegen das rauhe, rissige Holz der Leiter. Der Wind trug den Knall des Schusses heran, aber Ronco hörte ihn kaum. Plötzlich fühlte Ronco sich leicht. Ihm war, als fliege er durch die Luft. Aber dann prallte etwas mit großer Wucht so hart gegen seinen Körper, daß er glaubte, er würde entzweigerissen … Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 166 dieser großen deutschen WesternSerie:
Vorhof zur Hölle