Thorsten Berndt Richterbilder
VS RESEARCH
Thorsten Berndt
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Thorsten Berndt Richterbilder
VS RESEARCH
Thorsten Berndt
Richterbilder Dimensionen richterlicher Selbsttypisierungen
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Universität Konstanz, 2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Verena Metzger / Anita Wilke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17503-4
Vorwort
Sozialwissenschaftliche Forschung, die ihre Aufgabe darin sieht, die Fragen der Welt in der Welt zu betrachten und aus einer Perspektive des lebensweltlichen Bezugs dann ihre eigenen Fragen zu stellen und zu beantworten sucht, bedarf einer Nähe zum Feld, die ein beidseitiges persönliches Vertrauen von Forscher und Beforschten voraussetzt. Als ein solcher Forscher verstanden, trete ich mit der Bitte um Vertrauen an die jeweiligen Personen. Für diese Untersuchung waren es die vielen Richterinnen und Richter, bei denen ich mich an dieser Stelle zuerst – wenn auch in der gebotenen unpersönlichen Anonymität – für ihre Offenheit und das entgegengebrachte Vertrauen bedanken möchte. Akademische Ausbildung, die ihre Aufgabe darin sieht, Menschen zu befähigen, selbständig wissenschaftlich zu arbeiten, hat durch die Abnahme von Qualifikationsprüfungen ein »Nadelöhr« geschaffen, durch das der Promovend – mithilfe entsprechend legitimierter »Geburtshelfer« – hindurchmuss. Für die hier vorliegende Dissertation, die im Jahr 2009 am Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz angenommen wurde, freue ich mich, als Gutachter und Betreuer Hans-Georg Soeffner sowie Martin Morlok nennen zu können, die mich auf dem langjährigen Weg unterstützt und gefördert haben. Zu diesem Weg gehört eine Geschichte mit mehr oder weniger zuträglichen Begleitern und Umständen. Ich möchte mich mit meinem Dank auf die positiven Aspekte der hilfreichen Unterstützung dieses Weges beziehen: Ausgangspunkt liegt bei den für diese Arbeit ursächlichen Projektzusammenhängen der Jahre 2000 bis 2004 an der FernUniversität in Hagen und an der Universität Düsseldorf unter der Leitung von Martin Morlok. Ich danke Martin Morlok für das dem soziologischen Forscher entgegengebrachte Vertrauen, für das kontinuierliche Interesse und für die fruchtbare Projektarbeit, die zusammen mit Ralf Kölbel, Peter Stegmaier und Agnes Launhardt zu einem erfolgreichen Unterfangen wurde. An dieser Stelle sei auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Finanzierung der Projekte und die Unterstützung der Publikation gedankt. Der sich an diese Forschungen anschließende Arbeitskreis Rechtspraxisforschung hat, unter der Einbeziehung von Kye Il Lee, zu einem regelmäßigen Austausch des aktuellen Stands der verschiedenen Unternehmungen geführt, aus dessen Anregungen ich viel Gewinn ziehen konnte. Parallel dazu, seit dem Jahre 2004, gilt mein Dank den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der aktiven und kontroversen Arbeit in den letzten Forschungs-
6
Vorwort
kolloquien von Hans-Georg Soeffner an der Universität Konstanz. Für die konkrete, kontinuierliche und intensive hermeneutische Arbeit am empirischen Material in den Jahren von 2005 bis Ende 2007 danke ich ganz herzlich meiner Konstanzer Interpretationsgruppe, namentlich Andreas Göttlich, Regine Herbrik, Tobias Röhl, Michael Walter, Halyna Leontiy, Anush Yeghiazaryan, Kathrin Keller und Christine Matter. Darüber hinaus haben mich in der Endphase der Arbeit und direkt an meinem Text Jürgen Raab, Ralf Kölbel, Steffen Bogen und last but not least Peter Stegmaier unterstützt, immer wieder konstruktiv kritisiert und für den Fortgang motiviert, wofür ich ebenfalls meinen aufrichtigen Dank aussprechen möchte. Am meisten gelitten hat unter diesen ganzen Mühen ohne Zweifel meine Familie, der ich auf diese Weise für das lange Aushalten herzlich danken möchte und der ich diese Arbeit widme. Thorsten Berndt
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis ................................................................................................................... 11 Abkürzungsverzeichnis ................................................................................................................. 13 Einleitung ..................................................................................................................................... 17 Identität und Subjekt ................................................................................................................................................ 18 Typologie der Richterbilder – Fragestellung, Bedeutung und Aufbau der Untersuchung ........................... 22 Soziologie – Rechtssoziologie – Rechtswissenschaft .......................................................................................... 25 1
Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand ..................... 29
1.1
Spiegelungsprozesse ............................................................................................................................. 29
1.2
1.1.1 Rolle und Identität .................................................................................................................. 30 1.1.2 Spiegelungsräume des Richters............................................................................................. 41 Zum Gegenstandsbereich: Gesellschaft – Recht – Richter ........................................................... 46 1.2.1 Recht und Justiz als gesellschaftliches Phänomen der Rationalisierung ........................ 46 1.2.2 Phänomenbereich Richterpersönlichkeit – Zur empirischen Richterforschung.......... 49 1.2.2.1 Allgemeine Entwicklung der deutschen Richterforschung ................................ 50 1.2.2.2 Rollentheoretische Ansätze in der Richterforschung ......................................... 54 1.2.2.3 Empirische Forschungen zum Selbstverständnis bei Richtern ......................... 57 1.2.2.4 Faustregeln, Präjudizien und Alltagstheorien ....................................................... 63 1.2.2.5 Jugendrichter und Selbstbild ................................................................................... 65 1.2.2.6 Selbstbild in rechtssoziologischen Einführungen ................................................ 67 1.2.2.7 Zur Bedeutung nicht rechtlichen Wissens ............................................................ 67 1.2.2.8 Zwischenresümee zum Stand der Forschung ...................................................... 70 1.2.2.9 Rechtspraxisforschung ............................................................................................. 70
2
Vom Blick in den Spiegel – Zur Methode der Rekonstruktion von Selbsttypisierungen ...... 73
2.1
Einleitung ............................................................................................................................................... 73
2.2
Methodologischer Ausgangspunkt: Die sozialwissenschaftliche Hermeneutik ......................... 74
2.3
Sequenzanalyse ...................................................................................................................................... 76
2.4
Grounded Theory................................................................................................................................. 79
2.5
Grounded Theory, Sequenzanalyse und die Rekonstruktion von Selbsttypisierungen ............ 80
2.6
Verhältnis der Ergebnisse zur allgemeinen Typenbildung ............................................................ 84
2.7
Interview und Beobachtung (Ethnographie) ................................................................................... 85
2.8
Forschungsfeld: Auswahl und Grundgesamtheit ............................................................................ 86
2.9
Übersicht zur Datenerhebung ............................................................................................................ 88
8
Inhaltsverzeichnis
3
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis ............................................................ 89
3.1
Einleitung ............................................................................................................................................... 89
3.2
3.1.1 Zur methodischen Einbettung der Darstellungsform ...................................................... 90 3.1.2 Analyse des richterlichen Handlungsproblems .................................................................. 92 ›Basis‹-Dimensionen ............................................................................................................................. 97
3.3
3.2.1 Gerichtsbarkeit ........................................................................................................................ 98 3.2.1.1 Das »zivilistische Weichei« oder: Vom ›weichen Richter‹-Typus ...................... 98 3.2.1.2 Rechtlich und sachverhaltlich Arbeitende .......................................................... 113 3.2.2 Verantwortlichkeit: Vom ›Eigenen Herr‹- und ›Kollegialrichter‹-Typus ..................... 115 3.2.3 Von der Last der ›Anforderung‹ ......................................................................................... 121 3.2.3.1 Der ›Frontkamerad‹-Typus .................................................................................... 128 3.2.3.2 Der ›Akademiker‹-Typus........................................................................................ 130 3.2.4 Gerichtskultur: Vom Land- und Großstadtrichter-Typus ............................................. 132 3.2.5 Die Bedeutung der ›Basis‹-Dimensionen für die richterlichen Selbsttypisierungen .. 135 ›Methoden- und Gesetzesbezug‹ ...................................................................................................... 137
3.4
3.3.1 ›Richtigtechniker‹ .................................................................................................................. 139 3.3.1.1 ›Subsumtionsautomat‹ ............................................................................................ 139 3.3.1.2 ›Methodenmonist‹ ................................................................................................... 142 3.3.1.3 ›Herr des Verfahrens‹ ............................................................................................. 147 3.3.1.4 ›Menschlicher Mund des Gesetzes‹ ...................................................................... 153 3.3.2 ›Radbruchianer‹ ..................................................................................................................... 163 3.3.2.1 ›Geschickter Radbruchianer‹ ................................................................................. 171 3.3.3 ›Richterkönig‹......................................................................................................................... 174 3.3.3.1 Vom Ergebnis her................................................................................................... 175 3.3.3.2 Das Gefühl dafür – der ›Judizler‹ ......................................................................... 182 3.3.3.3 Grenzen des Königreiches .................................................................................... 185 3.3.4 Richterliche Selbsttypisierungen zum ›Methoden- und Gesetzesbezug‹ ..................... 189 ›Antriebs‹-Dimensionen .................................................................................................................... 191 3.4.1 3.4.2 3.4.2.1 3.4.2.2 3.4.2.3 3.4.2.4 3.4.3 3.4.3.1 3.4.3.2 3.4.3.3 3.4.4 3.4.5 3.4.5.1 3.4.5.2 3.4.5.3 3.4.6 3.4.6.1 3.4.6.2 3.4.6.3 3.4.6.4
›Karrierist‹............................................................................................................................... 191 ›Alternativ-Wettbewerber‹ ................................................................................................... 203 Erledigungen ............................................................................................................ 203 Abänderungsquote .................................................................................................. 207 Vergleichsquote ....................................................................................................... 211 Der ›Alternativ-Wettbewerber‹ ............................................................................. 213 Der ›zugewandte Richter‹ oder auch Service-Richter ..................................................... 214 Blick auf Chancen der Rechtsuchenden im Justizsystem ................................. 214 Blick auf das streitgebende Phänomen................................................................ 215 Blick auf die Interaktionssituation Richter und Naturpartei ........................... 217 Der ›Unberührbare‹ .............................................................................................................. 228 Der ›Befangene‹ ..................................................................................................................... 232 Emotionale Stimmungen ....................................................................................... 233 Krankhafte Störungen ............................................................................................ 237 Abhängigkeiten ........................................................................................................ 238 Weitere Motivation ............................................................................................................... 239 Abwechsler ............................................................................................................... 240 Ökonomist ............................................................................................................... 242 Familialist/Heimatler ............................................................................................. 242 Sozialstrukturelle Merkmale .................................................................................. 243
Inhaltsverzeichnis
3.5
Die ›Unabhängigkeit‹.......................................................................................................................... 243 3.5.1 3.5.2
4 4.1 4.2
5.1
Die ›Unabhängigkeit‹ – Antwort auf das Praxisproblem ............................................... 244 Verteidigung und Verwendung der ›Unabhängigkeit‹..................................................... 247
Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder .................................................................... 257 Ausgangsfragestellung und Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse .......................... 257 Erkenntnisgewinn und Bedeutung für die allgemeine Soziologie und Rechtssoziologie ....... 261 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.3.1 4.2.3.2 4.2.3.3 4.2.3.4 4.2.3.5 4.2.3.6 4.2.3.7 4.2.4
5
9
Von der ›Unabhängigkeit‹ .................................................................................................... 261 Vom Generationenwechsel ................................................................................................. 264 Vom Handlungsproblem des Richters – Die ›Definition des Falles‹ ........................... 266 Der Richter als herausragender Situationsdefinierer ......................................... 266 Der Experte in der Dyade – Der Richter in der Triade ................................... 268 Definition als kontrollierte Transformation ....................................................... 272 Situationsdefinition als Krisenbewältigung ......................................................... 274 Zur Unterscheidung der Definition der aktuellen Situation und des Falles.. 275 Logik der Situationsdefinition statt Handlungsselektion ................................. 278 Zusammenfassung zur Situationsdefinition ....................................................... 279 Zur Bedeutung der Selbsttypisierungen für Rolle und Identität ................................... 279
Zusammenfassende Abschlussbetrachtung ......................................................................... 287 Zum Ausblick einer Rechtspraxisforschung .................................................................................. 291
Ergänzende Übersicht zur Typologie ......................................................................................... 293 Literaturverzeichnis .................................................................................................................... 299
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24:
Grad der Selbstidentifikation und Rollenbezug ........................................................................ 34 Selbstidentifikation, Authentizität und Rollenbezug ................................................................ 37 Selbstidentifikation, Authentizität und Identität .......... ............................................................ 40 Selbstverständnis nach Kaupen und Rasehorn Teil 1 .............................................................. 59 Selbstverständnis nach Kaupen und Rasehorn Teil 2 .............................................................. 60 Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung nach Werle ........................................................ 62 Übersicht zu Feldzugängen und Forschungsaufenthalten ...................................................... 88 Selbstpositionierungen ›Gerichtsbarkeiten‹ und Karrierestationen Teil 1 .......................... 106 Selbstpositionierungen ›Gerichtsbarkeiten‹ und Karrierestationen Teil 2 .......................... 113 Typen der ›Verantwortlichkeit‹ .................................................................................................. 120 ›Anforderung‹ und Fallzahl ......................................................................................................... 127 ›Anforderungs‹-Typen ›Frontkamerad‹ und ›Akademiker‹..................................................... 131 Typenübersicht ›Basis‹-Dimensionen ........................................................................................ 137 Übersicht Typologie des ›Gesetzes- und Methodenbezugs‹ ................................................. 190 Übersicht Typen der ›Antriebs‹-Dimensionen ........................................................................ 240 ›Karrierist‹ vs. ›Unabhängigkeit‹ ................................................................................................. 254 Übersicht des Vergleichs »Exekutive« und »Judikative« ........................................................ 256 Gesamtübersicht Richtertypologie ............................................................................................ 260 Zweiseitige Abwehr kollektiven Drucks................................................................................... 290 Bildung der Hauptkategorie........................................................................................................ 293 Übersicht Typen der ›Basis‹-Dimensionen............................................................................... 294 Übersicht Typen der ›Methoden und Gesetzesbezugs‹-Dimension .................................... 295 Übersicht Typen der ›Antriebs‹-Dimension............................................................................. 296 Gesamtübersicht Richtertypologie ............................................................................................ 297
Abkürzungsverzeichnis
AG AG Art BGH BJ BvR DDR DFG DGS DRiG DRiZ FN FR GG GVG JGG LG N NS NSM OLG OWI PO R StPO VG ZPO
Amtsgericht Arbeitsgemeinschaft Artikel (ein Gesetz betreffend) Bundesgerichtshof Betrifft JUSTIZ Aktenzeichen einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht Deutsche Demokratische Republik Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutsche Gesellschaft für Soziologie Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung Fussnote Frankfurter Rundschau Grundgesetz Gerichtsverfassungsgesetz Jugendgerichtsgesetz Landgericht Umfang der Stichprobe Nationalsozialismus Neue Steuerungsmodelle Oberlandesgericht Ordnungswidrigkeit (Owis - Ordnungswidrigkeiten) Prozessordnung Besoldungsgruppen für Richter Strafprozessordnung Verwaltungsgericht Zivilprozessordnung
Legende zu verwendeten Textdarstellungen
Literaturzitate im Haupttext, nicht exakt wörtlich zitierter und paraphrasierter Datentext sowie in Übertragung gebrauchte Begriffe, werden durch »doppelte Anführungszeichen« und nicht kursiv gekennzeichnet. »Literaturzitate ab drei Zeilen Länge werden einseitig eingerückt, kleiner gedruckt sowie mit doppelten Anführungszeichen versehen. Darin übernommene Zitate werden mit ›einfachen Anführungszeichen‹ gekennzeichnet« (Autor Jahr: Seitenzahl)
Feststehende Begriffe und die im Rahmen der Analysen entwickelten Konzepte (Typen) sind in ›einfache Anführungszeichen‹ gesetzt. Betonungen von inhaltlichen Aussagen werden durch Kursivsetzung hervorgehoben. Interview- und Beobachtungsmaterial: Datenzitate aus dem Interview- und Beobachtungsmaterial im Haupttext sind durch »doppelte Anführungszeichen und Kursivsetzung« gekennzeichnet. Zeilen-Nr. Datenzitate aus Interviewmaterial, die einer ›Feinanalyse‹ Zeilen-Nr. unterzogen werden, sind eingerückt und kursiv gesetzt, Zeilen-Nr. ohne Anführungszeichen. Darin enthaltene wörtliche Zeilen-Nr. Zitate, die der jeweilige Sprecher vornimmt oder so tut Zeilen-Nr. als ob, sind in ›einfache Anführungszeichen‹ gesetzt. [Interviewnummer: Zitatnummer] »Datenzitate aus Interview- und Beobachtungsmaterial ab drei Zeilen Länge, die im Rahmen einer ›Codeanalyse‹ verwendet werden, sind eingerückt und kursiv gesetzt, mit doppelten Anführungszeichen. Darin enthaltene wörtliche Zitate, die der jeweilige Sprecher vornimmt oder so tut als ob, sind in ›einfache Anführungszeichen‹ gesetzt.« [Interviewnummer: Zitatnummer] Jedes Interview- und Beobachtungsmaterial hat eine Verweisungscodierung in eckigen Klammern, die die Interviewnummer und Zitatnummer aus dem Datensatz (codiert und verwaltet mithilfe der Software ATLAS-ti) enthält. Insbesondere bei den ›Feinanalysen‹ gibt es zum Interview- und Beobachtungsmaterial zusätzlich die entsprechende Zeilennummerierung zur eindeutigen Zuordnung der einzelnen Sequenzen.
Einleitung
Nicht immer muss es eine lebensweltliche Krise sein, wenn wir vor den Richter1 ziehen oder gezogen werden – ein normales alltägliches Ereignis jedoch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist es nicht. Wir hören, lesen und sehen zwar häufig etwas zu Gesetzen, Prozessen, Urteilssprüchen oder sogar Richtern, aber selten werden wir selbst direkt mit einem Gerichtsverfahren konfrontiert. Eine Auseinandersetzung mit den Ordnungshütern wegen zu schnellen Fahrens oder falsch Parkens ist einigen bekannt. Doch die Konsequenzen eines solchen Normverstoßes werden oft akzeptiert und gelangen erst gar nicht in den Handlungsbereich eines Gerichts. Die Norm ist meist im Kern bekannt und die Einsicht und Reue oder der bloße Wille, keine Umstände haben zu wollen, genügen, um das Ärgernis nicht in einen echten Streit zu verwandeln. Es ist kein richtiger Konflikt geworden, keine echte Krise, die das Gefüge derart zerrüttet, dass entweder wir oder ein anderer durch Anrufung eines Gerichts sein Recht einfordert. Diesen Schritt, das Herbeiholen eines Dritten zur Beilegung eines Konfliktes, überlegen wir uns gut, denn wir wissen, dass wir damit ein Stück weit die Definitionsmacht einer Situation aus den Händen geben. Nur wenn wir uns nicht mehr damit begnügen können, dass nur wir eine Sache so sehen, wenn also eine Krise derart beschaffen ist, dass für das normale Immer-so-weiter eine für beide Streitenden verbindliche und durch eine starke Macht gesicherte Definition der Lage geschaffen werden muss, erst dann treten wir vor einen Dritten, letztlich vor den Richter. Oder wir werden vor einen Dritten gebracht, weil ein anderer eine solche Krise mit uns vergegenwärtigt – und sei es der Vertreter des staatlichen Gewaltmonopols. In allen Fällen haben wir einen Unterbruch des Alltäglichen durch einen Streit und die Einschaltung eines Dritten in diesem Streit sowie ein Stück weit Unsicherheit, weil wir die Definitionshoheit aufgrund der für beide verbindlichen Regelungsnotwendigkeit aufgeben. Ein solcher Dritter kann nur durch Macht – ergänzt um das in ihn gesetzte Vertrauen oder zumindest um Akzeptanz – Aussicht auf Erfolg haben, andernfalls bleibt es bei Empfehlungen, die nicht handlungsnotwendig sind. Das bedeutet 1
In dem gesamten vorliegenden Text wurde für die Bezeichnung der Richterinnen und Richter die (einheitliche) maskuline Form ›der Richter‹ verwendet. Lediglich die konkreten Personen, die durch das Datenmaterial in den Text aufgenommen wurden, sind geschlechtsspezifisch unterschieden.
18
Einleitung
wiederum, dass es in einem gewissen Rahmen außerhalb des Streites einen Normenbezug gibt, den beide streitenden Seiten weitestgehend teilen: eine grundsätzliche Übereinkunft, dass es eine Art Gerechtigkeit in Form von Gesetzen oder gerechten Verfahren gibt, das heißt ein Recht, welches als stabilisiertes Handlungsresultat durch die Gesellschaft ausgebildet und weiterentwickelt wird. Im Verlauf einer Krise erwarten wir von dem eingeschalteten Dritten, dass er aufgrund seiner Macht dieser Gerechtigkeit zur Geltung verhilft, dass er mithilfe seiner Definitionsmacht die Situation neu oder zumindest geltungssicher definiert. Wir hoffen, dass er dies in unserem Sinne tut, wissen aber gleichzeitig, dass dies nicht unbedingt so sein muss. Wir nehmen – spätestens nach Ausschöpfung aller Eskalationsstufen, an deren Ende das Gericht steht, und allen verfahrensrechtlichen Möglichkeiten – die dann richterlich festgelegte Definition (mit ihren jeweiligen Folgen für uns) faktisch als gegeben an, selbst wenn sie uns emotional nicht entsprechen sollte. Diese empfundene Ohnmacht – aus der subjektiven Sicht des generalisierten Bürgers in unserer heutigen Gesellschaft – lässt sich mithilfe des allgemeinen Sprichwortes »Vor Gericht und auf hoher See bist du in Gottes Hand!« pointieren. Was wissen wir über diese Personen, die schlussendlich das letzte Wort haben? Was wissen wir über diese machtvollen Definierer? Wer ist dieser letztlich entscheidende Dritte – dieser Richter? Mit solchen Fragen geht es uns um die Identität der Richter. Welche Auffassung haben sie von sich in ihrem Beruf? Mit welchem Bild von sich und seiner Arbeit geht ein Richter an die für ihn alltägliche Verrichtung von Definitionsleistungen mit teilweise erheblichen Folgen für andere? Wie sieht sich der Richter selbst in dem Spannungsfeld der Anforderungen zweier Kontrahenten? Welche anderen Erwartungen und Spannungen muss er vergegenwärtigen, welche Grenzen hat seine Macht und welche Freiheiten? Diese ersten – aus der lebensweltlichen Situation des generalisierten Bürgers gewonnenen – Fragen lassen sich im sozialwissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Diskurs, zu dem diese Arbeit einen Beitrag leisten möchte, auf die Thematik der Identität von Richtern und der Beziehung von dieser hinsichtlich der Realisierung von Recht im gesellschaftlichen Miteinander wenden. Ausgangspunkt und zu klärender Hintergrund stellen somit zunächst die Diskussionen um Identität dar.
Identität und Subjekt In der Soziologie verankerte Diskussionen um Identität heben besonders den Aspekt der Individualisierung als bezeichnendes Identitätsphänomen der Postmoderne hervor. Das Individuum und die Gesellschaft stehen dabei in einem höchst ambivalenten Verhältnis. Der »disembedding mechanism« (Giddens 1991) transformiert das alltägliche Leben und hebt das Individuum aus alten sozialen Verflechtungen und Institutionen heraus, macht es unabhängiger, globaler. Auf der einen
Identität und Subjekt
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Seite werden die Optionen des Einzelnen erhöht, so dass von einer ›Multioptionsgesellschaft‹ gesprochen wird (Gross 1994). Diese »positive Individualisierung« bringt das für die soziale Ordnung »gefährliche Individuum« hervor und steht in der Tradition von Durkheim, Parsons und Luhmann (vgl. Schroer 2001: 13). Auf der anderen Seite wird der Einzelne aber durch den Aufbruch der gesellschaftlich geprägten Traditionen verstärkt einer Unsicherheit und Angst ausgesetzt. Diese »negative Individualisierung«, die in der Linie von Weber, Horkheimer, Adorno und Foucault steht, bringt das »gefährdete Individuum« hervor (vgl. Schroer 2001: 13). Die Unsicherheit, aber auch die Chancen, äußern sich sowohl in der konkreten einzelnen Lebenswelt als auch in den globalen unkalkulierbaren Prozessen und werden – neben Ökologie, Wissenschaft, Politik, sozialer Ungleichheit und Globalisierung – seit geraumer Zeit unter dem Konzept der »Risikogesellschaft« behandelt (Beck 1986, 2007). Beck dramatisiert damit die Identitätsproblematik im Kontext anderer gesellschaftlicher Unsicherheitslagen. Dieses Nachdenken über die »ambivalente Individualisierung« steht in der Tradition von Simmel, Elias sowie Beck und bringt das »Risiko-Individuum« hervor (vgl. Schroer 2001: 13). Der Verlust der alten Gewissheiten und der zunehmende Bezug des Individuums auf sich selbst konstituieren eine Identitätsform, die sich als »reflexiver Subjektivismus« bezeichnen lässt (Schimank 2002: 82). Das Bild der überkommenen »substantiell-teleologischen Identität« wird in der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft durch diese neue Identitätsform abgelöst – von einer Auflösung der Identität oder Identitätslosigkeit zu sprechen, ist dabei nicht zweckmäßig (vgl. Schimank 2002: 85 f.). Die allgemeine kulturtheoretisch (nicht im engen Sinne soziologisch) verankerte Diskussion um Identität setzt sich begriffs- und diskursgeschichtlich sehr detailliert mit diesem Thema auseinander. Neben der grundsätzlichen Unterscheidungsnotwendigkeit zwischen Identität und Individualität (Straub 1998: 78; Tugendhat 1989: 285) ist es für das Verstehen des Spannungsverhältnisses von Autonomie und Heteronomie für die jeweilige Identität zweckmäßig, anstelle von Zuweisungen jeweiliger Extreme zu ihr, graduelle Differenzen zuzuordnen. Im dialektischen Denken von Adorno und Merleau-Ponty ist dies so angelegt (vgl. Straub 1998: 80 f.). Von großer Bedeutung für eine eindeutige Begriffsklärung ist die Bestimmung der jeweiligen historischen Zuordnung des Identitätsbegriffs, was unter den heutigen Bedingungen der Moderne zu einem subjekttheoretischen Reflexionsbegriff führt (vgl. Straub 1998: 82 f.). Unter personaler Identität (in Unterscheidung von kollektiver Identität) wird, hauptsächlich von Erikson ausgehend, ein Begriff entwickelt, der den Ansatz des symbolischen Interaktionismus, als Erbe des Pragmatismus, über Mead zu Strauss und Goffman zwar benennt (vgl. Straub 1998: 77; Wagner 1998: 53); in der konkreten Ausführung aber nur noch implizit berücksichtigt (vgl. Straub 1998: 83 ff.; Wagner 1998: 70). Es wird zwar für eine situationsund damit gegenwartsgebundene Aktualisierung von historischen Wissensbeständen, die »weder in präsentistischem Empirismus noch in kulturellem Determinis-
20
Einleitung
mus erfaßt werden kann« plädiert (Wagner 1998: 72), aber nicht anhand der oben bezeichneten Linie expliziert. So verhält es sich auch in den aktuelleren kulturtheoretischen Betrachtungen zur Identität, die insbesondere unter dem Begriff des Subjektes gefasst werden: Der grundsätzliche Aspekt der »Komplementarität« der Mead’schen Ausgangsposition zu Erikson wird zwar anerkannt (Reckwitz 2008: 77; Reckwitz 2001: 27), die Linie aber nur teilweise anhand des symbolischen Interaktionismus weiter in die Phase des Poststrukturalismus verfolgt und zwar über die Ansätze von Krappmann, Goffman oder Keupp. Zudem wird Identität nur noch als Teil des Subjektes und damit als sekundärer Begriff ausgewiesen (vgl. Reckwitz 2008: 79). Die für die poststrukturalistische Phase der Theoriebildung des Subjektes benannte Doppelstruktur zeigt sich wie folgt: »Indem sich der einzelne bestimmten kulturellen Ordnungen unterwirft, die ihm körperlich und psychisch die Merkmale akzeptabler Subjekthaftigkeit ›einschreiben‹, kann er erst jene Kompetenzen von Selbstregierung, Expressivität, rationale Wahl etc. ausbilden, die ein Subjekt ausmachen sollen. Zugleich löst sich im poststrukturalistischen Kontext der Identitätsbegriff von seiner Kopplung an eine normative Theorie, an Konstanzannahmen und der Fixierung an die Primärsozialisation.« (Reckwitz 2008: 78)
Genau jene Loslösungen von Konstanzannahmen und der Fixierung an eine Sozialisation in der Kindheit sind im Rahmen der theoretischen Positionen eines weitgefassten symbolischen Interaktionismus zur Identität, ausgehend von Mead (1934) und vortrefflich auf den Punkt gebracht bei Strauss (1959), vorhanden. Besonders Strauss entwickelt sein dynamisches, tentatives, reflexives, nie abgeschlossenes Identitätskonzept explizit gegen den hauptsächlich auf die Primärsozialisation beschränkten psychoanalytischen Ansatz von Erikson. Dieser vom großen Diskurs zum Subjekt eher vernachlässigte Zweig einer Identitäts- und Gesellschaftsauffassung ist über Luckmann (in der Tradition von Schütz) und Soeffner bis in die heutige Zeit nachzuverfolgen. »Das ›Ich‹ ›emergiert‹ in dieser Sicht aus einer sozialen Praxis«, es ist ihr Ergebnis und nicht etwa vorgängig (Reichertz 2008: 83), und trotzdem ist die Subjektivität eine Bedingung der Kommunikation, was sie in ihrer Gesamtheit zu einer transzendentalen Subjektivität werden lässt (vgl. Knoblauch 2008: 68). Diese reflexive Konstitutionsbedingung von Identität in gesellschaftlicher Interaktion »bewirkt, daß der einzelne zugleich Teil und Kontrollinstanz jedweden Kollektivs ist«, der einzelne ist das »Konkrete, das im Gegensatz zum abstrakten Sozialen steht«; die »partielle Asozialität des Individuums« ist es, woraus sich die Humanität speist, als »Abweichung und Freiheit gegenüber kollektiven Zwangsund Wahnvorstellungen« (Soeffner 2000: 330). Eine widersprüchliche Einheit bilden danach die Zugehörigkeiten des Individuums zum Kollektiv und dessen gleichsame Distanz. In den westlichen Demokratien wird dieses scheinbare Paradox nicht aufgelöst, sondern ist im Gegenteil Garant der Verfassungen: die »Unaus-
Identität und Subjekt
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gleichbarkeit des Gegensatzes von Situation und Norm« (Plessner 2002: 96), aber auch von »kollektivem Anspruch und individuellem Interesse« (Soeffner 2000: 331). Hier werden nach Soeffner »die gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen der modernen Strafjustiz« sichtbar, in denen der reinen formalen Rationalität eine strukturelle Kontrollinstanz anbeigestellt wird, die nicht nur die historische Relativität von (Rechts-) Normen berücksichtigt, sondern den Glauben »an die innerweltliche ›Heiligkeit‹ des Individuums« an die Stelle des religiös und überpersönlich wirkenden Rechts stellt (Soeffner 2000: 331 f.). Dass dies nicht immer so war, sondern durchaus als Entwicklung moderner demokratischer Verfassungen gesehen werden kann, soll im Folgenden deutlicher werden. Mead verwirft die Vorstellung (eines Spinoza und Hobbes) von Naturrechten, die den gottgegebenen Rechten nachfolgten (vgl. Meder 2001: 211 f.) und den Individuen von Natur aus innewohnen, das heißt »der Gesellschaft voraufgehen« mit dem Argument, dass »ein Recht seine Anerkennung impliziert, und daß es sich hierbei um eine Anerkennung handelt, die nicht außerhalb einer organisierten sozialen Gruppe gefunden werden kann« (Mead 1987: 412).
So kann das Naturrecht auf Freiheit »durch den geistreichen und prägnanten Satz wiedergegeben werden, daß es keine Freiheit gibt, es sei denn unter dem Gesetz« (Mead 1987: 410). Diesem aufklärerischen Argument gegen außerhalb menschlicher kommunikativer Konstruktion existierender Normen stellt Mead in seiner Konzeption von Identität das Wechselspiel von Me und I zur Seite (Mead 1968: 236 ff.), wobei für die gesellschaftlichen Institutionen ein Übergewicht der Regulierungsmacht des Me zugestanden werden kann. Er verweist in seinem Aufsatz über die Strafjustiz auf die Tragödie »Justice« von John Galsworthy mit der Einschätzung, Galsworthy »behandelt den weithin bestehenden Gegensatz zwischen gesetzmäßig verfahrender Justiz und sozialem Gut an einem Einzelfall« (Mead 1987: 259). In seiner abschließenden mündlichen Urteilsbegründung spricht der Richter dort Folgendes: »The law, is what it is – a majestic edifice, sheltering all of us, each stone of which rests on another. I am concerned only with its administration. The crime you have committed is a very serious one. I cannot feel it in accordance with my duty to society to exercise the powers I have in your favour.« (Galsworthy 1911: 59)
Dieses Beispiel ist zwar als literarisches Werk in Beziehung zum Strafprozess (und zudem für den englischen) erschaffen worden, es bringt aber dadurch den uns interessierenden Bereich noch schärfer ins Blickfeld. Hier kann der Einzelfall, das Individuum, nicht obsiegen – doch darum geht es für uns letztlich nicht –, auch heute ist dies häufig der Fall. Was den Unterschied ausmacht, ist die zugesprochene Hochstellung des Gesetzes, die »Majestät«, die Überhöhung, fast religiöse Verabsolutierung des Abstrakten, des für alle zu Geltenden. Eine solche Überhöhung des überpersönlichen Rechts ist heute – aufgrund des Wissens um die historische
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Einleitung
Bedingtheit und des Voranschreitens des Glaubens an das Individuum – immer weniger vorstellbar. Das Prinzip des Regulativs durch die Stärkung des Einzelfalles, des Individuums, bringt den Richter in eine Dilemmasituation. Genau diesen Konflikt, dieses Paradox in sich, im konkreten Fall und stellvertretend für die Gesellschaft, immer wieder auszuhalten und zu lösen, ist die generelle Aufgabe des heutigen Richters. Er vereinigt dadurch in seiner Person, in seinem beruflichen Selbstverständnis dieses gesellschaftliche Problem paradigmatisch wie kein anderer. Der Richter ist der Akteur, der in seinem Selbstverständnis die Möglichkeit für konkrete Handlungsoptionen in diesem prekären Feld parat haben muss, sie täglich abruft und aktualisiert. In den jüngsten Diskussionen zur Handlungstheorie wird eine enge Verbindung von Selbstbildern, Deutungsmustern und sich daraus ableitenden aktuellen Handlungsrealisierungen konstatiert; Handlungsselektion als Selektion von Deutungsmustern ist demnach in Richtung einer wissenssoziologischen Handlungstheorie zu deuten (vgl. Schulz-Schaeffer 2008: 363 u. 376). Durch die Rekonstruktion der richterlichen Selbsttypisierungen in der vorliegenden Arbeit wird ein Schritt in diese Richtung gegangen und bietet einen Anschlusspunkt für weitere Forschung.
Typologie der Richterbilder – Fragestellung, Bedeutung und Aufbau der Untersuchung Das Wissen über Richter aus soziologischer Perspektive zu vertiefen – oder etwas provokanter formuliert: auch infolge der sich weiterentwickelnden Methoden und theoretischen Zugängen sozialwissenschaftlicher Forschung erst wieder neu zu entwickeln –, ist ein zentraler Beweggrund für diese Arbeit. Angestoßen wurde diese Forschung durch einen Projektzusammenhang der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter der Leitung von Martin Morlok, indem es um die empirische Erforschung der richterlichen Praxis ging (vgl. Morlok 2004 und Abschnitt 1.2.2.9). Die Konzeption von Recht ist hier grundlegend im Rahmen interaktiver Praxis zu verstehen, deutlich zum Ausdruck kommend schon unter dem Titel des Eingangsprojektes: »Recht als soziale Praxis« (Morlok, Kölbel, et al. 2000). Recht lässt sich als Fortführung einer »intersubjektiven Konstitution und kommunikativ-interaktiven Konstruktion von Normativität« deuten (Stegmaier 2007: 733). Dabei steht gerade die »Plastizität des Normativen« (Stegmaier 2008: 271) im Vordergrund, die Wahrnehmung von Recht als ein bewegliches interaktives soziales Phänomen und nicht als monolithischer unveränderbarer Block. Das gesellschaftliche und speziell das wissenschaftlich fundierte Wissen über das richterliche Selbstverständnis in jenem interaktiven Prozess der Erschaffung der gesellschaftlichen ›Normativität‹, welches im Zentrum dieser Untersuchung steht, ist äußerst gering, zumeist ist es sehr alt und thematisch a priori eingeengt.
Typologie der Richterbilder – Fragestellung, Bedeutung und Aufbau der Untersuchung
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Die vorliegende Forschung betritt demnach auf ihre Art Neuland, verbindet Ansätze rechtssoziologischen und rechtswissenschaftlichen Interesses am Richter mit wissenssoziologischen und allgemeinsoziologischen Theorien des Individuums unserer heutigen Gesellschaft. Richter, als Akteure der rechtsprechenden Gewalt einer demokratischen Gesellschaft, standen zwar schon sehr früh im Mittelpunkt einiger Forschungen (vgl. Abschnitt 1.2.2), doch wurden dort zunächst Sammlungen sozialstruktureller Merkmale vorgenommen. Infolgedessen wurden diese Merkmale mit Entscheidungsverhaltensweisen in Beziehung gesetzt; ein rechtswissenschaftlich-rechtssoziologisches Interesse steuerte diesen letztlich zum Scheitern verurteilten Versuch. Einen solchen – vermessenen – Anspruch, mit isolierbaren Faktoren auf das Entscheidungshandeln zu schließen, erhebt diese Untersuchung nicht. Allenfalls können mit der gebotenen Vorsicht Überlegungen zur Handlungsrelevanz der Selbsttypisierungen angedeutet werden. Leser, die sich erhoffen, durch die Zuordnung von ihnen bekannten Richtern zu den hier erarbeiteten Richtertypen einen Hinweis auf typische Urteile oder gar Strafhöhen (für die Strafgerichtsbarkeit) zu erlangen, werden enttäuscht, denn ein solch konkreter Anschluss ist weder beabsichtigt noch möglich. Es geht nicht um Typen von Einzelpersonen und nicht um individuelle Taten, sondern um Typen von Handlungsweisen, die der Identifikation von Richtern – auch und gerade unter ihresgleichen sowie anderen Gerichtsakteuren und gegenüber dem Forscher im Interview – dienen. Auch wenn jenes, für viele nicht zu Unrecht als sehr relevant bezeichnete Ziel einer Forschung nicht angestrebt ist, gibt es einen Erkenntnisgewinn, den es sich lohnt näher zu betrachten. Eine empirisch gewonnene Typologie von Richtern, die nicht aus öffentlichen Erwartungsbildern, den gesetzlichen Grundlagen oder den Reden und Schriften richterlicher (oder sonstiger mit der Justiz befasster) Funktionäre, sondern aus der Beobachtung des Gerichtsarbeitsalltags und den Gesprächen über diesen erarbeitet wird, erhebt den Anspruch, realistisch zu sein, subjektiv-rekonstruktiv und schließlich als Typologie generalisierend und erschöpfend. Eine solche Arbeit liegt den Sozial- und Rechtswissenschaften bislang nicht vor. Der interessierte Leser, so die Hoffnung, wird am Ende ein umfassendes Bild über den aktuellen bundesdeutschen Richter erhalten. Jenes Bild wird den Richter unter den verschiedenen Bedingungen seines Arbeitsalltags zum einen beschreiben, zum anderen die entsprechenden Selbsttypisierungen aus ihrem lebensweltlichen Zusammenhang durch verstehenden (rationalen) Nachvollzug im Rahmen der Rekonstruktion erklären. Der Typologiezusammenhang stellt schließlich die Antwort der Richter (in ihrem Selbstverständnis) auf die Handlungsproblematik der Praxis ihrer Profession dar. Oder anders formuliert: Mit diesen typischen Entäußerungen von und über sich kann der Richter dem selbstbezüglichen Kohärenzdruck seiner Identität in Form von typischen Selbstbildern begegnen.
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Einleitung
Das in seiner Praxis zu bewältigende Handlungsproblem des Richters lässt sich zu Beginn der Forschung wie folgt beschreiben: Im Spannungsfeld eigener, derer der Beteiligten, professionsinterner und öffentlicher Erwartungen gilt es den jeweiligen Fall, das heißt: die Norm- und Sachunbestimmtheiten in Bestimmtheit zu überführen, die als tragfähige Lösung von den Beteiligten und (oder notfalls nur!) der Profession akzeptiert wird. Ausgehend von diesem zentralen Handlungsproblem2, welches sowohl eine hohe Interaktionsanforderung als auch eine hohe Anforderung an rationales und systematisierendes Denken beinhaltet, entwickelt ein Richter im Laufe seiner akademischen Ausbildung und beruflichen Sozialisation ein entsprechendes Selbstverständnis, welches soziologisch gefasst von Rollenübernahmen über die Aneignung von Deutungsmustern bis hin zur Inkorporierung eines Habitus reicht. Ein so verstandenes (berufliches) Selbstverständnis – so der methodische Zugang – entäußert sich in bzw. über Selbsttypisierungen, die aus richterlichen Gesprächen über oder bei ihrer Arbeit sowie aus Beobachtungen gerichtlicher Interaktionen gewonnen werden können. Eine derart rekonstruierte Typologie gibt einen vertieften Einblick in das richterliche Selbstverständnis, welches sich – so das empirisch gewonnene Wissen allgemein vorwegnehmend – entlang der folgenden Dimensionen entfaltet: institutionelle Bedingungen, arbeitspraktische Umgangsweisen und individuelle Beweggründe. Die große Klammer, die integrativ das richterliche Selbstverständnis zusammenhält, ihr wesentlicher Kern ist und in alle Dimensionen wirkt, ist dabei der Aspekt der verinnerlichten richterlichen ›Unabhängigkeit‹. Mit einem solchen Ergebnis zielt die Untersuchung auf eine umfassende Beschreibung und Erklärung der in professioneller Praxis entstehenden Selbstbilder von Richtern und leistet einen Beitrag zur Grundlagenforschung wesentlicher Akteure der Rechtsprechung in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Anspruch dieser Arbeit, eine Rekonstruktion von Selbsttypisierungen des Großteils der aktuellen deutschen Richterschaft darzulegen, spiegelt sich dabei in der einbezogenen Grundgesamtheit wider: Richter der deutschen ordentlichen (das heißt Zivilund Straf-) Gerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit mit Ausnahme der Bundes- und Verfassungsgerichte, was 83 % der Richter an 77 % der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland entspricht (vgl. Abschnitt 2.8). Das Einleitungskapitel wird – nach dieser Übersicht – zunächst zum Standort der Arbeit in dem Dreigestirn Soziologie, Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft Stellung nehmen und den Begriff der Selbsttypisierung für die Untersuchung spezifizieren. Der darauffolgende Abschnitt (1.1) wird die soziologische 2
Hier handelt es sich um die Beschreibung des konkreten alltäglichen Handlungsproblems der Interaktionsebene, sozusagen eine Stufe »niedriger« als das generelle Problem der Unausgleichbarkeit zwischen Norm und Situation, für das der Richter, wie oben angedeutet und im Verlauf der Arbeit expliziert werden soll, paradigmatisch ist.
Soziologie – Rechtssoziologie – Rechtswissenschaft
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Grundposition der in spiegelbildlichen Interaktionen ausgebildeten Identität darlegen, ihre Verbindung zur Rollentheorie und zu Deutungsmustern zeigen und somit einen theoretischen Rahmen zum Konzept der Selbsttypisierungen für diese Arbeit festlegen. Sodann wird im Kapitel (1.2) der Forschungsstand der empirischen Richterforschung skizziert und anhand einzelner bedeutender Untersuchungen vertieft, um dem Leser Bestände und Lücken der bisherigen rechtssoziologischen Auseinandersetzung mit dem Thema nahezubringen. Es folgt der Abschnitt (2) zur methodischen Herangehensweise, die sich in der Tradition der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik eines qualitativen Forschungsansatzes bedient. Der Hauptteil (3) dieser Arbeit leistet die Darstellung der empirisch rekonstruierten Typologie richterlicher Selbstverständnisse. Er beginnt mit der Analyse der typischen Konstellation richterlicher Handlungsprobleme (3.1) und legt sodann nacheinander die drei Hauptdimensionen dar: die ›Basis‹-Dimensionen, die sich auf Strukturen der Gerichtsorganisation beziehen (3.2), die Dimension des ›Gesetzes- und Methodenbezugs‹, die sich in arbeitspraktischen Umgangsweisen entwickeln (3.3), sowie die Dimension des ›Antriebs‹, die individuelle Beweggründe in richterlicher Praxis aufzeigt (3.4). Als zentrale und umfassende Figur schließlich verbindet die ›Unabhängigkeit‹ die zentralen Punkte aller Dimensionen und stellt somit die alles Übrige integrierende Hauptkategorie des Empirieteils dar (3.5). Im Schlussteil der Arbeit werden die wesentlichen Ergebnisse zusammengefasst (4.1) und die Bezüge zur soziologischen Theorie ausgewiesen und vertieft (4.2). Dort werden die Bedeutung der individuellen ›Unabhängigkeit‹ für den Richter einerseits und die gleichzeitige Abhängigkeit der richterlichen Tätigkeit vom gesellschaftlichen Wandel andererseits herausgearbeitet. Zudem wird die Handlungsproblematik des Richters in der Folge der empirischen Analyse theoretisch unter dem Aspekt der Definition der Situation spezifiziert. Die Arbeit schließt mit einer generellen Zusammenfassung hinsichtlich des Identitätsdiskurses (5) und einem Ausblick auf Potentiale künftiger rechtssoziologischer Forschung, die sich unter dem Begriff der Rechtspraxisforschung weiter etablieren könnten (5.1).
Soziologie – Rechtssoziologie – Rechtswissenschaft Hans-Georg Soeffner schrieb 1983 in seinem Beitrag zu dem Sammelband »Recht und Sprache« einer gleichnamigen Tagung, dass er sich als Soziologe nicht so sehr dem zuordnen möchte, was zu jener Zeit als Rechtssoziologie verstanden wurde. Er kritisiert vor allem den Versuch, als Soziologen bessere Juristen sein zu wollen, und den Mangel an Unterscheidungsfreudigkeit zwischen Jurist-Sein und Soziologe-Sein: »Wollen sie juristische Probleme lösen oder soziologische Antworten auf Fragen nach Aufgaben, Funktionen, Schwierigkeiten und historischen Bedingungen juristischen Handelns erarbeiten?« (Soeffner 1983: 74)
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Einleitung
Was auf der einen Seite zu dem bedauernswerten Verlust eines Rechtssoziologen auf der Bühne rechtssoziologischer Wissenschaftler führte – trotz einer intensiven inhaltlichen Beschäftigung3 –, war zugleich die Benennung eines virulenten Problems der soziologischen Beschäftigung mit dem Recht, vor dem sich auch der Autor dieser Arbeit zu hüten bemüht hat. Ohne Soeffner allzu sehr zu missdeuten, kann diese Unterscheidungsnotwendigkeit in der Tradition Max Webers gesehen werden, der eine juristische (rechtsdogmatische) Betrachtung stets von einer soziologischen (eben besonders der empirischen) zu trennen bemüht war (Weber 1980: 181f.), was grundsätzlich auf sein Postulat der Werturteilsfreiheit von empirischen Disziplinen zurückgeht (Weber 1991: 149). Eine Untersuchung wie diese, die zum Ziel hat, Selbsttypisierungen von Richtern sozialwissenschaftlich zu rekonstruieren, gelangt jedoch von vornherein in jenes von Soeffner beschriebene Problemfeld hinein. Das liegt darin begründet, dass sie aus den sprachlichen Äußerungen juristisch und rechtspraktisch geprägter Akteure (Typisierung erster Ordnung) eine Typologie (zweiter Ordnung) zu erstellen sucht, die einerseits so gegenstandsnah wie nötig, andererseits so sozialwissenschaftlich-theoretisch abstrakt wie möglich zu sein hat und die dabei eben auf jene sprachliche und inhaltlich Ordnung des Feldes »Rücksicht« nimmt (vgl. Schütz 2004: 374 f.), oder anders: genau dies im Sinne einer verstehenden Perspektive als eines ihrer Qualitätsaspekte ansieht. Das ganze Unterfangen ist somit von Beginn an eine Gratwanderung, wie vieles was an der Schnittstelle von Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft theoretisch wie empirisch in Angriff genommen wurde und wird. Der Anspruch dieser Arbeit liegt jedoch in der Position Soeffners bzw. Webers, letztlich aus der Position der Soziologie die Forschung zu beginnen, dann nach weiten Exkursen in die mitunter rechtswissenschaftlich verstandene Rechtssoziologie wieder zu ihr zurückzukehren, um letztlich »soziologische Antworten auf Fragen nach Aufgaben, Funktionen, Schwierigkeiten und historischen Bedingungen juristischen Handelns« (Soeffner 1983: 74) zu erarbeiten. Selbsttypisierung – Selbstverständnis und Selbstbilder Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht mit der Rekonstruktion der ›Selbsttypisierungen‹ von Handelnden ein Begriff, der nicht zu den häufig bemühten Kategorien der Soziologie gehört. In der Anlage der Überschrift dieses Kapitels ist bereits die gemeinsame Bedeutungsebene dreier dort verwendeter Begriffe angedeutet, wie auch die Schwierigkeit, einen einzelnen treffenden Begriff zu fassen. Dies ist wohl3
Soeffner publizierte in der Folge immer wieder – auch mit anderen zusammen – rechtssoziologische Texte (u.a. Soeffner 1983, 1984, 1988, 1992, Soeffner und Cremers 1988, Soeffner, Lau, et al. 1994, Soeffner 2000: 310 ff.) und hatte einen regen Austausch mit Juristen, insbesondere im Zusammenhang mit richterlichen Fortbildungen. Ihn von außen nicht (zumindest auch) als Rechtssoziologen zu bezeichnen, geht inhaltlich an der Realität vorbei.
Soziologie – Rechtssoziologie – Rechtswissenschaft
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bedacht, denn diese drei Begriffe werden in bestimmter Hinsicht immer wieder in der Arbeit auftauchen. Sie deuten von ihrem gemeinsamen Gehalt aus auf verschiedene Dimensionen ihrer Verwendung. ›Selbsttypisierung‹ zielt auf den Vorgang, in dem sich das Selbst typisch entäußert, den Handlungsvollzügen, die einer Empirie zugänglich sind – sei es in Sprache, Gesten oder Ähnlichem. Dieser Begriff verweist damit auf die interaktionelle Dimension. Alfred Schütz formuliert das Konzept der ›Selbsttypisierung‹, wie er für diese Untersuchung grundlegend ist, wie folgt: »Konstruiere ich den Anderen als nur partielles Selbst, als Darsteller typischer Rollen oder Funktionen, so findet dies eine Entsprechung im Prozeß der Selbsttypisierung, der einsetzt, sobald ich mit dem Anderen in soziale Wirkensbeziehungen eintrete. Ich nehme an einer solchen Beziehung auch nicht als ganze Persönlichkeit, sondern nur mit bestimmten Persönlichkeitsschichten teil. Indem ich die Rolle des Anderen definiere, nehme ich selbst eine Rolle an. Indem ich das Verhalten des Anderen typisiere, typisiere ich mein eigenes Verhalten, das mit dem seinigen verbunden ist.« (Schütz 1971: 21)
Diese Ausgangslage zum Begriff der ›Selbsttypisierung‹ lässt einen Zusammenhang zum Selbstverständnis in Erscheinung treten. Der Begriff ›Selbstverständnis‹ kommt zwar im Sprachgebrauch häufig vor (vgl. Morlok 1993: 16 ff.), nicht jedoch so häufig in Nachschlagewerken.4 Im Duden Bedeutungswörterbuch wird das Selbstverständnis mit dem Bild und der Vorstellung von sich selbst erläutert, sinnverwandt werden die Selbsteinschätzung und Selbstinterpretation aufgeführt (Müller 1985). Etymologisch kommt man dem Begriff nicht genauer auf die Spur (Kluge 1995), erste Nachweise werden bei Goethe gesehen (Morlok 1993: 21). Philosophisch dürfte das Selbstverständnis über den reflexiven Selbstbezug eng mit dem Selbstbewusstsein zusammenhängen und »im Sinne der ›natürlichen‹ Erfahrung« ausgelegt werden, »dass Subjekte empirisches Wissen von ihren mentalen und intentionalen Zuständen haben« (Gethmann 1995: 755). Für die steigende Bedeutung von Selbstverständnis als Rechtskriterium siehe Morlok (1993), wo auch auf den für uns interessanten allgemeinen Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft verwiesen wird.5 Nicht ein kontemplatives Selbstverständnis der eigenen Introspektion oder ein zur Profilierung nach außen getragenes KollektivSelbstverständnis, sondern ein Selbstverständnis, welches sich durch Interaktion im und mit dem Gegenüber entwickelt, ist Gegenstand dieser Untersuchung. Die ›Selbstbilder‹ nehmen dabei eine vermittelnde Funktion auf dem Weg zur Beschreibung der Selbsttypisierungen ein, sie sind schon sprachlich besser fassbare Konstrukte. Das Verständnis, welches sich eben auch über Bilder entäußert, mündet in 4 5
Ganz im Gegensatz zur modernen »Selbstverwirklichung«, auch wenn die Verwirklichung von etwas logisch betrachtet nach dem Verständnis desselben kommen müsste. Bei Morlok geht es um den Terminus Selbstverständnis als eine rechtliche Kategorie, mit dem die Rechtspraktiker – angewendet auf die Akteure ihres Falles – arbeiten, auch um den veränderten Gegebenheiten der Gesellschaft Rechnung zu tragen. Es geht dort nicht, wie in dieser Arbeit, um das Selbstverständnis des Rechtsakteurs selbst, spezifisch des Richters.
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Einleitung
Typisierungen oder anders gewendet: Selbstbilder sind eine spezifische Form von Selbsttypisierungen. ›Selbstverständnis‹ bietet aber als ›self‹ – als Selbst – verstanden die theoretische Zusammenführung durch die Konzeption von Mead (1968 [1934]), die im Sinne des ›I‹ und des ›me‹ einen unzertrennlichen Hintergrund menschlicher Existenz aufzeigt: Das Individualität erlebende ›I‹ und das sich an den Sichtweisen und Vorstellungen der anderen orientierende ›me‹ finden im ›self‹ ihren kohärenten Zusammenhang. Der Ausdruck dieses ›self‹ gelingt – so die nicht hintergehbare Definitionsvorgabe des Begriffs ›Ausdruck‹ – nur durch Entäußerung in materieller, empirisch zugänglicher Form. Die so entstandenen Selbsttypisierungen des ›self‹ tragen oder transportieren die je individuelle Melange aus ›me‹ und ›I‹, erfassen aber nicht, was dem ›self‹ als isoliertes ›I‹ in nicht interaktioneller Eigenreflexion begegnen möge. Somit bleibt immer eine Restdifferenz zur isolierten »reinen« Selbstwahrnehmung, von der hier nicht die Rede sein soll.6 Das »Selbst« als Bezugsorientierung individueller Akteure öffnet an dieser Stelle die Tür zu anderen disziplinären Verwendungsbereichen.7 Die empirische Soziologie nimmt das Selbst, im Sinne Meads verstanden, als gegebene »Blackbox« zur Kenntnis und wendet das Auge auf individuelle Typisierungen einzelner Akteure im Spiegelgeflecht ihrer gesellschaftlichen Einbettung. Diesen soziologischen Zugang zu Selbsttypisierungen auf Grundlage der Mead’schen Unterscheidung von ›me‹ und ›I‹ formuliert Schütz wie folgt: »Wir müssen jedoch im Blick behalten, daß die alltäglichen Konstruktionen in den Typisierungen des Anderen und in meiner Selbsttypisierung in einem beträchtlichen Ausmaß sozial abgeleitet und sozial gebilligt sind. Innerhalb der Eigengruppe wird die Mehrzahl der personalen Typen und der Typen des Handlungsablaufs als selbstverständlich hingenommen in Form gesammelter Regeln und Anweisungen, die bisher jeder Prüfung genügt haben und von denen dies auch zukünftig erwartet wird.« (Schütz 1971: 22)
In diesen selbstverständlichen Bereich professioneller Selbsttypisierungen von Richtern sucht diese Forschung vorzudringen. Im folgenden Kapitel werden zu Beginn das Konzept der Spiegelungsprozesse, in denen diese Selbsttypisierungen stattfinden, vertieft und die theoretischen Anschlüsse an die dabei im Zusammenhang stehenden Begriffe von persönlicher Identität und Rolle, um den begrifflich theoretischen Rahmen der Arbeit weiter zu kennzeichnen.
6 7
Ebenso wenig geht es um eine ›Selbsteinschätzung‹ (vgl. Mayntz 1962). So z. B. Philosophie und Psychologie.
1
Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
In diesem Kapitel sollen die grundlegenden theoretischen Positionen unter dem Oberbegriff der ›Spiegelungsprozesse‹ mit Hinsicht auf das Forschungsinteresse und Forschungsfeld dargelegt werden (1.1). Im Rahmen einer empirisch ausgelegten Arbeit – zumal im Sinne einer Grounded Theory – kann diese Vorarbeit aber kaum über einen »sensitivierenden« Charakter hinausgehen. So werden nach dieser Vertiefung der theoretischen Grundlagen einer Selbsttypisierung, die bereits in der Einleitung eingeführt wurde, sowohl ein kurzer Blick auf die historische Genese des Feldes »Recht und Justiz« geworfen (1.2.1), als auch eine extensivere Rekapitulation des empirischen Forschungsstandes zum hier anvisierten Forschungsfeld vorgenommen (1.2.2). Dieses Kapitel dient folglich nicht nur der allgemeinen theoretischen Vorbereitung, sondern insbesondere auch der Verdeutlichung des »folgerichtig« erscheinenden Anschlusses dieser Forschung – mit ihrem spezifischen theoretischen Hintergrund – an eine an seine Grenzen gestoßene empirische Richterforschung.
1.1
Spiegelungsprozesse
Die Selbsttypisierungen des Richters hinsichtlich seiner Berufspraxis werden von den zur Selbstverständnis- und damit auch Identitätsausbildung wesentlichen Spiegelungsprozessen der sekundären (beruflichen) Sozialisation geprägt. Wir beginnen mit einem etwas längeren Zitat von G. H. Mead, welches uns die allgemeine Idee der Spiegelungsprozesse vertiefend näherbringt: »Jede individuelle Identität innerhalb einer gegebenen Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gemeinschaft spiegelt in ihrer organisierten Struktur das ganze Muster des organisierten gesellschaftlichen Verhaltens, das diese Gesellschaft oder Gemeinschaft aufweist oder abwickelt, und diese organisierte Struktur wird durch jenes Muster geformt. Da aber jede der individuellen Identitäten in ihrer Struktur einen andersartigen Aspekt oder eine andere Perspektive dieses Musters spiegelt, von ihrem spezifischen und einzigartigen Standort innerhalb des ganzen Prozesses des organisierten gesellschaftlichen Verhaltens aus, da somit jede mit diesem ganzen Prozeß andersartig oder einzigartig verbunden ist und eine einzigartige Position innerhalb seiner einnimmt, ist die jeweilige, durch dieses Muster geschaffene Struktur von jeder anderen ebenso geschaffenen Struktur verschieden.« (Mead 1968 [1934]: 246)
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
Ausdruck von Individualität ist somit das Zurückwerfen gesellschaftlich erlernter Muster in einer je individuellen, einzigartigen Weise. Strauss spezifiziert in seinem Ansatz dieses Zurückwerfen in die direkte Interaktion mit den anderen: »Durch die Antizipation des Eindrucks, den der eigene Akt bei jenen anderen, die ihrerseits darauf reagieren werden, hinterlassen wird, sieht man seinen zukünftigen Akt wie in einem komplizierten Spiegel.« (Strauss 1974 [1956]: 34)
Aus genau diesem Zusammenspiel, diesen Spiegelungen, ergeben sich die Formationen, die wir Identität nennen, oder mit Soeffner ausgedrückt: »Identität entsteht in einem Spiegelungsprozeß, ist ein Interaktionsprodukt« (Soeffner 1983: 22). Diese eingängige Sichtweise dient als Ausgangspunkt der folgenden Erörterungen. Das Ziel vorliegender Arbeit, eine Richter-Typologie aufzustellen, liegt dabei auf einer höheren Aggregationsebene als die je individuelle und einzigartige Weise, in der jeder Richter als Individuum es vermag, die verinnerlichten Muster der Gesellschaft widerzuspiegeln. Genauso geht es auf der anderen Seite nicht um allgemeine gesellschaftliche Muster, derer sich wie bei jedem Menschen viele finden lassen, sondern um spezifisch ihre Arbeit, ihre Praxis betreffende Muster. Natürlich sind auch die wiederum durch sie überlagernde Muster (mit-) geprägt, aber hier kommt bereits eine Individualität der richterlichen Berufspraxis zum Vorschein, um die es geht. Mit anderen Worten – es ist eine Aggregatstufe angestrebt, die oberhalb des je absolut einzelnen Individuums liegt, aber auch deutlich unterhalb der allgemeinen gesellschaftlichen Muster. Diese Aggregatstufe ist durch kontinuierliches berufliches Handeln aus einer gemeinsamen beruflichen Sozialisation und Praxis heraus gekennzeichnet und nennt sich in unserem Fall »Richter«. Von dieser Stufe ausgehend werden in die Richtung der Individualität (empirische) Differenzierungen gesucht, die wiederum typische Konstellationen von höherstufigen Aggregaten sein können. Im Folgenden soll somit zunächst eine Vertiefung und Spezifizierung rollen- und identitätstheoretischer Konzepte vorgenommen werden, die eine theoretische Sensitivierung hinsichtlich von Berufspraxis bezogener Selbsttypisierungen leisten kann.
1.1.1
Rolle und Identität
Bevor an einigen Stellen ins Detail gegangen wird, soll kurz auf die allgemeine Rollen- und Identitätstheorie Bezug genommen werden. Es ist daran zu erinnern, dass ihre – teilweise eng miteinander verwachsene (Mead 1934)8 – wissenschafts8
Der Doppelaspekt in der Hinsicht, dass die ›Rolle‹ immer gesellschaftlich geprägt und aufgebürdet wird, zugleich aber auch persönlich erschaffen und gestaltet wird, kommt bei Mead noch nicht sehr stark zum Tragen. J. L. Moreno (mehr im sozialpsychiatrischen Anwendungsbereich bekannt) ist im
Spiegelungsprozesse
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geschichtliche Entwicklung jeweils in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt (Linton 1964 [1936]). Besonders die Verbindung zum Symbolischen Interaktionismus ist prägend und bringt wegweisende Werke hervor, wie die von Goffman (1961, 1963) und Krappmann (2000 [1969]). Während die Rollentheorie in den sechziger Jahren und Anfang der siebziger Jahre – in der deutschen Diskussion durch Dahrendorf (1958) ausgelöst – einen enormen Höhepunkt (vgl. Tenbruck 1961; Popitz 1975; Dreitzel 1968; Claessens 1968) mit anschließender Depression erlebte, von der sie sich bis heute nicht erholt hat,9 ist für die identitätstheoretische Auseinandersetzung in der Soziologie eher ein langsameres Wachstum (u. a. Strauss 1959; Luckmann 1979, 1979) zu verzeichnen. Es hat sich aber, durch die Individualisierungsthese von Beck (1986) belebt, eine »postmoderne« Debatte bezüglich der Identität entwickelt, die im Gegensatz zu der über die Rollentheorie heute noch anhält (vgl. Hitzler und Honer 1994; Giddens 1996; Bauman 1997, auch Keupp 1999; Schroer 2001; Schimank 2002). Die dort im Allgemeinen apostrophierte Brüchigkeit der Identität, die besonders aus dem Wandel in den Berufen hervorgeht, bietet eine geradezu kontraintuitive These zum öffentlichen Erscheinungsbild des Richterberufes, das von seiner konservativen Kontinuität und Beständigkeit geprägt zu sein scheint. Dass die Grundzüge der Rollentheorie für die Berufsforschung heute (noch) fruchtbare Analysen liefern können, zeigt Pfadenhauer (2003). In ihrer professionssoziologischen Arbeit hebt sie die Bedeutung einer interaktionistischen Rollentheorie als Inszenierungstheorie zum Verständnis institutionalisierter Kompetenzdarstellungskompetenz hervor. Rollendistanz und damit einhergehend Rollenbewusstsein führt zu einem Selbstverständnis, welches das Rollenspielen gegenüber dem Rollentragen verstärkt und symptomatisch für das moderne Individuum ist (Pfadenhauer 2003: 112). Dies liefert wiederum Anschlusspunkte an die »postmoderne« Debatte zur Identität. Inwieweit diese Ansätze für den Richter tragen, muss im weiteren Verlauf der Arbeit geprüft werden.
9
Gegensatz zu Mead (und Parsons) auch zu jener Zeit schon stärker von diesem Doppelaspekt der Rolle überzeugt, wie er sich aus der harschen Kritik an Dahrendorf in späteren Jahren entwickelt hat (vgl. Petzold und Mathias 1982: 86 und 208). In der Folge des Höhepunktes der Rollentheorie wurden stark ausdifferenzierte Rollenbegriffe entwickelt wie die von Claessens (1968) oder Gerhardt (1971) oder Anschluss an andere Gebiete gesucht. So in Form der Berufsrollenforschung bei Engel (1977), der Rollentheorie und analytische Arbeitsbewertung zu integrieren sucht (hier ist allenfalls das ›subjektive Rollenmoment‹, als Selbstverständnis verstanden, von Interesse, welches er empirisch »am ehesten mit der phänomenologischen Methode« zu bewältigen versucht und dabei auf die mit Husserl beginnende Tradition verweist, die sich in Verbindung mit dem Symbolischen Interaktionismus in der Linie Schütz und Berger/Luckmann fortzieht (Engel 1977: 244)). In der allgemeinen Rollentheorie gab es Bemühungen, eine Zusammenführung der grundlegenden Begriffe Position und Rolle als allgemeine Qualifikationsanforderungen an Rollenspieler aufzustellen (Geller 1994).
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
Von Mead und Cooley ausgehend begreift Luckmann (1979: 299 ff.) die Fähigkeit zu wechselseitiger Spiegelung als Grundvoraussetzung zur Ausbildung einer persönlichen Identität. Durch diese Fähigkeit kann das Kind im Zuge der Sozialisation im zwischenmenschlichen Vorgang eine persönliche Identität entwickeln, auch wenn diese Reziprozität im frühen Stadium als eine Teilreziprozität zunächst »aufgezwungen« oder vorgelebt ist. Zur wechselseitigen Spiegelung kommt als weitere Grundvoraussetzung die Zuweisung von Verantwortung für das eigene Handeln und die mit diesem Aspekt in Verbindung stehende soziale Kontrolle hinzu. Die Gesellschaft steuert über ›soziale Rollen‹, über die Auffassungs- und Verhaltensformen der Erwachsenen die Entfaltung des kindlichen Selbst. Die ›soziale Rolle‹ wird nach Luckmann als typischer subjektiver Sinnzusammenhang definiert, der a) faktisch handlungsorientiert ist, b) direkt auf sozialen Typisierungen beruht, c) auf komplementäre Sinnzusammenhänge bezogen ist und d) institutionalisiert ist. Bezüglich des Zusammenhanges von persönlicher Identität und Rolle gilt: »Das Zusammenfallen von persönlicher Identität mit einer Rolle ist ein Grenzfall. Wenn sich ein Mensch ganz als eine spezifische Rolle auffassen sollte (z. B. als Richter, Großonkel), so wäre das eine höchst ungewöhnliche (pathologische) Angelegenheit.« (Luckmann 1979: 301)
Luckmann wählt hier nicht von ungefähr den Richter als Beispiel für eine tendenziell engere Kopplung von persönlicher Identität und Rolle, wir werden auf diesen Zusammenhang noch später eingehen (vgl. Abschnitt 4.2.4.2). Rollenzuweisungen der Sozialstruktur, so fährt Luckmann fort, und der gesellschaftlich festgelegten Weltauffassungen prägen die persönliche Identität der Erwachsenen und wirken durch sie auf die Kinder ebenso wie die Rollenbeziehungen der frühesten Sozialbeziehungen. Die soziale Differenzierung schließlich bestimmt den konkreten Inhalt der Sozialisation, die hauptsächlich über die sozialen Rollen bestimmt wird. Im Vergleich zwischen archaischer und moderner industrieller Gesellschaftsform zeigt sich: »der objektive Sinn einer Handlung fällt in den meisten der für den Bestand der Gesellschaft wichtigen Bereiche der Alltagsexistenz nicht mehr wie selbstverständlich mit dem subjektiven Sinn des Handelns für das Ich zusammen. Die Rollenbestimmtheit der persönlichen Identität kann deswegen in diesem Ausmaß erst in modernen Gesellschaften zum Problem werden: anonyme Rollen sind bis zu einem gewissen Grad für alle, erst recht aber für moderne industrielle Gesellschaftsordnungen notwendig; ein sozial weitgehend anonymes Ich muß aber Identität im Subjektiven suchen.« (Luckmann 1979: 306)
Durch die Auflösung einer einzigen verbindlichen Weltauffassung verliert der strukturell zwingende Zusammenhang von Primär- und Sekundärsozialisierung an Kraft, und die Stabilität der persönlichen Identität wird zum subjektiven, zum privaten Problem, quasi als »sozialpsychologisches Korrelat des so genannten Pluralismus der modernen Gesellschaft« (Luckmann 1979: 307). Die Sekundärsozialisierung ist die wichtigste Instanz für Orientierung und Handeln in der Gesellschaft und vermittelt Sonderwissen und rollenadäquates
Spiegelungsprozesse
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Verhalten für die spezialisierten Berufsstrukturen. »Die Spezialisierung institutioneller Bereiche« und ihr verminderter Einfluss, übergreifenden Sinn zu vermitteln, »die Anonymisierung vieler sozialer Rollen, der Bruch zwischen Primär- und Sekundärsozialisierung und Art und Ausmaß von Rollendistanz« bringen die Konstruktion der persönlichen Identität in die Hand des Subjektes (Luckmann 1979: 309). An dieser Stelle könnte man für den Beruf des Richters eine gewisse Sonderstellung proklamieren: Der Richter ist zwar in seiner Rolle hochgradig anonymisiert und austauschbar, nur als gesetzlicher Richter spezifiziert; auch die Rollenanforderung ›ohne Ansehen der Person‹ entzieht ihn eher einer persönlichen Nähe, aber für die Möglichkeit, übergreifenden Sinn zu vermitteln, bietet der Richterberuf einiges an: Von vielen Differenzierungsprozessen der Gesellschaft scheinbar unbehelligt kann für den Richter wenig von ›Entfremdung‹ gegenüber seinem Gegenstand ›Rechtsprechen‹ die Rede sein. Gerechtigkeit herzustellen, so könnte man formulieren, in einer von der Gesellschaft einmalig legitimierten unabhängigen Art und ohne Konkurrenz, hat etwas von einem übergreifenden Sinn, auf den sich der Rolleninhaber beziehen könnte.10 Rollendistanz, so lässt sich Luckmann weiter zusammenfassen, ist zunächst weit gefasst als anthropologische Anlage in der relativen Verfügbarkeit über Alternativen des Handelns im Alltagsleben und im Bruch zwischen Alltag und anderen Wirklichkeitsbereichen gegeben. Gesellschaftlich bedingt jedoch ist die Rollendistanz, wenn die Rollen als Rollen erfasst dem rollenunabhängigen Selbst gegenüberstehen. Wenn »der ausschließliche Realitätsanspruch einer aktuellen Rollenhandlung durch den Realitätsanspruch eines von dieser Rolle unabhängigen Selbst eingegrenzt wird«, gewinnt der Einzelne Distanz zu der Rolle (Luckmann 1979: 310). Das Selbst ist dabei keine Konkurrenzrolle, sondern unabhängige Plattform und Ausgangspunkt der wechselseitigen Relativierungen von Rollen unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz von »einer Biographie«, »eines Bewusstseins« (Luckmann 1979: 311). Rollendistanz setzt eine Spezialisierung von Institutionsbereichen voraus, in denen Rollennormen autonom Geltung haben und in keinen übergeordneten Sinnzusammenhang eingeordnet sind. Somit können in einer Biographie auch nicht kongruente Rollen zusammengebracht sein, deren Wahrnehmung durch Rollenkonflikte verstärkt wird. Die Privatsphäre als Hort des illusorischen Selbst wird ausgegliedert und zum umworbenen Markt neuer quasireligiöser Sinnangebote, welche die entstandene Distanz aber nur umso deutlicher werden lassen können. Ausbildung persönlicher Identität benötigt aber Rollen10 Davon unterscheiden muss man freilich die Tendenz von einigen Gerichten, für Teilbereiche rechtlicher Probleme, die sich durch die gesellschaftliche Wirklichkeit in zunehmendem Maße ausdifferenzieren, sogenannte Spezialkammern (oder -senate) einzurichten. Das Gesamt des Rechtsprechens an einem Fall wird dabei aber nicht angerührt, allenfalls wird die Breite an möglichen verschiedenartigen Fällen eingegrenzt.
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identifikationen, eine zeitlich dauerhafte Rollendistanz ist somit nicht denkbar (vgl. Luckmann 1979: 312 f.). Die Rollendistanz (mit ihren psychischen Symptomen) als Folge autonom geltender Rollennormen ohne einheitlichen Sinnzusammenhang wird uns an einem spezifischen Praxisproblem bei den Selbsttypisierungen wiederbegegnen (siehe Abschnitt 3.3.2 sowie dann zusammen analysierend Abschnitt 4.2.4). Die soeben herausgearbeitete Rollendistanz bringt ein generelles Problem der Rollentheorie bezüglich der Identität zum Vorschein: Gibt es nur Individualität durch den gewählten Mix aus der Menge der Rollen, dem Repertoire des Rollenspielers? Welche Formation zieht dabei welche Rolle an und stößt andere ab? Welche Rollen werden gewählt und warum diese und nicht andere? Oder wird die Person nicht durch die Rollen erkennbar, sondern erst durch die Dementis, durch den Vorgang der Distanzierung von den gespielten Rollen? Wir können den Fragen an dieser Stelle nicht theoretisch nachgehen, werden aber die Problematik auf unsere Untersuchung wenden. Der Fokus dieser empirischen Arbeit liegt auf der Selbstverständnisrekonstruktion und somit weder alleine auf der von außen zuschreibbaren Typisierung durch ›objektive Beobachtung‹ noch alleine auf der reinen Selbstwahrnehmung. Dieses Selbstverständnis kann aus dem gewonnen werden, wie Richter sich selbst sehen, indem sie Rollen aus dem Repertoire auswählen und sich von den ausgewählten noch fein differenzierend absetzen (Dementis) und wie sie dies in Interaktion zum Ausdruck bringen. Im Prinzip haben wir damit zunächst drei Arten von Rollenbeziehungen: einmal die ganz abgelehnten Rollen (»was ich nicht bin«) sowie die, die zwar ausgewählt werden, aber nicht voll übernommen werden (»das bin ich nicht wirklich« oder »das bin ich nicht ganz«). Eine dritte Stufe ist die Rollenübernahme mit vollständiger Identifikation, bei der im Extremfall dann die Frage entsteht, inwieweit diese Rolle einziger Bezugspunkt der Identität ist und damit an das von Luckmann beschriebene Pathologische heranreicht (Luckmann 1979: 301). Wir werden im empirischen Teil diese Stufen wiederfinden (jedoch nicht nach diesem theoretischen Schema klassifizieren). Graphisch lässt sich der momentane Stand wie folgt darstellen: Grad der Selbstidentifikation, die Innenwahrnehmung Prinzipielles Rollenrepertoire Abbildung 1: Grad der Selbstidentifikation
Ausgewählte Rollen mit Dementis
Rollen ohne Dementis
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Der Grad der Selbstidentifikation ist in dieser analytisch (noch) einseitigen Darstellung ausnahmslos durch die Innenwahrnehmung geprägt. Rollen äußern sich in Interaktionen, werden erst in ihnen »lebendig« und real. Damit spiegelt sich die Entäußerung im anderen und die Beschaffenheit der Interaktionsentäußerung bezüglich der eingenommenen Rolle wirkt zurück. Das bedeutet, dass wir zur solipsistischen Identifikation mit der Rolle eine zweite vom Individuum selbst geleistete Qualität benötigen, die ihren Identifikationswert in der Interaktion ausdrücken kann. Hierzu schlagen wir den Begriff der ›Authentizität‹ vor. Der Grad der ›Authentizität‹ (oder dargestellten Authentizität) ist die Kunst des Gelingens, die von den anderen Teilnehmern des Mead’schen Game (vgl. Mead 1968 [1934]: 196)11 »abgekauft« wird. Für den Begriff der ›Authentizität‹ in der hier benötigten Art gibt Oevermann eine Definition, die es zu beachten gilt: Datenmäßig hat man es »immer mit sinnstrukturierten Ausdrucksgestalten zu tun«. Sie »drücken in mindestens einer Hinsicht alle gültig etwas aus, sind also in mindestens einer Hinsicht logisch zwingend authentisch. […] Wir könnten in unseren Wissenschaften insgesamt methodisiert nichts erkennen, wenn wir nicht diese basale Gültigkeitsregel unterstellen würden. Davon muß man allerdings die von den Geisteswissenschaften gemeinhin thematisierte Authentizität unterscheiden, die nicht mehr die Relation der Gültigkeit zwischen einer Ausdrucksgestalt und dem in ihm sich naturwüchsig verkörpernden praktischen Leben meint, sondern darin eingebettet die Relation der Gültigkeit zwischen einem gestaltenden Werk, also einer bewusst edierten Ausdrucksgestalt und einer darin thematischen Wirklichkeit. Diese Gestaltung kann gelingen oder misslingen. Im Misslingen ist die zuerst genannte basale Gültigkeitsrelation keineswegs zerstört, jedoch die auf Prägnanz und Stimmigkeit der fiktionalen Wirklichkeit gerichtete bewusste Gestaltung. Analog dazu kann man von der Authentizität eines Lebensentwurfs oder eines Selbstbildes sprechen, wenn man die Relation der Gültigkeit zwischen diesen Bildungen und der praktischen Realität des Lebens in seinen konkreten Umständen meint. Diese kann ebenfalls gelingen oder misslingen. Das lässt sich methodisch durchaus überprüfen und nicht nur normativ dekretieren.« (Oevermann 2001: 542; Unterstreichung T.B.)
Ohne diese zusätzliche Qualität der ›Authentizität‹, als Ergänzung der (reinen) Innenwahrnehmung, bestünde ein grundsätzliches methodisches Problem: Kann eine Selbstwahrnehmung überhaupt (von außen) rekonstruiert werden? Weil, so die Argumentation, der Rezipient immer schon eine Außendarstellung bekommt. Es sei sozusagen kategorial ausgeschlossen, ein so verstandenes Selbstverständnis eines anderen zu rekonstruieren. Der grundlegende Zweifel daran ist berechtigt und ließe als einzige Methode die Autoethnographie zur Rekonstruktion nur des eigenen Selbstverständnisses gelten. Aber: Eine Autoethnographie ist bereits eine Manifestierung in einem sprachlichen Medium als prinzipiell (interpersonal und gesellschaftlich) vermittelbare Information und somit Entäußerung und Außendarstellung. Entweder, so müsste man folgern, bleibt somit ein so verstandenes Selbstverständ11 Erst beim ›game‹ (Wettkampf) wird der Begriff der Authentizität sinnvoll. Beim ›play‹ (Spiel) ist dies nicht der Fall, weil die Haltung der anderen noch nicht in dem interaktionsbezogenen Sinn von Bedeutung ist.
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
nis grundsätzlich nicht vermittelbar. Dies wäre aber die extreme Kapitulation vor jeglicher Beschreibung der Welt, da sie nicht das sein kann, was sie beschreibt, und Beschreibungen grundsätzlich kommunikativen Charakter haben. Oder man muss was Personen über sich äußern, als etwas gelten lassen, das nicht nur Außendarstellung im technischen Sinne einer politischen Performanz ist, sondern zudem an etwas heranreicht, was sie »wirklich« von sich denken und fühlen. Was sie »wirklich« sind, sei dahingestellt, da eine solche ontologische Frage wiederum nicht zum Selbstverständnis von Handelnden gehört. Wir bewegen uns in einem fließenden Übergang zwischen entäußerter Selbstwahrnehmung und dargestellter (zumeist beabsichtigter) Außenwirkung. Es bleibt immer die Möglichkeit, etwas darzustellen, ohne dass es zur Selbstwahrnehmung einer Person gehört. Vielleicht können Ausdrucksgestaltungen, die nicht authentisch sind, d. h. nicht mit der thematischen Wirklichkeit übereinstimmen (s. o. Oevermann), sogar sehr bewusst verwendet werden, um andere über die eigene Selbstwahrnehmung zu täuschen. Dies kann zum legitimen Mittel im gesellschaftlichen Miteinander avancieren, wie man an Begriffen der Kompetenzdarstellungskompetenz12 ablesen kann. Unter Umständen können solche Täuschungen selbst Identitätscharakter annehmen, etwa bei Trickbetrügern oder Scharlatanen. Der Punkt dieser Unterscheidung ist aber nicht, ob deren Handeln geplant, absichtlich und »bewusst« hervorgebracht wurde, sondern ob es stimmig im Sinne von authentisch ist. Wenn ich eine Person als Scharlatan typisiere, dann ist es geradezu notwendig, dass sie mich vom Gegenteil zu überzeugen sucht und gleichsam in den Interaktionen Differenzen zwischen ihren Entäußerungen und dem suggeriertem Bild auftreten und nachweisbar sind. Auf die wissenschaftliche Erforschung des Selbstbildes, des Selbstverständnisses bezogen, hat dies Konsequenzen für die entsprechende Wahl der empirischen Methode, da sie diesen Doppelcharakter berücksichtigen muss (siehe Abschnitt 2). Wir haben also neben der Selbstidentifikation als Innenwahrnehmung eine zweite Ebene: die der performativen in Interaktionen realisierten Ausdrucksgestalten, die in Außenwahrnehmungen und deren Rückspiegelungen auf das Subjekt realisiert werden und im Konzept der Authentizität die Entsprechung zur Selbstidentifikation bietet.
12 Rollendistanz und damit einhergehend Rollenbewusstsein führt zu einem Selbstverständnis, welches das Rollenspielen gegenüber dem Rollentragen verstärkt und welches symptomatisch für das moderne Individuum ist (vgl. Pfadenhauer 2003: 112).
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Spiegelungsprozesse
Grad der Selbstidentifikation, die Innenwahrnehmung
Rollen ohne Dementis
Prinzipielles Rollenrepertoire
Ausgewählte Rollen mit Dementis
Richterbilder, rekonstruierte Selbsttypisierungen, Identität
Grad der (dargestellten) Authentizität, die Außenwahrnehmung
Abbildung 2: Selbstidentifikation, Authentizität und Rollenbezug
Das Konzept der Authentizität, wie es oben eingeführt wurde, ist über die Performanz, der Ausdrucksgestalt und praktischen Realität unmittelbar an das Körperliche gebunden. Ein größerer Schwachpunkt der Rollentheorie in Bezug zur Identität ist aber gerade die Körper- oder Leibvergessenheit. Luckmann legte Wert auf folgende Grundannahme als biosozial vorgegebenen Rahmen der Identität: »Der Ausgangspunkt ist also, dass persönliche Identität im Schnittpunkt von Leib, Bewusstsein und Gesellschaft steht. Bewusstsein ist in Leiblichkeit verwurzelt und Bewusstsein ist gesellschaftlich geformt; aber Bewusstsein mag auch als eine autonome Erklärungskategorie gelten, da es Strukturen entwickelt, die weder einfache Abbildungen bzw. Spiegelungen von Gesellschaftsstruktur sind noch unmittelbar aus der individuellen Leiblichkeit ableitbar sind« (Luckmann 1979: 297 f.)
Dieser leibliche Bezug kommt in der Verbindung der klassischen Rollentheorie zur Identität nicht zur Geltung, was bezüglich der Praxis richterlicher Berufsausübung (auch in Hinsicht auf handlungstheoretische Aspekte) und einer damit in Beziehung stehenden zu rekonstruierenden Selbsttypisierung weitere Anschlüsse benötigt.
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
Diese konzeptuelle Lücke kann mithilfe von Habitus und – für uns hier bedeutsamer – Deutungsmustern in gewisser Weise gefüllt werden, was im Folgenden zumindest angedeutet werden soll.13 Von Maiwald (1997: 92 f.) ausgehend kann man sagen, dass das mit typisch richterlicher Problemlösung betraute Handeln professionalisierungsbedürftig ist. Es sei ein Handeln, das professionalisiert erfolgen müsse, da es widersprüchliche Momente im praktischen Handeln vereinbaren muss. Dies könne nachgerade nur im Rahmen eines professionellen Habitus erfolgen (vgl. auch Morlok und Kölbel 2001). Neben dieser auf das professionelle Handeln gerichteten Sicht kommt der Habitus auch über den Inszenierungscharakter in das Blickfeld. Die bei Goffman thematisierte performative Körperlichkeit als Inszenierung lässt sich ergänzen durch die körperlich-habituelle Tiefenstruktur im Sinne Bourdieus, was einer Verbindung von Performanz und Habitus bezüglich Körperlichkeit entspricht (vgl. Schmidt 2004: 68). Beide stehen in einem fruchtbaren Wechselverhältnis zusammen, in der oberflächlich Performatives in die Tiefenstrukturen abgelagert werden kann und tiefenstrukturelle Dispositionen in und durch die Aufführung zur praktischen (Über-) Prüfung gelangen. Ein interessanter Übergang von Habitus zu Deutungsmustern findet sich bei Oevermann. »Habitusformationen« sind nach ihm »jene tiefliegenden, als Automatismus außerhalb der bewussten Kontrollierbarkeit operierenden und ablaufenden Handlungsprogrammierungen […], die wie eine Charakterformation das Verhalten und Handeln von Individuen kennzeichnen und bestimmen.« (Oevermann 2001: 45)
Sie liegen etwas tiefer als Deutungsmuster14, denn Letztere »lassen sich eher bewusst machen und durch bewusste Klärung und durch Konfrontation mit widersprechender Realität verändern. […] Habitusformationen sind also mit der individuellen psychischen Entwicklung viel stärker verwoben, als das für Deutungsmuster anzunehmen ist. Entsprechend werden Deutungsmuster viel stärker als Habitusformationen nicht nur milieuspezifisch variieren, sondern mit der Abgrenzung von sozialen Milieus und von historischen Epochen zusammenfallen, ja diese Abgrenzungen ganz maßgeblich bedingen.« (Oevermann 2001: 47) 13 Dass es an dieser Stelle gegenseitige Anschlusspunkte der Konzepte der (beruflichen) Rolle, der Deutungsmuster und einer Art beruflichem Habitus geben könne, scheint schon bei Weber angelegt. Er erwähnte spezifisch zum Richter dessen »Sachlichkeit, die dem inneren Habitus des Fachmanns entspricht« (Weber 1980: 511). 14 Deutungsmuster, so Oevermann, verbürgen »grundlegend als verbindliche Interpretation von Welt eine wie selbstverständlich für gültig gehaltene Orientierung in der typischen, durchschnittlichen und erwartbaren Handlungswirklichkeit der Lebenswelt […], für die sie konstitutiv gelten. […] Insofern sind ›Deutungsmuster‹ den ›Relevanzsystemen‹ der phänomenologischen Soziologie eng verwandt« (Oevermann 2001: 43 und FN 4). Dass wir hier (weitere) explizite Anknüpfungspunkte zu einer Wissenssoziologie der Schütz’schen Richtung haben, ist nicht verwunderlich und bestärkt den grundsätzlichen hermeneutisch-wissenssoziologischen Charakter dieser Arbeit. Dennoch wird die Verbindung zur Relevanztheorie (Schütz 2004) an dieser Stelle nicht geleistet und lässt somit ebenfalls Raum für weitere Forschung.
Spiegelungsprozesse
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Deutungsmuster und noch mehr der Habitus15 entfernen sich von – auf das Kollektiv der Gesellschaft gerichteten – Rollenträgern und damit den beruflichen Konstitutionsbedingungen. Zugleich sind sie tiefer verinnerlicht, inkorporiert und stärker an die Person als Ganzes gebunden: »Deutungsmuster sind also kognitive Formen, deren Geltungsreichweite sich mit der konkreten historischen Praxis von Vergemeinschaftungen als Kollektivitäten von ganzen Personen deckt und deren Geltungsbasis in der vollziehenden Praxis dieser Vergemeinschaftungen verwurzelt ist [und] analytische und konstitutionstheoretische Differenz von Gemeinschaft als Kollektiv ganzer Personen und Gesellschaft als Kollektiv von Rollenträgern, Vertragspartnern und Marktteilnehmern« unterscheidet (Oevermann 2001: 43 f. und FN 5).
Für uns ist daran interessant, dass Deutungsmuster im Gegensatz zu »Rollenträgern« den »ganzen Personen« zugeordnet werden, somit einen höheren Identitätsbezug aufweisen. Deutungsmuster sind stärker verinnerlicht und inkorporiert als Rollen; von ihnen distanziert man sich nicht wie bei den Rollen etwa durch Dementis, um eine Individualität herzustellen. Gleichzeitig bieten sie mehr Variabilität und kognitiven Reflexionscharakter als der Habitus. Somit wird einerseits der körperlich inszenatorische Charakter der Authentizität berücksichtigt, andererseits eine distinktionsfähige Ebene kognitiven Charakters im Blickfeld behalten. Dies ermöglicht einen empirischen Zugang, der sich entlang von – auf Deutungsmustern referierenden – Selbsttypisierungen und –positionierungen beruflichen Praxisvollzugs gestaltet (vgl. Abschnitt 2.5). Der Grad authentischer und nicht authentischer Äußerungen im Verbund mit dem Grad der Selbstidentifikation bzw. Selbstwahrnehmung bilden für das Selbstverständnis wichtige Dimensionen im Zusammenhang mit den theoretischen Konzepten der Rolle und der Deutungsmuster. Sie lassen sich wie folgt schematisch darstellen:
15 Der Habitus muss aber nicht nur als statisches, sondern kann durchaus auch als dynamisches Konzept verstanden werden. Unter dem Gesichtspunkt »Prozess der Habitustransformation« kann die Veränderlichkeit des Habitus trotz inhärenter struktureller Retardierungsaspekte des Feldes betrachtet werden (Rieger-Ladich 2005: 293), was gerade bei Richtern aufgrund der unterstellten Konservativität seinen Reiz hätte.
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
Grad der Selbstidentifikation die Innenwahrnehmung
Richterbilder, rekonstruierte Selbsttypisierungen, Identität
Deutungsmuster
Prinzipielles Rollenrepertoire
Ausgewählte Rollen mit Dementis
(Inkorporierte) Rollen ohne Dementis
Grad der (dargestellten) Authentizität, die Außenwahrnehmung
Abbildung 3: Selbstidentifikation, Authentizität und Identität
Das berufliche Selbstverständnis des Richters in Form von rekonstruierten Selbsttypisierungen kann innerhalb dieses Feldes dargestellt werden. Der entwickelte begriffliche Rahmen ist durchaus vielfältig, deckt aber die in den Selbsttypisierungen empirisch gewonnenen Bezüge bestmöglich ab. Lediglich mit einem der dort verankerten theoretischen Angebote zu operieren, hätte zwar einen begrifflich saubereren Überbau präsentieren können, wäre aber an der besonders durch den empirischen Zugang entdeckten »Realität« vorbeigegangen. Das in den Selbsttypisierungen vorliegende Jonglieren mit Rollenrepertoirs, mit und ohne Dementis, das verstärkte Inkorporieren von ihnen bis hin zu Deutungsmustern und letztlich – hier aber nicht weiter mit einbezogenen – vollständigem Habitus als Bestandteil persönlicher Identität und ihrem Drang nach einem einheitlichen Sinnzusammenhang, der durch die Differenzierungsnotwendigkeit der Berufsanforderung immer
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wieder aufzubrechen droht, ist die Herausforderung, der sich der Richter in unverwechselbarer Weise zu stellen hat.
1.1.2
Spiegelungsräume des Richters
Ausgehend von den bisherigen theoretischen Überlegungen zu Spiegelungsprozessen soll im Folgenden ein Überblick über die sozialen Räume, die Interaktionssituationen, verschafft werden, in denen sich der Richter in Ausübung seiner Tätigkeit befindet. Grundlage dieser Ausführungen sind – als empirischer Hintergrund – die langjährigen Feldbeobachtungen dieser Studie, gelegentlich wird dabei auf Interviewstellen verwiesen. In mancher Hinsicht wird eine andere Gewichtung von relevanten Interaktionssettings vorgenommen, als die rein quantitativ betrachtete Beschäftigung rechtssoziologischer Studien nahelegen könnte. Der Richter ist in einem mannigfaltigen Feld von Akteuren eingebettet. Die vielen Menschen im täglichen Umfeld können nach unterschiedlichen Kriterien richterlicher Arbeit in Gruppen eingeteilt werden. Es gibt die justizinternen Mitarbeiter und die externen Personen, die inhaltlich fallrelevanten Personen und die dafür nicht relevanten Personen. Es gibt die nach den Spielregeln (Prozessordnungen) mit einem Richter im Machtverhältnis stehenden Akteure und die, die das nicht sind. Es gibt hierarchische Beziehungen zu Personen, die verfasst sind oder faktisch gefühlt werden. Es gibt Akteurstypen, mit denen man viel oder wenig Zeit verbringt, spezifische Personen, mit denen man immer wieder zu tun hat oder nur einmalig. Es gibt im Einzelnen die allgemeinen Richterkollegen im egalitären Kollegenverhältnis, seien sie an einem anderen Gericht, im Hause mit einer anderen oder der gleichen Gerichtsbarkeit oder ggf. im gleichen Spruchkörper beschäftigt. In Letzterem ist die Beziehung von Vorsitzendem zu Beisitzenden gegeben, was insbesondere bei Proberichtern und u. U. bei Assessoren zu einem nicht mehr ganz egalitären Verhältnis führt. Dies ist zudem charakteristisch in den Beziehungen zu den Präsidenten der Gerichte, die gleichzeitig als Dienstvorgesetzte fungieren. Es ist eine solche nicht verfasste, aber in der Regel schon gefühlte Hierarchie, die außerdem im Verhältnis von Richtern zum Sonderfall der Laienrichter/Schöffen zu beobachten ist, wenn auch hier aufgrund juristisch-fachlicher Gegebenheiten und nicht aufgrund eines Beurteilungswesens in der Justiz. Referendare als mögliche zukünftige Richter nehmen einen begrenzten und klar untergeordneten Kollegenstatus ein. Als Zuarbeiter können grob die meisten nicht richterlichen Justizmitarbeiter ausgenommen der Staatsanwaltschaft gelten, die sich selbst weiter binnendifferenzieren. Die Rechtspfleger im gehobenen Dienst mögen für einen Teil ihrer Aufgaben, der selbstverantwortlich und unabhängig ist, vom Zuarbeiterstatus
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ausgenommen sein. Die Geschäftsstellen oder Serviceeinheiten, seien sie nun durch Angestellte oder Beamte besetzt, und der Wachtmeisterdienst bilden dass Rückgrat der Zuarbeitung für die Richter, die täglich – sofern sie bei Gericht sind – mehrmals mit ihnen in Kontakt kommen. Des Weiteren sind die Parteien der Rechtsstreite zu nennen, noch zur Justiz gehörend der Staatsanwalt, dann die Anwälte und die nicht professionellen Naturparteien, Zeugen und eventuelles Publikum. Neben diesen parteilichen Akteuren gibt es darüber hinaus Informationsgeber wie Gutachter, Sachverständige, Experten oder für die Kommunikation auch Dolmetscher. Wenn man das so geartete Feld von Akteuren nach den eingangs erwähnten Kriterien beurteilt, rücken folgende Akteure in den Vordergrund: Anwälte (teilweise Naturparteien), Gremiumskollegen (bei Einzelrichtern in abgemilderter Form Kollegen) und Geschäftsstellenmitarbeiter inkl. Rechtspfleger. Es sind nur bedingt die »üblichen« Akteure, das heißt jene, denen in den meisten Forschungen, die sich mit Richtern beschäftigen, Gewicht beigemessen wird. Laienrichter/Schöffen, Sachverständige und sogar zu einem Teil die Naturparteien sind nicht die tragenden Stützen im Spiegelungsprozess der Selbstverständnisausbildung von Richtern. Die im Vordergrund stehenden Akteure sind Leitfiguren in spezifischen Handlungssituationen, die für die Herausbildung des Selbstverständnisses von Richtern hinsichtlich der einzunehmenden Rolle von größerem Gewicht sind. Sie sind zentral in spezifische Handlungssituationen eingebettet, die eine je eigene Logik und Spezifizität aufweisen und unmittelbar prägend sind. Es sind diese sich wiederholenden Situationssettings mit festgelegten Akteuren, die für die Spiegelungsprozesse wesentlich sind. Aus chronologischer Sicht gibt es für den Richter drei mögliche Settings zu durchschreiten: zunächst die Dezernatsarbeit (a), dann die Beratungen im Gremium (b) und schließlich die Verhandlungssitzungen (c). Dieser Ablauf kann sich wiederholen. Beim Einzelrichter ist Schritt (b) ausgelassen, weswegen er hier als 2er-Typ bezeichnet wird, der Gremiumsrichter mit allen Schritten als 3er-Typ. Die ZPO-Reform von 2001 hat die Trennlinie zwischen Einzelrichter und Gremiumsrichter weiter aufgeweicht (in der Praxis gab es häufig schon vorher den Einzelrichter im Gremium), insbesondere sind die Kammern der Landgerichte davon betroffen. Während der Einzelrichter am Amtsgericht als »reiner« 2er-Typ bezeichnet werden kann, changiert der Landrichter zwischen 3er- und 2er-Typ, je nach ›Gerichtskultur‹, Rechtsgebiet und Fallspezifizität. Selbst am Oberlandesgericht gibt es 2er-Typ-Anteile, wobei der 3er-Typ deutlich überwiegt. (a) Dezernatsarbeit – Während der Dezernatsarbeit, die an sich überwiegend aus kommunikationsarmer Aktenbearbeitung besteht, kommt der Richter dennoch hin und wieder mit anderen Menschen in direkte Interaktionssituationen: mit den Geschäftsstellenmitarbeitern, mit Kollegen, mit anderen Justizangestellten und mit den Anwälten (sogar Naturparteien) oder Sachverständigen.
Spiegelungsprozesse
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Die Kommunikation mit den Geschäftsstellenmitarbeitern ist vom Interaktionsziel des Funktionierens geprägt. Nun ist es nicht so, dass der Richter ausschließlich will, dass beispielsweise die Justizfachwirtin funktionieren muss, sondern es ist ein Gesamtinteraktionsparadigma des Funktionierens vorhanden, was gegenseitig widergespiegelt wird. Beide Akteure weisen sich auf dieses oder jenes hin, es werden Fehler berichtigt, Rat eingeholt oder Umgangsweisen abgesprochen, spontan Akten zugetragen oder abgeholt, je nachdem wer gerade was für das Funktionieren des momentan anstehenden Aktendurchlaufes benötigt. In dieser Art der Interaktion, auch wenn eine ausführliche empirische Analyse hier vorenthalten werden muss, wird ein technokratisches, funktionsorientiertes, fleißiges und bürokratisches Selbstverständnis eingefordert und vermittelt. Es ist unaufgeregt und trotzdem rasch zum Punkt kommend an der Erfüllung des übergeordneten SollPlanes (Erledigungserwartung) orientiert. Kontrastiert mit ähnlichen Handlungssituationen in anderen Organisationen fällt auf, was hier nicht oder nur äußerst selten in Spiegelungsprozessen geprägt wird: Darstellungszwang gegenüber (potentiellen) Kunden, Machtzurschaustellung gegenüber in Konkurrenz stehenden Mitarbeitern oder lethargische Blockierung von Arbeitsabläufen. Auch wenn die Dezernatsarbeit vergleichsweise wenige Interaktionen aufweist, sind ihre Handlungsabläufe jedoch ständig von konkretem Informationsaustausch geprägt. Das tägliche Abarbeiten eines gewöhnlichen Aktenstapels beispielsweise im Amtsgerichtsdezernat ist immer in das Kommunikationssetting Geschäftsstelle – Richter – Geschäftsstelle eingebettet, da jede Akte alleine durch die (»Wieder«-) »Vorlage« eine Bearbeitungsaufforderung symbolisiert und nur mit einer folgenden »Verfügung« an die Geschäftsstelle für diesen Moment bearbeitet werden kann. Diese auf wenige Kürzel und stichwortartige Information zumeist auf Formblättern begrenzte Kommunikation ist an den meisten Gerichten außerordentlich unauffällig, unspektakulär und von großer Routine durchdrungen. Sie fällt kaum auf und es wird in der Regel nicht darüber gesprochen. Selbst Referendare, die einen Einblick in das richterliche Arbeiten gewinnen sollen, bekommen von diesem Teil der Dezernatsarbeit kaum etwas mit, auch wenn manche Richter darauf Wert legen [D19:39 und D4:44]16. Erst mit dem Berufseinstieg ist ein Proberichter vor die Aufgabe gestellt, sich für diesen Teil der Arbeit einen Kommunikationsstil anzueignen. Junge Richter, aber auch diejenigen, die ihre Zuständigkeiten wechseln, werden unter anderem durch die Geschäftsstellenakteure an die eingeübte und funktionierende Verfahrensweise gewöhnt und somit indirekt eingelernt [D38:1]. Für diese spezielle Situation ist jedoch die einlernende Interaktion mit Kollegen [D19:39] und das »Abschauen« 16 Diese Zitationsweise, an dieser Stelle erstmalig verwendet, bezieht sich auf die Nummerierung der codierten Datentexte mithilfe der für diese Untersuchung verwendeten Software ATLAS.ti.
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
von alten Akten [D6:13] fast noch bedeutender. Die Kollegen des Einzelrichters werden in Ermangelung eines Gremiums während der Dezernatsarbeit konsultiert, wobei ihre Frequentierung in der Einarbeitungszeit oder bei außerordentlichen Problemen (Linienabsprache etc.) höher, im routinierten Ablauf geringer ist als die Interaktion mit den Geschäftsstellenmitarbeitern. Über die Interaktion am Gericht hinaus geht während der Dezernatsarbeit die durch die Aktenbearbeitung und Verfügungen in Gang gebrachte Kommunikation mit den Parteien. Im Zuge der Entwicklung hin zur Erledigung im schriftlichen Vorverfahren wird dieser Kommunikationstyp sicherlich immer wichtiger. Für eine Betrachtung der Spiegelungsprozesse hinsichtlich der Ausprägung von Selbstverständnis soll aber die konkrete Interaktion mit den Parteien während der Verhandlungssitzungen im Vordergrund stehen. Angemerkt sei hier aber, dass die Tendenz hin zur schriftlichen Erledigung im Vorfeld, aufgrund der veränderten Gewichtung von Spiegelungsprozessen in der sekundären Sozialisation, das Selbstverständnis auf Dauer verändern kann. (b) Beratungen im Gremium (Kollegen) – Hier liegt ein Setting vor, in dem ausschließlich Richterkollegen untereinander sind (selten ist ein Referendar anwesend, andere Akteure sind ausgeschlossen), und zwar in relativ stabilen Gruppen über längere Zeiträume. Die Spiegelungsprozesse in der Gremiumssitzung, sofern Letztere in einer solchen eigenständigen Form überhaupt stattfindet,17 sind dem sehr ähnlich, was von Beginn an unter Jurastudierenden als juristischer Habitus eingeübt wird. Rechtliche Argumente und Analysen werden vorgetragen, kritisiert und mit neuen Blickwinkeln oder anderen Ansätzen versehen, bis eine Lösung vorliegt, die entweder von allen geteilt wird oder, da möglicherweise vom Vorsitzenden vertreten, zumindest nicht weiter attackiert wird. Abweichungen zu allgemeinen juristischen »Fallbesprechungen« bestehen aus einem stärkeren Sachverhaltsbezug und einer verstärkten, wenn nicht dominierenden, Orientierung an der prozessualen und damit praktischen Handhabung des Falles, die über die rein rechtliche Lösung weit hinausgehen. Das Gremium ist demnach für die Spiegelungsprozesse im Sinne eines richterlichen Selbstverständnisses in Kontrast zu anderen (juristischen) Professionen nicht tragend, da das dafür wichtige Selbstverständnis, der dafür infrage kommende Habitus, zumindest in den basalen Grundzügen bereits während des Jurastudiums ausgebildet wird. Im Sinne dieser Untersuchung hat dies den Nebeneffekt, dass ein äußerst schwer zugängliches Forschungsfeld, die richterliche Beratung, schon durch die theoretische Auswahl geeigneter Forschungsfeldbereiche nicht in den zentralen Bereich gehört. Für Abgrenzungen der Richter untereinander, die 17 So wird auch von Beratungen auf dem Flur, in der Kantine oder von Absprachen des Berichterstatters mit dem Vorsitzendem alleine berichtet. Jedoch scheint dies vermehrt am Landgericht der Fall zu sein, so dass es manchmal »keine Beratung in dem Sinne« gibt.
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hinsichtlich einer Binnendifferenzierung der Typenbildung vom Selbstverständnis eine entscheidende Rolle spielten, wäre hier ein brauchbares empirisches Feld vorhanden. Andererseits werden wenig dieser Abgrenzungen so stark entäußert wie in direkten Interviews über das eigene Handeln, so dass Abgrenzungen in einer Gremiumssitzung durch konversationsanalytische Feinarbeit erst quasi indirekt zu einem Selbstverständnis rekonstruiert werden könnten. (c) Verhandlungssitzungen – Hier ist die Bühne, Ort der direkten interaktiven Auseinandersetzung der Streitenden unter der Regie des Richters. Es ist das bekannteste Setting mit den bekanntesten Akteuren und der größten Außenwirkung, mithin ein Spiegelungsprozess, der nicht nur die anwesenden Akteure, sondern durch die (quasi-) Öffentlichkeit die gesamte Gesellschaft als Spiegelgegenüber beinhaltet. Hier wird der Richter nicht nur in rechtlichen oder arbeitstechnischen Kategorien bewertet, sondern hier steht das versammelte kulturelle Moralreservoir als Bewertungskriterium mit im Saal. Zentral für die ablaufenden Spiegelungsprozesse im Sinne der sekundären Sozialisation eines Richters (siehe hierzu auch Abschnitt 3.4.3) sind in diesem Setting die professionellen Akteure der Anwälte. Sie wissen, was sie tun müssen und was der Richter zu tun hat: Jeder Fehler wird bemerkt; wer sich nicht an das Regelwerk hält, den lässt man das merken, besonders junge (weibliche) Richter bekommen das zu spüren, indem sie »eingeschossen« werden, und der Richter muss sich darüber profilieren, dass er eben keine Fehler macht und ein »standing« erzielt. Theoretisch lässt sich dies in dieser kleinen Interaktionssituation als soziale Vermittlung des Wissens darstellen, die aufgrund von Fremd- und Selbsttypisierung abläuft (vgl. Schütz und Luckmann 2003: 394). Der Richter muss von den anderen professionellen Akteuren anerkannt werden, gerade weil er die leitende und entscheidende Rolle einnimmt. Was bei einem Richter geht oder nicht geht spricht sich unter den Anwälten herum, die ihr derartiges Praxiswissen innerhalb der Profession durchaus miteinander teilen. Wenn Anwälte und andere professionelle Akteure anwesend sind, gestaltet sich aus diesen Spiegelungsprozessen auch der Umgang mit den unerfahrenen Gerichtsakteuren, wie Naturparteien und Zeugen. Sie laufen Gefahr, durch den Einarbeitungs- oder Standing-Druck eines jungen Richters in ihrer strukturell ohnmächtigeren Situation mitunter unsanft bestätigt zu werden. Anders verhält es sich, wenn der – was die gerichtliche Verhandlungssituation betrifft – unerfahrene Richter nur auf noch unerfahrenere Naturparteien trifft (vgl. vertiefend hierzu Abschnitt 3.4.3.3).
46 1.2
1.2.1
Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
Zum Gegenstandsbereich: Gesellschaft – Recht – Richter
Recht und Justiz als gesellschaftliches Phänomen der Rationalisierung
Dass sich Richter in dem bewegen, was durch geschichtliche Prozesse gewachsen ist, dass Letzteres in den aktuellen Anforderungen von Leitbildern an die Ausübung des Richteramtes deutlich hervortritt und dass sie sich wie jeder Mensch in Interaktionen spiegelbildlich Positionen zuschreiben und repetieren, ist keine Neuigkeit – weder für die Richter noch für andere Berufe. Wie sich diese Rahmungen und Prägungen jedoch im Einzelfall, hier eben in der täglichen Berufsausübung des Richters, auswirken, ausgestalten und wie in ihnen (und darüber hinaus) durch das Individuum gewirkt wird, das gilt es für die Sozialwissenschaften noch zu zeigen. Das eingangs genannte Handlungsproblem ist in seiner heutigen Form von folgenden drei ›historisch entwickelten Strukturmerkmalen‹ allgemein geprägt und damit gerahmt: Der Praxisvollzug muss (1) einem ›rationalen Problemlösungsverfahren‹ im Sinne Max Webers und seiner These der ›Entstehung der Okzidentalen Rationalität‹ genügen (vgl. Schluchter 1998). Als ein wesentliches Merkmal gelten dabei die Prozessordnungen, aber auch die Problematik um Herstellung und Darstellung einer rechtlichen Lösung, denn ein rationales Problemlösungsverfahren erfordert eine dokumentierte, dargestellte Nachvollziehbarkeit. Das Kriterium der Verlässlichkeit im Sinne der Gleichbehandlung der Rechtssuchenden und zu Verurteilenden, das heißt ein Gerechtigkeitskriterium, soll im Sinne des rationalen Problemlösungsverfahren ebenso garantiert werden, um fort von der Gefahr der Willkür, des von der Person des Richters abhängigen Urteilspruchs zu gelangen. Diese Verlässlichkeit wird durch Institutionen sichergestellt, in denen erwartbare, vorhersagbare und einforderbare Rollenbeziehungen bestehen, die unabhängig von den beteiligten Personen sein sollen. Die Annahme, dass die Rationalität des Gesetzes mit der Rationalität des Alltagslebens strukturell parallel läuft und das sich daraus ergebende Verfahren, ist kulturell »aufgesetzt«. Insbesondere wird dies an den Fällen deutlich, wo die Schwelle zur Rationalität definiert wird: in pathologischen Situationen und in den Übergängen zur Strafmündigkeit. Eine historisch und logisch notwendige Folge dieses Anspruches an ein rationales Problemlösungsverfahren ist (2) die ›Reduktion von Komplexität‹ im Einzelfall zur Bearbeitung hinsichtlich abstrakterer Regeln. Ein »ganzheitliches« Problem der Alltagswirklichkeit muss auf ein juristisches »runtergebrochen« werden. Dabei muss nicht nur »übersetzt« werden, sondern auch stark »gefiltert«. Für das »Filtern« können als Beispiel die Familiengerichte dienen, in denen immer wieder vonseiten der Richter betont werden muss, dass Einlassungen der Parteien »nicht dazugehören«, »hier vor Gericht nicht interessieren«, das heißt das Problem emo-
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tionaler Problemlagen quer zu den juristisch relevanten ist. Die Übersetzungsleistung findet in die professionseigenen Wissensbestände mit ihrer eigenen Sprache und Logik statt. Die Reduktion von Komplexität in Form des Übersetzens und Filterns soll auch, wie oben schon eingeführt, als »Transformation« bezeichnet werden. Eine Folge dieser Reduktion von Komplexität auf das juristisch Relevante wiederum ist (3) eine entstehende Diskrepanz zwischen dem Problem der Alltagswelt und dem juristisch konstruierten. Dabei handelt es sich um das ›Spannungsverhältnis zwischen Einzelfall und rechtlicher Regel‹, zwischen einer Gerechtigkeitsvorstellung und der gesetzlichen Lösung des Falles (naturrechtlicher und formaler Gerechtigkeit; übergesetzlichem Recht und gesetzlichem Recht), welches es seit der Französischen Revolution durch die Einführung der freien Beweiswürdigung gibt bzw. seit der Auffüllung der Lückenhaftigkeit des Gesetzes durch den Richter als Vollstrecker der Rechtsordnung (vgl. Meder 2001: 226). Eine Korrespondenz oder besser Rückwirkung zum Punkt (1) ist erkennbar, da durch die freie Beweiswürdigung prinzipiell das rein rationale Problemlösungsverfahren wieder in Gefahr gerät. Im Herstellungsprozess kann eine rational zwar legitimierbare, aber nicht nachvollziehbare Beweiswürdigung, in der der Richter selbst als »Messinstrument« fungiert, nicht den Anspruch an eine personenunabhängige rationale Rechtsfindung erfüllen. Als Ergebnis dieser historischen Entwicklung gibt es die heutigen Wissensbestände einer ›theoretischen Soll-Ebene‹, wofür die Gesellschaftsverfassung, die Gerichtsverfassung, die Richtergesetze und Richterleitbilder, aber auch die rechtswissenschaftliche Methodenlehre stehen. Sie sind für den Richter als äußerliche Erwartung genauso wirksam wie als internalisierte Anforderung an sich selbst. Rechtshistorisch betrachtet (vgl. Ogorek 1986: 1 ff.) stehen sich dabei zwei antagonistische Leitbilder je politisch18 bevorzugter Richtertypen gegenüber: der »Subsumtionsautomat« und der »Richterkönig«. Während Ersterer als Gesetzesgebundener die Autorität der Verfassung auf seiner Seite hat, hält Letzterer ihm die praktisch-methodische Unmöglichkeit einer gesetzlichen Determinierung richterlichen Handelns entgegen. Während der »Subsumtionsautomat« als Folge der oben beschriebenen gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesse im Sinne logischmechanischer Operationen die Gesetzesbindung mit einem Gesetzespositivismus vereint, ist der »Richterkönig« der durch die sogenannte Freirechtsschule aufgestellte rechtsschöpfende Gegenentwurf. Beide antagonistische Strömungen werden wir
18 Eine den je unterschiedlichen staatspolitischen Verständnissen zugrunde liegende Typologie von Richterleitbildern legt Falk (1996: 253 ff.) vor: Bewahrer der ständischen Ordnung, Diener des spätabsolutistischen Fürstenbundes, der bürgerlichen Gesellschaft und des Nationalstaates im Kaiserreich.
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– wenn auch in ihrer heutigen Form – in dieser empirischen Untersuchung wiederfinden. Auf die heutige Zeit gewendet beschäftigt sich Lansnicker (1996) in seiner Arbeit zum Richteramt in Deutschland mit dem Selbst- und Fremdbild der Richter, welches er über Texte verschiedener Gattungen erarbeitet. Er unterscheidet hinsichtlich des außergerichtlichen (politischen) Auftretens der Richter schließlich zwei große Blöcke, die Traditionalisten und die Reformisten (Lansnicker 1996: 87). Während das traditionelle Richterbild von Vertretern der älteren Generation in oberen Instanzen geprägt wird und sich an Zurückhaltung, Staatskonformität und Selbstdisziplin orientiert, wollen die Reformrichter ihr außerrichterliches Engagement nicht verheimlichen und notfalls ihrer Meinung nach nicht verfassungskonforme Gesetze auch kritisieren, sich durch die ›herrschende Meinung‹ nicht binden lassen. Ihr Selbstverständnis geht in die Richtung einer gesellschaftlichen Dienstleistung. Die Öffentlichkeit nimmt die steigende Transparenz der Reformrichter positiv auf, während die geringere Konformität zur ›herrschenden Meinung‹ problematischer gesehen wird. Grundsätzlich steigt jedoch ihr Vertrauen in die Richterschaft, so Lansnicker. In einer extensiven und hervorragenden empirischen Inhaltsanalyse hat Kauffmann (2003) eine 5er-Typologie richterlicher Leitbilder erarbeitet. Die Untersuchung ging dabei in drei Schritten vor und begann mit einer rechtsdogmatischen Bestandsaufnahme der grundgesetzlichen Unabhängigkeits-, Gesetzes- und Rechtsbindungspostulate sowie deren Kommentarliteratur.19 Zweitens fuhr sie mit einer Analyse von Richterskandalen fort und endete schließlich, im Hauptteil der qualitativen Inhaltsanalyse, mit einer Analyse von richterlichen Veröffentlichungen (DRiZ, BJ und Monographien bzw. Einzelbeiträgen) zum Thema Richterleitbild. Kauffmann gibt zudem einen informativen Überblick zu rechtshistorischen und rechtssoziologischen Untersuchungen zum Leitbild der Richter, wobei die Interpretation Letzterer hinsichtlich des methodischen Verständnisses für unsere Arbeit nur bedingt zu verwerten sind.20 Die fünf Typen sind wie folgt charakterisiert (Kauff19 Er kommt zu folgendem Befund der Analyse der Dogmatik: »Der Rahmen verweist den Richter darauf, selbst als Definierender der eigenen Rolle tätig zu werden« (Kauffmann 2003: 104 f.). Das bedeutet nichts anderes, als dass die gesetzlichen Postulate und deren Diskussionen zur Rolle des Richters keine einheitliche und schon gar keine exakte Bindung an spezifische praktisch verwertbare Richtlinien leistet bzw. leisten kann und soll. 20 Auch wenn wir die grundsätzliche Aussage, die er in der Kritik an Werles Forschung zum Selbstverständnis (vgl. Abschnitt 1.2.2.3) äußert, teilen – nämlich die Problematik »herangetragener« Kategorien und die Evozierung einer Verteilung innerhalb eines solchen Schemas –, ist die hochdifferenzierte Werle’sche Indexbildung zum Selbstverständnis nicht ansatzweise nachvollzogen worden. Die als dritte Untergruppe eines Index für richterliches Selbstverständnis erstellte Itembatterie zur Unterscheidung bürgerbezogener Leitbilder vs. Leitbilder zur Erhaltung des Staates war für die Differenzierung von Selbsteinschätzung und perzipierter Fremdwahrnehmung gedacht. Eine Verteilung auf sechs verschiedene Typen, wie Kauffmann (2003: 29) es darstellt, war nicht Thema von Werle.
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mann 2003: 272): Der Typus 1 ist der rechtsstaats- und gewaltenteilungs-orientierte sowie funktionsbezogene Richtertypus. Typus 2 ergänzt den ersten um die auf den Einzelfall bezogene Gerechtigkeit ohne politischen Impetus. Der dritte Typus ist als eigenständige politische Gewalt definiert, der als Gestalter der Gesellschaft fungiert. Typus 4 nimmt die schutzpolitische Perspektive ein, die den Bürger vor für ihn nicht steuerbaren Gefahren bewahren soll. Der fünfte Typus schließlich skizziert den modernen Dienstleister aus der Managementperspektive, der bürgerfreundlich und effizient Stückzahlen von Qualität abliefert. Diese hier nur kursorisch aufgeführten Studien zeigen in ihrem Gehalt, was über eine Analyse von richterlichen Leitbildern in Erfahrung zu bringen ist, nämlich insbesondere, wie stark politisches Interesse in Richterleitbilder Einzug hält und damit zwar einerseits das Selbstverständnis der Richter mitprägt (und ihnen Sprachangebote dafür präsentiert), gleichzeitig aber diese überlagert und für einen sozialwissenschaftlichen Blick von außen erst einmal von den Selbsttypisierungen des alltäglichen Richters getrennt werden muss.
1.2.2
Phänomenbereich Richterpersönlichkeit – Zur empirischen Richterforschung
Die historisch gewachsenen sozialen Anforderungen an Richter sind die eine Seite. Sie spielen für die Selbsttypisierungen und das zugrunde liegende Selbstverständnis eine sehr wichtige Rolle, bieten sie doch in der Verinnerlichung der beruflichen Sozialisation und den täglichen Spiegelungsprozessen ein stetiges normatives Bild, an dem es sich zu orientieren gilt. Die Beschäftigung mit dem, was Richter sind, im Gegensatz zu dem, was sie sein sollen21, auch wenn das nicht vollkommen verschieden sein muss, obliegt den empirischen Wissenschaften. Zuvorderst hat sich in dieser Hinsicht die Rechtssoziologie22 profiliert, auch wenn sie in ihrer eigenen wissenschaftlichen Heimat, der Soziologie, eher ein Schattendasein fristet. Das ist umso erstaunlicher, als dass die Ursprünge soziologischen Denkens und auch die ersten Vertreter dieser sich herausbildenden Disziplin aufs Engste mit der Rechtswissenschaft – bzw. dem Recht als gesellschaftlichem Grundthema – verbunden waren. Im Folgenden soll zunächst ein Überblick über die allgemeine Entwicklung
21 Natürlich ist die Erforschung der Soll-Ebene empirisch möglich, etwa in Form einer Diskursanalyse zu Richterleitbildern (vgl. Kauffmann 2003). Was aber sein soll, wird oft von anderen wie Politikern und Rechtswissenschaftlern hervorgebracht. Viele Arbeiten bewegen sich in diesem Zwischenraum von sein und sein sollen, auch ohne empirisch-methodischen Anspruch (Jung 2006). 22 Die erfahrungswissenschaftliche Beschäftigung mit dem »Rechtsstab« (personell, organisatorisch) und der gerichtlichen Praxis wird auch als ›Justizsoziologie‹ verstanden (Rehbinder 2000: 161 ff.).
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der deutschen23 Richterforschung gegeben werden. Sodann soll ein differenzierter Blick auf die maßgeblichen Untersuchungen zum Verständnis des Selbstbildes folgen. 1.2.2.1
Allgemeine Entwicklung der deutschen Richterforschung
Wenn nicht das »Vorfeld« der Justiz untersucht wird, das heißt Rechtsbedürfnisse, Zugang zum Recht, Alternativen der Konfliktbearbeitung (vgl. Rottleuthner 1994: 223), und nicht der Gesetzgeber oder außerjustitiell rechtsbezogen Handelnde in den Blick genommen werden, wenn also auch die Richterschaft als besonderer Teil des Rechtsstabs von der Justiz unterschieden wird, so sind Richter typischerweise mit folgenden Erkenntniszielen Gegenstand empirischer Untersuchungen: Ermittlung eines Sozialprofils der Richter (insbesondere bezüglich sozialer Herkunft, Geschlecht, Konfession, politischer und sonstiger Mitgliedschaften etc.) und – sofern möglich – eines Persönlichkeitsprofils, jeweils verbunden mit der Suche nach Indikatoren für Berufswahl und/oder Entscheidungsverhalten; des Weiteren eine an Effizienzkriterien orientierte Erforschung der Arbeitsprozesse sowie eine »Rechtspraxisforschung«, der es um die Erkundung sowohl der Interaktionsprozesse als auch um die in diese eingebetteten inhaltlichen Praxisvollzüge geht. Beginnen wir mit einem zumeist chronologisch orientierten Überblick in der Nachkriegszeit. Ältere Richterforschung in Deutschland Kirchner (Kirchner 1959, vgl. auch Kirchner 1959)24 untersuchte (historisch bis ins 19. Jahrhundert zurückgehend) die Alterszusammensetzung (Tendenz der Verjüngung) und berufliche Herkunft (zumeist aus Richterlaufbahn) der Reichsgerichtsräte beim Reichsgericht und der Bundesrichter beim Bundesgerichtshof (BGH). Die soziale Herkunft von Gerichtsassessoren (das heißt die jüngste 23 Das Forschungsfeld ist auf die heutigen deutschen Richter begrenzt, so dass Verweise auf andere Länder nur sehr sparsam getätigt werden. Es ist dezidiert keine vergleichende Untersuchung geplant, und ohne die strukturellen Unterschiede (z. B. zum angloamerikanischen Rechtsraum) herauszuarbeiten, sind solche Ergänzungen nur schwer zu bewerten. 24 Warum hier die Einführung in die Richterforschung ausgerechnet mit einem Bundesrichter im Ruhestand beginnt, soll zum einen die bis dahin »dünne« Beachtung vonseiten der Soziologie signalisieren, zum anderen die grundständige Verstrickung von Rechtspraktikern (in der Regel wissenschaftlich und rechtspolitisch engagierte Richter in hohen Funktionen), Rechtswissenschaftlern und Soziologen (bzw. ihrer Herangehensweisen und Fragestellungen) auf diesem Gebiet, die in gleicher Intensität heute vorzufinden ist (vgl. die aus diesen drei Gebieten stammenden und sich sehr weitgehend überschneidenden Mitglieder in den führenden zwei rechtssoziologischen Gruppierungen Deutschlands: Vereinigung für Rechtssoziologie e. V. und Sektion Rechtssoziologie in der DGS). Die Mühen einer (»sammelnden«) Empirie beschreibt Kirchner in seinem Artikel mit »dies erheischt eine etwas mühsame Einzelprüfung« (Kirchner 1959: 107).
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Generation eintretender Richter) beschrieb Wagner (1959: 136 f.) mit der (damals!) überraschenden Aussage, die Reproduktionsquote des Juristenstandes sei gering (9,8 %), wobei in der Kombination Volljuristen und Beamte25 (ohne Volljuristen) die Rekrutierungsquote bei 51 % liegt. Auffallend gering war der Anteil der Arbeiter (3,5 %) und der Frauen (2,5 %). Dahrendorf (1960) und Richter (1960, 1968) forschten zur Herkunft und Stellung der Richter an Oberlandesgerichten und zeigten, dass die Richterschaft in Deutschland ganz überwiegend ihrer Herkunft nach die (obere) Mittelschicht repräsentiert. Feest (1965) untersuchte Herkunft, Karriere und Auswahl der juristischen Elite (Bundesrichter) für die Jahre 1959 und 1962 und bestätigte den Befund dahingehend differenzierend, dass höhere Positionen verstärkt durch höhere Schichtzugehörigkeiten besetzt wurden (Feest 1965: 108). In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zeichnete sich in einer kleinen Vergleichsstudie unter Soziologie- und Jurastudenten ab, dass markante Tendenzen der Selbstselektion nicht nur nach Herkunftsmerkmalen und politischen Einstellungen, sondern auch nach Persönlichkeitsmerkmalen zu finden sind (Mayntz 1970: 8). Entsprechend der politisch bewegten Zeit waren die Studien in den späten sechziger und der ersten Hälfte der siebziger Jahre aus einer kritischen Haltung heraus angeregt, wobei Ausgangspunkt die Entdeckung der Mittelschichtsgebundenheit der Richterschaft war (vgl. dazu auch Röhl 1987: 345 ff.). Damit war nach langer Zeit ein statistischer Hinweis vorhanden, den Begriff ›Klassenjustiz‹ ernst zu nehmen, der wohl von Karl Liebknecht aus dem Jahre 1907 stammt (vgl. Richter 1973: 9). Dahrendorf beschreibt diese Fakten in der Weise, dass die Richter aus der eigenen Welt der oberen fünfzig Prozent von dem fremden Halbdunkel der anderen Welt nur durch die zumeist straffälligen Aktivitäten aus dem Gerichtssaal Bekanntschaft hat (Dahrendorf 1960: 274). Die Kritik an einem schichtgebundenen für die richterliche Entscheidung notwendigen Vorverständnis (Esser 1970) wurde immer größer. In diese Zeit fällt auch Lautmanns »Justiz – die Stille Gewalt« (1972), die wissenschaftspolitisch für viel Aufsehen sorgte.26 Auf die Beschreibung eines Sozial- und Persönlichkeitsprofils von Richtern und auf mögliche Zusammenhänge mit deren Entscheidungsverhalten ausgerichtet, wurden für die Justizjuristen die Hypothesen einer konservativ-autoritären Persönlichkeit und deren (teilweise) Ausprägung durch die juristische Ausbildung aufgestellt, die manche durch ihre Untersuchungen bestätigt sahen (Kaupen und Rasehorn 1971: 112, 154 ff.; Weyrauch 1970: 319 f.; Opp und Peuckert 1971). Insbesondere zur Arbeit von Kaupen und Rasehorn wird bezüglich des Selbstverständnisses später vertieft eingegangen. Von Bedeutung war 25 Die Beamtenherkunft der Assessoren blieb in einem Vergleich der Jahre 1898 (allerdings nur Bayern) und 1956/57 (der Arbeit von Wagner) durch Feest (1965: 109) stabil (43,9 % zu 41,2 %). 26 Siehe z. B. die Reaktion von Enzian (1974). Für unsere Arbeit viel interessanter war der, für die damalige Zeit, unkonventionelle empirische Zugang Lautmanns über ›teilnehmende Beobachtung‹, als ›vollständiger Beobachter‹ (Lautmann 1972: 28) oder ›beobachtende Teilnahme‹ (Honer 1993).
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in der Betrachtung auf verfassungsgerichtlicher Ebene (besonders in den USA) der Zusammenhang »von Richterpersönlichkeit, richterlicher Entscheidung und Politik« (Bryde 1998: 492; vgl. auch Bryde 2000: 141 und Rottleuthner 1987: 104), der besonders durch die Kämpfe der Politiker bzw. Parteien um Einfluss an den höchsten Gerichten im Sinne der Platzierung »ihrer« Richter gezeigt wurde und wird. Einer Repräsentativumfrage von Heldrich und Schmidtchen (1982) zufolge, die Herkunft, Sozialisation, in erster Linie aber die juristische Ausbildung und ihren Einfluss auf Einstellungen und Persönlichkeit der Juristen zum Gegenstand hatte, treffen jene Aussagen allenfalls sehr eingeschränkt zu. Die Autoren befragten in Interviews im Jahr 1978 Studenten verschiedener Semester, Referendare, Rechtsanwälte und (allerdings durchweg jüngere) Richter. Bestätigt sahen sie etwa den hohen Anteil von Richtern aus Beamtenfamilien27, die positive Einstellung zu Staat und Autorität der Rechtsordnung, die relativ große Zufriedenheit mit dem Beruf, nicht dagegen einen ›Konservatismus-Effekt‹ durch die Ausbildung (Heldrich und Schmidtchen 1982: 166 f., 190 ff., 212 f.). Mit zunehmender Dauer der Ausbildung wachse allerdings die Befürwortung gesetzlicher Kontrolle gegenüber dem Vertrauen auf Selbstkontrolle. Auch haben sich in dieser Frage Richter eher als Anwälte für gesetzliche Kontrolle ausgesprochen.28 Diese bewegten Jahre, die sich ausbildungspolitisch zudem um Versuchsmodelle der einstufigen Juristenausbildung drehten (vgl. Röhl 1987: 350), liefen parallel zur gesellschaftlichen Konsolidierung aus und brachten neue Interessen in der Richterforschung hervor. Wandel der Richterforschung Ein deutlicher Mangel an den früheren Studien (nicht nur den deutschen) war und ist, dass der Einfluss von Justizorganisation und, noch stärker: jener von professionellem Verhalten der Richter außerhalb des Blickfelds geblieben war. Werle, der 1977 den Zusammenhang der Justizorganisation mit dem Selbstverständnis der Richter untersucht und u. a. zeigt, dass das richterliche Rollenverständnis nicht durch Variablen des soziokulturellen Hintergrundes beeinflusst wird und dass selbst die Justizorganisation nur einen schwachen Einfluss darauf ausübt, bildet hier eine Ausnahme (Werle 1977: 338 f., zu dieser Untersuchung später im Detail). Nach Rottleuthner, der im Rahmen einer umfangreichen Studie über die Arbeitsgerichtsbarkeit auch Verhandlungsstil und Hintergrundmerkmale der Richter in Bezug zur Entscheidungspraxis mit einbezieht, nimmt mit Nähe zum professionellen Handeln die Erklärungskraft der Variablen zu, das heißt Merkmale des 27 Zu den hier verfolgten Ideen einer Selbstrekrutierung der Elite hatte Raiser (1999: 390-393) noch hoffnungsvoll geschrieben, dass die Annahme naheliegt, dass sich das Verhältnis durch »Bildungsreform, die Öffnung der Gymnasien und der Universitäten für Angehörige aller Schichten« ändert. Dieser Hoffnung stehen die Ergebnisse der Hartmann-Studie entgegen (2002). 28 Testfragen waren bezogen auf die Kontrolle der Medien (Heldrich und Schmidtchen 1982: 49 ff.).
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Verhandlungsverhaltens vor aktuellen Merkmalen und Einstellungen, vor denen des sozialen Hintergrunds (Rottleuthner 1984: 291 ff., 296). Auch richterbiographische Einzigartigkeiten waren im Fokus der Forschung, die mit eher widersprüchlichen Befunden die rechtlichen Entscheidungen zu sozialen Hintergrundmerkmalen (vgl. Rottleuthner 1982; Karpadi 1987: 194 ff.; Raiser 1999: 389 ff.) sowie zu allgemeinen Wertvorstellungen, Einstellungen und Persönlichkeitseigenschaften der Urteilenden in Beziehung setzt (Kaplan 1982; Dane und Wrightsman 1982; Kette 1987: 224 ff.; Löschper 1989, 1993; Rennig 1993: 364 ff.). Ebenfalls im Mittelpunkt standen sozial geteilte Wirklichkeitsvorstellungen und Alltagstheorien, die in die Fallkonstruktion einfließen könnten (vgl. die unterschiedlichen Erhebungen von Lautmann 1972: 57 ff.; Peters 1973; Opp 1973: 85 ff.; Fontaine und Emily 1978; Mikinovic und Stangl 1978; Jost 1979; Kreissl 1983; Bürkle 1984: 139 ff.; Johnson und Drobny 1985; Lupfer, Cohen, et al. 1985; Steinhilper 1986: 334 ff.; Abel 1988; Maser 1992; Kühne 1995, 1995). Hierzu werden wir später (exemplarisch) für das Selbstverständnis relevante Arbeiten vertiefen. Danach prägen konventionelle Deutungsmuster insbesondere die Sachverhaltsarbeit. Sie bestimmen, wem und was man glaubt, wie Informationslücken ausgefüllt, Mehrdeutigkeiten verstanden werden. Wenn danach neben dem normativen Rahmen auch ähnliche Interpretationsschemata infolge vergleichbarer Berufssozialisationen (vgl. Blankenburg, Sessar, et al. 1978: 67 f.) die Fallkonstrukte homogenisieren, muss dennoch genügend Raum für Individualität bleiben. Nur darüber erklären sich die Befunde zu personell bedingten Disparitäten in Verhandlungsführung, Entscheidungsinhalten und Urteilsbegründungen (z. B. Winter und Schumann 1972; Heinz 1992: 121 ff.; Langer 1994: 22 ff.; Oswald 1994, 1997; Schmid, Drosdeck, et al. 1997). Dies scheint allerdings weniger mit Dispositionen der Richter zusammenzuhängen als damit, wie Personenfaktoren und Regeln des Umfelds interagieren: Individuelle Rolleninterpretationen und rechtsbezogene Einstellungen beeinflussen den Fallbildungsprozess und damit das Fallkonstrukt (vgl. die Daten bei Gibson 1978, 1980; Pfeiffer 1983: 248; Koppen und Kate 1984; Streng 1984; Conley und O´Barr 1990: 85 ff.; Hupfeld 1996). Ihre nicht juristische Fallherstellungskompetenz, welcher Art auch immer, machen Richter kaum jemals offenbar. Vielmehr legen verschiedene Experimente zur Schuldüberzeugung auf Aktenbasis nahe, dass die in den späteren Verhandlungen zur Begründung der Datenselektion herangezogenen juristischen Figuren (etwa der ›Unsubstantiiertheit‹, ›Beweislast‹ oder ›Glaubhaftigkeit‹) nicht selten die nur dargestellten Steuerungen der Informationsaufnahme bilden und reale Prozesse überdecken (vgl. Bandilla 1986; Bandilla und Hassemer 1989; Schünemann 1995; Schmid, Drosdeck, et al. 1997). Die hier entstandenen Ansätze in Richtung einer subjektorientierten Forschung gilt es in ihrer Intention aufzugreifen, zu verfolgen und für die Rekonstruktion richterlicher Selbstverständnisse fruchtbar zu machen.
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Die deutsche Richterforschung im Auftrag der »Effizienz« Parallel und aktuell sind die Aktivitäten vermehrt auf Fragen der Leistungsfähigkeit, Effizienz und Entlastungsstrategien sowie auf die Alternativendiskussion hin orientiert. So auch das Forschungsprogramm »Strukturanalyse der Rechtspflege«, in dessen Rahmen zwischen 1988 und 1994 vom Bundesjustizministerium in Zusammenarbeit mit den Justizministerien der Länder 20 Projekte in Auftrag gegeben und durchgeführt worden sind (vgl. Strempel 1990: 307 ff.). Die Abschlussberichte enthalten aufschlussreiche Informationen und Handlungsempfehlungen zu den Schwerpunkten »Organisation der Gerichte«, »Schnittstelle zwischen außer- und innergerichtlicher Konfliktbearbeitung«, »Verfahrensrechtliche Regelungen«. Teilweise stützen sich diese auf Befragungen von Richtern, Rechtspflegern und Anwälten, etwa über deren Einschätzungen von bestimmten Maßnahmen zur Ausweitung außergerichtlicher Konfliktregelungsmöglichkeiten (Stock, Wolff, et al. 1996: 51). Einzelpublikationen über Projekte aus dem Programm behandelten die Dauer von Gerichtsverfahren, den Einsatz des Einzelrichters sowie die Rechtsmittelproblematik im Zivilprozess (Rottleuthner und Rottleuthner-Lutter 1990; Rottleuthner, Böhm, et al. 1992; Gilles 1992). Das Neueste auf diesem Gebiet der durch die Justizministerien in Auftrag gegebenen Forschung ist die unter dem Namen »PEBB§Y I« (Baden-Württemberg 2002) erschienene Dokumentation einer Reform der Personalbedarfsberechnung. Die Kritik an den alten ›Pensenschlüsseln‹ und deren Uneinheitlichkeit zwischen den Bundesländern mündete in der von Andersen Consulting durchgeführten (Schnell-) Erhebung und Neuberechnung eines bundeseinheitlichen Systems der Personalbedarfsberechnung. Diese Art Forschung ist tendenziell akteursfremd und die jeweilige Person des Richters wird nur über wenige strukturell gegebene Faktoren in den Blick genommen. Dass diese strukturellen Faktoren und deren Änderungen im Sinne einer staatlich verordneten Effektivitätssteigerung aber durchaus erheblichen Einfluss auf die Arbeitsbelastung des einzelnen Richters haben können, bleibt davon unbenommen. Zur Aufklärung über das Selbstverständnis und die (ggf. damit verbundenen) Handlungsrelevanzen von Richtern können solche Untersuchungen insofern etwas beitragen, als dass sie Aufschluss über Arbeitsbedingungen und relevante Themengebiete geben. 1.2.2.2
Rollentheoretische Ansätze in der Richterforschung
Für die Rechtssoziologie mit Fokus auf der Richterforschung seien neben den oben schon genannten sozialstrukturellen Arbeiten zur (allgemeinen) Identität des Richters nachfolgend noch Ergänzungen hinsichtlich der rollen- und identitätstheoretischen Richterstudien vertiefend angeführt. Auch in der Rechtssoziologie waren
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die rollentheoretischen Überlegungen der 1960er und 1970er Jahre von Bedeutung. Für die deutsche Diskussion sind Lautmann und Rottleuthner hervorzuheben.29 Lautmann (1970) konzentriert sich auf den rollen- und entscheidungstheoretischen Zugang der Richterforschung. Unter dem Begriff der ›Rollenauffassung‹ ist das subjektive Bild des Richters von seiner Rolle gefasst, welches durch die Wahrnehmungen der an ihn gerichteten Erwartungen der Rollensender sowie deren Informationsgabe und Beeinflussung (insbesondere prozessrechtlich und materiellrechtlich) konstituiert wird. Rollenkonflikte sind etwa als Zwiespalt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, oder als Intersenderkonflikt zwischen den Parteien, als unvereinbare Erwartungen verschiedener Sender zu sehen, denen der Richter formale Segmente und Privilegien (Unabhängigkeit, Beratungsgeheimnis etc.) als Schutz und Lösungsstrategie entgegenstellen kann. Doch auch der Person/Rolle-Konflikt, in dem eigene Bedürfnisse und Werte den Erwartungen des Rollensatzes zuwiderlaufen, ist problematisch. Das ›Rollenverhalten‹ manifestiert sich, indem den Anforderungen der Rollensender entsprochen oder ihnen Widerstand entgegenstellt wird oder indem eintritt, was als Seiteneffekt zu bezeichnen ist: »Danach konstituieren jene Akte des Richters sein Rollenverhalten, mit denen er auf die Einleitung und Abwicklung von Gerichtsverfahren einwirkt« (Lautmann 1970: 395). Das Ziel einer vollständigen Erklärung liegt darin, das Rollenverhalten in den Schnittpunkt der Einflüssen zu stellen, die zu einer Erklärung ausreichen könnten. Das ist neben der Rollenauffassung, so sein formuliertes Programm, der »soziale Kontext (Natur der gestellten Aufgabe, Situation, weitere Umgebung), die Persönlichkeit (Motivation, Identität, Spontaneität, Werte, Ängste, Gewohnheiten), die kognitiven Fähigkeiten (Wissen, Geschick, Erfahrung) und die übrigen außerberuflichen Rollen«. (Lautmann 1970: 395)
Obwohl Lautmann in »Justiz – die stille Gewalt« (Lautmann 1972) explizit einen entscheidungstheoretischen Rahmen wählt (Lautmann 1972: 14 ff.), ist die Arbeit in ihrer Darstellung durchdrungen von diesen rollentheoretischen Ansätzen. Einerseits beziehen sie sich auf seine Forschungssituation als Soziologe, andererseits auf Aussagen über den Richter und seine Mitakteure als Rollenträger. Dieser implizite Fundus gibt Anhaltspunkte aus einer empirischen Nähe, die in dieser Form unerreicht ist. Ein immer wieder auftauchendes Problem wird von Lautmann in rollentheoretische Begriffe gefasst: Es geht um die Art der Wahrnehmung und des Umganges der Richter mit den anderen Akteuren, insbesondere den Naturparteien.30 Ausgehend von der Unterscheidung zwischen juristischen und sozialen Rollen (Lautmann 1972: 146) wird aufgezeigt, dass Letztere bedeutungslos sind, während 29 Werle gehört genauso dazu, wird aber unter der Thematik Selbstverständnis später behandelt. 30 Hierbei schreibt Lautmann zwar vom neutralen Dritten, was den Anschluss an unsere Sichtweise der Unterscheidung Dyade Triade geben könnte (siehe Abschnitt 4.2.3.2), bleibt aber in der auf Darstellungsebene bezogenen Inszenierung von Distanziertheit in der jeweiligen dyadisch geprägten Beziehung des Richters zur Naturpartei (Lautmann 1972: 186).
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die juristischen Rollen für den Richter zur Handhabbarkeit des Prozesses Bedeutung haben. Die Auskunftspersonen werden zu formalen Informantenrollen (Lautmann 1972: 52 f.), als juristische Rollen definiert und das Handeln danach ausgerichtet. So ist auch die Einteilung der richterlichen Interaktionspartner nach Bezugsgruppen (Lautmann 1972: 101) zu verstehen, in denen nicht die Naturparteien vorkommen, sondern nur ihre anwaltliche Vertretung. Das führt zu Konflikten, auch über Norminterpretationen, weil den Naturparteien, die ja dennoch Stellung nehmen müssen, die Kenntnis des Rechts unterstellt wird. Diese Wahrnehmung der anderen Akteure als Rollenträger durch den Richter wird durch reduzierende Polarisierungen (zumeist dichotom) in ihrem erwarteten Antwortverhalten verstärkt (Lautmann 1972: 69, auch 79). Diese typisch strukturell-asymmetrischen Verhältnisse richterlicher Interaktion mit den Naturparteien werden unter Abschnitt 3.4.3.3 behandelt (später theoretisch weiterverfolgt in Abschnitt 4.2.3). In anderem Zusammenhang wird der Richter selbst dargestellt als jemand, der seine soziale Rolle als Richter im Sinne eines Gehorsams dem formalen Programm gegenüber durch früheste Internalisierung und Berufssozialisation akzeptiert (Lautmann 1972: 87). Als Rollenerwartungen gelten die Merkmale Neutralität und Distanziertheit, denen Richter zu entsprechen versuchen (Lautmann 1972: 186). Der Umstand, dass Rechtsmittel vermieden werden, wird als Konflikt mit Rollensendern gedeutet, in dem der Rollenkontrolle entgangen werden soll (Lautmann 1972: 166). Es wird sich zeigen müssen, ob die hier versuchte Verbindung von teilnehmender Beobachtung und rollentheoretischer Deutung in Bezug auf die von uns angestrebten Selbsttypisierungen brauchbar ist oder schon ein zu starkes Theoriegerüst »an die Daten trägt«. Trotz Argumenten gegen eine Rollentheorie, die als Analyse von Rollenelementen nur eine neue Terminologie erschaffen würde, ist Rottleuthner (1973b) unter dem Aspekt der Ich-Identität von ihrer Fruchtbarkeit überzeugt: Gerade weil sich der Richter als Idealmodell der traditionellen Rollentheorie anbietet und als Person daran scheitert, die Rechtsnormen als einzige Motive zu haben, sind die persönlichen Momente seiner Identität, die ja nicht sein dürften, aber nicht auszuschalten sind, interessant: »Wir wissen nicht genügend über die persönlichen Belastungen, über Mechanismen der Befriedigung (etwa durch narzisstisches oder sadistisches Agieren von oben herab, durch soziale Anerkennung)[31], über Symptome, die sich auch im außerberuflichen Bereich durchhalten. Es wäre eine Frage auch an die Psychoanalyse, welche Persönlichkeitsstrukturen Richter mitzubringen haben
31 Wir glauben, dass die ›kritische Justizforschung‹ in einigen Punkten »über das Ziel hinausgeschossen« ist. Es werden dort Verallgemeinerungen aufgestellt, die nur unter Berücksichtigung der »kritischen Zeit« verstanden werden können, hinsichtlich einer Wissenschaftlichkeit beanspruchenden Arbeit in der heutigen Zeit aber eher Verwunderung hervorbringt (vgl. auch Rottleuthner 1973: 161 f.).
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und wie sich die Berufsanforderungen, besonders die Entpersonalisierung, auf ihren Charakter auswirken.« (Rottleuthner 1973: 139)
Aus Rottleuthners Zusammenfassung (Rottleuthner 1973: 187) kann formuliert werden, dass eine interaktionistische Rollentheorie, durch den Aspekt einer moralisch-balancierenden Ich-Identität ergänzt, einen brauchbaren Ansatz zum Verstehen der richterlichen Identität und des richterlichen Selbstverständnisses geben kann. In einem späteren Werk formuliert Rottleuthner weitere Aufgaben für eine Richtersoziologie: Neben detaillierten Untersuchungen der organisatorischen Verhältnisse wären »Rollenverflechtungen zu beachten, durch die bestimmte lebensweltliche Bezüge des Richters in seiner professionellen Tätigkeit zum Tragen kommen könnten. Als Richter ist man eben auch Konsument, macht seine Erfahrungen als Patient, verfügt über Wohneigentum oder ist Mieter, kann auch Vater oder Mutter eines schulpflichtigen Kindes sein, wohnt in einem Bezirk mit hohem Ausländeranteil, ist von Fluglärm geplagt etc. All diese lebensweltlichen Verankerungen könnten einen Einfluss auf die berufliche Tätigkeit des Richters haben.« (Rottleuthner 1984: 356)
Die hier dargestellten Untersuchungen zeigen, dass eine rollen- und identitätstheoretisch informierte Rechtssoziologie, wenn auch vom methodischen Zugang zumeist noch unzureichend, den Weg hin zur Person, zum Handeln des Richters und den Interaktionen sucht und eine subjektive Perspektive in Verbindung mit der Praxis erahnen lässt. Es wird zudem deutlich, dass ein rein erklärender Ansatz mit wenigen Variablen – etwa von der Herkunft zum Urteil – unbrauchbar und das daraus resultierende Wissen über den je einzelnen Richter in der Ausübung seiner Praxis sehr gering ist. Zumeist existiert ein Wissen der Soll-Art von den Rollensendern, und nicht ein aus der subjektiven Perspektive der Praxis heraus gewonnenes Verständnis. Gerade die in der Selbstauffassung über das eigene Handeln und die im situativen Handeln gewonnenen Merkmale eines richterlichen (Rollen-) Verständnisses können als ein aus der Praxis entstehender Zugang zum Verstehen richterlicher Tätigkeit erwachsen. 1.2.2.3
Empirische Forschungen zum Selbstverständnis bei Richtern
Nachdem in der Richterforschung vermehrt auf Mentalitäten und Einstellungen geachtet wurde, kam das Selbstverständnis als Variable einiger Items zum Vorschein. Bei Kaupen und Rasehorn kommt das Selbstverständnis in Fragebögen vor und bei Werle sogar als zentraler Gegenstand einer groß angelegten Studie. Danach verläuft sich das Selbstverständnis der Richter als Begriff einer empirischen Rechtssoziologie wieder etwas, nur in der Jugendrichterforschung bleibt das Thema virulent, ein wenig auch im Rahmen von Untersuchungen zu richterlichen Alltagstheorien. Rottleuthner kommt empirisch allenfalls indirekt darauf zu sprechen. Im Folgenden sollen diese Bezüge im Einzelnen dargelegt werden.
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
Selbstverständnis als Zuordnung zu Konservatismus-Aussagen Wolfgang Kaupen entwickelte in seiner groß angelegten Studie zu den deutschen Juristen von 1965 einen kleinen handlichen Fragebogen (Kaupen 1969: 231 f. sowie Kaupen und Rasehorn 1971: 16 f.), der an Rechtsanwälte und Justizjuristen, bestehend aus Staatsanwälten und Richtern gesendet wurde. Kaupen und Rasehorn versuchten in dieser Forschung unter anderem das Selbstverständnis zu messen (Kaupen und Rasehorn 1971: 73 ff.). Allerdings schwanken die Items, die für das Selbstverständnis verwendet werden, je nach Betrachtung und so fällt es schwer, eine einheitliche Darstellung zu finden, siehe hierzu auch die Kritik von Rottleuthner (1982: 86, insbesondere FN 8). Von Bedeutung für das Selbstverständnis war in jedem Fall die Einstellung zu Konservatismus-Aussagen und zu den Bereichen der juristischen Ausbildung, die gestärkt werden sollten. Im Ergebnis kamen Kaupen und Rasehorn bezüglich des Selbstverständnisses der Richter zu der Einschätzung, dass das Selbstbild (von der Rolle des Juristen) die Funktion des ›Bewahrens‹ in den Vordergrund bringt (Kaupen und Rasehorn 1971: 73). Man könnte überspitzt formulieren, dass Kaupen und Rasehorn einzelne mögliche Facetten eines Selbstbildes in Hinsicht auf eine bewahrende oder konservative Grundhaltung hin befragen und letztlich bestätigen. Wenn man die Thesen von Kaupen und Rasehorn weiterverfolgt und in unsere heutige Zeit überträgt, ließe sich Folgendes annehmen: Damals wurde davon ausgegangen, dass der Rücklauf des Fragebogens eher von den Richtern bewerkstelligt wurde, die eine weniger konservative Grundhaltung an den Tag legen und somit den Sozialwissenschaften zuträglicher sind. Dass empirisch dennoch von einer bewahrenden Grundhaltung ausgegangen werden konnte, ließ somit das Ergebnis noch stärker dastehen (Kaupen und Rasehorn 1971: 19). Wenn man heute eine solch alte Untersuchung mit möglichst wenig Aufwand zum Zwecke eines Vergleiches replizieren32 möchte, bietet sich eine theoretische Auswahl (statt einer Zufallsstichprobe) an, die tendenziell an Themen wie Selbstverständnis interessierte Richter einbezieht. Richter, die sich zu einem solchen Thema an der Richterakademie treffen, sind eher weniger konservativ als deren Kollegen, so die der theoretischen Auswahl zugrunde liegende Vermutung. Ein etwaiger bewahrender Befund heute könnte sozusagen ein starkes Ergebnis bezüglich der gesamten Richterschaft darstellen. Es ist anzunehmen, dass nach 40 Jahren die Richterschaft nahezu vollständig ausgetauscht ist und die Kinder und Enkel jener Generation (und nach Hartmann (2002) auch ein nicht unerheblicher Teil einer Beamtenschaft) auf den Dezernaten sitzen. Das Selbstbild der bewahrenden Funktion könnte sich demnach weitergetragen haben oder einem anderen bzw. anderen Bildern gewichen sein. Nach Kaupen und Rasehorn wäre Ersteres wahrscheinlicher. Eine solche 32 Und bei Verzicht auf die methodische Überarbeitung zugunsten der Vergleichbarkeit.
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Zum Gegenstandsbereich: Gesellschaft – Recht – Richter
Befragung wurde im Dezember 2005 mit 27 Richtern33 an der Deutschen Richterakademie in Wustrau im Rahmen der Tagung »Selbstverständnis und Rolle des Richters heute« (Tagung 36c) durchgeführt. Sehen wir uns den Vergleich an: Vergleich 1965 (N=153, Zufallsstichprobe) und 2005 (N=27, theoretische Auswahl) Aussagen Auch der Jurist kann sich heute ohne Spezialisierung auf einzelne Rechtsgebiete nicht mehr durchsetzen. Juristen sind auf Grund ihrer vielseitigen Erfahrungen besonders geeignet, Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft zu übernehmen. In der Wirtschaft: Juristen sind auf Grund ihrer vielseitigen Erfahrungen besonders geeignet, Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft zu übernehmen. In der Gesellschaft: Der Jurist sollte eher das Bestehende zu bewahren suchen und sich nicht jeder Entwicklung der Dinge anpassen wollen. Welchen der folgenden Bereiche sollte man Ihrer Ansicht nach in der juristischen Ausbildung stärker berücksichtigen?
Bewertung völlige Zustimmung = bedingte Zustimmung = bedingte Ablehnung = völlige Ablehnung =
1965 19 % 48 % n.b. n.b.
2005 33 % 37 % 22 % 7%
völlige Zustimmung = bedingte Zustimmung = bedingte Ablehnung = völlige Ablehnung =
24 % 58 % 13 % 2%
14 % 55 % 21 % 10 %
völlige Zustimmung = bedingte Zustimmung = bedingte Ablehnung = völlige Ablehnung = völlige Zustimmung = bedingte Zustimmung = bedingte Ablehnung = völlige Ablehnung = Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte = Juristische Methodik = Wirtschaftswissenschaften = Sozialwissenschaften =
39 % 48 % 9% 3% 14 % 42 % 33 % 11 %
24 % 59 % 7% 10 % 3% 41 % 45 % 10 %
19 % 50 % 23 % 16 %
28 % 38 % 17 % 48 %
Abbildung 4: Selbstverständnis nach Kaupen und Rasehorn Teil 1
33 Aufgrund dieser geringen Fallzahl sind die hier dargestellten Ergebnisse mehr illustratorisch zu sehen und werden nicht im Detail aufgezeigt. So ist auch die Verteilung auf grundlegende Unterschiede (Gerichtsbarkeiten und Geschlecht) nicht repräsentativ, wie es für eine (geschichtete) Zufallsstichprobe möglich wäre. Die Verhältnisse sind folgendermaßen: Es sind weniger Frauen als im Durchschnitt (20 % statt 30 %), weniger aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit (53 % statt 74 %) und dadurch mehr aus der Sozialgerichtsbarkeit und Arbeitsgerichtsbarkeit.
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
Vergleich 1965 (N=153, Zufallsstichprobe) und 2005 (N=27, theoretische Auswahl) Aussagen (Weltbild) Im Konflikt zwischen »Gerechtigkeit« und »Ordnung« sollte letztlich der Gedanke der Ordnung den Ausschlag geben. Der zunehmenden Kriminalität kann man nur mit härteren Strafmaßnahmen wirksam begegnen.
Bewertung völlige Zustimmung = bedingte Zustimmung = bedingte Ablehnung = völlige Ablehnung =
1965 7% 34 % 33 % 25 %
2005 3% 21 % 41 % 34 %
völlige Zustimmung = bedingte Zustimmung = bedingte Ablehnung = völlige Ablehnung =
17 % 37 % 25 % 21 %
3% 24 % 28 % 45 %
Abbildung 5: Selbstverständnis nach Kaupen und Rasehorn Teil 2
Bei der Interpretation der Ergebnisse fällt eine (leichte) Tendenz der abnehmenden Konservatismusaussagen auf. Hätte man mehr Abweichung erwartet? Das Verhältnis zur Wirtschaft ist zudem auffällig: Es besteht ein abnehmender Glaube, dass Juristen besonders für die Wirtschaft geeignet sind. Dies ist zwar auch bei der Annahme der Eignung für die Gesellschaft so, jedoch fällt der Wert hier deutlich niedriger aus, was durch die zunehmende Differenzierung der Gesellschaft, d. h. auch durch den Ausbau eigenständiger Wirtschaftsausbildungen an den Universitäten, erklärt werden könnte. Hierzu passt zudem die Abnahme der Stärkungsabsicht wirtschaftlicher Bereiche in der juristischen Ausbildung. Die Bedeutung für unsere Untersuchung hier liegt weniger in der Bestätigung oder Ablehnung der (damals im Zentrum öffentlicher Diskussionen zur Justiz stehenden) Konservativismusthese, sondern in der Kritik des recht begrenzten inhaltlichen Spektrums von Items, die unter der Vielschichtigkeit des Begriffes ›Selbstverständnis‹ im Sinne der Berufsrolle des Juristen verstanden wurde. Selbstverständnis und Justizorganisation Raymund Werle (1977) geht in seiner Arbeit »Justizorganisation und Selbstverständnis der Richter« für das Selbstverständnis vom Rollenverständnis oder der Perzeption von Rollenerwartungen aus (Werle 1977: 1). Er reagiert dabei auch auf die Einwendungen Rottleuthners gegenüber der Rollentheorie und grenzt sich von diesen ab: »Perzeptionsunterschiede aufzuzeigen und Gründe für ihr Auftreten zu finden«, unterscheide sich von der Annahme, die Rollenanalyse könne nur neue Terminologien finden für das, was die Juristen immer schon tun, wenn sie Normen interpretieren (Werle 1977: 2). Von den im Ergebnis enttäuschenden vorgängigen Arbeiten zum soziokulturellen Hintergrund inspiriert, wird empirisch zusätzlich die Bedeutung des organisationellen Einflusses auf die Rollenperzeption des Richters überprüft. Mithilfe einer Zufallsstichprobe aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit wurden 897 Richter im standardisierten Verfahren interviewt, was nicht nur damals, 1972, eine groß angelegte Studie war. Das Ergebnis der Untersuchung von Werle kann wie folgt zusammengefasst werden: Richterliches Rollenver-
Zum Gegenstandsbereich: Gesellschaft – Recht – Richter
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ständnis wird »nicht durch Variablen des sozio-kulturellen Hintergrundes und des von den Richtern besuchten Gymnasialtypes beeinflusst«. Indirekte »Effekte der juristischen Ausbildung« können »nicht ausgeschlossen werden«, und die »Variablen der Justizorganisation« üben »in der Regel zumindest schwache, aber messbare, direkte Effekte auf die Rollenperzeption der Mitglieder der Justiz« aus (Werle 1977: 338 f.). Die Beschreibung der einzelnen untersuchten Variablen muss hier zwar vorenthalten werden (vgl. Werle 1977: 24 ff.), jedoch soll kurz auf das Konzept des Selbstverständnisses eingegangen werden. Richterliches Selbstverständnis wird aus drei Unterkategorien gebildet: die Dimensionen des richterlichen Unabhängigkeitsverständnisses, die richterliche Entscheidungstätigkeit und drittens die richterliche Funktionsbestimmung als Leitbildselektion. Im ersten Teil wurde der Einfluss innerorganisatorischer, institutioneller, wirtschaftlicher und arbeitsmäßiger Faktoren auf die Gefährdungswahrnehmung der Unabhängigkeit in den Blick genommen und kam zu dem Ergebnis, dass nur der innerorganisatorische Bereich einen (begrenzten) Einfluss ausübt, wobei dem Gerichtstyp der deutlichste Einfluss zukam: Richter an oberen Gerichten sahen ihre Unabhängigkeit weniger gefährdet als ihre Kollegen an unteren Gerichten. Ansonsten war die Variable schwer zu fassen, der Unabhängigkeitsbegriff hat für die Richter, so Werle, »Syndromcharakter« (Werle 1977: 267). Richter neigen zudem dazu, das Problem der Unabhängigkeit weniger in den Bereich der Außenwirkung und Funktion richterlicher Entscheidung zu stellen, vielmehr nutzen sie es »als Vehikel zur Artikulation ihrer Probleme in und mit der Arbeitsorganisation Justiz« (Werle 1975: 172). Wir werden im Verlauf dieser Untersuchung sehen, wie zentral das »Vehikel« und sein »Syndromcharakter« für das Selbstverständnis sind. Die richterliche Entscheidungstätigkeit, die als zweiter Bereich des Selbstverständnisses untersucht wurde, zeigte in den richterlichen Äußerungen die »Unerheblichkeit« der persönlichen Einstellung, die Bedeutung des ›funktionalen‹ Einflusses der Kollegialstruktur und besonders die Anforderung möglichst einmütiger Darstellung richterlicher Entscheidung, in der formelle vor materieller Gerechtigkeit steht (Werle 1977: 301 ff.). Der dritte Teil des richterlichen Selbstverständnisses, die Diskrepanz zwischen Selbsteinschätzung und perzipierter Fremdeinschätzung richterlicher Funktionen mit deren Einflussfaktoren durch Außenkontakte, wurde zum Teil im Rahmen der gleichen kleinen Erhebung (siehe oben) repliziert. Als Ergebnis könnte man überspitzt sagen, dass die Richter damals von sich dachten, dass sie dem Wohle des Bürgers zugeneigt sind, und vom Bürger dachten, dass jener aber von ihnen geglaubt hätte, sie wären der Erhaltung des Staates verpflichtet. Nach Werle würde es heute kaum eine Änderung in dieser Diskrepanz von Selbst- und perzipierter Fremdwahrnehmung geben, es sei denn, es hätte eine deutliche Veränderung in den Außenkontakten gegeben. Wenn diese zugenommen hätten (aufgrund welcher Einflüsse auch immer), wäre aber das positive bürgerbezogene Leitbild in
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
Selbst- und verstärkt in Fremdeinschätzung sogar schwächer zu erwarten. Sehen wir uns die Daten im Vergleich an: Mittelwerte der Sechserskala (höchste Zustimmung=6) Vergleich 1972 N=744 (Zufallsstichprobe) und 2005 N=27 (theoretische Auswahl) Selbsteinschätzung
perzipierte Fremdeinschätzung
Differenz
1972 2005
4,28 3,90
3,02 3,00
1,26 0,90
1972 2005 Vermittler und Schlichter zwischen den Parteien 1972 2005 Gestalter der Gesellschaft 1972 2005 Vertreter der staatlichen Zwangsgewalt 1972 2005 Schützer des einzelnen gegenüber staatlichen und gesellschaftlichen Eingriffen 1972 2005
1,84 2,17
2,93 2,93
-1,09 -0,76
5,09 4,76
4,08 3,93
1,01 0,83
2,74 2,55
1,86 3,15
0,88 -0,60
2,42 2,90
3,94 4,51
-1,52 -1,61
4,82 4,34
3,64 3,72
1,18 0,62
Der Richter ist: Helfer und Berater Diener des Staates im alten preußischen Sinne
Abbildung 6: Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung nach Werle
Im Gegensatz zum Ergebnis von 1972 sind 2005 durchgängig sinkende Werte der Selbstwahrnehmung als ›an positiven bürgerbezogenen Leitbildern orientiert‹ festzustellen. Nach Werle könnte man jetzt fragen, ob die Außenkontakte zugenommen haben, weil das die Einflussvariable ist. Ausreißer in der perzipierten Fremdwahrnehmung ist die Annahme, der Bürger verstehe den Richter als Gestalter der Gesellschaft, und zwar mehr, als er sich selbst so empfindet. Das ist das einzige bürgerbezogene Item, das eine negative Differenz aufweist. Möglicherweise glauben die Richter heute eher, dass die Bürger ihre (die richterlichen) Möglichkeiten der Gestaltung überschätzen. Aus Werles Untersuchung können zweierlei Schlüsse für diese Arbeit gezogen werde. Zum einen wurde bestätigt, dass der alte Ansatz, über sozialstrukturelle Merkmale Einflüsse zu finden, nicht tauglich ist, was den Ansatz verstärkt, mehr in das Geschehen der richterlichen Tätigkeit vorzudringen. Zum
Zum Gegenstandsbereich: Gesellschaft – Recht – Richter
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anderen gab es Unzufriedenheit mit der Methode im Problem der Zuordnung offener Fragen zu Kategorien (Werle 1975: 147), was das grundsätzliche Dilemma zwischen an das Feld herangetragenen Kategorien und der »eigentlichen« Meinung der Befragten nur pointierte. Auf der Suche nach zahlenmäßigem Einfluss, der hier im Grunde genommen enttäuschend ausfiel, ging die in dieser ausdifferenzierten und vielschichtigen Befragung gegebene Komplexität des Begriffes ›Selbstverständnis der Richter‹ allerdings unter; die etwas hilflose Bezeichnung »Syndrom« (s. o.) für den Teil der Unabhängigkeit zeigt dies. Ein verstehender Ansatz, so die Hoffnung dieser Untersuchung, ist in der Lage, viele dieser hier schon »vorgedachten« Bezüge zu verdeutlichen. 1.2.2.4
Faustregeln, Präjudizien und Alltagstheorien
Auf der Suche nach dem Begriff ›Selbstverständnis‹ bei Rottleuthners Arbeitsgerichtsforschung trifft man auf die etwas versteckte Aussage, dass es sogenannte ›Faustformeln‹ gibt, die »zur Festlegung der Höhe einer Abfindung bei Kündigungsstreitigkeiten« vorhanden sind. Sie erklären am besten die Höhe einer Abfindung und werden als »rechtliche Kriterien« bezeichnet, »die die Richter auch in ihrem Selbstverständnis zugrunde legen« (Rottleuthner 1984: 296). In diesem Zusammenhang spricht Ellermann-Witt von »informellen, d. h. gesetzlich nicht-fixierten Faustregeln«, die als Kriterien zwar herkömmlich rechtlich irrelevant sind, »aber zu Bestandteilen des gerichtlichen Entscheidungsprogramms gemacht werden« (Ellermann-Witt 1984: 311). Der Gedanke, der hier dahintersteht, ist, dass sedimentierte Wissensbestände in Form von Relevanzstrukturen für die richterliche Entscheidung existieren, die nicht zum rechtlichen Lehrprogramm gehören, sondern zum richterlichen Selbstverständnis. Man könnte diese entscheidungsrelevanten richterlichen Faustregeln mit dem Präjudizienrecht in Verbindung bringen, denn durch häufiges Anwenden dieser Regeln/Theorien/Tabellen ergibt sich eine sogenannte Linie des Spruchkörpers (oder Einzelrichters), die sich zur Gerichtslinie entwickeln kann bis hin sogar zu einer allgemein angewandten Linie. Die Düsseldorfer Tabelle in Familiensachen mag ein solches Beispiel sein. Der Unterschied zu dem Präjudizienrecht wäre aus analytischer Sicht jedoch, dass durch eine Regel/Theorie/Tabelle und nicht durch eine Urteilssammlung auf neue Fälle geschlossen wird. Ob man empirisch dabei eine scharfe Trennung ermöglichen könnte, muss sich noch zeigen. Möglicherweise ließen sich durch analytische Arbeit aus den Entscheidungssammlungen auch Regeln oder rudimentäre Theorien ableiten, die in der Praxis angewendet werden (in Unterscheidung zur Rechtslehre). Ist die Verwendung solcher Regeln eine Adaption im Sinne einer nur ökonomisch reflektierten Arbeitsbewältigung oder ist es eine aus weiteren persönlichen Einstellungen erwachsene Handlung, deren Gehalt verspre-
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
chen könnte, irgendwie mehr und etwas Tieferes über den spezifischen Richter auszusagen? Für das Selbstverständnis hätte das zwei Folgen: (1) Der routinemäßige Rückgriff auf Präjudizien mit Einhaltung der Gerichtslinie erfüllt die Anforderung einer möglichst einmütigen Darstellung richterlicher Entscheidung, in der formelle vor materieller Gerechtigkeit steht, und lässt den Einfluss des organisatorischen Sanktionssystems erkennen: Beförderungsfaktoren, Leistungskriterien und Beurteilungswesen stärken die Verwendung von Präjudizien. Dies ist im Einklang mit dem Selbstverständnis bezüglich der richterlichen Entscheidungstätigkeit von Werles Untersuchung (Werle 1977: 304). (2) Die Frage, die sich für den einzelnen Richter im tieferen Sinne stellt, lautet dann: Verwendet er seine eigene Regel, im Sinne einer Linie des Einzelrichters – oder verwendet er eine Linie, die er sich bei Einarbeitung ins Dezernat durch Präjudizien und/oder Spruchkörperkollegen angeeignet hat? Oder lässt sich dies gar nicht voneinander trennen, weil im gegenseitigen Wechselverhältnis von sekundären Sozialisationsprozessen und in der Einbringung dessen, was das Individuum bis dato mitbringt, sowieso kaum zu unterscheiden ist? (Wenn es sich doch unterscheiden lässt, dann vielleicht mithilfe der Rollenkonfliktanalyse als InterRollenkonflikt (vgl. Rottleuthner 1973: 126 ff. und Wiswede 1977: 116).) Die Anwesenheit solcher Faustregeln kann jedoch auch ohne die explizite Verbindung zu Präjudizien und stark rechtsbezogenen Kriterien weiteranalysiert werden: mit Blick auf die Ergebnisse der Untersuchung von Opp und Peuckert (1971: 116-120), die eine erklärende Funktion von pragmatischen Richtertheorien oder richterlichen Alltagstheorien für die Rechtsprechung, zumindest für den Strafrechtsbereich, ausmachten. Dieser erweiterte Fokus lässt bezüglich des Selbstverständnisses weitere Untersuchungen in den Blick kommen. Eine größere Studie von Jürgen Bürkle (1984) zu richterlichen Alltagstheorien im Zivilrecht versuchte, über die Analyse von Akten neues Wissen zu gewinnen. Die Konstituierung der Alltagstheorien läuft über tagtägliche Erfahrungen des Individuums und durch Übermittlung der Erfahrung anderer Gesellschaftsmitglieder in der Primär- und Sekundärsozialisation (Bürkle 1984: 69) und ist Bestandteil richterlichen Vorverständnisses und somit Teil einer juristischen Hermeneutik als Methode richterlicher Entscheidungstätigkeit (Bürkle 1984: 1 f.). Neben den Vorzügen einer Verwendung allgemeiner Alltagstheorien, die in der Reduzierung komplexer Sachverhalte auf wenigen Schlüsselmerkmalen für die Einstufung von Sachverhaltskonstellationen liegen, führt Bürkle detailliert problemhafte Verwendungen im Vergleich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Aussageforschung auf. So werden durchweg die Kriterien zum Bereich der Aussagetüchtigkeit und –ehrlichkeit zu zurückhaltend eingesetzt und uneinheitlich gewichtet. Richter schätzen den Beweiswert von Zeugenaussagen trotz der immer wieder betonten Unzuverlässigkeit des Zeugenbeweises zu hoch ein (Bürkle 1984:
Zum Gegenstandsbereich: Gesellschaft – Recht – Richter
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172 ff.). Die Wirkungen der Alltagstheorien, als Bestandteil des Selbstverständnisses betrachtet, sind somit deutlich erkennbar. So auch bei Eva A. Maser, die in Ergänzung zu Bürkle eine Analyse von Urteilsbegründungen der Strafgerichtsbarkeit mit dem Fokus auf psychologischen Alltagstheorien der Richter unternahm (Maser 1992: 30 f.). In den Urteilsbegründungen wurden in erheblichem Umfang psychologische Alltagstheorien gefunden, die teilweise sogar nur mit Erkenntnissen aus der Verhandlung verständlich sind. Die aufgefundenen Alltagstheorien sind undifferenziert und fragmentarisch sowie weit entfernt von modernen wissenschaftlichen Theorien zur Strafe. Zudem steht den Richtern nur sehr begrenzt wissenschaftliches Material zur Überprüfung ihrer Annahmen zur Verfügung (Maser 1992: 190 ff.). Der augenscheinliche Knackpunkt in der Methode jener Untersuchung, das schriftliche Urteil, das heißt die Darstellung mit der Herstellung in Verbindung zu setzen, war Maser bekannt. Sie argumentiert dagegen, dass es zwar häufig stereotype Formulierungen gibt, die insbesondere auch gegen obergerichtliche Überprüfungen halten sollen, dass aber in der subjektiven Wirkung für den jeweiligen Verurteilten genau das ankommt, was dort steht. Etwas lapidar heißt es weiter, dass die verwendeten Alltagstheorien »doch allgemein von ihren Verfassern für richtig gehalten werden und ihrer erfahrungsgeprägten Überzeugung entsprechen« (Maser 1992: 35 f.). Ein Beweis dafür bleibt aber aus, wobei die Gegenbehauptung möglicherweise schwerer aufrechtzuerhalten wäre. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Alltagstheorien – seien es nun allgemeine, psychologische oder berufsspezifische – wirkungsvoller Bestandteil im Selbstverständnis von Richtern sind. 1.2.2.5
Jugendrichter und Selbstbild
Jugendrichter scheinen allgemein zu der Frage nach ihrem Selbstverständnis einzuladen, wie die Untersuchung von Hauser aus den Jahren 1975/1976 zeigt (Hauser 1980: 31 ff.). Die Selbsteinschätzung des Richters korrespondiert hier sehr stark mit dem Richterleitbild und Erziehungsauftrag des JGG (Hauser 1980: 35). Es wurde zwischen Selbsteinschätzung des Richters und Fremdeinschätzung durch Jugendgerichtshelfer und junger Straftäter unterschieden, wobei die Unterschiede erstaunlich gering sind. Erst das Erleben der Mehrfachtäter bringt eine große Differenz zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung zutage (Hauser 1980: 52). Roswitha Pommerening (1982) unterscheidet in ihrer Arbeit zum Selbstbild von Jugendrichtern zwei Gruppen, die empirisch durch eine Fragebogenstudie gewonnen wurden. Das eine Selbstkonzept von Jugendrichtern tendiert zur Anlehnung an Strafrechtsprinzipien, lehnt Spezialisierung ab und ist nur eingeschränkt kooperationsbereit. Die Berufszufriedenheit liegt unter dem Durchschnitt und eine
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
Verhandlung wird nur eingeschränkt als Sozialverhältnis angesehen. Diese Gruppe von Jugendrichtern zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: Sie haben keine Kinder, sind katholisch, haben nur einen kleineren jugendrichterlichen Anteil, sind nicht auf Wunsch dort und üben keine Tätigkeit aus, die sie mit Jugendlichen zusammenbringt (Pommerening 1982: 212 f.). Die zweite Gruppe ist das entsprechende Gegenbild mit Ablehnung von Strafrechtsprinzipien, Befürwortung von Spezialisierung und hoher Kooperationsbereitschaft. Die Berufszufriedenheit liegt über dem Durchschnitt und eine Verhandlung wird betont als Sozialverhältnis angesehen. Diese Gruppe von Jugendrichtern zeichnet sich dadurch aus, dass sie Kinder haben, evangelisch oder nicht gläubig sind, reine Jugendrichter sind, den ausdrücklichen Wunsch für diese Tätigkeit hatten und auch außerhalb des Berufes mit Jugendlichen zusammenkommen (Pommerening 1982: 213 f.). In einer Untersuchung von Christian Pfeiffer (Pfeiffer 1983) zu den Auswirkungen eines Praxisprojektes zu ›jugendrichterlichen Weisungen‹ des Vereins »Brücke« sind Jugendrichter zu ihrem Selbstverständnis und den Alltagstheorien befragt worden. Dabei wurden die Jugendrichter zuvor in zwei Untersuchungsgruppen eingeteilt (Pfeiffer 1983: 240): Eine Gruppe A=milde bestand aus Richtern, die zuvor eine geringe Summe an Prozentzahlen von Jugendarrest und Jugendstrafe ohne Bewährung aufwiesen (11 % - 21 %) und auf eigenen Wunsch Jugendrichter geworden sind. Die andere Gruppe B=streng dagegen hatte deutlich höhere Summen (33 % - 38 %) und war nur in wenigen Fällen auf der Wunschposition. Die Ergebnisse wiesen nach, dass die Richter, die vom Projektangebot Gebrauch machten (A-Richter) und sich somit für eine Reduzierung freiheitsentziehender Maßnahmen einsetzten, nicht nur das Sanktionsniveau insgesamt gegen den landläufigen Trend herabsenkten, sondern auch weit bessere (das heißt weniger) Rückfallergebnisse erzielten als jene Richter, die ihrem autoritär/strengen Handlungsstil (B-Richter) treu blieben (Pfeiffer 1983: 332 f.). Zu den Befragungen der Richter zu ihrem Selbstverständnis und zu ihren Alltagstheorien liegen Ausschnitte der Interviews vor, die jedoch leider nicht (und nicht »zunächst nicht«) interpretiert worden sind (Pfeiffer 1983: 258). Diese Daten liegen einfach nur zur Anschauung von Originaltönen der A- und B-Richter da. Dies ist aber ein durchaus typischer Umgang mit den für die quantitative Hypothesenbildung und Theoriebestätigung indirekt wirkenden Daten der Felderfahrung. Auf diese Art Daten und dem, was Pfeiffer dort gemeint haben könnte, als er schrieb, dass man dem Leser ein Teil von den Informationen zugänglich machen könnte, die er im Laufe der vierjährigen Projektarbeit durch Gespräche und Berichte gewonnen habe, zielt der hier vorliegende Untersuchungsansatz. Wir gewinnen aus diesen Untersuchungen das Wissen, dass die Richter in schriftlichen Befragungen kaum von den Sprachangeboten ihrer Rollenanforderungen Abstand nehmen, sondern dass sie sie internalisiert haben. Eine lebensweltliche
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Nähe sowie insbesondere die Verwendung in einem selbst angestrebten Dezernat erhöhen die Zufriedenheit, die Milde und den Erfolg in nachhaltiger Hinsicht. 1.2.2.6
Selbstbild in rechtssoziologischen Einführungen
In den gängigen Einführungen und Überblicken zur Rechtssoziologie spielt das Selbstverständnis der Richter kaum eine Rolle, nachdem die Herkunftsforschung (sozialstrukturelle Merkmale) und danach die Einstellungsforschung nicht zu einer befriedigenden Aussage kamen. So in neueren Werken, z. B. von Thomas Raiser (Raiser 1999: 399): »Als Homogenität stiftende Merkmale kommen soziale Herkunft, Lebensziel, Berufstätigkeit und Einkommen, ethische und religiöse Bindung, Selbstverständnis und politisches Engagement heute kaum noch in Betracht.«
Einen theoretischen Überblick zu Literatur von Selbstverständnis bei Strafrichtern gibt Dirk Fabricius (1996: 79 ff.). Er arbeitet mit der Unterscheidung in manifestes und latentes Selbstverständnis, was in Richtung von Rollenerwartung und Rollenselbstwahrnehmung geht (Fabricius 1996: 204), aber nicht wirklich Neues bringt. Nach Hans Albrecht Hesse wird der Suchprozess der Herstellung einer Entscheidung durch aktuelle Kalküle beherrscht, insbesondere durch das auf Zeitersparnis und Aufwandminimierung gerichtete Kalkül (Hesse 2004: 134), welches als Selbstbild des Akteurs in eine bewusste Wahl gegebener Alternativen und in die gelegentliche Erfindung einer neuen eingeht (Hesse 2004: 40). Auch hier kommt der Verdacht auf, dass es in den letzten Jahren wenig Neues gab. 1.2.2.7
Zur Bedeutung nicht rechtlichen Wissens
Rottleuthner (2005: 585 ff.) trifft eine Unterscheidung für die unabhängigen, erklärenden Variablen des sozialen Hintergrundes, die in der Richterforschung für die abhängigen Variablen der richterlichen Einstellung und des richterlichen Verhaltens von Bedeutung sind. So sollten die unabhängigen Variablen in die, die zugeschrieben werden, und die, die später erworben werden, unterteilt werden. Das würde bei erstellten Korrelationen sichtbarer machen, mit welchen sich der Richter auch lebensweltlich identifizieren kann. Besonders die Merkmale, die durch eigenes Zutun erworben werden, könnten dann bezüglich der Einstellungen und der dadurch beeinträchtigten Rechtsprechung bedeutsam sein. Für jene Merkmale gibt es bisher allerdings nur widersprüchliches empirisches Material. Rottleuthner hat für die Arbeitsgerichtsbarkeit gezeigt, dass die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft oder eine arbeitnehmerfreundliche Einstellung in keinem Zusammenhang mit dem
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Erfolg des Arbeitnehmers steht (Rottleuthner 1984: 296). In seiner Einführung weist Rottleuthner (1987: 106) auf gegenläufige Untersuchungen hin, auf seine eigene am Arbeitsgericht und die Arbeit von Hilden (1976). Bei Hilden lautet in der Tat ein Ergebnis, dass diejenigen Richter, die selbst Mieter sind, mieterfreundlicher entscheiden, als diejenigen Richter, die ihr Eigentum bewohnen (Hilden 1976: 219). Letztlich lässt Rottleuthner offen, inwieweit sich Einstellungen aus erworbenen sozialen Hintergrundmerkmalen auf die Entscheidungen auswirken können. Eine neuere Untersuchung zu Patientenverfügung und Sterbehilfe (Höfling und Schäfer 2006: 76 ff.) kommt zu dem Ergebnis, dass lebensalters- und berufsbedingte Erfahrung von schweren Leiden in der näheren Umgebung und dem Näherrücken des eigenen Todes34 zu einer erhöhten Ablehnung der Straffreistellung der aktiven Sterbehilfe führen. Dies stützt die These vom Einfluss lebensweltlicher Nähe und spezieller Wissensbestände auf die für die Entscheidung von Rechtsfällen mitwesentlichen Einstellungen. Eine solche Bedeutung der außerberuflichen Lebenswelt, dem Milieu, dem privaten wie auch immer gewonnenen Wissen und Situationswissen mit den undurchschaubaren Wirkungen auf die Einstellung und deren Einfluss auf die Entscheidung des Richters wird sehr konträr diskutiert. Gibt es überhaupt einen solchen Einfluss? Wenn ja, ist dieser gut und zu fördern oder schlecht und zu vermeiden? Hierzu zählt die Diskussion um die Verbesserung der Kenntnisse vieler Richter in bestimmten Sachgebieten. Die bisherige Lösungsstrategie des Justizsystems (Spezialisierung von Dezernaten bzw. Kammern/Senaten, Fachexperten als Laienrichter, Gutachter und Sachverständige) wird mit Fachaus- und Weiterbildungen oft zu ergänzen gesucht. Kritisch gesehen wird einerseits, dass die Verlagerung der inhaltlichen Bestimmungsgründe in die Hand von Experten35, dem Richter seine ureigenste Funktion des Entscheidens zu rauben scheint.36 Eine solche Art Entmachtung des Richters sei ob der Nichtunabhängigkeit der Experten (im richterlichen Sinne) letztlich eine Gefahr für die Judikative. Andererseits ist die Alternative, die Aneignung von Fachwissen durch den Richter selbst, ein zweischneidiges Schwert. Denn zum einen ist die Fülle verschiedener notwendiger Fachwissensgebiete selbst in kleineren Teilbereichen uferlos, so dass 34 Beides sind aber Annahmen, die in der Erhebung nicht einbezogen wurden und als Erklärung für die Tatsache herangezogen wurde, dass im Verhältnis in der ältesten Gruppe (55 Jahre und älter) deutlich mehr Richter eine eigene Patientenverfügung formuliert haben als in der jüngsten (25-34 Jahre), nämlich 35 % im Gegensatz zu 7 %. 35 Es gelte, »das Verhältnis zwischen Richter und Sachverständigen […] nach dem Maßstab der praktischen Vernunft zu pflegen und zu entwickeln. […] Die Rolle des Sachverständigen erfährt hierdurch eine Aufwertung« (Breuer 2001: 79). 36 Hierzu gibt es auch Gegenstimmen, die dem Richter und Sachverständigen bewusst machen möchten, eine »gemeinsame Verantwortung für die Sachaufklärung nur in enger Zusammenarbeit tragen« zu können (Franzki 2001: 91), was aber letztlich in Appellen an die sorgsame Verwendung der zur Verfügung stehenden Befugnisse des Richters endet.
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eine Besetzung mit Fachrichtern für alle erdenklichen und auftauchenden Problemfälle illusorisch ist (Kutscheidt 2001: 93). Und zum anderen kann eine immer tiefergehende Beschäftigung mit einer Materie schnell von der abstrakten Wissensvermittlung zur lebensweltlich bedeutsamen Verstrickung führen und damit zu dem Vorwurf der Befangenheit. Rottleuthner ist der Ansicht, dass die erworbenen Merkmale, welche die Einstellung und möglicherweise Entscheidungen beeinträchtigen, keine Fälle von Befangenheit sind (Rottleuthner 2005: 586). Er argumentiert, dass die benannten Sachverhalte nur deshalb, weil sie nicht als Befangenheit geahndet (rechtskräftig gemacht) wurden, kein Problem der Befangenheit seien. Eine Untersuchung von Horn kam zu dem Ergebnis (Horn 1977: 17), dass über 95 % der Befangenheitsanträge abgelehnt wurden. Selbst wenn gälte, dass Befangenheit nur bei aktiver Aufsuchung etwa von Orten während des Verfahrens zu beanstanden ist, nicht jedoch das (stille) Wissen über den gleichen Ort von einem Tag vor dem Prozess, bleibt die Frage der Involviertheit des Richters durch seine Kenntnis des Ortes, der Situation, der Lebenswelt etc. als Problemart der Befangenheit. Siehe hierzu auch Lipp (1995), der zur Unparteilichkeit des Richters aufgrund seines privaten Wissens eine rechtsdogmatische Analyse vorgelegt hat und zu dem Schluss kommt, dass eben jenes Wissen ein allgemeines prozessuales Problem darstellt, wenn es außerhalb des Prozesses erworben wurde (Lipp 1995: 100). Dass ein solches privates Wissen sehr stark mit den erworbenen sozialen Hintergrundmerkmalen korreliert, braucht hier nicht nur vermutet werden. Die Schere zwischen einer rechtsdogmatischen Analyse und der faktischen Rechtsprechung hinsichtlich der Befangenheit von Richtern geht auseinander, wobei der Vorwurf eines justitiellen Selbstschutzes möglicherweise zu kurz greift (vgl. Horn 1977: 13). Denn auf der anderen Seite wird eine bessere Fach- und Sachkenntnis ja gerade gefordert. Neben diesen Problemen des begrenzten thematisch-inhaltlichen Fachwissens kommt ein weiterer Aspekt hinzu. Es stellt sich die Frage, inwiefern nicht rechtswissenschaftliches Wissen und Kenntnisse, die für die Alltagspraxis des Richters sehr relevant sind, Einfluss auf die (Einstellung zur) Entscheidung haben darf. Dies betrifft die Verhandlungsführung und insbesondere den Umgang mit den Naturparteien (siehe Umgang mit Sachunverstand vor Gericht in Abschnitt 3.4.3.3). Dazu gibt es teilweise Fortbildungen für Rhetorik oder Ähnliches.37 Die Diskussion um pädagogische, psychologische oder soziologische Inhalte der Juristenausbildung bringt immer wieder diesen Aspekt zum Vorschein. Nicht rechtliches Wissen in den hier skizzierten Ausformungen (lebensweltliches Wissen, Sachverhaltswissen, Gesprächsführungswissen) ist Bestandteil
37 So etwa mit dem Titel »Effektive Führung einer Hauptverhandlung und Kommunikationsanalyse für Strafjuristen« Tagung 27d 2008 der deutschen Richterakademie.
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Von Richtern und Spiegeln – theoretische Einführung und Forschungsstand
richterlichen Selbstverständnisses durch die diesem Wissen gemäßen Relevanzstrukturen. 1.2.2.8
Zwischenresümee zum Stand der Forschung
Gemeinsam war den ersteren Untersuchungen die Hoffnung, durch von der Praxis weit entfernte und leicht messbare Hintergrundfaktoren Erklärungen für die Entscheidungen und damit Kausalzusammenhänge bis zum Urteil zu erkennen. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Sozialprofil der Richter und dem Prozesserfolg überdies nicht nachweisbar ist (vgl. auch Rehbinder 2003: 180). Es empfehle sich vielmehr, (neben juristischen) nach berufsbezogenen Erklärungsmustern zu suchen, d. h. Faktoren der Gerichtsorganisation, Leistungsbeurteilungskriterien und Karriereaussichten zu untersuchen. Im Verlauf der Richterforschung wurden auch jene erklärenden Variablen immer mehr hin zur Person des Richters, zum Handeln des Richters, den Interaktionen und Objekten (insbesondere die Akte) im Gericht und den lebensweltlichen Relevanzstrukturen vermutet. Zumeist wurden dabei theoretische Vorannahmen durch ein quantitatives Forschungsdesign getestet. In wenigen Untersuchungen wurden bereits Horizonte aufgezeigt und Forschungen begonnen, die eine subjektive Perspektive in Verbindung mit der Praxis erahnen lassen. Diese Richtung der deutschen Richterforschung gilt es zu vertiefen und ihr neue Impulse zu geben, viele darin gestellte Forderungen empirisch aufzugreifen und zu realisieren. Eine solche rechtssoziologisch-akteursbezogene Richterforschung kann als Teil einer Rechtspraxisforschung verstanden werden, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll. 1.2.2.9
Rechtspraxisforschung
Es gibt einige Untersuchungen innerhalb der schon geschilderten Richterforschung, die als Vorläufer der hier gemeinten Rechtspraxisforschung verstanden werden können. Jedoch lassen sich dort je einzelne Bereiche als noch nicht ganz deckungsgleich mit dem hier gemeinten Programm beschreiben. Drei Aspekte müssen dahingehend unterschieden werden: die theoretische Deutung bzw. Zuordnung der Daten, der methodische Zugang und der jeweilige Ausschnitt des Phänomenbereichs. Der erste Vorläufer ist vermutlich mit der Untersuchung von Lautmann zu klassifizieren (Abschnitt 1.2.2.2). Während der methodische Zugang und das Forschungsfeld dem hier verfolgten Programm entsprechen, sind die theoretischen Grundlagen und Deutungen mit der Wahl ausschließlich rollentheoretischer und entscheidungstheoretischer Angebote sowie einer – die gesamte Forschung stark
Zum Gegenstandsbereich: Gesellschaft – Recht – Richter
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leitenden – werturteilsbezogenen Kritik weniger fruchtbar. Die Gerichtsforschungen der Forschergruppe um Soeffner (vgl. Einleitung sowie Stegmaier 2008: 63 ff.) kamen von einem theoretischen und methodischen Verständnis her, welches sich über Interaktionsanalysen den für das Handeln der Akteure typischen Wissensbeständen näherte. Dieser grundsätzlich für uns sehr zentrale Ansatz war auf den Phänomenbereich der Gerichtsverhandlung bezogen und nahm somit einen Ausschnitt richterlichen Handelns in den Blickpunkt, der sich explizit für inszenierungstheoretische Folgerungen eignete (vgl. Abschnitt 4.2.3.2). Einen methodisch umfassend ethnographischen Ansatz bot Scheffer in seiner Arbeit zur Asylgewährung (Scheffer 2001), in der das gesamte Verfahren untersucht wurde. Dabei stand aber weder das richterliche Handeln im Mittelpunkt der Forschung noch wurden theoretisch wissenssoziologische Aspekte einbezogen. Als historisch orientierte Forschungen können ergänzend Ogorek (1986) und Maiwald (1997) angeführt werden. Eine aktuelle Forschergruppe um Morlok fügte die verschiedenen Ebenen in einem gemeinsamen Interesse als ›Rechtspraxisforschung‹ mit speziellem Fokus auf richterlichem Handeln zusammen. Neben diesem spezifischen Phänomenbereich lag das theoretische Interesse in einer akteursbezogenen Rekonstruktion von Handlungsvollzügen. Ausgehend von einem ethnomethodologischen Interesse wurde durch die verstärkte Gewichtung auf die wissenssoziologische Hermeneutik eine intensive Gerichtsforschung mit qualitativen Verfahren durchgeführt, welche die richterliche Fallbearbeitung in einer bis dato nicht vorliegenden Tiefe und Breite aus den Praxisvollzügen beschreiben konnte, ohne durch an das Feld angelegte theoretische Kategorien (rechtstheoretischer oder soziologischer Art) zu sehr gebunden zu sein (vgl. dazu Morlok und Kölbel 1998, 2000, 2001; Morlok, Kölbel, et al. 1998; Morlok 2004; Kölbel, Berndt, et al. 2006; Stegmaier 2008). In jenen dieser Forschung zugrunde liegenden Projektzusammenhängen wurde durch die Richter immer wieder direkt oder indirekt auf ihr Selbstverständnis Bezug genommen, um die entsprechende Arbeitsweise zu erläutern, zu begründen oder in einen Kontext zur Person (in Abgrenzung zu anderen) zu setzen. Die hier vorliegende Arbeit entwickelte sich aus dem daraus verfolgten Interesse, auch aus dieser Perspektive des Selbstverständnisses eine Typologie richterlicher Handlungsrelevanzen zu erarbeiten. Erste empirische Teilbereiche davon wurden durch den Autor in den letzten Jahren in verschiedenen Vorträgen bereits zur Diskussion gestellt.38 38 »Vom Hammerschlag und Service. Rechtsprechung und Richteridentität – Zwei Seiten einer Medaille«, Vortrag auf der Konferenz »Rechtsforschung als disziplinübergreifende Herausforderung«, veranstaltet vom Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit (BAR), der Projektgruppe Rechtspluralismus des Max Planck Instituts für ethnologische Forschung und der Sektion Rechtssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle, 03.06.2003. - »Vom kompetenten Umgang mit Sachunverstand vor Gericht. Zum professionellen Sonderwissen von Richtern.« Vortrag auf der
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Veranstaltung »Die gesellschaftliche Verteilung des Wissens II« der Sektion Wissenssoziologie und des Arbeitskreises ›Professionelles Handeln‹ auf dem DGS-Kongress 2004 in München, 07.10.2004. - »Das Selbstverständnis der Richter – Empirische Untersuchungen zum Selbstbild«, Vortrag auf der Tagung »Selbstverständnis und Rolle des Richters heute« der Deutschen Richterakademie in Wustrau (Tagung 36c), 07.12.2005. - »Judges’ Self-Typification in Professional Practice«, Lecture for the Roundtable »Judges in Action: On Normativity in its Practice, Institutionalization and Materiality« on the International Conference »Law and Society in the 21st Century«, the annual meeting of the Law and Society Association (LSA) in Berlin, 25.07.2007.
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Vom Blick in den Spiegel – Zur Methode der Rekonstruktion von Selbsttypisierungen
2.1
Einleitung
Das Forschungsinteresse dieser Untersuchung, so wurde in den vorgängigen Teilen expliziert, zielt auf die Rekonstruktion von Selbsttypisierungen richterlicher Akteure hinsichtlich der spezifischen Handlungsproblematik in ihrer professionellen Praxis. Das sich in den rekonstruierten Selbsttypisierungen entfaltende Selbstverständnis bietet dabei weitere allgemeine theoretische Anknüpfungen, und zwar zur persönlichen und sozialen Identität, zum Habitus und zur sozialen Rolle von Richtern. Ebenfalls wurde bereits kurz darauf hingewiesen, dass diese theoretischen Einbezüge durch ihr Wechselverhältnis mit der empirischen Rekonstruktion – ganz im Sinne der Grounded Theory – entstanden sind und nicht als theoretische Vorannahmen von vornherein leitend für die Forschungen waren. Aus diesem Grunde waren auch aus diesen Bezügen stammende oder bevorzugte empirische Zugangsweisen primär nicht relevant. Es stellt sich ohnehin die Frage, ob ein solches Unterfangen nicht von vornherein zu selektiv gewesen wäre, wenn die Bezüge bekannt gewesen wären. Sie hätten, sofern Sie überhaupt einen eigenständigen empirischen Zugang entwickelt haben, die anderen Bezüge verunmöglicht oder zumindest erschwert. Dass einige Hinweise der oben genannten Konzepte39 und generell aus der empirischen Rechtssoziologie das hier verwendete Vorgehen grundsätzlich stützen oder gar fordern, soll ein methodisch reflektierter Ausgangspunkt zeigen, der aus der empirischen Rollenanalyse heraus entstand. In seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1966 führt Popitz unter anderem methodische Probleme einer empirischen Rollenanalyse aus: »Der primäre Zugang zur Feststellung von Handlungen und Handlungsnormen ist offensichtlich die visuelle Beobachtung, das Zusehen. Berichte, Gespräche, Befragungen können als sekundäre Quellen dienen, sofern sie auf eine konkrete Auskunft darüber abzielen, wer in einer bestimmten Situation dies oder jenes getan hat. Der primäre Zugang zur Feststellung sprachlichen Verhaltens und sprachlicher Verhaltensnormen ist das Zuhören, entweder als beobachtende Dritte oder als Gesprächsteilnehmer. Sekundär können auf diese Weise wiederum indirekte Informationen über sprachliches Verhalten gesammelt werden. […] Schwierig ist der Versuch, in Befragungen sprach39 Später wird noch ein neuerer empirischer Zugang aus der Identitätsthematik heraus diskutiert (siehe Abschnitt 2.3).
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Vom Blick in den Spiegel – Zur Methode der Rekonstruktion von Selbsttypisierungen
liche Verhaltensnormen zu ermitteln; die Reaktion auf abweichendes Verhalten kann eigentlich nur in Gruppengesprächen zuverlässig festgestellt werden. Ebenso ist es langwierig und mühsam, aus Berichten über bestimmte Handlungsabläufe auf geltende Handlungsnormen zu schließen. Reine Berichtsprotokolle gewinnen jedenfalls an Aussagekraft, wenn sie durch Beobachtungsmethoden ergänzt werden. Geläufig ist demgegenüber der Befragungstyp, der die Befragten zu verallgemeinernden Urteilen herausfordert: z. B. über häufige, ›typische‹ Handlungen, über das, was man im allgemeinen ›erwartet‹, über ›richtige‹ und ›falsche‹ Handlungen und moralische Forderungen, über Wünsche und Idealvorstellungen. Im weitesten Rahmen der Rollenanalyse ergeben sich hier prinzipiell drei Interpretationsmöglichkeiten. Zunächst können derartige Aussagen als Indizien für tatsächliche Verhaltensabläufe und speziell auch für Verhaltensnormen gewertet werden. Die Evidenz dieses Verfahrens ist eine Frage der Interpretationskunst der Autoren und der Geneigtheit des Lesers. Ferner kann versucht werden, Schlussfolgerungen auf den subjektiven Erwartungshorizont des Befragten zu ziehen, seine Orientierungen, Ansprüche und Wertvorstellungen, die sein Verhalten begleiten und leiten. Hier wird letztlich ein phänomenologisch-deskriptiver Anspruch erhoben. Die Resultate lassen sich z. B. zu ›Rollenbildern‹ bzw. zu ›Rollenidealbildern‹ der Befragten zusammensetzen. Weiter können das Selbstbild, Fremdbild und projizierte Fremdbild bestimmter sozialer Rollen aufeinander bezogen werden. […] Schließlich ist eine Interpretation möglich, die darauf verzichtet, in irgendeiner Weise die Ebene der verbalisierten Meinung zu durchdringen. Sie nimmt die Aussagen beim Wort, als Realität eigener Art, ohne den Einfluß verschiedener Reflektionsgrade, den Einfluß der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit, der Meinungsnormen usw. ablösen zu wollen. Untersuchungsberichte, die sich so auf den Eigenwert der verbalisierten Realität gründen, sind methodisch besonders unproblematisch. Es ist selbstverständlich auch möglich, auf dieser Ebene (verbale) Rollenbilder und Rollen-Idealbilder zusammenzustellen. Die Vorzugsstellung der Befragungsmethode und die Vorliebe für methodische Narrensicherheit kann freilich dazu führen, dass die empirische Soziologie sich zu einer enzyklopädischen Faktensammlung bezugslosen sprachlichen Verhaltens entwickelt.« (Popitz 1975: 25 f.)
Wir wollen im Folgenden zeigen, dass mit unserem Ansatz dieser (von Popitz als Zweites genannte) phänomenologisch-deskriptive Anspruch eingelöst wird, der zudem aber deutlich über das rein Deskriptive hinausgeht und der nicht nur der enzyklopädischen Faktensammlung entgeht, sondern auch der Verengung eines auf Rollenbildern beschränkten Zugangs zum Selbstverständnis von Akteuren.
2.2
Methodologischer Ausgangspunkt: Die sozialwissenschaftliche Hermeneutik
Der methodologische und methodisch leitende Ausgangspunkt des empirischen Teils dieser Arbeit ist die ›sozialwissenschaftliche Hermeneutik‹ im Sinn von HansGeorg Soeffner (2004 [1989]). Einerseits basiert die sozialwissenschaftliche Hermeneutik auf einer längeren Tradition (u. a. Schütz und Luckmann 2003), andererseits ist sie in spezifischen Bezügen verdichtet und weiterentwickelt worden (u. a. Hitzler und Honer 1997 und unter dem Begriff der ›hermeneutischen Wissenssoziologie‹: u. a. Hitzler, Reichertz, et al. 1999) und dennoch lässt sich der Ansatz von Soeffner als eine Art »Kristallisationspunkt« der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik bzw. wissenssoziologischen Hermeneutik bezeichnen (vgl. Schlücker 2008: 54).
Methodologischer Ausgangspunkt: Die sozialwissenschaftliche Hermeneutik
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Die sozialwissenschaftliche Hermeneutik auf einen wirklichen Anfang zurückzuführen, ist ein Unterfangen, welches hier nicht nur nicht geleistet werden kann, sondern welches auch, wie die meisten solcher Versuche, in der griechischen Philosophie enden wird und – wenn es nicht zentrale Absicht einer Untersuchung ist – auf einen erheblich oberflächlichen »Durchritt« reduziert werden muss. Wir beschränken uns hier folglich auf einen sehr viel kleineren Ausschnitt, der oberflächlich bleiben muss, weil die Absicht lediglich darin besteht, einzelne Aspekte, der diese Untersuchung leitenden Grundlagen, zu benennen. Eine dieser Grundlagen ist die Verbindung von Handeln und Sinn, wie sie durch Alfred Schütz in Weiterführung und Durchdringung des Weber’schen Programms einer verstehenden Soziologie geleistet wird (Schütz 2004: 87 f.)40. In dieser Hinsicht einer Verbindung von Wissen und Handeln befindet sich Schütz nahe an Mead und legte die Basis für eine phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie, die im deutschsprachigen Raum besonders durch Berger und Luckmann (1999 [1966]) ihren Ausgang nahm (vgl. Knoblauch 2005: 141 f.). Sinn in der Interaktion differenzierend, traf Schütz auch auf das Problem des Fremdverstehens (Schütz 2004: 219 ff.) als eine grundlegende Kategorie zur Klärung von sich in Handlungen erst entwickelnden Sinnbezügen, was für die sozialwissenschaftliche Hermeneutik eine wesentliche Grundlage darstellt. Mit einer solchen eingehenden Beschäftigung mit dem Verstehen des Verstehens (vgl. Hitzler, Reichertz, et al. 1999: 10 f.) geht die Einsicht einher, dass wissenschaftliches Verstehen auf dem alltäglichen Verstehen aufbauen müsse – bzw. nicht umhinkommen könne, einen zumindest sehr ähnlichen Funktionsprozess zu durchschreiten und jenen zu berücksichtigen, womit gleichsam der Bezug zur Hermeneutik deutlich wird (vgl. Soeffner 2004 [1989]: 63; Soeffner 1999: 40 ff.). Eine weitere Grundlage, die letztlich auf der Forderung wissenschaftlicher Reproduzierbarkeit beruht41, ist der Text als zu interpretierendes Phänomen sozialer Wirklichkeit. Der Text, als Interaktionsprodukt verstanden, offenbart aber gleichfalls die unüberbrückbare Schwäche jeglicher (sozial-) wissenschaftlicher Beschäftigung: Die Interaktion mit ihren sich im Ablauf entwickelnden Sinnbezügen ist endgültig vollendet – das zu interpretierende eigentliche Phänomen ist vorbei, dessen Sinn abgeschlossen (vgl. Soeffner 2004 [1989]: 80). Und damit ist neben dem Aufheben der erst in Zeitlichkeit sich entwickelnden Sinnbezüge nicht nur der Sinn schon abgeschlossen, sondern durch die Veränderung des Kontextes auch eine wesentliche Grundlage der Entwicklung jener Sinnbezüge verloren. Der Kontext ist hier nicht nur zeitlich zu verstehen, sondern als raum-zeitliche Einzigartigkeit auch im Sinne dessen, was Soeffner als »Einbettung in Milieus, Geschichte, Geschichten und Deutungsgemeinschaften« 40 Vgl. dazu die Darstellung bei Knoblauch 2005: 142 f. 41 Grundlage des wissenschaftlichen Verstehens ist die ›Diskursivität‹ (vgl. Soeffner 1999: 46).
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Vom Blick in den Spiegel – Zur Methode der Rekonstruktion von Selbsttypisierungen
bezeichnet, die sowohl aus dem Entstehungspunkt des Textes als auch im Punkte seiner aktuellen Interpretation einzigartig, aber dadurch eben auch »relativ« ist (Soeffner 2004 [1989]: 88). Die sozialwissenschaftliche Hermeneutik versucht diese Bedingungen zu berücksichtigen, natürlich ex post, wie sie ja auch den Text nur als ex post-Fragment des Phänomens in den Händen hält, dafür expliziert sie aber das Wissen und lebt es nicht (Soeffner 2004 [1989]: 96). Mit dem wissenschaftlichen Verstehen wird der Weg von alltagsweltlichen Konstruktionen erster Ordnung ausgehend – über die Rekonstruktion ihrer als Konstruktion zweiter Ordnung – zum ursächlichen Erklären sozialen Handelns mithilfe der Idealtypen im Sinne Max Webers geebnet (vgl. Soeffner 1999: 41 u. 47; Soeffner 2006: 61 f.; Schütz 1971: 3 ff.42). Indem die Differenz des empirischen Einzelfalls zum rein begrifflichen Idealtypus erklärt wird, kann er in seiner einzigartigen Konkretion verstanden werden. Auf diese Untersuchung gewendet, zielt die Rekonstruktion von Selbsttypisierungen richterlichen Praxisvollzugs auf eine Typologie, die im Sinne Soeffners im Differenzverhältnis zum konkreten Einzelfall ›verstehenden‹ und in Ansätzen ›erklärenden‹ Anspruch erhebt. Ob dies in seiner Gänze gelungen ist, bleibt dem kritischen Urteil des Lesers vorbehalten.
2.3 Sequenzanalyse Die Konsequenz aus den Grundlagen der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik für die praktische Analyse besteht darin, dass sie die sequentielle Bedeutung des Sinnerschließens und Sinnsetzens der Interaktanden in dem je aktuellen Kontext der betreffenden Sequenz rekonstruierend berücksichtigen muss. Festgelegte Codierschemata von codierenden Verfahren, die von außen an den Text angelegt werden, sind in (oder besser während) dieser Feinanalyse genauso unbrauchbar wie eine uferlose Rückbindung an Sinngehalte späterer Sequenzen, das heißt Kontextwissen, welches dem Interaktanden bei Realisierung seiner Sinnbezüge noch gar nicht zur Verfügung stand – in diesem Sinne ist auch eine künstliche Langsamkeit und »Dummheit« erforderlich, die Schnellzuweisungen und Begriffsgleichsetzungen ohne Kontextberücksichtigung zu vermeiden sucht (vgl. Hitzler und Honer 1997: 23 f.). Ein solches Verfahren ist die ›Sequenzanalyse‹ nach Soeffner (vgl. Soeffner 2004 [1989]: 216 ff.; Soeffner und Hitzler 1994: 44 ff.), die eine zentrale Analyse42 Schütz spricht bei den Konstruktionen des Sozialwissenschaftlers von »Konstruktionen zweiten Grades« (Schütz 1971: 7) oder »Konstruktionen zweiter Stufe« (Schütz 1971: 72), dort im englischen Original von »second level« (Schütz 1954: 270).
Sequenzanalyse
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form der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik darstellt und in der vorliegenden Untersuchung zur Anwendung kommt. Bei dieser Art der Interpretation wird in einem ersten Schritt die idealisierte egologisch-monothetische Perspektive des im Blick stehenden Interaktionspartners (in der Regel der Respondent des Interviews) rekonstruiert. Diese Sinnebene wird zunächst als Detailanalyse mit Paraphrasierung des Textes durchgeführt. Anschließend wird durch Ausformulierung der Um-zuund Weil-Motive (Schütz und Luckmann 2003: 286 ff., 295 ff. und 471 ff.) die Rekonstruktion der egologisch-monothetischen Sinnfigur typisierter Individualität erarbeitet. Im zweiten Schritt steht nun die Rekonstruktion der polythetischen, interaktionsbezogenen Ebene im Zentrum der Analyse. Hier werden Inkonsistenzen der monothetischen Sicht im Lichte der polythetischen erarbeitet, indem der Interviewer als alltagshermeneutischer Interaktionspartner mit einbezogen wird. Sinnzumessung und Sinnüberprüfung in alltäglicher Interaktion prägt die interpretative Konsistenzherstellung und bietet die Basis jener Rekonstruktion. Schließlich wird unter dem Begriff der Sinnschließung ein einheitlicher Interaktionssinn als Überführung der zum Teil bereits gegebenen Lesarten mit Einbeziehung der Leerstellen und Verschleierungen etc. erarbeitet. Eine solche sequenzanalytische Interpretation ist in vorliegender Arbeit jeweils an jenen Stellen geleistet, die als ›Feinanalysen‹ betitelt sind. Um Aussagen zum beruflichen Selbstverständnis der Richter zu erhalten, erscheint die Rekonstruktion narrativer Identität (Lucius-Hoene und Deppermann 2002) ein interessantes Instrument. Obwohl wir die methodischen Zugänge über einzelne theoretische Aspekte (hier eben die ›narrative Identität‹) in der Gesamtanlage nicht einzeln verfolgen, sondern über einen solche Bezüge generierenden Ansatz (Grounded Theory) zu ihnen finden wollen, sei dieser Ansatz hier kurz erwähnt, weil er sich als eine der wenigen gegenstandsbezogenen Methoden grundsätzlich zu eignen scheint. Fischer-Rosenthal und Rosenthal (1997: 133 f.) gehen mit dem Mainstream der theoretischen Identitätsdiskussion davon aus, dass die alten Identitätskonzepte in der gesellschaftlichen Moderne immer weniger greifen, weil nicht mehr die lebenslange Zuschreibung stratifikatorischer und Gruppenzugehörigkeit allein, sondern vielmehr der Prozess lebenslanger biographischer Arbeit in den Vordergrund der Identitätsbildung und -sicherung gerät. Der dadurch methodisch in den Vordergrund rückende Aspekt einer permanenten Identitätskonstruktion in situ ist besonders in biographisch-narrativen Interviews in den Fokus geraten. Die in (narrativen) Interviews vermittelten Aspekte des Selbst, so könnte man formulieren, müssen »als situierte und interaktive Arbeit an der Identität« verstanden werden. Die ›narrative Identität‹ beansprucht dabei selbst keinen »ontologischen Status als etwas, das eine Person besitzt, sie besteht vielmehr als situierter Prozess mit einer interaktiven und Selbstverständigungsfunktion« (Lucius-Hoene und Deppermann 2002: 56).
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Ein wichtiger Aspekt der Methode der Rekonstruktion narrativer Identität, die hier nicht im Einzelnen dargelegt werden kann, und der Sequenzanalyse nach Soeffner ist das Angehen folgenden Problems: Bei dem Thema Selbsttypisierungen – wie bei vielen anderen auch – kann der methodische Einwand geltend gemacht machen, dass man in Interviews und begrenzt auch in Beobachtungen nur das hört/sieht, was der andere möchte, dass man es hört/sieht. Mit einer oberflächlichen Interpretation, so der Vorwurf, läuft man Gefahr, das als Rekonstruktion auszugeben, was der Interviewpartner beabsichtigt hat, als Ergebnis bei einem zu erzielen (dies kann als Performanzproblem des methodischen Zugangs über ein Interview bezeichnet werden).43 Methodologisch betrachtet teilen wir den fundamentalen Ansatz nicht, man hätte über das Interview nur Zugang zu der Rekonstruktionssituation und nicht zum primären Sinnzusammenhang (über den gesprochen wird). Diese Einschätzung hat mit dem Forschungsgegenstand zu tun, bei dem hier nicht die direkte Interaktion im Mittelpunkt steht, sondern das sich (auch) darin widerspiegelnde Selbstverständnis. Die sich bezüglich des Selbstverständnisses ergebende Problemlinie zwischen »natürlicher« (was immer das sein mag) Entäußerung des Subjektes in seinen alltäglichen Handlungsvollzügen und einer Performanz im Interview, lässt sich durch Differenzierung der Ebenen erkennbar und in der Analyse verwertbar machen. Die Rekonstruktion narrativer Identität geht auf dieses Problem genauso ein wie die Sequenzanalyse: Beide behalten immer auch die Ebene des Interviews im Blick und die Lesarten, die sich aus diesen verschiedenen Ebenen entwickeln. Bei der Rekonstruktion narrativer Identität zeigt sich das an dem Konzept der Fremd-und Selbstpositionierungen (Lucius-Hoene und Deppermann 2002: 209), bei der Sequenzanalyse am Unterschied zwischen egologisch-monothetischer und polytethisch-interaktionsbezogener Perspektivenrekonstruktion (Soeffner 2004 [1989]: 217 ff.).44 Mit der hier verwendeten Sequenzanalyse befindet sich diese Forschung in der Linie der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik und zielt darauf ab, »methodisch kontrolliert durch den oberflächlichen Informationsgehalt des Textes hindurchzustoßen zu tiefer liegenden (d. h. eben: in gewisser Weise ›latenten‹ bzw. ›verborgenen‹) Sinn- und Bedeutungsschichten und dabei diesen Rekonstruktions43 Strauss setzt sich mit einer solchen Art des Vorwurfs unter dem Aspekt der Motivzuschreibung auseinander und kommt zu der Entgegnung: »Eine genuine motivationale Feststellung erfolgt nicht in der Absicht, jemanden zu täuschen. […] Die verbale (zu sich selbst gesprochene, oder gewöhnlich bloß gedachte) Feststellung ist ein integraler Bestandteil der Gesamthandlung« (Strauss 1974: 53). 44 Die vielen Facetten von Positionierungsarbeit lassen verschiedenste Aspekte von Selbstverständnis hervortreten: Dann stehen »geschichtliche Selbstpositionierung und aktuelle, performative Selbstpositionierung in einem häufig sehr aufschlussreichen Spannungsverhältnis zueinander« (Lucius-Hoene und Deppermann 2004: 180). Bei Soeffner (2004 [1989]) unter dem Aspekt der ›Inkonsistenzen‹ (S. 227 ff.) und ›notwendigen Sinnschließung‹ (S. 232 ff.) behandelt.
Grounded Theory
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vorgang intersubjektiv nachvollziehbar zu machen« (Hitzler und Honer 1997: 23). In diesem Sinne ist die Sequenzanalyse fähig, die situierte und interaktive Arbeit an der Identität als Ausdruck eines Selbstverständnisses von Akteuren zu fassen, ohne theoretisch auf den Aspekt der Identität eingeschränkt zu sein.
2.4 Grounded Theory Während die sozialwissenschaftliche Hermeneutik oder hermeneutische Wissenssoziologie einerseits die theoretische und methodologische Grundlage der Untersuchung liefert, andererseits mit der Sequenzanalyse die praktische Technik der Interpretation bzw. der Analyse von Daten behandelt, bleiben (weiterhin) zwei Bereiche noch näher zu bestimmen. Erstens das methodische Konzept für die Praxis im Sinne eines planbaren Forschungsablaufes oder einer Forschungslogik und zweitens die zur Anwendung gelangten Methoden der Datenerhebung (in Abschnitt 2.7). Die Forschungslogik folgte im Gesamtzusammenhang dem Ansatz der Grounded Theory (vgl. Glaser und Strauss 1998 [1967]; Strauss 1998; Kelle 1994, 1996). Sie ist fähig, unabhängig von der spezifischen Erhebungsmethode, breitere Datenmengen und verschiedene Datentypen mit einem Erkenntnisinteresse flexibel zu analysieren, ohne – zumindest im (für uns zentralen) Beginn – ein von außen angebrachtes Codierschema zu verwenden.45 Ein weiterer nicht weniger unwesentlicher Aspekt der Grounded Theory ist die Flexibilität46 des zirkulären oder besser formuliert spiralförmigen Forschungsprozesses, die sich im ›theoretischen Sampling‹ zeigt: »Theoretisches Sampling meint den auf die Generierung von Theorie zielenden Prozeß der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind.« (Glaser und Strauss 1998 [1967]: 53)
Diese Flexibilität wiederum hängt eng mit dem Konzept der ›theoretischen Sättigung‹ zusammen, denn jene im Ermessen des Wissenschaftlers liegende Entscheidung, ob (und in welcher Hinsicht) eine weitere Analyse für ein spezifisches Konzept noch notwendig ist oder nicht, leitet das theoretische Sampling. Auf dieser Ebene des Forschungsprozesses, das heißt für das Forschungsdesign und den 45 Zunächst kein Codierschema zu verwenden, ist aber nicht gleichzusetzen mit einer vollständigen Unvoreingenommenheit – Glaser und Strauss schreiben immer wieder von der Notwendigkeit der theoretischen Sensitivität, die auch als »Gespür« bezeichnet wird, »wie man über Daten in theoretischen Begriffen nachdenkt« (Strauss 1998: 50). Grundlegend ist hier Glasers Werk »Theoretical Sensitivity« (Glaser 1978). 46 Flexibilität gegenüber dem linearen Modell des Forschungsprozesses (vgl. Flick 2002: 73).
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Vom Blick in den Spiegel – Zur Methode der Rekonstruktion von Selbsttypisierungen
Ablauf verschiedener Phasen, bietet die Grounded Theory eine ideale Ergänzung des Programms der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, worauf in der Literatur Bezug genommen wird (vgl. Reichertz und Schröer 1994: 63 f.; Schröer 1997: 119; Reichertz 2000: 523). Wie dort beschrieben, beginnt die Feldarbeit mit dem offenen Codieren, wie es auch Strauss darlegt (Strauss 1998: 95 ff.), um sich dann aber weniger in den Konzepten des axialen oder selektiven Codierens fortzubewegen, sondern vielmehr von hoch aggregierten Konzepten, von Sinnfiguren, zu sprechen (Reichertz 2000: 523), zu denen man aus dem gelangt, was die Sequenzanalyse zu leisten imstande ist: »den einheitlichen Sinn der Interaktionskonfiguration zu erschließen« und in einen »durch die Interaktionskonfigurationen gestifteten einheitlichen Interaktionssinn des Textes« zu überführen (Soeffner 2004 [1989]: 234). Zur Strukturierung und Darstellung dieser gewonnenen Sinnfiguren wird in der Regel vom Verfahren einer Typisierung ausgegangen (vgl. Reichertz und Schröer 1994: 65 f.) – die rein technisch betrachtet äquivalent zum axialen und selektiven Codieren der Grounded Theory verläuft, auch wenn ihre Konstitutionsbedingungen47 und anvisierten Ergebnisebenen48 teilweise differieren. Im Rahmen dieser Untersuchung ist aus dem offenen Codieren zwar ein axiales und selektives Codieren entstanden, welches sich aber im Verlauf der Analyse immer mehr an dem Prinzip der Typenbildung orientiert hat. Im Ergebnis steht somit eine Typologie als Rekonstruktion der Selbsttypisierungen, die aber eine starke Bindung an das Prinzip der gegenseitigen Verbindungen von Kategorien und quasi-hierarchischen Beziehungen zur Schlüsselkategorie im Sinne der Grounded Theory darstellt.
2.5
Grounded Theory, Sequenzanalyse und die Rekonstruktion von Selbsttypisierungen
Ausgangspunkt für die empirische Anlage der Untersuchung war, mithilfe der Grounded Theory aus den Daten zur professionellen Praxis49 Kategorien im Sinne 47 Ähnlichkeiten zum Beispiel: bei der Grounded Theory das ›Codierparadigma‹ (Bedingungen, Interaktion zwischen den Akteuren, Strategien und Taktiken sowie den Konsequenzen, vgl. Strauss 1998: 56 f.), bei der Sequenzanalyse die auf Schütz zurückzuführende Herausarbeitung von Um-zuund Weil-Motiven (Soeffner 2004 [1989]: 223 ff. und 235). 48 Differenzen: siehe den folgenden Abschnitt (2.5) zur Verbindung von Grounded Theory und Sequenzanalyse. 49 Hiermit sind die oben genannten DFG-Projekte unter Leitung von Martin Morlok (2004) gemeint: Recht als soziale Praxis. Integrierter Abschlussbericht an die DFG zu den Forschungsprojekten »Recht als soziale Praxis« und »Geänderte Rechtsnormen als richterliches Handlungsproblem«: Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
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eines Typologiezusammenhanges zu entwickeln und über vertiefte Analysen zentraler Stellen der Kategorien bzw. Typen, welche über die in der Grounded Theory geforderten Zeile-für-Zeile-Interpretationen hinausgehen, einen Zugang zu dem Konzept eines richterlichen Selbstverständnisses bzw. einer Selbsttypisierung zu bekommen. Der Anspruch, so könnte man formulieren, liegt demnach in dem Versuch, die Vorteile der Grounded Theory mit der Sequenzanalyse im Sinne der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik hinsichtlich einer Rekonstruktion von Selbsttypisierungen zu verbinden und für die Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen. Dabei ist das eigentliche Ziel der je einzelnen Herangehensweisen in gewissem Sinne gedehnt oder verlängert, denn beide zielen nicht (primär) auf Konzeptuierungen von Selbsttypisierungen. Das systematische Bindeglied zwischen Grounded Theory und Sequenzanalyse sind die sich in Interaktionsordnungen ausdrückenden Ordnungs- und Sinnzusammenhänge. Im theoretischen Bereich zielt die Grounded Theory von den Phänomenen zu den sozialen Orten, folglich zu den Milieus, den sozialen Welten oder einem Konzept wie ›Negotiations‹ (Strauss 1978). Die Fragen an diese Bereiche lauten: Warum sind sie so, wie sie aufgebaut sind? Es geht um jene inneren Zusammenhänge, die Ordnung und Regulierung, als Ausdruck von Interaktionsordnungen. Die Sequenzanalyse der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik zielt auf weitergehende Sinnzusammenhänge, die an jene untersuchten Interaktionszusammenhänge gekoppelt sind. Sie wagt auch Prognosen im Sinne des Fortgangs der Interaktionsgeschichte. Die Sequenzanalyse ist auf der Suche nach Regeln, die sich im Ablauf der Handelnden reproduzieren. Sie stellt gegenüber: objektiv gegebene Interaktionsmöglichkeiten gegenüber aktuell realisierten und stellt die Frage: Warum genau nur das und nicht etwas anderes? Der Anspruch ist auch historisch und kann zu einer relativ umfassenden Zeitanalyse gelangen. Die Grounded Theory ist nicht primär historisch, sie zielt auf die Regelhaftigkeit von Interaktionszusammenhängen hinsichtlich von Milieus und Handlungstypen. Die Sequenzanalyse ist entweder unterhalb der Ebene der Grounded Theory fast ethnomethodologisch oder sehr viel weiter, eben auch historisch, kulturell orientiert. Im Rahmen dieser Untersuchung steht weder das eine noch das andere alleine im Zentrum des Interesses. Die Rekonstruktion von Selbsttypisierungen lässt sich – aus soziologischer Sicht – über oder besser durch diese Ebenen hindurch anvisieren. Auf diese Art bildet die Rekonstruktion von Selbsttypisierungen einen anderen Punkt, der sich sowohl auf der fast ethnomethodologischen Ebene und der historisch kulturellen als auch auf der Ebene von milieuhaften Interaktionszusammenhängen und Handlungstypen zeigen muss, wenn auch in je verschiedenen Facetten. Oder anders formuliert: Selbsttypisierungen drücken sich in eben jenen durch die Grounded Theory oder Sequenzanalyse angestrebten Ebenen des Erkenntnisgewinns aus, und den Zugang über jene zu suchen, muss im Sinne einer soziologischen Betrachtung von Selbsttypisierungen liegen. Neben diesen beiden Haupt-
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Vom Blick in den Spiegel – Zur Methode der Rekonstruktion von Selbsttypisierungen
säulen wurde eine Anlehnung an das explizit auf Selbstpositionierungen angelegte methodische Konzept der Rekonstruktion narrativer Identität von Lucius-Hoene und Deppermann (2002) gesucht (siehe auch Abschnitt 2.3). Im praktischen Bereich der Forschungsdurchführung ist die Grounded Theory für Datenmix und große Datenmengen sinnvoll, nicht aber die Sequenzanalyse. Sind die Daten erst einmal konzeptuell strukturiert und aufgebrochen, gibt die Sequenzanalyse in jenen ausgewählten Bereichen die entscheidende Tiefe zur Erfassung der Rekonstruktion von Selbsttypisierungen – so zumindest die These der in dieser Arbeit vertretenen methodischen Konzeption.50 Die Sequenzanalyse ist – bezogen auf ein gleiches Quantum an Text – sehr arbeitsintensiv: Die zumeist sehr kleinen Sequenzen werden möglichen Lesarten unterzogen, die gegeneinander abgewogen und verglichen werden, bis sich so Schritt für Schritt und Sequenz für Sequenz eine vorläufig gültige und fallspezifisch ›objektive‹ Lesart (je nach mitgebrachter Fragestellung an den Text) konkretisiert. Das geht in seiner praktischen Anforderung über das hinaus, was in der Grounded Theory geleistet werden kann, auch wenn die Zeile-für-Zeile-Auswertung (Strauss 1998: 200 ff.) zunächst Ähnlichkeit nahezulegen scheint.51 Ein Hauptproblem der Sequenzanalyse sind somit große Datenmengen. Sobald ein großer Umfang an Text bereitliegt, wird die Sequenzanalyse praktisch nicht mehr handhabbar. Die Grenze einer solchen Unmöglichkeit liegt dabei individuell verschieden und ist stark von Ressourcen wie Zeit und Mitarbeitern (in dem Sinne auch Geld) abhängig. Die Varianz solcher Ressourcen ist aber, zumal für Promotionsarbeiten, selten beliebig, und so kann mit einiger Berechtigung die Annahme aufrechterhalten werden, dass je größer die Daten-, das heißt Textmenge ist, die Wahrscheinlichkeit einer ordentlich (im Sinne eines wissenschaftlichen Anspruches) durchführbaren Sequenzanalyse abnimmt. Nun gibt es zweierlei Möglichkeiten, mit diesem Problem umzugehen: Zum einen wird über die Auswahl der Daten von vornherein die Menge reguliert, wie es Raufer (2004) sehr elegant vorgeführt hat. Zum anderen wird über die Technik des »so lange Weiterverfahrens, bis sich ein Fall konkretisiert hat« ein ›sättigendes‹ Ende (negativ formuliert ein Abbruch) der Analyse vor Ende eines Textes herbeigeführt und damit legitimiert, dass die Ergebnisse »höchstens inhaltlich auffüllbar« sind, »aber nicht im strengen Sinne widerlegbar« (Soeffner 2004 [1989]: 211). Der Auswahlprozess findet dabei aufgrund einer überschlagenden Einschätzung des gesamten Textes statt, in der letztlich in einem »gewissen Sinne 50 Eine solche Kombinierbarkeit von Grounded Theory und Sequenzanalyse, jedoch dann bezogen auf eine Milieuanalyse und nicht auf Selbsttypisierungen, vertritt auch Dreher in seiner Arbeit über interkulturelle Arbeitswelten (Dreher 2005: 207 ff.). 51 Die grundsätzliche Sequenzialität der Handlungsanalysen von Strauss sollen dadurch nicht in Abrede gestellt werden: »Handlungsanalyse ist für Strauss per se Sequenzanalyse«, beschreibt Soeffner (1991: 5) die Nähe zwischen den Ansätzen.
Grounded Theory, Sequenzanalyse und die Rekonstruktion von Selbsttypisierungen
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willkürlich« ein »›irgendwie‹ in der Erinnerung« gebliebenes Textstück auch aufgrund »›erlaubter‹ forschungsökonomischer Verkürzung« gewählt wird (Soeffner 2004 [1989]: 216 f.). Bei diesem zweiten Fall gibt es Bedenken, den Anspruch an den Grundsatz, die gesamte Datenmenge einer ausführlichen sequenzanalytischen Rekonstruktion zu unterziehen, fallen zu lassen (vgl. Raufer 2004: 53).52 Eine Rettung aus dieser Problematik ist demnach die Auswahl einer Textmenge im Vorfeld der Analysen, wie Raufer sie (implizit) vorschlägt. Die Definition des jeweiligen Ausdrucks des Forschungsgegenstandes, der untersucht werden soll – bei der Sequenzanalyse muss es Text sein –, obliegt dem Forscher. An jener frühen Stelle des Forschungsprozesses unterliegt die Auswahl weniger einem kritischen nachvollziehbarkeitfordernden Blick53 als eine theoretische oder empirischanalytische Auswahl aus einer größeren, bereits erhobenen, Datenmenge. Wenn die Daten jedoch selbst in Interviews generiert und nicht wie bei Raufer aus (natürlichen) Texten aus dem Feld als Datengrundlage definiert werden, funktioniert diese Strategie nicht. Jenes Problem der Auswahl von sinnvollen, brauchbaren oder richtigen Interview- oder Textpassagen aus einem selbst generierten Datensatz ist ein bisher weniger intensiv beachtetes Thema. Vielleicht kann der hier verfolgte Weg einen Beitrag zur Diskussion liefern: Mithilfe der Grounded Theory werden aus den Daten zur professionellen Praxis Kategorien im Sinne eines Typologiezusammenhanges (zunächst heuristisch) entwickelt und über vertiefte Analysen zentraler Stellen dieser Kategorien bzw. Typen, welche über die in der Grounded Theory geforderten Zeile-für-Zeile-Interpretationen hinausgehen, ergänzt, reflektiert und ggf. verändert. Im Gesamten wird dadurch ein Zugang zu dem Konzept eines richterlichen Selbstverständnisses bzw. einer Selbsttypisierung gewonnen, welches die je einzelnen theoretischen Interessen der Grounded Theory (Milieus, Interaktionszusammenhänge, tendenziell ahistorisch) und Sequenzanalyse (fast ethnomethodologisch einerseits sowie historisch kulturell andererseits) kombiniert. Oder in Anlehnung an Mead formuliert: Die Spuren des ›self‹ werden aus den unterschiedlichen ›me‹-Gefügen und ›I‹-Reaktionsimpulsen gewonnen, die sich in allen (drei) Ebenen widerspiegeln. In dieser dargelegten Verbindung von Grounded Theory und Sequenzanalyse kann, zumindest für den hier beabsichtigten Forschungsgegenstand der Selbsttypisierungen, eine funktionale Kombination gesehen
52 Häufig wird die Problematik nicht benannt, sondern es wird von einem problemlosen Übergang zwischen anfänglichem offenen Codieren im Sinne der Grounded Theory und späteren Interpretationen »nach höher aggregierten Sinneinheiten« ausgegangen (Reichertz 2000: 523). 53 Und dies zu Recht, da diese Wahl letztlich eng mit der Wahl des thematischen Gegenstandes zusammenhängt, die immer (auch) eine Wertentscheidung trägt (Weber 1991: 146ff.).
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Vom Blick in den Spiegel – Zur Methode der Rekonstruktion von Selbsttypisierungen
werden, die zudem den (methodischen) Anspruch an Abdeckung von Datenbreite und Tiefe54 erfüllen kann.
2.6 Verhältnis der Ergebnisse zur allgemeinen Typenbildung Wir haben im bisherigen Methodenteil den Weg aufgezeigt, den die Untersuchung genommen hat: Von den phänomenologisch inspirierten Wurzeln einer hermeneutischen Wissenssoziologie als methodologischer Ausganspunkt kommend, wird in der Forschungslogik der Grounded Theory mithilfe einer breiten offenen Codeanalyse und einer Tiefe herstellenden Sequenzanalyse eine empiriegeleitete Typologie richterlicher Selbsttypisierungen angestrebt. Diese im Sinne der hermeneutischen Wissenssoziologie zu verstehende Typenbildung (vgl. Reichertz und Schröer 1994: 65 f.) läuft über die Rekonstruktion der Typenbildung erster Ordnung55 (dann als Konstruktion zweiter Ordnung)56 zum ursächlichen Erklären sozialen Handelns57 mithilfe von Idealtypen im Sinne Max Webers58 (vgl. Soeffner 1999: 41 u. 47), was bereits in Abschnitt 2.2. und 2.4 ausgeführt wurde. Eine solche Typenbildung ist in ihren Grundsätzen den allgemeinen Verfahren der Typenbildung entsprechend, die eine strukturierende Ordnung über den Einzelfall hinaus anstreben (Kuckartz 2006: 4056), trotz vieler analytischer Binnendifferenzierungen einzelner Ansätze (vgl. Kelle und Kluge 1999; Kluge 1999, 2000; Gerhardt 2001). Wie weitgehend der Anspruch der eigenen Typenbildung in Richtung einer Hypothesen- und Theoriebildung gehen mag und inwieweit dieser von außen zugestanden wird, ist für viele Typenbildungen nicht immer klar erkennbar. Für die hiesige Arbeit kann die Typenbildung zu heuristischen Zwecken auf Kausaladäquanz und Sinnadäquanz verweisen und somit zumindest Hypothesen- und Theoriebildung anregen (Kluge 1999: 51). Die Reichweite und Situationsunabhängigkeit der einzelnen Typen ist nicht pauschalisierend benennbar. Ein Hinweis auf Unterschiede 54 Der »forschungsimmanenten Zielsetzung von Sozialwissenschaft« gerecht zu werden, nämlich »der Rekonstruktion des Sinnes und der Funktion sozialer Handlungsbedingungen, Handlungsaktualisierungen und Handlungsmöglichkeiten«, gelingt nur über hermeneutische Verfahren (Soeffner 2004 [1989]: 211). 55 Die im Wesentlichen von ihrem lebensweltlichen Prozesscharakter (vgl. Schütz und Luckmann 2003: 313 ff.) auch der wissenschaftlichen Typenbildung zugrundeliegt. 56 Auch als Rekonstruktionen von Selbsttypisierungen im Sinne von »constructed types« (Kluge 1999: 82 f.) zu verstehen. 57 Dieses soziale Handeln ist hier das Sich-Selbst-Typisieren in Ausübung und interaktiver Reflexion richterlicher Alltagspraxis. 58 Über die Schwierigkeit, den theoretischen Anspruch mit der ausgeführten Forschungspraxis zu verbinden, vergleiche die Kritik von Bourdieu und Mannheim an Weber, dargestellt bei Bohnsack (2007: 225).
Interview und Beobachtung (Ethnographie)
85
bezüglich dieser Fragen ist die Grobeinteilung der Gesamtanlage in drei Dimensionen und einer Schlüsselkategorie, deren Abhängigkeiten und Reichweiten jeweils dort diskutiert werden.
2.7 Interview und Beobachtung (Ethnographie) Das Forschungsinteresse sowie die damit entstandene Präzisierung des Forschungsfeldes bringt empirisch die beobachtbare Alltagspraxis an Gerichten und die Praxisund Selbsttypisierungen in Interviews mit Richtern in den Fokus. Der Forschungslogik des Grounded-Theory-Verfahrens folgend sowie den methodologischen Ausgangspunkt in einer hermeneutischen Wissenssoziologie nehmend, bedient sich die Untersuchung der Methoden nicht standardisierter Sozialforschung. Offene leitfadengestützte Interviews, Aufzeichnungen von verbalisierten Arbeitssitzungen in den entsprechenden Büros und ethnographische Beobachtungen von Verhandlungen sowie von weiterem Gerichtsalltag bilden das Rückgrat des empirischen Zugangs. Die Kombination dieser verschiedenen Verfahren, welche Unterschiedliches leisten, ergibt sich aus der Notwendigkeit, die soziale Komplexität der Selbsttypisierungen anhand von Handlungen, Interaktionen und Kommunikationen dadurch empirisch greifbar zu machen, dass sie aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird. Für eine Forschungsanlage im Sinne der Grounded Theory ist ein solcher Datenmix sogar noch recht begrenzt, da er sich »nur« auf Datengenerierung im qualitativen Paradigma stützt (vgl. Strauss 1998: 26 ff.; 55 f.). Im Sinne einer Triangulation ist es die Triangulation verschiedener qualitativer Methoden (Flick 2008: 41 f.), wobei der Ansatz, der bei den Feldaufenthalten verfolgt wurde, durchaus auch als ein ethnographischer verstanden werden kann. Die zentrale Stellung der Interviews in den Analysen sollte nicht über die breite Anlage der jeweiligen Forschungsaufenthalte als dezidiert ethnographisch hinwegtäuschen. In jenem Sinne sind einige Interviews als ethnographische Interviews zu verstehen, da sie aus dem Feldaufenthalt heraus entstanden sind (Flick 2008: 51 f.). Neben den dieser Arbeit zugrunde liegenden Projektzusammenhängen (vgl. Morlok 2004; Stegmaier 2008) wurde eine explizite Methodenkombination für die mikrosoziologische Gerichtskommunikationsforschung zuletzt auch von Scheffer (2002) konzipiert. Die Datengewinnungsmethoden sind im Einzelnen offene Leitfadeninterviews (Flick 2002: 117 ff.; Helfferich 2005), welche immer wieder um narrativbiographische Elemente erweitert wurden (vgl. Schütze 1976, 1977, Schütze 1987; Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997; Bernart und Krapp 1998), die teilnehmende Beobachtung (vgl. Honer 1993; Lüders 2000; Becker und Geer 1969; Hirschauer und Amann 1997) und das ethnographische Interview (Spradley 1979). Jene Methoden ergänzen sich, was z. B. auch durch die Methodeninnovation des ›beobachtenden Interviews‹ (Berndt 2008; Stegmaier und Berndt 2003; Berndt 2003) deutlich
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Vom Blick in den Spiegel – Zur Methode der Rekonstruktion von Selbsttypisierungen
zum Ausdruck gebracht wird, die im oben genannten Zusammenhang mit den Projekten für die richterliche Praxis entwickelt und ausformuliert wurde. Grundlage dabei ist, das ethnographische Interesse in das qualitative Interview einzubringen und Kontextbeobachtungen während des Interviews, die für die Forschungsfrage von Belang sind, nicht von vorneherein aus methodischer Kontrollabsicht zu verhindern. Als objektivierendes Datenaufzeichnungsverfahren ist die Sprachaufzeichnung per Tonbandmitschnitt von Interviews mit nachfolgender Transkription59 und codierter Indexierung verwendet worden, ergänzt um Feldprotokolle, welche Interaktionssituationen rekonstruieren und dadurch nachprüfbar machen. Das (offene) Codieren im Sinne der Grounded Theory und die Organisation der hermeneutischen Arbeit stützte sich arbeitspraktisch auf die Software ATLAS.ti, welche explizit zur praktischen Unterstützung von Verfahren der Grounded Theory erstellt worden ist und sich bewährt hat (vgl. Böhm, Muhr, et al. 1994, Kuckartz 1996, 1996). Die Software leistet die Organisation von Daten, das heißt die Erstellung und Verwaltung, das Wiederauffinden und die Weiterverarbeitung von codiertem Datenmaterial. Die hermeneutische Analyse der Daten im engeren Sinne ist nach wie vor »Kopf- und Kommunikationsarbeit«, die idealerweise im Team geleistet wird und nicht von einem Computerprogramm erbracht werden kann (vgl. Kelle 2000; Kuckartz 1999).60 Ein solches Team in verschiedenen (aber dennoch stabilen) Zusammensetzungen und Zeiträumen stand dem Autor während der meisten Zeit zur Verfügung und erwies sich als außerordentlich fruchtbar (siehe Danksagung im Vorwort).
2.8 Forschungsfeld: Auswahl und Grundgesamtheit Die Bestimmung der Grundgesamtheit und die Auswahl innerhalb des genauen Forschungsfeldes ist vorab keine vollständig definierte Größe gewesen. Zwei Einflüsse sind maßgeblich verantwortlich für die am Ende der Erhebungsphase feststehende Grundgesamtheit. Zum einen das in den methodologischen Konzepten der Grounded Theory geforderte ›theoretical sampling‹, zum anderen die 59 Die Transkription wurde in seinen Grundzügen nach dem ›Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem‹ (GAT) (Selting, Auer, et al. 1998) durchgeführt, wobei eine Vereinfachung des Basistranskripts für die Menge des Interviewmaterials und für die Darstellung hier (im Sinne der Leserlichkeit) notwendig war. 60 Sehr ausführlich zum Einsatz von Software zur Verwaltung und Analyse qualitativer Daten vgl. die dem Thema gewidmete Ausgabe von »Forum: Qualitative Social Research« [On-line Journal], Volume 3, No. 2 (May 2002), Using Technology in the Qualitative Research Process, ed. by Graham R. Gibbs, Susanne Friese & Wilma C. Mangabeira.
Forschungsfeld: Auswahl und Grundgesamtheit
87
forschungspragmatischen Begrenzungen bezüglich der Mittel und der Zeit. Im Folgenden werden die an den jeweiligen Wegmarken getroffenen Entscheidungen aber nicht als Abbild der tatsächlichen Überlegungen dargestellt, sondern in kurzer Form als quasi-vorweggeführte Überlegungen. Um eine möglichst hohe Aussagekraft über den heutigen bundesdeutschen Richter erreichen zu können, ohne das Forschungsvorhaben zu überlasten, wurde das Forschungsfeld grundsätzlich auf die deutsche ordentliche (das heißt Zivil- und Straf-) Gerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit mit Ausnahme der Bundesund Verfassungsgerichte begrenzt. Für das Einbeziehen verschiedener Rechtsgebiete wurde neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit die Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgewählt. Bei der Unterscheidung nach den Rechtsgebieten Zivilrecht und Öffentliches Recht (Strafrecht und Verwaltungsrecht) liegt die Zielsetzung darin, differenzierende Aspekte hinsichtlich der Funktion herausarbeiten zu können. Zudem ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit organisatorisch von der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterschieden und bietet deshalb zusätzlich eine wichtige Kontrastierung.61 Andererseits können auch integrierende Konzepte zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit auffindbar sein, da es dem einzelnen Richter möglich ist, immer wieder zwischen den Rechtsgebieten (Zivil- und Strafrecht), die durch die Anlage der Gerichtsorganisation verwoben sind, zu wechseln oder beide gleichzeitig auszuüben. Weitere Kontrastierungen dieser Art wären nur hinsichtlich immer kleiner werdender Gerichtsbarkeiten (Arbeits-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit) möglich gewesen. Eine weitere Ausdifferenzierung und Erweiterung der hier begonnenen Forschung kann daran anschließen. Das Argument, hohe Aussagekraft zu erzielen, ohne dabei wichtige Kontrastierungsaspekte auszulassen, war wiederum ausschlaggebend für die Auswahl von Gerichten der Amtsgerichts- und Verwaltungsgerichtsebene über die Landgerichte bis hin zu den Oberlandesgerichten und Oberverwaltungsgerichten. Die Kontrastierung des (Berufs-) Alters und damit einhergehend des berufsgeschichtlichen Gewordenseins war ebenso von Bedeutung wie die Erfassung erstinstanzlicher bis letztinstanzlicher Ebenen inkl. der Unterschiede, was das Verhältnis Fallzahl pro Richter angeht. Ebenfalls angestrebt war eine Berücksichtigung des zahlenmäßigen Geschlechterverhältnisses, um dessen identitäts- und rollentypische Anteile, sofern sie von Bedeutung sein sollten, nicht zu vernachlässigen (vgl. Lucke 1996). Zudem wurde darauf geachtet, keinen regionalspezifischen Sonderbarkeiten aufzusitzen, was darin mündete, dass sowohl Stadt- als auch Landbezirke einbezogen und im Westen, Osten, Norden und Süden der Republik geforscht wurde. 61 Organisatorische Unterschiede zwischen Amtsgericht und Verwaltungsgericht. Funktionelle Unterschiede in der Problemstellung Partei vs. Staat (Strafanspruch bzw. Schutz) in Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Partei vs. Partei (Ausgleich) in der Zivilgerichtsbarkeit.
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Vom Blick in den Spiegel – Zur Methode der Rekonstruktion von Selbsttypisierungen
Grundgesamtheit der Richterinnen und Richter, auf die sich die Ergebnisse dieser Studie beziehen, sind somit über 83 % von allen Richterinnen und Richtern im Bundes- und Landesdienst der Bundesrepublik Deutschland (statistische Werte vom 31.12.2002: 17.460 von 20.901 Richtern; siehe Bundesamt 2005: 15). Bezogen auf die Gerichte bedeutet die hier getroffene Auswahl, dass 77 % (895 von 1.162) aller Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland als Grundgesamtheit dieser Untersuchung gelten (statistische Werte vom 01.01.2004; siehe Bundesministerium 2004). Der Anspruch dieser Arbeit liegt mit Hinsicht auf die Grundgesamtheit darin, eine Rekonstruktion von Selbsttypisierungen des Großteils der aktuellen deutschen Richterschaft darzulegen.
2.9 Übersicht zur Datenerhebung Die Auswahl der einzelnen Richter und Gerichte orientierte sich an den bereits beschriebenen Dimensionen der Grundgesamtheit. Wie eingangs erwähnt, entstand diese Untersuchung aus dem Rahmen zweier DFG-Projekte heraus, die sich mit der grundlegenden Forschung richterlicher Alltagspraxis auseinandersetzten. Mit den Forschungsprojekten »Recht als soziale Praxis« und »Geänderte Rechtsnormen als richterliches Handlungsproblem« unter der Leitung von Martin Morlok wurden umfangreiche Daten erhoben, in die das Forschungsinteresse am Selbstverständnis bereits mit integriert werden konnte (vgl. Morlok 2004: 12). Nach Abschluss der Projekte wurden weitere vertiefende Erhebungen durchgeführt. Die Gesamtheit der Daten verteilt sich wie folgt und wurde in der Zeit von Januar 2001 bis Dezember 2007 erstellt: Anzahl der Gerichte (nach Gerichtsart) 9 Amtsgerichte 4 Verwaltungsgerichte 6 Landgerichte 4 Oberlandesgerichte 2 Oberverwaltungsgerichte Anzahl der Gerichte gesamt:
25
Intensive Arbeitsbeobachtung mit Erläuterungsgesprächen
Reine Interviews
Anzahl der Informanten (mindestens Beobachtungen und Feldgespräche)
3 3 1 4
8 2 4 9
14 5 23 20
3
6
14
Arbeitsbeobachtungen gesamt:
Interviews gesamt:
Richter gesamt:
29
76
14
Abbildung 7: Übersicht zu Feldzugängen und Forschungsaufenthalten
3
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
3.1
Einleitung
Wie sich Richter während und bezüglich ihres beruflichen Alltags, ihrer speziellen Praxisprobleme in Selbsttypisierungen darstellen, wie individuell mannigfaltig und – gleichsam strukturell bedingt – auch einheitlich geformt sie sein können, wird in diesem Analyse- und Ergebnisteil zu zeigen sein. Dieses dritte Kapitel ist als Hauptteil der Arbeit zu verstehen, und es ist trotz seiner Größe die Komprimierung jahrelanger Forschung und Analyse. Ob es den einzelnen Leser zu überzeugen vermag, liegt nicht zuletzt auch daran, welche Lesart an den Text getragen wird, mit welchem methodischen Blick und theoretischen Gewahrsein auf das Dargelegte geschaut wird. Dazu ein paar einleitende Worte. Für die Darstellung richterlicher Selbstverständnistypen, deren Zusammenhang theoretische Ansprüche geltend macht und die aus einer breiten qualitativen empirischen Untersuchung gewonnen wurden, ist ein vierteiliger Aufbau gewählt. Die Abfolge der vier Kapitel ist nicht chronologisch im Sinne des Forschungsablaufes zu verstehen. Die Verwendung der Methode einer theoriegenerierenden Forschung, die sich vornehmlich und vorrechtlich auf empirische Daten stützt, wie es die Grounded Theory für diese Untersuchung tut, erzwingt immer wieder die Frage, wie sich ein Ergebnis so darstellen lässt, dass einerseits ein ansehnliches überschaubares und verständliches Ergebnis vorgelegt werden kann, andererseits die Nachvollziehbarkeit im Sinne einer Forschungslogik erhalten bleibt.62 Der Ursprung für dieses Dilemma liegt auch in dem zwischen Empirie und Theorie pendelnden und immer heuristischen Charakter der Grounded Theory. Dieses Problem, welches sich als allgemeines Problem der empirischen Sozialforschung als Zusammenhang 62 Sozialwissenschaftler, die nicht nur ihre Daten zeigen, sondern interpretativ arbeiten, müssen auch Begründungsarbeit leisten, um Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten. Diesen Anspruch fest im Blick schreibt Reichertz (1991: 6) auf die Leistung der Interpretation bezogen: »Die Deutung eines sozialen Phänomens ist die eine Sache – nämlich das lebenspraktische Tun von Wissenschaftlern in ihrer wissenschaftlichen Praxis -, der schriftliche Bericht über die Deutungsarbeit ist eine ganz andere. Wer die Rechnung aufmacht: »Bericht gleich Interpretationspraxis«, ist nicht nur naiv, sondern hat ganz einfach unrecht« (vgl. auch Schlücker 2008: 13 f.). Für eine Qualifikationsarbeit ergibt sich daraus ein nicht unerhebliches Dilemma zwischen der Anforderung nach methodisch kontrolliertem Nachvollzug und der sich in der Praxis habitualisierten Darstellungsform als »Bericht«.
90
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
von Herstellung und Darstellung erweist, führt für die Präsentation der Ergebnisse zu einer Entscheidung, was ihre Struktur angeht. Der Fokus dieser Arbeit liegt zweifelsohne auf gegenstandsbezogenen Ergebnissen, was die ›Rekonstruktion von Selbsttypisierungen‹ betrifft. Eine Arbeit mit dem Schwerpunkt, die Methode als ›Rekonstruktion von Selbsttypisierungen‹ ausgestaltet greifbarer darzulegen, ist nicht das Kernanliegen. Aus dieser Gewichtung folgt, dass der Verständlichkeit der Darstellung Vorrang gewährt wurde, auch wenn dadurch eigentlich erst im Prozess der Forschung entwickelte Ergebnisse nun vorgängig strukturiert werden und der Charakter des »Findens« von theoretischen Bezügen etwas weniger gewichtet wird. In ausführlichen empirischen Analysen anhand am Material nachvollzogener Interpretationen werden somit vier Kapitel vorgestellt, die sich als kohärente Hauptkategorien auszeichnen. Sie bilden das Grundmuster für die Selbstverständnistypen. Die Entscheidung, diese Dimensionen analytisch getrennt darzustellen, wurde durch die Beschaffenheit der Daten im Rahmen des axialen und selektiven Codierens der Grounded Theory bzw. der hoch aggregierten Konzepte und Sinnfiguren (Reichertz 2000: 523) und des einheitlichen Interaktionssinns des Textes (Soeffner 2004 [1989]: 234) getroffen. Ein Teil der Selbsttypisierungen war auf diese Weise deutlich zu unterscheiden, der andere Teil trat entweder durch Kombinationen oder Antagonismen so deutlich hervor, dass auf eine einstufige Typologiendarstellung verzichtet wurde. Für den Leser soll dies unnötige Wiederholungen vermeiden, die für das Verständnis notwendig wären. Die vier Hauptkategorien sind ›Basis‹-Dimensionen, ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹-Dimensionen, ›Antriebs‹-Dimensionen und als zentrale Schlüsselkategorie die ›Unabhängigkeit‹. Sie entwickelten sich aus den Selbsttypisierungsbezügen heraus, was dem Richter strukturell auferlegt erscheint, wie er seine Arbeit bewältigt und was ihn antreibt sowie die integrierende Gesamtfunktion. Es stellt sich die Frage, wie bei jeder Kategorien- bzw. Typenbildung, ob es nicht andere Dimensionen hätte geben können. Da letztlich das Ziel eine Rekonstruktion von richterlichen Selbstverständnissen in Form einer Typologie ist, wurde darauf Acht gegeben, dass sich in dem Gesamtzusammenhang ein möglichst kohärentes Bild (eine Sinnfigur) mit einer breiten Abdeckung der empirischen Vorkommnisse erzielen lässt. Dies erscheint dem Autor in der hier erstellten Form die bestmögliche zu sein.
3.1.1
Zur methodischen Einbettung der Darstellungsform
Die jeweilige Darstellungsform der einzelnen Kategorien/Dimensionen wird an Beispielen und im konkreten Detail erfolgen. In den ›Codeanalysen‹ wurden zumeist kürzere Interviewstücke aus den Codierungen der Gesamtanalysen nach der Maßgabe ausgewählt, entweder ein trefflicher empirischer Ursprung des Konzeptes zu sein oder eben ein kontrastierender Beleg für seine Grenzen. Ausgewählte, biswei-
Einleitung
91
len längere Interviewstücke werden in einer ›Feinanalyse‹ nach Maßgabe der Sequenzanalyse jeweils zu Beginn sehr intensiv bearbeitet und können im weiteren Verlauf eines Interviewstücks überschlagenderen Charakter annehmen. Mitunter wird das herausgehobene Interviewstück in der je anschließenden zusammenfassenden Analyse durch weitere, zumeist kleinere Datenstücke und deren dann kürzere Interpretation in einer kleineren ›Codeanalyse‹ ergänzt bzw. kontrastiert. Neben den verschriftlichten Interviewtexten und Beobachtungsprotokollen, auf die durch eckige Klammern der Verweis ins Datenmaterial gegeben wird63, werden gelegentlich Beobachtungen aus dem nicht verschriftlichten gerichtsbezogenen Wissensvorrat des Forschers mit eingeflochten. Dieser Datenbereich, der erst durch die aktuellen Analysen ins volle Bewusstsein zurückkommt, wird folglich während der Analysen verschriftlicht.64 Zentral sind ›Codeanalyse‹ und ›Feinanalyse‹ aus den bestehenden Interview- und Beobachtungsdaten. Die Kombination aus ›Codeanalyse‹ und ›Feinanalyse‹ soll folgende Funktion haben: Es soll eine Einengung prinzipiell mannigfaltiger Beschreibungsmöglichkeiten vermieden werden. Die Realität ist vielfältig, unendlich differenzierungsfähig und letztlich in ihrer Beschreibung unabschließbar. Der Forscher muss durch die Wahl der Größe seines Forschungsfeldes und des beabsichtigten Publikationsumfangs eine angemessene Grenze festlegen. Die Rekonstruktion richterlicher Selbsttypisierungen in der hier vorliegenden Untersuchung hat den Anspruch, die Typologie durch intensive Textinterpretationen darzulegen und gleichzeitig eine erschöpfende Breite zu gewährleisten. Aus diesem Grund wird sowohl über den Rahmen konzeptuell analysierender Darstellung hinausgegangen, indem immer wieder durch die Sequenzanalyse Tiefe hergestellt wird, als auch über den Einzelfall, indem, dann im Rahmen analytischer Pointierung und Kontrastierung durch die ›Codeanalyse‹, Breite angestrebt wird. Insofern liegt mit den hier beginnenden Kernkapiteln weder eine typische Einzelfallanalyse vor noch eine reine codierungs63 Es gibt zudem eine kleinere Textanalyse eines von einem Richter verfassten Textes (vgl. Abschnitt 3.4.5.1), das heißt natürliches Datenmaterial, was aber die Ausnahme ist. 64 Seine Geltung und Nachweis sind somit im Analysetext begründet. Viele Forscher arbeiten mit fortschreitendem Alter und der Erfahrung in ihren Analysen mit diesem dritten Datenbereich, ohne dass es dadurch zu größeren methodenbezogenen Problemen kommt. Generell könnten oder sollten Beobachtungen, die einem während der Analysen wieder in Erinnerung geraten, in ein nachträgliches Beobachtungsprotokoll aufgenommen werden, aus dem dann wieder per Verweis zitiert wird. Auch wenn es der Differenzierung von Daten- und Analysetext behilflich ist, wurde im Rahmen dieser Arbeit auf einen solchen »Umweg« verzichtet. Man mag diesem dritten Datenbereich aus bestimmten methodischen Überlegungen heraus skeptisch gegenüberstehen. Durch die Verschriftlichung während der Analysen werden diese Daten aber nachvollziehbar, weil einsichtig. Eine Sensibilität diesen verborgenen Daten (›hidden data sensitivity‹) gegenüber in Verbindung mit der Verschriftlichung während der Analysen gewährleistet einen optimalen Einsatz der Erfahrungen aus dem Feld. Für diese Untersuchung ist der Anteil solcher Daten aber äußerst gering, dies sollte hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden.
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
basierte Kategorienanalyse. In der von Strauss fortgeführten Variation der Grounded Theory ist dies prinzipiell so angelegt (Strauss 1998: 200), weil er eine »elementare Zeile-für-Zeile-Analyse« in Kombination mit den Codierungsanalysen vorsieht. Dennoch geht die hier vorgestellte Analysekombination, wie im Methodenteil schon erläutert, einen Schritt weiter, weil sie die ›Feinanalysen‹ nicht nur als Vorlauf der ›Codeanalysen‹ betrachtet, sondern als Notwendigkeit, der Forschungsfrage nach den Selbsttypisierungen vertiefend auf den Grund zu gehen (vgl. Abschnitt 2.5).
3.1.2
Analyse des richterlichen Handlungsproblems
Bevor die vier Hauptkategorien vorgestellt werden, soll anhand einer treffenden empirischen ›Feinanalyse‹ aus dem Material heraus die zentrale Handlungsproblematik richterlicher professioneller Praxis verdeutlicht werden. Auch wenn sich hier zunächst Selbsttypisierungen nur andeuten, kreisen sie in Form ihrer integrierenden Gesamtfunktion, des ›Unabhängigkeits‹-Typus, beständig um dieses Zentrum und bieten eine Antwort auf das Handlungsproblem. Zur Einführung in die Gesamtproblematik richterlicher Alltagspraxis soll folgendes Interviewstück eines Zivilrichters vorangestellt und analysiert werden: 0579 0580 0581 0582 0583 0584 0585 0586 0587 0588 0589 0590 0591
Sie haben, selbst wenn der Erkenntnisprozess über die Literatur so weit sein sollte, dass sie die s- äh soziale Situation halbwegs fassen, haben sie bei streitigen Situationen die Beweismittel Zeuge, Sachverständiger, Augenschein und Urkunde, äh mit denen sie immer mehr eine Annäherung an das, was Wirklichkeit gewesen ist, erzielen. Sie müssen auch das zeitliche Moment sehn, das Problem war gestern, sie versuchen es heute zu fassen, (-) da gibt es äh jede Menge Erkenntnisschwierigkeiten [A: Mh]. Wir haben also zwei äh instabile Bereiche (-) normativ wie faktisch, äh die wir einer Lösung zuführen wollen, wobei wir nich wissen, ob das Ausgangsproblem noch das Problem von heute is. [D9:19]
0579/81: »Sie haben, selbst wenn der Erkenntnisprozess über die Literatur so weit sein sollte,« Durch das im Sinne von »man« verwendete »Sie haben« kreiert der Richter den Auftakt für eine Allgemeingültigkeit beanspruchende Situation. Das Folgende wird somit als eine Erläuterung dessen, »was der Fall ist«, gerahmt. Die dann angesetzte Konstruktion »wenn …dann«, spezifiziert das »wenn« zunächst als ein unwahrscheinliches Ereignis in der Form »selbst wenn … sein sollte, [dann…]«. Die noch zu kommende (Haupt-) Aussage bleibt auch unter dieser unwahrscheinlichen
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Vorbedingung gültig. Mit dem »Erkenntnisprozess über die Literatur« wird diese Bedingung genannt, wobei sie zugleich einige Fragen aufwirft. Die Darstellung wirkt elaboriert und reflektiert, der Terminus »Erkenntnisprozess« philosophisch und »über die Literatur« alles andere als juristisch. Beides erscheint für den richterlichen Gebrauch zu einer Falllösung weniger typisch. Welche »Literatur« oder die »Literatur von was« wird noch ebenso wenig klar, wie das, worauf sich der Erkenntnisprozess richten soll. 0581: »dass sie die s- äh soziale Situation halbwegs fassen,« Nun wird die Richtung des Erkenntnisprozesses deutlicher: über die Literatur die »soziale Situation […] fassen«. Ausgehend von der Annahme, dass sich die Situation auf den Fall, das heißt die Situation zwischen den Parteien des Rechtsstreits bezieht, nimmt die Bezeichnung »soziale Situation« die subjektiven Sichtweisen der Parteien in ihrer jeweiligen Erinnerung und Deutung der vergangenen Geschehen ein. Diese werden durch den Richter in eine Fall- oder Streit-Konstellation so zusammengeführt, dass es ein für ihn relativ einheitliches kohärentes Bild ergibt, was er als »soziale Situation« bezeichnet. Es kann, zumal bei streitigem Sachverhalt, immer nur eine Art Schnittmenge oder Hilfskonstruktion aus den sich teilweise widersprechenden Sachverhaltsdarstellungen der Parteien sein, eine Art »heuristische soziale Situation«. Er gewinnt diese Informationen (der »Erkenntnisprozess«) durch das Lesen (die »Literatur« von) der Akte. Möglicherweise spielen für den Richter dabei zudem noch soziologische Kategorien eine Rolle, womit er mit der »sozialen Situation« vom Begriff her etwa auf die soziale Lage oder das Milieu verweisen könnte. Dass er aber – diese Lesart weiterführend – mit der Literatur auch Fachliteratur zur »sozialen Situation« meinen könnte anstelle der Akte, erscheint hier nicht zwingend, da eine solche reflektiert soziologische und theoretische Aufarbeitung einerseits zu zeitintensiv wäre, andererseits zu wenig fallspezifisch und damit unpraktikabel für die Anforderungen der richterlichen Praxis. Es drängt sich hier die Lesart auf, dass der Richter meint, nach dem Lesen der Akte ein Bild über das damals gegebene Streitphänomen mit seinen damit im Zusammenhang stehenden (noch heute gültigen) lebensweltlichen Bezügen der einzelnen Parteien zu haben. Interessant ist das »halbwegs fassen« dieser »sozialen Situation«. Das »halbwegs« deutet darauf hin, dass er (über die Literatur) ohnehin nur die Hälfte (einer ontologisch verstandenen Realität) zu erfassen vermag. Oder es ist ein pragmatisches »halbwegs«, in dem Sinne, dass es genügt, die Situation halbwegs zu verstehen, weil ja noch die folgenden Umstände der »wenn … dann«-Konstellation kommen, die diese »halbwegs fassen« durch das »selbst wenn« in seiner Bedeutung für die eigentliche Hauptaussage von vornherein stark einschränkt. 0582/3: »haben sie bei streitigen Situationen die Beweismittel Zeuge, Sachverständiger, Augenschein und Urkunde,« Nun wird die »wenn … dann«-Konstellation ohne explizite Nennung des Begriffes ›dann‹ weitergeführt, durch Dopplung des früheren Ansatzes »Sie haben« in ähnlicher Form. Die Einschränkung der Hauptaussage, dass
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nach Durchsicht der Akte schon ein halbes Bild zum – den Fall grundlegenden – Streitphänomen und seinen lebensweltlichen Bezügen hergestellt wurde, ist nun abgeschlossen. Trotz dieses (Halb-) Wissens, so geht die Argumentation weiter, hat man (»haben sie«) »bei streitigen Situationen«, das heißt in den Fällen, in denen der Sachverhalt streitig ist, eine Gruppe von weiteren Zugangsmöglichkeiten zur Feststellung des Sachverhaltes, den sogenannten Beweismitteln (hier im Zivilprozess). Die vier wichtigen Beweismittel (»Zeuge, Sachverständiger, Augenschein und Urkunde«) werden genannt, hingegen nicht das – für grundsätzlich etwas weniger brauchbar gehaltene und deswegen möglicherweise ausgelassene – Beweismittel der Parteivernehmung. In Bezug auf das »Fassen« der streitigen Situation ist die (anwaltlich aufbereitete) Sichtweise der Partei aus der »Literatur« der Akte in den »Erkenntnisprozess« einbezogen worden. Wir haben bis hierhin aus der Sicht des Richters seine Möglichkeiten, sich ein Bild von dem Fall zu machen, kennengelernt. Zum einen die Akte mit den Einlassungen der Parteien, zum anderen die durch die Prozessordnungen gewährten Zugangsmöglichkeiten zu etwaigen Beweisen. 0583/5: »Äh mit denen sie immer mehr eine Annäherung an das, was Wirklichkeit gewesen ist, erzielen.« Mit den zuvor genannten beiden Hälften der Erkenntnismöglichkeiten hat der Richter nun aber nicht ein perfektes Ganzes, sondern er hat eine »Annäherung« an etwas, »was Wirklichkeit gewesen ist«. Nur das kann man mit diesen Mitteln »immer mehr […] erzielen«. Es geht folglich um eine Art approximatives Verfahren an eine Wirklichkeit, eine Wahrheit – im ontologischen Sinne gemeint –, an die man nie ganz herankommt. Es bleibt eine Annäherung ans Ideal, so wie man es praktisch zu machen hat. Die Verwendung des räumlichen Begriffs des ›Annäherns‹ gibt demjenigen, dem man sich annähert, eine nahezu ontologische Faktizität. Es ist somit keine Konstruktion, die man erarbeitet oder erschafft, sondern es ist etwas da (ontologisch), dessen man sich annähern kann. Es ist aber kein bloßes Finden der Wahrheit, sondern ein »immer mehr […] erzielen« durch etwas, durch die Praxis der »Literatur« und der Verwendung der Beweismittel. An dieser Stelle wird der Eigenanteil des Richters in Form des geleisteten Prozesses sichtbar. 0585/7: »Sie müssen auch das zeitliche Moment sehen, das Problem war gestern, sie versuchen es heute zu fassen,« Nun kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der die Approximation an die Wahrheit erschwert. Die streitige Situation, das »Problem« selbst »war«, existierte »gestern«, hat demnach »heute« in dem Sinne keine existente Form. Der Richter muss dieses vergangene Problem aber »heute zu fassen« bekommen. Das impliziert, dass die zeitliche Differenz einen Unterschied in der Qualität des »Fassens« eines Problems bewirkt. Je länger ein Ereignis zurückliegt, so könnte man die den Beweismitteln anhaftende Problematik beschreiben, desto schlechter und unsicherer sind die Beweise, insbesondere was Erinnerungsleistungen der Personen, Rekonstruktionsbemühungen der Sachverständigen oder in Augenscheinnahme von der Vergänglichkeit unterlegenen Objekten angeht. Die zeitliche Dimension ist somit ein zusätzlich erschwerender Faktor, sich der Wirklichkeit anzunähern. Dieses
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zeitliche Problem verstärkt den konstruktivistischen Charakter der Problemdefinition, worauf der Richter aber in seinen Äußerungen, wie schon oben, nicht eingeht – für ihn bleibt es ein »fassen«, ein »Annähern«, mithin ein Versuch des Findens einer (ontologisch gesehenen) Wirklichkeit. 0587/8: »(-) da gibt es äh jede Menge Erkenntnisschwierigkeiten« Nach einer kurzen Pause fasst der Richter die Grundproblematik der vorhergehenden Sequenzen zusammen. Zurückgreifend auf den Begriffsstamm der ›Erkenntnis‹, der zu Beginn im »Erkenntnisprozess« eingeführt wurde, resümiert er zum Ende dieses Abschnitts, dass es »jede Menge Erkenntnisschwierigkeiten« gibt. Das halbwegs Fassen der streitigen Situation aus der Lektüre der Akte, der limitierte richterliche Zugang zum Situationswissen mithilfe der Beweismittel und deren starke Qualitätsabhängigkeit von zeitlicher Nähe des Ereignisses zur Beweiserhebung lassen den Prozess der Erkenntnis nur mit vielen Schwierigkeiten verbunden zu einer Art approximativer Kenntnis des lebensweltlichen Phänomens der Parteien gerieren. Auffällig ist bei dieser Sichtweise, dass die Erkenntnis der Situation als eine Rekonstruktion einer ontologischen Wirklichkeit gesehen wird. Die Möglichkeit, dass diese Rekonstruktion zugleich eine Konstruktion darstellt, wird hier nicht erwogen. Dass diese Konstruktion zudem unter ganz spezifischen Anforderungen der juristischen Verwertbarkeit liegt und damit Konstruktionsprinzipien gemäß der Prozessordnungen und der Logik der Gesetzeszusammenhänge beinhaltet, ist damit ebenfalls nicht als selbsttypisierendes Element der eigenen Praxis zu erkennen. 0588/90: »Wir haben also zwei äh instabile Bereiche (-) normativ wie faktisch, äh die wir einer Lösung zuführen wollen,« Das Resümee wird fortgeführt und erweitert. Die Erkenntnisschwierigkeiten des Sachverhalts (»faktisch«) sind nun als ein instabiler Bereich bezeichnet, der von einem zweiten begleitet wird, der an dieser Stelle nicht explizit zur Sprache kam, dem »normativ« instabilen Bereich. Aus seiner dieses Resümee einleitenden Bemerkung »Wir haben also« wird aber deutlich, dass der Interviewte davon ausgeht, dass das zuvor Gesagte diese zwei Bereiche abdeckt, beinhaltet oder auf sie verweist (der Richter wies auch tatsächlich in einer vorgängigen Stelle im Interview auf die normative Ebenen hin). Wenn wir diesem impliziten Aspekt folgen, erhärtet sich die Annahme, dass die Konstruktion des Falles integrativ »normativ wie faktisch« abläuft, d. h. die Bereiche nicht voneinander zu trennen sind, da sie letztlich »einer« und nicht zwei Lösungen zugeführt werden müssen. Die Selbsttypisierung des Richters hinsichtlich seiner Praxis erhält aber das sprachliche Angebot einer analytischen Trennung aufrecht. Diese zwei Bereiche werden als »instabil« bezeichnet, d. h. sie sind nicht stabil, sie sind nicht fixiert, sondern in irgendeiner Weise variabel. Die Approximation an die Wirklichkeit hat somit letzten Endes keine Stabilität gebracht, es bleibt aufgrund des Nichterreichen-Könnens eine Unsicherheit, die aber pragmatisch akzeptiert wird; denn das Ziel ist es, diese »Bereiche« einer »Lösung« zuführen zu wollen. Etwas »zuführen« ist weder finden noch erschaffen, von seinem Aktivitäts-
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potential aber recht hoch, so dass die eigentliche Leistung des Richters in dieser Tätigkeit ihren Höhepunkt erfährt. Nicht letztendliche Gewissheit in Form normativer und faktischer Stabilität, sondern die Lösung steht im Mittelpunkt des Praxisvollzugs. Diesen Aspekt näher erläuternd schließt er das Resümee: 0590/1: »wobei wir nich wissen, ob das Ausgangsproblem noch das Problem von heute is.« Nun findet die schon zuvor angedeutete Distanzierung von dem Ideal des Findens der Wirklichkeit ihren Fortgang. Die Wirklichkeit der streitigen Situation von gestern bleibt zum einen aufgrund der Schwierigkeiten des Erkenntnisprozesses immer approximativ, zum anderen ist sie für das »Zuführen« zu einer Lösung nur Hilfsmittel, denn es gibt eine zusätzliche Unsicherheit. Die besteht nämlich darin, dass das Ausgangsproblem, das heißt die streitige Situation von damals, nicht identisch mit dem Problem von heute sein muss. Das bedeutet aber, dass der Richter die Möglichkeit einer Konstruktion des Problems durch die Parteien in Betracht zieht. Während zuvor noch die Rekonstruktion einer ontologischen Wirklichkeit im Zentrum der Aufmerksamkeit des Richters stand, sieht er nun die – zumindest von den Parteien kommende – Problematik einer (normativ wie faktischen) Problemkonstruktion der Parteien, die mit der Rekonstruktion der vergangenen Situation nicht identisch sein muss. Diese aus der Praxis gewonnene reflexive Erfahrung hinsichtlich der Konstruktion eines Falles bezieht sich aber auf die Parteien, die ja den Fall im Interesse ihrer Mandanten konstruieren müssen. Für den Richter im Zivilprozess kommt bei dieser Differenz des Ausgangsproblems und des Problems von heute hinzu, dass für den Fall und dessen Lösung in der Regel einzig das Vorbringen der Parteien maßgebend ist, was den Aspekt der Konstruktion durch die Parteien noch verstärkt. Ob der Richter bei seiner eigenen Lösung von einer Konstruktion ausgeht oder wie bei der zuvor analysierten sachverhaltlichen Aufklärung der damaligen streitigen Situation von einer Rekonstruktion einer Wirklichkeit, lässt sich hier abschließend nicht klären. Im Gegenteil, der einzige Hinweis, der selbsttypisierend dahingehend zu finden ist, ist die Verwendung der Formulierung »einer Lösung zuführen wollen«, die sich (elegant) einer solchen zuvor als Möglichkeit ins Spiel gebrachten Einordung zu entziehen vermag. Der Richter sieht sich mit dieser Äußerung in einer dritten Position, einer von Rekonstruktion und Konstruktion unterscheidenden. Denn er muss die eigenen Rekonstruktionsversuche, als Approximation an die Wirklichkeit verstanden, und die Konstruktionsversuche der Parteien, in der Gesamtschau denkend, in einer dritten Version des Falles, schließlich einer Lösung, einem Ergebnis »zuführen«. Das Zentrale ist die Lösung, die Erledigung65, und sie scheint für den Richter jenseits einer alleinigen Rekonstruktion oder Konstruktion zu liegen. 65 Die Erledigung umfasst dabei mehrere Arten von Erledigungen: Zentral ist sicherlich das (streitige) Urteil, flankiert von dem (besonders in der Zivilgerichtsbarkeit geforderten und beliebten) Vergleich sowie der Klagerücknahme, die auch infolge von (außergerichtlichen) Vergleichen stattfinden kann.
›Basis‹-Dimensionen
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Wir schlagen an dieser Stelle vor, diese Zuführung zur Lösung, als zentrale Handlungsnotwendigkeit unter Unsicherheit, als Kernproblem richterlicher professioneller Praxis zu verstehen. In dem und aus dem heraus entwickeln sich die Selbsttypisierungen der Richter bezüglich der Ausübung ihres Berufes und markieren den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Im Schlussteil, so viel sei hier vorweggenommen, wird gezeigt, wie aus der zentralen empirisch gewonnenen Kategorie der ›Unabhängigkeit‹ eine Antwort – auf der Ebene von Selbsttypisierungen – auf dieses Handlungsproblem gegeben wird und dass es sich mithilfe der Konzeption der ›Definition des Falles‹ theoretisch fassen lässt.
3.2 ›Basis‹-Dimensionen Die ›Basis‹-Dimensionen sind aus Selbsttypisierungen der Richter entstanden, die sich stark auf die gerichtsverfasste Organisationsstruktur beziehen. Hier wird der direkte Zusammenhang von Selbstverständnistypen aus den identitätsstiftenden Strukturen heraus gezeigt. Die empirisch-fundierende Bedeutung der ›Basis‹Dimension zeigt sich in Korrespondenz zu der ›historischen Genese‹ bis zur ›aktuellen Soll-Ebene‹ (siehe Abschnitt 1.2.1). Ausgenommen wurden an dieser Stelle die Beförderungsstrukturen, die stattdessen den ›Antriebs‹-Dimensionen, mit ihren vom Individuum ausgehenden Impuls als zusammenführendem Element, zugeordnet wurden (siehe Abschnitt 3.4.1). Im Einzelnen setzen sich die ›Basis‹-Dimensionen aus der ›Gerichtsbarkeit‹, der ›Verantwortlichkeit‹, den ›Anforderungen‹ sowie der ›Gerichtskultur‹ zusammen. Wichtig ist zu beachten, dass es sich nicht um eine Beschreibung der Organisationsstruktur der Gerichte handelt, sondern um eine aus den Selbsttypisierungen der Richter hervorgegangene Analyse hinsichtlich der identitätsstiftenden Merkmale der Organisationsstruktur für den Richter (nicht die Organisation). Der Zugang und die Aufteilung folgen demnach den empirisch gewonnenen Kriterien anhand der Selbsttypisierungen. Das hat im Ergebnis zur Folge, dass für die Gerichtsorganisation wichtige Unterscheidungen hier nicht relevant sind oder Dinge von größerer Bedeutung sind, als sie es für die Gerichtsverfassung darstellen.
Darüber hinaus gibt es noch das Anerkenntnis-, Versäumnis- und Verzichtsurteil. Statistisch gesehen sind dies (in dieser Reihenfolge) die relevanten Erledigungsarten.
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Gerichtsbarkeit
Die Ordentliche Gerichtsbarkeit, als da sind Straf-, Zivil- und Freiwillige Gerichtsbarkeit sowie davon in komplett eigenständig organisierter Form getrennt die Verwaltungsgerichtsbarkeit, wurden theoretisch vorausgewählt in die Forschung einbezogen (siehe hierzu Abschnitt 2.8). Interessant im Rahmen der empirisch induktiv verfahrenden Methode war natürlich die Frage, ob dieser Einteilung in den Selbsttypisierungen der Richter eine Bedeutung zukommt. Die ›Gerichtsbarkeit‹ ist ein herausragender Bestandteil von den ›Basis‹Dimensionen. Die empirischen Analysen weisen auf eine deutliche Identifizierung und Selbsttypisierung hinsichtlich der ausgeübten Gerichtsbarkeit hin und zeigen damit aus dieser Perspektive die Grenzen der Untersuchung auf. Arbeits-, Sozialund Finanzgerichtsbarkeit blieben aufgrund der oben genannten (siehe hierzu Abschnitt 2.8) Erwägungen von der Untersuchung ausgeschlossen. Auf der anderen Seite, so werden die Analysen in den späteren Kapiteln zeigen, gibt es neben dieser »Zugehörigkeits«-Typisierung einige Selbsttypisierungsbereiche, zu denen die ›Gerichtsbarkeit‹ nur eine koexistente Funktion aufweist. Auch die jeweiligen Zuständigkeiten, die für ein Dezernat bezüglich bestimmter Gerichtsformen und Rechtsgebiete66 (aber auch im Wesen der speziellen Zuschnitte länderspezifischer Gerichtsorganisationen) festgelegt werden, nehmen bei der Betrachtung eine Rolle ein, da sie als unterdifferenzierender Aspekt durchaus Einfluss ausüben. Ein solcher Effekt der Rechtsgebiete wird bei den ›Anforderungen‹ (in Abschnitt 3.2.3) diskutiert. Zunächst wenden wir uns in einer ausgiebigen ›Feinanalyse‹ exemplarisch der Selbsttypisierung eines Zivilrichters zu und entwickeln von dort aus im ›codeanalytischen‹ Verfahren den empirischen Überblick zu dieser ›Basis‹-Dimension (siehe zu dieser Form der Analyse und Darstellung Abschnitt 3.1). 3.2.1.1
Das »zivilistische Weichei« oder: Vom ›weichen Richter‹-Typus
Das im Folgenden analysierte Interviewstück befindet sich in der Eingangsphase des Interviews, in der nach der beruflichen Biographie des beisitzenden Richters an einem Zivilsenat (Oberlandesgericht) gefragt wurde, nach den verschiedenen Stationen der bisherigen richterlichen Laufbahn. Seine Amtsrichterzeit dauerte über 66 Von einer Fallabhängigkeit der Selbsttypisierungen kann jedoch nicht richtig gesprochen werden. Man sollte vielmehr sagen, dass eine durch die Organisationsstruktur vorgeprägte und durch die in Interaktionen ausgehandelte richterliche Dezernatsannahme bedingte generelle Falltypik (z. B. durch das Rechtsgebiet des angenommenen Dezernats) vorherrscht, die hier in den Basis-Dimensionen die Selbsttypisierungen prägen.
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›Basis‹-Dimensionen
drei Jahre, die Zeit an Landgericht und Oberlandesgericht wird mit acht Jahren bemessen. Weil die benannten Stationen teilweise nicht auf die Gerichtsbarkeit zurückzuführen waren, fragt der Interviewer an dieser Stelle nach, ob der Richter ausschließlich in der Zivilgerichtsbarkeit tätig war. Der Richter antwortet: 0053 0054 0055 0056 0057 0058 0059 0060 0061 0062 0063 0065 0066 0068 0069 0070 0071 0072 0073 0074 0075 0076 0077 0078 0079 0080 0081 0082 0083 0084 0085 0086 0087 0088
R: Ich habe bis auf äh so'n paar Zeiten die als Amtsrichter, wo ma halt gewöhnlicherweise sowieso alles macht, ähm [I: Mhm] da hab ich auch mal Strafsachen, Ordnungswidrigkeitensachen, freiwillige Gerichtsbarkeit gemacht; hab aber eh sagn ma mal große Strafsachen, also wie se bei Strafkammern abgehandelt werden, das hab ich nich gemacht. Bin eigentlich n eigentlich en ziemlich rassereiner Zivilist, also [I: Mhm, mhm] mach auch keine Familiensachen oder so was au- (--) Strafsachen is also nur am Rande (--), bin sicher kein Strafrichter in dem Sinne. I: Und ham se auch nich vor, wenn wenn se Ihren weiter Verlauf sehen? R: Also man sind ja nicht immer gefracht eh [I: Mhm] was ma will, aber wenn ich mir's aussuchen würde, würde ich das sicherlich nich wollen, ne. [I: Mhm] Ich glaub ich bin dafür mh auch nich so gemacht, also ich äh eh weiß nich, vielleicht fehlt mir eine gewisse gesunde Härte, wie se manchmal Strafrichter sich ja auch antrainiern in [I: Mhm] ihrem Leben, ähm weil se zu oft mit üblen Dingen konfrontiert werden, werd jetzt zwar auch mit üblen Dingen konfrontiert, aber eh eh ich weiß nich, ich würde mich jetzt als Strafrichter sicherlich umstellen müssen, [I: Mhm, mhm] glaub ich schon. Dem entsprechend bin ich eher so'n zivilistisches Weichei, so der die Fälle entscheidet nach Beweis auch auch […] mal zumindest nach Beweislast un nich so knackig sacht ›So hier jetzt auch wenn Du mich monatelang vom Gegenteil fast überzeugen versucht und belogen hast, ich sach trotzdem: Du warst's!‹ also so was eh bin ich halt einfach auch von meiner von meiner juristischen Argumentation her nich so gewohnt, ja [I: Mh] im imZivilisten arbeiten halt en bisschen im White-CollarBereich. [D10:12]
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Der Richter gibt in dieser Interaktionssituation eine spezifischere Antwort, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, beschreibt kurz seine Amtsrichterzeit und bleibt mit kleinen Pausen stockend bei der Aussage stehen, sicher kein Strafrichter zu sein. Dies nimmt der Interviewer als Anlass, die Strafrichterthematik in Richtung Zukunftsabsichten pointiert zu vertiefen. Der Richter reagiert darauf mit einem expliziten Vergleich und Kontrast seiner eigenen Art mit den vermeintlichen Anforderungen an einen Strafrichter. Die Argumentation verläuft in ihrer Grobstruktur wie folgt: Außer zu Amtsrichterzeiten, in denen man »alles macht« (0054/5), was die ordentliche Gerichtsbarkeit auf Amtsgerichtsebene bereithält, bezeichnet er sich als »rassereiner Zivilist« (0060). Familiensachen sind ausgeschlossen und Strafsachen kommen »nur am Rande« (0062) vor. Strafrichter zu sein, würde er sich »sicherlich nich« (0070) aussuchen wollen, er sei dafür »auch nich so gemacht« (0071), ihm fehle »eine gewisse gesunde Härte« (0072). Dementsprechend ist er ein »zivilistisches Weichei« (0079), was nach »Beweislast« (0081) entscheidet. Die gewohnte »juristische Argumentation« (0085/6) des »Zivilisten« (0087) liege im »White-Collar-Bereich« (0087). [Hauptaussage: Selbstbild = rassereiner Zivilist = Weichei. Begründungsgang: Selbst = rassereiner Zivilist = Weichei = Arbeiten im WhiteCollar-Bereich Strafrichter = gesunde Härte = knackig argumentieren] 0053/4: »Ich habe bis auf äh so'n paar Zeiten die als Amtsrichter,« Der Richter beginnt seine Antwort mit »Ich habe«, womit er sprachlich den Anschluss an die Frage (»Ham Sie ausschließlich Zivilgerichtsbarkeit gemacht?«) herstellt. Die angesetzte Idee wird aber sofort mit einem Einschub unterbrochen und damit entweder nicht direkt weitergeführt oder sogar abgebrochen. In Form einer Einschränkung »bis auf« wird das noch nicht Ausgesprochene als alleingültig schon wieder relativiert, gleichsam aber als Regelaussage verstärkt. Das »äh« könnte die Funktion einer kurzen Wortwahlpause oder eine Pause für die inhaltliche Ausgestaltung der Einschränkung, die zwar pauschal schon gewusst wird, aber noch nicht differenziert betrachtet ist, haben. Es leitet dann die Folgesequenz »son’n paar Zeiten« ein, mit dem der Richter nun zunächst anhand einer chronologischen Gewichtung die Ausnahmen beschreibt. Die »Zeiten« sind im Plural erfasst, es handelt sich folglich um mehr als eine Zeit, wobei ein solcher Singular als je eine Zeiteinheit, eine Zeitspanne zu verstehen sein dürfte. Es sind aber auch nicht viele, sondern nur »’n paar«. Das davor geschaltete »so« relativiert die Bedeutung der prinzipiell und konkret auflistbaren Zeiten und gibt zu verstehen, dass es im Einzelnen nicht so wichtig ist oder zu sein hat (möglicherweise als Hinweis an den Interviewer). Beide Mengenangaben, das heißt die Länge der einzelnen Zeitspannen und die Anzahl der Zeitspannen insgesamt, werden nachfolgend, in einen Kontext gesetzt, verstehbarer: Zeiten »als Amtsrichter«. Zuvor hatte der Richter seine bisherige Berufsbiographie anhand des zeitlichen Verbleibs in den Gerichtsebenen skizziert. Dort wurde klar, dass er über drei Jahre an einem Amtsgericht war. Die »paar Zeiten« summieren sich demnach auf
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die drei Jahre als Amtsrichter und legen nahe, dass der Plural eine Differenzierung hinsichtlich der Tätigkeiten – das heißt Dezernate am Amtsgericht – andeutet. Zudem sind diese »Zeiten« aus heutiger Sicht mit acht Jahren weit zurückliegend, sie sind, wie der Alltagsgebrauch von »Zeiten« auch, auf etwas Zurückliegendes, Abgeschlossenes bezogen. Die Relativierung kann sich folglich aus dem ergeben, dass ein lange zurückliegendes Tätigkeitsfeld aus heutiger Sicht nicht mehr »durchprägend« ist. Insofern gibt es zwar eine Einschränkung, aber keine sehr starke für eine sonst gültige Regel. Die Ausnahme der noch nicht ausgesprochenen Regel wird demnach durch verschiedene Tätigkeiten am Amtsgericht definiert. Gleichsam wird die Bedeutung dieser Einschränkung hinsichtlich der Regel aber aus Gründen des längeren Zurückliegens als eher gering qualifiziert. 0054/5: »wo ma halt gewöhnlicherweise sowieso alles macht, ähm [I: Mhm]« Nun folgt eine pauschale Explikation der Zeiten als Amtsrichter hinsichtlich der Tätigkeiten. Das »wo« kann hier örtlich als Hinweis zum Amtsgericht verstanden werden oder als umgangssprachlicher Bezug zu der Zeit als Amtsrichter. Für die weitere Interpretation ist in beiden Fällen der Anschluss an das zuvor Gesagte in Form einer Hinleitung zur Explikation gemacht. Mit der Verwendung des »ma« (man) tritt nun der zuvor noch in Ich-Form sprechende Richter hinter einer Allgemeingültigkeit beanspruchenden Aussage zurück. Die folgende Dreierreihung »halt gewöhnlicherweise sowieso« ist aufschlussreich hinsichtlich seiner Einstellung zur Amtsrichterzeit: Jeder der drei Begriffe hätte einzeln an der gleichen Stelle verwendet werden können, ohne die Aussage dabei nachhaltig zu verändern. Diese Verdreifachung verstärkt den Aussagecharakter an dieser Stelle, doch was wird damit gesagt? Es wird auf etwas nicht Neues, auf etwas Offenbares, Selbstverständliches, etwas von alleine Ablaufendes hingewiesen, auch auf etwas, bei dem die Vorstellung der eigenen Gestaltungsmöglichkeit sehr gering erscheint, etwas, wogegen man sich nicht wehren kann, aber auch nicht will, weil es im Grunde genommen belangloser oder nicht veränderbarer Natur ist. Es ist in diesem Sinne auch unhinterfragt, unreflektiert. Diese Verstärkung zielt jetzt auf die folgende Aussage »alles macht« als Vollendung des »wo ma … alles macht«. Als Amtsrichter, zumal in seinen ersten Berufsjahren, macht man alles. Wenn man sich an die Frage des Interviewers erinnert, in welcher dieser nach »ausschließlich machen« fragt, so stellt man erneut einen sprachlichen Anschluss fest, der allerdings die genannte Alternative geradewegs in sein Gegenteil wendet: alles machen, statt ausschließlich eines machen. Der Richter hat alles gemacht, weil er an dieser Stelle seiner Laufbahn am Amtsgericht war und man in diesem Fall alles macht – oder besser: zu machen hat. Alles machen bedeutet, jede den Amtsgerichten zugeordnete Gerichtsbarkeit zu machen. Dies würde die zuvor vorgenommene Einschränkung bezüglich der unausgesprochenen Regel inhaltlich enorm aufwerten. Das dann unter den Bedingungen eines Amtsrichters zu tun, heißt aber auch, dass es weniger intensiv und tiefgängig geschieht und somit
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aus der rückwirkenden Sicht eines jetzigen Oberlandesrichters die in der Verdreifachung anklingende Belanglosigkeit an eine inhaltlich-rechtliche Tiefe gerichtet sein kann. Pointiert umformuliert wäre die Aussage dann: Da macht man ja alles, aber nichts richtig. Die Ausnahmezeit, als Einschränkung der nicht explizierten Regel, wird zwar als inhaltlich breit umfassend und unabänderlich dargestellt, aber zugleich durch eine angedeutete inhaltliche Abwertung der damaligen Arbeit herabgesetzt. 0055/7: »da hab ich auch mal Strafsachen, Ordnungswidrigkeitensachen, freiwillige Gerichtsbarkeit gemacht;« Der zuvor schon anklingende Tenor des Zurückliegenden und inhaltlich nicht Hochwertigen oder heute Unbedeutenden wird hier wiederholt mit »da hab ich auch mal … gemacht«. Benannt werden nun nicht nur explizit Gerichtsbarkeiten »freiwillige Gerichtsbarkeit«, sondern auch Sachen »Strafsachen« und »Ordnungswidrigkeitensachen«, die als Erläuterung des »Alles-Machen« angesehen werden kann. Diese Explikation soll hier aber nicht weiter vertieft werden. 0057/9: »hab aber eh sagn ma mal große Strafsachen, also wie se bei Strafkammern abgehandelt werden, das hab ich nich gemacht.« Hier nun kommt eine interessante Einschränkung. Obwohl zuvor deutlich gesagt wurde, dass sich das »Alles-Machen« auf die Amtsrichterzeit bezieht, werden hier aus dem Bereich der Landgerichtszeit »große Strafsachen« als etwas benannt, was nicht gemacht wurde. Möglicherweise sollte das eine Hilfestellung für den Interviewer sein, was darauf verweisen könnte, dass sich der Richter noch am Anfang des Interviews stehend, nicht sicher war, auf wie viel Vorwissen er bei dem Interviewer aufbauen kann. Andererseits ist es möglich, dass der Richter im Verlauf des Sprechens merkte, dass zwar die Zuordnungen zu den Gerichtsbarkeiten eindeutig waren, die Berührung mit den Sachen hingegen nicht gänzlich voneinander zu trennen sind. Dies zu vermuten, gibt es später weiteren Anlass. Die Ausnahmezeit, als Einschränkung der nicht explizierten Regel, wird zwar als inhaltlich breit umfassend dargestellt, aber gleichsam durch eine angedeutete inhaltliche Abwertung der damaligen Arbeit und die zeitlich kürzere und weit zurückliegende Phase in ihrer prägenden Bedeutung herabgesetzt. 0059: »Bin eigentlich n eigentlich en ziemlich« Mit der Eröffnung des neuen Satzes mit »Bin« als abgekürzte Form von »Ich bin« wird einerseits das »Ich« fortgelassen, was auf ein sanftes Zurücktreten oder Abschwächen des »Ich« als verantwortlichen und sprechenden Akteur hinweist (lange nicht so stark, wie das »man« ein regelrechtes Verstecken bedeuten kann). Dies kann in der Absicht geschehen, sich verbergen zu wollen (schämende oder verschlagene Haltung) oder sich nicht in den Vordergrund zu drängen (demütige Haltung). Andererseits, oder möglicherweise auch ergänzend, wird das Fortlassen umgangssprachlich bedingt, dessen Verwendung dann eher auf einen informellen Charakter des Gesprächs hinweist. Die sich anschließende Dopplung »eigentlich n eigentlich en« sowie das »ziemlich« sind eine lange Vorbereitung für das, was ausgesagt werden wird. Neben dieser suchen-
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den oder auch spannungssteigernden Funktion ist es aber auch eine Abmilderung und Einschränkung dessen, was noch kommt. »Eigentlich« ergibt in seiner Verwendung nur Sinn, wenn es dazu Ausnahmen und Einschränkungen gibt. Das »Eigentliche« ist auf etwas Inneres oder Essentielles gerichtet, was folglich etwas Äußeres oder eine Schale hat, die nicht unmittelbar den Blick freigibt auf das Eigentliche. Das was noch kommt, wird, zumal durch die Verstärkung mit einer Dopplung, nicht immer vollumfänglich offenbar sein, aber dennoch als Wesentliches, als ein – wenn nicht das – Hauptargument angesehen. Das »ziemlich« schränkt nun noch zusätzlich ein, weil das nicht klar offenbar Eigentliche selbst noch als nicht 100 % treffend charakterisiert wird. »Ziemlich« ist eben nicht ganz, sondern nur nah dran. Trotz dieser vorbereitenden Abschwächungen, zu denen auch das fehlende Ich vom »bin« als ein sich leichtes Zurücknehmen des Erzählers interpretiert werden kann, erwartet der Leser durch diesen spannungssteigernden Auftakt eher eine Aussage, die durchaus Gewicht als Selbstpositionierung hat. 0060: »rassereiner Zivilist,« Mit dem Attribut »rassereiner« wird ein Begriff verwendet, der eine besondere Spanne von Lesarten aufdeckt. »Rasserein« oder das synonym verwendete »reinrassig« bezieht sich auf eine saubere oder gesäuberte, das heißt frei von anderen, existierende Gruppe von Lebewesen, die sich bezüglich ihrer Erbanlagen von anderen unterscheidet. Die Hauptverwendung ist wohl in der Einteilung und vor allem Züchtung von (Nutz- und Haus-) Tieren zu sehen. Zumeist stellt ein »rassereines« Tier eines mit höherer Qualität dar. Der seltenen Verwendung im Pflanzenreich steht eine umstrittene Verwendung in der Anthropologie gegenüber, die zweifelsohne etwa bei den Rassengesetzen der Nationalsozialisten im Dritten Reich ihren Höhepunkt fand. Wenn in der deutschen Sprache, mit der deutschen Geschichte im Hintergrund, heutzutage ein solcher Begriff verwendet wird, lässt sich diese Konnotation nicht ausblenden. Da sich, so viel ist an dieser Stelle schon sichtbar, der Begriff auf den Interviewten selbst beziehen muss, »bin […] rassereiner«, ist der Übertritt von der zoologischen Systematik ins Anthropologische vollzogen. Insofern ist das Einbringen von »rassereiner« gewagt, und die abgeschwächte sowie spannungssteigernde Vorbereitung dieses Attributes kann in einem weiteren, das heißt zusätzlichen Sinne verstanden werden. Da die bisherigen Äußerungen vorbereitend für die Selbstpositionierung – was die Tätigkeiten in Gerichtsbarkeiten angeht – waren, kann erwartet werden, dass sich »rassereiner« auf einen solchen Anschluss bezieht. Mit dem »Zivilist« wird nun das, was bisher unausgesprochen war und was »rasserein« ist, nämlich der Richter selbst, von ihm auch inhaltlich benannt. Der »Zivilist«, vom Wortstamm des lat. ›civis‹, Bürger, kommend, ist allgemein jemand, der bei Kampfhandlungen nicht an ihnen teilnimmt und deswegen unter besonderen Schutz zu stellen ist. Etwas weiter formuliert, auch für Friedenszeiten geltend, werden allein schon Nichtuniformierte, sofern sie sich in einer Situation mit Uniformierten oder Kämpfenden befinden, mitunter als Zivilisten charakterisiert. Es
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gibt den Zivildienst im Gegensatz zum Militärdienst und umgangssprachlich kann etwas »zivil« sein, wenn es irgendwie moderat und eben nicht hart oder brutal ist. Einen allgemeinsprachlichen Bedeutungszusammenhang mit der Zivilgerichtsbarkeit gibt es nur bezüglich des Wortstammes, nicht bezüglich einer Personenbezeichnung. Für jemand, der sich mit der Zivilgerichtsbarkeit als Ort der Auseinandersetzung der Bürger untereinander beschäftigt, ist der Begriff allerdings nicht unbekannt, obwohl er unter älteren, humanistisch gebildeten Juristen weiterverbreitet zu sein scheint als unter der jüngeren Generation, in der üblicherweise Begriffe wie ›Zivilrechtler‹ oder beim Richter spezifischer ›Zivilrichter‹ verwendet werden. Letztere Verwendung kommt hier nicht zur Anwendung, es wird ein wortstammgemäß sehr nahestehender (älterer) Begriff verwendet, der etwas aus dem üblichen Rahmen fällt. Dies wird umso bemerkenswerter, wenn man das vorgängige Attribut mit einbezieht. Die begradigte Formulierung »rassereiner Zivilrichter« zielt auf die übliche Einteilung der Richter nach Gerichtsbarkeiten ab und stellt einen Zusammenhang zwischen einer zoologischen Einteilung von Tieren nach genetischen Kriterien und der justizbezogenen Einteilung von Richtern nach rechtsgebietssystematischen Kriterien her. Das hat, möglicherweise beabsichtigt, komisch-kritischen Charakter. Der Vergleich, zumal von einer prestigeträchtigen Berufsgruppe, mit Tieren ist ein typisches Stilmittel von Karikaturen, auch oder gerade um Kritik zu äußern. Diese Kritik, in Komik sanft transportiert, wird nun dadurch nochmals verstärkt, dass eben nicht »Zivilrichter« als Kernaussage in den Mittelpunkt gestellt wird, sondern »Zivilist« als ein eher eigentümlich anmutendes Label. In diesem Vergleich wird zudem klar, dass durch die Wahl das Wort »Richter« vermieden wird. Diese Vermeidung kann zudem als Ablösung oder Abkopplung gedeutet werden: Der Richter, abgehoben in der Welt der zivilrechtlichen ›Glasperlenspiele‹, ist eben mehr als (oder sogar etwas anderes als) ein (Zivil-) Richter. »Zivilrichter« hat seine personifizierende Kraft beim Richter, nicht beim Zivilen, wenn die eigene Funktion aber selbst nicht so stark im Richten, sondern vielmehr im »Zivilrechteln« gesehen wird, kommt die Wortschöpfung »Zivilist« dieser Selbstdefinition näher. Die Vermeidung oder Abkopplung vom Begriff ›Richter‹ in Verbindung mit dem kritisch-komischen Vergleich kennzeichnet in dieser Weise eine Distanzierung, die aber gleichzeitig mit der Benennung der Selbstpositionierung stattfindet. »Rassereiner Zivilist« ist die Nennung des Hauptargumentes, der zuvor unausgesprochenen Regel, auf die sich die genannten Ausnahmen beziehen. Diese deutliche Selbsttypisierung als hochwertiger Zivilrichter wird mit kritisch-komischer Distanz zu der justizbezogenen Einteilung von Richtern nach rechtsgebietssystematischen Kriterien und der im Begriff ›Zivilrichter‹ inhärenten Hauptfunktion des Richtens vorgenommen. 0060/1: »also [I: Mhm, mhm] mach auch keine Familiensachen oder so was« Hier wird, das soll nicht mehr sehr weit ausformuliert werden, eine weitere Ein-
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schränkung nachgereicht. »Familiensachen oder so was« kann als Kategorisierung der Freiwilligen Gerichtsbarkeit angesehen werden, in deren Mittelpunkt zumeist die Familiensachen stehen. Nachdem das Hauptargument für die heutige Tätigkeit genannt wurde, die Einschränkungen durch frühere Tätigkeiten davor aufgeführt wurden, wird (systematisch) danach gesucht, was den heutigen »rassereinen Zivilisten« eben nur »ziemlich« »rasserein« macht und nicht vollkommen. 0061/2: »au- (--) Strafsachen is also nur am Rande (--),« Mit dem »au-« am Anfang, ein abgebrochenes »auch«, und der daraufhin folgenden Pause wird eine weitere Ergänzung angedeutet, deren Nennung durch eine Überlegung oder eine gedankliche Unterbrechung verzögert wird. Mit »Strafsachen« wird die Einschränkung inhaltlich benannt. Der verwendete Plural wird im Anschluss im Singular weitergeführt, »is« zieht förmlich das weite Feld des Plurals in eine Kategorie zusammen. Mit »also nur am Rande« hingegen werden die Strafsachen als etwas charakterisiert, was nicht außerhalb des Tätigkeitsbereiches liegt. Die zuvor begonnene und abgebrochene Gleichstellung mit der Freiwilligen Gerichtsbarkeit wird nach der Überlegungspause relativiert: Er macht Strafsachen, aber nicht viel oder nicht von großer Bedeutung für das Hauptgeschäft des Zivilrechtelns. Die nachfolgende Pause deutet eine weitere Überlegung diesbezüglich an. 0062/3: »bin sicher kein Strafrichter in dem Sinne.« Nun kommt eine zu Beginn deutliche Distanzierung von einer Selbstzuschreibung als »Strafrichter«. »Bin sicher kein«, bei dem das »Ich« zwar wieder nicht offen auftritt (siehe 0059), ist durch das »sicher« eine verstärkende Aussage hinsichtlich des Nichtseins von dem, was folgt. Das »bin sicher kein Strafrichter« für sich allein genommen wäre eine eindeutige Aussage, doch es folgt noch eine Erläuterung oder ein Nachschub, der das gerade Formulierte wieder einschränkt. Mit »in dem Sinne« ist eine spezifische Vorstellung von einem Strafrichter verbunden, die er eben nicht verkörpert. Dies wird aber nicht exemplifiziert. Wenn sich dieses »in dem Sinne« auf ein übliches und normales, ihm geläufiges Bild eines Strafrichters bezieht, dann kann es davon nicht mehrere geben oder zumindest nur ein dominantes. Dass Juristen und zumal Richter dahingehend eine andere Vorstellung haben könnten als gewöhnliche Bürger, ist sehr gut möglich. Andererseits befindet sich der Richter mit einem seines Faches und seines Berufes Unkundigen in einer Interviewsituation, zumal sogar noch zu Beginn des Interviews, so dass wenig vom gegenseitigen Wissen bekannt ist. Daher liegt die Vermutung nahe, dass auf ein allgemeines Bild vom Strafrichter »in dem Sinne« rekurriert wird: der Strafende, der Strenge, derjenige, der jemanden ins Gefängnis bringt, kurzum der Richter, der stellvertretend für die Gesellschaft und ihre Normvorstellungen zur Sühne einer nicht mehr zu ändernden Verfehlung eines Täters Gewalt anwenden darf. In diesem Sinne, so kann jetzt die Lesart Gestalt annehmen, versteht sich der »rassereine Zivilist« eben »sicher« nicht. Aber, und das schließt an diese Einschränkung an, in einem anders verstandenen Sinne könnte er zumindest nicht
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»sicher« sagen, kein Strafrichter zu sein. Hier kommen die Strafsachen, mit denen er »am Rande« zu tun hat, ins Spiel. Als Antwort auf die Frage nach der Ausschließlichkeit der Tätigkeit in der Zivilgerichtsbarkeit wird mit einer dreistufigen Systematik in selbstpositionierender Hinsicht geantwortet, welche zusätzlich in zwei chronologische Abschnitte geteilt ist. Außer der Nennung der Freiwilligen Gerichtsbarkeit wird nicht von Gerichtsbarkeiten gesprochen, sondern entweder von Sachen, die gemacht wurden, oder personifizierenden Bezeichnungen. Diese Abstufung selbstpositionierender Aspekte teilt sich auf in: etwas nicht machen oder nicht sein (a), »Sachen« machen (b) und etwas als Personenzuschreibung sein (c). (a) nicht machen, nicht sein (b) als Sachen machen (c) als Person sein
heute Freiwillige Gerichtsbarkeit Strafrichter in dem Sinne am Rande Strafsachen »rassereiner Zivilist« (Zivilrichter)
früher große Strafsachen alles (was am Amtsgericht gemacht werden kann) Amtsrichter
Abbildung 8: Selbstpositionierungen ›Gerichtsbarkeiten‹ und Karrierestationen Teil 1
»Nicht machen«, gleichbedeutend mit »nicht sein«, ist die Abgrenzung, die negative Definition, die als Gegenpol das prägt, was er »ist«. »Sachen machen« ist eine Art Vorstufe zu dem, was man sein kann, aber nicht sein muss, erst das zur Personenbezeichnung Geronnene deutet auf eine Selbstpositionierung als direkte Identifizierung hin. Bemerkenswert ist die nun immer klarer herausscheinende Ablehnung strafrichterlicher Identifikation, die ja nicht nur durch das Nicht- oder Nur-amRande-Machen und das »nicht sein« markiert wird, sondern auch durch die überzeichnete Wortschöpfung »Zivilist«, die gerade das, was den Strafrichter kennzeichnet, eben dass er richtet, als Personenzuschreibung »-richter« herausnimmt. Auf diese Strafrichterthematik eingehend fragt der Interviewer nach, ob der Richter nicht vorhat, in die strafrichterliche Verwendung zu gehen (»Und ham se auch nich vor, wenn wenn se Ihren weiter Verlauf sehen?«). 0068/9: »Also man sind ja nicht immer gefracht eh [I: Mhm] was ma will,« Die Frage des Interviewers implizierte für den Richter die Unterstellung, er könne sich aussuchen, welche Tätigkeiten er machen möchte. Der Möglichkeit einer daraus folgenden Fehldeutung dessen, was er antworten will, versucht er zuvorzukommen. Er schränkt zunächst einmal ein, dass er die freie Wahl habe, indem er äußert, dass man nicht immer gefragt wird. »Ja nicht immer« gefragt zu werden, heißt, dass jemand dort ist, der entscheidet, was jemand zu machen hat, und der einen manch-
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mal, aber eben nicht immer, nach den eigenen Wünschen befragt. Hier wird auf den beamtenähnlichen Status der Richter hingewiesen, der es ihnen nicht ermöglicht, völlig frei zu wählen. Auf der anderen Seite ist die Einflussmöglichkeit, einen Richter von einer einmal eingenommenen Position nach seiner Erprobungszeit wieder fortzubekommen, für die Justizverwaltung sehr gering, es sein denn, er geht einen Karriereweg, wobei er erneut Erprobungszeiten durchleben muss. Die Einschränkung »nicht immer« kann sich demnach explizit auf die dem Beförderungssystem unterliegenden Zeiten beziehen. 0069/70: »aber wenn ich mir's aussuchen würde, würde ich das sicherlich nich wollen, ne. [I: Mhm]« Für den Fall, dass er sich in die Lage brächte, es sich auszusuchen, würde er »sicherlich nich« die strafrichterliche Tätigkeit »wollen«. Diese verschnörkelten Konjunktive lassen auf das Verhältnis seiner Karriereabsichten, seinen anderen Wünschen und deren mögliches Spannungsverhältnis schließen. Als Oberlandesrichter ist er schon vertraut mit den Mechanismen des Beförderungssystems, und er weiß, dass er, um noch weiter zu kommen, sich auch auf Dinge einlassen müsste, die er für sich alleine genommen nicht täte. Eine letztendliche Entscheidung diesbezüglich scheint er noch nicht getroffen zu haben, denn er lässt es offen, ob er es sich »aussuchen würde«. Er sagt eben nicht, dass er es sich nicht aussuchen kann, was für eine explizit karrierebedingte Vorliebeneinstellung sprechen würde. Er sagt aber auch nicht, dass ihm »keiner was kann«, wenn er nicht will. Wenn er sich diesbezüglich in die Richtung festlegen würde, es sich auszusuchen, das heißt insbesondere keine weiteren Karriereambitionen hätte, dann würde er die strafrichterliche Tätigkeit nicht wollen. (Siehe zu diesem Aspekt auch den Abschnitt 3.4.1, in der die Karriere zur richterlichen ›Unabhängigkeit‹ in Konfrontation geraten kann.) 0070/1: »Ich glaub ich bin dafür mh auch nich so gemacht,« Nach Einschränkung bezüglich der Umstände des »Wollen-Könnens« kommt nun ein neues Argument. Gleich zweimal wird explizit »ich« verwendet, begleitet allerdings von Abschwächungen wie »glaube«, das heißt nicht wissen, »auch« und »so«. Die Kernaussage »Ich bin dafür nicht gemacht« ist allerdings ausgesprochen und drückt eine sehr deutliche Selbstpositionierung aus. »Für etwas gemacht sein« deutet auf eine Konstitution hin, auf einen Wesenszug, eine Charaktereigenschaft, auf etwas, was einem so nahe liegt, dass es auf eine »natürliche« Weise zu einem gehört. Normalerweise sind Kulturprodukte »für etwas gemacht«, etwa Werkzeuge oder andere Nutzgegenstände, von denen man erst sagt, sie seien für etwas nicht gemacht, wenn man sie für etwas verwendet, was ihrer ursprünglich intendierten Funktion nach nicht passend ist. Entweder funktionieren sie dann nicht, sind bestenfalls ohne erkennbaren Nutzen oder sie nehmen bzw. etwas anderes nimmt sogar Schaden dabei. Bezogen auf Menschen bekommt dies folgenden Charakter: Entweder es bezieht sich auf eine in irgendeiner Weise planende Vorinstanz, etwa die Natur, das Schicksal oder Gott, welche somit unabhängig vom menschlichen Zutun Grundeigenschaften festgelegt hat, die einen zu diesem oder jenem mehr oder weniger befähi-
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gen. Besonders eindrucksvoll sind solche Aussagen bei Unterschieden, die die physische Leistungsfähigkeit betreffen. Oder sie bezieht sich auf die durch die Menschen mehr oder weniger geplante und organisierte Ausbildung, insbesondere die sekundäre Sozialisation, was berufliche Fertigkeiten angeht. Letzteres erscheint jedoch im Zusammenhang mit einem Richter, der von sich sagt, für das Strafrichterliche nicht »so gemacht« zu sein, unpassend: Auch wenn es von der Theorie sekundärer Sozialisation so beschrieben wird, bezieht sich der Sprachgebrauch nicht auf eine solche unmündig wirkende »Produktion« von Fertigkeiten. Das »Ich« im Sinne eines aktiven, selbst gestaltenden Lerners tritt dabei möglicherweise zu stark in den Hintergrund, als dass es sprachlich verwendet würde. Hier spricht man dann eher davon, dass man das nicht gelernt hat oder dafür nicht ausgebildet wurde. Die Deutung der Aussage in Richtung einer planenden Vorinstanz, welche Charaktereigenschaften quasi natürlich festlegt und somit unseren Richter in deterministischer Weise zu einem »Nicht-Strafrichter« macht, sondern vielmehr zu einem »rassereinen Zivilisten«, nimmt vorläufig Kontur an. 0071/2: »also ich äh eh weiß nich, vielleicht fehlt mir eine gewisse gesunde Härte,« Die mit Abschwächung und suchend vorbereitete Nennung von »gesunde Härte« als etwas, was ihm dazu fehle, Strafrichter zu sein, wirkt durch das »gesund« positiv konnotiert, auch wenn es sich auf die Funktionsnotwendigkeit beziehen mag. Der Strafrichter benötigt zum guten, d. h. gesunden Funktionieren eine entsprechende Härte. 0072/4 »wie se manchmal Strafrichter sich ja auch antrainiern in [I: Mhm] ihrem Leben,« Die Entstehung der »gesunden Härte« wird nun weiter expliziert, wenn auch durch die Einschränkung »manchmal« nicht für alle Strafrichter geltend: »Antrainieren« heißt demnach nicht von vornherein haben, sondern durch den Berufsalltag angelernt, erlernt. Das wiederum entspricht der menschengemachten Deutung von »für etwas gemacht sein« (0070/1), aber mit der selbstaktiven Komponente. 0074/5: »ähm weil se zu oft mit üblen Dingen konfrontiert werden,« Die Begründung für das Antrainieren einer »gesunden Härte« ist die Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten, den »üblen Dingen«. Der Richter ist folglich nicht unberührt, nicht quasi-objektiv, sondern die Dinge, mit denen er sich »zu oft« beschäftigt, beeinflussen ihn, formen ihn, trainieren ihm etwas an. (In Abschnitt 3.4.4 wird ein Richtertypus, der ›Unberührbare‹, analysiert, der einem Teil eines solchen Einflusses zu entkommen sucht.) 0075/76: »werd jetzt zwar auch mit üblen Dingen konfrontiert,« Nun kommt eine auf sich bezogene Einschränkung, die mit einem »zwar« im Sinne eines »zwar … aber« beginnt. Die Einschränkung gibt es, sie ist aber nicht relevant im Sinne einer Gefährdung des Hauptarguments, dem Fehlen der »gesunden Härte«. Inhaltlich besagt die Einschränkung, dass auch unser Zivilrichter »mit üblen Dingen konfrontiert« wird. Wir wissen nicht und es wird auch nicht expliziert, was er mit diesen »üblen Dingen« meint, aber er hat sie »auch« in seinem Berufsalltag. Nun wird es interessant, denn
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der bisherigen Logik nach, müsste er selbst sich auch eine »gesunde Härte« antrainiert haben; auch er hat »mit üblen Dingen« zu tun. Der einzige Unterschied liegt in der Quantität der »üblen Dinge«, der Strafrichter bekommt sie »zu oft« (0074), während er sozusagen nur »auch« damit konfrontiert wird. Ein Hinweis auf einen qualitativen Unterschied dieser »üblen Dinge« findet sich nicht explizit. 0076/8: »aber eh eh ich weiß nich, ich würde mich jetzt als Strafrichter sicherlich umstellen müssen, [I: Mhm, mhm] glaub ich schon.« Nun kommt das mit »zwar« eingeleitete »aber«, welches zunächst durch eine anschließende Überlegungsphase »eh eh ich weiß nich« das Argument aufschiebt. Möglicherweise wird dem Richter nun nicht nur ein rhetorisch geplantes, sondern auch argumentatives Dilemma bewusst, weil er mit der Nennung des folgenden Argumentes nicht auf das »zwar« reagiert. Statt einer Schwächung des »zwar«-Argumentes, etwa einer Charakterisierung seiner »üblen Dinge« als etwas anders gelagert gegenüber den strafrechtlichen (das heißt der qualitative Unterschied) oder einer Betonung der geringeren Fallzahl kommt er wieder auf den vorgängigen Punkt zu sprechen: Er müsste sich als Strafrichter »sicherlich umstellen«. Er lässt somit die »üblen Dinge« seiner Fälle als gleich übel neben denen der Strafrechtsfälle stehen und verschiebt seine zuvor begonnene Argumentation vom Gegenstand, dem Fall, hin zu der zu leistenden Anforderung an ihn. Der Argumentationsgang kommt dadurch in eine gewisse Schieflage, wie die folgende Kurzübersicht zu verdeutlichen sucht: Wunsch - Keine Strafrichtertätigkeit Weil - Nicht dafür gemacht. Weil - Härte fehlt [für das Hauptargument unwichtig: beim Strafrichter antrainiert durch häufige Konfrontation mit »üblen Dingen«] Aber - Nur mit Umstellung möglich. Botschaft - »Ich würde nicht unbedingt wollen, weil ich eigentlich nicht dafür gemacht bin, aber da man sich durch die Fälle eine gesunde Härte antrainiert, könnte ich es mit einer Umstellung auch machen.« 0078/9 »Dem entsprechend bin ich eher so'n zivilistisches Weichei,« Mit dem »Dem entsprechend« wird auf die vorgängige Argumentation Bezug genommen, aber es bleibt offen, auf welchen Punkt es sich bezieht oder ob der gesamte Ablauf gemeint ist. Dass er sich umstellen müsste, dass ihm die gesunde Härte fehlt und dass er nicht dafür gemacht ist, kommen als Selbstpositionierungen für den hiermit eingeleiteten Anschluss infrage. Mit der Formulierung, er sei »eher so’n« drückt er sprachlich aus, dass das Folgende nur eine Annäherung an das ist, was er ist, und dass es beiläufig, nicht wertvoll oder unattraktiv ist. Dieses vorfassend-abwertende Moment findet sich in der Formulierung »Weichei« wieder, ein Begriff, der gerade ein Gegenpart zur positiv konnotierten »gesunden Härte« darstellen kann. »Weichei« wird jugendumgangssprachlich als Herabwürdigung verwendet, für jemanden, der irgendetwas
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vermissen lässt, was mit Härte, Durchhaltevermögen oder Mut zu tun hat. Als Selbstpositionierung ist es ungewöhnlich und lässt den Verdacht einer strategischen Verwendung aufkommen. Mit dem Attribut »zivilistisches« vorweg ist das »Weichei« deutlich in den Zusammenhang Strafrichter/Zivilrichter gesetzt, wenn auch mit den gleichen Anmerkungen bezüglich des Begriffs ›Zivilist‹, wie oben versehen (0060). Mit der Eigenbezeichnung »zivilistisches Weichei« stellt sich der Richter auf der einen Seite bloß, eben als ein Richter, der »weich« ist, keinen Mut hat etc. Auf der anderen Seite bringt er diese Eigenschaften unmittelbar mit dem Zivilrichter in Zusammenhang, leitet sie in gewisser Weise als funktionsinhärent von den Anforderungen der Zivilgerichtsbarkeit ab. 0079/80 »so der die Fälle entscheidet nach Beweis auch auch […]« Das »zivilistische Weichei« wird in der folgenden Sprachverwendung zum Zivilrichter oder zumindest zum »Zivilist«, weil in der jetzt gebrachten Erläuterung das »der« als ein maskuliner Artikel verwendet wird. Der »Zivilist« entscheidet »die Fälle nach Beweis«. Wenn dies eine Abgrenzung zum Strafrichter darstellen soll, ist sie noch unvollständig bzw. missverständlich, denn auch der Strafrichter kann nach Beweis entscheiden und tut dies sicherlich häufig. Allerdings hat der Strafrichter die Möglichkeit nach Indizien zu urteilen, was dem Zivilrichter verschlossen ist. Es ist folglich wahrscheinlich, dass der Richter die Stellung oder das Gewicht, das einer Beweisentscheidung beim Zivilfall zukommt, betonen möchte. 0081 »mal zumindest nach Beweislast« Nun wird das Argument weiter spezifiziert mit dem Zusatz »nach Beweislast«. Die Beweislast trägt im Zivilprozess zunächst der Kläger, erst wenn er die Beweise beibringt, nachdem der Gegner einen Sachverhalt bestritten hat, und das Gericht damit überzeugt, landet die Last des Beweises (des Gegenbeweises) bei dem Beklagten. Der Richter muss und darf keinen Beweis selbst ermitteln. Nichtsdestotrotz muss der Richter nach Maßgabe der freien Beweiswürdigung die Entscheidung selbst treffen, ob ihn der Beweis überzeugt. Dies ist und bleibt, genau wie im Strafrecht, eine Frage der persönlichen Überzeugung des Richters. Aber ein fundamentaler Unterschied, der hiermit angedeutet wird, betrifft die Tatsache, dass im Zivilprozess nur die Parteien Beweise beibringen dürfen und müssen (Beibringungsgrundsatz) und das Gericht daran gebunden ist, ganz anders als beim Strafprozess, bei dem durch den Untersuchungsgrundsatz gefordert ist, dass das Gericht eigene Ermittlungen anstellen kann bzw. soll. Eine so gedeutete »Beweislast« liegt demnach bei den Parteien, die dafür zuständig sind, dem Richter die Beweise beizubringen. Er wartet ab, bekommt die Tatsachen und gibt das Recht – ›da mihi factum, dabo tibi jus‹. Nach Beweislast zu entscheiden, bedeutet in diesem Sinne, dass der Richter von den beigebrachten Beweisen und Gegenbeweisen nach der freien Beweiswürdigung nicht überzeugt ist und die Entscheidung aufgrund der Beweislast gegen den entscheidet, der zuletzt etwas beweisen musste.
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Warum aber nun diese Tatsache ein »Weichei« begründen soll, wird noch nicht ganz klar. Der Umstand der freien Beweiswürdigung gilt für Zivil- und Strafrichter. 0081/4 »un nich so knackig sacht ›So hier jetzt auch wenn Du mich monatelang vom Gegenteil fast überzeugen versucht und belogen hast, ich sach trotzdem: Du warst's!‹« Als Gegenpol zum Richter, der nach Beweis oder Beweislast entscheidet, wird nun jemand zitiert, der etwas »knackig« sagt. Das heißt jemand mit Ausdruck, Stehvermögen und Mut – eben einer, der kein »Weichei« ist. Dieser Jemand, der er selbst nicht ist, sagt zu dem Angeklagten (oder Beklagten!), dass er etwas war, etwas getan hat, dass er schuld ist, obwohl derjenige selbst lange versucht hat unter zu Hilfenahme einer Lüge den Richter vom Gegenteil zu überzeugen. Das ist im Ergebnis nichts anderes als eine freie Beweiswürdigung zuungunsten des Angeklagten oder eben Beklagten. Das Gegenüberstellen dieser zwei Positionen erstaunt ein wenig: Während er sich selbst als jemand positioniert, der nach Beweis oder Beweislast entscheidet, ist der andere, der er eben nicht ist, einer der »knackig« sagt, dass jemand schuld ist. Die Aussagen scheinen auf verschiedene Ebenen zu zielen und die Vergleichbarkeit ist nicht unmittelbar erkennbar. Beide genannten Pole könnten in ein und demselben Zivil- oder Strafverfahren von ein und demselben Richter stammen. Im klassischen Zivilrechtsfall der Autounfälle etwa kann die Frage nach dem Fahrzeugführer auf diese Art »knackig« in freier Beweiswürdigung beantwortet werden. Ebenso kann ein durch die Staatsanwaltschaft vermuteter Mordfall bei fehlenden Beweisen und Indizien vor Gericht nach der Beweislast entschieden werden. Die Beweislast liegt zuerst beim Ankläger, wenn er das Gericht nicht überzeugen kann, muss – ›in dubio pro reo‹ – das Gericht »nach der Beweislast« entscheiden: Freispruch. Die zwei unterschiedlichen Ebenen, die nicht durch die Gerichtsbarkeiten und deren Prozessordnungen vorgegeben zu sein scheinen, sind einerseits die Art und Weise, wie der Richter den Parteien gegenüber auftritt, das heißt »Weichei« gegenüber dem, der etwas »knackig sacht«, und andererseits, nach welchen Kriterien entschieden wird. Während auf der ersten Ebene ein quasi persönlicher oder besser: habitueller Unterschied (eben zwischen Zivilrichter und Strafrichter) bestehen könnte, ist auf der zweiten Ebene kein konkreter Unterschied durch seine hier getroffenen Aussagen erkennbar. Die Verbindung dieser Ebenen bleibt noch vage. 0084/86 »also so was eh bin ich halt einfach auch von meiner von meiner juristischen Argumentation her nich so gewohnt, ja [I: Mh]« Mit dem »so was« ist das »knackig« sagen (0081) gemeint und er ist das von seiner »juristischen Argumentation her« nicht gewohnt. Nun wird das zuvor als möglicher Habitus angesehene »knackig« Sagen in den Bereich juristischer Argumentationen verfrachtet, was den Anwendungsbereich spezifiziert. Nun wird auch der mögliche Gegenpol deutlicher: Es geht demnach im Bereich der zweiten Ebene um die juristische Argumentation, das heißt um die Art und Weise, wie mit den gegebenen rechtlichen, prozessrechtlichen sowie tatsächlichen Umständen argumentativ umgegangen wird. In der strafrechtlichen Argu-
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mentation werden Dinge »knackig« gesagt, das ist er nicht gewohnt. Es existiert folglich eine Art und Weise zu argumentieren, die man gewohnt ist und die sich in den beiden Gerichtsbarkeiten unterscheiden. Während etwa im Strafrecht, unserem Richter nach, die freie Beweiswürdigung selbstbewusst, mutig und direkt vorgetragen wird »Du warst‘s« (0084), zieht man sich, so wie er selbst, im Zivilrechtlichen auf prozessrechtliche Argumentationen zurück wie »Die Beweislast wurde nicht erbracht«. 0086/8 »im im- Zivilisten arbeiten halt en bisschen im White-Collar-Bereich.« Auf den abgebrochenen Auftakt »im im« hätte der Anschluss »Zivilbereich« folgen können, aber der Richter wechselt wieder zur eingeführten für ihn typischen Personenbezeichnung »Zivilist«. Jener arbeitet im »White-Collar-Bereich«. Das Arbeiten schließt nun an das zuvor explizierte juristische Argumentieren (0085/6) an und charakterisiert es als im »White-Collar-Bereich« befindlich. Das schafft den Gegenpol zum Strafrichter: Der Zivilist arbeitet argumentativ »soft«, »weich«, ohne »knackige« und (für das Strafrechtliche) gesunde Härte. Es besteht demnach ein sich in der rechtlichen Argumentation herauskristallisierender habitueller Unterschied zwischen Zivilrichter und Strafrichter, der hier angedeutet ist. Dabei handelt es sich um keinen, der nach der Methode der freien Beweiswürdigung zustande kommt. Die sinnhafte Verbindung beider Ebenen suchend bietet sich folgende Überlegung: Nur der Beibringungsgrundsatz kann als strukturelle »Aufforderung« aufgefasst werden, im »White-Collar-Bereich« zu arbeiten im Gegensatz zum Amtsermittlungsgrundsatz, der dem Strafrichter eine mutige, initiativeergreifende Haltung anträgt, die ihn im Verlauf befähigt, etwas »knackig« zu sagen. Diese Interpretation ermöglicht es, den Zusammenhang herzustellen und eine zusammenfassende Aussage zu treffen: Unser Richter sieht sehr wohl, dass er durch seine bisherige Tätigkeit zu einem Zivilrichter geworden ist, und würde dies auch bleiben wollen, wenn nicht weitere mögliche Karriereaufstiege etwas anderes von ihm verlangen. Obwohl er in seiner Amtsrichterzeit alles gemacht hat, haben die strukturellen Anforderungen der letzten Zivilgerichtszeit und sein Ausfüllen dieser ihn zum Zivilrichter werden lassen. Der Beibringungsgrundsatz im Gegensatz zum Amtsermittlungsgrundsatz, der reine Beweisentscheid im Gegensatz zum Beweis- und Indizienentscheid trotz freier Beweiswürdigung und vor allem die darauf aufbauende juristische Argumentation, die sich in Präjudizien habituell vererbt, haben diesen Oberlandesrichter geprägt, haben ihn sich etwas antrainieren lassen. Er richtet nicht »knackig«, sondern »zivirechtelt« hochwertig im »White-Collar-Bereich«, sich selbst kritisch/komisch distanzierend als »rassereinen Zivilist« und »zivilistisches Weichei«. Er sieht sich demnach selbstreflektierend sowohl als Produkt der Justiz als auch als aktiver Antrainierer. Interessant ist die Verwendung des Gegensatzpaares ›harter Richter‹/›weicher Richter‹ nicht innerhalb eines ›Gerichtsbarkeits‹-Typus zur Charakterisierung der Persönlichkeit eines Richters, wie es insbesondere etwa beim Strafrichter geschieht
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(vgl. hierzu: Jugendrichter-Forschung in Abschnitt 1.2.2.5), sondern über diese Grenzen hinweg, so dass die Eigenschaftszuschreibung fortführt von der Persönlichkeit eines individuellen Richters hin zu einer funktionsabhängigen Eigenschaft, die besonders durch Habitualisierungen von Argumentationen innerhalb der ›Gerichtsbarkeit‹ bedingt ist. Bezogen auf die begonnene Tabelle kann nun ergänzt werden: (a) nicht machen, nicht sein, nicht gewohnt sein
(ab) hypothetisches Machen (b) als Sachen machen (c) als sein
Person
heute Freiwillige Gerichtsbarkeit, Strafrichter in dem Sinne, »Knackig« sagen und argumentieren »Du warsts«, »Gesunde Härte« antrainiert haben (Amtsermittlung): ›harter Richter‹-Typus nur wenn man (karrierebedingt) müsste, Strafsachen mit Umstellung möglich am Rande Strafsachen, Arbeiten im »White-Collar-Bereich«, (Beibringungsgrundsatz) »rassereiner Zivilist«, »zivilistisches Weichei«, (Zivilrichter): ›weicher Richter‹-Typus
früher große Strafsachen, ›harter Richter‹Typus
alles (was am Amtsgericht gemacht werden kann) Amtsrichter
Abbildung 9: Selbstpositionierungen ›Gerichtsbarkeiten‹ und Karrierestationen Teil 2
3.2.1.2
Rechtlich und sachverhaltlich Arbeitende
Ein zentrales Element der Selbsttypisierung hinsichtlich einer ›Gerichtsbarkeit‹ – so soll die ergänzende ›Codeanalyse‹ u. a. zeigen – ist die jeweilige Affinität des Richters zu der ausgeübten oder ehemals ausgeübten oder auch nur sich vorgestellten auszuübenden Gerichtsbarkeit. In den Beschreibungen der Abneigungen und Zuneigungen zu bestimmten Gerichtsbarkeiten (oder Rechtsgebieten) kommt eine deutliche Selbstpositionierung zum Tragen, die systematisch auch unter der intrinsischen Motivation gefasst wird (vgl. Abschnitt 3.4). Als Begründungen von Affinitäten zu Gerichtsbarkeiten werden, neben dem in der Fallanalyse detailliert ausgearbeiteten habitualisierten Argumentationsunterschied von ›hartem‹ und ›weichemRichter‹-Typus, weitere Motive erkennbar.
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Hierzu gehören die Unterscheidungen von materiell-rechtlicher Arbeit versus Sachverhaltsarbeit als Trennung von Zivilrechtsfällen und Strafrechtsfällen. Dieses typische Argument an den Fronten der ›Gerichtsbarkeiten‹ bezieht sich auf die Affinität zum juristisch Herausfordernden, welches hauptsächlich der Zivilgerichtsbarkeit zugeordnet wird, denn »im Zivilbereich ist das doch noch mehr, dass man rechtlich arbeitet« [D23:17]. Eine Verwaltungsrichterin wiederum unterscheidet die verwaltungsrechtlichen Fälle deutlich von zivil- und strafrechtlichen, in dem sie auf die Arbeit am Sachverhalt eingeht: »Also die meisten verwaltungsrechtlichen Fälle zeichnen sich ja dadurch aus, dass ist es eben auch ein Unterschied zum Strafrecht und zum Zivilrecht, dass man eigentlich weiß, wie der Sachverhalt is. Der ist meistens unstreitig.« [D6:14] Wichtiges Unterscheidungskriterium ist demnach, woran und wie viel am Rechtlichen und wie viel am Sachverhalt gearbeitet wird. Die entsprechende Selbsttypisierung als ›Zivilrichter‹, ›Strafrichter‹ oder ›Verwaltungsrichter‹ impliziert ein unterschiedliches Gewicht bezüglich rechtlicher Arbeit und Arbeit am Sachverhalt in Qualität und Quantität. Wenn allerdings andere intrinsische Motivationen in den Vordergrund rücken (siehe Abschnitt 3.4), wenn etwa der »erzieherische Gedanke« [D22:22] dem des rechtlich anspruchsvollen Arbeitens vorgezogen wird, kann es zu folgenden Äußerungen kommen: »ich mag meine Jugendstrafsachen lieber als die Zivilsachen« [D22:8]. Auch der Kontakt mit der Art der »Klientel«, die »ganz anders« sei in der Strafgerichtsbarkeit, lässt einen Richter unter Umständen am »liebsten Zivilsachen« machen, »Strafsachen will ich nicht haben. Gar nicht.« [D23:11]. Für einen anderen Richter war bedeutend, dass ein Fall »wirklich spannend« war, dass er »mit sehr interessanten Fällen konfrontiert« wurde und es »bis hin bis in größte Verflechtungen Wirtschaft, auch Politik« ging [D26:15]. Dies war für ihn der Fall, als er mit Wirtschaftsstrafsachen zu tun hatte. Selbiger Richter, der einige Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter öffentlich-rechtlich tätig war, ließ sich aber von einer sehr kurzen Zeit im Referendariat (vor dieser wissenschaftlichen Tätigkeit) mit einem nur ausschnittartigen Einblick in die Verwaltungsgerichtsbarkeit von jener abschrecken: »Die Materie, die Kammer in der ich beim VG in (Ort31) tätig war, die beschäftigte sich mit Wohngeld und Sozialhilfe für abgelehnte Asylbewerber und beides fand ich wenig spannend. […] Vom Rechtlichen und vom Tatsächlichen her, das sind also 0,1 Prozent vielleicht die Rechtsmaterie, auf gut deutsch, ich fand's grausam.« [D26:14]
›Basis‹-Dimensionen
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Wir sehen an diesem Fall exemplarisch, was in den Untersuchungen für viele Vorlieben und Abneigungen von Richtern gegenüber anderen (als der eigenen) ›Gerichtsbarkeiten‹ festgestellt wurde (unabhängig von zusätzlichen Motivlagen): Ein oft nur kurzer und begrenzter Einblick in ein Dezernat eines partikularen Bereiches einer Gerichtsbarkeit prägt die »Meinung über« diese gesamte Gerichtsbarkeit. Hier kann sich die Frage anschließen, ob Prägungen in der allgemeinen juristischen Ausbildung, das heißt dem Studium und dem Referendariat, derart vorleitend sind, dass Sie die spätere Affinität und Wahl durch den jungen Richter stark determinieren. Festzuhalten ist im Ergebnis, dass die ›Gerichtsbarkeiten‹ zwar starke »Zugehörigkeits«-Typisierungen hervorrufen, aber über die abgrenzende Kraft, oft von Erfahrungen und den damit in Verbindung zu bringenden Vorurteilen herrührend, wenig inhaltlich darüber Hinausgehendes darstellen. Es sind Vorlieben, bei denen man sich letztlich nicht ganz sicher ist, ob sie aus Gewohnheit, Passion oder einer Mischung aus beidem herrühren oder aus einer Gegenreaktion zu unsystematischen und stichpunktartigen Einblicken in nicht gemochte Tätigkeiten anderer ›Gerichtsbarkeiten‹. Andererseits lassen sich die schon in der juristischen Ausbildung vermittelten Standardnarrative wiederfinden, die einen Zivilrichter eher als rechtlich arbeitenden, den Strafrichter eher als sachverhaltlich Arbeitenden darstellen. Dieser selbstpositionierende Hinweis auf richterliche Arbeitsweisen wird in der exemplarisch tiefergehenden Fallanalyse als funktionsabhängige Eigenschaft spezifiziert, die durch Habitualisierungen von Argumentationen innerhalb der ›Gerichtsbarkeit‹ bedingt ist.
3.2.2
Verantwortlichkeit: Vom ›Eigenen Herr‹- und ›Kollegialrichter‹-Typus
Unter der ›Basis‹-Dimension der ›Verantwortlichkeit‹ wird die Unterscheidung des Einzelrichters und Kollegialrichters näher untersucht. Es gab ausreichende Hinweise, dass die Richter hinsichtlich dieser Dimension ein Selbstverständnis ausbilden, auch wenn es keinen zentralen Stellenwert hat. Es geht dabei nicht um die verfasste Regelung, welche als Rahmenbedingung genannt worden ist (siehe Abschnitt 1.2.1). Vielmehr geht es hier nun um die Selbsttypisierungen der Richter hinsichtlich dieser Dimension, um arbeitspraktische Affinitäten. Die plakative Zweiteilung entspricht dabei nicht ganz den empirischen Realitäten, sondern bringt idealtypisch auf den Punkt, welche Anteile der ›Verantwortlichkeit‹ stärker oder schwächer ausgeprägt sind. Verantwortung bedeutet Machtzuwachs, aber auch Bürde, die bisweilen beunruhigen kann. Wenn von dem üblicheren Weg, den Proberichter erst einmal in einer Kammer als Mitentscheider (statt gleich: Einzelentscheider) zu nehmen, abgewichen wird, ist der Schock des Praxiseinstiegs ungebremst:
116
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
»Aber ich muss auch sagen, dass ich eine gewisse Angst hatte vor der Übernahme der Verantwortung, denn während der Referendarzeit (-) machen sie ja k- keine Sache eigenverantwortlich. Sie legen alles vor und dann kommt das Examen und von heute auf morgen sind sie (-) allein entscheiden, wenn sie nicht inner Kammer Leute haben, die mitentscheiden. Davor hatte ich also ne gewisse Angst. Das [I: Mhm.] kann ich also nicht bestreiten.« [D5:35] Dieser heutige Oberlandesrichter war viele Jahre am Amtsgericht, bevor er doch noch seine weitere Erprobung machte und dann sogar zum Senatsvorsitzenden wurde. Wenn er heute zurückblickt, sieht er einiges, was ihn aus der Einzelrichtertätigkeit am Amtsgericht befähigt hat, Vorsitzender zu werden: »Ehm und die Zeit eh war für mich besonders wichtig, weil mhm man als Amtsrichter ja ohne den Schutz sozusagen der Kammer ((Räuspern)) ohne den Schutz des Vorsitzenden, der die organisatorischen Fragen eh da zuständig ist, sich vor einen stellt, die Sitzung leitet, den Kontakt mit den Anwälten führt. Das muss man am Amtsgericht alles selber machen (-) und eh das ist mir für die spätere Tätigkeit, so meine ich, ehm sehr zugute gekommen.« [D5:38] Es ist folglich nicht nur die Eigenverantwortlichkeit bezüglich des Urteils bzw. der Lösung des Falles, sondern es ist auch eine Managementfähigkeit mit vielen Interaktionsanforderungen, die den Einzelrichter – zumindest am Amtsgericht – ausmacht. Er entwickelt Fähigkeiten und Energien, die Dinge zu gestalten. Ähnliche Fähigkeiten werden auch vom Vorsitzenden verlangt, wie wir vernommen haben, auch wenn er eine rechtliche Verantwortlichkeit im Kollegium hat. Wenn es zu dem Umstand kommt, dass ein durchaus geübter früherer Amtsrichter und Vorsitzender eines Landgerichts als Beisitzer an einen Senat kommt, dann kann es durchaus Mangelerscheinungen geben: »Das is mir anfangs en bisschen schwergefallen, weil ma halt es wirklich nich gewohnt is ähm so'n ganzen Tach nichts zu sagen oder fast nichts zu sagen. Das strengt eh im übrigen tatsächlich unglaublich an ja, weil [I: Mhm] wenn man also eigentlich nur aufpasst, dass ma alles mitkriegt, aber eh nich aktiv dabei is, es eh is also en kopfschmerzenträchtiges Geschäft eigentlich fast, weil ma so so es die Energie, die ma hat verpufft so en bisschen ja.« [D10:26] Wir sehen hier, dass es nicht nur um die rechtliche Verantwortlichkeit geht, sondern auch um eine Verantwortung für das Drum und Dran. Eine solche ›Verantwortlichkeit‹ lässt den jeweiligen Vorsitzenden eines Kollegiums zu einem Hybrid aus Einzelrichter und Kollegialrichter werden. Nicht jeder Beisitzer wäre gerne mehr in Aktion, wie aus obigen Beispiel ersichtlich, oft ist der Beisitzer jemand, der seine ›Verantwortlichkeit‹ auch ohne das Drum und Dran versteht und sich in der geschützten Position wohlfühlt. Bei wortgewaltigen Vorsitzenden kann der Beisitzer
›Basis‹-Dimensionen
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durchaus mit Müdigkeit zu kämpfen haben. Der neckische Ausdruck des »Beischläfers« anstelle des Beisitzers fußt nach unseren Beobachtungen auf empirischer Realität. Wie der Einzelne seine Situation empfindet, als glückliche oder unglückliche, hier scheiden sich die Typen in der Selbstbeschreibung hinsichtlich der erweiterten ›Verantwortlichkeit‹. Während der Einzelrichter am Amtsgericht ein richtiger Einzelrichter im Sinne des Idealtypus der erweiterten ›Verantwortlichkeit‹ ist, kann auf der anderen Seite in unserem Untersuchungsfeld der Beisitzer am Oberlandesgericht als Kollegialrichter angesehen werden. Letzterer hat aber Einzelrichteranteile, wenn auch nur wenige: »Also hier am OLG is es ganz, ganz selten, also ich würde mal sagen fünf Prozent der Fälle macht man als Einzelrichter« [D11:10]. Wie auch immer die durchschnittlichen Zahlen faktisch beschaffen sein mögen, fest steht, dass die Selbstwahrnehmung dieser Tätigkeit als subjektive Perspektive einen sehr geringen Stellenwert einnimmt. Das Ausleben des Einzelrichteranteils an einem Oberlandesgerichtssenat kann innerhalb der strukturellen Gegebenheiten nach persönlichen Vorlieben variieren: »Wenn man also schon eh in der- noch in der Phase ist, dass man Beisitzer ist, kann man ja als Einzelrichter auch schon ne Menge machen, nich. ((Stammeln)) Auch hier gibt's also ein ein Kollegin hier im Senat, die hat jetzt also neulich gerade auch ne Sache gehabt, die hat sie als Einzelrichter hat sie die Anwälte soweit gebracht, dass sie die als Einzelrichter entscheidet, nich. Das ist bei uns auch möglich, aber nur (-) in eh, wenn die wenn beide Parteien zustimmen. Und ehm das hab ich also früher auch versucht, wenn ich die Sache schon als Einzelrichter hatte und Beweis erheben musste, dann hab ich also versucht die Anwälte dazu zu bringen, dass se da- die Sache nicht noch mal im Senat verhandelt werden musste, ne. Also sie können sich als Einzelrichter das auch, wird individuelle auch ganz unterschiedlich gemacht, einige, die beschränken sich drauf, dem Vorsitzenden ihre Voten vorzulegen und ma- hinterher das Urteil zu machen und andere entwickeln also eh Aktivitäten in den, wenn sie eine Sache zu fassen kriegen als Einzelrichter. Da gibt's also große Spielräume wie man eh mit den Sachen umgeht, ne. Was sich nicht immer auf's Ergebnis eh niederschlägt. Das Ergebnis kann in dem einem und in dem anderen Fall gut oder schlecht sein.« [D4:13] Wie wir aus diesem etwas längeren Stück erfahren, haben wir in diesen prinzipiell als Kollegialrichter geltenden Beisitzern eine Varianz: Zum einen beschränken sie sich fast idealtypisch darauf, »dem Vorsitzenden ihre Voten vorzulegen« und »hinterher das Urteil zu machen«. Zum anderen gibt es auch Richter, die »entwickeln […] Aktivitäten […] als Einzelrichter«. Nun darf dieser Einzelrichteranteil natürlich nicht überbewertet werden, er liegt im kleineren Prozentbereich, markiert aber nicht zuletzt durch die Reformen der Zivilgerichtsbarkeit der letzten Jahre auch einen Trend, der den idealtypischen Kollegialrichter immer mehr verdrängt. Besonders auffällig wird
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
dies an den Landgerichten, die zwar schon früher die Möglichkeit hatten, den Einzelrichter zu bestellen, und dies in höchst unterschiedlicher Weise und Intensität auch gemacht haben, aber nun noch verstärkter auf die Verantwortung als Einzelrichter setzen: In Bayern etwa hat die Einzelrichtertätigkeit erster Instanz an den gesamten Landgerichten von 24 bis 25 % in den Jahren 2000 bis 2001 auf 44 bis 45 % in den Jahren 2003 und 2004 zugenommen (Bayrisches Landesamt für Statistik 2004), sicherlich ein Indiz für die Folgen der Reformen in jenen Jahren. Doch diese Durchschnittszahlen täuschen ein wenig über die Varianz an den Landgerichten hinweg, wie folgender Fall zeigt: »Beim Landgericht war ich in der Kammer und eh, wobei die Kammer damals überwiegend Einzelrichtersachen gemacht haben. Ich glaube, ich kann jetzt nur schätzen, vielleicht so 70 Prozent. Also das war damals die Kammer, die am meisten Einzelrichtersachen gemacht hat.« [D12:8] Oft sind das sehr breit gefächerte Kammern, was die Sachen angeht, mit einem hohen Grad an Routinefällen. Dann gibt es wieder Kammern, zum Beispiel Spezialkammern für ausgefallenere Dinge, die fast ausschließlich im Kollegialgericht arbeiten. Es gibt aber keine gesicherten Zahlen für diese Verhältnisse. Wir sehen aus diesen Betrachtungen, dass in unserer ›Basis‹-Dimension der ›Verantwortlichkeit‹ ein stark konturiertes Bild des Kollegialrichters weniger deutlich herauszuarbeiten ist als das des Einzelrichters. Das liegt daran, dass der Einzelrichter in Anteilen bei jedem Richter vorhanden ist, wie am Kontrastfall des Beisitzers am Oberlandessenat empirisch gezeigt wurde. Strukturell ist hier auch eine Verbindung zur ›Unabhängigkeit‹ (siehe hierzu Abschnitt 3.5) gegeben, die sprachlich in diesem Zusammenhang als Freiheit beschrieben wird: »Dann mußte ich feststellen, die Leute arbeiten ordentlich, die arbeiten auch nicht wenig, aber das ist, die Freiheit, die man als Amtsrichter hat, [I: Hm.] und ich wollte auch immer zum Amtsgericht. Also Landgericht mit Kammer das ist alles ganz schön, man hat mehr Ruhe. Man kann zum Teil auch fast schon wissenschaftlich arbeiten, allein aufgrund der besseren äh Möglichkeiten, Bibliotheken und dergleichen. Aber die Freiheit, die man als Amtsrichter hat, [I: Hm.] die ist einfach groß, ne.« [D20:11] Diese große Freiheit bedeutet konkret zum Beispiel: »Aber ich habe das ja auch gewählt, um selbständig zu arbeiten, ne. Also um meine Rechtsprechung so zu verwirklichen.« [D8:15]. Die eigene Rechtsprechung in großer Freiheit verwirklichen kann der Einzelrichter gegenüber den im Kollegium gebundenen Richtern. Gleichzeitig charakterisiert sich dieser Einzelrichter damit als jemand, der weniger gerne mit Richterkollegen über Rechtsfragen verbindlich diskutiert, wie es etwa folgender Kollegialrichter tut:
›Basis‹-Dimensionen
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»Ich eh- n Spruchkörper, ja, schon, weil ich also schon finde, dass man- dass auch das eh die Auseinandersetzung mit den Kollegen über irgendeine Sache sehr angenehm sein k- also sehr, ja, find ich eigentlich ausgesprochen interessant, sich über irgendwelche Rechts- (-) probleme, die man gemeinsam hat, zu unterhalten.« [D7:18] Solche Vorlieben charakterisieren die Kollegialrichter und zeigen die Grenzen zum Einzelrichter auf. Derselbe Richter führt seine Unterscheidung fort und gleichzeitig einen wichtigen In-vivo-Code ein: »Andere finden es eben ganz toll und sagen: ›Ich bin mein eigener Herr. Ich mach alles selber. Ich bestimm es selber, wann ich was mache. Eh ich entscheid es selber. Ich brauch n- niemandem zu rechtfertigen‹ und so weiter. Das ist eben halt ne andere Einstellung.« [D7:27] Dennoch ist dieser Kollegialrichter-Typus-Anteil bei den Richtern insgesamt nicht nur weniger stark präsent als der Einzelrichter-Typus und in einigen Bereichen gar nicht, sondern ist historisch betrachtet auf dem Rückzug (siehe z. B. bezüglich der Reformen oben). Wenn man die Selbstpositionierungen der Richter betrachtet, so stellt sich weniger ein Gegensatz heraus als die Entstehung eines Typus, der sich lediglich über die Quantität der unterschiedlichen Verhältnisse von EinzelrichterTypus-Anteilen mit Kollegialrichter-Typus-Anteilen erhebt: der ›eigene Herr‹. Der ›eigene Herr‹-Typus kommt dem Ideal-Einzelrichter nahe, wobei zu ihm generell die Vorsitzenden des jeweiligen tagenden Gerichts zählen, das heißt auch die Vorsitzenden eines Kollegialgerichts, sei es eine Kammer oder ein Senat, mit oder ohne Laien besetzt. Ein Vorsitzender schildert sich dabei wie folgt: »Ich bin mein eigener Herr hier, nicht. Ich mache meine eigenen Termine. Ich kann meinen Urlaub nehmen wann ich will. Ich habe keinen- ich ich ich bin der Vorsitzende, also leite die Sitzung. Sie wird nicht für mich geleitet. Ich gestalte aktiv.« [D18:12] Der ›eigene Herr‹-Typus ist der Gestalter, der Macher, der Bestimmer. Er setzt die Termine an, auch seinen Urlaub, er führt die Sitzung. Ist er ein Einzelrichter, so hat er auch noch hinzukommend das alleinige Sagen, was die rechtliche Lösung des Falles angeht. An einer solchen Stelle muss ein ›eigene Herr‹-Typus, der zugleich Kollegialrichter ist, Kompromisse schließen oder eben, dann als ›Kollegialrichter‹Typus Freude oder zumindest Sinn an den gemeinsamen Rechtsgesprächen finden. Schematisch lässt sich folgende Bild entwerfen:
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
klassische Einzelrichter (nur ordentliche Gerichtsbarkeit)
Beisitzende
Vorsitzende eines Kollegialgerichts
›Kollegialrichter‹Typus
›eigener Herr‹-Typus
Abbildung 10: Typen der ›Verantwortlichkeit‹
Die Analyse soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Wir sehen aber bereits, dass die ›Basis‹-Dimension der ›Verantwortlichkeit‹ einen Typus, den ›eigener Herr‹, erschafft bzw. ihm optimale Rahmenbedingungen für seine Entfaltung gibt. Des Weiteren gibt es einen etwas weniger konturierten ›Kollegialrichter‹-Typus, der aber nur in Personalunion mit unterschiedlichen Anteilen des ›eigener Herr‹-Typus vorkommt. Aus letzterem Grund sind beide auch keine extremen Antagonisten. Die Stärkung des Einzelrichteranteils im Gesamtverhältnis fördert möglicherweise die Effektivität, da explizite Qualitätsunterschiede in Bezug auf die Messung über Berufungsverfahren nicht nachgewiesen werden konnten (vgl. Rimmelspacher 2000: 203), auf jeden Fall aber die Individualität. Die Folge einer weiteren Verstärkung jedoch, so könnte man eine Art Prognose formulieren, wird die Zunahme des ›eigenen Herr‹-Selbstverständnisses sein in einer Richtung, wie sie hier zunächst nur angedeutet wurde (im Verständnis einer »großen Freiheit«) und im Zusammenhang mit weiteren Typen (›Methodenmonist‹ oder ›Richterkönig‹) ein Gefahrenpotential für die Justiz beinhalten könnte (vgl. dazu Abschnitt 3.5.2 (D25:5)).
›Basis‹-Dimensionen
3.2.3
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Von der Last der ›Anforderung‹
Die ›Basis‹-Dimension ›Anforderung‹ ist eine zusammengefasste Dimension aus den gerichtsverfassten Elementen der Instanz, der Gerichtsebene und dem Rechtsgebiet (der »Art« der Sache). Richterliche Selbstpositionierungen lassen sich durch ein einzelnes Teil dieser ›Anforderungen‹ nicht ausreichend erklären, sondern nur in einem Zusammenspiel dieses Konglomerats. Mit den ›Anforderungen‹ an die Richter sind zuallererst die Erledigungserwartungen zu verstehen, die über den jeweiligen Pensenschlüssel ausgedrückt werden. Sie sind dabei unmittelbar mit den Instanzen, aber auch der Gerichtsebene und dem Rechtsgebiet (der Art der Sache) gekoppelt. Kernelemente der Erledigungserwartungen sind die Eingangszahlen, der Bestand und der Umfang bzw. die Schwierigkeit einer Sache. Auf einen mit den ›Anforderungen‹ zusammenhängenden alternativen Wettbewerb zur Karriere wird bei den ›Antriebs‹-Dimensionen (siehe Abschnitt 3.4.2) noch näher eingegangen. Die mit der Gerichtsebene zusammenhängende Unterscheidung zwischen Einzelrichter und Kollegialrichter wurde unter der ›Verantwortlichkeit‹ (siehe Abschnitt 3.2.2) analysiert. Die Last der ›Anforderung‹ – Der vor die Akte geworfene Richter67, der in diesem Akt seine Unterworfenheit dem Verwaltungssystem gegenüber realisiert, muss seinen Eingangsstapel abarbeiten. In den juristischen Fragen hat er viele Freiheiten, die in seiner ›Unabhängigkeit‹ verbürgt sind (siehe hierzu Abschnitt 1.2.1 und 3.5); hier im Aktenstapel, oft gebracht von einem Gerichtsdiener, offenbart sich, wovor er nicht ausweichen kann, wo er nicht durch dieses oder jenes Geschick etwas anderes machen kann – darin sind sich alle Richter gleich. Ein Richter, der nicht an diese Arbeit geht, ist uns empirisch nicht begegnet, wenn es ihn gab, so wird er nur wenige Tage auf seinem Dezernat gewesen sein, zu hoch ist die ständige soziale Kontrolle und Funktionseinforderung durch Geschäftszimmer bzw. Serviceeinheit und die Verwaltungshierarchie, aber auch durch Anwälte, Staatsanwälte oder Naturparteien. Zum Grenzbereich des Nichtabarbeitens der Aktenstapel gibt es hingegen sehr interessante empirische Hinweise, die sich in individuelle Leistungsfähigkeit, strukturelle Gegebenheiten des Dezernats und spezifische Abgrenzungsbemühungen der Richter unterscheiden lassen. Die einzelnen Bemühungen eines Richters hinsichtlich des Abarbeitens können sehr differieren, sie können etwa zu langsam sein. Richter reden dann zum Beispiel davon, dass ein Kollege ein Dezernat »absaufen« lässt [D1:32]. Im Extremfall werden solche Richter zwangsversetzt oder müssen wegen gesundheitlicher Pro67 Diese Bild wurde hinsichtlich der rein physikalischen Abläufe absichtlich umgekehrt, um die Unausweichlichkeit der Situation für den Richter zu pointieren. Eine Assoziation zum GeworfenSein Heidegger’scher Prägung ist impliziert.
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
bleme »pausieren«. Wenn sie dann wiederkommen, kann das zu Problemen unter der Kollegenschaft führen: »Er hat neulich erwähnt, er wolle gerne wieder anfangen zu arbeiten, aber er wolle nicht wieder seine alte Kammer […] er merkte [dann aber], dass keiner seinen Schweinestall haben wollte.« [D1:35] Die persönliche Zuneigung zu jenem Richter vonseiten seiner Kollegen scheint begrenzt. Der Wunsch des aus einer Pause wiederkehrwilligen Richters, nicht wieder seine alte Kammer nehmen zu wollen, trifft auf der Seite der Kollegenschaft auf merklichen Widerstand. Die drastische Schilderung der Hinterlassenschaft als »seinen Schweinestall«, den der Richter zuvor hat »absaufen« lassen, und der wenig empathisch wirkende Widerstand, seinem alten Kollegen in dieser Situation zu helfen, impliziert, dass es sich aus Sicht der Kollegenschaft nicht um eine unverschuldete gesundheitlich bedingte Zwangspause handelt, sondern um eine persönlichkeitsbedingte Selbstverschuldung. Dies unterstellt den Richtern eine grundsätzliche Hilfsbereitschaft ihren Kollegen gegenüber, wie sie sich häufig feststellen ließ. Eine in die Jahre gekommene Richterin schildert ihr momentanes Pensum, welches etwas unterhalb derjenigen der Kollegen liegt, mit dem Zusatz: »Es liegt einfach daran, dass die Kollegen vielleicht aufgrund meines vorgerückten Alters mich jetzt etwas entlastet haben« [D22:14]. In folgendem Fall, in dem einem Kollegen durch Übernahme von Fällen geholfen wurde, bemerkt ein Richter fast mitleidig: »Wir haben jetzt auch eine ganz unglückliche Sache am Gericht, mit einem Kollegen, der ein bisschen langsamer ist, er ist kein schlechter Jurist, aber er kriegt die Sachen nicht vom Schreibtisch.« [D12:16] In beiden Fällen konnte der betroffene Richter seinen ›Anforderungen‹ nicht richtig gerecht werden und es kam dadurch zu Maßnahmen durch die Kollegenschaft bzw. Diensthierarchie, um die Funktion des Gerichts nicht weiter zu beeinträchtigen. Das heißt auch, dass es über die je einzelnen individuellen ›Anforderungen‹ an den Richter eine Art kollektive Gesamtanforderung an die Kollegenschaft als Gericht gibt. Nicht immer haben individuelle Widerstände gegen anstehende Fälle weitergehende Konsequenzen, insbesondere nicht, wenn es sich im Rahmen eines ansonsten funktionierenden Dezernats hält. So etwas passiert bisweilen, wie folgender Fall zeigt: »Es gibt immer ´n paar - ja, sind immer so Fensterleichen, wo man äh immer mal wieder noch mal beiseite schiebt, da, ich denke, da kann sich kein Kollege frei machen« [D22:21]. Der Umgang mit den ›Anforderungen‹ ist demnach durchaus graduell zu verstehen, von ein paar beiseitegeschobenen Akten bis hin zum Absaufen eines Dezernates. Wenn die Last zur Lust zu werden scheint, der Richter beginnt, eine Art Wettbewerb aus den ›Anforderungen‹ zu gestalten oder sie als Mittel des Karriereaufstiegs zu ver-
›Basis‹-Dimensionen
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stehen sucht, gewinnt dies bezüglich der Selbsttypisierungen einen anderen Charakter, der unter den ›Antriebs‹-Dimensionen analysiert wird (siehe Abschnitt 3.4). Der Erledigungserwartungsdruck trifft in jedem Fall auf die je individuelle Leistungsfähigkeit (oder Leistungsbereitschaft), die den Stellenwert des Abarbeitens (als Last oder Lust) für den je einzelnen Richter definiert. Ein anderer Aspekt der Last der ›Anforderung‹ wird in strukturellen Gegebenheiten von Dezernaten sichtbar. Auf spezifischen Dezernaten, die für einen jeweiligen Richter von vornherein zeitlich begrenzt sind, werden unliebsame Akten ungleich häufiger »geschoben«. Ein solches »Hüpferdezernat« [D12:30] zumeist ein »Assessordezernat« [D5:30] ist prädestiniert für die Versuchung, unliebsame Fälle ruhen zu lassen. Kaum ein Richter möchte sich in seiner Erprobungszeit die Zähne an einem Fall ausbeißen, den sein Vorgänger wohlwissend aufgeschoben hatte. Das kann zu Problemen führen, die der einzelne Erprobungsrichter nur zum Teil, der jeweilige Vorsitzende zum anderen Teil zu verantworten hat [D5:31]. Solche spezifischen Dezernate bilden strukturelle Gegebenheiten, die einen spezifischen Umgang mit der Last der ›Anforderung‹ erwirken. Ein dritter Aspekt ist die Zuständigkeit. Diese wird von den Richtern besonders unter die Lupe genommen, um unnötige Arbeit zu vermeiden. Nur was man machen muss, wird auch gemacht: »Ich guck bei den Neuzugängen immer erst: bin ich überhaupt zuständig« [D13:1]. Diese Vorgehensweise ist prozessrechtlich sogar gefordert, doch der Richter fährt fort: »Sie dürfen das richterliche Phlegma auch nicht vergessen. Jede Sache die man los ist, ist man los.« [D13:2]. Die individuelle Motivation hinter der Prüfung ist folglich zumindest auch vom »richterlichen Phlegma« geprägt und stellt eine Verbindung zur intrinsischen Motivation der Aufwandminimierung her (siehe Abschnitt 3.4.6.2). Die Prozessordung und ihre Auslegung gibt dem Richter folglich ein Instrumentarium an die Hand, um die Grenzen seiner Last der ›Anforderung‹ in einem kleinen Rahmen mitzudefinieren. Das »Abbauen« von Fällen und deren Bestandszahlen, mit der Unausweichlichkeit der Last der ›Anforderung‹ verstanden, ist über die gesamte Richterschaft verteilt deren Hauptfunktion. Sie ist in quantitativer Hinsicht der von der Gesellschaft erwartete originäre Sinn des Richters unter der Bedingung der qualitativ garantierten Herstellung von »Gerechtigkeit«. Richterliche Selbsttypisierungen setzen sich dabei mit der individuellen Leistungsfähigkeit sowie der gegenseitigen Abgrenzung dieser auseinander und sind von den Strukturen der Dezernate und den Möglichkeiten des Umgangs mit den Zuständigkeiten geprägt. Faule Beamtenrichter? – Häufig wird die berufliche Situation von Richtern aufgrund ihrer lebenslangen Anstellung mit der von Beamten verglichen. Dieses
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Alltagsbild vom »Sesselsitzer« mündet zuweilen in den bekannten Beamtenwitzen wie etwa dem des »Beamtenmikado«68. Richter verwehren sich allerdings dagegen: »Ja, ja, die Justiz, gerade unsere Ziviljustiz ist sicherlich nicht langsam, alles andere als langsam, wenn man es misst an der unglaublichen Arbeitslast, die die Betroffenen zu bewältigen haben, ne, und an der- wenn wenn nicht die hohe, wenn das Richter, die die überwiegenden Zahl der Richter ein sehr, sehr hohes Arbeitsethos hinzukäme, ja, dann wären wir schon längst zusammengebrochen, ne. Wenn wir wirklich so, wie das oft kolportiert wird, wenn hier Beamtentypen säßen, ne, die nix Besseres zu tun hätten, als sich einen schlauen Lenz zu machen, dann lief der Laden hier nicht.« [D18:29] Hier sollen weder die Beamten noch die Richter gegen eine sicherlich auch als Staatskritik und Ohnmachtsabbau zu verstehende »Volksbelustigung« verteidigt werden. Dennoch sei gesagt, dass wie so oft solche Vorurteile einer dezidierten Betrachtung der Arbeit nicht standhalten. An vielen Stellen im Material lässt sich andererseits nachweisen, dass der Richter in seinen nicht beruflichen Kontakten mit diesem Bild konfrontiert wird. Da werden die gängigen Phrasen vom »nachmittags Tennis spielenden Richter« oder des »Sie sind ja schon wieder zu Hause« repetiert, und die Richter müssen sich entweder verteidigen oder resignieren nach vielen erfolglosen Versuchen, dass Bild zu verändern: »Wenn ich aber zu Haus, meinetwegen um sechs Uhr abends ne Akte lese oder auch um zehn oder Sonntagsmorgens, dann sagt: ›Der [Richter] sitzt im Sessel und liest irgendwas.‹ Ma- macht keine Arbeit sozusagen, ja. Das ist ja die Vorstellung der Leute. Wenn ich hier bin, arbeite ich, obwohl ich 1.000 mal in der Kantine sein kann. [A: Ja.] Bin ich zu Hause, sagt selbst ein Nachbar, der mich 20 Jahre kennt: ›Bist du schon wieder zu Hause?‹ Ich kann es ihm nicht vermitteln und ich hab's inzwischen auch aufgegeben. Ich sag dann jetzt: ›Klar bin ich zu Hause. Ich tu ja nichts mehr.‹ und so ungefähr. Und deswegen ist es ganz [I: Ja.] ganz schwer zu sagen, wie unsere Stunden unsere stundenmäßige Belastung ist. Das kann man, kann man ga- ganz schlecht sagen. D- das kann ich ihnen auch nicht beantworten.« [D5:82] Dass Richter aufgrund ihrer Freiheiten (siehe hierzu Abschnitt 1.2.1 und 3.5) und ihrer grundsätzlichen Begabung auch und im Besonderen dazu neigen können, ihren Arbeitsalltag so ökonomisch zu gestalten, dass sie sich persönliche Freiräume schaffen können, sei zumindest gestattet, als Arbeitshypothese gelten zu lassen (siehe hierzu Abschnitt 3.4.6.2). Aber so schön das klingen mag, ein Richter muss sich einen solchen Zustand oft erst einmal hart erarbeiten, wenn es überhaupt 68 »Was ist Beamtenmikado? – Wer sich zuerst bewegt, hat verloren!«
›Basis‹-Dimensionen
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möglich ist auf seinem spezifischen Dezernat. Oder er kommt durch »Glück«, wenn er es denn als ein solches betrachten mag, auf eines der eher seltenen Leerdezernate. So gibt es beispielsweise durch wirtschaftsstrukturelle Umwälzungen Dezernate an Arbeitsgerichten, die kaum noch etwas zu tun haben, ein Richter, der es auf seine ›Unabhängigkeit‹ im Sinne seiner Unversetzbarkeit versteht, kann dies zum eigenen Vorteil nutzen [D39:2]. Aber solche – aus Ministeriumssicht »schwarzen Schafe« – sind sicherlich Einzelfälle, auch wenn auf ihnen ein besonderes Auge der dienstaufsichtführenden Richter zu liegen scheint (siehe Abschnitt 3.5.2, D25:5). Nach der Differenzierung der Bedingungen von ›Anforderungen‹ im Sinne einer Beschreibung als Last und ihren Grenzen, als da waren die individuelle Leistungsfähigkeit, die Beschaffenheit des Dezernats und die Zuständigkeit sowie der Exkurs zum häufigen Vorurteil des faulen Richters, sollen über den Weg der Analyse der Instanzen, Gerichtsebene sowie Umfang und Art der Sache zwei zentrale antagonistische Typen für die ›Basis‹-Dimension ›Anforderung‹ dargelegt werden. Die Instanzen an den Gerichten der deutschen Länder gliedern sich in erste Instanzen und je nach Rechtsmittel in Berufungs- oder Revisionsinstanzen. Für die Arbeit des Richters und seine diesbezüglichen Selbsttypisierungen hat das erhebliche Auswirkungen. Das Bewerten von Fällen unterscheidet sich in den Instanzen. In der ersten Instanz ist »nur« der Fall mit dem Wissen um eine nächste Instanz zu bewerten. Bei strukturell bedingt hohen Berufungszahlen gibt es mitunter sogar eine Art »Durchwinken«: So berichtet ein Richter in einer erstinstanzlichen Kammer am Landgericht, dass durch deren Spezialzuschnitt viele Fälle aus dem Bundesgebiet zu ihnen kommen, aber nur, damit sie an das bei ihnen zuständige Oberlandesgericht gelangen können [D39:1]. Der Regelfall für alle ist dies sicherlich nicht, aber nicht wenige Richter der ersten Instanz fühlen sich bisweilen als Durchgangsstation: »Unterhaltssachen gehen in der Regel nach in die Berufung« [D2:19]. Und wenn dem Richter aufgrund der Erfahrung mit diesen Sachen oder jenem Anwalt klar ist, dass es in dieser Instanz keine Einigung geben wird, dann »hilft« er den Parteien sogar damit, ein schnelles Urteil zu fällen, dessen Gründlichkeit weniger wiegt als dessen Schnelligkeit. Hauptargument ist dann, dass eine »Rechtssicherheit« angestrebt wird, die in der ersten Instanz nicht gegeben werden kann. Eine solche Rechtssicherheit zu gewährleisten, gehört zum Beispiel zum Selbstverständnis des ›zugewandten Richter‹-Typus (siehe hierzu Abschnitt 3.4.3). Auf der anderen Seite sind die Urteile der ersten Instanz wiederum recht änderungsresistent: Der Ansporn eines Richters, nicht abgeändert zu werden (siehe hierzu Abschnitt 3.4.2.2), ist mindestens so groß wie auch die Unlust der Folgeinstanz, sich durch große Abänderungswahrscheinlichkeiten zu viel Arbeit aufzubürden: »man kann sich damit eh die Rechtsmittel selber in Hals schaffen« [D4:16] (hierzu auch Abschnitt 3.4.3). In einer Berufungsinstanz ist der Fall und das vorinstanzliche Urteil mit und ohne
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Möglichkeit einer weiteren Instanz zu bewerten; an dieser Stelle muss ein Richter dann auch über die Lösung eines Richters oder diejenige anderer Richter befinden, nicht nur über die anderer Juristen (Rechtsanwälte). In der Revisionsinstanz ist (sind) nur die Vorinstanz(en) das heißt letztlich die rechtliche Arbeit der Richter ohne Sachverhaltszugang zu bewerten. Obwohl ein Fall sich in allen Instanzen vom Status quo des Beginns langsam weiter aufbaut, so unterscheidet sich dabei doch, dass in der ersten Instanz zu Beginn noch keine richterliche Würdigung da ist, während in höheren Instanzen im Sinne eines Auffindens (vgl. Berndt und Stegmaier Juli 2004, Stegmaier 2008: 96 ff.) etwas mehr dahingehend vorgefunden wird. Der Anteil des »Züchtens« in den Erstinstanzen ist höher als der Anteil des »Beschauens«, was sich in den Folgeinstanzen dann umkehrt. Ein Folgeinstanzler beschreibt den Vergleich des Züchtens in der Erstinstanz mit seiner jetzigen »beschauenden« Berufungsinstanz folgendermaßen: »[In der Erstinstanz] baut sich also der Tatbestand eh kontinuierlich neben ihrer Arbeit vor ihren Augen auf und sie müssen hinterher sammeln. Hier [Berufungsinstanz] haben wir was Gesammeltes schon.« [D5:34] Ein Erstinstanzler beschreibt das Züchten auch als »reifen«: »Ich will nicht sagen, dass ich es absichtlich mache, aber es gibt Prozesse, die reifen erst so mit der Zeit und plötzlich dann ist die Vergleichsbereitschaft da« [D12:31]. Das Züchten hat hier Methode (absichtlich oder unabsichtlich) hinsichtlich des angestrebten Abschlusses im Vergleich. Es gibt bezüglich der Instanz also Anteile in den Richtern, die stärker als »Züchter« oder »Beschauer« zu bezeichnen sind. Es sind aber kaum identitätsstiftende Selbsttypisierungen. Ein Aspekt dieser Unterscheidung aber, dass nämlich der »Züchter« mehr ein handwerklicher Vielarbeiter ist und der »Beschauer« eher ein bewertender Kontrolleur, wird im Zusammenhang mit den ›Anforderungen‹ später deutlicher. Zudem erfordert die erste Instanz eine weniger rechtlich tiefgängige Beschäftigung, wenn es noch eine weitere Instanz gibt, in der mögliche Fehler korrigiert werden können. Das hat Auswirkungen auf die ›Anforderungen‹ im Sinne der zu bearbeitenden Fallzahlen. Die Gerichtsebene teilt sich für unseren Untersuchungsraum einerseits in Amtsgerichts-, Landgerichts und Oberlandesgerichtsebene auf, andererseits in Verwaltungsgerichts- sowie Oberverwaltungsgerichts- bzw. Verwaltungsgerichtshofsebene. Jedes Oberlandesgericht hat, abgesehen von den Stadtstaaten und dem Saarland, mehrere Landgerichte, jedes Landgericht mehrere Amtsgerichte. Die vielen Amtsgerichte, immerhin 687, sollen eine möglichst flächendeckende Versorgung für den Großteil der Fälle gewährleisten. Dementsprechende Unterschiede, was die Gebietsgröße, die Anzahl der Gerichtseingesessenen und die Größe des Amtsgerichts selbst angeht, gibt es, was unter anderem zu einer sehr unterschied-
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›Basis‹-Dimensionen
lichen ›Gerichtskultur‹ führt (siehe hierzu Abschnitt 3.2.4). Für die ›Anforderung‹ an den Richter ist dabei von Bedeutung, für wie viele Fälle welcher Art er zuständig ist, d. h. mit wie viel Personal letztlich das jeweilige Gericht pro Geschäftsanfall besetzt ist und für welche Fälle es zuständig ist. Letzteres hängt vom speziellen Zuschnitt und von der Instanz ab, Ersteres vom (finanziellen Spielraum des) Justizministerium(s). Sehr ähnlich verhält es sich mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Grundsätzlich hat ein Richter in der untersten Ebene, das heißt Amtsgericht oder Verwaltungsgericht, viele Fälle zu erledigen, in der oberen Gerichtsebene weniger. Aber es hängt eben auch vom Zuschnitt des Dezernats ab, welches zumeist auf die Art der Sachen, auf das Rechtsgebiet abzielt: Selbst in der ersten Instanz am Amtsgericht kann sich die Fallzahl enorm unterscheiden, z. B. zwischen einem Dezernat mit vorwiegend Ordnungswidrigkeitssachen und einem mit Familiensachen. Dann kommt aber schon genau das zum Tragen, was auch für die Zunahme der Gerichtsebene und Instanz gilt: Je komplizierter ein Fall, egal ob im Rechtlichen oder Tatsächlichen, desto mehr Aufwand wird betrieben, was die zeitliche und personelle Beschäftigung der Richter mit dem Fall angeht. Fälle Instanz
Fälle Gerichtsebene Fälle Umfang der Sache (rechtlich und tatsächlich) Fälle Art der Sache, Zuschnitt des Dezernats (Rechtsgebiet), Beispiele
Ⱥ Erste
Ⱥ weniger werdendȺ
Ⱥ Amtsgericht Verwaltungsgericht Ⱥ Sekundensache im Dezernatsdurchlauf
Ⱥ Ordungswidrigkeiten
Abbildung 11: ›Anforderung‹ und Fallzahl
wenigerȺ Landgericht
Ⱥ weniger Routinesache
weniger Autounfall
Ⱥ Berufung und/oder Revision
werdendȺ Oberlandesgericht, Oberverwaltungsgerichtshof werdendȺ Arbeitssache, links und rechts schauen, kreativ werden
werdendȺ Mietstreitigkeiten Asylfall
Ⱥ sehr aufwendiger Fall bis hin zu hard case
Ⱥ Familiensachen Erbsachen Arzthaftungssachen
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Ein maximaler Kontrast, aus dem empirisch unter anderem das Konzept der ›Anforderung‹ hervorging, ist ein Strafrichter am Amtsgericht mit vorwiegend Ordnungswidrigkeiten der ersten Instanz auf der einen Seite und ein Oberlandeszivilrichter mit Erbsachen in der Berufung auf der anderen Seite. Die sich ergebende Selbsttypisierung lässt sich in eine (Schein-) Kontradiktion von Massengeschäft versus wissenschaftlichem Anspruch reduzieren und pointieren. Es entstehen zwei Typen, die in einem Spannungsverhältnis stehen und durch diese ›Basis‹-Dimension der ›Anforderungen‹ unmittelbar bedingt sind: ›Frontkamerad‹ und ›Akademiker‹. 3.2.3.1
Der ›Frontkamerad‹-Typus
»Wir sind ja hier Frontkameraden. Wir machen ein Massengeschäft. Wenn in diesem Massengeschäft mehr als 80 % der streitigen Verfahren abschließend erledigt werden, ist das doch viel.« [D19:40] Die Einschätzung dieses Amtsrichters wird von vielen seiner Kollegen geteilt. Immer wieder hört man Begriffe, die sich auf ihre Tätigkeit in einer Art beziehen, dass sie große Mengen an Fällen und damit Arbeit zu bewältigen haben, dass sie mit vielen gerichtsunerfahrenen Menschen – sprich: Naturparteien und Zeugen – direkt in Kontakt geraten und dass es sich dabei um relativ rasche und teilweise heftige, d. h. emotionale Begegnungen handelt, denen sich der Richter »erwehren« muss. Der Vergleich mit einer Kriegssituation mag dem einen oder anderen merkwürdig vorkommen, doch ist »Frontkamerad« kein Einzelfall, auch »Frontsoldat« oder sogar »Frontschwein« war des Öfteren zu hören oder ortsbezogen abgemildert: »Wir sind ja hier an der Front!«. Das »Massengeschäft« bedeutet, viel in wenig Zeit zu bewältigen, dass es auf den Einzelfall weniger ankommt als auf die Gesamtzahl der Erledigungen. Mechanisch betrachtet ist der Amtsrichter wie ein großes Sieb, durch das erst mal »80 % der streitigen Verfahren abschließend erledigt werden«. Dieses »Massengeschäft« sind abzuarbeitende »Berge«, wie folgender Oberlandesrichter in der Retrospektive zu seiner Amtsrichterzeit bemerkt: »Als ich als Amtsrichter anfing, ehm da übernahmen wir Dezernate von älteren Herren, die nicht mehr, auch nicht mehr so konnten. Das waren Berge von Akten. Die haben wir rausgeschmissen, (-) durchgehackt, wie man so sagt.« [D5:44] Das »Durchhacken« mutet an wie echte schwere Handarbeit. Die Analogie zum Holzarbeiter, der sich seinen Weg mit der Axt durch den Berg von Holz arbeitet kommt bei folgendem Amtsrichter weiter zutage:
›Basis‹-Dimensionen
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»Meistens is es so: ich bin noch mal kurz vor acht hier, erstmal das Kleinholz weg, dann das schwierigere Holz und dann wird richtig gearbeitet sozusagen. Also entweder Urteile geschrieben, [I: Hm.] Sitzungsvorbereitung, so was.« [D20:13] Interessant ist nun hier, dass die Arbeit auch differenziert werden kann: Nicht alles ist »Holz« wegarbeiten, es gibt auch »richtig arbeiten«, womit »Urteile schreiben« und »Sitzungsvorbereitungen« gemeint sind. Ein globaler Blick kann alles als »Massengeschäft« kennzeichnen, den ganzen Alltag als »Berge« abtragen sehen. Ein differenzierender Blick trennt den Aktenumlauf des Dezernatsgeschäfts mit all den Routinefällen von denen, wo Urteile geschrieben oder Sitzungen vorbereitet werden. Für den Amtsrichter ist das dann die Zeit, in der sich einer Sache etwas intensiver zugewendet wird. Die gleiche Aufteilung des Dezernatsalltags hat im Prinzip auch der Oberlandesrichter, nur eben mit insgesamt sehr viel weniger Fällen. Er kennt aber diesen »Försterbetrieb« als »weghauen was da kommt« [D4:27] – es geht dann nicht so sehr um das globale Massengeschäft, sondern um das Aktenabbauen im Dezernatsalltag. Dass der ›Frontkamerad‹ aber auch am Amtsgericht Möglichkeiten hat, sich hinter die Front zurückzuziehen oder wenigstens ein Stück weit und damit dem ›Akademiker‹-Typus entgegengeht, zeigt der Fall eines Strafrichters, der von seinem normalen Strafdezernat mit vielen Ordnungswidrigkeiten (»Owi-Sachen«) in das Jugendschöffengericht wechselte. Seine Fallzahl, das heißt die Masse der Fälle, beträgt nur noch ein Fünftel der alten. Dies zeigt, dass es selbst in der Erstinstanz eine Binnendifferenzierung gibt, die es dem geneigten Richter erlaubt, vom Massengeschäft zu intensiverer Arbeit mit weniger Fällen zu gelangen: »Die Anzahl der Sachen nehmen ab. Die Beschäftigungsdauer damit nimmt zu. Man muss sich also intensiver damit beschäftigen« [D8:5]. Genau eine solche Argumentation kann man von Oberlandesrichtern hören, wenn sie ihre Arbeit mit der am Amtsgericht vergleichen (s. u. ›Akademiker‹). Während der ›Frontkamerad‹ (und auch der ›Akademiker‹) ohne Einflussmöglichkeit auf die Fallzahl ist, die direkt mit der Art seiner Sachen und der Instanz zusammenhängen, kann er die Intensität der Außenkontakte in einem gewissen Rahmen durchaus steuern. Eine solche Steuerung hat nicht nur eine quantitative Bedeutung, sondern auch eine qualitative: Im Zivilprozess etwa kann er mit Gewicht auf Kontakten zu Naturparteien die Sachverhaltsaufklärung beschleunigen und die Vergleichschance erhöhen: »In der letzten Verhandlung ging es um eine um einen Unternehmensmaklerforderung und […] da war ganz wichtig, dass der Kläger da war [...] aber wenn er nicht da gewesen wär, wäre es jedenfalls zu dem Zeitpunkt noch nicht zu nem Vergleich gekommen. Ja, der konnte einiges erklären, erläutern, was wir nicht verstanden und wir konnten ihm erklären, warum wir seine Forderung nicht ganz für richtig hielten.« [D5:46]
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Die Anwesenheit der Naturpartei hat wesentlich zur Sachverhaltsaufklärung beigetragen und den Vergleich und damit die Erledigung rasch ermöglicht. Die selbstverständnisprägende oder -ausdrückende Einstellung des Richters zu intensiven Außenkontakten wird beim ›zugewandten Richter‹-Typus und dem ›Unberührbaren‹-Typus vertieft (siehe Abschnitt 3.4.3 und 3.4.4). 3.2.3.2
Der ›Akademiker‹-Typus
Der ›Akademiker‹, als Gegentypus zum ›Frontkamerad‹, wird ebenfalls durch die ›Anforderungen‹ geprägt: zumeist in der um rechtlich hochwertige Ergebnisse bemühten Rechtsmittelinstanz, bei niedriger Fallzahl und überwiegend anwaltlich vertretener Parteien. Ein Oberlandesrichter schildert seine Situation im Vergleich mit unteren Instanzen bzw. Gerichtsebenen: »Beim Oberlandesgericht gibt es zunächst mal augenscheinlich weniger Fälle, aber es- des hat halt den Vorteil, wenn man nich so viel Holz hacken muss - jetzt mal bildlich gesprochen dass ma dann halt auch mal rechts un links schauen kann und mal nen kreativen juristischen Gedankengang entwickelt, weil's nich nur dadrum geht jetzt also möglichst den Stoff zu bewältigen ja.« [D10:15] Es ist dieses »rechts un links schauen«, das Entwickeln eines »kreativen juristischen Gedankenganges«, was den Unterschied in qualitativer Hinsicht ausmacht, während »weniger Fälle« den quantitativen Unterschied auszeichnen. Das Gewicht der unteren Instanzen bzw. Gerichtsebenen liegt auf der quantitativen Seite, »möglichst den Stoff zu bewältigen«, das Gewicht der oberen Instanzen bzw. Gerichtsebenen auf der qualitativen Seite. Auf dieser wird aus dem Holzhacker pointiert gesagt ein Schreiner, der das Holz »intensiv behandelt«, es gründlicher macht und »wirklich richtig durchdenkt«, damit er »dahinter stehen kann« [D7:15]. Dies sind häufig anzutreffende Standardnarrative, die auch eine starke Bedeutung hinsichtlich der intrinsischen Motivation »rechtlich richtig« haben. Hier gehören sie zum sprachlichen Umfeld des ›Akademiker‹-Typus. Konkret wird jener z. B. in der folgenden Selbsttypisierung: »Wissenschaftliches Arbeiten, auch wenn wir heute Rechtsprechung machen, ein Stück Wissenschaft ist immer dabei, ne. Wir schreiben zwar keine- ne, wir geben zwar nichts nach außen von uns, sondern wir machen Entscheidungen, aber auch die können ja durchaus die Wissenschaft voran bringen, können ja auch Neuland betreten, ne. Das ist nicht in jeder Entscheidung der Fall, aber (-) so stückchenweise Wissenschaftler bleibt man, wenn man das einmal als für sich spannend empfindet. Und ich arbeite- es gibt kaum einen Fall, von Feld-, Wald- und Wiesenfällen, wo man wirklich nicht in die Bücher gucken muss, mal abgesehen,
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›Basis‹-Dimensionen
wo man nicht wirklich auch mal sein Ergebnis hinterfragt oder herleitet, aus dem, was andere vorgedacht haben, und dann gegebenenfalls auch mal weiterentwickelt.« [D18:28] Dieser Oberlandesrichter bleibt »so stückchenweise Wissenschaftler«, auch wenn er die »Feld-, Wald- und Wiesenfälle« hat, die routiniert, ohne »in die Bücher« zu schauen, zu lösen sind. Die Ähnlichkeiten der Formulierungen hinsichtlich des Gegensatzes zwischen ›Akademiker‹- und ›Frontkamerad‹-Typen sind oft verblüffend, so sagt ein Richter an einem anderen Oberlandesgericht: »Ich kriege die Gelegenheit etwas wissenschaftlicher zu arbeiten hier, weil ich nich so viel Kleinholz hacken muss, dann möcht ich's auch schön machen« [D10:16]. Neben dem qualitativ hochwertigeren Anspruch tritt hier noch ein ästhetischer hinzu, was ebenfalls kennzeichnend für den ›Akademiker‹Typus ist. Die Bildung der Gegensatztypen ›Frontkamerad‹ und ›Akademiker‹ aus der ›Anforderung‹, schematisch dargestellt: Instanz Gerichtsebene ›Frontkamerad‹
›Akademiker‹ Anzahl der Fälle
Art der Sachen zum Beispiel: Owis / Auto / Miet, Asyl / Familien /Arzthaftung
Abbildung 12: ›Anforderungs‹-Typen ›Frontkamerad‹ und ›Akademiker‹
Die ›Anforderung‹ als Teil der ›Basis‹-Dimensionen stellt sich in den Selbsttypisierungen idealtypisch in Form des ›Frontkameraden‹ und ›Akademikers‹ dar. Während auf einer gemeinsamen Basis die je individuelle Leistungsfähigkeit, die Spezifizität des Dezernats (unabhängig von Gerichtsebene, Instanz sowie Umfang
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
und Art der Sache) und die Abgrenzung in Hinsicht der Zuständigkeit von Bedeutung für die je subjektiv empfundene Last der ›Anforderung‹ sind, sind es die generellen strukturellen Gegebenheiten der Instanz, der Gerichtsebene sowie des Umfangs und der Art der Sache, die zu den antagonistischen Selbsttypisierungen ›Frontkamerad‹ und ›Akademiker‹ führen. Während Ersterer »im Massengeschäft Holz hakt«, versucht Letzterer im »wirklichen Durchdenken zu einer hochwertigen Entscheidung« zu gelangen. Sie zeichnen sich durch die zentrale Unterscheidung der Anzahl der Fälle und des inhaltlichen (rechtlichen wie sachverhaltlichen) Anspruches an ihre Bearbeitung aus.
3.2.4
Gerichtskultur: Vom Land- und Großstadtrichter-Typus
Die ›Gerichtskultur‹ ist eine von der Instanz, Gerichtsebene und dem jeweiligen Rechtsgebiet stark geprägte ›Basis‹-Dimension. Jene Einflüsse bezüglich der Selbsttypisierungen wurden jedoch schon weitestgehend unter dem Aspekt der ›Anforderung‹ zuvor behandelt (siehe Abschnitt 3.2.3). Im Folgenden sollen andere Aspekte der ›Gerichtskultur‹ untersucht werden, die in den Selbsttypisierungen der Richter ansatzweise zu zeigen sind: die Gerichtsgröße, die Lage des Gerichts in örtlicher Hinsicht, der Kontrast zwischen Stadt und Land und die Architektur. Die Gerichtsgröße ist ein wichtiger Faktor für die ›Gerichtskultur‹. Hiermit ist für unsere Untersuchung die Anzahl der dort beschäftigten Richter als Personen zu verstehen und die zugewiesenen Richterstellen, die in Pensen bemessen werden. Die Auswirkungen der Gerichtsgröße auf die ›Gerichtskultur‹ als ein Teil der ›Basis‹Dimension unterscheiden sich nach unseren Beobachtungen nicht in nennenswerter Weise von denen in anderen Organisationen. In kleinen Gerichten kennt man sich untereinander, läuft sich ständig über den Weg und regelt viel durch direkte Faceto-face-Kommunikation, sei es mit den Kollegen, dem Geschäftszimmer oder dem Wachpersonal. Dies ist eine normale Nähe in kleinen Gruppen die zusammenarbeiten, sei es nun herzlich oder funktionsreduziert. Zur Erklärung von lockeren und informalen Umgangsweisen selbst mit den Anwälten wird zum Beispiel gesagt: »Wir sind ja hier an einem kleinen Gericht«, oder: »Dadurch dass wir hier wenige Richter sind, kennen sich alle.« Bei mittelgroßen Gerichten sind häufig auch noch Nähestrukturen der kleinen Gerichte erkennbar, wenn sie sich auch beginnen auf bestimmte Gerichtsbarkeiten (und damit Flure) zu kristallisieren. An großen Gerichten nimmt wie in großen Firmen die Anonymität untereinander (verständlicherweise) zu, dafür gewinnen unter Umständen die direkten »Arbeitsgruppen«, das heißt die Kollegialgerichte an Gewicht. Die Kontakte der Einzelrichter hingegen sind in diesem Fall stark von der Eigeninitiative abhängig. Hier hört man typische Sprüche großer Organisationen: »Das ist ein riesiger Betrieb hier, jeder kommt und geht, wann er will, die Kollegen sieht man meist nur im Vorbeigehen«. Die Selbst-
›Basis‹-Dimensionen
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positionierungen der Richter hinsichtlich der Gerichtsgröße beziehen sich insgesamt auf die Organisationsgröße und deren Folgen für die Kommunikation der Mitarbeiter, nicht auf richterberufsspezifische Arbeitsbedingungen. Sie haben daher auch nur einen allgemeinen identitätsstiftenden Charakter, sind aber Mitbedingung für die ›Gerichtskultur‹. Die Lage des Gerichts in örtlicher Hinsicht ist kennzeichnend für sehr differenzierende ›Gerichtskulturen‹. Hierzu zählen regionale Spezifizitäten, die je nach Bundesland, nach der Region oder dem Sprachgebrauch Unterscheidungen hervorrufen. Aus diesen regionalkulturellen Unterschieden, die sich spiegelbildlich von den dort lebenden Menschen auch auf die Richter auswirken, können sehr individuelle Fallmerkmale und -konstellationen entstehen. So gilt etwa in Schleswig-Holstein aufgrund der englischen Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg die »Höfeordnung«, welche nur einen hoffähigen Erben zulässt. Dass daraus ganz andere Arten von Erbstreitigkeiten entstehen, auf die ein Richter spezifisch reagieren muss, dürfte keine weitere Erklärung benötigen. Ein ähnlich örtlich abhängiger Aspekt, der sich aber regionenübergreifend ausbildet und damit von dem obigen Gedanken unterscheidet, ist der Kontrast zwischen Stadt und Land, der sich häufig in Form der Gerichtsgröße niederschlägt. Großstädtische Milieus bringen andere Streitigkeiten und Streitkulturen mit sich als dünn besiedelte Flächenländer. Die Selbsttypisierung »Ich bin Landrichter« (nicht im Sinne vom Landgerichtsrichter gemeint, was auch in dieser Bezeichnung vorkommt) hört man im Zusammenhang mit der Erklärung von Beschaulichkeit, von Übersichtlichkeit und Nähe zu den Parteien. »Ich bin Großstadtrichter!« hingegen hört man mit dem impliziten Verweis auf die sozialen Probleme, die sich im Rahmen einer größeren Stadt manifestieren. Ein besonders starker Ausdruck von verfestigter ›Gerichtskultur‹ kann die Architektur darstellen, die in den Gerichtsgebäuden außen wie innen (Sitzungssaal) verwendet wurde.69 Das interessante an dieser »geronnenen« ›Gerichtskultur‹ ist, dass sie sich nach Erstellung lange Jahre erhält und weniger Wandlungen unterlegen ist als das lebendige Miteinander der Menschen. Ihre »Wirkung« entfaltet sie in jedem Fall.70 Es gehört ein größerer – nicht nur finanzieller – Aufwand dazu, eine Gerichtsarchitektur als nicht mehr zeitgemäß oder gar unsachgemäß zu deklarieren und neue bauliche Maßnahmen in Angriff zu nehmen. Leichter ist dies natürlich bei 69 Siehe hierzu die anschauliche architektonische Beschreibung vielzahliger Landgerichte und deren Säle in der Ethnographie von Legnaro und Aengenheister (1999: 6 ff.) als »Bühne« für die Aufführung von Strafrecht. 70 Einer solchen Wirkung von (Innen-) Architektur einer staatlichen Behörde gingen kürzlich auch Maeder und Nadai (2004: 41 ff.) nach. Der Eintretende (in ihrem Fall ein Sozialhilfeempfänger, beantragender) erfährt eine »symbolische Zurichtung«, die schon vor dem Kontakt mit dem eigentlichen Personal den »Erwartungs- und Handlungsspielraum […] durch die materielle Ausstattung und räumliche Anordnung stark strukturiert und kanalisiert« (Maeder und Nadai 2004: 55).
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Neubauten, die etwa infolge von Restrukturierungen der Gerichtsbezirke und deren Gerichte erfolgen oder gar mit anderen Justizbauten zu einem Justizzentrum entstehen. Ein Sitzungssaal hingegen ließe sich leichter umgestalten, wobei die Mittel der Justiz häufig noch nicht einmal für eine anfallende Renovation ausreichen71 und ein gestalterischer Vorschlag dagegen zweitrangig bleibt. So findet man heutzutage in den Sälen unterschiedlichste Anordnungen von Richtertischen, auf Emporen oder nicht, deutlich wertvoller und stabiler als die Tische der anderen Gerichtsakteure und sogar mit Beinblende72 oder alles auch nicht. In durch Anbau erweiterten Gerichten kann sich eine Mischung aus alledem einstellen. Sie resultiert aus den sich verändernden Bedingungen, lokale Berufsausübung mit den gerichtsorganisationstypischen Wissensvorräten und Relevanzsystemen zu verknüpfen (vgl. Maeder und Nadai 2004: 51). Denn diese Verknüpfungen (abgesehen von den architektonischen Großströmungen der Zeit) sind es, die sich in der Symbolik des visuell Wahrnehmbaren für den je einzelnen Akteur am Gericht ausdrücken. So können nicht nur innenarchitektonische Anordnungen den sich verändernden Zeitgeist gleichzeitig anzeigen, sondern auch die sich aus jenen Wissensvorräten speisenden Handlungen der Akteure. Ein sich in dieser Art widersprechender Mix, der sich aus architektonisch Gegebenem und in Interaktion Hergestelltem zeigt, wird in folgender Aussage eines Oberlandesrichters deutlich: »Bei der Sitzung sitzen wir ja oben zu dritt, unten die Anwälte, und eh die Parteien rechts und links neben ihren Anwälten, ist also eine große Runde sozusagen, ne« [D7:16]. Er schildert zunächst die räumliche, durch die Innenarchitektur vorgegebene Anordnung der verschiedenen Interaktanden des Gerichts: Die drei Richter des Senats sitzen »oben«, »unten« zuallererst genannt die Anwälte und fast als Appendix »neben ihren Anwälten« die Naturparteien. Bis hierhin ist die Beschreibung klar und man kann sich den Saal mit seinen Interaktanden einigermaßen vorstellen. Es ist das »alte« Bild des Gerichtssaals, man ist es gewohnt und man ist nicht überrascht. Eine solche Gerichtssaalanordnung ist zwar altbacken, aber mit der Justiz bringt man auch keine innovativen, rasch dem Zeitgeist hinterherlaufenden Dinge in Verbindung. Der letzte Teil des Satzes bringt allerdings dieses Bild ins Wanken. Der Richter behauptet, dass diese räumliche Anordnung »sozusagen« eine »große Runde« sei. Dieser plötzliche Wechsel von einer obrigkeitsherrschenden innenarchitektonisch manifestierten Szenerie zu einer fast basisdemokratisch anmutenden »großen Runde«, in der die Probleme der Gesellschaft 71 Nicht selten hinterließen die Gerichtsbeobachtungen einen trostlosen und renovierungsbedürftigen Eindruck der Gebäude, insbesondere bei den Amtsgerichten. Auf der anderen Seite wurden aber auch teilweise hochmoderne Justizzentren erbaut und prestigeträchtige Altbauten aufwendig saniert. 72 Ein Richter »hat keine Beine zu haben«, könnte man aus diesem Umstand folgern, der Oberkörper, insbesondere der Kopf ist von Bedeutung. Alte Turnschuhe, übergeschlagene Beine, interessante Damenröcke oder nervöses Beinwippen sind Vorkommnisse, die eine Gerichtsautorität untergraben könnten – oder die Beteiligten zumindest ablenken, was nicht im Interesse eines gerichtlichen »Bühnenarrangements« ist.
›Basis‹-Dimensionen
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im gegenseitigen Dialog aus der Welt geschaffen werden können, kennzeichnet trefflich den Stand der Justiz bezüglich der Anforderungen menschlicher Interaktion in der Postmoderne. Weder die räumliche Anordnung des Gerichtssaals noch die lockere Runde alleine könnten beschreiben, was an deutschen Gerichten präsent ist – es ist dieser fast ausweglose Widerspruch zwischen Ausdruck staatlicher Gewalt und bürgerorientiertem Dienst (siehe hierzu vertieft Abschnitt 3.4.3 und 3.4.4), der sich in des Richters Beschreibung so treffend widerspiegelt. Zur ›Gerichtskultur‹ ließe sich noch sehr vieles ergänzen, was gerade durch seinen eigentümlichen Lokalcharakter amüsante und bizarre Blüten treibt.73 Es zeigt sich jedoch, dass die Einflüsse der ›Gerichtskultur‹ auf die Selbsttypisierungen der Richter hauptsächlich mittelbaren Charakter haben, andere Bereiche verstärken bzw. ergänzen. Starke und prägende Selbsttypisierungen allein aus der ›Gerichtskultur‹ sind im Verhältnis zu den anderen Dimensionen in den Analysen nicht hervorgetreten. Die Unterscheidung von »Landrichter« und »Großstadtrichter« kann hier als stärkste Ausdrucksform angesehen werden, in der die Gegebenheiten sozialer Problemlagen in Abhängigkeit von (groß-) städtischem oder ländlichem Milieu auf die Art der zu behandelnden Fälle Auswirkung zeigt.
3.2.5
Die Bedeutung der ›Basis‹-Dimensionen für die richterlichen Selbsttypisierungen
Die Analyse der ›Basis‹-Dimensionen hat ein unterschiedliches Feld an Selbsttypisierungen entworfen. Einerseits haben wir, unter dem Gesichtspunkt der ›Gerichtsbarkeit‹, annähernd Funktionsbeschreibungen, die derart internalisiert sind, dass sie lediglich eine genauere Berufsbezeichnung des jeweiligen Richters anzuzeigen scheinen. Die so aufgestellten Typen ›Zivilrichter‹, ›Strafrichter‹ und ›Verwaltungsrichter‹ wirken auf diese Art betrachtet profan. Interessant wird andererseits die Berücksichtigung der Affinitäten (und deren Motive) zu den jeweiligen Typen, das Sich-von-anderen-Typen-Abgrenzen. Vorlieben, wie eher rechtlich zu arbeiten als sachverhaltlich bzw. umgekehrt oder einen gesellschaftlichen Auftrag etwa im Sinne von Erziehung als erstrebenswert zu erachten, führen dabei zu einer differenzierten Selbsttypisierung, die sich nur implizit in dem groben Label der ›Gerichtsbarkeits‹Zuordnung wiederfindet. Dies wurde auch in der ›Feinanalyse‹ deutlich, die anhand der Gegenüberstellung des Zivilrichters mit dem (hypothetischen) Strafrichter zeigte, wie habitualisierte Praxisvollzüge in Argumentationen die Schichten persönlicher Vorlieben von Umgangsformen miteinander im Antagonismus ›harter Rich-
73 Siehe hierzu den Begriff der »Bürofolklore« in Soeffner et al. (1994: 39 f.), der dort in Bezug auf die Privatisierung des öffentlichen Raumes und seiner Unangemessenheit von Interesse war.
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
ter‹-Typus und ›weicher Richter‹-Typus bezüglich des Strafrichters und des »zivilistischen Weicheis« abbildeten. Bei der Analyse der ›Verantwortlichkeit‹ wurde das Gegensatzpaar ›eigener Herr‹ und ›Kollegialrichter‹ aufgestellt, was – insbesondere bei Ersterem – starke Selbsttypisierungen hervorruft. Der ›Kollegialrichter‹, als immer auch zu einem bestimmten Anteil ›eigener Herr‹-Typus, weist die zugehörigen Identifiktionsäußerungen in geringerem Maß aus. Der ›eigene Herr‹-Typus bestimmt rechtlich die Inhalte und prozesslichen Abläufe sowie organisatorischen Maßnahmen gegenüber den auf ihn angewiesenen Parteien. Der ›Kollegialrichter‹ hingegen positioniert sich in einem Selbstverständnis, welches das rechtliche Gespräch und den Austausch rechtlicher Argumentationen in der gemeinsamen Beratung sowie die Rücksichtnahme und Abhängigkeit der Organisierung untereinander als Bestandteil guten richterlichen Arbeitens sieht. Die Unterscheidung der Typen ›Frontkamerad‹ und ›Akademiker‹ bringen zum Ausdruck, wie sich Gerichtsebene, Instanz, Fallart und -umfang unter dem gemeinsamen Nenner der ›Anforderung‹ als Erledigungserwartung in den Selbsttypisierungen der Richter darstellen. Während ›Frontkameraden‹ eher nach Stückzahl der erledigten Fälle bemessen werden und sich selbst bemessen, liegt das Kriterium beim ›Akademiker‹ in der Qualität und Güte der rechtlichen Entscheidung. Die ›Gerichtskultur‹, die durch ihre örtliche Lage, Architektur und Gerichtsgröße bestimmt wird, ist allenfalls in der Unterscheidung Landrichter/Stadtrichter oder Kleingericht/Großgericht direkt erkennbar und nimmt ansonsten mittelbare Funktion ein.
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›Methoden- und Gesetzesbezug‹
stärkere Typen (stärker bindungsfähig an die Person im Sinne Identität) ›weicher Richter‹-Typ ›harter Richter‹-Typ [assoziiert mit ›Akademiker‹-Typus (s. u.)] ›eigener Herr‹-Typus ›Kollegialrichter‹-Typus ›Frontkamerad‹-Typus ›Akademiker‹-Typus [assoziiert mit ›Unberührbaren‹] [assoziiert mit Service-Richter]
schwächere Typen (stärker bindend an Rolle, Funktion, sonstige Bedingung) Zivilrichter Strafrichter/(Verwaltungsrichter) Verwaltungsrichter eher rechtlich arbeitend Strafrichter/Zivilrichter eher oder auch sachverhaltlich arbeitend Einzelrichter (zumeist Amtsrichter), Vorsitzende Beisitzer hohe Anzahl Fälle bedingt durch: niedrigere Instanz, niedrigere Gerichtsebene, Art der Fälle niedrige Anzahl Fälle bedingt durch: höhere Instanz, höhere Gerichtsebene, Art der Fälle anonymere Großstadt- und GroßgerichtsRichter persönlichere Land- und Kleingerichtsrichter
Abbildung 13: Typenübersicht ›Basis‹-Dimensionen
3.3 ›Methoden- und Gesetzesbezug‹ Mit dieser Art von Dimension, dem ›Methoden- und Gesetzesbezug‹, wendet sich die Analyse den Selbsttypisierungen der täglichen rechtlichen Arbeit durch den Richter im Sinne eines »wie er arbeitet« zu. Wurde oben analysiert, was dem Richter strukturell auferlegt ist (›Basis‹-Dimension), so treten jetzt Arbeitsweisen, besonders die Fragen nach dem Umgang mit den Gesetzen und den Methoden in den Vordergrund der Untersuchung.74 Rechtsmethodische und rechtstheoretische Anforde74 An dieser Stelle sei eine Anmerkung zur Spezifizität der deutschen Rechtsordnung gemacht: Die Stärke und Intensität der hier behandelten Dimension ist gerade im Gegensatz zum angloamerikanischen Case-Law von Bedeutung, welches mit Sicherheit andersartige Selbsttypisierungen hervor-
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
rungen aus der Ausbildung und ihre je eigenen Formen richterspezifischer Techniken für die Praxis, die sich im Laufe der Professionsausübung entwickelt haben, sind – so die These – maßgebend für diese Selbsttypisierungen von Richtern. Dabei werden – das soll an dieser Stelle noch einmal deutlich gemacht werden – nicht all diese Techniken und Methoden rekonstruiert (also weder die normativ gesollten noch die tatsächlich praktizierten), das ist an anderer Stelle der ›Rechtspraxisforschung‹ begonnen worden (Morlok 2004), sondern selbstbezügliche Typisierungen der Richter hinsichtlich des ausübenden Vollzugs dieser Tätigkeiten. Die hier rekonstruierten Typen, so zeigen die Analysen, orientieren sich an den Fragen (Dimensionen) des Gesetzes- und Methodenbezugs sowie damit einhergehend an dem jeweiligen »Glauben« an diese. Sie trennen sich einerseits entlang der Selbsttypisierung hinsichtlich der Unterscheidung einer gesetzlichen Entscheidung versus einer Gerechtigkeitsvorstellung oder in Richtung der theoretischen Diskurse formuliert: hinsichtlich formalem Recht versus Naturrecht.75 Andererseits tritt der Grad der Methodengebundenheit in Selbstwahrnehmung und -darstellung als zweite Dimension hinzu. Der »Glaube« an diese Gesetzes- und Methodengeltung, charakterisiert den Grad der Einzigartigkeit, der der gefundenen Lösung zugesprochen wird, sei es durch »echten« Glauben oder durch professionellperformative Notwendigkeit der Außendarstellung richterlicher Rechtsarbeit. Empirisch unterscheidbar ist dabei die sprachlich selbsttypisierende Distanzierung von einem solchen »Glauben«. Richter, die sich an Gesetzes- und Methodengebundenheit »glaubend« typisieren, präsentieren sich als grundsätzlich überzeugt davon, dass die methodischen Anleitungen funktionieren und zu einem gerechten – im Sinne eines gesetzlichen – Ergebnis führen. An der Spitze dieses Glaubens stehen dabei folgende Typen: der ›Subsumtionsautomat‹, der ›Methodenmonist‹ und der ›Herr des Verfahrens‹, die alle als ›Richtigtechniker‹ zusammengefasst werden können. Eine abgeschwächte Form bietet der ›menschliche Mund des Gesetzes‹, der das Prinzip des ›Richtigtechnikers‹ dadurch sogar stärkt, dass er der Überzeugung ist, dass das Ideal nur aufgrund der Schwäche und Fehlerhaftigkeit des Menschen nicht erreicht wird.
bringen wird. Für einen »internationalen« Vergleich von Selbsttypisierungen würde sich, so die hier angestellte Vermutung, diese Dimension besonders eignen. 75 Letztlich ist die Vielfalt der verwendeten Begrifflichkeiten in diesem Zusammenhang groß und fast schon unübersichtlich. Wir benutzen die folgenden Begrifflichkeiten, an die definitorische Vorarbeit von Freund (2006: 22) anlehnend, synonym: übergesetzliches Recht, Naturrecht, Gerechtigkeitsvorstellung, überpositives Recht versus gesetzliches Recht, positives Recht, Gesetz, formales Recht. Hinter dieser Unterscheidung steht die allgemeine Annahme, dass es auf der einen Seite ein durch Autorität und entsprechende Machtbefugnis (Gesetzgeber) festgelegtes Recht gibt, auf der anderen Seite ein zeitloses unabhängiges Naturrecht existiert, welches durch die menschliche Vernunft als grundlegende Gerechtigkeit erkennbar ist.
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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Der ›Richterkönig‹, als derjenige, der nicht an die Gesetzes- und Methodengebundenheit »glaubt«, ist der, der nach seinem Judiz geht und diesem Vorrang vor technischen Prüfungen und gesetzlicher Übereinstimmung gibt. Er ist der Gegentypus zum ›Richtigtechniker‹. In dem Zwischenbereich der antagonistischen Typen befindet sich der ›Radbruchianer‹, der sich weniger durch Glaubensbezüge hinsichtlich der Gesetzesund Methodengebundenheit kennzeichnen lässt als durch die Intensität und Reflexion der Gesetzesgebundenheit.
3.3.1 3.3.1.1
›Richtigtechniker‹ ›Subsumtionsautomat‹
Der ›Subsumtionsautomat‹ als Typisierung von Richtern geht zurück auf die Vorstellung, es wäre möglich, Normen durch Tatbestandsmerkmale mit realen Sachverhalten eins zu eins und ohne Probleme zu definieren, so dass am Ende der Sachverhalt76 praktisch nur noch in einen Automaten hineingegeben werden muss und man die entsprechende Rechtsfolge herausbekommt (vgl. Ogorek 1986). Schon Max Weber äußerte sich, wenn auch leicht distanzierend, zu den »Angriffen« auf den Automaten im Rahmen seiner Abhandlung zur bürokratischen Herrschaft: »Der Gedanke des lückenlosen Rechts ist bekanntlich prinzipiell heftig angefochten, und die Auffassung des modernen Richters als eines Automaten, in welchen oben die Akten nebst den Kosten hineingeworfen werden, damit er unten das Urteil nebst den mechanisch aus Paragraphen abgelesenen Gründen ausspie, wird entrüstet verworfen, - vielleicht gerade deshalb, weil eine gewisse Annäherung an diesen Typus an sich in der Konsequenz der Rechtsbürokratisierung liegen würde.« (Weber 1980: 565)
Dass die Vorstellung eines so funktionierenden Automatenrichters eine (in Ausnahmefällen aber durchaus noch heute vertretene Meinung) Illusion war, zeigte das Problem der Einzelfallgerechtigkeit, welches als ungelöstes Problem des Anwendungsversuchs im Sinne des ›Subsumtionsautomatens‹ in den Vordergrund kam. Max Webers Prognose eines durch die verstärkte Technisierung einsetzenden Übergewichts der formalen vor der materialen Rationalität hat sich dahingehend nicht in dem Maße erfüllt (vgl. Hesse 2004: 191 f.). Die Subsumtionen werden in der Regel unhinterfragt, das heißt nicht reflexiv, aber hochgradig rational angewendet. Der Richter geht davon aus – und in 76 Der nach dieser Ansicht eben auch ohne konstruktivistische Relativitäten einfach als singuläres Phänomen rekonstruiert werden muss.
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diesem »Glauben« offenbart sich der ›subjektive Methodenmonismus‹ (siehe weiter unten) –, alles ›lege artis‹ zu machen und sieht in der Subsumtion die zentrale professionsgerechte Arbeitstechnik. Er stellt sich als jemand dar, für den die Subsumtion selbstverständlich funktioniert und der sie ebenso selbstverständlich beherrscht. Der ›Subsumtionsautomat‹ hat in der Praxis entsprechende »Tricks« und »Drehs« drauf, um die ungelösten Probleme der Einzelfallgerechtigkeit zu bewältigen. Diese rationale Meisterung durch den ›Subsumtionsautomaten‹ kann – ins Ironische abgleitend – zur Pointierung als »Subsumtionsakrobat«77 führen. Hinter dieser Pointierung steht der Verweis auf einen rationalen, aktiven Akteur, der mit »akrobatischen« Fähigkeiten die Definitionen und Argumentationen zu drehen, zu biegen und zu beherrschen weiß, auch wenn der feste Glaube an die werkzeughafte Verwendung und Funktionstüchtigkeit der Subsumtion derart internalisiert wurde, dass die »akrobatische« Fähigkeit nicht selbstreflektiert in Erscheinung tritt. In diesem Sinne erscheinen die »akrobatischen« Fähigkeiten des ›Subsumtionsautomaten‹ habitualisiert. Arbeitspraktisch können bei der Subsumtion zwei Formen unterschieden werden: die Normsubsumtion als ein konkreter Einzelschritt und die Rechtsprechungssubsumtion als ein überschlagender Gesamtschritt. Die Normsubsumtion, als »normale« Subsumtion verstanden, hat als entscheidende Operation die Auslegung des Gesetzestextes. Durch die Art der Auslegung und ihrer inhärenten Argumentation wird bestimmbar (bzw. aus konstruktivistischer Sicht: bestimmt), ob und in welcher Form die Subsumtion funktioniert. Der auf Savigny zurückgehende klassische Auslegungskanon unterscheidet vier Auslegungsmodi: die grammatische, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung. Trotz neuerer, alternativer Angebote in der Methodenlehre konnte nie die Wirksamkeit als Leitbild für die Praxis erreicht werden, die das überkommene Subsumtionsmodell besitzt (Launhardt 2005: 4). Die Rechtsprechungssubsumtion, als »erweiterte« Subsumtion verstanden, passt den gesamten Fall »unter« die (Subsumtions-) Angebote, die die Rechtsprechung im Sinne von Präjudizien selbst erschaffen hat. Der Vorgang findet in der Zuordnung zum Gesamt-Subsumtionskomplex statt, nicht als Menge einzelner Normsubsumtionen, obwohl Letztere in der Regel überschlagend durchdacht werden. Die »Verlockung« dabei ist eine enorme Arbeitserleichterung (siehe hierzu Abschnitt 3.4.6.2), da fast nur noch für die Gleichsetzung des neuen Falles mit dem alten argumentiert wird, die Argumentation der Normsubsumtion praktisch vorhanden ist. Diese Gleichsetzungsargumentation kann aber auch darin bestehen, dass die alte Normsubsumtion modifiziert werden muss und sich somit eine Mischung aus Rechtsprechungssubsumtion und Normsubsumtion ergibt. 77 Eine Begriffsschöpfung, die auf eine Arbeitsgruppe um Hans-Georg Soeffner zurückgeht.
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Im folgenden, etwas längeren Beispiel (welches zudem den ›Akademiker‹Typus anschaulich zeigt, siehe Abschnitt 3.2.3.2) eines Oberverwaltungsrichters, sehen wir alle Spielarten des ›Subsumtionsautomaten‹ im Sinne des klassischen Auslegungskanons: »Also es ist- gerade im Planungsrecht ist es nicht so, dass man ein Gesetz aufschlägt- […] und sieht: Aha, da steht's wie es geht und deswegen sieht die Lösung so aus wie sie aussehen muss. Sondern gerade im Planungsrecht werden häufig unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet, die halt auch eine gewisse Wertung dann beinhalten, ja. Das heißt, diese Dinge muss man berücksichtigen. Oder häufig muss man sich auch fragen: [1:]Was meint eigentlich der Gesetzgeber mit bestimmten Begriffen? Zum Beispiel ist jetzt im Zusammenhang mit diesen Windkraftanlagen eine Frage: ›raumbedeutsames Vorhaben‹. Das ist so ein Kriterium, was im Baugesetzbuch an bestimmter Stelle verwandt wird. […] Also das ist ein Beispiel für einen Begriff, mit dem man nicht auf Anhieb jetzt auch als Jurist nicht auf Anhieb- den man nicht auf Anhieb ausfüllen kann. Also da muss man schon dann ein bisschen [2:] zur Entstehungsgeschichte auch lesen und einfach [3:] gucken, was hat der Gesetzgeber damit gemeint. […] Ja, ja, klar. Indem man sich einfach [4:] den Gesetzeszusammenhang auch anguckt, indem das Ganze steht. Also bleiben wir vielleicht mal bei dem Begriff ›raumbedeutsames Vorhaben‹. Das ist ja auch so ein Begriff, mit dem man- von dem ich selbst noch nicht weiß, weil wir das auch noch nicht entschieden haben […] Ja, wie krieg ich das raus? Also ich würde ins- ich würde praktisch [5:] um diese Vorschrift im Baugesetzbuch rum erst mal gucken: Taucht es noch an anderer Stelle auf? Ich würde versuchen, [6:] anhand des Gesetzes rauszufinden: Gibt's da irgendwelche Handreichungen, ja, wie ich das rausfinden kann, was damit gemeint ist. […] [7:] In der Entstehungsgeschichte kann man gucken. […] [8:] In der Rechtsprechung kann man nachschauen. […] Also gerade Begriffe, die es schon seit langer, langer Zeit gibt; da gibt's in der Regel dann höchstrichterliche Rechtsprechung dazu. Wobei gerade diese Sache mit der Windkraft, ähm das ist ja auch was- das ist ja was sehr aktuelles eigentlich. Das gab es vor 10 Jahren in dem Maße nicht. Ja? Also wird man gucken müssen, ob diese Fälle, die es- die vielleicht vor 10 Jahren dazu, zu dem Begriff, entschieden worden sind, ob die überhaupt passen auf dieses- auf das, womit man's heutzutage zu tun hat. (-) Ja. Also [9:] man hangelt sich im Grunde anhand des Gesetzes- erst mal des Gesetz, [10:] seiner Entstehungsgeschichte, [11:] der Auslegung dazu, die es durch die Rechtsprechung halt schon gibt, ähm, ja so n bisschen voran.« [D14:32] Die mit Ziffern eingeleiteten Textstellen bieten alles an, was der ›Subsumtionsautomat‹ im Repertoire hat: [1] und [3] die teleologische Normauslegung, [2], [7] und [10] die historische Normauslegung, [4] und [5] die systematische Normauslegung, [6] und [9] die grammatische Normauslegung sowie [8] und [11] die Rechtsprechungssubsumtion. Das methodische Rüstzeug funktioniert für den ›Subsumtionsautomaten‹ selbst oder gerade bei einem Begriff, den »man nicht auf Anhieb ausfüllen kann«. Wie
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schon häufig angesprochen, geht es in dieser Untersuchung nicht um ontologische Vorgänge. Es geht – für dieses Kapitel – demnach nicht um die Frage, ob der Richter diese Operationen »wirklich« durchführt, was auch immer das bedeuten mag. Es geht darum, wie er sich hinsichtlich seiner richterlichen Arbeit selbst typisiert. Der ›Subsumtionsautomat‹ tut dies durch die Verwendung der aus der Methodenausbildung stammenden »Sprachangebote«, bei welchem es keine Hinweise gibt, dass er sich von dem umfassenden Anspruch der Subsumtion distanziert. Er »glaubt« an die Subsumtion und sie »funktioniert« bei ihm. Das Funktionieren ist jedoch im Sinne des »Subsumtionsakrobaten« zu verstehen, der es unreflektiert, aber hoch rational schafft, die erforderte Arbeit im Sinne der klassischen Subsumtion »hinzubekommen«. Richter, die in ihrer praktischen Arbeit weniger den Sachverhalt »(re-) konstruieren« müssen als die jeweiligen Normen sind diesem Typus näher (vgl. Abschnitt 3.2.1). Jener »Glaube« an das Funktionieren der Subsumtion, wenn er sich zu einer Ausschließlichkeit gegenüber anderen Lösungsmöglichkeiten entwickelt, ist kennzeichnend für den ›Methodenmonisten‹. 3.3.1.2
›Methodenmonist‹
Der ›Methodenmonist‹-Typus zeichnet sich dadurch aus, dass er in seiner Kommunikation über die Beschaffenheit von Lösungen eines gerichtsanhängigen Falles eine Semantik transportiert, die keine Relativität, keine Lösungsvielfalt zulässt, sondern die Singularität eines Kerns, einer Lösung oder der »Wahrheit« betont. Hier wird der Frage nachgegangen, wie sicher sich Richter in der Praxis in entsprechenden kleinen Entscheidungssituationen der Normauffindung und -anwendung während der Fallbearbeitung »fühlen«. Wie stark sind sie am Aspekt der eigenen Sicherheit hinsichtlich ihrer Tätigkeiten orientiert? Wird die Ansicht vertreten, dass die von ihnen gefundene Lösung die »einzig richtige« für diesen konkreten Fall sei und somit alleinigen Anspruch auf »Wahrheit« beinhalte, so wird hier von ›subjektivem Methodenmonismus‹ gesprochen. Im Folgenden sollen Nuancen dieses ›subjektiven Methodenmonismus‹ am empirischen Material analysiert werden. Der Auftakt einer Erzählung über die Aufgaben, die der Richter hinsichtlich der Bearbeitung einer Akte zu bewältigen hat, beinhaltet zumeist eine Dimension, die man als Filterung beschreiben kann. Zu Beginn ist es die Filterung dessen, was die Anwälte einem Richter antragen, und die Aufgabe des Richters besteht darin, »einen Sachverhalt rüberzubringen, aber so wie er wirklich is. Ungefärbt (-) und (-) verständlich« [D7:39]. Besonders bei Fällen, die »umfangreicher vom Sachverhalt« sind, »besteht eben die Kunst darin«, aus der Menge an Material, die von den Anwälten vorgelegt wird, den Fall »auf das Wesentliche zurückzuführen« [D7:28]. Der Richter verwendet hier die Worte »wirklich«, »ungefärbt« und »das Wesentliche« in einer Art, die suggeriert, es gäbe eine einzige auffindbare Wahrheit. Diese hat er zu
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entdecken und für den weiteren Prozess »verständlich« aufzubereiten. Die ebenfalls erwähnte »Kunst« verweist zusätzlich auf die Möglichkeit einer ästhetischemotionalen Komponente, die wir beim gleichen Richter bezüglich der Reduktion von Stoffmenge bei gleichzeitigem Erhalt des »Wesentlichen« wiederfinden: »N schöner kurzer Schriftsatz, wo alles drin ist, das ist n Genuss. Aber sehen se selten« [D7:43]. Zugleich ist der Verweis auf eine Kunstfertigkeit und das Genießenkönnen dieser Kunstfertigkeit in gewissem Sinne ein Argument gegen eine rational erlernbare Methode. Der ›Methodenmonist‹ zeichnet sich in dieser Hinsicht – neben dem »Glauben« – noch durch eine Art Charisma der Kunstfertigkeit aus. Oft wird auch ein rein praktisches Argument für die Beschränkung, die Filterung, die Auswahl verwendet. Aus Sicht eines Vorsitzenden etwa sind durchaus zeitökonomische Grenzen maßgeblich, »fleißig ausgearbeitet[e]« Voten »von 20, 30 Seiten kann ich im Termin nicht erörtern«, er muss »die wesentlichen Punkte« haben [D26:19]. Während hier tendenziell die Beisitzer zu langatmig für den Vorsitzenden sind, kann es sich auch andersherum gestalten: »wenn ich die Verhandlung leiten würde«, so ein Beisitzer eines Zivilsenates in Anspielung auf seinen Vorsitzenden, »dann würd ich (-) ja (-) sofort auf die Fragen eingehen woraufs ankommt« [D11:12]. Wir sehen an diesen wenigen Beispielen schon den Stellenwert des ›Methodenmonismus‹ hinsichtlich der Selbsttypisierungen: Der ›Methodenmonist‹ typisiert sich als ein Richter, der erkennen kann, ob ein Fall auf einen wahren Kern reduziert wurde, und dass er selbst die Fertigkeit, dies tun zu können, innehat. Doch wie ist diese Fertigkeit zu erwerben? Das Einüben, unterstützt durch die Struktur der Beratungssituation im Gremium, spielt hier eine wichtige Rolle, so der folgende Richter auf die Frage, an welchem Punkt der Karriere er glaubt, es gekonnt zu haben: »Also ich meine, ich hätte das ehm damals schon beim Landgericht gelernt. Wir ham beim Landgericht damals jedenfalls noch eh (-) so richtig berat- in Anführungsstrichen so richtig beraten so wie das jetzt hier auch auch geschieht. Und dann ist das einfach- das ist ne Übungssache natürlich auch. [: Mhm.] Das ist ne Übung.« [D7:40] Das Herausfinden des »Wesens« eines Falles ist für diesen Richter »Übungssache«. Das bedeutet, dass es prinzipiell jedem zugänglich, das heißt erlernbar ist. Erfahrenen Richtern fällt dies besonders bei der Referendarsausbildung auf, in der sie merken, dass Referendare diese Fähigkeit noch nicht mitbringen: »Da gibt's immer große abstrakte Ausführungen [...] aber das konkrete Problem […] wird dann in zwei Sätzen abgetan […] die falsche Gewichtung […] klar, so fängt man eben an, bis man […] Gespür dafür bekommt, sich auf die wirklich wichtigen entscheidungserheblichen Dinge zu konzentrieren.« [D26:17]
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Die Übung, so scheint es, gibt einem ein »Gespür« für die »wirklich wichtigen entscheidungserheblichen Dinge«. In der Analyse eines längeren Interviewausschnitts soll das Themenfeld Referendarsausbildung für die Selbsttypisierungen hinsichtlich des Methodenmonismus weiter vertieft werden: »Ich hab also einen Spruch, den hab ich nie vergessen, war ich mal früher mit ner Arbeitsgemeinschaft in ner mündlichen Prüfung, zweites Examen als auch schon diese Vorträge gehalten werden mussten, und da sagte damals der Vorsitzende zu den Leuten, eh, also zu den Referendaren da, er sagte: ›Sie werden jetzt sechs verschiedene Sachverhalte hören.‹ Und so war's auch. Jeder stellte es in Nuancen anders dar. Jeder legte Wert auf das, was für seine Lösung wichtig war und ließ häufig unter'n Tisch fallen, was er für unwichtig hielt und, so dass sie also wirklich einen runden Sachverhalt hatten sie erst, nachdem sie alle sechs gehört hatten, weil jeder wieder irgendeine Mitteilung machte oder irgendwas wieder als wichtiger herausstellte als der andere. [I: Mhm.] Das is also- woran das liegt, weiß ich nicht. Das ist ne Erfahrung, die ich also häufig gemacht habe, dass es offenbar unheimlich schwer ist, einen Sachverhalt rüber zu bringen, aber so wie er wirklich is. Ungefärbt (-) und (-) verständlich. Das muss sehr schwer sein« [D7:39] Den Referendaren, so könnte man pointiert zusammenfassen, wird pauschal zur Last gelegt, dass sie sich von ihrer (mangelhaften) rechtlichen Einschätzung des Falls leiten ließen, um den Sachverhalt im Lichte dieser zu konstruieren. Diese Abweichungen werden als »Defekte« betrachtet, was auf die Sichtweise verweist, dass es nur eine einzige, mithin kohärente Darstellung des Sachverhaltes und daraus folgend eine rechtliche Lösung aus Sicht des Beisitzers geben könne. Der Richter erläutert diesen Stand, indem er dem Zuhörer implizit zu erkennen gibt, dass er im Besitz der richtigen Einschätzung der Lage ist, mit der Sequenz: »aber so wie er wirklich ist«. Die Schwierigkeit, eine »wirkliche« Sachverhaltsdarstellung zu bewerkstelligen, wird als Erklärung für die auftretenden Defekte angeführt. Ein gewisses Unverständnis des Beisitzers über das (noch) Fehlen einer solchen Fähigkeit tritt in den letzten drei Sätzen zutage, wodurch er selbst einerseits als Fähigerer etikettiert wird, andererseits als einer, der die Ausbildungssituation mit Referendaren als eher lästig wahrnimmt, weil jene nicht an seine Qualitäten anschließen können. Dass es für einen Anwalt oder eine wissenschaftliche Betrachtung andere »Wirklichkeiten« gibt, geschweige denn für die Naturparteien, ist für die Ausbildungssituation in der Station beim Richter anscheinend unwichtig, dort soll eben gelernt werden, was für den Richter wichtig ist, das heißt »wirklich« richtig ist. Vom Sprecher wird dabei aber nicht beachtet, dass die Situation eine Prüfung ist. Der einzelne Referendar steht in solcher Prüfung in einer anderen Situationslogik als etwa bei der Vorstellung von Ideen zu einem gerichtsanhängigen Fall im Kollegialgericht. Es handelt sich für die Prüflinge primär nicht um einen Fall im Gerichtsverfahren, sondern um einen »simulierten« in einer Prüfungssituation, in der gerade die Unterscheidung der
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je einzelnen Vorträge die individuelle Profilierungsmöglichkeit ausmacht, es kein gemeinsames Ziel der einvernehmlichen Lösung gibt. Der Kontrast zwischen diesen Erwartungen, der sich aus dieser nicht vergegenwärtigten Differenz der Situationsanforderung an die Darstellung eines rechtlichen Lösungsvorschlags vonseiten des Richters ergibt, verstärkt die Selbsttypisierungen des Beisitzers, auf die es hier ankommt. Sie lassen sich als ›subjektiven Methodenmonismus‹ des Beisitzers bezeichnen. Interessant ist, dass hier die Alternative (Relativität in Form von sechs Versionen) zu dem implizit vertretenen ›subjektiven Methodenmonismus‹ (eine »wirkliche« Lösung) gleichzeitig demonstriert und von der Hand gewiesen wird. Diese Abgrenzung von der defizitären Relativität konturiert zugleich die eigene Identität, gibt dem ›subjektiven Methodenmonismus‹ Gestalt und Gewicht. Festzuhalten ist zunächst, dass ein ›subjektiver Methodenmonismus‹ durch eine Qualitäts(oder gar Intelligenz-) Rhetorik seines Vertreters in Abgrenzung zur Relativität unprofessioneller Sichtweisen positioniert werden kann und dass dieser in hierarchischen Verhältnissen in der jeweils höheren Position auch durch die Machtkonstellation seinen Platz findet. Der Richter hat im Wettbewerb der »Wirklichkeiten« sozusagen sehr gute Karten, da er, oder zumindest seine Profession, seine »Wirklichkeit« am besten durchsetzen kann. Übrigens soll hier nicht der Eindruck entstehen, die Referendare würden die verschiedenen Wirklichkeiten sehen, verstehen oder sogar bewusst voneinander trennen und einsetzen können. Im Gegenteil: Sicherlich tragen die Richter mit ihrer Kritik an den »zusammengewürfelten Wirklichkeiten« dazu bei, überhaupt erst einmal eine dieser Wirklichkeiten unterscheiden zu lernen, nämlich die je richterliche (des spezifischen Richters). Auf der anderen Seite erscheint die Verwendung des Begriffs ›Wirklichkeit‹ durch die Richter nicht pädagogisch eingesetzt, etwa um zuerst einmal die Vorstellung von einer Wirklichkeit zu haben und sich dann andere anzueignen. Und hier liegt der Kern der Annahme des Methodenmonismus: Die »Wirklichkeit« wird zur einzigen oder war nie mehr als nur diese eine Wirklichkeit. Die Referendare entwickeln zudem selbst sehr schnell ein Gefühl dafür, was einen »guten« Sachvortrag ausmacht, und erkennen insoweit überlegene professionelle Kompetenz der Praktiker an: nämlich an den »richtigen« Stellen schlüssig zu stilisieren und zuzurichten. Dies ist der Prozess der beruflichen Sozialisation. Inwieweit sich das aus einer Akzeptanz herrschender Rechtsprechung (sei es im kleinen Kollegium oder bis hin zum gesamtrechtlichen Diskurs als ›herrschende Meinung‹) oder dem Internalisieren eines ›subjektiven Methodenmonismus‹ ergibt, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Der ›subjektive Methodenmonismus‹ trägt, als Glaube an die Richtigkeit der eigenen Lösung verstanden, durchaus positive und für einen Richter (und Juristen im Allgemeinen) funktionale Elemente: Im Wechselspiel des juristischen Argumentierens in der Praxis ist die eigene Überzeugung von seiner Lösung ein für den Richter unverzichtbares Mittel der Interaktionssteuerung. Der gegebene Macht-
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status alleine reicht nicht aus, um den Anforderungen des Amtes gerecht zu werden, aus einer prinzipiellen Mehrzahl von rechtlichen Möglichkeiten muss schließlich eine ausgewählt werden, um einen Fall erledigen zu können, oder der Richter muss von einer »einzigen« Lösung überzeugt sein (›subjektiver Methodenmonismus‹), die er vertritt. Ein Richter hat es schwer, wenn er weder als ein Richter mit ›subjektiven Methodenmonismus‹ typisiert werden kann noch als einer, der sich unter starker Relativität entscheiden kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt des ›Methodenmonismus‹-Typus ist – neben dem Kennzeichen des »Wesentlichen« – der Rechtfertigungszusammenhang in Hinsicht auf eine rationale Erklärung, einer »Methode« des monistischen Wahrheitsanspruches der Lösung. »Methode« deswegen, weil es am Rande auch um die Beobachtung einer von einzelnen Richtern jeweils subjektiv sich selbst zugeschriebenen »Methode« bzw. Verfahrensweise geht, mit der sie sagen, erfolgreich zu vertretbaren und professionellen Ergebnissen (z. B. Tenor, Sachvortrag, Votum, Urteil) zu gelangen – im Unterschied dazu, dass sich darunter von außen beobachtet durchaus mehrere, mehr oder weniger verschiedene Vorgehensweisen oder gar rechtsmethodische Ansätze aufzeigen lassen. Solche »eigensinnige Methoden« (vgl. Stegmaier 2008: 404 ff.) sind als Errungenschaften der je individuellen Rechtspraxis Lösungen für die Praxis. Sie sind auf den konkreten Fall bezogen auch die einzig richtige Lösung (Stegmaier 2008: 405). Wird diese dahinterstehende Haltung Bestandteil praxisrelevanter Narrationen, entwickelt sich der ›Methodenmonismus‹Typus. Es sei noch einmal explizit darauf hingewiesen, dass es sich hier um die in der Interaktion offenbarte Wertsetzung der je eigenen Methode des betreffenden Richters handelt, nicht um eine rechtstheoretisch legitimierte Argumentation. Die Praxis zeigt zudem, dass nicht die Kommunikation einer solchen »Methode«, sondern die Performanz dieser eigenen Überzeugung, die »einzig richtige« Lösung zu haben bzw. zu wissen, im Vordergrund steht. Das führt zur Funktion oder besser zur lebensweltlichen Frage, auf welche dieser ›subjektive Methodenmonismus‹Typus eine Antwort darstellt: Es kann hier um Legitimierung gehen, die durch Überzeugungskraft »qua Amt«, das heißt letztlich durch Macht dargestellt wird. Dabei ist zu beachten, dass die Überzeugung, das Ergebnis bzw. die Lösung jederzeit erklären zu können, eine fundamentale Bedeutung erhält. Das »ich kann immer wieder« der reproduzierbaren Methode, das Wissen, es prinzipiell zu können, wird in der Kommunikation gleichsam transportiert und auch verschleiert. Das in Hunderten oder Tausenden juristischen Argumentationen gewonnene Wissen, welches abrufbar parat ist, schrumpft im Moment des zumeist zeitlichen Praxisdrucks zu einer höchst ökonomischen Variante der Kommunikation. Die Lösung, das Richtige, das Wesentliche des Falles wird in Form einer ansprucherhebenden Proklamation geäußert, die allein durch das »Wie« der Übermittlung Legitimität verlangt, ohne jedoch außer dieser Forderung irgendeine methodisch oder argumentativ verwertbare Information des Weges zur Lösung zu übermitteln. Die Ambiva-
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lenz des ›subjektiven Methodenmonismus‹ ist weittragend: Einerseits dokumentiert sie professionelles Handeln unter starken zeitlichen Restriktionen, indem die Wissensbestände des Akteurs hinsichtlich eines Falles und dessen Lösung für die Informationsvermittlung auf ein Minimum heruntergebrochen wird. Im Idealfall brauchen nur wenige Worte genannt werden. Diese langjährigen Praxiserfahrungen der zum Berufshabitus geronnenen Argumentationsabkürzung können andererseits aber auch zum Problem des proklamierenden Selbstzweckes verkommen, nämlich dann, wenn die Performanz des »Rechthabens« in den Vordergrund rückt und beginnt, die rationale Nachvollziehbarkeit einer Entscheidung zu verschleiern. Mit diesem Thema der Verschleierung, mit anderen Worten der Entziehung der methodenbezogenen regelgeleiteten Nachvollziehbarkeit, ist gleichsam die Grenze zum Gegentypus des ›Richtigtechnikers‹, dem ›Richterkönig‹ (siehe Abschnitt 3.3.3) beiseitegestoßen. 3.3.1.3
›Herr des Verfahrens‹
Der ›Herr des Verfahrens‹-Typus oder auch »Spielregelrichter« verbindet den regeltreuen ›Richtigtechniker‹ besonders bezüglich des Prozessrechtes mit dem Anspruch und der Fähigkeit, seine verfasste Macht der Verfahrensleitung in den entsprechenden Interaktionssituationen des Verfahrens zu realisieren und zu performieren. Hauptquelle der Motivation (siehe hierzu Abschnitt 3.4.3) ist das »gerechte Verfahren«, welches den Prozessordnungen zugrunde liegt. Das Markante an diesem Typus ist einerseits, dass er besonderen Wert darauf legt, ein regelgeleitetes und dadurch gerechtes Verfahren herzustellen, andererseits, dass er die Macht, die er innehat, demonstrativ ausübt. Eine treffliche Selbsttypisierung nimmt folgender Oberlandesrichter vor, der von sich sagt: »Ich bin also, muss ich zugeben, ein Prozessualist. ((Lachen)) Ich achte also gerne auf die Einhaltung der Spielregeln.« [D4:29] Da er zudem der Vorsitzende des Senates ist, obliegt ihm zudem in aller Regel die Verhandlungsführung (aufgrund dieser strukturellen Eigenschaft gibt es eine korrespondierende Nähe zum ›eigener Herr‹-Typus, siehe Abschnitt 3.2.2). Er typisiert sich als »Prozessualist«, der auf die Spielregeln achtet. Das Lachen nach der Nennung des Ausdrucks »Prozessualist« in Verbindung mit der Phrase »muss ich zugeben« kann darauf hindeuten, dass er sich – wenn nicht ein wenig schämt – so doch nicht gänzlich wohlfühlt bei der Sache, dass es ihm eine gewisse Passion oder Freude bereitet, der Spielregeleinhalter zu sein. Und doch benennt er dies, ganz ohne Stimulus des Interviewers, von sich aus. Vielleicht fürchtet er, als spießig oder kleinkariert dazustehen, und distanziert sich mit dem lachenden Zugeben gleichsam von diesen leicht negativ konnotierten Bezügen.
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Die Motivation des »Prozessualists« als gefühltes Eigenes befindet sich dabei im Wechselspiel mit einer vorgegebenen Leitlinie des Verhaltens und wird von dem Richter wie folgt beschrieben: »So so die Spielregeln nich, sind das eben, die wir eben versuchen einzuhalten, weil die eben (-) für beide Parteien eben wichtig sind. Das(-) is ja der Grundsatz eben der Chancengleichheit und der (-) Rechtssicherheit. Das ist ja die eine Seite, nich, die man immer abwägen muss, gegenüber der materiellen Gerechtigkeit auf der anderen Seite, nich. Wobei wir uns ja darüber klar sind, wie- ich ich weiß nicht wie oft ich das sage: ›Wir waren nicht dabei‹ wenn ich Zeugen vernehme. ›Wir waren nicht dabei, aber hinterher sollen wir drüber entscheiden‹, nich.« [D4:31] Die Aussage, die Richter »waren nicht dabei«, deutet darauf hin, dass er dem einzelnen Prozess, insbesondere die dort durch Zeugenaussagen gewonnenen »Tatsachen«, nicht so hoch bewertet wie jene eine Regel, die für alle gelten muss – eben die Prozessordnung. Das verweist auf die Unterscheidung der zwei Wissenstypen Ereigniswissen und Verfahrenswissen (vgl. Soeffner 1984: 206 ff.). Der Richter legt das Gewicht in diesem Sinne auf das ihm zur Verfügung stehende Verfahrenswissen, welches ihm hilft, sich im gegenseitigen Austausch das bei den Zeugen befindliche Ereigniswissen anzueignen. Das Abwägen zwischen materieller Gerechtigkeit im Einzelfall, durch den Prozess und dessen Tatsachenaufarbeitung »erschaffen«, und der Chancengleichheit und Rechtssicherheit, die der Richter durch das Einhalten der (und Festhalten an) »Spielregeln« zu gewährleisten sucht, wird durch diesen Typus tendenziell zugunsten der Einhaltung der Regeln des Verfahrens entschieden. Etwas weiter formuliert kann man sagen, dass es dem Richter mehr darum geht, Gerechtigkeit in situ zu erzeugen als über die Definition der Vergangenheit des eigentlichen Falles. Vor Gericht verfahrensgerecht behandelt zu werden, das heißt im Verfahren eine Fairness wahrzunehmen, und zwar durch die Leitung der Vorsitzenden, ist ein gewichtiger Faktor, was die Reputation der Gerichte angeht, sogar in gewisser Hinsicht unabhängig vom Ausgang des Falles (vgl. dazu Lind 1995: 17; Bora und Epp 2000). Das bedeutet, selbst die Beteiligten können sich mit der in situ hergestellten Gerechtigkeit arrangieren. Mit anderen Worten: Der Wirklichkeitsrekonstruktion wird ein geringerer Stellenwert zugewiesen als der Wahrheitskonstruktion. Ein sich vom Ende her orientierendes Verfahren, so Soeffner (2004 [1989]: 251), kommt vom Entscheidungszwang über die Wahrheitskonstruktion zur Wirklichkeitsordnung und nicht umgekehrt, was eben den »Spielregeln« ein höheres Gewicht zukommen lässt als der fallrelevanten Vergangenheit, bei der die Richter »nicht dabei waren«. Als eine Geburtsstunde dieses ›Herr des Verfahrens‹-Typus können die Anforderungen der ersten Verhandlungs- und Fallführungen in der beruflichen Einarbeitungszeit eines jungen Richters bezeichnet werden. Während sich der junge Kammerbeisitzer noch erheblich aus der Schusslinie bringen kann, sofern zu Beginn
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seiner Zeit vonseiten des Kammervorsitzenden Rücksicht darauf genommen wird (mittlerweile ist die Einzelrichterfallbearbeitung in den Kammern ja zur Regel geworden), hat der junge Amtsrichter von vornherein alles auf einmal zu bewältigen. In dieser Stresssituation muss der Richter sich behaupten und zeigen, dass er der ›Herr des Verfahrens‹ ist. Es ist wie eine Taufe, wie ein Einschießen durch die anderen Prozessbeteiligten, hauptsächlich den Anwälten. Ein Vorsitzender berichtet aus seiner Zeit als Amtsrichter: Nachdem der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht einen Überblick über seine beruflichen Stationen bei Gericht gegeben hatte, fragte der Interviewer nach, warum ihm denn wichtig war zu betonen, dass die relativ lange amtsrichterliche Tätigkeit zuvor, ganze elf Jahre, ihm später in der Praxis am Oberlandesgericht sehr geholfen hatte. Der Richter erwiderte, dass der alleinverantwortliche Kontakt der »Außenwelt gegenüber« Eigenschaften erfordert, die etwa in einer vom Vorsitzenden behüteten Kammer als Beisitzer nicht gefordert sind. Diesen Unterschied anhand der Situation eines jungen, vor allem neuen Amtsrichters erläuternd, fährt er fort: 0416 0417 0418 0419 0420 0421 0422 0423 0424 0425
in der ersten Verhandlung müssen sie schon ein bestimmtes standing zeigen, einen Mut zeigen, ohne den Anstand zu verletzen, mhmm wo sich also zeigt, mit dem kann ich das nicht machen, mit dem kann ich nicht Schlitten fahren. Sie lernen beim Amtsgericht, eh wenn sie's richtig machen, eher diese, phh ja wie soll ich mal sagen, diese natürliche Autorität eh als beim Landgericht, weil man da in die Lage so häufig nicht kommt [D5:84]
0416: »In der ersten Verhandlung« Die »Verhandlung« steht im Zentrum dieser Sequenz und deutet auf den interaktivsten Teil der richterlichen Praxis, in dem die Parteien des Rechtsstreits sowie mögliche Zeugen und Zuschauer in einem Raum anwesend sind und unter der Leitung des Richters über den Fall »verhandeln«. Alternativ wird die »Verhandlung« auch »Termin« oder »Sitzung« genannt, hier im Interview wird aber die aktivere Bezeichnung gewählt. Der Richter spricht von der ersten Verhandlung im Singular, nicht von den ersten Verhandlungen im Plural. Eine Verhandlung als die Erste zu bezeichnen impliziert, dass es mindesten eine zweite geben könne, und betont, dass die erste gemeint ist. Die Bedeutung dieser ersten Verhandlung erscheint dadurch gewichtig. Es ist nicht zu ersehen, ob nun die erste Verhandlung eines jeden Falles gemeint ist, die erste Verhandlung auf einem Dezernat, in einem Gericht oder gar die erste Verhandlung als Richter überhaupt
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(wovon es dann nur eine geben kann, wenn man den Status als Richter auf Probe als den Anfang setzt). 0416: »müssen sie schon« Hier wird eine Art Ratschlag oder Anweisung an den Hörer, Leser oder eine andere Gruppe vorbereitet, der sich auf die Verhandlung bezieht. Das »schon« relativiert und unterstreicht das »müssen« gleichzeitig, gibt dem Ratschlag damit einen ambivalenten Charakter. 0416/7: »ein bestimmtes standing zeigen,« Der Ratschlag wird nun ausgeführt und bezieht sich auf den Ausdruck einer Standhaftigkeit, Standfestigkeit, wie er etwa im Sprichwort »seinen Mann stehen« vorkommt. Es ist aber genau genommen kein »Stehen«, sondern ein »standing«. Mit der Verwendung des neudeutschen Wortes »standing« verortet sich der Richter in einer Sprachzone, die auch in der Managersprache verwendet wird, und findet damit Anschluss an einen Sprachduktus, der sich in den Verhandlungen des Wirtschaftssenates ausbilden kann. Dieses »standing« ist aber nicht irgendeines, sondern »ein bestimmtes«, was bedeutet, dass der Richter etwas Konkretes vor Augen hat. Zudem geht es darum, dieses »standing« zu »zeigen«, nicht primär darum, dieses zu haben, und gewinnt dadurch einen performativen Charakter, der sich in die Situation einer Verhandlung als Inszenierung einfügt. Dies, als eine Art Ratschlag formuliert, deutet auf einen reflexiven Umgang mit der Situationsdefinition in der Verhandlung hin. 0417/8: »einen Mut zeigen,« Da keine Konjunktion die Satzteile verbindet, wird das »standing« eher durch den »Mut« erläutert, konkretisiert oder erweitert, als dass es eine völlig andere Dimension der Aufzählung darstellt. Was die Wahl des Singulars »einen« in Bezug auf den »Mut« bedeutet, bleibt unklar, es sei denn, es ist wie »bestimmtes« hinsichtlich des »standing« zu verstehen, das heißt als die Kennzeichnung einer spezifischen, konkreten Unterart des Mutes bzw. standings. 0418: »ohne den Anstand zu verletzen« Hier kommt eine interessante Wendung, die den vormals verwendeten Anglizismus neben eine ältere konservative Verhaltensformel setzt. Dem zuvor aufgebauten »Mut« und dem »standing«, die dem Interesse des Ergebnisses dienen sollen und zum Habitus und der Performance zu zählen sind, wird ein zweites Normsystem als Begrenzung entgegengestellt. Den »Anstand« nicht »zu verletzen« ist eine allgemeine, sprachlich ältere Verhaltensregel des Wie-man-sich-Verhält. 0418/9: »mhmm wo sich also zeigt,« Die Verwirklichung der Kombination der Anforderungen »standing« und »Anstand« »zeigt« sich in der ersten Verhandlung (das »wo«) und offenbart folglich, ob der Richter den notwendigen Habitus hat, ob er es schafft. 0419/21: »mit dem kann ich das nicht machen, mit dem kann ich nicht Schlitten fahren.« Mit jemandem etwas machen können, bedeutet, ihn zu leiten, zu führen, ihn nach eigenem Willen zu gebrauchen oder zu manipulieren. Das wird durch die Schlitten-Metapher verstärkt, die zusätzlich noch die Ebene des Spaßes hinzufügt. Es geht hier um Kontrolle, um Macht und die mögliche Genugtuung, diese im
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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eigenen Interesse auszuüben. Das alles wird durch das »standing«, durch den »Mut« für die anderen Akteure nicht möglich, es muss gezeigt werden, dass dies nicht mit diesem Richter möglich ist. Auf die Soll-Ebene verweisend dürfte dies gar kein Thema für einen Richter sein, ihm ist per Gerichtsverfassung die entsprechende Macht gegeben. Die Praxis zeigt hier aber deutlich, dass diese Macht in der konkreten Interaktion erworben werden muss, und zwar durch die entsprechende Performance, durch den Habitus. Erst wenn die Interaktionspartner dies erfahren, reagieren sie in den dann folgenden Interaktionen in diesen beschrittenen Bahnen. Dies wiederum ist nicht nur passend für die allererste Verhandlung, sondern passt zu allen neuen Situationen mit neuen Interaktionspartnern, ist aber für die Situationen am prägendsten, in welcher für den Richter alles neu ist. Wenn das Zeigen vom »standing« und vom »Mut«, ohne den »Anstand« zu verletzen keine eingeübte Routine ist, das heißt (noch) nicht zum Habitus geworden ist, dann läuft der Richter Gefahr, dass mit ihm »Schlitten« gefahren wird. 0421/3: »Sie lernen beim Amtsgericht, eh wenn sie's richtig machen, eher diese, phh ja wie soll ich mal sagen, diese natürliche Autorität« Das »richtig machen« im Sinne der schon oben gezeigten Performance führt zum Erlernen einer »natürlichen Autorität«. Es mutet zunächst merkwürdig an, eine institutionell verfasste Autorität als »natürlich« zu bezeichnen, doch ist das nicht der Punkt, den der Richter hier meint. Ähnlich wie zuvor ist etwas jenseits des Amtes notwendig, was positiv konnotiert wird, weil es von der »Natur gegeben«, authentisch ist. Es darf nicht gemacht sein, nicht künstlich oder aufgesetzt wirken. Das »standing«, den »Mut« zeigen, ohne den »Anstand« zu verletzen, ist »natürliche Autorität«. 0424/5: »eh als beim Landgericht, weil man da in die Lage so häufig nicht kommt« Wie eingangs schon erwähnt, dient dem Richter diese kleine Erläuterung als Vergleich zwischen dem Amtsrichter und dem Kollegialrichter am Landgericht. Der Amtsrichter muss von Anfang an sein »standing« zeigen, lernt die »natürliche Autorität«, während der Richter am Landgericht weniger »in die Lage«, das heißt eine solche Situation, mit den restlichen Akteuren ohne weiteren Richterkollegen alleine zu sein, gelangt. Zur Verbindung mit der ›Basis‹-Dimension ›Verantwortlichkeit‹ siehe Abschnitt 3.2.2. Das in dem vorangegangenen Beispiel noch diffus ausgeführte »Schlitten fahren«, aber auch das »standing« werden von einem altgedienten Amtsrichter in dem folgenden Interviewstück näher erläutert. Er erinnert sich an die Zeit zurück, in der er selbst ein »einzuschießender Jung-Strafrichter« war: »Als junger Richter habe ich das erfahren, dann testen die einen erst einmal durch mit allem (Training), nicht. Ob man- die sind ja lästig, ne, alle möglichen Anträge in alle Richtungen. Und wenn man aber merkt, dass der Richter das beherrscht, dann braucht man- dann machen die das auch nicht mehr.« [D8:16]
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Das »Schlitten fahren« besteht in diesem Fall darin, dass die Anwälte »alle möglichen Anträge in alle Richtungen« stellen. Es erscheint dem Richter als ein Testen vonseiten der Anwälte und als ein »Training« für den Richter selbst. Aus der retrospektiven Sicht sind »die«, ob damit nun die Anträge oder die Anwälte gemeint sind, bleibt offen, »ja lästig«. Der Richter sieht sich in einer solchen Situation mit einer Vielzahl prozessrechtlich möglicher Schachzüge der Anwälte konfrontiert, die aus Sicht eines erfahrenen Richters offensichtlich nicht für den Fall notwendig sind, sondern den Anwälten dazu dienen, den neuen Richter auszutesten, wie weit man bei ihm gehen kann. Man gewinnt den Eindruck, als ob eine große Palette an Tricks ausprobiert wird, um herauszufinden, inwieweit der »Neue« die Prozessordnung »beherrscht«. Denn, so führt der Richter hier weiter aus, wenn die Anwälte merken, »dass der Richter das beherrscht«, dass er sozusagen die notwendige Kompetenz, das Wissen und die situationsangemessene Verarbeitungskapazität mitbringt, »dann machen die das auch nicht mehr«, sie haben die Grenzen des Neuen ausgetestet und wissen, mit wem sie es zu tun haben. Der Richter dieses Typus erwirbt sich in den ersten allein verantwortlichen Verhandlungen die Fähigkeit der Verhandlungsführung, die ihn zum ›Herrn des Verfahrens‹ macht. Sie ist nicht allein durch die strukturelle Machtverteilung gegeben, sondern muss sich in eben diesen ersten direkten Interaktionen der Verfahrensbeteiligten erworben werden, ausgehandelt werden, durch das Zeigen von Autorität unter Beweis gestellt werden. Wenn der Richter nach dieser »Einschusszeit« weiterhin stärkeres Gewicht auf diesen Aspekt seiner Tätigkeit legt, sich etwa als »Prozessualist« bezeichnet und der Verfahrensgerechtigkeit und Chancengleichheit Vorrang vor der materiellen Einzelfallgerechtigkeit gibt und zudem der Performanz der Autorität über das Verfahren Platz einräumt, dann soll er als ›Herr des Verfahrens‹-Typus bezeichnet werden. Die drei analysierten Typen ›Subsumtionsautomat‹, ›Methodenmonist‹ und ›Herr des Verfahrens‹, lassen sich zu dem Typus des ›Richtigtechnikers‹ zusammenfassen. Der ›Richtigtechniker‹ ist auf die rationale Verwirklichung und Durchführbarkeit von Gesetzen bezogen, ohne jene in seinen Selbsttypisierungen nennenswert zu relativieren, zu kritisieren oder sich zu distanzieren. Er beansprucht eine alleinige Gültigkeit seiner Lösung, weil er sie im Rahmen der ihm verfügbaren Regeln (Methoden, Gesetzesauslegungen, Prozessordnungen) und der ihm als Richter zustehenden Macht ›lege artis‹ vollzogen hat. Technisch gesehen hat er alles richtig gemacht, ist davon überzeugt und vertritt das auch. Zu diesem Trio der Selbstgewissheit gesellt sich ein etwas anderer, vierter Typus des ›Richtigtechnikers‹ hinzu.
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
3.3.1.4
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›Menschlicher Mund des Gesetzes‹
Der ›menschliche Mund des Gesetzes‹ ist sich der Fehlerhaftigkeit menschlichen technischen Handelns bewusst. Dadurch dass er die Defekte aber in den Bereich des menschlichen Handelns bzw. Versagens und nicht in die Sphäre der Methoden oder Gesetze verweist, stützt er die prinzipielle Gültigkeit einer funktionierenden Technik und des Gesetzes. Gleichsam bietet er schon die entsprechenden Anschlussstellen zum ›Radbruchianer‹-Typus. Rechtsprechung soll nach dem im Folgenden analysierten Richter entsprechend ernst genommen werden, wozu aus seiner Sicht die Roben, das Aufstehen und die Einigung der Parteien gehören. Ihm ist ein solcher symbolischer und ritueller Rahmen wichtig, auch wenn er selbst über sich in dieser Hinsicht erstaunt ist, weil es in seinem sonstigen Leben keine Rolle spiele. Auf die Frage, ob er sich eher als Staatsdiener oder eher als Dienstleister sehe, antwortet er mit einer Wortschöpfung: als »Staatsdienstleister«, der eine Funktion zu erfüllen hätte, zu der er ernannt worden wäre, nicht geboren. Somit möchte er Autorität als Richter am Gericht in Anspruch nehmen, nicht aber für sich. Dies bezeichnet er als die einzige Form der Schärfe, die sich bei ihm eingeschlichen habe. Daraufhin wird die Frage eingebracht, ob er sich in der Rolle als Richter mehr als »Richterkönig« oder mehr als »Mund des Gesetzes« sehe. Der Richter antwortet darauf wie folgt: 1585 1586 1587 1588 1589 1590 1591 1592 1593 1594 1595 1596 1597 1598 1599 1600 1601 1602 1603 1604 1605
Och als der Mund des Gesetzes glaub ich nich. Ah ich mein, ich wende zwar ja nur Gesetze an, was anderes als Anwendung von Gesetzen kann ich ja gar nich machen. Aber ich glaube, das is schon jedermann klar, dass dass dass das n' Mensch is, der das Recht anwendet. (--) Also mich ham se, das tut jetzt aber eigentlich (-) praktisch nix zur Sache, wir ham, ich sing in nem Chor mit un wir singen Johannespassionen im Moment un dann war'n wa aufn Chorfreizeit un da ham se ausgerechnet mich, weil ich Richter bin, ham se ausgesucht bei dem Passions- bei der Passionsandacht, die wir da am (Ort55) gemacht haben, ich solle die ähm die Pilatusstellen aus der Passion lesen, weil sich das doch bei mir so gut machen würde. (-) In der Tat hat mich das allerdings auch etwas ähm ich mu ich hab da mal so'n bisschen geübt da mir die Stellen vorher angeguckt, damit ich mich da nicht ständig verspreche, ähm da hab da hab ich mal so mal wieder gemerkt, wie's so menschelt, ich mein bei den menschelt's ja auch so' n bisschen da mit seinen überlieferten Sprüchen so ›was ist Wahrheit‹ und so und ›ich finde keine Schuld an dem Jungen‹ (und) und trotzdem ähm hat er hat er alles gemacht, was
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
1606 1607 1608 1609 1610 1611 1612 1613
man von ihm wollte und so. Das das ähm ich ich muss jetzt - Gott sei Dank - nichts machen, was ich nich auch vertreten kann. Aber dass es menschelt, äh müsste eigentlich jedem klar sein dabei, dass das nicht nur der Mund des Gesetzes is, das wär ja wie'n Automat, (-) das glaub ich eigentlich nich. Also so fühl ich mich au nich. Und das schließt ja übrigens dann auch ein, dass ich mich mal irren kann. (--) [D10:17]
Zu der vom Interviewer eingebrachten und aus einschlägiger (juristischer) Literatur bekannten Unterscheidung in »Richterkönig« (vgl. Ogorek 1986) oder »Mund des Gesetzes« (Metapher von Montesquieu, vgl. Christensen 1989) positioniert sich der Richter in differenzierter Weise, ohne das Dilemma in der einen oder anderen vorgegebenen Weise zu lösen. Diese generelle Positionierung zu vorgegebenen Schemata lässt den Richter als selbstbewussten und reflektierten Interviewpartner in Erscheinung treten, der sich mit dem Vorgebrachten des Interaktionspartners auseinandersetzt, ohne sich auf ein formalistisches Entweder-Oder festlegen zu lassen. Die Interaktionssituation auf dieser Ebene erscheint annähernd egalitär, abgesehen von der prinzipiellen Struktur des Frage-Antwort-Schemas, die aber weder eine hierarchische noch eine bittstellende Situation zu einer der beiden Seiten hin markiert. Vielmehr ist dies ein Beispiel normaler, in institutionellen und professionellen Settings üblicher Interaktionsform, in der gegenseitige und egalitäre Höflichkeiten Grundlage eines Frage-Antwort-Prozesses sind. Die Argumentation verläuft in ihrer Grobstruktur wie folgt: Von den angebotenen zwei Varianten, »Richterkönig« und »Mund des Gesetzes«, wird auf Letzteres explizit eingegangen. »Nur« (1609) der »Mund des Gesetzes« zu sein, »glaubt« (1585, 1610) er nicht. Er wendet »zwar« nur Gesetze an, da er etwas anderes nicht machen kann (1586/7). Da der Anwender aber ein »Mensch« ist (1589), »menschelt« es (1602, 1608). Dass der Rechtsanwender ein Mensch ist, wird im Folgenden, wie dann auch das Menscheln, durch die eingeschobene Anekdote der Pilatusstelle weiter expliziert (1590-1606). Wenn es menschelt, kann es nicht nur der »Mund des Gesetzes« sein, weil das wie ein Automat wäre (1608-1610). Er fühlt sich auch nicht so (1611), und das Gesagte schließt mit ein, dass er sich »mal irren kann« (1612). Ganz vereinfacht dargestellt kommen wir zu folgender Struktur: Hauptaussage: Selbstbild nur »Mund des Gesetzes«. Begründungsgang: Selbst = Rechtsanwender = Mensch = Menscheln = Irrtum möglich = eigenes Fühlen Automat = nur »Mund des Gesetzes« Die Interpretation im Einzelnen 1585: »Och als der Mund des Gesetzes glaub ich nich.« Die vom Interviewpartner zuletzt genannte Alternative »Mund des Gesetzes« wird aufgenommen und sogleich
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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verworfen. Die Distanzierung ist aber nicht radikal oder vehement. Sie wird mit der Interjektion eines »Och« eingeleitet, die beschwichtigend wirkt oder zumindest den Standpunkt markiert, dass die Herausforderung durch die Dilemma-Frage ihn nicht wirklich aus der Reserve locken kann. Die Abmilderung der Ablehnung jener Alternative wird durch das »glaub ich« weiter verstärkt, weil es sich eben dabei um keine eindeutige Existenz- oder Wissensaussage handelt. Die erste Aussage steht als bedingte Verneinung einer angebotenen Alternative im Raum. Die folgenden zwei Sequenzen gehen nun auf ein inhaltliches Teilzugeständnis ein, welches vom Richter an die Alternative »Mund des Gesetzes« zugestanden wird und durch die ersten Abmilderungen der Verneinung eingeleitet wurde: 1585/6: »Ah ich mein, ich wende zwar ja nur Gesetze an,« Der Auftakt »Ah ich mein« leitet die Exemplifizierung des zuvor Gemeinten ein, weist darauf hin, dass eine subjektive Meinung geäußert wird, die sich nicht hinter einem »man« oder einer reinen Existenzaussage versteckt. Der folgende Aspekt, das »ich wende […] Gesetze an«, ist eine aktive Tätigkeit. Angewendet werden Instrumente, Arzneien, Methoden, Werkzeuge, aber auch Regeln und eben Gesetze. »Anwenden« impliziert eine Einfachheit, eine Klarheit, ein Abarbeiten einiger Handgriffe, ein Nehmen-undBenutzen. Es ist eben nicht: Auslegen oder Interpretieren. Es beinhaltet nicht, mehrere Optionen zu überdenken und gegeneinander abzuwägen, es ist fraglos, einfach und direkt zu bewerkstelligen. Diese Einfachheit wird nun durch »zwar ja nur« weiter spezifiziert. Zunächst wird mit »zwar« eine Einschränkung aufgebaut, die in ihrer Logik ein späteres »aber« verlangt. Das bedeutet, dass das nachfolgend Gesagte nur zu einem Teil stimmt, oder deutlicher: Es wird ein Argument für aufgebaut, um dann ein Stärkeres gegen zu bringen. Das »ja nur« reduziert den Gegenstand der Aussage, die »Gesetze«, und die Tätigkeit »Anwenden« auf etwas Kleines, Einfaches, Unbedeutendes. Damit wird der Charakter des Anwendens, als etwas Leichtes, noch einmal verstärkt. Das »ja nur« nimmt hier eine Funktion des »bloß« ein. Ein inhaltliches Teilzugeständnis an die Metapher »Mund des Gesetzes«, für das persönlich Verantwortung übernommen wird, ist das bloße Anwenden von Gesetzen, welches aber gleichzeitig in den insgesamt doch verneinenden Aspekt bezüglich der Rolle als »Mund des Gesetzes« eingebettet wird. 1586/7: »was anderes als Anwendung von Gesetzen kann ich ja gar nich machen.« Hier wird das Thema »Anwendung von Gesetzen« wieder aufgenommen und in Richtung der persönlichen Verantwortung ergänzt: Es bleibt zwar bei der IchFormulierung, aber aus dem eigenen aktiven »Anwenden« wird die abstraktere Substantivierung »Anwendung« und das Aufzeigen einer Alternativlosigkeit bezüglich der Handlungsoptionen durch »was anderes […] kann ich […] nicht machen«. Trotz der Ich-Formulierung verschwindet das Ich als Verantwortungsbezug hinter einer Nichtmöglichkeit, die wie selbstverständlich nicht weiter ausgeführt wird. Denn es ist ja nicht ich, der nichts anders machen kann, sondern ich kann ja nichts anderes machen. Das »Können« nimmt hier demnach stellvertretende Funktion für eine
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
allgemeine Unmöglichkeit ein, die unabhängig vom je einzelnen Ich (als Richter) dargestellt wird. Der Zusatz »ja gar« ist eine Pointierung. Dieser ganze Nachsatz hat somit die Funktion, die zuvor getroffene Aussage mit stärkerem Verantwortungsbezug abzumildern. Die Einschränkung der Verneinung des »Mund des Gesetzes« endet hier. Sie beinhaltet die Grundposition, dass Gesetze nur angewendet werden können. Aus der Anlage der Argumentation lässt sich schließen, dass für den Richter die Metapher »Mund des Gesetzes« mehr bedeuten muss, als die – aus seiner Sicht – Tatsache, dass es für Gesetze nur die Option des Anwendens gibt, weil sonst dem »Mund des Gesetzes« hätte zugestimmt werden müssen. 1588: »Aber ich glaube« - Das »Aber« folgt und ist durch die »zwar … aber«Logik zuvor schon eingeleitet. Hier beginnt die Entgegnung zu der bloßen »Anwendung«, das Argument, welches stärker wiegt. Wieder wird das persönliche und verantwortungsbenennende Ich gewählt, wieder mit der subjektiven Abschwächung des Glaubens im Gegensatz zur Möglichkeit des Wissens oder einer Existenzaussage. 1588: »das is schon jedermann klar,« Dieser Einschub ist eine typische Generalisierung, um Zustimmung zu mobilisieren. Die Aussage unterstellt, dass es »jedermann klar« ist, nicht »sein müsste« als Abschwächung, sondern »ist« als Existenzaussage. Damit würde sich ein Zuhörer, der dem nicht zustimmt, gegen die Meinung jedermanns stellen, was seine Meinung zu einer kleinen abweichenden Position degradieren würde. Nur das »schon« stellt eine kleine Abmilderung der aufgebauten sozialen Drucksituation dar. 1588/9: »dass dass dass das n' Mensch is, der das Recht anwendet. (--)« Hier kommt das Hauptargument, welches zunächst durch ein Wortsuchen gekennzeichnet ist. Die mehrmalige Wiederholung von »dass« verschafft dem Redner einen Augenblick Zeit, die genaue Wortwahl zu bestimmen, und steigert ein wenig die Spannung. Die zuvor aufgebaute Argumentation, mit der durch das »zwar … aber« abgeschwächten Ablehnung des »Mund des Gesetzes«, findet in der Benennung »Mensch« seinen Höhepunkt – nicht »Mund«, sondern »Mensch«. Durch die explizite Nennung von »Mensch« fallen sofort die Hälften von Gegenpaaren fort: Nicht Tier, nicht Ding, Maschine oder Automat, nicht metaphysisches Wesen. Das zuvor auf der »zwar«-Seite des Argumentes bemühte »nur Gesetze anwenden« wird nun nach dem Subjekt hin bestimmt, mit allen Implikationen zur Art der Anwendung. Es ist eben auch entscheidend, wer oder was die Gesetze anwendet. Und: es sind nun nicht mehr nur die Gesetze, die angewendet werden, sondern das »Recht«. Dies könnte als Erweiterung verstanden werden. Nachdem das Hauptargument bezeichnet wurde, folgt eine längere Pause. Das kann als Unterstreichung des Gesagten angesehen werden oder als Aufforderung an den Interviewer, Reaktionen von Zustimmung oder Ablehnung zu signalisieren, um darauf eingehen zu können. Es folgt zumindest nichts auf audieller Ebene. Wir können die nonverbalen Kommunikations-
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inhalte an dieser Stelle nicht mehr rekonstruieren, da keine Videoaufnahmen zu dem Interview vorliegen. Es besteht aber Grund zu der Annahme, dass die Argumentation im Prinzip abgeschlossen ist und der Richter bis hierhin gesagt hat, was seinem Verständnis nach als Explikation genügt. Wenn ein Mensch es ist, der Recht anwendet, impliziert das Eigenschaften, die eine Verwendung als »Mund des Gesetzes« nicht oder zumindest nicht vollständig zulassen. Es wird somit ein spezifisches Menschenbild angesprochen, welches insbesondere auch für Richter, mindestens für ihn selbst, Gültigkeit besitzt. Was das ist, bleibt zunächst implizit. Es folgt der Versuch, anhand einer Anekdote aus dem eigenen Leben zu explizieren, was dieses Menschenbild ausmacht. Hier werden auch neue Aspekte angeschnitten, die später beim ›Radbruchianer‹ (siehe Abschnitt 3.3.2) weiter vertieft werden. »Also mich ham se, das tut jetzt aber eigentlich (-) praktisch nix zur Sache, wir ham, ich sing in nem Chor mit un wir singen Johannespassionen im Moment un dann war'n wa aufn Chorfreizeit un da ham se ausgerechnet mich, weil ich Richter bin, ham se ausgesucht« [D10:17, 1590/4] Die Tatsache, dass die Chormitglieder ihn auswählen, erscheint ihm zunächst erstaunlich zu sein, worauf das »ausgerechnet« (1593) hinweist. (Es könnte auch ein Kokettieren sein, worauf aber die Gestaltung der Stimme keinen Hinweis zulässt.) »bei dem Passions- bei der Passionsandacht, die wir da am (Ort55) gemacht haben, ich solle die ähm die Pilatusstellen aus der Passion lesen, weil sich das doch bei mir so gut machen würde. (-)« [D10:17, 1594/7] Die Zuschreibung der Information »das ist ein Richter« ist nur ein Teilaspekt dessen, was vermittelt wird. Die Chormitglieder identifizieren ihn zwar als Richter, aber der Ausspruch »Das macht sich bei dir gut!«, wie er sich möglicherweise zugetragen haben kann, weist über das Informationslabel »Richter« hinaus. Die Chormitglieder scheinen sich vorstellen zu können, dass er den Pilatus »gut machen« könnte. »Gut machen« heißt: aktiv sein, handeln »wie«, eine Rolle spielen, sich verhalten »wie«. Das heißt, die Zuschreibung geht dahin, dass dem Richter zugetraut wird, den Pilatus gut zu spielen, seine Textstelle gut zu lesen. Woher könnten Chormitglieder diesen Eindruck haben? Nur aus der Information, dass er ein Richter ist? Das dürfte zu wenig sein. Hier ist vielmehr anzunehmen, dass er in seinem Verhalten, auch im Chor, eine Art und Weise zeigt, die ihn – in Verbindung mit dem Wissen, dass er ein Richter ist – in den Augen der anderen typisch befähigt, die richterähnliche Rolle des Pilatus in der Johannespassion einzunehmen. Diese durch die anderen zugeschriebene Eigenschaft kann als Habitus interpretiert werden. Er ist anhand seines richterlichen Habitus befähigt, den Pilatus zu sprechen, es würde sich bei ihm gut machen. Er »spielt« nicht nur die Rolle bei Gericht,
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sondern hat etwas in seinem Verhalten auch außerhalb (räumlich, zeitlich, funktionsspezifisch) seiner Berufsrolle, was ihn als Richter typisiert. Andere können dies wahrnehmen als etwas, »wie jemand ist«, und spiegeln es ihm gleichsam zurück: »Das macht sich bei dir gut!«. Zurückgewendet auf sein zunächst vorhandenes Erstaunen ist es möglich, dass es ihm nicht so bewusst war, dass er von den Chormitgliedern in dieser Art gesehen wird. Sein (überraschtes) Selbstbild traf somit auf das Fremdbild, eine Differenz wurde wahrgenommen. Dieser reflexive Charakter der Anekdote wird durch das Folgende verstärkt: 1597/8: »In der Tat hat mich das allerdings auch etwas ähm« Hier wird sprachlich Bezug genommen auf die zuvor mehr implizit enthaltene Differenz: »In der Tat« kennzeichnet eine Art empirischen Beweis zugunsten einer zuvor aufgestellten Annahme, in diesem Fall »dass es sich bei ihm gut machen würde«. Der folgende Einschub »ich mu ich hab da mal so'n bisschen geübt da mir die Stellen vorher angeguckt, damit ich mich da nicht ständig verspreche, ähm« [D10:17, 1598/1600] legt die Vorbereitung für und die Vertiefung in die Materie der Pilatusstellen dar. Später erfahren wir, dass dies dem Richter ermöglichte, sich reflektiert mit der Rolle des Pilatus und seiner eigenen auseinanderzusetzen. 1601: »da hab da hab ich mal so mal wieder gemerkt,« Hier wird nach dem Einschub wieder der Bezug zu der Erkenntnis des »In der Tat« hergestellt, der zuvor durch das »ähm« oben (1597/8) abgebrochen war. Der Richter hat »mal wieder gemerkt«, grundsätzlich erscheint die Erkenntnis der Reflexion in dem Moment als etwas, was schon (mindestens) einmal vorhanden war. Die Situation, in die die Chormitglieder ihn aufgrund seines Richterseins gebracht haben, ließen ihn eine schon mal vorgenommene, aber wieder vergessene Reflexion erneut bewusst werden. 1601/2: »wie's so menschelt,« Das ist nun das zentrale Argument, welches aus der Anekdote folgt. Die wiederkehrende Erkenntnis ist, dass es »so menschelt«. Wir wissen zwar noch nicht genau, bei was es »menschelt« und was das »Menscheln« inhaltlich für den Richter ausmacht, aber das Argument ist gesetzt und wirkt zunächst durch seine impliziten Assoziationen. Diese kommen aus der allgemeinen Bedeutung von »Menscheln« als umgangssprachlich für »menschliche Schwächen deutlich werden lassen«. Das oben (1588/9) begonnene Hauptargument »Mensch« (gegen den »Mund des Gesetzes«) scheint hier fortgeführt zu werden. 1602/3: »ich mein bei den menschelt' s ja auch so' n bisschen da mit seinen überlieferten Sprüchen« Während wir oben noch nicht genau wussten, bei wem und wann es menschelt, wird hier durch die Gegenüberstellung »bei den«, »da mit seinen überlieferten Sprüchen« deutlich, dass oben (1601/2) eine selbst erfahrene Zeit des Richters gemeint sein muss. Durch die Auseinandersetzung mit der Pilatusstelle, bei der er anhand von »überlieferten Sprüchen« merkt, dass es »auch« menschelt, wird ihm bewusst (1601), dass in seiner eigenen Tätigkeit, noch versteckt hinter einem generalisieren-
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den, anonymisierenden »wie’s so menschelt«, menschliche Schwächen deutlich werden. Diese das Menscheln charakterisierenden, überlieferten Sprüche werden anschließend expliziert: 1603: »so ›was ist Wahrheit‹ und so« Ohne zu tief in die Johannespassion einzusteigen, sei hier zusammenfassend gesagt, dass es sich um die Stelle handelt, an der Jesus den Anspruch formuliert, er sei als König in die Welt gekommen, um die Wahrheit zu zeugen. Pilatus erwidert daraufhin mit der Frage: »Was ist Wahrheit?« 1604: »und ›ich finde keine Schuld an dem Jungen‹« Dann tritt Pilatus vor die Menschen und sagt »Ich finde keine Schuld an ihm.« 1605/6: »(und) und trotzdem ähm hat er hat er alles gemacht, was man von ihm wollte und so.« Denn Pilatus arbeitet den gewohnten Gang der damaligen »Prozessordnung« ab, wenn man es so bezeichnen darf, und stellt den anwesenden Menschen einen der beiden Angeklagten zur Wahl für einen Freispruch bereit. Barrabam der Mörder wurde vom Volk erwählt und Jesus einer Strafe zugeführt. Was unseren Richter zum Nachdenken über das Menscheln brachte, waren diese zwei Aspekte: Zum einen die hoffnungslose Aufgabe, Wahrheit zu definieren. Obwohl Pilatus die Frageform wählt, wartet er weder auf eine Antwort von Jesus darauf noch gibt er selbst eine. Gleichsam einer Feststellung im Sinne einer rhetorischen Frage »Was soll schon Wahrheit sein?« kommt damit zum Ausdruck, dass Wahrheit durch Parteien, durch den Richter, eben durch: Menschen konstruiert wird und damit prinzipiell menschlichem Versagen ausgeliefert ist. Zum desillusionierenden Alltag eines Richters gehört die Tatsache, dass Wahrheiten relativ sind. Zum anderen wird hier die Differenz zwischen formalem Recht und Naturrecht in den Blick genommen, zwischen dem, was der Richter als Funktionsträger im Sinne des Gesetzes zu tun hat, und dem, was aus seinem Gerechtigkeitsgefühl heraus zu tun wäre. Das »und ›ich finde keine Schuld an dem Jungen‹« bedeutet, dass Pilatus‘ persönliches Empfinden (hier durch unseren Richter wiedergegeben) keine Schuld feststellen kann. Im Sinne einer naturrechtlichen Gerechtigkeit spricht Pilatus Jesus damit unschuldig. Nach der formalen Gerechtigkeit jener Tage aber ist Jesus schuldig, so dass Pilatus den Prozessgang fortführt, in diesem Sinne »alles gemacht hat, was man von ihm wollte«. Auch Gesetze werden von Menschen gemacht und unterliegen menschlicher Unzulänglichkeit (oder im schlimmsten Fall Böswilligkeit), so dass die Umsetzung jener formalen Gesetze durch den Richter zu einer naturrechtlichen Ungerechtigkeit führen kann. Und dort »menschelt« es dann zum zweiten Mal beim Richter, wenn er aufgrund der Furcht, seine anerkannte Position zu gefährden, gruppen- und systemkonform handelt, obwohl sein Gerechtigkeitsempfinden etwas anders sagt. Ein solches Menscheln ist z. B. Gegenstand vieler Diskussionen über die Rechtsprechung in der NS-Zeit. Dieser zweite Aspekt bringt zum Ausdruck, was für den ›Radbruchianer‹-Typus von Bedeutung ist (siehe Abschnitt 3.3.2).
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Diese beiden »menschelnden« Momente, die menschengemachte und dadurch relative Wahrheit sowie das Praxisdilemma von formaler und materieller Gerechtigkeit, brachten den Richter in eine reflektierende Beziehung zu Pilatus. 1606: »Das das ähm« Nach der Pilatus-Anekdote wird dazu angesetzt, die Hauptargumentation fortzuführen, wird aber noch im Ansatz durch folgenden Einschub unterbrochen: »ich ich muss jetzt Gott sei Dank nichts machen, was ich nich auch vertreten kann« (1606/8). Hier nimmt der Richter direkt Stellung zum zweiten menschelnden Teil der Pilatus-Anekdote. Er versichert, dass für ihn dieses zweite Menschel-Problem nicht relevant ist, weil er nichts machen muss, was er nicht »auch vertreten kann«. Dieses »vertreten können« verweist auf das Gerechtigkeitsempfinden, auf die naturrechtliche Gerechtigkeit. Möglicherweise möchte der Richter den Eindruck vermeiden, dass er weder, wie Pilatus, Dinge tut, die er nicht für gerecht hält, noch das heutige formale Recht in Teilen für nicht vertretbar erklärt. Deutlich wird dabei ein Element des ›Radbruchianer‹-Typus (siehe Abschnitt 3.3.2): In der eigenen Arbeit können zwar in Ansätzen inhaltlich ungerechte und unzweckmäßige Dinge erscheinen, der Widerspruch vom positiven Gesetz zur naturrechtlichen Gerechtigkeit nimmt aber nie ein solches Ausmaß an, dass das Recht als Unrecht beschieden werden müsste, dem er dann nicht Folge zu leisten hätte. Gleichsam schwächt der Richter mit dieser Einschränkung des Ergebnisses der Pilatus-Anekdote das Menschel-Problem wieder etwas ab. Wenn es im zweiten Sinne keine heutige Entsprechung zur damaligen Situation gibt, bleibt nur die erste übrig. Das Menschel-Problem bleibt dann die Frage nach der Wahrheit oder besser: die Erkenntnis der Relativität der Wahrheit. 1608/9: »Aber dass es menschelt müsste eigentlich äh jedem klar sein dabei,« Nun wird die Ursprungsargumentation endgültig wieder aufgenommen. Die zuvor gemachte Einschränkung wird durch den Beginn mit dem »Aber« an dieser Stelle zu einem unvollständigen »zwar … aber«. Damit wird bekräftigt, dass der Anspruch des Hauptargumentes »Menscheln« bestehen bleibt, auch wenn nicht jedes Menschel-Problem des Pilatus für die heutige Zeit gilt. Wieder wird die generalisierende Funktion von »jeder« (1588) in Beziehung zu einer Erkenntnis, einem Wissen »klar sein« verwendet, und signalisiert damit, dass dieser Bestandteil der Argumentation abgeschlossen ist. Nur das »müsste eigentlich« lässt noch eine Hintertür auf, die auch sofort benutzt wird. 1609/10: »dass das nicht nur der Mund des Gesetzes is,« Der zunächst abgeschlossen wirkende Satz zuvor findet hier seine Fortführung und verbindet das Menscheln nun wieder mit der im Hauptargument aufgegriffenen Metapher »Mund des Gesetzes«. Diesmal ist es aber nicht verneint, mit einer Einschränkung abgemildert (1585), sondern der »Mund des Gesetzes« erscheint hier als zentrale Aussage, die eine zusätzliche Ergänzung erfordert: Es ist »nicht nur« der »Mund des Gesetzes«. Das bedeutet einen Wandel der Hauptlinie in der Argumentation, zumindest in der graduellen Ablehnung der Metapher.
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1610: »das wär ja wie'n Automat,« Das »das« bezieht sich auf das vorher Gesagte und leitet mit dem »wär ja wie« einen Vergleich damit ein. Durch den im Konjunktiv gehaltenen Vergleich wird die Aussage zugleich irrealer gemacht und stützt die einschränkende Existenzaussage zuvor. Eine solche Argumentation verwendet die zweite Bezeichnung, hier Automat, als etwas Unwahrscheinlicheres oder Abwegigeres als das Erstgenannte und will mit der Gleichsetzung damit jenes Erste auf das Unwahrscheinlichkeitsniveau herabziehen. Mit »Automat« dürfte ein weiterer bekannter Terminus gemeint sein, der »Subsumtionsautomat« (vgl. Ogorek 1986 und siehe Abschnitt 3.3.1.1), wobei die Interpretation alleine auch aus dem alltagsverständlichen Begriff ›Automat‹ Gültigkeit beanspruchen kann. Die Verbindung von der Metapher »Mund des Gesetzes« aus der Sequenz zuvor mit der Metapher »Subsumtionsautomat« wird hergestellt, um den einschränkenden Anspruch zu verstärken. Wichtig ist aber, dass die Gleichsetzung mit einem »nur« beim »Mund des Gesetzes« verbunden ist. Die pure oder enge Interpretation des Mundes würde ihn mit dem Automaten gleichsetzen. In dieser Sequenz wird nun auch ein weiter oben (1588/9) aufgestelltes Gegensatzpaar komplettiert: Mensch vs. Automat. Nach einer kleinen Pause geht es noch weiter: 1610/1: »(-) das glaub ich eigentlich nich.« Die nun in den Mittelpunkt gelangte Automaten-Metapher wird mit abschwächenden (»glaub« und »eigentlich«) Elementen verworfen. Es erinnert stark an die Eingangsdistanzierung (1585), die diesmal aber auf das spezifische Element »Automat« bezogen ist. Die Verneinung des »Mund des Gesetzes«, wenn auch mit dem Zusatz »nur«, wird wiederaufgelegt, als ob das kurz zuvor gegebene Zugeständnis (1609/10) wieder eingeholt werden müsste. 1611: »Also so fühl ich mich au nich.« Zum »Glauben« kommt nun das erste Mal eine andere Dimension hinzu: ein »sich fühlen«. Zu den bisherigen logischen Überlegungen, auch wenn sie mit dem abgeschwächten »glauben« arbeiten, tritt nun eine Gefühlskategorien hinzu, die eine neue Dimension beschreitet. Er fühlt sich nicht als »nur Mund des Gesetzes« oder als »Automat«. Das Argument ist, kaum begonnen, damit auch schon wieder zu Ende. Ein »Ich-fühl-mich-so-und-so«Argument ist an sich unangreifbar und benötigt keine weitere Legitimation oder Argumentation. Interessant ist, dass diese Gefühlskategorie erst gebracht wird, nachdem der »Mund des Gesetzes« mit »nur« eingeengt und auf den Automaten hin reduziert wurde. 1611/2: »Und das schließt ja übrigens dann auch ein,« Das »das« bezieht sich auf das Menscheln, auf das »Nicht-Automat-sein«-Können, kurz: auf das Hauptargument. Das »schließt […] auch ein« bereitet die Nennung eines weiteren Explanandums vor. 1612/3: »dass ich mich mal irren kann. (--)« Die bisherige Argumentation gipfelt nun in der persönlichen Verantwortungsübernahme potentieller Fehler. Das ist eine Explikation des »Menscheln« hin auf die eigene Person in kurzer knapper und die vorherige Argumentation zusammenfassender Art.
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Hier enden der thematische Abschnitt und die damit verbundene Argumentation. Fassen wir die Interpretation zusammen und führen die Analysen weiter: Der Richter reagiert auf die vom Interviewer gestellte Frage, ob er sich mehr in der Rolle als »Richterkönig« oder »Mund des Gesetzes« sehe mit einer ausschließlichen Auseinandersetzung mit der Metapher »Mund des Gesetzes«. Der »Richterkönig« taucht nicht mehr auf, auch implizite Hinweise sind nicht zu entdecken (s. u.). So gewinnt die Argumentation um den »Mund des Gesetzes« alleiniges Gewicht. Hierbei ist auffällig, dass es eine Art oszillierendes Verwerfen und Abschwächung der Verwerfung einer Identifikation mit dieser Metapher gibt. Während am Anfang noch der »Mund des Gesetzes« komplett verworfen wurde, steht ganz am Ende ein abgeschwächtes Verwerfen eines »nur Mund des Gesetzes« im Sinne eines Automaten. Hauptargument dafür ist das »Menscheln« und das »Sich-nicht-so-zu-Fühlen«. Ersteres wird mit der Pilatus-Anekdote ausgeführt, welche argumentativ zu dem Ergebnis kommt, dass Wahrheit durch Menschen konstruiert wird und Menschen das formale Recht, auch wenn es Unrecht ist, über das Naturrecht stellen können. Letzteres gilt aber nicht für die persönliche Lage des deutschen Richters heute, womit er sich selbst auch als ›Radbruchianer‹ (siehe Abschnitt 3.3.2) typisiert. Kernpunkt bei dem Menscheln an diesen Stellen ist, und das wird am Ende plakativ ergänzt, dass mit der menschlichen Irrtumsmöglichkeit gerechnet werden muss. Der hier interviewte Richter bleibt mit seinem Selbstverständnis nah an der Metapher »Mund des Gesetzes«, Gesetze können ihm zufolge nur angewendet werden. Eingeschränkt wird diese Aussage jedoch mit Verweis auf die menschliche Fehlbarkeit, die zugleich das Bild des Automaten unbrauchbar macht. Ein Teil des Selbstverständnisses dieses Zivilrichters ist somit in der Erfüllung formaler Rechtsprechung mit dem Wissen und der Einschränkung, nicht unfehlbar zu sein, begründet. Pointiert gesagt ließe sich die mittlerweile reichlich bemühte Metapher des Mundes für unseren Richter in folgenden Typus umformulieren: ›menschlicher Mund des Gesetzes‹. Versucht man, die Aussagen des Richters hinsichtlich der zweiten vom Interviewer vorgeschlagenen Rolle »Richterkönig« zu interpretieren, müssen Anschlussstellen gesucht werden, die eine weite Interpretation dahingehend zulassen. »Richterkönig«, so positiv er zunächst erscheinen mag, ist ein in aller Regel kritisch verwendeter Begriff, der die Ausfüllung richterlicher Spielräume in Richtung einer Selbstherrlichkeit deutet. Solche Handlungen eines Richters können rational boshaft intendiert und impulsiv willkürlich sein. Ein Anschluss dieses negativ verstandenen »Richterkönigs« zu dem interpretierten Interviewstück erscheint hinsichtlich des Menschelns, das heißt dem Deutlichwerden menschlicher Schwächen, möglich. Boshaftigkeit und Willkür, als menschliche Schwäche gesehen, können dann zum fehlerhaften Potential eines Rechtsanwenders gehören. Das Menscheln wird allerdings von unserem Richter in Richtung einer fast technischen Fehlerhaftigkeit ver-
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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standen. Eine moralische Fehlerhaftigkeit, wie Bosheit oder Willkür, erscheint gar nicht im Horizont des Möglichen. Für diesen Richter ist der ›Richterkönig‹ ein fremder Typus, da er selbst auf dem Boden des Werkzeug-Glaubens (als ›Richtigtechniker‹ verstanden) mit der Einschränkung menschlicher Fehlerhaftigkeit bleibt, er ist ein ›menschlicher Mund des Gesetzes‹-Typus. Die hier analysierten Typen ›Subsumtionsautomat‹, ›Methodenmonist‹, ›Herr des Verfahrens‹ und ›menschlicher Mund des Gesetzes‹ sind unter dem Typus des ›Richtigtechnikers‹ zusammengefasst. Der ›Richtigtechniker‹ hebt die rationale Verwirklichung und Durchführbarkeit von Gesetzen hervor, ohne dass er in seinen Selbsttypisierungen nennenswerte Relativierungen erkennen lässt oder sich davon distanziert. Er beansprucht eine alleinige Gültigkeit seiner Lösung, weil er sie im Rahmen der ihm verfügbaren Regeln (Methoden, Gesetzesauslegungen, Prozessordnungen) und der ihm als Richter zustehenden Macht ›lege artis‹ vollziehen kann. Lediglich menschliche Unzulänglichkeiten – in der Person des Richters – können dieser prinzipiellen technischen Unfehlbarkeit entgegenstehen, wie es im ›menschlichen Mund des Gesetzes‹-Typus dargelegt wird.
3.3.2
›Radbruchianer‹
Gustav Radbruch (1878-1949)78 stellte in seinen Überlegungen nach den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Justiz eine Handlungsmaxime auf, die künftig extremes Unrecht, wie es durch die Nationalsozialisten eingeführt und ausgeführt wurde, ver- oder zumindest behindern können sollte, die sogenannte Radbruch’sche Formel79: »Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat. (…) wo Gerechtigkeit nicht einmal mehr erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ›unrichtiges Recht‹, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.« (Radbruch 1990: 89) 78 Gustav Radbruch war ein bedeutender Rechtsphilosoph, Professor und Reichstagsabgeordneter der SPD, dessen Werk bis in die heutige Zeit hineinwirkt (vgl. Kaufmann 1997). 79 In der zahlreichen Literatur zur Radbruch’schen Formel wird allgemein zwischen der ›Unerträglichkeitsthese‹ im ersten Satz und der ›Verleugnungsthese‹ im letzten Teil des Zitats unterschieden (vgl. Forschner 2003: 8 ff.). Wir beziehen uns bei der Radbruch’schen Formel für den Typus des ›Radbruchianers‹ hauptsächlich auf die ›Unerträglichkeitsthese‹, weil es für den heutigen deutschen Richter – wie wir sehen werden – gerade um diesen Aspekt des Unerträglichen oder noch Erträglichen geht und weniger um die komplette Verleugnung der Rechtsnatur, wie sie etwa – zumindest theoretisch – für die NS- oder Mauerschützenprozesse von Wichtigkeit waren.
164
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Kernpunkt einer funktionierenden Justiz bliebe somit die methodisch gesetzliche Anwendung positiven Rechts. Nur bei der Annahme, ein Gesetz würde sich als fundamentales Unrecht darstellen, entfiele die Pflicht, das Gesetz anzuwenden.80 Der ›Radbruchianer‹ ist folglich jener Typus, der dem Gesetz grundsätzlich, auch unter kleinerem Bauchweh, welches er hinsichtlich seines Gerechtigkeitsempfindens in dem einen oder anderen Einzelfall gegenüber dem methodisch anzuwendenden formalen Recht haben könnte, folgt. Über die typischen Eigenschaften des ›Richtigtechnikers‹ hinaus hat der ›Radbruchianer‹, wie er hier entwickelt wird, somit eine Instanz, die sich auf naturrechtliche Gerechtigkeit in Konkurrenz zum formalen Recht bezieht. Aus einem Abgleich dieser »inneren« Gerechtigkeit mit der methodisch und formal erforderten können in Einzelfällen Unstimmigkeiten auftauchen, die als Dissonanzen im sogenannten »Bauchweh« münden. Es soll hier weder bewusstseinsphilosophisch noch bewusstseinspsychologisch eine Herleitung dieser empfundenen Dissonanz stattfinden. Für die im Vordergrund stehenden Selbsttypisierungen genügt, dass es Richter gibt, die ein solches Bauchweh empfinden. Der Umgang bzw. die Konsequenz eines solchen Bauchwehs ist in der Regel ein einfaches Aushalten. Eine Verwaltungsrichterin schildert uns, wie sie trotz kleineren Bauchwehs nach methodisch angewandtem, formalem Recht richtet: »Also wir hatten letztens auch mal einen Fall, da ging's um Leistung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Also das is ein Gesetz, das beschränkt die Leistung für Leute, die, unter anderem, für Leute, die hierher gekommen sind, um Sozialleistungen zu beziehen, sehr stark. Und zwar, also weit unter das Niveau, das für für Normaldeutsche, sag ich jetzt mal, als ehm Existenzminimum festgelegt is für ein menschenwürdiges Leben. Das liegt für Asylbewerber sowieso schon unter dem, was es für normal- erlaubt hier ((Lachen)) Lebende oder auf Dauer hier Leben- Lebendürfende gibt. Und wenn man diese Missbrauchsklausel erfüllt, dann wird das noch weiter beschränkt. ((Einatmen)) Und dann mussten wir uns dann fra80 Eine solche Konstellation, die es möglich macht, einen Richter wegen Rechtsbeugung hinsichtlich einer Naturrechtswidrigkeit ohne Gesetzeswidrigkeit der Tat zu belangen, »hat es im Rahmen innerstaatlicher Strafverfolgung im deutschen Rechtsraum nicht gegeben« (Freund 2006: 193). Nur Systemwechsel (NS, DDR) mit der sich ergebenden Stabilisierungsnotwendigkeit für das Nachfolgesystem ließen übergesetzliches Recht als Rechtsmaßstab ansatzweise zur Geltung kommen, welches sich im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einer Konkretisierung auf menschen- und völkerrechtliche Grundsätze entwickelt. Vergleiche zur Entwicklung der Radbruch’schen Formel ausführlich Freund (2006: 28 ff.), speziell zu den Mauerschützenprozessen auch Haußühl (2006). Zum Unterschied der Verfolgungsintensität der Rechtsbeugung durch das Nachfolgesystem in Abhängigkeit vom Zeitgeistwandel siehe Wieners (2000: 130 und 192). Wenn man die Implikationen einer politischen Grundhaltung der Justiz und Richtung der Strafverfolgung nicht als möglichen Einflussfaktor sehen möchte, dann hat sich, entsprechend der vorsichtig optimistischen Haltung und Frage Wassermanns vor der Wiedervereinigung (Wassermann 1984: 39), erwiesen, dass die »Justiz ihre Lektion aus der Zeit der NS-Herrschaft gelernt hat«.
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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gen, wie weit das denn noch weiter beschränkt werden darf (-) selbst wenn die Voraussetzung erfüllt is. Und ich glaube schon, die Einschätzung, ob jemand hierher gekommen ist, um Sozialleistungen zu beziehen is sehr stark von dem Vorverständnis, wi- wie viel, was meint man denn überhaupt, wie viel Leute hier in Deutschland leben sollten, bestimmt is. Das is schon schwierig. Und da gibt's schon sehr unterschiedliche Einschätzungen. ((Einatmen)) Und zu dieser Frage, in welchem Maß das noch weiter beschränkt werden darf, ham wir dann auch die die Gesetzesentwürfe da herangezogen und dann wurde eben auch klar, wie stark das politisch umstritten gewesen is. Und ich f- fand dann auch, und hab das auch in der Beratung so oft gesagt ›Ja, darauf kommt's aber wirklich nich an, dass das n schlechtes Gesetz is.‹ Also mir persönlich passt das nich. Aber es is natürlich klar, also so fass ich meinen Beruf schon auf und das sollten ja wohl auch alle so machen, wenn die Gesetze eben so gemacht sind, dann müssen wir se wohl so anwenden. Und (-) ehm, klar, das hab ich dann in der Beratung, wie gesagt, mehrfach gesagt: ›Ich find das zwar nich richtig, aber steht nun mal so da und dann muss man's auch so machen.‹« [D6:17] Die Verwaltungsrichterin spricht über das Asylbewerberleistungsgesetz, führt ihre eigenen Gedanken und die in ihrer Kammer geäußerte Diskussion an. Sie ist der Meinung, die sie auch gegenüber den Kollegen vertrat, dass das ein »schlechtes Gesetz« ist und dass sie das »nich richtig« findet. Deutlich wird das zudem aus den Beschreibungen am Anfang des Interviewausschnitts, in denen sie erläutert, dass die Leistungen für Asylbewerber sowieso schon unter dem definierten Niveau des Existenzminimums für ein menschenwürdiges Leben liegen und bei Erfüllung der Missbrauchsklausel noch weiter beschränkt werden. Das an den entsprechenden Stellen stattfindende lautere Einatmen gleichsam eines Seufzens und das Lachen drücken auf nicht sprachliche Weise die empfundene Dissonanz zusätzlich aus. Es ist die Dissonanz zwischen dem eigenen Gerechtigkeitsempfinden bezüglich einer Leistung, die als menschenwürdiges Minimum definiert worden ist, gleichsam aber nicht für Asylbewerber gilt, sondern weniger ist und noch einmal weniger zu werden droht, wenn ein Missbrauch vorliegt. Dieses grundsätzliche Bauchweh dem Asylbewerberleistungsgesetz gegenüber wird aber ausgehalten. Denn es ist »zwar nich richtig« und es »passt« ihr persönlich nicht, »darauf kommt's aber wirklich nich an«. Das heißt, ihr Gerechtigkeitsempfinden und das der anderen ist je nur persönlicher Art, hat etwas mit ihrer Einstellung oder ihrem Geschmack zu tun. Es ist keine naturrechtliche Gerechtigkeit, die die formale Gerechtigkeit im Ernstfall brechen kann, weil sie etwa höher stünde. Ganz deutlich werden hier über dem formalen Recht stehende Naturrechtskonstruktionen in den je privaten Raum innerer Gefühle verbannt und damit jeglicher Legitimation zum Brechen des formalen Rechts beraubt: »wenn die Gesetze eben so gemacht sind, dann müssen wir se wohl so anwenden«. Dazu ergänzt sie noch, dass es ihre Berufsauffassung ist und dass diese auch für alle Richter gelten sollte. Dies ist ein klares Statement und ein normativ-sendender
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Anspruch für die professionelle Anwendung von Gesetzen auch unter persönlichem Bauchweh im Sinne des ›normalen Radbruchianers‹. Mit dieser empirischen Fundierung ist aber erst der eine Teil des ursprünglichen, für die Alltagsnormalität gebrauchsfähigen ›Radbruchianers‹ gefunden, nämlich derjenige, der eben das Recht auch unter Bauchweh anwendet. Der zweite Teil des ›Radbruchianers‹, der für die Ausnahmesituation, der es nämlich dem Richter quasi gestattet, aufgrund naturrechtlicher Konstruktionen das formale Recht zu brechen bzw. für nichtig zu erklären, weil er ansonsten unerträgliches Unrecht sprechen müsste, den gilt es noch zu erkunden. Doch diese Art der Einteilung gestaltet sich nicht so einfach, wie diese analytische Unterscheidung zunächst nahelegt. Um dies zu zeigen, wird der Anschluss an eine weiter oben geführte Analyse notwendig: Die zweite Art des Menschelns in der Pilatusstelle, die in dem Interviewstück [D10:17] beim ›menschlichen Mund des Gesetzes‹ (siehe Abschnitt 3.3.1.4) noch als unbegründet für die heutige Situation jenes Richters gekennzeichnet wurde, war der Konflikt zwischen gesetzlicher Entscheidung und Gerechtigkeitsvorstellung, oder anders ausgedrückt, zwischen formaler und naturrechtlicher Gerechtigkeit. Der Richter charakterisierte sich, insbesondere den Vergleich mit Pilatus im Sinn, als jemand, der in seiner Rechtspraxis nichts machen muss, was er nicht auch vor seinem Rechtsgefühl vertreten kann. Wie virulent dieses Thema »Noch-Vertreten-Können« aber immer wieder in seinem Alltag ist, wird an jener Stelle nicht ganz deutlich. Es gibt Fälle, in denen dieser Richter andere höhergerichtliche Meinungen und sogar auch Gesetze nur schwer mit seinem Rechtsgefühl in Einklang bringen kann. Er kann die von ihm getroffenen Entscheidungen im Sinne der höhergerichtlichen Meinungen und Gesetze letztlich jedoch vertreten, mit der Begründung, sie wären nicht lebenswichtig genug: »So ein total zerbombtes eh eh Haus war, in relativ guter Lage, da is er in' fünfziger Jahren geflohen aussa aussa DDR un eh sollde ‚heute wollt ich als Entschädigung mehrere Millionen Mark kriegen’ ja, da da da hat sich's dann spontan gesträubt, aber nach wenn ma dann liest und nach dem Beweis erhebt, dann kriegt er's halt doch. […] is mir halt einfach (-) also nicht lebenswichtig genug, dass ich nicht auch die andere Meinung vertreten könnte […] gibt ja durchaus so mal juristische Meinungen, die man blöd findet, es mag ja durchaus sogar auch mal Gesetze geben, die man blöd findet. Aber was will man damit machen?« [D10:33] Lebenswichtig genug hieße, so erfahren wir aus der Pilatusstelle und aus einer Reflexion bezüglich anderer Rechtsgebiete und Staatssystemen, gegen sein Gerechtigkeitsempfinden jemanden der zwingenden Folge oder der Möglichkeit des Todes auszusetzen:
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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»Aber ich hab mir das zum Beispiel ma überlegt, wenn ich äh Richter im Verwaltungsgericht in so ner Asylkammer wär, ob ich nich (-) manchma, ob ich da Schwierigkeiten hätte, hab ich mir schon überlegt […] dann einen nach Hause zu schicken, der, von dem ich selber meine, wenn er am Flughafen angekommen is, is sein Schicksal besiegelt.« [D10:35] Seine tatsächliche alltägliche Arbeit weist solche Fälle aber nicht auf, und somit bleibt die Möglichkeit eines Aufbegehrens fiktiver Natur und in ›Glasperlenspielen‹ verhaftet. Eine prinzipielle argumentative Grundlage sieht ein solcher Typus nur außerhalb seines Dezernats gegeben, womit die Arbeit in seinem eigenen Dezernat, ohne größere Reibungsverluste, im Sinne der technischen Durchführung und der höhergerichtlichen Meinungen bzw. Gesetze vonstatten gehen kann. Dies charakterisiert auch ihn als einen ›normalen Radbruchianer‹, der dem Gesetz mit oder ohne Bauchweh folgt, aber der, und das ist das ergänzend Neue, gleichzeitig imaginiert, er würde bei fundamentalem Unrecht aus der Anwendung von Gesetzen ihnen dann und nur dann nicht folgen. Außerhalb der eigenen Zuständigkeit, des eigenen Dezernates, der eigenen Gerichtsbarkeit konstruiert er demnach die Möglichkeit, gültiges Recht als Unrecht ablehnen zu müssen. In der Praxis des eigenen Dezernats kommt er jedoch nicht in diese Situationen des »wenn …. dann«, weil solche Situationen mit einer extremen Eventualität operieren, die er nicht zu befürchten hat. Das kann unterschiedliche Gründe haben, die aber ineinander übergehen. Zum einen struktureller Art (1), in Abhängigkeit von der Gerichtsbarkeit und dem jeweiligen Dezernat. Des Weiteren definitorischer Art (2) bezüglich des Bauchweh-Problems insgesamt und schließlich interpretativer Art (3) im Sinne der Konstruktion, der Auslegung des einzelnen Falles. In Hinsicht auf die strukturelle Art (1) bedeutet das, dass jeder Einzelne dieses ›Radbruchianers‹ die Stelle innehat und innehaben möchte, die für ihn vertretbar ist: D10 ist eben nicht Verwaltungsrichter wie D6 oder gar D16 (s. u.) geworden, sondern hat sich für die Zivilgerichtsbarkeit entschlossen, viele sind möglicherweise (auch) aus diesem Grund nicht Strafrichter geworden. Hier besteht folglich ein enger Zusammenhang zwischen der ›Basis‹-Dimension der ›Gerichtsbarkeit‹ und dem ›Radbruchianer‹. Die bei der ›Gerichtsbarkeit‹ (siehe Abschnitt 3.2.1) beschriebenen Affinitäten können hier einen ihrer Ursprünge haben. Die Befürchtungen liegen dann darin, in eine Entscheidungssituation zu gelangen, die eine prinzipielle Problemkonstellation von gesetzlicher Entscheidung versus Gerechtigkeitsvorstellung mit sich bringen: »Aber wie gesacht, ähm (-) der einzige Punkt, den ich da, wo ich da mal drüber nachgedacht war, we wenn ich äh ähm (--) so ner Asylkammer wäre, was - hab ich au noch mit keinem reden können. Abschiebehaft gibt's ja theoretisch bei Amtsrichtern, hatt ich aber - Gott sei Dank - auch nie, (--) ja, aber (--) so nur beim Partnerschaftsvertrag (-) [I: ((lacht))] kommt
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
ma da nich so [I: andere Abschiebung] in große politische Nöte kommt ma da nich rein ((lacht)).« [D10:27] Der Zivilrichter imaginiert eine mögliche Situation, in der er in die Probleme des »Nicht-Mehr-Vertreten-Könnens« käme. Gleichzeitig kommt er aber gar nicht in diese »politischen Nöte«, selbst der theoretisch mögliche Aspekt der »Abschiebehaft« war in seiner Zeit als Amtsrichter praktisch nicht vorgekommen. Dies kennzeichnet die strukturell und durch eigene Affinitäten den Gerichtsbarkeiten gegenüber bedingte Nichtmöglichkeit oder besser Nichtnotwendigkeit des Einsatzes eines wie auch immer gearteten Widerstandes. Aber wir haben noch einen weiteren wichtigen Aspekt (2). In jene »politischen Nöte« ist zum Beispiel die Verwaltungsrichterin D6 gekommen, deren Umgang mit diesen Nöten wir im ersten Teil des ›Radbruchianers‹ beschrieben hatten. Sie kann vertreten, was sie machen muss, schlimmstenfalls unter Bauchweh. Wir wollen ein weiteres Beispiel für diesen ›Radbruchianer‹ »des ins Reich des Inneren verbannten Bauchwehs« analysieren: »Ich hatte auch mal ne ganze Zeit, ich weiß nach, vielleicht ändert sich das jetzt, da war mir klar, dass ich immer die Asylbewerber anerkannt habe, die ich nach mochte, also die mir persönlich unsympathisch waren, aber irgendwie waren das immer diejenigen, die ne so gute Geschichte erzählt haben ((Lachen)) und die ich dann auch persönlich glaubwürdig fand, eh, dass mir bei denen nichts anderes übrig blieb. Aber da bin ich wirklich dreimal aus Sitzungen rausgegangen und wusste, ich hab da jetzt Leute zurückgeschickt, die ich wirklich nett fand, sympathisch fand. Also das is häufig auch bei [ausländischen] Kindern so, weil die ehm da auch d- Deutsch sprechen und sich auch hier alle furchtbar gut integrieren und eh die leben dann hier seit Jahren und es sind gute Schüler und man mag die wirklich nich wegschicken. Weil man immer denkt: ›Ja, ne, warum? Was soll das jetzt?‹ Und das waren eben so ehm, na ja, die kamen mir irgendwie so ausgefuchst vor, und wie gesagt, ich mochte sie nich, aber (-) ich fand sie glaubwürdig und damit muss man dann, glaub ich, dann einfach leben, ne, dass man manchen mag und manchen nich mag. Lässt sich nich ändern. Muss man nur eben gucken, dass man sich dabei in der Entscheidung möglichst wenig beeinflussen lässt.« [D6:18] Die Verwaltungsrichterin D6 schildert, wie sie in ihrer Arbeit entdeckte, dass sie die Asylbewerber, die sie »mochte« und »wirklich nett fand«, »zurückgeschickt« hat und die, die sie »nich mochte« und »persönlich unsympathisch« fand, »anerkannt« hat. Auf den ersten Blick erscheint das nicht sonderlich spektakulär, weil sie ihre Gefühle als reine persönliche Zu- und Abneigungen charakterisiert, ein interpersonales Phänomen alltäglicher Art. Niemand kann ihr deshalb einen Vorwurf machen – es wird von ihr als professioneller Akteur sogar erwartet, dass sie ihre persönlichen Gefühle den
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Menschen ihrer Fälle gegenüber im Sinne der Sache zurückstellen kann (siehe 2.1.1). Ein zweiter Blick auf ihre Erläuterungen hingegen bringt Neues zutage: Die ihr Unsympathischen waren »diejenigen, die ne so gute Geschichte erzählt haben ((Lachen))«, die sie »dann auch persönlich glaubwürdig fand« und bei denen ihr dann »nichts anderes übrig blieb«, obwohl sie ihr »irgendwie so ausgefuchst« vorkamen. Die nähere Beschreibung dieser Unsympathischen kennzeichnet demnach vielmehr deren Vortrag bei Gericht. Eine »gute Geschichte erzählen« ist etwas anderes als seine eigene Geschichte bzw. seine eigene Erfahrung und Erlebnisse, schlicht sein eigenes Leben, ehrlich zu erzählen. Hier wird durch die Richterin D6 eine Differenz erzeugt zwischen einer wie auch immer beschaffenen »Wahrheit« und dem, was der Unsympathische vorgetragen hat. Es muss nicht sein, dass er etwas Falsches gesagt hat, aber sie hat einen Zweifel, sie hat das Gefühl, dass ihr hier etwas präsentiert wurde, eine Geschichte erzählt wurde, die darauf zugeschnitten gewesen sein könnte, dass sie – mit ihren technisch-methodischen Mitteln – keinen Fehler finden konnte und ihr deshalb »nichts anderes übrig blieb«, als ihn anzuerkennen. Sie bezeichnet den Unsympathischen als »ausgefuchst«, das heißt, sie nimmt an, dass seine Geschichte geplant und strategisch ist, dass er die Spielregeln des Gerichts berücksichtigt und bewusst zu beeinflussen sucht.81 Ob mit oder ohne falsche Aussagen, weiß man nicht, auf jeden Fall nicht – im Sinne der Prozessordnung – nachweisbar falsch. Man könnte annehmen, dass der Unsympathische einen sehr guten Anwalt hat oder selbst Jurist ist. Dieser Zweifel an der natürlichen Wahrheit der »guten Geschichte« und die berechnende Schläue des »Ausgefuchst«-Seins sind ihr aber nicht Kriterium genug, da sie eben auch nicht am konkreten Detail festzumachen sind. Diese mitschwingenden, generell empfundenen Zweifel stehen folglich ihrer technischen Prüfung und letztlichen Einschätzung der Glaubwürdigkeit entgegen. Es bleibt trotz der Entscheidung ein Unbehagen zurück, welches über den Einzelfall und damit über die persönlich empfundene Emotion zu dem Unsympathischen hinausreicht. Es ist ein Unbehagen dem Prozess gegenüber, der es möglich macht, ohne natürlich empfundene Wahrheit, aber mit empfundener berechnender Geschichtenerzählung durchzukommen. Die ihr Sympathischen hingegen sind offensichtlich durch ihre technischen Prüfungen und Einschätzung der Glaubwürdigkeit hindurchgefallen. Aber sie nennt Kriterien, die sie zu der Frage veranlassten »›Ja, ne, warum? Was soll das jetzt?‹« oder anders formuliert: Warum muss sie jetzt, wenn sie alles lege artis betrachtet, diese Menschen zurückschicken? Denn, und hier kommen ihre Bedenken zum Tragen, sie leben »seit Jahren« hier, es sind Kinder dabei, die »Deutsch sprechen«, sich »alle furchtbar gut integrieren« und »gute Schüler« sind. Das wiederum sind alles Kriterien, die 81 Dieses Problem der überwältigenden Abhängigkeit des Prozesses von den Aussagen des Antragstellers kann den um die Entscheidungsgründe Kundigen veranlassen, seinen Fall »qua Selbstdarstellung in ein grünes Licht zu rücken« (Scheffer 2001: 19).
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
gesellschaftlich von Ausländern erwartet werden. Und zwar nicht nur von denen, die hierherkommen möchten, sondern auch von vielen, die schon hier sind und hier bleiben dürfen. Plakativ ausgedrückt lautet das Argument: Warum eine solche Vorzeige-Ausländerfamilie abschieben, die doch alles erfüllt, was gesellschaftlich erwartet wird? Aber eben nicht gesetzlich. Auch hier liegt keine ausschließliche interpersonale Empathie zugrunde, wie D6 behauptet. Es ist ein Unbehagen dem Asylgesetz gegenüber, das es nicht vermag, die gesellschaftlich für wichtig und richtig empfundenen Kriterien praktisch anwendbar umzusetzen. Dieser zweite Blick auf die Aussagen der Verwaltungsrichterin D6 zeigt ein Unbehagen, das über die als persönlich deklarierten Emotionen hinausgeht. Es ist das Unbehagen dem Asylverfahren und -gesetz selbst gegenüber. Sie schützt sich aber vor dieser Einsicht mit dem Verweis, ihr Unbehagen sei rein interpersönlicher Natur. Das auf diese Art abgeschaffte Unbehagen bezüglich einer Gerechtigkeitsvorstellung jenseits der gesetzlichen wird zu einem Unbehagen auf interpersonaler Ebene umdefiniert und verliert dadurch seine Kraft. Dies wird durch einen weiteren Aspekt verstärkt. Wie die Richterin selbst sagte, ist für sie die Einhaltung professioneller Standards sehr wichtig und steht über persönlichen Dingen. Diese Standards erfordern gerade eine Distanzierung von persönlicher Verstrickung (siehe hierzu auch die Verbindung zum ›Unberührbaren‹-Typus in Abschnitt 3.4.4). Ihre inneren Gefühle bedrohen aber dieses Prinzip, solange sie interpersonal definiert sind, obwohl sie naturrechtlich begründet sein können. Die Unterscheidung dieser Gefühle, wie sie obige Analyse zu treffen wagt, kommt für die Richterin bezüglich der Ausführung ihrer Arbeit nicht infrage. Neben dieser definitorischen und der zuvor behandelten strukturellen Art gibt es noch eine dritte, um die Probleme des Unbehagens eines ›Radbruchianers‹ mit Bauchweh anders zu lösen, als mit der Erklärung des geltenden Rechts als Unrecht, das heißt mit Widerstand. Dieser dritte Aspekt ist die in rechtlicher Hinsicht »elegante« Art der Auslegung (3), die sich direkt in den Äußerungen der »Vertretbarkeit« von rechtlichen Lösungen zeigt. Die Konstruktion des Falles (vom Rechtlichen wie vom Sachverhaltlichen her) durch den jeweiligen Richter verschafft ihm die Möglichkeit (wenn auch sicherlich nur im bedingten Rahmen), diesen Fall mehr oder weniger grenzwertig zu konstruieren. Zudem ist die Grenze des Vertretbaren eine je eigene und damit individuell verschieden. Dass bedeutet nicht, dass eine naturrechtliche Konstruktion als Gerechtigkeitsgarant gegenüber dem formalen Recht grundsätzlich unstet und damit automatisch zu verwerfen sei. Es bedeutet lediglich, dass Richter ihre eigene Messlatte besitzen, ab wann ein wie auch immer steter oder unsteter Bauchwehgrad ausreicht, dass sie das »Wachstum« des Falles an dieser Messlatte auch selbst – im Sinne der Konstruktion ihrer Fälle – steuern können. Die Richter haben, so könnte man zusammenfassend für den ›normalen Radbruchianer‹ sagen, einige Möglichkeiten, sehr individuell mit einem Bauchweh
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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bezüglich gesetzlicher Lösung oder Gerechtigkeitsempfindung umzugehen, ohne in den Widerstand – sei er offen oder verdeckt – zu gehen. Wir hatten zum einen die strukturelle Lösung analysiert, die sich auch in den Affinitäten zu den ›Gerichtsbarkeiten‹ mit ihren spezifischen ›Anforderungen‹ ausdrückt. Die Richter wählen zum Teil ihre ›Gerichtsbarkeiten‹ nach dem geringeren Bauchweh, oder anders gewendet: Richter werden auch auf die Positionen gesetzt, die ihr Bauchweh nicht zu stark werden lassen. Karriereambitionierte Richter müssen sich hingegen gerade auch darin beweisen, dass sie mit dem Bauchweh hochvirtuos umgehen können (siehe Abschnitt 3.4.1). Dazu gehört die zweite Möglichkeit des Umgangs, dem Umdefinieren von Bauchweh in die Sphäre der persönlichen Gefühle, die schließlich durch den Anspruch der professionellen Handhabung im Sinne eines Habitus ausgeklammert werden kann. Der dritte Umgang bestand darin, den Fall als Kombination von Sachverhalt und rechtlicher Lage derart zu konstruieren, dass das Bauchweh prinzipiell ausgehalten werden kann, d. h. den Grad eines »schreienden Unrechts« gar nicht erreicht. 3.3.2.1
›Geschickter Radbruchianer‹
In den Selbsttypisierungen der Richter kommt auch ein Typus vor, der weitergeht als der ›normale Radbruchianer‹, der ja im Extremfall »nur« ein bisschen Bauchweh hat, ansonsten aber, dieses aushaltend, das macht, was er soll. Ein ›geschickter Radbruchianer‹ folgt in bestimmten Fällen seinem eigenen Gefühl, seinen Gerechtigkeitsvorstellungen oder seinem Naturrechtsverständnis – auch entgegen dem, was er im Sinne eines ›Richtigtechnikers‹ »eigentlich« tun müsste. Da er aber einen offenen Bruch mit dem »zu Tuendem« nicht zugeben kann/darf, definiert er Stellen als Tricks, als Dehnungen, als besondere Auslegungen. Momente eines ›geschickten Radbruchianers‹, der dann tatsächlich aufbegehrt (hat), haben immer beides: Auf der einen Seite dieses »eigentlich geht das nicht gut oder richtig« und auf der anderen Seite jenes »das hab ich dann aber so und so gewerkelt« (hiervon ist allerdings deutlich der Fall zu unterscheiden, in dem Rechtslagen einfach unklar oder unterbestimmt sind, es folglich vom methodischen Werkzeugverständnis her keine passende Lösung gibt). Es ist der letzte Typus, der sich noch den Anschein gibt, einen positiven ›Methoden- und Gesetzesbezug‹ zu haben und zu achten. Er ist gleichsam die Vorstufe zum ›Richterkönig‹ (›Judizler‹), der sagt, was er will (Judiz), und weiß, wie er da hinkommt (meistens mit, notfalls auch ohne ›Methoden- und Gesetzesbezug‹). Der ›geschickte Radbruchianer‹ ist hochgradig rational-reflexiv und versteht es, die Methoden und Gesetze so zu nutzen, dass er nach außen den professionellen Charakter des ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹ bewahrt. Ein Verwaltungsrichter beschreibt das zunächst noch abstrakt wie folgt:
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
»Ich verhehl auch nicht, das bitte ich aber nicht so hoch zu hängen, dass ich dann, wenn es sozusagen schreiendes Unrecht ist, dass ich eh durchaus Grenzen des Prozessrechts dann sehe. Dass will ich- dass ich dann durchaus bereit bin, im Hinblick auf die Rechtsschutzgewährung einen etwas großzügigeren Blick zu haben.« [D16:2] Dieser »großzügige Blick« ist dann als jener Trick, jene Dehnung, jene besonderen Auslegungen zu verstehen, die »schreiendes Unrecht« zu verhindern vermögen, die eine Einzelfallgerechtigkeit im naturrechtlichen Verständnis gegen das formale Recht, in diesem Fall das Prozessrecht, setzen und Ersterem zum Obsiegen verhelfen möchten.82 Aber dies wird vom ›geschickten Radbruchianer‹ nicht mit Pauken und Trompeten vertreten, sondern er bittet, das »nicht so hoch zu hängen«, weil er dies geschmeidig tut und im Rahmen der professionellen Gesichtswahrung. Ein folgendes Beispiel soll dies darlegen: »Ein [ausländischer] Arzt, der drei Jahre sich im Arbeitslager befunden hat, und dann vier Wochen frei ist, und wo die erste Instanz dann sagt, das war wie gesagt durch Material belegt, die Biographie stimmte auch, er hatte auch n entsprechend detaillierten Lebenslauf vorgelegt, also es war nicht so, dass das irgendwo ein Sachverhalt war, der sich irgendwo im Himmel abspielt, nich, oder irgendwo eben zusammenphantasiert ist. Und wenn dann der Tatrichter völlig irrt in der Rechtsanwendung und sagt: ›Der ist gar nicht verfolgungsbedingt ausgereist, (-) weil der war doch- der war doch jetzt frei.‹ nich, also in völliger Verkennung- (-) und das macht ja gerade im Bereich des Asylrechts entgegen landläufiger Behauptung es so schwer, die sogenannten untergesetzlichen Rechtssätze, wenn ich das mal so formulieren darf, also all das, was an Rechtsdogmatik zum Asylrecht durch die höchstrichterliche Rechtsprechung, damit meine ich sowohl Karlsruhe wie das Bundesverwaltungsgericht, formuliert worden ist, fordern 82 An dieser Stelle sei eine längere Anmerkung zu den Rechtsprinzipien angebracht: Die von dem Richter erwähnte Rechtschutzgewährung, so könnte man formulieren, gibt dem Richter eine systemimmanente und damit im positiven Methoden- und Gesetzesbezug befindliche Möglichkeit der Überwindung seines Bauchwehs. Dieses Argument ist nicht leicht von der Hand zu weisen. Höheres Recht schlägt tieferes Recht, die über die Verfassung garantierten Rechtsprinzipien stehen oder besser: wachen über allem. Hierin ist sicherlich eine der großen Stärken des aktuellen deutschen Rechtssystems zu sehen. Auf der anderen Seite sind diese Rechtsprinzipien auf den Einzelfall hin betrachtet extrem unterbestimmt und auslegungsbedürftig, so dass sie in der Praxis der Rechtsanwendung – im Sinne einer rationalen und methodisch gesteuerten Praxis – weniger guten Beistand leisten. Der Richter bittet darum, »dies nicht so hoch zu hängen« – ein deutlicher Hinweis, dass die Anwendung der Rechtsprinzipien in dieser Weise kein offener Gebrauch der Profession ist. Zudem sind die für die Auslegung notwendigen kulturellen und gesellschaftlichen Bezüge und Wissensbestände generationenabhängig, um nicht zu sagen zeitgeistabhängig. Die Rechtsprinzipien erfüllen in der Auslegung die Funktion eines Blickweitens oder aus methodischer Sicht eines Blicktrübens, in der eine Unschärfe genügt, um etwas prinzipiell Richtiges zu erreichen – nämlich den Wert des Rechtsprinzips, der in diesem Einzelfall als geltend apostrophiert wurde. In diesem Sinne sind sie perfekte Helfer des ›geschickten Radbruchianers‹, da er keinen offenen Widerstand zeigen muss – also nicht vor eine das persönliche Schicksal mitbetreffende Wahl gestellt wird.
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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natürlich vom Tatrichter auch eine sehr genaue und präzise Betrachtung und eben auch die Antwort, ob jemand verfolgungsbedingt ausgereist ist. So. Und wenn dann so jemand ne einigermaßen tragfähige Grundsatzfrage stellt oder einigermaßen tragfähig eine Verfahrensrüge erhebt, die man bei genauer Betrachtung möglicherweise dann auch noch zerfetzen könnte, das meine ich jetzt nicht im wörtlichen Sinne, sondern als ehh letztlich nicht hinreichend substantiiert, als eh nicht eh im Sinne des Darlegungsgebotes komplett dargelegt betrachtet, dann dräng ich jedenfalls im Senat dazu, in solchen Fällen dann zu sagen: ›Da wollen wir ran. Das lassen wir in die nächste Instanz kommen.‹ (-) Das sind aber Dinge, die Sie, ja, professionell nicht offenbaren dürfen. Das wird Ihnen dann schon als eh (-) das wird ihnen dann schon als eh- als als im Verständnis nahegelegt, was nicht professionelle Praxis entspräche, obwohl es eben eine ganze Reihe von Richtern, denke ich, da bin ich ziemlich überzeugt, tun.« [D16:1] Der Verwaltungsrichter gibt uns hier einen sehr ehrlichen Einblick in die Profession und apostrophiert seinen Umgang mit dieser Sache auch für viele seiner Kollegen. Dass in dem Fall mit dem ausländischen Arzt der erstinstanzliche »Tatrichter völlig irrt in der Rechtsanwendung«, ist für ihn nicht hinnehmbar. Aus prozessrechtlichen Gründen kommt er aber an des Tatrichters Feststellung, derzufolge die Person »nicht verfolgungsbedingt ausgereist« sei, nicht heran. Diese »Grenzen des Prozessrechts« (siehe oben D16:2) kann er durch die normalen Methoden nicht umgehen. Er würde das Begehren »bei genauer Betrachtung möglicherweise dann auch noch zerfetzen« können, weil es »letztlich nicht hinreichend substantiiert, als eh nicht eh im Sinne des Darlegungsgebotes komplett dargelegt« sein könnte. Er führt aber dahingehend keine genauere Betrachtung durch, sondern ist dann durchaus bereit, »im Hinblick auf die Rechtsschutzgewährung einen etwas großzügigeren Blick zu haben« (siehe oben D16:2). Ihm genügt, dass »dann so jemand ne einigermaßen tragfähige Grundsatzfrage stellt oder einigermaßen tragfähig eine Verfahrensrüge erhebt«, um den Fall in die nächste Instanz zu lassen, in der dann die Möglichkeit besteht, den Irrtum mit der verfolgungsbedingten Ausreise ›lege artis‹ beheben zu lassen. Ausgangspunkt ist sein Unbehagen wegen der verfolgungsbedingten Ausreise, die er nach seiner Prüfung des Sachverhaltes im Einklang mit seinem Gerechtigkeitsverständnis als gegeben annimmt. Aus prozessrechtlichen Gründen kommt er allerdings an diese Feststellung des Tatrichters nicht heran (er spricht hier von Tatrichter und nicht von Erstinstanzrichter oder einfach nur Richter, weil er selbst eben nicht mehr an die Tatsachen kommt). Das ist für ihn in diesem Fall »schreiendes Unrecht« (siehe D16:2), denn er würde bei methodengerechter Prüfung der gestellten Grundsatzfrage oder Erhebung der Verfahrensrüge aller Voraussicht nach zu einem ablehnenden Ergebnis kommen. Er hat also Bauchweh in dieser Sache, das weitergeht als bei dem ›normalen Radbruchianer‹, jener würde nämlich trotz Bauchweh ablehnen. Aber der ›geschickte Radbruchianer‹ geht auch nicht so weit, dass er das Prozessrecht an sich offen für nichtig erklärt und dadurch einen offenen Konflikt riskiert. Es bleibt bei diesem kleinen Trick, der zudem sehr gut gedeckt wird, weil er sehr darauf bedacht ist, einem offiziellen Verdacht der Aushebelung des (Prozess-)
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Rechtes zu entgehen. Stattdessen geht er lieber das Risiko ein, ob einer nicht sorgfältigen Prüfung gerügt zu werden, weil das Begehren durch Tatsachen nicht ausreichend belegt ist bzw. nicht genügend dargelegt wurde. Dieses Element, dass er solch einen Trick zugunsten seines Gerechtigkeitsempfindens verwendet, aber »professionell nicht offenbaren« darf, weil es nicht der »professionellen Praxis entspräche«, kennzeichnet ihn als ›geschickten Radbruchianer‹.
3.3.3
›Richterkönig‹
›Richterkönige‹83 sind diejenigen, die nicht an die rechtschaffende Wirkung eines engen ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹ glauben. Für sie steht plakativ ein »Le droit c’est moi!« in Anlehnung an den Spruch zur Kennzeichnung des absolutistischen Anspruches ›L‘État c’est moi!‹ (abgewandelt für den ›Richterkönig‹). Er ist derjenige, der nach seinem Judiz84 geht und diesem Vorrang vor technischen Prüfungen gibt, insbesondere wie sie der ›Subsumtionsautomat‹ verwendet. ›Richterkönige‹ beherrschen jedoch die Klaviatur der juristischen Argumentation – und damit auch die des ›Richtigtechnikers‹ – in der Regel aber derart, dass sie sogar zugeben, »alles machen« zu können. Interessanterweise kam diese Aussage in unverblümter Form bei einem außerhalb unseres eigentlichen Forschungsfeldes liegenden Richters am Bundesgerichtshof vor, den wir auf einem seiner Vorträge erlebten. Ein solch selbstbewusstes, mithin anmaßendes Selbstverständnis macht den ›Richterkönig‹ aus. Sein Selbstbewusstsein ist neben dem Beherrschen des technischen Aspektes juristischen Arbeitens zusätzlich und mitunter vordringlich in einem trefflichen oder als trefflich imaginierten Rechtsgefühl, dem Judiz, begründet. Dass diese zwei Aspekte nicht unbedingt Antagonismen sein müssen, sondern einige Gemeinsamkeiten haben, soll als wichtige These erörtert werden. Der ›Richterkönig‹ kann positiv und negativ gesehen werden bzw. in Erscheinung treten, was sowohl die Faszination als auch die Angst vor ihm ausmacht. Er gibt, noch viel freier und direkter als der ›geschickte Radbruchianer‹, der Einzelfallgerechtigkeit – im Sinne seines richterlichen Judiz
83 Zurück geht die Bezeichnung »Richterkönig« sinngemäß (nicht wortwörtlich) auf König Salomo (Bibel 1975: 330 f.; 1. Könige 3, 16-28), der das sogenannte ›salomonische Urteil‹ fällte, infolgedessen sein Volk ehrfürchtig erkannte, dass »die Weisheit Gottes in ihm war, Gericht zu halten«. In der Literatur gibt es ein vielfältiges Auftreten, so das vehemente Eintreten für einen »Richterkönig« in Abgrenzung zur Schreibjustiz zu Beginn des letzten Jahrhunderts bei Fuchs (1907: 107), der die imaginierte Zeit des eingeführten »Richterkönigs« wie folgt beschreibt: »Es würde in rechtlicher Beziehung nicht mehr zuerst gefragt: ›Wo steht das?‹, sondern es würde zuerst das allgemeine Rechtsbewußtsein gefragt«. Auf unsere Untersuchung übertragen deutet sich hier die antagonistische Stellung zwischen dem ›Subsumtionsautomat‹ und dem ›Richterkönig‹ an. 84 »Judiz« ist ein schillernder Begriff und soll hier synonym zum Rechtsgefühl gebraucht werden.
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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verstanden – Vorrang vor dem ›Methoden- und Gesetzesbezug‹. Die folgende ›Feinanalyse‹ soll einen Einblick in die Selbsttypisierung eines ›Richterkönigs‹ bieten. 3.3.3.1 1832 1833 1834 1835 1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1852 1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861 1862 1863 1864 1865
Vom Ergebnis her sie können nicht völlig gegen das Gesetz, aber [I: Mhm.] aber das Gesetz lässt ja häufig [I: Mhm.] Möglichkeiten offen und eh häufig lässt sich (-) ehm wirklich das Ergebnis auch begründen, muss man wirklich sagen, dass man also, das geht mir schon auch- is also nicht so, sagen wir mal so, dass man ne Sache anfängt, rechtlich durchdenkt und dann zum Ergebnis kommt und denkt: ›Ei, wie biste denn darauf gekommen?‹ Sondern macht schon umgekehrt, also dass man über sein eigenes Ergebnis sozusagen überrascht ist. Sondern also bei mir ist es schon so, dass eh ich mir die Akte durchlese und dann, meinetwegen auch zwei dreimal durchlese, und dann kriegt man schon ein Gefühl dafür, was ehm in Anführungsstriche hier ein gerechtes Ergebnis wäre. Und meistens, wie gesagt, meistens lässt es sich auch begründen, (-) denn das Gesetz ist ja so schlecht gar nicht, ne, es ist ja nicht so, dass das Gesetz zu irgendwelchen Ergeb- zu irgendwelchen ungerechten, meistens führt es ja doch zu gerechten Ergebnissen. Und deshalb finden sie meistens auch irgend ne Stütze im Gesetz für das Ergebnis. [I: Mhm.] Die finden sie meistens. Und das- eh oder oder natürlich, was auch ne Auslegung von eh einer Beweisaufnahme, nich, da ham sie natürlich auch viele Möglichkeiten. [I: Sie sie können] Ja, sie können nem Zeugen glauben. Mehr glauben als nem andern glauben. [I: Okay.] Muss ja, is ja das Ergebnis, sie müssen ja überzeugt sein, nich. Oben drüber steht ja dann
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
1866 1867
immer nach der Überzeugung des Senats ist das so und so gewesen. [D7:33]
1832/3: »Sie können nicht völlig gegen das Gesetz,« Das »Sie« wird als ein verallgemeinertes »Sie« gebraucht, welches den Sprecher und Zuhörer mit einbezieht, wie bei einem »man«. In einem Verständnis von »Was für uns gilt, gilt für alle, auch für Sie!« verfestigt sich ein solches »Sie« zu einer für alle geltenden Feststellung wie die Aussage »Sie können ohne Wasser nicht überleben!«. Wichtig ist nun, den Bedeutungszusammenhang von »können nicht« zu klären. Ist das »können nicht« faktisch-, normativ/moralisch- oder zweckrational-ausschließend? Faktisch-ausschließend wäre etwa, gegen eine physische Unmöglichkeit zu arbeiten: »Sie können den Mount Everest nicht mit den Händen wegschieben«, was auf Naturgesetzmäßigkeiten (physikalische, biologische etc.) bezogen ist. Ein zweckrationales Nichtkönnen trägt eine Bedeutung, die durch die Zweck-Mittel-Relation bestimmt ist: »Sie können nicht nach Moskau kommen, wenn Sie von Berlin nach Süden gehen.« Normativ und moralisch ausschließendes Können heißt, dass etwas zwar in seiner Handlung gemacht werden kann, es also zweckrational und physisch handlungsvollziehbar ist, es aber nicht erlaubt ist und sanktioniert wird, etwa die Situation zweier Personen im Kinosaal: »Sie können hier nicht einfach rumrauchen!«. In dieser Bedeutung zeigt die Formulierung den Charakter einer moralisch maßregelnden Aufforderung, etwas sein zu lassen, was an diesem Ort durch eine Norm untersagt oder nicht gewünscht ist. Um der Bedeutung des hier verwendeten »können nicht« näherzukommen, müssen wir zunächst schauen, worauf es sich bezieht, nämlich auf »das Gesetz«. Bei einem Kontext von Naturgesetzen wäre das faktische Nichtkönnen denkbar. Doch wir haben in der Verwendung noch den Zusatz »nicht völlig gegen«, was im Umkehrschluss bedeutet, dass das Gesetz gebogen werden kann. Zu einem Teil »gegen« ist möglich, nur nicht »völlig«. Dies ist bei Naturgesetzen weniger denkbar als bei von Menschen gemachten Gesetzen, womit die faktische Bedeutung des Nichtkönnens an Gewicht verliert. Die normativ/moralisch- und zweckrationalausschließenden Bedeutungen sind nach dem Verständnis des Gesetzes als geltendes Recht beide möglich: im technischen Verständnis eines ›Richtigtechnikers‹ die zweckrational-ausschließende Bedeutung, weil ein Fall ›lege artis‹ behandelt »nicht völlig gegen« ein Gesetz gehen kann. Im normativ/moralisch-ausschließenden Sinn ist der Anspruch der Profession und der Rollenerwartungsdruck an den Richter, durch die Gesellschaft, im Sinne der ›soll-Modi‹ zu verstehen. Der Richter hätte somit normativ/moralische und technische Probleme, wenn er »völlig« gegen das Gesetz etwas zu verrichten beabsichtigte. Bis dahin aber, bis zu diesem »völlig«, kann dieser Richter in der gerade vollzogenen Selbsttypisierung aber schon, auch wenn er sich noch hinter dem verallgemeinernden »man« im »Sie« verbirgt. Von allem, was wir bisher analysiert haben, ist das die am weitestgehende Selbsttypisierung. Denn es impliziert, dass bis zu einem gewissen Grad unterhalb von »völlig«, das heißt »ein
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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bisschen« oder »einiges« gegen das Gesetz »gekonnt« werden kann. Ein ›Richtigtechniker‹ und noch nicht einmal ein ›Radbruchianer‹ würden sich auf eine solche Formulierung einlassen. 1833/5: »aber [I: Mhm.] aber das Gesetz lässt ja häufig [I: Mhm.] Möglichkeiten offen« Mit »aber« werden gewöhnlich Widersprüche eingeleitet, die das Vorhergehende relativieren, einschränken oder gar aufheben. In diesem Fall, das »aber« wird sogar noch gedoppelt, folgt jedoch kein direkter Widerspruch. Ein solcher Widerspruch ausformuliert würde sprachlogisch bedeuten, dass das »aber« sich auf »nicht völlig gegen« bezieht, dann hieße das, was nach dem »aber« käme, »es geht auch völlig gegen«. Das folgt aber nicht explizit. Das genannte »das Gesetz lässt ja häufig […] Möglichkeiten offen« enthält durch die vorgängige Formulierung einen impliziten Gegensatz zu »nicht völlig gegen« im Sinne eines »fast völlig gegen« oder zumindest einen Bereich von »ein wenig gegen« bis »fast völlig gegen«. Die Eigenschaft des Gesetzes, Möglichkeiten offenzulassen, liefert durch den impliziten Widerspruch die Möglichkeit, »gegen« das Gesetz zu »können«. Welche »Möglichkeiten« könnte das Gesetz »offen«-lassen, die gleichsam gegen es selbst gerichtet werden könnten? Diese Möglichkeiten könnten nicht gefasste Fälle meinen, Randbedingungen oder Sonderfälle, aber das alles wäre noch zu schwach, um eine so starke Aussage zu treffen. Möglichkeiten der Auslegungen in vielerlei Richtungen, wie es für stark unterbestimmte Gesetze der Fall ist oder gar für Rechtsprinzipien, sind hier vorstellbarer. Das wiederum ist für den Beisitzer eines Zivilsenates nicht unbedingt die tägliche Materie. Es ist zu vermuten, dass es demnach noch mehr als lediglich das Gesetz selbst ist, was Möglichkeiten schafft, wie das Folgende zeigen wird. 1835/6: »und eh häufig lässt sich (-) ehm wirklich das Ergebnis auch begründen,« In dieser Sequenz kommen wichtige Anhaltspunkte hinzu. Das »fast gegen das Gesetz« und die »offenen Möglichkeiten« werden in Form des »begründbaren Ergebnisses« exemplifiziert. Man könnte umformulieren: Obwohl man nicht völlig gegen das Gesetz gehen kann, lässt es häufig Möglichkeiten offen, ein Ergebnis annähernd gegen das Gesetz zu begründen. Es geht folglich auch um die Tätigkeit des Begründens, worauf sich die »Möglichkeiten« von zuvor beziehen. Dann wäre das »fast gegen das Gesetz« ein Wechselspiel zwischen der Offenheit des Gesetzes und den Möglichkeiten des Begründens – folglich des Textes und der Virtuosität des auslegenden Richters. Das »wirklich« in diesem Zusammenhang deutet auf die Wirkung in der Rechtspraxis hin, die Fähigkeit der Akzeptanz, die jene Begründung »fast gegen« das Gesetz in der für die Zuschreibung von Legitimität wichtigen Kollegenschaft hat. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Ein ›Richtigtechniker‹ gelangt über die ausgeführte Methode zu seinem Ergebnis, woraus folgt, dass er die Begründung des Ergebnisses schon in der Herstellung desselben realisiert. Die Frage, ob sich ein Ergebnis »auch begründen« lässt, stellt sich für den ›Richtigtechniker‹ nicht, weil die Begründung schon Bedingung und Mittel der Herstellung ist. Allenfalls, und dann aber verstärkt aus der Sicht eines ›Radbruchianers‹, könnte das methodisch korrekt
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
entwickelte Ergebnis in Hinsicht auf die Billigkeitsprüfung abschließend infrage gestellt werden, was das Thema des (in der Regel immer »noch«) Vertretbaren in den Vordergrund stellt. Die Sichtweise aber, ein Ergebnis in Verbindung mit den offenen Möglichkeiten des Gesetzes auch begründen zu können, lässt die Vermutung aufkommen, dass hier eine andere Logik der Ergebnisfindung vorliegt, als es dem ›Richtigtechniker‹ und dem ›Radbruchianer‹ im Rahmen der zur Verfügung stehenden Methoden zu eigen ist. 1837/8: »muss man wirklich sagen, dass man also, das geht mir schon auch-« In dieser Sequenz wird der Umschwung vom abstrakten »Sie« von zuvor über das »man« hin zum »mir« vollzogen, was nun definitiv den Sprecher in das Gesagte mit einbezieht. Das »wirklich« kann wieder wie zuvor auf den Praxisbezug hindeuten, den der Richter hier als Betonung und Geltung für das Gesagte anführt. Der Hörer erwartet eine Erläuterung, wie »es ihm auch schon geht« im Sinne einer Offenlegung der »wirklichen« Praxis, seiner Praxis. 1838/9 »is also nicht so, sagen wir mal so, dass« Der Abbruch des zuvor Begonnenen kann als Schwenk vom Ansatz einer positiven Definition »das geht mir auch so« zu einer negativen »es ist nicht so, dass« verstanden werden. Dies ist wiederum als eine Passivierung zu lesen, eine nicht direkte Nennung dessen, was der Richter sagen wollte, möglicherweise weil er es nicht sagen kann/darf/sollte, ohne den professionellen Rahmen zu sehr zu sprengen. Zugleich erscheint es als »work in progress«, als die allmähliche Fertigung des Gedankens beim Sprechen, da der Richter noch nicht weiß, was er sagen will oder wie er es sagen soll. Bei Letzterem weiß er zwar, was (pointiert und im Kontrast zum Ideal des ›Richtigtechnikers‹ ausgedrückt, aber gleichsam viele Kollegen mit einbeziehend: »ich mogel auch«), kann dies aber noch nicht oder nicht so formulieren, weil man es (in seiner Position) nicht sagen darf. Mit der Floskel »sagen wir mal so« baut der Richter eine Beliebigkeit ein, denn es kann auch anders sein, man könnte es auch anders sagen. Vielleicht ist es eine Art Versicherung, die eingebaut wird, damit man ihn nicht festnageln kann. 1839/41: »man ne Sache anfängt, rechtlich durchdenkt und dann zum Ergebnis kommt« Die Einleitung der Erläuterung, wie es nicht ist, ist wieder beim unpersönlichen »man« angekommen, das »mir« wird nicht mehr als ein »ich« von zuvor verstanden. Der Richter tritt somit wieder etwas hinter das generell Geäußerte zurück, verstärkt aber gleichsam den Anspruch, da es ja für mehr als nur ihn gelten soll. Eine Sache, einen Fall anzufangen, rechtlich zu durchdenken und dann zu einem Ergebnis zu kommen, ist die sehr vereinfachte Schilderung des methodischen Lehrbuchprozesses, wie er – auch im Sinne des ›Richtigtechnikers‹ – sein sollte, aber wohl aus Sicht dieses Praktikers nicht ist. 1841/2: »und denkt ›Ei, wie biste denn darauf gekommen?‹« Wenn er zuvor den Methodenweg beschrieben hat und in der Konsequenz des ›Richtigtechnikers‹ weiterfolgert, dann dürfte er sich jetzt nicht verwundern, weil er ja den bekannten
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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Weg genommen hat und das Ergebnis allein durch den richtigen Weg (also einen hohen ausschließlichen ›Methoden- und Gesetzesbezug‹) legitimiert ist. Das »wie biste denn darauf gekommen?« ist aber sprachlich nun eine deutliche Verwunderung über den Weg, den Prozess, also das »wie«, nicht über das Ergebnis. Das ist erklärungsbedürftig. Anders gewendet kann man sagen, das Ergebnis passt nicht mit dem Anfangen und rechtlich Durchdenken, also dem »wie« zusammen, was wie gesagt aus der Sicht des ›Richtigtechnikers‹ nicht funktioniert. Wir würden demnach hier eine Lesart anlegen, die dem Richter eine Sichtweisenänderung vom ›Richtigtechniker‹ zum ›Radbruchianer‹ bescheinigt, beides noch immer im Rahmen der Beschreibung dessen, wie »es nicht ist« in der Praxis. Denn der ›Radbruchianer‹ unterzieht das Ergebnis einer Kontrolle, im Sinne der Billigkeitsprüfung, die zwar keine Auswirkung außer vielleicht Bauchweh für den Richter hat. Abgesehen vom Fall des ›geschickten Radbruchianers‹, der sich an dieser Stelle in der Tat verwundern würde, denn er erkennt ja die prinzipielle Hoheit des ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹, insbesondere in Hinsicht auf die Darstellungsnotwendigkeit, an und folgt dieser bis zum Erhalten des Ergebnisses. Er wird daraufhin im Rahmen seiner Möglichkeiten agieren, immer mit dem (schlechten Professions-) Gewissen, dass es »eigentlich« so nicht richtig ist. Man kann nun die Aussage dieses Richters hier als eine Art spöttische Kritik an dem ›Richtigtechniker‹ und ›Radbruchianer‹ sehen. Die belustigende Beschreibung der Verwunderung mit dem »Ei« nimmt im Kern ja den Gutglauben des prinzipiellen ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹ besonders als praxisrelevante Handlungsanweisung in den Blick. Damit ist die negative Abgrenzung vollzogen und der Richter kommt zurück zu dem, wie er es denn nun macht. 1842: »Sondern macht schon umgekehrt-« Hier schildert er den Gegenentwurf. Was oben noch durch negative Abgrenzung erläutert wurde, obwohl es zuvor in einem abgebrochenen Versuch schon positiv hätte formuliert werden können, wird jetzt offengelegt. Die »Scham«, das professionsbrechende Tabu auszusprechen, ist kurzerhand erledigt, die »Katze ist aus dem Sack«. Das Zentrale, was »man«, das heißt er als Richter, »macht«, ist »umgekehrt«. Das bedeutet, dass es zuerst das Ergebnis gibt, bevor der Weg dorthin gesucht wird. Das »schon« fungiert als eine Einsicht in die Notwendigkeit der pragmatischen Haltung oder bzw. und kann auch auf ein schlechtes Gewissen hinweisen, das Eingeständnis, hier etwas gegen den prinzipiellen ›Methoden- und Gesetzesbezug‹ zu verrichten. Es »umgekehrt« zu machen, wird klassischerweise auch als »vom Ergebnis her« bezeichnet. 1843/4: »also dass man über sein eigenes Ergebnis sozusagen überrascht ist.« Hier kommt ein kurzer Einschub zur Erläuterung der vorletzten Sequenz mit »Ei…«. Das »darauf« wird konkretisiert als »eigenes Ergebnis«. 1844/6: »Sondern also bei mir ist es schon so, dass eh ich mir die Akte durchlese« Jetzt wird das »umgekehrt«, der Gegenentwurf, erläuternd ausgeführt, wieder durch »sondern« eingeleitet. Dies geschieht anhand einer Beschreibung seiner (»bei mir« und
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
»ich mir«) konkreten Alltagspraxis. Mit »ist es schon so« verweist er auf eine Gewohnheit. Nun kommt aber nicht der logisch konträre Fall eines Gegenentwurfes, dass er etwa schon ein Ergebnis hat, sondern und das spezifiziert das »schon« hin zu einem abmildernden Einschub zum Gegenentwurf, er tut »die Akte durchlesen«. Dies ist der Anfang, nicht das Ergebnis, er macht sich ein Bild von dem Fall aus der Akte. 1846/7: »und dann, meinetwegen auch zwei dreimal durchlese,« Bevor mit dem nächsten Schritt fortgefahren wird, der nach dem »und dann« in der Abfolge erwartet wird, ergänzt er das »durchlesen« mit einer Spezifizierung der Häufigkeit »zwei dreimal«, die zuvor implizit im Singular zu verstehen war. Interessant ist das »meinetwegen«, es zeigt eine Distanzierung zur generellen Erwartung des mehrfachen oder am Oberlandesgericht sicherlich auch intensiven Lesens oder gar Durcharbeitens bzw. Studierens auf. Dennoch tut er es wohl gelegentlich, aber es scheint ihm nicht darauf anzukommen, das heißt, die Quantität des Lesens und nicht die Intensität dieser Bearbeitung (durch die Wahl des Terminus »Lesen« im Gegensatz zu »Studieren«) sind das Entscheidende. Das bedeutet wieder wird ein »wie« (als Möglichkeit der methodischen Einflussnahme) im Sinne der überkommenen Ratschläge oder Anforderungen entmachtet oder in seiner Bedeutung für seine Praxis relativiert. 1847/8: »und dann kriegt man schon ein Gefühl dafür,« Nach dem Lesen, welches in der »ich«-Form mitgeteilt wurde, kommt wieder ein unspezifisches, aber auch objektivierendes »man«. Dieses Richter-»man« bekommt ein »Gefühl«. Das »schon« kann hier als zeitliche Benennung dafür, dass man so früh im Prozess ein Ergebnis vor Augen hat, erscheinen. Es ist kein reines Gefühl als Ausdruck einer inneren subjektiven Stimmungslage, sondern es ist ein technisch handwerkliches Gefühl, weil es durch den Ansatz »dafür« auf etwas gerichtet ist. »Ein Gefühl dafür« zu haben, verweist auf Kenntnis, auf Leistungsfähigkeit, auf ein Mehr an praktischem Wissen, auf jemand, dem man eine Sache anvertrauen könnte. Einfach so ein »Gefühl« zu haben hingegen scheint in subjektiven Emotionen gegründet. Der Richter hier hat ein »Gefühl dafür«, was ihn als jemanden mit einer gerichteten Erfahrungskompetenz typisiert. 1848/50: »was ehm in Anführungsstriche hier ein gerechtes Ergebnis wäre.« Nun wird expliziert, worauf das Gefühl gerichtet ist. Bevor das aber genannt wird, erkennen wir an der kurzen Suchpause des »ehm« und vor allem an der Vorbereitung des zu Sagenden mit dem Hinweis »in Anführungsstriche«, dass das nun Kommende erstens nicht so leicht zu beschreiben ist und dass er zweitens es auf eine spezifische Weise verstanden haben möchte. Diese spezifische Weise ist in der Regel eine Distanzierung von der rein wörtlichen oder der landläufig alltagssprachlichen Verwendung. Das, worauf sich das Gefühl nun bezieht, ist »ein gerechtes Ergebnis«. Kein gesetzliches oder methodisch korrekt ermitteltes, sondern ein gerechtes. Es ist aber auch nicht das gerechte, sondern eben ein gerechtes Ergebnis, was damit Spielräume für andere oder anders gefundene gerechte Ergebnisse lässt. Was diesen Eindruck stützt, ist, dass es sich um ein in »Anführungsstriche« gesetztes gerechtes
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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Ergebnis handelt, was darauf verweisen könnte, dass die Gerechtigkeit keine ontologische Größe ist, sondern eine durch menschliches Zutun konstruierte.85 Dieses Zutun kann in der Person des Richters als »Prüforgan« zu verstehen sein, der mit seinem »Gefühl«, im Sinne eines Rechtsempfindens, eines Judizes, die Gerechtigkeit manifestiert. Wir haben damit die klassische Konstellation des Gerechtigkeitsgefühls zu einem Fall gegenüber der methodisch geführten rechtlichen Lösung eines Sachverhaltes. 1850/1: »Und meistens, wie gesagt, meistens lässt es sich auch begründen,« Das durch das Gefühl nach dem Durchlesen gefundene gerechte Ergebnis lässt sich meistens »auch begründen«. Die Begründung, etwa in Form des Urteils, lässt sich nachträglich, nach der Bestimmung des gerechten Ergebnisses nachreichen. Diese Gewissheit, die hier wiederholt wird (»wie gesagt«), liegt begründet im Wechselspiel zwischen der Offenheit des Gesetzes einerseits und den Möglichkeiten des Begründens andererseits. Es ist das Wechselspiel zwischen der Vorgegebenheit des Textes und der Virtuosität des auslegenden Richters, wie wir oben schon festgestellt hatten. Die vormals als Offenheit des Gesetzes bezeichnete Begründungsfreiheit wird im Folgenden etwas weiter differenziert dargelegt: »(-) denn das Gesetz ist ja so schlecht gar nicht, ne, es ist ja nicht so, dass das Gesetz zu irgendwelchen Ergeb- zu irgendwelchen ungerechten, meistens führt es ja doch zu gerechten Ergebnissen. Und deshalb finden sie meistens auch irgend ne Stütze im Gesetz für das Ergebnis. [I: Mhm.] Die finden sie meistens.« [D7:33, 1851/8] Aus diesem längeren Abschnitt wird deutlich, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, dass die Offenheit des Gesetzes nicht unbedingt in einer Unterbestimmtheit liegt, wie weiter oben schon angedeutet. Erstens ist die Güte des Gesetzes selbst, so könnte man formulieren, derart beschaffen, dass es zu gerechten Ergebnissen führt. Und zweitens »findet« man (»finden sie«) »meistens auch irgend ne Stütze«, der aktive virtuose Rechtsausleger findet in diesem (guten) Gesetz etwas für seine, das heißt die gerechte Lösung. »Und das- eh oder oder natürlich, was auch ne Auslegung von eh einer Beweisaufnahme, nach, da ham sie natürlich auch viele Möglichkeiten. [I: Sie sie können] Ja, sie können nem Zeugen glauben. Mehr glauben als nem andern glauben. [I: Okay.] Muss ja, is ja das Ergebnis, sie müssen ja überzeugt sein, nach. Oben drüber steht ja dann immer nach der Überzeugung des Senats ist das so und so gewesen.« [D7:33, 1858/67]
85 Eine ähnliche Funktion hat der Terminus »objektiv« in der Soziologie.
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
In diesem zweiten ergänzenden Teil kommt der Richter auf weitere Möglichkeiten zu sprechen, die nicht nur im »guten« Gesetz gegeben sind, sondern auch in weiteren Teilen der Fallbearbeitung wie der Verfahrensordnungen. Er verweist auf die Beweisaufnahme und die dort entsprechenden »Möglichkeiten« der Richter in Form der »Auslegung«. Er kann dem einen Zeugen mehr glauben als dem anderen. Wieder finden wir in seinen Äußerungen den Aspekt des »vom Ergebnis her« mit dem »Muss ja, is ja das Ergebnis, sie müssen ja überzeugt sein«. Folgende Logik steht dahinter: Wenn das Ergebnis vom »Gefühl dafür« so und so aussehen muss, dann muss er dem einen Zeugen mehr Glauben schenken als dem anderen. Fassen wir zusammen, was für die Erörterung des ›Richterkönigs‹ aus der Analyse gewonnen wurde. Der ›Richterkönig‹ typisiert sich als ein Richter, der wenig von der bindenden Kraft des ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹ hält, wie sie die Richterprofession als Leitlinien bereithält. Er akzeptiert die Gesetze als Darstellungsmittel für die Öffentlichkeit aber nicht als Herstellungsmittel. Die prägende Richtung einer Entscheidungsfindung, wie sie durch die Methodenlehre und den praktischen Richtlinien vorgegeben ist, wird in den Äußerungen der ›Richterkönige‹ umgekehrt. Der Fall wird »vom gerechten Ergebnis her«, für welches der Richter nach dem Anschauen des Falles ein Gefühl hat, konstruiert. Diese Konstruktion, in Form der Begründung, funktioniert in der Regel ohne Hindernisse, weil es zum einen ein »gutes« Gesetzeswerk gibt, zum anderen einen virtuosen ›Richterkönig‹. Die Konstruktion ist dabei nicht auf die rein rechtliche Seite beschränkt, sondern findet auch auf der Sachverhaltsseite statt. In dieser ersten Analyse wurde der Aspekt des ›Richterkönigs‹ behandelt, der die Situation »vom Ergebnis her« beleuchtet. Dabei sind bereits andere Aspekte berührt worden, die noch vertieft werden sollen. Zum einen erscheint es sinnvoll, noch mehr über das »Gefühl dafür«, dieses Rechtsgefühl, in Erfahrung zu bringen, und später darüber, wo die Grenzen des ›Richterkönigs‹ bzw. des ›Judizlers‹ liegen. 3.3.3.2
Das Gefühl dafür – der ›Judizler‹
Was in seinen vielen Schattierungen unter Richtern als ›Judiz‹ bezeichnet wird, ist eine in der Praxis sich (teilweise notwendig) verselbständigte Operation. Dabei ist die Einigkeit über diesen Begriff alles andere als greifbar, wie uns dieser Richter nahebringt: »Wie gesacht, das sin halt alles blöde Begriffe mit denen man da hantiert. Judiz das is- das sacht ma auch nur so, ja. Öhm das is so 'n so Stichwort, was wenn wenn wenn wir beurteilt werden oder so was, dann heißt' s dann immer ›hat ein gesundes Judiz‹ oder irgendwie so was, ja, wahrscheinlich weiß auch keiner so richtig eh was' n damit jetzt genau gemeint is« [D10:36]
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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Neben der hier auf den Beurteilungszusammenhang bezogenen Anwendung kommt deutlich zum Ausdruck, dass der Begriff zwar verwendet wird, aber unscharf bleibt, ein Umstand, den wir noch oft in den Äußerungen erleben werden. Der typische und zentrale Verwendungszusammenhang in der Praxis wird im folgenden Beispiel deutlicher, in dem ein Richter am Oberlandesgericht auf die Frage antwortet, wie denn mit dem gelegentlichen Umstand umgegangen wird, dass man keine neue Beweiserhebung machen kann und trotzdem, aus der Akte sozusagen, den Fall bewerten muss: »Ich mein das ist- das ist also sicherlich oft dann auch ne Frage des sogenannten Judiz, ne, was man ja nicht richtig fassen kann, aber eh da eh, ich glaub schon, dass dass da also Erfahrung ne Rolle spielt.« [D4:33] Das Judiz hilft in gewissem Sinne über Leerstellen des konkreten Fallwissens (als Differenz von Aktenwissen/Fallwissen verstanden, nicht Richterwissen /Aktenwissen) oder der Fallwissenserwerbsmöglichkeit hinweg. Und obwohl es nicht richtig fassbar ist, wird Erfahrung benötigt, und zwar als über die Zeit angesammeltes praktisches Wissen verstanden. Diese wichtige Voraussetzung für ein Judiz bestätigt auch folgender altgedienter Amtsrichter: »Theorie im rechtlichen Bereich ist das eine und die Praxis, auch Augenmaß, Judiz -sie wissen, was das ist? (-) is was anderes. Dat lernt man erst. Das hat man nich sofort.« [D19:41] Es ist ein charakteristisches Merkmal, dass der Terminus »Judiz« weniger methodisch oder dem rechtlichen Bereich zugehörig geprägt erscheint. Erfahrung, Wissen aus der Praxis, versammelt in einer Art Gespür, sind Merkmale der Äußerungen über das Judiz. Manche Richter verwenden in diesem Zusammenhang auch den Begriff ›Vorurteil‹, den folgender Richter auf Nachfrage weiter definiert: »Ich meine, da drückt sich ja zunächst mal Judiz aus. Das Gespür für eine richtige Entscheidung, und in der Regel, ne, bestätigt sich dieses Vorurteil ja auch. Man man man hat ja, man hat seine Lebenserfahrung, man hat seine seine forensische Erfahrung, wenn man so eine Akte gelesen hat« [D18:35] In dieser Version des Judiz, als Vorurteil betrachtet, kommt ein Aspekt zur Geltung, der die Verwendung aus Sicht eines ›Richterkönigs‹ einschränkt. Der Richter spricht davon, dass es sich »bestätigt«, was darauf verweist, dass das Judiz an dieser Stelle nur im Sinne eines Vorgefühls, Vorurteils ohne bindend fallbestimmende Wirkungsbeziehung verwendet ist. Ein anderer Richter schildert sein Judiz ähnlich:
184
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
»Wenn wir abweichen, dann weichen wa ab und wie's dazu kommt, dass man abweichen möchte, das mag […] auch mal daran liegen, dass man zunächst noch von seinem Judiz, also von seinem Bauch, zu einem bestimmten Ergebnis geleitet worden is und dem steht plötzlich die Entscheidung der anderen entgegen […] ich ich muss die gegenläufige Entscheidung irgendwie argumentativ beseitigen können, um zu meinem, von mir selber eh eh für richtig b’fundenen Ergebnis zu gelangen. […] ich hab so n' gewisses Ergebnis vor Augen und eh hoffe, dass das bei Subsumtionen (und) eh dann auch rauskommt ne (--) Gibt's schon, also das dies dies [I: Mhm ] dies Landjudiz ja, das wo der Bauch spricht un sacht: ›Das kann doch wohl nich sein!‹« [19:30] Die Darstellung ist zweigeteilt. Im ersten Abschnitt bis »Ergebnis zu gelangen« wird der Ansatz des ›Richterkönigs‹ deutlich, wie er oben herausgearbeitet wurde: vom Ergebnis her. Er hat sein Judiz, im vorliegenden Fall als »von seinem Bauch« deutlich auf die Gefühlsebene verweisend, und möchte die »gegenläufige Entscheidung irgendwie argumentativ beseitigen«. Das heißt, dass er sein gerechtes Ergebnis per Judiz im Kopf (oder besser: Bauch) gefunden hat und es nun auf der Darstellungsebene »irgendwie« hinbekommen muss. Im zweiten Teil schwenkt der Richter in seiner Äußerung fast hinüber zum ›Radbruchianer‹ mit Judiz, weil er hofft, dass das Ergebnis bei der Subsumtion »auch rauskommt«. Das bedeutet, er sieht die Notwendigkeit, in der Darstellung seines Judiz-Ergebnisses, dem Primat des ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹ Vorrang zu geben. Die schnelle Zusammenfassung der zuhandenen Erfahrung, des vorhandenen Wissens als Gefühl zu einem vorliegenden Fall, ist in Form des Judiz eine wichtige Basisoperation, die insbesondere den Amtsrichter in der Routine seines Massengeschäftes hilfreich unterstützt. Rückblickend auf seine Zeit als Amtsrichter äußert sich ein Richter am Oberlandesgericht dazu wie folgt: »Wenn n Amtsrichter ein paar Hundert Stück davon hat (-) im Jahr, dass der nicht auf jede Sache so viel Zeit verwendet, sondern, die kriegen natürlich auch im Laufe der Zeit ein gewisses Gefühl, ne, Rechtsgefühl, so und so muss das laufen und das ist ein gerechtes Ergebnis, ne, dann wird das halt so gemacht« [D7:44] Das Judiz als Gefühl wird begrifflich zum »Rechtsgefühl« gewendet. Wenn dieses Gefühl da ist, »dann wird das halt so gemacht«, nach dem Judiz. Wir haben an dieser Stelle die Verdichtung des Judiz-Begriffs unter dem Gesichtspunkt der ›Anforderung‹ (siehe Abschnitt 3.2.3), wie sie einem ›Frontkamerad‹ obliegt. Dieser Hinweis ist insofern von Bedeutung, als der zeitliche Druck, das heißt die Notwendigkeit einer Effizienz, die Entwicklung eines Judiz fördert. Die Elemente der Äußerungen von Richtern bezüglich ihres Judiz lassen sich wie folgt zusammenfassen. Das Judiz wird in der begrifflichen Spanne von
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
185
einem »Vorurteil« über ein (»gewisses«) »Gespür« und »Gefühl« (»dafür«), teilweise auch auf den »Bauch« bezogen, bis hin zu einem »Rechtsgefühl« verwendet. Merkmale sind, dass sich dies zeitlich betrachtet relativ schnell beim Lesen der Akte einstellt, nicht nach dem intensiven, den Regeln entsprechenden technischen Durcharbeiten. Insofern gilt es als eine Falleinschätzung vor der eigentlichen rechtlichen Prüfung des Falles (sofern Letztere dann überhaupt noch stattfindet). Ein Judiz ist zum einen von Erfahrung abhängig und entwickelt sich zum anderen vornehmlich unter dem Gesichtspunkt effektiveren zeitökonomischen Handelns. Ein ›Judizler‹ kennzeichnet sich demnach als erfahrener und zeitökonomisch arbeiten wollender Richter, der ein Gespür für ein gerechtes Ergebnis entwickelt hat. Entweder ist dieses Judiz zielführend für die Konstruktion des Falles (vom Ergebnis her) wie beim ›Richterkönig‹. Oder es fügt sich dem Primat des ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹ und muss sich der später erfolgenden technischen Prüfung unterordnen, notfalls mit Bauchweh, wie beim ›normalen Radbruchianer‹. Der ›geschickte Radbruchianer‹ nimmt hier eine Mittelstellung ein. Alle ›Judizler‹, auch der ›Richterkönig‹, müssen hingegen bei der Darstellung auf den ›Methodenund Gesetzesbezug‹ achten, wobei die Rechtsprechung in der Praxis hier eine sehr weit gefächerte Toleranz aufzuweisen scheint.86 3.3.3.3
Grenzen des Königreiches
Die soeben angedeutete Toleranz endet an der weiter oben beschriebenen Grenze des »sie können nicht völlig gegen das Gesetz«. Im Folgenden haben wir ein Beispiel, in dem ein erfahrener Strafrichter einen merkwürdigen Fall schildert, der ihn zwar in ganz spezifischer Weise als einen virtuosen ›Judizler‹ kennzeichnet, der aber selbst keine Möglichkeit hat, seinem Judiz zu folgen: »Ich habe mal ein Urteil gesprochen gegen einen, der gestanden hat, eh, in dem Geschäft, in dem er gearbeitet hatte, sich den Schlüssel besorgt zu haben ( ) in großen Umfang HiFiGeräte ins Ausland aufgebra- abtransportiert zu haben, also mit Hilfe anderer. Und eh. Ich habe ein sehr ungutes Gefühl gehabt in diesem Prozess. Weil ich eh- Ich konnte es nicht beschreiben. Ich konnte es auch nicht fassen. Ich habe ihn zu einer längeren Freiheitsstrafe, also (eben Riesenwerte), ihn verurteilt. Und ich war- ich war damit irgendwie nicht zufrieden. (…) das ist zuviel, aber es hat mich beschäftigt. Was war?[I: Irgendwas stimmte nicht.] Nee.« [D8:24, 1825/40]
86 Vergleiche hierzu die Ergebnisse der rechtsrhetorischen Forschung (Sobota 1996), die zeigen, wie sehr in den Urteilsbegründungen andere als rechtliche Argumente den Ausschlag geben.
186
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Der Richter schildert zunächst den Fall eines normal erscheinenden Diebstahls, wie er an einem Amtsgericht in dieser oder ähnlicher Art häufiger vorkommen kann. Ein Mitarbeiter einer Firma besorgt sich und seinen Komplizen Schlüssel zu seiner Firma, sie brechen ein und stehlen Ware, aus deren Verkauf sie sich bereichern. Sie werden gefasst, der angeklagte Mitarbeiter gesteht die Tat und wird zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. An diesem Fall war aber etwas, was der Richter nicht richtig fassen konnte, trotz des normalen Ganges des Verfahrens, trotz des Geständnisses des Angeklagten. Es blieb ein »sehr ungutes Gefühl«, ohne dass er wusste, worauf es sich genau bezog. Die bis hierhin erzählte Geschichte baut einen Spannungsbogen auf, der dieses ungute Gefühl des Richters als nicht fassbare und damit nicht rationale, intuitive Angelegenheit in das Zentrum der Anekdote stellt. Der Hörer erwartet in der Folge der Frage »Was war?« nicht etwa die Aussage »Aber da war nichts!«, sondern vielmehr, dass sich etwas entwickelt, was dieses Gefühl (rational!) erklärbar macht, vielleicht sogar bestätigt. Die Konstellation, die dabei entstünde, wäre die Zuschreibung von außer- oder überrationalen Fähigkeiten im Sinne einer Vorahnung, einer Vision87, oder eben etwas milder formuliert: ein Gefühl für Verborgenes, für rational (das Gerichtsverfahren als rationalen Prozess beschreibend) nicht Erkennbares. Mit der den Auftakt abschließenden Frage »Was war?«, als Abkürzung für »was war geschehen?«, »was war gewesen?«, »was war der Fall?«, wird ein typisches Stilmittel der szenischen Inszenierung einer Geschichte verwendet, die Spannung weiter aufzubauen. »Und eh ich glaube nach einem Jahr oder so hat er mir geschrieben, dass das alles falsch war, dass er mit seinem Chef abgesprochen hat, dass er das so macht, für den Chef, dafür auch in den Knast geht, aber dass er einen super Anwalt bekommt und solange er im Knast ist auch eh, bevor er an der Beute mit beteiligt wird, gut versorgt wird. Und da ist er wohl enttäuscht worden und hat gesagt: ›So, jetzt mache ich reinen Tisch.‹« [D8:24, 1840/7] Der Verurteilte widerruft nach einem Jahr per Brief88 an den Richter sein Geständnis, erklärt, wie er den Diebstahl mit seinem Chef abgesprochen hatte, der ihm Unterstützung im Gefängnis und Anteil an der Beute zusagte. Die Vermutung des Richters über den Sinneswandel des Verurteilten ist, dass er vonseiten seines Chefs 87 Einen solchen Typus des Visionärs und seiner Selbsttypisierung unter Zuhilfenahme der Proklamierung nicht fassbarer Fähigkeiten beschreibt Schnettler (2004). 88 Das Thema des Briefes an seinen Richter als Mittel, um nach einer Zeit der Reflexion Einblicke in die wahren Beweggründe des Täters zu geben, ist nicht so selten. Literarisch wurde es zum Beispiel von Georges Simenon (1976) mit »Brief an meinen Richter« verarbeitet. Interessant ist, dass dem Richter dabei fast die Rolle des zuhörenden (lesenden) Weisen gegeben wird, der für den Gefängnisinsassen – gerade unter dem Druck des Strafvollzuges – ein wichtiger Bezugspunkt zur Außenwelt darstellt.
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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bezüglich der Zusagen enttäuscht wurde und deswegen die wahre Geschichte erzählt. Die Spannung wird damit nun zu einem großen Teil aufgelöst, eine Umkehrung ist eingeleitet, die das Gefühl durch die neuen Fakten in ein rationaleres Licht stellt. Die zuvor gestörte Ästhetik eines sich in bestimmter Weise anfühlenden Falles ist durch ein rationales Element ergänzt worden: Es ist noch jemand da, der bisher nicht in den Fall verwickelt war, der sogar Initiator war. Diese Veränderung der Faktenlage hat, dem erwarteten Spannungsverlauf der Anekdote folgend, das Potential, das ungute Gefühl vom Vorfeld zu korrigieren: »Dann wurde er da noch mal wegen falscher Anschuldigung noch mal vor Gericht, aber der Chef kam auch dran. Und ich habe auch den Prozess geführt gegen den Chef, der immer leugnete: ›Das ist alles verkehrt.‹ Erst da war dieses ungute Gefühl wieder hergestellt worden.« [D8:24, 1847/52] Der Fall wurde neu aufgerollt und der Richter führte den Prozess gegen Mitarbeiter und Chef. Nach Beendigung des zweiten Verfahrens war »dieses ungute Gefühl wieder hergestellt«, was sprachlogisch zunächst zwar unglücklich wirkt, in der kontextuellen Auslegung aber zeigt, dass sein Rechtsgefühl nun zum Ausgang des Falles keinen Widerspruch mehr erhob. Er resümiert im Folgenden diese Situation noch einmal: »Da habe ich etwas machen müssen, weil es gar nicht ging. Nach der StrafprozessordnungMein Gefühl sagte mir: ›Irgendwas stimmt hier nicht.‹ Und ich habe ihn ja nicht zu Unrecht verurteilt, er hatte ja auch- Er hat jetzt zwar keinen Einbruch begangen, aber einen Betrug, Mittäterschaft gegenüber dem anderen. Also so schlimm ist es ja nicht. Aber es passte nicht. […]Das war keine schöne Situation. Ich musste ihn verurteilen, aber ich stand also innerlich vom Gefühl nicht dahinter. Und sonst habe ich, fragen sie mich oft: ›Das muss doch unheimlich schwer sein, ein Urteil zu finden.‹ Finde ich also nicht schwer ein Urteil zu finden.« [D8:24, 1954/70] Der Strafrichter, der sich selbst als jemand typisiert, der es nicht schwer findet, ein Urteil zu fällen, äußert sich zu diesem speziellen Fall anders. Er stand »innerlich vom Gefühl nicht dahinter«, sein Gefühl sagte ihm, dass irgendetwas hier nicht stimme, es »passte nicht«. Diesem, wir fassen es als eine Form von Judiz zusammen, Gefühl für den Fall entsprachen keine rechtlichen oder prozessrechtlichen Möglichkeiten, um ihm Rechnung zu tragen. Das verweist zum einen auf den Grad der Unschärfe des Gefühls (»ich konnte es nicht beschreiben […] nicht fassen«), zum anderen auf das nicht alle Möglichkeiten abdeckende Gesetz. Bei dieser nicht fassbaren Unsicherheit, in der der Richter von seinem Gefühl her gar keine Handhabe hat, in welche Richtung es gehen könnte, gibt der Richter zu erkennen, dass er hat »etwas machen müssen, weil es gar nicht ging«. Das bezieht sich auf die Strafprozessordnung, nach der in diesem Fall das Geständnis, auch wenn es ein damals nicht erkennbares falsches war, als
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Grundlage für die rechtliche Lösung des Falles für das Urteil bestimmend war. Das »nicht gehen« (»weil es gar nicht ging«) zeigt den hohen Grad der Verbindlichkeit, den die Prozessordnung in diesem Fall auf den Richter ausübt. Sein Dilemma zwischen Gefühl und machbaren Lösungen beschreibt er mit »Das war keine schöne Situation«. Dies ist in der Regel das Dilemma des ›normalen Radbruchianers‹ mit Bauchweh. Der Unterschied in diesem Fall liegt aber in dem unspezifischen Gefühl, der Richtungslosigkeit des Judiz, wenn man so will. Er konnte nicht sagen, dass das Gesetz oder die Prozessordnung in diesem Fall zu einem ungerechten Ergebnis führt oder er den einen oder anderen aus diesem oder jenem Grund nicht mochte (siehe Abschnitt 3.3.2, D8:18), er hatte nur das Gefühl, das etwas nicht stimmig war. Sein Gespür erstreckte sich auf den Fall als Ganzes, und im Detail – so ist aus der Retrospektive ersichtlich – auf die Falschaussage. Denn diese Falschaussage ist eine, wie sie vor Gericht eher selten vorkommt, nämlich eine zulasten des Geständigen bei freiem Willen. Ein erfahrener Strafrichter hat sicherlich einige Berufserfahrung hinsichtlich von Falschaussagen, das heißt Lügen zum Schutz des Angeklagten. An einer solchen Stelle hätte er das Gefühl leichter fixieren können und im Sinne der Amtsermittlung Weiteres in Erfahrung bringen können. So wie sich die Lage für ihn hier darstellte, hatte er außer dem ziellosen Gefühl nichts in der Hand, was eine andere Handhabung im Sinne eines ›Richterkönigs‹ hätte stützen können. Sein Judiz, im Sinne eines Gespürs für die Wahrheit eines Falles, war sehr treffend. Gleichsam kann er »nicht völlig gegen das Gesetz« agieren, ohne wenigstens etwas anderes in der Hand zu haben. Somit sind die Grenzen des »Königreiches« unseres ›Richterkönigs‹ (aber auch die Grenzen unseres rational-rechtstaatlichen Verfahrens) markiert: Das Judiz muss eine wie auch immer geartete Richtung aufweisen (sich folglich konkret an mindestens einem Punkte des ›Methoden- oder Gesetzesbezugs‹ reiben), und letztlich muss das Ergebnis, das Urteil, einer Form entsprechen können, die professionell und damit mittelbar von der Öffentlichkeit akzeptiert werden kann. Ein Richter, der diese Grenzen übertritt, verlässt sein »Königreich« und verliert seinen Richterstatus in absehbarer Zeit. Gelegentlich finden wir solche Überschreitungen im Bereich des ›Befangenen‹-Typus (siehe Abschnitt 3.4.5). Vergleicht man den ›Richtigtechniker‹ und seine methodisch technische Fallbearbeitung mit dem ›Richterkönig‹ und seinem Judiz, kommt man nicht umhin zu bemerken: Letztere sind eher die älteren, praxiserfahreneren Richter. Als Effektivitätsargument genommen kann das Judiz auch eine Ersparnis sein, weil die Billigkeitsprüfung vorweggenommen Irrwege vermeiden kann. Dann wäre das Judiz ein durch lange, eingeübte Praxis zusammengeschnurrtes, methodisch-überschlagendes Programm zur Gerechtigkeitsfindung eines Falles – und kein »freies Bauchgefühl«. Der ›Judizler‹ ist dann jemand, der nicht entgegen einem ›Richtigtechniker‹ zu verstehen ist, sondern ein hochrechnender, ein überschlagender, ein schätzender oder auch ein erfahrener, abkürzender und wissender ›Richtig-
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
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techniker‹, der nach einer kleinen, mehr überfliegenden Bearbeitungszeit eine Fallprognose in rechtlicher und »gerechtlicher« Sicht wagt und damit in der Regel sehr treffend liegt. Der ›Richtigtechniker‹ gibt diesem Judiz allerdings keine fallbestimmende Macht im Gegensatz zum ›Richterkönig‹, der dem rein technischen Vorcheck deutlich weniger Gewicht einräumt als dem Gerechtigkeitscheck (auch wenn dies in unserer Annahme des schnellen Überschlags sicherlich nicht sauber voneinander zu trennen sein wird). Das gewisse Charisma des ›Richterkönigs‹, der sich auf sein Judiz verlässt, liegt in der Beherrschung und der Übersicht über die Alltagspraxis und seiner intuitiv anmutenden virtuosen Vorhersage zur gerechten Lösung eines Falles. In jedem Fall, ob mit oder ohne Bauchweh, folgt der ›Richterkönig‹ seinem Judiz und konstruiert die Begründung für sein Urteil bzw. den ganzen Fall vom Ergebnis her. Bei Differenzen des Judiz mit der richtigtechnischen Lösung, das heißt einem Judiz mit Bauchweh, benötigt der ›Richterkönig‹ dabei jeweils eine Richtung, eine Handhabe, an welcher Stelle des Gesetzes, der Prozessordung, etwas genau diesen Fall zu einem ungerechten Ergebnis führen würde, um den Fall professionsangemessen im Sinne seines Judiz konstruieren zu können.
3.3.4
Richterliche Selbsttypisierungen zum ›Methoden- und Gesetzesbezug‹
In diesem gerade dargestellten, sehr eng an der richterlichen Fallarbeit orientierten, Großbereich richterlicher Selbsttypisierungen, dem ›Methoden- und Gesetzesbezug‹, kommt die Dynamik zwischen Rationalität und Gerechtigkeitsgefühl in den Blickpunkt. Diese Dynamik beherrscht die Interaktion der Akteure bei der Herstellung des Rechtsfriedens und fundiert wesentliche Selbsttypisierungen des zentralen Akteurs, des Richters. Die Spannbreite der Richtertypen, die sich in dieser Dimension auftut, schwankt von der Unterwerfung unter ein bürokratischrationales Programm bis hin zur freien Rechtsfindung durch Rechtsgefühl. In der Mitte steht dabei der ›Radbruchianer‹, der sich entweder mit Bauchweh oder mit der Kaschierung seiner Rechtsgefühlsdominanz auseinandersetzen muss. Die Triebfeder für die eine oder andere Richtung bezieht er dabei aus dem ihn fundamental prägenden ›Unabhängigkeits‹-Verständnis: unabhängig zu sein von dem Zwang, ein durch ihn nicht als gerecht empfundenes methodisch- und gesetzlich-rationales Ergebnis ausführen zu müssen auf der einen Seite, und unabhängig davon zu sein, ein nicht durch rationale Kriterien erfassbares – und deswegen möglicherweise »nur« subjektives – Gerechtigkeitsgefühl als übergeordnete Erwartung oder Last anerkennen zu müssen, in dessen Folge das intersubjektive rationale Programm zu Schaden kommen würde, auf der anderen Seite. Das jeweils in Stellung gebrachte ›Unabhängigkeits‹-Verständnis entlastet von dem je einzeln zu tragenden Druck der Verantwortung einer Entscheidung. Diese persönliche Entlastungsfunktion der ›Unabhängigkeit‹ in dem hier für die deutsche Justiz dargestellten Gleichgewicht
190
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
kann als zurzeit (einigermaßen) funktionierendes Ergebnis langer historischer Entwicklungsprozesse angesehen werden. Stärkere einseitige Eingriffe zugunsten oder -ungunsten der Rationalität oder des Rechtsgefühls – so eine vorsichtige Prognose – würden je Gegenreaktionen feldinterner Akteure sowie eine Destabilisierung des dynamischen Gleichgewichts hervorrufen. Methoden (M) und Gesetzes (G) -gebundenheit
Typus
UmgangsHandlungsweisen tut, was er soll
M+ G+
›Subsumtionsautomat‹ ›Methodenmonist‹ ›Herr des Verfahrens‹
M+ G+
›menschlicher des Gesetzes‹
Mund
tut, was er soll
M+ G+
›normaler Radbruchianer‹
tut, was er soll mit Bauchweh
›geschickter Radbruchianer‹
tut gedeckt auch nicht, was er sollte
M+ G+/-
M+/G+/-
›Richterkönig‹ (›Judizler‹)
tut offen auch nicht, was er sollte
Abbildung 14: Übersicht Typologie des ›Gesetzes- und Methodenbezugs‹
Glauben und Imagination rationales und intersubjektives Programm funktioniert einwandfrei, ist letztliche Grundlage. rationales und intersubjektives Programm hat grundsätzlich Vorrang trotz technischer Fehler durch den Menschen. verinnerlichte Berufsauffassung im Sinne der oberen Typen, aber mit Widerstand »wenn« (als Selbstillusion). Gerechtigkeitsgefühl ist vorrangig und letztendliche Grundlage. Das Berufsimage im Sinne der Werkzeughoheit muss aber bewahrt bleiben. Das Gerechtigkeitsgefühl ist vorrangig und letztendliche Grundlage, technische Umsetzung mit der Überzeugung »Ich kann alles machen«.
›Antriebs‹-Dimensionen
191
3.4 ›Antriebs‹-Dimensionen Die ›Antriebs‹-Dimensionen rekonstruieren eine Kategorie der Selbsttypisierungen, die auf Interessen, Beweggründe, Motivationen und alles das abzielt, was den Richter in seiner Arbeit »antreibt«. Sie stehen neben den ›Basis‹-Dimensionen und neben den ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹-Dimensionen und versuchen eine weniger durch die Justiz und Juristenausbildung geprägte – wenn auch dennoch gefärbte – Landschaft persönlicher Einflüsse und Präferenzen in der Arbeit der Richter zu zeichnen. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass es sich nicht um den (psychoanalytischen) Versuch handelt, tatsächlich wirkende Motive zu offenbaren (was immer das sein mag), sondern um die soziologische Sicht der in symbolischer Interaktion erlernten und in Handlungsvollzügen integrierten Motivzuschreibungen (vgl. Strauss 1974: 54). Im Vordergrund der ›Antriebs‹-Dimensionen stehen ›Karrierist‹ und ›Alternativ-Wettbewerber‹. Sie werden ergänzt vom ›zugewandten Richter‹, dem ›Unberührbaren‹ und dem ›Befangenen‹, der als Typus verschiedenste Motivationen persönlicher Vorteilsnahme vereinigt. Weniger starke Selbsttypisierungen bezüglich der eigentlichen richterlichen Arbeit werden unter dem Aspekt ›weitere Motivationen‹ behandelt. Sie sind zwar gleichwohl durch gesellschaftliche Einheitsmuster geprägt und individuell bedeutsam, haben für das Erklären und Verstehen richterlicher Selbsttypisierungen aus soziologischer Sicht aber zu wenig abgrenzenden Charakter.
3.4.1
›Karrierist‹
Die Karriere als bedeutende ›Antriebs‹-Dimension ist in ihrer strukturellen Ausgestaltung stark abhängig von der Organisationsstruktur der Justiz mit ihrer beamtenähnlichen Beförderungsstruktur. Dieser auch unter der ›Basis‹-Dimension zu fassende Aspekt wird hier gemeinsam mit den ›Antriebs‹-Anteilen behandelt. Das soll aufzeigen, dass in diesem Fall dem persönlichen Antrieb mehr Gewicht beigemessen wird als der Organisationsstruktur: Dass ein Richter Karriere machen will, lässt sich der Richter kaum dadurch verhindern, wie dies zu geschehen hat. Zunächst soll eine kurze Skizze zu den strukturellen Gegebenheiten einer Richterkarriere innerhalb unseres Forschungsfeldes gegeben werden (siehe hierzu Riedel 2005).
192
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Die wesentlichen Karrierestationen des Richters lassen sich in fünf Stufen kategorisieren beginnend mit R 089 bis R 4. Die Stufe R 0 ist der Einstieg als Proberichter für 3 Jahre, der auf bis zu maximal 5 Jahre ausgedehnt werden kann. Zum R 1 kommt der Richter dann (fast) automatisch: Er wird als »Richter auf Lebenszeit« ernannt, zunächst am Amtsgericht oder als Beisitzer in einer Kammer am Landgericht/Verwaltungsgericht und hat die Besoldungsstufe R 1. Bemessen wird der Aufstieg zu R 1 nach Beurteilung durch den oder die jeweiligen Kammervorsitzenden (Riedel 2005: 94). Obwohl dieser Schritt für den jeweiligen Proberichter sehr wichtig ist, nimmt er ob seiner (beinahe) Unausweichlichkeit im Nachhinein nur noch eine untergeordnete Bedeutung ein. Anders hingegen ist alles, was ab dem R 1 weiterhin geschehen kann. Nun bedarf es der Initiative des Richters in Form einer Bewerbung, um »weitergehen« zu können. Bemessen werden die Aufstiege ab R 1 ausschließlich nach Beurteilung durch den Landgerichtspräsidenten oder den Oberlandesgerichtspräsidenten oder deren Vize (Riedel 2005: 95). Neben der wichtigen und ernst genommenen aufstiegsrelevanten Beurteilung gibt es zudem eine turnusmäßige Beurteilung aller Richter alle vier bis fünf Jahre. Die Beurteilungen werden nach mehr oder weniger kodifizierten Maßgaben vorgenommen, die im Allgemeinen Folgendes beinhalten (Riedel 2005: 96): professionelle Kompetenz (Wissen und Können im Umgang mit materiellem Recht, Prozessrecht, Verfahrensführung etc.), persönliche Kompetenz (Umgang mit Arbeitsbelastung, Fähigkeit zu entscheiden, Flexibilität im Umgang mit neuen Technologien und Entwicklungen etc.), soziale Kompetenz (Mediationsfähigkeit, Respekt gegenüber den Belangen der Parteien, Fähigkeit, konstruktiv Diskussionen zu leiten etc.) und Führungskompetenz (Verwaltungserfahrung, Fähigkeit, Teams zu führen und zu instruieren etc.). Nach Bewerbung und einer 8- bis 12-monatigen Erprobungszeit (das sogenannte »dritte Staatsexamen«) am Obergericht kann der Aufstieg zu R 2 geschafft werden. Dieser Aufstieg ist der zentralste und häufigste innerhalb der Richterschaft und steht bei Forschungen über richterliche Beförderungen im Mittelpunkt (Khorrami 2005: 119). Man wird dann Richter am Oberlandesgericht/Oberverwaltungsgericht oder Vorsitzender Richter am Landgericht/Verwaltungsgericht oder Richter am Amtsgericht als weiterer Aufsicht führender Richter z. B. auch stellvertretender Direktor am Amtsgericht. Obwohl es keine gesetzlichen Beschränkungen gibt, sind die Richter, die auf R 2 kommen, nicht jünger als 36 Jahre. Alternative Wege über Verwaltungsposten bzw. Ministerium sind ebenfalls möglich, 89 Die Besoldungsstufe R 0 existiert nicht, ist hier der Einfachheit halber aber zur Erkennung der Stufen im Karriereprozess verwendet worden. Ein Proberichter (in unserem Fall auf Karrierestufe R 0) wird mit R 1 besoldet, was ihn finanziell (vom Lebensalter abgesehen) mit einem Richter auf Lebenszeit gleichsetzt.
›Antriebs‹-Dimensionen
193
wenn auch nicht die Regel. Bei weiterer positiver Beurteilung und Bewerbung auf freie Posten ist ein Aufstieg zu R 3 möglich, in der Praxis aber nicht vor dem Alter von 39 Jahren und aufgrund der begrenzten Posten seltener: Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht/Oberverwaltungsgericht, Vizepräsident des Landgerichts /Verwaltungsgerichts oder Direktor des Amtsgerichts. Weitere Aufstiege werden ob der stark geringer werdenden Zahl möglicher Posten immer weniger planbar. Das Forschungsfeld dieser Untersuchung ist mit Erreichen des Aufstiegs zu R 4: Präsident des Landgerichts oder Oberlandesgerichts/Oberverwaltungsgerichts bezüglich weiterer Aufstiegschancen begrenzt. Die Besoldung für R 0 bis 2 richtet sich nach R-Stufe und Alter (minimal 2.400 € bis maximal 4.200 € nach Steuern). R 3 (4.500 € nach Steuern) und R 4 (5.500 € LG und 6.000-8.000 € OLG/BGH nach Steuern) sind altersunabhängig (alle Angaben zur Besoldung siehe Riedel 2005: 94 f.). Was auf den ersten Blick doch nach einem starken Unterschied aussieht, ist auf den zweiten Blick sehr begrenzt: Auf R 4 kommt in unserem Forschungsfeld gerade mal 1 % der Richter. Die Unterschiede darunter sind größtenteils altersbedingt, zwischen einem 49jährigen Amtsrichter R 1 und einem Senatsvorsitzenden R 3 liegen gerade einmal 700 € nach Steuern, aber zwei (harte) Aufstiegsprozeduren über viele Jahre erarbeitet. Nichtsdestotrotz ist es definitiv ein Statusunterschied, ob jemand ein Senatsmitglied am Oberlandesgericht ist oder ein Richter am Amtsgericht, von den besseren Arbeitsbedingungen einmal abgesehen (Khorrami 2005: 117). Von diesem allgemeinen Zusammenhang soll auf die interne Sicht der Richter selbst gewechselt werden: Wie sieht sich ein Richter selbst in diesem spezifischen Zusammenhang von Karriere und Leistung, der seine (Berufs-) Identität prägt? Für die Kategorie der Karriere im Rahmen der Rekonstruktion von Selbsttypisierungen ist von Bedeutung, wie die Richter ihren berufsbiographischen Werdegang beschreiben. Einige beschreiben das stromlinienförmige Bild eines Justiz-›Karrieristen‹ – wohl in der Mehrheit welche auf R 2 und 3 und damit eher auch zu den Älteren gehörend. Deren Stations- und Ortswahl wird oft in Hinsicht auf deren Karriere gedeutet (»Das ist dann so der typische Lauf …«). Dann gibt es die Nicht-›Karrieristen‹, die sich selbst eher als ›Unabhängige‹ (siehe Abschnitt 3.5.2) bezeichnen (»Ich will nicht buckeln…«), zumeist mit R 1. Andere Beweggründe im berufsbiographischen Werdegang sind vermehrt bei den intrinsischen Motivationen zu finden, wie Rücksichtnahme auf Familie, auf Karriere/Beruf des Partners [D12] oder den kommenden Nachwuchs [Babypausen, D23]. Für eine persönliche Karriere an sich, auch die eines Juristen, als Ganzes betrachtet, ist ja die Tatsache, Richter geworden zu sein, schon eine große Leistung, sind die Zugangsvoraussetzungen doch alles andere als einfach zu erreichen. Innerhalb des Richterberufes nimmt die Karriere, wie kurz skizziert, eine sehr unterschiedliche Bedeutung an und spaltet – typologisch betrachtet – die Richterschaft in vorwiegend zwei Typen: den ›Karrieris-
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
ten‹ und den ›Unabhängigen‹. Dieser auf den ersten Blick erscheinende Antagonismus stellt sich jedoch in der späteren Betrachtung als differenzierungswürdig heraus, weil die entgegenstehenden Selbsttypisierungselemente des ›Karrieristen‹ nicht mehr auf einem Richtertypus basieren (siehe hierzu Abschnitt 3.5.2). Wie »Erfolg« bei Karriereaufstiegen zu verstehen ist, wird im folgenden Interviewausschnitt verdeutlicht. Nachdem der vorsitzende Richter eines Zivilsenates in dem noch am Anfang stehenden Interview seinen von vielen und teilweise langen Stationen in der Verwaltungsebene sowie einem wissenschaftlichen Einsatz am BGH durchzogenen Berufswerdegang dargelegt hat, versucht er auf Nachfrage zu erläutern, wie so etwas vor sich gehen kann: 0157 0158 0159 0160 0161 0162 0163 0164 0165 0166 0167 0168 0169
Wenn man solche juristischen Lebensläufe absolviert, wie ich die absolviert habe, dann- (-) das kann natürlich nicht jeder schaffen. Das ist ja schon aus den Beförderungsbaum ersichtlich. Ich habe ein recht anständiges Examen gemacht und habe mich offensichtlich gut betragen, ne, während der Anfangsphase meiner Berufslaufbahn, so dass dann das Auge des Präsidenten auf mich gefallen ist und dann musste ich relativ wenig, außer mich weiter gut betragen, selbst dazu zu tun, ne. Denn das hat bei mir alles ganz gut geklappt. Mit der Karriere in Anführungsstrichen, ne.
[D18:30]
Seine Argumentationsstruktur verläuft im Groben wie folgt: Der Richter charakterisiert sich selbstbewusst als jemand, der gut ist und dessen Qualitäten so auffallend sind, dass ihm von außen die Karriere bereitet wurde. Der Beförderungsbaum zeigt den herausstechenden juristischen Lebenslauf. Das anständige Examen und gutes Betragen lassen die entscheidenden Stellen derart aufmerksam werden, dass keine größeren Anstrengungen für den Fortgang der Karriere unternommen werden mussten. 0157/8: »Wenn man solche juristischen Lebensläufe absolviert,« Der Richter beginnt seine Ausführung mit der Einleitung einer »wenn … dann«-Konstellation, die den Rezipienten darauf einstimmt, zunächst eine kausale Bedingung einer späteren Folge zu erfahren. Das Subjekt dieser Bedingung ist ein generelles »man«, mit dem der Richter sich nicht persönlich herausstellt, obwohl er sich, wie wir später erfahren, zu diesem »man« zugehörig meint. Die Kombination »wenn man« leitet eine generelle Regel ein, die sich auf Personen bezieht. Die folgenden drei Worte »solche juristischen Lebensläufe« verweisen explizit durch das »solche« auf den zuvor im Interview geäußerten beruflichen Werdegang des Richters. Interessant ist die Zu-
›Antriebs‹-Dimensionen
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sammenstellung »juristischen Lebensläufe«: Zum einen wird nicht vom »richterlichen«, sondern vom »juristischen« Lebenslauf gesprochen. Obwohl sein Beruf der des Richters ist, fasst er den diesbezüglichen Lebenslauf als »juristischen« weiter. Wahrscheinlich liegt dies an den vielen Verwaltungsstationen, in denen er vorwiegend juristische Aufgaben tätigte, nicht im engeren Sinne richterliche. Sein Selbstverständnis geht somit über die reine Etikettierung eines richterlichen Lebenslaufes hinaus. Zum anderen spricht er von »Lebensläufen« und nicht von Berufsverlauf, beruflichem Werdegang etc. Ein Lebenslauf umfasst weit mehr als ein Berufsverlauf, es sei denn der Beruf nimmt zumindest aus der subjektiven Perspektive einen so starken Platz im Leben der Person ein, dass der Berufsverlauf quasi zum Lebenslauf wird. Zudem ist das Wort im Plural verwendet, als ob er mehrere juristische Lebensläufe gleichzeitig oder hintereinander vollzogen hat. Auch dies ist ein Hinweis auf seine nicht ausschließlich richterliche Tätigkeit. Durch die Zusammenstellung »juristische Lebensläufe« wird dem beruflichen Verlauf eines Juristen quasi »Leben eingehaucht«: Eine ansonsten begrenzte Phase im Leben eines Menschen bekommt ein eigenes Leben. Aber, und das spricht gegen die Annahme eines Totalaufgehens im Beruf, es ist immer noch ein juristischer Lebenslauf, nicht der Lebenslauf. Dennoch ist hier ein erhöhter Grad an Identifizierung mit dem eigenen Beruf zu konstatieren, weil ihm sprachlich ein eigenes Leben verliehen wird. Die »juristischen Lebensläufe« werden nicht gelebt, gelaufen oder durchschritten, sie werden in diesem Fall »absolviert«. Absolvieren tut man definierte Zeiteinheiten, die gleichsam einem Training oder einer Lernphase in einer Prüfung, einem Abschluss oder einem Examen enden. Den Ausdruck »absolvieren« für die Ausbildung zu verwenden, ist normal, ihn für den beruflichen Werdegang zu benutzen, deutet auf das Selbstverständnis hinsichtlich der Ausübung des Berufes hin: Die Lern- und Qualifikationszeit ist mit dem Eintritt ins Richteramt nicht beendet, dessen Ziel sie gewesen sein könnte, sondern sie ist eine fortlaufende Begleiterin der »juristischen Lebensläufe« und prägt den Richter. 0158/9: »wie ich die absolviert habe,« Hier erst bezieht der Richter die Bedingung der allgemeinen Regel auf sich selbst. Diese Deutung wurde oben schon (rückwirkend) vorweggenommen. Das »ich« kommt aus dem »man« der Regel hervor, er ist derjenige, um den es geht. Das zuvor abstrakt in der Bedingung einer Regel Formulierte wird als etwas qualifiziert, was er selbst erfüllt. Zudem wiederholt er den Terminus des »Absolvierens« und bekräftig damit seine Auffassung des berufslebenslangen Strebens nach Examinierungen. Schon in diesen kurzen Zeilen ist eine deutlich karriereorientierte Selbsttypisierung bezüglich des beruflichen Werdeganges zu verzeichnen. 0159: »dann- (-)« Nun wird mit dem »dann« angesetzt, die begonnene Regel zu vervollständigen. Die Bedingung des »Wenn« ist genannt, nun sollte die Folge mit dem »dann« erläutert werden. Der Richter bricht an dieser Stelle seine Argumentation ab, zunächst kenntlich noch am Abbruch des Wortes, dann deutlicher an der
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entstehenden Pause. Wir holen hier vorweg, dass dies keine Überlegungspause und kein Ringen nach Worten ist. Es ist ein echter Abbruch, er spricht nicht aus, was er möglicherweise vorgehabt hat, oder ihm ist der sprachliche Pfad zur Falle geworden, weil er eigentlich etwas anderes sagen wollte. Welche Anschlüsse wären möglich und sinnvoll gewesen? Wir stellen diese Frage zurück, um sie später, mit dem Wissen dessen, was er als Folgendes sagt, zu beantworten. 0159/60: »das kann natürlich nicht jeder schaffen.« Das »das« kennzeichnet den Themenbereich des zuvor Genannten, macht den endgültigen Abbruch deutlich, indem nur noch die genannte und auf sich bezogene Bedingung der Regel als Aussage gemeint und nützlich ist. »Solche juristischen Lebensläufe«, so der Bezug des »das«, »kann natürlich nicht jeder schaffen«. Zum einen haben wir dabei die Aussage, dass das »nicht jeder schaffen kann«, zum anderen eine Charakterisierung dieser Feststellung als »natürlich«. Wenn etwas nicht jeder schaffen kann, dann setzt das voraus, dass es einige gibt, die etwas schaffen wollen, von denen aber es nicht alle können. Außen vor bleiben dabei die, die es nicht wollen – folglich auch nicht probieren. Zu Letzteren gehören die Teile der Nicht-›Karrieristen‹ (die ›Unabhängigen‹), die nicht aus gescheiterten Versuchen heraus den anderen Weg einschlugen, sondern aus Überzeugung. Von allen, die es wollten, können es nicht alle schaffen. Das ist aber nicht »jeder« in dem Sinne, wie der Richter dies mit seinem Ausspruch suggeriert. So wie der Richter es sagt, bezieht sich das »jeder« auf alle anderen Richter. Dies unterstellt grundsätzlich allen Richtern, dass sie die gleichen »juristischen Lebensläufe« hätten »absolvieren« wollen. Das ist als Allgemeinaussage faktisch nicht haltbar und somit in bestimmter Hinsicht anmaßend. Selbst wenn der Richter in abgemilderter Form lediglich seine R-Besoldungsaufstiege damit meint (und nicht auch noch die vielen Verwaltungsstationen), unterstellt eine solche Aussage, dass alle Richter grundsätzlich sich diese zwei Aufstiege erarbeiten wollen. Der Richter vereinnahmt durch diese Aussage die gesamte Richterschaft unterhalb seiner R-Stufe (3), die nicht einfach nur zeitlich hinter ihm gleichkommt. Das »natürlich« kann auf dreierlei Weisen gedeutet werden. Erstens kann damit der einfache Umstand gemeint sein, dass es für eine bestimmte Anzahl an Richtern nun mal nur eine kleinere Anzahl an Aufstiegspositionen geben kann, weil die Gerichtsorganisation so beschaffen ist. Diese »natürliche« Begrenzung zur Verfügung stehender Aufstiegsposten ist insofern hierarchisch-strukturell, von Menschen gemacht und zumindest nicht im ursprünglichen Sinne des Wortes »natürlich«. Umgangssprachlich sind solche Gleichsetzungen aber nicht unüblich, gleichwohl sie – oder gerade weil sie – damit eine quasi schöpfungsgegeben natürliche Hierarchie legitimieren. Zweitens kann das »natürlich« auch im Sinne von »selbstverständlich« oder »fraglos« verstanden werden, welches sich auf die schon beschriebene hierarchisch-strukturelle Logik bezieht. Es kann sich drittens aber auch auf die Fähigkeit desjenigen beziehen, der es versucht zu schaffen. Demnach wäre nicht der limitierende Faktor der begrenzten Plätze (ob ursprünglich natürlich oder nicht) die Erklärung, sondern die »natürliche« Fähigkeit
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und damit Güte derer, die es probieren. Während die ersten beiden Deutungen auf die begrenzte Menge abzielen, hebt die dritte Deutung den Auswahlprozess anhand einer irgendwie »natürlichen« Qualität der Richter hervor. 0160/1: »Das ist ja schon aus den Beförderungsbaum ersichtlich.« Hier kommt nun eine Erläuterung der zuvor getroffenen Aussage. Dass es »natürlich nicht jeder schaffen kann«, so die nähere Erklärung, ist »ja schon aus den Beförderungsbaum ersichtlich«. Das »ja schon« verweist auf die Leichtigkeit des Nachprüfens seiner Behauptung hin, man braucht gar nicht weiter zu grübeln und zu forschen, denn man kann »ja schon« mit einem Blick auf den »Beförderungsbaum« erkennen, dass es nicht jeder schaffen kann. Vordergründig stützt dies als nachgelieferte Erläuterung die Deutung des »natürlich« (s. o.) im zweiten Sinne. Die hierarchisch-strukturelle Logik des Beförderungsbaums lässt fraglos keinen anderen Schluss zu, als dass nicht jeder an eine solche höhere Stelle kommen kann. Wenn man aber doch weitergrübelt und sich nicht mit der vordergründigen Erläuterung zufrieden gibt, bleibt etwas Verwirrendes ob der Notwendigkeit dieser Erläuterung. Als ob der Richter durch diesen Nachschub verhindern wollte, dass man die Aussagen in anderer Weise deuten könne. So ist aus dem Beförderungsbaum eben nicht ersichtlich, wer denn überhaupt an eine höhere Position kommen möchte. Wir wissen nichts über Mengenverteilungen was diese Beförderungswilligen angeht, klar ist aber, dass es nicht alle sind (s. o.). Er könnte mit diesem Nachschub auch verhindern wollen, dass man ihm die erste oder zweite Deutung des »natürlich« (s. o.) unterstellen könnte. Jene zwei Deutungen gepaart mit der Vereinnahmung aller Richter unter sein Karrieregebot hingegen zeichnen eher das Bild eines Richters, der bemüht ist zu zeigen, dass er etwas geleistet hat, etwas Besseres ist. An dieser Stelle soll noch an die Frage nach den möglichen Anschlüssen nach dem Abbruch der »wenn … dann«-Regel erinnert werden. Mit dem jetzigen noch vagen Wissen über den Richter könnte der Abbruch auch ein SichZurücknehmen sein, vielleicht hätte etwas sehr von sich Überzeugtes kommen sollen »wenn …, dann muss man schon sehr gut sein«, was dem Richter dann aber doch zu stark ichbezogen erschien – ähnlich wie die nachgeschobene Erläuterung mit dem Beförderungsbaum. 0161/2: »Ich habe ein recht anständiges Examen gemacht« Nun schwenkt der Richter in seiner Darstellung um. Er beginnt seine eigene Geschichte der absolvierten Examensstationen zu erzählen und nicht mehr in regelhaften Ableitungen aus seiner erreichten Position heraus zu argumentieren. Er fängt dabei mit dem abschließenden Staatsexamen (dem zweiten) an, das ihn zum Richteramt befähigt und mit dem man sich auf ein solches bewirbt. Ein »recht anständiges Examen« hat er gemacht. Er nennt keine Note, weder in Punkten noch in Worten, es wirkt nun fast untertreibend, »recht anständig« kann vieles sein, es kommt auf den Standpunkt an. Mit Hinsicht auf zwei Punkte engt er den Spielraum gehörig ein: Er ist Richter geworden, womit er in der Regel ein Minimum von neun Punkten aufwärts haben
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muss. Und er hat zwei R-Besoldungsaufstiege hinter sich, zu denen immer auch die Note des zweiten Staatsexamen gerechnet wird. Es ist demnach davon auszugehen, dass sich sein »recht anständig« nicht auf den Standard-RechtswissenschaftlerAbsolventen bezieht und nicht auf alle Richter, sondern auf die Richter, die grundsätzlich Karriere machen wollen. Das hebt ihn dann doch schon eher in den zweistelligen Bereich von Noten. Mit diesem Wissen im Hinterkopf wiederum untertreibt er mit der Aussage des »recht anständigen Examens« dermaßen, dass es für den Durchschnittsjuristen als Zumutung empfunden werden könnte. Doch es ist an dieser Stelle nicht herauszuarbeiten, ob es eine Form der Arroganz darstellt oder nur ein Sich-Zurücknehmen, um nicht als arrogant dazustehen. 0162/3: »und habe mich offensichtlich gut betragen, ne,« Das Examen ist zwar wichtiger Bestandteil auch späterer Beurteilungen, doch im Laufe der Richterjahre werden die regelmäßigen Beurteilungen und bei Bewerbungen die außerordentlichen Beurteilungen immer wichtiger. Da die inhaltliche Arbeit des Richters nicht bewertet werden darf, die richterliche Unabhängigkeit steht dem entgegen, werden in den Beurteilungen wie oben geschildert bestimmte Maßgaben, das Betragen bewertet. Er sagt nun von sich, dass er sich »offensichtlich gut betragen hat«. Das »gut« kann als Note verstanden werden und würde seiner momentanen Position entsprechen können (vgl. Riedel 2005: 97). Das »offensichtlich« bedarf nun wieder einer genaueren Klärung. Ähnlich dem »wenn … dann«-Schema vom Beginn wird nun gegenchronologisch argumentiert. Wenn jemand auf einer solchen Position ist, dann muss er sich gut betragen haben, sonst könnte er nicht dorthin gelangen. Damit nimmt das »offensichtlich« eine ähnliche Funktion wie der »Beförderungsbaum« (0161) ein. Selbst mit so vielen verschiedenen »juristischen Lebensverläufen« (0158) ist er in einer hochgradig standardisierten Karrierelaufbahn eingebunden, die sich eben nur an wenigen fixierten Punkten festmachen lässt: R-Besoldungsaufstiege aufgrund guter Examensnoten und guten Betragens. So zumindest die Form, die nach außen gezeigt wird und gezeigt werden kann. 0163/4: »während der Anfangsphase meiner Berufslaufbahn,« Das gute Betragen wird zeitlich auf die »Anfangsphase« der »Berufslaufbahn« spezifiziert. Das verwundert etwas, denn man würde erst einmal annehmen, dass sich ein Karriererichter durchgehend gut betragen müsste könnte ein weiteres Untertreiben sein. Dies soll nicht weiter vertieft werden. Bemerkenswert ist noch, dass er von der »Berufslaufbahn« spricht, nicht von der Richterlaufbahn, und damit ähnlich wie oben, als er von den »juristischen Lebensläufen« sprach, explizit eine mögliche terminologische »Einengung« auf den Richter vermeidet. Oder anders gewendet: Sein Selbstverständnis geht in dieser Hinsicht weiter, ist durch seine bisherigen Berufsstationen geprägt. 0164-6: »so dass dann das Auge des Präsidenten auf mich gefallen ist« Sein gutes Betragen in der Anfangsphase hat das Interesse oder die Aufmerksamkeit des Präsidenten auf ihn gezogen. Er formuliert dies aber sehr passiv: »das Auge« ist »auf
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mich gefallen«, was eher wie ein Unfall denn irgendwie intentional, weder von ihm noch vom Präsidenten aus betrachtet, wirkt. Diese »Verpassivierung« scheint nun die gleiche Untertreibungslinie der vorherigen Argumentation zu stützen. Es ist in der Tat so, dass es zwei Wege eines möglichen R-Besoldungsaufstieges gibt: der eine ist der, dass sich der Kandidat von sich aus selbständig bewirbt. Der andere besteht darin, dass man durch die entsprechenden Präsidenten oder deren Mittler, dazu aufgefordert wird, sich zu bewerben. Letzteres gilt für eine glatte und gute Karriere als mehr oder weniger notwendig: Man muss sich so gut betragen, dass es sich bis zum Präsidenten »rumspricht«. Dass dies in starkem Maße von dem jeweiligen Vorsitzenden des Spruchkörpers abhängt, auch wenn dies formal nie zugegeben werden würde, relativiert die vom Arbeitsmiteinander freie neutrale Objektivität des Karriereaufstiegs-Verfahrens (Kritiker müssen sich allerdings die Frage stellen lassen, wie ein praktikables System ohne eine solche Relativierung aussehen sollte). Dieser Punkt im System ist ein gewichtiger Grund für die Aufspaltung in ›Karrieristen‹ und Nicht-›Karrieristen‹. Das »Auge des Präsidenten« auf sich zu ziehen, gelingt gemäß unserem Richter durch gutes Betragen, wozu nicht nur die Maßgaben, sondern auch ein »guter Draht nach oben« zählt. 0166/7: »und dann musste ich relativ wenig, außer mich weiter gut betragen, selbst dazu zu tun, ne.« Der zuvor gewonnene Eindruck, dass sich das gut Betragen nur auf die Anfangsphase bezieht, kann nun, der dort gewonnenen Unstimmigkeit entsprechend, korrigiert werden: Er musste sich auch danach »weiter gut betragen«, und zwar nicht passiv, sondern er musste dies »selbst dazu tun«. Er formuliert dies aber in einer Art und Weise, die suggeriert, er hätte kaum noch etwas tun müssen nach dem guten Betragen in der Anfangszeit. Wenn man sich den Maßgabenkatalog noch einmal anschaut (s. o.), so sieht man, dass »sich weiter gut betragen« sicherlich kein Selbstgänger ist. Viele der Maßgaben sind im Laufe der Jahre zwar verinnerlicht und habitualisiert, so dass sie nicht mehr in voller Breite Aufmerksamkeit verlangen. Dennoch ist gerade die Routine eine Gefahr für viele dieser Anforderungen. Dass dafür aber ein Bewusstsein existiert, könnte durch das »außer« deutlich gemacht sein. Nichtsdestotrotz ist die Formulierung – wieder einmal – in einer Weise getroffen, die untertrieben wirkt: Er musste »relativ wenig« »selbst dazu« tun, »außer« der besagten Einschränkung, die dadurch in ihrer Bedeutung nebensächlich gemacht, fast herabgesetzt wird. Irgendetwas nicht weiter Expliziertes musste er schon noch »selbst dazu« tun, wir erfahren nicht was, es war ja auch »relativ wenig«. Wir wissen aber aus der Struktur des Beförderungssystems, dass es mindestens eine Bewerbung auf andere, höhere Posten gewesen sein muss. Insgesamt wird hier die Stufe nach den ersten Einarbeitungsjahren und nachdem »das Auge des Präsidenten« auf ihn »gefallen« war, als ein einfaches Vorankommen, als eine Art »Selbstgänger« charakterisiert. Wichtig für die Karriere war demnach neben den guten Noten aus den Examen diese erste Phase des Betragens mit der Gewinnung der Aufmerksamkeit des Präsidenten.
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0167/8: »Denn das hat bei mir alles ganz gut geklappt.« Nun fasst der Richter in einer Art Resümee das gerade Gesprochene zusammen. Er beginnt dies mit einem »denn«, welches man auch als Anschluss an das »wenn … dann«-Schema von oben, allerdings mit einem »denn« anstelle eines »dann« betrachten kann. Dies würde wieder diese Art der gegenchronologischen Erklärung seiner Karriere bedeuten: Weil er einen solchen Lebenslauf geschafft hat, ist es gut gelaufen. In der Deutung des Abbruches wurde oben die Möglichkeit genannt, dass er möglicherweise etwas »zu« Gutes über sich sagen wollte, was er dann abbrach und nur indirekt formulierte (siehe 0160/1). Einen solchen abgemilderten Anschluss kann man nun hier entdecken, indem er über sich sagt, dass es »alles ganz gut geklappt hat«. Während er auf der einen Seite indirekt damit sagt, dass er gut ist, kommt andererseits wieder das Element mit der Untertreibung hinein: »ganz gut« ist eine Sache, mit der man zufrieden ist, es »klappt etwas«, wozu man ein bisschen dazutut, das aber auch viel von anderen Faktoren abhängig ist. Eine lange Bahnreise mit viel Umsteigen kann ganz gut klappen. Wendet man eine solche Beschreibung auf die Karriere, so nimmt man sich selbst dabei etwas zurück und nimmt es alles auch nicht ganz so wichtig oder möchte genau diesen Eindruck vermitteln. 0168/9: »Mit der Karriere in Anführungsstrichen, ne.« Nun kulminiert das bis dahin Erläuterte in der konkreten Benennung: »Mit der Karriere« macht nun unmissverständlich klar, dass »solche juristischen Lebensläufe«, die »nicht jeder schaffen« kann, was aus dem »Beförderungsbaum« ersichtlich ist und wofür man sich »gut betragen« muss, die »Karriere«, den beruflichen Aufstieg bedeutet. Sofort nach der Benennung wird das Ausgesprochene relativiert, in seiner Präzision und Schärfe, aber auch in seiner normalen Bedeutung. Die Karriere wird »in Anführungsstriche« gesetzt. Als wenn er sich dafür schämen müsse, als wenn er dem Interviewer gegenüber deutlich machen will, dass dies nicht dem normalen Verständnis einer Karriere entspricht, als ob irgendetwas anders ist mit der oder seiner Karriere als Richter. Ein offensiver und selbstbewusster Beginn der Beschreibung, wie eine solche Karriere vonstatten gehen kann, wird von dem Richter gestoppt. Auch der darauffolgende Ansatz wird relativiert, er nimmt sich mehr und mehr zurück. Von da an entäußert er sich nur noch in einer untertreibenden Art zu seinen Leistungen, deren Gehalt er dadurch aber in subtiler Weise, nicht nur trotzdem, transportiert, sondern auch auf eigentümliche Weise zur Schau stellt. Nach den Möglichkeiten, die Richter für eine Karriere haben, hat dieser Richter eine Karriere gemacht (oder ist noch dabei), das steht zweifelsfrei fest: Mit Ende 40 Vorsitzender eines Oberlandesgerichtsenates und damit auf R 3 zu sein, ist eine Leistung. Dies zu relativieren und kontinuierlich zu untertreiben, muss einen oder mehrere Gründe haben, muss spezifische Funktionen erfüllen. Es gibt deutliche Unterschiede zur klassischen Karriere. Richter sind in den Möglichkeiten des Aufstiegs und der Gehaltssteigerungen begrenzt. Die eigentliche inhaltliche (die juristisch-richterliche oder rechtliche) Leistung wird nicht
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bewertet, sondern »nur« das Drumherum, das Betragen; so, als würde ein Manager nach seinen Softskills und nicht nach seinen Zahlen (Gewinnmaximierung) beurteilt werden. Das kann wiederum den Eindruck verstärken, dass es mehr darum geht, das »Auge des Präsidenten« zu gewinnen, als juristisch-richterliche Leistung zu vollbringen. Neben dem guten Betragen wird für die richterliche Karriere die Examensnote genannt. In einer normalen Karriere ist zwar die Note beim Einstieg wichtig, für das Richteramt danach spielt sie in der Regel aber keine Rolle mehr. In der Praxis der Wirtschaft etwa geht es um völlig andere Dinge, zumeist um Gewinne. Des Weiteren wird eine Leistung vorausgesetzt, die standardisiert und nivelliert ist: das Abarbeiten der Eingänge und angemessene Niedrighalten des Bestandes wird einfach erwartet. Vielarbeiter bekommen das nächste Mal eher mehr zu tun, Sanktionen gibt es erst bei starken Problemen (siehe bei Abschnitt ›Anforderungen‹ 3.2.3). Sich hier zu profilieren, gelingt nur, indem man ein »abgesoffenes Dezernat« aufräumt oder ständig zeigt, dass man mehr abarbeitet (Bestandsreduktion) als die anderen – was irgendwann nicht mehr geht, da es eine Art systeminhärente Geschwindigkeitsbegrenzung gibt: Man kann nicht mehr oder schneller arbeiten, als Fälle hereinkommen. Wir sehen an diesen Unterschieden zur klassischen Karriere, dass ein Richter ein etwas eigentümliches Verhältnis zu seiner Karriere entwickeln kann, weil die Kriterien seines Aufstieges anderer Natur sind, als sie für eine normale Karriere in der Wirtschaft angenommen werden. Dies kann ein Grund für die Anführungsstriche und die Untertreibungen sein. Es gibt zudem ein habituelles Hindernis für Richter, über sich und ihre hervorragende Karriere in einer Art und Weise zu sprechen, wie man sie bei anderen Berufen gewohnt ist: Zurückhaltung, Neutralität und Angemessenheit in Interaktionen sind grundlegende Charaktereigenschaften, die nicht nur bei der Auswahl der Richter eine Rolle spielen, sondern auch im Umgang mit den Verfahrensbeteiligten eingefordert werden. Aus diesem Habitus heraus betrachtet, stellt sich für unseren Karriererichter die schwierige Situation dar, einerseits sein professionelles Gesicht zu wahren, andererseits seine persönliche Leistung und Karriereabsichten zu präsentieren. »Erfolg« hinsichtlich der Karriere eines Richters heißt demnach »gutes Betragen« als Erfüllen weicher oder bewusst weit gehaltener »Kriterien« wie Leistungsvermögen oder Eignungsvermögen.90 Der ›Karrierist‹ darf »nur nichts falsch ma90 In anderen Berufen gibt es die typischen Zusatzqualifikationen wie Fremdsprachen oder PCKenntnisse, die in der Justiz grundsätzlich kein Einstellungs- oder Beförderungskriterium sind. Wer als Richter weiterkommen will, hat aber neben dem guten Betragen weitere Möglichkeiten, sich zu profilieren, und manche gewinnen an einem solchen Nebenschauplatz auch so viel Gefallen, dass sie
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chen« bzw. »negativ auffallen« und bringt am besten gute Noten mit. Die Karriere im Richteramt, so könnte man pointiert formulieren, scheint folglich viel mit der Absicht, Karriere machen zu wollen, zu tun zu haben und (erst) in zweiter Linie mit besonderen Fähigkeiten. »Karrieremachen« ist grundsätzlich eher ein Begriff, der Schmunzeln erzeugt, konfrontiert man einen Richter damit. Das kann auf ein eher distanziertes Verhältnis zu diesem Begriff hinweisen, auf einen von dem Allgemeinverständnis etwas abweichenden Gebrauch. Richter verstehen unter »Karriere« (bezüglich des Richterberufes) eher eine abgemilderte Form des Aufwärtsstrebens mit weniger und sehr viel langsameren Chancen, die sich zumal wenig finanziell auswirken und ihrem professionellen Verhaltensgebot der Zurückhaltung nicht widersprechen darf. Für eine Karriere gibt es nicht allzu viele Variationen: Sie muss mehr oder weniger von vorneherein geplant werden, weil die Gesuche nach Versetzungen, zumal in »höhere« Ebenen in der Justizbehörde, ihre Zeit brauchen. Eine ganz große Ausnahme, mit entsprechenden Konsequenzen für Karrierewege, die hier nicht weiter berücksichtigt ist, wurde durch die Wiedervereinigung Deutschlands geschaffen: eine enorme Expansion der zur Verfügung stehenden Posten, die durchweg mit Westjuristen besetzt wurden [siehe 18:41, 21:130]. Der normale »echte« Aufstieg verläuft, wie oben beschrieben, bis auf R 2 (maximal R 3); weitergehende Sprünge sind wenig berechen- und planbar. Die Möglichkeiten sind begrenzt, der Prestigeanreiz ist zudem für viele höher als der finanzielle – vielleicht erntet man deshalb im Allgemeinen ein Schmunzeln auf die Frage nach der »Karriere« als Richter. Der ›Karrierist‹ zeichnet sich demnach als jemand aus, der in einem nicht zentral auf diese Entwicklung angelegten Berufsumfeld eine Karriere plant und durchläuft. Er hat einen richterlich eigentümlichen Stolz auf diesen Erfolg, der in einer Mischung aus sachlicher Neutralität sowie dem dezent vermittelten Wissen um das eigene Können und die eigene Leistungsfähigkeit seinen Ausdruck findet. Doch der entscheidende Unterschied zu einer klassischen Karriere, etwa in der Wirtschaft, ist, dass der zentrale Inhalt seiner Arbeit, die quantitative und qualitative Erledigung von Rechtsfällen, innerhalb des Leistungssystems, zu einem großen Teil ausgegrenzt ist bzw. konstant gehalten wird (siehe Abschnitt 3.2.3). Das führt zu folgenden Spezifika: Zum einen entwickelt sich eine Schattenbeurteilung des Inhaltlichen, die indirekt, informell und oft unbewusst abläuft in der direkten Interaktion mit dem beurteilenden Vorsitzenden. Zum anderen existiert ein typologischer Gegenpol91
die Befriedigung in diesem Bereich einer weiteren Karriere im glatten Sinne voranstellen. Gemeint sind zum Beispiel Verwaltungsengagements, die Referendarsausbildung als AG-Leiter sowie wissenschaftliche Betätigungen durch Veröffentlichungen und Lehraufträgen an Universitäten. 91 Der Gegenpol ist auf dieser Ebene (des Kampfes um die Bedeutung des Inhaltlichen) zu sehen. Später wird gezeigt, dass es sich nicht um einen »richtigen« Antagonismus zwischen Richtertypen
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zum ›Karrieristen‹, der sich auf genau diese formal inhaltliche Ausgrenzung bezieht: der ›Unabhängige‹ (siehe hierzu Abschnitt 3.5), der in gewissem Sinne den zentralen Inhalt der richterlichen Arbeit derart in den Vordergrund stellt (aus welchen Motiven auch immer), dass er die eigentümliche Kopplung der Beurteilung durch den Vorsitzenden ablehnt.
3.4.2
›Alternativ-Wettbewerber‹
Wenn nur bedingt an Karriere, an was orientieren sich die Richter in der gegenseitigen Bewertung ihres beruflichen Handelns? Was sind die Dimensionen, in denen eine Art Wettbewerb stattfindet? Kann ein Jurist nach jahrelanger Konkurrenzsituation in der universitären Ausbildung plötzlich die dort habitualisierten, handlungsleitenden Kategorien (Mayntz 1970: 36 ff.) aufgeben oder verändern? Anders als viele der Anwälte hat der Richter keine Sorgen über sein Auskommen, und er kann in keine Konkurrenzsituation »auf dem Markt« eintreten. Wie sehen sich die Richter selbst im spezifischen Zusammenhang von Leistung und Anerkennung außerhalb dessen, was wir mit der Karriere (siehe Abschnitt 3.4.1) im engeren Sinne meinten? Wie und wonach bewerten sie sich und ihre Kollegen? Relevante Kategorien für einen Typus, der sich als ›Alternativ-Wettbewerber‹ bezeichnen lässt, sind in dieser Hinsicht: ›Erledigungen‹, ›Abänderungsquote‹ und insbesondere für die Zivilgerichtsbarkeit die ›Vergleichsquote‹. 3.4.2.1
Erledigungen
Wie jeder in welcher Form auch immer arbeitende Mensch hat auch der Richter das, was er den ganzen Arbeitstag tut, zumal, wenn er dafür vom Staat – respektive Steuerzahler – Geld bekommt, in einen Rechtfertigungszusammenhang zu stellen. Um diese, zwar zuweilen unangenehme, aber gleichzeitig höchst akzeptierte Form der Nachfrage »Was machen Sie eigentlich für Ihr Geld?« geht es im Folgenden. Es wird dabei nicht auf den gesetzgeberischen, staatsverfassten und zuweilen philosophischen Aspekt des »Wofür Ihr gedacht seid« eingegangen (siehe hierzu Abschnitt 1.2.1), obwohl diese Motive in der Selbstbeschreibung der Richter auf jene Frage vorkommen. Stattdessen wird auf einer sehr basalen Ebene geschaut, die beim Richter mehr gefürchtet zu sein scheint. In diesen Zusammenhang können die durch die Gerichtsverwaltung angestrengten rechtspflegerischen Untersuchungen handelt, sondern dass ein nicht richterlicher Typus hier Einzug hält und für den antagonistischen Charakter mitverantwortlich ist (vgl. Abschnitt 3.5.2).
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und Statistiken berücksichtigt werden, die versuchen, ein Bild von der geleisteten Arbeit des Richters zu zeichnen. Die aus dieser Richtung gestellte Nachfrage »Was machen Sie eigentlich für Ihr Geld?« bekommt so einen sehr handwerklichen Charakter. Richter haben Schwierigkeiten, die Arbeit in der klassischen Kombination von Zeit, Ort und Stückzahl, wie sie etwa in der Industrieproduktion anzutreffen ist, abzubilden, ein Schicksal, das sie prinzipiell mit vielen akademischen Berufen teilen. Wenn Richter über ihre Belastung, die ›Anforderung‹ (siehe Abschnitt 3.2.3) an sich reden, ist in der verwendeten Semantik oft ein reiner Vergleich der statistisch festgehaltenen Fallzahlen mit den Kollegen herauszuhören, der dann nachgeschoben argumentativ relativiert wird, um die bloßen Zahlenunterschiede zu erklären. Richter höherer Instanzen sehen sich dabei öfters als Opfer der bloßen Zahlenstatistik. So weist ein Amtsrichter einfach darauf hin, dass man am Oberlandesgericht erheblich weniger Fälle pro Richter zu erledigen hat als am Amtsgericht: »Wie gesagt, ähm als Amtsrichter fünfhundertsiebzig Zivilfälle oder dreihundertvierzig Familiensachen im Jahr. Ähm beim Oberlandesgericht ist das ganz, ganz erheblich weniger, was die zu erledigen haben.« [D2:24] Deswegen haben die höheren Instanzen mehr Zeit für die intensive Bearbeitung der Fälle, wie oben bei den ›Anforderungen‹ (siehe Abschnitt 3.2.3) beschrieben wurde. Meistens wird dabei davon ausgegangen, dass die Fälle an sich schwerer oder komplizierter sein müssen. Nur bei jenen Fällen, die erstinstanzlich aufgrund von höheren Streitwerten an verschiedene Gerichtsebenen kommen, obwohl sie sehr ähnliche Fallstrukturen aufweisen, ist trotz geringerer Fallanzahl annähernd Gleiches zu tun. Wir werden das unübersichtliche Wirrwarr der Zahlen auf der einen und der Bedeutungszumessung auf der anderen Seite an dieser Stelle nicht ausgiebig erörtern, geschweige denn lösen können; ein jüngerer Versuch in diese Richtung stellt die durch das Baden-Württembergische Justizministerium eingeleitete Studie PEBB§Y (Baden-Württemberg 2002) dar. Wir wollen lediglich festhalten, dass für die Richter diese Zahlen eine wichtige Rolle spielen, zumal sie die einzige Handhabe sind, die gegen sie gerichtet werden kann und auf deren Erstellung und Interpretation sie nur geringen Einfluss haben, da sie diese nicht in den Bereich der unantastbaren richterlichen ›Unabhängigkeit‹ ziehen können. Der Macht und dem Einfluss des Richters sind hier starke Grenzen gesetzt, die er oft zu spüren bekommt. Dennoch benötigt auch jeder einzelne Richter die Statistiken, um sich innerhalb des Gerichts, des Senates oder der Kammer mit seinen direkten Kollegen vergleichen zu können. Die Beziehung zu diesen Statistiken ist somit sehr ambivalent: Ohne sie steht der Richter da und kann auf die eingangs aufgeworfene Nachfrage »Was
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machen Sie eigentlich für Ihr Geld?« nicht konkret antworten und muss auf die abstrakten Aspekte des »Wofür Ihr gedacht seid« verweisen. Mit den Zahlen kann er sich von den Richterkollegen abgrenzen und in (sportliche) Konkurrenz treten, aber auch kontrolliert und bewertet werden, sei es durch die eigenen Kollegen oder durch die Verwaltung. Während bei den ›Anforderungen‹ (siehe Abschnitt 3.2.3) die organisationellen Umstände des »Erledigens« von Fällen beschrieben wurden, steht hier im Vordergrund, wie sich Richter auf diese Erledigungen beziehen, wenn sie sie als Leistung, die auch vergleichbar ist, auffassen. Die originäre Aufgabe des Richters ist es Fälle abzuarbeiten. Er versucht »alles was auf’n Tisch kommt wegzuhauen« [D4:22]. Sogar die Qualität der Urteile kann dem Diktat des »Weghauens« untergeordnet werden. Damit gibt es einen Vergleichsmaßstab zwischen den einzelnen Richtern, insbesondere jenen, die derselben Geschäftsverteilung unterliegen. Und auf diese Weise werden Richter in ihrem engen Arbeitsumfeld beurteilt. Ihre Effizienz wird auf das Verhältnis Erledigungen zu Eingängen anhand der monatlichen (oder auch jährlichen) Übersicht bezogen: »Und ich kann also, ob ich, ähm ähm, Anführungsstriche, gut und effektiv gearbeitet habe, feststellen anhand der Über- äh Monatsübersicht, die erstellt wird für meine Arbeit. Es kann festgestellt werden, wieviel Eingänge waren und wieviel ich erledigt habe. Und wenn sich das immer die Waage hält, bin ich gut dran.« [D2:25] Dieser Amtsrichter zum Beispiel ist mit einer ausgeglichenen Statistik zufrieden: er sei dann »gut dran«, wenn »sich das immer die Waage hält«. Das bedeutet zum einen, dass er ein aufgeräumtes Dezernat hat, welches ihn nicht durch zu viele tägliche Wiedervorlagen behindert. Zum anderen heißt es in diesem Fall aber auch, dass es für ihn keine Möglichkeit oder Anreize gibt, mehr Fälle abzubauen, als an Eingängen kommen. Wo im Einzelfall eine solche Grenze liegt, ist objektiv nicht zu klären. Ein Idealfall, der bei übernommenen »vollen« Dezernaten angestrebt wird, ist, dass man auf einen Bestand kommt, mit dem man in jedem Fall jedem Beteiligten die größtmöglichen Fristen einräumen kann und danach ohne große Verzögerung terminieren kann, sofern notwendig. Eine soziale Anerkennung der geleisteten effektiven Arbeit durch Kollegen und Verwaltung bedeutet aber nicht, dass dies darüber hinaus belohnt werden müsse. Richter, die ihre Bestände durch deutlichen Überhang der Erledigungen vor den Neuzugängen abbauen, bekommen beim nächsten Geschäftsverteilungsplan unter Umständen mehr Arbeit zugedacht, um das Gericht insgesamt als stabil und einheitlich darstellen zu können. »Also ich im letzten Jahr, ich glaub 30 abgebaut. […] ja, dann ham wir jetzt beispielsweise von einer anderen Kammer alte [ausländische] Fälle bekommen, weil diese Kammer nich-,
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etwas langsamer gearbeitet hat […] und dann haben wir 30 gekriegt und ich hab davon 22 geerntet. ((Lachen)) Da war also mein Abfordern fast wieder kaputt. Damit muss man dann leben.« [D6:21] Während die junge Verwaltungsrichterin voller Elan 30 Fälle des Kammerbestandes in einem Jahr abgebaut hat, stieg auf diese Weise die Differenz der Bestände zwischen den Kammern. In der Folge wurden nun ihrer Kammer mehr Fälle zugeordnet, so dass ihre Mühen sich zwar für das Gesamtwohl des Gerichtes, aber weniger für sie individuell ausgewirkt haben. Ihr eigenes »Abfordern« war dann »fast wieder kaputt«, was zu der tapferen Dienstauffassung führt, dass sie damit leben muss. Interessant ist, dass diese »Damit-leben-Müssen«-Haltung auch schon im Rahmen der Analyse zum ›Radbruchianer‹ bei derselben Richterin auftauchte (siehe Abschnitt 3.3.2). Diese Dienstauffassung erstreckt sich demnach nicht nur auf die Fälle inhaltlicher Art, sondern auch auf die eigene Arbeitsleistungsfähigkeit im Verhältnis zu derer der Kollegen. Ähnlich demotivierende Erlebnisse wie jene Verwaltungsrichterin hatte folgender Amtsrichter: »Da muss man aufpassen, dass- also wenn man sieht, dass da jemand wenig im Bestand hat, dann weckt das ganz schnell Begehrlichkeit bei den Kollegen. Also das ist eine ganz gefährliche Sache und habe ich auch schon zu spüren gekriegt, eh man wird nicht unbedingt in der Justiz belohnt dafür, dass man flott ist« [D12:15] Der Richter bringt den Umstand der »Flotten« in der Justiz auf den Punkt: Einerseits werden sie in gewissem Sinne anerkannt, wird es insbesondere von den jungen und karrierebewussten Richtern auch erwartet. Andererseits wird ihre Mehrarbeit »abgeschöpft« und sie haben durchaus das Gefühl, sie werden ausgenutzt, akzeptieren das aber als Teil eines »Generationenvertrages« innerhalb der Profession (siehe bei Abschnitt 3.2.3.1 ›Frontkamerad‹ D5:44). Insbesondere in der Außenwahrnehmung sind die Erledigungen ein wichtiger Messfaktor für den Richter, das heißt eben auch in der Außendarstellung. Für den internen Vergleich sind die Erledigungszahlen nur relevant, wenn sie einerseits bezüglich der Arbeitsverteilung für Missstimmung sorgen (s. o.), andererseits einen auf das Pensum bezogenen niedrigen Bestand erschaffen haben, welcher dem Richter »Luft« in seinem Dezernatsalltag verschafft. Immer wieder ist zu hören, dass besonders junge Richter, die ihr neues Dezernat übernehmen, mit einem sehr hohen Bestand beginnen müssen und sich durch viele Erledigungen in arbeitsintensiven Monaten erst Luft schaffen müssen (siehe Abschnitt ›Anforderung‹ 3.2.3). Sind die Bestände erst einmal dem Erträglichen und dem Gerichtsdurchschnitt angepasst, bleiben auch die Erledigungen auf einem Niveau stehen und sind von da an weniger bedeutsam für die Richter untereinander.
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Der gute Ruf eines Gerichtes (und natürlich Richters) kann sich stark auf die rasche Bearbeitung eines Prozesses beziehen, wie ein Amtsrichter betont: »Also das Familiengericht (Ort15) hat glaub ich einen ganz guten Ruf. In, welchen Anteil ich daran hab, weiß ich nicht, ähm aber wir sind zumindestens äh, deshalb in einem guten Ruf, weil wir unsere Fälle relativ schnell äh entscheiden und ähm die Leute sich auf uns verlassen können, insofern ja.« [D2:23] Verlässlichkeit von relativ kurzen Prozesslaufzeiten zeichnet die Güte eines Gerichts aus. Sie sind bei geringen Beständen und einer mindestens ausgeglichenen Erledigungsquote möglich. Manche Richter sehen gar die rituell auftretende öffentliche Kritik als ungerechtfertigt an: »Wenn man ins Ausland schaut um uns herum, beneiden alle eigentlich die deutsche Justiz um ihre flotten Amtsgerichte. Also das- Ich mein, es gibt natürlich auch Ausnahmen, dass es mal länger dauert, aber hier haben sie innerhalb einer- in einer normalen Unfallsache mit Zeugeneinvernahme, innerhalb von vier Monaten kann das abgeschlossen sein.« [D12:32] Ausdrücklich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um eine »Bewertung« des Gerichtes und der Richter handelt, die sich auf »Erledigung pro Zeit« bezieht und nicht auf die Güte in rechtlicher, rechtsfriedlicher oder anderer Hinsicht. In rechtlicher Hinsicht ist in gewissem Sinne die Abänderungsquote (3.4.2.2) relevant, in rechtsfriedlicher Hinsicht zählt die Vergleichsquote (3.4.2.3) als Maßstab. 3.4.2.2
Abänderungsquote
Die zu bewältigende Arbeit wird durch den Geschäftsverteilungsplan in Übereinstimmung annähernd gleich verteilt, in Abhängigkeit vom jeweiligen Pensum. Inhaltliche Vergleiche (auf rechtlicher Ebene) der abgeschlossenen Fälle verbieten sich von selbst durch die fast heilig repetierte ›Unabhängigkeit‹ des Richters. Selbst die in Berufung/Revision gehenden Fälle werden weder in ihrer Gesamtheit noch in ihrer Bestätigung/Aufhebung gezählt oder systematisch verglichen. Gelegentlich wird in der Kaffeerunde oder im Interview die eine oder andere Berufung/Revision erwähnt. Hier gilt als Maßstab, dass ein bestätigtes Urteil bzw. eine niedrige Änderungsquote prinzipiell als Lob aufgefasst wird. Der Direktor eines mittelgroßen Amtsgerichts schildert seinen Umgang mit den Abänderungen seines Gerichts für den Interviewer wie folgt:
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
»Was mich nicht interessiert, auch nicht zu interessieren hat, was ich aber auch gar nicht erfahre, sind Berufungen. Wie, welche Akzeptanz die Urteile haben. Ob sie- [I: Das läuft nicht über Ihren Tisch? ( )] Das läuft nicht über meinen Tisch. Das geht direkt vom Richter zum Landgericht und vom Landgericht zum Richter. Und eh mich interessiert auch nicht, ob die Urteile dann bestätigt werden oder abgeändert werden.« [D19:29a] Der Direktor erläutert hier, dass er keine Einsicht in die Berufungen hat, da sie direkt von und zu den einzelnen Richtern kommen. Neben dieser organisatorischen Aussage, die sich auf den Postweg der Akten bezieht, nennt er indirekt den Grund dazu: Es habe ihn nicht zu interessieren. Hier steht die verfasste richterliche Unabhängigkeit im Hintergrund, die dem Direktor sogar explizit im Wege stünde, den Verwaltungsablauf so zu steuern, dass die Akten erst einmal über seinen Tisch laufen. Diese normative und verwaltungstechnische Anforderung findet sich sogar in der verinnerlichten Formulierung seines eigenen Interesses: Es interessiere ihn auch nicht, weder die Berufungen an sich noch die Reaktion des Landgerichts darauf. Man könnte nun annehmen, dass die Berufungen und die damit zusammenhängende Abänderungsquote gänzlich der Sphäre des einzelnen Richters überlassen bliebe. Dass dies aber nur die (politisch korrekte) Antwort des Behördenleiters ist und nicht die Meinung des Richters, erfahren wir in der Fortsetzung des Interviewausschnittes: R: Es gibt schon Kollegen, die sagen: ›Man, ich hab ne Abänderungsquote von einem Prozent!‹ oder so, nich. I: Ham die sich dann selbst ausgerechnet?! R: Ham die sich dann selbst ausgerechnet und dann sind- freun die sich auch. Is ja auch schön, ne. UndI: Das is'n guter- Was wär dann eine schlechte Prozentzahl? R: Weiß ich nicht. Weiß ich nicht. Kann ich nicht sagen. I: 10 %? Sagt man ( ) oder? R: Ich hab das nie gemessen, nie gezählt. Man guckt nur so im Großen. Eh ich weiß das nicht. [D19:29b] Das Wichtige wird gleich genannt: Obwohl die richterliche Unabhängigkeit sie schützt und es keine Kommunikation über die Berufungen geben könnte, behalten die Richter ihr Wissen darüber nicht für sich. Es wird über Abänderungsquoten gesprochen und die Richter vergleichen ihre Quoten untereinander. Man weiß in etwa was gut ist, worüber man sich freuen kann. Wenn ein Kollege sich über seine Abänderungsquote äußert, indem er stolz oder zufrieden von nur einem Prozent berichtet, dann verdient das offensichtlich Anerkennung, ist kommunikationswürdig und er kann ein bisschen damit prahlen, sich freuen. Auf die Nachfrage des
›Antriebs‹-Dimensionen
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Interviewers, welche Prozentzahl denn nicht mehr gut wäre, reagiert der Direktor ausweichend. Wieder politisch korrekt möchte er durch eine Festlegung negativer Kennzahlen keine Angriffsfläche für Richter bieten. Das Ausweichen wird damit begründet, dass er es nie gemessen, nie gezählt hätte. Die Unstimmigkeit, dass es sehr wohl ein Wissen über lobenswerte Zahlen gibt, nämlich 1 %, aber kein Wissen über die Größe, die damit im Vergleich steht, ohne die man ja nicht von der ersten wüsste, dass sie gut sei, bleibt so stehen. Obwohl die lobenswerte Zahl von einem Prozent genannt wurde, wird im Folgenden nun die Abänderungsquote an sich als Maßzahl irgendeiner Güte angezweifelt: R: Im Übrigen ist das auch keinI: Aber ( ) von den Anwälten abhängt, neR: Ja, man- einmal das. Und jetzt sag ich mal ganz arrogant wie ich bin, es ist ja auch keine Maßzahl. Da muss ja nich das, was das Landgericht sein, richtiger sein, als das, was das Amtsgericht sagt, ne. Weiß man ja nich. I: Zum Beispiel. R: Es gibt ja, das sind dann die ganz großen Highlights, dass eine amtsgerichtliche Entscheidung angefochten wird, die geht zum Landgericht, das Landgericht ändert das Amtsgericht ab. Dann geht's zum Oberlandesgericht und die stellen das amtsgerichtliche Urteil wieder her. In Strafsachen kam- Is die Ausnahme, nich. Normalerweise kommt das nich vor. Aber wenn's denn mal vorkommt, dann freut man sich, ne. [D19:29c] Sein Hauptargument speist sich wiederum aus der rechtlichen ›Unabhängigkeit‹ der Richter, ist aber seltsamerweise dennoch vom hierarchischen Instanzensystem eingenommen. Eine Abänderung durch die höhere Instanz sagt nur bedingt etwas zu der rechtlichen Richtigkeit einer Entscheidung aus. Der selbstbewusste Amtsrichter akzeptiert demnach nicht automatisch den Berufungsspruch seiner höheren Instanz als rechtlich richtiger, sofern abgeändert. Wenn er dies so selbstbewusst sehen würde, bräuchte die Argumentation nicht weitergeführt werden. Doch die anschließende Erläuterung bringt gerade die Instanzenhierarchie als Argument für eine rechtlich richtigere Lösung: Wenn das Oberlandesgericht das amtsgerichtliche Urteil gegen das Landgericht wiederherstellt, ist das ein seltenes, ganz großes Highlight. Wir erfahren von diesem Direktor eines Amtsgerichtes, dass man Abänderungsquoten aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit nicht offiziell vergleichen darf und sie kein absoluter Maßstab rechtlicher Richtigkeit darstellen. Gleichsam stellen sie aber dennoch ein Instrument richterlichen Vergleichs, richterlichen Wettbewerbs untereinander dar, als nämlich geringe Quoten positive Anerkennung erhalten.
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Wenn wir nun weiter auf das schauen, was Richter über sich selbst berichten, so kommt es durchaus vor, dass eine »eigene« gute Quote gerne kommuniziert wird: »Und wenn sie das noch interessiert, (-) die Abänderungsquote, die wir erzielen beim BGH, dass der BGH also (-) was aufhebt, dass is eh (-) ähnlich beim, ich hab den Senat jetzt glaub ich vier Jahre hier, und da (-) ham wir eine Sache is aufgehoben worden von (-) über 60 Sachen. (-) Das- da kann man also mit leben, nich.« [D4:12] An anderer Stelle erfahren wir von diesem Vorsitzenden, dass der Senat 300 Sachen im Jahr zu bearbeiten hat. In vier Jahren 60 Berufungen sind somit 5 % und davon eine Abänderung, was einer Quote von unter zwei Prozent entspricht. Weniger als 2 % Abänderung ist wohl ebenfalls positiv mitteilungswürdig, sogar ohne dass danach gefragt wurde. Der Verweis, dass ja sogar das Oberlandesgericht vom Bundesgerichthof aufgehoben wird, dient z. B. Amtsrichtern auch als Entlastung für die eigene Persönlichkeit. Insbesondere wenn die Änderungen nur dem Ermessen obliegen, stellt das eine Entlastung dar, und zwar weil das Ermessen persönlich ist92. Das kommt aber eher selten vor, weil solche Fälle, nicht zuletzt aus Arbeitsersparnisgründen, ungern »nur« wegen einer anderen Ermessensgewichtung aufgerollt werden: »man kann sich damit eh die Rechtsmittel selber in Hals schaffen« [D4:16]. Fragt man nun nach, wo die Abänderungen gemacht werden, bekommt man aus bekannten Gründen nur nicht richtergebundende geschätzte Durchschnittszahlen. Sie können aber zumindest ein Bild davon vermitteln, wie viele von allen eingegangenen Berufungen überhaupt abgeändert werden, womit man ein ganz allgemeines Kriterium erhält, welche Zahlen gut und welche weniger gut sind. So wurde an einem Zivilberufungssenat geschätzt, dass 30 % der Durchschnitt an Abänderungen landgerichtlicher Urteile sei [D4:18]. Vergleicht man dies mit Zahlen der Rechtstatsachenforschung (Rimmelspacher 2000: 37), ist von einer höheren Abänderungsquote auszugehen: Berufungsfälle kommen demnach an Oberlandesgerichten auf 57,7 % (31,5 % durch Urteil und 26,2 % durch Vergleich), an Landgerichten auf 45,9 % (27,2 % Urteil und 18,7 % Vergleich). Die Aussage des Zivilberufungssenats differenzierte allerdings nicht
92 Interessante Kombination: Das, was am richterlichen Handeln persönlich sein darf, ist wiederum nicht angreifbar bzw. obliegt einer stillschweigenden Unabhängigkeit von jeder Kritik. Erst das, was nicht persönlich sein darf, weil »juristisch richtig«, das heißt im Sinne einer wie auch immer im Konkreten verstandenen Methodenlehre, kann, wenn es durch Obergerichte abgeändert wird, zu einer persönlichen Belastung werden. Diese Unabhängigkeit ist nicht mit der richterlichen Unabhängigkeit zu verwechseln.
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nach Urteil und Vergleich; wenn Letzteres nicht als Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils gewertet wurde, sind die Zahlen ähnlich (ca. 30 %). Interessant ist, dass zwar oft von der Abänderungsquote gesprochen wird, aber weniger von absoluten Zahlen. Die Basis für Abänderungen sind für gewöhnlich Berufungen/Revisionen. Die absolute Höhe dieser Basis, und damit indirekt auch die der Quote, ist von den Richtern nicht wirklich zu steuern, da sie von den Anwälten/Parteien abhängt. Übereinstimmend gibt es bezüglich dieser Zahlen Abhängigkeiten vom Dienstalter des Richters insgesamt und in Verbindung mit dem aktuellen Amt. Die gängigste Annahme ist, dass besonders junge Richter zunächst mit vielen Berufungen/Revisionen konfrontiert sind und sich erst ein »standing« gegenüber der Anwaltschaft aufbauen müssen, daraufhin sinken die Zahlen mit der Zeit deutlich [vgl. D19:36]. Es scheint fast eine Art »Initiationsritual« zu sein, um Akzeptanz zu erlangen, was auch unmittelbar mit den Erfolgschancen für Vergleiche zusammenhängt [vgl. D19:36]. Insgesamt betrachtet ist die Abänderungsquote aber kein sehr großes Thema, liegt sie doch zu nahe an der kernjuristischen inhaltlichen Arbeit, die immer wieder mit dem Mantel des Schweigens umhüllt wird. Wenn dies aber nicht (offen) bewertet wird und damit nur selten in eine diskursfähige Wettbewerbssituation transportiert wird, was bleibt dann noch? 3.4.2.3
Vergleichsquote
In rechtsfriedlicher Hinsicht zählt bei einer Bewertung der Richter untereinander die Vergleichsquote. Es kommt teilweise zu einem richtigen Sportsgeist, der bis hin zum Konkurrenzkampf erwächst. Nicht ohne Stolz sagt ein Richter: »Wir ham ne relativ- wir haben eine der höchsten Vergleichsquoten hier von den Senaten« [D7:34]. Der zunächst etwas zurückhaltende Beginn des Satzes wird abgebrochen, um einer selbstbewussten Darlegung der Leistung in vergleichender Hinsicht zu weichen. Während der Satz hätte lauten können: »Wir ham ne relativ hohe Vergleichsquote hier von den Senaten«, die zum richtertypischen Understatement eigener Leistungen passen würde, spricht er von einer »der höchsten Vergleichsquoten«. Das ist in der Akzentuierung deutlich mehr als eine »relativ hohe« Vergleichsquote. Der Richter muss sich an dieser Stelle nicht zurücknehmen, der Ehrgeiz zu einer hohen und der eigene Stolz auf eine hohe Vergleichsquote sind mit allen sonstigen Rollensendern kompatibel. Wer mehr vergleicht, zieht sogar Neid auf sich: »Wir ham also einen Vorsitzenden im Bausenat, der ist gleichzeitig Honorarprofessor im Baurecht. Der hat natürlich eine Autorität, der der schließt Vergleiche ohne Ende. Ja, ich seh
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das immer an der Statistik, ich ärger mich über den. ((lachen)) Weil er immer Vergleichskönig ist, ne.« [D5:54] Dieser Vorsitzende Richter, selbst ein lang gedienter Richter wenige Jahre vor seiner Pensionierung, muss sich, was Berufserfahrung und Autorität angeht, hinter niemandem verstecken. Dennoch führt er hier einen akademischen Ehrentitel als Argument dafür an, dass ein Kollege »natürlich eine Autorität« hat und »Vergleiche ohne Ende« schließt. Als Vergleichsinstrument dient ihm dabei die regelmäßige Statistik, die er bezüglich der Vergleiche aufmerksam ansieht. Dass er das Lesen der Statistik hier anführt, könnte bedeuten, dass er nicht oder kaum mit den VorsitzendenKollegen über konkrete und bekannte Zahlen spricht. Möglicherweise ist das ein Wettbewerb, der eben über dieses dezente Vergleichen der Vergleichszahlen beim Lesen der Statistik geführt wird und weniger im offenen Gespräch mit den Konkurrenten. Vielleicht führt er es auch an, um nicht dem Verdacht ausgesetzt zu sein, er würde an Zahlenmaterial über andere Richter »herangehen« und damit ihre ›Unabhängigkeit‹ verletzen. Resultat des Lesens der Statistik ist für ihn aber das Auslösen einer Emotion: Er ärgert sich immer über den Konkurrenten, der besser ist, der »immer Vergleichskönig ist«. Auch wenn das Zugeben des Ärgerns mit einem Lachen versehen ist, kommt gerade in dieser Passage zum Vorschein, dass es sich um einen echten Wettbewerb handelt: Wie eine Art Rangliste im Sport wird die eigene Position gesucht und ins Verhältnis zu den anderen gesetzt. Man weiß, wo man steht, was man leistet, kann sich stolz schätzen, wenn man selbst gut ist, und ärgert sich über Bessere, wenngleich man sie auch dafür bewundert. Dass es sich aber nicht um eine Profi-Sport-Rangliste handelt, sondern um eine Rangliste von Ehren- oder Freizeitsportler, wird aus dem Lachen und auch aus dem Titel »Vergleichskönig« deutlich. Es ist eben nicht die Hauptleistung, die erbracht und nach welcher alles bewertet wird. »Ja, das ist so ne Art Selbstkontrolle auch im Vergleich mit anderen. Das ist in jedem Gericht so, auch am Amtsgericht so. Und am Amtsgericht hatten wir 'n unheimlich sportlichen Ehrgeiz, Vergleiche zu schließen.« [D5:83b] Der »sportliche Ehrgeiz«, Vergleiche zu schließen, begrenzt sich nicht auf die Obergerichte. Überall wo es möglich ist, werden Vergleichs-Vergleiche gemacht, auch wenn nicht alle Richter diesen »Sport« betreiben. Eine »Selbstkontrolle« für den Vergleich mit den anderen ist eben jener oben genannte Blick in die Statistik, man kann sehen, wo man selbst und wo die anderen stehen. Es ist eine Tatsache, die beim Kerngeschäft der rechtlichen Arbeit nur im Studium möglich war. Wenn der Vergleich nicht sorgfältig vorbereitet wird, wozu unter Umständen die Anwesenheit der Parteien gehört, kann das zu Misserfolgen führen, die
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durchaus beachtet und kommentiert werden. Trotz aller rechtlicher Brillanz kann das (häufigere) Misslingen von Vergleichen am richterlichen Selbstwert nagen: »Aber er [der Richterkollege] hat sich nämlich auch ab und zu mal über seine Vergleichquote geärgert. ((Lachen)) Ja, nichts ist schlimmer als wenn er- den Vergleich hat er ja hingekriegt. Er hat ja die Rechtsanwälte überzeugt. Die waren ja dann da. Aber die sind dann wieder widerrufen worden und dann ist Essig.« [D12:33] Der Richter kommentiert hier misslungene Versuche seines Kollegen, Rechtstreitigkeiten endgültig zu vergleichen. Über dieses Misslingen, welches in der Vergleichsquote deutlich wurde, ärgerte sich sein Kollege. Fast erheitert, kenntlich durch das Lachen, erläutert der Richter aus seiner Sicht, wie es dazu kam. Das Ärgerliche des Misslingens war, dass der Richterkollege sehr wohl rechtlich überzeugende Arbeit in den Fall steckte, die Rechtsanwälte nämlich dem Vergleich auf Widerruf zustimmten, dieser dann aber später von den abwesenden Naturparteien widerrufen wurde. Schlicht ausgedrückt liegt nach Meinung des Richters also der Fehler darin, dass bei der Vergleichsverhandlung die Naturparteien nicht anwesend waren (siehe zur Einbeziehung der Naturpartei Abschnitt 3.4.3). Das Schließen von Vergleichen ist, sicherlich nicht für jeden Richter, aber für eine nicht geringe Anzahl, ein Gütekriterium richterlicher Tätigkeit. Die Vergleichsthematik ist hochgradig diskursfähig und ist nicht nur in den Interviews, sondern auch während der Beobachtungen ständig präsent. So begab es sich an einem Gericht, dass eine jüngere Richterin einen Vergleich mit einem alteingesessenen und aus Sicht der Kollegenschaft »schwierigen« Anwalt schloss, bei dem es ihr normalerweise nicht gelang. Einen Tag später wurde sie, nachdem sie in der Kaffeerunde nicht ohne Stolz davon erzählte, von allen sechs anwesenden Richtern lauthals dafür gelobt. 3.4.2.4
Der ›Alternativ-Wettbewerber‹
Vergleiche zu schließen, ist mit der Abänderungsquote in etwa auf eine Ebene unterhalb der Erledigungszahl im Ranking der Bewertung der Richterleistung außerhalb rechtlichen Könnens (im engen Sinne) oder der Karriere zu setzen. Doch dem Vergleich kommen im Gegensatz zu den anderen Dimensionen strukturelle Gegebenheiten entgegen, die ihn als den alternativen Wettbewerb zur Karriere kennzeichnen. Von den aufgezählten Dimensionen ist der Vergleich von Vergleichen nicht von der richterlichen Unabhängigkeit ummantelt, wie die inhaltlich rechtliche Qualität und die Abänderungsquote. Die Vergleichszahlen sind nicht durch die Struktur des Amtes annähernd konstant gehalten wie die Erledigungszahlen nach einer Weile. Hier lässt sich demnach eine Art Wettbewerb zwischen
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den Richtern erkennen, der identitätsstiftende Merkmale in der sozialen Anerkennung unter den Kollegen hervorbringt und gleichzeitig die konstitutive, auf die Schaffung von Rechtsfrieden gerichtete Grundanforderung des Zivilrichters bedient. Im historischen Kontext betrachtet ist dies möglicherweise als eine Hinwendung der richterlichen Handlungsmaximen zum Vergleich (anstelle des Urteils) anzusehen und könnte im Rahmen des Wandels von Recht interpretiert werden, der auf allgemeine postmoderne Strömungen in der Gesellschaft verweisen könnte. Dies wiederum berührt die Frage nach der Stellung des Richterberufes, der richterlichen Rollenidentität in der heutigen Zeit. Der ›Alternativ-Wettbewerber‹ ist von seinen relevanten Dimensionen her betrachtet nicht grundsätzlich als struktureller Gegentypus zum ›Karrieristen‹ zu verstehen. Auch der ›Karrierist‹-Typus kann leidenschaftlichen Anteil an den Dimensionen des ›Alternativ-Wettbewerbers‹ haben. Für ihn sind die Dimensionen der ›Alternativ-Wettbewerbe‹ jedoch Mittel zum Zweck (der Karriere) und nicht Selbstzweck und insofern keine Alternative zur Karriere.
3.4.3
Der ›zugewandte Richter‹ oder auch Service-Richter
Im Folgenden wird ein zentraler Richtertypus vorgestellt, der sich durch seine Komplexität und Durchdringung in der alltäglichen Arbeit der Richter auszeichnet. Seinen Ausgangspunkt nimmt der ›zugewandte Richter‹ auf der ›Soll-Ebene‹ (siehe Abschnitt 1.2.1) welche in Verbindung mit den ›Anforderungen‹ der ›Basis‹Dimensionen, dem ›Alternativwettbewerber‹ (Vergleicher) von den ›Antriebs‹Dimensionen und mitunter dem ›geschickten Radbruchianer‹ der ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹-Dimensionen sowie dem ›Judizler‹ einen Typus bildet, der als »zeitgemäß« beschrieben werden könnte. Zunächst wird die Arbeit des Richters mit Blick auf die Chancen der Rechtsuchenden im Justizsystem und mit Blick auf das streitgebende Phänomen angeschnitten, bevor in einer längeren Analyse der zusammenfassende Blick auf die Interaktionssituation von Richter und Naturpartei gerichtet wird, wobei der Umgang mit dessen Sachunverstand als zentrales Kommunikationsproblem im Vordergrund steht. 3.4.3.1
Blick auf Chancen der Rechtsuchenden im Justizsystem
Argument ist, dass eine »Rechtssicherheit« angestrebt wird, die in einer Instanz, die eben nicht die letzte ist, nicht gegeben werden kann. Ein Richter beschreibt dies wie folgt:
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»Am schwierigsten is es sich natürlich kritisch ausenader zu setzen mim Bundesgerichtshof, weil das im Zweifel ähm wenig bringt. Wenn ich das also meine, ich möchte anderer Meinung sein wie der Bundesgerichtshof, dann muss ich schon mir meiner Sache sehr, sehr sicher sein, denn sonst schick ich die Leute ja sehenden Auges äh durch meine Entscheidung in weiteres Rechtsmittel, was der Sache nicht dient, ja« [D10:25] Die kritische Auseinandersetzung mit dem Bundesgerichtshof ist diesem Richter zufolge ein sehr schwieriges Unterfangen. Nur wenn man sich der »Sache sehr, sehr sicher« ist, kann man sich eine andere Meinung erlauben als der BGH. Hauptargument für diese Sichtweise ist nicht etwa, dass man sich dadurch Arbeit spart, weil man in den vorgegebenen Bahnen entscheidet, oder dass man aus obrigkeitsstaatlicher Überlegung heraus dem höheren Gericht folgt. Das Argument ist, der »Sache« zu dienen. Die »Sache« ist hier sehr deutlich erkennbar als etwas, was in einer Gesamtsicht für alle »Leute«, d. h. die Prozessbeteiligten, das Beste im Sinne des Sinnvollsten im Rahmen der Funktionsweisen und Wahrscheinlichkeiten des Justizsystems ist. Somit ist allen, das heißt dieser »Sache«, am besten »gedient«. »Einer Sache dienen« ist im Gegensatz zu »einer (spezifischen) Person dienen« genau jener Umschwung vom persönlichen zum professionellen Verhältnis. Der Richter versteht sich in diesem Sinne als ein Service-Richter, der durch sein Handeln für alle Beteiligten und langfristig zusammenbeschaut das Beste erwirkt. Nichtsdestotrotz ist dies als ein konservatives obrigkeitsstaatliches Denken zu verstehen, weil es nur sehr schwer die bestehende Rechtsprechung zu irritieren vermag. Neue Impulse, die auf noch längere Sicht kommenden Prozessbeteiligten etwas beitragen könnten, weil der Bundesgerichtshof sich der Meinung anschließt, werden durch diese Sichtweise nicht gerade gefördert. In diesem Sinne ist dieser Richter ein systemkonservierender Service-Richter. Dennoch lässt sich dieser Aspekt der prinzipiellen Zuwendung zur Partei, im Sinne des »der Sache dienen« als ein erster Grundstein des ›zugewandten Richter‹-Typus sehen. 3.4.3.2
Blick auf das streitgebende Phänomen
Dieser Blick auf das streitgebende Phänomen äußert sich für den ›zugewandten Richter‹ zumeist in Form des Vergleichers (›Alternativ-Wettbewerber‹-Typ) und wird dem Urteiler oft gegenübergestellt. Für den Zivilrichter stellt dies einen Typisierungsantagonismus dar. Nachfolgend äußert sich ein Richter über Kollegen in einem anderen Senat, indem er sie dem Urteiler-Typus zuordnet. Diese Fremdtypisierung wird im Gegenzug mit der anschließenden Selbsttypisierung kontrastiert: »Dann erlässt der Senat eben ein Urteil. Es gibt andere, zu denen zähle ich, die, was ja in der ZPO angelegt ist, die Verpflichtung nämlich in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütli-
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che Einigung hinzuwirken, die das auch tatsächlich ernst nehmen und die das auch aus eigenem, wie soll ich sagen, aus eigenem Bedürfnis, ne, als als als zur vornehmsten richterlichen Aufgabe gehörig ansehen, ne. Äh auf der einen Seite, wenn ich ein Verfahren mit einem, mit einem Vergleich abschließe, also mit einer gütlichen Einigung, führt das zu einer gewissen Befriedigung über den Erfolg den man erzielt hat.« [D18:15] Der deutliche Verweis auf die ZPO und der darin enthaltenen »Verpflichtung« hinsichtlich einer »gütlichen Einigung« verbindet den ›zugewandten Richter‹-Typus mit den Inhalten der ›Soll-Ebene‹ (siehe Abschnitt 1.2.1). Er selbst zählt sich zu jenen, die dies »tatsächlich ernst nehmen«. Offenkundig geht er davon aus, dass das nicht alle tun, insbesondere die nicht, die »eben ein Urteil« erlassen, die Richter vom UrteilerTypus. Der Umgang mit den Forderungen der ZPO, so kommt hier zum Vorschein, ist also einer, der zwischen Ernstnehmen und Nichternstnehmen schwanken kann, ohne dass es größere Konsequenzen zu haben scheint, als dass sich verschiedene Praxisstile entwickeln. Das »tatsächlich ernst nehmen« beruht diesem Richter zufolge auf einem »eigenen Bedürfnis«, das Hinwirken auf eine gütliche Einigung wird als »vornehmste richterliche Aufgabe« gesehen. Als Folge und neuerlicher Antrieb für weitere Vergleichsbemühungen erläutert er, dass ein Einigungserfolg zu einer »gewissen Befriedigung« führt. Hier steht ein klares Motiv im Hintergrund, welches dem Richter Erfüllung und Sinn in seiner Arbeit zu geben scheint. Bezüglich einer richterlichen Typologie ist zusätzlich die zeitliche Dimension von Bedeutung: Der Urteiler wird eher mit altem Habitus (Staatsmacht, Autorität, Macht etc.) in Verbindung gebracht, der Vergleicher hingegen mit dem Richter der Dienstleistungsgesellschaft. Diese Generationsabhängigkeit erläutert ein älterer Richter über die Differenz zu seinen Vorgesetzten von früher, die zu tun habe: »mit dem Wandel der Zeit, die früheren Vorsitzenden, die w- waren wirklich vornehme Herren auf einem bestimmten Podest. [I: Mhm.] Ganz e- wirklich tolle ehrenwerte Leute, auch gute Juristen und und mit mit sehr- i- ich wirke vielleicht manchmal ((nach Worten ringend)) ja (-) ja, ich muss auch volkstümlich sein können, das (-) wollten die aber auch gar nicht. Und (-) dann wurden Urteile gemacht. Es war ganz selten, dass hier mal Vergleich geschlossen wurden. Wirklich.« [D5:28] Die Richtung der beruflichen Erfüllung in dem Erzielen einer gütlichen Einigung oder mit Abstrichen auch in dem Dienst an der Sache zu sehen, charakterisiert erste Elemente des ›zugewandten Richter‹-Typus. Ein Blick auf die reale Interaktionssituation der Verhandlung, ein wesentlicher Bestandteil richterlicher Alltagspraxis, kann uns in den weniger rechtlich relevanten Bereichen Aufschlüsse zum richterlichen Selbstverständnis geben. Die Betrachtung des Umgangs des Richters mit dem Sachunverstand der Parteien vor Gericht, als eine – wenn nicht die – zentrale
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Kommunikationshürde, verspricht einen vertieften Zugang zum ›zugewandten Richter‹-Typus. Richter wissen, wie sie mit dem Sachunverstand ihrer Klientel umzugehen haben. Dieses Sonderwissen ist eine typische Form professionalisierter Kompetenz. Paradoxerweise hat die Richterprofession aber keinen direkten Einfluss auf den Erwerb dieser Fertigkeiten. Das fragliche Wissen fällt vielmehr ohne ihr Zutun an. Deshalb ist das, was sich auf diesem richterlichen Kompetenzfeld tut, überwiegend ein Ausdruck außerrechtlicher (alltäglicher) Interaktionsanforderungen, welche in einem Spannungsverhältnis von Selbstverständnis – Justiz(struktur) – Gesellschaft beschrieben werden kann. Eine Rekonstruktion dieser Facette des Selbstverständnisses, beschränkt auf die Zivilgerichtsbarkeit, offenbart eine dem gesellschaftlichem Wandel geschuldete Änderung des richterlichen Selbstverständnisses. Dominierende Interaktionsverständnisse des Richters werden durch eine breitere Variation ergänzt: Neutral zu benennende Positionen operieren mit behutsamer Kompetenznachhilfe, bei wohlgesonnenerem Selbstverständnis leistet der Richter sogar eine rechtlich gerade noch tolerable oder schon gerügte Kompetenznachhilfe. 3.4.3.3
Blick auf die Interaktionssituation Richter und Naturpartei oder: Vom kompetenten Umgang mit Sachunverstand vor Gericht93
Für einen ersten Eindruck in den richterlichen Umgang mit Sachunverstand ist es sicher sinnvoll, einen Einblick in die Situationen zu gewinnen, in denen es zur handlungsrelevanten Anwendung des erforderlichen Wissens kommt. Sodann kann anhand des Verlaufes der beruflichen Sozialisation des Richters dargestellt werden, an welchen Stationen überhaupt Teile dieses Wissens erworben werden. Dies wiederum wirft die Frage auf, wie die Profession das benötigte Wissen zu kontrollieren versucht, ohne es selbst in nennenswertem Umfang generiert zu haben. Schließlich wird das Spektrum des gerichtlichen Handlings von Sachunverstand skizziert, und es wird der Versuch unternommen, dessen Veränderungen zu erklären. Am Amtsgericht94 besteht kein Anwaltszwang. Dennoch haben es die Richter in aller Regel gern, wenn die Parteien anwaltlich vertreten sind. Der Pro93 Eine kürzere, vorgängige Fassung dieses Textes war Grundlage für einen Vortrag auf dem DGSKongress 2004 in München in der Veranstaltung der Sektion Wissenssoziologie und des AK Professionelles Handeln. Mein herzlicher Dank für wertvolle Anregungen und Hinweise gilt hier speziell Ralf Kölbel. 94 Der Blick liegt im Kern auf der einzelrichterlichen Zivilgerichtsbarkeit, wobei die Aussagen eingeschränkt auch auf andere Gerichtsbarkeiten zutreffen, solange eine einzelrichterliche Tätigkeit vorliegt.
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zessstoff wurde dann bereits in rechtliche Kategorien transformiert. Die gemeinsame juristische Sprache, die geteilte Logik und die Kenntnis der prozessualen Regularien garantieren einen weithin reibungslosen Ablauf. Vergleichsvorschläge etwa im Zivilprozess können im Balanceakt zwischen Parteieninteresse und rechtlicher bzw. gerichtlicher Notwendigkeit verstanden und bewertet werden. Die Verhandlungen gehen zügig und in gewohnter Weise vonstatten. Besonders beliebt ist es jedoch, wenn auch die Naturpartei anwesend ist. Einerseits fungieren die Anwälte dann als »Puffer« und mildern z. B. die gelegentlich allzu eruptiven Emotionen ihrer Mandanten gegenüber dem Richter ab. Obendrein können Vergleiche oder prozessuale Sonderwege, die eine direkte Einwilligung der Naturpartei benötigen, ad hoc besiegelt und durchgeführt werden. Andererseits ist mit dem anwesenden Mandanten die Zugriffsmöglichkeit auf die »Urquelle« des Geschehens gewährleistet, weil sich bei ihm möglicherweise das Tatsächliche oder die sogenannte Wahrheit abfragen lässt – wahrscheinlich sogar ohne von taktischen Modellierungen durch rechtliches und insbesondere prozessuales Anwaltswissen verstellt zu sein. Schwierigkeiten ergeben sich, wenn die Naturpartei dem Richter allein gegenübersteht. In diesem Fall können sich Probleme ergeben, denn der Prozessablauf wird aller Voraussicht nach nicht mit der üblichen Routine ablaufen können. Die Richter stellen sich dann auf Hindernisse, mehr Arbeit und einen größeren Zeitaufwand ein. Als Störungsursache gilt jener sperrige Sachunverstand der Naturpartei. Gewiss drückt sich darin eine gewichtige »Dominanz« der professionellen Akteure aus. Diese Übermacht hat für den Richter aber auch ihre Schattenseiten. Das Mead’sche ›Game‹ wird nämlich »sabotiert«, wenn die Laienakteure die Spielregeln nicht kennen. Der Sinngehalt des Geschehens muss durch eine eigene Leistung des Richters erst in die juristische Sprache transformiert und analysiert und hernach wieder in die Alltagssprache zurückübersetzt werden (siehe dazu Morlok und Kölbel 2001: 294 und zu der entstehenden Entfremdung Harenburg und Seeliger 1979: 82; zu deren Verschärfung im Asylverfahren vgl. Scheffer 2001: 33). Die ungleiche Verteilung des Wissens bildet folglich für alle anwesenden Akteure ein Handlungsproblem. Sicherlich kann der Sachunverstand einer Naturpartei deren Chancen beeinträchtigen und soziale Ungleichheit hervorbringen oder verstärken.95 Dennoch 95 Der »power approach«-Ansatz zur Professionsbildung allgemein stützt dies mit seiner Annahme der Monopolisierung professioneller Märkte (Pfadenhauer 2003: 50 ff.). In älteren rechtssoziologischen Untersuchungen wurde in dieser Hinsicht lieber in machttheoretischen Kategorien anstelle von Wissensdefiziten gesprochen (Lautmann 1972: 101). Hier sei darauf hingewiesen, dass das Problem entstehender sozialer Ungleichheit zwei Dimensionen hat: zum einen die situative zwischen Richter und Naturpartei, zum anderen die, die sich in Bezug auf den Rechtsstreit für eine Partei »in der Sache« ergeben könnte. Es gibt aber durchaus auch Resistenzen gegen eine solche strukturelle Benachteiligung, wie Soeffner (1983: 93) für Angeklagte aus der Unterschicht aufzeigte.
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soll es hier im Weiteren weder darum noch um das Wissen gehen, welches den Naturparteien (in der Regel) zu deutlich fehlt, um an dem ›Game‹ teilnehmen zu können. Hier interessiert vielmehr das Vermögen der Richter, mit einem solchen Sachunverstand umzugehen. Er muss mit Personen arbeiten, die nur eine sehr begrenzte oder gar keine Situationskenntnis aufweisen. Darin liegt eine Strukturähnlichkeit mit dem Arztberuf (siehe hierzu Kaupen-Haas, Mischo-Kelling, et al. 1993: 172 f. und auch Wernet 1997: 34 ff.). Allerdings lassen sich auch Unterschiede herausarbeiten, die für das Verständnis der Situation maßgebend sind: a) Bei Gericht ist das »Mitspielen« im Sinne des Mead’schen ›Game‹ von weitreichender Konsequenz. Kann diese Rolle nicht eingenommen werden, weil kein Rollenspieler (Anwalt) eingesetzt oder das erforderliche Rollenwissen nicht vorhanden ist, entsteht für den Richter das Problem, mit dieser unbesetzten Rolle umgehen zu müssen. Als Jurist ist er indessen prinzipiell darin geübt, in die verschiedenen Positionen eintreten zu können. Während es in der Arzt/PatientenInteraktion keine vergleichbare Übernahme wechselseitiger Rollenerwartungen gibt 96 (weil sie dort für den Handlungsablauf auch entbehrlich ist), stellt es für den Richter sogar eine basale Fähigkeit dar, durch Rollenübernahme mit dem Sachunverstand umgehen zu können. Die Rolle, die er in einem solchen Fall ergreift, ist die eines rechtlich geschulten Akteurs, nämlich die des Anwalts. Er gibt sich nicht etwa als sachunverständiger »Pseudo-Laie«, sondern agiert als Rechtsvertreter. Im Gegensatz dazu bewältigt der Arzt seine Handlungsprobleme nicht durch die Übernahme einer solchen Zweitexperten-Rolle, sondern durch seine eigene alltägliche Erfahrung mit dem persönlichen Patientendasein, dank derer er die Warte seiner Klientel mit- und einzufühlen und auf die Patientenposition in antizipatorischer Weise zu reagieren vermag. Damit ist der lebensweltliche Bezug des Arztes zu der Situation eines Patienten höher als der Bezug eines Richters zu einer sachunverständigen Naturpartei. Oder umgekehrt gesprochen: Die strukturelle Empathiewahrscheinlichkeit in einen sachunverständigen Kommunikationspartner ist beim Richter – bedingt durch das juristische Rollentraining und den mangelnden lebensweltlichen Bezug – erschwert. b) Ohnehin unterscheidet sich die Beziehung des Richters zur Naturpartei von der typischen Beziehung zwischen Professionellen und Klienten. Ein niedergelassener Arzt und sein Patient sowie ein Anwalt und sein Klient stehen in einem Verhältnis, welches formal durch freie Wahl gekennzeichnet ist, ohne dass der Ratsuchende in der Lage wäre, diese Leistungen kompetent zu beurteilen. Das Verhältnis der Naturpartei zum Richter ist anderer Art: Es kann nicht gewählt werden, sondern ist durch Art, Ort und Zeitpunkt des Streitgegenstands deter96 Ansätze hierzu sind aber in Modellstudiengängen vorgesehen, siehe hierzu die Dissertation von Seitz (2004: 81-116 »Existierende Gesamtkonzepte an 5 Universitäten«).
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miniert. Die Naturpartei ist dem Richter zugewiesen, ähnlich dem (schwer) Verletzten, den man nach einem Unfall in das nahe gelegene Krankenhaus zum diensthabenden Arzt bringt (vgl. Eickstädt, Mager, et al. 2004: 426). Aber selbst für ihn gibt es (u. U. erst spätere) Einflussmöglichkeiten, vor allem durch Verlegung in andere, »bessere« oder spezialisiertere Kliniken. Von einem einmal zugewiesenen Richter oder Richtergremium wegzukommen, stellt indes ein schwieriges und nur selten gelingendes Unterfangen dar (etwa beim Befangenheitsnachweis). Die Naturpartei kann sich demnach nicht ohne ernste Konsequenzen aus dieser Beziehung trennen. Sie ist der richterlichen Macht in noch höherem Maße ausgeliefert, als es die anderen Beziehungstypen zwischen Professionellen und Klienten auszeichnet. Die Naturpartei trifft folglich auf einen Richter, dessen prinzipielle Fähigkeit zum Umgang mit Sachunverstand erschwert ist und der eine strukturell unausweichliche Machtbefugnis besitzt. Diese für die Naturpartei nachteilig erscheinenden Aspekte werden dadurch abgemildert, dass der Richter keine kommerziellen Interessen während der Falllösung verfolgt. Das persönliche Interesse des Richters am Fall ist nicht finanziell bedingt, sondern beruht vielmehr auf der Aufrechterhaltung des Prestiges und der sozialen Kontrolle der Profession sowie seiner eigenen Stellung und Karriere (siehe hierzu Goode 1972: 159 f.). Im Sinne des ›zugewandten Richter‹-Typus kommt die berufliche Erfüllung im Dienst an dem anderen als Motivation hinzu. Ein weiterer Punkt, der abmildernd hinzukommt, ist die Praxiserfahrung. Wenn der Richter die ihm vorgelegten Sachverhalte im Lichte rechtlicher Fragen zu rekonstruieren versucht, ist er unablässig darauf angewiesen, sich in die Alltagswelt der Laien hineinzudenken97 und die fallrelevanten Fragen bei der anwesenden Naturpartei zu erheben98. Mit der Zeit stellt sich daher eine »trainierte« Nähe zu deren Situation und Problemsichten ein, und der Richter entwickelt die erforderlichen Kompetenzen, um die Schwelle zwischen Experten und Laien zu überschreiten. Dennoch bedeutet die Konfrontation mit der unvertretenen Naturpartei für den Richter indes, und das ist aus professionssoziologischer Warte wesentlich, grundsätzlich eine Störung des gewohnten Ablaufs. In besonderem Maße treten diese nicht zu Routinen geglätteten Probleme in den ersten Berufsjahren auf. Der Berufsanfänger schöpft dabei allerdings nicht gänzlich aus dem Nichts, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
97 Nach Lautmann (1972: 52 f.) können die Auskunftspersonen dabei im schlimmsten Fall auch zu formalen Informantenrollen (-Trägern) gemacht werden, in die sich mitnichten hineingedacht wird. 98 Das zur Fallrekonstruktion erforderliche sachliche Alltagswissen – Hesse (1998: 58) spricht hier von dem »Laien-Anteil«, der neben der Fachlichkeit bestimmend ist (zu diesen »außerrechtlichen Faktoren« speziell bei Strafrichtern auch Machura 2001: 24) – ist jedoch nicht in eins zu setzen mit der hier thematischen Kommunikations- und Verfahrensabwicklungskompetenz. Beide Fertigkeiten liegen auf unterschiedlichen Ebenen.
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Dem Erwerb des hier untersuchten Wissens nachzugehen, bedeutet in der beruflichen Sozialisation des Richters oder zunächst des Juristen nach Anhaltspunkten zu suchen. Man stößt dabei auf verschiedene Aneignungsmodi, aber auch auf eine Spezifizierung des fraglichen Wissenstypus. a) Praktisches Wissen Der richterliche Umgang mit dem Sachunverstand vor Gericht wird in der Ausbildung der Juristen nicht vermittelt. Die erforderliche professionelle Kompetenz gehört eher zum praktischen Wissen. Im Unterschied zu vielen anderen praktischen Handhabungen, die man schon in der normalen Universitätsausbildung und besonders im Referendariat nach Anleitung einübt, wird es hauptsächlich dem selbständigen Lernen in der Praxis überlassen, einen entsprechenden Wissensvorrat aufzubauen (siehe zu diesen Formen des juristischen Expertenwissens Maiwald 2003: 2 f.). Dies unterscheidet den Justizjuristen vom »Wissenschaftlich ausgebildeten Praktiker« (etwa dem Sozialpädagogen, dazu Lüders 1989), der von den logischkonsistenten Theorien und ausgewiesenen Methoden ausgehen und die Distanz zur Lebenswelt des Klienten überbrücken kann (Pfadenhauer 2003: 35). Der Richter erhält weder theoretische noch methodische Unterweisungen, wie er mit dem Unwissen der Parteien umgehen könnte. Es gibt zwar gewisse Hinweise und Maßgaben in den Prozessordnungen oder dem Deutschen Richtergesetz (man denke an die richterlichen Hinweispflichten der ZPO, § 139 ZPO a.F.), die wichtige normative Rahmenbedingungen darstellen (und deshalb einer gesonderten Analyse bedürfen), doch als Handlungsanleitungen im Sinne eines »wie es zu machen ist« weniger wertvoll sind. Wenn man die Anforderungen an das hier interessierende Wissen charakterisiert als eines, das in der Interaktion mit der Naturpartei »der Bewältigung der strukturell nicht routinisierbaren Handlungsanforderungen dient«, dann ist es nach Maiwald in Anlehnung an Oevermann sogar als handlungslogisches Wissen zu bezeichnen, mithin als Wissen, das Professionswissen gerade auszeichnet. Es ergänzt auf der Ebene des Wissens den Professionshabitus (als inkorporierte Kompetenz), die Kunstlehre (als Vermittlungsmodus) und die Professionsethik (als verpflichtendes Handeln in Dispositionssituationen) (siehe hierzu Maiwald 2003: 6). Weil aber das praktische Wissen vom Umgang mit dem Sachunverstand vor Gericht nicht expliziert ist und als handlungslogisches Wissen auch nicht expliziert werden kann, ist es der Profession auch nicht »richtig«, im Sinne eines theoretischen Wissens, verfügbar. Es weist demnach einen impliziten Charakter auf (Meuser und Nagel 1997: 485 f.). b) Kaum ein Meister in Sicht Der ansonsten für das Erlernen des praktischen Wissens wichtige (wenn nicht wichtigste) Bereich der An- und Abschauung, also das Mitgehen und Mitansehen bei einer Person, die in der Praxis (Kunstlehre) erfahren ist (man denke insbe-
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sondere an die alte »Meister und Schüler Situation« im Handwerk), tritt bei der richterlichen Profession nur eingeschränkt auf. (1) Vor der Referendarszeit ist jeder Kontakt zu einem Richter von der Eigeninitiative der Studenten abhängig. Vermittlungen von praktischem Wissen für künftige Richter finden in dieser Phase der Ausbildung nicht statt.99 Erst die Referendarszeit gibt einen kurzen Einblick in das richterliche Handwerk – »kurz« allerdings nicht nur in der zeitlichen Dimension, sondern auch in der inhaltlichen Gewichtung: Es geht dem Referendar hauptsächlich um die rechtlichen Fragen und deren Lösung. Am gängigsten ist wohl der Fall, dass er eine Akte bekommt, den Fall zu Hause löst und seinen Vorschlag dem Richter vorlegt. Notgedrungen, um den Erwartungen des Richters zu entsprechen und vielleicht manchmal auch aus Eigeninteresse, nimmt der Referendar an der oder den Verhandlungen zu seinem Fall teil. Wieder geht es hauptsächlich um die rechtliche Dimension des Falles. Eigenarten im Kommunikationsablauf mit den Naturparteien werden wenig thematisiert und selten auf das Verhalten des Richters bezogen. Dennoch, um zu unserem Wissensbereich zurückzukehren, werden hier in der Tat erste Wissensbestände erlernt, wenn auch nebenbei und unbemerkt, denn die Konzentration der Referendare gilt dem examensrelevanten Wissen, das – anhand prozessualer Fragen – die interaktionspraktischen Wissensbereiche allenfalls rahmt. Von der Seite des lehrenden Richters ist in dieser Situation ebenfalls wenig zu erwarten: Zum einen weiß er, dass nur ein Bruchteil der Referendare zu Richtern werden, sein Sendungsbewusstsein, auch verhandlungspraktische Details anzusprechen, könnte daher dürftig sein. Zudem ist es implizites Wissen, welches ihm selbst als Ausbildungsgegenstand weniger gewahr sein könnte. (2) Erst mit dem Eintritt in das Richteramt, zunächst auf Probe, ist die Situation geschaffen, in der von einem »Meister« wirklich gelernt wird. Erinnerungen an Richterkollegen, die in irgendeiner Weise das eigene Handling im direkten Kontakt mit den Parteien, seien sie nun anwaltlich vertreten oder nicht, positiv oder negativ geformt haben, stammen aus dieser frühen Phase der spezifischen richterlichen Berufssozialisation. Hier erst trennt sich die richterliche von der allgemeinen juristischen Sozialisation. Doch gleichzeitig beginnt auch schon wieder das Ende der Anschauung, des Lernens durch »Abschauen«: Der Richter ist in der Regel 99 Auf der anderen Seite ist hier zu bemerken, dass insbesondere Studienanfänger eine gewisse Sensibilität für antizipatorisches Verhalten in Gerichtsverhandlungen aufweisen. So ist auch die geäußerte Kritik an Verhandlungsführung an dieser Stelle eher höher. Im Laufe des Studiums wandelt sich diese aus alltäglichen Lebensvollzügen stammende Sensibilität zugunsten der differenzierten Wahrnehmung der rechtlichen Ebene, die in frühen Studiumsphasen freilich stark unterrepräsentiert ist. Später, nach Eintritt in das Richteramt, mag die Bedeutung der ehemals besessenen Sensibilität wieder an Gewicht zunehmen. Als Wechsel zwischen Aufrichtigkeit und Zynismus wird dies analog zur Ausbildung und dem Berufseinstieg beim Mediziner von Goffman mit Verweis auf Becker und Greer (1958) beschrieben (Goffman 1983: 22).
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sofort in das Dezernatsgeschäft eingebunden. Manche Kammern nehmen in der Anfangsphase ein wenig Rücksicht auf die Neulinge, andere nicht. Echte Einblicke gewinnen und vor allem verschiedene Stile erfahren, kann der neue Richter somit nicht. Dabei bleibt es vor allem dann, wenn der Richter – sieht man von dem einen oder anderen Wechsel in der Landgerichtskammer ab – auf sein eigenes Dezernat im Amtsgericht kommt. Von nun an – um idealtypisch beim Einzelzivilrichter zu bleiben – ist er allein, ohne alltäglich greifbare an- und abschaubare Vorbilder, ohne ihn formende Mentoren. Der Richter hat trotz des hochgradig institutionalisierten Statusübergangs im Anschluss nur selten einen »Trainer« an der Seite (Strauss 1974: 108 u. 117). Es gibt keine Zeit dafür, die »alten Hasen« einem Neuankömmling zur Seite zu stellen. Zudem würde es befremdlich wirken, wenn der neue Richter in der Verhandlung eines älteren Kollegen säße, ähnlich einem Professor, der sich die laufende Vorlesung des anderen anhört (vgl. Strauss 1969: 16 und Helle 2001: 67). (3) Von nun an entfaltet sich die spiegelbildliche (Mead) und nicht mehr die vorbildliche berufliche Sozialisation: Der Richter, um es mit einem Wort aus dem Forschungsfeld zu bezeichnen, wird »eingeschossen«. Die gerichtserfahrenen Akteure, allen voran die Anwälte, aber auch Sachverständige oder Übersetzer, formen durch handlungsimplizit ausgedrückte (Rollen-) Erwartungen die noch zur Disposition stehenden Bereiche richterlicher Handlungsoptionen. Diese wechselseitigen Spiegelungen sind ein fundamentaler Bestandteil des (beruflichen) Sozialisationsprozesses (Schütz und Luckmann 2003: 108). Dafür sind gerade die Kompetenzbereiche sensibel, die vorher noch nicht vermittelt und abgeprüft wurden. Die ›Gerichtskultur‹ versucht, sich das neue Mitglied »einzuverleiben« (wiewohl sie sich durch neue Akzentsetzung des Richters auch verändert). c) Schöpfen aus sich selbst Vor dem Hintergrund einer solchen Berufssozialisation stellt es ein spannendes Ereignis dar, wenn ein junger Einzelrichter die Verhandlung führt und lediglich auf die beiden Naturparteien trifft.100 In dieser frühen Phase seines Professionslebens sind seine Wissensstrukturen bezüglich des Umgangs mit dem Sachunverstand noch nicht verfestigt, es gibt weder Routinen noch Anschauungsmaterial oder eigene Erfahrungen. Zudem fehlen die aktuellen spiegelbildlichen (Rollen-) Erwartungen der Anwälte in der Verhandlungssituation, die sonst, so unangenehm dies auch empfunden werden kann, einen gewissen orientierenden Halt geben, sei es durch Zustimmung oder Ablehnung der Verhandlungsführung. Ein aus welchen Phasen der bisherigen beruflichen Sozialisation auch immer stammender Habitus ist in seiner Finalität bezogen auf gelingendes juristisches Entscheiden (vgl. hierzu 100 An dieser Stelle wird z. B. der Unterschied zwischen Strafgerichtsbarkeit und Zivilgerichtsbarkeit bezüglich der hier behandelten Fragestellung deutlich. Im Strafprozess ist in aller Regel immer ein zweiter professioneller Akteur, die Staatanwaltschaft, anwesend. Die spiegelbildliche Sozialisation ist dort folglich durchgängig prägender.
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Morlok und Kölbel 2001: 304). Er ist somit zu Beginn einer Richterkarriere noch weitaus enger gefasst und geringer ausgebildet. Der Richter befindet sich in einer Situation, die zwar nicht rechtswissenschaftlich, aber wissens-, handlungs- und rechtssoziologisch durchaus als krisenhaft bezeichnet werden kann. In dieser Phase muss er auf Wissen zurückgreifen, welches die Profession nicht bereitstellt, welches sich der Profession sogar weitestgehend zu entziehen scheint: seine eigene, in der primären Sozialisation erworbene Interaktionskompetenz. Das praktische Wissen um den Umgang mit Sachunverstand wird demnach – diese Hypothese drängt sich geradezu auf – in der beruflichen Sozialisation zu einem nicht unerheblichen Teil durch die primären Interaktionsroutinen und damit auch durch die Persönlichkeit des Richters herausgebildet. Der Richter offenbart in der Art, wie er mit diesem Problem umgeht, Teile seines kulturell geprägten Selbstverständnisses: Was ist für ihn relevant in der Interaktion mit einer nicht anwaltlich vertretenen Naturpartei bezüglich ihres Wissensdefizits? Welchen allgemeinen Handlungsanforderungen sieht sich der Richter ausgesetzt und welchen möchte er entsprechen? An einer solchen Stelle richterlicher Tätigkeit werden somit (gesellschaftlich geprägte) Persönlichkeitsmerkmale sichtbar, auf die von der Profession selbst kaum Einfluss genommen wird. Das Wissen vom Umgang mit Sachunverstand vor Gericht kommt folglich »von außen«. Doch wie verhält sich die Profession, die doch der Steuerungsnotwendigkeit der justitiellen Gleichbehandlung unterworfen ist, zu solchen Kompetenzen? Sie setzt dieses Vermögen, so lautet die überraschende Antwort, wie selbstverständlich voraus. Obwohl das besagte Wissen in der Ausbildung nicht vermittelt wird, ist es beispielsweise ein relevantes Kriterium bei der späteren Richterauswahl in den Assessment-Centern der Oberlandesgerichte. Hier, wo kein Training stattfindet, sondern eine Auswahl der Person aufgrund bereits vorhandener Eigenschaften getroffen wird, stehen Charakter, Persönlichkeit und Interaktionsqualität im Vordergrund: Wie ist der zukünftige Richter und wie verhält er sich anderen gegenüber. Ist er zeitgemäß? Der Beruf des Richters erfordert »besondere persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten, die es ihm ermöglichen, seiner Funktion und Aufgabe im täglichen Umgang mit Prozessbeteiligten, Kollegen und Mitarbeitern im Sinne einer modernen bürgerfreundlichen Justiz gerecht zu werden.« (Oberlandesgericht Hamm 2004: 3)
Solche Kriterien belegen auf erstaunliche Weise, dass man – obwohl die Vermittlung und Lehre des Wissens um eine gute Ausübung der Profession begrenzt ist – die fragliche Sonderkompetenz als eine »mitgebrachte« Fertigkeit erwartet. Wenn die richterliche Fähigkeit, mit sachunverständigen Parteien umzugehen, auf primär sozialisierte und kulturelle Interaktionsmuster zurückgeht und weitgehend frei vom direkten Einfluss der Profession ist, muss sie von Wandlungsprozessen der außerprofessionellen Interaktionsmuster abhängig sein. Dafür gibt es durchaus einige Anhaltspunkte. So stellte sich zu Zeiten von Lautmanns rechtssoziologischen Untersuchungen (Lautmann 1972) der fragliche Wissenstypus als
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rein praktisches Rollenwissen dar. Es gab, wenn man so will, immer ein durch die Rolle des Richters und der erwarteten Rolle der Partei vorgegebenes Drehbuch, welches sich an den formalen Abläufen der Prozessordnungen orientierte. Der richterliche Umgang mit dem forensischen Sachunverstand bestand darin, die Naturpartei in die Rolle des sie vertretenden Anwalts zu pressen und etwaige Ausbruchversuche durch die eigene Machtfülle zu verhindern (Lautmann 1972: 101). Oft war es mit der Handlungsmaxime verbunden, einen möglichst zeiteffizienten Abschluss des Verfahrens zu erzielen (Lautmann 1972: 170). Eine andere Sichtweise ergibt sich jedoch, folgt man Löschper (1999: 135 f.), durch die neuere ethnomethodologische Rechtsforschung, die zeigt, wie anhand interaktiver und kommunikativer Praktiken ein gerichtlicher Prozess fabriziert wird. Die Praktiken der Gerichtsakteure orientieren sich dabei an den Erfahrungen mit dem Ablauf und der Verteilung von Redezügen in Alltagsunterhaltungen. Aus diesem Blickwinkel treten normal handelnde Akteure an die Stellen des übermächtigen Richters und der ihm ausgelieferten Naturparteien. Dieser Befund ist für die Charakteristik des hier behandelten Wissens zentral. Nahegelegt wird hierdurch nämlich eine Vielfalt im richterlichen Umgang mit Sachunverstand, welche entgegen der Drehbuch-Rollenzuweisung der machtkritischen 70er Jahre stehen oder jene zumindest stark erweitern würde. Auch in Studien zum deutschen Strafprozess wird dies deutlich (vgl. hierzu die Zusammenstellungen bei Machura 2001: 94 ff.). Aktuelle rechtssoziologische Untersuchungen (Morlok 2004) bestätigen solche Annahmen: Das Ignorieren der Naturpartei und die Reduktion auf ein Rollenbild (Lautmann-Modell) werden nur noch als ein (kleiner) Teil des empirischen Spektrums bestätigt. Besonders ist dies der Fall in Situationen mit zeitlichem Druck und sich abzeichnender schwieriger Kommunikationssituation zwischen Richter und Naturpartei, sei es durch demonstrative Machtausübung des einen oder querulatorischem Eifer des anderen. Eine abgemilderte Variante stellt die Situation dar, in welcher der Richter die Partei nach dem Motto »Er hätte sich ja einen Anwalt holen können!« richtiggehend »auflaufen« lässt. Hier sind auch die Fälle erfasst, in denen der Richter auf eine zeitintensive Hermeneutik nicht anwaltlich verfasster Schriftsätze verzichtet. Als Amtsrichter kann er sich nicht über längere Zeit einer einzelnen Klageschrift widmen. Er ist auch nicht angehalten, eine Naturpartei systematisch zu interviewen, um – nach Art der anwaltlichen Berufsausübung – das Relevante herauszuarbeiten. Ein für die rechtliche Würdigung zugrunde liegender Text hat aus seiner Sicht »klar« zu sein. Rechtliche Aspekte müssen sich in der Akte leicht ›vorfinden‹ oder ohne großen Aufwand ›aufsuchen‹ lassen (hierzu Berndt und Stegmaier Juli 2004 sowie Stegmaier 2008: 96 ff.). Wann ein solcher Punkt erreicht ist, hängt von je individuellen Faktoren ab (wahrgenommener Zeitdruck, jeweilige Kenntnis der Rechtslage und Rechtsprechung etc.), die jedoch von professions-
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internen Rahmungen begrenzt sind (einheitliche Rechtsprechung, herrschende Meinung etc.). Eine neutral zu benennende Position operiert dagegen mit behutsamer Kompetenznachhilfe: Hier wird z. B. durch die Art der Verhandlungsführung nachgeholfen, damit die Naturpartei eingebunden werden kann. Eine Richterin beschreibt allgemein solche – gar nicht so seltenen – Handhabungen am Beispiel der Wissensdefizite der Parteien vor dem Verwaltungsgericht: »Allgemein gibt's natürlich ein Gefälle […] oft in verwaltungsrechtlichen Streitverfahren deshalb, weil die Behörde sich ja auch wie wir in der- in der Materie immer auskennt. Weil die bearbeiten das ja immer. Und der Bürger, in der Regel kennt er das nich, ne. Also wenn er ne Baugenehmigung beantragt oder so, der weiß ja nich, nach welchen Regeln sich das im Einzelnen richtet. [...] Das is natürlich was, was man in Rechnung stellen muss, so als Gericht. Und ich glaub, d- da geben wir uns dann auch Mühe. […] Es kommt ja bei uns häufig vor, dass keine Anwälte eingeschaltet werden. Also da muss man dann gucken, dass man den Leuten dann so ein bisschen auf die Sprünge hilft oder das, was sie zu sagen versuchen, dann irgendwie rechtlich in die richtigen Formen gießt so.« [D6:22] Auch wenn in der Verwaltungsgerichtsbarkeit ohnehin eine andere Sensibilität geboten ist, gehören solche Fälle ebenfalls zum Alltag der Zivilgerichtsbarkeit. So ist es auch für ländliche und kleinere Gerichte durchaus typisch, dass z. B. ältere Menschen ausführliche mündliche Erläuterungen erhalten. Bei einer noch wohlgesonneneren Haltung leistet der Richter sogar eine rechtlich gerade noch tolerable Kompetenznachhilfe, die darin besteht, Tipps zu geben und Wege zu eröffnen. Dies kann aber schnell auch zu Problemen oder gar Konflikten mit der Gegenpartei (mit Verweis auf die ZPO) führen, wenn die Hilfe zu konkret gerät. Einen solchen Fall bietet das folgende Beispiel. Nach der gemeinsamen Teilnahme an der Verhandlung schildert der Richter dem Forscher während der Aktennachbearbeitung in seinem Büro, wie er mit dem Sachunverstand der Beklagten umgegangen ist: »Die hab ich so ein bisschen in der mündlichen Verhandlung dahin gedrängt [...] das was sie vorgebracht hatte war [...] irrelevant, damit konnte sie die Klage nicht zu Fall bringen. Sie kann die Klage nur zu Fall bringen und das gar nicht so fern liegend, wenn sie im Moment der Zahlung [...] nachweist, dass die GmbH nicht zahlen konnte, dann ist sie raus. Und auf den Einwand ist sie bisher noch gar nicht eingegangen, überhaupt nicht. Und ich hab jetzt und dabei hab ich mir zwar den ganzen Zorn der [Klägerin] zugezogen, dass [sie] selber vortragen müssen zu dem Zahlungsvermögen, aber sie haben hier in dem Fall vorgetragen, dass noch Geld vorhanden war, auch wenn es etwas dünn war reichte mir das, weil von der Beklagten dazu gar nichts kam, war auch nicht bestritten und nichts, dann kann ich da nicht weiterpopeln an der Stelle. Aber wenn die jetzt zum Anwalt geht, dann kann die alles noch mal überprüfen [...] dann kann das alles eventuell geklärt werden, dann sind ihre Erfolgs-
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chancen hier gar nicht so schlecht, möglicherweise. [...] Sie weiß das nicht und deshalb habe ich sie dazu gedrängt kein Antrag zu stellen. Gegen sie ist ein Versäumnisurteil ergangen und ich hab ihr auch gesagt wie das jetzt zu händeln ist, dass sie jetzt eventuell Einspruch einlegen kann, aber sie sollte sich jetzt auf jeden Fall Rechtsrat suchen.« [D13:6] Dem Amtsrichter gelingt es folglich, die Beklagte zu einer auf den ersten Blick unvorteilhaft wirkenden Behandlung des Falles zu bewegen: Sie stellt keinen Antrag und lässt das Versäumnisurteil über sich ergehen. Dadurch verschafft ihr der Richter die Möglichkeit, mithilfe eines Anwaltes alles noch einmal zu überprüfen und »gar nicht so schlecht[e]« Erfolgschancen zu wahren. Genauso gut hätte der Richter die Lage der Mandantin auch ignorieren können. Stattdessen hilft er ihr in einer Art, die die Klägerinnenseite sogar zu Protesten veranlasst. Abmildern kann der Richter die Situation durch das Hervorheben der Fairness, die erst dann wirklich hergestellt sei, wenn die Beklagte, trotz ihrer bisherigen Weigerung, noch einen Anwalt hinzuziehen könne. Die Unterstützung der Laien kann folglich eine gefährliche Gratwanderung darstellen. Unter Umständen bestand eine solche Vielfalt101 im Umgang mit Sachunverstand vor Gericht schon immer, und es haben sich allein die Gewichte in der Ausübung und der Beforschung dieser Ausübung verschoben. Die früheren Äußerungen mancher Praktiker legen das durchaus nahe (Wagner 1959: 195; Wassermann 1978: 2). Bei ihrer Lektüre wird man allerdings hin und her gerissen. Man weiß nicht recht, ob es die dort angesprochenen partizipatorischen Umgangsformen seinerzeit wirklich im Verborgenen gab oder ob hier nicht vielmehr das Prestige der Profession bewahrt werden sollte. Im veränderten Umgang mit Unverstand könnte sich aber auch die gesellschaftliche Verschiebung ausdrücken, die – durchaus aus der allgemeinen Kritik der Zeit kommend – auf die Justiz gewirkt hat (Wassermann 1985: 195 ff.)102. Diese Kritik hat zwar nicht dazu geführt, sozialwissenschaftliche Fakten und Theorien in die Ausbildung einzuführen. Während sich die Juristenausbildung weiterhin damit beschäftigt, mithilfe von Auslegungstechniken und herr101 Die Skizzen im Text geben selbstverständlich nur Beispiele für diese Vielfalt, mit der die Gerichte auf den Sachunverstand reagieren. 102 Das Machtgefälle zwischen Richter und Naturpartei wird problematischer, je mehr der Bürger eine Stärkung gegenüber der Staatsmacht fordert. Hier »erweist sich die Abhängigkeit der sozialen Institution Prozeß von der politischen Kultur als Ausdifferenzierung der Gesamtkultur in einem Gesellschaftsintegrat« (Wassermann 1985: 195; Herv. T.B.). Die aufkommende gesellschaftliche Diskussion um Mündigkeit und Selbstbestimmung in den 60er Jahren führte auch zur Kritik an der gerichtlichen Prozessführung und holte damit den Richter als Person in den Vordergrund: Einstellungs- und Attitüdenänderungen wurden angemahnt: »Die Bestrebungen ziehen unter dem Stichwort ›Vermenschlichung des Gerichtsverfahrens‹ auf verbesserte Kooperation, Kommunikation und Kompensation im Gerichtsverfahren« (Wassermann 1985: 198). Das Leitbild eines autoritären Prozesses und dominanten Richters sollte durch eines der Kooperation mit den Verfahrensbeteiligten abgelöst werden.
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schenden Meinungen das handlungslogische Wissen (Maiwald 2003: 5) bei den rechtlichen Anforderungen zu vermitteln, lässt sie auf der Seite der Interaktion mit Naturparteien nach wie vor einen großen Freiraum oder besser: eine große Lücke. Über den Umweg des gesellschaftlichen Wandels und dem davon geprägten neuen Rechtspersonal hat sich jedoch eine Veränderung vollzogen.103 Durch die jungen Richter, die in einer transformierten Kultur mit neuen Interaktionsanforderungen sozialisiert wurden, bevor sie Eingang in die Justiz gefunden haben, mussten die alten dominierenden Interaktionsformen herauswachsen. Und außerdem veränderten sich auch die Rahmenbedingungen. Der Einfluss des Gesetzgebers, der seinerseits in hohem Maße von den kulturellen Veränderungen und Strömungen abhängig ist, macht sich in modifizierten Prozessordnungen geltend, beispielsweise in den gesteigerten richterlichen Hinweispflichten der ZPO-Reform 2002 (§ 139 IV ZPO n. F.).
3.4.4
Der ›Unberührbare‹
Mit der Forderung professionellen Handelns und der Verbannung eigener persönlicher Gefühle, die als neutrale Distanz im Richterleitbild gefordert sind (siehe Abschnitt 1.2.1) und wie sie beim ›Radbruchianer‹ mit Bauchweh vorkamen (siehe Abschnitt 3.3.2), kommt für den Umgang mit den Parteien ein Typus zustande, der als ›Unberührbarer‹ bezeichnet wird. Er ist auch als Abwehrstrategie gegen die emotionale Verstricktheit der Parteien (Naturparteien) genutzt, um sich selbst zu schützen, und kann deswegen als Gegentypus zum ›Zugewandten-Richter‹ verstanden werden. In der folgenden Analyse eines längeren Interviewstücks wird deutlich, wie ein ›Herr des Verfahrens‹ in typischer Weise die richtige Durchführung der Technik im Sinne des ›lege artis‹ (als Ausdruck von Gerechtigkeit) vor alle anderen Dinge stellt. Diese dem ›Richtigtechniker‹ (siehe Abschnitt 3.3.1) zuordenbare Stelle enthält aber darüber hinaus und damit zusammenhängend Aspekte des ›Unberührbaren‹, auf die hier besonders eingegangen werden soll: I: In in wieweit, ne ganz andere Dimension noch mal, inwieweit ehm nimmt sie das Schicksal der Personen (-), die- über die Sie Urteile fällen ehm (-), ja, mit? R: Ja, das is also so ne Frage, die die stellt sich ja so ähnlich wie bei Ärzten, ne. [A: Ja,] (-) Eh. Das geht eigentlich- in aller Regel geht das an einem vorbei, nich. Und ich mein, is ja in den- hier in den normalen (-) eh Zivilsenat, da is auch eigentlich kaum so, dass das da Anlass besteht zu besonderer Betroffenheit. [I: Mhm, mhm.] Das is vielleicht im Strafsenat oder 103 Für den deutschen Strafprozess wird dies auch bei Machura (2001: 89 f.) diskutiert.
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auch im Familiensenat, wenn das da um Kinder geht, ne Sorgerechtsentscheidung und so was [I: Mhm], da ist das schon eher vielleicht so, dass einen das persönlich berührt, nich. Aber ssss so'n Grundstücksstreit, nich, eh was soll da mich persönlich eh berühren, nich? Auch wenn das die Leute Geld kostet, eh, aber wenn's den Richtigen trifft, (das is so-) A: Da sind nich so die (-) hohen Werte betroffen? R: Ja, die hohen Werte alleine eh, die die berühren uns ja auch nich, ne. Au- auch wenn dann ne A: Also jetzt nicht die Streitwerte- Entschuldigung, nicht die Streitwerte, sondern die moralischen WerteR: Ach, so, ja, ja. Die kommen- also ham wir eigentlich wenig mit zu tun hier. Also insofern ist das also I: Ja, höchstens mit mit Gerechtigkeit? R: Ja, ja, das hab ich ja schon gesagt. Ja, natürlich, ja, ja, klar. I: Wenn's den Richtigen trifft, dann? R: Ja, ja, schon. Eh, ((Lachen)) ja, aber- a- also, ich meine, wir versuchen ja, das Urteil eh eh lege artis zu machen und eh dabei auch eh der materiellen Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. Versuchen wir ja auch, aber da- lege artis heißt natürlich, dass wir oft auch eh so entscheiden müssen, wie die Spielregeln laufen, wenn man sich kein genaues Bild von den Tatsachen machen kann, nich. Wir müssen also oft auf einer (-) nicht sicheren Tatsachengrundlage entscheiden und da gibt es eben bestimmte Regeln dafür wie man dann entscheidet, wenn die Tatsachengrundlage nich sicher is, ne. I: Und da kann man sich auch immer gut dran halten? Die funktioniert einigermaßen? R: Ja. Ja. Ja, ja. Und insofern ham wir also hier keine großen Schwierigkeiten, dass eh [I: Mhm, mhm.] (-) dass wir uns mit dem Schicksal der Parteien noch befassen müssen oder so was, nich. I: Sie waren ja auch mal im Familiensenat?! [R: Ja. Ja.] (Da hat man- (-) is es stärker?) R: Da is es da is es eh anders natürlich, klar. Da sind die Leute also auch anders betroffen, nich, also in der Zeit als ich da war, da sind ja in der Bundesrepublik glaube ich drei Familienrichter eh umgebracht worden, nich. [A: Oh, Gott. ] ((Gestammel)) Ja, die Leute sin- da gehen die Leute ganz anders eh ran, nich. Ich hab also auch einmal eh hier nen Akten-ehstand, dass der in der ersten Instanz mit nem Messer angekommen war, die eine Pat-, der der Mann, nich. [I: Ge-] Da hab- da hab ich also auch Alarm geschlagen hier im Hause, wurde da also Eingangskontrolle verstärkt und im eh Sitzungssaal Wachtmeisterrunde aufgebaut, nich, eh damit da nichts passiert. [I: Mhm.] Und eh entsprechend engagiert gehen die da zur Sache und insbesondere, wenn's also um (-) Sorgerechtsentscheidungen geht. [D4:19 und D4:49] Das Schicksal der Parteien nimmt den Richter nicht mit, das geht »an einem vorbei«, und er vergleicht dies strukturell mit den Ärzten. Ein wichtiger Punkt scheint ihm dabei die Art der Gerichtsbarkeit zu sein. Er geht davon aus, dass in einem Zivilsenat kein »Anlass besteht zur besonderen Betroffenheit« im Gegensatz zur Strafgerichtsbarkeit oder etwa zu Familiensachen, wo es um Sorgerechtsentscheidungen
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
von Kindern geht (vgl. auch die Unterscheidung ›harter Richter‹- und ›weicher Richter‹-Typus bei der ›Gerichtsbarkeit‹ Abschnitt 3.2.1). Was soll ihn bei einem Grundstücksstreit – oder wenn es um Geld geht, so fragt er rhetorisch zurück –, was soll ihn dabei »persönlich berühren«, und jetzt kommt eine interessante Einlassung: »wenn‘s den Richtigen trifft«. Zurückgefragt, was das denn bedeute, antwortet er als typischer ›Richtigtechniker‹. Da oft auf unsicherer Tatsachengrundlage gearbeitet werden muss, muss er sich an Spielregeln (ZPO) halten, nach denen er ›lege artis‹ das Urteil zu machen und »dabei auch eh der materiellen Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen« versucht. Die Gewichtung dieser Anteile, das »dabei auch« bezüglich der Gerechtigkeit, ist als Beiwerk, als nachrangig zu erkennen oder sogar als glückliche gern genommene Folge der methodisch korrekten Durchführung. Man könnte es auch in die Richtung deuten, dass der Richter davon ausgeht, dass im Rahmen der technisch richtigen Durchführung, der materiellen Gerechtigkeit automatisch oder in relativ zwingender Folge »zum Siege« verholfen wird. Das wäre ein methodeninhärentes Vertrauen, wie es der ›Methodenmonist‹ in sich trägt. Alle diese Deutungen stellen ihn als ›Richtigtechniker‹ dar, der aufgrund des Primats der Spielregeln und der technisch durchführbaren Abläufe von seinem Vorgehen derart überzeugt ist, dass sich die Frage, sich mit dem Schicksal der Parteien auseinanderzusetzen, gar nicht stellt. ›Richtigtechniker‹, so könnte man formulieren, bieten einen idealen Grundstock für den ›Unberührbaren‹. Der ›Unberührbare‹ empfindet es fast als abwegig, sich sozusagen entgegen der richterlich geforderten Distanz und Neutralität und obwohl man im Sinne des ›Richtigtechnikers‹ über die Einhaltung der Spielregeln die Gerechtigkeit herstellt, sich »mit dem Schicksal der Parteien noch befassen [zu] müssen oder so was«. Auf die Nachfrage des Interviewers, wie es denn bei den vom Richter ins Spiel gebrachten Familiensachen aussieht – der Richter hatte zuvor erwähnt, dass er einmal einen Familiensenat hatte –, kommt eine eigentümliche Wende, die wiederum typisch für den ›Unberührbaren‹ ist: Statt auf die mögliche Beschäftigung seinerseits mit dem Schicksal der einen oder anderen Partei einzugehen – die Frage stand ja im Raum – geht er davon aus, dass die Parteien selbst derart betroffen sind, dass ihre Aktivitäten ihn selbst betreffen, was sich jedoch nicht als Hinwendung zum Schicksal der Parteien interpretieren lässt. Die Tatsache, dass die Parteien im Sorgerechtsstreit emotional bewegt sind, hat Auswirkung auf die eigene Sicherheit des Richters, weil sich die Parteien derart engagieren, dass es (in den Jahren damals, als er im Familiensenat war) sogar zu Richtermorden kam. Als unser Richter aus der Aktenlage ersieht, dass ein Mann in der ersten Instanz ein Messer in die Verhandlung brachte, ist er selbst in der Weise betroffen, dass er sich Sorgen um sich selbst, nicht aber um die Parteien macht. Dann wurde »Alarm geschlagen« und eine »Wachtmeisterrunde aufgebaut«, zur Sicherheit des eigenen richterlichen Wohles. Die etwas pointierte Darstellung sollte den Zweck haben zu zeigen, dass es selbst in diesen Fällen nicht um eine persönliche Betroffenheit bezüglich des anderen geht, sondern
›Antriebs‹-Dimensionen
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um diejenige bezüglich seiner selbst (seine Sicherheit). Die Wachtmeisterrunde« aufbauen ist für den ›Unberührbaren‹ die Lösung des Handlungsproblems, welches sich aus der emotionalen Verstricktheit der Parteien ergibt. Der ›Unberührbare‹, der den allzu engen emotionalen Kontakt zu den Parteien als nicht der Gerechtigkeit dienlich ansieht, findet sich möglicherweise eher – wie der ›Akademiker‹ – in den oberen Gerichtsebenen. Eine prägnante Selbsttypisierung dafür bringt folgender Richter am Oberlandesgericht hervor: »im Amtsgericht sind sie ja mit auch mit Leuten, die gar nicht durch Anwälte vertreten sind, [A: Ja.] Proleten und was weiß ich, sind sie ja zusammen und die rücken ihnen auf die Pelle, das ist also schrecklich und eh (-) kennen nicht die Distanz, die wir hier so schön angenehm haben, ohne dass wir dass ich das jetzt als kalte Distanz bezeichne.« [D5:32] Die Distanz, die zwar nicht kalt ist, aber deutlich zum Ausdruck gebracht wird, wird von diesem Richter als »schön angenehm« beschrieben. Er stellt sie dem »schrecklichen« Umstand gegenüber, dass man am Amtsgericht mit »Proleten« zusammen ist, die einem »auf die Pelle« rücken. Während wir bei der Wachtmeisterrunde noch eine Gefahr als Begründung für die Abwehr angenommen hatten, liegt hier die Motivation nur noch im »Genervtsein« des Richters von den »Proleten«. Der ›Unberührbare‹ zeigt durchaus Züge einer mitunter schicht-, bildungs- oder berufsstatusspezifischen Arroganz. Dem Richter aus alten Tagen wurde dies eher noch zugesprochen als heute (siehe ›Service-Richter‹-Typus D 5:28)104. Unter dem Aspekt der ›Gerichtskultur‹ (siehe Abschnitt 3.2.4) wurde die innenarchitektonische Markierung der Distanzen behandelt, die – besonders an höheren Gerichten – für die konkrete Verhandlungssituation einen klaren Rahmen von oben Richter und unten Parteien vorgibt.
104 Sehr aufschlussreich hierzu ist die ambivalente Haltung des Richters D5, der sowohl ServiceRichter-Anteile hat (begründet durch Ablehnung zu der Haltung der ganz alten Richter, bei denen er noch gelernt hatte) als auch Unberührbaren-Anteile (hier in dem Zitat, in dem er die angenehme Distanz beschreibt). Diese in einer Person befindlichen Anteile des Alten und des Neuen (im Sinne der These des Generationenwechsels, siehe beim Service-Richter) sind typisch für diese Umbrüche. Der pensionierten Richter am Oberlandesgericht D5 steht stellvertretend für die Mittlergeneration (das sind die jetzt alten Richter), die noch das ganz Alte kennen (ihre Ausbilder) und schon mit dem ganz Neuen (die heutigen jungen Richter) die alltägliche richterliche Praxis zu bewältigen haben.
232 3.4.5
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Der ›Befangene‹
Diesen spektakulären Titel zu verwenden, hat zugegebenermaßen einige Überwindung gekostet. Zu sehr wird gerade bei einer solchen Benennung nach einer realen Person dieses Typus gesucht und zu wenig die sozialwissenschaftliche Heuristik eines Idealtypus beachtet. Zudem steht die Nähe zum rechtlichen Begriff der ›Befangenheit‹ (§§ 42 ZPO, 24 StPO) etwas im Wege, die hier weiter gefasste Konnotation zu vermitteln. Dennoch – oder mit der Mühe der Differenzierung gerade deshalb – trifft diese Begriffswahl den Teil der ›Antriebs‹-Dimensionen, der den Bereich menschlicher Verstrickungen ins soziale Umfeld und bedenkliche psychische Domänen dokumentiert. In diesem Abschnitt wird der Aspekt der Befangenheit betrachtet, der sich aufgrund von persönlichen Motivationen rekonstruieren lässt, die nicht den anderen Dimensionen zuordenbar sind. Das heißt zum Beispiel, es findet keine Betrachtung statt, die das Handwerkliche in der Folge von Befangenheiten in den Blick nimmt, wie es bei einem ›Judizler‹ aus Gerechtigkeitsgründen stattfinden könnte – was in der Rechtsprechung dann zur Rechtsbeugung werden kann. Hier geht es vielmehr um Befangenheiten direkter persönlicher Befriedigungen und Vorteilsnahmen, die zulasten einer Partei gehen (können). Die privaten Interessen des ›Befangenen‹-Typus zeigen sich in der persönlichen Instrumentalisierung der eigenen Position zur Befriedigung von emotionalen Stimmungen, krankhaften Störungen oder Abhängigkeiten. Das alles sind Themen, die oft entweder ungern gesehen werden (vonseiten der Justiz) oder zum überbordenden Rundumschlag auf die gesamte Justiz verwendet werden (vonseiten der Geschädigten). Hier sollen weder die Augen vor menschlichen Unzulänglichkeiten verschlossen werden noch aufregendes Material für persönliche Rachefeldzüge geliefert werden. Das rein wissenschaftliche Anliegen, Selbsttypisierungen von Richtern eng gekoppelt an ihre tägliche Arbeit aus einer breit aufgestellten Empirie zu gewinnen, trifft auf solche Fälle oder die explizite Abgrenzung von ihnen. Weder sind hier Aussagen möglich, in welcher Quantität diese existieren, noch, wie sich eine solche Quantität gegenüber dem gesellschaftlichen Durchschnitt solcher Verfehlungen in den Berufen allgemein verhält. Die genannte Aufstellung charakteristischer Merkmale des ›Befangenen‹Typus soll im Folgenden anhand empirischen Materials nachvollzogen werden. Dabei wird die Grenze der bisherigen Daten überschritten: Dokumentierte Fälle in Textform – wie Stellungnahmen oder Urteile – sind hier leitend, auch die in den Feldaufenthalten gewonnenen vertraulichen Erzählungen. Aufgrund der Brisanz dieses Themas wird nur in wenigen Fällen Interviewmaterial herangezogen.
›Antriebs‹-Dimensionen
3.4.5.1
233
Emotionale Stimmungen
Das Ausleben emotionaler Stimmungen, in Form von Instrumentalisierung der eigenen Machtmöglichkeiten zulasten einer Partei, ist der charakteristischste Befund des ›Befangenen‹-Typus. Wenn ein solches Ausleben zur Gewohnheit und nicht zur seltenen Ausnahme des Berufsalltages gehört und sich die benachteiligten Parteien etwa durch Befangenheitsanträge des Öfteren wehren, dann kann es mitunter Konsequenzen geben. Hier wird nicht in Abrede gestellt, dass Befangenheitsanträge auch ganz andere Ursachen haben können. Insbesondere sind damit die Befangenheitsanträge gemeint, von denen die Richter sagen, dass sie der Herauszögerung des Verfahrens dienen. In unseren Forschungen erlebten wir einen Fall, bei dem ein Strafrichter von seinem Dienst suspendiert wurde. Kennzeichnend in seiner Verhandlungsführung war ein sehr barscher Umgangston, »abbügeln« oder nicht zu Wort kommen lassen der anderen Beteiligten und deutlich herabwürdigende und stigmatisierende Äußerungen über die Angeklagten. In einem anderen Fall, der im Folgenden anhand schriftlichen Materials analysiert werden soll, ging es um eine alltäglichere emotionale Stimmung, das »Gernervtsein«, welche aber zu einer Handhabung des Falles zuungunsten einer Partei führte. In der Stellungnahme des Richters zu dem darauffolgenden Befangenheitsantrag schreibt er bezüglich seiner Verkündung des Versäumnisurteils: »Soweit der Beklagte mir vorwirft, auf seine Terminsverlegung nicht geantwortet zu haben, so ist das richtig. Ein Termin bleibt solange bestehen, solange er nicht aufgehoben wurde. Soweit der Beklagte mir vorwirft, ich hätte ihm geraten, sich einen anderen Anwalt zu suchen, so ist das blanker Unsinn.« [Richterdatenbank 2006]
In seinem ersten Satz bestätigt der Richter, dass er auf den Terminverlegungswunsch der Partei nicht eingegangen ist, und erklärt hernach im zweiten Satz, dass damit der Termin automatisch bestehen bleibt. Die nächste Behauptung des Beklagten weist er von sich, jedoch in einem Ton, der im Gegensatz zum vorherigen Stil auffallend ist. War zuvor noch sachlich argumentiert worden, so hätte man an dieser Stelle etwa folgendes erwartet: »… so ist das nicht richtig.« Stattdessen schreibt der Richter »… so ist das blanker Unsinn« und offenbart hiermit erstmals, dass seine emotionale Stimmung zu diesem Fall nicht als sachlich neutral zu bezeichnen ist. Dieser Durchbruch durch die übliche formale Handhabung in einem Schriftstück, welcher zeitlich und räumlich einiges entfernt von dem bisherigen Kommunikationsablauf (der ohnehin nur schriftlich stattgefunden hat) war, verdeutlicht eine zähe emotionale Verstrickung in den Fall. In der »Hitze« einer aufgeregten Verhandlung mögen Emotionen auf allen Seiten mitspielen, die aber in der »Kühle« des Büros am schriftlichen Werk rasch vergehen. Doch hier scheint eine nachhaltigere Verstörung vorhanden zu sein, die sich den Weg in das Schriftstück bahnt. Die Fortführung der richterlichen Stellungnahme soll im Detail analysiert werden:
234
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
»Der einzige Vorwurf, der mich trifft, ist, dass ich im Verfahren [Aktenzeichen] im Termin am [Datum] verhandelt und ein Versäumnisurteil verkündet habe. Hier handelt es sich um einen Fehler, genervt durch das schriftliche Verhalten des Beklagten und seines Rechtsbeistandes [Name des Anwaltes].« [Richterdatenbank 2006]
»Der einzige Vorwurf, der mich trifft,« - Die Verwendung von »einzige« hat etwas Abschwächendes, Abmilderndes, Einschränkendes bezüglich der gesamten Vorwürfe. Die zwei genannten Vorwürfe vorher »treffen« ihn nicht, obwohl einer davon ja »richtig« war. Es gibt demnach eine Unterscheidung zwischen einem richtigen Vorwurf und einem Vorwurf, der trifft. Letzterer ist sozusagen noch eine Steigerung, es steht nicht »betrifft« oder »zutrifft«, sondern eben »trifft«, das ist stärker, persönlicher formuliert. Zum Bildlichen vom Vorwurf kommt hinzu, dass das »Vorgeworfene« jetzt auch »trifft«, das ist hart, unerwartet plötzlich, es ist keine harmlose Berührung. Gleichsam wird eine Spannung aufgebaut, es bezieht sich auf etwas, was noch nicht genannt ist. »ist, dass ich im Verfahren [Aktenzeichen] im Termin am [Datum]« - Nun wird sehr spezifiziert, der treffende Vorwurf ist nur in diesem einen Verfahren zu finden und sogar nur in diesem einen Termin, dadurch wird getrichtert, verengt, weiter eingegrenzt. Es ist nicht nur der einzige Vorwurf, sondern dieser bezieht sich auch nur auf einen Zeitpunkt. Das relativiert, weil es nicht ein konstantes Verhalten ist, sondern singulär. Durch diese Spezifizierung des Einzigen, was trifft, kann der Richter die anderen Verfehlungen oder Angriffe auf ihn, von denen ja einer »richtig« war, weiter abmildern. Interessant ist das eindeutig Konkrete an dieser Nennung, es wird nicht geflüchtet oder schwammig gemacht, sondern ganz punktuell der Zeitpunkt genannt, an dem ein treffender Vorwurf möglich ist. Diese für Richter typische exakte Nennung von Tatsachen bringt ihm den Vorteil, etwaige Anschuldigungen, die auf ein stetiges Verhalten oder gar charakterliche Neigungen schließen lassen könnten, zu entkräften. »verhandelt und ein Versäumnisurteil verkündet habe.« - Der ihn treffende Vorwurf wird nun beim Namen genannt: Er hat verhandelt und ein Versäumnisurteil verkündet. Das ist für sich genommen kein »treffender« Vorwurf. Auch die Aussage von weiter oben, dass der Termin, wenn er ihn nicht aufhebt, bestehen bleibt, stützt die Annahme, dass das Verhandeln und Versäumnisurteil-Erlassen der normale prozessrechtlich geforderte Ablauf des Falles war. Faktisch skizziert der Richter hier folglich einen Verfahrensablauf, wie er üblich, normal und nicht zu beanstanden ist. Gleichzeitig gibt er aber zu, dass das ein Vorwurf ist, der ihn trifft. Erst durch die Zunahme des ganz eingangs erwähnten Vorwurfs, der »richtig« ist, dass er nicht auf die Terminverlegung geantwortet hätte, eröffnet sich eine vage Möglichkeit, dass der ganz normale Ablauf mit sehr problematischen Randbedingungen durchgeführt wurde. »Hier handelt es sich um einen Fehler,« Das textdeiktische »hier« schafft den Anschluss an den genannten, ihn treffenden Vorwurf und verbindet ihn mit der
›Antriebs‹-Dimensionen
235
Zuweisung als »Fehler«. Es ist eine objektive Bestimmung, keine subjektive Einschätzung, die er vornimmt. In seltsamer Ambivalenz wird der Fehler zwar dadurch objektiviert, gleichzeitig entsteht aber eine sprachliche Distanzierung vom Fehler, denn der Richter nennt den Urheber nicht beim Namen. Er schreibt nicht »ich habe einen Fehler gemacht«, sondern hier »handelt es sich um einen Fehler«. Der oben geschilderte Vorgang war bisher nicht fehlerhaft, ein Fehler setzt eine Norm voraus, die verletzt wurde, weder wurde eine solche hier genannt noch deren Einforderung. Nun plötzlich aber schreibt der Richter, dass es ein Fehler war. Das erstaunt zunächst, da die bisherige Schilderung des Falles keinen Fehler zu beinhalten schien. Der argumentative Ablauf bisher ist folgender: Vorwurf 1: Nichtanworten auf Terminverlegung Erwiderung 1: ist richtig Erwiderung 2: Termin bleibt bestehen (rechtliche Deutung was die prozessrechtliche Gültigkeit des Termins angeht und ein Versuch, die (damalige) Deutung zu erklären) Vorwurf 2: Neuen Anwalt nehmen Erwiderung: blanker Unsinn Vorwurf 3: Verhandelt und Versäumnisurteil erlassen Erwiderung 1: einziger Vorwurf der trifft Erwiderung 2: handelt sich um Fehler (hier wird nun darauf eingegangen, dass die zuerst angebrachte Deutung (Vorwurf1, Erwiderung2) nicht richtig ist, d. h. der Termin prozessrechtlich nicht gültig ist und er das anerkennt) Der Richter gibt also nun einen Fehler zu, dessen Ursprünge schon in dem ersten Vorwurf auftauchten, dort aber nur auf sein Nichtantworten bezogen wurde, nicht auf den inhaltlichen Anspruch (der in dem Vorliegen erheblicher Gründe nach § 227 ZPO gelegen haben muss). Die etwas undurchsichtige Argumentation verläuft folglich bisher so, dass er von mehreren Vorwürfen, die sich vermutlich auch noch auf das ganze Verfahren beziehen, nur eine einzige punktuelle Verfehlung anerkennen will. Gleichsam lässt es sich nur mit einer merkwürdigen Verdrehung bewerkstelligen, dass die Ursache des Fehlers schon weiter im Vorfeld ihren Ausgangspunkt hat. Es ist aber gerade dadurch ein typischer juristischer Streittext, der durch seine klare Direktheit auf der einen Seite die Gewundenheit der Argumentation auf der anderen Seite zu legitimieren sucht. »genervt durch das schriftliche Verhalten des Beklagten und seines Rechtsbeistandes [Name des Anwaltes].« - Das »genervt«, als Ausdruck einer höchst emotionalen Komponente, kommt sehr plötzlich und unerwartet, ähnlich dem »blanken Unsinn« von weiter oben. Es ist ein Stilwechsel, ein Stilbruch. Erwarten können hätte man einen Relativsatz in der Art: »… der nicht vermieden werden konnte.« Hier fällt der Richter zum zweiten Mal aus seiner Rolle, seine emotionale Stimmung durchbricht die Oberfläche des formalisierten Schreibstils. Grammati-
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
kalisch betrachtet bezieht sich das »genervt« auf den Fehler, nicht auf seine Person. Diese Irritation, die auch schon in der Verobjektivierung des Fehlers anklang, zeigt sprachlich den erwünschten Abstand zu diesen Problemen auf und in Verbindung mit den emotionalen Durchbrüchen den Wechsel von Distanz und Nähe. Ein Schriftwechsel im Vorfeld wird selten als »schriftliches Verhalten« charakterisiert, es überhaupt zur Sprache zu bringen, muss etwas bedeuten, sonst ist es nicht der Rede wert. Das Schriftliche im Vorfeld wird erst zu einem »schriftlichen Verhalten«, wenn dort etwa persönliche Angriffe oder andere Dinge, die nichts mit der Sache zu tun haben, ausgetragen werden. In seiner Rolle als Richter darf er sich nicht »nerven« lassen, deshalb werden die, wie auch immer persönlichen Inhalte schlicht mit dem Code »schriftliches Verhalten« markiert, welches ihn nicht weiter zu interessieren hat. Kurz nach dem emotionalen Ausbruch »genervt« kehrt der Richter zu seinem Schreibstil, das heißt zur rollengerechten Distanz zurück und betitelt die Kommunikation des Schriftlichem im Vorfeld als »schriftliches Verhalten«. Die Tatsache, dass der Beklagte anonym ist, der Rechtsbeistand aber einen Namen hat, lässt in Verbindung mit dem Vorwurf 2 darauf schließen, dass das Verhältnis vom Richter zu dem benannten Anwalt auch über diesen Fall hinaus problematisch ist. Die emotionale Komponente, die hier für das Fehlverhalten des Richters verantwortlich zu sein scheint, hat demnach möglicherweise eine Geschichte, die an einen spezifischen Interaktionspartner gekoppelt ist. Der Richter hat sich durch den schriftlichen Vorverkehr mit dem Anwalt auf eine Reziprozitätsebene ziehen lassen, die er aufgrund seiner professionellen Rolle nicht hätte einnehmen dürfen, und damit einen Fehler gemacht. Das vermutlich unpassende Verhalten der einen Partei hätte Anlass zu einer Distanzierung geben müssen, verleitete ihn aber zum Missbrauch und zur Überschreitung seiner Befugnisse. In seiner schnellen und effizienten Sprache, die auf den Punkt kommt, kennzeichnet er einen korrekt erscheinenden Verfahrensablauf als Fehler, der durch eine emotionale Verstimmung aufgrund des Kommunikationsstils der Partei zustande kam. Eine subjektive Betroffenheit über den Fehler ist genauso wenig erkennbar wie ein Vorwurf, der ihn wirklich angeht, er schreibt eine Rechtfertigung, keine Entschuldigung. Das »genervt« und der »blanke Unsinn« sind die zentralen Worte für unsere Interpretation hinsichtlich der emotionalen Komponente. Diese, sogar in der schriftlichen Stellungnahme zu einem Befangenheitsantrag explizit genannten, Ausdrücke emotionaler Verstricktheit ergeben in der Kombination mit dem sachlich distanzierten, knappen und präzis erscheinenden Stil richterlicher Argumentation ein typisches Bild des richterlichen ›Befangenen‹-Typus. Eine solche Emotionalität tritt zugegeben nur selten derart offen zutage. Es besteht Grund zur Annahme, dass in manchen Entscheidungen von Richtern aber eine – all zu menschliche – Emotionalität verborgen liegt, die nur schwer
›Antriebs‹-Dimensionen
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rekonstruierbar ist, aber dem Leser dennoch auffällt. Bemerken wird dies in einem solchen Fall die »benachteiligte« Partei, die sich, sofern sie es tut, durchaus auch erfolgreich dagegen wehren kann. Unter dem juristischen Konzept der »Verhältnismäßigkeit der Mittel« können sich interessante Streitigkeiten verstecken, die einen Einblick in gut verborgene emotionale Beweggründe von Richtern bieten. Siehe hierzu beispielhaft auch den Fall zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Oktober 2006 – 2 BvR 473/06 – »Rüffel für rüden Richter«. 3.4.5.2
Krankhafte Störungen
Zu den krankhaften Störungen, die wie jeden Menschen auch den Richter befallen können, gehören u. a. Ängste, Narzissmus oder Sadismus. In unseren Forschungen kam aber weder eine psychiatrische Diagnostik dahingehend zum Einsatz noch wurden aus dem sozialwissenschaftlich vorgeprägten Alltagsverständnis heraus Hinweise für solche Störungen entdeckt. Anschlussstellen zu anderen Typen hingegen sind vorhanden. Richter, die im Verlauf ihres Berufslebens eine Sozialphobie entwickeln, haben es grundsätzlich nicht leicht in einem Amt, welches den auf Rechtsfrieden abzielenden Umgang mit streitbaren Parteien als ein zentrales Element der dritten Gewalt zu etablieren hat. Doch kommt der Umstand, dass die gelebte Verhandlung im Termin mit Anwesenheit der Parteien dem ökonomischen Paradigma der Verfahrensbeschleunigung und -vergünstigung mehr und mehr zum Opfer fällt, einem Verfahren entgegen, welches sich vermehrt auf schriftliche Abwicklung verlegt (siehe auch Auswirkungen der letzten ZPO-Reform). Eine solche Tendenz wiederum gibt Neigungen von Richtern, die eine oder andere Partei dann doch lieber nicht sehen zu wollen, ein legitimes Mittel an die Hand. Ob dabei im psychiatrischen Sinne auch Sozialphobien diagnostizierbar sind, kann hier generell nicht beurteilt werden. Empirisch feststellbar war hingegen ein Typus, der sich als Anschlussstelle zu der hier behandelten Thematik eignet. Dieser Typus, der ›Unberührbare‹ (siehe Abschnitt 3.4.4), spezialisiert sich auf den ›Soll-Modus‹ der Neutralität und Distanz und bevorzugt schriftliche Verfahren. Ob Narzissmus oder Sadismus eine empirisch feststellbare Größe im richterlichen Handeln ausmacht, kann ebenfalls nicht beantwortet werden (siehe auch Rottleuthner 1973: 139). Der Sadist könnte bei der Unterscheidung des Typus ›harter Richter‹ als Strafrichter im Gegensatz zum ›weichen Richter‹ als Zivilrichter (siehe Abschnitt 3.2.1) eine Anschlussstelle haben.
238 3.4.5.3
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Abhängigkeiten
Ähnlich den emotionalen Stimmungen sind die Abhängigkeiten ein starker Faktor zur Typisierung als ›Befangener‹. Hierzu gehören Familienzugehörigkeiten und Vetternwirtschaft, aber auch mögliche Hörigkeiten und Süchte. Familienzugehörigkeiten von Richtern und betroffenen Parteien sind ein heikler Fall und aus weisem Grunde schon grundsätzlich durch die Prozessordnungen behandelt (z. B. ZPO § 41). Trotzdem kommt es immer wieder zu Konflikten, die einen Richter in die Versuchung der Vor- oder Nachteilsnahme der eigenen Familie bringen. So geschehen bei dem »Erdbeerfest-Fall«, bei dem ein Richter einen Fall bezüglich seiner Tochter annahm und auch noch ihrem Vorteil gemäß behandelte (BGH 2 StR 276/00 - Urteil v. 20. September 2000 (LG Wiesbaden)). Ähnlich verhält es sich mit der Vetternwirtschaft, zu der Hilfe für enge Freunde zählt. Hierzu liegen uns Erzählungen aus der eigenen Feldforschung vor, in denen ein Richter unumwunden zugab (»Das war schon Rechtsbeugung!«), einen Freund aus der Patsche geholt zu haben und das mit nicht korrekten Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Die Bereiche von Hörigkeit und Süchten sind uns empirisch nicht in Erscheinung getreten, ausschließen kann man sie hingegen deshalb noch nicht. Bereicherung, ein ebenfalls theoretisch zu diesem Typus gehörendes Merkmal, ist in seinem Gegenpol, der abgelehnten Bereicherung aufgefallen. Ein nicht geglückter Versuch des Geldanbietens durch einen Prozessbeteiligten wurde von einem Verwaltungsrichter berichtet. In – aus seiner Sicht unglaublich unverfrorener Weise – wurde ihm durch Prozessbeteiligte direkt ein Umschlag mit einer Menge Bargeld angeboten, um den Fall damit zu erledigen. Letztlich war dies für ihn nur erklärbar aufgrund der Zugehörigkeit der Prozessbeteiligten zu einer anderen Kultur. Offensichtlich werden solche Versuche der Bestechung unternommen, ähnlich derer von Drohungen, Einschüchterungen oder Erpressungen. Von einem Einschüchterungsversuch berichtete ein Richter, der hinsichtlich eines Falles mit rechtsradikalem Hintergrund als »Warnung« seine Autoreifen aufgeschlitzt bekam. Dass solcherart Versuche einen Richter dann in irgendeiner Form zu beeinflussen gelingen, ist zwar denkbar; in den genannten Fällen wurde aber darauf Wert gelegt, dass sich die Richter nicht beeindrucken ließen. Nicht konkrete Bedrohungen, die aber dennoch als eine latente Bedrohungslage wahrgenommen werden, führen zu einer erhöhten Sicherheitsbereitschaft. Dadurch kann eine stärkere Distanz zwischen Richtern und Beteiligten aufgebaut werden (siehe die Wachtmeisterrunde bei dem ›Unberührbaren‹-Typus Abschnitt 3.4.4). Der ›Befangene‹-Typus, so sollte gezeigt werden, hat durch die Verstrickung in private Interessen einen Rollenkonflikt zwischen Person und Amt, den er in der persönlichen Instrumentalisierung der eigenen Position zur Befriedigung von emotionalen Stimmungen, krankhaften Störungen oder Abhängigkeiten löst.
›Antriebs‹-Dimensionen
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Dass Richter darüber hinaus auch mit anderen »inneren« Problemen zu kämpfen haben können, wie jeder Mensch potentiell, ist mit diesem Typus nicht angesprochen. Aber selbst wenn ein Richter seine Probleme von der Arbeit trennen kann, er also in unserem Sinne nicht zum ›Befangenen‹-Typus zu zählen ist, können jene Probleme auf seinen Alltag massiven Einfluss ausüben. Dies ist der Fall, wenn er die Position des Richters im Sinne der ›Soll-Erwartung‹, was seine persönliche Integrität angeht, nicht mehr gewährleisten kann und zum Beispiel straffällig wird. Alle Verfehlungen dieses Typus, die nicht mit der Arbeit im Zusammenhang stehen, sind dennoch für die Arbeit insofern relevant, als dass sie zum Beispiel durch ein Disziplinarverfahren geahndet werden können. Schlimmstenfalls wird der Richter vom Dienst suspendiert oder frühzeitig in den Ruhestand versetzt. Jüngster Fall war der Verwaltungsgerichtspräsident von Kassel, der wegen Besitzes kinderpornographischer Materialien eine Bewährungsstrafe erhielt (FR vom 11.01.2007).
3.4.6
Weitere Motivation
Die weitere Motivation besagt, was den Richter neben den anderen genannten ›Antriebs‹-Dimensionen »innerlich« antreibt, für ihn eine Motivation darstellt, um dieses oder jenes in der Ausübung seines Berufes zu tun. Das bezieht sich nicht nur auf die kleinen Arbeitsschritte und konkreten Fallbearbeitungen, sondern auch auf die Entscheidungen, in welchen Bereichen der Richter sich einsetzen lässt. Die ›Antriebs‹-Dimension insgesamt ist sehr vielschichtig, und es ist davon auszugehen, dass insbesondere diese Typologie nicht abgeschlossen und somit unvollständig ist. Die meisten der hier genannten Typen stehen mit anderen dominanteren Dimensionen eng in Verbindung und sind dort eigenständig abgehandelt. Das liegt daran, dass die ›Antriebs‹-Dimension zwar zuordenbar, aus Sicht soziologisch rekonstruierter Selbsttypisierungen aber nicht dominant ist. Im Folgenden wird deshalb ein vollständiger Überblick gegeben, aber nur diejenigen Elemente (grau hinterlegt) ausgeführt, die nicht an anderer Stelle auftauchen oder bezüglich der Motivation einen völlig eigenständigen Charakter in den Daten aufweisen.
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
motivierender Aspekt Gerechtigkeit - formal (rechtlich richtig) - naturrechtlich (Gefühl) direkt
rechtlich interessant »gut sein« für den Bürger, etwas bewirken Eigenschutz Eigennutz Abwechslung/Vielfalt
›Antriebs‹Dimension (Motivation)
entsprechender Typus ›Methoden- und Gesetzesbezug‹Typen ›Akademiker‹ ›zugewandte Richter‹ der ›Unberührbare‹ der ›Befangene‹ Abwechsler
Unabhängigkeit/Freiheit indirekt
Aufwandminimierung Familie/Partnerschaft Wohnort/Heimat passiv: sozialstrukturelle Merkmale
›Unabhängiger‹ (als Gegentypus) Ökonomist Familialist Heimatler (zugeschriebene unabhängige Merkmale nach Rottleuthner)
Abbildung 15: Übersicht Typen der ›Antriebs‹-Dimensionen
Abwechsler, Ökonomist und Familialist/Heimatler sind die »schwachen« Typen der ›Antriebs‹-Dimension, die im Folgenden kurz behandelt werden. Sie sind von ihrer Bedeutung her eher vernachlässigbar, da sie sich als eigenständige Richtertypen nicht richtig generieren lassen. Am stärksten vertreten ist bei diesen schwachen Typen der Abwechsler. 3.4.6.1
Abwechsler
Eine abwechslungsreiche und interessante Tätigkeit auszuüben, ist nicht nur der Wunsch vieler Richter, sondern ein allgemeiner Wunsch. Steht manchmal heute noch oder schon wieder und stand früher im Vordergrund, überhaupt ein Aus-
›Antriebs‹-Dimensionen
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kommen zu haben, so hat sich bei gesicherter und sei es nur »gefühlter« Grundversorgung zudem der Wunsch oder gar Anspruch entwickelt, der sich mit der Ausgestaltung des Jobs selbst beschäftigt, so dass er den eigenen Wünschen besser entspricht. Dies wird mit einer generellen gesellschaftlichen Veränderung in Verbindung gebracht, die sich etwa in Begriffen wie der ›Multioptionsgesellschaft‹ ausdrückt (vgl. Gross 1994). Zu einer solchen Abwechslung gehört zum Beispiel, dass man in einem Spruchkörper mit unterschiedlicher Altersstruktur arbeitet, dass man zusätzlich eine Tätigkeit in der Ausbildung, im Prüfungsgeschäft oder als AG-Leiter ausübt [D4:40]. Auch die Tatsache, nur alleine entscheiden zu können, kann nicht etwa Grund zu Freude sein, wie dies beim ›Eigenen Herr‹-Typus als Einzelrichter der Fall ist (siehe Abschnitt 3.2.2), sondern kann durchaus zur Langeweile werden, so dass die Tätigkeit in einem Spruchkörper aus Gründen der Abwechslung und der Vielfalt präferiert wird [D5:39]. Ein Strafrichter berichtete davon, dass »die ganz große Palette von Maßnahmen« bei den Jugendsachen für ihn einen »Anreiz« dargestellt hat, dort wieder ein Dezernat zu übernehmen [D8:7]. Dies ist sicherlich auch ein Verweis auf die Motivation des ›zugewandten Richter‹-Typus, der auf diese Art mehr Möglichkeiten hat, etwas zu bewegen (siehe Abschnitt 3.4.3). Eine Motivation zu schaffen, ist ganz entscheidend, damit der Alltag nicht zur »reinen Routine wird« und man es »ganz schlimm den Tag« hat: Eine solcher »Reiz« liegt zum Beispiel darin, wenn man »den Ursprung des Gesetzes« nicht »aus dem Auge verliert« [D8:11]. Die Abwechslung und Vielfalt zu entdecken, entwickelt sich demnach zum Mittel gegen die Routine, gegen die Langeweile. Häufig wird die Motivation des Abwechsler-Typus als Grund für die bevorzugte Wahl von bestimmten Dezernaten innerhalb der Gerichtsstruktur genannt: »Wir sind ja Gott sei Dank nicht spezialisiert und man- machen so alles, was anfällt, was ich auch sehr schön finde, was auch die Vielfalt irgendwie ausmacht also (-) darum wollte ich auch immer lieber beim Amtsgericht sein als beim Landgericht, weil die spezialisieren sich ja doch dann auf auch viel auf Verkehrsunfälle, Bausachen (-) Ähnliches und deshalb fand ich das immer ganz schön.« [D23:9] Die Nichtspezialisierung der Amtsgerichte wird von dieser Richterin als ein Zeichen von Vielfalt angesehen, im Gegensatz zur Spezialisierung, wie sie häufig an Landgerichten vorgefunden wird. Diese Spezialisierung betrifft die Rechtsmaterie, die »Sachen«, wie Verkehrsunfälle, Bausachen etc. Eine »Vielfalt«, definiert durch solche Rechtssachen-Nichtspezialisierung, hat folglich einen ganz bestimmten Fokus. Wir sehen an den bisher genannten Beispielen, dass es eine recht individuelle Angelegenheit ist, was als Abwechslung empfunden wird und was nicht. So wurde von einem Richter geäußert, dass es abwechslungsreicher sei, im Kollegium zu sein, als alleine zu entscheiden. Von einer Richterin hören wir, dass sie lieber
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
alleine eine Vielfalt der Sachen hat, als sich arbeitsteilig mit Kollegen auf bestimmte Sachen zu spezialisieren. Dass sich das eine nicht immer mit dem anderen ausschließen muss, ist bei der Beschreibung der ›Basis‹-Dimension (sieh Abschnitt 3.2) deutlich geworden. Hier objektive Kriterien zu finden, was als vielfältig gilt und was nicht, ist kaum möglich, weil dies immer von den zugrunde liegenden Prämissen, dem Empfinden des einzelnen Richters, abhängt. Dimensionen der Zuschreibung von Vielfältigkeit oder Interessantheit sind dann teilweise in anderen Typen der Motivationen ausgefüllt: rechtlich interessant oder etwas bewirken können. Die Motivation Vielfalt ist keine charakteristische Eigenschaft von richterlicher Arbeit, sie ist ein generelles Element arbeitsbezogener Motivationen. Interessant hingegen könnten die Bezüge zu anderen Kategorien sein, so dass die Vielfalt durch gekoppeltes Auftreten mit anderen Typen das Bild dichter beschreiben kann. Doch hierauf näher einzugehen, sprengt den Rahmen dieser Arbeit. 3.4.6.2
Ökonomist
Der Ökonomist ist ein Typus, wie er (ebenfalls) in allen Berufen vorkommt. Bei ihm zeigt sich in den Selbsttypisierungen, dass er seine Arbeit möglichst schnell und effektiv, mehr oder minder gut (das hängt wiederum von anderen Faktoren ab), vom Tisch haben möchte. Einiges wurde schon bei der Darlegung der ›Anforderungen‹ aufgezeigt (siehe Abschnitt 3.2.3). Das Feld ist sehr vielfältig, aber die interessanten Ökonomisten sind diejenigen mit Kombinationen zu anderen Typen, wie etwa mit dem ›Richtigtechniker‹ (insbesondere ›Methodenmonisten‹) oder dem ›Judizler‹. 3.4.6.3
Familialist/Heimatler
Auch diese beiden Motivationen, die hier zusammengefasst sind, haben allgemeinen Charakter, der in keinem exklusiven oder zentralen Zusammenhang mit richterlicher Arbeit steht. Gemeint sind mit diesen Typen Richter, die sich ihren Beruf und seine Umstände explizit nach ihren familiären oder heimatlichen Umständen gestalten und dabei auch auf Karrierewege verzichten. Zeiten von Schwangerschaften und Kleinkinderbetreuung, Letzteres für beide Geschlechter, sind nicht selten Gründe dafür, dass ein passendes Dezernat trotz anderweitiger Aufstiegsmöglichkeiten »erst mal« behalten wird oder zu intensive oder schwer kalkulierbare Arbeitsaufgaben abgegeben werden. Dabei kommt es insbesondere bei den Frauen zu wechselseitiger Kooperation in Bezug auf die Vertretungen der Dezernate, was sich im Rahmen der ›Gerichtskultur‹ langfristig (positiv) auf die Kollegenschaft auswirkt.
Die ›Unabhängigkeit‹
3.4.6.4
243
Sozialstrukturelle Merkmale
Dieses, einst interessanteste und meisterforschte, Gebiet ist im Rahmen dieser Untersuchung nur von einer sehr nebensächlichen Bedeutung. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist die Hoffnung, mit solchen »einfachen« Messungen richterliches Entscheidungsverhalten auch nur annähernd erklären zu können, gescheitert (siehe Abschnitt 1.2.2.1). Das hat das Interesse der Rechtssoziologie an ihnen quasi zum Erliegen gebracht. Der Befund, dass wir unter Richtern eine andere Zusammensetzung sozialstruktureller Merkmale haben (vgl. Hartmann 2002) als in der Gesamtgesellschaft, bleibt davon unberührt und regt heute noch immer zu Spekulationen an, die wohl auch das damalige Interesse forcierten. Des Weiteren treten die sozialstrukturellen Merkmale durch die hier erhobenen Daten nicht in einen solchen Vordergrund, als dass sie bedeutenden Charakter gewinnen. Das gilt auch für die Geschlechtsdifferenzierung, die in empirischer Forschung hinsichtlich der Strafhärte durchaus relevant zu sein scheint (vgl. Drewniak 1994: 24; Drewniak 1995; allgemein Lucke 1996) – allerdings war der Fokus auch nicht explizit auf diese Unterscheidung gelegt worden, wie es für jene Untersuchungen der Fall war. Möglicherweise lassen sich Zusammenhänge sozialstruktureller Merkmale mit der Selbsttypisierung bezüglich richterlicher Arbeit erst auf quantitativem Messniveau herstellen. Das würde bedeuten, dass erst mit »Übersetzungsleistungen« und neuer quantitativ ausgelegter Forschung hierzu Aussagen getroffen werden könnten – nicht zum Entscheidungsverhalten, sondern zur quantitativen Verteilung der Typologie auf Richter und ihre sozialstrukturellen Merkmale.
3.5 Die ›Unabhängigkeit‹ Die ›Unabhängigkeit‹ hat sich in den Analysen als Schlüsselkategorie entwickelt, deren inhaltliche Ausgestaltung und Differenzierung in den Bereich jedes Richters hineinragt und sich, wenn man es so formulieren möchte, als das wesentliche identitätsstiftende Kriterium in den Selbsttypisierungen der Richter herausgestellt hat. Das kommt nicht vollkommen unerwartet: In den richterlichen Leitbildern (siehe Abschnitt 1.2.1) finden sich ebenfalls viele Äußerungen zur Zentralität der Unabhängigkeit, die nicht nur von Politikern oder anderen sich dazu berufen fühlenden Personen darüber, »wie Richter sein sollten« getätigt werden, sondern auch von Richtern selbst. Diese kontemplativen Sichtweisen von Richtern über Richter sind dort angedeutet, zeigen aber gleichsam die Verwobenheit von Selbsttypisierungen über Deutungsmuster zu Leitbildern, denn die Wissensbestände und Sprachangebote diesbezüglich schöpfen voneinander und gehen auseinander hervor. Im Folgenden soll versucht werden, die Bedeutungen und Verwendungs-
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
weisen der ›Unabhängigkeit‹ in den Selbsttypisierungen hinsichtlich des Praxisvollzuges näher zu untersuchen. Sich aus der zentralen Sinnkonfiguration der ›Unabhängigkeit‹ in den verschiedenen Dimensionen selbst typisierend, befähigt sich der Richter – und das ist im Sinne dieser Arbeit das zentrale Ergebnis – zu einem Selbstverständnis, welches die optimalen Voraussetzungen einerseits zu seinem praktisch alltäglichen Handlungsproblem – der ›Definition des Falles‹ – darstellt, andererseits für das allgemeine Spannungsverhältnis kollektiver Erwartungen und individueller Interessen bereitstellt. Die inkorporierten Aspekte dieser ›Unabhängigkeit‹ befördern einen hohen (subjektiven) Freiheitsgrad der Gestaltung beruflicher Praxis und werden zu einem positiven Motivationsfaktor, der darüber hinaus die grundsätzliche Arbeitszufriedenheit des Richters bedingt. Die ›Unabhängigkeit‹ wird ferner als ein in unterschiedlichen Nuancen interpretierter Wert grundsätzlich verteidigt und darin gleichsam »verwendet«, was sich in expliziten Konfliktlinien zeigt: als Entgegnung zum ›Karrieristen‹ (1) und bei Machtkämpfen zwischen Exekutive und Judikative (2), in kleinerem Rahmen auch gegenüber anderen Verfahrensbeteiligten (3). Der Richter mit seiner ›Unabhängigkeit‹ besitzt ein mehr oder minder bewusst eingesetztes fast unangreifbares Machtinstrument, was seine besondere Stelle im Machtgefüge der staatlichen Gewalten stützt wie auch überhaupt erst befähigt, seine vorgesehenen Aufgaben auf beachtlichem Niveau zu leisten.
3.5.1
Die ›Unabhängigkeit‹ – Antwort auf das Praxisproblem
Die richterliche ›Unabhängigkeit‹ hat sich im Sinne einer wesentlichen Selbsttypisierung aus dem unentrinnbaren Handlungsproblem der richterlichen Praxis entwickelt: einen vergangenen Fall der Lebenswelt (mindestens) zweier Akteure einer heutigen Lösung im Sinne einer ›Definition des Falles‹ (siehe Abschnitt 4.2.3) zuzuführen. Diese Lösung muss von mindestens der Profession und am besten noch den Akteuren als »gerecht« im normativ und logisch (rational) stark strukturierten Rahmen der Gesetze, der Rechtsprechung und des Verfahrens sowie im weitesten menschlich-lebensweltlich verstehbaren Sinn anerkannt und akzeptiert werden. Die ›Unabhängigkeit‹ nimmt dabei die Position eines mittelnden Instruments zwischen einerseits der technischen Illusion des ›Subsumtionsautomaten‹, andererseits des frei wirkenden ›Richterkönigs‹ ein. Sie ist damit nicht, wie man vordergründig meinen könnte, reines Zugpferd für den frei wirkenden ›Richterkönig‹ gegen den ›Subsumtionsautomaten‹. Denn der ›Subsumtionsautomat‹, bzw. der gesamte ›Richtigtechniker‹, kann sich durch die (Selbst-) Bindung an sein rationales Werkzeug gegenüber dem Anspruch, neben einer formalen Gerechtigkeit
Die ›Unabhängigkeit‹
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auch noch eine materielle herstellen zu müssen, gleichsam entbundener fühlen. Beide Typen befinden sich jedoch im Spannungsfeld, wenn auch je einem der Pole näher zugeneigt. Die ›Unabhängigkeit‹ nimmt in diesem Spannungsverhältnis die jeweilige Kraft ein, die den Richter von einer zu starken Bindung an den einen oder anderen Pol abhält – oder anders formuliert, mithilfe des richterlichen Selbstverständnisses der ›Unabhängigkeit‹ gelingt ihm in der Regel (Ausnahmen sind behandelt, siehe oben) die routinierte Distanzierung einer zu starken Identifikation mit einem der Pole. Die ›Unabhängigkeit‹ wird von allen Typen in mehr oder minder starker Form als ein Bestandteil ihrer Selbsttypisierung verwendet und nimmt über die gesamte Richterschaft gesehen eine – oder besser die – wesentliche Rolle ein. Die ›Methoden- und Gesetzesgebundenheit‹ entlastet von dem individuellen Druck, eine »materielle Gerechtigkeit« finden zu müssen, die nicht »wirklich« (im ontologischen Sinne) gefunden werden kann, weil sie – ja erst durch die richterliche Rechtsprechung – konstruiert wird. Gleichzeitig ist aber der eigene Erwartungsdruck der Parteien und des Richters selbst (und der Profession) vorhanden, eine Lösung auch in Hinsicht materieller Gerechtigkeit herzustellen. Und jener Druck ist nicht selten (allerdings besonders bei den Naturparteien und der sich auf sie beziehenden Öffentlichkeit) mit der Vorstellung verbunden, eine im ontologischen Sinne existierende Gerechtigkeit finden zu müssen. Wir haben hier ein Dilemma vorliegen: Die Akteure handeln, als ob es eine »wahre« Gerechtigkeit zu finden gilt. Gleichzeitig wird diese nur (und erst) durch die Akteure des Prozesses konstruiert. In dieser Situationsdefinition ist folglich die angestrebte Lösung des Handlungsproblems die Herstellung von »materieller« Gerechtigkeit. Für den Richter ist dies in Hinsicht auf die Darstellung der Lösung von besonderer Bedeutung. Im Rahmen der Herstellung kommen vonseiten der Richter immer wieder die Distanzierungen von der »Wahrheit« oder »Gerechtigkeit« im ontologischen Sinne zum Vorschein – hierbei wird stattdessen verstärkt auf eine Verfahrensgerechtigkeit oder Gesetzesgerechtigkeit im Sinne des ›Richtigtechnikers‹ und ›Radbruchianers‹ verwiesen, die letztlich aber wieder auf eine ontologisch verstandene Gerechtigkeit zielt.105 Mit anderen Worten: Auch wenn sich die Richter in ihren Äußerungen über ihre tägliche Arbeit immer wieder von einer Ontologisierung distanzieren – bezüglich der Schaffung von Gerechtigkeit –, tun sie dies in der Regel nicht in der kontrastierenden Hinsicht, sie würden das Recht stattdessen konstruieren (das tut – aber in bestimmter Weise – nur der ›Richterkönig‹). Vielmehr wird eine ontologisch gemeinte Gerechtigkeit über das Mittel (den Umweg, wenn man will) der Gesetzes- und 105 Der Gesetzgeber und die Rechtsprechung sind laut Grundgesetz an Gesetz und Recht gebunden, GG Art 20 (3). In der Diskussion um unterschiedliche Auslegungen der Differenz von Gesetz und Recht, die von der Annahme einer Tautologie oder Sinngehaltsgleichheit bis zur Auffassung führt, dass der Terminus »Recht« weiter als der des »Gesetzes« aufzufassen sei (vgl. Lansnicker 1996:104 f.), beziehen wir uns auf letzteren Standpunkt.
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Verfahrensgerechtigkeit geschaffen, auf die verwiesen wird. Vom ›Subsumtionsautomat‹ bis zum (normalen) ›Radbruchianer‹ besteht demnach eine Anforderung, ein Druck, eine Erwartung, mithilfe des ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹ eine Gesetzes- und Verfahrensgerechtigkeit herzustellen, die sich letztlich sehr wohl als ontologische Gerechtigkeit verstehen muss (und darstellen lässt). Eine Gewichtung des ›Methoden- und Gesetzesbezugs‹ verschafft dem Richter jedoch gleichzeitig einen Freiraum von Zweifeln und Bauchweh (›Radbruchianer‹) bezüglich der »wahren« Gerechtigkeit. Ein Gesetz (mit den entsprechenden Methodenkenntnisse) zu haben, »was man nur anwenden muss«, ein Verfahren, »was man nur befolgen« muss, sind Garanten einer enormen (psychischen) Entlastung hinsichtlich der materiellen Gerechtigkeit. Von dieser Seite – und das ist sicherlich ein neuer Blickwinkel – entlastet die ›Unabhängigkeit‹ den individuellen Richter insofern, als dass sie ihn nur dem Gesetze unterwirft (GG Art 97 (1), GVG § 1, DRiG § 25) und nicht explizit dem Recht.106 Die rechtsprechende Gewalt ist bekanntlich den Richtern anvertraut (GG Art 92), und nur in der Formulierung als Rechtsprechung begriffen, ist der Richter an Gesetz und Recht (GG Art 20 (3)) gebunden. Nun kann das schwerlich als ›Unabhängigkeit‹ vom Recht interpretiert werden in dem Sinne, dass der Richter keine materielle Gerechtigkeit herzustellen bemüht zu sein hat. Wie wir zuvor argumentierten, ist dies ja gerade ein Bestandteil des Drucks, der auf dem Richter lastet.107 Aber die ›Unabhängigkeit‹ wird nicht in Beziehung zum Recht gebracht, sondern nur zum Gesetz: »Der Richter ist unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.« Andersherum: Die einzige Bindung hat dem Gesetze zu gelten, zumindest für den Richter als Individualakteur. Im Sinne der Rechtsprechung, als Kollektiv betrachtet, ist die Richterschaft an Gesetz und Recht gebunden. Diese etwas eigentümliche Sichtweise kommt zu dem Ergebnis, dass dem individuellen Richter nicht die Bürde des Rechts (alleine oder in Kombination) aufgelastet wird, sondern nur die gesetzliche Lösung. Gemäß dieser Betrachtung ist der einzelne Richter durch die ›Unabhängigkeit‹ vom übergesetzlichen Recht entlastet. ›Richtigtechniker‹ und besonders ›Radbruchianer‹ (siehe Abschnitt 3.3.2) stellen diese Entlastung typischerweise durch Formulierungen wie »wir brauchen ja nur gesetzliche Gerechtigkeit zu schaffen« dar. 106 Das ist eine Sichtweise, die so bei der Entstehung des Gesetzes nicht bedacht war. Hier ging es im Gegenteil darum, dem Richter nicht neben dem Gesetz eine gleiche oder gar übergeordnete Rechtsquelle – dort ging es um das Gewissen – an die Seite zu stellen (vgl. Lansnicker 1996: 103 f.). Die Möglichkeit, den Richter in einem Spannungsverhältnis zu binden, statt ihn einseitig zu binden und darin eine Gefahr zu sehen, ihn teilweise zu entbinden, wurde nicht verfolgt. 107 Neben den in dieser Arbeit empirisch entwickelten Belegen mag formal der Richtereid anzuführen sein, der den Richter bei der Amtsausübung auch auf die Formel »nach bestem Wissen und Gewissen« festlegt (§ 38 DRiG (1)).
Die ›Unabhängigkeit‹
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Die ›Unabhängigkeit‹ – so wurde bereits formuliert – nimmt die Position eines mittelnden Instruments zwischen einerseits der technischen Illusion des ›Subsumtionsautomaten‹, andererseits des frei wirkenden ›Richterkönigs‹ ein. Sie ist nicht nur Zugpferd für den frei wirkenden ›Richterkönig‹ gegen einen ›Richtigtechniker‹ (siehe zur Exemplifizierung dieses Aspektes Abschnitt 3.3.3), besonders gegen den ›Subsumtionsautomaten‹, sondern auch andersherum für den ›Richtigtechniker‹ sowie den ›Radbruchianer‹ gegen den – eine übergesetzliche Gerechtigkeit schaffenden – ›Richterkönig‹. Die sich hieraus ergebenden Aspekte werden in Abschnitt 4.2.1 und später in Abschnitt 5 weiterverfolgt.
3.5.2
Verteidigung und Verwendung der ›Unabhängigkeit‹
Auf den ersten Blick erscheinen die zwei Themen ›Unabhängigkeit‹ und ›Karrierist‹ nicht viel miteinander zu tun zu haben. Bei der Rekonstruktion der Typen stellte sich aber heraus, dass es eine eigentümliche Verbindung gibt, die sich in der Art der Wahrnehmung (von Bedrohung) richterlicher ›Unabhängigkeit‹ einerseits und des eingeschlagenen Karriereweges andererseits manifestiert. Das Thema ›Unabhängigkeit‹ und Karriere der Richter spaltet die Richterschaft auf den ersten Blick in zwei Lager: die Erfolgreichen (›Karrieristen‹) und die Nichtkarrieristen mit ihrer ›Unabhängigkeit‹. Die Darstellung der Analyse wird sich in seiner Abfolge an den möglichen Karrierestationen, wie sie unter Abschnitt 3.4.1 unterteilt wurden, orientieren. Die Abhängigkeit von der jeweiligen Karriereposition kann deutliche Unterschiede herausarbeiten (1). Integrierend ist dabei zudem die Analyse der Machtkämpfe zwischen Exekutive und Judikative (2), da die Machkämpfe, an die Veränderungen der Rollenanforderungen bei Karriereaufstiegen gebunden, gleichsam mit dem ersten Komplex verwoben sind und einen wesentlichen Bestandteil der Deutung für den zweiten Blick darstellt. Ein heute erfahrener Vorsitzender eines Oberlandesgerichtsenates (R 3) spricht in der Retrospektive von seiner problematischen Zeit als Assessor (R 0): »wenn ((Räuspern)) ich einen Vorsitzenden in der Sache damals widersprochen habe, lief ich natürlich Gefahr einer persönlichen, eh dass er das persönlich sah oder meinte, dass ich also vielleicht nicht einsichtig sei und nicht die richtige Ansicht vertret- vertrete und da konnte man natürlich nicht ausschließen, dass das in sein Urteil (-) einfloss.« [D5:86] Dies ist ein typisches Problem der direkten Beurteilung des Assessors durch den Mit-Juristen in konkreten Fällen. Kollegen, die nicht die Beurteilung machen müssen, das heißt die anderen Beisitzer, versuchen das Problem ›Unabhängigkeit‹/Beurteilung(snotwendigkeit) praktisch für den Neuankömmling in den
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Griff zu bekommen, entweder indem sie in den Beratungen »zu Hilfe springen« [D5:6] oder sich die Sache im Vorfeld anschauen [D1:28]. Auch die Parteien reagieren auf das interne Problem zwischen Beurteilung in der Karriere eines Richters und der ›Unabhängigkeit‹. Freilich tun sie das in der Weise, sich für den jeweiligen Fall einen Vorteil zu verschaffen und dennoch zeigt dies, wie problematisch der Umgang mit der ›Unabhängigkeit‹ ist, eine ›Unabhängigkeit‹, die sozusagen nicht nur vom Richter selbst verteidigt wird, sondern als »Justizgut« in spezieller Konstellation sogar von Anwälten. Eine Richterin (R 1 im Aufstieg zu R 2) spricht über die Bedenken eines Anwaltes gegen sie und die Möglichkeit eines Befangenheitsantrags: »und jetzt sieht er da, dass eine Richterin, die an das Gericht abgeordnet ist, zur Bewährung abgeordnet ist, ehm, dass die darüber entscheiden muss. Und schließt daraus, dass ich in meiner Unabhängigkeit stark eingeschränkt bin, weil ich mich in einer Beurteilungssituation befinde und eh weil ich darüber entscheiden muss, eh was mein Senatsvorsitzen- Er hebt ganz massive Vorwürfe, ich glaube, bis hin zur Rechtsbeugung gegen den Senatsvorsitzenden« [D15:5] Dieser – zugegebenermaßen komplizierte und seltene – Fall bringt aber das Dilemma zwischen Beurteilung und ›Unabhängigkeit‹ gut zum Vorschein: Kann ein Richter, der Senatsvorsitzender ist und gegen den Rechtsbeugungsvorwürfe erhoben wurden, von einer Richterin hinsichtlich der Statthaftigkeit der Rechtsbeugung beurteilt werden, wenn diese in einem Beurteilungszusammenhang das heißt quasi einer Abhängigkeit zu ihm steht? Jener Anwalt ging in seiner Argumentation sogar so weit, dass er die Richterin vor diesem Dilemma schützen wolle, indem er nun seinerseits wiederum einen Befangenheitsantrag gegen sie zu stellen erwäge. Sie ist diesem Argument durchaus zugetan: »Tatsächlich will er ja durch die Ankündigung, mich auch gegebenenfalls für befangen zu erklären, letztlich mir diese Last von den Schultern nehmen« [D15:1]. Sie sieht die Problematik und unterstellt dem Anwalt nicht nur Eigennutz bezüglich seines Mandanten, wie es ihre Kollegen tun [D15:6]. Das deutet durchaus darauf hin, dass sie – um die es ja schließlich geht bei der Beurteilung – sich in einer kontrastiven und für sie prekären Situation befindet. Wir erkennen an dem bisher Analysierten eine erste Konfliktlinie, nämlich die zwischen der ›Unabhängigkeit‹ und der Karriere (1). Auf der anderen Seite kann die ›Unabhängigkeit‹ in inhaltlichen Dingen gerade auch die Anziehungskraft des Richterberufes stärken, wie folgende Amtsrichterin nach der Aufzählung einer Reihe von Vorteilen anschließt: »Der größte Vorteil is, dass man keinen Chef hat. ((Lachen von I)) Also is wirklich irgendwo. [I: Als Amtsrichter zumindest, ne?] Nee, auch auch sonst. Es is ja so, man is eigentlich unabhängig. [I: Ja, okay. Hm.] Also in, ich kann meine Meinung immer vertreten.« [D21:13]
Die ›Unabhängigkeit‹
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Keinen »Chef« zu haben, sei der »größte Vorteil«. Diese Aussage ist erklärungsbedürftig, denn jeder Richter hat ja immer einen Dienstvorgesetzten (auch wenn der örtlich gesehen weit weg sein kann), was alltagssprachlich gewendet aber genau dieser »Chef« ist. Der Punkt ist jedoch, dass die ›Unabhängigkeit‹ sich auf die inhaltlichen Anforderungen bezieht. Das Kerngeschäft des Richters, und damit unterscheidet sich das Verhältnis Chef-Untergebener fundamental von fast allen Bereichen des Berufslebens, ist damit von Befehlen, Anordnungen, Weisungen, Aufforderungen, Empfehlungen oder Bitten im Prinzip befreit. Der Chef, so könnte man plakativ formulieren, ist für die Beschaffung der Bleistifte verantwortlich oder kann einem sagen, in welchem Büro man sitzen muss. Schon die Umstellung auf computergestützte Arbeitsplätze – die vielleicht die direkte inhaltliche Arbeitsweise des Richters beeinträchtigen könnte – wird zu einer Gratwanderung, wenn sie im Rahmen der Umstrukturierung der Justiz durch das Ministerium einzuführen versucht wird. Folgender Amtsgerichtsdirektor beschreibt seine Bemühungen wie folgt: »Wo jetzt n Schwerpunkt unserer Tätigkeit war, ich sag bewusst ›unserer‹, weil wir das eigentlich immer gemeinsam machen, Herr ((Name des Leiters der Verwaltung)) und ich, das war im letzten Jahr, und damit sind wir noch nicht mit fertig, die Einführung der Vollausstattung. Also die Vernetzung aller Arbeitsplätze, die Einbeziehung der Richter. Das erfordert ganz viel Überzeugungsarbeit, weil man die nicht weisen- anweisen kann. Ich sowieso nicht, aber auch der Dienstvorgesetzte, die Präsidentin des Landgerichts, nicht, wegen der Unabhängigkeit. Also geht das nur mit Handauflegen, Überreden, Überzeugen.« [D19:43] Eine Umstrukturierung »von oben« scheint dem Direktor schwerzufallen, fordert viel Geschick und Gleichmut und stößt an den unterschiedlichsten Stellen auf Widerstand, der durch die ›Unabhängigkeit‹ legitimiert wird. Die Richter – so könnte man entgegnend formulieren –, deren Arbeitsplatz verändert wird, achten sehr genau darauf, ob damit versucht wird, Einfluss auf ihre inhaltliche Arbeit zu nehmen, oder ob ihnen durch diese äußeren Veränderungen etwas von der ›Unabhängigkeit‹ genommen wird. Vielleicht sind sie es auch einfach nur so gewohnt und wollen sich nicht umstellen, kaschieren dies mit der Allzweckwaffe ›Unabhängigkeit‹. Der Beisitzer eines Oberlandesgerichtsenates (R 2), äußert sich zur ›Unabhängigkeit‹ im Sinne einer persönlich zu genießenden Freiheit, er habe nichts dagegen, wenig zu arbeiten: »Sonst würd ich ja sagen bin ich eher ein ähm ((schnieft)) liegt das Hauptschwergewicht eigentlich bei mir in dem äh unstillbaren Verlangen nach richterlicher Unabhängigkeit, also ich habe nichts gegen (-) wenig arbeiten, gegen viele eh eh gegen möglichst viele Freiräume mir ver-
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
schaffen, also sonst würd sagen ich bin eher so bisschen so'n (-) an für sich eigentlich schon eher so'n lockererer Typ, ja.« [D10:39] Diese Aussagen scheinen die schlimmsten Befürchtungen der Gegner der richterlichen ›Unabhängigkeit‹ zu stützen. Dass sich am Oberlandesgericht die terminlichen »Pflichtzeiten«, das heißt Verhandlungen und Beratung innerhalb einer Woche, als eher gering einschätzen lassen, und dass dafür hingegen mehr Zeitraum für die inhaltlich und individuell gestaltbare Aktenarbeit bleibt, ist kein Geheimnis. So treffen sich an einem anderen Senat die Mitglieder zweimal die Woche: »Ja, ich arbeite ja die meiste Zeit zu Hause, nicht. Ich bin- aber das machen die anderen hier, zumindest in unseren Senat, genauso. Ehm, wir sind in der Regel zweimal die Woche (-) hier [I: Mhm.] Wenn wir Sitzung haben auch schon dreimal, aber sonst eigentlich nur zweimal.« [D7:45] Die Unabhängigkeit von Zeit und Ort wird durchaus als Privileg der ›Unabhängigkeit‹ angesehen und von dem Richter mit der Begründung vertreten, dass geistige Arbeit überall verrichtet werden kann. Sie wandert einerseits physisch in Form von Akten und Büchern oder Ähnlichem mit. Meistens findet sie dann ausgelagert an einem zweiten Arbeitsplatz zu Hause statt. Ein Amtsrichter, der sich gerade den hineinkommenden Aktenstapel vorstellt, beschreibt das wie folgt: »ich arbeite durch […] es sei denn, es ist etwas ganz Umfangreiches, die ich dann mit nach Hause nehme« [D8:25]. Das ist typisch, auch oder gerade für höhere Gerichtsebenen (siehe oben Richter [D7:45]). Die Heimarbeit wird zudem deshalb geschätzt, weil sie eine gute und zeitlich nahe inhaltliche Vorbereitung für schwierige Verhandlungstermine ermöglicht: »dann werde ich mir eine Akte mit nach Hause nehmen […] um halb 10 mir ansehen, weil ich dann, das ist ne schwierige Beweisaufnahme für morgen […] damit der kürzest mögliche Zeitraum ist, zur Beweisaufnahme vergeht, so dass ich es also im Sinn habe« [D5:87] Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat die örtliche Präsenz höheres Gewicht, wie diese Verwaltungsrichterin zu verstehen gibt: »das Verwaltungsgericht als solches unterscheidet sich von (-) ordentlichen Gerichten dadurch, dass wir fast immer da sind« [D6:23]. Andererseits, und damit ist die Akte potentiell omnipräsent, wandert sie, anders als die physische Akte, unabhängig von Zeit und Ort, mit dem Kopf mit. Aussagen der Richter bestätigen das »Im-Hinterkopf-Arbeiten«. Zum Beispiel Einfälle »beim Gärtnern« oder »Spazierengehen« oder beim »auf dem Locus sitzen«. In dieser Hinsicht ist die »Arbeitsleistung« eines Richters nicht über Anwesenheit (an (irgend-) einem Arbeitsplatz) erkennbar, mithin: messbar. Nicht die geleistete Arbeitszeit durch Arbeiten an einem der sozialen Kontrolle ausgesetzten (oder im
Die ›Unabhängigkeit‹
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Falle zu Hause noch nicht mal das) Ort ist das entscheidende Kriterium. Der Ort ist, bis auf den Verhandlungstermin und den Austausch der Akten mit der Geschäftsstelle (evtl. noch die Gerichtsbibliothek, oder eine andere Bibliothek), nicht an die Arbeit gebunden. Die Zeit ist bis auf die Dauer von Verhandlungsterminen und eventuellen Beratungen (Kammer, Senat) ebenfalls nicht eng an die Arbeit gebunden, abgesehen von einem Minimalstandard, der für die rein mechanischen Tätigkeiten wie Aktenaufschlagen, Seitenumblättern, Unterschreiben, Schreiben oder Lesen (wobei Lesen schon wieder ein Grenzfall ist) notwendig ist. Was gebunden ist, wenn auch in einem gewissen Rahmen, sind die Erledigungen (das heißt Abschlüsse von Aktenvorgängen), die auf Zeiträume bezogen sind. Die freie Zeiteinteilung und Ortspräsenz ist an den oberen (Zivil-) Gerichten normal und hat mit den strukturellen Gegebenheiten der ›Basis‹-Dimension zu schaffen. Der ›Akademiker‹-Typus (3.2.3.2) ist in Verbindung mit der ›Unabhängigkeit‹ leitend für diese interne und individuelle Ausgestaltung der Arbeitsabläufe. Darüber hinaus ist die prinzipielle Unabschließbarkeit geistiger Arbeit für ein ständiges Weiterarbeiten zu Hause mit und ohne Akte bewusst oder unbewusst verantwortlich. Die Aussagen eines Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht (R 3) zur ›Unabhängigkeit‹ bestätigen die vorherigen Einschätzungen und verbinden immer mehr die ›Unabhängigkeit‹ mit der Arbeitszufriedenheit. Nachdem er sagte, dass er mit dem Richterberuf einig sei, er für ihn ein Neigungsberuf sei und er sich sehr wohlfühle, schließt er an: »Man muss auch eines sagen, der Beruf hat ja etwas, was nur wenige Berufe haben, nämlich die völlige Unabhängigkeit in der sachlichen Entscheidung. Klar man ist in sofern nicht unabhängig, als man mit seinen Kollegen äh die Dinge besprechen muss, und […]auch mal zum in Anführungsstrichen Streit, ne, in der Sache führt« [18:36] Interessant ist hier, dass er als Vorsitzender die persönliche ›Unabhängigkeit‹ in der Sache in seinem eigenen Senat durch den Streit mit Kollegen eingeschränkt empfindet. Hatten wir zuvor noch das Problem der Erprober am Senat für die ›Unabhängigkeit‹ als strukturell schwierig gekennzeichnet, liegt hier zwar nur in Bezug auf die normalen Kollegen oder Beisitzer eine Selbsttypisierung des Vorsitzenden vor, die ist aber durchaus erwähnenswert: Eine »gefühlte« Einschränkung der ›Unabhängigkeit‹ gibt es sogar für den Vorsitzenden. Ob sie nun auf persönliche Gründe zurückzuführen ist oder in der Sache begründet liegt, geführt wird der Streit in der Sache. Von dieser Seite ist die ›Unabhängigkeit‹ in einem gewissen Sinne eingeschränkt, eine Einschränkung, die ein Einzelrichter im Sinne des ›eigener Herr‹Typus nicht hat. Die Freiheiten und die ›Unabhängigkeit‹ sind demnach in den verschiedenen Bezügen der ›Basis‹-Dimensionen anders gewichtet, wenn auch gleichmäßig »beliebt«.
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Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Einen wichtigen Aspekt der ›Unabhängigkeit‹, der nicht an die ›Basis‹Dimensionen gebunden ist, führt ein Senatsvorsitzender im Folgenden an: »Die Gefahr ist nur, dass uns nicht geglaubt wird. Sie müssen ja wissen, dass, seit alters her besteht ja eh eine sehr starke ehm, eh, (-) Scheelsucht, sag ich jetzt mal, [A: Ja.] der Verwaltung gegenüber der Dritten Gewalt. D- der Exekutive gegenüber der Dritten Gewalt, weil (-) wir ja die einzigen sind, die sie korrigieren können. Und ehm das ist sogar hier in diesem Hause oder in jedem gerichtlichen Haus […] ja, und weil das wegen der Unabhängigkeit der Richter auch so schlecht zu überprüfen ist, besteht immer der Verdacht, dass wir eigentlich zu wenig zu tun haben, glaube ich, seitens der Exekutive. […] Nicht, dass die das jetzt überhaupt nicht glauben aber mit ne gewissen Ressentiment sehen, ne.« [D5:72] Hier wird ein zentrales Problem des Verhältnisses der Richter zur Verwaltung der Justiz angesprochen, welches unmittelbar die ›Unabhängigkeit‹ und den Praxisalltag des Richters betrifft. Weiter oben deutete sich diese konträre Stellung schon einmal an, was die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse hinsichtlich der Einführung von Computerarbeitsplätzen anging. Und unter dem Thema der ›Anforderungen‹ (siehe Abschnitt 3.2.3) wurde das Problem hinsichtlich der Messbarkeit oder Zählbarkeit der Leistungen von Richtern behandelt, ergänzt durch die Darstellung der relativen Orts- und Zeitungebundenheit richterlicher Tätigkeit in diesem Abschnitt. Diese Aspekte laufen im Rahmen der Betrachtung der ›Unabhängigkeit‹ zusammen und zeigen die zweite Konfliktlinie (2) an, und zwar die zwischen der Judikative mit ihrer ›Unabhängigkeit‹ und der Exekutive mit ihrem ›ökonomischen Imperativ‹. Der folgende Amtsgerichtsdirektor (R 3) sieht in der Tatsache, dass er Richter ist und die ›Unabhängigkeit‹ verinnerlicht hat, einen Vorteil, die Behörde leiten zu können – gerade auch wegen der Zusammenarbeit mit den eigenen Kollegen. Die richterliche ›Unabhängigkeit‹ und fachliche Kompetenz, in der Person des Richters gebündelt, sind gegenüber den Möglichkeiten eines Verwaltungsbeamten an der Spitze einer Behörde sinnvoller: »Ich hätte also Angst dafür, wo man ja manch- davor, wo man ja manchmal drüber spricht: Behördenleiter so von außen als Manager, Gerichtsmanager, oder wie auch immer, einzuspereh einzusperren ((grinsend)) einzustellen. Ich denk mir, das ist schon wichtig, dass man hier einen richterlichen Background und richterliche Erfahrung hat. Nicht nur wegen der Unabhängigkeit, sondern auch wegen der- ich denke auch, wegen der Kompetenz. Sonst wird's doch sehr sehr theoretisch.« [D19:41] Während auf dieser Ebene die ›Unabhängigkeit‹ noch als sehr brauchbar beschrieben wird, so kann die Sichtweise, je höher die Karrierestufe emporgegangen wird, neben den schon bekannten positiven Merkmalen eine durch die beginnende Verquickung mit der ministerialen – und damit exekutiven – Sichtweise entstehende
Die ›Unabhängigkeit‹
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Skepsis durchscheinen lassen. Eine Landgerichtspräsidentin (R 4), angesprochen auf die Stärkung der Einzelrichtertätigkeit, beschreibt das wie folgt: »Also da weiß ich noch nicht, ob das sich mit dem Einzelrichter auf die Dauer bewährt. Auch im Rahmen einer einer gerichtlichen Organisation. Ich halte es eigentlich äh auch als Richterin für gut, wenn man unabhängig is, dass man als Richter äh- man obliegt ja keinen Weisungen, weder von Kollegen noch seitens irgend eines Präsidenten, die Dienstaufsicht gegenüber einem Richter ist sehr beschränkt. Sehr beschränkt. Sie beschränkt sich in erster Linie auf verzögerliche Bearbeitung von Verfahren, aber da muss man natürlich immer noch schauen, ob das nicht sachgerecht und im Rahmen ist. Deshalb ist um so wichtiger, dass sie eine soziale Kontrolle haben. Und diese soziale Kontrolle können eigentlich nur Richter über Richter ausüben und das ist der Kammerverbund.« [D25:10] Aus der Sicht der Richterin kommend, die die ›Unabhängigkeit‹ »eigentlich« auch gut findet, beschreibt sie zunächst noch den Vorteil, keiner Weisung zu unterliegen. Aber schon im folgenden Abschnitt wechselt die Perspektive, durch das »eigentlich« zuvor schon angedeutet, in die nun stärker wirkende Perspektive der Präsidentin, die die Dienstaufsicht zu führen hat. Die Dienstaufsicht ist nämlich »sehr beschränkt«, und selbst bei dem wenigen, das machbar ist, muss man noch vorsichtig sein. Diesem, man könnte aus ihrer Sicht sagen, Manko hält sie nun das Instrument entgegen, das die Richter selbst in der Hand halten. Wir erfahren zwar nicht explizit wofür, aber die »soziale Kontrolle« im Kammerverbund ist bei fehlender Dienstaufsicht das probate Mittel, welches allerdings durch die Stärkung des Einzelrichters geschwächt wird. Wenig später beschreibt sie, wofür das Mittel gebraucht wird: »Also es gibt also ich sag mal die Kammer äh bietet weniger Gefahren ein so genanntes Richtersyndrom zu bekommen nämlich die Tatsache: ›Ich hab immer Recht!‹ [I: Richtersyndrom. (lacht)]. Deshalb sagte ich, das ist eine soziale Kontrolle innerhalb der Richterschaft und nur da kann sie kann man eine solche Kontrolle ausüben.« [D25:5] Offensichtlich gibt es so etwas wie ein »Richtersyndrom«, welches stark an einen ›Methodenmonist‹ in Verbindung mit einem ›Eigenen-Herrn‹-Typus (und eventuell ›Richterkönig‹) erinnert. Eine Kontrolle auszuüben, ist für einen dienstaufsichtführenden Richter wichtig, denn an ihn gelangen die Beschwerden und die Probleme, die sich im Bezirk bezüglich bestimmter Richter sammeln könnten. Die Formulierung »ein sogenanntes« Richtersyndrom verweist auf einen typischen Gebrauch untereinander, der zwar in der Situation des Interviews erläutert werden muss, doch zumindest auf Landgerichtspräsidentenebene ein feststehender Begriff zu sein scheint. Das Problem ist demnach bekannt, es wird benannt und trägt sogar einen eigenen Namen. Der richterlichen ›Unabhängigkeit‹ steht dieses Problem entgegen: Unkontrollierte ›Unabhängigkeit‹, wie sie beim Einzelrichter vorkommt, kann der
254
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
Unvoreingenommenheit richterlicher Neutralität und sorgfältigen methodisch technischen Prüfungen im Sinne wechselseitiger Argumentationen entgegenstehen. Dies ist, genau wie die Argwöhnung, die Richter würden zu wenig arbeiten, ein Argument der Exekutive gegen die ›Unabhängigkeit‹ der Richter und gehört zu der Konfliktlinie (2). »Erfolgreicher« - abhängiger ›Karrierist‹ abhängig vom Beurteilungswesen in der Justiz erfolgreich im Karriereweg (nach Maßgabe des Beurteilungswesens) Karriere ist Excellenz und Fähigkeit ›Unabhängigkeit‹ ist, was einen stark macht im Karrierebetrieb. Und andere Dinge.
›Unabhängigkeit‹ - erfolgloser Ausweicher unabhängig vom Beurteilungswesen in der Justiz erfolglos im Karriereweg (nach Maßgabe des Beurteilungswesens) Karriere ist Aufgeben von ›Unabhängigkeit‹, »Buckeln« ›Unabhängigkeit‹ ist heutzutage (früher war das anders) in erster Linie ›Unabhängigkeit‹ von der Verwaltung (den Ministerien). Dann folgen andere Dinge.
Abbildung 16: ›Karrierist‹ vs. ›Unabhängigkeit‹
In den Selbsttypisierungen der Richter wird die ›Unabhängigkeit‹ nicht ausschließlich durch die Exekutive gefährdet wahrgenommen. Die folgende Übersicht zu Interaktionsbeziehungen soll in einer Art Überblick ein vollständigeres Bild darlegen. Als elementarer Bestandteil richterlicher Persönlichkeit ist die Bedrohung der ›Unabhängigkeit‹ gleichsam eine direkte Selbstbedrohung des Richters. Der gemeinsame Aspekt einer Wahrnehmung von Gefährdung ist der Versuch von Interessensteuerung durch andere Personen. Da steht zum einen die teils schon erwähnte exekutiv-staatliche Macht, die ihre Paradigmen, den ›ökonomischen Imperativ‹ durch Forderung nach Effizienz und Controlling durchsetzen möchte. Dazu gehören auch die systembedingten Einflüsse totalitärer Systeme, für die deutsche Geschichte die nationalsozialistische Herrschaft und die der DDR. Andererseits gibt es gruppenspezifischen Lobbyismus, der von wirtschaftlicher Macht und gesellschaftlichen Gruppen ausgehen kann. Oft wird dies durch Medien transportiert, kann aber auch durch direkte persönliche Drohung und Einschüchterung erfolgen. Ersteres tritt in Form von Urteilsschelten (vgl. Mishra 1997) auf und wirkt als allgemeiner sozialer Druck für kommende Fälle (unspezifisch) oder während des Prozesses. Zweites ist weniger offensichtlich und geschieht in der Regel in direkter Interaktionssituation mit dem Richter. So wurde von einem Richter berichtet, ihm seien in einer Streitigkeit, an denen »Nazis« beteiligt waren, die Autoreifen aufgeschlitzt worden. In einem anderen Fall wurden konkrete
Die ›Unabhängigkeit‹
255
Bestechungsversuche vonseiten Familienclans mit Geldbriefen vorgenommen (vgl. Abschnitt 3.4.5.3). Des Weiteren spielen rein persönliche Aspekte eine Rolle, insbesondere bei Familiensachen. Hierbei wurde von der grundsätzlichen Vorsicht bei Sorgerechtsentscheidungen gesprochen, in deren Rahmen schon Angriffe auf Richter und Richtermorde stattfanden. Eine andere Ebene stellt die direkte Interaktion mit den Kollegen dar. Bei der ›Verantwortlichkeit‹ im Kollegium wird von Druck (oder empfundenen Druck) gesprochen, der vom Vorsitzenden als erfahrener Praktiker, versierter Jurist, Statushöherer und Informant für Beurteilung durch den Präsident ausgeht. Auch sozialer Druck (oder empfundener Druck) einer Mehrheit des Kollegiums ist keine Seltenheit, sei es in der Sache oder persönlich empfunden. Hier kommen zudem die Gerichtslinien in ihrer stärksten Form ins Spiel, die sogenannten »Tabellen«. Sogar der Vorsitzende kann sich dabei unter Druck fühlen. Bei der ›Verantwortlichkeit‹ als Einzelner ist der Druck qualitativ ähnlich, jedoch meist sehr viel schwächer ausgeprägt, was das Kollegium angeht. Wer ein unangreifbares Machtinstrument besitzt, kann verleitet werden, dieses zu missbrauchen, es etwa zur Kaschierung von Fehlern und Verzögerungen einzusetzen. Die vielen – sicherlich auch mit großer Vorsicht zu genießenden – Vorwürfe im »ZAP-Report Justizspiegel« können diesbezüglich Anschauungsmaterial liefern (Schneider 1999). Die ›Unabhängigkeit‹ hat in diesem Sinne verwendet auch ihre Schattenseiten: Wird sie entgegen der Intention des rationalen Verfahrens, welches im Ideal den methodisch-rationalen Begründungsgang meint, in Stellung gebracht, d. h. etwa weniger gründliche oder nachvollziehbarere Entscheidungen unter dem Deckmantel der ›Unabhängigkeit‹ verborgen, dann nimmt sie letztlich eine antagonistische Stellung besonders zum ›Richtigtechniker‹ ein. Doch sie kann die ›Richtigtechniker‹-Dimension perpetuierend im Verbund mit dem ›Richterkönig‹ einen technisierenden Habitus in Form des ›Methodenmonisten‹-Typus performieren (siehe Abschnitt 3.3.1.2). Dem generellen Charakter der ›Unabhängigkeit‹ gemäß, ist sie nicht auf einen Typus reduzierbar, der ausschließlich gegen andere verwendet wird. Erst wenn der Richter das Richtersein immer stärker verlässt, wie im Fall des Wechsels in eine ministeriale Verwendung der Exekutive (ohne die – zumindest in Ansätzen – kein großer Karriereaufstieg möglich ist), wird ein Antagonismus deutlich. Dieser existiert jedoch nicht zwischen Richtertypen, sondern zwischen dem reinen allgemeinen Berufstypus Richter zu einem Berufstypus der Exekutive, dem Ministerial-Typus.
256 »Exekutive«, Ministerium und Verwaltung, zum Teil auch von der Exekutive abhängiger ›Karrierist‹ in den oberen R-Besoldungsstufen (Richter im Zwischenbereich Ministerium-Richteramt) ökonomischer Imperativ, d. h., Effektivität bei minimalen Kosten ist vordringlich Kontrolle durch Dienstaufsicht und Gerichtsverfassung Eliminierung von Ineffektivität durch Ermahnung, Rüge, Versetzung, Suspendierung abhängig von der Gunst des Ministeriums erfolgreich im Karriereweg (nach Maßgabe des Beurteilungswesens und darüber hinaus)
Typologie der Richterbilder – Analyse und Ergebnis
»Judikative«, Richter ›Unabhängigkeit‹
gesetzliche (und materielle) Gerechtigkeit bei eingangsangemessener Erledigung Eigenverantwortung Gefahr des persönlichen Missbrauchs der ›Unabhängigkeit‹ in Form von Faulheit, Richtersyndrom ›unabhängig‹ vom Ministerium und vom Beurteilungswesen in der Justiz erfolglos im Karriereweg (nach Maßgabe des Beurteilungswesens)
Abbildung 17: Übersicht des Vergleichs »Exekutive« und »Judikative«
4
Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
4.1
Ausgangsfragestellung und Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse
Zu Beginn der Untersuchung wurde das Ziel beschrieben, eine Typologie im Wege der Rekonstruktion richterlicher Selbsttypisierungen zu erarbeiten, die es vermag, zum einen ein Bild von den Richtern unter den verschiedenen Bedingungen ihres Arbeitsalltags zu beschreiben, zum anderen die entsprechenden Selbsttypisierungen aus ihrem lebensweltlichen Zusammenhang durch verstehenden (rationalen) Nachvollzug im Rahmen der Rekonstruktion zu erklären. Dieser erweiterte Erkenntnisgewinn sollte durch Realitäts-, d. h. Praxisnähe und durch den methodischen Zugang über je subjektive Perspektiven gelingen. Im Sinne einer modernen Rechtspraxisforschung sollte auf diese Weise verallgemeinerbares Wissen über den zentralen Akteur der Rechtsprechung in Deutschland gewonnen werden, das über die in Medien und durch Funktionsträger geäußerten Bilder, wie Richter zu sein haben, hinausgeht. Die wesentlichen empirischen Ergebnisse sollen im Folgenden kompakt zusammengefasst werden und den Leser für die weiteren theoretischen Folgerungen vorbereiten. Der Richter ist in seinen Selbsttypisierungen von einem Geist der ›Unabhängigkeit‹ durchdrungen, der sich in verschiedenen Variationen zeigt. Ein solches grundlegendes Selbstverständnis prägt die gesamte Richterschaft und ist ein wesentliches Kennzeichen der Richter in Abgrenzung zu anderen Berufen. Dieses zentrale identitätsstiftende Charakteristikum des Richters durchdringt die drei Hauptdimensionen: die ›Basis‹-Dimensionen, die ›Gesetzes- und Methodenbezugs‹-Dimensionen sowie die ›Antriebs‹-Dimensionen. Der erste Bereich, die ›Basis‹-Dimensionen, umfasst die durch die Organisationsstruktur der Justiz, Gerichte und Dezernate bedingten Selbsttypisierungen der Richter. Es stechen hier antagonistische Typenpaare heraus, die sich in verschiedenen Mischungsgraden entlang der ›Gerichtsbarkeiten‹, den ›Anforderungen‹ und der ›Verantwortlichkeit‹ aufzeigen: So haben wir den ›Eigenen Herr‹-Typus, der von Amtsrichtern, Vorsitzenden und einzelverantwortlichen Richtern in Spruchkörpern gebildet wird und seine ›Unabhängigkeit‹ betont. Dem steht der ›Kollegialrichter‹-Typus entgegen, der sich durch die Vorliebe am argumentativen Rechtsaustausch selbst typisiert. Im Rahmen der ›Anforderungen‹, die in der einfachen Formel der zu bewältigenden Fallzahlen ihren zählbaren Ausdruck findet, haben wir
258
Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
den ›Frontkamerad‹-Typus, der sich durch eine große Masse an Fällen zu kämpfen hat, und den ›Akademiker‹-Typus, der sich durch eine rechtlich tiefere und genauere Prüfung der einzelnen Fälle typisiert. Die entscheidenden Strukturen der ›Gerichtsorganisation‹ sind dabei: Gerichtsebene, Instanz und Fallart (nach der sich der Zuschnitt eines Dezernats richtet). Letztlich ist die ›Gerichtsbarkeit‹ ein starker selbsttypisierender Faktor, wobei sich die reine Zuschreibung z. B. als Zivilrichter oft mit weiteren Attributen ergänzt, so ist das »zivilistische Weichei« in Abgrenzung zum Straf- oder Verwaltungsrichter in der Unterscheidung ›weicher Richter‹-/›harter Richter‹-Typus abgebildet, der Verwaltungsrichter im Gegensatz zum Strafrichter als mehr rechtlich denn sachverhaltlich arbeitend. Im Zentrum seiner alltäglichen Praxis, der Zuführung des Falles zu einer Lösung – oder, wie wir später ausführen werden, der ›Definition des Falles‹ – steht die Dimension des ›Gesetzes- und Methodenbezugs‹ als zweite der drei Hauptdimensionen. Diese wiederum teilt sich in drei Haupttypen, die sich in einem Spannungsfeld zwischen dem Anspruch gesetzlicher oder übergesetzlicher Gerechtigkeit befinden und für je ihren Standpunkt ihr ›Unabhängigkeits‹-Selbstverständnis zur Anwendung bringen: Der ›Richtigtechniker‹ hat einen starken ›Gesetzes- und Methodenbezug‹ und er lehnt außerhalb eines persönlichen Empfindens existierendes übergesetzliches Recht ab, welches Einfluss auf die Anwendung gesetzlicher Entscheidungen haben könnte. Er glaubt an die Anwendungsfähigkeit des Gesetzes, auch wenn er ihr unbewusst durch hoch virtuose Rationalakrobatik zur Geltung verhilft (›Subsumtionsautomat‹), durch seinen unerschütterlichen Glauben andere Lösungsmöglichkeiten verdrängt (›Methodenmonist‹), durch das rationale Verfahren hergestellte Gerechtigkeit bevorzugt (›Herr des Verfahrens‹) oder lediglich in den menschlichen Unzulänglichkeiten Fehlerquellen anerkennt (›menschlicher Mund des Gesetzes‹). Eine mittelnde Position zwischen den Affinitäten zur gesetzlichen oder übergesetzlichen Gerechtigkeit nimmt der ›Radbruchianer‹ ein, der mit seinem Untertypus des ›geschickten Radbruchianers‹ gerade den Umschwung von der Bevorzugung der gesetzlichen Gerechtigkeit zur übergesetzlichen markiert, ohne dabei zu riskieren, den Boden der darstellungsfähigen Entscheidung im Sinne der Profession zu verlassen. Während der ›normale Radbruchianer‹ auch unter Bauchweh der gesetzlichen Gerechtigkeit den Vorzug gibt, kann der ›geschickte Radbruchianer‹ sehenden Auges seiner übergesetzlichen Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen. Der ›normale Radbruchianer‹ nimmt dabei mit den ›Richtigtechnikern‹ die Seite der Richter ein, die sich ihre ›Unabhängigkeit‹ als Schild gegen rational weniger einfangbare übergesetzliche Gerechtigkeitsgefühle oder -erwartungen anderer zu Hilfe nehmen. Mit dem ›geschickten Radbruchianer‹ gelangen wir in das Feld, in dem die ›Unabhängigkeit‹ genau andersherum eher für die Abwehr zu starker Rationalitätsansprüche im Sinne der gesetzlichen Lösung in Stellung ge-
Ausgangsfragestellung und Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse
259
bracht wird, um notfalls einer übergesetzlichen Gerechtigkeit gegen eine als ungerecht empfundene gesetzliche Lösung zur Geltung zu verhelfen.108 Der ›Richterkönig‹ oder ›Judizler‹, als dritter Typus des ›Gesetzes- und Methodenbezugs‹ ist schließlich in seinem Selbstverständnis der übergesetzlichen Gerechtigkeit verbunden und setzt sich mehr oder weniger offen über Probleme einer gesetzlichen Lösung hinweg. Er kann dies teilweise aber so virtuos, dass ihm eine eigenmächtige Anmaßung nur selten nachweisbar ist. Zudem, und das gilt für alle drei Typen, sind die tatsächlichen, sich in aktuellen Fällen zeigenden Konfliktfelder zwischen einer gesetzlichen und übergesetzlichen Gerechtigkeit nicht von großer Zahl. Dennoch ist der interne Abgleich oder Gerechtigkeitscheck und die dabei in Stellung gebrachte ›Unabhängigkeit‹ ständiger Begleiter des Richters und prägt in diesem Sinne sein Selbstverständnis hinsichtlich der zentralen richterlichen Arbeit. Der dritte Großbereich richterlicher Selbsttypisierungen schließlich ist mit dem Titel ›Antriebs‹-Dimensionen bezeichnet worden und zeigt verschiedene Typen, die ihre Praxis, den Berufsalltag und -werdegang aufgrund innerlicher, persönlicher Antriebe oder Affinitäten ausrichten. Zuvorderst stehen hier die Typen ›Karrierist‹, ›Alternativ-Wettbewerber‹ und ›Service-Richter‹. Je mehr sich der ›Karrierist‹ aus einem rein richterlichen Selbstverständnis in Richtung eines Verwaltungs- und Ministerial-Typus herausbewegt, desto eher gerät er in eine antagonistische Stellung zu einem sich auf ›Unabhängigkeit‹ berufenden Nicht-›Karrieristen‹ und dupliziert innerhalb einer Person die grundlegende Konfliktstellung von ministerialer Verwaltung und, sich in diesem Konflikt auf die unabänderliche ›Unabhängigkeit‹ berufende, Richterschaft. Der ›Alternativ-Wettbewerber‹ versteht es, die in stark reglementierten und reduzierten Aufstiegsstrukturen der Justiz gehemmte und durch Interferenzen mit der richterlichen ›Unabhängigkeit‹ beeinträchtigte Wettbewerbslust menschlicher Berufstätigkeit in andere Felder des richterlichen Alltags zu transferieren: allen voran der Vergleich (in der Zivilgerichtsbarkeit), der sich mehr als die Erledigungs- oder Abänderungsquote zum Vergleich untereinander eignet. Dies führt, aufgrund seiner nachhaltigen Rechtsfriedensschaffung, zu dem dritten wichtigen Typus der ›Antriebs‹-Dimensionen, dem ›Service-Richter‹. Er ist derjenige, der dem Bürger zugewandt ein Selbstverständnis offenbart, welches sich am Dienst an den anderen orientiert, um eine Fairness herzustellen, die auch Wissensdefizite zwischen Laien und rechtskundigen Akteuren überbrücken hilft. Der ›Service-Richter‹ wird als Typus der jüngeren Generation gesehen und bewirkt dadurch gleichsam einen Wandel der Rechtspraxis.
108 Hierbei kann er sich Rechtsprinzipien zunutze machen, die durch ihre Allgemeinheit grundsätzlich Platz lassen, übergesetzlicher Gerechtigkeit einen quasi-gesetzlichen Charakter zu verleihen.
Abbildung 18: Gesamtübersicht Richtertypologie
›Unabhängigkeit‹
Zentrale Selbsttypisierung als Antwort auf das Praxisproblem ›Definition des Falles‹
›Antriebs‹Dimension
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
›BasisDimension‹
Typen-Dimensionen
›Richterkönig‹
›Radbruchianer‹
›Richtigtechniker‹
GskR
GskR
GskR
GskR
GskR
zusammenfassbare Typen (Gegensätzlichkeit - Gsk)
›Befangener‹
›Unberührbarer‹
›zugewandter Richter‹
›Alternativ-Wettbewerber‹
›Karrierist‹
›Judizler‹
›Richterkönig‹
›geschickter Radbruchianer‹
›normaler Radbruchianer‹
›menschlicher Mund des Gesetzes‹
›Herr des Verfahrens‹
›Methodenmonist‹
›Subsumtionsautomat‹
›Akademiker‹
›Frontkamerad‹
›Kollegialrichter‹
›eigener Herr‹
›harter Richter‹
›weicher Richter‹
Typen
260 Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
Erkenntnisgewinn und Bedeutung für die allgemeine Soziologie und Rechtssoziologie
4.2
Erkenntnisgewinn und Bedeutung für die allgemeine Soziologie und Rechtssoziologie
4.2.1
Von der ›Unabhängigkeit‹
261
Die ›Unabhängigkeit‹ als wesentlicher Bestandteil der richterlichen Persönlichkeit, wie sie hier in den Analysen über die Selbsttypisierungen erarbeitet wurde, ist von seiner Anlage her ein Gegengewicht zu sämtlichen liberalen und neoliberalen Argumenten über die Motivationsfähigkeit von Menschen, in denen die Ansicht vertreten wird, dass das Privileg eines gesicherten Einkommens die Arbeitsleistung reduziert und in seiner Qualität schmälert. Für die Zusammenhänge, in denen dieses Argument empirisch gelten mag, müssten die vorgegebenen und die gefühlten Freiheitsgrade der inhaltlichen Arbeit mit der ›Unabhängigkeit‹ der Richter verglichen werden. Die Richter sind der Meinung, durch die ›Unabhängigkeit‹ eine sehr große Freiheit zu besitzen, die ein wesentlicher Aspekt ihrer hohen Motivation (inkl. Arbeitsleistung) und Zufriedenheit für den Beruf darstellt. Freiheit in der Gestaltung ist zudem bereits von Ökonomen als Motivationsfaktor erkannt worden, doch ein »echtes« Loslassen, wie es das für die Richter gibt, wagt kein Unternehmen – höchstens in Ansätzen zeitlich befristet109. Ein weiteres Argument ist gegen das bisher Gefolgerte anzubringen: Die hohe Auslese der Personen bis sie überhaupt Richter werden, ist derart beschaffen, dass nur sehr leistungsfähige und (in der Regel) verantwortungsvolle Menschen den Weg schaffen. Wenn man die juristische Ausbildung und die Rechtsprechungspraxis betrachtet, wird deutlich, dass zudem eine sehr hohe Standardisierung durch Habitualisierung erreicht wird. Die Staatsexamen und die hohe Notenauslese auf der einen Seite, die grundsätzliche Rechtsprechungsbefolgung (als Erwartungsdruck und Gerechtigkeitsargument) und deren Entlastungsfunktion als Routinen auf der anderen Seite lassen im Grunde genommen den Spielraum, auf dem eine inhaltliche ›Unabhängigkeit‹ und Freiheit ausgestaltet werden könnte – zumindest von außen betrachtet –, auf ein relativ kleines Ausmaß schrumpfen. Dass die Richter diesen Spielraum subjektiv als sehr viel größer empfinden, ist eine zu beachtende Größe. Als Gesamtzusammenhang 109 Vielleicht lassen sich die höheren Managementpositionen mit einem gewissen Grad an Unabhängigkeit im richterlichen Sinne vergleichen. Wenn auch auf Zeit, so haben die Manager dort einen großen Spielraum, wobei sie auch inhaltlich enorme Freiheiten haben. Die von außen angelegten Rahmungen beziehen sich auf Kenngrößen wie Gewinnsteigerung, die durch die üblichen Methoden der ökonomischen Ausbildung oder der »on the job« erworbenen Fähigkeiten zu erzielen gesucht wird. Dass dort ähnlich wie bei Richtern vorgängig ein enormer Ausleseprozess bezüglich eines spezifisch geforderten (Manager-) Habitus stattgefunden hat, innerhalb dessen es dann erst die Handlungsfreiheiten gibt, deutet möglicherweise auf Strukturähnlichkeiten machtvoller Positionen hin.
262
Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
lässt sich aber sagen, dass der enorme Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang des Menschen, der hier individuell in einer brillanten Weise mit relativ einheitlicher »Gerechtigkeitssprechung« auf kollektiver Ebene verbunden ist und dem heutigen Zeitgeist, was Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums auf der einen und (auch medial inszeniert und geforderter) Gerechtigkeit auf der anderen Seite angeht, entspricht. Der Beruf des Richters, in manchen Augen ein Relikt vergangener staatlicher Verwaltungsmaschinerie, ist von dieser Seite her gesehen nicht rückschrittlich, sondern fortschrittlich. Er widersteht – auch gerade aus dem Grund der grundgesetzlich garantierten Unabhängigkeit – dem enormen Andrang wirtschaftlicher Kategorien (›ökonomischer Imperativ‹), die über die schon fast vollkommen davon durchdrungene Staatsgewalt der Exekutive über die Ministerien Einzug in die Justiz suchen. Ein wesentliches Ergebnis des empirischen Teils dieser Arbeit ist die Entdeckung der »Typen-Melange« zwischen Richter- und Ministerial-Typus als Konflikt der Typen. Es zeigte sich, dass nicht leichterhand von einem Konflikt (verwendeter) Unabhängigkeit gegen erfolgreiche Richter auszugehen ist, sondern dass die empirischen Befunde als Konflikt der ›Unabhängigkeit‹, als das zentrale Element des Richtertypus insgesamt, gegen den Einfluss eines Ministerial-Typus zu deuten sind. Damit ist ferner der generelle Konflikt von einem »reinen« Berufstypus gegen Hybride erfasst. Allerdings ist einzugestehen, dass es sich immer noch um ein relativ enges Hybrid handelt, da man von einem allgemeinen Juristen-Typus sprechen kann.110 Zugrunde liegt in diesem Typenstreit zwischen Richter- und MinisterialTypus der Konflikt der Exekutive (mit dem Paradigma des ›ökonomischen Imperativs‹) und der Judikative (mit dem Paradigma der Gerechtigkeit). Carsten Schütz argumentiert in seiner Abhandlung zum ökonomisierten Richter aus Sicht der Gewaltenteilung gegen die richterliche Unabhängigkeit, die seiner Meinung nach ein »nicht wegzudiskutierendes antidemokratisches Element« enthält (Schütz 2005: 131). Der Judikative fehlt seiner Meinung nach die demokratische Legitimierung und besonders die Kontrolle, die sie ihrerseits jedoch über die Exekutive und Legislative ausübt (Schütz 2005: 124 ff.). Dieses formal richtige Argument übersieht dabei den bedeutenden Einfluss, den die Besetzung der obersten Gerichtshöfe und besonders des Bundesverfassungsgerichts durch die politischen Parteien ausübt. Schütz kritisiert andererseits den zu starken Einfluss der Exekutive, die aufgrund ihrer verwaltungstechnischen Verstrickung mit der Rechtsprechung eine potentielle Steuerungsmacht hinsichtlich der Justiz besitzt, deren 110 Eine ähnliche Hybridbildung (allerdings ohne die gewichtigen Folgen für einen generellen Richtertypus) zeichnet sich auf der Seite des ›Akademiker‹-Typus ab, der Anschluss zu den Rechtswissenschaftlern an den Universitäten hält. Von Bedeutung kann ein solcher Hybridtypus bei der Besetzung von Verfassungsrichterpositionen sein.
Erkenntnisgewinn und Bedeutung für die allgemeine Soziologie und Rechtssoziologie
263
Stärke durch »informelle Einflußnahmen im Umfeld der Richter« ausgeübt wird (Schütz 2005: 114). Im Rahmen der Beurteilung des Einflusses »Neuer Steuerungsmodelle« (NSM), die dem Geist des in dieser Arbeit verwendeten Begriffs des ›ökonomischen Imperativs‹ entsprechen, kommt Schütz zu dem Ergebnis, dass diese NSM »zu einer systemimmanenten Dominanz quantitativer Handlungsmaßstäbe« führt, der sich der einzelne Richter im Rahmen seiner Unabhängigkeit nicht erwehren kann (Schütz 2005: 428 f.). Eine richterliche Selbstverwaltung sei aber aufgrund der angemerkten Probleme (antidemokratisches Element, fehlende demokratische Legitimierung) nicht empfehlenswert, vielmehr sollte hier ein richterlich organisiertes Qualitätsmanagement entgegengesetzt werden. Unsere Analyse hinsichtlich der Bedeutung der ›Unabhängigkeit‹ für das Selbstverständnis der Richter kommt zu einer ähnlichen Einschätzung. Gerade die (ständige) Reibungsfläche der Judikative mit der Exekutive in der Symbiose der Justiz fungiert als Kontrolleinfluss, der es den Richtern ermöglicht, ihre ›Unabhängigkeit‹ zu aktualisieren und ständig zu definieren, mithin zu hinterfragen, um nicht im Typus des ›Richterkönigs‹ oder ›Befangenen‹ aufzugehen. Gleichsam ist die gesetzliche Unabhängigkeit Pfand und Garant dieses ›Unabhängigkeits‹Selbstverständnisses, welches einen allgemeinen deutschen Richtertypus fundiert, der bei individuell empfundener und motivierender Freiheit eine (grundsätzlich) verlässliche Rechtsprechung auf kollektiver Ebene hervorbringt.111 Von der Gerechtigkeit Auch wenn das Thema Gerechtigkeit, direkt angesprochen, von den Richtern eher abgetan wird, ist es in Bezug auf ihre Fallarbeit hochvirulent. Wir haben in der Typenbildung unter dem Gesichtspunkt des ›Gesetzes- und Methodenbezugs‹ das ständige Spannungsfeld zwischen gesetzlicher und übergesetzlicher Gerechtigkeit herausgearbeitet. Dort wurde gezeigt, wie der Richter sich mithilfe seines ›Unabhängigkeits‹-Selbstverständnisses in diesem Feld positioniert. Das Vertrauen wird auf der einen Seite in die rationale Handhabung in Form von Gesetzen (inkl. Verfahren) und Methoden der Rechtsfindung gelegt und auf der anderen Seite in 111 Die Unabhängigkeit wurde nach Werle (1977) in niedrigeren R-Stufen als bedroht wahrgenommen, nach unseren Ergebnissen ist sie dort jedoch präsenter und prägender Bestandteil der Selbsttypisierungen. In den oberen R-Stufen wird sie durchmischt mit dem Verwaltungs-Ministerial-Typus und ist in diesem typenorientierten Sinne eigentlich bedroht. Der Werle’sche Ansatz ließe sich dann auf die Inszenierung über die ›Unabhängigkeit‹ einordnen oder positiver formuliert gibt die Besorgnis der Richter in niedrigeren R-Stufen um die ›Unabhängigkeit‹ die starke Bedeutung für das Selbstverständnis wieder, wo hingegen in den höheren R-Stufen die ›Unabhängigkeit‹ weniger bedroht wahrgenommen wird, weil sie nicht (ausschließlicher) Bestandteil der Metaberufsidentität ist. Lautmann (1970) sah die Unabhängigkeit mehr als Vehikel, die eigenen Interessen des Richters durchzusetzen. Nach unseren Ergebnissen ist sie das grundsätzliche richterliche Selbstverständnis, welches deshalb immer genutzt wird, weil es konstitutiv ist. Sie ist somit kein Vehikel, welches genutzt wird (auch wenn es auf einer Oberfläche so erscheint), sondern unumgänglicher Bestandteil des richterlichen Selbstverständnisses, der in sämtliche Richtungen wirkt bzw. genutzt wird.
264
Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
ein übergesetzliches und überrationales Rechtsempfinden. Der Punkt, der hier von Bedeutung ist, liegt jedoch nicht in dem Entweder-Oder, ein solches Dilemma ist höchst selten, sondern in der eigenen Justierung innerhalb des Entscheidungsraums, der beide Pole umfassen kann. Diese individuelle Positionierung, die unter Zuhilfenahme der ›Unabhängigkeit‹ zum tendenziell abgelehnten Pol konstituiert wird, ist die zentrale Selbsttypisierung richterlicher Rechtspraxis innerhalb der ›Definition des Falles‹.
4.2.2
Vom Generationenwechsel
Die Generationenabhängigkeit richterlicher Praxis, die durch die jeweilige Kulturprägung der Richter von gesamtgesellschaftlichen Veränderungen stark beeinflusst ist, war ein wichtiges Ergebnis der empirischen Analyse (vgl. Abschnitt 3.4.3.3). Die von Kaupen (Kaupen 1969; Kaupen und Rasehorn 1971) in die rechtssoziologische und rechtswissenschaftliche Debatte geholte Differenzierung von konservativ vs. fortschrittlich oder liberal ist nach unseren Ergebnissen keine sinnvolle ›Mastermatrix‹ zur Einteilung der Richter. In manchen Typen scheint es Konservatives zu geben, so etwa die Tendenz zu Rechtsprechungslinien mit dem Argument, »der Partei sei nicht geholfen, sie in ein weiteres Rechtsmittel zu schicken«. In anderen Typen sieht man Fortschrittliches, so die Anordnung des Selbstverständnisses zwischen ›Unabhängigkeit‹ und gleichförmiger Rechtsprechung und die generationenbedingte Hinwendung zum ›zugewandten Richter‹-Typus, doch ist dies nicht in ein zentrales Antagonistenpaar zu bringen, welches sich als dominante Selbsttypisierungen rekonstruieren lässt. Grundsätzlich – und das ist thematisch dort einzureihen – kann aber von einem Wandel gesprochen werden, der fort von dem Bild des Richters geht, welches Kaupen und Rasehorn als konservativ im Blick hatten. Hierbei ist allerdings Vorsicht geboten, denn aktuelle Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Richtern, auf die eine solche Aussage hinausläuft, können lebensaltersbedingt sein, d. h. die heutige junge Kohorte könnte, wenn sie später die alte ist, gleiche oder ähnliche Differenzen zur dann jungen Kohorte aufweisen wie die ältere heute zu ihnen jetzt. Höfling und Schäfer (2006: 77 f.) argumentieren nachvollziehbar mit dem lebensaltersbedingten Auftreten von Ereignissen, in jenem Fall die größere Erfahrung von schwereren Leiden und der Gewahrwerdung des Todes bei Älteren, was Auswirkungen auf die jeweilige Einstellung hat – in jener Untersuchung eine erhöhte Ablehnung der Straffreistellung der aktiven Sterbehilfe. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu den Analysen zur Bedeutung des nicht rechtlichen Wissens (siehe Abschnitt 1.2.2.7), die sich aus der Lebenswelt und folglich auch dem Lebensalter ergeben kann. Eine lebensaltersbedingte Konstanz anzunehmen, widerspricht jedoch den Befunden des sich ändern-
Erkenntnisgewinn und Bedeutung für die allgemeine Soziologie und Rechtssoziologie
265
den Verhaltens in den Interaktionen mit sachunverständigen Personen, wie es oben dargelegt wurde. Aufgabe weiterer Forschung müsste es sein, spezielle Analysen zum veränderten Umgang der jüngeren Richterschaft mit Naturparteien – insbesondere sachunverständigen – durchzuführen, so etwa Trennlinien zwischen situationsgebundenen und personengebundenen Umgangsweisen zu finden. In welchen Situationen dominiert grundsätzlich welche Handhabung mit Sachunverstand?112 Welche Personen- und damit Richtertypen gibt es, die spezifische Handhabungen präferieren?113 Die Untersuchung dieser zwei Aspekte könnte den doppelseitigen Charakter alltäglicher Interaktionsanforderungen bei Gericht beleuchten: zum einen die strukturell dominanten Formen der Gerichtssituation, zum anderen individuelle Handlungsmerkmale, die Rückschlüsse auf die Identität und das Selbstverständnis von Richtern zulassen. In einem weitergehenden Schritt könnten die allgemeinen Interaktionsanforderungen den je individuellen Ausdrücken gegenübergestellt werden. Hier ließe sich die Diskrepanz zwischen kollektivem Anspruch und individuellem Interesse, zwischen kollektiver Moral und individueller Moralität114 in den Blick nehmen. Der Umgang mit Sachunverstand vor Gericht, als eine Kompetenz 112 Aus den arbeitsgerichtlichen Studien Rottleuthners (1984: 296) kann man den Schluss ziehen, dass es sich bei kompensatorischen und sanktionierenden Handlungen während des Prozesses richterlicherseits nicht um personengebundene Reaktionsweisen, sondern vielmehr um situationsspezifische Handhabungen handelt. Dies verweist auf den allgemeinen gesellschaftlich geprägten Charakter der Interaktionen für spezifische alltägliche Handlungssituationen. Auf die Ergebnisse dieser Untersuchung bezogen und damit den Fokus stark erweiternd lässt sich bei den ›Basis‹-Dimensionen eine Strukturspezifik herauslesen (Strafrichter ›harter Richter‹- und Zivilrichter ›weicher Richter‹-Typus); die Ebene einer situationsspezifischen Handhabung, die sich aus der jeweilige Fallkonstellation ergeben müsste (Richter sind in Fallkonstellation A hart, in B weich), ist ein möglicherweise fruchtvoller Anschluss für neue Forschungen. Sie müssten vom Fall her kommen und nicht von der Person des Richters. Als ein Ansatz dazu könnte die Analyse von Stegmaier (Stegmaier 2008: 150 f.) angeführt werden, der an ein und derselben Richterperson in jeweiliger Fallabhängigkeit sozial-moralische Einstellungen von Verfahren ausmacht sowie persuasive Vorladungen, die als weich und hart charakterisiert werden könnten. Eine solche Typologie wäre dann allerdings keine Richtertypologie, sondern eine Falltypologie. 113 Die aktuelle Kommunikationshandhabung durch den Richter nimmt in der Perzeption des Sachunverständigen einen wichtigen Stellenwert ein und wird nicht einfach nur dem untergeordnet, »was dabei rauskommt«. Die internationale Untersuchung von Lind (1995) zur Verfahrensgerechtigkeit zeigt, dass für die Akzeptanz rechtlicher Autoritäten und der Befolgung ihrer Entscheidungen insbesondere die Bewertungen der Fairness von Verfahren eine wichtige Rolle spielt und nicht, wie man zunächst vermuten würde, der Ausgang der Entscheidung. Auf die hier behandelte Fragestellung bezogen bedeutet das, dass der Umgang mit der unwissenden Partei, also das »Wie«, für die Akzeptanz des Gerichtes wichtiger zu sein scheint als das Ergebnis, das »Was«. Es spricht einiges dafür, dass dieses »Wie« durch persönliche Eigenschaften des Richters erschaffen wird und nicht durch situationsspezifische Eigenschaften. Hier schließt sich der Kreis mit der Richterauswahl durch die Profession (s. o.), die sehr wohl darum bemüht ist, eine Anlage für einen richterlichen Habitus im gegenseitigen Miteinander zu finden und durch dessen Auswahl zu reproduzieren. 114 Siehe hierzu Soeffner (2000: 331).
266
Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
basierend auf außerrechtlichen Interaktionsanforderungen, kann schließlich in einem Spannungsverhältnis von Identität – Justiz – Gesellschaft beschrieben werden, welches weitere Aufschlüsse zum richterlichen Selbstverständnis bietet.
4.2.3
Vom Handlungsproblem des Richters – Die ›Definition des Falles‹
Die Analyse des richterlichen Handlungsproblems in der Einführung des empirischen Teils der Arbeit (siehe Abschnitt 3.1.2) kam zu dem Ergebnis, die »Zuführung zur Lösung« eines Falles, als zentrale Handlungsnotwendigkeit unter Unsicherheit, als Kernproblem richterlicher professioneller Praxis zu verstehen. In und aus dem heraus entwickeln sich die in den Analysen rekonstruierten Selbsttypisierungen der Richter bezüglich der Ausübung ihres Berufes. Die zentrale empirisch gewonnene Kategorie der ›Unabhängigkeit‹, im Sinne eines verinnerlichten habitualisierten Selbstverständnisses, ist die Antwort auf jenes Handlungsproblem. Mit dieser Selbsttypisierung im Hintergrund lässt sich das zunächst empirisch-heuristisch entworfene Handlungsproblem abschließend theoretisch fassen. Dies wird mithilfe der Konzeption der ›Definition des Falles‹ geschehen, die ihren Ausgangspunkt von der ›Definition der Situation‹ nimmt. 4.2.3.1
Der Richter als herausragender Situationsdefinierer
Bei der ›Definition der Situation‹ sah William I. Thomas das Individuum nicht nur den in der Sozialisierung verinnerlichten Gruppennormen unterworfen. Neben den kleinen Abweichungen, die aufgrund von bewusstem Handeln oder Unwissen (nicht alle Normen von Situationen können jedem einzelnen Mitglied einer Kultur bekannt sein) stattfinden, gibt es auch Einflüsse von Personen, die weitergehende Bedeutung haben. Den Inhalt von Kultur zu beeinflussen, gelingt aufgrund ihrer Macht und ihres sozialen Kapitals insbesondere den sogenannten speziellen Situationsdefinierern, den »special definers of situations« (Thomas 1937: 8). Hierzu rechnet Thomas neben dem Propheten, Medizinmann, Wissenschaftler und Gesetzgeber auch den Richter.115 Wir teilen diese grundsätzliche Ansicht der Bedeutung richterlichen Handelns. Doch auch ohne schon gleich auf den Einfluss auf diese Makroebene zu verweisen, haben wir durch die spezielle Situation des richterlichen Handlungsproblems und deren inhärente Notwendigkeit der Situationsdefinition, verstanden als Konglomerat sachverhaltlicher und normativer Definitionen,
115 Vgl. Volkart (1965: 21) und dort nochmals Thomas (1965: 147 und 288).
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einen machtvollen »Situationsdefinierer« auf der Mikroebene. Seine Definition hat für die Betroffenen unmittelbare lebensweltliche Auswirkungen. Vergegenwärtigen wir uns zunächst das viel zitierte Thomas-Theorem: »If men define situations as real, they are real in their consequences« (Thomas und Thomas 1928: 572).116 Die Macht zur endgültigen und abschließenden Situationsdefinition in einem gerichtsanhängigen Fall liegt beim (oder haben die) Richter, auch wenn viele Anteile davon (zumal im Zivilprozess) durch die Parteien eingebracht und im gesamten Prozess ausgehandelt werden. Der Richter definiert somit letztlich »seine« Sichtweise der (ausgehandelten) Situation, des Falles, als »real«, als gültig.117 Im Namen des Volkes wird das Urteil erlassen – es gibt wohl kaum deutlichere Zusammenhänge sozialen Handelns, in denen die Definitionsmacht118, die Definitionssetzung119 und die verbindlichen realen Konsequenzen120 derart verdichtet und umgehend zusammenfallen wie beim richterlichen Handeln. Dies bedingt die herausragende Position des Richters als »Situationsdefinierer«. Das Problem der Situation der gesamten gerichtlichen Interaktion aus Sicht des Richters, so kann hier zusammengefasst werden, ist die ›Definition des Falles‹. Die Bestimmung der Situation ist dabei an die konkrete Anforderung der richterlichen Praxis gebunden, d. h. andererseits, dass sie in ihren prinzipiellen Möglichkeiten auf das praktisch Relevante begrenzt ist. Oder mit anderen Worten: »Die Situation braucht nur insofern bestimmt werden, als dies zu deren Bewältigung notwendig ist«, es findet somit eine Auswahl offener Elemente durch das »plan116 An dieser Stelle soll ein kleiner Hinweis zur Zitation und Urheberschaft des Thomas-Theorems erlaubt sein: Der hier zitierte Satz ist das Original, aus dem von zwei (zu dem Zeitpunkt nicht verheirateten aber gleichnamigen und später dann verheirateten) Autoren (William Isaac Thomas und Dorothy Swaine Thomas) 1928 veröffentlichten Buch »The Child in America. Behavior Problems and Programs«. Die Autorenschaft ist den Zitationsregeln wissenschaftlichen Arbeitens gemäß (vgl. Rost und Stary 2006: 184 ff.) also beiden zuzuordnen, auch wenn Dorothy S. Thomas in einem Briefwechsel mit Robert K. Merton diesem versicherte, dass das Konzept der ›Situationsdefinition‹ alleine auf William I. Thomas zurückgeht. Die sich an diverse unterschiedliche Zitationsweisen anschließende Diskussion ist amüsant zu lesen und gibt einen wissenschaftssoziologisch äußerst aufschlussreichen Einblick in die Relevanzstrukturen der wissenschaftlichen Profession, vgl. hierzu Merton (1995). 117 Hier wird im Folgenden von einer nicht so starken Dominanz der Inszenierung im Aushandlungsprozess ausgegangen. 118 Die einzige inhaltliche Bindung des Richters ist das Gesetz (siehe zur Unabhängigkeit Abschnitt 3.5 und 4.2.1), was ihn an dieser Stelle fundamental vom Soldaten und dessen hierarchischen Bindung unterscheidet, welcher hinsichtlich der Definitionssetzung und der Konsequenzen dem Richter aber sehr ähnlich ist. Gerade dieses Element der Definitionsmacht und dessen daraus folgenden Handlungsprobleme stehen im Mittelpunkt der in dieser Arbeit rekonstruierten Selbsttypisierungen und damit dem Selbstverständnis der Richter. 119 Die endgültige Festlegung der Situationsdefinition, die in der schriftlichen Form des Urteils (vom Rechtsbehelf einmal abgesehen) mündet und die durch staatliche Exekutivorgane und somit von der Person des Richters völlig unabhängige Garantie deren Gültigkeit. 120 Der durch die staatlichen Exekutivorgane durchgeführte Vollzug.
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Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
bestimmte Interesse« statt »vor dem Hintergrund der vorbestimmten (bzw. vorstrukturierten) Elemente der Situation« (Schütz und Luckmann 2003: 168). Diese Bewältigung der Situation besteht für den Richter in der »Erledigung« des Falles (vgl. hierzu Abschnitt 3.2.3), was sein plan-bestimmtes Interesse darstellt. Insofern ist die Notwendigkeit des Definierens, der Zwang, zu einem Punkt zu kommen (der Richter kann nicht nicht-entscheiden), nicht auf eine ontologische Wahrheitsdefinition der Situation angewiesen. Unter dem Aspekt des plan-bestimmten Interesses genügt eine Definition, von der der Richter prinzipiell weiß, dass sie praktisch ausreichend ist, selbst wenn sie einer ontologischen Wahrheitsdefinition gegenüber defizitär sein könnte (vgl. dazu das »halbwegs« aus D9:19 in Abschnitt 3.1.2). Die praktische Tätigkeit mit ihren zeitlichen, personalen und ökonomischen Restriktionen lässt ihn folglich schon immer – ob bewusst oder unbewusst – die Situation definieren »›as if‹ it were so« (Thomas in Janowitz 1966: 160), das heißt mit ihren für das reale Verhalten höchst folgenhafte »als ob«. Neben dieser eigenen Definitionsleistung des Richters stehen die vorläufigen Situationsdefinitionen des Falles der Parteien, deren plan-bestimmtes Interesse die maximale Durchsetzung des eigenen Interesses gegen den Gegner ist. Aus solchen unterschiedlichen, antagonistischen Situationsdefinitionen der Parteien stammt letztlich der Fall: Der »Gang der Gewohnheiten« war unterbrochen, es entstand eine Krise »im Interessenkonflikt zwischen einzelnen untereinander und zwischen einzelnen und der Gruppe«, wozu nach Thomas Diebstahl, Raub und Vergehen gehören. Eine solche Krise »bringt auch die spezialisierten Berufe hervor«, unter anderen die Richter, »die eine besondere Fähigkeit zur Bewältigung von Krisen besitzen oder zu besitzen vorgeben« (Thomas 1965: 288 f.). Nach Hitzler hat die Gesellschaft für solche Krisen Experten mit Mehr- oder Sonderwissen, die »über die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit« verfügen (Hitzler 1999: 300). Der Begriff des ›Experten‹ und die Fokussierung auf die Leistung einer »Konstruktion« sind in Bezug auf den Richter kritisch zu hinterfragen. Letzteres wurde in der Analyse oben bereits vorweggenommen, nämlich dass die Leistung des Richters Konstruktions- und Rekonstruktionsbemühungen in Form der Definitionsleistung darstellt. Die Frage nach dem »Experten« soll im Folgenden unter professions- und gruppensoziologischen Gesichtspunkten behandelt werden. 4.2.3.2
Der Experte in der Dyade – Der Richter in der Triade
Wichtige Ergebnisse interaktionistischer Analysen zur Situationsdefinition im professionellen Kontext zeigen, dass in asymmetrischen Interaktionen zwischen Professionellen und Laien die Definitionsmacht nur scheinbar bei dem formal dazu befugten Akteur liegt (vgl. Pfadenhauer 2003: 137 f.). So waren insbesondere die
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Forschungen von Reichertz und Schröer (1992) wegweisend, in denen in einer Fallanalyse einer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung geradezu eine Umkehrung der Situationsdominanz festgestellt wurde (vgl. Schröer 1992, 1992, 1994). Nicht die formale Definitionsmacht sei ausschlaggebend, sondern die Fähigkeit der Akteure, diese Macht im Aushandlungsprozess – für die eigenen Interessen einsetzend – zum Dirigieren der Situation zu nutzen (Pfadenhauer 2003: 138)121. Diese Ergebnisse sind insofern von Bedeutung, als dass sie die spezielle Interaktionssituation von einem Professionellen und einem Laien in der Dyade beschreiben und strukturell die Definitionsmachtverhältnisse entgegen der (oder im Verbund mit der) formalen (ambivalenten) Ausgangslage beleuchten. Diese Betrachtung ist insbesondere für die Vernehmungssituation im polizeilichen Verhör und auch in der Arzt-PatientenInteraktion122 der Fall und auf diese anwendbar. Von daher kann man nicht pauschal von einer formal asymmetrischen Interaktionsbeziehung auf die Definitionsmacht des professionellen Akteurs in der Dyade schließen. Wenn wir die Analyse an dieser Stelle fortführen und auf die spezielle Interaktionssituation bei Gericht wenden, müssen wir zunächst die grundlegende Dyade aufbrechen und in eine Triade transformieren. In Anlehnung an Simmel 121 Man kann hier kritisch anmerken, dass selbst die formale Situation nicht ganz eindeutig zugunsten oder zuungunsten des einen oder anderen beschaffen ist. Schröer stellt einerseits die »institutionell abgesicherte Dominanz des Vernehmungsbeamten« heraus, der sich über formale Interaktionsmerkmale bestimmt, Rederecht, Themeneinführung und –abbruch, Relevanzsetzungen, aber auch Dauer, Ort und gegebenenfalls die Wiederholung der Interaktion (Schröer 1992: 22 f.). Dies ist sicherlich die »intuitive« Asymmetrie bei Betrachtung der Vernehmungssituation. Doch dann zeigt Schröer andererseits gerade die Teile der formalen Stellung des Beschuldigten (Zeugnisverweigerungsrecht, Genehmigung des schriftlichen Protokolls) auf, die seine in der Aushandlung erwirkte Dominanz zumindest mitbefördern: »Der polizeiliche Vernehmungsbeamte ist wie kein anderer der im Strafprozeß Vernehmenden gezwungen, den Status des Beschuldigten als Prozeßsubjekt zu hintertreiben und auszuhöhlen; eine Situation herzustellen, in der der Beschuldigte ›nicht mehr‹ Herr seiner Entscheidungen ist. – Genauer: Er ist aufgrund seiner in jeder Beziehung ›schwachen‹ Stellung im Verfahren genötigt, kommunikative Lagen zu schaffen, in denen dem Beschuldigten die ihm aus dem verfahrensrechtlichen Rahmen erwachsenen Möglichkeiten unklar werden oder verborgen bleiben« (Schröer 1992: 207; Hervorhebung T.B.). Die Situation wird hier als grundsätzlich asymmetrische formale Stellung zugunsten und nicht zuungunsten des Beschuldigten beschrieben – die Umkehrung dieser Lage wird vom Vernehmenden mithilfe seiner Aushandlungsfähigkeiten gesucht. Die formale Stellung selbst ist demnach schon ambivalent zugunsten und zuungunsten des einen oder anderen beschaffen (zur Geschichte und heutigen dogmatischen Bedeutung der darin befindlichen Gegensätze vergleiche die Arbeit zum nemo-tenetur-Satz im materiellen Strafrecht bei Kölbel (2006)). Wenn nutzvolle formale Macht in ausreichender Weise vorliegt, dann geht es nur noch um die Fähigkeit und das Wissen, diese formale Macht zu nutzen. 122 Soeffner hat diese dyadische Sichtweise der Interaktion Richter mit Naturpartei (bei ihm zumeist Angeklagter im Strafprozess) durch den Vergleich des Richters mit dem Psychoanalytiker verstärkt (Soeffner 1988: 34 ff.) und dadurch auf die wichtigen Probleme dieser speziellen Face-to-faceSituation hingewiesen. Für die Betrachtung der Gesamtsituation ist diese Teilsituation als ein wichtiges Fragment zu sehen. Leider stellt Soeffner bei der Unterscheidung zur Therapiesituation diesen fragmentarischen Charakter der isolierten Dyade zur Gesamtsituation (beim Richter) nicht heraus.
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Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
haben wir sodann mit dem Dritten den Richter als Unparteiischen und Schiedsrichter.123 Das »Auftreten des Dritten bedeutet Übergang, Versöhnung, Verlassen des absoluten Gegensatzes« (Simmel 1992: 124). Der Unparteiische ist, von persönlichem Interesse befreit oder gleichmäßig von beiden berührt, derjenige, der von der reinen Gefühlsebene befreit die Sachlichkeit einer Abwägung mit unpersönlichem Intellekt herzustellen vermag. Simmel führt hier als Beispiel explizit die Streitschlichtung zwischen englischen Arbeitern und Unternehmern an (Simmel 1992: 129), wobei der Schlichter keinem der beiden Kreise angehören darf. Er übernimmt die Funktion des Mittlers, der, sofern er von den Parteien gewählt wird, möglichst wenig mit ihren Zwistigkeiten zu tun haben sollte. Die letztliche Entscheidung der Einigung liegt vollkommen bei den beiden Streitenden, so wie es für den Richter heute in einem Vergleich der Fall wäre. Mit diesem vermittelnden Unparteiischen ist folglich schon der erste wesentliche Aspekt des heutigen Richters als Dritter beschrieben. Der zweite Aspekt, so Simmel, ist der des Schiedsrichters, dem aufgrund des großen subjektiven Vertrauens beider Parteien die Macht über die Beendigung durch eine abschließende Entscheidung vollkommen übertragen wird. Hier liegt nach Simmel jedoch ein Unterschied zum staatlichen Gericht vor, weil hier nur das Vertrauen des Klägers in den Schiedsrichter vorhanden ist, der Beklagte oder Angeklagte in den Prozess eintreten muss (Simmel 1992: 131). Dies ist (für die heutige Situation) nur teilweise nachvollziehbar, da die Person des Richters (wenn es sich denn um ein persönliches Vertrauen handeln soll, wie ich Simmel hier verstehe) nicht wählbar ist. Es gibt stattdessen den gesetzlichen Richter, das Vertrauen kann demnach nur in den rechtsstaatlichen Prozess gelegt werden, und persönliche Vertrauensmissgünste sind über Prozessordnungen als Ablehnung initiierbar. Das gleiche abstrakte Vertrauen in den Rechtsstaat kann der Beklagte oder Angeklagte haben. Nichtsdestotrotz bleibt bei der gerichtlichen Anrufung durch eine Seite eine Asymmetrie bezüglich des Verständnisses: hinsichtlich eines Streitpunktes Recht zu haben bzw. das Phänomen überhaupt als einen Streitpunkt aufzufassen. Der Richter, im Simmel’schen Sinne als Unparteiischer und Schiedsrichter verstanden, nimmt die für unsere weitere Betrachtung wichtige Stellung des Dritten ein.124 Der sich durch unsere empirischen Analysen als wesentlicher Faktor herausgebildete 123 Weder der ›tertius gaudens‹ noch das ›divide et impera‹ sind je als dritte Figuren auf den (heutigen) Richter anwendbar. 124 Vgl. neben Simmel auch die in diese Richtung gehenden Bezüge bei Trotha (2000: 328 ff.), der im Streitfall durch das Hinzukommen des Dritten überhaupt erst die Entstehung von Recht sieht, dazu auch Stegmaier (2008: 57). Stichweh (1994: 302 f. und 320 ff.) hingegen fokussiert in seinen professionssoziologischen Analysen zu Juristen auf die Professionellen-Klient-Dyade bei gleichzeitiger Ausblendung des Richters. Vermittelnde Professionen oder Semiprofessionen bekommen dabei eine quasi-Stellung als Dritte. Diese Dritten-Position aber, die hierarchisch unter der zentralen Dyade angesetzt wird (als Helfer oder Zuarbeiter), ist gänzlich verschieden von der hier vorgeschlagenen Position des Richters als Dritter im Sinne von Simmel oder auch Trotha.
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Aspekt der ›Unabhängigkeit‹ hat im Sinne des Dritten seine theoretische Entsprechung. Die Konstellation ist somit keine Dyade, sondern eine Triade, was folgenhaft für die weitere Definition dieser Konstellation ist. Der professionelle Akteur (Richter) steht in einer Interaktionsbeziehung mit zwei weiteren Akteuren, die ebenfalls Professionelle (Anwälte) oder ganz oder teilweise sogar Laien (Naturparteien) sein können.125 Die konflikthaften Situationsdefinitionsdifferenzen bestehen in aller Regel zwischen den Kontrahenten des Rechtstreites und werden via Richter (das Gericht) ausgehandelt. Dieser hat die neue verbindliche Definitionsleistung zu erbringen, oder anders formuliert: Die Gerichtsverfahren werden angestrengt »with the intent of defining and readjusting social situations« (Mead 1918: 586 FN 1).126 Dies führt zu einer unterschiedlicheren Konstellation der Definitionsmacht der Akteure als in der oben beschriebenen Dyade. Das Dirigieren und das Nutzen der zur Verfügung stehenden formalen Mittel (die ja auch die Parteien haben im Sinne der PO) sind weiterhin eine entscheidende Kompetenz für die Definition des Falles. Diese Kompetenz muss erst erworben werden (siehe Abschnitt 3.4.3.3), ist aber Kernaufgabe des Richters in der Verhandlungs- und Fallführung. Während sie bei den Partei-Akteuren in anta125 Die Situation des Klienten mit seinem Anwalt als professionellen Akteur stellt die in den anderen Fällen geschilderte asymmetrische Dyade dar. Aus Sicht des zuhandenen Wissens gibt es zwar zwei Gruppen (vgl. Soeffner 1988: 28), auf der einen Seite die Laien mit dem (aber je unterschiedlichen Relevanzen unterworfenen) Wissen um die damalige Alltagssituation (Ereigniswissen), auf der anderen den Richter (und eventuell die Anwälte) mit dem für die aktuelle Situation relevanten Verfahrenswissen und das für die ›Definition des Falles‹ insgesamt relevante Rechtswissen. Diese Wissensasymmetrie zweier Gruppen im Sinne des Schemas Experte/Laie verstanden, darf aber nicht als dominante strukturelle Grundlage der Interaktion überbewertet werden. Bei Forschungen, die sich explizit auf die Dyade konzentriert haben, muss dieser Umstand berücksichtigt werden. Dies ist etwa auch für die Jugendgerichtsforschungen von Soeffner der Fall, in der sich die Leitfragenstellung auf die Hilflosigkeit der Laien vor Gericht bezog (vgl. Soeffner 1983: 74). Dominant und konstitutiv für die ›Definition des Falles‹, wie sie in unserer Untersuchung im Mittelpunkt steht, ist der triadische Aspekt der konkurrierenden Aushandlung von Definitionsansprüchen der Parteien über den Dritten, den Richter. Oder anders formuliert: »Die Definitionsmacht der streitenden Parteien für die normativen Sachverhalte wird durch den Dritten herausgefordert« (Trotha 2000: 331) und die »normative Sicht des Dritten wird zum Urteil, in dem die Allgemeinheit die Definitionsherrschaft über die normative Ordnung kundtut« (Trotha 2000: 336). 126 Mead benennt unsere These hier nur beiläufig und führt das nicht weiter aus, da er einen anderen Zusammenhang im Blick hat, in dem er den Zivilprozess von dem Strafprozess unterscheiden möchte. Er schreibt, dass »der größte Teil der Zivilprozesse in der Absicht angestrengt und durchgeführt wird, soziale Situationen zu definieren und neu anzupassen, ohne auf die feindseligen Einstellungen zurückzugreifen, die den Strafprozeß charakterisieren« (Mead 1987: 264 FN 2). Für Mead ist an dieser Stelle wichtig zu zeigen, dass im Zivilprozess – gegenüber dem Strafprozess – keine oder kaum Rückgriffe auf »feindselige Einstellungen« stattfinden, die Kontrahenten in derselben Gruppe verbleiben und dass ihm »Respekt vor dem Gesetz und die Majestät des Gesetzes« (Mead 1987: 264 FN 2) fehlen. Diese Abgrenzung berührt aber im Kern nicht die Aussage zur Definitionsleistung (die wir auf alle Prozessformen beziehen), sondern die Haltung gegenüber dem Gesetz oder Verfahren.
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gonistischer Weise gegeneinander verwendet wird, nimmt der Richter eine je zugewandtere Position ein.127 Das ist neben der formalen Definitionsmacht eine zusätzlich interaktionsstrukturelle Definitionsmacht für den Richter in der spezifischen Triade der gerichtlichen Interaktion. Die Akzeptanz des richterlichen Dirigierens ist in der Triade höher als in der Dyade, weil die antagonistische Definitionsposition beim Gegner liegt und in aller Regel nicht (in größerem Maße) beim strukturell definitionsmachtinnehabenden Akteur, dem Richter.128 Jener muss die verschiedenen und teilweise entgegengesetzten Definitionen deuten, Soeffner beschreibt dies für die Verhandlung, sie »ist daher formal so angelegt, daß sie systematisch die unterschiedlichen Stellungnahmen der Parteien ans Licht bringt und damit bis in die zusammenfassenden Plädoyers der Anwälte und/oder Staatsanwälte hinein ein disharmonisches Gebilde ›verschiedener Realitäten‹ und Deutungen zeigt.« (Soeffner 1988: 37)
Diese als stellvertretende Deutung in Analogie zum Psychoanalytiker beschriebene Situationsanforderung zu bewerkstelligen, liegt zuvorderst in der Hand des Richters. Wir gehen als Ergebnis dieser Betrachtung davon aus, dass der Richter neben dem Innehaben der formalen Definitionsmacht nicht nur die Kompetenz des Dirigierens in herausgehobener Bedeutung zu erwerben hat, sondern auch interaktionsstrukturell für die Ausübung der Definitionsmacht der Situation als Dritter der Triade und dem damit korrespondierenden ›Unabhängigkeits‹-Selbstverständnis prädestiniert ist.129 4.2.3.3
Definition als kontrollierte Transformation
Ein weiterer Aspekt professionssoziologischer Annahmen ist in Bezug auf die Definition der Situation für unsere Analyse von Bedeutung. Pfadenhauer (2003: 139 127 Hier wird von den Fällen abgesehen, in der der Richter über die Forderung der einen Seite noch hinausgeht, wie es gelegentlich bei Strafmaßen in Urteilen gegenüber der staatsanwaltlichen Forderung der Fall ist. 128 Hier soll und kann nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass dies vermehrt für den Zivilprozess gilt und besonders bei einer sehr ungleichen Verteilung von Macht zwischen den Parteien problematischer wird. So ist im Aushandlungsprozess von Asylverfahren kürzlich gezeigt worden, welche »entwaffnenden« Mechanismen der Fallherstellung zu Kontrollverlust des Asylbewerbers führen (Scheffer 2001: 230 f.). Dennoch, so die hier vertretene strukturelle Annahme, sind selbst die geringen Chancen in der Triade höher als in der Dyade (Bewerber - Ausländerbehörde), worauf allein schon die Möglichkeit (und Hoffnung) hinweist, gegen die Ablehnung der Behörde einen Dritten entscheiden zu lassen. 129 Dieser Ansatz stellt sich somit explizit gegen eine Interpretation der Situation in Form des Experten-Laie-Modells von Hesse (2004: 138 ff.), die nur einen Ausschnitt zu beschreiben vermag und an der Grundkonstellation im Sinne der Triade vorbeizielt. Zur zunehmenden Bedeutung des Dritten in der Sozialtheorie siehe einen Beitrag von Fischer (2008).
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ff.) führt eine Reihe von Forschungsergebnissen (u. a. Bauman 1995, Honer 1994) hinsichtlich der Definition des Problems professioneller Akteure und seiner Lösungen dahingehend zusammen, dass dem Satz typischer Problemlösungen (die professionellen Wissensbestände) die Probleme des konkreten Einzelfalls durch entsprechende Definitionsprozesse untergeordnet werden. Dieser Aspekt muss für die Situation am Gericht erneut differenziert betrachtet werden. Während wir die eine Pointierung dieser Ergebnisse dem Experten zuordnen: Der Professionelle als Lösungsverwalter richtet und dichtet existentielle Probleme zurecht, bis sie zu einem der vorgefassten Lösungstypen passen. Gehen wir für die richterliche Tätigkeit von der anderen Gewichtung aus, die Pfadenhauer (2003: 139 f.) mit Stichweh (1992: 38) beschreibt: Die lebensweltliche Diffusität eines Problems hat zunächst eine Redefinition in der Logik und Sprache des professionellen Wissensbestandes zu durchlaufen, bevor sie als Lösungsmatrix handlungsrelevant werden kann. Genau dies zu bewerkstelligen, ist die besondere Fähigkeit einer Profession. Der Richter und selbst der Anwalt können sich kein ungeprüftes Zurecht-Richten und -Dichten leisten. Anders als beim Experten geht es nicht lediglich um den Output in Form einer Lösungs- und Handlungsanweisung.130 Das (vom Anwalt) in die Professionssprache transformierte Problem muss zunächst auf dieser Ebene in eine Definitionskonkurrenz zur Gegenpartei und in abgemilderter Form zum Richter treten. Die Gegenpartei (und in Maßen der Richter) werden folglich gerade auf alles Zurechtgerichtete und -gedichtete achten und finden über genau diese Schwachstellen den Weg, ihre eigenen (bzw. denkbar andere) Interessen durchzusetzen. Die Transformationsleistung der juristischen Profession ist damit ungleich anderer Professionen ständig und geradezu konstitutiv einem Konkurrenzdruck ausgesetzt (hiervon sind einfache juristische Gutachten, die quasi von Experten verfasst werden, zu unterscheiden). Die gerichtsprozessbezogene Transformationsleistung im Sinne der richterlichen Arbeit (siehe auch Abschnitt 3.4.3) beginnt in einem vorgefertigten Spannungsfeld zweier Transformationsleistungen (vgl. hierzu Berndt und Stegmaier Juli 2004: 73 ff.). Der wesentliche Aspekt ist jedoch der der Kontrolle, der der 130 Der Experte, inszenierungstheoretisch betrachtet, hat die Fähigkeit, sich kompetent und legitim darzustellen und »wird vom Laien typischerweise konsultiert« (Hitzler 1994: 26 f.). Auf den Richter trifft das nur begrenzt zu, er muss sich zwar zu Beginn auch Kompetenzglauben (per Inszenierung) erarbeiten (siehe Abschnitt 4.2.4), die Legitimation hingegen erscheint als kein nennenswertes Praxisproblem. Dennoch wird eine Gerichtsverhandlung als gerichtliche Interaktion »durch spezifische Anzeigehandlungen inszeniert« und durch den »permanenten Rekurs auf sie aufrechterhalten« (Soeffner 2004 [1989]: 166 FN 62). Der Experte und sein Laie befinden sich zudem in einer dyadischen Interaktionssituation, was sich folgenreich vom richterlichen Handeln in der Triade unterscheidet (siehe oben). Dies ist speziell auch für die Krisen professionellen Handelns (nach Pfadenhauer 2003: 141) sichtbar, nicht der Richter (so dann als Experte missverstanden) wirbt um die Anerkennung seiner Lösung des Problems (das findet zuvor zwischen Anwalt und Laien statt), sondern die Parteien bewerben bzw. konkurrieren ihre Lösungen. Eine Nichtanerkennung der letztlichen Lösung des Richters kann später nur im Rechtsbehelf münden.
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Konkurrenz auf jener professionellen Wissens-, Logik- und Sprachebene. Eine zu starke eigennutzgesteuerte Entfernung vom existenziellen lebensweltlichen Problem und den typischen Lösungsangeboten hat weniger Chancen, sich durchzusetzen. Die Definitionsmacht des Richters für die Situation des Falles, so könnte man diesen Abschnitt zusammenfassen, hat sich in einem Spannungsfeld interessengeleiteter Definitionsansprüche zu bewähren, die aus Transformationsprozessen lebensweltlicher Probleme in professionseigenes Wissen stammt. 4.2.3.4
Situationsdefinition als Krisenbewältigung
Die Ergebnisse der bisherigen Analyse führen für den Richter als Professionellem zu einer differenzierten Sicht. Die Definition der Situation von Thomas wird in der Rahmenanalyse und der sich darauf beziehenden wissenssoziologischen Hermeneutik an einer spezifischen Stelle kritisiert, korrigiert oder ergänzt, die für das alltägliche Handeln sinnvoll und notwendig ist. Goffman schreibt, dass diejenigen, die sich in der Situation befinden, für »gewöhnlich« diese Situation nicht schaffen, sie stellen »lediglich fest, was für sie die Situation sein sollte, und verhalten sich entsprechend« und machen danach »ganz mechanisch weiter, als ob die Dinge von jeher klar gelegen hätten« (Goffman 1977: 9). Sich auf dies beziehend präzisiert Soeffner den Gedanken des Thomas-Theorems dahingehend, dass die Situation »in aller Regel […] durch die in ihr Befindlichen nicht eigentlich definiert« wird, sondern dass jene vielmehr feststellen, »was für sie die Situation ist oder sein sollte«, und sie sich dementsprechend »bis auf weiteres« so verhalten (Soeffner 2004 [1989]: 162). Für den Richter, in seinem Praxisvollzug an einem Fall arbeitend, nehmen wir die ›Öffnungsklauseln‹ »gewöhnlich« (Goffman) und »in aller Regel« (Soeffner) auf, denn hier ergibt sich ein typisches Handlungsfeld, in dem die Ausnahme jene Regelhaftigkeit bestätigen kann. Das Problem der Situation des Richters, so hatten wir oben festgestellt, ist die ›Definition des Falles‹. Gerade aufgrund des mechanischen Weitermachens, des sich bis auf Weiteres so Verhaltens, ist es überhaupt zur Krise gekommen – oder anders formuliert, weil die Definitionen der Parteien in ihren realen Konsequenzen nicht zueinander passten, wurden sie zum Problem und sogar zum konstituierenden Handlungsproblem des gerichtlichen Streits. Die Kollision der gewöhnlichen Situationsdefinitionen führt zum Problem, die Situation (neu) definieren zu müssen, welches – ab einem bestimmten Grad der Kollision – der Richter als professioneller Akteur in ›unabhängiger‹ souveräner Praxis, aber auch im Aushandlungsprozess mit den Situationsdefinitionen der Parteien, zu vollziehen hat. In diesem Sinne ist das Handlungsproblem des Richters geradezu paradigmatisch für die Definition der Situation nach Thomas und konturiert gleichsam die Ausnahme des gewöhnlichen Handlungsvollzugs, wie ihn Goffman und Soeffner präzisierten.
Erkenntnisgewinn und Bedeutung für die allgemeine Soziologie und Rechtssoziologie
4.2.3.5
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Zur Unterscheidung der Definition der aktuellen Situation und der des Falles
Um dem, was wir in dieser Arbeit als ›Definition des Falles‹ – die Kernaufgabe richterlicher Praxis – bezeichnen, näherzukommen, schauen wir zunächst auf eine auf die Verhandlung bezogene Analyse von Soeffner: »Spätestens hier [die Verhandlung als Ort verschiedener Realitäten ansehend] wird sichtbar, daß ›das Gericht‹ nicht nach einer vergangenen Realität sucht, die als real vergangene bestenfalls in Gestalt eines rationalen Konstrukts und damit höchstens als Schatten ihrer selbst wieder auftauchen könnte. Vielmehr dient die Gerichtsverhandlung in erster Linie der gemeinsamen Konstruktion einer erst herauszustellenden konsensfähigen Realität. Bei der Konstruktion fällt dem Richter die Aufgabe zu, die individuellen Realitätsdarstellungen und –deutungen sowie die Partialrealitäten der Parteien stellvertretend aus der Perspektive eines generalisierten Anderen heraus auf ein sozial allgemeines Ordnungsschema so abzubilden, daß die Partialitäten aufgehoben, die Einzelperspektiven übersetzbar und damit erst verstehbar und bewertbar werden.« (Soeffner 1988: 37)
Der Richter als stellvertretender Anderer, in unserem Sinne der Simmel‘sche Dritte, hat die Aufgabe, die Definitionsansprüche der Parteien »auf ein sozial allgemeines Ordnungsschema so abzubilden« – wir sagen, so zu definieren –, dass sie rational erfassbar werden, einheitlich konsistent (!), was nicht mit uneingeschränkter Zustimmung der einzelnen Beteiligten einhergehen muss. Soeffner fährt fort: »Insofern enthalten die Prozeßordnungen (StPO, ZPO etc.) und die in ihnen vorgegebene Handlungsregulierung einen spezifischen Ordnungsrahmen für die Organisation und Rekonstruktion von Raum und Zeit: Zum einen gliedern sie sowohl räumlich als auch zeitlich (in der Strukturierung der Handlungsabfolge) den konkreten Interaktionsprozeß der Verhandlung: zum anderen dient dieser Ordnungsrahmen als Bezugsgröße für die Rekonstruktion und zugleich die Konstruktion einer für alle Beteiligten gemeinsamen sozialen Zeit und eines gemeinsamen Handlungsraumes – einschließlich derjenigen Vergangenheit, auf die sich die Ereignisdarstellungen und Verfahrensvorschläge der Gegenwart berufen.« (Soeffner 1988: 37 f.)
Dies ist das zu Beginn des Analyseteils bereits empirisch erarbeitete Wechselspiel zwischen Rekonstruktion und Konstruktion des Falles unter dem Rahmen der Prozessordnungen und des Dirigierens des Richters, welches wir unter dem Begriff der ›Definition des Falles‹ fassen. Der Richter kann dabei als »Koordinator und ›Chefkonstrukteur‹ dieses raum-zeitlichen Orientierungsrahmens« (Soeffner 1988: 38) verstanden werden. Der Verweis auf die Prozessordnungen als Orientierungsrahmen verweist – und so führen wir die Analyse fort – auch auf den vorgängigen und weiteren Verlauf des Falles. Denn die Definitionsleistungen sind nicht auf die Verhandlung begrenzt. Der sehr wichtige Aspekt der Unterscheidung und des Wechselspiels der ›Definition des Falles‹ und der je ›aktuellen Situation‹ der Anwesenden, insbeson-
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Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
dere in der Verhandlung,131 ist bisher noch nicht vertieft worden. In dem eingangs aufgeführten Beispiel des Richters zu seinem Handlungsproblem tauchte ein Hinweis für diese Unterscheidung auf: »wobei wir nich wissen, ob das Ausgangsproblem noch das Problem von heute is« [aus D9:19]. In der Analyse oben wurde dabei von der Differenz der Rekonstruktionsbemühung des Richters einerseits und der sich damit überlagernden Konstruktionsbemühungen der Parteien andererseits gesprochen. Unter dem Aspekt der Situationsdefinition gibt es verschiedene Situationen gleichzeitig, die es zu definieren gilt und die in einem bedeutenden Wechselverhältnis stehen. Jede aktuelle Situation der Gerichtsverhandlung muss in Interaktionsprozessen durch entsprechende »spezifische Anzeigehandlungen inszeniert und nur durch einen permanenten Rekurs auf sie aufrechterhalten« werden (Soeffner 2004 [1989]: 166 FN 62). Diese definitorischen Inszenierungsleistungen geschehen in Aushandlungsprozessen. Davon unterschieden werden muss die ›Definition des Falles‹, die gleichsam – aber eben nur zu einem Teil – durch die jeweiligen Verhandlungssituationen ausgehandelt wird. Die ›Definition des Falles‹ ist Kerngeschäft, Hauptproblem des Richters, eine Verhandlungssituation mit ihren dort (zusätzlich) benötigten Definitionsleistungen ist mögliches, nicht notwendiges132 – wenn auch manchmal sehr wichtiges – Beiwerk. In diesen Verhandlungen – aber auch und vor allem beginnend im schriftlichen Verkehr – werden Definitionsansprüche vonseiten der Parteien an den Richter gestellt, die dann als »heutiges Problem« bezeichnet nicht deckungsgleich mit einem damaligen Problem, dem »Ausgangsproblem« (der Entstehung dieser Definitionskrise), sein müssen. Diese Unterscheidung kann sicherlich in dem grundlegenden Problem der Transformation der lebensweltlichen Situation in die Ebene des Professionswissens, ihrer Logik und Sprache begründet sein – sie kann allerdings auch (oder zusätzlich) in einer prinzipiellen Änderung der Definitionskrise im Laufe der Zeit liegen.133 Die Bedeutungsschwere der Definition der Verhandlungssituation für die Definition des Falles ist umstritten. In einer Untersuchung jugendstraflicher Hauptverhandlungen wurde von Ludwig-Mayerhofer (1997: 180) gezeigt, dass die Ver-
131 Auf Hegels Bestimmung der ›Situation überhaupt‹ bezugnehmend, führt Soeffner den Begriff der ›aktuellen Situation‹ in dem hier gemeinten Sinn ein, der sich für die Analyse konkret ablaufender Handlungen eignet (Soeffner 1979: 92). 132 Viele Fälle im Sinne von Erledigungen werden auch ohne Verhandlung beendet (z. B. Versäumnisurteile), durch die kürzliche ZPO-Reform mit der Stärkung des schriftlichen Vorverfahrens sogar noch verstärkt. 133 Wenn etwa, wie oft von Richtern beschrieben, das »eigentliche« Problem ganz woanders liegt als in dem vor Gericht gebrachten Fall und die Richter schon ahnen, dass sich die Kontrahenten (etwa im Nachbarschaftsstreit als Zivilrechtsfall) bald mit einem neuen Fall wiedereinfinden werden könnten.
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handlung im soziologischen wie rechtlichen Diskurs134 überschätzt wird, weil überhaupt nur zweifelsfreie Fälle vor Gericht kommen. Auch wenn dies bezüglich des Jugendgerichts sicherlich einen erzieherischen Hintergrund hat, d. h. die Vorsicht davor, mit einer ungesicherten Anklage »Unheil« anzurichten, gibt das Ergebnis einen Hinweis darauf, dass die in unserem Sinne unterschiedene Definition der aktuellen Verhandlungssituation nur einen Teileinfluss auf die andere, die ›Definition des Falles‹ hat. Dies liegt unter anderem daran, dass die je ›aktuelle Situation‹ an sich zusätzliche strukturell bedingte Eigendynamiken besitzt, die mit dem eigentlichen Fall (in unserem Sinne) nur sehr bedingt zu tun haben. Soeffner sprach in dieser Hinsicht sogar davon, dass in den Verhandlungen oft zwei Fälle parallel stattfinden: »der tatsächlich zu verhandelnde Streitfall und die Beachtung bzw. Verteidigung des ideologisch überhöhten Selbstanspruches der Institution« (Soeffner 1984: 209). Während wir für die je ›aktuelle Situation‹ der Verhandlung mit Soeffner in Bezugnahme auf Schütz (Soeffner 1979: 97) von der gemeinsamen mehr oder weniger doch gelungenen Situationsdefinition zur reibungslosen Alltagsbewältigung ausgehen135, müssen wir für die ›Definition des Falles‹ in die andere Richtung gehen; der Versuch einer gemeinsamen Situationsdefinition war und ist misslungen. Nur für die Akzeptanz der Rahmung gibt es eine einheitliche Definition, diese muss nach Soeffner als »Bezugsgröße für die Rekonstruktion und zugleich die Konstruktion einer für alle Beteiligten gemeinsamen sozialen Zeit« verstanden werden, »einschließlich derjenigen Vergangenheit, auf die sich die Ereignisdarstellungen und Verfahrensvorschläge der Gegenwart berufen« (Soeffner 1988: 37 f.). Damit wird wieder stärkerer Anschluss an Thomas hergestellt (vgl. Soeffner 1979: 97), weil die Beteiligten des Rechtsstreits eben nicht in der Verhandlungssituation die ›Definition des Falles‹ als fraglos gegeben hinnehmen, um routiniert zum Alltagsgeschäft überzugehen. Es gibt dort keine fraglose Kohärenz von Hinnahmen, sondern explizite Definitionen gegen andere.
134 »Für beide ist die Hauptverhandlung der Höhepunkt des Strafverfahrens – nur daß im rechtlichen Modell dieser Höhepunkt als Maximum rechtsstaatlichen Schutzes der Angeklagten hingestellt wird, im soziologischen Modell als Maximum der Einschüchterung, Degradierung oder einfach Sprachlosigkeit« (Ludwig-Mayerhofer 1997: 183). In der Ethnographie wird die Hauptverhandlung als »Übergangsritus zwischen verschiedenen Statuspositionen, der dabei alle Bedingungen eines Degradierungszeremoniells erfüllt« (Legnaro und Aengenheister 1999: 20), verstanden. 135 Interessant ist, wenn auch in diesem Fall keine Kohärenz hergestellt werden kann, dass die Situation auch auf dieser ersten Ebene nicht gemeinsam definiert werden kann. Ein solcher Fall stellt etwa die prinzipielle Nichtanerkennung von Gerichten – deren rahmende Geltung – durch einen Angeklagten dar, wie es in den Prozessen gegen Saddam Hussein oder auch Milosevic, der sich u. a. sogar deshalb selbst vertrat, der Fall war.
278 4.2.3.6
Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
Logik der Situationsdefinition statt Handlungsselektion
Viele namhafte Soziologen haben sich an der Idee der Theorie der Situationsdefinition abgearbeitet. In dieser Untersuchung steht, wie bisher gesehen, die Linie der wissenssoziologischen Hermeneutik im Vordergrund. Darüber hinaus soll an dieser Stelle eine weitergehende Anmerkung getätigt werden. Insbesondere Hartmut Esser versuchte den Rational Choice Ansatz mit der Definition der Situation zu verbinden (vgl. Esser 1996, 1999, dazu kritisch Etzrodt 2000 und wieder Esser 2000). Inwieweit das gelang, kann nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein, wobei eine neuere Arbeit von Stachura (2006) einen für unser Anliegen interessanten Aspekt in dieser Diskussion (sich besonders auf Esser 2003 beziehend) hervorhob. Er schlägt eine Unterscheidung »zwischen dem Eigenwert und dem instrumentellen Wert der Rahmungen/Frames« vor, die die »Logik der Definition stärker von der Logik der Handlungsselektion« zu trennen vermag (Stachura 2006: 434). In diesem Fall sucht der rationale Akteur nicht nach dem größtmöglichen Nutzen, »sondern nach dem richtigen Wertmaßstab oder der richtigen Perspektive, aus der die situativen Wertmaßstäbe sichtbar werden« (Stachura 2006: 434). Diese analytische Trennung hat bezogen auf das richterliche Handeln im Sinne der ›Definition des Falles‹ mehr als eine analytische Bedeutung. Abgesehen von ein paar Randbedingungen, die es noch zu erläutern gilt, hat der Richter im Gegensatz zu vielen anderen Akteuren kaum Gewicht auf einer nutzenmaximierenden Handlungswahl, vielmehr steht eine wertrationale ›Definition des Falles‹ im Vordergrund. Der Prozess und damit das im Zentrum stehende Ergebnis seiner Arbeit sind von der Logik der nutzenmaximierenden Handlungswahl nicht richtig greifbar. Jene Logik ist aber dennoch präsent: Es gibt den Erledigungserwartungsdruck, der insbesondere von der Exekutive (durch den Druck der Öffentlichkeit bedingt) in Form kürzerer Verfahrenslaufzeiten und durch den Abbau von Bestandszahlen gefordert ist. Der Argwohn der Exekutive gegenüber der Judikative, der sich auf die Formel »Arbeiten die genug?« verkürzen lässt, sowie die Verteidigung der Richter mithilfe der inhaltlichen ›Unabhängigkeit‹ ihrer Arbeit könnte sich auf den Unterschied zwischen der Logik nutzenmaximierender Handlungswahl und einer Logik der wertrationalen ›Definition des Falles‹ abbilden lassen.136 Beide Logiken sind als Deutungsmuster verstehbar und dann – im Sinne einer wissenssoziologischen Handlungstheorie – wiederum maßgeblich für die Handlungsselektion (vgl. SchulzSchaeffer 2008: 376).
136 Es geht dabei um die Gewichtung der jeweiligen Logik, nicht um ein gegenseitiges Austauschen bzw. Eliminieren, da es in jenem Handlungsmodell grundsätzlich eine Frame-Selektion und eine Auswahl des Handlungsskriptes gibt (vgl. Stachura 2006: 435).
Erkenntnisgewinn und Bedeutung für die allgemeine Soziologie und Rechtssoziologie
4.2.3.7
279
Zusammenfassung zur Situationsdefinition
Der Richter ist spezieller Situationsdefinierer (Thomas 1937: 8), der über die je ›aktuelle Situation‹ hinaus, etwa der Verhandlungssituation, im Verlauf des gerichtsanhängigen Falles – des Prozesses – eine ›Definition des Falles‹ liefern muss. Der prozesshafte Vorgang dieser Definition stellt die Lösung, die Antwort auf sein Handlungsproblem dar und ist für die beteiligten Akteure in ihren Konsequenzen real, »›as if‹ it were so« (Thomas in Janowitz 1966: 160). Dieses höchst folgenhafte »als ob« ist eine pragmatische Lösung, »plan-bestimmt« (Schütz und Luckmann 2003: 168), der prinzipiellen Unmöglichkeit einer im ontologische Sinne wahrhaften Rekonstruktion der ursprünglichen streit- oder deliktgebärenden Situation unter dem Anspruch eines aktuellen gerichtlich-institutionellen Lösungsauftrages. Dies findet statt im Wechselspiel einer durch die Akteure gewonnenen Rekonstruktion jener vergangenen Situation und einer Konstruktion im Lichte heutiger situativer Befindlichkeiten auf der Transformationsebene einer juristischen Systematik und Sprache, als »sozial allgemeines Ordnungsschema« (Soeffner 1988: 37) verstanden. Der Richter ist dabei nicht als in der Dyade (Experte – Laie) befindlich zu sehen, sondern als Dritter der Triade (Simmel 1992: 124). Seine Stellung ist somit vorwiegend keine »Inszenierung des Verkaufens von Expertenmeinung«, sondern wirkt interaktionsstrukturell ausgleichend und vermittelnd zwischen den eigentlichen antagonistischen Definitionsversuchen der Parteien und ist somit für die Ausübung der Definitionsmacht der Situation prädestiniert. Gerade die Nichtübereinkunft der Parteien mit der ›Definition des Falles‹ hebt den Prozess aus der Alltäglichkeit heraus, lässt den Kampf um die richtige oder angemessene Situationsdefinition hervorkommen. Der Richter als Dritter kann seine Situationsdefinition (des Falles) handlungswirksam durchsetzen (vgl. Schulz-Schaeffer 2008: 367 f.). Das Handlungsproblem des Richters ist diese ›Definition des Falles‹, die über den gesamten Prozessverlauf (von einigen Wochen bis Monaten) aus verschiedensten kleineren und größeren (zeitlich gesehen) je aktuellen Situationen unterschiedlichen Charakters besteht, aber doch erst in ihrer Gänze zur abschließenden Definition durch den Richter führt.
4.2.4
Zur Bedeutung der Selbsttypisierungen für Rolle und Identität
In der Herausarbeitung der Typologie wurde deutlich, dass die Richtertypen in ihrem je empirischen Auftreten in verschiedenen Mischungsverhältnissen vorkommen, wie es für die Anlage von Idealtypen üblich ist. Wenn wir nun die Typen erster Ordnung, auf denen die Rekonstruktionen basieren, mit Rollenbildern in Beziehung setzen und somit rollentheoretisch deuten, dann kann man mit den in
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Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
dieser Untersuchung erarbeiteten Selbsttypisierungen als Typen zweiter Ordnung einen heuristischen Vergleich anstellen.137 Die Verortung von empirischen Typen in einem Spannungsfeld von antagonistischen (Ideal-) Typen kann als Übernahme von Rollenteilen (jener Idealrollen), wie es die Rollentheorie vorsieht, gedeutet werden. Allerdings ist die aktuelle Realisierung eines Typus situativ vollständig, d. h. Rollenkonflikte oder eine Rollendistanz sind im Sinne des hier rekonstruierten Selbstverständnisses als eine einheitliche Form, ein einheitlicher Typus zu verstehen, in der bzw. dem das die Rolle ablehnende Selbst oder die verschiedenen Rollen mit dem disponierenden Selbst zusammengefasst sind. Es werden folglich nicht verschiedene Selbstverständnistypen wie Rollen durch das Selbst in Realisierung gebracht (und könnten somit gegeneinander konkurrieren im Sinne einer Selbstverständnisdistanz oder einem Selbstverständniskonflikt), sondern spezifische Formen eines Rollenkonfliktes oder reiner Rollendistanz, die in genau jener Form als Praxisvollzug wiederholend situativ gebunden auftreten, sind in Einheit des Selbst Ausdruck des Selbstverständnisses und bilden einen entsprechenden Typus. In den eingangs aufgeführten theoretischen Bezügen zur Rollentheorie wurde die Rollendistanz als eine Differenz des Selbst zu den von einem einheitlichen Sinnzusammenhang entkleideten autonom geltenden Rollennormen beschrieben (Abschnitt 1.2.2.2). An einem spezifischen Praxisproblem der Richter kam diese Rollendistanz in den Selbsttypisierungen zum Vorschein (siehe Abschnitt 3.3.2), ohne dort weiter unter diesem Gesichtspunkt thematisiert zu werden. Der ›Radbruchianer‹ hat unter einem »Bauchweh« zu leiden, welches sich theoretisch als Folge der Rollendistanz beschreiben lässt. Wenn sich die Anwendungen von Gesetzen in einem Einzelfall als problematisch darstellen, könnte man diesen Umstand der Anwendungspflicht als autonom geltende Rollennormen verstehen, die in jenem Fall den einheitlichen Sinnzusammenhang »Gerechtigkeit zu sprechen« nicht erfüllen, sondern nur den zu den autonom geltenden Rollennormen passenden Sinnzusammenhang »Recht im Sinne der Gesetze zu sprechen«. Letzteres ist ein deutlich zurücknehmender Anspruch, der es nicht vermag, für die Persönlichkeit des Richters einen einheitlichen Sinnzusammenhang herzustellen. Interessanterweise ist im Rahmen der historischen Entwicklung (siehe Abschnitt 1.2.1) mit dem Aufkommen und der Durchsetzung der Rationalisierung jenes Problem der Rollendistanz – oder des Bauchwehs – eben als Problem der Einzelfallgerechtigkeit in stärkster Form in Erscheinung getreten. Nicht ganz zeitgleich – aber strukturgleich – kam der Begriff der ›Entfremdung‹ zu den anderen rationalisierten Bereichen der beruflichen Ausübung. 137 Über die theoretischen Probleme eines solchen Vergleichs kann hier keine Diskussion erfolgen – der gegenständliche Ertrag soll insofern »nur« informativ sein.
Erkenntnisgewinn und Bedeutung für die allgemeine Soziologie und Rechtssoziologie
281
Ein Rollendruck ist für den Beruf des Richters konstitutiv. Wie wir in den Analysen zur Situationsdefinition gezeigt hatten (siehe Abschnitt 4.2.3), ist der jeweilige Druck der Kontrahenten, in dessen Spannungsfeld sich der Richter befindet, ein grundsätzliches Element der Position als Dritter. Neben diesem konkret am Einzelfall aufzeigbaren Rollendruck auf der Mikroebene gibt es den abstrakteren Rollendruck in Form genereller Gerechtigkeitserwartungen der Öffentlichkeit und des Staates, wie unter dem Begriff der ›Soll-Ebene‹ beschrieben wurde (siehe Abschnitt 1.2.1).138 In den Selbsttypisierungen ist der Rollendruck im Sinne von Erwartungen von außen (oder von außen gedachte und verinnerlichte Erwartungen) allgegenwärtig und lässt sich am passendsten durch die Reaktion der Richter im Sinne der ›Unabhängigkeit‹ nachvollziehen. Gerade weil der Druck so hoch ist und von so vielen Seiten angetragen wird, ist die Bedeutung der ›Unabhängigkeit‹ für das Selbstverständnis und die Funktionsfähigkeit des Richters konstitutiv und unabdingbar. Dieser Druck, die ›Unabhängigkeit‹ und die Machtbefugnis erschaffen ein Selbstverständnis, welches sich im Auftreten des Richters durch eine »Aura« von anderen Berufen, etwa vom Busfahrer, unterscheidet. Die gesellschaftliche Beschäftigung mit dem Richter spiegelt diese Bedeutung wider: Richter in Literatur, Bilder von Richtern, Gott als Richter, der Richter in Filmen und Fernsehsendungen – der Richter ist überall, nicht nur im Gericht (der Busfahrer ist nur im Bus). Und manchmal scheint es, als ob der Richter überall ist, aber nur nicht im Gericht, oder besser: als ob das Wissen über Richter von überall herkommt außer aus dem Gericht, was auf die grundsätzliche Seltenheit des wirklichen Kontaktes eines Bürgers mit einem Richter hinweist.139 Was ein Richter »ausmacht«, ist eben nicht nur die spezifische Handlung im Gericht. Es existieren unterschiedliche Diskurse, die in realen Interaktionssituationen Verwerfungen bringen können, den Richter dann anders erscheinen lassen und Rückkopplungen auf das Verhalten im Gericht verursachen. Die Antwort auf den Rollendruck ist in den Selbsttypisierungen die ›Unabhängigkeit‹ (und zwar in allen hier empirisch herausgearbeiteten Bezügen); nur 138 Teilweise wird natürlich diese ›Soll-Forderung‹ als kulturelles Erbe in jedem von uns, das heißt auch dem Richter selbst und den anderen Akteuren der Gerichtsinteraktion präsent sein, eben durch Sozialisationsprozesse als kulturelles Wissen. Gleichsam muss es in Handlung ständig aktualisiert werden – sei es in Sprechhandlungen eines Soll-Diskurses oder eigenen gerechten oder ungerechten Handlungen und Entscheidungen. Diese allgemein verbreiteten Rollenerwartungen sind bei einem Richter ungleich höher als bei anderen Akteuren und prädestinieren ihn somit zusätzlich aus rollentheoretischer Perspektive als Forschungsgegenstand: Wie handelt ein Akteur, der unter so starker Erwartungshaltung, einem enormen Rollendruck steht? 139 Diese Arbeit versucht sich daran, ein empirisches Gegengewicht gegen jene verinnerlichten Bilder zu sein, wobei dem Autor natürlich bewusst ist, dass viele der Bilder Ursprünge in Erfahrungen mit den Gerichten haben können und sich die gerichtlichen Interaktionen auch aus jenen außergerichtlichen Bildern mitgestaltet.
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Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
durch diese »magische« Aura der Unantastbarkeit gelingt es dem Richter, unter diesem enormen Rollendruck zu handeln. Eine solche Funktion der ›Unabhängigkeit‹ benannten bereits in ähnlicher Weise Werle und Lautmann (vgl. 4.2.1). Ein bedeutender Antagonismus, der in den Selbsttypisierungen aufgestellt wurde, war der des ›Karrieristen‹ und des Nichtkarrieristen mit seiner in Frontstellung gebrachten ›Unabhängigkeit‹. Nun wurde die ›Unabhängigkeit‹ als Schlüsselkategorie rekonstruiert, und es stellt sich die (methodische) Frage, inwieweit es denn ein antagonistisches Verhältnis zu einer Schlüsselkategorie geben könne. Unter dem Gesichtspunkt des Rollenkonfliktes lässt sich die scheinbare Unebenheit aus der Perspektive eines spezifischen Akteurs, des ›Karrieristen‹ erklären. Das richterliche Selbstverständnis basiert fundamental und zentral auf der ›Unabhängigkeit‹. Wenn sich die persönliche Entwicklung im Rahmen eines starken Karriereantriebes speist, tauchen in den als Nächstes zu erzielenden Stufen der Karriereleiter nur noch Mischformen von Positionen auf, in denen der richterliche Rollenanteil immer stärker zurückgeht, der ministeriale-verwaltungstechnische Rollenanteil hingegen immer mehr zunimmt. Ab der Stufe der Landgerichtspräsidenten (R 4) »greift« das Schema des Dienstvorgesetzten, mit seinen Anforderungen und Rollenerwartungen, was die Person in ein Dilemma im Sinne eines Rollenkonfliktes bringen kann. Dies wurde oben unter Abschnitt 3.5.2 beim Landgerichtspräsident [D25:10] aufgezeigt. Im Rahmen der hier dargelegten richterlichen Typologie ist der ministerialeverwaltungstechnische Rollenanteil streng genommen nicht mehr originärer Bestandteil. Da sich diese Rollenanteile aber in der Person des Richters in Ausübung der Tätigkeiten (als Konflikt oder zu bewältigendes Problem) bemerkbar machen und sich geradezu im Widerstreit oder Kampf des zentralen Anteils richterlichen Selbstverständnisses befinden, ist es ein wesentlich zu bezeichnender Fall, der gleichsam die Grenzen der Typologie markiert. Interessant ist zudem, dass Richter, die in diese Positionen gelangen, oft zwischen Ministerium und Amt hin- und herwandern, später u. U. ganz in die Ministerien gehen und von den ehemaligen Richterkollegen nicht mehr als »richtige« Richter wahrgenommen werden. Alles oberhalb von R 3 ist »verdächtig« im Sinne des Einflusses der Exekutive, die richterliche ›Unabhängigkeit‹, das reine Selbstverständnis des Richters, wird der Karriere »geopfert«. Aus Sicht der höheren Richter, verstanden als Juristen mit richterlichen und verwaltungstechnischen Aufgaben, lässt sich das Dilemma gut als Rollenkonflikt deuten, aus Sicht der anderen Richter nicht, denn das Verständnis, Richter zu sein, geht sozusagen tiefer in die Persönlichkeit hinein als eine zu wählende und in Konkurrenz zu einer anderen zu bringenden Rolle. Im Sinne eines richterlichen Selbstverständnisses gibt es hier folglich keinen Rollenkonflikt, weil ein solcher nur unter verschiedenen richterlichen Rollen entstehen könnte. Der Rollenkonflikt entsteht, wenn sich die Person als einen über dem Selbstverständnis eines Richters stehenden Juristen erschafft, der weitere Rollen im Sinne eines Ministerialbeamten übernimmt und somit eine neue Metaebene des Selbstverständnisses
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ausbildet. Dann geraten die richterlichen Rollen in einen Rollenkonflikt zu den ministerialen Rollen. Dieser Rollenkonflikt eines höheren Juristen oder diese Typenmelange von Richter und Ministerialbeamten ist, was die beruflichen Möglichkeiten angeht, das einzige »Schlupfloch« gegen Einseitigkeit: Die Berufswahl zum Richter unterliegt anderen Bedingungen als die der meisten Berufe. Der Richter kann nicht heute hier und morgen dort arbeiten. Wenn er sich entscheidet den Richterberuf nicht mehr auszuüben, etwa weil er als Anwalt arbeiten möchte, kann er nicht zurück in den richterlichen Dienst - er kann einen Wechsel somit nur genau einmal vornehmen. Und er kann, abgesehen von der kurzjährigen Frist nach dem zweiten Staatsexamen, vorher nicht in die langjährige Praxis eines anderen Berufes eintreten, um anschließend Richter zu werden. Ähnlich dem Beamten, der auf Lebenszeit ernannt ist, hat die Beziehung zum Beruf somit einen anderen Stellenwert. Die strukturelle Kontinuität des Richterberufs steht der tendenziellen Diskontinuität postmoderner Berufsanforderungen entgegen. Von dem her sind Berufs-Rollenkonflikte, außer dem oben behandelten Fall, kein Problembereich richterlicher Profession. Vielleicht muss in diesem Zusammenhang deshalb weniger von »Rolle« gesprochen werden als in anderen Berufen. Oder wenn, dann von einer sehr vereinnahmenden Rolle vonseiten des Richters (vgl. Luckmann 1979: 301 sowie Abschnitt 1.1.2). Auch wenn der Richter aus den oben genannten Gründen eine stärkere Disposition zur identitätsverinnerlichenden Berufsrolle hat, steht auf der anderen Seite der gesellschaftliche Trend zur Flexibilisierung. Dieser Trend lässt sich aus den nur am Rande behandelten weiteren Motivationen der ›Antriebs‹-Dimension ableiten. Beim Ökonomist-Typus kann die Berufsauffassung sehr minimalistisch werden, dass nach der raschen Erledigung der anfallenden Arbeit (die qualitativ durchaus sehr gut sein kann) die dem jeweiligen Selbst sehr viel näherstehenden Identifizierungen mit anderen lebensweltlichen Bezügen in den Vordergrund gelangen. Als Beispiel eines solchen Falles kann ein in der Forschung entdeckter Richter gelten, der in seiner Freizeit leidenschaftlich Theater spielte und den täglichen Dienstschluss mit Blick auf diese Tätigkeit herbeisehnte. Andere Richter verwandeln sich nach Dienstschluss in Motorradrocker und lassen dies nicht selten dezent unter ihrer Robe erkennen. In solchen Fällen müsste weitergehende Forschung erkunden in wie weit dem Eindringen richterlicher Identitätsformationen in andere Lebensbereiche eine Grenze gesetzt wird und in wie weit sich die Eigenwahrnehmung von der Fremdwahrnehmung diesbezüglich unterscheidet (vgl. den Pilatus-Sänger [D10:17] in 3.3.1.4). Bestimmte Familialist-Typen sind dabei aus struktureller Sicht interessant, da diese Richter vornehmlich keine ganzen Stellen haben, sondern halbe oder viertel, in der Mehrzahl Richterinnen, die noch eine (jüngere oder bedürftige) Familie haben.
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Zu bekannten Typenmelangen Die Intensität der Selbst- und Fremdwahrnehmung rekonstruierter Typen kann durch ausschließliche Verwendung auf bestimmten Dezernaten sicherlich verstärkt werden, wie zum Beispiel den ›harten Richter‹ (in der Strafgerichtsbarkeit) oder den ›Akademiker‹ (auf Dezernaten mit wenigen Fällen). Sie ziehen aber keine typische weitere Notwendigkeit nach sich. Den ›harten Richter‹-Typus (Strafrichter) der ›Basis‹-Dimensionen und in Kombination mit dem ›Richterkönig‹ und dem ›Unberührbaren‹ (oder gar des ›Befangenen‹) der anderen Dimensionen kann sich eine Melange von Richtertypen bilden, die in vielen Diskursen (außerhalb wissenschaftlich empirischen) bekannt ist und in Richtung eines typischen Strafrichters (für viele einfach als Richter wahrgenommen) läuft. Eine solche Kombinatorik ist zwar auch nach dieser Forschung empirisch vorhanden, spielt aber als verallgemeinerbares Ergebnis keine nennenswerte Rolle in der Typenbildung. Richter, Körperlichkeit und Leib Auf den ersten Blick scheint ein Richter, wenn es um seine berufliche Identität geht, wenig mit Leiblichkeit und Körper zu tun zu haben. Dieses Alltagswissen, welches wir für viele Berufsgruppen haben, mag einer genaueren wissenschaftlichen Prüfung nicht standhalten. Die Bedeutung des Körperlichen wird im wissenschaftlichen Kontext immer mehr hervorgehoben, gerade die unhintergehbare Wahrnehmbarkeit in Face-to-face-Situationen ist dabei von Interesse (vgl. Raab und Soeffner 2005; Raab 2006). Gugutzer hat in seiner Untersuchung gezeigt, dass die auf den ersten Blick körperfremden Nonnen eines Klosters eine sehr viel körperzugewandtere Einstellung und Lebenspraxis haben, nicht nur als alltagswissensmäßig angenommen, sondern auch im Vergleich zu Tänzern (Gugutzer 2002; kritisch dazu Berndt 2003). Unter dem Konzept der »Identität als reflexive Leiblichkeit« formuliert er: »Der Ausdruck reflexive Leiblichkeit soll verdeutlichen, dass sich die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer Identität […] im Wechselspiel von (leiblicher) Erfahrung und (kognitiver) Reflexion, von narrativer Konstruktion und spürbarer Stützung vollzieht.« (Gugutzer 2002: 296)
Eine solche phänomenologisch orientierte Grundlegung des Identitätskonzepts140 muss auch die richterlichen Selbsttypisierungen durchdringen. Die von Schmitz 140 Gugutzers Merleau-Ponty-Interpretation führt zu der Annahme eines ontologischen Vorranges der Erfahrung, der die Identität des Individuums leiblich fundiert. Die Sichtweise der körperorientierten Identitätstheoretiker, wie eine narrative Konstruktion von Identität gesehen wird, formuliert er (Gugutzer 2002: 85) wie folgt: »Wenn in sozialwissenschaftlichen Identitätstheorien die Rede ist von der narrativen oder diskursiven Konstruktion der Identität, dann ist darin häufig mehr oder weniger offen die Annahme eines ontologischen Primats des Bewusstseins versteckt.« Hier kann man entgegnen, dass gerade die sprachliche Äußerung eine körperliche Entäußerung von Identität ist, und zwar eine sehr differenzierte. Der Leib ist nicht nur Medium, der »Selbstnarrationen bedingend er-
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übernommene »Einleibung« auch mit Dingen, die das eigenleibliche Spüren besonders prägen (Gugutzer 2002: 106), findet Anwendung beim Überstreifen der Robe. Dieser Vorgang ist ähnlich dem eines Rituals. Die Robe gehört auf einmal zum leiblichen Spüren. In den Forschungen wurde öfters erwähnt, dass es mit der Robe schon anders ist, dass es wichtig ist, selbst bei Richtern, die sonst von sich annehmen, sehr locker oder weich (›weicher Richter‹-Typus) zu sein (vgl. Abschnitt 3.3.1.4 ›menschliche Mund des Gesetzes‹). Das Thema kam nicht im Sinne eines eigenständigen Typus zum Tragen, es gab aber im Praxisvollzug immer wieder solche interessanten Bezüge, die an dieser Stelle weiter benannt werde sollen. So heißt es bei vielen Richtern, wenn sie die Bedeutung einer Verhandlung hervorheben, dass sie die Zeugen bzw. Parteien sehen wollen. Sie sprechen nicht davon, mit ihnen sprechen zu wollen. Daraus könnte man folgern, dass es um mehr geht als um die akustische Verbindung zu den Akteuren (die ja auch über Telefon herstellbar wäre). Dem phänomenologischen Ansatz folgend, ergibt das ›leibliche Spüren‹ in der Verhandlung durch Sehen, Sprechen und körperlich bzw. leiblich »Vergegenwärtigen« einen großen Sinn. Es ist fast so, als ob der Richter seinem Körper oder sich als Leib die Verhandlung als eine Art direkter oder unmittelbarer Wahrnehmung verordnet, jenseits der aufbereiteten und transformierten Textlichkeit der Akte. Es ist vielleicht nicht nur das Interesse daran, »neue Dinge hervorlocken zu können« oder »sich was erklären zu lassen«, sondern im Sinne der Glaubwürdigkeitsprüfung und somit Beweiswürdigung ein »leibliches Spüren« als vertieftes Instrument zur Geltung bringen zu können. Auch die Gegenwehr gegen die mögliche Abschaffung von Verhandlungsterminen wird unter diesem Gesichtspunkt nachvollziehbarer. Ebenso die deutliche Abwehr von medialer Öffentlichkeit – noch immer sind Filmaufnahmen während Verhandlungen verboten und könnten es unter dem Gesichtspunkt der leiblich spürenden Wahrheitsfindung bleiben, um nicht das feine Instrumentarium durch inszenierungstheoretische Veränderungen der ›Gerichtskultur‹ zu gefährden.141 Besonders unter der Annahme, dass Erfahrungen immer leibliche Erfahrungen sind (in der Phänomenologie) und die Identität aus der selbstreflexiven systematischen oder zumindest subjektiv stimmigen Organisation von Erfahrung überhaupt entsteht, nimmt das leibliche Spüren in den Verhandlungen einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert ein. Wir haben die Bedeutung des Kontaktes mit den Parteien unter dem Typus des ›zugewandten Richters‹ erfasst, bei dem die spiegelbildlichen Prozesse der Verhandlunmöglicht«, sondern die Selbstnarration ist leibliche Identität. Hiermit soll lediglich ausgedrückt werden, dass es nicht so sehr um eine Spaltung der Ansätze geht, sondern um ein Zusammendenken oder anders: Wenn Bewusstsein Leiblichkeit voraussetzt, und das könnte eine gemeinsame Basis darstellen, dann müssen die Aspekte zusammengehend berücksichtigt werden. 141 Solche Veränderungen, wie sie Raab (2008: 240) beschreibt, könnten in der Tat ihre »Mitglieder schützenden Ordnungen« des Gerichts auflösen.
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Zur allgemeinen Bedeutung der Richterbilder
gen eine wesentliche Rolle für die Ausbildung der Selbsttypisierungen spielten (siehe Abschnitt 3.4.3). Eine grundsätzliche Bedeutung von Außenkontakten für das Selbstverständnis wurde schon seinerzeit von Werle (1977: 137 ff. und 157) hervorgehoben, wobei mit den Analysen dieser Arbeit ein Ansatz für eine (phänomenologisch-wissenssoziologisch orientierte) erklärende Argumentation vorgelegt wird.
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Zusammenfassende Abschlussbetrachtung
Während die reinen empirischen Ergebnisse (4.1) und die direkten theoretischen Anschlüsse (4.2) bereits oben ausgeführt wurden, folgt hier eine generellere Abschlussbetrachtung, die auf den ausgangs aufgestellten Zusammenhang der rekonstruierten Selbsttypisierungen zur theoretischen Diskussion um Identität und Subjekt zurückführt. Wir haben im Laufe der Arbeit drei – für die richterliche Handlungsproblematik relevante – Ebenen unterscheiden können: die abstraktere gesellschaftliche (und historische) Ebene, das konkrete Handlungsproblem auf der Interaktionsebene und die individuelle Ebene. In den Analysen wurde das gesellschaftliche Problem der Herstellung, Erschaffung und Garantie von Gerechtigkeit im Spannungsverhältnis zwischen gesetzlicher und übergesetzlicher Gerechtigkeit verortet. Das konkrete Handlungsproblem des Richters als entscheidender Dritter der Triade liegt in der professionsgerechten und damit gesellschaftlich akzeptierten ›Definition des Falles‹. Auf der individuellen Ebene konstituiert sich in diesem Interaktionsfeld und jener gesellschaftlichen Problemlage eine Identität, welche die Reaktionsgefüge des ›I‹ mit den verinnerlichten und rationalen Gesellschaftsgefügen des ›me‹ unter der ›Unabhängigkeit‹ verbindet. Wir sind davon ausgegangen, dass sich die Frage nach den richterlichen Selbsttypisierungen am umfassendsten aus allen drei Ebenen rekonstruieren lässt, da wir von der prozesshaften Identitätskonstitution im Wechselspiel von ›me‹ und ›I‹ ausgehen, in der das Auslassen einer dieser Ebenen Wesentliches unberücksichtigt lassen würde. Methodisch wurde auf diesen Umstand mit einer konzeptuellen Verbindung von Grounded Theory und Sequenzanalyse reagiert, die es nicht nur ermöglicht, Breite und Tiefe herzustellen, sondern eben genau jene für die Identitätskonstitution zentralen Ebenen mit zu berücksichtigen. Das Wechselverhältnis von Regelungsnotwendigkeit und Freiheit kann, bis hin zu dem grundsätzlichen Wechselverhältnis im Identitätsaufbau zwischen ›me‹ und ›I‹, also zwischen den verinnerlichten Mustern gesellschaftlicher Anforderungen und Reaktionsimpulsen, beschrieben werden, die als gemeinsamer Prozess die Identität realisieren. Das ›I‹ des Richters muss sich dabei auf seine ›Unabhängigkeit‹ berufen: »Die Forderung lautet auf Freiheit von Konventionen, von Gesetzen. Natürlich ist eine solche Situation nur möglich, wo sich der Einzelne sozusagen von einer engen und begrenzten Gesellschaft
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Zusammenfassende Abschlussbetrachtung
an eine umfassendere wendet, umfassender im dem logischen Sinne, daß es in ihr Rechte gibt, die weniger beschränkt sind.« (Mead 1968: 243)
Zum einen tritt dies in der Abgrenzung von den Gesetzen (inklusive des Verfahrens) und den Methoden in Erscheinung. Hier ist der Bezug einleuchtend: Diese Konventionen sind in erster Linie die, die der Richter aus seiner Profession heraus und durch das rationale Verfahren der Gerechtigkeitsherstellung staatlicherseits in seinem ›me‹-Gefüge (durch die sekundäre Sozialisation) verinnerlicht hat. Es ist die Richtung fort vom ›Subsumtionsautomat‹, fort vom ›Richtigtechniker‹ über den ›Radbruchianer‹ hin zum ›Richterkönig‹. Eine zentrale Typisierung des Richters durch die ›Unabhängigkeit‹ wäre an dieser Stelle aber genauso einseitig wie im Konflikt des Nichtkarrieristen und seiner ›Unabhängigkeit‹ mit dem ›Karrieristen‹, wenn dort nicht die Typenvermischung berücksichtigt würde (siehe Abschnitt 4.2.1). Hier liegt allerdings keine Typenvermischung vor, sondern es gibt zwei entgegenstehende Konventionsforderungen (im ›me‹ verankert). Zu der bekannteren Konventionsforderung der Gesetzes- und Methodenseite kommt eine bislang weniger beachtete Konvention hinzu, die über das ›me‹ Druck auf das ›I‹ ausübt: die Forderung nach Einzelfallgerechtigkeit, nach Herstellung einer allgemein gesellschaftlich akzeptierbaren Gerechtigkeit, die sich im Sinne einer übergesetzlichen Gerechtigkeit von der gesetzlichen unterscheiden kann, nicht muss (und auch eher selten tut).142 Auf diesen Druck, von der anderen Seite kommend, das heißt vom ›Richterkönig‹ über den ›Radbruchianer‹ zum ›Richtigtechniker‹, reagierend lautet die Forderung ebenfalls nach Freiheit von jener Konvention einer »Gerechtigkeit«. Dann ist es für das ›I‹ eine Entlastung, jener engen (der gefühlten, aber auch der – schlimmstenfalls – vom »dumpfen Mob« geforderten) Gerechtigkeit des ›me‹Gefüges eine umfassendere Gerechtigkeit, nämlich die im rationalen Sinne, das heißt der Vernunft vorzuziehen. Dies ist das Rationalitätsprogramm, welches zu seiner Zeit eine Entlastung von Willkür und Machtkonzentration dargestellt hat, folglich eine umfassendere Gerechtigkeit der Vernunft erschaffen konnte. Die Zentralität der ›Unabhängigkeit‹ für den Richter liegt in dieser zweiseitig wirkenden Forderung auf Freiheit von Konventionen für das ›I‹ begründet. Den stärkeren Einfluss der rationalen gesetzlichen Konventionen vor einer allgemeinen (gefühlten Einzelfall-) Gerechtigkeit, wie er für die Richter grundsätzlich angenommen werden muss (was besonders an dem Scheidepunkt vom ›normalen‹ zum ›geschickten Radbruchianer‹-Typus deutlich wird), kann man zu einem Teil dadurch erklären, dass die professionellen Akteure der gerichtlichen Interaktion verstärkt in diesen Konventionen arbeiten (das gerichtliche Programm ein rationales ist), während die 142 In gewisser Hinsicht versucht auch das gesetzliche Programm diese Ebene mitzufassen (z. B. die allgemeinen »Rechtsprinzipien« oder im Verfahren die »Billigkeitsprüfung«), wobei es aufgrund der entgegenstehenden Strukturprinzipien beim Versuch bleiben muss.
Zusammenfassende Abschlussbetrachtung
289
Naturparteien über ihren lebensweltlich bezogenen Streitursprung und dem Mangel an Kenntnis des rationalen Programms nur aus einer allgemeinen (gefühlten und Einzelfall-) Gerechtigkeit schöpfen können. Professionssoziologisch wird allerdings auch dem Richterkönig eine nicht professionelle Handlungslogik (und damit auch nicht oder weniger rational) attestiert, weil er sich nicht auf die »methodische Kontrolle universalistischer Geltungskriterien« beruft, im Gegensatz zu dem Modell des Subsumtionsautomaten, der keine »Vermittlung zu materialen Geltungsquellen« sucht und dem unbedingten »Formalismus« entspricht (vgl. Wernet 1997: 277). Beides beschreibt Wernet an dieser Stelle als »Modell der widersprüchlichen Einheit formaler und materialer Geltungsdimensionen«. Dies ist sicherlich richtig und entspricht den Ergebnissen dieser Arbeit. Aber er führt fort, dass dies »eine spezifische Variante des professionalisierungstheoretisch allgemeinen Spannungsverhältnisses von Autonomie und Intervention« sei. Die Ergebnisse unserer Arbeit legen für den Richter hingegen nahe, dass es sich nicht um ein derartiges Spannungsverhältnis handelt, sondern dass die Autonomie – in habitueller Verankerung der ›Unabhängigkeit‹ – zwischen zwei Interventionsverhältnissen (Rationalität und Einzelfall) steht, die eine antagonistische Stellung einnehmen. Und hier führt dann die Argumentation zurück zu der Forderung des ›I‹ nach Freiheit von den Konventionen universalistischer Geltungskriterien und materialer Geltungsquellen seines ›me‹ und der darin repräsentierten Gesellschaft. Wir können die zu Beginn dieser Arbeit in Erinnerung gerufenen Deutungen zum Spannungsverhältnis von Individuum und der Gesellschaft mit diesen Ergebnissen nun spezifizieren: Die reflexive Konstitutionsbedingung von Identität in gesellschaftlicher Interaktion fundiert für das Individuum gleichzeitig Teilhaberschaft wie auch Kontrollinstanz eines Kollektivs. Aus der partiellen »Asozialität des Individuums« speist sich die Humanität, die »Abweichung und Freiheit gegenüber kollektiven Zwangs- und Wahnvorstellungen« (Soeffner 2000: 330). Diese »Unausgleichbarkeit des Gegensatzes von Situation und Norm« (Plessner 2002: 96), von »kollektivem Anspruch und individuellem Interesse« (Soeffner 2000: 331), ist nach den Ergebnissen unserer Arbeit in eine zweiseitige Beziehung zu stellen, die die Abwehr formaler Rationalität erweitert: Das Korrektiv wirkt nicht nur in die Richtung der reinen formalen Rationalität, sondern auch in die andere Richtung. Der Glauben »an die innerweltliche ›Heiligkeit‹ des Individuums«, die (in der Verfassung) an die Stelle des religiös und überpersönlich wirkenden Rechts gestellt wurde (Soeffner 2000: 331 f.) und sich im Begriff der ›Einzelfallgerechtigkeit‹ für unseren Fall widerspiegelt, ist in den ›me‹-Gefügen gleichsam vorhanden wie der Anspruch an formale Rationalität. Eine Hommage an das ›I‹ als Korrektivinstanz kollektiver Ansprüche kommt somit nicht darum herum, neben der formalen Rationalität des Gesetzes und des Verfahrens auch die Konzeption von übergesetzlichem Recht – sei es im Namen Gottes, der Natur oder des Individuums – im Blicke und »in Schach« zu halten.
Abbildung 19: Zweiseitige Abwehr kollektiven Drucks
kollektiver Anspruch
gesetzliche formale Gerechtigkeit Rationalität – Vernunft – Methode Richter als ›Subsumtionsautomat‹
›me‹-Gefüge
Kontrollinstanz des Kollektivs
zentrale Konfiguration des Richters in ›Unabhängigkeit‹
›I‹-Reaktionsgefüge
kollektiver Anspruch
übergesetzliche Gerechtigkeit Gott – Natur – Individuum Richter als ›Richterkönig‹
›me‹-Gefüge
290 Zusammenfassende Abschlussbetrachtung
Zum Ausblick einer Rechtspraxisforschung
291
Eine derart im Spannungsfeld zweier ›me‹-Gefüge (von gesetzlicher und übergesetzlicher Gerechtigkeit) gestaltete Identität (oder Subjekthaftigkeit) des Richters ist es, worauf sich der generalisierte Bürger als rechtlicher Laie in seiner Krise beziehen muss, um schließlich wieder – nach der ›Definition des Falles‹ durch diesen entscheidenden Dritten – in das alltägliche und-so-weiter eintreten zu können.
5.1
Zum Ausblick einer Rechtspraxisforschung
Die Ergebnisse dieser Arbeit vor Augen, eine ausführliche empirisch gewonnene Typologie richterlichen Selbstverständnis in Ausführung alltäglicher professioneller Praxis, die als Kernelement die ›Unabhängigkeit‹ im Sinne einer Antwort auf das Hauptproblem der Interaktionsebene, der ›Definition des Falles‹, beinhaltet, sollen im Folgenden die wesentlichen Aspekte der Rechtspraxisforschung dargelegt werden. Wie zu Beginn erläutert (siehe Abschnitt 1.2.2.9), steht diese Arbeit in der Linie einer sich in den letzten Jahren herauskristallisierenden Rechtspraxisforschung, die sich um die Projektaktivitäten von Martin Morlok (2001, 2004) und Ralf Kölbel (Morlok und Kölbel 1998, 2000, 2001; Morlok, Kölbel, et al. 1998, 2000; Kölbel, Berndt, et al. 2006) entwickelten und in den verschiedenen Qualifikationsarbeiten von Agnes Launhardt (2005), Peter Stegmaier (2008), der hier vorliegenden Arbeit und von Kye Il Lee (2008) sowie in gemeinsamen Aktivitäten weiterentwickelt wurde und wird. Ihren Ausgangspunkt und ihre Inspiration für veränderte theoretische und empirische Zugänge nahm die Rechtspraxisforschung u. a. von den Untersuchungen von Rüdiger Lautmann (1970, 1970, 1972) und den späteren Gerichtsforschungen der Forschergruppe um Hans-Georg Soeffner (u. a. Soeffner 1983, 1984, 1988, 1992, Soeffner und Cremers 1988, Soeffner, Lau, et al. 1994; vgl. dazu auch Stegmaier 2008: 63 ff.). Aktuelle Forschungen wie die von Thomas Scheffer mit seiner Arbeit zur Asylgewährung (Scheffer 2001) sind vom Ansatz her ebenfalls kongruent. Die Rechtspraxisforschung, mit speziellem Fokus auf richterliches bzw. gerichtliches Handeln und einem theoretischen Interesse an einer akteursbezogenen Rekonstruktion von Handlungsvollzügen, hat einen wissenssoziologischen Bezugspunkt und setzt im empirischen Bereich vordringlich auf qualitative empirische Verfahren, im Sinne einer sozialwissenschaftliche Hermeneutik mit ethnomethodologischem Interesse. Recht wird dabei als plastische Normativität aufgefasst, die intersubjektiv konstituiert und interaktiv konstruiert wird. Mit der hier vorgelegten Typologie richterlicher Selbsttypisierungen, den Richterbildern, wird die bisherige Forschung um die persönliche Identitätsdimension des Richters erweitert, indem mehr der Akteur bei Vollzug seiner Handlung als der Handlungsvollzug selbst in den Vordergrund gekommen ist. Das Selbstverständnis im Sinne
292
Zusammenfassende Abschlussbetrachtung
des Mead’schen ›self‹, als zentrales Kohärenz suchendes Zentrum im spiegelbildlichen Miteinander von ›me‹, ›I‹ und den Interaktionspartnern, steht dabei in Form der empirisch zugänglichen Selbsttypisierungen im Fokus der Untersuchung. Der gemeinsame Nenner des richterlichen Selbstverständnisses ist mit der ›Unabhängigkeit‹ grundsätzlich keine Überraschung, die einzelnen Differenzierungen und Bezüge dieses ›Unabhängigkeits‹-Selbstverständnisses hingegen decken durch den hier zum Einsatz gekommenen Ansatz der Rechtspraxisforschung neue und überraschende Bezüge auf. Nicht nur im gegenseitigen Wechselspiel zwischen gesetzlicher und übergesetzlicher Gerechtigkeit, sondern auch in Abgrenzung des reinen Richtertypus gegenüber dem Mischtypus mit Verwaltungs-MinisterialenAnteilen der stärkeren Karrierejuristen zeigt sich das ›Unabhängigkeits‹-Verständnis in neuer Perspektive. Zudem sind, nicht selten der reinen Persönlichkeit von Richtern zugeordnete Merkmale wie harter Richter – weicher Richter, in einen neuen Zusammenhang der strukturellen Bedingungen richterlicher Arbeit durch die Gerichtsorganisation und Fallzuständigkeit im Rahmen der sekundären Sozialisation und Ausbildung eines Habitus gesetzt worden, die zum ›weichen Richter‹und ›harten Richter‹-Typus führen. Der Nachweis einer Abhängigkeit richterlicher Professionsausübung von außerhalb ihrer entstandener Fertigkeiten, wie die tägliche Bewältigung von Interaktionsanforderungen, macht zudem einen nicht zu unterschätzenden Einfluss generationsbezogener Veränderungen bemerkbar, die zwar oft diskutiert, aber selten am Material nachgezeichnet wurden. Das grundsätzliche Handlungsproblem des Richters schließlich, auf das das ›Unabhängigkeits‹Selbstverständnis die kohärente Antwort des ›self‹ ist, wurde theoretisch als ›Definition des Falles‹ reformuliert und bietet unter der Stärkung der Sichtweise des ›Richters als Dritter‹ eine erweiterte Perspektive in der wissenssoziologischen Professionsforschung an. Eine weitere Aufgabe der Rechtspraxisforschung wird es sein, mit den hier gewonnenen Selbsttypisierungen im Sinne von Alfred Schütz verstärkt auf eine »Konstruktion miteinander verwobener Handlungsmuster« zu zielen, die sich als »Konstruktion miteinander verwobener Um-zu- und Weil-Motive« (Schütz 1971: 29) darstellen lassen und in den Analysen zur Typenbildung schon implizite Bestandteile waren (vgl. Abschnitt 2.3). Eine derart verstandene wissenssoziologische Handlungstheorie kann im Sinne von Handlungsselektion als Selektion von Deutungsmustern die enge Verbindung von Selbstbildern, Deutungsmustern und sich daraus ableitenden aktuellen Handlungsrealisierungen erforschen (vgl. SchulzSchaeffer 2008: 363 u. 376). In eine solche Richtung pointiert, ist diese Arbeit – als Teil der Rechtspraxisforschung – ein deutlicher Schritt zu einer wissenssoziologischen Handlungstheorie, die für viele rechtssoziologische Fragestellungen von Bedeutung sein kann.
Ergänzende Übersichten zur Typologie
›Basis-Dimension‹
›Unabhängigkeit‹
›Methoden- und Gesetzesbezug‹-Dimension
Abbildung 20: Bildung der Hauptkategorie
›Antriebs‹-Dimension
niedrige Anzahl Fälle bedingt durch: höhere Instanz, höhere Gerichtsebene, Art der Fälle
›Akademiker‹
[assoziiert mit ›zugewandter Richter‹]
persönlichere Land- und Kleingerichtsrichter
anonymere Großstadt- und GroßgerichtsRichter
hohe Anzahl Fälle bedingt durch: niedrigere Instanz, niedrigere Gerichtsebene, Art der Fälle
›Frontkamerad‹
[assoziiert mit ›Unberührbarer‹]
Beisitzer
Einzelrichter (zumeist Amtsrichter), Vorsitzende
›Kollegialrichter‹
›eigener Herr‹
Strafrichter/Zivilrichter eher oder auch sachverhaltlich arbeitend
Verwaltungsrichter eher rechtlich arbeitend
Strafrichter/(Verwaltungsrichter)
›harter Richter‹ [assoziiert mit ›Akademiker‹-Typus]
Zivilrichter
Grundlagen der Typen bzw. schwächere Typen (stärker bindend an Rolle, Funktion, sonstiger Bedingung)
›weicher Richter‹
rekonstruierte Typen (stärker bindungsfähig an die Person im Sinne einer Identität)
Abbildung 21: Übersicht Typen der ›Basis‹-Dimensionen
›Basis‹Dimensionen
Typen-Dimension
294 Ergänzende Übersichten zur Typologie
›Richterkönig‹ ›Judizler‹
›Richterkönig‹
›geschickter Radbruchianer‹
›Radbruchianer‹
›normaler Radbruchianer‹
›menschlicher Mund des Gesetzes‹
›Herr des Verfahrens‹
›Richtigtechniker‹
›Methodenmonist‹
›Subsumtionsautomat‹
rekonstruierte Typen (stärker bindungsfähig an die Person im Sinne einer Identität)
Abbildung 22: Übersicht Typen der ›Methoden und Gesetzesbezugs‹-Dimension
›Methoden- und Gesetzesbezugs‹Dimensionen
Typen-Dimension
Realisierung übergesetzlicher Gerechtigkeit auch gegen gesetzliche (mitunter hochvirtuos, technisch wie auch durch Rechtsgefühl)
Wahrung der Professionsstandards bei Realisierung übergesetzlicher Gerechtigkeit
Vorzug gesetzlicher Lösung vor übergesetzlicher trotz gelegentlicher »Bauchweh«
Fehlerquellen nur in menschlicher Unzulänglichkeit
rationales Verfahren stellt Gerechtigkeit her
Glaube an eine richtige Lösungsmöglichkeit
Gesetze sind technisch anwendungsfähig
Grundlagen der Typen
Ergänzende Übersichten zur Typologie
295
›Befangener‹
Heimatler – Ortsgebundenheit
Familialist – Vorrang Familie, Partner
Ökonomist – Aufwandminimierung
Abwechsler – Anstreben der Vielfalt
Eigennutz
Altes Bild der Herrschaftsausübung
Interaktions-Distanz Eigenschutz
Gesellschaftliche Interaktionsanforderung (Entsprechung der Service-Erwartung)
›zugewandter Richter‹
›Unberührbarer‹
Vergleichsehrgeiz (innerhalb des Richter-Selbstverständnisses)
Karrierestreben Erfolgsorientierung (Juristen-Selbstverständnis)
Grundlagen der Typen bzw. schwächere Typen (stärker bindend an Rolle, Funktion, sonstiger Bedingung)
›Alternativ-Wettbewerber‹
›Karrierist‹
rekonstruierte Typen (stärker bindungsfähig an die Person im Sinne einer Identität)
Abbildung 23: Übersicht Typen der ›Antriebs‹-Dimension
›Antriebs‹Dimensionen
Typen-Dimension
296 Ergänzende Übersichten zur Typologie
Abbildung 24: Gesamtübersicht Richtertypologie
›Unabhängigkeit‹
Zentrale Selbsttypisierung als Antwort auf das Praxisproblem ›Definition des Falles‹
›Antriebs‹Dimension
›Methoden- und Gesetzesbezug‹
›Basis‹Dimension
Typen-Dimensionen
›Richterkönig‹
›Radbruchianer‹
›Richtigtechniker‹
GskR
GskR
GskR
GskR
GskR
zusammenfassbare Typen (Gegensätzlichkeit - Gsk)
›Befangener‹
›Unberührbarer‹
›zugewandter Richter‹
›Alternativ-Wettbewerber‹
›Karrierist‹
›Judizler‹
›Richterkönig‹
›geschickter Radbruchianer‹
›normaler Radbruchianer‹
›menschlicher Mund des Gesetzes‹
›Herr des Verfahrens‹
›Methodenmonist‹
›Subsumtionsautomat‹
›Akademiker‹
›Frontkamerad‹
›Kollegialrichter‹
›eigener Herr‹
›harter Richter‹
›weicher Richter‹
Typen
Ergänzende Übersichten zur Typologie
297
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