Dragon - Söhne von Atlantis Nr. 54
Schrecken des Meeres von Clark Darlton
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon - Der ...
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Dragon - Söhne von Atlantis Nr. 54
Schrecken des Meeres von Clark Darlton
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon - Der Atlanter begegnet dem »Schrecken der Meere«. Alnar von Marmo - Ein Anhänger der Lehren des »Weisen Ombar«. yTaheta - Eine Kanuk-Sklavin. Ubali - Dragons zwei- oder vierbeiniger Kampfgefährte.Matzumo - Ein Verfluchter. Hesian - Ein Menschenschmuggler. Schuld daran, daß über Myra düstere Schatten fallen, trägt zweifellos König Dragons lange Abesenheit, bewirkt durch den veränderten Zeitablauf, der aus sechs Monaten Aufenthalt auf Vestas Welt drei ganze irdische Jahre macht. Und drei Jahre sind zuviel! Schon vorher beginnt es in Myranien unruhig zu werden. Da Dragon längst für tot gehalten wird, bedrängen Freier Königin Amee, die sich ihrer nur mit Hilfe des magischen Umhangs erwehren kann, den Dragon vom Namenlosen erhielt und der aus dem Eisland zurückgeholt wurde. Rachmud, ein schmählich abgewiesener Freier, bedient sich sogar der Mächte der Dunkelheit und des Meisters der Dämonen, um die Königin unter Druck zu setzen und sich an Myra zu rächen. Doch Rachmud stirbt durch eben die Mächte, die er zu Hilfe gerufen hat. Und auch ein Meister der Dämonen – so zeigt es sich – ist nicht in allen Situationen unschlagbar, so daß die Myraner und ihre Königin noch einmal aufatmen können. Bald darauf gelingt Dragon die Rückkehr. Zusammen mit Ubali, dem Panther, und der schönen Thamai durchschreitet er das »Götterauge« und gelangt, weitab von Myra, in das Land, das von den Erben des alten Atlantis beherrscht wird. Dragon sieht mit Schrecken und Abscheu das Tun und Treiben der Sklavenjäger und Blutherren. Zugunsten der grausam Unterdrückten greift er ein und tilgt den Schandfleck Shebar vom Antlitz der Erde. Anschließend wollen Dragon und seine neuen Kampfgefährten, die Kanuks, eine weitere Blutburg angreifen. Doch der Atlanter und seine Leute werden aufgehalten durch Matzumo, den SCHRECKEN DES MEERES …
1.
Als der Sturm nach Tagen endlich nachließ, begannen sich die Wogen zu glätten. Zwar kamen sie noch immer in endlosen Reihen von Westen herangerollt, aber sie hatten ihre zerstörerische Kraft verloren. Links lag die Steilküste des Felsigen Landes, und da der dickbäuchige Zweimaster nur langsam wieder Fahrt aufnahm, ließ Dragon wieder mehr Segel setzen. Irgendwo im Süden, in der Nähe des Vogelkaps, mußte der vereinbarte Treffpunkt liegen. Ein rothäutiger Kanukkrieger kletterte geschickt am Vordermast empor, bis er auf der obersten Rah festen Halt fand. Doch vergeblich suchte er das Meer nach den anderen fünf Seglern ab. Er konnte nichts als unwirtliche Küste und Wasser sehen. »Der Sturm hat uns auseinandergetrieben«, sagte Ubali, der den hohen Seegang im Gegensatz zu den roten Kriegern gut überstanden hatte, »Trotz der gerefften Segel waren wir schneller als sie, Sie müssen noch hinter uns sein.« Er stand mit dem Rücken zur Reling, und sein geschmeidiger, schwarzer Körper machte die Bewegungen des Schiffes mit und glich sie so aus. Dragon nickte ihm zu, ohne daß er den befreiten Seesklaven aus den Augen ließ, der das Ruder bediente. »Wollen wir hoffen, daß keines der Schiffe an der Küste zerschellte. Wir segeln so schnell wie möglich zum vereinbarten Treffpunkt am Vogelkap. Dort warten wir.« »Wenn wir es finden ...« »Wir werden es finden!«
Als Thamai an Deck kam und sich zu Ubali gesellte, kümmerte sich Dragon um die Mannschaft, die aus den befreiten Sklaven von Neuatlantis und den roten Eingeborenen des Felsigen Landes und der Hungerwüste bestand. Die meisten Kanuks litten noch unter den Folgen der Seekrankheit, denn viele von ihnen hatten zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer kennengelernt. Die sturmerfahrenen Seesklaven hingegen hatten den Orkan gut überstanden und waren nun damit beschäftigt, das verschmutzte Deck zu säubern. Sie taten alles, um ihrem Befreier ihre Dankbarkeit zu beweisen. Nach einem letzten Blick auf das Meer und die Steilküste ging Dragon in die ehemalige Kapitänskajüte, die er als neuer Kommandant der kleinen Flotte in Anspruch genommen hatte. Ohne sein Kurzschwert abzulegen, warf er sich auf das Bett und schloß die Augen. Noch einmal zogen die Ereignisse der letzten Tage an ihm vorüber. Die Blutburg Shebar war für immer unter dem Wandernden Sand verschwunden. Schlangentöter, der tapfere Krieger der Padokas, war mit Waldblume, der jungen Taquira, und rund fünftausendvierhundert Kanukkriegern nach Osten gezogen, um die zweite Blutburg, Ossar, anzugreifen und zu erobern. Ossar lag auf der anderen Seite des Felsigen Landes an der Küste der Großen Bucht. Zur gleichen Zeit war es Dragon, Ubali und Thamai gelungen, zusammen mit den von ihnen befreiten Seesklaven und den sechshundert verbliebenen Kanuks die Transportflotte zu entern und in Besitz zu nehmen. Die sechzig Männer der Restbesatzung ergaben sich ohne Gegenwehr, als ihnen von Dragon die Freiheit versprochen wurde.
Damit besaßen Dragon und seine Freunde eine beachtliche Streitmacht, bestehend aus sechs zweimastigen Seglern, sechshundert roten Kriegern und zweihundertvierzig erfahrenen Seeleuten. Die Flotte sollte um das Vogelkap herum, durch die Enge der Winde in die Gewässer der Großen Bucht segeln, um Schlangentöter bei seinem Angriff auf die Blutburg Ossar beizustehen. Dragon war sich auch sicher, daß die von ihm befreiten Melniken inzwischen wieder durch das kleine Weltentor, das sogenannte »Götterauge« zurück in ihre eigentliche Heimat, also in Danilas Welt, gelangt waren. Die eroberten Schiffe wurden umbenannt. So wurde aus dem Flaggschiff des gefallenen Athyron die FREIHEITSBRINGER, aus den anderen die SEEKUR, die WASSERLÄUFER und so fort. Ohne ihre Reittiere, die sie in die Obhut ihrer an Land bleibenden Stammesgenossen gaben, konnten sich die Kanuks nicht wohl fühlen, aber sie hatten Dragon Treue geschworen und begleiteten ihn. Die Seesklaven wählten sich neue Kapitäne und Offiziere, die wiederum Dragon gegenüber den Eid des Gehorsams ablegten. Unter den geschilderten Umständen stach die kleine Flotte in See und nahm Kurs nach Süden, immer an der Küste des Felsigen Landes entlang. Dann kam der Sturm und trieb die sechs Schiffe auseinander. Die Sicht wurde so schlecht, daß keiner den anderen mehr sah, und die Kapitäne befahlen Südwestkurs, um nicht an der Küste Schiffbruch zu erleiden. Als der Sturm nachließ und die Sicht wieder besser wurde, war die FREIHEITSBRINGER vom Meer verschwunden. Von Dragons Standpunkt aus betrachtet, war es genau umgekehrt. Für ihn waren die fünf anderen Schiffe verschwunden, und er gab sich Mühe, nicht das Schlimm
ste anzunehmen. Die erfahrenen Seeleute würden sich weit genug von der Küste gehalten haben, um nicht zu stranden. Früher oder später mußten sie den vereinbarten Treffpunkt anlaufen. Dort würde er auf sie warten, um dann die Fahrt nach Ossar fortzusetzen ... Lange hielt Dragon es nicht in seiner Kabine aus. Er ging wieder auf Deck und sah, daß der neugewählte Kapitän mit dem Steuermann sprach und dabei mehrmals in Richtung Land deutete. »Nun, Karthin, was ist?« fragte er und setzte sich auf eine der herumliegenden Taurollen. »Der Kurs ist klar, oder?« »Alles in Ordnung, Kommandant.« »Nenne mich Dragon, wie die anderen auch.« Karthin nickte, »Wir werden die Bucht noch vor Sonnenuntergang erreichen. Von den anderen Schiffen ist nichts zu sehen, aber ich kenne meine FreundeSie sind weit hinaus auf das Endlose Meer gesegelt, um den Klippen zu entgehen. Das Wetter ist besser geworden, nun werden sie zurückkehren. In ein oder zwei Tagen haben sie uns eingeholt.« »Mögest du recht behalten, Karthin«, hoffte Dragon. »Ich vertraue dir und deinen Leuten.« »Das kannst du auch, denn du hast uns aus der Gewalt der Blutsauger befreit. Athyron war ein böser Dämon, und es ist gut, daß er tot ist. Wir werden dich und deine Freunde sicher nach Ossar und dann nach Neuatlantis bringen.« »Es ist ein weiter Weg«, murmelte Dragon und erhob sich. Er fand Ubali und Thamai am alten Platz in der Nähe des breiten Bugs. Als er sich ihnen näherte, lösten sie sich
aus ihrer Umarmung. Die ebenholzschwarze Schönheit aus Danilas Land, nur mit einem Lendenschurz und einem Brusttuch bekleidet, war Ubalis Lebensgefährtin. Im Gürtel trug sie ihr Blasrohr, mit dem sie meisterhaft umzugehen verstand. Ihre vergifteten Pfeile wirkten sofort tödlich. Doch Ubalis Zauberwaffe war noch tödlicher und gefährlicher. In Danilas Land jenseits der Weltentore hatte ihm der Lebensgeist die Fähigkeit verliehen, sich nach Belieben in einen Schwarzen Panther zu verwandeln, der mit unerhörter Geschmeidigkeit und Stärke unter seinen Feinden aufzuräumen vermochte. »Die Kanuks tun mir leid«, sagte Ubali ein wenig verlegen. »Sie sind das Meer nicht gewohnt.« »Das Meer hat sich beruhigt, es geht ihnen schon wieder besser, Ubali. Mir bereiten die anderen fünf Schiffe mehr Sorge. Ich hoffe, daß sie den Sturm überstanden. Wir selbst werden noch heute die Bucht erreichen, wo wir vor Anker gehen.« »Wenn wir die Einfahrt finden«, gab Ubali zu bedenken. »Karthin ist sehr geschickt und kennt die Gewässer an der Westküste des Felsigen Landes recht gut. Es gibt viele Klippen, die umschifft werden müssen, aber bei ruhiger See dürfte das nicht so schwer sein.« Ubali sah hinaus aufs Meer. »Hier draußen wirken die Wogen niedrig und breit, aber in der Nähe des Landes verwandeln sie sich in eine gefährliche Brandung. Doch selbst unsere Augen sind schon geübt genug, eine Untiefe rechtzeitig zu erkennen. Werden wir vor Schlangentöter bei der Blutburg sein?« Dragon zuckte die Achseln.
»Das hängt von vielen Umständen ab, mein Freund. Wenn uns nichts aufhält, werden wir etwa zur gleichen Zeit das Ziel erreichen.« »Oder wir kommen«, meinte Thamai, die bisher geschwiegen hatte, »und finden keinen lebendigen Feind mehr vor.« »Das wäre nur ein Glücksfall, Thamai.« Dragon betrachtete ihren schlanken Körper mit sichtlichem Wohlgefallen. »Bedenke, daß Neuatlantis nicht fern von Ossar ist und daß wir immer mit Schiffen rechnen müssen, die Sklaven abholen wollen. Vielleicht stehen uns schwerere Kämpfe bevor als jene, die wir hinter uns brachten. Doch mit deinem Blasrohr, Ubalis Panthergestalt und meinem Zauberschwert Almunir werden wir es schaffen. Nicht zu vergessen Schlangentöter mit seinen tapferen Kriegern.« Karthin kam herbeigeschlendert. »Seefahrende Kanuks habe ich auch noch nicht erlebt«, gab er zu und räusperte sich. »Sie beginnen sich zu erholen. Als Krieger wären sie in den vergangenen Tagen nicht viel Wert gewesen. Jedes Kind hätte sie überwältigen können.« »Bald nicht mehr«, erinnerte ihn Dragon. »Sobald sie Land riechen, werden sie wieder wach. Was macht die Mannschaft?« »Du kannst ihr vertrauen, Dragon. Ihr Leben gehört dir und deinen Begleitern. Sie würden dir selbst in die Unterwelt folgen, wenn du es von ihnen verlangtest.« »Ossar ist schlimmer als die Unterwelt, Karthin.« Später stand er lange allein vorn am Bug und sah den Wellen entgegen, die auf das Schiff zurollten. Er mußte an das versunkene Atlantis denken, von dem nur ein winziger Teil übriggeblieben war – Neuatlantis. Was war aus den Überlebenden der Katastrophe vor zweitausend
Jahren geworden? Blutsaugende Pseudovampire und grausame Herrscher, die einen ganzen Kontinent versklavten und die Bevölkerung systematisch ausrotteten. Diesem Treiben ein Ende zu setzen, war seine Aufgabe, denn wahrscheinlich war er der letzte wirkliche Atlanter, der die Katastrophe damals überlebte. Die heute lebenden Nachkommen des einst so stolzen Volkes waren nichts als erbärmliche Barbaren und Wilde. Die Sonne begann wieder nach Westen zu sinken, dann ging sie unter. Dragon suchte Karthin und fand ihn im Mannschaftsraum, über eine schlecht gezeichnete Karte gebeugt. Sein Gesicht drückte keine große Zuversicht aus. »Nun, was ist, Karthin?« Der Kapitän seufzte. »Wir werden die Nacht über vor der Küste kreuzen müssen, denn es ist bald zu dunkel, um die Einfahrt sicher zu finden. Die Bucht liegt drüben unter dem runden Felskegel, das weiß ich. Von hier aus ist sie nicht zu erkennen. Davor befinden sich einige Untiefen und Klippen, die wir umsegeln müssen. Es ist nur dann möglich, wenn die Sonne im Osten nicht mehr sehr tief steht und uns blendet. Also morgen kurz vor Mittag.« »Das Licht muß also von Süden kommen?« »Richtig! Dann schimmern die Untiefen hellgrün und verraten sich rechtzeitig. Außerdem beruhigt sich das Meer bis morgen soweit, daß wir ohne Gefahr die Bucht aufsuchen können.« Dragon nickte ihm und den Männern zu. Er unterrichtete Ubali, der ihn zusammen mit Thamai in der großen Kajüte erwartete. »Der Wind hat auf West gedreht und abgeflaut. Wir werden also gefahrlos die ganze Nacht über vor der Küste kreuzen können. Das Meer beruhigt sich weiter. Ich
hoffe allerdings, daß der Wind nicht völlig einschläft, denn dann wären wir gezwungen, noch außerhalb der Bucht Ankergrund zu finden.« »Wir können demnach nur abwarten, sonst nichts?« vergewisserte sich Ubali, der seinen Tatendrang nur ungern zügelte. »Aber vielleicht ist das ganz gut so. In den Sturmnächten haben wir kaum geschlafen. Ein wenig Ruhe schadet uns nicht.« »Ein Lagerfeuer an Land wäre mir lieber«, gab Thamai zu. »Was meinst du, Dragon: soll einer von uns wachen?« »Das wird nicht nötig sein, Thamai. Kapitän Karthin ist uns treu ergeben, ebenso die ehemaligen Sklaven. Und auf die Kanuks können wir uns bedingungslos verlassen. Ubali hat recht: Der Schlaf wird uns allen gut tun.« Er legte den blauen Umhang mit dem goldenen Drachenemblem ab, das auch auf seinem achteckigen Schild zu sehen war. Sein Kurzschwert Almunir stellte er so neben das Lager, daß er es schnell ergreifen konnte. Dann legte er sich hin. Ubali führte Thamai ohne weitere Worte zu dem breiten Bett auf der anderen Seite der großen Kajüte und schloß den Vorhang. Dann war nur noch das gelegentliche Flattern der Segel und das Knarren von Holz zu hören. Die gleichmäßigen Schritte der Wachtposten an Deck wirkten beruhigend und einschläfernd. Als der Morgen graute, eilte Dragon an Deck, ohne Ubali und Thamai aufzuwecken. Er fand Karthin beim Steuermann. Der Bergkegel, vor dem die Bucht liegen mußte, war nun in nordöstlicher Richtung. Die FREIHEITS10
BRINGER segelte bei schwachem Wind genau darauf zu. Karthin kam ihm entgegen. »In der Nacht kreuzten wir bis zur Enge der Winde hinab, und vielleicht hätten wir sogar die Durchfahrt zur Großen Bucht wagen können, aber wir mußten wieder umkehren, damit die übrigen fünf Segler nicht vergebens warten. Bis jetzt haben wir sie noch nicht sichten können. Ich habe einen Mann mit guten Augen in den Ausguck geschickt.« Dragon sah nach oben. Im Mastkorb des hinteren Mastes stand einer der Seesklaven. Offensichtlich ohne Erfolg suchte er den Horizont nach den anderen Schiffen ab. Sie näherten sich ziemlich weit der Küste und erkannten einige der gefährlichen Untiefen. Weiße Gischt verriet Klippen, die dicht unter der Wasseroberfläche auf einen unvorsichtigen Steuermann warteten. Am Ufer donnerte die Brandung gegen die Felsen. Karthin sagte: »Wir müssen zwischen Klippen und Untiefen hindurch, um ruhiges Wasser zu erreichen. Die Bucht ist ziemlich groß und hat guten Ankergrund nahe beim Ufer. In ihr hat schon mancher Segler Schutz vor den oft eintretenden Stürmen gefunden, aber viele sind auch schon gestrandet. Man muß die schmale Einfahrt kennen und darf sie nicht verfehlen.« »Du kennst sie?« vergewisserte sich Dragon. »Und die anderen Kapitäne auch?« »Wir kennen sie alle«, erwiderte Karthin selbstbewußt. »Aber der Wind wird immer schwächer und erschwert das Kurshalten.« Dragon mußte in diesem Augenblick unwillkürlich an die Geschenke der Elementargeister denken, die er 11
in Danilas Land jenseits der Weltentore erhalten hatte. Zwei davon, Erthus Lawinenstein und der »Wandernde Sand« waren bereits vertan. Aber er besaß unter anderem noch den »Guten Wind« des Luftgeistes, doch war er fest entschlossen, ihn nur im Notfall einzusetzen. »Wir haben noch Zeit«, sagte er gelassen. »Vielleicht frischt der Wind wieder auf.« Oben im Ausguck rief der Seesklave: »Segel in Sicht!« Er deutete mit dem rechten Arm in Richtung Küste. Dragon entdeckte das Segel erst nach einigen Sekunden, so schlecht hob es sich gegen die dahinterliegenden Felsen ab. Das Schiff war klein und besaß nur einen Mast, konnte also keines der fünf vermißten sein. Sein Tiefgang war gering. »Wer ist das?« fragte er den Kapitän. »Es könnte ein Fischerboot von Neuatlantis sein, oder ein Schmuggler. Eher ein Schmuggler, denn Fischer wagen sich nicht bis hierher.« »Was wird geschmuggelt?« »Menschen, Dragon! Sie schmuggeln Menschen aus Neuatlantis und bringen sie zum großen Kontinent. Es gibt viele Flüchtlinge in unserem Reich, das von Mördern regiert wird.« »Dann wären sie unsere Verbündeten«, stellte Dragon fest. »Wir sollten fragen, ob sie Hilfe brauchen.« Karthin nickte und ging zum Steuermann, der unschlüssig das Ruder hielt. Die Segel hingen schlaff am Mast herunter. Das Schiff machte kaum noch Fahrt, blieb aber noch auf Kurs. Ubali kam an Deck und gesellte sich zu Dragon, der an der Reling lehnte und das kleine Segelschiff nicht aus den Augen ließ. Manchmal konnte er Bewegung an 12
Bord erkennen, aber keine Einzelheiten unterscheiden. Die Entfernung war noch zu groß. »Du willst mit ihnen reden?« vergewisserte sich Ubali, nachdem Dragon ihm von Karthins Verdacht berichtet hatte. »Sie sind schneller als wir.« »Wenn ihr Ziel die Bucht ist, können sie uns nicht entkommen.« Aber das Ziel des kleinen Seglers war nicht die Bucht, wie Dragon bald feststellte. Vielmehr steuerte es dicht unter Land über die Untiefen hinweg, glitt dicht an den Klippen vorbei und nahm Kurs auf das offene Meer. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Dragon glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als der Schmuggler plötzlich wendete und den Bug genau gegen den Wind richtete, wodurch er an Fahrt verlor und schließlich steuerlos auf die Felsenküste zutrieb. »Der Kapitän muß den Verstand verloren haben!« schimpfte Karthin. »Welchen Zweck soll das Manöver haben? Sie werden stranden, wenn der Wind die Segel nicht wieder füllt. Sieh nur, Dragon, er treibt in die Klippen hinein ...!« Dragon kniff die Augen zusammen, dann schüttelte er den Kopf. »Das sind keine Klippen, es sei denn, hier gibt es Klippen, die sich fortbewegen ...« Noch während er sprach, nahm der kleine Segler wieder Fahrt auf. Mit flatternden Segeln bewegte er sich langsam aber stetig gegen den Wind, als würde er von einer unsichtbaren Kraft gezogen. »Das ist Magie!« stöhnte Karthin entsetzt, während Dragon Ubali einen bedeutsamen Blick zuwarf.
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Erinnerungen an die Vergangenheit stiegen in ihm auf, und er begann zu ahnen, welche Kraft dort am Werke war ...
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2.
Alnar von Marmo gehörte zu jenen zwölf Adelsfamilien, deren direkte Vorfahren vor zwei Jahrtausenden die Atlantiskatastrophe überlebt hatten. Der Legende nach gründeten sie Neuatlantis, den kleinen, aber mächtigen Inselstaat zwischen der Großen Bucht und dem Meer von Atlantis. Diese zwölf Familien bildeten die regierende Schicht und den Hochadel des feudalistischen Staates. Alnar war der letzte Sproß seiner Familie und hatte nach deren gewaltsamen Tod ein riesiges Vermögen geerbt, das in erster Linie aus Gütern und Land bestand. Seine Eltern waren ermordet worden, und zwar im Auftrag einer anderen Familie, die ihnen schon lange den reichen Besitz neidete. Es war Alnar klar, daß er von nun an ebenfalls in Lebensgefahr schwebte und daß die gedungenen Mörder jeden Augenblick über ihn herfallen konnten. Seine Gegner, die er nicht genau kannte, standen alle im Staatsdienst und lebten von den Steuern des gemeinen Volkes. Sie verpraßten ihr Geld in wüsten Gelagen, kauften sich Sklaven von den Menschenhändlern, sperrten sie in düstere Verliese und saugten ihnen das Blut aus, um so ihre eigene Jugend zu erhalten. Die höhergestellten Beamten kannten sogar die schwierige Kunst des »Lebenstrinkens«, das die Opfer zwar dem Schein nach verschonte, ihnen aber jede Kraft nahm und sie so einem sicheren Siechtum entgegenführte. Alnar war aus der Art geschlagen. Er haßte die Ausschweifungen seiner Adelsgenossen und hielt sich von ihnen fern. Als junger Edelmann, gerade jetzt zwanzig 15
Sommer alt, hatte er zwar die Kunst der Waffenführung erlernen müssen, doch weder im Bogenschießen noch im Schwertkampf hatte er es zur Meisterschaft gebracht. Er haßte den Krieg, wie er auch die Unterdrückung des Volkes haßte. Beidem vermochte er keinen Geschmack abzugewinnen. Trotz des Drängens seines Vaters hatte er sich geweigert, die Einweihungszeremonie des Kultes der »Priester der Gelben Schlange« über sich ergehen zu lassen. Bei ihnen hätte er die Kunst des Bluttrinkens und das Geheimnis des Lebenstrinkens erlernt. Er wollte davon nichts wissen, und vielleicht hatte er so den Tod seiner Eltern mitverschuldet, den er zu rächen gedachte. Zurückgezogen lebte er nun auf seinem letzten Landgut, von treu ergebenen Sklaven bewacht und von Freunden beschützt. Den größten Teil seines Besitzes hatte er verkauft und das erhaltene Geld den Armen und Unterdrückten geschenkt, um ihnen das Leben oder gar die Flucht zu ermöglichen. Dazu war es folgendermaßen gekommen. Schon in frühester Jugend hatte er die altatlantische Schriftsprache erlernt und die Aufzeichnungen des »Weisen Ombar« gelesen, den das unterdrückte Volk ehrfürchtig und voll heimlicher Hoffnung auch »Licht von Atlantis« nannte. Das Studium dieser Aufzeichnungen vermittelte Alnar ein positives Bild jener Zustände, wie sie einst im alten Atlantis herrschten. Um so größer mußte seine Abscheu vor dem sein, was sich heute auf der Restinsel abspielte, die zu einem einzigen Gefängnis geworden war. Damit wurde Alnar zum Todfeind des Regimes und seines diktatorischen Herrschers Vodor, der über Leben und Tod aller Bewohner entschied. Doch sein Reichtum half ihm nicht weiter. Er konnte den Armen damit hel16
fen, aber er konnte sie nicht von dem unerträglich gewordenen Joch befreien. Dazu gab es nur eine einzige Möglichkeit: die Flucht von Neuatlantis. Alnar verwendete daher einen Größteil seines Vermögens, um eine geheime Fluchtorganisation aufzubauen. Er kaufte Fischerboote und deren Kapitäne, verschaffte ihnen zuverlässige Mannschaften und richtete Stützpunkte an verlassenen Küstengegenden ein. Entflohene oder befreite Sklaven konnten so per Schiff über das Wasser der Großen Bucht und durch die Enge der Winde an die unbewohnten Gestade des Südgebirges gebracht werden, wo sie in Sicherheit waren. Denn dort lebte Ombar, das Licht von Atlantis, und Ombar war der Bruder Vodors, der zu seinem Todfeind geworden war. Der Weise Ombar hatte eine Kolonie der Freien gegründet, nachdem eine versuchte Revolte gegen Vodor mißglückt war und er aus Neuatlantis fliehen mußte. Diese Kolonie war die Keimzelle eines zukünftigen Staates, der nach den freiheitlichen Prinzipien des untergegangenen Atlantis regiert werden sollte. Das Goldene Zeitalter sollte eines Tages wieder Wirklichkeit werden. Alnar lebte zwar auf seinem Landgut, aber tagsüber wagte er sich noch immer in die Sonnenstadt, die Hauptstadt der Insel. Offiziell hatte er nichts zu befürchten, denn ein Mord an einem Mitglied des höchsten Adels wurde noch immer mit dem Tode bestraft, ohne Ansehen des Mörders. So wenigstens lautete das Gesetz. Doch dann machte Alnar einen Fehler, der alles in Frage stellte. Bei einem seiner Palastbesuche sah er die rothäutige Sklavin Taheta, die Händler vom großen Kontinent mitgebracht hatten. Sie sollte verkauft werden, und da Alnar noch genügend Geld besaß, begann er zu handeln. 17
Zu seiner Verwunderung zögerte der Händler trotz des großzügigen Angebots. »Was willst du noch?« fragte ihn Alnar, der die Händler nicht leiden konnte. »Habe ich dir nicht genug Geld geböten? Es ist schon der dreifache Preis.« »Vodor gibt mir noch mehr, und er will das Mädchen haben!« »Vodor hat seine Gemahlin Sythara und genug Sklavinnen. Ich gebe dir den vierfachen Preis.« Der Händler überlegte. Alnar hatte Gelegenheit, sich Taheta genauer anzusehen. Sie stand verschüchtert und ängstlich in einer Ecke und sah Alnar mit großen, rehbraunen Augen hilfesuchend an. Sie wußte, welches Schicksal ihr bevorstand und daß es keine Rettung mehr für sie gab. Trotzdem versuchte sie Vertrauen zu dem jungen Edelmann zu fassen, der sie fast freundlich musterte, ganz ohne die übliche Aufdringlichkeit der anderen, und vor allen Dingen ohne Begierde. »Also gut«, entschied sich der Händler schließlich. »Aber ich warne dich! Wenn Vodor das erfährt, wird er dir Taheta wieder abnehmen wollen. Du bist ein Edelmann, und du warst schneller als er. Ohne Sytharas Erlaubnis wollte er die Sklavin nicht kaufen, das ist dein Glück. Aber wenn er die Erlaubnis bekommt, dann nimm dich in acht.« Alnar übergab ihm die geforderte Summe und nickte dem Mädchen mit der roten Haut zu. »Komm mit, Taheta. Du gehörst von nun an zu mir. Du bist sehr schön, Taheta, aber du hast nun nichts mehr zu befürchten.« Sie ging mit ihm, und kaum hatten sie den Palast verlassen und sich auf Alnars Pferd geschwungen, das sie beide trug, fuhr er fort: 18
»Du bist nicht meine Sklavin, und ich will dir alles erklären. Aber du mußt mir vertrauen, so wie ich dir vertrauen muß. Du weißt, welches Schicksal im Palast auf dich wartete?« Sie nickte, schon nicht mehr so schüchtern wie zuvor. Außerdem war sie eine ausgezeichnete Reiterin. »Ich weiß es. Aber warum hast du mich gekauft?« »Berichte mir von dir, dann erfährst du alles.« Stockend erzählte sie ihre Geschichte. Händler hatten ihr Dorf an der Küste des Felsigen Landes überfallen und alle alten Eingeborenen umgebracht. Die anderen wurden gefangengenommen, soweit sie nicht im Kampf starben. Man hatte sie gefesselt und auf die Schiffe geschleppt, um sie nach Neuatlantis zu bringen. Nur sie würde in den Palast gebracht, die anderen wechselten bereits auf dem Hafenmarkt ihre Besitzer. Es war immer wieder die gleiche Geschichte, wußte Alnar. Das Mädchen berichtete die Wahrheit. Er zögerte nun nicht mehr länger, auch ihr sein Geheimnis mitzuteilen und bat sie, ihm als künftige Gefährtin, nicht als Sklavin, beizustehen. Er gab ihr offiziell die Freiheit zurück. Lange schwiegen sie. Der Weg zum Landgut Alnars führte durch fast unbewohntes Küstengebiet. Der junge Edelmann saß hinter Taheta auf dem Pferd und hatte Gelegenheit, sie in aller Ruhe zu betrachten. Sie trug nur einen kurzen Lederrock und ein buntes Brusttuch, das hinten verknotet war. Die langen, dunklen Haare waren mit einem Lederriemen zusammengebunden. Bald übernahm sie die Zügel und bewies Alnar, daß sie wirklich eine ausgezeichnete Reiterin war, eine bessere jedenfalls als er. Sie ließ das Pferd laufen und lenkte 19
es geschickt um Hindernisse, die Alnar übersehen hätte, wäre er so schnell geritten. Doch dann scheute das Tier, als eine kleine Schlange mit schnellen Bewegungen in das seitlich wachsende Gebüsch huschte. Alnar verlor den Halt und stürzte zu Boden. Zum Glück fiel er in dichte Grasbüschel und verletzte sich nicht. Sofort richtete er sich wieder auf und sah hinter dem Mädchen her. Jetzt konnte sie fliehen, wenn sie wollte. Die Küste war nicht mehr fern, und vielleicht fand sie einen Fischer, der sie über die westlichen Sandbänke zum Kontinent brachte. Aber Taheta zügelte das Pferd und lenkte es zu Alnar zurück. Sie sprang vom Rücken des Tieres und half ihm beim Aufstehen. »Hast du dir weh getan, Alnar? Es tut mir leid.« Er hielt ihre Hand fest. »Mir tut es aber nicht leid, Taheta, denn du hast mir nun bewiesen, daß ich dir vertrauen darf. Ich glaube, du wirst mir mehr sein als nur eine Gefährtin und Kampfgenossin.« Sie senkte verlegen den Kopf, dann meinte sie: »Ist es noch weit?« »Hinter den Hügeln dort sind wir zu Hause. Komm ...!« Er half ihr beim Aufsteigen und strich dabei wie aus Versehen über ihre rotbraunen, schlanken Beine, die unter seiner Berührung zitterten. Dann saß er hinter ihr und hielt sich an ihr fest, was er zuvor nicht gewagt hatte. Sie meinte: »Halte dich richtig fest, Alnar, damit du nicht noch einmal herunterfällst. Ich konnte schon als kleines Kind 20
gut reiten. Für unser Volk war es lebenswichtig, reiten zu können.« Und er hielt sich fest. Bald kam das Gut in Sicht, ein Bau aus Stein mit kleinen Fenstern und einer Mauer rund herum. Das Tor öffnete sich, und ein Mann mit schwarzem Vollbart rief mit donnernder Stimme; »Willkommen, Alnar von Marmo! Wenn hast du denn da mitgebracht? Habe selten ein so hübsches Mädchen gesehen.« »Sie heißt Taheta, Gerbar, und wenn du sie auch nur anrührst, breche ich dir sämtliche Knochen! Wie kommst du denn hierher?« »Schon gut, Alnar, keine Sorge. Sie soll dir allein gehören. Wie ich herkomme? Natürlich auf einem Pferd. Hosian liegt in unserem Hafen und wartet auf neue Fracht. Der Wind ist günstig.« Das Tor schloß sich hinter ihnen und Alnar glitt aus dem Sattel, um dann Taheta zu helfen. Aber sie lachte nur und sprang mit einem Satz auf die Erde. Alnar winkte einen jungen Burschen zu sich und gab ihm den Auftrag, das Pferd zu versorgen, dann sagte er: »Taheta, das hier ist Gerbar, der Steuermann der SEEPRINZESSIN, eines kleinen, aber schnellen Schiffes, das die befreiten Sklaven und entflohenen Bürger in Sicherheit bringt. Gerbar, ihr kommt zur rechten Zeit. In einigen Tagen erwarte ich neue Flüchtlinge. Wie geht es Hosian, dem alten Schurken?« »Der frißt dich, wenn er das hört«, lachte Gerbar und musterte Taheta mit Kennerblicken. »Ein schönes Kind, Alnar. Wo hast du sie aufgegabelt?« »Gekauft. Vodor wollte sie haben und wird nun wütend sein.« 21
»Hm, das war ein Fehler, Alnar. Er wird dich nun erst recht verfolgen lassen. Nimm dich in acht vor ihm! Ich wette, er steckt auch hinter dem Mord an deinen Eltern. Da kommt es ihm auf einen weiteren auch nicht mehr an.« »Gehen wir ins Haus«, lenkte Alnar ab. »Wir haben Hunger.« Insgesamt gab es elf Männer auf dem Gut, alles entflohene Sklaven oder Angehörige des niederen Adels, die ähnlich dachten wie Alnar. Sie verstanden das Waffenhandwerk und bildeten so eine beachtliche Streitmacht, In einem offenen Kampf gegen Vodor würden sie allerdings hoffnungslos unterliegen. Alnar führte Taheta durch das Haus, während Gerbar das Kaminfeuer entfachte. Er zeigte ihr die Zimmer und ihr Gemach, in dem sie künftig wohnen sollte. Es lag neben dem seinen, aber die Verbindungstür war noch verschlossen. »Eines Tages, wenn du willst, wirst du meine Frau sein«, eröffnete er ihr. »Aber vielleicht habe ich bis dahin auch mein letztes Haus verloren, Würdest mich dann trotzdem noch haben wollen?« Sie nahm seine Hand, »Mein Leben gehört dir. Es würde dir auch dann gehören, wenn ich dich nicht schon jetzt lieben würde.« Stumm nahm er sie in seine Arme. Gerbar sah auf, als sie in das Kaminzimmer kamen. »Na, ihr habt aber lange gebraucht. So groß ist das Haus ja nun auch wieder nicht.« Er zwinkerte ihnen zu, »Romor muß übrigens bald zurückkehren. Er ist in die Stadt geritten, um Erkundigungen einzuholen.«
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»Ich weiß, ich habe ihn selbst geschickt. Es werden neue Sklaventransporte erwartet, damit gibt es Arbeit für uns.« Sie saßen vor dem lodernden Feuer, dem sie die Beine entgegenstreckten. Taheta sah verträumt in die Flammen und wirkte zufrieden und glücklich. Nur widerwillig riß sich Alnar von ihrem Anblick los und begann ein Gespräch mit Gerbar, der ihn vom erfolgreichen Abschluß der letzten Fahrt unterrichtete. Alle Entflohenen waren wohlbehalten in der Kolonie des Weisen Ombar abgeliefert worden und damit in Sicherheit. Zwei von Alnars Männern brachten gebratenes Fleisch und Wein. Taheta stellte fest, daß der Edelmann sie alle wie seinesgleichen und Freunde behandelte. Hier gab es keine Sklaven mehr. Draußen dunkelte es bereits, als auf dem Hof Lärm hörbar wurde. Schwere Tritte näherten sich, dann stürmte ein junger hochgewachsener Mann in den Saal. Er trug Lederkleidung und ein breites Kurzschwert. Sein Atem ging heftig. »He, Romor, du bist schon zurück?« fragte ihn Alnar, nichts Gutes ahnend. Er kannte Romor als ruhigen und besonnenen Mann, den so schnell nichts aufregen konnte. »Was ist passiert?« »Schlechte Neuigkeiten«, erwiderte Romor und warf Taheta einen Blick zu. »Vodor tobt, weil du ihm das Mädchen dort vor der Nase weggeschnappt hast. Er besitzt die Unverschämtheit, dich deshalb zum Staatsfeind erklären zu lassen. Wahrscheinlich sind seine Häscher schon unterwegs, um dich zu verhaften oder zu ermorden.« Alnar war blaß geworden, denn er wußte, was Romors Nachricht für ihn bedeutete. Nun hatte er auch noch den 23
Rest seines Besitzes verloren, und wenn er blieb, würde er auch noch sein Leben verlieren. »Du mußt fliehen!« flehte Taheta. »Sofort!« »Immer langsam«, mahnte Gerbar, während Romor sich ein Stück Fleisch nahm und hastig einen Becher Wein leerte. »Natürlich muß er fliehen. Ihr müßt alle fliehen! Wenn die Mörder kommen, dürfen sie nur ein verlassenes Haus vorfinden. Bisher ist Vodor vorsichtig gewesen, aber nun, da er dich zum Staatsfeind erklären ließ, darf dich jeder Sklave töten.« »Kein Sklave würde das tun, Gerbar. Aber die Adeligen warten nur darauf, mich zu erledigen. Dann wird es nur noch elf Familien geben, die direkt von den alten Atlantern abstammen. Romor, du kümmerst dich, wenn du gegessen hast, um die Lebensmittel. Hosians Schiff liegt in unserem verborgenen Hafen vor Anker. Diesmal wird es uns in Sicherheit bringen müssen. Ich sage den Leuten Bescheid. Wir brechen auf, sobald die Sonne untergegangen ist, und dann reiten wir über die Felsen, damit wir keine Spuren hinterlassen. Bis sie uns an der Küste vermuten, sind wir schon über den Sandbänken.« Romor behielt den halb abgenagten Knochen in der Hand und ging, um die anderen zu informieren. Die Zeit begann knapp zu werden. Alnar begleitete Taheta in die Gemächer, in denen sie zu wohnen gehofft hatten, und suchte mit ihrer Hilfe die Dinge aus, die sie mitnehmen wollten. Viel war es nicht, denn es gab nur wenig Packpferde. Immerhin war es Alnar möglich, noch einen ganzen Packbeutel mit Geld vollzustopfen. Man versammelte sich in der Halle, in der noch immer der Kamin brannte und wohltuende Wärme verbreitete. Gerbar, der sich auf einen gemütlichen Abend auf festem Land und eine geruhsame Nacht gefreut hatte, bemühte sich sichtlich, seine Enttäuschung zu verbergen. 24
Auch Taheta versuchte, Alnar keine zusätzlichen Sorgen zu bereiten. Am Morgen war sie noch eine Sklavin ohne Zukunft gewesen, dann wurde sie befreit und schöpfte neue Hoffnung, die nun abermals zerstört wurde. Vor ihr lag ein Ungewisses Schicksal, jedoch war sie fest entschlossen, es mit dem jungen Edelmann zu teilen, den sie aufrichtig zu lieben begann. Wenn er sterben mußte, dann würde auch sie nicht mehr leben wollen. Doch Gerbars Zuversicht tröstete sie. Der bärtige Seemann war Alnars Freund, und Hosian besaß ein gutes Schiff, mit dem schon vielen die Flucht in die Freiheit geglückt war. Warum nicht auch Alnar und seinen Freunden? Alnar musterte seine Leute und überprüfte das Gepäck. Dann fragte er Romor: »Was ist mit dir? Willst du nichts mitnehmen?« »Ich werde dich nicht begleiten, Alnar. Ich nicht und meine beiden Freunde Kheron und Thargo auch nicht. Wir bleiben.« Alnar starrte ihn an, aber sein Verstand weigerte sich, den Plan des jungen Mannes zu begreifen. »Wenn ihr bleibt, so ist das euer sicherer Tod. Wenn ihr Glück habt, werdet ihr wieder Sklaven. Warum wollt ihr bleiben?« Romor lächelte. »Ist die Antwort wirklich so schwer, Alnar von Marmo? Die Leibwache Vodors ist schon unterwegs hierher, begleitet von ehrgeizigen Höflingen und geldgierigen Mördern. Wenn ihr jetzt losreitet, werdet ihr nicht mehr als eine Handbreit Sonnen Wanderung Vorsprung haben. Aber wenn Thargo, Kheron und ich das Tor verrammeln und die Verfolger mit einem Hagel von Pfeilen aufhalten, werden sie annehmen, du wärest noch in 25
deinem Haus. Sie werden es belagern und Zeit verlieren. Bis sie ihren Irrtum bemerken, seit ihr alle mit der SEEPRINZESSIN längst jenseits der Sandbänke.« Alnar nickte. »Ich dachte es mir, Romor, daß du einen solchen wahnwitzigen Plan hegtest, aber ich lehne ihn ab. Ich befehle dir, mit mir zu kommen.« Romor schüttelte den Kopf, und seine beiden Freunde stellten sich neben ihn. »Es wird dein erster Befehl sein, dem wir nicht Folge leisten, Alnar. In den Gesichtern der anderen lese ich Zustimmung. Sie wissen wie ich, daß dein Leben verloren ist, wenn du nicht sofort losreitest und uns zurückläßt. Was nützt den Unterdrückten ein toter Alnar? Du würdest uns allen einen schlechten Dienst erweisen, wenn du stürbest. Lebe wohl, Alnar, und bringe dich und die anderen in Sicherheit. Der Kampf ist noch lange nicht zu Ende. Er beginnt erst.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehten sich die drei ehemaligen Sklaven um und verließen den Saal. Alnar sah ihnen mit ausdruckslosem Gesicht nach, dann fühlte er Tahetas Hand auf seinem Arm. »Solange du solche Freunde hast, kann Vodor nicht siegen. Befolge Romors Rat! Sofort! Es ist bereits dunkel geworden ...« »Nun komm schon!« rief Gerbar fast grob. »Wenn du noch lange so hier herumstehst, werden wir alle sterben.« Alnar wußte, wie recht der Steuermann hatte. »Auf die Pferde!« befahl er mit rauher Stimme. Jeder zweite Mann führte ein Packpferd mit sich. Das Tor war weit geöffnet. Stumm standen Romor, Kheron und Thargo daneben und ließen sie passieren. Alnar 26
gab ihnen die Hand, ehe er weiterritt und sich das Tor hinter ihm mit dumpfem Dröhnen schloß. In der Dunkelheit war der Weg schwer zu finden, aber sie kannten ihn. Zum Glück kam der Mond manchmal durch eine Wolkenlücke zum Vorschein und erleichterte die Orientierung. Das Gelände war hügelig und felsig. Trotzdem, so wußte Alnar, würden die Verfolger früher oder später eine Spur finden, die zur Küste führte. Taheta ritt hinter ihm, auch sie führte ein Packpferd. Niemand sprach. Nur das Klappern der Hufe war zu hören; hin und wieder strauchelte ein Pferd und versuchte wieder festen Boden unter die Füße zu kriegen. Manchmal klirrten die Waffen der Männer. Endlich erreichten sie die Küste und damit den schmalen Pfad, der in den natürlichen Hafen hinabführte. Alnar ließ alle aus den Sätteln steigen. Von nun an ging es zu Fuß weiter. Der Felspfad war steil und voller Gefahren. Aber dann knirschte Sand und Kies unter den Stiefeln der Flüchtlinge. Sie hatten die Bucht erreicht. Es dauerte eine Weile, bis sie das Schiff entdeckten, das unweit vom Ufer vor Anker lag und keine Lichter gesetzt hatte. Gerbar stieß den Schrei eines Seeadlers aus, und Sekunden später kam die Antwort. Durch die Stille der Nacht drangen Geräusche. Ruder wurden in das Wasser getaucht und leise Kommandos gegeben. Der Schatten eines breiten Bootes näherte sich dem Strand und lief knirschend auf. Hosian ging mit ausgestreckten Händen auf Alnar zu. »Ah, wie ich sehe, eine ganze Menge. Aber wozu die vielen Packpferde? Du weißt doch ...« »Es ist etwas geschehen, Hosian, und ich werde dir alles erklären. Aber jetzt ist Eile geboten. Die Pferde bleiben zurück, aber wir müssen das Gepäck verladen. Ich 27
muß fliehen, Hosian. Sie sind hinter mir her, Vodor und seine Leibwache.« Hosian stellte keine Fragen mehr. Seine Männer halfen beim Verladen, und das Boot mußte zweimal hin und her fahren, ehe endlich alles an Bord der SEEPRINZESSIN war. Alnar fragte ihn: »Ist der Wind günstig? Können wir jetzt auslaufen? Wir müssen einen Vorsprung erhalten, sonst holen uns die Verfolger ein.« »Ich kenne die Gewässer, keine Sorge. Noch ehe die Sonne aufgeht, sind wir bei den Sandbänken, und da wir nur geringen Tiefgang haben, segeln wir gefahrlos darüber hinweg. Die schweren Schiffe Vodors vermögen das nicht.« Die SEEPRINZESSIN verfügte über eine achtköpfige Mannschaft, die Kapitän Hosian und natürlich auch Alnar bedingungslos ergeben war. Nun kamen noch die zehn Flüchtlinge dazu. Das Schiff war nicht sehr groß, und somit wurde der Raum knapp. »Das hat auch seine Vorteile«, knurrte Hosian, als der Anker eingeholt und die Segel gesetzt wurden. Gerbar stand breitbeinig am Ruder und richtete sich nach den dunklen Schatten der Uferfelsen, um die Fahrtrinne nicht zu verlassen. »Sollten wir auf einer Sandbank auflaufen, werden wir immer wieder flottkommen. Wenn zehn oder fünfzehn Mann über Bord springen, schieben sie das Schiff von jeder Untiefe zurück ins Wasser.« Alnar nickte, sagte aber kein Wort. Taheta war unter Deck und richtete das Lager. Aber er verspürte noch keine Lust, sich niederzulegen. Er ging zum Heck der SEEPRINZESSIN und sah zurück zur entschwindenden Küste, die nur als dunkler Streifen zu erkennen war. Er verließ Neuatlantis, um sein Leben zu retten. Handelte er so richtig, wenn er das unterdrückte Volk im 28
Stich ließ? War er nicht ein Verräter, wenn er einfach floh? Oder hatte Romor recht, wenn er darauf hinwies, daß ein lebender Alnar wichtiger sei als ein toter? Das Kielwasser leuchtete in der Dunkelheit wie ein silberner Streifen. Er erinnerte Alnar an eine Spur, die vom Land her genau zur SEEPRINZESSIN führte und der man leicht folgen konnte. Leichte Schritte näherten sich. Es war Taheta. »Alle Leute sind gut untergebracht«, teilte sie mit. »Willst du nicht schlafen?« »Die Nacht ist mild, und ich habe keine Ruhe zum Schlafen. Ich muß an Romor denken, und an die beiden anderen, die vielleicht in diesem Augenblick für uns sterben. Eines Tages werde ich ihren Tod rächen, Taheta.« Er schwieg plötzlich und blickte angestrengt nach Osten. Dann fuhr er fort: »Siehst du den fahlen Schein dicht über dem Horizont? Dort etwa liegt das Gut. Sie haben etwas in Brand gesteckt. Der Kampf ist vorüber. Sie wissen nun, daß wir fliehen konnten und werden die Verfolgung aufnehmen. Wenn der Morgen graut, werden ihre Schiffe auslaufen.« »Dann sind wir schon weit entfernt.« »Vielleicht noch nicht weit genug, Taheta ...« Aber der Wind frischte noch mehr auf. Die SEEPRINZESSIN machte gute Fahrt. Alnar entschloß sich nun doch, das Lager aufzusuchen, um ein paar Stunden zu ruhen. Hosian weckte ihn, als die Sonne aufgegangen war. »Ein guter Tag, Alnar. Der Himmel ist wolkenlos, und der Wind kommt aus Nordwest. Du kannst die Sandbänke schon voraus sehen.« Alnar folgte dem Kapitän an Deck. Gerbar war von einem anderen Seemann am Ruder abgelöst worden und 29
gesellte sich zu ihnen. In dem kleinen Mastkorb spähte der Ausguck nach eventuellen Verfolgern aus. Das Meer war blaugrün und verfärbte sich allmählich heller. Das Wasser wurde zusehends flacher. Weit vor dem Bug erkannte Alnar dunkle Streifen und davor kleine, silbern schimmernde Wellen, die sich an den Untiefen brachen und eine Kreuzsee hervorriefen. Möwenschwärme kennzeichneten die eigentlichen Sandbänke, die oft nur wenige Zentimeter hoch waren. Hosian wandte sich an Gerbar. »Es wird besser sein, du übernimmst wieder das Ruder. Wir segeln mitten hindurch. Hier vermutet uns niemand.« Der Mann im Ausguck rief: »Vier Segel Backbord, Kapitän! Sie wollen uns den Weg abschneiden!« Hosian nickte Alnar zu. »Aha, sie haben unsere Absicht durchschaut. Sobald wir nach Süden abbiegen, laufen wir ihnen genau in die Arme. Aber da kennen sie den alten Hosian schlecht. Wir werden sie täuschen. Wenn ihnen schon die Sandbänke zu gefährlich sind, dann mit Sicherheit auch die Klippen des Felsigen Landes. Wir werden dicht unter Land segeln. Mal sehen, was sie dann tun ...« Gerbar steuerte das Schiff mitten durch die zahlreichen Sandbänke hindurch. Die Fahrtrinne war oft nur eine Mannslänge tief. Das Wasser war kristallklar und jede Einzelheit des Meeresbodens zu erkennen. Fischschwärme stoben in alle Richtungen davon, wenn der Kiel der SEEPRINZESSIN über ihr stilles Reich dahinglitt. Alnar vergaß für lange Minuten die Gefahr, in der sie sich alle befanden. Der ungewohnte Anblick faszinierte ihn. Ihm war, als schwebten sie lautlos über eine 30
phantastische Landschaft dahin, die dem Menschen für immer verwehrt sein mußte. Dann geschah das, was er insgeheim befürchtet hatte. Sand knirschte unter dem Kiel, als Gerbar eine plötzliche Kursänderung vornehmen mußte, und dann saß die SEEPRINZESSIN fest. Hosian ließ sofort die Segel reffen, damit der Wind das Schiff nicht noch weiter auf die Bank drückte, deren höchster Punkt noch unter der Oberfläche lag. Das Wasser, war knapp eine halbe Mannslänge tief. Gerbar holte alle Mann an Deck, auch die Flüchtlinge vom Gut. Alnar legte den Rock und die Waffen ab und übernahm das Kommando über beide Gruppen. Hosian und Gerbar würden bald genug mit der Navigation zu tun haben, wenn wieder genug Wasser unter dem Kiel war. Sie standen bis zum Bauch im Meer, und schon spürten sie, daß die SEEPRINZESSIN durch das geringer gewordene Gewicht wieder zu schwimmen begann. Vorsichtig schoben sie das Schiff zurück. Es löste sich nur widerwillig von der Sandbank, kam aber dann frei. Hosian warf den Hilfsanker, damit es nicht erneut auf die Untiefe trieb. Die Männer kletterten an Bord zurück. Der Mann im Ausguck rief: »Sie ändern den Kurs und kommen in unsere Richtung!« Er meinte offensichtlich die Verfolger. »Sie segeln genau auf die Sandbänke zu!« Hosian konnte seine Genugtuung nicht verbergen. »Wenn sie das tun, begehen sie genau den Fehler, auf den ich meine ganzen Hoffnungen setzte. Sie werden sich festfahren, denn sie sind davon überzeugt, daß wir hier nicht mehr ‚rauskommen. Wahrscheinlich aber set31
zen sie Boote aus, wenn sie klug sind. Dann sitzen wir allerdings in der Falle.« »Warum ziehen wir die SEEPRINZESSIN nicht über die Bänke?« fragte Alnar. »Wir haben doch gesehen, wie gut das geht.« Nun strahlte Hosian über das ganze Gesicht. »Du bist nicht nur tapfer, Alnar, du bist auch schlau. Natürlich ziehen wir das Schiff über die Sandbänke, aber erst in der kommenden Nacht. Bis dahin sind die Verfolger weit genug herangekommen, um ankern zu müssen – falls sie nicht schon festsitzen.« Es wurde Mittag und dann langsam Abend. Gerbar war in den Mastkorb geklettert und studierte die Positionen der Sandbänke im Westen, soweit er sie erkennen konnte. Dann streifte er seine Kleider ab und kletterte von Bord. Alnar warnte ihn: »Es könnte Raubfische geben, Gerbar!« »Hier nicht, Alnar, denn das Wasser ist zu flach. Jenseits der Bänke allerdings wäre ein Ausflug mit tödlicher Gefahr verbunden. Ich werde rechtzeitig umkehren.« Er watete durch das flache Wasser, schwamm durch tiefere Rinnen und machte sich so ein genaues Bild von den Gegebenheiten. Als er zurückkehrte, sah er zufrieden aus. »Es hat sich kaum etwas verändert«, teilte er mit. »Die Männer werden an einigen Stellen schwimmen müssen, aber sonst reicht das Wasser kaum bis zum Hals. Unser Schiff, wird den Grund nicht berühren. In drei Stunden erreichen wir die freie See.« Um die Verfolger zu täuschen, ließ Hosian immer drei oder vier Mitglieder seiner Mannschaft auf den nahegelegenen Sandbänken herumlaufen. Die anderen beobachteten die vier Segler, die sich nur langsam und vorsichtig dem flachen Wasser näherten. Sie hatten fast 32
alle Segel gerefft, und mit Sicherheit lagen die Anker wurfbereit am Bug. Als die Sonne unterging, erreichten sie die höheren Sandbänke. Nun fielen auch die letzten Segel, und Alnar konnte sehen, daß die Boote klar gemacht wurden. Man beabsichtigte also noch vor der Nacht einen Angriff. Das warf die eigenen Pläne über den Haufen. Hosian sah besorgt nach Westen. »In einer halben Stunde wird es dunkel, und solange wird es auch dauern, bis sie hierhergerudert sind. Ich verstehe nicht, daß sie nicht bis morgen früh warten. In der Dunkelheit haben sie wenig Aussicht auf Erfolg, weil wir ihre Absicht nun kennen.« »Wir werden uns auf einen Kampf vorbereiten müssen«, befürchtete Alnar. »Wenn es ihnen gelingt, unser Schiff in Brand zu setzen, sind wir verloren.« »So nahe lassen wir sie nicht herankommen«, schlug Gerbar vor. »Ich gehe ihnen mit meinen Männern entgegen.« »Es sind sieben Boote«, erinnerte ihn Hosian. »In jedem sind mindestens sechs Soldaten.« »Keine Sorge«, grinste der Steuermann. »Ich weiß schon, wie ihnen beizukommen ist. Einige von ihnen tragen sogar eiserne Rüstungen zum Schutz gegen Pfeile und Schwerthiebe. Was glaubst du, wie gut die schwimmen können, wenn wir die Boote umwerfen?« Alnar begriff die Absicht des bärtigen Steuermanns sofort. Er legte seine Kleidung bis auf den Waffengürtel ab, prüfte den Köcher mit den Pfeilen und spannte den Bogen. Am östlichen Horizont wurde es bereits dunkel. »Es wird Zeit«, mahnte Hosian. Alnar und Gerbar sprangen als erste in das niedrige, warme Wasser, die anderen folgten. Sie wateten den Booten entgegen, die ihre Fahrt für einen Augenblick stoppten. Dann ertön33
ten einige Kommandos, und die Männer begannen erneut zu rudern, Gerbar flüsterte: »Wir kommen gleich zu einer flachen Stelle. Das Wasser ist nur kniehoch. Die Boote sind noch auf der anderen Seite, wo es tiefer ist. Wir täuschen sie. Geht auf den Knien weiter, so daß sie glauben, wir müßten schwimmen. Das macht sie unvorsichtiger ...« In breiter Front rückten sie weiter vor und befolgten den Rat des Steuermanns. Für die Söldner König Vodors mußte es so aussehen, als liefe der Gegner freiwillig in die Spitzen ihrer Schwerter. Sie legten Pfeil und Bogen beiseite, hörten auf zu rudern und erwarteten den Feind, die blanke Waffe in der Hand. Ein Feind der schwamm, konnte nur schlecht kämpfen. Inzwischen war es dämmerig geworden. Noch wenige Minuten, und die Nacht brach an. »Nicht mehr weiter«, mahnte Gerbar leise. »Drei Mannslängen vor uns wird das Wasser tiefer. Wir müßten dann wirklich schwimmen. Abwarten, sie kommen schon freiwillig.« Sie hockten da, bis zum Hals im Wasser. Die Boote trieben langsam auf sie zu. Als sie noch fünf Mannslängen entfernt waren, gab Gerbar das Kommando. Mit einem Satz waren Alnar und die anderen aus der Hocke hoch, rannten auf die überraschten Söldner zu und stemmten sich gegen das erste Boot. Die Insassen stürzten auf die andere Seite und halfen so noch unfreiwillig mit, es zum Kentern zu bringen. Während Alnar das Wasser noch immer bis zum Knie reichte, mußten die Verfolger schwimmen und waren wehrlos, Zwei oder drei von ihnen versanken sofort. Die anderen versuchten, die rettende Sandbank zu erreichen, wurden jedoch von den Pfeilen ihrer Gegner getroffen. 34
Inzwischen kippte auch das zweite Boot, dann das dritte. Die restlichen wendeten und verschwanden in der anbrechenden Dunkelheit. Sie ließen ihre verzweifelt mit dem Ertrinkungstod kämpfenden Gefährten zurück, ohne sich um sie kümmern. Das besorgten dann auch Gerbar, Alnar und ihre Begleiter. Als sie zur SEEPRINZESSIN zurückkehrten, war es endgültig dunkel geworden. »Ich glaube, vor ihnen haben wir vorerst Ruhe«, vermutete Hosian, als Gerbar berichtet hatte, was geschehen war. »Wir warten, bis es ganz dunkel geworden ist, dann fahren wir los. Ruht euch inzwischen ein wenig aus.« Alnar ging nicht schlafen. Er blieb an Deck und sah hinüber zu den vier Segelschiffen Vodors. Sie hatten Lampen gesetzt, so daß man ihre Position jederzeit erkennen konnte. Vielleicht war das auch nur ein Trick, und die Lampen standen auf einer Sandbank, während die Schiffe weitersegelten. Wahrscheinlicher jedoch war, daß sie sich von ihrer ersten Niederlage erholen mußten und Kräfte für einen neuen Angriff morgen früh sammelten. Bis dahin aber war das Segel der SEEPRINZESSIN längst unter dem Horizont verschwunden. Fünf Männer zogen das Schiff an einem Tau, während die übrigen an den Seiten und am Heck kräftig schoben. Wenn das Wasser so tief wurde, daß sie schwimmen mußten, ging es langsamer, aber die Fahrtrinnen waren meist nur wenige Mannslängen breit. Fast immer hatten sie sandigen Grund unter den Füßen, und einmal mußten sie die SEEPRINZESSIN sogar mit dem Kiel regelrecht durch nur wenige Handbreit Wasser schleifen. 35
Gegen Mitternacht hatten sie die Sandbänke hinter sich. Das Wasser blieb gleich tief und wurde etwas kühler. Gerbar sagte: »Zurück an Bord, Männer! Wir haben es geschafft. Segel setzen, und dann Kurs Südwest!« Das Wasser am Bug begann zu rauschen, während das Schiff Fahrt aufnahm. Hosian übernahm das Ruder und behielt nur einen Mann bei sich. Alle anderen schickte er in die Kojen. Alnar legte sich erschöpft neben Taheta und schlief sofort ein. Am anderen Morgen suchte der Mann im Ausguck vergeblich nach den Sandbänken oder den Verfolgern. Das Meer der Großen Bucht war nur wenig bewegt, und kein Segel war zu sehen. Der Wind hatte auf West gedreht und stand günstig. Der Kurs lag nun genau bei Süd. Den ganzen Tag über kamen sie gut voran, und als es dämmerte, tauchte rechts von ihnen am Horizont im Schein der untergehenden Sonne der dunkle Strich des Festlands auf. Hosian erklärte Alnar, daß es sich um eine riesige Landzunge handelte, die dem Vogelkap vorgelagert war. Dort gab es gefährliche Riffe und weit ins Meer reichende Felsen, die gefährlicher als jede Sandbank waren. Wenn das Schiff hier auflief, war es rettungslos verloren, »Wir werden noch weiter nach Osten segeln, um nicht zu zerschellen. Das kostet Zeit, aber der Wind steht gut. Die Verfolger holen uns nicht mehr ein, Gerbar hat den ganzen Tag geschlafen, er wird nachts das Ruder übernehmen. Morgen erreichen wir das Vogelkap und damit die Enge der Winde.« »Wann erreichen wir das Südgebirge?« fragte Alnar. »Das hängt vom Wind ab. In der Enge wechseln sie oft, und wenn wir wenig Glück haben, kommt er direkt 36
aus Süden und treibt uns ab. Außerdem gibt es Strömungen, die uns vom Kurs abbringen können. Ich bin immer froh, wenn ich die Passage hinter mir habe.« »Wir werden es schon schaffen«, hoffte Alnar zuversichtlich. Gerbar kam an Deck, um Hosian abzulösen. Die Landzunge blieb steuerbords liegen und versank dann in der Dunkelheit. Es wurden keine Lampen gesetzt, denn hier würde man kaum noch einem Fischerboot begegnen und es vielleicht sogar rammen. An diesem Abend sanken die Flüchtlinge nicht so müde und erschöpft wie am Vortag in ihre Kojen. Sie hatten ausgeschlafen, und Optimismus machte sich breit. Einige von ihnen stimmten ein Freiheitslied an, das den Unterdrückern blutige Rache androhte und den Sklaven die endgültige Freiheit versprach. Alnar ließ sie gewähren. Je besser die Stimmung der Männer war, um so tapferer würden sie kämpfen. Er kroch zu Taheta unter die Decke. Sie flüsterte ihm zu: »Unsere Hochzeitsnacht wird noch warten müssen, Alnar ...« Er gab ebenso leise zurück: »Wir feiern sie in der Kolonie der Freien an den Gestaden des Südgebirges. Unser Zeuge bei der vorangehenden Zeremonie wird der Weise Ombar sein. Ich bereue es nicht, dich gekauft und befreit zu haben, wenn ich auch mein Volk verlassen mußte. Aber ich werde vom Südgebirge aus weiterkämpfen.« »Wird unser ganzes Leben nur aus Kampf bestehen?« »Auch der Kampf geht zu Ende – wenn Vodor tot ist.« Sie lag neben ihm, ruhig und still. Der Gesang der Männer verstummte allmählich. Draußen rauschte das 37
Wasser vorbei, und manchmal legte sich das Schiff auf die Seite, wenn Gerbar es härter an den Wind steuerte. Als Taheta endlich eingeschlummert war, schloß auch Alnar seine Augen und versuchte zu schlafen. Am Mittag des nächsten Tages erreichten sie das Vogelkap. Der Wind frischte auf und kam aus Nordwest, schlug aber dann in Landnähe auf Südwest um. Die SEEPRINZESSIN begann zu kreuzen, um voranzukommen. Immer weiter drang sie in die Enge ein, bis sie hart am Wind genau südlichen Kurs einschlagen konnte. Dann schlug der Wind nach Süden um. Hosian versuchte abermals zu kreuzen, aber die Strömung wurde zu stark. Sie trieb das Schiff unaufhaltsam nach Westen, auf die vorgelagerten Felsen des Vogelkaps zu. Der Kontinent mit dem Südgebirge versank wieder unter dem Horizont. »Wenn wir die Südspitze des Kaps umfahren können, sind wir außer Gefahr, treiben aber nach Westen«, knurrte Hosian mißmutig. »Dort gibt es geschützte Buchten, wo wir warten können.« Gerbar erschien auf Deck. Er kam zu ihnen und hörte die letzten Worte. »Sicher gibt es dort geschützte Buchten, Hosian, aber du weißt so gut wie ich, daß wir auch mit Schiffen der Transportflotte rechnen müssen. Sie haben stets Soldaten an Bord, und für ein harmloses Fischerboot werden sie uns auch nicht halten.« Wind und Strömung taten das ihre, sie immer weiter nach Westen zu treiben. Die Klippen des Vogelkaps kamen näher. Man konnte bereits das Donnern der Brandung hören, die sich an den Felsen brach. Die Seeprinzessin holte weit über, aber änderte ihren Kurs. Hosian und Gerbar hielten das Ruder gemeinsam, 38
denn ein Mann allein hätte es nicht mehr schaffen können. Alnar hatte sich mit einem Tau an der Heckverkleidung festgebunden, um von den Brechern nicht über Bord gespült zu werden. Dabei hatte der Wind sogar noch nachgelassen. Es war nun in erster Linie die starke Strömung, die ihnen zusetzte. »Da vorn ist die südlichste Spitze des Kaps!« rief Hosian. »Um die müssen wir noch herum, dann kommen wir in ruhiges Wasser und brauchen dann nur günstigeren Wind abzuwarten. Sobald er nach Westen dreht, segeln wir genau südwärts.« Knapp hundert Meter am eigentlichen Vogelkap vorbei glitt die SEEPRINZESSIN zwischen den vorgelagerten Klippen hindurch. Jeden Augenblick befürchtete Alnar, das Splittern des hölzernen Kiels zu hören, das ihrem Todesurteil gleichgekommen wäre. Aber alles ging gut. Das Land wich plötzlich zurück, und der Blick nach Westen wurde frei. Im Norden lag die südlichste Spitze des Felsigen Landes, eine unwirtliche Steilküste mit Untiefen, Klippen und versteckten Buchten. Die Strömung ließ sofort nach, und das Schiff richtete sich wieder auf. »Dort vorn ist ein zweites Kap«, sagte Hosian und deutete nach Westen. »Dahinter kenne ich eine Bucht. Wir werden dort die Nacht verbringen.« Sie machten gute Fahrt und blieben in der Nähe des Landes. Die Stimmung an Bord wurde besser, wenn sie alle auch noch lange nicht in Sicherheit waren. Jeden Augenblick konnten Segel auftauchen, und in diesem Gebiet war mit Sicherheit anzunehmen, daß es sich dann nur um Schiffe Vodors handelte. Am späten Nachmittag schlief der Wind fast völlig ein. Hosian mußte zugeben, daß sie heute die Bucht nicht 39
mehr erreichen konnten, aber vielleicht fanden sie Ankergrund in der Nähe der Küste. Vorn am Bug lotete ein Mann die Tiefe des Wassers, während die SEEPRINZESSIN nach Norden abdrehte und auf das Land zuglitt. Kurz vor der Reihe der Klippen ließen sie den Anker fallen, das Schiff drehte sich langsam gegen den Wind und lag dann fast still. Nur die lange Dünung, die mit dem schwachen Wind von See kam, ließ es leicht schlingern. Hosian ließ zwei Männer an Deck zurück. Sie sollten das Auffrischen des Windes melden, denn wenn ein Sturm aufkam, würde sich der Anker vom felsigen Grund lösen und sie alle in größte Gefahr bringen. Aber die Nacht verlief ruhig. Am anderen Morgen kam der Wind aus Nordwest und wurde stärker. »Die Bucht ist dort vorn«, stellte Kapitän Hosian fest und deutete auf das kleine Kap. »Aber wir werden sie nicht mehr brauchen. Wir segeln zum Südgebirge.« Oben im Mast rief der Ausguck: »Segel voraus im Westen. Es kommt näher. Ein Zweimaster!« Hosian und Gerbar hatten geübte Augen. »Dickbäuchig und fett – ein Transportschiff Vodors! Wir sind schneller und entkommen ihm, denn sein Tiefgang erlaubt es ihm nicht, sich der Küste zu weit zu nähern. Dann drehen wir ab nach Westen und dann nach Süden. Der holt uns dann nicht mehr ein.« Und dann, noch ehe sie richtig Kurs auf die offene See nehmen konnten und sich vom Land entfernten, geschah etwas Merkwürdiges. »Es gibt hier eine Menge großer Fische«, hatte Gerbar eben noch gesagt, als er das Ruder übernahm. »Ganze Schwärme von ihnen begleiten das Schiff. Manchmal kannst du ihre Flossen sehen.« 40
Alnar kümmerte sich nicht mehr so sehr um den Zweimaster, sondern beobachtete das wirbelnde Wasser hinter dem Heck. Zwar entdeckte er keine Rückenflossen, wohl aber einmal so etwas wie eine Hand, die für einen Augenblick aus dem Wasser zum Vorschein kam. Die Fische holten auf, und dann waren sie plötzlich verschwunden. Gleichzeitig wurde die Fahrt der SEEPRINZESSIN langsamer. Hosian sah zu den Segeln hinauf. Der Wind hatte nicht nachgelassen, aber das Schiff verlor an Fahrt, obwohl das Wasser tief genug war und noch tiefer wurde. Dabei segelten sie fast mit dem Wind in Richtung Südwest. Und dann begann Gerbar fürchterlich zu fluchen. »Das Ruder klemmt! Es läßt sich nicht mehr bewegen! Verdammt, das ist doch unmöglich! Wir haben hundert Mannslängen Wasser unter dem Kiel!« Hosian eilte zu ihm und überzeugte sich von der unglaublichen Behauptung. Alnar blieb am Heck stehen. Ihm war ein phantastischer Gedanke gekommen, aber dann sagte er sich, daß Menschen unmöglich so gut und so schnell schwimmen konnten, um die SEEPRINZESSIN einzuholen. Immerhin hatte er eine Hand gesehen ... Angestrengt blickte er in das grünblaue Wasser. Beim Steuerruder war Bewegung. Bleiche, weiße Körper glitten unter dem Schiffskiel hin und her, und sie sahen nicht aus wie Fische. »Etwas hat unser Ruder verklemmt«, sagte er zu Hosian, der seine Leute an Deck kommen ließ. »Keine Fische, keine Delphine. Etwas anderes.« »Was denn, bei allen Seegeistern?« brüllte Hosian – wütend über die eigene Hilflosigkeit. »Meeresungeheuer vielleicht?« 41
»Vielleicht«, murmelte Alnar unsicher. Die SEEPRINZESSIN drehte den Bug gegen den Wind – und nahm unendlich langsam Fahrt auf. Sie fuhr gegen den Wind! Gerbar hantierte wie ein Verrückter an dem verklemmten Ruder und fluchte pausenlos, was ihm auch nicht weiterhalf. Das Schiff war steuerlos geworden, und es segelte mit flatternden Segeln gegen den Wind. Das war Magie – wenn nicht Schlimmeres! Alnar stieß einen warnenden Ruf aus, als er über der Reling an der Backbordseite einen Kopf sah. Mit geschickten Bewegungen kletterte ein seltsam anzusehendes Geschöpf über die Holzverkleidung, in der Hand ein Messer. Erst jetzt bemerkte Alnar, daß der Kopf des Wesens von einem Gitterkäfig eingeschlossen wurde, der die Sicht jedoch kaum zu beeinträchtigen schien. Zwischen Fingern und Zehen waren Schwimmhäute gewachsen, und die Haut war fast weiß, ebenso wie die langen Haare, die kaum Platz in dem Käfig fanden. Mehr Zeit blieb Alnar nicht, den Wassermenschen zu studieren, denn fast gleichzeitig tauchten noch mehr von ihnen an Bord der SEEPRINZESSIN auf. Alle waren mit Messern bewaffnet. Die Männer waren auf seinen Schrei hin an Deck gekommen, zögerten einen Augenblick, als sie die seltsamen Wesen sahen, stellten sich ihnen aber dann zum Kampf. Alnar hatte auch nur sein Messer bei sich. Das Schwert lag unter Deck auf seinem Lager. Inzwischen trieb die SEEPRINZESSIN weiter auf das Land zu, umfuhr alle Untiefen und näherte sich der Einfahrt zur großen Bucht. Aus den Augenwinkeln heraus sah Alnar, wie Taheta, mit einem Bogen bewaffnet, in der Decksluke er42
schien. Sie legte einen Pfeil auf die Sehne, spannte die Waffe – und schoß. Einer der unheimlichen Wassermenschen wurde in die Brust getroffen, stieß einen Schrei aus und stürzte zu Boden. Die Planken färbten sich mit seinem Blut. »Geh unter Deck!« rief Alnar dem Mädchen zu, aber sie warf den Kopf in den Nacken, lachte und zog einen zweiten Pfeil aus dem Köcher. Die Wassermenschen waren geschickte Kämpfer, aber Hosians Männer und die Flüchtlinge vom Gut wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen den unheimlichen Gegner, der aus dem Meer gekommen war. Trotzdem wären sie mit der Zeit unterlegen, wenn nicht etwas geschehen wäre, das sie alle noch kurz zuvor als Unglück angesehen hätten. Der Zweimaster näherte sich schnell, und auch er segelte gegen den Wind, aber mit geblähten Segeln! Auch die Angreifer hatten das große Schiff bemerkt, und einige von ihnen sprangen einfach über Bord, um sofort im tiefen Wasser unterzutauchen und nicht mehr zum Vorschein zu kommen. Dafür wurde die SEEPRINZESSIN etwas schneller. Alnar begriff, daß ihr Schiff von den Wassermenschen gegen den jetzt schwach gewordenen Wind geschoben wurde. Für eine Sekunde hatte er Taheta aus den Augen gelassen, die einen weiteren Gegner töten konnte. Dann hörte er ihren entsetzten Schrei. Bevor er etwas unternehmen konnte, hatten zwei Wassermenschen sie gepackt, zur Reling gezerrt und waren mit ihr über Bord gesprungen. Alnar rannte zur Reling. Er sah Tahetas Kopf wieder auftauchen, begleitet von zwei anderen Köpfen mit Gitterkäfigen. Das Mädchen wurde in Richtung Land verschleppt, in die große Bucht hinein. 43
Schon wollte er hinterher springen, als ihm das Sinnlose einer solchen Handlung zum Bewußtsein kam. Außerdem ergriffen nun die Wassermenschen die Flucht, denn der Zweimaster war nahe genug heran gekommen. An seiner Reling standen bewaffnete Seeleute, jeden Augenblick bereit, die SEEPRINZESSIN zu entern. In wenigen Augenblicken war das Deck frei von den Angreifern, nur die beiden Toten blieben zurück. Beide Schiffe trieben nun in die Bucht hinein. Die Klippen lagen hinter ihnen und bedeuteten keine Gefahr mehr. Alnar rannte unter Deck, um Schwert und Schild zu holen. Lebendig, sollten ihn die Seesklaven Vodors nicht bekommen ...
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3.
»Das ist keine Zauberei, das sind Wassermenschen von Taa«, sagte Dragon, als er Einzelheiten erkennen konnte. »Aber warum greifen sie ein Schiff an? Sie sind friedlich, wenigstens waren sie es vor drei Jahren. Und wie gelangen sie hierher?« »Wir müssen der Besatzung des Seglers helfen«, drängte Ubali. »Und wie? Können wir direkt gegen den Wind segeln?« Ubali nickte. »Du hast Aerulas Guten Wind. Damit könnten wir es schaffen, das kleine Schiff einzuholen. Die Leute sind in Gefahr, und wir können immer Bundesgenossen brauchen.« Dragon erkannte die Richtigkeit des Arguments. So schnell er konnte, rannte er in die Kapitänskajüte und holte einen kleinen Beutel. Er betrachtete ihn voller Zweifel, aber dann entsann er sich der beiden anderen Geschenke, die er schon mit Erfolg eingesetzt hatte. Er lief an Deck zurück und eilte nach Backbord, von wo aus er direkt in die kaum gefüllten Segel blicken konnte. Die befreiten Seesklaven und die Kanuks beobachteten ihn voller Scheu. Sie waren Wunderdinge von ihm gewohnt, und vielleicht würden sie nun ein neues erleben. Sie sahen, wie Dragon einen Gegenstand, der an eine Fischblase erinnerte, gegen die Segel hielt und mit der Öffnung auf sie zielte. Dabei bewegten sich seine Lippen, als murmele er Beschwörungen und Zaubersprüche. Und so war es auch. 45
»Aerula, du wirst uns helfen!« flüsterte er unhörbar. »Fülle die Segel mit deinem guten Wind, denn wir müssen den Bedrängten zu Hilfe eilen. Es sind Menschen, die der Hilfe bedürfen, also steh uns bei. Schick uns den guten Wind ... schicke ihn uns ...!« Und der Luftgeist schickte ihn. Die Segel blähten sich auf und füllten sie bis zum Bersten. Die FREIHEITSBRINGERIN machte einen regelrechten Satz, und dann zerteilte der Bug die Wogen und warf zwei mächtige Wellen zu beiden Seiten ins Meer zurück. Wie ein Pfeil schoß das Schiff auf die Klippen zu, von Karthin geschickt durch die enge Passage gesteuert, und erreichte das ruhigere Wasser vor der Einfahrt zur Bucht. Die Wassermenschen flohen und verschwanden unter der Oberfläche. Nur zwei von ihnen blieben sichtbar. Sie schleppten einen Gefangenen mit sich und schwammen mit unglaublicher Geschwindigkeit auf die Küste zu. Selbst mit Hilfe des guten Windes hätte die FREIHEITSBRINGERIN sie jetzt nicht mehr einholen können. Der Einmaster profitierte ebenfalls von der Zauberkraft des Geschenkes aus Danilas Welt. Aber dann, als sich beide Segler gefährlich nahe gekommen waren, schlief der gute Wind plötzlich ein. »Wir sind Freunde!« rief Dragon den bewaffneten Männern an Bord des kleineren Schiffes zu. »Wer seid ihr?« »Und wer seid ihr?« kam es mißtrauisch zurück. »Ich bin Dragon, und diese Männer waren einst Sklaven Vodors. Wir haben sie befreit. Nun wißt ihr es. Kämpft oder seid unsere Freunde!« Alnar, der neben Hosian beim Ruder stand, rief zurück: 46
»Wir sind Freunde. Werft ein Tau herüber, die Ungeheuer des Meeres ziehen uns noch immer in die Bucht hinein.« »Dort wollen wir hin. Wie heißt du?« »Ich bin Alnar von Marmo, und ich mußte von Neuatlantis fliehen.« Das genügte Dragon. Ein Tau verband die beiden Schiffe, die nun gemeinsam in die große Bucht hineintrieben. Dragon kletterte in Begleitung Ubalis an Bord des Einmasters, wo er von den Männern noch immer mit Mißtrauen gemustert wurde. Er gab Alnar die Hand. »Wenn du die Wahrheit sprichst, sind wir Freunde. Dieses Schiff gehörte einst Athyron, er wurde im Kampf von uns getötet. Die Blutburg Shebar existiert nicht mehr. Du wirst alles erfahren.« Alnar blickte in Richtung Land. Seine scharfen Augen erkannten noch den Punkt, der nur Tahetas Kopf sein konnte. »Sie nahmen meine Gefährtin gefangen. Ich werde sie befreien.« »Und wir werden dir dabei helfen«, versprach Dragon. »In der Bucht werfen wir Anker.« Hosian hatte sich nicht um die Unterhaltung gekümmert. Er kniete vorn am Bug zwischen zwei Männern der Besatzung und sprach mit ihnen. Auf den ersten Blick erkannte er, daß ihnen nicht zu helfen war. Die Dolche der Wassermenschen hatten zu schwere Wunden geschlagen. Sie starben, noch während er ihnen Trost spendete. Langsam trieben die beiden Schiffe in die Bucht hinein und näherten sich der Küste. Sie war hier nicht so steil und abweisend wie draußen. An einigen Stellen schimmerten sogar kleine Sandbuchten, und auf den flachen Hügeln wuchsen Büsche und Bäume. 47
Die Segel wurden gerefft und festgebunden. Immer noch verband das Tau die FREIHEITSBRINGERIN und die SEEPRINZESSIN. Dragon kletterte über die Reling. Er beugte sich weit nach vorn und versuchte, in dem klaren Wasser eine Bewegung zu erkennen, aber die Tainu waren verschwunden. In der Nähe des Landes sah er das Kräuseln der Oberfläche, und dann stiegen die Wassermenschen ans Ufer. Zwei von ihnen schleppten Taheta mit sich. Alnar stieß einen verzweifelten Schrei aus, aber sie schien ihn nicht zu hören. Sie mußte bewußtlos geworden sein. »Wir werden sie verfolgen und Taheta befreien«, sagte Dragon, nachdem er an Bord zurückgeklettert war. »Wie tief ist das Wasser?« »Es wird schnell flacher«, gab Gerbar Auskunft, der das Ruder wieder übernommen hatte, das nun nicht mehr klemmte. »Bald können wir Anker werfen.« Ubali beobachtete inzwischen die Tainu, die alle an Land gestiegen waren und zwischen den felsigen Hügeln und den Büschen verschwanden. Am liebsten hätte er sich schon jetzt in den Schwarzen Panther verwandelt und wäre ihnen gefolgt, aber er wußte, daß es noch bessere Spurensucher als ihn gab: die Kanuks. Ihnen konnten auch die geschicktesten Wassermenschen nicht entkommen. Knapp hundert Mannslängen vom Ufer entfernt warfen die beiden Schiffe Anker. An Bord der FREIHEITSBRINGERIN wurde ein schneller Kriegsrat gehalten, dann ließ man zwei Boote zu Wasser. In dem einen nahmen zwölf Krieger der Kanuks Platz, in dem anderen Dragon, Ubali und Alnar. Hosian, Gerbar und Thamai 48
sollten ein wenig später mit einigen Leuten in einem dritten Boot folgen. Die Fahrt zum Ufer dauerte nicht lange, und die geheime Befürchtung, daß abermals ein Überfall durch die Tainu erfolgte, bewahrheitete sich zum Glück nicht. Obwohl der Grund immer sichtbar blieb und das Wasser nicht wieder tiefer wurde, wäre ein Kampf mit den Wassermenschen nicht ohne Verluste abgegangen. Sie waren hier in ihrem ureigensten Element und konnten die leichten Boote ohne Schwierigkeit zum Kentern bringen. Im Wasser waren sie Dragon und auch den Kanukkriegern weit überlegen. Ohne Zwischenfall erreichten sie das Ufer, zogen die Boote auf den Strand und winkten den auf den beiden Schiffen Zurückgebliebenen beruhigend zu. Dragon deutete auf den Sand. »Dort sind die Spuren, wir brauchen ihnen nur zu folgen.« »Weiter oben wird es felsig«, bemerkte Ubali. Einer der Kanukkrieger hörte seine Bedenken. Er kam herbei und sagte: »Du brauchst keine Sorge zu haben, Mann aus dem Land der schwarzen Menschen. Wir finden jede Spur, auch auf den Felsen. Die Ungeheuer aus dem Wasser entkommen uns nicht.« Dragon meinte: »Die Tainu sind friedliche Geschöpfe. Das Gitter um ihren Kopf läßt vermuten, daß sie zu dem Überfall gezwungen wurden, wir müssen nur noch herausfinden, wer dahinter steckt. Sie sind Gefangene, glaube ich. Doch halten wir uns nicht länger auf. Thamai wird mit den anderen Kriegern bald nachkommen. Sie werden stets außer Sichtweite bleiben und erst dann eingreifen, wenn ich es ihnen befehle.« 49
Vorsichtig und nach allen Seiten sichernd, begannen sie, den Uferhügel hinaufzugehen. Ubali blieb zurück und entledigte sich seiner Kleider. Als Panther benötigte er weder Kleider noch Waffen, doch er bekam die feine Witterung des Raubtiers, dessen Gestalt er annahm. Die Kanuks erschraken nicht mehr, als er neben ihnen auftauchte. Sie wußten inzwischen, daß der fahlhäutige Fremde und der Mann aus dem Land der schwarzen Menschen mit Zauberkräften ausgestattet waren, die sie fast zu Halbgöttern machten. Dragon und Alnar folgten den erfahrenen Spurensuchern, die sie vorgehen ließen. »Du mußt mir mehr über dich erzählen«, meinte Alnar und bemühte sich, seine Neugier zu verbergen. »Warum kann sich dein schwarzer Freund in einen Panther verwandeln? Ist das nicht Zauberei?« »Es ist eine lange Geschichte, mein Freund, und du wirst sie erfahren. Nur soviel schon jetzt: es gibt andere Welten neben der unseren. Wir waren dort, eine sehr lange Zeit. Drei Sommer sind es nun her, daß wir in sie gelangten, aber wir weilten nur einen halben Sommer dort. Die Zeit vergeht langsamer. Ein ... ein Gott verlieh Ubali die Fähigkeit, sich in einen schwarzen Panther zu verwandeln, wann immer es ihn beliebt. Auch mir wurden Geschenke gemacht, bevor wir in diese Welt zurückkehrten.« »Wo liegt dieses wunderbare Land?« »Jenseits eines Weltentores, durch Ewigkeiten von uns getrennt. Vielleicht wirst du später einmal alles erfahren, Alnar, doch im Augenblick braucht dich diese Welt. Du erwähntest, daß du aus den Schriften des Weisen Ombar alles über das einstige Atlantis weißt. Es ist auch mein Ziel, die Zustände des Goldenen Zeitalters wieder 50
herzustellen und der Barbarei ein Ende zu bereiten. Wir sind also nicht nur Freunde, sondern auch Verbündete.« Der Anführer der Kanuks blieb stehen und wartete auf sie. Er nannte sich Silberbär. »Dragon, die Spuren führen landeinwärts. Das Gelände wird unübersichtlich, und wir müssen jeden Augenblick mit einem Überfall rechnen. Sollten wir nicht lieber warten, bis die anderen Krieger nachkommen?« »Vielleicht hast du recht. Wir kennen unsere Gegner nicht.« Sie lagerten in einer Mulde und stellten Wachen auf. Alnar verhehlte seine Ungeduld nicht. »Dragon, wir verlieren nur Zeit. Sie verschleppen Taheta, und wir wissen nicht, was sie mit ihr vorhaben. Wenn wir zu spät kommen und sie nicht mehr befreien können ...« Dragon unterbrach ihn: »Manchmal spart Geduld mehr Zeit als unvorsichtiger Übereifer, Alnar. Du kennst die Sitten und Gebräuche dieser Welt, und wenn mich nicht alles täuscht, sind auch die Wassermenschen nur die Gefangenen eines Neuatlanters. Darum vermute ich, daß Taheta vorerst nichts passiert, denn tot ist sie wertlos.« Das sah Alnar ein. Er setzte sich und verbarg seine Nervosität, so gut es ihm möglich war. Erst kurz nur kannte er Taheta, aber er wußte schon jetzt, daß er ohne sie nicht mehr leben konnte. Der Gedanke, daß ihr jemand ein Leid zufügen könnte, wurde ihm immer unerträglicher. Einer der roten Krieger, der den Weg zur Bucht zurückgegangen war, kehrte zurück. »Sie kommen, Dragon. Wir können aufbrechen, denn sie bleiben immer dicht hinter uns. Sollten wir in einen 51
Hinterhalt geraten, werden sie zur Stelle sein. Ich habe ihnen deine Botschaft mitgeteilt. Sie werden nur dann eingreifen, wenn es unbedingt notwendig sein sollte. Sonst bleiben sie im Hintergrund.« »Gut so, danke.« Dragon nickte Alnar zu, der sofort aufgesprungen war. »Nun, wurde deine Geduld nicht belohnt? Jetzt brauchen wir keinen Hinterhalt mehr zu fürchten. Und wenn wir Taheta finden, können wir sie befreien, wer immer sie auch gefangenhält.« Wieder gingen einige der roten Krieger voran, während der Großteil in hundert Mannslängen Abstand folgte, immer in Deckung bleibend und zum Kampf bereit. Die Büsche wurden zahlreicher, der Boden fruchtbarer. Es war nun nicht mehr schwierig, den Spuren zu folgen. Deutlich hoben sich manchmal die Schwimmhäute von Sand oder Erde ab, so daß ein Irrtum ausgeschlossen war. Einmal erkannte man sogar die Schleifspur der offenbar noch immer bewußtlosen Taheta. Silberbär wartete, bis Dragon ihn einholte. Er deutete auf den Boden. »Hier haben Sie eine kurze Rast gemacht. Die Spuren sind frischer geworden. Es kann nicht mehr lange dauern.« Dragon sah zum Himmel empor. »Es ist Mittag vorbei, Silberbär. Bis zum Dunkelwerden müssen wir sie gefunden haben.« »Das werden wir auch«, versicherte der Anführer der Kanuks. Sie folgten einem schmalen Bach, der aus den bewaldeten Hügeln kam, die nun vor ihnen lagen. Rechts und links seines Laufes waren immer wieder die Spuren der Tainu zu bemerken, die sich keine Mühe gaben, sie zu 52
verwischen. Fast sah es so aus, als wollten sie ihre Verfolger mit Absicht zu ihrem Versteck führen. Der Bach hatte im Verlauf vieler tausend Sommer ein fruchtbares Tal geschaffen, dessen Hänge mit üppiger Vegetation bedeckt waren. Silberbär befahl seinen Kriegern, zwischen den Büschen und Baumgruppen Deckung zu suchen und wartete, bis Dragon, Alnar und der Panther herangekommen waren. »Die Spuren führen zu dem natürlichen Damm dort vorn. Der Bach fließt über ihn hinweg, also befindet sich unmittelbar dahinter die Quelle oder ein Quellsee, denn das Tal endet vor den Felsen im Hintergrund. Es ist anzunehmen, daß wir das gesuchte Versteck erreicht haben.« »See klingt wahrscheinlich, denn die Tainu leben hauptsächlich im Wasser. Warum sie sich allerdings hierher zurückgezogen haben, ist mir rätselhaft, es sei denn, meine Vermutung ist richtig, daß sie es nicht freiwillig tun, sondern dazu gezwungen wurden.« Dragon nickte Silberbär zu. »Ihr bleibt hier in Deckung, während ich mit Alnar und Ubali vorgehe. Wir geben euch vom Damm her ein Zeichen, dann folgt vorsichtig. Laßt euch nicht sehen. Das gilt auch für Thamai und die anderen Krieger.« Ohne sich um Deckung zu kümmern, gingen er, Ubali und Alnar weiter und folgten dem Lauf des Baches. Das Gelände stieg weiter an, bis es am Fuß des etwa zwanzig Mannslängen hohen Damms steil wurde. Obwohl dieser Damm eine ausgezeichnete Verteidigungsanlage darstellte, geschah nichts. Entweder gab es eine noch bessere Falle, oder man rechnete nicht mit einer Verfolgung, was Dragon jedoch unwahrscheinlich erschien. Die dritte Möglichkeit war die, daß man hinter dem Damm auf sie wartete. 53
Dragon zog sein Schwert, als er den oberen Rand erreichte. Aber seine Vorsicht war unbegründet, denn als er ein Stück weiter vorkroch und dabei den anderen beiden zuwinkte, ihm zu folgen, sahen seine Augen ein fast paradiesisch anmutendes Bild. Es schien ein Bild des Friedens zu sein, aber auch nur am Anfang. Hinter dem Damm lag ein fast runder Talkessel, von grünen Hügeln und im Hintergrund durch eine steile Felswand eingeschlossen. In der Mitte schimmerte blau ein großer See, in dem sich die Tainu tummelten, alle mit dem Gitterkäfig versehen, dessen Zweck noch unbekannt war. Am Ufer des Sees standen primitive Holzhütten, vor denen Lagerfeuer brannten. Abenteuerlich gekleidete Gestalten gruppierten sich darum und gingen unterschiedlichen Beschäftigungen nach. Ihre Haut war hellbraun, vom Seewind gegerbt und zerfurcht. Auch Frauen waren zu sehen, aber ihrem Äußeren nach handelte es sich um Eingeborene, wahrscheinlich Quesas. Alnar, der neben Dragon im hohen Gras lag, flüsterte; »Siehst du den breitschultrigen Kerl dort am nächsten Feuer? Er hat gerade zwei seiner Leute als Wache vor jene Hütte gestellt. Ich wette, in ihr wird Taheta gefangengehalten. Ich kenne den Kerl. Der Beschreibung nach kann es nur Matzumo sein, den man auch den ›Schrecken der Meere‹ nennt. Ein Pirat der gefährlichsten Sorte. Er wird von Vodor gesucht, aber er ist auch unser Feind. Er ist der Feind jedes aufrecht denkenden Menschen und der Herrscher von Atlantis.« »Ein Pirat also«, gab Dragon ebenso leise zurück. »Er sieht noch jung aus.« »Er ist uralt, Dragon. Niemand weiß richtig, wie alt. Er muß das Geheimnis des Lebenstrinkens kennen, sonst 54
wäre das nicht möglich. Wie soll es uns gelingen, Taheta aus seinen Klauen zu retten?« Dragon überlegte nur einige Augenblicke, dann erwiderte er: »Mit List, Alnar, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Dieser Matzumo hat etwa zwanzig Männer bei sich, hinzu kommen die Tainu, die ihre Gefangenen sind, wie ich annehme. Wenn wir und die Kanuks das Lager offen angreifen, schwebt deine Taheta in größter Gefahr. Der Pirat wird sie als Geisel benutzen. Ich glaube, Ubali geht zu Silberbär zurück und erklärt ihm meinen Plan ...« »Einen Plan?« Dragon zog sich ein wenig zurück und setzte sich, »Ja, ich habe einen Plan. Hört zu ...«
55
4.
Dies ist die Geschichte Matzumos, den man auch den »Schrecken der Meere« nennt: Als er noch ein Junge war, konnte man ihn stets in der Nähe des Hafens von Neuatlantis finden. Tagtäglich lungerte er hier herum, beobachtete die ein- und auslaufenden Schiffe, sprach mit den Seesklaven und manchmal sogar mit den Kapitänen, denen die Wißbegierde des Jungen schmeichelte. Seine Eltern stammten aus niederen Kreisen und hatten keinen Zugang zum Palast. Von Kind an gedemütigt, entwickelte sich bei ihm ein Minderwertigkeitsgefühl, das er nur dadurch zu beseitigen glaubte, wenn er die Rollen vertauschte. Wenn er einmal groß war, so schwor er sich immer wieder, wollte er sich für alles bitter rächen. Macht wollte er eines Tages haben, und Reichtum. Zittern sollten sie vor ihm und seinem Namen, und wenn er genügend Geld besaß, würde er sich von den Priestern der Gelben Schlange in das Geheimnis des Lebenstrinkens einweihen lassen, um sein Leben zu verlängern und die Jugend nie zu verlieren. Mit zwanzig Sommern wurde er in die Besatzung eines Regierungsseglers aufgenommen und machte seine ersten Fahrten zum Felsigen Land und durch die Enge der Winde. So schwer es ihm auch fiel, er ordnete sich unter und gehorchte, denn er wußte, daß er, sollte er jemals zum gewöhnlichen Sklave degradiert werden, keine Chance mehr haben würde, sein Ziel zu erreichen. Im Verlauf vieler Sommer kletterte er die Leiter des Erfolges hinauf, bis man ihn schließlich zum Kapitän ei56
nes Schiffes ernannte. Seine Aufgabe bestand in erster Linie darin, Sklaven vom Kontinent zu holen und bei Hofe abzuliefern, was er natürlich nicht zur Gänze tat. Mit Gewalt und List gelang es ihm immer wieder, die Hälfte der Fracht mit eigenem Gewinn loszuschlagen und so ein beachtliches Vermögen zu ergaunern. Seiner Besatzung gegenüber war er ungerecht und brutal. Beim geringsten Vergehen ließ er seine Leute auspeitschen oder einfach ins Meer werfen. Mit der Zeit bestand fast seine gesamte Mannschaft aus Sklaven, die keine persönlichen Rechte mehr besaßen und mit denen er machen konnte, was er wollte. Noch immer segelte er unter dem Banner Vodors, aber in Wirklichkeit arbeitete er gegen ihn, wenn auch nicht aus edlen Motiven, sondern aus reiner Habgier und aus Rache. Längst kannte er das Geheimnis des Lebenstrinkens, und er nutzte diese lebensverlängernde Kenntnis, wann immer sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Weitere zehn Sommer vergingen, dann glaubte er sich mächtig genug, den ursprünglichen Plan endlich in die Tat umzusetzen. Auf eigene Kosten ließ er sich ein Schiff bauen. Er selbst lieferte den Plan dazu, denn er besaß reichliche Erfahrungen auf diesem Gebiet. Es wurde ein großer Schnellsegler, für den eine Besatzung von fünfzig Mann notwendig war. Diese Leute suchte er höchstpersönlich unter den berüchtigsten Galgenvögeln Neuatlantis‘ aus. Der Hochadel wurde zwar auf ihn aufmerksam, aber niemand wagte es, Matzumo an seinem Vorhaben zu hindern, weil niemand seine Pläne genau kannte. Selbst Vodor ließ ihn gewähren, denn er hielt Matzumo für loyal. Niemand hatte ihm mehr Sklaven gebracht als er. Daß es hätten doppelt soviel sein können, wußte er nicht. 57
Das Schiff lief von Stapel und wurde JÄGER getauft, wieder ein geschickter Schachzug des künftigen Piraten, denn jeder mußte nun annehmen, daß es für die Sklavenjagd im Interesse Vodors bestimmt war. Ein Irrtum, wie sich bald herausstellen sollte. Als die JÄGER die gefürchteten Sandbänke südlich umfahren hatte und nach Westen segelte, rief Matzumo die Mannschaft an Deck und hielt eine Ansprache. In ihr enthüllte er den Männern, die sich kaum überrascht zeigten, die volle Wahrheit: »Von nun an werden wir der Schrecken der Meere sein, und kein Schiff ist mehr vor uns sicher. Ich habe es in erster Linie auf die reich beladenen Transporter abgesehen, die nach Neuatlantis zurücksegeln, um Vodors Schatzkammern zu füllen. Sie sind mit bewaffneten Soldaten bemannt, das wißt ihr, also werdet ihr kämpfen müssen. Ich bin überzeugt, das tut ihr auch, denn wenn ihr gefangengenommen werdet, müßt ihr sterben. Vodor kennt keine Gnade. Mein Stellvertreter wird Balecos sein. Seine Befehle sind auch die meinen. Gehorcht ihm also, wenn ihr nicht quer durch die Große Bucht schwimmen wollt, was noch niemandem gelungen ist.« Er war ein wenig überrascht, als die Männer ihm zujubelten, als habe er ihnen gerade eine erfreuliche Mitteilung gemacht, aber dann sonnte er sich in der Gewißheit, sie richtig eingeschätzt zu haben. Sie würden für ihn sterben, wenn es sein mußte. Aber noch lieber würden sie wahrscheinlich für ihn leben, rauben, morden und plündern. Wenig später kehrten die ersten Transporter nicht nach Neuatlantis zurück. Man nahm an, daß sie in einem Sturm gesunken waren, denn es gab keine Überlebenden, die hätten berichten können. Auch Trümmer oder Wracks wurden nicht gefunden. Vorerst noch nicht. 58
Doch dann, zwei Sommer später, begann man die JÄGER zu vermissen. Auch sie kehrte nicht in den Hafen von Neuatlantis zurück, und schon begann man zu glauben, daß auch sie der Unglücksserie zum Opfer gefallen war. Als dann die ganze Wahrheit ans Tageslicht kam, war der Hochadel vor Entsetzen gelähmt und erholte sich nur langsam von dem Schock. In seinem Palast tobte Vodor und erließ dann den Befehl, daß die JÄGER mit ihrem Kapitän zum Staatsfeind erklärt wurde und daß jeder eine fürstliche Belohnung erhielte, dem es gelänge, das Schiff aufzubringen oder zu versenken. Auf Matzurnos Kopf wurde ein Vermögen ausgesetzt. Ein einfacher Sklave war es, der die Schreckensbotschaft überbracht hatte. Sein Transporter war dicht unterhalb der Sandbänke von der JÄGER geentert und die gesamte Besatzung niedergemacht worden. Nur ihm war es gelungen, unbemerkt über Bord zu springen und zwischen den flachen Sandbänken Schutz zu finden. Er hatte tagelang im flachen Wasser gelegen und sich von rohen Fischen ernährt, die gleichzeitig auch seinen Durst löschten. Aus der Ferne hatte er beobachten können, wie der Transporter versenkt wurde und die JÄGER mit Südkurs weitersegelte. Um ihn kümmerte sich niemand, bis ihn ein Fischerboot fand und nach Neuatlantis brachte. Die Jagd auf Matzumo begann. Der Pirat merkte sehr bald, daß die Kapitäne der neuatlantischen Schiffe vorsichtiger wurden. Ihre Segler fuhren fast nur noch in Konvois, mindestens immer drei zusammen. Es wurde immer schwerer, Beute zu machen, und fast immer hatte er einen Sturm abzuwarten, der die Schiffe auseinandertrieb. Dann suchte er sich eins davon aus und überfiel es. 59
Nun gab er sich auch keine Mühe mehr, die Spuren zu verwischen. Er ließ die Wracks einfach mit gesetzten Segeln davonfahren, mit den Leichen der Erschlagenen an Bord. Wenn solche Schiffe gefunden wurden, oft erst Monde später, boten sie ein gespenstisches Bild. In diesen Tagen wurde der Ausdruck »Schrecken der Meere« zum ersten Mal angewendet. Matzumo zog sich weiter nach Süden zurück und richtete mehrere Landstützpunkte ein. Hinter dem Vogelkap vergrub er seine Schätze, die ihm im Augenblick nichts mehr nützten. Nach Neuatlantis konnte er nicht mehr zurückkehren, aber er hatte seine Rachegelüste befriedigen können. Er fühlte sich wieder wohler in seiner Haut. Dann, eines Tages, näherte er sich der fast unerforschten Küste des Südgebirges, südlich des Vogelkaps und noch weit von der Kolonie des Weisen Ombar entfernt, von der Matzumo nichts ahnte. Es war eine flache Küste, doch dicht dahinter türmten sich gewaltige Berge und riesige Wälder, wie die Neuatlanter sie noch nie gesehen hatten. Die Lebensmittel und das Trinkwasser ging zur Neige und mußte aufgefrischt werden. Eine Flußmündung und die Wälder versprachen beides. Die JÄGER warf Anker in einer kleinen Bucht. Matzumo ließ zwei Boote an Land rudern. Die Piraten hatten den Auftrag, Tiere zu erlegen und das Fleisch an Bord zu bringen. Die anderen sollten Wasser holen. Matzumo blieb an Bord zurück. Den Befehl über die beiden Boote hatte Mauros übernommen, gewissermaßen der Zweite Offizier. Balecos stand neben Matzumo an der Reling und blickte wie er den Booten nach. Seine scharfen Augen 60
entdeckten etwas, das dem Piratenkapitän bisher entgangen zu sein schien. »Siehst du den Berg dort, Matzumo? Der mit dem runden Kegel auf seinem grünen Rücken. Ist das wirklich nur ein natürlicher Kegel, ein Vulkan vielleicht? Ich glaube es nicht. Mir sieht er mehr wie eine Burg aus.« Matzumo beschattete seine Augen vor der Sonne. Angestrengt sah er zu dem Berg hinüber, und erst nach langer Zeit meinte er: »Du könntest recht haben, Balecos. Es sieht wirklich wie ein Bauwerk aus. Aber warum auf dem flachen Gipfel eines Berges?« »Dafür gäbe es eine ganze Menge Gründe, Kapitän. Vielleicht leben dort Menschen, die Vodor ebenso zu fürchten haben wie wir. Oder sie sind keine Neuatlanter, sondern Eingeborene, die sich gegen Wilde zu verteidigen haben. Der Kegel kann eine uneinnehmbare Festung sein, angefüllt mit allen Reichtümern dieser Welt.« Er hatte absichtlich diesen Köder ausgeworfen, und Matzumo schnappte auch sofort danach. »Reichtümer? Ich habe schon davon gehört, daß Schiffe, die von hier kamen, edles Metall nach Neuatlantis brachten. Und nicht nur das. Sie hatten Gefangene gemacht, rotbraune Gefangene, die teuer auf dem Markt angeboten wurden. Morgen sehen wir uns den Bergkegel an.« Damit war der Plan abgesprochen. Die Boote kehrten vor der Dämmerung zurück. Die Fässer mit Trinkwasser wurden in den Laderäumen verstaut, das Fleisch in Streifen geschnitten und zum Trocknen aufgehängt, nachdem sich die Piraten erst einmal vollgegessen hatten. Matzumo ging noch nicht unter Deck, nachdem es schnell dunkel geworden war. Er stand in der Nähe des Hecks und sah immer wieder hinüber zum Land. Seine 61
Augen suchten den Bergkegel, und sie fanden ihn erst, als ein schwaches Licht seine Lage verriet. Nun erkannte Matzumo seine Umrisse gegen den Sternenhimmel. Licht! Das bedeutete, daß seine und Balecos‘ Vermutung stimmte. Dort oben befand sich eine Burg, und sie war bewohnt. Morgen würde man mehr wissen. Sie nahmen zehn schwerbewaffnete Männer mit, und zwanzig weitere folgten im geringen Abstand als Rückendeckung für den Fall eines Hinterhalts in den Wäldern. An Bord zurück blieben die restlichen zwanzig Piraten unter Führung des Bootsmanns und Zweiten Offiziers. Der sandige Strand verwandelte sich bald in dichten Urwald. Zum Glück fanden die Piraten immer wieder einen schmalen Pfad, der von den einheimischen Tieren durch das Dickicht gebahnt worden war. Einmal begegneten sie einer riesigen Schlange, die nicht auswich, sondern sich ihnen kampfbereit in den Weg stellte. Ihre Haut war gelb, und damit galt sie als heilig, wenigstens bei den Priestern jenes Kultes, der ihr geweiht war. Matzumo griff nach seinem Schwert. »Man darf sie nicht töten«, warnte einer der Piraten. »Das bedeutet Unglück!« »Ja, für jene auf der Burg«, erwiderte der Piratenkapitän trocken und hieb der Schlange den Kopf ab. Ihr Körper zuckte noch, als er ihn mit dem Fuß zur Seite schob. »Der Weg ist frei, Leute.« Sie erreichten den Fuß des Berges, der sich mehr als tausend Mannslängen hoch vor ihnen auftürmte. Der Burgkegel war nun nicht mehr zu sehen. Die Wipfel der Bäume verdeckten ihn. Matzumo befahl eine Ruhepause und ließ die Nachhut aufrücken. Von nun an sollten sie alle zusammen62
bleiben, um jeder Gefahr besser begegnen zu können. Sobald sie den eigentlichen Wald verließen, war kein Hinterhalt mehr zu befürchten. Ein schmaler Pfad führte nach oben. Gerade zwei Männer konnten nebeneinander gehen, mehr nicht. Balecos übernahm den Schluß und sorgte dafür, daß niemand zurückblieb. Matzumo ging voran. Nach zwei Stunden näherten sie sich dem flachen Gipfelplateau, und als sie es erreichten, verharrten sie in ehrfürchtigem Staunen. Auch der erfahrene Piratenkapitän hatte so etwas noch nie gesehen, zumindest nicht außerhalb von Neuatlantis. In der Mitte des nicht großen Plateaus erhob sich der Kegel, an dessen Rundung sich ein deutlich erkennbarer Weg heraufschlängelte. Die obere Hälfte des Kegels war ausgehöhlt worden, wie die vielen kleinen Öffnungen bewiesen. Ein Tor mit einer Zugbrücke davor verriet den einzigen Zugang zu der uneinnehmbaren Festung. »Sie haben uns längst gesehen«, vermutete Balecos, der nach vorn zu Matzumo gegangen war. »Ein einziger Mann könnte diese Burg verteidigen.« Der Pirat nickte. »Ja, das könnte er, wenn er unsere Absicht erriete. Aber wir kommen ja in Frieden, oder vielleicht nicht?« »Und wenn sie es nicht glauben – oder wenn er es nicht glaubt?« »Er? Du sprichst so, als wärest du überzeugt, nur ein einziger Mann könne dort leben. Warum?« Balecos nickte. »Ich bin sogar überzeugt, daß nur ein einziger dort leben kann – ein Zauberer, ein großer Magier. Wer sonst würde sich in diese Einsamkeit zurückziehen? Und wer 63
sonst könnte eine solche Festung errichten? Nur jemand, der Zauberkräfte besitzt.« Matzumo unterdrückte seine Zweifel. »Unsinn, es gibt keine Zauberkräfte oder Magier! Und wenn, dann möchte ich beides kennenlernen. Komm, gehen wir weiter!« Balecos bemühte sich, seine abergläubische Furcht zu unterdrücken. Es gab unerklärliche Dinge, das wußte er, und er wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Aber jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als Matzumo zu folgen. Wieder übernahm er die Nachhut, denn die Wahrscheinlichkeit, daß sich der eine oder andere Pirat zu drücken versuchte, war größer geworden. Sie verloren nie den Mut, wenn es darum ging, Soldaten oder Seeleute anzugreifen und zu töten, aber vor Zauberern und vor Geistern hatten sie Angst. Mit ihnen wollten sie nichts zu schaffen haben. Matzumo überquerte das deckungslose Plateau ohne jeden Versuch, seine Anwesenheit zu verbergen. Einmal, als er oben beim Tor eine Bewegung zu erkennen glaubte, winkte er sogar ganz freundlich hinauf, ohne allerdings eine entsprechende Antwort zu erhalten. Der Weg war steil und steinig, aber er mußte mit normalen Werkzeugen aus dem Gestein herausgehauen worden sein. Vielleicht waren es doch nur Eingeborene, die hier oben eine sichere Zuflucht gesucht und gefunden hatten. Mit ihnen würde man schon fertig werden. Die Sonne schien fast senkrecht auf sie herab, als sie ihren höchsten Stand erreichte. Trotzdem blieb die Luft kühl. Sie kam vom Meer, und als Matzumo sich einmal umblickte, sah er die JÄGER unten in der Bucht vor Anker liegen. Als sie noch fünfzig Mannslängen vor dem Tor waren, senkte sich mit lautem Gepolter die hochgezogene 64
Zugbrücke herab und gab so den Weg in das Innere der Burg frei, Matzumo unterdrückte einen triumphierenden Ausruf, packte aber den Griff seines Schwerfes fester. Jeden Augenblick konnte der befürchtete Angriff der Burgbewohner erfolgen. Aber nichts geschah. Zögernd nur setzten sie ihren Vormarsch fort und näherten sich der Zugbrücke. Sie bestand aus dicken Holzstämmen und wurde von einer rostigen Eisenkette gehalten. An der Seite war ein Geländer. Als Matzumo sie betrat, wurde auf der anderen Seite hinter dem geöffneten Tor eine Gestalt sichtbar. Sie trug einen schwarzen Umhang mit silberner Stickerei. Das Gesicht war ungewöhnlich bleich und wurde von einem dunklen Vollbart eingerahmt. Selbst auf die relativ große Entfernung hin fiel dem Piraten das stechende Funkeln der Augen auf. Der Mund war schmal wie ein Strich. Matzumo blieb stehen und hob die Rechte zum Gruß. »Bist du der Herr der Burg?« fragte er laut. »Wir bitten dich um Gastfreundschaft. Vielleicht hast du unten in der Bucht unser Schiff gesehen. Wir kommen aus einem fernen Land hierher, und wir hoffen, daß hier die gleichen Gesetze herrschen wie bei uns. Einem Fremden weist man niemals die Tür.« »Ihr seid meine Gäste, aber warum kommt ihr bewaffnet? Wer bist du?« »Matzumo, ein Kapitän aus Neuatlantis, einem Land weit im Norden«, erwiderte der Pirat, der fest annahm, daß der seltsame Einsiedler noch nie von ihm gehört hatte. »Wir sahen die Schönheit dieser Küste und den gewaltigen Bau deiner Burg. Darum wollen wir dich besuchen und dir deine Einsamkeit vertreiben.« 65
»Dann will ich dir meinen Namen nennen: er lautet Quetzol, und auch ich bin ein Fremder in diesem Land. Aber ich liebe es und seine einfachen Menschen.« »Lebst du allein auf deiner Burg?« »Ich habe nur meine Diener – manchmal.« »Nicht immer?« Quetzol schüttelte den Kopf, »Du stellst viele Fragen, Fremder. Beim Gastmahl werde ich sie dir beantworten. Sage deinen Männern, daß sie hier keine Waffen brauchen.« »Verzeiht, Quetzol, aber es ist ihre Gewohnheit, sich nie von ihren Waffen zu trennen. Wir wollen dich nicht verletzen oder deinen Zorn erregen, aber du mußt verstehen, daß wir unerforschtes Land betreten haben. Überall lauern Gefahren, und ihnen kann man nur mit der Waffe in der Hand begegnen.« »Nun gut, dann sollen sie ihre Waffen behalten. Hier gibt es keine Feinde, aber ich will auch nicht mit euren Gewohnheiten brechen. Kommt nun!« Matzumo und Balecos gingen voran, von den anderen Piraten dicht gefolgt. Sie hätten Quetzol in diesem Augenblick leicht töten können, aber dazu waren sie alle viel zu neugierig. Außerdem nützte ein toter Burgherr nichts, wenn nur er allein das Versteck der Schätze kannte. Denn daß es hier Schätze gab, davon waren Matzumo und auch sein Erster Offizier überzeugt. Quetzol führte sie durch den Hof in einen prächtigen Saal, der von Fackeln erleuchtet wurde, denn die Fenster waren viel zu klein, um genügend Licht hereinzulassen. Eine riesige Tafel stand in seiner Mitte, vollbeladen mit Früchten und köstlich duftendem Bratenfleisch. Alles war für ihren Empfang vorbereitet, und es waren auch genau dreiunddreißig Gedecke vorhanden. 66
Quetzol nahm am oberen Ende Platz, Matzumo und Balecos setzten sich unmittelbar neben ihn. Dann kamen die Piraten, denen bereits das Wasser im Mund zusammenlief. Es war kein Diener zu sehen. Geister schienen die Speisen herbeigezaubert zu haben. »Der Wein ist köstlich«, ermunterte der seltsame Gastgeber seine Besucher. »Ich erhebe mein Glas auf euer Wohl ...« Matzumo mußte zugeben, selten ein so schmackhaftes Getränk genossen zu haben. Vielleicht hatte der Kerl im schwarzen Umhang noch mehr davon im Keller. Das war besser als Wasser. Er wartete, bis der Burgherr gekostet hatte, dann begann auch er zu essen. Das Gespräch wurde ein wenig schleppender, aber es schlief nicht völlig ein. »Ich verspürte Freude, als ich euer Schiff in die Bucht einkreuzen sah, Matzumo, obwohl die Nennung deines Namens in meinem Unterbewußtsein keine guten Erinnerungen weckt. Jemand muß mir von dir berichtet haben, aber ich habe es wohl vergessen.« »Man redet viel«, wich Matzumo aus. »Von dir jedenfalls hörte ich noch nie.« Das war eine versteckte Frage, aber Quetzol reagierte nicht. Die Piraten schmatzten und rülpsten, daß es eine wahre Freude sein mußte, ihnen zuzuhören. Es dauerte auch nicht lange, bis die Schüsseln geleert waren. Sie wurden nicht wieder gefüllt, denn jeder war satt und zufrieden. Mit einiger Besorgnis stellte Matzumo jedoch fest, daß die Krüge mit dem Wein immer voll blieben, soviel man auch trinken mochte. Niemand kam, um sie aufzufüllen, und doch trockneten sie nicht aus. Einige der Männer zeigten schon deutliche Anzeichen beginnender Trunkenheit. 67
Quetzols Gesicht blieb ausdruckslos. Er leerte einen Becher nach dem anderen, und erst jetzt fiel es Matzumo auf, daß die Becher aus reinem Silber bestanden. »Das alles geht nicht mit rechten Dingen zu«, sagte er nach dem fünften Becher Wein. »Quetzol, du bist ein Magier! Niemand füllt die Krüge nach, und trotzdem werden sie niemals leer.« Quetzol nickte. »Richtig, ich bin ein Magier, und du bist ein Pirat. Ich habe es von Anfang an gewußt. Man nennt dich den ›Schrecken der Meere‹, ist es nicht so?« »Woher weißt du das?« »Ich sagte doch schon, daß ich ein Magier bin. Es gibt nur wenige Dinge, die mir verborgen bleiben. Du solltest deine Absicht, mich zu berauben, aufgeben, Matzumo.« Der Piratenkapitän schwieg für eine Weile. Er versuchte, eine vernünftige Erklärung für das Wissen des Magiers und die ewig gefüllten Weinkrüge zu finden. Letzteres konnte ein einfacher Trick sein, der nur wenig mit Zauberei zu tun hatte. Und daß Quetzol seine Absicht erraten hatte, war ebenfalls kein großes Wunder. Den Namen Matzumo konnte er von einem Seemann erfahren haben, den ungünstige Winde an diese Küste verschlagen hatten. Balecos nagte unschlüssig an einem Knochen und warf ihn endlich auf den silbernen Teller zurück. Er trank einen Schluck Wein und sah seinen Kapitän fragend an. Matzumo gab den Blick mit einer Warnung zurück und studierte seine dreißig Piraten. Von ihnen sah keiner mehr so aus, als könne er noch einen entscheidenden Schwertstreich tun. Ein paar von ihnen waren bereits eingeschlafen. Ihre Köpfe lagen auf dem Tisch neben Speiseresten und vergossenem Wein. 68
»Du tust uns unrecht«, meinte Matzumo schließlich, als er einsehen mußte, daß es noch zu früh für einen plötzlichen Handstreich war. »Der Mann, der dir das alles erzählte, war ein Lügner. Wir haben niemals die Absicht gehabt, dich zu berauben. Wir hätten dir sogar Gastgeschenke mitgebracht, wenn wir sicher gewesen wären, jemanden hier vorzufinden. Doch das läßt sich nachholen. Wirst du uns ein Nachtlager gewähren, Quetzol?« Der Mann, der sich einen Magier nannte, nickte. »Ihr seid meine Gäste, ich betonte es schon. Die Schlafgemächer stehen euch zur Verfügung, und wenn ihr euch nicht zu trennen wünscht, könnt ihr den großen Saal benutzen, den ich dir dann zeigen werde. Doch nun trinke, Matzumo, Schrecken der Meere, denn ich erhalte nur selten Besuch ...« Matzumo hielt es für klüger, den Mund zu halten und zu trinken, wenn ihm Quetzol auch immer unheimlicher wurde. Wenn er wirklich ein Magier war, mußte er über ungeheure Schätze verfügen, die irgendwo in der Burg verborgen waren. Aber brauchte ein Zauberer wirklich irdische Güter, um nach seinen Wünschen leben zu können? Sicherlich nicht, also waren sie auch für ihn überflüssig. Man konnte sie ihm abnehmen, ohne ihm einen Schaden zuzufügen. Vielleicht tat man sogar noch ein gutes Werk. Er schwankte bedenklich, als Quetzol sich erhob und das Festmahl beendete. Mit unsicheren Schritten folgte er dem Magier. Balecos kümmerte sich um die Piraten, die sich gegenseitig stützen mußten. Einer nahm sogar einen silbernen Krug mit und verbarg ihn unter seinem Lederwams. Sie betraten einen von nur wenigen Fackeln halb erleuchteten Saal, dessen Boden mit Tierfellen bedeckt war, 69
die ein bequemes Lager versprachen. Unmittelbar daneben befand sich ein Raum, der alle Toilettenbedürfnisse befriedigte und sogar fließendes Wasser hatte, das aus einem Metallrohr kam und in einen Schacht floß. »Verlaßt diese beiden Räume nicht«, bat Quetzol, als er sich verabschiedete. »Die Burg ist groß, und man kann sich leicht verirren. Vor vielen Sommern befolgte einer meiner Gäste diesen Rat nicht. Ich fand ihn im nächsten Winter verhungert in einem wenig benutzten Gang.« Matzumo hätte ihn gern gefragt, warum er als Magier diesen unglücklichen Besucher nicht hatte »sehen« und damit retten können, aber er schwieg. Zuviel war schon an diesem Abend auf ihn eingestürmt, mit dem er fertig werden mußte. Der morgige Tag würde die Entscheidung bringen. Als Quetzol gegangen war, ging er zu dem Piraten, der den Krug mitgenommen hatte. »Gib ihn her!« befahl er. Er war bis zum Rand mit dem köstlichen Wein gefüllt. Matzumo nahm ihn mit in den Nebenraum und leerte ihn aus. Es kam kein neuer Wein nach. Die Zauberkraft war verlorengegangen, als Quetzol sich zurückgezogen hatte. Der Trick funktionierte nicht mehr. »Immerhin reines Silber«, murmelte Matzumo beruhigt und verbarg den Krug unter seinen Fellen, ehe er sich zur Ruhe legte. In der Nacht geschah nichts. Die Piraten schliefen ihren Rausch aus und erwachten, als die ersten Sonnenstrahlen durch die kleinen Fenster fielen. Matzumo war als erster munter, stand auf und sah aus einem dieser Fenster. Unter ihm war eine glatte, steile Felswand, die keinen Halt bot. Unten war das Meer, die Bucht und die JÄGER. 70
Mit Flüchen trieb er seine Männer vom Lager hoch und jagte sie unter das kalte Wasser. Für das, was er plante, konnte er keine Trunkenbolde gebrauchen. Noch während des Frühmals sollte Quetzol das Versteck seiner Schätze verraten, und dann durfte er sterben. Nur eine einzige Frage war ihm die halbe Nacht im Kopf herumgegangen: Wenn Quetzol wirklich ein Magier sein sollte, konnte er dann getötet werden? Er entsann sich alter Geschichten, die von Zaubermitteln erzählten, mit denen einem Magier beizukommen war. Eines davon sollte ein in frisches Blut getauchter Pfeil sein, ein Messer oder auch ein Schwert. Doch das Blut mußte noch warm sein. Matzumo überlegte hin und her, bis er eine Lösung des Problems fand. Aus sehr verständlichen Gründen konnte er jedoch niemand einweihen, sondern nur dafür sorgen, daß der richtige Mann beim Frühstück an seiner Linken saß, denn rechts von ihm würde wieder Quetzol Platz nehmen, am Kopf des Tisches. Die Sonne war schon hoch am Himmel, als der Burgherr erschien. »Das Mahl ist bereitet«, verkündete er und fragte, wie man geschlafen habe. Als er die entsprechende Auskunft erhalten hatte, fuhr er fort: »In den nächsten Tagen werden Stürme aufkommen und viele Schiffe werden auf Grund laufen oder noch auf offener See kentern und sinken. Hunderte von Seeleuten werden sterben.« »Das weißt du?« »Ich bin Quetzol«, erwiderte der Burgherr selbstbewußt. Bei Tisch sorgte Matzumo dafür, daß einer der Piraten, der gestern am meisten getrunken hatte und noch halb betäubt war, links von ihm saß. Der Mann hing in seinem Stuhl, als wolle er jeden Augenblick seitlich her71
unterfallen. Das war genau das Opfer, das Matzumo zur Ausführung seines Vorhabens benötigte. Balecos war nicht eingeweiht worden. Auf dem Tisch standen wieder gefüllte Schüsseln mit Fleisch und Früchten, aber es gab keinen Wein, sondern ein seltsam schmeckendes heißes Getränk, schwarz, und erfrischend schon nach dem ersten Schluck. Matzumo aß nicht viel und trank nur wenig. Seine Hand tastete immer wieder zu dem Messer im Gürtel. Aber noch war die Zeit nicht gekommen. Er hatte noch einige Fragen an den Magier. »Das Silber, Quetzol, woher stammt es? Haben es dir die Eingeborenen gebracht? Es soll viel Silber und Gold im Südgebirge geben.« »Du liebst Gold und Silber?« fragte Quetzol erstaunt, »Es ist ein Metall wie jedes andere auch.« »Wir denken anders darüber. Sage uns, wie wir eine Schiffsladung davon bekommen können.« »Ich wußte von Anfang an, daß du meine Schätze haben wolltest, aber ich vermutete nicht, daß du Wert auf das silberne und goldene Metall legtest. Es gibt Dinge, die wertvoller sind.« »Und was, zum Beispiel?« Quetzol lächelte überlegen. »Euer Leben zum Beispiel.« Matzumas Hand zuckte voreilig zum Dolch, der lose im Gürtel steckte. Um keinen Verdacht zu erregen und seine Absicht frühzeitig zu verraten, ließ er sie dort, in der Nähe des Griffs. »Ist unser Leben denn in Gefahr?« Nun wurde auch Balecos aufmerksam. Er warf seinem Kapitän einen fragenden Blick zu, aber der reagierte nicht, sondern ließ den Magier nicht aus den Augen. 72
»Es ist in Gefahr, wenn du mir nach dem meinen trachtest, was ich in deinen Augen lesen kann. Es ist sinnlos, du kannst mich nicht töten.« »Ich werde es auch nicht versuchen, wenn du mir das Schiff mit dem Metall vollädst. Mehr verlange ich nicht.« »Die Burg ist voll davon. Aber du bekommst es nicht. Es ist ein Fluch damit verbunden.« »Flüche bedeuten mir nichts, Quetzol. Ich glaube nicht an sie.« »Trotzdem gebe ich dir nichts. Du hast mit deinen Piraten bei mir gegessen und getrunken, wie es das Gastrecht fordert. Du hast in meiner Burg geschlafen. Nun geh wieder, und lasse mir meinen Frieden.« Matzumo umschloß mit den Fingern den Griff des Dolches. »Ist das dein letztes Wort?« »Es ist mein letztes.« »Da kannst du recht haben«, rief Matzumo, riß den Dolch aus der Scheide und stieß ihn dem neben ihm sitzenden Piraten, der halb eingeschlafen war, in den Oberschenkel. Sofort zog er ihn wieder heraus, ehe der Überraschte auch nur eine Bewegung der Abwehr machen konnte, sprang auf und rammte die mit frischen Blut überzogene Schneide dem Zauberer in die Brust. Quetzol wollte sich erheben, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu. Der Angriff hatte ihn zu sehr überrascht. Ein normaler Dolch hätte ihn nicht einmal verletzen können, aber nun spürte er bereits die Schatten des Todes herannahen. Er war überlistet worden. Während sich Balecos um den verletzten Piraten kümmerte und die leichte Wunde verband, sagte Quetzol mit letzter Kraft, aber doch deutlich genug, daß es jeder im Saal verstehen konnte: 73
»Ihr Mördergesindel, und an erster Stelle du, Matzumo, hört den Fluch, mit dem ich euch belege! Er wird in Erfüllung gehen, in welchem Winkel der Erde ihr euch auch verkriechen mögt. Hört ihn und merkt ihn euch: Euch wird nichts geschehen, solange ihr wieder auf See seid, aber an der ersten Küste, der ihr euch nähert, wird euer Schiff zerschellen und untergehen. Nur wenige von euch werden überleben und sich an Land retten können. Und sie werden an Land bleiben müssen, denn eine furchtbare Angst vor dem salzigen Wasser wird sie erfüllen. Nie mehr werden sie die Planken eines Schiffes betreten. Die Nahrung des Landes aber wird für die Geretteten ungenießbar sein. Sie werden verhungern, wenn sie sich keine Nahrung aus dem Meer beschaffen, denn das wird die einzige sein, die sie noch zu sich nehmen können.« Er sackte ein wenig in sich zusammen und wurde noch bleicher, als er es ohnehin schon war. Mit den Händen hielt er sich am Tisch fest und sah Matzumo in die aufgerissenen Augen. »Du Schrecken der Meere, wie du dich nennst, wirst bald kein Schrecken für die anderen Menschen mehr sein. Du wirst froh sein, den Rest deines Lebens auf dem Land fristen zu dürfen, wenn du nicht beim Schiffbruch ertrinkst. Bis zu deinem Tod wirst du den Mord an mir bereuen ... bis zu deinem ... Tode ...« Der Kopf des Zauberers sank herab, die Hände ließen den Tisch los, und dann rutschte er haltlos aus seinem Holzsessel und fiel auf den Boden. Matzumo bückte sich, zog seinen Dolch aus der Brust des Ermordeten und säuberte ihn. Zu dem verwundeten Piraten sagte er: »Ich hatte keine andere Wahl, denn der Dolch mußte voll Blut sein, wenn ich ihn töten wollte. Du wirst eine reichliche Belohnung erhalten.« 74
Der Mann stand auf. Er hinkte und verzog das Gesicht vor Schmerzen. »Schon gut, Kapitän. Ich bin jetzt wieder nüchtern. Hat er wenigstens verraten, wo die Schätze liegen?« Matzumo lachte. »So gefällst du mir. Wenn nur alle unsere Männer so wären wie du! Los, wir suchen das Gold und das Silber, und dann bringen wir es zum Schiff. Die anderen werden schon auf uns warten.« Sie fanden das begehrte Metall in den Kellerräumen, die tief unter der Erde lagen. Niemand hinderte sie daran, es in den Hof zu bringen und in Bastkörbe zu laden, die in den Vorratsräumen standen. Sie vergaßen auch nicht, die Zauberkrüge mitzunehmen, die allerdings ihre Zauberkraft verloren hatten. Matzumo ging wieder an der Spitze, ihm folgten die dreißig Piraten mit den Körben. Balecos bildete die Nachhut, und diesmal hielt er sein Schwert in der Hand. Aber nichts geschah. Es schien in der Tat so gewesen zu sein, daß der Zauberer allein auf seiner Burg hauste. Vielleicht konnte er im Bedarfsfall hilfsbereite Geister zu seiner Unterstützung herbeirufen, aber wenn dem so gewesen war, hatten ihn seine Kräfte frühzeitig verlassen. Balecos mußte an den fürchterlichen Fluch denken, den er angesichts seines Todes ausgestoßen hatte. Es war ein merkwürdiger Fluch gewesen. An der ersten Küste, der sie sich näherten, sollte die JÄGER stranden, und keiner von ihnen sollte mehr den Wunsch verspüren, noch einmal zur See zu fahren. Trotzdem, so hatte Quetzol behauptet, würden sie sich nur noch von Dingen ernähren können, die aus dem Meer kamen. Vielleicht lag der eigentliche Fluch in diesem Widerspruch ...? 75
Bergab kamen sie schneller voran als am Vortag. Kurz nach Mittag bereits erreichten sie die Bucht und fanden ihre Boote unversehrt vor. Von der JÄGER herüber winkte Mauros und gab zu verstehen, daß alles in Ordnung sei. Matzumo ließ die Körbe mit Gold und Silber in die Boote verladen. Da der Bordrand nur noch eine Handbreit aus dem Wasser ragte, blieben die meisten Männer zurück. Sie würden später abgeholt werden. »Das war ein Raubzug, der sich lohnte«, meinte Balecos, der mit Matzumo im ersten Boot saß. »Zusammen mit der anderen Beute, die wir am Blauen See versteckten, dürfte es bald reichen, halb Neuatlantis aufzukaufen.« »Du sagst es!« stimmte Matzumo ihm bei. »Aber wir werden Neuatlantis nicht kaufen. Eines Tages wird Vodor es uns schenken, um seinen Frieden zu haben. Ich bringe ihn noch soweit.« Balecos erwiderte: »Vielleicht hast du recht, vielleicht auch nicht. Ich kann diesen Fluch nicht vergessen, den der Magier aussprach. Glaubst du, daß er in Erfüllung geht?« »Unsinn! Quetzol ist tot, und ein toter Magier ist nicht mehr wert als ein toter Pirat. Wir werden nach Norden segeln und in unserer Bucht ankern, um die Beute an Land zu bringen. Nichts wird geschehen, glaube es mir.« »Ich versuche dir zu glauben, und unsere Männer auch«, sagte Balecos voller Zweifel. »Stechen wir noch heute in See?« »Nein, erst morgen. Bei günstigem Wind könnten wir es in einem Tag bis zur Bucht im Felsigen Land schaffen. Der Wind muß noch mehr auf West oder gar Süden drehen, denn unser Kurs liegt direkt Nord-West.« 76
Die Körbe wurden entladen und in den Lagerraum gebracht. Dann holte man die an Land wartenden Piraten an Bord. Am nächsten Tag stand der Wind günstig. Er kam aus Westen und frischte im Verlauf des Vormittags auf. Die JÄGER machte gute Fahrt und nahm Kurs auf den linken Teil des Vogelkaps. Die See war unruhig, aber nicht unfreundlich. Die Wogen kamen lang und niedrig aus dem Endlosen Meer, dessen Horizont mit dem Himmel verschmolz. Matzumo und Balecos standen an Deck und beobachteten die Wasserfläche und suchten sie nach einem Segel ab. Jedes Segel bedeutete ein Schiff, und jedes Schiff konnte neue Beute verheißen. Aber es kam kein Segel in Sicht. »Sieh nur, eine Herde Delphine!« rief Balecos plötzlich und deutete nach Backbord. »Sie begleiten uns. Wenn das kein gutes Zeichen ist ...!« Matzumo gab keine Antwort. Angestrengt blickte er in die angegebene Richtung und kniff die Augen zusammen. Auf dem Meer kannte er sich aus, und selbst am Kamm einer Woge hätte er sagen können, ob ein Sturm bevorstand oder nicht. Solche Delphine jedenfalls hatte er noch nie gesehen. Er vermißte die typische Rückenflosse und das verspielte Springen der Tiere, die schon manchem Seefahrer das Leben gerettet hatten. Was er sehen konnte, waren nur Gischtspuren im Wasser, die manchmal von den Wellen überspült wurden, dann aber wieder zum Vorschein kamen. Kein Fisch, den er kannte, schwamm so. Eine zweite Herde begleitete die JÄGER auf der Steuerbordseite. Wütend rief Matzumo einen der Piraten zurück, der eine Angel über Bord werfen wollte. 77
Er entsann sich plötzlich der seltsamen Geschichten, die er schon als Knabe im Hafen von Neuatlantis gehört hatte. Fischmenschen sollte es in der Großen Bucht geben, und angeblich kamen sie aus dem Endlosen Meer. Es gab Seeleute, die ihnen schon begegnet waren und die sich mit ihnen unterhalten hatten. Niemand glaubte solche Geschichten, aber sie hielten sich hartnäckig. Sollte vielleicht doch etwas Wahres an ihnen sein? Wenn ja, dann konnte er mit einem gefangenen Fischmenschen einen unerhörten Preis erzielen, wenn er ihn auf dem Markt von Neuatlantis verkaufte – oder besser: verkaufen ließ. Denn er selbst konnte sich dort nicht mehr sehen lassen, ohne sofort getötet zu werden. Er schickte alle Männer von Bord, befahl ihnen aber, mit gezogenen Dolchen auf sein Zeichen zu warten. Dann nahm er ein Fetzen Segeltuch und begann zu winken. Balecos stand neben ihm und starrte ihn fassungslos an. »Bist du verrückt geworden, Matzumo? Winkst du den Fischen zu?« Matzumo winkte weiter, sagte aber: »Es sind keine Fische, Balecos! Es könnten Fischmenschen sein. Sie haben keine Flossen, und sie schwimmen so schnell wie die JÄGER. Ich versuche, sie heranzulocken.« Balecos gab keine Antwort. Wie sein Kapitän beobachtete er, was weiter geschah. Die beiden Herden kamen näher, aber noch immer zeigte sich niemand, weder ein Fischmensch noch ein Delphin. Nur die weißen Spuren blieben, während die JÄGER gute Fahrt machte und das Festland jeden Augenblick auftauchen konnte. 78
Beide Männer fuhren herum, als sie plötzlich ein Platschen und dann ein schnaubendes Geräusch hörten. Sie starrten in das Gesicht eines völlig nackten Menschen mit bleicher Hautfarbe, langen und hellen Haaren, Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen – und Kiemen hinter den Ohren. Ein Fischmensch! Matzumo faßte sich schnell und geistesgegenwärtig. »Willkommen an Bord«, sagte er, und er hoffte, der andere würde ihn verstehen. Angeblich verstanden sie ja die Sprache der Neuatlanter. »Wir sind erfreut über deinen Besuch.« »Meine Freunde und ich wollen dich warnen«, entgegnete der Fischmensch mit rauher Stimme. »Ein Sturm wird kommen und euch gegen die Küste treiben, die im Norden liegt.« »Dorthin wollen wir. Und vor dem Sturm fürchten wir uns nicht. Wollt ihr nicht zu uns an Bord kommen?« »Warum?« »Als unsere Freunde und Gäste. Auch euch wird der Sturm nicht willkommen sein. Wir bringen euch in eine sichere Bucht mit klarem, fischreichen Wasser.« Der Fischmensch stand an der Reling, jederzeit bereit zum schnellen Sprung zurück in sein Element. Sein Mißtrauen war offensichtlich. »Wenn ich meine Freunde bitte, an Bord eueres Schiffes zu kommen, dann nur deshalb, um euch helfen zu können, wenn ihr im Sturm zu Schaden kommt. Ich werde sie holen.« Mit einem Satz sprang er über die Reling und verschwand in den Fluten. Balecos holte tief Luft: »Es gibt sie wirklich! Und warum hast du sie gebeten, an Bord zu kommen?« »Um sie einzufangen. Die Leute sind bereit.« 79
Balecos widersprach nicht. Ein Fischmensch, das wußte auch er, war auf dem Sklavenmarkt sein Gewicht in Gold wert. Matzumo instruierte seine Piraten, dann erwartete er die seltsamen Besucher, die kurze Zeit darauf an der ausgeworfenen Strickleiter an Bord kletterten. Es waren zwanzig Fischmenschen, die sich auf dem Vorderdeck zusammendrängten. Sie fühlten sich sicher, denn wann immer sie wollten, konnten sie zurück ins Meer springen und waren in Sicherheit. Matzumo begrüßte sie mit überschwenglicher Freundlichkeit und lud sie zu einem großen Fest ein, das in der Kapitänskajüte stattfinden sollte. Zögernd nur nahmen seine Gäste an, ließen sich aber dann doch überreden. Wahrscheinlich gab ihnen die im Wasser verbliebene Herde ein Gefühl der Sicherheit, deren weiße Gischtspuren auch in der höhergehenden See nicht zu verlieren waren. Kaum in der Kajüte fielen die Piraten über die Fischmenschen her. Im Nu waren sie überwältigt und gefesselt. Keiner von ihnen wurde verwundet, denn sie waren unbewaffnet. Matzumo betrachtete seine Gefangenen mit Wohlwollen. »Ihr werdet einen stolzen Preis bringen, meine Freunde. Keine Sorge, ich werde euch bald wieder freilassen, und ihr werdet freiwillig mit mir kommen.« Er betrachtete sie prüfend, dann nickte er. »Ja, ihr habt die gleiche Gestalt und Form wie wir. Das paßt ausgezeichnet. Balecos, hol die Kopfkäfige aus dem Stauraum.« »Die Kopfkäfige?« »Ja, was sonst? Ohne unsere Hilfe werden sie keine Nahrung mehr zu sich nehmen können und verhungern. Den Schlüssel zu den Schlössern habe nur ich! Selbst 80
wenn sie über Bord springen, werden sie unserem Schiff folgen und uns anbetteln, sie wieder aufzunehmen. Sie wollen essen, aber sie können es nur dann, wenn wir ihnen die Käfige abnehmen. Los, beeile dich!« Balecos und einige Piraten brachten die verlangten Käfige. Sie waren so konstruiert, daß man zwar sehen, aber weder essen noch trinken konnte, wenn sie einmal fest am Hals verschlossen waren. Voller Genugtuung erklärte Matzumo seinen Gefangenen die Funktion der Kopfkäfige und ließ sie ihnen dann anlegen. Danach sagte er: »Meine Freunde, ich gebe mir nicht die Mühe, euch unter Deck gefangenzuhalten. Ihr könnt euch nach Belieben auf dem Schiff bewegen und auch schwimmen gehen, aber kommt zu uns zurück, wenn ihr Hunger habt. Der Tisch ist stets für euch gedeckt. Vielleicht behalte ich euch auch und verkaufe euch nicht. Ich glaube, wir können euch gebrauchen.« »Du hast uns betrogen«, murrte einer der Gefangenen. »Sicher habe ich das«, gab der Pirat unumwunden zu. »Aber ich habe euch nicht getötet, wie es viele an meiner Stelle tun würden. Ich werde euch sogar füttern, wenn euch hungert. Und nun geht.« Er begleitete sie an Bord und sah zu, wie sie – einer nach dem anderen – über die Reling glitten und im Wasser untertauchten. Balecos trat zu ihm, »Und du meinst wirklich, daß sie zurückkommen? » »Natürlich kommen sie zurück, wenn sie nicht verhungern wollen. Ohne mich können sie weder trinken noch essen. So haben wir Gefangene, die sich frei bewe81
gen können und auf die wir nicht aufpassen müssen. So dressiert, werden sie einen Traumpreis erzielen.« »Sicher«, nickte Balecos, absolut nicht überzeugt. »Wenn sich der Fluch des Magiers nicht erfüllt, und wenn wir uns auf dem Markt von Neuatlantis sehen lassen können.« Der Wind kam noch immer aus Westen und wurde stärker. Am Horizont türmten sich dunkle Wolken und kamen näher. Der von Quetzol prophezeite Sturm braute sich bereits zusammen. Im Ausguck deutete der Pirat nach vorn. »Land in Sicht! Das muß das Felsige Land beim Vogelkap sein!« Von Bord aus war es noch nicht zu sehen. Balecos hatte vorsichtshalber zwei Mann ans Ruder beordert und ging zu Matzumo, der vorn am Bug stand und mit finsterer Miene abwechselnd die Wolken und den nördlichen Horizont beobachtete. Hinten am Bug kletterten zwei der Fischmenschen über die Reling und kauerten sich hinter die Aufbauten. »Es wird Zeit, daß wir die Bucht anlaufen, Matzumo.« Der Pirat preßte die Lippen zusammen. »Du sagst es, Balecos! Es wird höchste Zeit. Wenn der Sturm erst einmal losbricht, ist es zu spät. Wir würden niemals die Einfahrt finden. Es gibt zu viele Riffe. Wir müssen auch den letzten Fetzen Segel setzen.« »Ist bereits geschehen. Eine Bödarf jetzt nicht kommen ...« Inzwischen kletterten immer mehr Fischmenschen an Bord, bis alle zwanzig Gefangenen zusammen waren. Matzumo hielt sein Wort. Da seine Gefangenen ihre Mahlzeit selbst mitgebracht hatten, brauchte er nur ihre Kopfkäfige einzeln zu öffnen und sie essen zu lassen. 82
»Seht ihr, wie fein das geht?« erkundigte er sich spöttisch. »Ihr werdet niemals hungern müssen und habt sogar eure Freiheit. Ich will euch nun sagen, wozu ich euch benötige. Viele Schiffe, die mit wertvollen Gütern beladen sind, gehen in Stürmen unter oder laufen auf ein Riff. Sie liegen in so großer Tiefe, daß wir nicht zu ihnen hinabtauchen können, aber ihr könnt es. Ihr werdet also für uns tauchen und alles heraufholen, was für uns von Wert ist.« Er bekam keine Antwort. Achselzuckend wandte er sich ab und kehrte zum Bug zurück. In diesem Augenblick tauchte auch für ihn das Festland am Horizont auf, aber die Wolken waren bereits über dem Schiff. Der Wind wurde zum Sturm. Notgedrungen mußte Matzumo einige der Segel reffen lassen. Angestrengt blickte er durch den Gischtregen und suchte nach Landmarken. Das eigentliche Kap lag weiter rechts. Die Einfahrt in die Bucht mußte sich links davon befinden, vier oder fünf Meilen vielleicht. Das Schiff glitt genau darauf zu. Balecos hatte außer der Freiwache alle Mann an Deck gerufen. Die JÄGER lag so schräg, daß die Steuerbordreling vom Wasser überspült wurde. Die gefangenen Fischmenschen waren nicht ins Meer zurückgekehrt. Zusammengekauert hockten sie an Backbord und hielten sich an allem fest, was sie erreichen konnten. Angst hatten sie nur um die Piraten, denn wenn die starben, mußten sie verhungern. Als unter dem Kiel, der bei der Schräglage des Schiffes ohnehin schon weniger Tiefgang als sonst hatte, über Grund knirschte, wurde Matzumo blaß. Aber dann war auch das vorbei und das Riff überfahren. Noch einmal war es gutgegangen. 83
Das zweite Mal jedoch nicht. Inzwischen war der Sturm so gewaltig geworden, daß die JÄGER fast ohne Segel noch wie ein Pfeil die Wogen durchschnitt. Brecher stürzten über das ganze Vorderdeck, und die Wassermassen drangen in das Innere ein. Vier Piraten wechselten sich beim Lenzen ab. Die anderen wurden von Matzumo und Mauros so beschäftigt, daß ihnen keine Zeit zum Denken blieb. Das Schiff raste auf die Einfahrt der Bucht zu und mußte nur noch die vorgelagerten Riffe passieren. Es fiel Balecos schwer, den Kurs zu halten, obwohl ihm zwei Mann dabei halfen, das Ruder zu halten. Und dann war es soweit. Mit einem ungeheuren Krach fuhr das Schiff auf ein unter der bewegten Wasseroberfläche verborgenes Riff. Der Aufprall war so gewaltig, daß der Kiel brach und völlig zersplitterte. Sofort legte sich die JÄGER auf die Seite und nahm soviel Wasser, daß sie sich nicht mehr aufrichten konnte. Hilflos trieb das steuerlose Wrack auf die nächsten Felsen zu. Eine riesige Woge packte es, hob es in die Höhe und ließ es dann mit aller Wucht fallen. Das war das Ende der JÄGER. Angesichts des nahen Landes barst sie in zwei Teile, die von den erbarmungslos zuschlagenden Wellen vollends zertrümmert wurden. Matzumo hatte den Halt verloren und wurde über Bord geschleudert. Während er noch verzweifelt versuchte, an die Oberfläche emporzutauchen, fühlte er plötzlich zwei Arme um sich, die ihn sicher packten und emporzogen. Sekunden später tat er einen tiefen, befreienden Atemzug. Ein Fischmensch schleppte ihn durch die Strudel, bis sie endlich ruhigeres Wasser erreichten. 84
Matzumo sah schweigend zu, wie sein stolzes Schiff – oder das, was von ihm übrig geblieben war – von den tobenden Wogen verschlungen wurde. Rechts und links von ihm tauchten die Köpfe einiger Piraten auf, daneben jene der Fischmenschen. Balecos rief heiser: »Sie haben uns gerettet, Kapitän!« Matzumo schnappte nach Luft, ehe er zurückrief: »Sie wissen schon, warum!« Der Fischmensch, der ihn hielt, sagte: »Du wirst uns die Käfige abnehmen?« »Bring mich erst an Land!« »Und dann wirst du sie uns abnehmen?« »Ihr werdet nicht für alle Zeiten damit leben müssen«, erwiderte Matzumo vage. Diesmal bekam er keine Antwort, aber das Wasser wurde ruhiger. Sie näherten sich der Küste. Als er endlich Grund unter den Füßen verspürte, richtete er sich auf und blickte angestrengt in die Bucht. Immer mehr Köpfe tauchten im Wasser auf. Balecos war dabei, auch Mauros. Dann noch etwa zwanzig Piraten. Von den restlichen sah er keine Spur. Sie mußten alle ertrunken sein. Mühsam schleppte er sich an Land und warf sich in den Sand. Seinen Retter beachtete er nicht. Es war ihm unbegreiflich, warum sie gestrandet waren. Balecos hatte die JÄGER schon mindestens ein Dutzend Mal in diese Bucht hineingesteuert, ohne auch nur ein Riff zu streifen. Selbst bei dem Sturm heute hätte das Unglück nicht geschehen dürfen. Ob der Fluch Quetzols wirklich solche Kraft besaß, daß die bösen Geister ihn verwirklichten? Mühsam richtete er sich auf, als ein Fischmensch den total erschöpften Balecos dicht neben ihn auf den Sand legte. Der Erste Offizier mußte eine Menge Wasser ge85
schluckt haben, denn er erbrach sich mehrmals, ehe er endlich sagen konnte: »Das war nicht mein erster, aber mein schlimmster Schiffbruch. Ich kann es nicht begreifen ...« »Der Magier Quetzol!« knurrte Matzumo. »Ein Glück, daß wir unser Versteck in der Nähe haben. Wieviele unserer Leute mögen ertrunken sein?« Sie wußten es, als die Fischmenschen noch einmal zu dem Riff zurückschwammen und mit leeren Händen zurückkamen. Sie hielten es nicht für notwendig, die Leichen der Ertrunkenen einzusammeln. Insgesamt waren außer Matzumo noch zweiundzwanzig Mann der Besatzung gerettet worden. Das war alles. Der Pirat ließ ihnen Zeit, sich zu erholen, dann mahnte er zum Aufbruch. Zu den Fischmenschen sagte er: »Begleitet uns. Ihr werdet landeinwärts einen wunderschönen See vorfinden, der allein euch gehört. Wir werden später entscheiden, was mit euch geschieht.« Wieder blieben sie die Antwort schuldig. Schweigsam schlossen sie sich den Piraten an, die dem Lauf des Baches folgten. Unten am Strand wurden die ersten Wrackteile der JÄGER angespült ... Noch am gleichen Tag mußte Matzumo erkennen, daß Quetzols Fluch sich voll und ganz erfüllte. Als die Überlebenden endlich das grüne Felsental erreichten und sich mit Heißhunger auf die Lebensmittelvorräte stürzten, die sie in kühlen Höhlen gelagert hatten, erlebten sie eine fürchterliche Überraschung. Zwar konnten sie Zwieback und getrocknetes Fleisch herunterschlingen, aber es wurde ihn bereits Minuten danach so übel, daß sie sich übergeben mußten. Keiner 86
behielt die Speisen bei sich, außer Mauros, der Trockenfisch gegessen hatte. Am zweiten Tag entschloß sich Matzumo, zum Strand zu gehen, um die angespülten Trümmer der JÄGER zu untersuchen. Vielleicht ließ sich damit ein Floß zusammenbauen, mit dem man einem anderen Segler eine Komödie vorspielen konnte. Man würde sie für Schiffbrüchige halten und aufnehmen. Danach würde es ein Kinderspiel sein, die Vertrauensseligen zu überwältigen und den Segler in Besitz zu nehmen. Aber nun erfüllte sich auch der Rest von Quetzols Fluch. Kaum erblickte Matzumo das Meer, als ihn ein furchtbarer Ekel packte, zu der sich eine unbeschreibliche Furcht gesellte. Ihm wurde fast übel, als er die heranrollenden Wogen sah, die sich an den Felsen des kleinen Kaps oder draußen an den Riffen brachen. Seinen Begleitern erging es ebenso. Keiner von ihnen hätte es gewagt, das salzige Wasser auch nur zu berühren. Aber sie konnten nur noch das essen, was aus dem Meer kam. Nun erst erkannte Matzumo das Teuflische am Fluch des Magiers. Sie mußten Fische fangen, wollten sie nicht verhungern, aber keiner von ihnen war fähig dazu, denn eine unüberwindbare Scheu vor dem Wasser des Meeres hielt sie in ihrem Bann. »Die Fischmenschen!« sagte Matzumo schließlich. »Ein Glück, daß wir sie vor dem Schiffbruch fingen. Sie können uns retten. Wir werden sie zum Fischfang ausschicken, und sie müssen zu uns zurückkehren, wenn sie nicht selbst verhungern wollen. Vielleicht ist es ihnen auch möglich, mir ein Mädchen zu bringen, damit 87
ich dem Kult der Gelben Schlange frönen kann. Es wird Zeit, wieder ein Opfer zu finden ...« Hungrig und übelgelaunt kehrten die Piraten zum Felsental zurück, wo Matzumo den Fischmenschen erklärte, was sie zu tun hatten. Zehn von ihnen schickte er los, während die restlichen im See blieben. Auch in ihm gab es Fische, aber es waren Süßwasserfische, und die konnten die Piraten nicht essen. Trotz der bösen Erfahrungen, die mit Quetzol zusammenhingen, ließ Matzumo seine Gefangenen in den nächsten Wochen nach den Körben mit Silber und Gold tauchen. Schon wenige Tage später häuften sich die Reichtümer am Strand, von wo aus sie in das sichere Versteck im Tal, geschleppt wurden. Obwohl für immer aufs Land verbannt, begann Matzumo, dem neuen Leben Geschmack abzugewinnen. Er besaß nun Reichtümer wie selten jemand vor ihm, wenn sich im Augenblick auch noch nichts damit anfangen ließ. Doch eines Tages, so schwor er sich, würde er nach Neuatlantis zurückkehren. Bis dahin war so viel Zeit vergangen, daß ihn niemand wiedererkennen konnte. Sie würden ihn alle für tot halten, außerdem war sicher, daß es dann niemand mehr wagte, ihm eine entsprechende Frage zu stellen. Er war reich, unermeßlich reich, und selbst Vodor sollte vor ihm in die Knie gehen. Mit derartigen Wunschträumen wurde das Leben erträglicher. Die Fischmenschen besorgten die Nahrungsmittel, und als eine der gelegentlichen Landexpeditionen mit gefangenen Frauen der Eingeborenen zurückkehrte, begann sich Matzumo sogar richtig wohl zu fühlen. Dann allerdings erlebte er eine bittere Enttäuschung. Unter den gefangenen Frauen suchte er sich die jüngste und hübscheste aus, denn er spürte, daß seine Kräfte 88
nachließen. Er führte das Mädchen in seine Hütte, um das Ritual des Lebenstrinkens an ihm zu vollziehen. Es gelang ihm nicht. Er spürte keine Veränderung oder eine Zunahme seiner Kräfte. Er wurde nicht mehr verjüngt. Im Gegenteil, als er die Hütte verließ, war sein Gesicht von neuen, tiefen Falten durchfurcht. Dieser Zustand war jedoch nicht von langer Dauer. Statt des Mädchens nahm er einen der Fischmenschen, und diesmal hatte das Ritual positive Folgen. Also auch hier: nur was aus dem Meer kam ... Immerhin, er hatte ja seine Gefangenen, die aus dem Meer kamen, und eines Tages würde er es mit einem Neuatlanter versuchen, der lange genug auf See gewesen war. Aus den Wochen wurden Monde, und schließlich waren zwei Sommer und Winter vergangen. Wieder einmal hatte Matzumo seine Fischmenschen zum Fang geschickt, und er war nicht wenig erstaunt, als sie statt mit der üblichen Beute mit einer Gefangenen zurückkehrten. Das Mädchen hatte eine rotbraune Hautfarbe, aber ihre Gesichtszüge waren nicht mit denen der gefangenen Quesafrauen zu vergleichen. Sie waren edel geschnitten und zeugten von ebensolcher Abstammung. Da sie »aus dem Meer« kam, beschloß Matzumo, es mit ihr zu versuchen. Er gab Befehl, seine Hütte für das Ritual vorzubereiten. Noch ahnte er nicht, in welches gefährliche Abenteuer er sich da stürzte ...
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5.
Nachdem die Kanuks unterrichtet waren, blieben Dragon, Alnar und der schwarze Panther noch in ihrer Deckung liegen, um das Lager der Piraten zu beobachten. Sie wollten Silberbär auch Zeit lassen, einen Boten zur Bucht zu schicken, um die dort Zurückgebliebenen von Dragons Plan in Kenntnis zu setzen. Matzumo hatte die gefangene Taheta in seine Hütte sperren lassen und fütterte seine Fischmenschen. Im Verlauf der vergangenen zwei Sommer war auch diese Arbeit zur täglichen Routine geworden. Einzeln kamen sie zum Seeufer, wo er ihnen mit seinem Schlüssel, der mit einem Kettchen an seinem Gürtel befestigt war, den Kopfkäfig öffnete und ihnen fünf Minuten Zeit zur Nahrungsaufnahme ließ. Das normale Süßwasser des Sees konnten sie auch ohne seine Hilfe trinken. »Eine raffinierte Idee«, flüsterte Alnar. »Soviel Schlauheit hätte ich Matzumo gar nicht zugetraut. Wo mag er sie gefangen haben?« »Vielleicht hat er noch Zeit, es uns zu verraten«, gab Dragon leise zurück. »Ich weiß nur, daß die Wassermenschen – wir nennen sie die Tainu – an den Gestaden des großen Kontinentes im Osten leben. Vielleicht haben sie das große Meer überquert und gerieten hier in die Gewalt der Piraten. Wir werden auch sie befreien, denn sie sind unsere Freunde.« Inzwischen war die Sonne weiter nach Westen gewandert und näherte sich dem Horizont. Im Lager brannten die Feuer nun höher. Matzumo war zu seiner Hütte zurückgekehrt und ließ sich davor nieder. Er machte keine 90
Anstalten, sie zu betreten. Wahrscheinlich gehörte auch das lange Warten zu dem Ritual. Zwei Piraten schleppten Holz herbei und warfen es neben das lodernde Feuer. Dann entfernten sie sich wieder, um ihre Wache anzutreten. Sie postierten sich unweit des Dammes zwischen dem Lager und Dragon und seinen Begleitern. Es wurde langsam dämmerig. »Wie lange warten wir noch?« hauchte Alnar ungeduldig. »Nicht mehr lange. Sobald die Sonne den Bergrücken berührt, gehen wir ins Lager hinab. Silberbär und seine Krieger haben sich inzwischen verteilt. Siehst du ihn übrigens, Alnar?« »Nein. Du vielleicht?« »Dort unten, hinter den beiden Wachtposten. Er wird sie ausschalten, damit wir ohne Alarm ins Lager gehen können. Der Oberpirat soll wissen, daß niemand vor Überraschungen sicher sein kann – auch er nicht.« »Du willst ihm eine Lehre erteilen?« »Vor allen Dingen will ich ihn unsicher machen.« Silberbär schlich sich noch näher an die beiden Piraten heran, dann sprang er plötzlich blitzschnell auf und schlang jedem von ihnen einen Arm um den Hals, so daß sie keinen Warnruf mehr ausstoßen konnten. Wenig später hatte er sie überwältigt, tötete sie aber nicht. Er ließ sie einfach am Ort des Überfalls liegen und verschwand wieder in der beginnenden Dunkelheit. Dragon stieß Alnar an. »Es ist soweit! Ubali, du gehst zwischen uns. Wenn uns jemand angreifen will, fall über ihn her. Sie sollen gleich von Anfang an Respekt vor uns haben.« Sie erhoben sich und gingen auf das Lager zu. 91
Um Matzumos Hütte und Feuer zu erreichen, mußten sie ziemlich nahe an einem anderen Feuer vorbei. An ihm saßen vier Piraten und brieten Fische, die sie auf Holzspieße gesteckt hatten. Im ersten Augenblick achteten sie nicht auf die beiden Männer, die sie wohl für Gefährten hielten, doch dann erblickten sie den Panther, der mit geschmeidigen Bewegungen zwischen den beiden Männern ging. Einer von ihnen wollte aufspringen, wurde aber von den anderen an seinem Vorhaben gehindert. Sie hielten ihn fest und starrten wie hypnotisiert auf das seltsame Gespann, das ihr Lager betrat. Unangefochten erreichten Dragon und seine Begleiter Matzumos Lagerfeuer. Der dunkelbärtige Piratenkapitän starrte gedankenverloren in die Flammen und schien die Ankunft der Fremden nicht bemerkt zu haben. Dragon blieb stehen und räusperte sich. »Was willst du?« fragte Matzumo, ohne aufzublicken. Er mußte Dragon für einen seiner Männer halten. »Siehst du nicht, daß ich ungestört bleiben möchte?« »Matzumo, der ›Schrecken der Meere‹, wenn ich nicht irre«, sagte Dragon schleppend. »Willst du deine Gäste nicht willkommen heißen?« Matzumos Kopf kam mit einem Ruck hoch. Als er die beiden Fremden und den Panther sah, riß der Pirat seine Augen schreckerfüllt auf, aber er blieb sitzen und rührte sich nicht vom Fleck. Langsam nur kehrte die Farbe wieder in sein Gesicht zurück. »Wer seid ihr? Wie konntet ihr unbemerkt das Lager betreten?« Dragon gab Alnar einen Wink. Der junge Edelmann klopfte dem Panther beruhigend auf den Rücken und 92
setzte sich neben Dragon ans Lagerfeuer, dem Piraten gegenüber. »Du hast meine erste Frage noch nicht beantwortet.« »Schön, ich bin Matzumo, und ihr werdet es noch bereuen, hierher gekommen zu sein. Ich nehme an, ihr gehört zu dem Schiff, das meine Leute heute in der Bucht sahen. Ist der Panther gezähmt?« »Er greift nur auf meinen Befehl hin an«, beruhigte ihn Dragon. »Deine Sklaven mit den Schwimmhäuten haben ein Mädchen gefangengenommen. Wir sind hier, um sie zu holen.« Matzumo hatte sich inzwischen von seinem ersten Schreck erholt. Seine alte Frechheit und Unverfrorenheit kehrte allmählich zurück. Auch sah er, daß seine Piraten den unerwarteten Besuch bemerkt hatten und heimlich zu den Waffen griffen. Aber in dieser Hinsicht waren sie diszipliniert. Sie taten nichts ohne Befehl ihres Anführers. Die Frauen waren in ihren Hütten verschwunden. »So, ihr wollt die Gefangene befreien?« erkundigte er sich höhnisch. »Das dürfte nicht so einfach sein, Fremder.« »Und warum nicht?« »Weil ihr in meiner Gewalt seid. Mit eurem Panther werden meine Leute schon fertig. Sie haben bereits andere Ungeheuer zur Strecke gebracht.« »Wir bieten dir Geld«, warf Alnar ein. »Sehr viel Geld.« Matzumo grinste zufrieden. »So, du bietest Geld für das Mädchen? Dann scheint sie wertvoll für dich zu sein. Doch immer langsam, unbekannter Freund. Beantwortet mir erst eine Frage: Was ist mit den beiden Wächtern geschehen, die euch nicht bemerkt haben?« 93
»Sie schlafen, sind aber sonst wohlbehalten. Wir mußten sie unschädlich machen.« »Die beiden haben eine Bestrafung verdient«, stellte Matzumo fest. »Ihr aber auch. Mir wird schon etwas für euch einfallen. Ihr seid sicherlich geübte Kämpfer?« Dragon erriet die Absicht des Piraten. Er nickte. »Wir können uns unserer Haut wehren«, erwiderte er vorsichtig. »Du wirst es merken, wenn du deinen Leuten den Befehl gibst, uns zu überwältigen.« Matzumo lächelte wieder. Ein grausamer Zug war um seinen Mund. »Niemand wird in diesem Lager das Gastrecht verletzen, und ich erkläre euch zu meinen Gästen. Wenigstens bis morgen. Dann soll ein Kampf auf Leben und Tod stattfinden. Ihr werdet mit den beiden säumigen Wächtern kämpfen, und zwar mit dem Messer. Wenn ihr sie besiegt, was ich kaum annehme, seid ihr frei und könnt das Mädchen mit euch nehmen. Wenn ihr verliert – nun, dann bleibt alles so, wie es jetzt ist.« Es war klar, daß Matzumo seine beiden unerwarteten »Gäste« für Edelmänner von Neuatlantis hielt, und soweit es Alnar anbetraf, stimmte seine Vermutung auch. Schon aus diesem Grund war er davon überzeugt, daß seine Piraten die geübteren Messerkämpfer waren. Auf der anderen Seite hatte er durchaus nicht die Absicht, sein Wort zu halten. Sollten die beiden Fremden wider Erwarten doch siegen, würde er sie töten lassen, und den Panther dazu. Einer der Piraten kam herbei. Es war Balecos. Er ignorierte die Fremden und den Panther. »Matzumo, wir haben die beiden Wachtposten gefunden. Sie sind nur betäubt, kommen aber wieder zu sich. Was soll mit ihnen geschehen?« 94
»Sie werden morgen gegen diese Fremden kämpfen. Bis dahin sind sie als unsere Gäste zu betrachten, sage das auch den anderen. Der Panther ist harmlos, niemand soll sich vor ihm fürchten.« Balecos nickte stumm und verschwand wieder. Dragon überlegte, ob er schon jetzt das vereinbarte Zeichen zum Überfall geben sollte, entschloß sich aber dann noch zu warten, bis er von den verräterischen Absichten Matzumos überzeugt war. Es widerstrebte ihm, Menschen zu töten, die ihn nicht direkt angriffen. Nach längerem Schweigen fragte Matzumo: »Was spricht man in Neuatlantis von mir? Bin ich noch nicht vergessen?« Alnar erklärte: »Man hat den Schrecken der Meere noch nicht vergessen, Matzumo, aber man beginnt, die Furcht vor ihm zu verlieren. Manche sagen, er sei zu alt geworden, und viele kommen der Wahrheit sehr nahe, indem sie behaupten, er sei mit seinem Schiff, der JÄGER, an einer unbewohnten Küste gestrandet oder gar untergegangen. Es gibt manche, die dich für tot halten, Matzumo. Und vielleicht bist du das auch wirklich.« Der Pirat warf ihm einen bösen Blick zu, blieb aber ruhig. »Sie würden sich wundern, wie lebendig ich noch bin«, meinte er spöttisch. »Und vielleicht kehre ich eines Tages aufs Meer zurück, damit sie das Zittern wieder lernen. Das hat man nun davon, wenn man sie in Ruhe läßt! Gibt es sonst Neuigkeiten? Ihr müßt wissen, daß wir hier ein zurückgezogenes und friedliches Leben führen.« »Und das ganz freiwillig?« erkundigte sich Dragon, Matzumo starrte ihn finster an – und schwieg. 95
Wenig später erhob sich Dragon. »Hast du etwas dagegen, wenn ich einen Rundgang durchs Lager unternehme. Mein Gefährte bleibt bei dir, ich nehme nur den Panther mit.« Matzumo sah keine Gefahr für sich darin, dem Fremden den erbetenen Rundgang zu gestatten. Morgen würde er ohnehin sterben. »Du bist mein Gast und kannst dich frei im Lager bewegen. Aber verlasse es nicht. Meine Leute haben Befehl, dich zu töten, wenn du es versuchen solltest. Halte das Tier fest!« Alnar blieb sitzen. Er spürte Tahetas Nähe, ließ sich aber nichts anmerken. Er wußte, daß Dragon den in der Dunkelheit verborgenen Kanuks ein Zeichen geben wollte. Sie würden mit dem Überfall bis morgen warten. Dragon ging davon, an den anderen Lagerfeuern vorbei, bis er das Ufer des Sees erreichte. Er fand einen flachen Stein, auf den er sich setzte, die Feuer im Rücken. Sein Schatten fiel auf die matt schimmernde Oberfläche des Sees. Geduldig wartete er, bis er die weiße Gischtspur bemerkte, die sich ihm näherte, bis der Kopf eines Tainu sichtbar wurde. Er war von dem Gitterkäfig umschlossen, »Ich habe nicht umsonst gewartet«, flüsterte er Ubali zu, der unmittelbar neben ihm lag. Der Fischmensch stieg aus dem Wasser und näherte sich vorsichtig den beiden ungleichen Gestalten. Wenige Meter von ihnen entfernt ließ er sich nieder, jederzeit zum rettenden Sprung ins Wasser bereit. »Du brauchst keine Furcht zu haben«, flüsterte Dragon ihm zu. »Kannst du mich verstehen?« »Wir kennen eure Sprache. Du gehörst nicht zu den Piraten?« 96
»Nein. ich bin ihr Gefangener wie du, nur kann ich noch kämpfen. Berichte, wie ihr in die Gewalt Matzumos geraten seid.« Der Tainu erzählte die Geschichte ihrer heimtückischen Gefangennahme und daß sie nun seit mehr als zwei Sommern die hilflosen Sklaven der Piraten seien. Einmal schon hätten sie versucht, sich zu befreien und Matzumo den Schlüssel für die Käfige abzunehmen, aber es war bei dem ergebnislosen Versuch geblieben. Der Pirat hätte sie alle töten lassen, wenn der Fluch nicht gewesen wäre, der ihn und seine Männer dem Hungertod preisgegeben hätte. Dragon flüsterte ihm zu: »Wartet bis morgen, dann werdet ihr frei sein. Und nun kehre zu deinen Freunden zurück und bereite sie vor. Kommt nicht aus dem Wasser. Kommt auch dann nicht, wenn die Piraten es euch befehlen. Wartet bis zum Mittag.« »Ich werde tun, was du verlangst. Wir halten es zwei oder drei Tage ohne Nahrung aus, aber dann müssen uns die Käfige abgenommen werden.« »Sie werden euch morgen für immer abgenommen werden«, versprach Dragon. Lautlos glitt der Tainu ins Wasser und verschwand unter der Oberfläche. Dragon wandte sich an Ubali: »Gehen wir zu Alnar und Matzumo zurück. Du wirst in dieser Nacht wachbleiben müssen, falls wir am Feuer einschlafen. Aber wir können uns auf Silberbär verlassen. Er wird uns die ganze Nacht beobachten.« Die Piraten an den Feuern, an denen sie vorbeigingen, sahen ihnen mit scheuen Blicken nach. Matzumo selbst nickte nur, als Dragon sich wieder auf seinen alten Platz setzte. 97
»Nun, Rundgang beendet? Zufrieden?« »Deine Männer sehen nicht sehr vertrauenerweckend aus, aber das ist wohl kaum anders zu erwarten. Wir sind deine Gäste, wo werden wir schlafen? In einer der Hütten?« »Ihr könnt hier am Feuer bleiben. Die Nächte sind warm. Auch ich werde draußen schlafen, damit meine Gefangene morgen ausgeruht und frisch ist.« Alnar bemühte sich, ruhig und gelassen zu bleiben. Er ahnte, was der Pirat mit Taheta vorhatte, aber dazu sollte er keine Gelegenheit mehr haben. Matzumo kontrollierte noch einmal die neu aufgestellten und verdoppelten Wachen, dann streckte er sich auf einem Fell neben dem Lagerfeuer aus. »Schlaft«, riet er. »Auch ihr habt Ruhe nötig, wenn ihr morgen nicht gleich beim ersten Waffengang unterliegen wollt.« Wenig später verkündeten Schnarchtöne, daß er eingeschlafen war. Dragon und Alnar wickelten sich ebenfalls in Felle, während der Panther Ubali ein wenig abseits im Schatten der Hütte lag und Wache hielt. Die Nacht verlief ohne den geringsten Zwischenfall. Kaum war die Sonne aufgegangen, begann es sich im Lager der Piraten zu regen. Die Quesafrauen kamen zum Vorschein, fachten die Feuer wieder an und schleppten Holz und Wasser herbei. Matzumo rollte sich aus seinem Fell und begrüßte seine »Gäste« mit einem mürrischen Knurren. Er schlang einen gebratenen Fisch herunter, dann ließ er die beiden Wachen zu sich bringen. »Früher hätte ich euch hängen lassen«, fuhr Matzumo sie an, »aber ich gebe euch die Möglichkeit, euren Fehler wieder gutzumachen. Diese beiden Fremden konn98
ten wegen eurer Unaufmerksamkeit das Lager betreten, und wenn sie nicht allein gewesen wären, hätten sie uns sogar überfallen und alle töten können. Zur Strafe müßt ihr um euer Leben mit ihnen kämpfen. Seid ihr dazu bereit?« Sie nickten stumm. »Gut«, fuhr Matzumo fort »He, Balecos, bringe zwei Messer!« »Wir kämpfen lieber mit unseren eigenen Waffen«, protestierte Dragon und deutete auf seinen schmalen Dolch. »Die schweren Messer sind wir nicht gewohnt.« »Hier bestimme ich!« fuhr Matzumo um an. »Ihr nehmt unsere Messer, oder ihr sterbt sofort.« Dragon legte sein Schwert Almunir ab, ebenso den Dolch. Seinen Schild hatte er bei Silberbär zurückgelassen. Widerwillig fast nahm er das Messer in Empfang, das Balecos ihm reichte. Prüfend wog er es in der Hand, ehe er es in den Gürtel schob. Auch Alnar bekam ein solches Messer. Er besaß keine Kampferfahrung in dieser Hinsicht und warf Dragon einen besorgten Blick zu. Ubali lag neben dem Feuer und schien zu schlafen. Als Dragon in Richtung des Dammes sah, erkannte er für einen Augenblick den Kopf eines Kanuks, der im tiefen Gras lag und die Szene beobachtete. Er hob die Arme und reckte sich. Das war das Zeichen für erhöhte Alarmbereitschaft. »Wer will zuerst kämpfen?« fragte Matzumo. Dragon trat vor. »Ich werde zuerst kämpfen. Wer ist mein Gegner?« Einer der beiden Piraten zog sein Messer und richtete die Spitze auf Dragon. »Ich, Fremder. Du kennst die Bedingungen. Alle Mittel sind erlaubt, und der Kampf ist erst dann been99
det, wenn einer von uns tot ist.« Auch Dragon zog sein Messer. »Gut, dann fange an!« Die Piraten hatten einen weiten Kreis gebildet, und keiner von ihnen legte seine Waffen ab. Das fiel Dragon noch auf, als er seine Aufmerksamkeit dem Gegner zuwenden mußte, der nun auf ihn zusprang, das Messer zum entscheidenden Stoß weit zurückgeschwungen. Dragon erwartete ihn ruhig und wich geschickt aus, als der Pirat zustieß und ins Leere traf. Ehe er sich umdrehen konnte, ritzte Dragons Messer seinen Arm. Ein unwilliges Murmeln ging durch die Reihen der Piraten, und Balecos rief: »Rholkos, man darf niemals einen Gegner unterschätzen, richte dich danach!« Dragon nützte die kurze Kampfpause dazu, zum See hinabzublicken. In Ufernähe sah er die Wassermenschen. Er ahnte ihre Gefühle, denn von seinem Sieg oder seiner Niederlage hing ihr künftiges Schicksal ab. Den nächsten Angriff fing er mit dem Stiefel ab, und die Wucht seines Tritts war so groß, daß der Pirat sein Messer verlor. Balecos bückte sich schnell, packte es und warf es ihm zu. Dragon protestierte nicht sondern wartete. Längst schon hatte er die Schwächen seines Gegners erkannt, und wenn er sie zu nutzen verstand, war der Kampf bereits so gut wie entschieden. Allerdings war er nicht auf die Unfairneß Matzumos gefaßt, der ihn überraschend in den Rücken stieß und rief: »Na los, du Feigling? Greif auch mal an!« Dragon stolperte, und noch während er versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, fiel Rholkos über ihn her. Er stach blindlings zu und schlitzte den Ärmel der Lederjacke, die Dragon nicht abgelegt hatte. »Gib ihm den Rest, Rholkos!« brüllte Matzumo. 100
Bei dem Versuch, sich von der auf ihm liegenden Last zu befreien und aufzustehen, rutschte Dragon erneut aus und lag plötzlich auf dem Rücken. Er sah genau in das wutverzerrte Gesicht seines Gegners, der seinen breiten Dolch zum Todesstoß erhob. Mit verzweifelter Kraftanstrengung zog er die Knie mit aller Wucht an und hob Rholkos in die Höhe, gleichzeitig setzte er sein Messer mit dem Griff auf die eigene Brust – und streckte die Knie wieder flach aus. Rholkos stürzte in die senkrecht aufgerichtete Doppelschneide, die ihm bis zum Heft in den Körper drang und sein Herz durchbohrte. Tot rollte er von Dragons Leib und blieb reglos liegen. Ein Schrei der Enttäuschung brandete auf. Matzumo brüllte: »Bringt ihn um, diesen verfluchten Hund! Er hat Rholkos überlistet. Los, fallt über ihn her ...!« Er hatte Ubali, den schwarzen Panther, vergessen. Als die ersten Piraten sich auf den noch immer am Boden liegenden Dragon stürzen wollten, sprang Ubali mit lautem Fauchen auf. Mit einem riesigen Satz riß er gleich zwei Männer zu Boden und versetzte ihnen Prankenschläge, die ihre Schädel zertrümmerten. Die anderen Piraten wichen erschrocken zurück, griffen aber nach den Waffen. Einer schleuderte Ubali einen Speer entgegen, der ihn aber zum Glück verfehlte. Dragon war schon wieder auf den Beinen und rannte zu seinem Schwert, um damit Silberbär das Zeichen zum Angriff zu geben. Aber das war nicht mehr nötig. Alnar hatte es schon längst aufgehoben und schwenkte es hoch über seinem Kopf im Kreis, ehe er es Dragon zuwarf.
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Inzwischen hatte sich Matzumo von seiner Überraschung erholt. Als er sah, daß sein Plan nicht aufgegangen war, ließ er vollends die Maske fallen. »Tötet sie und das schwarze Ungeheuer!« rief er und wiederholte seine Aufforderung mehrmals, aber dann sah er plötzlich Silberbär und seine Krieger, die von allen Seiten auf das Lager zurannten und ihre Waffen schwangen. Sie waren in der Übermacht, und schon schwirrten die ersten Pfeile heran und durchbohrten mehrere der Piraten. Kurz entschlossen wählte er den einzig möglichen Ausweg und rannte zur Hütte. Er wußte, wie wertvoll seine Gefangene war, und wenn er sich des Mädchens bemächtigte, würde es niemand mehr wagen, ihn anzugreifen. Freien Abzug mußten sie ihm garantieren, dann würden sie das Mädchen lebendig wiedersehen. Vielleicht. Doch noch ehe er die Hütte erreichen konnte, stellte sich ihm Alnar in den Weg, der seine Absicht ahnte. In der Hand hielt er noch immer das breite Messer, mit dem er den Zweikampf hätte bestehen sollen. »Wehre dich, Schrecken der Meere!« Matzumo blieb stehen. Langsam zog er sein Messer aus dem Gürtel und nahm es in die andere Hand, den Griff nach vorn. Als er den Arm zurückbog, um das Messer zu werfen, stieß Alnar zu. Schnell sprang er dann zurück, aber seine Vorsicht war unbegründet, Matzumos Wurfarm sank kraftlos herab, dann fiel das Messer zu Boden. Seine Brust färbte sich rot, er schwankte und verlor den letzten Halt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er seinen Gegner an, ehe er in sich zusammensackte. Matzumo, der Schrecken der Meere, war tot. 102
Inzwischen waren außer Balecos und Mauros die meisten der Piraten gefallen. Nur wenigen war die Flucht in die nahen Berge gelungen, und auf Dragons Befehl verzichteten die Kanuks auf eine Verfolgung. Sie mußten ohnehin verhungern, denn künftig hätten sie keine Fischmenschen mehr, die sie mit Nahrung aus dem Meer versorgen würden. Die Quesafrauen kamen verschüchtert aus ihren Hütten, aber als ihre Befreier versicherten, daß sie ihnen nichts Böses wollten, war ihre Freude übergroß. Silberbär wurde von zwei Mädchen regelrecht erdrückt, ehe er sich von ihnen befreien konnte. Ubali verschwand im Gebüsch, wo er seine Kleider fand. Er verwandelte sich zurück, zog sich an und erschien dann in seiner Menschengestalt wieder. Die toten Piraten wurden zur Seite geschafft und mit Steinen bedeckt. Vorher aber nahm Dragon noch den Schlüssel der Kopfkäfige an sich. Alnar kümmerte sich um das alles nicht mehr. Vorsichtig betrat er Matzumos Hütte, nachdem er eine Fackel am Lagerfeuer entzündet hatte. Im Innern der Hütte war es dunkel, aber er entdeckte sofort das primitive Fellager im Hintergrund, auf der eine Gestalt ruhte. »Taheta, ich bin‘s, Alnar!« Ein Stöhnen antwortete ihm. Hastig sprang er hinzu und nahm ihr den Knebel ab. Mit Händen und Füßen hatte man sie an dem Lagergestell angebunden, um eine Flucht zu verhindern. Die Kleider hingen ihr in Fetzen vom Körper. »Taheta, bist du verletzt? Was hat er mit dir gemacht?« Langsam nur begriff sie, was geschehen war. Haltlos begann sie zu weinen, ehe sie endlich antworten konnte. 103
»Nichts, mein Geliebter! Er hat mir nichts getan. Wo ist er?« Die Angst schwang in ihrer Stimme mit. Sie mußte Furchtbares mitgemacht haben. »Matzumo ist tot, Taheta. Die meisten Piraten sind tot. Du bist wieder frei und bei mir.« »Wie war das möglich? Es waren so viele ...« »Dragon! Du wirst ihn gleich sehen, und sei freundlich zu ihm. Er ist unser Freund, und ihm hast du deine Befreiung zu verdanken. Ihm und seinen Kanuks. Und natürlich auch Ubali, dem tapferen Mann aus dem fernen Land der Schwarzen Menschen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist zuviel auf einmal, Alnar. Du mußt mir Zeit lassen.« Vorsichtig löste er ihre Fesseln und hob sie auf. Mit dem Fuß stieß er die Tür auf und trat vor die Hütte. Behutsam legte er sie auf die Felle, in denen er die Nacht verbracht hatte. Dragon kam herbei und beugte sich zu ihr hinab. »Du mußt Taheta sein, von der Alnar mir berichtete. Du bist wirklich so schön, wie er behauptet hat.« Sie errötete, während sie ihn ansah. »Du bist Dragon, unser Befreier? Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll ...« »Sei Alnar eine gute Frau, das ist Dank genug, Taheta.« Eine kleine Gruppe der Kanuks wurde zur Bucht geschickt, um die dort Wartenden von den Geschehnissen zu unterrichten. Karthin, der Kapitän der FREIHEITSBRINGER, sollte zurückbleiben und die beiden Schiffe mit einigen seiner Soldaten bewachen. Hosian und Gerbar aber sollten mit den übrigen Seeleuten und den Flüchtlingen aus Neuatlantis in das Felsental kommen und Vorräte mitbringen. 104
Man gedachte, einige Tage zu bleiben, um nach den verborgenen Schätzen der Piraten zu suchen. Bei dem bevorstehenden Kampf um die Freiheit konnten sie von größtem Nutzen sein. Noch während die Feuer neu angefacht und alles für das bevorstehende Siegesfest vorbereitet wurde, ging Dragon zum See hinab. Ubali und Thamai begleiteten ihn.
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6.
Stumm warteten die Tainu. Schon einmal waren sie getäuscht worden, und so konnte es kein Wunder sein, daß sie diesmal mißtrauisch blieben. Doch sie hatten beobachten können, was geschehen war. Die Piraten, die sie am Leben gehalten hatten, waren tot. Wie aber würden sich die neuen Herren verhalten? Dragon blieb stehen, als er noch zwanzig Schritt vom Ufer entfernt war. Er flüsterte Ubali zu: »Sie sind bewaffnet. Wahrscheinlich befürchten sie, abermals hintergangen zu werden. Ich nehme es ihnen nicht übel. Bleibt stehen und wartet. Ich gehe allein zu ihnen.« Er übergab Ubali sein Schwert und den Schild, den er inzwischen wieder an sich genommen hatte. Waffenlos ging er dann weiter, auf die wartenden Wassermenschen zu, die ihm ruhig entgegensahen. »Ihr mißtraut mir, das ist verständlich. Wer euch als Sklaven verkauft, würde ein Vermögen verdienen, aber welche Freiheit kann schon durch Reichtum aufgewogen werden? Ich halte mein Versprechen, das ich euch gab. Ihr seid frei und könnt tun und lassen, was ihr wollt. Doch bevor ihr ins Meer zurückkehrt, möchte ich euch den Weg in eure verlorene Heimat zeigen und euch eine Botschaft mitgeben. Vielleicht erreicht sie ihr Ziel.« Als er noch immer keine Antwort erhielt, griff er in die Tasche und zog den Schlüssel mit der Kette hervor. Er bückte sich und öffnete das Schloß des Kopfkäfigs eines Tainu, der geduldig wartete. Dragon nahm ihm den Käfig ab, holte aus und warf ihn weit in den See hinaus, wo er sofort versank. Er gab 106
den Schlüssel dem Wassermenschen, den er gerade befreit hatte. »Und nun öffne die Käfige deiner Freunde und versenke sie im See, wo sie niemand außer euch zurückholen kann. Ich glaube, von nun an werdet ihr mir und meinen Freunden vertrauen.« Langsam löste sich die Verkrampfung der armen Geschöpfe, die mehr als zwei Jahre die willenlosen Sklaven der Piraten gewesen waren. Einer nach dem anderen kamen sie herbei und ergriffen voller Dankbarkeit die Hände Dragons, Ubalis und Thamais. »Wir gehören dir und euch«, sagte einer von ihnen. »Unser Leben und unsere Freiheit gehören euch.« Dragon schüttelte den Kopf. »Mir gehört nichts und meinen Freunden auch nicht. Ihr seid frei, wie ich es euch versprach. Zieht hinaus aufs Meer und schwimmt immer der aufgehenden Sonne entgegen, bis ihr Land seht. Dann müßt ihr durch eine Enge und seid nicht weit von Myra entfernt. Dort findet ihr den neuen Wohnsitz eures Volkes.« »Wir kamen einst durch die Enge, aber wir fanden den Weg zurück nicht mehr, weil wir damals noch zu jung waren. Nun können wir in die Heimat zurückkehren.« Ein anderer fragte: »Dürfen wir heute an eurem Lagerfeuer sitzen?« »Als unsere Freunde seid ihr uns natürlich willkommen«, sprach Thamai die längst beabsichtigte Einladung aus. »Wir haben noch viel mit euch zu bereden. Doch nun kehrt in den See zurück und eßt euch satt. Ich glaube, ihr habt lange genug Hunger gelitten ...« Die Tainu nickten dankbar und verschwanden in den klaren Fluten. 107
Dragon, Ubali und Thamai kehrten zu den Lagerfeuern zurück. Am anderen Morgen fielen die Strahlen der aufgehenden Sonne in das paradiesische Felsental. An manchen Stellen kräuselte sich die Oberfläche des glatten Bergsees – die Tainu fingen sich ihr Frühstück. Nach und nach erwachten die Schläfer in den Hütten oder am noch glimmenden Lagerfeuer. Wieder kamen die Frauen der Quesas, um Holz zu bringen und den Befreiern ihre Dienste anzutragen. Dragon machte ihnen klar, daß sie von nun an frei seien und zu ihren Stämmen zurückkehren könnten. Hosian und Gerbar hatten von den Schiffen nicht nur Nahrungsmittel mitgebracht, sondern auch guten Wein, dem man gestern abend fleißig zugesprochen hatte, um den Sieg zu feiern. Der Nachdurst machte sich nun bemerkbar. Die Krüge kreisten und wurden schnell nachgefüllt. Selbst die Kanukkrieger verschmähten das köstliche Getränk nicht. Alnar sah auf, als er einen der Wassermenschen auf das Lagerfeuer zukommen sah, um das herum außer ihm noch Dragon, Ubali, Taheta und Thamai saßen. Der Tainu näherte sich mit aufrechtem und stolzem Gang, wie es sich für ein freies Geschöpf gehörte. »Darf ich mich zu euch setzen?« fragte er. Dragon rückte ein wenig zur Seite. »Ihr seid uns immer willkommen, Tainu. Vielleicht trinkst du auch einen Schluck Wein mit uns.« Der Gast setzte sich. »Ich bin gekommen, um dir und deinen Freunden unseren Dank für die wiedergeschenkte Freiheit zu überbringen und euch unsere Freundschaft zu beweisen. Wie ihr wißt, haben die Piraten hier in diesem Tal ihre 108
Schätze versteckt. Für uns stellen sie keinen Wert dar, wohl aber für euch. Sie sollen euch bei eurem Kampf um die Freiheit eurer Heimat gute Dienste leisten. Meine Gefährten und ich haben daher beschlossen, euch zu dem Versteck der Piraten zu führen.« Dragon blieb äußerlich ruhig. »Das würde uns viele Tage des Suchens ersparen. Reichtum bedeutet viel in der Welt der Landmenschen, und mit ihm läßt sich sogar die Freiheit erkaufen. Wir sind euch sehr dankbar, wenn ihr uns helft. Besonders Alnar wird dir dankbar sein, denn er ist es in erster Linie, der Geld benötigt, um seinen Kampf gegen den Tyrannen weiterführen zu können.« Der Tainu deutete hinab zum See. »Ihr nehmt am besten den Weg links herum. Er führt zu der steilen Felswand, die ihr von hier aus gut sehen könnt. Dort erwarten wir euch. Kommt, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat.« Er nickte ihnen zu, erhob sich und ging zurück zum See. Dragon sah ihm lange nach, ehe er das Schweigen brach: »Für den Weg zur anderen Seite des Sees werden wir eine halbe Stunde benötigen, glaube ich. Wir haben also noch Zeit. Ich schlage vor, wir gehen allein und lassen die anderen hier im Lager zurück. Später teilen wir dann Trägerkolonnen ein, die den Schatz zu den Schiffen bringen. Ich hoffe nur, daß unsere Leute von dem Glanz der Edelmetalle nicht geblendet werden ...« Kurz vor Mittag brachen sie auf. Der Weg war ausgetreten und nicht zu verfehlen. Er führte dicht am Ufer entlang. Links waren zuerst die bewaldeten Hänge, dann nur noch die Felswand. Das Ufer wurde schmaler. 109
Auf einer kleinen Halbinsel, genau dem Lager gegenüber, warteten die Tainu. Es waren fünf von ihnen, die sich nun erhoben und ihnen entgegengingen. Nach einer kurzen Begrüßung setzten sie sich an die Spitze des Zuges und wichen bald vom Hauptweg ab, der rund um den See führte, und folgten einem schmalen und kaum erkennbaren Saumpfad, der auf nacktem Fels endete. Von nun an gab es keine Spuren mehr. Dragon suchte die Felswand ab, aber er konnte nichts entdecken, das einer Höhle ähnlich gesehen hätte. Wohl gab es genügend Risse und Spalten in dem kahlen Gestein, die sehr wohl als Versteck hätten dienen können, aber die Tainu gingen achtlos an ihnen vorbei. Ihr Ziel war eine überhängende Felsplatte, die zehn Mannslängen über dem spurenlosen Pfad hing. Die Tainu hielten an und zeigten nach oben. »Sie verbirgt den Eingang zur Höhle, in der die Schätze lagern. Rechts von ihr sind Stufen in den Fels geschlagen, die ein ungeübtes Auge kaum bemerkt. Das ist der Aufstieg. Für uns ist es schwer, hinaufzuklettern. Wir werden hier auf euch warten.« Dragon inspizierte die »Treppe« und sagte: »Für einen erfahrenen Seemann kein Problem, aber ich will es trotzdem versuchen. Wartet hier.« Er entledigte sich der Stiefel, damit er mit den Zehen besseren Halt finden konnte. Behende erklomm er die Steilwand und erreichte nach kurzer Zeit die Plattform. Für einen Augenblick war er verschwunden, dann erschien sein Gesicht am Rand der Platte. »Aufpassen, ich werfe eine Strickleiter zu euch herab. Sie liegt hier oben und ist gut befestigt.« Nun kamen auch die Tainu mit, und bald standen sie alle auf der ebenen Steinplattform vor dem Eingang zu einer großen Höhle. Die Strickleiter war am Stamm ei110
nes Baumes befestigt, der aus einer der zahlreichen Felsspalten wuchs. Sie brauchten nicht weiterzugehen, um die angehäuften Schätze zu sehen. Sie standen gleich in der Vorhöhle, Bastkörbe voller Gold und Silber, Stapel von Schmuckstücken und Holzkisten mit Münzen aus Neuatlantis. Auch Waffen waren vorhanden, kostbare Felle und Lederbekleidung. Alnar sagte mit gepreßter Stimme: »Auf dem Markt von Neuatlantis könnte man dafür die halbe Stadt kaufen. Wieviele Menschen mögen dafür ihr Leben gelassen haben, und nun stehen wir davor, ohne daß uns jemand daran hindert ...« »Wir werden das Transportkommando noch heute an die Arbeit schicken«, sagte Dragon und riß ihn aus seinen Träumen. »Es wird zwei Tage dauern, bis wir alles in die Schiffe geschafft haben,« Mit einem letzten Blick auf den Schatz der Piraten wandte er sich um und kletterte wieder an der Strickleiter hinab zum Pfad. Die Tainu kehrten in ihren See zurück, während die anderen zum Lager wanderten, jeder mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt. Zwei Tage lang, wie Dragon es vorausgesagt hatte, schleppten die Kanuks und die befreiten Seesklaven die Reichtümer zur Bucht, wo sie vorerst gestapelt wurden. Die Tainu hatten inzwischen ihren See verlassen und waren ins Meer hinausgeschwommen. Mehrmals sah man noch ihre winkenden Hände, dann verschwanden sie in der Gischt der Klippen. Sie würden durch die Enge der Winde in die Große Bucht gelangen, dann immer nach Osten schwimmen, bis sie die Enge des Großen 111
Meeres zwischen den Nordländern und dem Kontinent der Schwarzen Menschen erreichten. Alnar und Dragon standen abseits der Bucht auf einer Bergkuppe und beobachteten den letzten Transport. Sie würden nicht mehr in das Felsental zurückkehren. »Wie gut hätte ich das Geld früher gebrauchen können«, sagte Alnar endlich nach langem Schweigen. Irgendwo in der Nähe schrie eine Möwe, »Verwende es gut, Dragon!« »Du erhältst deinen Anteil, und warum solltest du es nicht gebrauchen können? Reichtum ist niemals nutzlos.« Alnar schüttelte den Kopf, »Wir haben schon darüber gesprochen, und ich bleibe bei meiner Entscheidung: ich will nichts davon haben, denn ich werde mit Taheta und den Flüchtlingen in die Kolonie der Freien gehen, in das Land des Weisen Ombar. Hosian wird mit der SEEPRINZESSIN bald nach Neuatlantis zurückkehren und neue Flüchtlinge abholen.« Dragon nickte langsam. »Also gut, ich nehme den Schatz, werde meine Leute reich belohnen und dann nach Neuatlantis segeln. Dort kennt mich niemand. In deinem Sinne werde ich dort deine Arbeit fortsetzen. Wenn Hosian kommt, werden die Befreiten schon auf ihn warten.« »Sei nur vorsichtig, Dragon, denn Vodor wird zu deinem Todfeind werden, und er ist der Mächtigste aller Mächtigen. Nimm Verbindung zu den Männern auf, deren Namen ich dir nannte. Du kannst ihnen vertrauen, und sie werden dir weiterhelfen.« Dragon griff in die Tasche und zog eine wunderbare Perlenkette daraus hervor. Er hielt sie gegen die sinken112
de Sonne, und sie leuchtete in allen Regenbogenfarben, obwohl sie vorher nur weiß geschimmert hatte. »Ihr Wert ist nicht abzuschätzen, Alnar. Ich möchte, daß du sie als Andenken nimmst.« Alnar streckte zögernd die Hand aus. »Darf ich sie Taheta schenken, Dragon? Ich glaube, sie hat ein solches Geschenk verdient.« »Sicher, ich würde mich darüber sogar freuen. Dann wird auch sie dich immer an unsere Freundschaft erinnern. Doch bevor ich nach Neuatlantis segle, muß ich auf meine fünf vermißten Schiffe warten, die der Sturm in das Endlose Meer hinaustrieb. Wir wollten uns hier in dieser Bucht treffen. Und dann, wenn sie kommen, nehmen wir zuerst Kurs zur Ostküste des Felsigen Landes. Die Blutburg Ossar wartet auf uns.« »Ob deine Freunde, die Kanuks, sie schon erreicht haben?« »Schlangentöter, der tapfere junge Anführer der vereinigten Kanukkrieger, ist voller Ehrgeiz. Er wird sich beeilt haben, um vor mir dort zu sein. Hoffentlich ist er nicht so vermessen, die Burg allein anzugreifen.« »Tapferkeit allein genügt nicht, es gehört auch Klugheit zur Kriegsführung«, stimmte Alnar zu. »Aber nun gib deinen Leuten den Befehl, den Schatz endlich auf dein Schiff zu verladen, sonst verschimmelt er noch unten am Strand.« Dragon lachte und ließ seinen Umhang im Seewind wehen. »Keine Sorge, heute schaffen sie es nicht mehr. Morgen werden wir mit der Flut auslaufen. Aber du hast recht: sie können zumindest schon mal anfangen ...« Ehe sie hinabstiegen, sahen sie noch einmal hinaus auf das Meer, und Dragon, der die schärferen Augen hatte, sagte: 113
»Alnar, sieh genau nach Westen, wo die einzelne weiße Wolke steht. Kannst du darunter fünf winzige Punkte erkennen?« Alnar wartete, bis er sicher war, »Ja, ich sehe sie. Es sind fünf Segel, aber die Schiffe selbst befinden sich noch unter dem Horizont. Glaubst du, es sind deine Schiffe?« »Sie müssen es sein! Vor heute abend können sie die Bucht nicht erreichen. Hoffentlich sind sie so klug zu kreuzen, bis es wieder Tag wird.« Alnar sah sich um, »Wir stehen auf einem kleinen Kap. Wie wäre es, wenn wir ein großes Feuer an seiner Spitze entfachen, um sie zu warnen? Dann kommen sie in der Dunkelheit dem Land nicht zu nahe.« »Ein guter Gedanke, Alnar. Holz gibt es genug. Ich werde gleich einige Kanuks damit beauftragen. Gehen wir.« Noch vor Einbruch der Nacht wurde ein Teil des Schatzes in den Laderaum der FREIHEITSBRINGER gebracht, während sich an der Spitze des Kaps ein riesiger Scheiterhaufen auftürmte. Als es dunkelte, ließ Dragon das Holz entzünden. Eine gewaltige Flamme loderte in den Nachthimmel, weithin sichtbar und eine Warnung für jeden Segler, sich nicht allzu nahe ans Land heranzuwagen. Sie schliefen in dieser Nacht noch einmal unter dem klaren Sternenhimmel, für lange Zeit vielleicht zum letzten Mal. Am nächsten Morgen kreuzten die fünf Schiffe vor der Bucht und blieben dem Ufer fern. Nur einer der plump wirkenden Zweimaster nahm Kurs auf die Küste und steuerte geschickt durch die Klippen hindurch. »Es ist die WASSERLÄUFER«, stellte Dragon erfreut fest. »Sie haben es also geschafft!« 114
Der Rest des Schatzes war verladen, als die WASSERLÄUFER Anker warf. Ein kleines Boot brachte den Kapitän, der von Dragon herzlich begrüßt wurde. Er wurde von allem unterrichtet, was inzwischen geschehen war, dann berichtete er selbst: »Als der Sturm aufkam, verloren wir die FREIHEITSBRINGER aus den Augen. Sie war zu schnell für uns und glitt wie ein Pfeil davon. Um nicht in Gefahr zu geraten, segelten wir in das Endlose Meer. Dort gibt es keine Klippen und Inseln, wenigstens trafen wir auf keine. Es dauerte mehrere Tage und Nächte, ehe wir umkehren konnten und uns wieder dem Felsigen Land näherten. Aber wir wußten nicht mehr, wo wir waren. So segelten wir ein Stück nach Norden, dann kehrten wir um, nahmen südlichen Kurs, dann wieder nach Osten, bis wir in der vergangenen Nacht das Feuer sahen. Es warnte uns. Nun haben wir bei Tag die Klippen gesehen und wissen, daß es uns rettete.« »Leider kann ich euch keine Ruhepause gönnen«, erklärte ihm Dragon und deutete hinauf aufs Meer. »Der Wind steht günstig und wird uns noch heute durch die Enge der Winde bringen. Außerdem hat die Flut bald ihren höchsten Stand erreicht. Sie verbirgt einen Teil der Klippen, was gefährlich ist, aber wir kennen die Einfahrt. Kehre auf dein Schiff zurück und folge unserem Kielwasser, sobald wir die Segel gesetzt haben.« Dann standen sich die beiden Gruppen gegenüber, um Abschied zu nehmen. Auf der einen Seite Dragon, Ubali, Thamai und der Kapitän der FREIHEITSBRINGER, Karthin. Auf der anderen Alnar von Marmo, Taheta, Hosian und Gerbar. Sie machten nicht viel Worte. Schweigend umarmten sich Taheta und Thamai, die inzwischen eine tiefe 115
Freundschaft verband. Sie hofften, daß sie sich wiedersehen würden, vielleicht sogar in einem besseren und freien Neuatlantis. Oder im Südgebirge, in der Kolonie des Weisen Ombar. Dragon nahm Alnars Hand. »Viel Glück für die Zukunft, Alnar, und mache Taheta glücklich. Wir werden deine Aufgabe beenden und Vodor stürzen. Es mag eine Weile dauern, aber es wird uns gelingen. Und vergiß nicht, Hosian mit der SEEPRINZESSIN zu schicken. Die Flüchtlinge werden schon auf ihn und das Schiff warten.« »Auch dir wünsche ich Glück, Dragon. Deine Aufgabe ist nicht leicht. Vielleicht kostet sie dich nicht nur den Schatz, sondern auch dein Leben.« Er umarmte ihn. »Lebewohl, Dragon!« Die Boote brachten sie zu ihren Schiffen, die bereits Segel setzten. Der Wind stand günstig, war aber innerhalb der Bucht nicht sehr stark. Die FREIHEITSBRINGER übernahm die Führung und geleitete die WASSERLÄUFER und die SEEPRINZESSIN sicher durch die Klippen. Die anderen vier Segler nahmen ebenfalls Fahrt auf, und für mehr als eine Stunde blieb der Konvoi zusammen, dann aber, als DRAGON scharf nach Osten in die Enge der Winde abbog, blieb Alnars Schiff zurück und entfernte sich immer mehr. Dragon konnte Alnar und Taheta noch lange an der Reling stehen sehen, dann schien der Leib des Seglers allmählich im Meer zu versinken, bis nur noch die Segel sichtbar blieben. Nicht mehr lange, dann verschwanden auch sie ... Karthin gesellte sich zu Dragon, Ubali und Thamai, während die Sonne sich gen Westen senkte und den baldigen Untergang durch ihre prächtigen Farbenspiele ankündigte. »Kurs, Dragon?« 116
»Ossar, die Blutburg, Karthin. Das bedeutet, daß wir hinter dem Vogelkap nach Norden segeln, um die Halbinsel zu meiden, denen Felsen vorgelagert sind. Also Richtung auf Neuatlantis. Weit vor den Sandbänken nehmen wir Kurs nach Westen, lassen die Insel links liegen und müßten dann in der Nähe der Blutburg Land sichten. In drei oder vier Tagen, das kommt auf den Wind an. Wenn wir kreuzen müssen, dauert es länger – aber wem sage ich das? Du kennst die Gewässer hier besser als ich.« Karthin grinste. »Dafür bin ich auch der Kapitän«, meinte er und ging. Ubali sah ihm nach. »Welcher Unterschied doch zwischen einem Sklaven und einem Freien besteht! Dabei sind sie ein und derselbe Mensch!« Dragon schüttelte den Kopf. »Eben nicht, Ubali! In einem einzigen Menschen können sehr gut zwei verschiedene sein. Der eine ist der Sklave, unfrei und hinterhältig, nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht und jederzeit aus diesem Grund zum Verrat bereit. Er verliert seine Persönlichkeit, und seine Ketten sind nicht nur materielle. Aber dann, wenn er die Freiheit zurückerhält, wandelt er sich, und sein wahrer Charakter kommt zum Vorschein, obwohl ich zugeben muß, daß er oft in der Gefangenschaft noch deutlicher sichtbar wird. Doch er verliert das Hinterhältige des Sklaven, das aus der Not geboren wurde. Ein Sklave ist niemals zuverlässig, auch wenn sein Charakter gut ist, ein Freier jedoch immer!« Ubali zog Thamai näher zu sich heran. »Du hast recht, Dragon, und das sollte für uns der Ansporn dazu sein, immer für die Freiheit der Menschen zu kämpfen.« Das östliche Vogelkap kam in Sicht, die Enge der Winde lag hinter den Schiffen. Gleichzeitig fast ging die 117
Sonne blutrot unter. Der Himmel war klar. Es würde morgen keinen Sturm geben. Dragon, Ubali und Thamai gingen in ihre Kajüte. Draußen rauschte das Wasser vorbei und ließ sie die Geschwindigkeit ahnen, mit der sie ihrem Ziel näherkamen. Einem Ziel, das wenig verlockend klang: die Blutburg Ossar ... ENDE Matzumo, der Schrecken des Meeres, ist nicht mehr. Der Pirat fand am Vogelkap das unrühmliche Ende, das er verdiente. Damit ist für Dragon und seine kleine Flotte, die er hatte kapern können, der Weg nach Ossar frei – und danach auch der Weg zur RÜCKKEHR NACH ATLANTIS ... RÜCKKEHR NACH ATLANTIS unter diesem Titel erscheint auch Dragon-Band 55, Autor des Romans ist Hugh Walker.
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