Das menschliche Wrack auf dem gottverlassenen Himmelskörper, der keinen Namen hatte und einfach Plutos Mond genannt wur...
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Das menschliche Wrack auf dem gottverlassenen Himmelskörper, der keinen Namen hatte und einfach Plutos Mond genannt wurde, trank Whisky, Hunderte von Flaschen, seit drei Jahren schon, auf der Suche nach einer ganz bestimmten Flasche. Warum und wieso gerade in dieser Einöde wollte West ergründen; deswegen war er gekommen, aber der Trinker starb, bevor er es ihm sagen konnte. Klarheit suchte West, und die würde er nur in der Forschungsstation auf Pluto finden, wo Wissenschaftler an der Entwicklung eines neuen, die Menschheit verändernden Hormons gearbeitet hatten – streng geheim natürlich –, bis etwas Entsetzliches geschehen war. Grauenhaft hatte jedenfalls die letzte Funkmeldung der Station an die Erde geklungen. Ein Ablenkungsmanöver, ein böser Scherz? Eines jedenfalls war echt, wie West bald erfahren mußte: das Grauen ... FLASCHEN-GEIST von Clifford D. Simak und vier weitere Science-Fiction-Stories.
In der Reihe der Ullstein Bücher Science-Fiction-Stories Band 1 bis Band 44
Ullstein Buch Nr. 3109 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heinz Nagel und Leni Sobez Umschlagillustration: Fawcett/Roehling Alle Rechte vorbehalten Vier Stories aus THE SPACE MAGICIANS Copyright © 1971 by Alden H. Norton und Sam Moskowitz EARTH IN TRANSIT Copyright © 1970 by Arthur C. Clarke Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03109-9
Science-FictionStories 45 von Robert Bloch Robert W. Chambers Isaac Asimov Clifford D. Simak Arthur C. Clarke
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Märchenwelt Robert Bloch .......................................................
6
Der Mann aus der Tiefe Robert W. Chambers .........................................
29
Gleichberechtigung nur für Gleiche Isaac Asimov ......................................................
69
Flaschen-Geist Clifford D. Simak ............................................... 105 Schicksal im Sand Arthur C. Clarke ................................................ 154
Robert Bloch MÄRCHENWELT Früher einmal hatte man sie Zwangsjacken genannt. Ich weiß das, weil ich in den Büchern alles darüber gelesen habe. Ja, in richtigen Büchern, diesen altmodischen Schriften, die man auf Papier druckte und zwischen Leder oder Kartondeckeln band. In ein paar Bibliotheken auf der Erde gibt es sie noch, und ich habe eine Menge davon gelesen. Genauer gesagt: ich besitze selbst eine ganze Sammlung. Das ist ein eigentümliches Hobby, aber es macht mir viel mehr Spaß als das Telekolleg oder Besuche in den Sensies. Demzufolge gebe ich auch zu, daß ich so etwas wie ein Sonderling bin, zumindest wenn man jenen psychiatrischen Fachbüchern glauben will, die ich erwähnte. Das ist die einzig denkbare Erklärung dafür, daß mir das Lesen Spaß macht und daß ich mir so viele nutzlose Dinge merke. Zum Beispiel diese Geschichte mit den Zwangsjakken. Das einzige, was ich davon hatte, war ein seltsames Gefühl, jedesmal, wenn wir bei Aufklärungsflügen wieder Planetenanziehung bekamen. So ging es mir jetzt auch wieder, als Penner schrie: »Paß doch auf, Dale! Leg dein Spielzeug weg und schnall dich an!« Ich legte mein Buch weg und ging an die Luke. Ich spürte bereits das erste Ziehen, obwohl die Neutralisatoren eingeschaltet waren. Ich schnallte mich an, und da hing ich jetzt in meinem Kokon, in meiner Zwangsjacke.
Da hing ich also in unserer eigenen kleinen privaten Irrenanstalt: Scout Nummer 3890-R, Heimathafen 19/1, seit zwei Monaten unterwegs, im Anflug auf Planet 68/5, um Aufklärung zu betreiben. Ehe ich hinausblickte, sah ich mir noch einmal meine Anstaltskollegen an. Penner, kommissarischer Kommandant, war am Steuer angeschnallt; ich konnte nur seinen breiten Rücken und seinen kugelförmigen Kopf sehen, der in starrer Konzentration nach vorne blickte. Swanson, der Co-Astrogator, hing neben ihm, sein Adlerprofil über die Instrumente gebeugt. Little Morse, Techniker, hing zu meiner Linken, und der alte Levy, Schiffsingenieur, zu meiner Rechten. Alle anwesend: Penner, Swanson, Morse, Levy – und ich, George Dale, Dauerleser und Beobachtungsoffizier, nach zwei Monaten in einem fliegenden Irrenhaus in seine Zwangsjacke geschnallt. Zwei Monate sind eine lange Zeit, wenn man immer dasselbe tut. Zwei Monate Aufklärungsflug sind wie eine Ewigkeit. Mit vier anderen Männern in einen einzigen Raum für zwei Monate eingesperrt zu sein, ist alles andere als ein Vergnügen, und unsere Zwangsjacken schienen daher äußerst passend. Nicht daß irgendeiner von uns wirklich verrückt gewesen wäre; wir alle hatten schon eine ganze Anzahl ähnlicher Missionen geflogen und bis jetzt überlebt. Aber die schiere Monotonie hatte uns aufgerieben. Ich nehme an, aus diesem Grund hat man uns auch die zusätzlichen sieben Pfund pro Mann gestattet – Luxuszulage hieß das. Aber die sogenannten Luxusgegenstände erweisen sich am Ende als bitter nötig. Swanson nahm sich gewöhnlich Genußmittel mit:
Schokolade und dergleichen. Schokoladekapseln hielten ihn bei Verstand. Morse und Levy verlegten sich auf Spiele – Karten, Würfel, Superschach und die nötigen Bretter dazu. Penner bestand erstaunlicherweise darauf, auf altmodisches Papier Skizzen zu malen. Und ich hatte meine eigene Angewohnheit; ich schaffte es jedesmal, drei oder vier Bücher mitzunehmen. Ich glaube immer noch, daß meine Wahl die beste war. Schokolade, Freihandskizzen und die Freuden der Karten und Würfel verloren schnell die Anziehungskraft auf meine vier Begleiter. Aber die Bücher bewahrten mein Interesse. Vielleicht kam es daher, daß ich als Kind und nicht als Erwachsener Lesen gelernt hatte – vielleicht lag es auch daran, daß mir mein Hobby eine perverse Befriedigung bereitete. Natürlich lachten mich die anderen aus. Natürlich gingen wir einander auf die Nerven, stritten, brausten auf. Aber jetzt, als wir ruhig in unseren Zwangsjakken hingen und spürten, wie der Einfluß der Schwerkraft zunahm, kehrte so etwas wie Vernunft zurück. Und damit auch die Vorfreude und die Erwartung. Wir näherten uns dem Planeten 68/5. Neue Welten besiegen? Nicht gerade. Es war zwar eine neue Welt, und darin lag die Erwartung. Aber unsere Aufgabe war es nicht, zu erobern; wir vom Aufklärungsdienst beobachteten nur und registrierten. Oder, besser gesagt, unsere Instrumente registrierten. Im Augenblick flogen wir mit Autopilot, etwa achthundert Kilometer über der Oberfläche des Planeten. 68/5 war klein und von Wolken eingehüllt; der Planet besaß offenbar ebenso wie die anderen Planeten
dieses Sonnensystems eine Atmosphäre. Wir rückten näher und spähten durch unsere Bildschirme auf eine stumpfe, ebene Oberfläche, die mit immer größer werdender Geschwindigkeit auf uns zuzurasen schien. »Ziemlich alt«, knurrte Morse. »Keine Berge und auch kein Wasser – ausgetrocknet, vermute ich.« »Kein Leben.« Das kam vom alten Levy. »Beruhigt mich.« Levy war das, was die Bücher einen Misanthropen genannt hätten. Obwohl das Mis sich bei ihm nicht auf die Anthropen beschränkte. Er schien eine angeborene Aversion gegenüber allem, das nicht rein mechanischer Natur war, zu haben – ich weiß auch nicht, warum er sich nicht ganz auf die Robotik verlegte. Unser Flug wurde schneller. Achtzig Kilometer, sechzig, vierzig. Ich sah Swanson Vorbereitungen treffen, den Robotscout abzuschießen. Penner gab das Signal, als er das Schiff zur Planetenoberfläche senkrecht stellte. Der Robotscout glitt davon, von Swanson über den Bildschirm gesteuert. Er trieb hinab, immer weiter in die Tiefe. Wir folgten ihm langsam, sanken durch die Wolkenschicht und blieben dicht hinter der Sonde. »Treffer!« rief Swanson. »Mitten ins Schwarze.« Wir warteten, während der Robotscout seine Arbeit tat. Er war unser Star-Reporter, unser Fotograf, unser offizieller Meteorologe, unser Geologe, unser Experte für Anthropologie und Mineralogie, unser Fremdenführer und, was häufig das Wichtigste war, unser Lockvogel. Wenn es auf einem Planeten Leben gab, so lockte die Landung des Robotscouts es normalerweise hervor. Wenn es auf einem Planeten den Tod gab, fand
ihn der Robotscout für uns. Und die ganze Zeit registrierte er. In gewisser Weise war er eine vollständige Expedition in einer Kapsel, ein nichtmenschlicher Abgesandter, ohne die menschliche Fähigkeit, sich zu irren oder Angst zu empfinden. Jetzt trat er in Aktion, kreuzte über der Oberfläche des Planeten, von Swansons geschickter Hand gesteuert. Wir warteten geduldig, dann ungeduldig. Eine Stunde verstrich, zwei Stunden. »Hol ihn zurück!« befahl Penner. Swansons Finger bewegten sich, und der Robotscout tauchte wieder auf. Penner schaltete die Aggregate auf Schwebeflug. »Alles losschnallen«, sagte er. »Sehen wir nach!« Wir gingen über die Rampe ins untere Deck, und Swanson öffnete den Scout. Die Fotos waren fertig, die Magnetbänder aufgespult. Die nächste Stunde waren wir voll beschäftigt. Anschließend hatten wir alle vorläufigen Daten über Planet 68/5. Sauerstoffgehalt hoch. Schwerkraft erdähnlich – wie es in diesem speziellen Sektor und diesem Sonnensystem die Regel zu sein schien. Keinerlei Lebewesen zu sehen. Aber einst hatte hier Leben existiert, und zwar Leben hohen Grades. Das bewiesen die Fotos. Eine ganze Menge Stadtruinen. Und der Planet war alt. Daran bestand kein Zweifel. Morse hatte recht gehabt; die Berge waren zu Staub abgetragen, und der Staub ließ keinerlei pflanzliches Leben zu. Eigenartig, daß der Sauerstoffgehalt noch so hoch war. Ich hätte vermutet, daß mehr Kohlenstoff – »So, zur Sache bitte«, sagte Penner. »Nach den Schwerkraftanzeigen brauchen wir weder Schwebe-
flug, noch brauchen wir uns anzuschnallen. Ebenso gut können wir sofort landen. Der Tag hat hier 20,1 Stunden – unser Computer sagt, daß wir mit noch fünf Stunden Tageslicht rechnen können. Also dürfen wir uns alle umsehen.« Wir gingen wieder hinauf auf unsere Plätze, und Swanson landete. Es war nur ein toter Planet, eine Staubwüste ohne Bäume, ohne Gras, ohne Wasser; eine flache, schieferfarbene Fläche, auf der alles dasselbe, dasselbe, dasselbe war. Aber sie war massiv; man konnte die Füße darauf setzen, man konnte kilometerweit über den Sand gehen und spüren, wie einem die Luft ins Gesicht wehte. Und es gab Ruinen zu erforschen. Das würde interessant sein. Wenigstens war es einmal etwas anderes. Ich konnte spüren, wie die Spannung, wie die Erregung wuchs; das war etwas ebenso Greifbares wie der kurze Schock und das Vibrieren bei der Landung. Wir drängten uns zur Schleuse, zogen unsere Anzüge aus und die Plastikkombinationen an, schnallten unsere Geräte und unsere Waffen um, wie die Dienstanweisung es verlangte. Morse gab uns unsere Geräte, und wir betätigten Reißverschlüsse und Schnallen und überprüften alles voll ungeduldiger Hast. Selbst Penner war erregt, vergaß aber nicht, seinen Skizzenblock mitzunehmen, ehe sich die Schleuse öffnete. Normalerweise hätte er vermutlich darauf bestanden, eine Wache an Bord zu lassen, aber da es hier kein Leben gab, war das wirklich nicht erforderlich. Und nach zwei Monaten im Weltraum wollten alle hinaus.
Die Schleuse öffnete sich. Die Leiter fuhr aus. Wir atmeten tief ein und wandten unsere Gesichter der Wärme der fernen orangeroten Sonne zu. »In einer Reihe – und bleibt beieinander!« warnte uns Penner. Es ist wie am letzten Schultag, die Glocke klingelt zum letzten Mal, und die Jungen rennen hinaus auf den Spielplatz. Also warnt sie der Lehrer: »In einer Reihe – bleibt beieinander!« Und was passiert? Genau das, was jetzt passierte. Im nächsten Augenblick rannten wir über den weichen Sand, grinsten, lachten, warfen das feine Zeug mit den Händen in die saubere, trockene Luft. Wir rannten auf unseren nagelneuen Beinen über die nagelneue Welt. Wir rannten in die Richtung, die wir unwillkürlich als Westen bezeichneten – weil die orangerote Sonne dort hing und wir uns ebenso natürlich der Sonne zuwandten wie Blumen, die man aus einem Treibhaus ins Freie verpflanzt hat. Vergnügt und voll Freude rannten wir, denn das waren Ferien, das war ein Picknick, das war die Entlassung aus der Irrenanstalt, alles auf einmal. Das Lächeln auf den Gesichtern meiner Begleiter sprach von Euphorie. Alles war gut: der Sand unter unseren Füßen, das Auf und Ab unserer Beine bei den langen Schritten, die mahlende Bewegung der Hüften, das Schwingen der Arme, das Sichheben und -senken der Brust, das gierige Atmen der Lungen, die Vergeudung beim Ausatmen, die Augen, die in die Ferne blickten, in die weite, weite Ferne. Ja, es war schön, hier zu sein, schön zu leben, schön, frei zu sein. Einmal mehr maßen wir die Minuten nach unseren Bewegungen und nicht nach abstrakten Zeitbegriffen.
Einmal mehr erlebten wir unsere Existenz bewußt, mühten uns darum, eben das zu tun, anstatt unsere Sinne abzustumpfen, um das Leben erträglicher zu machen. Mir schien, als wäre ich mir noch nie so völlig lebendig vorgekommen, aber ich irrte. Ich irrte, weil ich die Verdunkelung nicht bemerkte. Keiner von uns bemerkte sie: selbst jetzt kann ich noch nicht einmal anfangen, sie zu begreifen. Ich weiß nicht was geschah. Es passierte einfach – Verdunkelung. Blackout. Ehe es geschah, eilten wir der Sonne entgegen – Penner, Swanson und Morse etwas voran, Levy und ich ein oder zwei Schritte dahinter, und alle rannten wir eine sanfte Sanddüne hinauf. Und dann, ohne jeden Übergang, schritten wir im Dunkeln – Penner, Swanson, Morse, Levy und ich in einer dichtgedrängten Gruppe, trotteten in ein Tal hinunter. »Was ist passiert?« »Sonnenfinsternis?« »Wo ist die Sonne?« »Wo sind wir?« »Wie lange gehen wir denn schon? Mir ist, als wäre ich weg gewesen!« Wir blieben stehen, redeten miteinander. »Hier stimmt etwas nicht. Wir kehren um. Holt die Strahler heraus«, befahl Penner schnell. Wir nahmen die Strahler, schalteten sie auf schwache Leistung, legten Lichtkegel vor uns. Nichts war zu sehen außer schiefergrauem Sand. Nur Swansons Teleskop lenkte uns zurück. Wir gingen schnell durch die purpurne Nacht. Ein Nebel hüllte die Sterne ein;
ein Nebel verhüllte unsere Erinnerung. Und dann fingen wir an, das Erlebte zu vergleichen, bemerkten zum erstenmal, daß das Phänomen uns alle gleichzeitig erfaßt hatte. Gas, Schock, Zeitverschiebung – wir argumentierten stundenlang über die Ursache, und die ganze Zeit marschierten wir vorsichtig kleine Hügel oder Dünen hinauf und dann wieder in kleine Täler zwischen den Dünen hinunter. Und müde waren wir. Die lange vernachlässigten Muskeln schmerzten, unser Herz pumpte, unsere Füße bekamen Blasen. Und immer noch marschierten wir. Ich hatte Hunger und Durst; und was noch wichtiger war, ich war verstört und hatte etwas Angst. Ich begriff nicht, was geschehen war – wie konnten wir alle einfach weitergehen, ohne etwas zu bemerken? Wie hatten wir beinahe vier Stunden verlieren können? Und was hatte das Ganze zu bedeuten? Im Augenblick bestand keine Gefahr, daß wir uns verliefen, und es wurde immer offenkundiger, daß dieser Planet keinerlei Leben enthielt, weder feindseliges noch anderes. Aber warum dieser Blackout? Das verblüffte mich, verblüffte uns alle. Swanson hatte die Spitze übernommen. Sein Adlerprofil ragte plötzlich im Lichtkegel meines Strahlers auf. Er drehte sich herum und schrie: »Ich sehe jetzt das Schiff!« Wir mühten uns den Abhang hinauf und traten neben ihn. Ja, das war das Schiff, sicher, warm und gemütlich, und das Abenteuer war vorüber. Aber – war es das? »Da, seht hinunter!« Levy drehte seinen Strahler nach links. »Wir müssen das auf dem Herweg gar
nicht gesehen haben.« Fünf Lichtkegel suchten, tasteten, vereinigten sich, deuteten wie ein einziger. Fünf Lichtkegel überfluteten die Gegenstände die aus dem Sand aufstiegen. Und dann rannten wir alle gemeinsam auf die Ruinen zu. Unmittelbar bevor wir sie erreichten rief Penner: »Halt!« »Was stimmt denn nicht?« fragte ich. »Gar nichts – vielleicht. Aber das kann man nie wissen. Dieser Blackout stört mich.« Penner legte mir die Hand auf die Schulter. »Hör zu, Dale, ich möchte, daß du und Morse zum Schiff zurückgeht und wartet. Wir drei gehen zu den Ruinen. Aber ich möchte, daß die ganze Zeit wenigstens zwei Männer im Schiff sind, falls es Schwierigkeiten gibt. Macht schon; wir gehen erst weiter, wenn wir sehen, daß ihr an Bord seid. Gebt uns ein Lichtsignal, damit wir wissen, daß alles in Ordnung ist, wenn ihr hinkommt.« Morse und ich trotteten davon. »Typisch«, murrte Little Morse halblaut und fuchtelte verärgert mit seinem Strahler herum. »Da rennen wir stundenlang im Sand herum, und wenn wir endlich etwas finden, müssen wir zum Schiff zurück. Puh!« »Aber er hat recht«, antwortete ich. »Man muß vorsichtig sein. Und außerdem können wir etwas essen und uns die Schuhe ausziehen.« »Aber ich möchte diese Ruinen sehen. Ich hab meiner Freundin ein paar Souvenirs versprochen –« »Morgen kommen wahrscheinlich wir dran«, tröstete ich ihn. Er zuckte die Achseln und trottete weiter. Wir erreichten das Schiff, gingen an Bord und sa-
hen uns schnell um. Alles in Ordnung. Morse trat an das Instrumentenpult und drückte auf den Scheinwerferknopf. Dann setzten wir uns an den Bildschirm und starrten hinaus. Auf diese Entfernung konnten wir nur undeutliche purpurne Umrisse sehen, in denen sich drei Strahler bewegten. Ich öffnete ein paar Konserven, und wir aßen, immer noch bemüht, draußen etwas zu sehen. Die Lichter bewegten sich zuerst einzeln und wuchsen dann zu einem einzigen Licht zusammen. »Die müssen etwas gefunden haben«, meinte Morse. »Ich möchte nur wissen was?« »Das werden wir bald genug erfahren«, prophezeite ich. Aber sie kamen nicht zurück, und sie kamen nicht zurück – und wir saßen stundenlang da und warteten. Schließlich bewegten sich die Lichtstrahlen auf uns zu. Wir warteten, während Penner, Swanson und Levy an Bord gingen. Ein erregtes Stimmengewirr löste sich in Worte auf, und dann wurden Sätze aus den Worten. »So etwas wie die habe ich noch nie gesehen –« »Kleiner als Zwerge; unmöglich, aber ich würde wetten, daß es Menschen waren.« »Ich kapiere nur nicht, wie die verschwunden sein können, gerade als hätte sie jemand mit einem Netz weggefangen.« »Ich bin ganz sicher, daß das nicht ihre Stadt war. Zuerst einmal ist sie uralt, und zum zweiten ist sie überhaupt nicht auf ihre Größenverhältnisse abgestimmt –«
»Meint ihr, wir haben uns das Ganze bloß eingebildet? Dieser Blackout war schon komisch genug. Und dann, sie so zu sehen –« Ich hob meine Stimme. »Was soll das alles? Was habt ihr denn gefunden?« Als Antwort hörte ich bloß ein undurchdringliches Stimmengewirr, bis Penner sich Ruhe verschaffte. »Da, mach dir selber deinen Reim drauf, Dale«, sagte er. Er holte seinen Skizzenblock heraus und fing schnell zu zeichnen an. Dabei redete er unentwegt. Seine Skizzen und sein Bericht entwickelten sich beinahe gleichzeitig. Er reichte mir das erste Blatt. »Ruinen«, sagte er. »Ruinen einer Stadt. Wir haben in Wirklichkeit nur die Dächer gesehen, aber die reichen schon, um einem einen Eindruck von der Größe des Ganzen zu vermitteln. Alles aus massivem Stein gebaut. Eine Menge breiter, ebener Oberflächen. Und da ist eine Skizze von mir, wie ich zwischen zwei Dächern stehe. Wahrscheinlich war einmal eine Straße dazwischen. Was hältst du davon?« Ich studierte seine Skizze; sie war grob, aber man konnte sich etwas darunter vorstellen. »Sie müssen menschenähnlich gewesen sein«, sagte ich. »Wenn wir in der architektonischen Repräsentation Funktionalismus erkennen wollen –« »Red nicht so geschwollen«, unterbrach mich Penner. »Schau doch, wie breit diese Straße ist. Würdest du sagen, daß die Bewohner groß oder klein waren?« »Groß natürlich.« Ich sah mir die Skizze noch einmal an. »Die müssen viel größer gewesen sein als wir. Vielleicht zwei oder zweieinhalb Meter, wenn die Proportionen wie bei uns waren. Aber das ist natür-
lich nur eine Vermutung.« »Gut. Dann haben wir die Steine mit den Geigerzählern abgesucht. Levy sagt, die seien vierzehntausend Jahre alt.« »Mindestens«, unterbrach ihn Levy. »Wahrscheinlich noch älter.« Wieder skizzierte Penner. Er reichte mir das zweite Blatt. »Das haben wir gefunden, als wir zwischen den Ruinen herum streiften«, sagte er. »Ich habe zwei von ihnen gezeichnet, wie sie neben mir stehen, aber es müssen Hunderte gewesen sein.« Ich sah hin. Da stand Penner und – zu seinen Füßen – zwei winzige menschenähnliche Wesen. »Du hast diese Geschöpfe wirklich gesehen?« »Natürlich. Wir alle haben sie gesehen. Daran ist kein Zweifel. Gerade noch kletterten wir zwischen den Steinen herum, da tauchten sie auf. Einfach so, aus dem Nichts könnte man sagen. Und nicht ein oder zwei, sondern Hunderte.« Er drehte sich herum. »Stimmt's, Swanson?« »Stimmt.« Wieder sah ich die Skizze an. Penner hatte einen Blick für Einzelheiten. Besonders beeindruckte mich die Kleidung der Geschöpfe. »Das sieht aus wie alte Kleidungsstücke von der Erde«, sagte ich. »Die tragen kleine gepanzerte Brustplatten und Helme. Und Speere haben sie auch.« »Genauso sahen sie aus«, bestätigte Levy. »Einige von ihnen hatten diese – wie nannte man das – Pfeil und Bogen.« Penner sah mich an. »Hast du eine Theorie, Dale?« »Nein, aber langsam kommt mir eine. Diese kleinen
Wesen haben niemals die Stadt gebaut. Sie leben auch jetzt nicht in den Ruinen. Sie können unmöglich irdische Kleidungsstücke wie diese hier tragen. Sie tauchten plötzlich auf, sagt ihr, und verschwanden ebenso plötzlich.« »Wenn man dich so reden hört, klingt es albern«, räumte Penner ein. »Ja. Es sei denn, man akzeptiert eine Theorie.« »Und die wäre?« »Daß es sie nicht gibt. Daß es sie nie gegeben hat, bloß in eurer Fantasie.« »Aber wir haben sie alle gesehen. Sie gesehen und sie gehört!« »Vor ein paar Stunden haben wir alle einen Blackout erlebt«, erinnerte ich. »Und ich fange an zu glauben, daß das alles zusammenpaßt. Angenommen, 68/5 ist gar nicht unbewohnt, angenommen, es gibt hier Leben.« »Unmöglich«, unterbrach mich Swanson. »Die Aufzeichnungen des Robotscouts sind zuverlässig. Jede Spur von Leben wäre entdeckt und aufgezeichnet worden. Das weißt du genau.« »Und dennoch. Nimm einmal an, daß es keine Spuren gab«, antwortete ich. »Nimm einmal an, wir hätten es mit einer körperlosen Intelligenz zu tun –« »Absurd!« Das kam von Penner. »Nicht absurder als die Geschichte, die ihr mir erzählt habt. Nehmt einmal an, diese körperlose Intelligenz könnte uns geistig beeinflussen. Sie könnte uns bewußtlos gemacht und uns hypnotisch beeinflußt haben. Kurz darauf habt ihr kleine Männer gesehen –« »Nein. Das paßt nicht zusammen«, wandte Levy ein. »Da ist eine Lücke.« Er deutete auf die zweite
Skizze. »Wie würde denn dein Intelligenzwesen über solche irdischen Kleidungsstücke wie diese hier Bescheid wissen? Ich bin sicher, daß keiner von uns über solche antike Sachen etwas wußte. Du bist hier der Bücherwurm –« »Bücherwurm?« Ich hielt inne. »Augenblick mal. Ihr sagt, diese Geschöpfe hätten mit euch gesprochen?« »Stimmt«, antwortete Penner. »Könnt ihr euch erinnern, was sie gesagt haben?« »Ich glaube schon. Die hatten kleine schrille Stimmen und schrien einander an. Es klang so ähnlich wie Hekinah dugul und Langro dehul san.« »Einer hat auf dich gedeutet und die ganze Zeit Hurgo gesagt. Immer wieder«, erinnerte ihn Swanson. »Hurgo«, wiederholte ich. »Augenblick mal.« Ich trat an mein Regal und nahm eines meiner Bücher. »Schaut euch das an«, sagte ich. »Diese Ausgabe ist natürlich nicht bebildert, aber lest einmal diese Seite.« Penner las langsam laut vor, während die anderen sich um ihn drängten. Dann hob er den Kopf, furchte die Stirn. »Das sind unsere Geschöpfe«, sagte er. »Was ist das für ein Buch?« Ich klappte die Titelseite auf und las: »Gullivers Reisen von Jonathan Swift, veröffentlicht 1727.« »Nein!« sagte Penner. Ich zuckte die Achseln. »Es steht alles in dem Buch«, erklärte ich ihm. »Beschreibungen, Wörter, Sätze. Irgendein intelligentes Wesen dort draußen hat versucht, unsere Gedanken zu lesen und das ist ihm – denke ich – nicht gelungen. Also las es statt dessen das Buch und hat Ausschnitte davon reproduziert.« »Aber was für eine intelligente Macht könnte denn
hier existieren? Und wie kann sie das Buch lesen? Und warum hat es gerade die –« Penner hielt inne und suchte nach dem Wort, das ich ihm lieferte. »Liliputaner.« »Ja, die Liliputaner geschaffen?« Ich kannte die Antwort auch nicht. Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte nur ein Gefühl, und das drückte ich in einem einzigen kurzen Satz aus. »Verschwinden wir.« Penner schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Das weißt du doch. Wir sind hier auf etwas gestoßen, das es bisher noch nie gegeben hat, und unsere Aufgabe ist es, es gründlich zu untersuchen. Wer weiß, was wir hier alles erfahren können? Ich sage, wir ruhen uns etwas aus und sehen uns das morgen noch einmal an.« Zustimmendes Murmeln ertönte. Ich hatte nichts zu sagen also hielt ich den Mund. Swanson, Morse und Levy suchten ihre Pritschen auf. Ich wollte zu meiner gehen als Penner mir auf die Schulter tippte. »Übrigens, Dale, kann ich dieses Buch mal haben? Ich möchte etwas über diese Geschöpfe lesen – das könnte uns morgen nützen.« Ich gab ihm das Buch, und er ging nach vorn. Dann legte ich mich hin und bereitete mich auf den Schlaf vor. Ehe ich die Augen schloß, sah ich noch einmal auf den nächsten Bildschirm. Der Planet war finster und tot. Draußen war nichts – nichts als Sand, Ruinen und Einsamkeit. Und etwas, das Liliputaner erschuf, etwas, das las, um zu lernen, das lernte, um zu planen, und das plante, um zu handeln – In dieser Nacht fand ich nicht viel Schlaf.
Am nächsten Morgen, als Swanson uns weckte, hing die Sonne zitronenfarben am Himmel. »Kommt«, sagte er. »Penner sagt, wir gehen wieder hinaus. Zwei von uns bleiben im Schiff, aber wir wechseln uns ab. Morse und Dale, ihr könnt euch fertigmachen.« »Befehl?« fragte ich. »Nein. Ich glaube nicht. Es ist nur, daß ihr jetzt eigentlich dran wärt, die Ruinen zu sehen.« Ich blickte ihn an. »Ich will die Ruinen nicht sehen. Und mein Rat ist, daß wir alle im Schiff bleiben und sofort starten.« »Was gibt's denn?« Penner tauchte plötzlich hinter Swanson auf. »Er will nicht hinaus«, sagte Swanson. »Er meint, wir sollten abfliegen.« Er lächelte Penner zu, und sein Lächeln sagte: Feigling! Penner grinste mir zu, und sein Grinsen sagte: Verrückt. Ich verzichtete darauf, mein Gesicht reden zu lassen. Die Lage war sehr ernst. »Hört zu«, fing ich an, »ich habe den größten Teil der Nacht wach gelegen und nachgedacht. Ich habe da ein Gefühl ...« »Heraus damit«, Penner war zwar höflich, sagte aber über die Schulter gewandt: »Inzwischen könnt ihr euch anziehen.« »Dieses Intelligenzwesen, von dem wir gestern nacht sprachen – wir waren uns alle darüber einig, daß es existieren muß. Aber man kann es weder messen noch lokalisieren.« »Das wollten wir heute morgen versuchen«, sagte Penner.
»Ich rate davon ab.« »Nur weiter.« »Wir wollen einmal einen Augenblick über Intelligenz nachdenken. Habt ihr je versucht, sie zu definieren? Ziemlich schwierig. Wir alle wissen, daß es Hunderte von Welten gibt die keine Intelligenz, wohl aber Leben enthalten. Leben und Intelligenz sind also voneinander unabhängig.« »Was soll das werden, ein Vortrag?« fragte Morse. »Nein, das sind nur meine eigenen Vorstellungen. Und eine meiner Vorstellungen ist, daß das, was wir Intelligenz nennen, ein zufälliges Element ist, das spontan unter gewissen Bedingungen sich entwickelt, ebenso wie das Leben selbst. Für die Existenz einer Welt ist Intelligenz nicht erforderlich – sie ist etwas Fremdartiges, ein Parasit, ein fremdes Gewächs. Normalerweise benutzt es Gehirnzellen als Wirt. Aber nehmt einmal an, es könnte sich bis zu einem Punkt entwickeln, wo es sich nicht mehr auf Gehirnzellen zu beschränken braucht.« »Nun gut, was dann?« fragte Penner. »Nehmt einmal an, das Leben auf einem Planeten stirbt aus und die Intelligenz schafft es zu überleben. Nehmt einmal an sie könnte sich in etwas anderem als in der Gehirnmasse aufhalten? Nehmt einmal an, der höchste Punkt der Entwicklung wäre erreicht – der Punkt, an dem der Planet selbst der Wirt der Intelligenz wird?« »Willst du damit sagen, daß 68/5 denken kann?« »Das wäre eine Überlegung wert. Vergeßt nicht, wenn die Intelligenz sich mit den Gehirnzellen verbindet, identifiziert sie sich mit ihrem Wirt und versucht in jeder Weise, ihrem Wirt beim Überleben zu
helfen. Nehmt jetzt an, sie würde sich am Ende mit dem Planeten verbinden – nach dem Tode allen Lebens – und würde versuchen, dem Planeten beim Überleben zu helfen?« »Denkende Planeten! Jetzt reicht's aber!« Das kam von Swanson. »Dale, du hast zu viele Bücher gelesen.« »Mag sein. Aber überleg doch, was geschehen ist. Wir können hier keine Lebensformen entdecken. Trotzdem erleben wir alle diesen Blackout. Und etwas erschafft aus seiner Fantasie und aus dem, was es aus dem Buch gelernt hat, ein Duplikat von Gullivers Reisen. Ihr müßt euch das wie eine kombinierte Anzahl von Intelligenzen vorstellen, die sich zu einem einheitlichen Wesen verbunden haben, das seinen Sitz in der Masse dieser Welt hat. Stellt euch doch die ungeheure Macht vor, die ein solches Wesen besitzen muß, und dann denkt an seine Motive. Wir sind Außenseiter, wir könnten feindlich gesinnt sein, man muß uns unter Kontrolle halten oder vernichten. Und das ist es, was dieser Planet zu tun versucht. Er kann unsere Gedanken nicht lesen, aber er kann meine Bücher lesen. Und seine kombinierte Willenskraft reicht aus, Fantasiebegriffe zu Materie werden zu lassen, in dem Bemühen, uns zu vernichten. Zuerst kamen Liliputaner mit Pfeil und Bogen und kleinen Speeren. Die Intelligenz erkannte, daß diese Liliputaner uns nichts anhaben können, also versucht sie vielleicht etwas anderes. Etwas wie –« Penner schnitt mir mit einer Geste das Wort ab. »Schon gut, Dale. Du brauchst nicht mitzukommen, wenn du nicht willst.« Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich sah mich im Kreise um. Die Männer hatten
ihre Anzüge an. Niemand sah mich an. Und dann meldete sich überraschend Levy zu Wort. »Vielleicht hat er recht«, sagte er. »Es muß noch jemand hier bleiben. Ich glaube, ich leiste Dale Gesellschaft.« Ich lächelte ihm zu. Er kam herüber und zog seinen Anzug aus. Die anderen sagten nichts, sondern gingen zur Schleuse. »Wir beobachten euch über die Bildschirme«, sagte Levy. Penner nickte bloß und verschwand dann wortlos mit den anderen. Minuten später sahen wir, wie sie sich den Abhang hinaufmühten, der zu den Ruinen führte. Im klaren Licht waren die Ruinen jetzt teilweise sichtbar. Obwohl nur die Dächer vom Sand frei waren, wirkten sie gigantisch und imposant. Eine uralte Rasse hatte hier gewohnt. Und jetzt war eine neue Rasse gekommen. So war das Leben. Oder der Tod – »Was beunruhigt dich denn?« fragte Levy. »Lauf doch nicht so nervös auf und ab.« »Mir gefällt das nicht«, sagte ich. »Es wird etwas geschehen. Du hast mir geglaubt, sonst wärst du nicht hiergeblieben.« »Penner ist ein Narr«, sagte Levy. »Weißt du, es gab einmal eine Zeit, da habe ich auch ein paar Bücher gelesen.« »Es war einmal!« Ich stand auf. »Fast hätte ich etwas vergessen.« »Wo gehst du hin?« »Ich hole meine anderen zwei Bücher«, sagte ich. »Daran hätte ich denken müssen.« »An was hättest du denken müssen?« Levy redete
zwar mit mir, beobachtete aber die anderen auf dem Bildschirm. »Wenn es ein Buch gelesen hat, kann es die anderen auch lesen«, sagte ich. »Ich muß sie sofort beseitigen.« »Welche zwei anderen Bücher hast du denn?« fragte Levy aber ich gab ihm keine Antwort, denn in diesem Augenblick veränderte sich seine Stimme, wurde laut und schrill, und er sagte: »Dale, schnell, komm her!« Ich starrte auf den Bildschirm. Ich drehte an der Feinabstimmung, und das Bild rückte näher. Ich konnte Penner und Swanson und Morse sehen, als stünden sie neben mir. Sie hatten gerade den höchsten Punkt des Hanges erreicht, und vor ihnen ragten die Ruinen der zyklopischen Stadt auf. Zyklopisch. Das Wort kam, der Begriff kam, und dann die Wirklichkeit. Der erste Riese ragte hinter den Felsen auf. Er war zehn Meter hoch, und sein einziges Auge auf der Stirn loderte wie der Scheinwerfer eines Leuchtturms. Sie sahen ihn und wandten sich zur Flucht. Penner zerrte an seiner Hüfte, versuchte den Strahler zu ziehen, zu feuern, aber jetzt war keine Zeit mehr, denn die Riesen umringten sie von allen Seiten – die einäugigen Riesen aus der griechischen Sagenwelt. Die Riesen lachten, und ihr Gelächter erschütterte den Planeten und sie rissen mächtige Felsbrocken aus den Ruinen und schleuderten sie auf die Männer, z erdrückten sie. Und dann stapften sie zu den zerfetzten Leichen und begannen zu fressen, und ihre langen Krallen zerfetzten die Leiber, ebenso wie ich jetzt die Seiten aus dem Buch riß, das ich in der Hand hielt.
»Zyklopen«, flüsterte Levy. »Die Odyssee, nicht wahr?« Die Fetzen des zweiten Buches fielen mir aus der Hand. Ich wandte mich ab. Levy arbeitete bereits an den Instrumenten. »Wir sind nur zwei«, sagte er. »Aber wir können es schaffen. Der Autopilot wird den Start schon bewältigen. Ich bin ziemlich sicher, daß wir es schaffen werden. Du nicht auch, Dale?« »Ja«, sagte ich. Aber eigentlich war es mir gleichgültig. Der Boden begann zu zittern. In höchstens einer Minute würden wir starten. »Komm, Dale, schnall dich an! Ich übernehme das Steuer. Du weißt doch, was du zu tun hast.« Ich wußte, was ich zu tun hatte. Levys Gesicht zuckte. »Was ist denn? Ist es das dritte Buch? Wirst du das dritte Buch auch zerfetzen?« »Nicht nötig. Das dritte ist harmlos«, sagte ich. »Hier, ich zeig's dir.« »Was ist es denn?« wollte er wissen. Ich trat zum letzten Mal an den Bildschirm, und er folgte mir. Ich betätigte die Feinabstimmung ganz sorgfältig. »Schau«, sagte ich. Wir starrten über die leere Ebene hinaus, die Ebene, die kein Leben mehr enthielt, weil sie selbst das Leben dieses Planeten geworden war. Die Zyklopen waren verschwunden, und das, was von Penner, Swanson und Morse übrig war, lag zwischen den träumenden Ruinen unter einer orangeroten Sonne. Irgendwo, irgendwie blätterte der Leser eine Seite um – »Das dritte Buch«, flüsterte ich.
Er huschte hinter einem der Steine hervor, rannte schnell auf winzigen Beinchen dahin. Der Bildschirm brachte ihn so nahe, daß ich seine Schnurrbarthaare sehen, daß ich das Muster seiner karierten Weste erkennen konnte, die Ziffern auf der Uhr, die er aus der Westentasche holte. Ehe ich mich abwandte, bildete ich mir ein, ihm von den Lippen ablesen zu können, was er sagte. Aber das war natürlich nicht nötig, weil ich ohnehin wußte, was er sagte: »Du meine Güte! Du meine Güte! Ich komme zu spät.« Und dann huschte der weiße Hase aus Alice im Wunderland zwischen den Leichenresten dahin, während wir starteten.
Originaltitel: CONSTANT READER Copyright © 1953 by Bell Publications, Inc. Aus THE SPACE MAGICIANS Übersetzt von Heinz Nagel
Robert W. Chambers DER MANN AUS DER TIEFE 1 Weil alles so unwahrscheinlich erscheint – mir jetzt so schrecklich unmöglich vorkommt, da ich gesund und unbeschadet zu Hause in meiner eigenen Bibliothek sitze – zögere ich, eine Episode aufzuzeichnen, die mir heute schon weniger schrecklich und eher grotesk erscheint. Und dennoch, wenn diese Geschichte jetzt nicht geschrieben wird, so weiß ich, daß ich nie den Mut haben werde, die Wahrheit zu berichten – nicht aus Furcht, mich lächerlich zu machen, sondern weil ich selbst bald aufhören werde, das zu glauben, von dem ich jetzt weiß, daß es die Wahrheit ist. Und dennoch ist kaum ein Monat verstrichen, seit ich das verstohlene Brummen des Motorbootes hörte – kaum ein Monat, seit ich mit eigenen Augen das sah, von dem ich jetzt selbst zu glauben beginne, daß es nie existierte. Was den Hafenmeister angeht – und den Schlag, den ich jetzt der alten Ordnung der Dinge versetze –, aber davon will ich jetzt nicht sprechen, jetzt nicht und auch später nicht; ich werde versuchen die Geschichte einfach und der Wahrheit gemäß zu berichten und werde meine Freunde bitten, Zeugnis für meine Rechtschaffenheit abzulegen. Der Verleger dieses Buches mag das dann bestätigen. Am neunundzwanzigsten Februar gab ich meine Regierungsstelle auf und verließ Washington, um ein
Angebot von Professor Farrago anzunehmen – er hat mir freundlicherweise gestattet, seinen Namen zu erwähnen –, und am ersten Tag des April übernahm ich meine neuen Pflichten als Leiter der Abteilung Wasservögel des Zoologischen Gartens, der damals im Bronxpark von New York gerade gebaut wurde. Eine Woche folgte ich der üblichen Routine, überprüfte die neuen Fundamente, studierte die Pläne des Architekten und folgte den Landvermessern durch das Dickicht der Bronx, machte Vorschläge für Teiche und Tümpel, die für Schwäne, Gänse, Pelikane und Falken und andere Water und Schwimmer angelegt werden sollten, die wir im Bronxpark ansiedeln wollten. Der Aufsichtsrat der Zoologischen Gärten verfolgte damals die Politik, keine Sammler zu beschäftigen und auch keine Expeditionen auf die Suche nach seltenen Exemplaren auszuschicken. Die Gesellschaft hatte sich entschlossen, sich ganz und gar auf freiwillige Spenden zu verlassen, und ich war täglich einige Stunden damit beschäftigt, Antworten an Leute zu schreiben, die ihre Dienste als Großwildjäger, als Sammler aller Arten von Fauna, als Fallensteller und dergleichen anboten, und auch an jene, die gewöhnlich zu exorbitanten Preisen irgendwelche Tierexemplare anboten. An die Besitzer fünfbeiniger Katzen, ausgemergelter Luchse, von Motten zerfressenen Kojoten und Tanzbären schickte ich höfliche, aber eindeutige Ablehnungsbriefe – nachdem ich natürlich zuerst all diese Briefe zusammen mit meinen Antworten Professor Farrago vorgelegt hatte. Eines Tages, gegen Ende des Mai jedoch, als ich ge-
rade dabei war, den Bronxpark zu verlassen, um in die Stadt zurückzukehren, rief mir Professor Lesard von der Reptilienabteilung zu, daß Professor Farrago mich einen Augenblick zu sprechen wünsche; ich steckte also meine Pfeife wieder in die Tasche und begab mich zu dem provisorischen Holzgebäude, das von Professor Farrago, dem Generaldirektor der Zoologischen Gärten, benützt wurde. Der Professor saß vor einem Stapel von Briefen und Antworten, die ich ihm zur Unterschrift vorgelegt hatte, an seinem Schreibtisch, schob seine Brille herunter und musterte mich mit einem wunderlichen Lächeln, das auf Belustigung, Ungeduld, Verdrießlichkeit und vielleicht die Spur einer Entschuldigung hindeutete. »Hier ist ein Brief«, sagte er und deutete dabei auf ein Blatt Papier in dem Stapel, »ein Brief, an den Sie sich vermutlich erinnern.« Er nahm das Blatt und reichte es mir. »O ja«, erwiderte ich mit einem Achselzucken, »der Mann irrt natürlich, oder er ist –« »Oder er ist was?« fragte Professor Farrago und putzte geduldig seine Brille. »Ein Lügner«, antwortete ich. Nach einigem Schweigen lehnte er sich in seinem Sessel zurück und forderte mich auf, ihm den Brief noch einmal vorzulesen, und eben das tat ich voll verächtlicher Toleranz für den Schreiber, der entweder ein höchst unschuldiges Opfer eines Irrtums oder ein sehr dummer Schwindler sein mußte. Ich erwähnte das auch gegenüber Professor Farrago, aber zu meiner großen Überraschung schien er zu schwanken. »Ich vermute«, sagte er mit seinem kurzsichtigen
verlegenen Lächeln, »daß 999 von 1000 Menschen diesen Brief zur Seite legen und den Schreiber als Lügner oder als Narren verurteilen würden.« »Meiner Meinung nach«, sagte ich, »ist er das eine oder das andere.« »Das ist er nicht – nach meiner Meinung«, sagte der Professor mild. »Was!« rief ich aus. »Hier ist ein Mann, der ganz alleine auf einem Streifen aus Felsen und Sand zwischen der Wildnis und dem Meer lebt, und er fordert Sie auf, jemanden zu schicken, um einen Vogel in Gewahrsam zu nehmen, den es gar nicht gibt!« »Woher wissen Sie denn«, fragte Professor Farrago, »daß es den fraglichen Vogel nicht gibt?« »Es wird allgemein anerkannt«, erwiderte ich voll Sarkasmus, »daß der Große Alk seit Jahren ausgestorben ist. Sie werden mir deshalb verzeihen, wenn ich Zweifel daran hege, daß der Schreiber dieses Briefes ein lebendes Paar Alke besitzt.« »O ihr jungen Leute«, sagte der Professor und lächelte müde, »man braucht euch nur eine Theorie zu geben, und ihr macht euch zu Orten auf den Weg, die es gar nicht gibt.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seine lächelnden Augen suchten nach dem Bild, das ihn amüsierte. »Wie schwimmende Eichhörnchen steuert ihr euer Schiff mit Hilfe des Himmels und einer steifen Brise, aber ihr landet nie dort, wo ihr es euch erhofft – oder?« Mit etwas gerötetem Gesicht sagte ich: »Dann glauben Sie also nicht, daß der Große Alk ausgestorben ist?«
»Audubon hat den Großen Alk gesehen.« »Und wer hat seither ein einziges Exemplar gefunden?« »Niemand – nur der Schreiber dieses Briefes hier«, erwiderte er und lachte. Ich lachte auch und nahm an, daß das Gespräch damit beendet sei, aber der Professor fuhr kühl fort: »Was auch immer es sein mag, das der Schreiber unseres Briefes hier besitzt – und ich wage zu glauben, daß es sich wirklich um den Großen Alk handelt –, so möchte ich doch, daß Sie ihn für die Gärten sicherstellen.« Als mein Erstaunen nachließ, war die erste Gefühlsregung, die mir bewußt wurde, eine des Mitleids. Professor Farrago war offensichtlich am Rande des Altersschwachsinns – ah, was für ein Verlust für die Welt! Ich glaube heute, daß Professor Farrago meine Gedanken damals völlig durchschaute und richtig interpretierte, aber er ließ sich weder Ungeduld noch Ärger anmerken. Ich zog mir einen Stuhl neben seinen Schreibtisch – es blieb mir nichts anderes übrig, als zu gehorchen, und ich hatte mir ja schließlich diesen Auftrag nicht ausgesucht. Gemeinsam stellten wir eine Liste der Gegenstände auf, die ich brauchte, und versuchten, die Aufgaben festzustellen, die meiner harrten. Dann setzte ich einen Termin für meine Rückkehr fest, wobei ich keinerlei Sicherheitsspielraum für eine erfolgreiche Beendigung der Expedition ließ. »Lassen Sie nur«, sagte der Professor. »Was ich von Ihnen möchte ist, daß Sie diese Vögel sicher hierherbefördern. Also, wie viele Männer nehmen Sie mit?«
»Gar keine«, erwiderte ich geradeheraus. »Das verursacht nur unnötige Kosten, es sei denn, es wäre wirklich etwas dort, was mitzubringen wäre. Und wenn das der Fall ist, werde ich Ihnen ganz bestimmt kabeln.« »Sehr wohl«, sagte Professor Farrago und lächelte. »Sie sollen jede Unterstützung haben, die Sie benötigen. Können Sie noch heute abend abreisen?« Der alte Herr hatte es offensichtlich eilig. Ich nickte etwas beleidigt und bemerkte zugleich, welchen Spaß ihm die ganze Angelegenheit machte. »Also«, sagte ich, und griff nach meinem Hut, »ich soll nach Norden reisen, bis ich einen Ort namens Black Harbour finde, und dort soll es einen Mann namens Halyard geben, der neben anderen Haushaltsutensilien auch zwei ausgestorbene Große Alke besitzt –« Wir lachten jetzt beide. Ich fragte ihn, warum in aller Welt er der Behauptung eines Mannes glaubte, von dem man noch nie zuvor gehört hatte. »Ich vermute«, erwiderte er mit demselben halb belustigten, halb um Verzeihung bittenden Lächeln, »ich vermute, daß es Instinkt ist. Ich habe irgendwie das Gefühl, daß dieser Halyard wirklich einen Alk hat – vielleicht sogar zwei. Ich komme einfach von dem Gedanken nicht los, daß wir unmittelbar vor dem Punkt stehen, wo wir das seltenste aller lebenden Geschöpfe erwerben. Es ist eigenartig, wenn ein Gelehrter so spricht, wie ich das tue; zweifellos schockiert Sie das – geben Sie es ruhig zu!« Aber ich war nicht schockiert; im Gegenteil, ich war mir dessen bewußt, daß dieselbe seltsame Hoffnung, die Professor Farrago bewegte, jetzt anfing – ob
ich das wollte oder nicht –, meine Pulse zu jagen. »Wenn er –« begann ich und hielt dann inne. Der Professor und ich sahen einander stumm an. »Nur zu«, munterte er mich auf. Aber ich hatte nichts mehr zu sagen. Die Aussicht, mit meinen eigenen Augen ein lebendes Exemplar des Großen Alk zu sehen erzeugte in mir eine ganze Reihe einander widersprechender Gefühle, die es fast als ungehörig, zumindest überflüssig erscheinen ließen, auch nur ein Wort zu äußern. Als ich mich verabschiedete, begleitete mich Professor Farrago bis zur Tür seines provisorischen Büros und reichte mir den Brief, den dieser Halyard geschrieben hatte. Ich faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche. Halyard würde vielleicht von mir verlangen, daß ich mich legitimierte. »Wieviel will er den für das Paar?« fragte ich. »Zehntausend Dollar. Erheben Sie keine Einwände. Wenn die Vögel wirklich –« »Ich weiß«, sagte ich hastig, voll Angst, meine Hoffnung zu hoch zu stecken. »Noch etwas«, sagte Professor Farrago ernst. »Sie wissen doch, im letzten Absatz seines Briefes spricht Halyard noch von etwas anderem, einer bisher unentdeckten Spezies eines amphibischen Zweifüßlers – lesen Sie doch diesen Absatz bitte noch einmal ja?« Ich zog den Brief aus der Tasche und tat, wie er mich geheißen hatte: ›Wenn Sie die beiden lebenden Exemplare des Großen Alk gesehen und sich davon überzeugt haben, daß ich die Wahrheit spreche, sind Sie vielleicht weise genug, ohne Vorurteil sich eine Be-
hauptung anzuhören, die ich bezüglich der Existenz des seltsamsten Geschöpfes, das die Erde je getragen hat, machen werde. Jetzt will ich nur sagen, daß es sich bei diesem Geschöpf um einen amphibischen Zweibeiner handelt, der das Meer in der Nähe dieser Küste bewohnt. Mehr kann ich nicht sagen, denn ich habe das Lebewesen nicht persönlich gesehen, aber ich habe einen Zeugen, der es gesehen hat, und es gibt viele, die ebenfalls bestätigen, dieses Geschöpf gesehen zu haben. Sie werden natürlich sagen, daß meine Behauptung gar nichts zu bedeuten hat; aber wenn Ihr Abgesandter eintrifft, falls er frei von Vorurteilen ist, so rechne ich damit, daß sein Bericht, den er Ihnen bezüglich dieses Seegeschöpfes machen wird, die ernsthaften Behauptungen eines Zeugen bestätigen wird, von dem ich weiß, daß er über jeden Zweifel erhaben ist. Hochachtungsvoll Burton Halyard Black Harbour‹ »Nun«, sagte ich, nachdem ich eine Weile nachgedacht hatte, »jetzt beginnt die große Jagd nach dem Phantom.« »Nach dem wilden Alk, wollen Sie doch sagen«, sagte Professor Farrago und schüttelte mir die Hand. »Sie reisen doch noch heute abend, oder?« »Ja, aber nur der Himmel weiß, ob ich je diese Türschwelle dieses Halyard erreichen werde. Leben Sie wohl!« »Was diesen Meereszweibeiner angeht –« begann Professor Farrago etwas verlegen.
»Bitte!« sagte ich. »Die Alke kann ich noch schlukken, mit Federn und Krallen, wenn es darauf ankommt, aber wenn dieser Halyard andeuten will, daß er ein amphibisches Wesen gesehen hat, das einem Mann gleicht –« »Oder einer Frau«, sagte der Professor vorsichtig. Da ging ich, und meine Hochachtung vor der Vernunft von Professor Farrago war um ein gutes Stück gesunken.
2 Die dreitägige Reise per Schiff und Eisenbahn war ermüdend. Ich kaufte mir meine Ausrüstung in Sainte Croix an der Central Pacific Railroad und begann am ersten Juni die letzte Etappe meiner Reise mit der Breitspurbahn von Sainte Isole und traf bei Tageslicht in der Wildnis ein. Ein anstrengender Gewaltmarsch auf einem frisch markierten Pfad, natürlich auf der falschen Seite frisch markiert, führte mich zur nördlichen Station der verrosteten SchmalspurHolzfällerbahn, die aus dem Herzen der Fichtenwildnis zum Meer führt. Als ich die Geleise endlich erblickte, bewegte sich bereits ein langer Zug Eisenbahnwaggons, hoch beladen mit Grubenholz und roh behauenen Eisenbahnschwellen, langsam auf das brütende Dunkel des Waldes zu. Ich legte einen unerwartet schnellen Spurt ein und schrie dabei aus Leibeskräften. Der Zug hielt an; ich schwang mich auf den letzten Waggon, wo ein freundlicher junger Bursche im Bremserhäuschen saß, Tabak kaute und einen Brief las.
»Steigen Sie nur ein, Sir«, sagte er und blickte lächelnd auf. »Ich nehme an, Sie sind der Mann, der es so eilig hat.« »Ich bin auf der Suche nach einem Mann namens Halyard«, sagte ich und warf Gewehr und Rucksack auf den Stapel frischgeschnittener Stämme. »Sind Sie Halyard?« »Nein, mein Name ist Francis Lee, und ich leite die Glimmergruben von Port-of-Waves«, erwiderte er, »aber dieser Brief hier stammt von Halyard. Er fordert mich auf, nach einem Mann Ausschau zu halten, der es eilig hat und der vom Bronxpark in New York kommt.« »Der bin ich«, sagte ich, stopfte meine Pfeife und bot ihm von dem Kraut des Friedens an, und dann saßen wir nebeneinander und rauchten in Freundschaft, bis ein Signal von der Lokomotive ihn nach vorn beorderte und ich allein sitzen blieb, den Kopf auf die Arme gestützt, und zusah, wie der blaue Himmel zwischen den Zweigen über mir dahinflog. Schon lange bevor wir in Blickweite des Meeres kamen, roch ich es; das frische salzige Aroma stahl sich in meine Sinne, die von dem warmen Duft von Fichten und Tannen müde waren. Ich setzte mich auf und spähte nach vorn. Frischer und heftiger wehte der Wind vom Meer herüber, in einzelnen Stößen, in milden Brisen, in gleichmäßigen erfrischenden Strömen; blies durch die federzarten Kronen der Fichten und ließ ihre blaugrünen Zweige zittern. Lee kam über die lange Reihe von Waggons nach hinten balanciert, wobei er fast automatisch sein Gleichgewicht bewahrte, während der Zug in eine
scharfe Kurve ging, an einer Stelle, wo Wasser aus einer neuerbauten Holzrinne heruntertropfte, die plötzlich aus den Tiefen des Waldes hervorkam und parallel zu den Schienen verlief. »Die habe ich in diesem Frühjahr gebaut«, sagte er und warf einen wohlgefälligen Blick auf sein Werk, das beim Vorüberfahren der Waggons zu zittern schien. »Sie führt zu der Bucht – oder sollte es wenigstens.« Plötzlich hielt er inne und musterte mich nachdenklich. »Sie gehen also zu Halyard?« fuhr er fort, als beantworte er damit eine Frage, die er selbst gestellt hatte. Ich nickte. »Sie sind noch nie dort gewesen – natürlich nicht.« »Nein«, sagte ich, »und ich werde auch wahrscheinlich nie wieder hingehen.« Ich hätte ihm den Grund meiner Reise gesagt, hätte ich nicht schon angefangen, mich meiner dummen Mission zu schämen. »Ich vermute, daß Sie sich seine Vögel anschauen werden«, fuhr Lee geduldig fort. »Ich schätze schon«, sagte ich etwas mürrisch und warf ihm von der Seite einen Blick zu, um zu sehen, ob er lächelte. Aber er fragte mich nur – und das ganz ernst –, ob ein Großer Alk wirklich ein seltener Vogel wäre; worauf ich ihm erklärte, daß der letzte, den man je gesehen hatte, im Jahre 1870 tot vor der Küste von Labrador gefunden worden war. Dann fragte ich ihn, ob diese Vögel von Halyard wirklich Große Alke wären, und er erwiderte, irgendwie gleichgültig, er nähme schon an, daß es welche wären – zumindest
hätte niemand je zuvor welche in der Nähe von Portof-Waves gesehen. »Und da ist noch etwas«, sagte er und stocherte mit einem Holzspan in seiner Pfeife herum. »Etwas, das uns hier alle viel mehr interessiert als seine Alke, ob sie nun groß oder klein sind. Ich denke, ich kann schon davon reden, da Sie ja über kurz oder lang davon hören werden.« Er zögerte, und ich spürte, daß ihm das, was er sagen wollte, etwas peinlich war, daß er nach den richtigen Worten suchte. »Falls Sie«, sagte ich, »in dieser Gegend irgend etwas haben, das für die Wissenschaft noch wichtiger ist als der Große Alk, würde es mich sehr freuen, davon zu erfahren.« Vielleicht war da eine winzige Spur von Sarkasmus in meiner Stimme, denn er warf mir einen scharfen Blick zu und wandte sich dann ab. Nach einem Augenblick aber steckte er die Pfeife in die Tasche, griff mit beiden Händen nach dem Bremsrad, stemmte sich mit einem Satz in die Höhe, wo er seinen angestammten Platz einnahm, und blickte auf mich herunter. »Haben Sie je etwas vom Hafenmeister gehört?« fragte er maliziös. »Was für ein Hafenmeister?« erkundigte ich mich. »Nun, Sie werden früh genug von ihm hören«, meinte er mit einem befriedigten Blick. Diese etwas ungewöhnliche Bemerkung erstaunte mich. Ich wartete darauf, daß er zu reden fortfuhr, und fragte ihn schließlich – als er das nicht tat –, was er meinte. »Wenn ich es wüßte«, sagte er, »würde ich es Ihnen
sagen. Aber, wenn ich es mir richtig überlege, es wäre wirklich dumm, wenn ich mich mit einem Gelehrten auf Einzelheiten einließe. Sie werden schon vom Hafenmeister hören – vielleicht sehen Sie den Hafenmeister sogar. In diesem Fall wäre ich gern bereit, mich mit Ihnen über dieses Thema zu unterhalten.« Ich mußte unwillkürlich über seine geschraubte Redeweise lachen, und nach einer Weile fing er ebenfalls zu lachen an und meinte: »Es ist schlecht für das Selbstbewußtsein eines Mannes, wenn er etwas weiß, von dem ein anderer weiß, daß er es nicht weiß. Ich will verdammt sein, wenn ich noch ein Wort über den Hafenmeister sage, bis Sie bei Halyard gewesen sind!« »Ein Hafenmeister«, bohrte ich hartnäckig weiter, »das ist doch ein Beamter, der das Anlegen und das Vertäuen der Schiffe überwacht – oder?« Aber er ließ sich zu keinem weiteren Gespräch verleiten, und so saßen wir stumm auf dem Holz, bis ein langer dünner Pfiff von der Lokomotive und eine salzige Brise uns aufspringen ließen. Zwischen den Bäumen konnte ich den blauschwarzen Ozean sehen, der sich zwischen einer schwarzen Küste den Wolken entgegendehnte; ein mächtiger Wind toste zwischen den Bäumen, während der Zug langsam am Rande des urtümlichen Waldes stehenblieb. Lee sprang herunter und half mir mit meinem Gewehr und meinem Rucksack, und dann zog sich der Zug langsam rückwärts über ein Nebengeleis zurück, das, wie Lee mir erklärte, zu der Glimmermine und den Läden der Gesellschaft führte. »Was machen Sie jetzt?« fragte er freundlich. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein anständiges
Abendessen und ein vernünftiges Bett für heute nacht verschaffen – und Mrs. Lee würde sich bestimmt freuen, wenn Sie eine Weile bei uns bleiben. Sie können bleiben, so lange Sie wollen.« Ich dankte ihm, meinte aber, ich sei darauf erpicht, Halyard noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, worauf er mich freundlich an den Klippen entlangführte und mir den Weg wies. »Dieser Halyard«, erklärte er, »ist Invalide. Er wohnt in einer Bucht, die sich Black Harbour nennt, und alles, was er zum Leben benötigt, wird ihm über die Straße, die der Mine gehört, geliefert. Wir nehmen es hier in Empfang und schicken es einmal im Monat mit einem Packmuli. Ich habe ihn einmal kennengelernt: er ist ein übellauniger Hypochonder, tief im Herzen ein Zyniker, aber ein Mann, dessen Wort man nie anzweifelt. Wenn er sagt, er habe einen Großen Alk, dann können Sie sich darauf verlassen, daß das stimmt.« Mein Herz schlug erwartungsvoll höher; ich blickte über die waldige Gegend und die Dünen und versuchte mir auszumalen, was es für mich, für Professor Farrago, für die Welt der Wissenschaft bedeuten würde, wenn ich wirklich einen lebenden Großen Alk nach New York zurückbringen sollte. »Er ist verrückt«, sagte Lee. »Offengestanden, ich mag ihn nicht. Wenn es Ihnen dort nicht gefällt, dann kommen Sie zu uns.« »Lebt Halyard allein?« fragte ich. »Ja – er hat nur jemand, der dazu ausgebildet ist, ihn zu pflegen – das arme Schwein!« »Ein Mann?« »Nein«, sagte Lee heftig.
Und plötzlich warf er mir wieder einen seltsamen Blick zu, zögerte und sagte schließlich: »Bitten Sie Halyard, daß er Ihnen von seiner Pflegerin erzählt und – dem Hafenmeister. Leben Sie wohl, ich muß jetzt in den Steinbruch. Kommen Sie, und bleiben Sie eine Weile bei uns, wann immer Sie Lust haben; in Port-of-Waves sind Sie immer willkommen.« Wir schüttelten uns die Hände und trennten uns auf der Klippe. Er ging zurück in den Wald, an den Schienen entlang, und ich machte mich nach Norden auf den Weg, den Rucksack auf dem Rücken, das Gewehr über der Schulter. Einmal begegnete ich ein paar Arbeitern aus dem Steinbruch. Als ich an ihnen mit einem freundlichen Nicken vorbeiging und mich umdrehte, sah ich, daß sie sich ebenfalls umgedreht hatten, um mir nachzublicken, und ich vernahm ein Wort aus ihrer Unterhaltung. Der Seewind mochte es an mein Ohr getragen haben. Sie sprachen von dem Hafenmeister.
3 Gegen Sonnenuntergang erreichte ich eine schroffe Granitklippe, wo die Seevögel ihre ewigen Kreise drehten und lärmten und die großen Brecher heranrasten und sich mit Getöse auf den von der Sonne purpur gefärbten Sandflächen unter den Felsen brachen. Auf der anderen Weite der halbmondförmigen Bucht ragte eine weitere Klippe auf, und dahinter sah ich eine Rauchsäule gen Himmel steigen. Die kam bestimmt aus Halyards Kamin, obwohl ich wegen der
Klippe sein Haus noch nicht sehen konnte. Ich blieb einen Augenblick stehen, um meine Pfeife frisch zu stopfen, nahm dann Gewehr und Rucksack wieder auf und arbeitete mich vorsichtig an den Klippen vorbei. Ich hatte den halben Weg bis zum Strand hinunter zurückgelegt und musterte die gegenüberliegende Klippe, als mir ganz oben auf dem Felsen etwas auffiel – ein Mann, der sich dunkel vor dem Himmel abzeichnete. Im nächsten Augenblick aber wußte ich, daß es kein Mann sein konnte, denn der Gegenstand glitt plötzlich über die Klippe und an der glatten Felswand entlang wie eine Echse. Ehe ich noch einmal genau hinsehen konnte, kroch das Ding in die Brandung – wenigstens sah es so aus –, aber die ganze Episode geschah so plötzlich, so unerwartet, daß ich nicht einmal sicher war, überhaupt etwas gesehen zu haben. Jedenfalls war ich neugierig genug, die Klippe auf der Landseite zu erklettern und auf die Stelle zuzugehen, wo ich mir eingebildet hatte, den Mann gesehen zu haben. Natürlich war dort nichts – zumindest keine Spur eines menschlichen Wesens. Irgend etwas war aber dort gewesen – wahrscheinlich ein Seeotter –, denn die Überreste eines frisch getöteten Fisches lagen auf den Felsen: nur noch die Gräten und der Schwanz. Im nächsten Augenblick sah ich unter mir das Haus, ein frisch getünchtes, ordentliches, nicht besonders massives Gebäude, modern und völlig ohne jede Anpassung an die unberührte Wildnis, die es umgab. In dieser edlen grauen Monotonie von Felsen
und Meer wirkte es deplaciert, billig. Der Abstieg war ganz leicht. Ich überquerte die halbmondförmige Bucht, deren Boden so hart wie rosafarbener Marmor war, und fand einen schmalen ausgetretenen Pfad zwischen den Felsen, der zur Veranda des Hauses führte. Auf der Veranda waren zwei Leute – ich hörte ihre Stimmen, ehe ich sie sah –, und als ich meinen Fuß auf die hölzernen Stufen setzte, sah ich, wie einer von ihnen, eine Frau, sich aus ihrem Stuhl erhob und hastig auf mich zukam. »Komm zurück!« rief der andere, ein Mann mit glattrasiertem, tief durchfurchtem Gesicht, und zwei ärgerlich blickenden blauen Augen; und die Frau trat ruhig zurück und erwiderte meinen Gruß mit einem stummen Kopfnicken. Der Mann, der sich in dem Rollstuhl zurücklehnte, griff mit den beiden großen blassen Händen in die Räder und rollte auf der Veranda nach vorn. Er war von Schals eingehüllt, die mit Nadeln festgesteckt waren, und er hatte einen schmuddeligen Hut auf dem Kopf, und als er auf mich herunterblickte, furchte er die Stirn. »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er mit seiner beißenden Stimme. »Sie sind einer von den Zoologen vom Bronxpark. Jedenfalls sehen Sie so aus.« »Es ist leicht, Sie zu erkennen«, erwiderte ich, von seiner Unhöflichkeit etwas irritiert. »Wirklich?« – fragte er mit einer Mischung von einem Lachen und einer Grimasse. »Ich bin froh, daß Sie so offen sind. Sie sind doch hinter den Großen Alken her, oder?« »Es gibt sonst nichts, das mich in Versuchung hätte
führen können, hierherzukommen«, erwiderte ich der Wahrheit entsprechend. »Dem Himmel sei Dank dafür«, sagte er. »Setzen Sie sich einen Augenblick; Sie haben uns unterbrochen.« Dann wandte er sich der jungen Frau zu, die das schmucklose Kleid und die winzige Kappe einer ausgebildeten Krankenpflegerin trug, und forderte sie auf, zu wiederholen, was sie gesagt hatte. Sie tat das mit einem bittenden Blick zu mir hin, der den alten Mann wieder das Gesicht verziehen ließ. »Es geschah so plötzlich«, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme, »daß ich keine Möglichkeit hatte, umzukehren. Das Boot trieb in die Bucht hinein; ich saß im Heck und las und hatte beide Ruder an Bord gezogen und das Steuer war lose. Dann hörte ich es unter dem Boot scharren, dachte, es wären vielleicht Meeresgewächse – und im nächsten Augenblick hörte ich dieses weiche Pochen, wie wenn ein großer Fisch mit dem Maul gegen ein Floß stößt.« Halyard klammerte sich an den Rädern seines Rollstuhls fest und starrte das Mädchen mit grimmigem Mißvergnügen an. »Haben Sie denn nicht genug gewußt, um Angst zu haben?« fragte er. »Nein – damals noch nicht«, sagte sie, und ihr Gesicht verfärbte sich etwas. »Aber als ich nach ein paar Augenblicken aufsah und den Hafenmeister am Strand auf und ablaufen sah, hatte ich schreckliche Angst.« »Wirklich?« fragte Halyard sarkastisch. »Das wurde auch höchste Zeit.« Und dann, zu mir gewandt: »Und diese junge Dame mußte bis nach Port-of-
Waves rudern und Lees Steinbrucharbeiter bitten, ihr Boot hereinzuholen.« Völlig ratlos blickte ich von Halyard zu dem Mädchen und dann wieder zu ihm und begriff nicht im geringsten, was all das zu bedeuten hatte. »Das genügt«, sagte Halyard unfreundlich, und dieser lakonische Satz diente offenbar üblicherweise dazu, die Pflegerin zu entlassen. Sie erhob sich, und ich erhob mich, und sie ging mit einem kurzen Kopfnicken an mir vorbei und verschwand lautlos im Haus. »Ich möchte Bouillon haben!« rief Halyard hinter ihr her, und dann warf er mir einen unfreundlichen Blick zu. »Ich war einmal ein Mann mit guten Manieren«, sagte er mit einem bösen Blick. »Ich habe auch in Harvard studiert, aber ich lebe so, wie es mir paßt, und ich tue, was mir paßt, und ich sage, was mir paßt.« »Nun, zurückhaltend sind Sie nicht gerade«, sagte ich. »Warum sollte ich auch?« knurrte er. »Ich bezahle diese junge Frau dafür, daß sie meine Gereiztheit erträgt. Das ist ein Handel, den wir geschlossen haben.« »Ihre Privatangelegenheiten interessieren mich nicht«, sagte ich. »Ich bin gekommen, um die Alke zu sehen.« »Wahrscheinlich glauben Sie, daß es messerschnäblige Alke sind«, sagte er verächtlich. »Aber das sind sie nicht. Es sind Große Alke.« Ich schlug vor, daß er mir gestatten solle, sie zu untersuchen, und er erwiderte gleichgültig, sie seien in einem Verschlag in seinem Hinterhof, und ich
könnte ja ums Haus herumgehen, wenn ich wollte. Ich legte mein Gewehr und meinen Rucksack auf die Veranda und eilte mit gemischten Gefühlen davon, und die Hoffnung hatte keineswegs in diesen gemischten Gefühlen mehr die Oberhand. Kein Mann im Vollbesitz seiner Sinne würde zwei solch wertvolle Geschöpfe in einem Verschlag im Hinterhof halten, dachte ich und war ganz und gar darauf vorbereitet, alles mögliche, von einem Pinguin bis zu einem Gorilla, dort vorzufinden. Aber solange ich lebe, werde ich nie meine Starre, mein Erstaunen vergessen können, als ich das Drahtgehege erreichte. Da waren nicht nur die zwei Großen Alke in dem Verschlag – lebend, atmend hockten sie in ihrer massigen Majestät auf ihrem Schilfbett –, sondern einer von ihnen musterte würdevoll zwei neu ausgeschlüpfte Junge, die aus nichts als Schnabel und Füßen zu bestehen schienen und die brav am Rand einer Salzwasserpfütze hockten, in der ein paar kleine Fische herumschwammen. Eine Weile blendete mich die Aufregung, nein, sie betäubte mich. Ich versuchte mir darüber klarzuwerden, daß ich die letzten Exemplare einer beinahe ausgestorbenen Rasse vor Augen hatte – die einzigen Überlebenden des Riesenalk, der seit dreißig Jahren für ausgestorben gehalten wird. Ich glaube nicht, daß ich auch nur einen Muskel bewegte, bis die Sonne untergegangen war und die Dunkelheit die großen stummen Vögel mit ihren hellen Augen meinen Blicken entzog. Selbst dann konnte ich mich noch nicht von dem Verschlag losreißen. Ich hörte dem seltsamen schläf-
rigen Schnattern des männlichen Vogels zu und den schwächeren Antworten des Weibchens, sowie den dünnen Klagen der Jungen, die sich unter ihrer Brust drängten; ich hörte, wie ihre flossenähnlichen embryonalen Flügel schläfrig schlugen, während die Vögel sich streckten und gähnten und die Schnäbel aufrissen und sich auf den Schlaf vorbereiteten. »Bitte«, rief eine weiche Stimme von der Tür her, »Mr. Halyard erwartet Sie zum Abendessen.«
4 Ich dinierte gut – oder, besser gesagt, mein Abendessen hätte mir Vergnügen bereitet, wäre Mr. Halyard nicht mit von der Partie gewesen. Die ganze Gesellschaft bestand ausschließlich aus einem Stück Rindfleisch, der hübschen Pflegerin und mir. Sie war außergewöhnlich attraktiv – und hatte die höchst störende Angewohnheit, den Kopf dauernd gesenkt zu halten und mit ihren dunklen Augen nur aufzusehen, wenn man sie ansprach. Was Halyard betraf, so war er unbeschreiblich, in seine dicken Schals eingehüllt und gelegentlich beim Löffeln seines Haferschleims seltsame Geräusche von sich gebend. Dennoch muß ich sagen, daß sein Tisch es wert war, daran zu sitzen, und daß sein Wein durchaus Qualität hatte. »Puh!« machte er plötzlich. »Ich bin diese verdammte Suppe leid – und ich muß Ihnen die Mühe machen, mein Glas zu füllen –« »Es ist gefährlich für Sie, Wein zu trinken«, sagte die hübsche Pflegerin.
»Ich kann ebensogut beim Essen sterben wie sonstwo«, meinte er. »Ganz bestimmt«, sagte ich und reichte ihm mit einem strahlenden Lächeln die Karaffe, aber meine Aufmerksamkeit schien ihn nicht sonderlich zu erfreuen. »Rauchen darf ich auch nicht«, knurrte er und hüllte sich noch fester in seine Schals, bis er wie Richard III. aussah. Immerhin war er so liebenswürdig, mir eine Kiste Zigarren hinzuschieben, und ich nahm mir eine und stand auf, während die hübsche Pflegerin an mir vorbeihuschte und in dem kleinen Vorzimmer verschwand. Wir saßen eine Weile da, ohne zu sprechen. Er pickte gereizt an den Brotkrumen auf dem Tisch, ohne auch nur ein einziges Mal in meine Richtung zu blicken, während ich, von meinem langen Fußmarsch müde, auf meinem Stuhl zurückgelehnt dasaß und mich stumm dem Genuß einer der besten Zigarren, die ich je geraucht hatte, hingab. »Nun«, knurrte er nach einer Weile, »was halten Sie jetzt von meinen Alken – und meiner Wahrheitsliebe?« Ich entgegnete, daß gegen beide nichts einzuwenden wäre. »Hat man mich dort unten in Ihrem Museum nicht einen Schwindler genannt?« wollte er wissen. Ich räumte ein, daß ich das böse Wort gehört hätte. Und dann machte ich aus meinem Herzen keine Mördergrube und sagte ihm, ich sei es gewesen, der Zweifel gehegt habe; mein Chef, Professor Farrago, hätte mich gegen meinen Willen geschickt, und ich
sei bereit, offen zuzugeben, daß er, Mr. Halyard, ein Wohltäter der Menschheit sei. »Pah!« machte er. »Welche Wohltaten bringt denn schon ein verdammter wackeliger großfüßiger Vogel für die menschliche Rasse?« Aber dennoch schien sich seine Laune gebessert zu haben, und kurz darauf forderte er mich zur Abwechslung einmal ganz besonders unliebenswürdig auf, seinem Wein noch einmal zuzusprechen. »Ich bin erledigt«, sagte er. »Gutes Essen und gutes Trinken sind mir verboten. Eines Tages werde ich so wütend sein, daß ich einen Anfall bekomme, und dann –« Er hielt inne, um zu gähnen. »Und dann«, fuhr er fort, »wird meine kleine Pflegerin meinen Wein austrinken und in die Zivilisation zurückkehren, wo die Menschen höflich sind.« Irgendwie – und obwohl Halyard zweifellos ein altes Schwein war – berührte mich das, was er sagte. Das Leben hatte ihm sicherlich nicht mehr viel zu bieten – so wie er das Leben sah. »Ich werde ihr dieses Haus hinterlassen«, sagte er und zog sich erneut seine Schals zurecht. »Sie weiß es nicht. Mein Geld werde ich ihr auch hinterlassen. Das weiß sie auch nicht. Herrgott! Was für eine Frau sie nur sein muß, um für ein paar Dollar im Monat meine schlechte Laune zu ertragen.« »Ich nehme an«, sagte ich, »das kommt zum Teil davon, daß sie arm ist, zum Teil auch, weil Sie ihr leid tun.« Er blickte mit einem gespenstischen Lächeln auf. »Sie glauben, ich tue ihr wirklich leid?« Ehe ich Antwort geben konnte, fuhr er fort: »Ich
bin kein empfindlicher, sentimentaler Patron, und ich werde nicht zulassen, daß ich jemandem leid tue – haben Sie verstanden?« »Oh, mir tun Sie nicht leid!« sagte ich hastig, worauf er, zum erstenmal seit ich ihn gesehen hatte, herzlich lachte, ohne dabei eine böse Grimasse zu schneiden. Von nun an schienen wir uns beide wohler zu fühlen; ich trank seinen Wein und rauchte seine Zigarren, und er schien ein gewisses grimmiges Vergnügen daran zu finden, mich zu beobachten. »Es gibt keine größeren Narren, als einen jungen Narren«, stellte er plötzlich fest. Da ich keine Zweifel daran hegte, daß er mich meinte, tat ich, als hätte ich nicht gehört. Nachdem er eine Weile mit seinen Schals gespielt hatte, sah er mich schräg von der Seite an und fragte mich, wie alt ich sei. »Vierundzwanzig«, erwiderte ich. »Junger Springinsfeld, was?« sagte er. Da ich überhaupt nicht reagierte, wiederholte er die Bemerkung. »Ach, hören Sie doch auf«, sagte ich. »Es hat keinen Sinn, mich zu reizen. Ich durchschaue Sie. Ein richtiger Streit wirkt auf Sie wie ein Cocktail – aber die Freude mache ich Ihnen nicht. In meiner Gesellschaft muß es beim Haferschleim bleiben.« »Das ist eine Unverschämtheit!« knurrte er böse. »Es ist mir egal, wie Sie es nennen«, antwortete ich ungerührt. »Sie werden mich nicht aus der Ruhe bringen. Außerdem«, schloß ich, »bin ich der Ansicht, daß Sie ein ganz guter Gesellschafter sein könnten, wenn Sie nur wollten.«
Das schien ihn völlig zu verblüffen – jedenfalls sagte er nichts; und ich rauchte meine Zigarre in Frieden zu Ende und warf den Stummel dann in eine Untertasse. »So«, sagte ich. »Welchen Preis haben Sie für Ihre Vögel festgesetzt, Mr. Halyard?« »Zehntausend Dollar«, fuhr er mich mit einem bösartigen Lächeln an. »Sie bekommen einen Bankscheck, wenn die Vögel geliefert sind«, sagte ich ruhig. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie diesen unerhörten Preis akzeptieren – und ich nehme keinen Cent weniger – Herrgott, haben Sie denn gar keinen Kampfgeist?« schrie er und erhob sich halb aus seinem Durcheinander von Schals. Seine kläglichen Versuche, mit mir zu streiten, lösten bei mir ein Lachen aus, dem ich nicht Herr werden konnte, und darauf starrte er mich mit offenem Munde an, und man konnte ihm ansehen, wie seine Wut zunahm. Dann griff er in die Räder seines Rollstuhls und rollte davon, zu erregt, um reden zu können; und ich schlenderte in das Zimmer nebenan und lachte immer noch. Die hübsche Krankenpflegerin saß dort. Sie nähte unter einer Hängelampe. »Ich will nicht indiskret sein«, begann ich. »Indiskretion ist der bessere Teil des Mutes«, sagte sie und senkte den Kopf, hob dabei aber den Blick. Ich setzte mich also mit einem etwas frivolen Lächeln, frivol wenigstens für den Wissenden. »Zweifellos säumen Sie da ein Taschentuch ein«, sagte ich.
»Zweifellos tue ich das nicht«, sagte sie. »Das wird eine Nachtmütze für Mr. Halyard.« Die Vorstellung von Halyard in einer Nachtmütze und in Streitlaune hätte mich beinahe wieder laut auflachen lassen. »Wie der König von Yvetot trägt er seine Krone im Bett«, sagte ich leichthin. »Der König von Yvetot hätte diese Bemerkung machen können«, sagte sie und fädelte ihre Nadel ein. Es ist unangenehm, getadelt zu werden. Wie groß und rot und heiß sich doch dann die Ohren eines Mannes anfühlen. Um sie abzukühlen, ging ich auf die Veranda hinaus, und nach einer Weile kam auch die hübsche Pflegerin heraus und setzte sich in einem nicht zu weit entfernten Stuhl nieder. Wahrscheinlich tat es ihr selbst leid, daß sie sich eine Gelegenheit zum Flirt hatte entgehen lassen. »Ich habe hier so wenig Gesellschaft – es ist wirklich eine Erleichterung, wenn man einmal jemanden aus der Welt sieht«, sagte sie. »Wenn Sie freundlich sein können, so wünschte ich, Sie wären es.« Die Vorstellung, daß sie herausgekommen war, um mich zu sehen, war so angenehm, daß ich sprachlos blieb, bis sie sagte: »Erzählen Sie mir, was die Leute in New York tun.« Also setzte ich mich auf die Stufen und sprach von dem Teil der Welt, den ich bewohnte, während sie in dem schwachen Licht nähte, das durch die Fenster herausfiel. Sie hatte eine gewisse eigene Koketterie an sich und bediente sich dabei der üblichen Methoden, aber mit einer Individualität die zweifellos sehr anziehend
war. So zum Beispiel, als sie ihre Nadel verlor – und, ein andermal, als wir beide auf Händen und Knien ihren Fingerhut suchten. Aber in zeitgenössischen Klassikern kann man für diese Freizeitbeschäftigungen eine Gebrauchsanweisung finden. Ich war so unterhaltsam, wie es mir nur möglich war – vielleicht nicht ganz so unterhaltsam, wie junge Männer das gewöhnlich von sich annehmen. Jedenfalls kamen wir gut miteinander aus, bis ich sie fragte, wer wohl dieser Hafenmeister sei, über den alle so geheimnisvolle Andeutungen machten. »Ich mag nicht darüber sprechen«, sagte sie mit einer Strenge die ich ihr gar nicht zugetraut hätte. Natürlich konnte ich danach das Thema nicht weiter verfolgen – und hatte auch gar nicht die Absicht, das zu tun –, also begann ich ihr zu erzählen, daß ich annähme, am Nachmittag einen Mann auf der Klippe gesehen zu haben und wie dieses Geschöpf dann wie eine Echse über den Felsen geglitten sei. Zu meiner großen Überraschung bat sie mich, freundlicherweise diesen Bericht meines Erlebnisses abzubrechen, und sie tat das mit so eisiger Stimme, daß ich nicht protestieren konnte. »Es war nur ein Seeotter«, versuchte ich zu erklären, in der Annahme, daß sie vielleicht etwas gegen Echsen hätte. Aber die Erklärung schien sie nicht zu interessieren, und ich stellte zu meiner tiefen Bestürzung fest, daß der Eindruck, den ich auf sie zu machen schien, alles andere als angenehm war. Sie scheint mich und meine Geschichten nicht zu mögen, dachte ich, aber vielleicht ist sie einfach nur
zu jung dafür. Also vergab ich ihr – sie war nämlich noch viel hübscher, als ich zuerst angenommen hatte – und entschuldigte mich und meinte, Mr. Halyard würde mich zweifellos auf mein Zimmer bringen. Halyard war in seiner Bibliothek und reinigte einen Revolver, als ich eintrat. »Ihr Zimmer liegt neben dem meinen«, sagte er. »Schlafen Sie gut und träumen Sie von etwas Angenehmem, und seien Sie so freundlich und schnarchen Sie nicht.« »Darf ich der abwegigen Hoffnung Ausdruck geben, daß Sie es genauso halten werden?« erwiderte ich höflich. Das machte ihn wild. Also zog ich mich hastig zurück. Ich hatte wenigstens zwei Stunden geschlafen, als eine Bewegung neben meinem Bett und ein Licht, das mir in die Augen fiel, mich weckten. Ich fuhr hoch und blinzelte Halyard an, der, in einen Morgenmantel gekleidet und mit einer Schlafmütze auf dem Kopf, sich mit einer Hand in mein Zimmer gerollt hatte, während er mit der anderen eine Kerze über meinen Kopf hielt. »Ich bin so verflucht einsam«, sagte er. »Kommen Sie, seien Sie nett – reden Sie in Ihrer originellen, unverschämten Weise mit mir.« Ich hatte keine Lust und brachte Einwände vor, aber er wirkte so abgehärmt und dünn, so einsam und schlecht gelaunt, so grotesk, daß ich aus dem Bett stieg und einen Schwamm voll kaltem Wasser über meinem Kopf ausdrückte.
Dann ging ich wieder zu Bett, stopfte mir ein paar Kissen hinter den Rücken und schickte mich an, mit ihm zu streiten, um damit ein kleines Vergnügen in seine morbide Existenz zu bringen. »Nein«, sagte er freundlich, »ich mache mir zu viele Sorgen, um streiten zu wollen, aber Ihr freundliches Angebot ist sehr nett, ich will Ihnen etwas sagen.« »Was denn?« fragte ich argwöhnisch. »Ich möchte Sie fragen, ob Sie je einen Menschen mit Kiemen wie ein Fisch gesehen haben?« »Kiemen?« wiederholte ich. »Ja, Kiemen! Na?« »Nein«, antwortete ich wütend, »und Sie auch nicht.« »Nein, ich habe auch nie einen gesehen«, sagte er mit eigenartig milder Stimme. »Aber es gibt einen Mann mit Kiemen wie ein Fisch, der draußen im Meer lebt. Oh, Sie brauchen nicht so zu schauen – niemand denkt auch nur daran, mein Wort zu bezweifeln. Und ich sage Ihnen, daß es einen Menschen gibt – oder ein Ding, das wie ein Mensch aussieht –, genauso groß wie Sie, ganz schiefergrau, mit häßlichen roten Kiemen wie ein Fisch! Und ich habe einen Zeugen, um zu beweisen, was ich sage!« »Wer denn?« fragte ich sarkastisch. »Der Zeuge? Meine Pflegerin.« »Oh! Sie hat einen schiefergrauen Mann mit Kiemen gesehen?« »Ja, das hat sie. Und ebenso Francis Lee, der Aufseher der Glimmer Company in Port-of-Waves, und ebenso haben ihn ein Dutzend Männer gesehen, die im Steinbruch arbeiten. Oh, Sie brauchen nicht zu la-
chen, junger Mann. Das ist hier eine alte Geschichte, jeder kann Ihnen vom Hafenmeister erzählen.« »Der Hafenmeister!« rief ich aus. »Ja, dieses schiefergraue Kiemenwesen, das wie ein Mensch aussieht – und, beim Himmel! ein Mensch ist –, das ist der Hafenmeister. Sie können jeden Steinbrucharbeiter in Port-of-Waves fragen, was sich am Kai schnurrend um ihre Boote herumtreibt, Taue aufknüpft und sich nachts an den Booten in der Bucht zu schaffen macht! Fragen Sie Francis Lee, was er letzten Freitag bei Sonnenuntergang an den Sandbänken auf und abspringen gesehen hat! Fragen Sie jeden hier an der Küste, was sich wie ein Mensch an den Klippen entlangbewegt und wie ein Otter ins Meer rutscht –« »Das habe ich auch gesehen!« platzte ich heraus. »So, haben Sie das? Nun, was war es denn?« Irgend etwas ließ mich schweigen, obwohl mir ein Dutzend Erklärungen auf den Lippen lagen. Nach einer Weile sagte Halyard: »Sie haben den Hafenmeister gesehen.« Ich sah ihn wortlos an. »Verstehen Sie mich richtig«, sagte er, »ich glaube nicht, daß der Hafenmeister ein Geist oder Kobold oder sonst irgend solcher Unfug ist. Ich glaube auch nicht, daß es sich um eine optische Täuschung handelt.« »Was glauben Sie dann?« fragte ich. »Ich glaube, daß es ein Mensch ist. Ich glaube, es handelt sich um einen Zweig der menschlichen Rasse – das glaube ich. Ich will Ihnen etwas sagen: die tiefste Stelle im Atlantik ist etwas über fünf Meilen tief – und ich nehme an, Sie wissen, daß diese Stelle nur etwa eine Viertelmeile von dieser Küste entfernt ist.
Das britische Forschungsschiff Gull unter Kapitän Marott hat diese Untiefe entdeckt und ausgelotet, glaube ich. Jedenfalls, sie ist da, und ich bin davon überzeugt, daß diese Tiefen von den Überresten der letzten Rasse von amphibischen menschlichen Wesen bewohnt werden!« Das war kindisch; ich machte mir nicht einmal die Mühe, Antwort zu geben. »Sie können das glauben oder nicht, wie Sie wollen«, sagte er verärgert, »eines weiß ich, und zwar dies: der Hafenmeister hat es sich angewöhnt, sich in meiner Bucht herumzutreiben, und er fühlt sich zu meiner Pflegerin hingezogen! Und das paßt mir nicht! Ich werde ihm seine stinkigen Kiemen aus dem Kopf pusten, wenn ich ihn je vor den Lauf meines Revolvers bekomme! Es ist mir egal, ob das Mord ist oder nicht – jedenfalls ist es eine neue Variante, und das reizt mich!« Ich starrte ihn ungläubig an, aber er steigerte sich in eine solche Erregung hinein, daß ich es vorzog, nicht zu sagen, was ich mir dachte. »Ja, dieses schiefergraue Ding mit Kiemen treibt sich schnurrend und grinsend um meine Pflegerin herum – wenn sie geht, wenn sie rudert, wenn sie am Ufer sitzt! Verdammt, das macht mich halb wahnsinnig! Ich dulde das nicht, sage ich Ihnen!« »Nein«, sagte ich, »das würde ich auch nicht dulden.« Und ich wälzte mich vor Lachen in meinem Bett. Im nächsten Augenblick hörte ich die Tür zuknallen. Ich beruhigte mich und stand auf, um das Fenster zu schließen, denn der Landwind blies kalt vom Wald herüber, und ein feiner Regen traf den Teppich am Fußende meines Bettes.
Jener leuchtende Schein, der manchmal noch verharrt, wenn die Sterne schon erloschen sind, warf ein undeutliches nebelhaftes Licht über den Sand und die Bucht. Ich hörte die Dünung durch das gedämpfte Donnern der Brecher – lauter, als ich sie je gehört hatte. Und dann, als ich mein Fenster schloß und einen letzten Blick auf das Meer hinauswarf, sah ich einen Mann, bis zu den Knöcheln in der Brandung stehen, ganz allein dort draußen in der Nacht. Aber – war er ein Mann? Denn plötzlich begann die Gestalt auf allen Vieren wie eine Krabbe über den Strand zu laufen. Ehe ich das Fenster wieder aufreißen konnte, warf es sich in die Brandung, und als ich mich in den kalten Nieselregen hinauslehnte, sah ich nichts – hörte nichts außer dem Rollen der Wogen.
5 Ich brauchte eine Woche dazu, um meine Vorbereitungen für den Transport der Großen Alke auf dem Wasserweg nach Port-of-Waves abzuschließen, wo ein Schoner aus Petite Sainte Isole auf uns warten sollte, den ich für eine Reise nach New York gechartert hatte. Ich hatte aus Latten einen Käfig gebaut, in dem meine Alke hocken sollten, bis sie im Bronxpark eintrafen. Meine Telegramme an Professor Farrago waren kurz. Eines besagte lediglich »Sieg!« Ein weiteres erklärte, daß ich keiner Hilfe bedürfe, und ein drittes schließlich lautete: »Schoner gechartert. Ankomme New York 1. Juli. Sendet Möbelwagen in die Bluffstreet.«
Die Woche als Gast Mr. Halyards erwies sich als interessant. Ich raufte mich mit diesem Invaliden, daß es eine wahre Wonne für ihn war, ich arbeitete den ganzen Tag an meinem Lattenkäfig und ich suchte im Mondlicht mit der hübschen Pflegerin nach dem Fingerhut. Manchmal fanden wir ihn sogar. Was das Ding angeht, das man den Hafenmeister nannte, so sah ich es ein Dutzendmal, aber immer entweder zur Nacht oder so weit entfernt und dem Meer so nahe, daß natürlich keine Spuren zurückblieben, wenn ich, mit dem Gewehr in der Hand, die Stelle erreichte. Ich hatte mich inzwischen zu der Meinung durchgerungen, daß der sogenannte Hafenmeister in Wirklichkeit ein geistesgestörter Neger war – zugewandert von der-Himmel-weiß-woher, vielleicht schiffbrüchig und dabei verrückt geworden. Trotzdem war es höchst unangenehm zu wissen, daß dieses Geschöpf sich so von der hübschen Pflegerin angezogen fühlte. Sie aber beharrte darauf, den Hafenmeister als ein Seegeschöpf zu betrachten; sie bestand allen Ernstes darauf, es habe Kiemen wie ein Fisch, es habe ein weiches, fleischiges Loch als Mund, und seine Augen leuchteten, hätten keine Lider und blickten starr. »Außerdem«, sagte sie und schauderte dabei, »ist es schiefergrau wie ein Delphin und sieht so naß aus wie ein Gummituch in einem Seziersaal.« Am Tage bevor ich mit meinen Alken in einem Fischerboot die Reise nach Port-of-Waves antreten sollte, kam Halyard und verkündete, er beabsichtige, mich zu begleiten. »Wohin?« fragte ich. »Nach Port-of-Waves und dann nach New York«,
erklärte er ruhig. Ich äußerte Zweifel, und meine mangelnde Herzlichkeit schien seine Gefühle zu verletzen. »Oh, wenn Sie natürlich die Seereise brauchen –« begann ich. »Nein. Sie brauche ich«, sagte er grimmig; »ich brauche die Anregung unseres täglichen Streits. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nicht so vergnüglich gestritten; es tut mir gut; ich fühle mich um hundert Prozent wohler als letzte Woche.« Ich war geneigt, daran Anstoß zu nehmen, aber irgend etwas in dem von tiefen Furchen durchzogenen Gesicht des Invaliden machte mich weich. Außerdem hatte ich das alte Schwein ins Herz geschlossen. »Ich will nicht sentimental werden«, sagte er und musterte mich dabei scharf; »ich lasse es nicht zu, daß ich irgend jemandem leid tue – begreifen Sie?« »Vielleicht darf ich Sie bitten, in einem anderen Ton mit mir zu sprechen«, erwiderte ich hitzig. »Wenn es mir paßt, tun Sie mir eben leid!« Und daraus entwickelte sich unser üblicher Streit, der ihn tief befriedigte. Um sechs Uhr am nächsten Abend hatte ich Halyards Gepäck in dem Fischerboot verstaut, ebenso die Sachen der hübschen Pflegerin, und hatte auch die neu ausgeschlüpften Alkjungen in einer Hutschachtel festgezurrt. Sie und ich beförderten den leeren Lattenkäfig an Bord, befestigten ihn, und anschließend warfen wir den Alken Tischtücher über die Köpfe und führten jene einfachen, würdigen Vögel den Weg hinunter über die Planke des kleinen hölzernen Piers. Gemeinsam schlossen wir das Haus ab, während
Halyard uns andauernd beschimpfte und wütend am Strand auf und ab fuhr. Im letzten Augenblick vergaß sie ihren Fingerhut, aber wir fanden ihn – ich weiß nicht mehr wo. »Kommen Sie doch!« schrie Halyard und fuchtelte wild mit seinen Schals herum; »was zum Teufel machen Sie dort oben?« Wir erklärten es ihm, worauf er hochmütig die Nase rümpfte, und dann rollten wir ihn an Bord. »Rollen Sie mich doch nicht wie einen Schiffskoffer über die Planke!« schrie er, als ich ihn geschickt ins Cockpit rollte. Aber der Wind ließ nach, und so hatte ich keine Zeit, mit ihm zu streiten. Die Sonne ging hinter dem baumbestandenen Felskamm unter, als unser Segel flatterte und sich blähte. Ich legte ab und begann, nach Osten zu steuern, um den Felsen an Steuerbord zu umsegeln. Die Seevögel erhoben sich in ganzen Wolken in den Himmel, als wir an den Sandbänken entlangglitten, die schwarzen Enten huschten ins Meer hinaus, die Möwen tauchten ihre Flügelspitzen ins Meer und ritten wie Schaum auf den Brechern. Wir segelten bereits langsam über jenes große Loch im Ozean fünf Meilen tief, der größten Untiefe, die man je im Atlantik gefunden hatte. Bloße Höhen oder Tiefen, ob man sie nun sieht oder nicht, haben immer großen Eindruck auf den menschlichen Geist – vielleicht bedrücken sie ihn sogar. Wir waren ganz stumm; der Widerschein der Sonne auf Klippe und Strand verstärkte sich, wurde purpurn und verblaßte schließlich, lange nachdem der rosige Schein am Horizont verschwunden war. Wir kamen nur langsam von der Stelle; manchmal
schienen wir uns kaum zu bewegen, obwohl das Segel sich mit der zunehmenden Landbrise füllte. »Wir sind doch nicht etwa auf dem tiefsten Loch im Atlantik auf Grund gelaufen?« fragte die hübsche Pflegerin. »Kaum«, sagte Halyard sarkastisch, »sofern wir nicht auf einem Wal festsitzen.« »Was ist das für ein Stoßen?« fragte ich. »Sind wir vielleicht mit einem schwimmenden Faß oder Baumstamm kollidiert?« Es war beinahe zu dunkel, um sehen zu können, aber ich beugte mich dennoch über die Reling und fuhr mit der Hand durchs Wasser. Im gleichen Augenblick glitt etwas Glattes darunter hinweg, so wie der Rücken eines großen Fisches, und ich zog die Hand unwillkürlich zurück und hielt mich am Steuer fest. Im gleichen Augenblick schien die ganze Wasseroberfläche zu schnurren; es war ein Geräusch, wie wenn der Schaum in einem Champagnerglas sprudelt. »Was ist denn los mit Ihnen?« fragte Halyard scharf. »Ein Fisch hat meine Hand berührt«, sagte ich, »ein Tümmler vielleicht oder so etwas –« Mit einem halb erstickten Schrei klammerte sich die hübsche Pflegerin mit beiden Händen an meinem Arm fest. »Hören Sie doch!« flüsterte sie. »Es schnurrt wieder um das Boot.« »Was zum Teufel schnurrt denn?« schrie Halyard. »Ich mag es nicht, wenn etwas um mich herum schnurrt!« In diesem Augenblick sah ich zu meiner Überra-
schung, daß das Boot völlig zur Ruhe gekommen war, obwohl das Segel voll gebläht war und das Fähnchen am Mast munter flatterte. Es zerrte auch etwas am Steuerruder, drehte daran, bis es nicht mehr ging. Und dann brach das Ruder; die Pinne schwamm im Wasser und das Boot wirbelte im Kreis, drehte sich in der steifer werdenden Brise und trieb auf das Ufer zu. Und in diesem Augenblick – ich hatte mich geduckt, um dem Mastarm auszuweichen – in diesem Augenblick sah ich etwas vor uns, etwas, das von einer Welle an Deck gespült zu werden schien, das dort liegenblieb, feucht und klatschend – ein Mann mit runden, starren, fischähnlichen Augen und einer weichen schiefergrauen Haut. Aber das schrecklichste an dem Ganzen waren die beiden Kiemen, die sich ruckartig entspannten und wieder anschwollen, und die dabei ein schnarrendes, schnurrendes Geräusch von sich gaben – zwei gähnende blutrote Kiemen, ausgekehlt und mit Muschelriefen an der Innenseite. Mit Erstaunen und Ekel starrte ich das Geschöpf an; ich fühlte, wie mir die Haare zu Berge standen und wie mir auf der Stirn der eisige Schweiß ausbrach. »Das ist der Hafenmeister!« schrie Halyard. Der Hafenmeister hatte sich zu einem feuchten Klumpen zusammengezogen und hockte jetzt reglos unter dem Mast am Bug, und seine lidlosen Augen phosphoreszierten wie die Augen eines Kabeljau. Nach einer Weile spürte ich, daß mich etwas, war es nun Angst oder Ekel, würgte, aber es waren nur die Arme der hübschen Pflegerin, die mich in ihrem
Schrecken festhielt. Es gab keine Feuerwaffe an Bord, die wir schnell erreichen konnten. Halyard kroch nach hinten, wo ein mit Stahl verstärkter Bootshaken lag, und ich griff ebenfalls danach. Im nächsten Augenblick hatte ich ihn in der Hand und taumelte nach vorn, aber das Boot trieb bereits zwischen den Brechern uferwärts, und das nächste, was ich wußte, war, daß der Hafenmeister wie eine riesige Ratte auf mich zukam, genau in dem Augenblick, als das Boot durch die Brandung gespült wurde und Fracht und Passagiere zwischen die mit Seetang überwachsenen Felsen ausschüttete. Als ich wieder zu mir kam, schlug ich in einem knietiefen Tümpel um mich, vom Wasser geblendet und halb erstickt, während unter meinen Füßen der Hafenmeister wie ein an Strand geworfener Tümmler das Wasser zum Kochen brachte, in seinem Bemühen, mich umzuwerfen. Aber seine Glieder schienen mir weich und knochenlos; er hatte keine Nägel, keine Zähne, und er schlug um sich und klatschte herum wie ein Fisch, während ich mit dem Bootshaken Schläge austeilte, die wie Hiebe auf einen Fußball klangen. Und die ganze Zeit bliesen seine Kiemen Wasser aus und schäumten und schnurrten, und der Blick seiner lidlosen Augen bohrte sich in die meinen, bis ich mich angewidert, gegen Übelkeit kämpfend und zitternd ans Ufer zurückschleppte, wo die hübsche Pflegerin abwechselnd ihre Hände und ihre Unterröcke rang. Jenseits der Bucht trieb Halyard in seinem Rollstuhl in den Wellen und versuchte sein nur für das Land bestimmte Gefährt zum Ufer zu steuern. Ich hatte
noch nie einen so wütenden Menschen gesehen. »Haben Sie dieses gummiköpfige Ding endlich umgebracht?« brüllte er. »Ich kann es nicht töten«, schrie ich atemlos zurück. »Ebensogut könnte ich versuchen, einen Fußball umzubringen!« »Können Sie denn kein Loch hineinstoßen?« schrie er. »Wenn ich ihn nur unter die Hände bekäme –« Seine Worte wurden von einem donnernden Klatschen übertönt, einem Aufbrüllen breiter Flossen, die das Meer schlugen und ich sah die riesenhaften Gestalten meiner zwei großen Alke, gefolgt von ihren Jungen, in Gischt gehüllt, ins Meer hinaus rasen. »Herrgott!« sagte ich. »Ich ertrage das nicht!« Zum erstenmal in meinem Leben wurde ich ganz friedlich ohnmächtig – sinnigerweise zu den Füßen der hübschen Pflegerin. Es liegt durchaus im Rahmen des Möglichen, daß man diese Geschichte anzweifelt. Das macht nichts aus; es gibt nichts, was die Verzweiflung eines Mannes noch größer machen kann, der zwei Große Alke verloren hat. Was Halyard anbetrifft, so kann ihn nichts aus der Ruhe bringen – nur sein unfreiwilliges Bad im Meer, und das tat ihm so gut, daß er mir jetzt aus dem Süden schreibt, er beabsichtige eine Reise durch die Schweiz zu machen – ob ich mich ihm anschließen wolle. Ich hätte das vielleicht getan, hätte er nicht die hübsche Pflegerin geheiratet. Ich frage mich – aber das ist natürlich nicht der richtige Ort für Vermutungen. Was den Hafenmeister angeht, so können Sie das
glauben oder nicht, ganz wie Sie wollen. Aber wenn Sie zufällig davon hören sollten, daß irgendwo Große Alke gefunden wurden, dann seien Sie so freundlich und werfen Sie ihnen ein Tischtuch über den Kopf und verständigen Sie die Leitung des neuen Zoologischen Gartens im Bronxpark von New York. Die Belohnung beträgt zehntausend Dollar.
Originaltitel: IN SEARCH OF THE UNKNOWN Übersetzt von Heinz Nagel
Isaac Asimov GLEICHBERECHTIGUNG NUR FÜR GLEICHE 1 Jefferson Scanlon wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete tief durch. Mit zitternden Fingern griff er nach dem Schalter – und überlegte es sich anders. Sein neuestes Modell – es hatte mehr als drei Monate Arbeit gekostet – war so gut wie seine letzte Hoffnung. Der größte Teil der fünfzehntausend Dollar, die er hatte borgen können, steckte darin. Und wenn er jetzt den Schalter umlegte, so würde das zeigen, ob er gewonnen oder verloren hatte. Scanlon schimpfte sich einen Feigling und umfaßte den Schalter mit festem Griff. Er drückte ihn herunter und schob ihn in der gleichen Bewegung wieder nach oben. Und nichts geschah – so sehr seine Augen sich auch abmühten, da war kein Blitz von Energie. In seiner Magengrube wurde es eisig kalt, und er drückte den Schalter erneut heftig herunter und ließ ihn offen. Nichts geschah: seine Maschine funktionierte wieder nicht. Er hatte versagt. Er vergrub den schmerzenden Kopf in den Händen und stöhnte: »O Gott! Sie müßte funktionieren – müßte. Meine Berechnungen stimmen, und ich habe die Kraftfelder erzeugt, die ich brauche. Nach allen Gesetzen der Wissenschaft sollten diese Kraftfelder zur Atomspaltung führen.« Er erhob sich, schob den
Schalter zurück und ging, tief in Gedanken versunken, auf und ab. Seine Theorie war richtig. Seine Geräte waren auf seine Gleichungen abgestimmt. Wenn aber die Theorie stimmte, mußten die Geräte falsch sein. Aber die Geräte waren auch richtig, also mußte die Theorie ... »Ich verschwinde hier, ehe ich verrückt werde«, sagte er zu den vier Wänden. Er schnappte sich Hut und Mantel vom Haken hinter der Tür und rannte hinaus, wobei er die Tür knallend zuschlug. Atomkraft. Atomkraft! Atomkraft! Immer wieder wiederholten sich diese Worte und sangen ein monotones Lied in seinem Gehirn. Ein Sirenenlied! Es lockte ihn in die Vernichtung, für seinen Traum hatte er eine bequeme und sichere Professur am M.I.T. aufgegeben. Er war schon als Dreißigjähriger ein Mann in mittleren Jahren geworden – er hatte seine Jugend verspielt, war offenbar ein Versager. Und jetzt schwand sein Geld schnell dahin. Wenn die Liebe zum Geld die Wurzel allen Übels ist, ist die Not, das Fehlen von Geld, ganz bestimmt die Wurzel aller Verzweiflung. Scanlon mußte über den Gedanken lächeln – gut gesagt, dachte er sich. Natürlich, wenn es ihm je gelang, den Abgrund zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken, waren die Aussichten herrlich. Die ganze Welt würde ihm gehören – und auch Mars und selbst die bis jetzt noch nicht besuchten Planeten. Alles würde ihm gehören. Er brauchte bloß herauszufinden, was an seinen Berechnungen nicht stimmte – nein, das hatte er überprüft, es lag an den Geräten. Obwohl – aufs neue
stöhnte er tief. Er wurde aus seinen trüben Gedanken gerissen. Nicht weit vor ihm schienen sich ein paar Jungen zu balgen. Jedenfalls waren ihre Rufe zu hören. Scanlon runzelte die Stirn. Er mochte Lärm nicht, besonders wenn er so trüber Stimmung war. Die Rufe wurden lauter, jetzt konnte man einzelne Worte ausmachen: »Schnapp ihn dir, Johnny!« – »Hey – seht, wie er rennt!« Ein Dutzend Jungen kamen hinter der Bretterwand eines Gebäudes, kaum hundert Meter entfernt, hervorgeschossen und rannten, ohne etwas zu sehen, auf Scanlon zu. Scanlon musterte die jungen Leute, ohne es eigentlich zu wollen, voll Neugierde. Sie jagten irgend jemanden oder irgend etwas mit der herzlos grausamen Freude von Kindern. In dem Zwielicht konnte er nicht genau erkennen, was es war. Er hielt die Hand über die Augen und kniff sie zusammen. Jetzt sah er eine plötzliche Bewegung, eine vereinzelte Gestalt löste sich von der Menge und rannte davon. Scanlon hätte beinahe seine trostspendende Pfeife vor Erstaunen fallen lassen, denn der Flüchtling war ein Mischling, ein Erde-Mars-Halbblut. Das drahtige weiße Haar, das wie die Stacheln eines Stachelschweines nach allen Seiten wuchs, war nicht zu verkennen. Scanlon staunte. Was hatte eines dieser Geschöpfe außerhalb einer Anstalt zu suchen? Jetzt hatten die Jungen den »Misch« eingeholt, und man konnte den Flüchtling nicht mehr sehen. Ihre Schreie wurden lauter. Scanlon sah erschreckt, wie ein schweres Brett klatschend auf und ab ging. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er untätig zusah, wäh-
rend ein hilfloses Geschöpf von ein paar Rowdies gequält wurde, und ehe ihm richtig bewußt wurde, was er tat, stürzte er sich auf sie und fuchtelte drohend mit den Fäusten. »Verschwindet hier, ihr Heiden! Weg mit euch, ehe ich –« Seine Fußspitze bekam Berührung mit dem Hosenboden des nächsten Rowdy, und seine Arme schlugen zwei von ihnen zu Boden. Das Auftauchen eines neuen Mitstreiters veränderte die Situation völlig. Jungen, gleichgültig, wie sie auch zahlenmäßig überlegen sein mögen, haben instinktiv Angst vor Erwachsenen – besonders vor wildgewordenen, brüllenden Erwachsenen –, und um einen solchen schien es sich bei Scanlon zu handeln. In kürzerer Zeit, als Scanlon brauchte, um festzustellen, daß sie weggelaufen waren, war er mit dem Misch allein, der auf dem Boden lag und schluchzend vorsichtige und etwas unsichere Blicke auf seinen Retter warf. Der Misch stand unsicher auf, und seine silbernen Borsten zitterten. »Ich hab mir den Knöchel etwas vertreten, aber ich kann gehen. Ich gehe jetzt. Und vielen Dank, daß Sie mir geholfen haben.« »Halt! Warte!« Scanlons Stimme klang jetzt viel weicher denn es dämmerte ihm, daß der Misch, obwohl beinahe ausgewachsen, unglaublich hager war, daß seine Kleidung aus nichts anderem als schmutzigen Fetzen bestand, und daß sein schmales Gesicht von einem herzzerreißenden Ausdruck unendlicher Müdigkeit gezeichnet war. »Hier«, sagte er, als der Misch sich wieder zu ihm wandte. »Hast du Hunger?«
Das Gesicht des Jungen verzog sich, als kämpfte er mit sich selbst. Als er dann antwortete, klang seine Stimme leise und unsicher. »Ja – ein wenig.« »So siehst du auch aus. Komm mit zu meinem Haus.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Du mußt essen, und mir scheint, dich einmal tüchtig waschen, und frische Sachen würden dir auch nicht schaden.« Er drehte sich um und ging voran. Dann sagte er nichts mehr, bis er die Haustür geöffnet und den Flur betreten hatte. »Ich glaube, du solltest zuerst ein Bad nehmen, Junge. Dort hinten ist das Badezimmer. Beeil dich und schließ die Tür ab, ehe Beulah dich sieht.« Seine Mahnung kam zu spät. Ein plötzlicher erstaunter Ausruf ließ Scanlon herumwirbeln, ein Urbild des Schuldbewußtseins, während der Misch vergeblich versuchte, im Schatten eines Hutständers zu verschwinden. Beulah, Scanlons Haushälterin, kam auf sie zugeschossen, und ihr an und für sich freundliches Gesicht flammte vor Ärger. Sie war ganz und gar fleischgewordene Verzweiflung. »Jefferson Scanlon! Jefferson!« Sie starrte den Misch schockiert an. »Wie kannst du so etwas in dieses Haus bringen! Haben Sie denn jeden Funken Anstand verloren?« Der arme Misch duckte sich unter ihrer Wut, aber Scanlon hatte sich nach seinem ersten Schrecken wieder gefangen. »Aber Beulah, das paßt gar nicht zu dir. Da haben wir dieses arme Geschöpf, verhungert, müde, von ein paar Rowdies verprügelt, und du empfindest kein Mitleid für ihn. Ich bin wirklich enttäuscht von dir, Beulah.«
»Enttäuscht!« jammerte die Haushälterin, obwohl Scanlons Worte ihre Wirkung nicht ganz verfehlt hatten. »Wegen dieses jämmerlichen Dings. Er sollte in einer Anstalt sein, wo solche Ungeheuer untergebracht sind.« »Schon gut«, sagte Scanlon, »darüber sprechen wir später. Geh jetzt, Junge, nimm ein Bad. Und Beulah, sieh nach, ob du ein paar alte Kleidungsstücke von mir findest.« Mit mißbilligendem Blick rauschte Beulah davon. »Denk dir nichts dabei«, sagte Scanlon, als sie gegangen war. »Sie war einmal mein Kindermädchen und empfindet mir gegenüber immer noch Besitzergefühle. Sie wird dir nichts zuleide tun. Geh jetzt baden.« Der Misch war ein völlig anderes Wesen, als er schließlich am Eßzimmertisch Platz nahm. Jetzt, da die Dreckschicht entfernt war, war etwas ganz Hübsches an seinem schmalen Gesicht, und seine hohe Stirn ließ ihn intelligent wirken. Sein Haar stand immer noch senkrecht in die Höhe, beinahe dreißig Zentimeter lang. Obwohl er es naß gemacht hatte. Im Licht der Zimmerbeleuchtung verlieh ihm das strahlende Weiß seiner Haare eine gewisse Würde, und Scanlon hatte das Gefühl, daß gar nichts Häßliches daran war. »Magst du kaltes Huhn?« fragte Scanlon. »Oh ja!« Das klang förmlich begeistert. »Dann halte dich ran. Und wenn du mit der Portion fertig bist, kannst du dir noch mehr nehmen. Du kannst alles essen, was auf dem Tisch ist.« Die Augen des Misch leuchteten, als er sich ans
Werk machte, und binnen weniger Minuten waren alle Schüsseln leer. »Nun«, meinte Scanlon, als die Mahlzeit beendet war, »ich finde, du könntest mir jetzt ein paar Fragen beantworten. Wie heißt du?« »Man hat mich Max genannt.« »Ah! Und einen Familiennamen hast du auch?« Der Misch zuckte die Achseln. »Die haben mich immer bloß Max genannt – wenn sie überhaupt mit mir redeten. Ich glaube ein Halbblut braucht keinen Namen.« Seine Verbitterung war unverkennbar. »Aber warum treibst du dich denn so herum? Warum bist du denn nicht dort, wo du wohnst?« »Ich war in einem Heim. Und alles andere ist besser als ein Heim – selbst die Welt draußen, die ich nie gesehen hatte. Ganz besonders, seit Tom nicht mehr lebt.« »Wer war denn Tom, Max?« fragte Scanlon mit leiser Stimme. »Er war der einzige andere wie ich. Er war jünger – fünfzehn –, aber er starb.« Er blickte vom Tisch auf, und seine Augen funkelten wütend. »Die haben ihn umgebracht, Mr. Scanlon. Er war so jung und so nett. Er hat es nicht ertragen, allein zu sein, so wie ich das konnte. Er brauchte Freunde und Spaß und – und er hatte bloß mich. Niemand wollte mit ihm reden oder etwas mit ihm zu tun haben, weil er ein Halbblut war. Und als er starb, konnte ich es auch nicht mehr ertragen. Und da bin ich ausgerissen.« »Die wollten gut zu euch sein, Max. Du hättest das nicht tun sollen. Du bist nicht wie die anderen Leute; die verstehen dich nicht. Und sie müssen auch etwas für dich getan haben. Du sprichst so, als hättest du
eine Schule besucht, eine Erziehung bekommen.« »Ja, ich konnte zur Schule gehen«, nickte er traurig. »Aber ich mußte in einer Ecke sitzen, abseits von all den anderen. Aber die haben mich alles lesen lassen was ich wollte, und dafür bin ich dankbar.« »Na siehst du, Max. Du warst gar nicht so schlimm dran, oder?« Max hob den Kopf und sah den anderen argwöhnisch an. »Sie werden mich doch nicht zurückschicken, oder?« Er stand halb auf, als wollte er jeden Augenblick wegrennen. Scanlon hüstelte unsicher. »Natürlich, wenn du nicht zurück willst, werde ich dich nicht dazu zwingen. Aber das wäre das beste für dich.« »Das wäre es nicht!« rief Max heftig. »Nun, wie du willst. Jedenfalls glaube ich, daß du jetzt schlafen gehen solltest. Du brauchst den Schlaf. Wir sprechen uns morgen wieder.« Er führte den immer noch argwöhnischen Misch ins Obergeschoß und zeigte ihm ein kleines Schlafzimmer. »Das gehört heute nacht dir. Ich werde nebenan schlafen, und wenn du etwas brauchst, so mußt du nur rufen.« Er drehte sich um, dann fiel ihm noch etwas ein. »Aber denk daran, du darfst nachts nicht versuchen, wegzulaufen.« »Ehrenwort, das mache ich nicht.« Scanlon zog sich nachdenklich in den Raum zurück, den er als sein Studierzimmer bezeichnete. Er knipste eine Stehlampe an und machte es sich in einem abgewetzten Lehnsessel bequem. Zehn Minuten saß er, ohne sich zu bewegen da, und dachte zum erstenmal seit sechs Jahren über etwas anderes nach als seinen Traum von der Atomkraft.
Es klopfte leise an der Tür, und als er »Herein« knurrte, kam Beulah. Sie runzelte die Stirn und hatte die Lippen verkniffen. »Oh, Jefferson! Wenn ich mir vorstelle, daß Sie so etwas getan haben! Wenn Ihre liebe Mutter wüßte ...« »Setz dich hin, Beulah«, Scanlon deutete auf einen anderen Sessel, »und mach dir keine Sorgen wegen meiner Mutter. Ihr hätte das nichts ausgemacht.« »Nein. Ihr Vater war auch ein gutmütiger Dummkopf. Sie sind genau wie er, Jefferson. Zuerst verbrauchen Sie Ihr ganzes Geld für dumme Maschinen, die das ganze Haus in die Luft sprengen könnten – und jetzt holen Sie sich dieses schreckliche Geschöpf von der Straße herein ... sagen Sie, Jefferson«, ihre Stimme klang ganz verängstigt, »denken Sie daran, dieses Geschöpf zu behalten?« Scanlon lächelte. »Ich glaube schon, Beulah. Es bleibt mir doch nichts anderes übrig.«
2 Eine Woche darauf war Scanlon in seiner Werkstatt. In der Nacht zuvor war ihm ein möglicher Grund eingefallen, weshalb seine Maschine nicht funktionierte. Vielleicht kam das sogar daher, daß Max' Anwesenheit ihn aus seiner Monotonie gerissen hatte. Vielleicht waren ein paar Teile defekt, dachte er. Und die geringste Abweichung von der Spezifikation würde die Maschine unbrauchbar machen. Er stürzte sich in seine Arbeit. Nach einer halben Stunde hatte er den Apparat in seine Bestandteile zerlegt, die jetzt alle auf der Werkbank herumlagen.
Er saß auf einem hochbeinigen Hocker und musterte die Teile voll Verzweiflung. Er hörte kaum, wie die Tür sich leise öffnete und sich wieder schloß. Erst als der Eindringling zweimal gehustet hatte, fiel dem in seine Arbeit versunkenen Erfinder auf, daß noch jemand im Raum war. »Oh – du bist es, Max. Wolltest du mir etwas sagen?« »Wenn Sie keine Zeit haben, kann ich warten, Mr. Scanlon.« Er war noch genauso scheu wie am Anfang der Woche. »Aber in meinem Zimmer waren so viele Bücher ...« »Bücher? Oh, wenn du sie nicht willst, lasse ich sie wegschaffen. Wahrscheinlich wirst du sie nicht wollen – soweit ich mich entsinnen kann, sind es hauptsächlich wissenschaftliche Werke. Die sind dir wahrscheinlich jetzt noch etwas zu hoch.« »Oh, es ist nicht besonders schwierig«, versicherte ihm Max. Er deutete auf ein Buch, das er in der Hand hielt. »Ich wollte bloß, daß Sie mir hier etwas über Quantenmechanik erklären. Da sind ein paar Integralrechnungen, die ich nicht ganz begreife. Da, warten Sie – ich habe es gleich.« Er blätterte in dem Buch, hielt dann aber plötzlich inne, als er sich seiner Umgebung bewußt wurde. »Oh, sagen Sie – zerlegen Sie Ihr Modell?« Die Frage riß Scanlon in die Wirklichkeit zurück. Er lächelte etwas bitter. »Nein, noch nicht. Ich dachte bloß, da wäre etwas an der Isolation oder an den Verbindungen nicht in Ordnung und es funktionierte deshalb nicht. Aber das ist es nicht – ich muß irgendwo einen Fehler gemacht haben.« »Das ist aber schade.« Der Misch runzelte traurig die Stirn.
»Und das schlimmste ist, daß ich keine Ahnung habe, was nicht stimmt. Ich bin ganz sicher, daß die Theorie in Ordnung ist – ich habe sie gründlich überprüft. Ich habe die Berechnungen immer wieder nachgerechnet, und sie führen jedesmal zum gleichen Ergebnis. Wenn man eine künstliche Raumkrümmung von der und der Intensität herbeiführt, dann wird das Atom gespalten. Nur, es klappt nicht.« »Darf ich die Gleichungen mal sehen?« Scanlon blickte seinen Schützling fragend an, konnte aber in seinem Gesicht nur ernsthaftes Interesse entdecken. Er zuckte die Achseln. »Da sind sie – unter diesem Stapel gelben Papiers auf dem Schreibtisch. Ich weiß nur nicht, ob du sie lesen kannst. Ich war zu faul, sie mit der Maschine zu schreiben, und meine Handschrift ist ziemlich eigenwillig.« Max musterte die Berechnungen nachdenklich und sah sich die Blätter eines nach dem anderen an. »Ich fürchte, das ist mir etwas zu hoch.« Der Erfinder lächelte schwach. »Das hatte ich auch vermutet, Max.« Er sah sich in dem mit Geräten überhäuften Raum um und empfand plötzlich Ärger. Warum funktionierte das Ding bloß nicht? Er stand ruckartig auf und nahm seinen Mantel. »Ich gehe, Max«, sagte er. »Sag Beulah, daß sie nichts Warmes zum Mittagessen zu machen braucht. Das würde bestimmt kalt werden, bis ich zurückkomme.« Als er die Haustüre öffnete war es Nachmittag und der Hunger quälte ihn. Aber er war nicht so hungrig, um erstaunt zu bemerken, daß jemand in seinem Labor arbeitete. Ein scharfes Summen drang an seine
Ohren, gefolgt von einem plötzlichen Schweigen, und dann wieder das Summen, dem sich diesmal ein scharfes Knattern anschloß, das einen Augenblick dauerte und dann verstummte. Er rannte den Korridor hinunter und riß die Labortür auf. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn reglos erstarren. Es dauerte eine Weile, bis er die Botschaft entziffern konnte, die seine Sinne aufnahmen. Sein Atommotor war wieder zusammengebaut worden, aber diesmal in völlig fremdartiger Weise. Es war völlig sinnlos, denn selbst sein geübter Blick konnte keine Beziehung zwischen den einzelnen Teilen herstellen. Er fragte sich, ob das ein Alptraum oder ein Streich sein sollte, den ihm jemand spielte. Und dann wurde ihm plötzlich alles klar, denn da war am Ende des anderen Raumes der unverkennbare Anblick einer Bürste silbernen Haares, das über eine Werkbank hinausragte und sachte von einer Seite zur anderen schwankte, während der verborgene Besitzer dieser Haarmähne sich bewegte. »Max!« rief der wütende Erfinder. Offenbar hatte dieser dumme Junge in seiner Abwesenheit gefährliche Experimente angestellt. Als er den Ruf hörte, hob Max sein bleiches Gesicht, das sich plötzlich rötete, als er Scanlon erblickte. Zögernd kam er auf den Erfinder zu. »Was hast du gemacht?« fuhr Scanlon ihn wütend an. »Weißt du, womit du da gespielt hast? In diesem Ding ist genügend Strom, um dich gar zu braten.« »Es tut mir leid, Mr. Scanlon. Ich habe mir die Gleichungen angesehen, und da hatte ich eine ziemlich dumme Idee, hatte aber Angst, etwas zu sagen, weil
Sie doch so viel mehr wissen als ich. Und als Sie dann weg waren, konnte ich der Versuchung einfach nicht widerstehen, es auszuprobieren, obwohl ich nicht so weit gehen wollte. Ich dachte, ich könnte das Ganze wieder zerlegen, ehe Sie zurückkommen.« Scanlon schwieg eine Weile; als er dann wieder sprach, klang seine Stimme eigenartig mild. »Nun, was hast du denn getan?« »Sie sind auch bestimmt nicht böse?« »Dafür ist es etwas zu spät. Viel schlimmer hättest du es ohnehin nicht machen können.« »Nun, ich habe in Ihren Gleichungen gesehen –« er nahm zuerst ein Blatt und dann ein anderes und zeigte darauf, »daß jedesmal, wenn da der Ausdruck steht, der die Raumkrümmungsfelder bezeichnet, es sich immer um eine Funktion von X-Quadrat plus YQuadrat plus Z-Quadrat handelt. Da, soweit ich erkennen konnte, die Kraftfelder immer als Konstanten bezeichnet wurden, würde das die Gleichung einer Kugel ergeben.« Scanlon nickte. »Das habe ich auch bemerkt, aber das hat nichts mit dem Problem zu tun.« »Nun, ich dachte, es könnte darauf hindeuten, wie die einzelnen Felder angeordnet sein müßten. Und deshalb habe ich die Verzerrer herausgelöst und sie in Kugelform neu angeordnet.« Dem Erfinder blieb der Mund offen stehen. Jetzt schien ihm plötzlich die neue Anordnung seiner Geräte klar – und was noch viel wichtiger war, ungeheuer vernünftig. »Funktioniert es denn?« fragte er. »Da bin ich nicht ganz sicher. Die Teile sind natürlich nicht dafür gebaut, und deshalb ist die Anord-
nung ziemlich primitiv. Und dann wäre hier noch der Konstantenfehler zu berücksichtigen –« »Aber funktioniert es? Leg doch den Schalter um, verdammt!« Scanlon war plötzlich wieder ganz Feuer und Flamme. »Schön, dann treten Sie zurück. Ich habe die Energiezufuhr auf ein Zehntel reduziert, damit wir nicht mehr Leistung bekommen, als wir verkraften können.« Er legte langsam den Schalter um, und in dem Augenblick, in dem der Kontakt hergestellt war, sprang ein glühender blauweißer Flammenstrahl aus der Quarzkammer in der Mitte. Scanlon deckte automatisch die Augen ab und suchte nach der Leistungsskala. Die Nadel kletterte stetig und blieb erst dann stehen, als sie die obere Grenze erreicht hatte. Die Flamme brannte beständig, schien dabei keine Hitze abzugeben, obwohl neben ihrem Licht, das greller leuchtete als eine Magnesiumfackel, die elektrische Beleuchtung zu schummerigem Gelb verblaßte. Max öffnete den Schalter wieder und der Flammenball wurde rot und erstarb und ließ den Raum vergleichsweise dunkel. Die Nadel sank wieder auf Null, und Scanlon spürte, wie seine Knie ihm den Dienst versagten. Er ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Sein Blick suchte den verlegenen Misch, und in diesem Blick war gleichzeitig Respekt und Staunen und noch etwas, denn da war auch Furcht. Bis jetzt war ihm nie so recht klar geworden, daß der Misch kein Wesen von der Erde und auch keins vom Mars war, sondern eine Rasse für sich. Jetzt fiel ihm der Unter-
schied auf, und zwar nicht in den vergleichsweise geringen physischen Veränderungen, sondern in dem tiefen geistigen Abgrund zwischen den Rassen, den er erst jetzt begriff. »Atomkraft!« stieß er heiser hervor. »Und ein kaum zwanzigjähriger Junge hatte das Geheimnis gelöst.« Max war völlig verwirrt. »Die eigentliche Arbeit haben Sie geleistet, Mr. Scanlon. Und zwar viele Jahre lang. Mir ist bloß zufällig eine Kleinigkeit aufgefallen, die Sie vielleicht morgen bemerkt hätten.« Seine Stimme erstarb unter dem starren Blick des Erfinders. »Atomkraft – die größte Leistung, die die Menschheit bisher hervorgebracht hat, und wir haben sie gefunden, wir beide.« Beide – der Gelehrte und der Junge – schienen benommen von der Größe und Bedeutung dessen, das sie geschaffen hatten. Und in diesem Augenblick endete das Zeitalter der Elektrizität.
3 Jefferson Scanlon sog zufrieden an seiner Pfeife. Draußen fiel Schnee, es war kalt, aber hier drinnen hatte Scanlon es gemütlich warm, rauchte und lächelte selbstzufrieden. Ihm gegenüber klapperte Beulah, ebenfalls ruhig und zufrieden, mit ihren Stricknadeln und summte leise im Takt dazu, wobei sie das geschickte Spiel ihrer Finger nur gelegentlich unterbrach, wenn das Muster besonders kompliziert war. In der Ecke am Fenster saß Max, in seine übliche Beschäftigung, das Lesen, vertieft. Und Scanlon regi-
strierte mit einem Anflug von Überraschung, daß Max in letzter Zeit seine Lektüre auf leichte Romane beschränkt hatte. Seit jenem unvergessenen Tag vor mehr als einem Jahr, war viel geschehen. Zum einen war Scanlon jetzt ein weltberühmter und von der ganzen Welt angebeteter Wissenschaftler, und es war nur menschlich, daß er stolz darauf war. Zum zweiten, und kaum weniger wichtig, war die Atomkraft jetzt im Begriff, die ganze Welt zu verändern. Scanlon dankte im stillen den Weltmächten immer wieder daß Krieg seit zwei Jahrhunderten ein Begriff aus der Vergangenheit war, denn sonst wäre die Entdeckung der Atomkraft gleichbedeutend mit der Vernichtung jeglicher Zivilisation gewesen. So wie die Dinge jetzt standen, kontrollierte die Koalition der Weltmächte die Atomenergie, und das war ein wahrer Segen, denn nur so war es möglich, daß man sie langsam und in kleinen Schritten einführte, um wirtschaftliches Chaos zu verhindern. Im Flug zwischen den Planeten war die Revolution bereits eingetreten. Waren früher Reisen zum Mars und zur Venus gefährliche und riskante Unternehmen gewesen, so waren es jetzt Ferienausflüge, die man in einem Drittel der Zeit bewältigen konnte. Auch Flüge zu den äußeren Planeten waren jetzt in den Bereich des Möglichen getreten. Scanlon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sinnierte zum hundertsten Male über den einzigen kleinen Schönheitsfehler des Ganzen nach. Max hatte es abgelehnt, sich mit dieser Entdeckung zu identifizieren. Er hatte entschieden darauf bestanden, daß sein Name nicht erwähnt wurde. Das war ungerecht,
und Scanlon ärgerte sich darüber, aber er hatte Max' Wunsch nachgegeben und nur ganz vage von ›tüchtigen Mitarbeitern‹ gesprochen. Und innerlich schämte er sich über dieses Verhalten. Ein explosionsartiges Geräusch riß ihn aus seinen Träumen, und er blickte erstaunt zu Max hinüber, der plötzlich sein Buch zugeklappt hatte. »He«, rief Scanlon aus, »was ist denn jetzt passiert?« Max legte das Buch beiseite und stand auf. Seine Unterlippe stand schmollend vor. »Ich bin einsam, das ist alles.« Scanlon nickte. Er wußte nicht recht, was er sagen sollte. »Das kann ich mir vorstellen, Max«, sagte er schließlich leise. »Du tust mir leid, aber die Umstände sind, sind –« Max nickte und sein Gesicht hellte sich wieder auf. Er legte seinem Pflegevater den Arm um die Schulter. »Du weißt ja, daß ich es nicht so gemeint habe. Es ist nur – nun, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber man wünscht sich einfach einen Gleichaltrigen, mit dem man reden kann, jemand von meiner eigenen Art.« Beulah blickte auf, warf dem jungen Menschen einen durchdringenden Blick zu, sagte aber nichts. Scanlon überlegte. »In gewisser Weise hast du recht, Junge. Ein Freund und Begleiter ist das beste, was man in deinem Alter haben kann, und ich fürchte, Beulah und ich sind in dieser Hinsicht nicht das richtige. Einer von deiner eigenen Art, wie du es ausdrückst, wäre die ideale Lösung, aber das ist sehr schwierig.« Er rieb sich nachdenklich die Nase und blickte zur Decke.
Max machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders und wurde ohne ersichtlichen Grund plötzlich rot. Dann murmelte er, kaum laut genug, daß Scanlon es hören konnte: »Ich habe mich dumm benommen.« Und dann machte er abrupt auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer, wo er die Tür laut hinter sich zuknallte. Scanlon blickte ihm in unverhohlener Überraschung nach. »Tja! Wie man sich nur so seltsam verhalten kann. Was in ihn gefahren ist?« Beulah ließ ihre klappernden Nadeln einen Augenblick ruhen und meinte mit beißender Ironie: »Alle Männer sind Narren und blind obendrein.« »Wirklich?« fragte Scanlon. »Weißt du denn, was an ihm frißt?« »Natürlich. Das ist ebensowenig zu übersehen wie diese schreckliche Krawatte, die Sie tragen. Ich sehe das schon seit Monaten. Der arme Kerl!« Scanlon schüttelte den Kopf. »Du sprichst in Rätseln, Beulah.« Die Haushälterin legte ihr Strickzeug weg und sah den Erfinder an. »Es ist ganz einfach. Der Junge ist zwanzig. Er braucht Gesellschaft.« »Aber das hat er doch gesagt. Ist das deine Wunderbare Entdeckung?« »Großer Gott, Jefferson. Ist es denn schon so lange her, daß Sie selbst zwanzig waren? Sie wollen doch wohl nicht ernsthaft behaupten, sie meinen, er wolle einen jungen Mann als Gesellschaft?« »Oh«, sagte Scanlon. Und dann nach einer Weile noch einmal »Oh!« Er kicherte.
»Nun, und was werden Sie unternehmen?« »Nun – nun, nichts. Was kann man denn unternehmen?« »Und das sagen Sie, wo Sie reich genug sind, um fünfhundert Waisenhäuser vom Keller bis zur Decke zu kaufen, ohne daß Sie die Ausgabe spüren würden? Dabei wäre es doch die leichteste Sache auf der ganzen Welt, ein passendes junges Misch-Mädchen zu finden, das ihm Gesellschaft leisten kann.« Scanlon sah sie an, sein Gesicht war jetzt verstört. »Ist das dein Ernst, Beulah? Du schlägst mir also vor, daß ich eine weibliche Misch für Max suche? Aber – aber was weiß ich denn über Frauen? Ganz besonders über Misch-Frauen. Ich weiß doch nicht, was für einen Geschmack er hat. Am Ende würde ich eine aussuchen, die er für eine häßliche alte Eule hält.« »Jetzt reden Sie kein dummes Zeug, Jefferson. Bis auf das Haar sehen die genauso aus wie alle anderen Leute, und ich überlasse es ganz Ihnen, eine hübsche Misch auszusuchen. Es hat noch nie einen Junggesellen gegeben, der dazu zu alt gewesen wäre.« »Nein! Das tue ich nicht. Das ist ja ein schrecklicher Gedanke –« »Jefferson! Sie sind sein Vormund. Sie sind es ihm schuldig.« »Ich bin es ihm schuldig«, wiederholte Scanlon langsam. »Da hast du recht, da weißt du gar nicht, wie recht du hast. Wahrscheinlich habe ich gar keine andere Wahl.« Scanlon trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und versuchte dem säuerlichen Blick der Beamtin auszuweichen; auf deren Schreibtisch ein Schild
stand, das in großen Lettern MISS MARTIN, DIREKTORIN, trug. »Setzen Sie sich, Sir«, sagte sie säuerlich. »Was wünschen Sie?« Scanlon räusperte sich. Er hatte vergessen, wie viele Heime er bereits besucht hatte. Die Aufgabe überstieg langsam seine Kräfte. Er gelobte im stillen, daß das hier das letzte Heim sein würde – entweder fand er hier eine Misch des richtigen Alters und mit dem richtigen Aussehen, oder er würde aufgeben. »Ich bin hierhergekommen, um –« begann er seine sorgsam vorbereitete und dennoch stammelnde Rede, »um nachzusehen, ob es irgendwelche MarsMischlinge in ihrem Heim gibt. Es ist nämlich –« »Wir haben drei«, unterbrach ihn die Direktorin scharf. »Auch Frauen?« fragte Scanlon eifrig. »Nur Frauen«, erwiderte sie, und in ihren Augen schimmerte unverhohlener Argwohn. »Oh, gut. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich sie mir ansehe. Es ist –« Miss Martins eisiger Blick ließ ihn nicht los. »Entschuldigen Sie, aber ehe wir etwas unternehmen, möchte ich wissen, ob Sie beabsichtigen, einen Mischling zu adoptieren.« »Ich möchte die Vormundschaft übernehmen, wenn ich dafür geeignet bin. Ist das so ungewöhnlich?« »Allerdings«, antwortete Miss Martin prompt. »Sie begreifen natürlich, daß wir in einem solchen Fall zuerst gründliche Nachforschungen über die Familie anstellen müssen, sowohl in finanzieller als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Die Regierung ist der An-
sicht, daß diese Geschöpfe in der Obhut des Staates besser aufgehoben sind. Mit der Adoption ist das sehr schwierig.« »Ich weiß, Miss Martin, ich weiß. Ich habe schon vor fünfzehn Monaten in dieser Angelegenheit praktische Erfahrungen gesammelt. Ich glaube, ich kann Ihnen ohne große Schwierigkeiten nachweisen, daß meine finanziellen und gesellschaftlichen Umstände befriedigend sind. Mein Name ist Jefferson Scanlon –« »Jefferson Scanlon!« schrie sie förmlich. Ihr Ausdruck verwandelte sich. Plötzlich war sie ganz unterwürfig. »Natürlich, ich hätte Sie gleich erkennen müssen, von den vielen Bildern her. Wie dumm von mir. Bitte, machen Sie sich keine Mühe mit Referenzen. Ich bin sicher, daß in Ihrem Fall –« und das mit einem Gesichtsausdruck echter Freude – »daß in Ihrem Fall keinerlei Formalitäten nötig sein werden.« Sie drückte auf einen Klingelknopf. »Bringen Sie Madeline und die zwei Kleinen so schnell wie möglich«, fuhr sie die verstörte Pflegerin an, die zur Tür hereinsah. »Lassen Sie sie saubermachen und sorgen Sie dafür, daß sie sich anständig benehmen.« Dann wandte sie sich wieder Scanlon zu. »Das dauert gar nicht lange, Mr. Scanlon. Es ist wirklich eine große Ehre für uns, daß Sie uns hier besuchen, und ich schäme mich, daß ich Sie zuerst so unfreundlich behandelt habe. Ich habe Sie nicht erkannt, obwohl ich natürlich sofort wußte, daß Sie eine wichtige Persönlichkeit sind.« Hatte die Unfreundlichkeit der Direktorin Scanlon zuerst verärgert, so brachte ihn ihre Unterwürfigkeit jetzt völlig aus dem Gleichgewicht. Immer wieder
wischte er sich den Schweiß von der Stirn und beantwortete die vielen Fragen, die ihm gestellt wurden, einsilbig und unzusammenhängend. Er hatte gerade den Beschluß gefaßt, aufzuspringen und diesem Drachen zu entfliehen, als die Pflegerin die Situation rettete, indem sie die drei Misch hereinbrachte. Scanlon musterte die drei Mädchen interessiert und befriedigt. Zwei waren noch Kinder, vielleicht zehn Jahre alt, aber die dritte, etwa achtzehn Jahre alt, war in jeder Hinsicht geeignet. Ihre schlanke Gestalt wirkte selbst in der grauen Anstaltskleidung elegant und graziös, und Scanlon, eingefleischter Junggeselle, der er war, nickte unwillkürlich befriedigt. Ihr Gesicht war ganz bestimmt das, was Beulah ›passend‹ nennen würde, und ihre Augen, die sie zu Boden gewandt hatte, waren von tiefem Blau. Selbst ihr seltsames Haar war schön. Es war nur mäßig hoch, bei weitem nicht so auffällig wie Max' männlicher Kamm, und sein seidenweißer Glanz funkelte im Licht der Sonne. Die beiden Kleinen klammerten sich am Rock der älteren fest und musterten die beiden Erwachsenen mit großen, verschreckten Augen. »Ich glaube, Miss Martin, die junge Dame wäre gerade richtig«, bemerkte Scanlon. »Sie ist genau das, was ich mir vorgestellt habe. Könnten Sie mir sagen, wie schnell die Papiere vorbereitet werden können?« »Die können Ihnen morgen zur Verfügung stehen, Mr. Scanlon. In einem so ungewöhnlichen Fall wie dem Ihren, kann ich sicher etwas Besonderes tun.« »Danke. Ich bin dann –« Ein lautes Schluchzen unterbrach ihn. Eine der kleinen Mischs konnte es nicht
länger ertragen und brach in Tränen aus, und die andere schloß sich ihr sofort an. »Madeline«, rief Miss Martin der Achtzehnjährigen zu. »Bitte sorge dafür, daß Rose und Blanche ruhig sind. Das ist ja ein schrecklicher Auftritt.« Scanlon schaltete sich ein. Er hatte den Eindruck, daß Madeline ziemlich blaß war, und wenn sie auch lächelte und die Kleinen beruhigte, hatte er doch das Gefühl, daß Tränen in ihren Augen standen. »Vielleicht möchte die junge Dame die Anstalt gar nicht verlassen«, meinte er. »Ich will sie natürlich nur auf rein freiwilliger Basis mitnehmen.« Miss Martin lächelte süßsauer. »Sie wird Ihnen keine Schwierigkeiten machen.« Sie wandte sich dem jungen Mädchen zu. »Du hast doch von dem großen Jefferson Scanlon gehört, oder?« »Ja, Miss Martin«, erwiderte das Mädchen leise. »Überlassen Sie das mir, Miss Martin«, drängte Scanlon. »Sag' mir, Mädchen, würdest du lieber hierbleiben?« »Oh, nein«, antwortete sie ernst, »ich würde sehr gern hier weggehen, wenn ich auch«, und das mit einem Blick auf Miss Martin, »wenn ich auch hier sehr gut behandelt worden bin. Aber wissen Sie, was soll denn aus den zwei Kleinen werden? Ich bin alles, was sie haben, und wenn ich weggehe, dann – dann –« Jetzt war es um ihre Fassung geschehen, und sie drückte die beiden an sich. »Ich will sie nicht verlassen, Sir!« Sie küßte beide. »Weint nicht, Kinder. Ich lasse euch nicht allein. Die nehmen mich euch nicht weg.« Scanlon schluckte und suchte nach einem Taschentuch, um sich zu schneuzen. Miss Martin mu-
sterte ihn mißbilligend. »Machen Sie sich nichts aus dem dummen Ding, Mr. Scanlon«, sagte sie. »Ich glaube, daß bis morgen mittag alles fertig ist.« »Stellen Sie die Papiere für alle drei aus«, antwortete Scanlon. »Was? Alle drei? Ist das Ihr Ernst?« »Natürlich. Das geht doch, wenn ich es verlange, oder?« fuhr er sie an. »Nun, natürlich, aber –« Scanlon stürmte aus dem Raum und ließ Madeline und Miss Martin wie versteinert zurück, letztere völlig verblüfft, die andere von ihrem Glück überwältigt. Selbst die zwei Zehnjährigen spürten, daß die Lage sich plötzlich geändert hatte, und ihr Weinen verstummte. Beulahs Überraschung war, als sie sie am Flughafen abholte und drei Mischs anstelle von nur einer sah, unbeschreiblich. Aber im Ganzen betrachtet war es eine angenehme Überraschung, denn die kleine Rose und die kleine Blanche schlossen die alte Haushälterin sofort ins Herz. Zur Begrüßung drückten sie beide Beulah schmatzende Küsse auf die faltigen Wangen, worauf sie vor Freude strahlte und sie ebenfalls küßte. Von Madeline war sie begeistert und flüsterte Scanlon zu, daß er offenbar doch mehr von solchen Dingen verstand, als er vorgab. »Wenn sie vernünftiges Haar hätte«, flüsterte Scanlon zurück, »würde ich sie selbst heiraten. Ganz bestimmt.« Und dann lächelte er selbstzufrieden. Die Ankunft zu Hause am Nachmittag war eine
höchst aufregende Angelegenheit. Scanlon überredete Max dazu, ihn auf einem langen Waldspaziergang zu begleiten, und als der nichtsahnende Max verblüfft, aber bereitwillig mitkam, machte Beulah sich ans Werk, die drei Neuankömmlinge mit ihrer neuen Umgebung vertraut zu machen. Sie zeigte ihnen das Haus vom Keller bis zum Dachgeschoß und führte sie in ihr Zimmer. Beulah redete unentwegt und schaffte es tatsächlich, die Mischs in kurzer Zeit so von sich einzunehmen, daß sie bald das Gefühl hatten, sie seit einer Ewigkeit zu kennen. Dann, als der Abend näherrückte, wandte sie sich plötzlich zu Madeline und sagte: »Es wird spät. Willst du mit herunterkommen und helfen, das Abendessen für die Männer vorzubereiten?« Madeline stutzte. »Die Männer? Ist da noch jemand außer Mr. Scanlon?« »Oh ja. Da ist noch Max. Du hast ihn noch nicht gesehen.« »Ist Max ein Verwandter von Ihnen?« »Nein, Kind. Er ist auch eines von Mr. Scanlons Pflegekindern.« »Oh, ich verstehe.« Sie wurde rot und griff sich unwillkürlich ans Haar. Beulah verstand sofort, welche Gedanken dem Mädchen jetzt durch den Kopf gingen, und sie fügte mit leiser Stimme hinzu: »Keine Sorge, Liebes. Ihm macht es bestimmt nichts aus, daß du eine Misch bist. Er wird sich freuen, dich zu sehen.« Aber Freude war nicht der ausreichende Ausdruck, um Max' Gefühle bei Madelines Anblick zu beschreiben.
Er betrat vor Scanlon das Haus, zog den Mantel aus und stampfte sich dabei den Schnee von den Schuhen. »Oh, Mann«, rief er dem vor Kälte halb erstarrten Erfinder zu, der hinter ihm ins Haus kam, »ich begreife einfach nicht, wie man an einem so eisigen Tag einen Spaziergang machen kann!« Er atmete prüfend die Luft ein. »Ah, rieche ich da Lammkoteletten?« Damit rannte er ins Speisezimmer. An der Türschwelle blieb er plötzlich stehen und holte tief Luft, als wäre er am Ersticken. Scanlon zwängte sich an ihm vorbei und setzte sich. »Komm nur herein«, sagte er und genoß das Erstaunen des Jungen. »Setz dich. Wir haben heute Besuch. Das ist Madeline, und das ist Rose, und das ist Blanche. Und das«, damit wandte er sich zu den Mädchen und stellte befriedigt fest, daß Madeline verwirrt auf ihren Teller blickte, »ist mein Pflegesohn Max.« »Guten Tag«, murmelte Max, dessen Augen so groß wie Suppenschüsseln waren. »Freut mich, euch kennenzulernen.« Rose und Blanche stießen verzückte Schreie aus, aber Madeline hob nur kurz den Blick und senkte dann die Augen wieder. Das Essen verlief ungewöhnlich ruhig. Obwohl Max den ganzen Nachmittag mit seinem mächtigen Hunger geprahlt hatte, ließ er sein Lammkotelett und den Kartoffelbrei kalt werden, während Madeline mit ihrem Essen spielte, als wüßte sie nichts damit anzufangen. Scanlon und Beulah aßen stumm und wechselten gelegentlich wissende Blicke. Nach dem Abendessen entfernte sich Scanlon, da er mit Recht der Ansicht war, daß in einer solchen An-
gelegenheit eine Frau taktvoller vorgehen konnte, und als Beulah dann einige Stunden später in sein Studierzimmer kam, sah er auf den ersten Blick, daß er damit recht gehabt hatte. »Das Eis ist gebrochen«, sagte sie glücklich, »die erzählen sich jetzt ihre Lebensgeschichte und kommen wunderbar miteinander aus. Sie haben freilich noch Angst voreinander und bestehen darauf, möglichst weit auseinanderzusitzen, aber das wird sich geben – und zwar ziemlich schnell.« »Die beiden passen doch prima zusammen, Beulah, oder?« »Besser könnte ich es mir nicht vorstellen. Und die zwei Kleinen sind wahre Engel. Ich hab sie gerade zu Bett gebracht.« Ein kurzes Schweigen folgte, und dann fuhr Beulah mit leiser Stimme fort: »Das war das erste Mal, daß Sie recht hatten und ich unrecht – damals, als Sie Max ins Haus gebracht haben und ich nicht einverstanden war. Aber dieses eine Mal gleicht alles andere aus. Ihre Mutter wäre stolz auf Sie, Jefferson.« Scanlon nickte ernst. »Ich wünschte, ich könnte alle Mischs auf der Erde so glücklich machen. Es wäre so einfach. Wenn wir sie wie Menschen behandelten und nicht wie Verbrecher, und wenn wir ihnen ein Zuhause geben könnten, das speziell für sie gebaut ist, damit sie glücklich werden –« »Nun, warum tun Sie es nicht?« unterbrach ihn Beulah. Scanlon sah die alte Haushälterin ernsthaft an. »Genau darauf wollte ich hinaus.« Seine Stimme wurde leise, sie war jetzt nur noch ein verträumtes Murmeln. »Überleg doch. Eine Stadt für Mischs – eine
Stadt, die von ihnen geleitet wird und die ihnen gehört – mit eigenen Beamten, eigenen Schulen und öffentlichen Einrichtungen. Eine kleine Welt in der großen, wo ein Misch sich als Mensch fühlen kann – und nicht als Außenseiter, umgeben und abgelehnt von den Reinrassigen.« Er griff nach seiner Pfeife und stopfte sie langsam. »Die Welt schuldet einem Misch ungeheuer viel, so viel, daß sie diese Schuld nie zurückzahlen kann – und ich bin es ihm ebenfalls schuldig. Ich werde es tun. Ich werde Misch-Stadt gründen.« In dieser Nacht ging er nicht schlafen. Die Sterne drehten ihre ewigen Bahnen und verblaßten schließlich. Das Grau der Dämmerung kam, wurde immer heller, aber Scanlon saß immer noch reglos da – träumte und plante.
4 Achtzig war Jefferson Scanlon geworden, und er trug die Jahre voll Würde. Sein Schritt war jetzt nicht mehr federnd und seine Schultern nicht mehr gerade, aber seine robuste Gesundheit hatte ihn nicht verlassen, und sein Geist unter einer jetzt weiß gewordenen Mähne, so weiß wie die eines Misch, arbeitete immer noch mit unveränderter Klarheit. Ein glückliches Leben läßt einen nicht altern, und Scanlon hatte jetzt vierzig Jahre lang zugesehen, wie Misch-Stadt wuchs, und hatte sein Glück dabei gefunden. Jetzt konnte er die Stadt vor sich sehen, die sich wie ein großes herrliches Gemälde vor seinen Augen
dehnte. Ein kleines Juwel, mit einer Bevölkerung von knapp mehr als tausend inmitten von dreihundert Quadratmeilen fruchtbaren Landes. Saubere, massive Häuser, breite, gepflegte Straßen, Parks, Theater, Schulen, Geschäfte – eine Musterstadt, ein Beweis für Jahrzehnte intelligenter Zusammenarbeit. Die Tür öffnete sich hinter ihm, und er erkannte den weichen Schritt, ohne sich umdrehen zu müssen. »Bist du das, Madeline?« »Ja, Vater«, denn nur unter diesem Namen kannten ihn die Bewohner der Stadt. »Max kommt mit Mr. Johanson zurück.« »Das ist gut.« Er warf Madeline einen liebevollen Blick zu. »Wir haben es miterlebt, wie unsere Stadt seit damals gewachsen ist, oder?« Madeline nickte und seufzte dann. »Du sollst nicht seufzen, Liebes. Das war die Jahre wert, die wir dafür hingegeben haben. Wenn nur Beulah es noch erlebt hätte.« Er schüttelte bei dem Gedanken an seine alte Haushälterin, die jetzt seit fünfundzwanzig Jahren tot war, den Kopf. »Du sollst keine so traurigen Gedanken haben«, ermahnte ihn Madeline. »Jetzt kommt Mr. Johanson. Vergiß nicht, es ist unser vierzigstes Jubiläum und ein glücklicher Tag, kein trauriger.« Charles B. Johanson war das, was man einen geschäftstüchtigen Mann nannte. Das heißt, er war eine intelligente, weitblickende Person, in den Wissenschaften vergleichsweise gut ausgebildet, aber ein Mensch, der es gewöhnt war, diese guten Eigen-
schaften nur zu dem Zweck einzusetzen, seinen eigenen Interessen zu dienen. Folglich hatte er sich der Politik zugewandt, dabei Erfolg gehabt, und er war der erste Mann auf dieser Erde, den man mit dem neu geschaffenen Ministeramt für Wissenschaft und Technik betraut hatte. Seine erste offizielle Amtshandlung war es, den größten Wissenschaftler und Erfinder der Welt, Jefferson Scanlon, zu besuchen, der selbst in seinen alten Jahren noch keinen Vergleich mit jüngeren Männern zu scheuen hatte, wenn es auf die Zahl der der Regierung übertragenen nützlichen Erfindungen ankam. Misch-Stadt hatte ihn sehr überrascht. Die Welt draußen wußte nur sehr wenig von der Existenz der Stadt. Man betrachtete sie als ein Steckenpferd des alten Wissenschaftlers – eine harmlose Marotte. Johanson dagegen sah darin ein sorgfältig ausgearbeitetes Projekt mit geheimnisvollem Hintergrund. Als er freilich Scanlons Zimmer in Begleitung seines Führers, Max, betrat, ließ er sich gewisse Gedanken, die ihn beschäftigten, nicht anmerken, sondern stellte ein strahlendes Lächeln zur Schau. »Ah, Johanson«, begrüßte ihn Scanlon, »Sie sind zurück. Was halten Sie von all dem?« Und dabei machte er eine weit ausholende Handbewegung. »Erstaunlich – wirklich etwas Wunderbares«, versicherte ihm Johanson. Scanlon lachte. »Das freut mich zu hören. Wir haben jetzt eine Bevölkerung von 1154, und sie wächst mit jedem Tag. Sie haben gesehen, was wir bereits geschafft haben, aber verglichen mit dem, was wir in der Zukunft tun werden, ist das nichts – selbst nach meinem Tode. Aber da ist etwas, das ich noch vor
meinem Tode erledigt haben möchte, und dazu brauche ich Ihre Hilfe.« »Und das wäre?« fragte der Minister für Wissenschaft und Technik vorsichtig. »Nur dies. Ich möchte, daß Sie sich dafür einsetzen, daß diese Mischs, die so lange verachteten Mischlinge, die volle Gleichberechtigung bekommen – politisch, juristisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich – Gleichheit mit den Menschen der Erde und denen des Mars.« Johanson zögerte. »Das wäre schwierig. Es gibt da gewisse, vielleicht begreifliche Vorurteile gegen sie, und solange wir die Erde nicht überzeugen können, daß die Mischs die Gleichberechtigung verdienen –«, er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Die Gleichberechtigung verdienen!« rief Scanlon heftig aus, »in Wirklichkeit verdienen die viel mehr. Meine Forderungen sind vergleichsweise bescheiden.« Bei diesen Worten blickte Max, der ruhig in einer Ecke saß, auf und biß sich auf die Lippen, sagte aber nichts, als Scanlon fortfuhr: »Sie kennen den wahren Wert dieser Menschen gar nicht. Sie vereinigen in sich die besten Qualitäten der Erde und des Mars. Sie besitzen den klaren analytischen Verstand der Marsier und verbinden ihn mit der grenzenlosen Energie und dem gefühlsbetonten Schwung des Erdenmenschen. Was den Intellekt betrifft, sind sie Ihnen und mir überlegen, und zwar jeder einzelne von ihnen. Und trotzdem verlange ich nur Gleichberechtigung.« Der Minister lächelte beruhigt. »Ihr Eifer führt Sie vielleicht in die Irre, mein lieber Scanlon.« »Das tut er nicht. Warum glauben Sie denn, daß ich
so viele nützliche Geräte erfinde – wie diesen Schwerkraftschild, den ich vor ein paar Jahren entwickelt habe. Glauben Sie, ich hätte das ohne meine Assistenten geschafft? Und diese Assistenten sind alle Mischs. Max hier war es –« Max senkte den Blick, als der Minister ihn scharf musterte – »der meiner Entdeckung der Atomkraft den letzten Schliff gab.« Scanlon wurde jetzt immer erregter. »Fragen Sie doch Professor Whitson von Stanford, und er wird es Ihnen sagen. Er ist eine Weltautorität auf dem Gebiet der Psychologie und weiß wovon er redet. Er hat die Mischs studiert, und er wird Ihnen sagen, daß die Mischs die kommende Rasse des Sonnensystems sind, dazu bestimmt, uns Reinblütigen die Herrschaft abzunehmen, und zwar ebenso sicher, wie die Nacht auf den Tag folgt. Glauben Sie wirklich nicht, daß sie in diesem Fall die Gleichberechtigung verdienen?« »Ja, das glaube ich – und zwar entschieden«, erwiderte Johanson. In seinen Augen funkelte es seltsam, und seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. »Das ist äußerst wichtig, Scanlon. Ich werde mich sofort darum kümmern. Das ist so eilig, daß ich am besten in einer halben Stunde abreise, damit ich die Stratomaschine um 2 Uhr 10 erreiche.« Johanson war kaum gegangen, als Max sich Scanlon näherte und ohne Vorrede herausplatzte: »Ich muß dir etwas zeigen, Vater – etwas, von dem du bisher noch nichts gewußt hast.« Scanlon starrte ihn überrascht an. »Was meinst du?« »Bitte, komm mit, Vater. Ich werde es dir erklären.« Seine ernste Miene wirkte beinahe erschreckend. Ma-
deline schloß sich den beiden an der Tür an und schien nach einem Zeichen von Max die Situation zu begreifen. Sie sagte nichts, aber ihre Augen blickten plötzlich traurig, und die Falten auf ihrer Stirn schienen sich zu vertiefen. Schweigend bestiegen die drei den bereitstehenden Flugwagen und schossen über die Stadt hinweg. Hoch über dem Lake Clare bremsten sie den Flug ab und landeten in einem Wäldchen am Fuße des Hill of the Woods. Ein hochgewachsener, kräftig gebauter Misch nahm Haltung an, als der Wagen landete, und zuckte zusammen, als er Scanlon erblickte. »Tag, Vater«, flüsterte er voll Respekt und warf dabei Max einen fragenden Blick zu. »Guten Tag, Emanuel«, erwiderte Scanlon geistesabwesend. Plötzlich wurde ihm klar, daß vor ihm ein geschickt getarntes Tor ins Innere des Berges führte. Max winkte ihm zu, ihm zu folgen, und trat durch die Öffnung, die sich nach etwa dreißig Metern zu einer ungeheuren Höhle ausdehnte. Scanlon blieb überrascht stehen, denn vor ihm standen drei riesige Raumschiffe, silbern schimmernd und, wie deutlich zu sehen war, mit den modernsten Atomgeneratoren ausgerüstet. »Es tut mir leid, Vater«, sagte Max, »daß all das hinter deinem Rücken geschah. So etwas hat es sonst in der Geschichte unserer Stadt noch nie gegeben.« Scanlon schien kaum zu hören. Er stand wie benommen da. Jetzt fuhr Max fort: »Das in der Mitte ist das Flaggschiff – die Jefferson Scanlon. Das rechts ist die Beulah Goodkin und das linke Schiff heißt Madeline.« Scanlon schüttelte wie benommen den Kopf und
fragte dann: »Aber was hat das zu bedeuten, und warum die Geheimnistuerei?« »Diese Schiffe liegen schon seit fünf Jahren bereit, sie sind mit Energie und Vorräten versorgt und können jede Sekunde starten. Heute nacht sprengen wir eine Seite des Hügels weg und starten zur Venus – heute nacht noch. Wir haben es dir bis heute nicht gesagt, weil wir dich nicht beunruhigen wollten, obwohl wir schon lange wußten, daß dieses Unglück eines Tages kommen würde. Wir hatten geglaubt«, seine Stimme wurde zu einem Flüstern, »daß es sich noch hinausschieben ließe, bis du nicht länger unter uns wärst.« »Nur heraus damit«, rief Scanlon plötzlich aus, »ich möchte alles wissen! Warum wollt ihr jetzt weg, wo ich doch sicher bin, daß ich euch die volle Gleichberechtigung verschaffen kann.« »Genau das«, antwortete Max traurig. »Das, was du Johanson gesagt hast, hat den Ausschlag gegeben. Solange die Menschen der Erde und die Marsier uns nur für anders und minderwertig hielten, verachteten und duldeten sie uns. Du hast Johanson gesagt, daß wir überlegen seien und eines Tages an die Stelle der Menschheit treten würden. Jetzt können sie nicht mehr anders, jetzt müssen sie uns hassen. Man wird uns nicht länger dulden, das kann ich dir versichern. Wir werden diese Welt verlassen, ehe der Sturm losbricht.« Die Augen des alten Mannes weiteten sich, als er begriff. »Ich verstehe. Ich muß mit Johanson sprechen. Vielleicht können wir diesen schrecklichen Fehler aus der Welt schaffen.« Er griff sich mit der Hand an die Stirn.
»Oh, Max«, warf Madeline unter Tränen ein, »komm doch zur Sache. Wir möchten, daß du uns begleitest, Vater. Auf der Venus, die so spärlich besiedelt ist, können wir einen Ort finden, wo wir uns über unbegrenzte Zeit hinweg ungestört entwickeln können. Wir können eine Nation gründen, frei und ungehindert, nicht länger abhängig von –« Ihre Stimme erstarb, und sie sah Scanlon ängstlich an, dessen Gesicht jetzt müde und verhärmt wirkte. »Nein«, flüsterte er, »nein! Mein Platz ist hier, bei meiner eigenen Rasse. Geht, meine Kinder, und gründet eure Nation. Am Ende werden eure Nachkommen das Sonnensystem beherrschen. Aber ich – ich werde hierbleiben.« »Dann bleibe ich auch«, sagte Max. »Du bist alt, und jemand muß für dich sorgen. Ich stehe so tief in deiner Schuld, daß mein Leben dir gehört.« Scanlon schüttelte entschieden den Kopf. »Ich werde niemanden brauchen. Dayton ist nicht weit von hier. Dort wird man sich um mich kümmern, oder an irgendeinem anderen Ort, wenn ich dort hingehe. Du, Max, wirst von deiner Rasse gebraucht. Du bist ihr Anführer. Geh!« Scanlon wanderte durch die verlassenen Straßen von Misch-Stadt und versuchte, zu sich selbst zurückzufinden. Es war schwer. Gestern hatte er den vierzigsten Jahrestag der Gründung der Stadt gefeiert – und heute war es eine Geisterstadt. Und doch war eigenartigerweise eine große Freude in ihm. Sein Traum war zerbrochen – aber nur, um einem noch größeren Traum Platz zu machen. Er hatte Findlinge ernährt und eine neue Rasse in ihrer
Jugend gefördert, und dafür würde man in ihm eines Tages den Gründer der Superrasse sehen. Seine Geschöpfe würden eines Tages das Sonnensystem beherrschen. Atomkraft, Antigravitation – das alles verblaßte davor zur Bedeutungslosigkeit; die Mischs waren das wirkliche Geschenk, das er dem Universum gemacht hatte. Und so wie er jetzt, entschied er, mußte ein Gott sich fühlen.
Originaltitel: HALF-BREED Copyright © 1939 by Fictioneers, Inc. Übersetzt von Heinz Nagel
Clifford D. Simak FLASCHEN-GEIST 1 Die Pyramide war aus Flaschen erbaut, Hunderten von Flaschen, die blitzten und glitzerten, als wären sie von einem inneren Feuer erfüllt. Sie fingen das schwache Licht auf, das von der fernen Sonne und den noch ferneren Sternen zu ihnen hindurchsickerte, brachen es und warfen es zurück. Frederick West trat langsam einen Schritt vor, von der offenen Schleuse seines winzigen Schiffes weg. Er schüttelte den Kopf, schloß die Augen, öffnete sie wieder, und da war die Pyramide immer noch. Sie war also kein Produkt seiner Fantasie, eine Folge der Finsternis und der Einsamkeit seines endlosen Fluges von der Erde hierher. Sie war da, und sie war unmöglich. Unmöglich, weil sie hier nicht sein durfte. Nichts sollte hier sein auf diesem beinahe unbekannten Brocken aus Stein und Metall. Denn niemand wohnte auf dem Mond Plutos. Niemand besuchte Plutos Mond je. Er selbst hatte es auch nicht beabsichtigt. Er war zum Pluto gekommen und hatte den Planeten einmal kurz umkreist, um sich zu orientieren, und da hatte er diesen kurzen Lichtblitz gesehen, als gäbe ihm jemand ein Signal. Das war natürlich die Pyramide gewesen. Jetzt wußte er das. Die aufgetürmten Flaschen, die das Licht auf-
fingen und reflektierten. Hinter der Pyramide stand eine Astrohütte, die sich zwischen den gezackten Felsbrocken an den Boden schmiegte. Aber da war keine Bewegung, keine Spur von Leben. Niemand, der ihm aus der Eingangsschleuse entgegentaumelte, um ihn zu begrüßen. Und das war eigenartig, dachte er. Denn Besucher mußten hier selten sein, falls überhaupt welche kamen. Vielleicht war die Pyramide in Wirklichkeit eine Signalanlage, obwohl sie doch ziemlich primitiv und nur schlecht für Signale geeignet war. Eher die Spielerei eines Verrückten. Wenn man es richtig überlegte: jemand, der verrückt genug war, um auf Plutos Mond zu wohnen, kam vielleicht auch als Architekt einer Pyramide aus Flaschen in Frage. Der Mond war so unwichtig, daß man ihm nicht einmal einen Namen gegeben hatte. Wenn die Astronauten ihn überhaupt erwähnten, und das kam selten genug vor, dann nannten sie ihn einfach »Plutos Mond« und ließen es dabei bewenden. Niemand kam mehr in diesen Sektor des Weltraums. Und das, erinnerte sich West, ist genau der Grund, weshalb ich selbst gekommen bin. Denn wenn es einmal gelang, durch das Netz der Weltraumpolizei zu schlüpfen, dann war man völlig sicher. Niemand würde einen je belästigen. Niemand flog zum Pluto in jenen Tagen, seit vor drei Jahren die Sperre verkündet worden war, an jenem Tag, an dem man die Nachricht von den Wissenschaftlern aufgefangen hatte, jenen Wissenschaftlern in den Kältelabors, die einige Jahre vorher gegründet worden waren. Niemand mehr besuchte jetzt den Planeten. Zumal
die Weltraumpolizei Wache hielt ... obwohl es Mittel und Wege gab, den Patrouillen zu entgehen. Wenn man wußte, wo die Patrouillenboote zu bestimmten Zeiten waren und dann beschleunigte und die Reaktoren abschaltete und so im freien Fall in den Schatten des Planeten eintrat, dann konnte man den Pluto erreichen. West war jetzt in der Nähe der Pyramide und sah, daß sie aus Whiskyflaschen bestand. Alle leer, völlig leer, und die Etiketten waren frisch. West riß sich vom Anblick der Flaschen los und ging auf die Hütte zu. Als er die Schleuse gefunden hatte, drückte er den Knopf. Nichts rührte sich. Wieder drückte er. Langsam, fast zögernd, wich das äußere Schleusentor zurück. Er trat schnell ein, legte den Hebel um, der das Außentor schloß, und öffnete das innere. Schwaches, düsteres Licht drang aus dem Inneren der Hütte, und West vernahm in seinen Kopfhörern das trockene Scharren winziger Krallen, die über den Boden huschten. Dann ein Gurgeln, wie von Wasser, das durch ein Rohr läuft. Mit der Hand auf dem Griff seiner Pistole trat West schnell über die Schleusenschwelle. Ein Mann in mottenzerfressener Unterkleidung saß auf dem Rand der Pritsche. Sein Haar war lang und ungepflegt, der schwarze Bart verwildert. Zwei Augen starrten durch den dichten Pelz, wie Tiere, die man in ihrer Höhle gestellt hat; eine knochige Hand streckte West einladend eine Whiskyflasche entgegen. Jetzt bewegte sich der Wust aus Barthaaren, und ein Krächzen war zu hören: »Nehmen Sie einen Schluck«, sagte die Stimme.
West schüttelte den Kopf. »Ich trinke nicht.« »Ich schon«, sagte der Bart. Die Hand kippte die Flasche, und die Flüssigkeit gurgelte. West sah sich schnell in dem Raum um. Kein Funkgerät. Das erleichterte die Dinge. Wäre ein Funkgerät dagewesen, hätte er es zertrümmern müssen. Jetzt war ihm klar, wie dumm es gewesen war, auf diesem Mond Station zu machen. Niemand wußte, wo er war ... und so hatte es auch sein sollen. West schob die Sichtklappe seines Helmes in die Höhe. »Ich trinke mich zu Tode«, erklärte ihm der Bart. West starrte ihn bloß an. Die armselige Umgebung, die Verkommenheit des Raumes verblüfften ihn. »Drei Jahre«, sagte der Mann, »und kein einziger nüchterner Atemzug in diesen drei Jahren.« Er rülpste. »Langsam schafft mich das«, sagte er. Seine linke Hand hob sich und klopfte gegen seinen eingefallenen Brustkasten. Die Rechte ließ die Flasche nicht los. »Erdjahre«, erklärte der Bart. »Drei Erdjahre. Nicht Plutojahre.« Ein Ding huschte aus den Schatten in einer Ecke der Hütte und sprang auf das Bett. Es kauerte sich neben dem Mann nieder und starrte West an. Sein Mund war ein Schlitz, der das Gesicht in zwei Teile teilte. Die schrumpelige Haut bot in dem schwachen Zwielicht einen Anblick des Schreckens. »Darf ich Ihnen Annabell vorstellen«, sagte der Mann. Er pfiff dem Ding, und es huschte auf seine Schulter, kauerte sich an seine Wange. West schauderte bei dem Anblick. »Sind Sie bloß auf der Durchreise?« fragte der Mann.
»Mein Name ist West«, erklärte West. »Ich bin zum Pluto unterwegs.« »Sie müssen sie bitten, daß man Ihnen das Gemälde zeigt«, sagte der Mann. »Ja, Sie müssen das Gemälde sehen.« »Das Gemälde?« »Sind Sie taub?« fragte der Mann in aggressivem Ton. »Gemälde hab ich gesagt. Sie verstehen doch – ein Bild.« »Ich verstehe«, sagte West. »Aber ich habe nicht gewußt, daß es dort Gemälde gibt. Ich habe nicht einmal gewußt, daß irgend jemand dort ist.« »Klar ist jemand dort«, sagte der Mann. »Da ist Louis und –« Er hob die Flasche und trank einen Schluck. »Ich leide unter Alkoholismus«, sagte der Mann. »Eine feine Sache, der Alkoholismus. Da kriegt man keine Erkältung. Man kann sich nicht erkälten, wenn man Alkoholismus hat. Allerdings bringt einen das auch schneller um als eine Erkältung. Man könnte drei Jahre erkältet sein und –« »Hören Sie«, drängte West, »Sie müssen mir von Pluto erzählen. Mir erzählen, was dort ist. Und das mit dem Gemälde. Wie kommt es, daß Sie davon wissen?« Die Augen musterten ihn mit der Schlauheit des Betrunkenen. »Da müßten Sie etwas für mich tun. Ich kann Ihnen doch nicht aus reiner Herzensgüte alles verraten.« »Natürlich«, nickte West. »Alles, was Sie wollen. Sie brauchen es bloß zu sagen.« »Sie müssen Annabell hier herausholen«, sagte der Mann. »Sie dorthin zurückbringen, wo sie hingehört.
Das ist hier kein Ort für ein Mädchen wie sie. Das ist kein Leben für sie, mit einem versoffenen Wrack wie mir zusammen zu sein. Früher war ich einmal ein großer Mann ... ja Sir, ein großer Mann. Das Ganze kam nur davon, daß ich eine Flasche suchte. Eine ganz bestimmte Flasche. Ich mußte von allen kosten, von jeder einzelnen. Und wenn ich von einer kostete, blieb mir keine andere Wahl, als sie leerzutrinken. Schließlich würde der Inhalt doch verkommen, wenn man sie offen herumstehen ließ. Und wer will eine Menge verdorbenen Schnaps herumstehen haben?« Er trank wieder einen Schluck. »Und so ist das seitdem gegangen«, erklärte er. »Jetzt hab ich sie fast alle geschafft. Sind nicht mehr viel übrig. Ich dachte immer, ich würde die richtige Flasche finden, ehe es zu spät ist, und dann würde alles wieder gut werden. Jetzt wird's mir nichts mehr nützen, wenn ich sie finde, weil ich sterben werde. Aber es ist noch genug für mich da. Ich hab vor, betrunken zu sterben. Ein schöner Tod.« »Aber was ist mit diesen Leuten auf Pluto?« wollte West wissen. Der Bart kicherte. »Die hab ich 'reingelegt. Sie haben mir die Wahl gelassen. Sie können nehmen, was Sie wollen, haben die gesagt. Richtig großzügig, verstehen Sie? Kumpel bis zum Ende. Also hab ich den Whisky genommen. Kisten davon. Die haben das nicht gewußt, wissen Sie. Reingelegt hab ich die.« »Das haben Sie ganz bestimmt«, sagte West. Winzige eisige Füßchen rannten ihm den Rücken hinauf und hinunter, denn hier war Wahnsinn, das wußte er, aber ein Wahnsinn mit System. Irgendwo, irgendwann würde aus diesem verdrehten Gerede etwas
Vernünftiges zu entnehmen sein. »Aber irgend etwas hat nicht geklappt«, erklärte der Mann. »Irgendwas ist schiefgegangen.« Schweigen stand im Raum. »Sehen Sie, Mr. Best«, verkündete der Mann, »ich –« »West«, sagte West. »Nicht Best, West.« Der Mann schien es gar nicht zu bemerken. »Ich werde sterben, verstehen Sie. Vielleicht jeden Augenblick. Ich habe eine Leber und ein Herz, und jedes von beiden Organen könnte mich umbringen. So ist das, wenn man trinkt. Ich hab früher nie getrunken. Ich hab mir das angewöhnt, als ich von allen diesen Flaschen kostete. Da kam ich auf den Geschmack. Und dann hatte ich nichts anderes zu tun –« Er beugte sich vor. »Sie müssen mir versprechen, daß Sie Annabell mitnehmen«, krächzte er. Annabell sah West an. Geifer rann aus ihrem Mund. »Aber ich kann sie nicht zurückbringen«, wandte West ein, »wenn ich nicht weiß, woher sie kommt. Das müssen Sie mir sagen.« Der Mann fuchtelte mit dem Finger vor West herum. »Von sehr weit her«, krächzte er, »und doch nicht von so weit. Nicht besonders weit, wenn man den Weg kennt.« West sah Annabell an und kämpfte mit der Übelkeit, die ihm im Halse aufstieg. »Ich nehme sie mit«, sagte er. »Aber Sie müssen mir sagen wohin.« »Danke, Fest«, sagte der Mann. Er hob die Flasche und ließ sie gurgeln. »Nicht Fest«, sagte West geduldig. »Mein Name ist –«
Der Mann taumelte vom Bett und blieb ausgestreckt auf dem Boden liegen. Die Flasche rollte weg, und bei jeder Umdrehung spritzte Whisky auf den Boden. West sprang vor, kniete neben dem Mann nieder und hob ihn hoch. Der Bart bewegte sich, und ein Flüstern drang aus seinen verfilzten Tiefen, ein keuchendes Flüstern, das kaum mehr als ein ersterbender Atemzug war. »Sagen Sie Louis, daß sein Gemälde –« »Louis?« schrie West. »Louis und wie noch? Und was ist mit –« Wieder das Flüstern: »Sagen Sie ihm ... eines Tages ... wird er einen falschen Ort malen, und dann ...« West legte den Mann sanft auf den Boden und trat zurück. Die Whiskyflasche rollte zwischen zwei Stuhlbeinen hin und her und kam schließlich zur Ruhe. Etwas glitzerte am Kopfende der Pritsche, und West ging darauf zu. Es war eine Uhr, eine Uhr, die von vielen Jahren des Gebrauchs und der Pflege blank poliert war. Sie baumelte an einem Lederband, das am Kopfende der Pritsche so festgebunden war, daß man im Dunkeln danach greifen und das Zifferblatt ablesen konnte. West nahm die Uhr und drehte sie herum und sah die Gravur auf der Rückseite. Er beugte sich vor und konnte die Inschrift in dem schwachen Licht lesen. Für Walter J. Darling von der Klasse von »16« Mars-Polytechnikum
West richtete sich auf. Konnte man das glauben? Dieses Wrack auf dem Boden sollte Walter J. Darling sein? Walter J. Darling, einer der größten Biologen des Sonnensystems, tot in dieser verkommenen Hütte? Darling, jahrelang Inhaber eines Lehrstuhls am Mars-Polytechnikum – das sollte diese eingeschrumpfte, mit Schnaps vollgepumpte Leiche in dreckiger Unterwäsche sein? West wischte sich mit dem Raumhandschuh über die Stirn. Darling war ein Mitglied jener Gruppe von Wissenschaftlern gewesen, die im Auftrag der Regierung die Kältelabors auf dem Pluto betrieben hatte, jenes Team, das man dorthin geschickt hatte, um künstliche Hormone zu entwickeln, die eine kontrollierbare Mutation der menschlichen Rasse ermöglichen sollten. Eine von allem Anfang an streng geheime Mission, weil man Sorge gehabt hatte, daß die Menschheit protestieren würde, wenn sie von dem Auftrag jener Wissenschaftler erfuhr und sich nicht vorstellen konnte, warum man sie in biologischer Hinsicht verbessern wollte. Eine Mission, dachte West, die geheimnisvoll begonnen und geheimnisvoll geendet hatte. Im ganzen Sonnensystem waren geheimnisvolle Gerüchte in Umlauf gewesen. Louis? Das war dann wahrscheinlich Louis Nevin, ein weiteres Mitglied des Pluto-Teams, das war der Mann, über den Darling etwas hatte sagen wollen, ehe er starb. Und Nevin mußte dort oben auf Pluto sein, mußte immer noch leben, trotz der Nachricht, die zur Erde gelangt war. Aber das mit dem Gemälde paßte nicht dazu. Ne-
vin war kein Künstler. Er war Biologe, stand Darling an Bedeutung in nichts nach. Dann war die Nachricht von vor drei Jahren eine Irreführung gewesen. Es waren immer noch Menschen auf dem Planeten. Und das bedeutete, sagte sich West, daß sein eigener Plan gescheitert war. Denn Pluto war der einzige Ort im ganzen Sonnensystem, wo er Nahrung und Unterkunft finden würde, und wohin nie jemand kommen würde. Er erinnerte sich daran, wie er alles so sorgfältig geplant hatte ... wie perfekt seine Lösung ihm erschienen war. In den Lagerräumen auf Pluto mußten Lebensmittelvorräte für viele Jahre liegen, und dort mußte es auch eine bequeme Unterkunft geben und Werkzeug und Geräte für den Fall, daß er es je brauchte. Und natürlich das Ding, was auch immer es sein mochte. Das schreckliche Ding, das dazu geführt hatte, daß man den Planeten gesperrt, das die Weltraumpolizei veranlaßt hatte, die Einsamkeit des Planeten zu garantieren. Aber das, was er vielleicht auf dem Pluto finden würde, hatte West nie sonderlich beeindruckt, denn was immer es auch sein mochte, schlimmer als die Bitterkeit, die ihn auf der Erde plagte, konnte es auch nicht sein. In den Labors auf Pluto ging etwas vor sich. Etwas, wovon die Regierung nichts wußte oder was sie verschwiegen hatte, genauso wie jene inzwischen berüchtigten Berichte von vor drei Jahren. Etwas, das Darling ihm hätte sagen können, wenn er nur gewollt hätte ... oder gekonnt hätte. Aber jetzt war Walter J. Darling tot und würde niemandem mehr etwas sa-
gen. West würde es allein herausfinden müssen. West beugte sich über den Toten, hob ihn auf die Pritsche und deckte ihn mit einer Decke zu. Am Kopfende der Pritsche schnatterte und kicherte Annabell, und aus ihrem Mund floß Geifer. »Komm her, du«, sagte West. »Da, komm her!« Annabell kam, langsam und vorsichtig. West hob sie widerwillig auf, schob sie in eine Außentasche seines Anzugs und zog den Reißverschluß zu. Er ging zur Tür. Beim Hinausgehen hob er die leere Flasche vom Boden auf und legte sie zu der Pyramide.
2 Wie ein silberner Schatten jagte Wests Schiff zwischen den steilen Bergspitzen dahin, die das einzige Tal auf Pluto umgaben, das je eines Menschen Fuß betreten hatte. Mit gedrosselten Düsen war er in den Schatten des Planeten eingedrungen und auf diese Weise der Polizeistreife entwischt. Hinter den Bergen hatte er die Aggregate wieder eingeschaltet und das stürzende Schiff bis auf Kriechtempo abgebremst, und dabei riskiert, daß ein Patrouillenboot im All das Aufflammen seiner Raketen entdeckte. Jetzt näherte er sich in einer langen Bremskurve mit herabgesetzter Geschwindigkeit dem glasig-glatten Landefeld. Über das Armaturenbrett gebeugt, kauerte er in der Kanzel und richtete sich auf eine Bauchlandung ein. Das Landefeld war lang und glatt, und wenn er richtig aufsetzte, würde er genügend Platz
zum Ausgleiten haben. Die kaum merkbare Atmosphäre kam ihm zu Hilfe. Es gab keine Luftströmungen, keine Wirbel, die das Schiff ablenken oder es in Drehung versetzen konnten. Zu seiner Rechten bemerkte er einen Lichtblitz und wußte im gleichen Augenblick, daß es sich dabei um das Labor handeln mußte. Und dann berührte das Schiff den Boden, fegte kreischend über die Landebahn hin, wurde vom Reibungswiderstand gebremst. Unmittelbar vor einem Felshaufen kam es zum Stehen. West atmete auf, merkte wie sein Herz wieder zu schlagen begann. Noch ein paar Meter, dann ... Er schaltete alle Aggregate ab, hängte sich den Schlüssel um den Hals, ließ die Sichtklappe herunter und verließ das Schiff. Auf der anderen Seite des Landefeldes glühten die Lichter des Labors. Er hatte sich also nicht geirrt. Er hatte die Lichter gesehen ... und hier waren Menschen. Oder irrte er sich doch? Es war natürlich möglich, daß diese Lichter weiterbrannten, auch wenn niemand hier war. Die Tatsache, daß sie eingeschaltet waren, bedeutete noch lange nicht, daß sich hier auch Menschen befanden. Am fernen Ende des Raumfeldes ragte ein mächtiges Gebilde auf. West wußte, daß zwei Jahre lang in den Werkstätten der Alpha-Centauri-Expedition daran gearbeitet worden war, den HendersonRaumantrieb funktionsfähig zu machen. Irgendwo in diesen Werkshallen, die im Licht der Sterne vor ihm lagen, war das Schiff selbst. Die Alpha Centauri stand immer noch an der gleichen Stelle, wo die Mann-
schaft sie verlassen hatte, nachdem die Männer an ihrem Auftrag verzweifelt waren. Und dann waren sie zur Erde zurückgekehrt. Die Alpha Centauri war ein Schiff, dafür bestimmt, zu den Sternen zu fliegen, das Sonnensystem zu verlassen, sich hinauszuwagen in das Nichts und Lichtjahre eben so problemlos zurückzulegen, wie ein normales Schiff die Entfernung von der Erde zum Mars bewältigte. Die Alpha Centauri war natürlich nicht gestartet, aber das hatte nichts zu besagen. »Ein Symbol«, sagte West zu sich selbst. Das war sie ... ein Symbol und ein Traum. Und noch etwas mehr, etwas, das er erst jetzt erkannte, jetzt, da er hier war, das ihn aber die ganze Zeit beschäftigt hatte. West schob das Pistolenhalfter zurecht, so daß die Waffe leicht erreichbar neben seiner rechten Hand hing. Wenn Männer hier waren ... oder, noch schlimmer, wenn diese Nachricht keine Irreführung gewesen war, würde er vielleicht die Waffe brauchen. Obwohl es höchst unwahrscheinlich war, daß das, was ihm dann gegenübertreten würde, mit einer Pistole in Schach gehalten werden konnte. Schaudernd erinnerte er sich an jenen lakonischen Geheimbericht, der in den Archiven der Erde ruhte ... die Aufzeichnung der angespannten, heiseren Stimme, die über Funk von Pluto gekommen war, eine Stimme, die von schrecklichen Dingen berichtete, von sterbenden Männern und irgend etwas, das sie angegriffen hatte. Eine Stimme, die eine Warnung ausgestoßen hatte, einen Schrei, und dann gurgelnd erstorben war.
An jenem Tage hatte man den Zutritt zu dem Planeten verboten und die Weltraumpolizei beauftragt, die Quarantäne durchzusetzen. Ein Geheimnis vom ersten Augenblick an, dachte er, zuerst der Anfang, und dann auch das Ende. Der Anfang, weil es der Auftrag der Forscher gewesen war, ein Hormon zu finden, mit dem man kontrollierte Mutationen an der menschlichen Rasse hervorrufen konnte. Die Menschheit würde so etwas natürlich ablehnen, also mußte alles geheim bleiben. Die Menschheit lehnt alles ab, was von der Norm abweicht, dachte West bitter. Früher hatten die Menschen Leprakranke mit Steinen aus der Stadt getrieben und ihre Verrückten in dicken Federbetten erstickt, und sie starren noch heute verkrüppelte Mitglieder ihrer Rasse an, und das Mitleid, das sie dabei empfinden, ist eine einzige Beleidigung. Und ihre Angst ... o ja, ihre Angst! Langsam und vorsichtig schritt West über die Landebahn. Die Oberfläche war glatt, so glatt, daß seine Raumstiefel gelegentlich ausglitten. Auf einer Felshöhe über dem Landefeld stand das Labor, aber West wandte sich um und starrte ins All hinaus, als nähme er endgültig Abschied von jemandem, den er kannte. Erde, sagte er. Erde. Kannst du mich jetzt hören? Du brauchst mich nicht mehr zu fürchten und brauchst keine Angst zu haben; denn ich werde nie zurückkehren. Aber einst wird der Tag kommen, an dem es auch andere gibt, Menschen wie mich. Vielleicht sogar heute. Man erkennt nämlich einen Mutanten nicht daran,
wie er sein Haar kämmt oder wie er geht oder redet. Es sind ihm keine Hörner gewachsen und kein Schwanz, und er trägt auch kein Zeichen auf der Stirn. Aber wenn ihr einen entdeckt, müßt ihr ihn sorgfältig bewachen. Ihr müßt ihn bespitzeln und immer aufpassen und einen Ort finden, an den ihr in schaffen könnt, damit ihr immer sicher vor ihm seid, vor ihm und allem, was er tut ... aber ihr müßt dafür sorgen, daß er es nicht erfährt. Ihr müßt ihn vor Gericht stellen und ihn verurteilen und ihn in die Verbannung schicken, aber er darf es nie erfahren. So wie ihr es mit mir versucht habt, sagte West. Aber, sagte West in seinem stummen Zwiegespräch mit der Erde, die Verbannung, in die ihr mich geschickt habt, hat mir nicht gefallen, also habe ich mir selbst eine gesucht. Wißt ihr, ich habe es nämlich gewußt. Ich habe es gewußt, als ihr anfingt, mich zu beobachten, habe von den Konferenzen und den Plänen gewußt, und manchmal mußte ich an mich halten, um euch nicht ins Gesicht zu lachen. Lange stand er da und starrte in den Weltraum hinaus, dort hinaus, wo die Erde irgendwo in der Finsternis um die von hier aus nur sterngroße Sonne kreiste. Verbittert? fragte er sich. Und er gab sich die Antwort: nein, nicht verbittert. Nicht eigentlich verbittert. Ihr müßt nämlich verstehen, sagte er und redete immer noch mit der Erde, daß ein Mann zuerst ein Mensch ist und erst dann ein Mutant. Er ist nicht gleich ein Ungeheuer, bloß weil er ein Mutant ist. Er ist nur in einigen Kleinigkeiten anders. Er ist in jeder
Weise, in der ihr Menschen seid, ebenfalls Mensch, vielleicht ist er sogar mehr Mensch als ihr. Denn die menschliche Rasse, so wie sie heute dasteht, ist das Endprodukt vieler Mutationen ... das Endprodukt von Menschen, die eine Kleinigkeit anders waren, die eine Spur klarer dachten, die tieferes Mitgefühl empfanden, die irgend etwas an sich hatten, das menschlicher war als der Rest ihrer Mitmenschen. Und sie haben dieses klarere Denken, dieses tiefere Mitgefühl an ihre Söhne und Töchter weitergegeben; und ihre Söhne und Töchter haben es an einige – nicht an alle – nur an einige ihrer Söhne und Töchter weitergegeben. Und so wuchs die Rasse aus dem Zustand der Primitivität heraus, so entstand der Begriff der Menschheit. Vielleicht, so dachte er, war mein Vater ein Mutant, ein Mutant, von dem es niemand vermutete. Vielleicht war es auch meine Mutter. Und keiner von ihnen hatte es geahnt. Denn mein Vater war Bauer, und wenn seine Mutanteneigenschaften ihm zu einem besseren Verständnis für den Boden und ein tieferes Gefühl für die Kunst, Pflanzen wachsen zu lassen, verholfen hatte, wenn deshalb sein Getreide etwas besser gedieh, wer hätte das schon bemerkt? Wer hätte geahnt, daß er vielleicht ein Mutant war? Er hätte einfach als der bessere Bauer als seine Nachbarn gegolten. Und wenn er in den abgegriffenen Büchern las, die auf dem Regal im Wohnzimmer standen, und ihren Inhalt besser begriff und das, was sie ihm sagen wollten, besser begriff als die meisten anderen Menschen, wer hätte das merken sollen? Aber ich, sagte er, ich bin aufgefallen. Darin besteht das Verbrechen des Mutanten, daß man auffällt. Ich bin zu schnell aufgestiegen, dachte er. Ich habe
mich zu leicht über die Bürokratie hinweggesetzt. Ich habe zu gut verstanden. Und in einem Regierungsamt darf man nicht zu schnell aufsteigen, darf man sich nicht über die Bürokratie hinwegsetzen und darf man nicht so gut verstehen. Man muß ebenso mittelmäßig sein wie all die anderen Amtsträger. Man darf nicht auf die Zeichnung eines Raketenantriebs zeigen und sagen: »Da liegt das Problem«, wenn andere Männer, die besser ausgebildet sind als man selbst, das Problem nicht sehen. Und man darf auch kein Produktionssystem entwickeln, das zwei Raketenantriebe um den Preis von einem in der Hälfte der Zeit erzeugt. Denn dann ist man nicht nur zu leistungsfähig, das ist glatter Frevel. Aber um keinen Preis darf man bei einer Besprechung mit entscheidungsberechtigten Regierungsbeauftragten aufstehen und darauf hinweisen, daß es kein Verbrechen an sich ist, Mutant zu sein ... daß es nur dann ein Verbrechen ist, wenn man seine Eigenschaften falsch einsetzt. Man darf auch nicht sagen, daß es besser für die Welt wäre, wenn sie ihre Mutanten sinnvoll einsetzte, statt vor ihnen Angst zu haben. Natürlich, wenn man wußte, daß man selbst Mutant war, würde man nie so etwas sagen. Und ein Mutant, der wußte, daß er Mutant war, würde nie auf den Fehler in einem Raketenantrieb hinweisen. Denn ein Mutant muß den Mund halten, muß sich durchschnittlich und mittelmäßig verhalten und muß seine Ziele auf komplizierten Umwegen erreichen. Wenn ich es nur gewußt hätte, dachte West. Wenn ich es nur rechtzeitig gewußt hätte. Ich hätte sie täuschen können, ebenso täuschen, wie – so hoffe ich – viele andere sie jetzt täuschen.
Aber jetzt wußte er, daß es zu spät war, zu spät, in das Leben zurückzukehren, das er abgeschüttelt hatte, zurückzukehren und in die Falle zu laufen, die man für ihn gebaut hatte ... eine Falle, die ihn festhalten würde, damit er kein Unheil anrichten konnte. West wandte sich um und fand den Felspfad, der zum Labor hinaufführte. Eine große Gestalt trat aus dem Schatten und rief: »Wo wollen Sie denn hin?« West blieb stehen. »Ich bin gerade gelandet«, sagte er. »Ich suche hier einen Freund. Nevin heißt er.« Er spürte, wie Annabell in seiner Anzugtasche unruhig wurde. Wahrscheinlich fing sie an zu frieren. »Nevin?« fragte der Mann mißtrauisch. »Was wollen Sie von Nevin?« Die Stimme des Mannes wurde gefährlich. »Wieviel wissen Sie über Nevin und sein Gemälde?« »Nicht viel«, sagte West. »Deshalb bin ich hier. Ich wollte mit ihm darüber sprechen.« Annabell hüpfte in Wests verschlossener Tasche auf und nieder. Die Augen des Mannes entdeckten die Bewegung. »Was haben Sie in der Tasche?« fragte er argwöhnisch. »Annabell«, sagte West. »Sie ist – nun, sie erinnert einen an eine Ratte, der man das Fell abgezogen hat, mit einem Gesicht, das fast wie das eines Menschen wirkt, nur daß es praktisch bloß aus Mund besteht.« »Was Sie nicht sagen. Wo haben Sie die denn her?« »Gefunden«, sagte West. Der Mann lachte. »Gefunden, was? Nicht zu glauben!« Er nahm West am Arm.
»Vielleicht haben wir viel miteinander zu besprechen«, sagte er. »Wir müssen vielleicht unsere Aufzeichnungen vergleichen.« Gemeinsam gingen sie den Abhang hinauf. Die behandschuhte Hand des Mannes führte West am Arm. »Sie sind Langdon?« fragte West ganz beiläufig. Der Mann lachte. »Nicht Langdon. Langdon hat sich verirrt.« »Das ist schlimm«, meinte West. »Es ist schlimm, wenn man sich auf dem Pluto verläuft.« »Nicht Pluto«, sagte der Mann. »Irgendwo anders.« »Dann vielleicht Darling ...« er hielt den Atem an, um die Antwort zu hören. »Darling hat uns verlassen«, sagte der Mann. »Ich bin Cartwright. Burton Cartwright.« Als sie das kleine Plateau vor dem Labor erreicht hatten, blieben sie stehen, um Atem zu schöpfen. Das schwache Licht der Sterne erfüllte das Tal unter ihnen mit silbernem Licht. West deutete. »Das Schiff!« Cartwright lachte. »Sie erkennen es, wie? Die Alpha Centauri.« »Auf der Erde arbeiten die immer noch an dem Antrieb«, sagte West. »Eines Tages werden sie es schaffen.« »Daran habe ich keinen Zweifel«, sagte Cartwright. Er drehte sich um. »Gehen wir hinein. Das Essen ist gleich fertig.« Der Tisch war mit weißem Tuch und glänzendem Silber gedeckt, das im Licht der flackernden Kerzen schimmerte. Funkelnde Weingläser standen am richtigen Platz. In der Mitte stand eine Schale mit Obst –
Obst, wie West es noch nie zuvor gesehen hatte. Cartwright kippte einen Stuhl zur Seite und warf damit ein Geschöpf, das darauf geschlafen hatte, auf den Boden. »Ihr Platz, Mr. West«, sagte er. Das Ding rollte sich auseinander und funkelte West mit einem Auge an, in dem es haßerfüllt aufleuchtete, knurrte giftig und verschwand. Auf der anderen Tischseite entschuldigte sich Louis Nevin. »Die verdammten Biester schlüpfen immer wieder herein. Wahrscheinlich haben Sie auch Ärger mit ihnen, Mr. West.« »Wir haben es mit Rattenfallen versucht«, sagte Cartwright, »aber dafür waren die zu schlau. Also finden wir uns mit ihnen irgendwie ab.« West lachte, um damit seine augenblickliche Verwirrung zu überdecken, merkte aber, daß Nevins Blick auf ihm ruhte. »Annabell ist das einzige, das mich je gestört hat«, sagte er. »Da haben Sie Glück gehabt«, meinte Nevin. »Die Biester werden lästig. Eines davon besteht darauf, bei mir zu schlafen.« »Wo ist Belden?« fragte Cartwright. »Er hat früher gegessen«, erklärte Nevin. »Er sagte, er hätte noch einiges zu erledigen und ließ sich entschuldigen.« Zu West gewandt meinte er: »James Belden. Sie haben vielleicht von ihm gehört.« West nickte. Er zog seinen Stuhl zurück, wollte sich hinsetzen und zuckte zusammen. Eine Frau war unter der Tür erschienen, eine Frau
mit violetten Augen und platinfarbenem Haar, eingehüllt in eine Hermelinrobe. Sie trat ein paar Schritte vor, und das Licht der flackernden Kerzen fiel auf ihr Gesicht. West erstarrte bei dem Anblick, spürte, wie das Blut in seinen Adern zu Eis gefror. Denn das Gesicht war nicht das Antlitz einer Frau. Es war wie ein mit kurzem Pelz bedeckter Schädel, wie das Gesicht einer Motte, die versucht hatte, Mensch zu werden, und auf halbem Wege gescheitert war. Am Tischende lachte Cartwright. »Sie erkennen sie, Mr. West?« West klammerte sich so fest an die Stuhllehne, daß seine Knöchel weiß hervortraten. »Natürlich«, sagte er. »Die weiße Sängerin. Aber wie haben Sie sie hierhergebracht?« »So nennt man sie auf der Erde?« fragte Nevin. »Aber das Gesicht«, fragte West. »Was ist mit ihrem Gesicht passiert?« »Es waren ursprünglich zwei Exemplare«, sagte Nevin. »Eines schickten wir zur Erde. Wir mußten sie etwas herrichten. Plastische Chirurgie, wissen Sie.« »Sie singt«, sagte Cartwright. »Ja, ich weiß.« West nickte. »Ich habe sie singen gehört. Zumindest die andere ... die, die Sie mit dem veränderten Gesicht zur Erde geschickt hatten. Man hört praktisch nichts anderes mehr. Alle Stationen senden nur noch ihre Lieder.« Cartwright seufzte. »Ich würde sie gern auf der Erde hören«, sagte er. »Dort singt sie bestimmt anders, wissen Sie, anders als sie hier sang.« »Sie singen nur das, was sie fühlen«, erklärte Nevin. »Ein Feuerschein an der Wand«, sagte Cartwright, »und sie singt wie ein Feuer. Oder der Duft von Flie-
der im Aprilregen, und ihr Lied ist wie der Duft von Flieder.« »Hier gibt es nie Regen oder Flieder«, sagte Nevin und einen Augenblick sah er so aus, als wollte er weinen. Verrückt, dachte West. Völlig verrückt. Genauso verrückt wie der Mann, der sich draußen auf Plutos Mond zu Tode getrunken hat. Und doch, vielleicht nicht ganz so verrückt. »Sie haben keinen Verstand«, sagte Cartwright. »Das heißt, praktisch keinen Verstand. Bestehen nur aus Nervenreaktionen, wahrscheinlich mit ganz anderen Sinneswahrnehmungen als wir. Ein sensibles Ding. Für sie ist Musik ein Ausdruck sinnlicher Wahrnehmungen. Sie können gar nicht anders, als so zu singen, ebenso wenig wie eine Motte anders kann, als sich in einer Kerzenflamme zu verbrennen. Und sie sind von Natur aus telepathisch. Sie nehmen Gedanken auf und geben sie weiter. Sie behalten diese Gedanken nicht, verstehen Sie, geben sie bloß weiter. Wie alte Telefondrähte. Gedanken, die die Zuhörer unter dem Eindruck der Musik aufnehmen und akzeptieren.« »Und das Schöne daran ist«, sagte Nevin, »wenn man als Zuhörer diese Gedanken nachher bewußt empfindet und über sie nachdenkt. Dann ist man überzeugt, daß es die eigenen sind, daß man sie die ganze Zeit schon gehabt hat.« »Raffiniert, wie?« fragte Cartwright. West atmete tief ein. »Raffiniert. Ja. Ich hätte euch das wirklich nicht zugetraut.« West wollte schaudern und merkte, daß er dazu nicht fähig war, und die Spannung wuchs, bis er das
Gefühl hatte, seine Nerven müßten jeden Augenblick zerreißen. »Dann geht es unserer Stella also gut?« fragte Cartwright. »Wie bitte?« fragte West. »Stella, die andere. Die mit dem menschlichen Gesicht.« »Oh, jetzt verstehe ich«, sagte West. »Ich wußte nicht, daß sie Stella heißt. Niemand weiß etwas über sie. Sie tauchte eines nachts plötzlich im Fernsehen auf. Man sagte sie als geheimnisumwobene Sängerin an, und die Leute fingen an, sie die weiße Sängerin zu nennen. Sie sang immer in schwachem blauem Licht, wissen Sie, und niemand hat je ihr Gesicht deutlich gesehen, obwohl sich jeder natürlich einbildete, daß es schön wäre. Die Fernseh- und Rundfunkstationen machten kein Hehl daraus, daß es sich bei ihr um ein fremdes Lebewesen handelte. Man sagte, sie sei Angehörige einer geheimnisvollen Rasse, und Juston Lloyd habe sie auf dem Asteroidengürtel gefunden. Sie erinnern sich doch an Lloyd, den New Yorker Künstleragenten.« Nevin beugte sich über den Tisch. »Und die Leute, die Regierung, niemand hat Argwohn geschöpft?« West schüttelte den Kopf. »Warum auch? Ihre Stella ist ein Wunder. Alle sind nach ihr verrückt. Die Zeitungen, die Leute vom Film, das Fernsehen –« »Und die Anhänger der Kults?« »Denen geht es gut«, sagte West. »Und Ihnen?« fragte Cartwright, und West spürte die Herausforderung in der polternden Stimme des Mannes. »Ich habe es erraten«, sagte er. »Ich bin hierherge-
kommen, um mir meinen Anteil zu holen.« »Wissen Sie auch, was Sie da verlangen?« »Ja«, sagte West und wünschte, daß er es wüßte. »Eine neue Philosophie«, sagte Cartwright. »Ein neues Konzept für das Leben. Neue Wege zum Fortschritt. Geheimnisse, die die Menschheit nie geahnt hat. Neue Wege für die menschliche Zivilisation.« »Und Sie«, sagte West, »genau in der Mitte. Sie ziehen an den Fäden.« »Na und?« fragte Cartwright. »Ich möchte auch an ein paar Fäden ziehen.« Nevin hob die Hand. »Augenblick, Mr. West. Wir möchten wissen, wie –« Cartwright lachte. »Laß doch, Louis. Er hat von deinem Gemälde gewußt. Er hat Annabell. Wo glaubst du wohl, hat er es erfahren?« »Aber – aber«, sagte Nevin. »Vielleicht hat er kein Gemälde benutzt«, erklärte Cartwright. »Vielleicht hatte er andere Methoden. Schließlich gibt es doch andere, das weißt du doch. Vor Tausenden von Jahren schon wußten die Menschen von dem Ort, den wir gefunden haben. Mu wahrscheinlich. Atlantis. Irgendeine andere vergessene Zivilisation. Die Tatsache, daß West Annabell hat, reicht mir. Er muß dort gewesen sein.« West lächelte erleichtert. »Ich habe andere Methoden benutzt«, sagte er ihnen.
3 Ein Roboter kam herein und schob einen Servierwagen mit dampfenden Schüsseln vor sich her.
»Setzen wir uns doch«, schlug Nevin vor. »Nur eines möchte ich noch wissen«, sagte West. »Wie haben Sie es fertiggebracht, Stella zur Erde zu schaffen? Von Ihnen konnte unmöglich jemand sie begleiten. Man hätte Sie erkannt.« Cartwright lachte. »Robertson«, sagte er. »Wir hatten ein Schiff, und damit schlüpfte er durch die Blokkade. Und was das Erkennen angeht – nun, Belden ist unser Arzt. Vielleicht erinnern Sie sich daran, daß er als Schönheitschirurg ziemlich bekannt war.« »Er hat Robertson und Stella hergerichtet«, erklärte Nevin. »Und uns dabei beinahe bei lebendigem Leib die Haut abgezogen«, knurrte Cartwright, »bloß um genug Haut für die Operation zu bekommen. Ich lasse es mir nicht nehmen, daß er uns mehr absäbelte, als er wirklich brauchte, aus reiner Bosheit.« Nevin wechselte das Thema. »Sollen wir Rosie bitten, sich zu uns zu setzen?« »Rosie?« fragte West. »Rosie ist Stellas Schwester. Wie die verwandtschaftlichen Beziehungen genau aussehen, wissen wir nicht, aber wir nennen sie Schwester.« »Es gibt Zeiten«, erklärte Cartwright, »da vergessen wir ihr Gesicht und lassen sie am Kopfende des Tisches sitzen, als wäre sie eine von uns. Als wäre sie unsere Gastgeberin. Wissen Sie, sie sieht ja einer Frau bemerkenswert ähnlich. Ihre Flügel sehen aus wie ein Hermelincape, und dann dieses platinfarbene Haar. Die Tafel wirkt dann irgendwie ... sozusagen –« »Vornehm«, ergänzte Nevin. »Am besten machen wir das heute abend lieber nicht«, entschied Cartwright. »Mr. West ist nicht an
sie gewöhnt. Wenn er eine Weile hiergewesen ist –« Er hielt inne und blickte verstört auf. »Wir haben etwas vergessen«, erklärte er. Er stand auf und ging um den Tisch herum zu dem imitierten Kamin und nahm eine Flasche herunter, die auf dem Sims stand – eine Flasche mit einer schwarzen Seidenschleife um den Hals. Mit theatralischer Geste stellte er sie mitten auf den Tisch, neben die Fruchtschale. »Das ist ein kleiner Scherz, den wir immer machen«, sagte Nevin. »Einen Scherz würde ich das nicht nennen«, wandte Cartwright ein. West blickte verblüfft von einem zum anderen. »Eine Flasche Whisky?« »Aber eine besondere Flasche«, sagte Cartwright. »Eine ganz besondere Flasche. Damals, in den alten Tagen, haben wir einen Club gegründet, den Club des letzten Mannes nannten wir ihn im Scherz. Diese Flasche sollte dem letzten von uns gehören. Er sollte sie dann austrinken. Dabei kamen wir uns sehr abenteuerlich und mutig vor und lachten immer wieder darüber, während wir uns abmühten, Hormone zu finden. Denn, wissen Sie, keiner von uns dachte, daß es je dazu kommen würde.« »Aber jetzt sind wir nur noch drei«, sagte Nevin. »Du irrst«, erinnerte ihn Cartwright. »Wir sind vier.« Beide sahen West an. »Natürlich«, nickte Nevin. »Wir sind vier.« Cartwright breitete die Serviette auf dem Schoß aus. »Louis, wir sollten Mr. West vielleicht das Gemälde zeigen.«
Nevin zögerte. »Ich habe noch einige Zweifel, Cartwright ...« Cartwright schüttelte den Kopf. »Du bist zu argwöhnisch, Louis. Er hatte das Geschöpf doch bei sich, nicht wahr? Er wußte von deinem Gemälde. Das kann er doch nur auf einem ganz bestimmten Wege erfahren haben.« Nevin überlegte. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er. »Und falls es sich herausstellen sollte, daß Mr. West etwas anderes ist, als was er zu sein vorgibt«, meinte Cartwright fröhlich, »können wir immer noch die nötigen Schritte unternehmen.« Nevin nickte zu West hinüber. »Ich hoffe, Sie verstehen.« »Selbstverständlich«, sagte West. »Wir müssen sehr vorsichtig sein«, erklärte Nevin. »Nur wenige würden das begreifen.« »Ganz wenige«, pflichtete West ihm bei. Nevin trat an die Wand und zog an einer Schnur, die dort hing. Einer der Wandteppiche glitt lautlos zur Seite. West blickte atemlos auf das Bild, das sich ihm darbot. Ein Baum stand im Vordergrund, mit goldenen Früchten beladen, Früchten, die genau wie einige derjenigen aussahen, die in der Schüssel auf dem Tisch lagen. Als wäre jemand gerade in das Gemälde getreten und hätte die Früchte frisch zum Abendessen gepflückt. Unter dem Baum verlief ein Weg, der in solch feinen Einzelheiten bis an den Rand der Leinwand führte, daß man selbst die winzigen Kieselsteine deutlich erkennen konnte. Und von dem Baum aus
führte dieser Weg weit in den Hintergrund, kletterte zwischen bewaldeten Hängen empor. Den Bruchteil einer Sekunde lang hätte West schwören können, er habe das Flüstern des Windes in den Blättern des Baumes gehört, er habe die Blätter im Wind zittern gesehen, er habe den Duft der kleinen Blumen, die am Wegesrand blühten, gerochen. »Nun, Mr. West?« fragte Nevin triumphierend. »Nun«, sagte West und bemühte sich immer noch, das Rascheln der Blätter zu vernehmen, »nun, es scheint gerade, als könnte man in das Bild treten und den Weg entlanggehen.« Nevin atmete mit einem Geräusch ein, das weder ein Stöhnen noch ein Seufzen war, sondern irgendwo dazwischen lag. Am Ende der Tafel hatte Cartwright einen Schluck Wein getrunken und mußte jetzt an sich halten, um nicht vor Lachen herauszuplatzen. »Nevin«, fragte West, »haben Sie je daran gedacht, noch ein weiteres Gemälde herzustellen?« »Vielleicht«, sagte Nevin. »Weshalb fragen Sie?« West lächelte. In seinem Gehirn dröhnten Worte, Worte, an die er sich erinnerte, Worte, die ein Mann geflüstert hatte, ehe er starb. »Ich habe gerade gedacht«, sagte West, »was wohl geschehen würde, wenn Sie irgendwann einmal den falschen Ort malen würden.« »Herrgott«, rief Cartwright, »da hörst du es, Nevin. Dasselbe habe ich auch immer gesagt.« Nevin stand auf, und plötzlich erfüllte Musik den Raum. Musik, die Nevin dazu brachte, die verkrampften Hände von der Tischkante zu nehmen, Musik, die die Spannung lockerte, die West plötzlich erfaßt hatte.
Musik, die den Glorienschein der Sterne und die ewige Nacht des Weltalls verkündete. Musik, die das Flüstern der Raketen und die Stille des Alls und die Weite der ewigen Nacht in sich trug. Rosie hatte zu singen begonnen. West saß auf seinem Bettrand. Er konnte von Glück reden, daß er gegangen war, ehe man ihm weitere Fragen hatte stellen können. Bis jetzt, das wußte er ganz sicher, hatte er alle Fragen befriedigend beantwortet, ohne zu viel Argwohn zu erregen, aber je länger dieses Verhör anhielt, desto wahrscheinlicher war es, daß er einen kleinen Fehler beging. Jetzt hatte er Zeit zum Nachdenken, Zeit, einige der Dinge, die er hier erlebt hatte, in die richtige Relation zueinander zu bringen. Eine der kleinen Bestien, die allgegenwärtig schienen, kletterte am Fußende seines Bettes empor und wickelte seinen langen Schwanz darum. Es zirpte West etwas zu, und West sah es an und schauderte dabei und fragte sich, ob es ihm eine Grimasse schnitt oder wirklich so aussah. Diese schleimigen widerlichen Biester ... er hatte irgendwo schon von ihnen gehört. Das wußte er. Selbst Bilder von ihnen hatte er einmal gesehen. Irgendwann einmal und irgendwo, sehr lange war das her. Dinge wie Annabell und das Geschöpf, das Cartwright vom Stuhl geworfen hatte, und das kleine teuflische Biest, das am Fußende seines Bettes kauerte. Das war komisch, was Nevin von ihnen gesagt hatte: sie schlüpfen immer wieder durch; nicht, sie schlüpfen herein, sondern durch.
Nichts paßte hier zusammen. Nicht einmal Nevin und Cartwright. Denn an ihnen war irgendein geheimnisvoller Charakterzug, der nicht menschlich schien. Sie hatten mit Hormonen gearbeitet, als irgend etwas passiert war, das eine Warnung auslöste, die man zur Erde schickte. Aber war da überhaupt eine Warnung gewesen? Oder war die ganze Warnung nur ein einziger großer Schwindel? Ging hier etwas vor sich, das die Regierung des Sonnensystems geheimhalten wollte? Warum hatten sie Stella zur Erde geschickt? Warum waren sie so befriedigt, daß man sie so gut aufgenommen hatte? Warum hatte Nevin gefragt: und die Regierung, niemand hat Argwohn geschöpft? Warum sollte die Regierung etwas beargwöhnen? Was gab es da zu beargwöhnen? Einfach eine Kreatur ohne Verstand, die so sang wie die Glocken des Himmels. Und diese Sache mit den Hormonen. Hormone hatten eigenartige Wirkung auf die Menschen. Ich sollte das wissen, sagte sich West im Selbstgespräch. Ein wenig schneller, eine kleine Abkürzung hier und eine dort in den Bahnen des Geistes. Und man weiß selbst kaum, daß man anders ist. Auf diese Art entwickelt sich die Rasse. Eine Mutation hier und eine da, und in tausend oder zweitausend Jahren ist ein gewisser Prozentsatz der Rasse nicht mehr das, was er vor tausend Jahren war. Vielleicht war es ein Mutant damals in der Steinzeit, der zwei Feuersteine aneinanderschlug und damit das Feuer entdeckte. Vielleicht war es ein anderer Mutant, der das Rad erträumte und den ersten Wagen baute.
Langsam, sagte er, es mußte langsam gegangen sein. Nur ein kleiner Schritt nach dem anderen. Denn wenn es zu viele waren, wenn es auffiel, würden die anderen Menschen jeden Mutanten töten, sobald er ihnen auffiel. Denn die menschliche Rasse kann keine Abweichung von der Norm dulden. Selbst wenn die Mutation der Prozeß ist, durch den sich die Rasse entwickelt. Die Rasse tötet die Mutanten nicht mehr. Sie sperrt sie in Anstalten für Geistesgestörte oder zwingt sie in solche Sackgassen wie Kunst oder Musik, oder sie findet ein nettes, freundliches Exil für sie, wo sie sich wohlfühlen, etwas zu tun haben und wo – das hoffen die normalen Menschen – sie nie erfahren, was sie sind. Jetzt ist es schwieriger, anders zu sein, schwieriger, ein Mutant zu sein und der Entdeckung zu entgehen. Das kommt von den Ärztekongressen und den Psychiatern und all dem anderen wissenschaftlichen Zauber, den die Menschen erfunden haben, um ihren geistigen Frieden zu bewahren. Vor fünfhundert Jahren, dachte West, hätten sie mich nicht gefunden. Vor fünfhundert Jahren hätte ich es vielleicht selbst nicht bemerkt. Kontrollierte Mutation? Das war natürlich etwas anderes. Das war es, was die Regierung beabsichtigt hatte, als sie die Forscher zum Pluto geschickt hatte, um sich die Umweltbedingungen hier zunutze zu machen und Hormone zu entwickeln, die die Rasse mutieren sollten. Hormone, die zu einer besseren Rasse führen sollten, Hormone, die verborgen liegende Talente entwickeln oder völlig neue Charaktereigenschaften schaffen sollten, um das Beste zum Vor-
schein zu bringen, das in der Menschheit steckte. Kontrollierte Mutation, gegen die war nichts einzuwenden. Nur vor ungezügelten Mutationen hatte die Regierung Angst. Was aber, wenn die Mitglieder des Forscherteams ein Hormon entwickelt und es an sich selbst ausprobiert hatten? Seine Gedanken hielten inne, zufrieden mit der Vorstellung, mit dieser möglichen Lösung, die sich darbot. Das kleine Ungeheuer auf seinem Bett strich sich über den Mund, geiferte zufrieden. Es klopfte an der Tür. »Herein!« rief West. Die Tür ging auf, und ein Mann kam herein. »Ich bin Belden«, sagte der Mann. »Jim Belden. Man hat mir gesagt, Sie wären hier.« »Freut mich, Sie kennenzulernen, Belden.« »Was treiben Sie für ein Spiel?« fragte Belden. »Kein Spiel«, sagte West. »Die beiden dort unten glauben Ihnen«, sagte Belden. »Die bilden sich ein, Sie wären auch so ein großer Geist, der die andere Welt entdeckt hat.« »So, tun sie das?« fragte West. »Freut mich, das zu wissen.« »Sie haben mir Annabell gezeigt«, sagte Belden. »Sie sagten, das sei der Beweis, daß Sie einer von uns wären. Aber ich habe Annabell erkannt. Die anderen nicht, aber ich schon. Das ist die eine, die Darling mitgenommen hat. Sie haben sie von Darling bekommen.« West blieb stumm. Es hatte keinen Sinn, Belden den Ahnungslosen vorzuspielen, denn Beldens Ver-
mutung war der Wahrheit zu nahe gekommen. Belden senkte die Stimme. »West, Sie ahnen das Gleiche wie ich. Sie glauben, Darlings Hormon sei viel mehr wert als all der Mummenschanz, der hier vor sich geht. Und Sie sind hier, um es zu finden. Ich habe Nevin gesagt, daß wir Darlings Hormone finden müßten, statt uns in der anderen Welt herumzutreiben, aber er hat das nicht geglaubt. Nachdem wir Darling zum Mond gebracht hatten, hat Nevin die Instrumente des Schiffes zerschlagen. Er hatte Angst, ich könnte fliehen, wissen Sie. Er hat mir nicht vertraut und konnte es sich nicht leisten, mich entkommen zu lassen.« »Ich tausche gern mit Ihnen«, sagte West leise. »Wir fliegen mit Ihrem Schiff zum Mond und besuchen Darling«, sagte Belden. »Wir prügeln es aus ihm heraus.« West lächelte. »Darling ist tot«, sagte er. »Haben Sie die Hütte durchsucht?« wollte Belden wissen. »Natürlich nicht. Warum hätte ich das tun sollen?« »Es ist also dort«, sagte Belden grimmig. »Irgendwo in der Hütte versteckt. Ich habe hier das unterste nach oben gekehrt, und ich bin sicher, daß es nicht hier ist. Weder die Formel noch die Hormone selbst. Es sei denn, Darling ist raffinierter gewesen als ich ihm zugetraut hätte.« »Sie wissen, was das für ein Hormon ist«, sagte West leise, bemüht, es so klingen zu lassen, als wüßte er es selbst auch. »Nein«, sagte Belden. »Darling hat uns nicht vertraut. Er war böse über das, was Nevin vorhatte. Und einmal hat er eine Bemerkung fallen lassen, daß der
Mann, der die Hormone besäße, das Sonnensystem beherrschen könnte. Darling machte keine Witze, West. Er verstand mehr von Hormonen, als wir anderen alle zusammen.« »Mir scheint«, sagte West trocken, »daß es für Sie klüger gewesen wäre, einen solchen Mann hierzubehalten. Sie hätten ihn bestimmt brauchen können.« »Wieder Nevins Schuld«, erklärte Belden, »Darling war mit dem Programm nicht einverstanden, das Nevin vorhatte. Er drohte sogar, ihn zu verraten, wenn er je Gelegenheit dazu bekommen sollte. Nevin wollte ihn töten, aber Cartwright hat sich einen Scherz ausgedacht ... Cartwright denkt sich dauernd Scherze aus.« »Das habe ich auch bemerkt«, sagte West. »Cartwright hat sich die Sache mit dem Exil ausgedacht«, fuhr Belden fort. »Er hat Darling angeboten, er könnte sich irgend etwas wünschen, was er mitnehmen wollte. Eine Sache. Verstehen Sie? Nur eine. Und das war der Witz. Cartwright rechnete damit, Darling würde sich den Kopf zerbrechen. Aber der zögerte keinen Augenblick. Darling nahm den Whisky.« »Er hat sich zu Tode getrunken«, sagte West. »Darling war kein Trinker«, sagte Belden mit scharfer Stimme. »Es war Selbstmord«, sagte West. »Darling hat Sie alle hereingelegt. Er war Ihnen weit voraus.« Ein leises Geräusch, wie die Bewegung einer Vogelschwinge, ließ West herumfahren. Rosie kam durch die Tür, die Flügel halb erhoben, so daß man ihren häßlichen, pelzbedeckten Körper
unter der Totenkopffratze sehen konnte. »Nein!« schrie Belden. »Nein! Ich wollte doch nichts tun. Ich wollte –« Er wich zurück, die Arme ausgestreckt, um das Ungeheuer abzuwehren, das auf ihn zukam. Sein Mund bewegte sich, aber kein Laut drang heraus. Rosie wischte West mit einer Flügelbewegung zur Seite, und dann breiteten sich die Schwingen aus und verdeckten Belden vor Wests Augen. Die Flügel klappten zusammen, und unter ihnen drang der halberstickte Schrei des Mannes hervor. Dann Stille, Schweigen. Wests Hand zuckte zum Halfter und riß die Waffe heraus. Sein Daumen schob den Sicherungshebel zurück, und die Waffe schnurrte wie eine satte Katze. Der Hermelinpelz auf Rosies Schwingen wurde schwarz, und sie brach zusammen. Übelkeiterregender Gestank von verbranntem Eiweiß erfüllte den Raum. »Belden!« schrie West. Er sprang vor, stieß die halbverkohlte Rosie mit dem Fuß zur Seite. Belden lag auf dem Boden, und West wandte sich würgend ab. Einen Augenblick stand West unschlüssig da, dann wußte er, was er zu tun hatte. Die Entscheidung. Er hatte gehofft, sie etwas länger hinausschieben zu können, bis er mehr wußte, aber der Zwischenfall, dessen Zeuge er gerade gewesen war, hatte ihn davon überzeugt, daß er keine Zeit mehr hatte. Er ging durch die Tür und die Wendeltreppe hinunter in den Saal. Er sah, daß das Gemälde beleuchtet war ... mit ei-
nem Leuchten, als käme es von innen heraus, als läge die Lichtquelle in dem Gemälde selbst, als schiene irgendeine andere Sonne auf die Landschaft, die sich auf der Leinwand darbot. Das Bild war beleuchtet, aber der Rest des Raums war dunkel, und das Licht kam nicht aus dem Gemälde, sondern blieb dort, auf der Leinwand gefangen. Etwas huschte zwischen Wests Füßen durch, die Treppe hinunter. Es quiekte, und Krallen kratzten auf den Stufen. Als West die unterste Stufe erreicht hatte, kam eine Stimme aus der Finsternis: »Suchen Sie etwas, Mr. West?« »Ja, Cartwright«, sagte West. »Sie suche ich.« »Sie müssen sich nichts dabei denken, was Rosie getan hat«, sagte Cartwright. »Beunruhigen Sie sich nicht. Das mit Belden war schon lange fällig. In Wirklichkeit hat er nie richtig zu uns gehört. Er tat so, als machte er gemeinsame Sache mit uns, weil er nur so sein Leben retten konnte. Und das Leben ist etwas so Unwichtiges. Finden Sie nicht auch, Mr. West?«
4 West stand stumm am Fuß der Treppe. Der Raum war zu dunkel, um etwas zu sehen, aber die Stimme kam von irgendwo aus der Nähe des Tisches, dicht bei dem erleuchteten Gemälde. Vielleicht muß ich ihn töten, dachte West. Dazu muß ich wissen, wo er steht. Ich muß ihn mit dem ersten Schuß erledigen, für einen zweiten ist keine Zeit mehr.
»Rosie hatte keinen Verstand«, sagte die Stimme aus der Dunkelheit. »Das heißt, praktisch keinen Verstand. Aber sie war telepathisch veranlagt. Ihr Gehirn nahm Gedanken auf und gab sie weiter. Und sie konnte einfachen Befehlen gehorchen. Sehr einfachen Befehlen. Und es ist so einfach, einen Menschen zu töten, Mr. West. Rosie stand hier neben mir, und ich hörte jedes Wort, das Sie und Belden sagten. Ich nehme Ihnen das nicht übel, West, denn Sie konnten ja nicht wissen, was Sie getan haben. Aber Belden nahm ich es übel, und deshalb habe ich Rosie hinaufgeschickt. Es gibt nur eine Sache, West, die ich Ihnen übelnehme. Sie hätten Rosie nicht töten dürfen. Das war ein großer Fehler, West, ein sehr großer Fehler.« »Nein«, sagte West. »Ich habe es absichtlich getan.« »Ganz ruhig, Mr. West«, sagte Cartwright. »Tun Sie nichts, was mich dazu bringen könnte, abzudrücken. Ich halte nämlich eine Pistole auf Sie gerichtet. Ich habe Sie genau im Visier, West, und ich treffe mein Ziel immer.« »Ich wette mit Ihnen«, sagte West, »daß ich Sie erwische, ehe Sie abdrücken können.« »Aber, Mr. West«, sagte Cartwright, »jetzt wollen wir doch nicht nervös werden. Sicher, Sie haben uns hereingelegt. Sie haben versucht, sich einzuschleichen, und das wäre Ihnen beinahe geglückt, obwohl wir Sie am Ende natürlich erwischt hätten. Ich muß Ihren Mut bewundern. Vielleicht können wir uns irgendwie arrangieren, ohne daß jemand sterben muß.« »Ich warte«, erklärte West. »Das mit Rosie war schlimm«, sagte Cartwright, »das nehme ich Ihnen wirklich übel, West, denn wir
hätten Rosie sehr nützlich einsetzen können. Aber immerhin hat die Arbeit auf den anderen Planeten schon begonnen. Und wir haben ja noch Stella. Unsere Schüler sind gut vorbereitet ... die kommen auch eine Weile ohne Anweisungen zurecht, und wenn die Zeit gekommen ist, mit ihnen Verbindung aufzunehmen, finden wir vielleicht einen Ersatz für unsere Rosie.« »Schweifen Sie nicht vom Thema ab«, sagte West. »Ich will hören, was Sie zu sagen haben.« »Nun«, meinte Cartwright, »wir sind hier schrecklich unterbesetzt. Belden ist tot, und Darling ist tot, und wenn Robertson jetzt noch nicht tot ist, so wird es nicht mehr lange dauern. Nachdem er Stella zur Erde gebracht hatte, versuchte er nämlich zu desertieren, wollte weglaufen. Und das ging natürlich nicht. Da bestand ja die Gefahr, daß er den Leuten etwas von uns verriet, und das können wir nicht gestatten. Wir sind nämlich tot, verstehen Sie ...« Er lachte glucksend, ein Glucksen, das durch die Finsternis hallte. »Es war ein Meisterstück, West, dieser Funkspruch. Ich sei der letzte, der am Leben geblieben sei, und ich sagte ihnen, was geschehen sei. Ich sagte ihnen, das Raum-Zeit-Kontinuum wäre aufgerissen, und Dinge kämen durch. Und dann stöhnte ich ... ich stöhnte unmittelbar bevor ich starb.« »In Wirklichkeit sind Sie natürlich nicht gestorben«, sagte West unschuldig. »Zur Hölle, nein. Aber das glauben die. Und die wachen immer noch gelegentlich schreiend auf, wenn sie daran denken, wie ich gestorben sein muß.« Schmierentheater, dachte West. Pures Schmieren-
theater. Und ein solcher Schmierenkomödiant brachte es auch fertig, einen Kollegen auf einem einsamen Mond auszusetzen, damit er dort starb. Ein Witzbold, der eine Waffe in der Hand hielt und dabei prahlte, was er alles getan hatte ... wie er die Erde angeschmiert hatte. »Wissen Sie«, sagte Cartwright, »ich mußte erreichen, daß die mir glaubten, es sei wirklich so geschehen. Das mußte so schrecklich wirken, daß die Regierung es nie veröffentlichen konnte, so schrecklich, daß sie den ganzen Planeten unter Quarantäne stellten.« »Sie wollten allein sein«, sagte West. »Stimmt, West. Wir wollten allein sein.« »Nun«, meinte West, »das haben Sie ja beinahe geschafft. Jetzt sind nur noch zwei von Ihnen am Leben.« »Wir zwei«, sagte Cartwright, »und Sie.« »Da vergessen Sie doch etwas, Cartwright«, sagte West. »Sie werden mich töten. Sie haben Ihre Pistole auf mich gerichtet und sind bereit zu schießen.« »Nicht unbedingt«, sagte Cartwright. »Wir könnten uns ja einigen.« Jetzt habe ich ihn, dachte West. Ich weiß genau, wo er steht. Ich kann ihn nicht sehen, aber ich weiß, wo er ist. In einer Minute ist alles vorbei. Er oder ich. »Jetzt nützen Sie uns nicht viel«, sagte Cartwright, »aber später könnten wir Sie gebrauchen. Erinnern Sie sich an Langdon?« »Das ist der, der verschwunden ist«, sagte West. Cartwright lachte wieder sein glucksendes Lachen. »Ganz richtig, West. Aber er ist nicht verschwunden. Wir haben ihn weggegeben. Wissen Sie, da war ein ... ein ... nun, etwas, das ihn als Spielzeug gebrauchen konnte, sozusagen als Haustier, und dem haben wir
Langdon geschenkt.« Wieder lachte er. »Langdon war von der Idee nicht sonderlich erbaut, aber was konnten wir machen?« »Cartwright«, sagte West mit gleichmäßiger Stimme, »ich ziehe jetzt meine Waffe.« »Was soll –« fragte Cartwright, aber der Rest von dem, was er sagte, wurde vom Zischen seiner Waffe übertönt. Der Strahl bohrte sich am Fuß der Treppe in die Wand, an einer Stelle, wo den Bruchteil einer Sekunde zuvor noch Wests Kopf gewesen war. Aber West hatte sich, während er noch redete, niedergekauert, und jetzt hielt er seine Waffe in der Hand. Sein Daumen drückte den Auslöser und ließ ihn dann wieder los. Etwas schleppte sich scharrend über den Boden, und dazwischen hörte West das Keuchen tiefer Atemzüge. »Verdammt sollen Sie sein, West«, sagte Cartwright. »Verdammt, Sie ...« »Ein alter Trick, Cartwright«, sagte West. »Ich meine, wenn man mit einem Mann redet, unmittelbar bevor man ihn umbringt. Damit wiegt man ihn in Sicherheit, ehe man ihn angreift.« Wieder der pfeifende, mühsame Atem, das Scharren von Knien und Ellbogen auf dem Boden. Und dann – Schweigen. Und kurz darauf quietschte etwas in einer Ecke und rannte auf schnellen kleinen Füßen davon. Es klang wie das Huschen einer Ratte. Dann wieder Schweigen. Das Huschen war verstummt, aber da war ein anderes Geräusch, ein schwacher Schrei, als ob jemand
in weiter Ferne etwas riefe ... von irgendwo außerhalb des Gebäudes, von irgendwo draußen ... von draußen ... West lag flach auf dem Boden, die Waffe gegen den Teppich gedrückt. Draußen ... draußen ... draußen ... Die Worte hämmerten gegen seinen Schädel. Wo draußen, fragte er sich, aber jetzt kannte er die Antwort. Er wußte, wo er das Bild der Kreatur gesehen hatte, die auf dem Stuhl geschlafen hatte, und das Bild des anderen Biests, das auf seinem Bett gekauert hatte. Und jetzt kannte er auch das Geräusch, das er gehört hatte, dieses Schilpen und dieses Schnattern und das trippelnde Geräusch. Draußen ... draußen ... draußen ... Draußen, außerhalb dieser Welt natürlich. Er hob den Kopf und sah das Gemälde an, und der Baum glühte immer noch weich in einem Licht, das von innen heraus kam, und von innen heraus kam ein Geräusch, ein schwaches, pochendes Geräusch, das Geräusch sich schnell bewegender Füße. Wieder kam der Schrei, und der Mann rannte auf dem Weg auf dem Bild. Ein Mann, der rannte und dabei mit den Armen herumfuchtelte und schrie. Der Mann war Nevin. Nevin war in dem Gemälde, rannte den Weg herunter, und seine Füße wirbelten Staub auf. West hob die Pistole, und seine Hand zitterte so, daß der Lauf sich hin und her bewegte und dann einen Kreis beschrieb. »Jagdfieber«, sagte West. Und als er es sagte, klapperten seine Zähne.
Denn jetzt wußte er es ... jetzt kannte er die Antwort. Er hob die linke Hand unter das rechte Handgelenk, stützte die Waffe, und der Lauf hörte auf zu zittern. West biß knirschend die Zähne zusammen, so daß sie aufhörten zu klappern. Sein Daumen legte sich auf den Auslöser, und die Flamme aus der Mündung der Waffe bohrte sich in das Gemälde, fächerte aus, bis die ganze Leinwand ein blaues Flammenmeer war, ein Flammenmeer, das zischte und brüllte und mit hungrigen Zungen um sich griff. Langsam verschwamm der Baum, wurde undeutlich, so als schmerzten seine Augen. Die Landschaft verdunkelte sich, fing an zu zittern, zu flimmern. Und durch die flimmernden Linien konnte man einen verdrehten, etwas verzerrten Mann sehen, dessen Mund bei einem Wutschrei halb offen stand. Aber der Schrei war nicht zu hören, nur das Zischen der Waffe. Mit einem müden kleinen Paff waren das grelle Licht um das Gemälde verschwunden, und der Flammenstrahl der Pistole zischte durch einen leeren Stahlrahmen, der nur noch von winzigen glühenden Drähten erfüllt war, die an der Wand dahinter vibrierten. West nahm den Daumen zurück, und das Schweigen erdrückte ihn, umfaßte ihn und den Saal ... ebenso wie es den Raum meilenweit rings um ihn umfaßt hielt. »Kein Gemälde«, sagte West. Ein Echo schien den ganzen Saal zu erfüllen. »Kein Gemälde«, sagte das Echo, aber West wußte, daß es kein Echo war, nur sein eigener Verstand, der
endlos die Worte wiederholte, die seine Lippen gerade gesagt hatten. »Kein Gemälde«, sagte das Echo, sondern eine andere Welt, ein anderer Ort, irgendein Anderswo. Eine Maschine, die das Raum-Zeit-Kontinuum auflöste, oder was auch immer es sonst sein mochte, das das Universum des Menschen von anderen, fremdartigen Universen trennte. Kein Wunder, daß die Früchte an dem Baum ebenso ausgesehen hatten wie die Früchte auf dem Tisch. Kein Wunder, daß er geglaubt hatte, den Wind zwischen den Blättern zu hören. West stand auf und trat an die Wand, die hinter ihm war. Er fand einen Schalter und drückte ihn, und die Lichter flammten auf. In dem Licht war die zerschmetterte Maschine aus der anderen Welt ein zerschlagenes Wrack. Cartwrights Leiche lag mitten im Saal. Ein schnatterndes Ding rannte über den Boden und duckte sich unter einem Tisch. Ein grinsendes Gesicht lugte unter einem Stuhl hervor, starrte West bösartig an. Und das Ganze war ihm nichts Neues, denn er hatte diese Gesichter schon gesehen. Bilder von ihnen in alten Büchern und Magazinen, die Horrorgeschichten enthielten, Geschichten von Dingen, die aus dem Jenseits kommen, von Wesen, die von draußen über uns hereinbrechen. Bloß Geschichten, die einen nachts im Bett wohlig schaudern lassen, Geschichten die man nicht um Mitternacht lesen sollte. Geschichten, die einen etwas nervös machten, wenn draußen vor dem Fenster ein Baum im Wind ächzte oder der Regen auf die Schindeln pladdert.
Die besten Gelehrten des Sonnensystems hatten ihre ganze Kunst aufwenden müssen, um die Tür zu öffnen, die in die jenseitige Welt führte. Und doch hatten in ferner grauer Vorzeit die Leute schon von solchen Kreaturen berichtet ... von Gnomen, Kobolden und Nachtmahren. Vielleicht hatten die Menschen von Atlantis den Weg gefunden, ebenso wie Nevin und Cartwright ihn gefunden hatten. In jener lang vergangenen Zeit hatten sie eine Flut von Kreaturen auf die Welt losgelassen, die dann Äonen lang in Schauergeschichten weitergelebt hatten, die einem das Mark in den Knochen erstarren ließen. Und die Bilder, die er gesehen hatte? Eine Art Rassenerinnerung vielleicht. Oder Bilder aus der Fantasie, die zufällig wahr waren. Oder hatten vielleicht die Leute, die solche Geschichten schrieben, die Leute, die solche Bilder malten ... West schauderte bei dem Gedanken. Was hatte Cartwright gesagt? Die Arbeit auf den anderen Planeten hatte begonnen? Das Werk, das darin bestand, das Wissen weiterzugeben, die Prinzipien, die Psychologie der fremden Kreaturen aus dem Anderswo. Erziehung durch Fernsteuerung ... unbewußte Erziehung. Stella, die telepathische Stella, die auf der Erde ihre Lieder sang, der Liebling des Publikums. Und sie war eine Agentin dieser Kreaturen ... sie gab das Wissen weiter, und die Menschen dachten dann, es wäre ihr eigenes. Das war es, natürlich, was Nevin und Cartwright geplant hatten. Die Welt hatten sie verändern wollen, hatten sie gesagt. Hier draußen auf dem Pluto wollten sie sitzen und an Fäden ziehen, die die Welt veränderten.
Früher einmal ein Aberglaube, jetzt harte Tatsache. Einst Geschichten, bei denen einem das Blut in den Adern gefror. Und jetzt – Jetzt, da der Urquell des Ganzen vertrocknet war, da der Bildschirm leer war, da die Plutobande ausgelöscht war, würden die Kults aussterben, und Stella würde weitersingen, aber einst würde die Zeit kommen, wenn die Zuhörer sich von Stella abwandten, wenn der Reiz der Neuheit verblaßte, wenn man sich an ihre Fremdartigkeit gewöhnt hatte. Das Sonnensystem würde weiter daran glauben, daß Kobolde und Ungeheuer nur Schreckensbilder aus der Zeit waren, in der die Menschen in Höhlen gekauert und in jedem Schatten, der sich bewegte, eine übernatürliche Bedrohung gesehen hatten. Dabei waren sie nur mit knapper Not entkommen. Aus einer dunklen Ecke jammerte eines der Geschöpfe, sang West einen schrillen Singsang des Hasses vor. Das war es also, dachte West. Da war er, an den Grenzen des Sonnensystems, in einem leeren Gebäude. Und endlich war es so gekommen, wie er es sich erhofft hatte. Da war niemand bei ihm. Ein Gebäude mit Vorräten bis zur Decke gefüllt. Schutz vor den Elementen. Eine Werkstatt, in der er arbeiten konnte. Ein Ort, den die Weltraumpolizei vor unwillkommenen Besuchern abschirmte. Genau der Ort für einen Mann, der sich verstecken wollte. Der richtige Ort für jemanden, der vor der menschlichen Rasse geflohen war. Es gab einiges zu tun... später. Zwei Leichen mußten
bestattet werden. Ein Bildschirm mußte ausgebaut und auf den Schrotthaufen geworfen werden. Ein paar schnatternde Geschöpfe galt es aufzuspüren und zu töten. Dann konnte er sich niederlassen, wirklich Besitz von dem Ort ergreifen. Es gab natürlich Roboter. Einer hatte das Abendessen gebracht. Später, sagte er. Aber vorher galt es etwas anderes zu tun ... etwas, das Vorrang hatte. Wenn er sich nur daran erinnern könnte. Er stand da und sah sich im Saal um, machte eine geistige Bestandsaufnahme von dem, was er sah. Stühle, Vorhänge, ein Schreibtisch, der Tisch, der imitierte Kamin ... Das war es, der Kamin. Er ging durch den Saal und stellte sich davor. Dann nahm er die Flasche vom Kaminsims, die Flasche mit der schwarzen Seidenschleife um den Hals. Die Flasche für den Club der Letzten. Und er war der Letzte, daran bestand kein Zweifel. Der Allerletzte. Er hatte den Pakt nicht mit geschlossen, aber er würde ihn erfüllen. Zweifellos wirkte das melodramatisch, aber es gibt Zeiten, sagte er sich, wo ein bißchen Melodrama verzeihlich ist. Er zog den Korken aus der Flasche und drehte sich herum, um in den Saal zu sehen. Er hob die Flasche zum Gruß – ein Gruß an das gähnende schwarze Loch, das einmal ein Gemälde gewesen war, ein Gruß, für den toten Mann auf dem Boden, für das Ding, das in einer dunklen Ecke piepste.
Er versuchte, sich einen geeigneten Trinkspruch einfallen zu lassen, aber es gelang ihm nicht. Und irgend etwas mußte er sagen, er mußte einfach. »Prost«, sagte er, und das war ein armseliger Trinkspruch, aber einen besseren wußte er nicht. Er führte die Flasche an die Lippen und legte den Kopf in den Nacken. Würgend riß er die Flasche von den Lippen. Das war gar kein Whisky, das schmeckte scheußlich. Es war Galle und Essig und Chinin, alles miteinander gemischt. Es war ein Gebräu aus der Hölle. Es waren all die scheußlichen Medizinen aus seiner Kinderzeit, das war Schwefel und Sirup, das war Rizinusöl, das war – »Großer Gott«, sagte Frederick West. Denn plötzlich erinnerte er sich, wo das Messer lag, das er vor zwanzig Jahren verloren hatte. Er sah es ganz deutlich, wo er es hatte liegenlassen. Er kannte eine Gleichung, die er nie zuvor gekannt hatte, und noch mehr. Er wußte, wozu sie diente, wie man sie einsetzen konnte. Ohne es zu wollen, sah er in einem einzigen zusammenhängenden Bild, wie ein Raketenantrieb funktionierte ... jede Einzelheit, jedes Teil, jedes Relais, wie ein Plan, der sich vor seinen Augen entrollte. Er tat einen tiefen Atemzug und starrte die Flasche an. Plötzlich konnte er Wort für Wort die erste Seite eines Buches wiederholen, das er vor zehn Jahren gelesen hatte. »Die Hormone«, flüsterte er. »Darlings Hormone!« Hormone, die sein Gehirn veränderten, seine Arbeit beschleunigten, es besser arbeiten ließen, seine Arbeit wirksamer machten, als sie je gewesen war.
»Großer Gott«, sagte er. Ein kleiner Vorsprung von Anfang an. Und jetzt noch dies! Der Mann, der diese Fähigkeit besitzt, könnte das Sonnensystem beherrschen. Das war es, was Belden gesagt hatte. Belden hatte es gesucht. Hatte in diesem Gebäude das Unterste nach oben gekehrt. Und Darling hatte es ebenfalls gesucht. Darling, der geglaubt hatte, es zu haben. Darling, der Nevin und Cartwright mit seinem Wunsch hereingelegt hatte, der sich zu Tode getrunken hatte bei dem Versuch, die eine Flasche wiederzufinden, in der er das Elixier versteckt hatte. Und in all diesen Jahren waren die Hormone auf dem Kaminsims gestanden. Jemand anders hatte sie alle hereingelegt. Langdon vielleicht. Langdon, den man als Spielzeug an eine so monströse Kreatur gegeben hatte, daß selbst Cartwright ihr keinen Namen verliehen hatte. Mit zitternder Hand stellte West die Flasche auf den Sims zurück, legte den Korken daneben. Einen Augenblick stand er da, die Hände auf den Sims gestützt. Sich daran festhaltend, stand da und starrte durch die Luke neben dem Kamin hinaus. Starrte in das Tal hinaus, wo ein von Schatten umgebener Zylinder aufgerichtet dastand, als wollte er hinaus zu den Sternen. Die Alpha Centauri – das Schiff mit dem Raumantrieb, der nicht funktionierte. Irgend etwas stimmte daran nicht ... irgend etwas ... Ein Schluchzen drang aus Wests Kehle, und seine Hände krampften sich so fest um den Sims, daß es wehtat.
Er wußte, was nicht stimmte. Er hatte Zeichnungen des Antriebs auf der Erde studiert. Und jetzt war es, als hätte er die Zeichnungen vor seinen Augen, denn er erinnerte sich an sie, an jeden Strich, jedes Symbol, als wären sie in seinem Gehirn eingeprägt. Er sah den Fehler, sah die kleine Änderung, die nötig war, um den Raumantrieb funktionsfähig zu machen. Zehn Minuten ... zehn Minuten, mehr würde er nicht brauchen. So einfach. So einfach. So einfach, daß es ihm unglaublich schien, daß man den Fehler nicht früher gefunden hatte, daß all die großen Geister, die daran gearbeitet hatten, ihn nicht schon längst entdeckt hatten. Da war ein Traum gewesen – etwas, das er nicht gewagt hatte, laut zu sagen, nicht einmal zu sich selbst. Etwas, woran er nicht einmal gewagt hatte zu denken. West richtete sich auf und ließ den Kaminsims los. Wieder blickte er in den Saal. Er nahm die Flasche und hob sie zum zweitenmal wie zu einem Trinkspruch. Aber diesmal wußte er einen Toast für die Toten und das Ding, das in der Ecke jammerte. »Zu den Sternen«, sagte er. Und diesmal trank er, ohne zu würgen. Originaltitel: THE CALL FROM BEYOND Copyright © 1950 by Fictioneers, Inc. Aus THE SPACE MAGICIANS Übersetzt von Heinz Nagel
Arthur C. Clarke SCHICKSAL IM SAND Test, eins, zwei, drei, vier, fünf ... Hier spricht Evans. Ich werde meine Aufzeichnungen solange wie möglich fortsetzen. Das ist eine Zweistundenkapsel, aber ich zweifle daran, daß ich so viel Zeit habe. Dieses Foto hat mich mein ganzes Leben lang wie ein Spuk verfolgt. Jetzt weiß ich, warum, aber es ist zu spät. Und wenn ich es gewußt hätte – was hätte es ausgemacht? Das ist eine dieser unbeantwortbaren und bedeutungslosen Fragen, die mein Kopf endlos herumwälzt, so wie etwa die Zunge ununterbrochen an einem schadhaften Zahn herumspielt. Ich habe es seit Jahren nicht mehr gesehen, aber ich brauche nur meine Augen zu schließen, dann befinde ich mich wieder in einer Landschaft, die fast ebenso feindselig – und so schön – ist wie diese hier. Achtzig Millionen Kilometer sonnenwärts und zweiundsiebzig Jahre in der Vergangenheit: fünf Männer stehen mitten im antarktischen Schnee vor der Kamera. Nicht einmal die unförmigen Pelze können die Erschöpfung verdecken, die die Haltung ihrer Körper kennzeichnet, und ihre Gesichter hat schon der Tod berührt. Es waren fünf. Auch wir waren fünf, und selbstverständlich machten auch wir ein Gruppenfoto. Aber sonst war alles ganz anders. Wir lächelten – fröhlich und zuversichtlich. Und unser Bild erschien innerhalb von zehn Minuten auf allen Bildschirmen der
Erde. Es dauerte dagegen Monate, bevor man ihre Kamera fand und in die Zivilisation zurückbrachte. Wir sterben hier eigentlich behaglich, mit allen modernen Bequemlichkeiten ausgestattet; vieles ist darunter, was sich Robert Falcon Scott im Jahr 1912, als er am Südpol stand, nicht einmal hätte vorstellen können. Zwei Stunden später. Sobald es wichtig zu werden beginnt, gebe ich die genauen Zeiten an. Alle Tatsachen sind im Logbuch verzeichnet, und jetzt kennt sie schon die ganze Welt. Deshalb glaube ich, daß ich hauptsächlich deshalb alles noch einmal festhalte, weil ich möchte, daß mein Geist zur Ruhe kommt, daß ich mich dazu überrede, mich dem Unvermeidlichen zu stellen. Die Schwierigkeit ist die, daß ich nicht weiß, was ich vermeiden sollte und was ich betonen müßte. Nun, es gibt nur eine einzige Möglichkeit, das herauszufinden. In spätestens vierundzwanzig Stunden ist der Sauerstoff verbraucht. Ich habe also drei klassische Möglichkeiten zur Auswahl. Ich kann warten, bis ich vom Kohlendioxyd bewußtlos werde. Ich kann hinausgehen und den Helm öffnen und es dem Mars überlassen, die Sache in etwa zwei Minuten zu beenden. Oder ich kann eine der Tabletten aus dem Arzneikasten nehmen. CO2: Alle sagen, das sei eigentlich ziemlich leicht, etwa so, als gehe man schlafen. Ich zweifle nicht daran, daß dies stimmt, aber in meinem Fall ist das unglücklicherweise mit Nachtmahr Nummer 1 verbunden ... Ich wünschte, ich wäre niemals über dieses ver-
dammte Buch Berichte aus dem Zweiten Weltkrieg gestolpert; so ähnlich heißt es wenigstens. Ein Kapitel handelte von einem deutschen Unterseeboot, das nach dem Krieg gefunden und gehoben wurde. Die Mannschaft war noch drinnen – zwei Mann per Koje. Und zwischen je zwei Skeletten war ein Atemgerät, in das sie sich geteilt hatten ... Nun, hier passiert das natürlich nicht. Ich weiß mit tödlicher Sicherheit, daß ich in diesem U-Boot des Unheils sein werde, sobald ich fühle, daß mir das Atmen schwerfällt. Und wie wäre es dann mit der schnelleren Art? Ist man einem Vakuum ausgesetzt, so wird man innerhalb von zehn oder fünfzehn Sekunden bewußtlos, und Leute, die diese Sache einmal durchgemacht haben, behaupten, sie sei zwar merkwürdig, aber nicht schmerzhaft. Aber der Versuch, etwas zu atmen, was gar nicht da ist, gleicht dem Alptraum Nummer 2. Diesmal ist es eine persönliche Erfahrung. Als Kind tauchte ich gern, wenn meine Familie in den Ferien auf die Karibischen Inseln flog. Da gab es einen alten Frachter, der ein Stück draußen an einem Riff vor zwanzig Jahren gesunken war. Das Deck befand sich nur ein paar Meter unter der Wasseroberfläche. Die meisten Luken waren offen, und so kam ich sehr leicht hinein, um nach Andenken zu suchen und die großen Fische zu jagen, die dort ihr Versteck hatten. Natürlich war das sehr gefährlich, wenn man ohne Atemgerät tauchte. Aber welcher Junge konnte wohl einer solchen Herausforderung widerstehen? Am liebsten tauchte ich in eine Luke auf dem Vordeck, schwamm etwa fünfzehn Meter durch einen Korridor, durch dessen Luken ein wenig Licht fiel,
tappte dann ein paar Stufen hinauf und verließ das Schiff wieder durch eine Tür in den Aufbauten. Die ganze Sache dauerte kaum länger als eine Minute, und für einen Jungen in guter körperlicher Verfassung war das nicht anstrengend. Ich hatte sogar Zeit, mich ein bißchen umzuschauen oder mit einigen Fischen zu spielen, die mir über den Weg schwammen. Manchmal stieg ich auch der Abwechslung halber durch die Tür ein und verließ das Schiff wieder durch die Luke. Und so machte ich es auch beim letztenmal. Ich hatte eines großen Sturmes wegen eine Woche lang nicht getaucht, und deshalb war ich ziemlich ungeduldig geworden. Oben atmete ich also etwa zwei Minuten lang sehr tief, bis ich das Prickeln in meinen Fingerspitzen fühlte und wußte, jetzt mußte ich aufhören. Dann war ich mit einem Hechtsprung im Wasser und glitt dem schwarzen Viereck der offenen Tür entgegen. Diese Tür wirkte immer ein wenig unheilträchtig und drohend, aber das gehörte zur Aufregung. Auf den ersten paar Metern war ich fast völlig blind, denn der Gegensatz zwischen dem tropischen Gleißen der Wasseroberfläche und dem schwachen Dämmerlicht zwischen den Decks war so groß, daß meine Augen eine Weile brauchten, bis sie sich angepaßt hatten. Meistens hatte ich schon den halben Korridor hinter mir, bis ich wieder völlig klar sehen konnte. Je mehr ich mich der offenen Luke näherte, desto heller wurde es außerdem, denn da fiel ein schwacher Sonnenstrahl herein und zeichnete ein zitterndes Rechteck auf den rostigen, vernieteten Metallfußboden. Fast hatte ich es geschafft, als ich bemerkte, daß
diesmal das Licht nicht heller wurde. Es gab keine schräge Sonnensäule vor mir, die mich zur Welt aus Licht und Leben und Luft hinaufführte. Ich war eine Sekunde lang ziemlich verwirrt und glaubte schon, ich hätte mich verirrt; aber dann wurde mir klar, was geschehen war. Die Verwirrung wurde zur panischen Angst. Irgendwann während des Sturmes mußte die Tür zur Luke zugeschlagen sein. Sie wog mindestens eine Vierteltonne. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich umgekehrt wäre, aber ich weiß, daß ich langsam den Korridor zurückschwamm und mir vorsagte: keine Hast; deine Luft reicht länger, wenn du ruhig bleibst ... Sehen konnte ich nun ziemlich gut, denn meine Augen hatten genug Zeit zur Anpassung gehabt. Ich bemerkte eine Menge Dinge, die mir vorher entgangen waren, wie den roten Stachelfisch, der im Schatten lauerte, die grünen farnähnlichen Wedel und die Algen, die in den kleinen Lichtflecken an den Öffnungen wuchsen, und sogar einen Gummistiefel in ausgezeichnetem Zustand, der noch dort lag, wo ihn jemand weggeworfen haben mußte. Und als ich aus einem Seitenkorridor herauskam, bemerkte ich einen großen Barsch, der mich aus vorquellenden Augen anstarrte und sein dickes Maul aufriß, als sei er über mein Eindringen sehr erstaunt. Der Reifen um meine Brust wurde immer enger. Es war mir nicht möglich, den Atem noch länger anzuhalten, aber die Treppe schien noch unendlich weit entfernt zu sein. Ich ließ ein paar Luftblasen aus meinem Mund blubbern, aber als ich dann ausgeatmet hatte, wurde der Schmerz in meinen Lungen noch unerträglicher.
Es hatte jetzt keinen Sinn mehr, meine Kraft zu schonen, indem ich langsam und gleichmäßig dahinschwamm. Ich atmete also die letzten paar Kubikzentimeter Luft aus meiner Gesichtsmaske, die sich dabei flach an meine Nase drückte und zog sie hinab in meine leeren Lungen. Gleichzeitig nahm ich alle meine Kraft zusammen und schwamm, wie ich, glaube ich, noch nie geschwommen war. Das ist alles, woran ich mich erinnere, bis ich auf einmal hustend und spuckend im Tageslicht war und mich am Stumpf des abgebrochenen Mastes festklammerte. Das Wasser um mich herum war blutig, und ich wunderte mich darüber. Dann bemerkte ich zu meinem großen Staunen an meinem rechten Knöchel einen tiefen Riß. Ich mußte an einem scharfen Vorsprung hängengeblieben sein, hatte es aber nicht bemerkt und fühlte auch keinen Schmerz. Das war dann das Ende meines Tauchsportes, bis ich zehn Jahre später mit dem Astronautentraining begann und in den Unterwasser-Null-G-Simulator kam. Da war es dann anders, weil ich ja mit Atemmaske tauchte. Aber ein paar scheußliche Momente hatte ich doch durchzustehen, und ich fürchtete, die Psychologen könnten es entdecken. Ich sorgte aber immer dafür, daß mein Luftvorrat niemals knapp wurde, denn wenn man einmal fast erstickt ist, hat man nicht die Absicht, es noch einmal zu riskieren ... Ich weiß genau, wie es sein wird, wenn ich den eiskalten Hauch des Fast-Vakuums einatme, das auf dem Mars als Atmosphäre gilt. Nein, vielen Dank. Was sollte ich dann gegen Gift einzuwenden haben? Nichts, nehme ich an. Das Zeug, das wir bekommen haben, wirkt innerhalb von fünfzehn Se-
kunden. Das hat man uns gesagt. Aber instinktiv bin ich dagegen, selbst wenn es keine vernünftige Alternative gibt. Hatte Scott Gift bei sich? Das bezweifle ich. Und wenn, dann hat er es sicher nicht genommen. Das hier werde ich nicht noch einmal zurückspielen. Ich hoffe, es bringt ein wenig Nutzen, aber ich weiß es nicht bestimmt. Der Funkschreiber hat gerade eine Mitteilung von der Erde ausgedruckt und mich daran erinnert, daß der Durchgang in zwei Stunden beginnt. Als ob ich das vergessen könnte! Vier Männer sind bereits gestorben, und so bin ich also der erste Mensch, der ihn beobachten kann. Und der einzige Mensch für die nächsten hundert Jahre. Es passiert nicht oft, daß Sonne, Erde und Mars wie an einem Faden aufgereiht hintereinander stehen. Das letzte Mal war es 1905, und da schrieb der gute alte Lowell noch seinen hübschen Unsinn über die Marskanäle und die große sterbende Zivilisation, die sie gebaut hatte. Schade, daß das alles nur ein unterhaltsames Märchen war. Ich glaube, ich sehe jetzt lieber das Teleskop und die ganzen Zeitmeßgeräte nach. Die Sonne ist heute sehr ruhig, wie sie eben mitten im Zyklus sein soll. Nur ein paar kleine Flecken und etliche unbedeutende Turbulenzen sind zu beobachten. Das solare Wetter müßte in den kommenden Monaten gleichmäßig ruhig bleiben. Darüber brauchen sich aber die anderen auf ihrem Heimweg keine Sorgen zu machen. Ich glaube, der schlimmste Augenblick war der, als
ich miterlebte, wie die Olympus vom Mond Phobos abhob, um sich auf den Rückweg zur Erde zu machen. Wenn wir auch seit Wochen gewußt hatten, daß nichts mehr getan werden konnte, so war das doch wie das endgültige Zuschlagen einer Tür. Es war Nacht, und wir konnten alles sehr genau sehen. Phobos war vor ein paar Stunden über den westlichen Horizont geschossen und machte gerade seinen irren Rückwärtslauf über den Himmel; dabei wuchs er von einer hauchzarten Sichel zum Halbmond. Bevor er den Zenit erreichte, würde er ebenso unvermittelt verschwinden, wie er gekommen war, weil er in den Marsschatten tauchte und verdunkelt wurde. Natürlich hatten wir dem Countdown gelauscht und sogar versucht, unserer gewohnten Arbeit nachzugehen. Das war nicht leicht, denn wir hatten die Tatsache zu akzeptieren, daß wir fünfzehn Mann waren, als wir auf dem Mars landeten, daß aber nur zehn zurückkehren würden. Ich glaube, selbst da gab es noch Millionen von Menschen auf der Erde, die nichts begriffen. Sie konnten es ganz einfach nicht glauben, daß die Olympus die sechseinhalbtausend Kilometer nicht absteigen konnte, nur um uns abzuholen. Die Space Administration war mit den wahnsinnigsten Rettungsplänen bombardiert worden. Du lieber Himmel, wir hatten uns selbst genug die Köpfe zerbrochen. Als der Permafrostgrund unter Landekissen drei schließlich nachgab und die Pegasus seitlich absackte, hatten wir alles gewußt. Es war sowieso ein Wunder, daß das Schiff nicht in die Luft ging, als der Treibstofftank dabei beschädigt wurde ... Ich schweife schon wieder ab. Also zurück zu Phobos und dem Countdown.
Auf dem Teleskopmonitor konnten wir genau das zerklüftete Plateau sehen, auf dem die Olympus niedergegangen war, nachdem wir uns getrennt und unseren eigenen Abstieg begonnen hatten. Obwohl unsere Freunde niemals auf dem Mars zu landen gedachten, hatten sie doch eine eigene Welt, die sie erforschen konnten. Phobos ist ein sehr kleiner Satellit, und für jeden Mann blieben da nur dreißig Quadratmeilen zu erforschen. Aber das kann eine ganze Menge sein, wenn man nach seltenen Mineralien oder nach Raumschutt sucht – oder wenn man nur seinen Namen in das Buch der Raumfahrt schreiben will, damit künftige Zeiten wußten, daß man zu denen gehörte, die zum erstenmal den Fuß auf diesen Satelliten gesetzt hatten. Das Schiff war klar als gedrungener heller Zylinder vor den stumpfgrauen Felsen zu erkennen. Von Zeit zu Zeit fing eine Stelle am Rumpf das Licht der schnell wandernden Sonne ein und strahlte es dann wie ein Spiegel zurück. Aber etwa fünf Minuten vor dem Aufstieg wurde das Bild erst rosa, dann feuerrot – und verschwand vollständig, als Phobos in den Schatten tauchte. Der Countdown war noch bei zehn Sekunden, als uns ein gewaltiger Lichtblitz aufschreckte. Für einen Augenblick rechneten wir damit, daß auch die Olympus von einer Katastrophe betroffen worden sein könnte. Dann aber wurde uns klar, daß jemand den Aufstieg filmte und die Außenleuchten am Rumpf eingeschaltet worden waren. In diesen letzten Sekunden vergaßen wir, glaube ich, alle unsere eigene verzweifelte Lage. Wir waren im Geist an Bord der Olympus und warteten darauf,
daß sich langsam der Schub entwickelte, um das Schiff aus dem winzigen Schwerefeld von Phobos zu heben, dann vom Mars wegzudrücken in den langen Fall der Sonne entgegen. Wir hörten, wie Commander Richmond »Zündung« befahl; dann gab es einen massierten Ausbruch von Interferenzen, und der Lichtfleck begann sich im Sichtfeld des Teleskops zu bewegen. Das war alles. Es gab keine Feuersäule, auf der das Schiff ritt, denn bei einer Nuklearrakete gibt es auch keine Zündung im üblichen Sinn. Sie »leuchtet auf«. Das ist der richtigere Ausdruck. Wir bedienen uns noch immer überalteter Ausdrücke einer längst überholten Technologie. Ein heißer Hydrogenstrahl ist völlig unsichtbar. Eigentlich schade, daß wir niemals mehr etwas so Spektakuläres mehr sehen werden wie das Abheben einer Saturnrakete. Unmittelbar vor Brennschluß verließ die Olympus den Marsschatten und barst wieder hinaus ins Sonnenlicht. Sie erschien sofort als strahlender schnell sich bewegender Stern. Dieser Lichtüberfall mußte die Leute im Schiff erschreckt haben, denn wir hörten einen rufen: »Deckt doch das Fenster ab!« Wenige Sekunden später kündigte Richmond an: »Maschine aus.« Was immer auch geschah, die Olympus war jetzt unwiderruflich auf dem Rückweg zur Erde. Eine Stimme erkannte ich nicht, obwohl sie nur die des Commanders gewesen sein konnte. Sie sagte: »Leb wohl, Pegasus«, und dann wurde das Schiffsfunkgerät abgeschaltet. Natürlich hatte es keinen Sinn, »viel Glück« zu sagen. Das alles war schon vor Wochen erledigt worden.
Das ließ ich eben noch einmal zurücklaufen. Wenn man schon von Glück spricht – eine Entschädigung gab es, wenn auch nicht für uns. Mit einer Besatzung von nur zehn Mann konnte die Olympus ein Drittel der Versorgungsgüter zurücklassen und damit selbst um etliche Tonnen leichter werden. Sie kommt daher jetzt einen Monat früher nach Hause. In diesem Monat hätte vieles schiefgehen können. Wir haben auf diese Art vielleicht die Expedition gerettet. Ein sehr hübscher Gedanke – nur, wir werden nichts mehr darüber erfahren. Ich habe sehr viel Musik gehört. Da jetzt keiner mehr da ist, den ich damit stören könnte, drehte ich auf volle Lautstärke. Selbst wenn es Marsbewohner geben sollte – diese geisterhaft dünne Atmosphäre kann selbst die lauteste Musik nur ein paar Meter weit tragen. Wir haben hier eine sehr gute Sammlung, aber ich muß eine sorgfältige Auswahl treffen; nichts, was einen niederdrückt oder was zuviel an Konzentration erfordert. Und vor allem nichts mit menschlichen Stimmen. Deshalb beschränke ich mich auf die leichtere orchestrale Klassik, die »Neue Welt« und Griegs Klavierkonzert passen da ausgezeichnet. Im Moment höre ich Rachmaninoffs Rhapsodie über ein Thema von Paganini, aber jetzt muß ich abschalten und mich an die Arbeit machen. Für einen Rundgang brauche ich fünf Minuten. Alles ist in bester Ordnung. Das Teleskop folgt der Sonne, das Videoaufzeichnungsgerät steht daneben, und der Präzisionschronometer läuft. Diese Beobachtungen werden so sorgfältig sein, wie ich sie nur machen kann. Das schulde ich meinen
toten Kameraden, mit denen ich bald vereint sein werde. Sie haben mir ihren Sauerstoff gegeben, so daß ich in diesem Moment noch am Leben sein kann. Ich hoffe, in hundert oder tausend Jahren wird man sich daran erinnern, wann immer man diese Zahlen wieder aus dem Computer holt ... Noch eine Minute; es wird Zeit für die Arbeit. Ich halte fest: Jahr: 1984, Monat: Mai, Tag: 2, vier Uhr dreißig Minuten Ephemeriden-Zeit in genau diesem Augenblick. Noch eine halbe Minute bis Kontakt. Aufzeichnungsgerät und Zeitmesser voll eingeschaltet. Ich habe den Positionswinkel soeben noch einmal nachgeprüft, um sicher zu sein, daß das Teleskop genau auf die richtige Stelle der Sonne eingestellt ist. Das Bild ist sehr schön ruhig und klar. Vier Uhr zweiunddreißig ... Jetzt muß es jeden Moment ... Da ist es! Da ist es ...! Ich kann es kaum glauben! Ein winziger schwarzer Biß am Sonnenrand ... er wächst, er wächst ... er wächst sehr schnell ... Hallo, Erde! Schaut herauf zu mir! Ich stehe auf dem hellsten Stern eures Himmels, der um Mitternacht genau über euren Köpfen leuchtet ... Aufzeichnungsgerät langsamer gestellt. Vier Uhr fünfunddreißig. Es ist so, als drücke ein Daumen in den Sonnenrand; tiefer, immer tiefer ... Es ist faszinierend, hier zuzusehen ... Vier Uhr einundvierzig. Genau die Hälfte. Die Erde ist ein schwarzer Halbkreis, aus der Sonnenscheibe herausgeschnitten; als fresse eine Krankheit an ihr ... Vier Uhr achtundvierzig. Eintritt zu drei Vierteln vollendet.
Vier Uhr neunundvierzig Minuten und dreißig Sekunden. Aufnahmegerät wieder auf hohe Geschwindigkeit. Die Berührungslinie mit dem Sonnenrand schrumpft sehr schnell. Jetzt ist sie kaum mehr als ein gerade noch sichtbarer Faden. In wenigen Sekunden wird sich die ganze Erde vor die Sonne geschoben haben. Und jetzt kann ich auch die Auswirkungen auf die Atmosphäre beobachten. Das schwarze Loch in der Sonne ist von einem dünnen Lichthof umgeben. Seltsam, zu denken, daß ich hier das Glühen aller Sonnenauf- und untergänge sehe, die in diesem Moment auf der ganzen Erde stattfinden ... Eintritt nun vollständig; vier Uhr fünfzig Minuten und fünf Sekunden. Die ganze Erde ist auf das Gesicht der Sonne gewandert. Eine makellose schwarze runde Scheibe steht vor dem Inferno einhundertfünfundvierzig Millionen Kilometer weiter unten. Die Scheibe sieht viel größer aus, als ich erwartet hatte. Man könnte sie leicht für einen großen Sonnenfleck halten. In den nächsten sechs Stunden ist nichts mehr zu sehen. Dann geht der Mond auf und folgt der Erde im Abstand von etwa einer halben Sonnenbreite. Ich werde die Daten des Aufnahmegeräts an Lunacom übermitteln und dann etwas zu schlafen versuchen. Mein letzter, der allerletzte Schlaf. Ob ich Drogen brauche? Eigentlich schade, diese letzten paar Stunden zu verschwenden, aber ich will meine Kraft und meinen Sauerstoff sparsam einsetzen. Ich glaube, es war Dr. Johnson, der gesagt hat, nichts beruhige den Geist eines Mannes besser als das
Wissen, daß er um sechs Uhr morgens gehängt wird. Wie, zum Teufel, konnte er das wissen? Zehn Uhr dreißig Minuten Ephemeriden-Zeit. Dr. Johnson hatte recht. Ich brauchte nur eine einzige Pille und erinnere mich an keinen Traum. Der zum Tod Verurteilte aß auch ein herzhaftes Frühstück. Das kann man aber streichen ... Zurück ans Teleskop. Jetzt ist die Erde etwa zur Hälfte über die Sonnenscheibe gewandert und steht nun nördlich des Mittelpunktes. In zehn Minuten müßte ich den Mond sehen können. Ich habe eben das Teleskop wieder auf höchste Stufe eingeschaltet, diesmal zweitausend. Eine ausgezeichnete Vergrößerung, wenn auch das Bild schon ein wenig verschwommen wirkt. Der atmosphärische Hof ist sehr genau zu erkennen. Ich hoffe, sogar die Städte auf der dunklen Seite der Erde zu erkennen ... Nein, kein Glück. Vielleicht zu viele Wolken. Schade. Theoretisch wäre es möglich, aber gelungen ist es uns noch nie. Ich wünschte ... Ach, ist egal. Zehn Uhr vierzig Minuten. Aufnahmegerät läuft langsam. Ich hoffe, daß ich auf den genau richtigen Fleck eingestellt habe. Noch fünfzehn Sekunden. Auf hohe Geschwindigkeit geschaltet. Verdammt, das ging daneben. Spielt keine Rolle. Das Aufnahmegerät hat schon den richtigen Moment erwischt. Am Sonnenrand ist bereits eine kleine schwarze Kerbe zu erkennen. Der erste Kontakt muß um zehn Uhr einundvierzig Minuten zwanzig Sekunden Ephemeriden-Zeit erfolgt sein.
Wie lange ist doch der Weg zwischen Erde und Mond; zwischen ihnen liegt die halbe Sonnenbreite. Man sollte nicht meinen, daß diese beiden Himmelskörper etwas miteinander zu tun haben. Das unterstreicht nur, wie riesig groß die Sonne ist ... Zehn Uhr vierundvierzig Minuten. Der Mond ist genau zur Hälfte über den Rand gekrochen. Es ist ein sehr klarer, sehr kleiner halbkreisförmiger Fleck, der aus dem Sonnenrand herausgeschnitten ist. Zehn Uhr siebenundvierzig Minuten fünf Sekunden. Internaler Kontakt. Der Mond hat sich vom Rand entfernt und steht völlig vor der Sonnenscheibe. Ich glaube nicht, daß ich etwas auf der Nachtseite erkennen kann, aber ich werde die Vergrößerung noch verstärken. Seltsam ... Na, schön. Jemand muß versuchen, mit mir zu sprechen; auf der dunklen Seite des Mondes pulst ein winziges Licht. Vielleicht ist es der Laser vom Stützpunkt im Mare Imbrium. Schade und tut mir leid. Ich habe schon überall Lebewohl gesagt und will das alles nicht noch einmal hinter mich bringen. Jetzt ist nichts mehr wichtig. Trotzdem ... Dieser zuckende Lichtpunkt ist fast hypnotisch; er scheint ja direkt aus der Sonne selbst herauszukommen. Es ist kaum zu fassen, daß nach dieser Entfernung der Strahl kaum hundertfünfzig Kilometer breit ist. Lunacom macht sich sehr viel Mühe, ihn direkt auf mich auszurichten, und ich glaube, ich sollte ein schlechtes Gewissen haben, weil ich ihn ignoriere. Aber ich habe keins. Meine Arbeit ist fast abgeschlossen, und die Angelegenheiten der Erde gehen mich nichts mehr an.
Zehn Uhr fünfzig Minuten. Aufnahmegerät abgeschaltet. Das heißt, bis zum Ende des Erdentransits in zwei Stunden von jetzt an gerechnet. Ich habe einen Happen gegessen und schaue zum letztenmal aus der Beobachtungskuppel. Die Sonne steht noch hoch, so daß der Kontrast nicht sehr groß ist, aber das Licht bringt alle Farben kräftig heraus. Es gibt unzählige Schattierungen von Rot, Rosa und Karmesinrot, die vor dem tiefen Blau des Himmels von ungeheurer Wirkung sind. Wie anders als auf dem Mond, obwohl auch er seine eigene Schönheit hat. Merkwürdig eigentlich, wie erstaunlich das Offensichtliche sein kann. Jeder kennt den Mars als roten Stern. Wir haben aber nicht das Rot des Rostes oder des Blutes erwartet. Es ist fast so wie in der Painted Desert von Arizona. Nach einer Weile sehnt man sich nach Grün. Nach Norden zu gibt es eine angenehme farbliche Abwechslung; die Kappe aus Kohlendioxydschnee; am Mount Burroughs ist eine blendende weiße Pyramide. Das ist auch eine Überraschung. Burroughs liegt achttausend Meter über durchschnittlicher Bodenhöhe. Als ich ein Junge war, hieß es noch, es gebe keine Berge auf dem Mars. Die nächste Sanddüne ist etwa fünfhundert Meter entfernt, und auf den schattseitigen Hängen hat sie ein paar Froststellen. Während des letzten Sturmes waren wir der Meinung, sie habe sich ein paar Meter weiterbewegt, aber sicher wußten wir es natürlich nicht. Ich bin jedoch überzeugt, daß die Dünen sich ebenso bewegen wie die auf der Erde. Eines Tages wird dieses Lager zugedeckt sein, um vielleicht in
tausend oder in zehntausend Jahren wieder zu erscheinen. Diese bizarre Felsgruppe – der Elefant, das Kapitol und der Bischof – hütet noch immer ihre Geheimnisse und neckt mich mit der Erinnerung an unsere erste große Enttäuschung. Wir hätten schwören mögen, sie seien Schichtgestein; wie eifrig wir hinausrannten, um nach Fossilien zu suchen! Selbst jetzt wissen wir noch nicht, was diese Felsauswüchse so geformt hat. Die Geologie des Mars ist eine Anhäufung von Widersprüchen und Rätseln. Wir überlassen der Zukunft viele Probleme, und jene, die nach uns kommen, werden noch viel mehr finden. Aber es gibt ein Geheimnis, das wir nie zur Erde berichtet haben, nicht einmal im Log haben wir es eingetragen. In der ersten Nacht nach unserer Landung hielten wir abwechslungsweise Wache. Brennan war gerade an der Reihe, als er mich kurz nach Mitternacht aufweckte; ich war ein wenig wütend, denn es war ein Stück vor der vereinbarten Zeit, und dann sagte er mir, er habe am Fuß des Kapitols ein Licht gesehen, das sich bewegt habe. Wir saßen da und hielten mindestens eine Stunde lang Ausschau, bis die Reihe der Wache an mir war. Aber wir sahen nichts. Was immer dieses Licht auch war, es kam nie wieder. Nun war aber Brennan ein durch und durch nüchterner Mann ohne Fantasie. Wenn er sagte, er habe ein Licht gesehen, dann hat er auch eines gesehen. Vielleicht war es eine Art elektrischer Entladung oder auch ein Reflex von Phobos auf einem Stück sandpolierten Gesteins. Jedenfalls beschlossen wir, nichts
davon an Lunacom zu melden, wenn es nicht wieder erschiene. Seit ich allein bin, wache ich oft in der Nacht auf und schaue zu den Felsen hinüber. Im schwachen Licht von Phobos und Deimos erinnern sie mich immer an die Skyline einer verdunkelten Stadt. Und sie blieb immer dunkel. Für mich sind niemals Lichter erschienen ... Zwölf Uhr neunundvierzig Minuten EphemeridenZeit. Der Beginn des letzten Aktes steht bevor. Die Erde hat nahezu den Rand der Sonne erreicht. Die beiden schmalen Lichtsicheln, die sie noch umschließen, berühren sich kaum ... Aufnahmegerät läuft schnell. Kontakt! Zwölf Uhr fünfzig Minuten sechzehn Sekunden. Die Lichtsicheln berühren sich nicht mehr. Ein winziger schwarzer Fleck ist am Sonnenrand erschienen. Er wird länger ... länger ... Aufnahmegerät langsam. Achtzehn Minuten muß ich noch warten, bis die Erde schließlich die Sonnenscheibe wieder verläßt. Der Mond hat noch mehr als die Hälfte vor sich. Er hat noch nicht die Mitte seines Transits erreicht. Er schaut aus wie ein kleiner runder Tintenklecks, der nur knapp ein Viertel so groß ist wie die Erde. Und das pulsende Licht ist nicht mehr zu sehen. Lunacom muß aufgegeben haben. Nun, mir bleibt hier in meinem letzten Heim noch eine Viertelstunde. Die Zeit scheint plötzlich viel schneller zu laufen, ungefähr ebenso wie in den letzten Minuten vor einem Aufstieg. Macht nichts. Ich habe alles durchdacht, es ist alles geregelt. Ich bin so-
gar ziemlich entspannt. Ich fühle mich jetzt schon als Teil der Geschichte. Ich bin sozusagen ein Captain Cook, der 1769 in Tahiti den Transit der Venus beobachtete. Damals muß es ähnlich gewesen sein, nur daß diesmal der Mond hinter der Erde drein lief. Was hätte wohl Cook vor über zweihundert Jahren gedacht, hätte ihm jemand gesagt, daß eines Tages ein Mann die ganze Erde im Transit von einer Außenwelt her beobachten würde? Ich bin davon überzeugt, er hätte fassungslos gestaunt, und dann hätte er gestrahlt ... Aber eigentlich fühle ich mich einem Mann, der noch nicht geboren ist, viel ähnlicher, wer immer es auch sein mag. Vielleicht steht einer einmal genau an dieser Stelle, an der ich jetzt stehe; in hundert Jahren, wenn der nächste Transit zu erwarten ist. Meine Grüße dem 10. November 2084! Ich wünsche euch viel mehr Glück, als wir hatten. Vermutlich kommt ihr auf einem Luxusschiff hierher. Oder ihr seid auf dem Mars geboren und Fremde für die Erde. Ihr werdet Dinge wissen, die ich mir gar nicht vorstellen kann. Und doch, ich beneide euch irgendwie nicht. Selbst wenn ich könnte, ich würde mit euch nicht tauschen. Denn ihr werdet euch meines Namens erinnern und wissen, daß ich der erste aller Menschen war, der je einen Erdtransit beobachtet hat. Und niemand wird einen in den nächsten hundert Jahren sehen ... Zwölf Uhr neunundfünfzig Minuten. Genau die Hälfte der Austrittsphase. Die Erde ist ein Halbkreis, ein schwarzer Schatten auf dem Antlitz der Sonne. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß et-
was einen großen Brocken aus der goldenen Scheibe gebissen hat. In neun Minuten wird der Schatten verschwunden, die Sonnenscheibe wieder ganz sein. Dreizehn Uhr sieben Minuten. Aufnahmegerät läuft schnell. Die Erde ist fast verschwunden. Nur noch ein flaches schwarzes Grübchen ist am Rand der Sonne zu erkennen. Man könnte es leicht für einen winzigen Sonnenfleck halten, der sich über den Sonnenrand bewegt. Dreizehn Uhr acht Minuten. Leb wohl, schöne Erde. Sie verschwindet. Verschwindet. Leb wohl, lebe ... Jetzt fühle ich mich ganz wohl. Alle Daten wurden nach Hause gefunkt. In fünf Minuten werden sie Teil der von der Menschheit angesammelten Weisheit sein. Und Lunacom wird wissen, daß ich meine Pflicht bis zuletzt erfüllt habe. Aber dies hier schicke ich nicht ab. Ich werde es für die nächste Expedition hier zurücklassen, wann immer das auch sein wird. Es könnte zehn oder zwanzig Jahre dauern, bis wieder jemand kommt. Hat ja keinen Sinn, immer wieder an die alten Stellen zurückzukehren, wenn eine ganze Welt darauf wartet, erforscht zu werden. Diese Kapsel bleibt also hier, so wie Scotts Tagebuch in seinem Zelt blieb, bis die nächsten Besucher sie finden. Aber mich werden sie nicht finden. Seltsam, wie schwer ich mich von Scott lösen kann. Ich glaube, er hat mir die Idee eingegeben. Denn sein Körper wird nicht ewig gefroren in der Antarktis liegen, isoliert vom großen Kreislauf von Leben und Tod. Vor langer Zeit begann sein einsames
Zelt den Marsch zum Meer. Innerhalb weniger Jahre war es vom fallenden Schnee ganz und gar zugedeckt und so zum Teil des Gletschers geworden, der seit Urzeiten vom Pol herabfließt. In einigen kurzen Jahrhunderten wird also der Seefahrer ins Meer zurückkehren. Er wird sich wieder in den ewigen Kreislauf des Lebens einfügen – das Plankton, die Seehunde, die Pinguine, die Wale, die ungeheure Mannigfaltigkeit der Fauna des Antarktischen Ozeans. Hier auf dem Mars gibt es keine Ozeane, und in den letzten fünf Milliarden Jahren hat es auch keine gegeben. Aber Leben irgendeiner Art gibt es unten in den Wüsten von Chaos II, die wir nie erforschen konnten, weil wir die Zeit nicht hatten. Diese beweglichen Flecken auf den Fotos aus der Kreisbahn. Der Beweis, daß ganze weite Gebiete des Mars von anderen als Erosionskräften glattgefegt worden sind. Diese langen Ketten der optisch aktiven Karbonmoleküle, die von den atmosphärischen Probensammlern aufgefangen wurden. Und dann natürlich das Geheimnis von Wiking 6. Selbst jetzt war noch niemand fähig, den Sinn dieser letzten Instrumentaldaten zu verstehen, ehe etwas Großes und Schweres die Sonde in den stillen, kalten Tiefen der Marsnacht zerschmetterte ... Und rede mir niemand von primitiven Lebensformen auf einem Planeten wie diesem! Alles, was hier überlebt, muß so ausgeklügelt und vielseitig sein, daß wir selbst nur wie plumpe Dinosaurier dagegen wirken. Im Schiffstank ist so viel Treibstoff, daß ich mit dem Marswagen noch den ganzen Planeten umrunden könnte. Ich habe noch drei Stunden Tageslicht –
sehr viel Zeit, um hinab in die Täler und hinaus ins Chaos zu kommen. Nach Sonnenuntergang werde ich auch mit den Scheinwerfern gut vorwärts kommen können. Es wird sehr romantisch sein, nachts unter den Monden des Mars dahinzufahren ... Etwas muß ich noch erledigen, ehe ich hier abfahre. Es gefällt mir gar nicht, daß Sam so hier liegt. Er hatte immer soviel Haltung, war so liebenswert, so anmutig. Es ist nicht recht, daß er jetzt so merkwürdig aussieht. Da muß ich etwas tun. Ich überlege mir, ob ich imstande gewesen wäre, hundert Meter ohne Anzug zurückzulegen, langsam und gleichmäßig weiterzugehen, so wie er es tat – bis zum Ende. Ich muß versuchen, nicht in sein Gesicht zu schauen. Das wäre erledigt. Alles ist in schönster Ordnung, und ich kann mich auf den Weg machen. Die Therapie hat gewirkt. Ich fühle mich absolut wohl und zufrieden, denn jetzt weiß ich genau, was ich zu tun habe. Die alten Nachtmahre haben ihre Macht über mich verloren. Es ist wahr: wir alle sterben einsam. Also ist es wirklich bedeutungslos, ob man achtzig Millionen Kilometer von zu Hause entfernt ist oder nicht. Ich werde die Fahrt durch die Landschaft mit ihren lieblichen Farben sehr genießen. Ich werde an all jene denken, die vom Mars geträumt haben – von Wells und Lowell, von Burroughs und Weinbaum und Bradbury. Sie alle haben sich falsche Vorstellungen gemacht, aber die Wirklichkeit ist ebenso seltsam und fremdartig und ebenso schön, wie sie es sich vorge-
stellt haben. Ich weiß nicht, was auf mich dort draußen wartet, und ich werde es vermutlich niemals sehen. Aber diese sterbende Welt, die so verzweifelt nach Kohlenstoff, Phosphor, Sauerstoff und Kalzium hungert, kann mich brauchen. Wenn mein Sauerstoffgerät zum letztenmal Ping macht, irgendwo da unten in dieser spukhaften Wildnis, werde ich mit Stil Schluß machen. Sobald mir das Atmen Schwierigkeiten bereitet, werde ich den Marswagen verlassen und zu laufen beginnen – mit einem Rückspielgerät in meinem Helms das auf volle Lautstärke gedreht ist. Denn an Triumph, Macht und Glorie gibt es nichts in der ganzen Welt der Musik, was sich mit der Toccata und Fuge in D messen könnte. Ich werde keine Zeit mehr haben, sie ganz zu hören. Das ist unwichtig. Johann Sebastian Bach, ich komme ...
Originaltitel: TRANSIT OF EARTH Copyright © 1970 by Arthur C. Clarke Aus THE WIND FROM THE SUN Übersetzt von Leni Sobez