Hans Mathias Kepplinger Realitätskonstruktionen
Theorie und Praxis öffentlicher Kommunikation Band 5 Herausgegeben vo...
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Hans Mathias Kepplinger Realitätskonstruktionen
Theorie und Praxis öffentlicher Kommunikation Band 5 Herausgegeben von Hans Mathias Kepplinger In Zusammenarbeit mit Simone Christine Ehmig
Hans Mathias Kepplinger
Realitätskonstruktionen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-18033-5
Inhalt
Vorwort ............................................................................................................
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Erkenntnisinteresse und Forschungspraxis des Konstruktivismus ...................
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Begriff und Gegenstand öffentliche Meinung .................................................. 19 Theorien der Nachrichtenauswahl als Theorien der Realität ............................ 47 Der Ereignisbegriff in der Publizistikwissenschaft........................................... 67 Die Konstruktion von Ereignisserien nach Schlüsselereignissen ..................... 85 Der Umgang der Medien mit Ungewissheit ..................................................... 99 Die Verdunkelung des publizistischen Ereignishorizontes...............................117 Die Ausweitung des publizistischen Ereignishorizontes ..................................139 Die Konstruktion der Ölkrise 1973/74..............................................................153 Die Konstruktion der Kriegsdienstverweigerung..............................................177 Die Konstruktion der Kernenergiegegnerschaft................................................205 Quellennachweise ............................................................................................233
Vorwort
Der Begriff Realitätskonstruktionen verweist auf zwei miteinander verbundene Sachverhalte. Zum einen verweist er darauf, dass die gesellschaftliche Realität ein Ergebnis von menschlichem Handeln und in diesem Sinne konstruiert ist. Das trifft im Übrigen auch auf wesentliche Teile der Umwelt zu, die wir irrtümlicherweise für natürlich halten. Zum anderen verweist er darauf, dass wissenschaftliche Beschreibungen und Erklärungen der Realität ebenfalls konstruiert sind, weil sie auf Entscheidungen beruhen, die man so oder auch anders treffen kann. Das vorliegende Buch enthält Beiträge zu beiden Aspekten den wissenschaftstheoretischen Grundlagen und den empirischen Möglichkeiten des Konstruktivismus. Die begrifflich-theoretischen Grundlagen der empirischen Analyse der Rolle der Medien in der Gesellschaft sind Gegenstände der ersten vier Kapitel. Sie behandeln die Möglichkeit und Notwendigkeit empirischer Forschung auf konstruktivistischer Grundlage; das Verhältnis von wissenschaftlichen Begriffen zu ihren Gegenständen; die Beziehungen zwischen dem andauernden Strom des aktuellen Geschehens und den punktuellen Medienberichten darüber sowie die Zusammenhänge zwischen dem aktuellen Geschehen, der Berichterstattung darüber und den Reaktionen der Rezipienten, die selbst wieder zum Gegenstand der Berichterstattung werden. Die folgenden sieben Kapitel beruhen auf empirischen Analysen der Zusammenhänge zwischen den berichteten Ereignissen, der Berichterstattung und ihren Folgewirkungen. Den Einstieg in die Thematik liefern zwei Studien der Berichterstattung über aktuelle Ereignisse, über die unzureichende Informationen vorliegen. Sie zeigen, dass Medien nach dramatischen Geschehnissen den Eindruck von Ereignisserien hervorrufen, weil sie verstärkt über ähnliche Ereignisse berichten bzw. auch dann den Eindruck sicheren Wissens vermitteln, wenn es sich nur um Vermutungen handelt. Daraus kann man die Folgerung ableiten, dass die Berichterstattung vor allem nach dramatischen Ereignissen keine zuverlässigen Eindrücke vom aktuellen Geschehen vermittelt. Es folgen zwei Studien über die Ursachen und Folgen der Veränderung der Medienberichterstattung im Laufe von mehreren Jahrzehnten. Dabei geht es zum einen um den wachsenden Anteil der Berichte über negative Ereignisse und ihre Auswirkungen auf die Realitätsvorstellungen der Bevölkerung. Zum anderen
geht es um die Diskrepanzen zwischen den Berichten über eine zunehmende Zahl von aktuellen Ereignissen, der kurzen Dauer des Publikumsinteresses an der jeweiligen Thematik sowie den langen Zeitspannen bis zur Beseitigung der thematisierten Probleme. Den Abschluss bilden drei Untersuchungen zur Rolle der Medien im Verlauf von komplexen gesellschaftlichen Veränderungen. Sie erstrecken sich z. T. ebenfalls über mehrere Jahrzehnte und beruhen auf der Kombination von verschiedenen Erhebungsmethoden. Dazu gehören offizielle Statistiken, u. a. zur wirtschaftlichen Entwicklung, und technische Messungen, z. B. von radioaktiven Niederschlägen; quantitative Inhaltsanalysen der Medienberichterstattung; demoskopische Umfragen zur Entwicklung der Bevölkerungsmeinung; sowie Chronologien von politischen und rechtlichen Entscheidungen. Die Kombination dieser Daten zeigt, dass die traditionelle Vorstellung von der Wirkung der Medien nur einen geringen Teil der Problematik erfasst, weil ein Großteil des Geschehens, über das die Medien berichten, selbst bereits eine Folge der vorangegangenen Berichterstattung ist. Für die erneute Publikation der Beiträge, die zuerst in Fachzeitschriften und Fachbüchern erschienen sind, habe ich im Interesse einer einfachen und allgemeinverständlichen Darstellung methodische Details, umfangreiche Literaturbelege und fachspezifische Exkurse gestrichen. Sie können in den Erstveröffentlichungen nachgeschlagen werden. Hinweise auf Veränderungen der Erstpublikationen finden sich in den Quellennachweisen am Ende des Bandes. Die Publikation des vorliegenden Bandes wäre nicht möglich gewesen ohne die Hilfe von mehreren Mitarbeitern. Simone Christine Ehmig hat die Rechte bei Verlagen eingeholt, Andrea Ohters die Texte digitalisiert und den Band formatiert. Nicole Podschuweit, Stefan Geiss und Senja Post haben Korrektur gelesen. Philipp Weichselbaum hat die Grafiken neu gestaltet und die Druckfassung redigiert. Bei allen bedanke ich mich für ihre Sorgfalt und Geduld. Für alle Fehler, die dennoch existieren mögen, bin ich selbst verantwortlich. Hans Mathias Kepplinger Mainz, im September 2010
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Erkenntnisinteresse und Forschungspraxis des Konstruktivismus
Der Konstruktivismus hat die empirische Kommunikationswissenschaft am Institut für Publizistik der Universität Mainz in den frühen siebziger Jahren erreicht. Dies war relativ spät, denn die Erstauflage des wegweisenden Buches von Peter L. Berger und Thomas Luckmann über Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit1 war bereits 1966 erschienen, die grundlegende Untersuchung von Alfred Schütz Der Sinnhafte Aufbau der sozialen Welt2 lag mehr als vierzig Jahre zurück, und der Spiritus Rector des radikalen Subjektivismus, Johann Gottlieb Fichte, war schon mehr als 150 Jahre tot. Vor allem Winfried Schulz und der Verfasser dieses Beitrages waren von den neuen Perspektiven tief beeindruckt, die das Werk von Berger und Luckmann eröffneten. Das Ergebnis der damals noch rein institutsinternen Diskussionen waren zwei programmatische Untersuchungen, Realkultur und Medienkultur3 vom Verfasser dieses Beitrages sowie Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien4 von Winfried Schulz. Einige Jahre später folgten Gaye Tuchmans Making News. A Study in the Construction of Reality5 und Mark Fishmans Manufacturing the News, 6 die sich vorwiegend mit der Nachrichtenauswahl befassten, sowie Allan Mazurs The Dynamics of Technical Controversy,7 der die Bedeutung der Massenmedien für die Wahrnehmung sozialer Probleme analysierte. Winfried Schulz hat seither seine Sichtweise im Wesentlichen beibehalten und umfassend begründet.8 Ich habe mich relativ schnell gegen die erkenntnistheoretische Position des Konstruktivismus gewandt.9 Hierfür waren zwei Gründe ausschlaggebend. Zum einen halte ich den erkenntnistheoretischen Relativismus des Konstruktivismus z. T. für falsch und z. T. für irrelevant. Zum anderen bin ich davon überzeugt, dass der erkenntnistheoretische Relativismus des Konstruktivismus der Verwirklichung seines sozialwissenschaftlichen Forschungsprogrammes im Wege steht. Dieses Forschungsprogramm stellt jedoch nach meiner Überzeugung die wichtigste Herausforderung der Publizistikwissenschaft dar. Meine Kritik am erkenntnistheoretischen Relativismus des Konstruktivismus will ich im Folgenden kurz begründen.
H. M. Kepplinger, Realitätskonstruktionen, DOI 10.1007/978-3-531-92780-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Thesen und Zweifel Die konstruktivistischen Thesen in Realkultur und Medienkultur lauten: 1. 2.
3.
4.
Die Medienkultur enthält ... kein objektives Bild von der Realkultur, weil die Realkultur nicht objektiv abbildbar ist. Der Begriff objektiv besitzt daher genau genommen in diesem Zusammen hang keinen angebbaren Sinn, er ist inhaltsleer und damit völlig beliebig. Da der Begriff objektiv im vorliegenden Zusammenhang keinen angebbaren Sinn besitzt, sind alle Aussagen darüber, dass eine bestimmte Medienkultur ein objektives oder kein objektives Bild der Realkultur liefert, keine empirisch prüfbaren Aussagen. Das Problem bei der Beurteilung der Medienkultur lautet daher nicht, ob sie die Realkultur objektiv abbildet, sondern nach welchen Regeln sie selektiert, zu welchen Konsequenzen diese Selektion führt und bis zu welchem Grad man diese Konsequenzen akzeptiert.10
Die zitierten Thesen kann man etwas allgemeiner folgendermaßen formulieren: (1) Es gibt keine objektive Erkenntnis. Jede Erkenntnis hängt vielmehr von den Voraussetzungen ab, unter denen sie gewonnen wurde. (2) Es gibt keine objektive Realität. Jede Beschreibung von Realität stellt vielmehr eine subjektive Konstruktion dar. (3) Alle Realtitätskonstruktionen sind gleich richtig oder falsch, angemessen oder unangemessen. (4) Vergleiche zwischen Realität und Darstellungen sind nicht möglich, weil es jenseits der Darstellungen keine Realität gibt, mit der man sie vergleichen könnte. Falls diese Thesen stimmen, sind folgende Aussagen richtig: (1) Der Reaktorunfall bei Sellafield/Windscale lässt sich nicht objektiv erkennen. Jede Aussage darüber hängt vielmehr von Prämissen ab und spiegelt eher das Vorgehen bei der Analyse als den analysierten Sachverhalt. (2) Der Reaktorunfall stellte keine objektive Realität dar. Jede Beschreibung dieser Realität ist vielmehr nichts anderes als eine subjektive Re-Konstruktion von Realität. (3) Jede dieser ReKonstruktionen ist gleich richtig oder falsch. Daher ist die Behauptung, der Unfall sei bedeutungslos gewesen, genauso angemessen wie die Behauptung, es habe sich um einen Beinahe-GAU gehandelt. (4) Vergleiche zwischen der Berichterstattung der internationalen Presse, die den Unfall nahezu nicht zur Kenntnis nahm, und dem Geschehen vor Ort sind unmöglich, weil das Geschehen selbst unbekannt ist. Daher sind auch alle Aussagen darüber, dass die Presse den Vorfall unangemessen dargestellt hat, unzulässig. Wie man leicht erkennt, sind diese Behauptungen nicht richtig. Der Hergang des Reaktorunfalls ist
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durchaus objektiv erkennbar und der Vorgang selbst war ohne Zweifel eine objektive Realität. Widersprüchliche Behauptungen darüber sind keineswegs gleich richtig, und der Vergleich der Berichterstattung mit dem Geschehen ist außerordentlich aufschlussreich zumal dann, wenn man ähnliche Vorfälle wie den Reaktorunfall von Harrisburg und die Reaktorkatastrophe bei Tschernobyl in die Betrachtung miteinbezieht.
Begriffe und Konsequenzen Die Diskussion um die Objektivität von wissenschaftlichen Aussagen besitzt erkenntnistheoretische und forschungspraktische Aspekte. Zu den erkenntnistheoretischen Aspekten gehört die Frage, ob objektive Erkenntnisse möglich sind. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was man unter dem Begriff objektiv versteht. Der Begriff objektiv wird in mehreren Bedeutungen verwandt. Zum einen bedeutet objektiv soviel wie wesensgemäß, endgültig. In diesem Sinn wird der Begriff vor allem in den Geisteswissenschaften benutzt. Zum anderen bedeutet er soviel wie intersubjektiv, nachprüfbar. In diesem Sinn wird er vor allem in den Naturwissenschaften verstanden. Dabei ist unbestritten, dass jede derartige Erkenntnis von Voraussetzungen abhängt, die nicht ad infinitum begründet werden können. Dies fängt bei der Definition von Grundbegriffen an, geht über die Wahl der Messverfahren weiter und setzt sich bis in die Bestimmung der zu messenden Objekte fort. Innerhalb dieser Voraussetzungen sind jedoch objektive Aussagen möglich. Daher ist es sinnvoll, von objektiven Aussagen zu sprechen, obwohl man weiß, dass der Geltungsbereich dieses Anspruches begrenzt ist. Wer die Möglichkeit objektiver Erkenntnis im oben skizzierten Sinn bestreitet, fordert implizit eine voraussetzungslose Wissenschaft, weil er nur eine derart gewonnene Erkenntnis als objektiv anerkennt. Hierbei handelt es sich um eine verständliche, aber letztlich unwissenschaftliche Position, die ihre Wurzeln im religiösen Denken besitzt. Sie ist durch Wissenschaft nicht einzulösen, stellt aber Wissenschaft auch nicht in Frage, weil Wissenschaft den Anspruch nicht erhebt, den sie unterstellt. Jede wissenschaftliche Aussage ist in diesem Sinn eine Konstruktion, die auch jedoch nicht allein ihre Konstruktionsbedingungen spiegelt. Die grundlegenden Entscheidungen für bestimmte Definitionen und Verfahren lassen sich zwar nicht zwingend rechtfertigen. Sie sind jedoch auch nicht willkürlich. Die weitaus meisten der denkbaren Definitionen und Verfahren führen vielmehr zu absurden Befunden. Aus der richtigen Feststellung, dass eine voraussetzungsfreie Wissenschaft unmöglich ist, folgt daher nicht, dass alle Voraussetzungen gleich gut sind. Eine der wichtigsten Aufgaben der Wissen-
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schaft besteht vielmehr gerade darin, unhaltbare Voraussetzungen zu erkennen und auszuschalten. Zu den forschungspraktischen Aspekten der Diskussion gehört die Frage, wie viel Objektivität zur Lösung eines konkreten Problems notwendig ist. Dies mag auf den ersten Blick provozierend wirken, weil völlige Objektivität das Minimum zu sein scheint. Dies ist jedoch ein Irrtum. Für die Beantwortung der meisten Forschungsfragen genügt eine Annäherung an das Optimum, wobei man schon aus forschungsökonomischen Gründen hinter dem Optimum zurückbleibt. Aus diesem Grund werden einfaktorielle statt mehrfaktorielle Experimente gemacht und Studenten statt repräsentative Stichproben getestet, Stichproben relativ klein gewählt, Erhebungsinstrumente einfach gehalten obwohl man rein theoretisch anders noch genauere, verallgemeinerbarere und in diesem Sinne objektivere Ergebnisse erhalten würde. Dies ist jedoch häufig weder notwendig noch sinnvoll. So könnte man z. B. einen Vergleich zwischen der tatsächlichen Häufigkeit tödlicher Verkehrsunfälle und der Berichterstattung über tödliche Verkehrsunfälle in einem längeren Zeitraum dadurch optimieren, dass man die Gesamtzahl der Toten um die Zahl derer verringert, die mit dem Auto Selbstmord begingen, also freiwillig und nicht unfreiwillig aus dem Leben schieden. Dadurch käme man der objektiven Gefährdung durch den Verkehr zweifellos näher. Der Aufwand hierfür stünde jedoch, weil sich die Gesamtzahlen dadurch nach allen vorliegenden Erkenntnissen nur wenig verändern würden, in keinem angemessenen Verhältnis zum Ertrag. So würde sich z. B. die Korrelation zwischen der Zahl der Verkehrstoten und der Zahl der Artikel in einem bestimmten Zeitraum mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ändern. Das gleiche gilt für die Analyse der Berichterstattung über Verkehrsunfälle, die man anhand einer Vollerhebung genauer erfassen könnte als anhand einer Stichprobe, was jedoch eine hinreichend dichte Stichprobe vorausgesetzt sachlich nicht notwendig ist. Die Entscheidung, wie genau man bei einer empirischen Untersuchung vorgehen muss, ist meist ein forschungspraktisches Problem, das im weiten Vorfeld der erkenntnistheoretischen Probleme angesiedelt ist. Die erkenntnistheoretischen Probleme und Argumente sind hierfür in der Regel irrelevant, weil sie Fragen aufwerfen, die sich in der praktischen Forschung nicht stellen und zur Beantwortung der praktischen Forschungsfragen nichts Substanzielles beitragen.11 Sozialwissenschaftliche Erkenntnis findet mit anderen Worten in der Regel nicht an erkenntnistheoretischen Schranken ihre Grenzen, sondern an praktischen Schwierigkeiten wie z. B. der Komplexität von Forschungsdesigns und Erhebungsinstrumenten, den finanziellen, personellen, räumlichen und zeitlichen Beschränkungen. Verglichen damit sind erkenntnistheoretische Restriktionen weitgehend bedeutungslos.
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Die Diskussion um die Erkennbarkeit von Realität und Darstellung besitzt ebenfalls erkenntnistheoretische und forschungspraktische Aspekte. Zu den erkenntnistheoretischen Aspekten gehört die Frage, ob es Realität gibt und ob man sie erkennen kann. Die Antwort darauf hängt auch hier davon ab, was man unter dem Begriff Realität versteht, denn der Begriff Realität wird ebenfalls in mehreren Bedeutungen verwandt. Zum einen bezeichnet Realität soviel wie das Wesen einer Sache, der Politik, der Wirtschaft, der Kultur usw. Zum anderen bedeutet er bestimmte Aspekte von Realität, die Wahlabsichten, die Währungskurse, die Zahl der Buchpublikationen usw. Legt man die erste Definition zugrunde, ist Realität tatsächlich nicht erkennbar. Zugleich bewegt man sich dann jedoch außerhalb des Realitätsverständnisses der empirischen Wissenschaften. So beschäftigt sich die Chemie nicht mit der Materie, sondern mit spezifischen Aspekten von Materie, die eigens zum Zweck der Analyse explizit definiert wurden, den Elementen. Zugleich bestreitet man damit die Möglichkeit jeder empirischen Wissenschaft, also auch der intersubjektiven Analyse des Verhaltens von Journalisten bei der Produktion von Nachrichten, denn auch hierbei handelt es sich um Realität. Legt man die zweite Definition zugrunde, dann ist Realität bzw. der für die Analyse von Realität relevante Aspekt durchaus erkennbar und kann mit der Berichterstattung der Massenmedien verglichen werden. Zu den forschungspraktischen Aspekten der Diskussion gehört die Frage, welche Aspekte von Realität erfassbar sind und ob es sich um die sachlich relevanten Aspekte handelt. Dies betrifft sowohl die Darstellung von Realität in den Massenmedien als auch die dargestellte Realität selbst. Beide Realitäten, die Berichterstattung und das berichtete Geschehen, sind nur durch Realitätsindikatoren zugänglich. Diese Indikatoren bilden die Realität in keinem Fall vollständig ab. Die entscheidende Frage lautet daher im konkreten Fall, ob die erforderlichen Indikatoren verfügbar und ob die verfügbaren Indikatoren hinreichend aussagekräftig sind. Dieses Problem stellt sich einem Sozialwissenschaftler nicht grundsätzlich anders als einem Mediziner, der eine Krankheit anhand von Indikatoren diagnostiziert. Die gesellschaftliche Realität ist nur bedingt durch geeignete Indikatoren erkennbar. Weite Bereiche, etwa die Entscheidungsprozesse bei internationalen Konferenzen, die Ursachen des Drogenmissbrauchs oder die psychischen Folgen von Verkehrsunfällen, sind nur unzureichend dokumentiert. Dennoch gibt es für andere Bereiche, etwa den Ausgang von Wahlen, die Anzahl der Drogentoten oder die Art und Häufigkeit von körperlichen Schäden durch Verkehrsunfälle, umfangreiche und hinreichend aussagekräftige Indikatoren. Ähnlich verhält es sich mit der Darstellung von Realität in den Massenmedien. Auch hierfür liegen nicht genügend Indikatoren vor - Inhaltsanalysen der verbalen und visuellen Darstellung. Zudem sind nicht alle Eigenschaften der Darstel-
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lung hinreichend genau erfassbar. Dennoch geben bereits die verfügbaren und ermittelbaren Daten einen hinreichend genauen Aufschluss über die relevanten Aspekte. Das entscheidende Problem besteht daher in beiden Fällen nicht in einem Mangel an geeigneten Realitätsindikatoren, sondern in ihrer völlig unzureichenden Erhebung und Nutzung. Auch die Diskussion um den Vergleich zwischen Realität und Realitätsdarstellung in den Massenmedien enthält erkenntnistheoretische und forschungspraktische Aspekte, die getrennt betrachtet werden müssen. Zu den erkenntnistheoretischen Aspekten gehört die Frage, ob ein Vergleich zwischen Darstellung und Realität generell möglich ist. Gegen diese Annahme scheint die Tatsache zu sprechen, dass die Realität in den meisten Fällen nicht direkt zugänglich ist. Die Berichterstattung kann daher nur mit anderen Realitätsindikatoren, z. B. externen Statistiken, verglichen werden. Dies ist richtig, geht jedoch aus zwei Gründen am Problem vorbei. Der erste Grund besteht darin, dass in der Regel auch die Berichterstattung nicht direkt zugänglich, sondern nur anhand von Indikatoren bekannt ist. Solche Indikatoren sind z. B. die Ergebnisse von systematischen Inhaltsanalysen. Auf beiden Seiten des Vergleiches werden Indikatoren herangezogen. Daher besteht die unterstellte Asymmetrie hier Berichterstattung, dort Indikatoren für Realität nicht. Der zweite Grund liegt darin, dass der Augenschein keineswegs a priori ein besseres Bild der Realität liefert als Indikatoren aus zweiter Hand. Wer z. B. die Qualität des Rheinwassers persönlich prüft, ist nicht notwendigerweise genauer informiert als der Leser des letzten Gewässerberichtes, und wer die Berichterstattung darüber in den Zeitungen verfolgt, kennt sie nicht unbedingt besser als der Leser einer systematischen Inhaltsanalyse. Die systematische Inhaltsanalyse, wie die regelmäßigen Wassermessungen, vermitteln vielmehr, sofern sie wissenschaftlich gut durchgeführt werden, bessere Kenntnisse als der Augenschein. Genau dies ist der Zweck jeder wissenschaftlichen Untersuchung, und was als Argument gegen den Vergleich zwischen Realität und Darstellung zu sprechen scheint seine Abhängigkeit von Indikatoren , erweist sich bei genauer Betrachtung als eine Voraussetzung seiner Möglichkeit. Zu den forschungspraktischen Aspekten gehört auch die Frage, welche Indikatoren für die dargestellte Realität herangezogen werden sollen und wie sie mit den Indikatoren für die Darstellung dieser Realität kombiniert werden können. Das Problem der Realitätsindikatoren hat Karl Erik Rosengren12 ausführlich diskutiert und dabei zwei Aspekte herausgearbeitet: die Qualität und die Unabhängigkeit der Indikatoren.13 Neben den Statistiken, deren Aussagekraft Rosengren behandelt, können Expertenurteile über die Realität zum Vergleich mit der Darstellung herangezogen werden.14 Die Qualität der Expertenurteile ist ihrerseits durch verschiedene Verfahren prüfbar.15 Das Problem der Kombination von Indikatoren kann hier nur angedeutet werden. Hierzu gehört vor allem die
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Zulässigkeit der Gegenüberstellung von kumulierten Aussagen in den Massenmedien und von Messungen der Intensität, z. B. der Umweltbelastung.16 Ferner gehört hierzu die Zulässigkeit der Kombination von Aussagen in den Massenmedien und von externen Messungen, die u. U. eine unterschiedliche zeitliche und räumliche Geltung besitzen, in einem Fall möglicherweise einen ganz bestimmten Ort an einem ganz bestimmten Tag betreffen, sich im anderen Fall aber auf allgemeine Zustände innerhalb einer Region beziehen. Aus den genannten Gründen sind alle Vergleiche zwischen den Realitätsdarstellungen in den Massenmedien und externen Realitätsindikatoren Beschränkungen unterworfen. 17 Diese Beschränkungen ändern jedoch nichts daran, dass es hinreichende Kriterien gibt, um bessere von weniger guten Realitätsdarstellungen zu unterscheiden. Aus der Einsicht, dass die volle Wahrheit nicht erkennbar ist, folgt nicht, dass alle Aussagen gleich falsch sind.
Zusammenfassung und Folgerungen Die These, dass es keine objektive Erkenntnis im Sinne einer voraussetzungsfreien Einsicht gibt, ist richtig. Die Folgerung daraus, dass jede Einsicht subjektiv und daher gleichermaßen angemessen oder unangemessen ist, ist jedoch falsch. Die These, dass die Realität im umfassenden Sinn nicht erkennbar ist, ist richtig. Die Folgerung, dass Realität deshalb nicht erkennbar ist, ist jedoch falsch. Die These, dass jede Realität letztlich eine Konstruktion ist, in die auch ihre Konstruktionsbedingungen eingehen, ist richtig. Die Folgerung daraus, dass alle Konstruktionen von Realität gleich richtig oder falsch sind, ist jedoch falsch. Die These, dass man die Realität und die Darstellung von Realität nicht direkt miteinander vergleichen kann, ist richtig. Die Folgerung daraus, dass man sie überhaupt nicht sinnvoll miteinander vergleichen kann, ist jedoch falsch. Sie steht darüber hinaus im krassen Gegensatz zu der grundlegenden Forderung des Konstruktivismus, die Bedingungen der Konstruktion von Realität z. B. in der Berichterstattung der Massenmedien zu erkennen. Die Bedingungen der Konstruktion von Realität in den Massenmedien kann man vielmehr nur dann erkennen, wenn man die Darstellung von Realität mit der dargestellten Realität vergleicht. Dies soll anhand eines Beispiels illustriert werden, der Konstruktion von Realität durch die Nachrichtenmedien. Die Nachrichtenfaktoren kann man als eine Ursache der Nachrichtenauswahl betrachten. Die Berichterstattung spiegelt nach dieser Vorstellung u. a. die Geltung bestimmter Selektionsprinzipien. Wegen der Geltung dieser Prinzipien steigt die Publikationschance einer Meldung u. a. mit der Zahl der Nachrichtenfaktoren, die sie enthält. Zu den Nachrichtenfaktoren gehört u. a. der Faktor
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Schaden. Eine systematische Inhaltsanalyse derartiger Meldungen im Verlauf von zwanzig Jahren wird möglicherweise eine Zunahme von derartigen Schadensmeldungen ausweisen. Dies kann auf einen Wandel der Nachrichtenselektion und auf einer Veränderung der Schadenshäufigkeit beruhen. Im ersten Fall wäre die Zahl der Schadensfälle gleich geblieben (oder zurückgegangen), die normativen Grundlagen der Nachrichtenselektion und damit der Konstruktion von Realität hätten sich geändert. Im zweiten Fall wären die Prinzipien der Konstruktion von Realität durch die Massenmedien gleich geblieben, während die Zahl der Schadensfälle zugenommen hätte. Welche der beiden Interpretationen richtig ist, kann nur durch eine Kontrastierung der tatsächlichen Schadenshäufigkeit und der Häufigkeit von Schadensmeldungen festgestellt werden. Daher greift jede konstruktivistische Theorie der Nachrichtenauswahl, die die berichtete Realität ausklammert, zu kurz.18 Allgemeiner formuliert kann man feststellen, dass sich das sozialwissenschaftliche Forschungsprogramm des Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft die Analyse des Einflusses medieninterner Faktoren auf die Darstellung medienexterner Realität nur bei einer Vernachlässigung der erkenntnistheoretischen Postulate des Konstruktivismus verwirklichen lässt. Dabei ist der Vergleich zwischen Darstellung und Realität nicht nur eine denkbare Möglichkeit, sondern eine unverzichtbare Notwendigkeit.
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Peter L. Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (1966). Frankfurt a. M. 1970. 2 Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (1932). Wien ²1960. 3 Hans Mathias Kepplinger: Realkultur und Medienkultur. Literarische Karrieren in der Bundesrepublik. Freiburg i. Br. / München 1975. 4 Winfried Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung (1976). Freiburg i. Br. / München ²1990. 5 Gaye Tuchman: Making News. A Study in the Construction of Reality. New York 1978. 6 Mark Fishman: Manufacturing the News. Austin 1980. 7 Allan Mazur: The Dynamics of Technical Controversy. Washington 1981. 8 Winfried Schulz: Massenmedien und Realität. Die ptolemäische und kopernikanische Auffassung. In: Max Kaase / Winfried Schulz (Hrsg.): Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde. Opladen 1989, S. 135-149. 9 Hans Mathias Kepplinger: Predicting the News. In: Journal of Communication 28 (1978) Nr. 3, S. 223-225. 10 Hans Mathias Kepplinger: Realkultur und Medienkultur, a.a.O., S. 19 ff. 11 Vgl. Paul F. Lazarsfeld: Wissenschaftslogik und empirische Sozialforschung. In: Ernst Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln 1965, S. 37-49.
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Karl E. Rosengren: International News: Intra and Extra Media Data. In: Acta Sociologica 13 (1970) S. 96-109. 13 Vgl. Stefanie Best: Der Intra-Extra-Media-Vergleich ein wenig genutztes Analyseinstrument und seine methodischen Anforderungen. Ein Beitrag zur Nachrichtenwerttheorie. In: Publizistik 45 (2000) S. 51-69. 14 Vgl. S. Robert Lichter / Stanley Rothman / Linda S. Lichter: The Media Elite. Bethesda 1986. 15 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Simone Christine Ehmig / Christine Ahlheim: Gentechnik im Widerstreit. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Journalismus. Frankfurt a. M. / New York 1991. 16 Vgl. die Kombination der Häufigkeit von Medienberichten über Schadensfälle, bzw. die Anzahl der Geschädigten mit der Häufigkeit der thematisierten Ereignisse in dem Beitrag Die Konstruktion von Ereignisserien nach Schlüsselereignissen in diesem Band S. 85-98. 17 Vgl. hierzu den Beitrag Theorien der Nachrichtenauswahl als Theorien der Realität. In diesem Band, S. 47-65. 18 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Helga Weißbecker: Negativität als Nachrichtenideologie. In: Publizistik 36 (1991) S. 330-342.
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Begriff und Gegenstand öffentliche Meinung
Der Entwicklungsstand und die Entwicklungsmöglichkeiten empirischer Wissenschaften hängen nicht zuletzt von ihren theoretischen Begriffen ab. Die Einführung der Begriffe Masse und Energie, Feld und Motiv, Rolle und Status dürften den Fortschritt der Physik, Psychologie und Soziologie nicht weniger gefördert haben als Beobachtungen und Messungen. Die Reflexion über Begriffe gehört deshalb zu den Aufgaben jeder empirischen Wissenschaft. Poesielose Naturwissenschaftler waren dabei eigentümlicherweise erfolgreicher als sprachgewaltige Sozialwissenschaftler dies hat objektive Gründe, die in der Materie selbst liegen, hängt jedoch auch mit den tradierten Denkstilen zusammen. Während die Geschichte der modernen Naturwissenschaften mit der Entwicklung exakter Messverfahren begann und von der Prägung theoretischer Begriffe zur Interpretation der Daten fortschritt, entstanden die Sozialwissenschaften durch die Übertragung des Vokabulars der Alltagssprache und der Philosophie auf empirische Befunde. Begriffe wie Volkswille und Souveränität, Gemeinwohl und öffentliche Meinung verstellen als scheinbar längst Bekanntes den Blick auf das nicht Erkannte. Sie erschweren durch ihre Ableitung aus Individualbegriffen (Wille, Souverän, Wohl, Meinung) den Zugang zu originär kollektiven Phänomenen. Stattdessen legen sie die fragwürdige Annahme kollektiver Subjekte nahe.1 Umgangssprache und philosophische Terminologie erweisen sich daher nicht nur als Reservoir sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung, sondern auch als Quelle wissenschaftlicher Missverständnisse. Die Autoren sozialwissenschaftlicher Texte gehen häufig von acht impliziten Annahmen über den Charakter wissenschaftlicher Begriffe und ihr Verhältnis zu ihren Objekten aus: 1. 2. 3. 4. 5.
Die Existenz von Begriffen bestätigt die Existenz der Phänomene, die sie bezeichnen; Begriffe, die keine natürlichen Phänomene bezeichnen, sind sinnlos; Begriffe dürfen nur jeweils ein Phänomen bezeichnen; Begriffe sind wertfrei oder wertend; Begriffe sollen empirische Informationen über die Phänomene enthalten, die sie bezeichnen;
H. M. Kepplinger, Realitätskonstruktionen, DOI 10.1007/978-3-531-92780-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
6. 7. 8.
Komplexe Phänomene verlangen komplexe Begriffe; Begriffe müssen sich mit den Phänomenen, die sie bezeichnen, ändern; Aussagen über Begriffe sind Aussagen über die Phänomene, die sie bezeichnen.
Im Folgenden werden die einzelnen Thesen am Beispiel der Verwendung des Begriffs öffentliche Meinung expliziert. Dazu sind einige sprachliche Festlegungen notwendig.
Objekte, Objektsprache und Metasprache Man kann drei Sprachebenen und drei Aussageformen unterscheiden. Die drei Ebenen sind Objektbereiche, Objektsprachen und Metasprachen.2 Die drei Aussageformen sind Feststellungen in einer Sprache, Feststellungen über eine Sprache und Festsetzungen für eine Sprache.3 Objektbereich oder Gegenstandsbereich wissenschaftlicher Aussagen ist die Gesamtheit der Korrelate wissenschaftlicher Begriffe, bzw. die Gesamtheit der Gegenstände wissenschaftlicher Aussagen. Die Begriffe Korrelat und Gegenstand werden synonym verwendet und sollen das gleiche bedeuten wie die Begriffe Chose und Umweltreferent der Linguistik.4 Ein natürliches Korrelat ist ein Korrelat, das (scheinbar) unabhängig von der Existenz sprachlicher Zeichen hinreichend gut abgegrenzt existiert. Natürliche Korrelate sind z. B. die Gegenstände des Begriffs Baum. Neben den natürlichen Korrelaten existieren willkürliche Korrelate. Sie entstehen durch Definition.5 Das Korrelat des physikalischen Begriffs der Leistung ist hierfür ein Beispiel, ein anderes Beispiel das Korrelat des psychologischen Begriffs Intelligenzquotient. Objektsprache nennt man die Sprache zur Benennung, Beschreibung und Erklärung von Phänomenen des Objektbereiches. Bei diesen drei Funktionen handelt es sich um verschiedene Tätigkeiten, die unterschiedlichen Regeln folgen. Zur Objektsprache gehören u. a. alle Termini und alle Feststellungen in einer Objektsprache. Termini sind wissenschaftlich festgelegte Prädikatoren. Prädikatoren sind sprachliche Zeichen für Korrelate. Die Zuordnung von sprachlichen Zeichen und Korrelaten heißt Prädikation, die Gleichsetzung von bekannten mit noch unbekannten Termini Definition. Ein System von Termini ist eine Terminologie.6 Termini und Prädikatoren stehen für Korrelate. Sie dienen der sprachlichen Identifikation von Korrelaten. Wir können z. B. alle Leser von Bild Zoff nennen. Zoff steht nun für eine Klasse von Korrelaten. Die getroffene Vereinbarung ist eine Festsetzung für eine, für unsere Sprache. Festsetzungen für eine Sprache besitzen keinen empirischen Gehalt. Die Festsetzung Zoff: Leser
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von Bild vermittelt keine Informationen über irgendeinen Menschen, wir wissen nicht einmal, ob es einen Menschen gibt, für den berechtigterweise Zoff steht. Festsetzungen für eine Sprache gehören in die Metasprache, die festgesetzten Termini in die Objektsprache. Der festgesetzte Terminus Zoff erlaubt eine Vielzahl von empirisch gehaltvollen Aussagen über die Zoff, die ohne ihn nicht so leicht möglich wären. Solche Aussagen bezeichnet man als Feststellungen in einer Sprache. Feststellungen in einer Objektsprache sind empirisch gehaltvolle Aussagen, die mithilfe von Termini über einen Objektbereich gemacht werden. Da Feststellungen in einer Sprache empirisch gehaltvolle Aussagen sind, können sie empirisch richtig oder falsch sein. Sie können verifiziert bzw. falsifiziert werden. Ihr Wahrheitswert wird durch eine empirische Untersuchung des Objektbereichs festgestellt. Der Wahrheitswert der Feststellung Die öffentliche Meinung stürzte die Regierung Erhard wird ebenso wie der Wahrheitswert der Feststellung Alle Menschen sind sterblich durch eine Untersuchung des Objektbereichs der Begriffe öffentliche Meinung und Mensch und nicht durch eine Betrachtung der Begriffe ermittelt. Solche Untersuchungen setzen allerdings Einigkeit über die Verwendung der Begriffe voraus. Dazu dient die Metasprache. Zwei mögliche Feststellungen in der Objektsprache mit dem Terminus Zoff über seine Korrelate lauten: 1. 2.
Alle Zoff können lesen. Alle Zoff haben eine Schule besucht.
Wenn man den Wahrheitswert des ersten Satzes prüfen will, benötigt man keine empirischen Informationen. Wir haben festgelegt, dass Zoff: Leser von Bild sein sollen. Hieraus folgt logisch, dass alle Zoff lesen können. Satz l ist logisch wahr. Man sagt auch, er ist analytisch determiniert. Analytisch determinierte Sätze besitzen keinen empirischen Gehalt. Sie machen keine Aussagen über den Objektbereich, die durch Beobachtung des Objektbereichs bestätigt oder widerlegt werden können. Ihr Nutzen besteht darin, verborgene Informationen aufzudecken. Ähnliches gilt für die Verwendung von Gleichungen in der Physik. Satz 2 ist nicht in diesem Sinne wahr. Ein Zoff könnte zu Hause lesen gelernt und nie eine Schule besucht haben. Die Richtigkeit oder Falschheit von Satz 2 folgt nicht aus der Definition. Sie kann nicht logisch, sie muss empirisch entschieden werden. Man kann die Richtigkeit des Satzes prüfen, indem man alle Zoff befragt. Da der Satz etwas über die Korrelate aussagt, was nicht in der Definition notwendig enthalten war, besitzt er einen empirischen Gehalt. Empirisch gehaltvolle Sätze sind empirisch und nicht logisch wahr. Man sagt auch, sie sind synthetisch determiniert. Damit können wir eine weitere Erkenntnis festhalten: Der Wahr-
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heitswert des ersten Satzes wird durch eine Analyse der Sprache, der Wahrheitswert des zweiten Satzes jedoch durch eine Analyse der Korrelate der Sprache ermittelt. Die Betrachtung der Objektsprache zeigte, dass der empirische Gehalt einer Wissenschaft nicht in ihren Grundbegriffen versteckt ist. Er kann daher auch nicht durch noch so subtile Analysen aus ihnen herausgedeutet werden. Der empirische Gehalt einer Wissenschaft liegt in Feststellungen in der Objektsprache, die mithilfe von Termini über einen Objektbereich gemacht werden.
These I: Die Existenz der Begriffe bestätigt die Existenz der Phänomene Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Begriff öffentliche Meinung ist überwiegend von dem Ziel geleitet, das Wesen, die Natur, das Korrelat des Begriffs zu entdecken, zu beschreiben und zu analysieren. Die Autoren dieser meist historischen Studien scheinen dabei von der Annahme auszugehen, dass die Existenz und häufige Verwendung des Begriffs öffentliche Meinung ein hinreichender Beweis für die Existenz eines Korrelates öffentliche Meinung ist und dass dieses Korrelat durch eine Analyse der Verwendung des Begriffs auffindbar ist. Sie versuchen deshalb das Wesen der öffentlichen Meinung durch breit angelegte7 oder gezielte Sammlungen8 von Aussagen mithilfe des Begriffs über das Korrelat zu bestimmen. Niklas Luhmann hat demgegenüber darauf hingewiesen, dass Begriffe wie Politik, Demokratie, Herrschaft
. öffentliche Meinung
kaum den Sinn (hatten), faktische Ereignisse oder Verläufe zu erklären; sie dienten der Fixierung von Problemlösungen als institutionelle Errungenschaften, und ihre eigene Problematik bestand zum guten Teil darin, dass die ihnen vorausliegende Systemproblematik ungeklärt, oft ungenannt blieb.9 Die Existenz der Begriffe verweist nach Luhmann daher zwar auf die Existenz von Problemen, sie beweist jedoch weder eine genaue Kenntnis der Problematik, noch die Existenz von Korrelaten, die die anstehenden Probleme verursachen, lösen oder erklären. Die Wissenschaftsgeschichte kennt eine Vielzahl von Begriffen, deren Korrelate nie entdeckt wurden. Beispiele sind die Seele der Psychologie und Medizin, die Sphärenmusik der pythagoreischen Philosophie, das Atlantis der Geologie, die Vuklanoiden der Astronomie, der Äther der Physik und das Perpetuum mobile der Mechanik. Alle diese Begriffe sind aus der aktuellen wissenschaftlichen Terminologie verschwunden. In einigen Fällen, wie etwa beim Perpetuum mobile, sind sie verschwunden, weil die Existenz ihrer Korrelate ausgeschlossen werden konnte, in anderen Fällen, wie beim Äther, weil die Begriffe und ihre Korrelate überflüssig geworden waren. Die Probleme, für deren Erklärung ihre Existenz angenommen worden war, sind ohne die Annahme dieser Korrelate mithilfe anderer theoretischer Annahmen und anderer wissen-
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schaftlicher Begriffe befriedigend gelöst worden. Die Beispiele zeigen, dass die Existenz von Begriffen keineswegs die Existenz bestimmter Korrelate und bestimmter Problemlösungen beweist. Die Problemlösungen machen vielmehr unter Umständen die Existenz bestimmter Begriffe überflüssig.10 Die Existenz und häufige Verwendung des Begriffs öffentliche Meinung in der Literatur verweist daher zwar auf die Existenz eines erklärungsbedürftigen Sachverhaltes, sie beweist jedoch weder die Existenz eines Korrelates öffentliche Meinung, das diesen Sachverhalt verursacht, noch die Existenz eines Korrelates öffentliche Meinung, das diesen Sachverhalt erklärt.
These II: Begriffe, die keine natürlichen Phänomene bezeichnen, sind sinnlos Der Glaube an ein quasi natürliches und selbstverständliches Verhältnis von Begriff und Gegenstand öffentliche Meinung führt, wenn die Suche nach dem Gegenstand des Begriffs öffentliche Meinung ergebnislos bleibt, vielfach in die Resignation. W. Phillips Davison stellt in seinem Bericht über die Erforschung der öffentlichen Meinung für die International Encyclopedia of the Social Sciences fest, dass trotz intensiver Forschungen kein Kollektivbewusststein entdeckt worden sei. Daraus habe eine Reihe von Wissenschaftlern den Schluss gezogen, dass es auch kein Wesen gebe, das man öffentliche Meinung nennen, entdecken und analysieren könne. Diese Wissenschaftler hätten deshalb ihre Beschäftigung mit dem Phänomen der öffentlichen Meinung eingestellt und die Verwendung des Begriffs aufgegeben.11 Man wird den referierten Autoren gerne zustimmen, dass es kein Wesen öffentliche Meinung gibt, das man entdecken und dann analysieren könnte. Es wäre jedoch ungerechtfertigt, daraus den Schluss zu ziehen, man sollte aufhören, öffentliche Meinung als wissenschaftlichen Begriff zu verwenden. Die Wissenschaftssprache enthält zwei Sprachebenen: die Beobachtungssprache und die Theoriesprache. Die Beobachtungssprache enthält u. a. die Begriffe zur Benennung dinglicher Korrelate wie z. B. in der Physik die Begriffe Elektron und Neutron, in der Ökonomie die Begriffe Produktionsgüter und Konsumgüter und in der Kommunikationsforschung die Begriffe Zeitung und Zeitschrift. Die Theoriesprache enthält u. a. die theoretischen Begriffe zur Benennung von wissenschaftlichen Konstrukten wie z. B. in der Physik die Begriffe Arbeit und Leistung, in der Ökonomie die Begriffe Nettosozialprodukt und Grenznutzen und in der Kommunikationsforschung kognitive Dissonanz und funktionales Äquivalent. Alle diese theoretischen Begriffe besitzen keine natürlichen Korrelate, die man unabhängig von den wissenschaftlichen Definitionen entdecken und dann analysieren könnte. Die Korrelate der Begrif-
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fe entstehen vielmehr erst durch die Definitionen der Begriffe. Die Begriffe schaffen ihre Korrelate. Die Rechtfertigung für den Gebrauch der Begriffe und die Analyse ihrer Korrelate ist nicht die definitionsunabhängige Existenz der Korrelate, sondern die theoretische Fruchtbarkeit der wissenschaftlichen Begriffe. Die Tatsache, dass kein Korrelat öffentliche Meinung entdeckt wurde, ist daher kein Beweis für die Überflüssigkeit des Begriffs öffentliche Meinung. Der Begriff öffentliche Meinung wäre vielmehr nur dann wirklich überflüssig, wenn die Probleme, zu deren Klärung die öffentliche Meinung angenommen wurde, mithilfe anderer Begriffe im Rahmen neuer Theorien geklärt werden könnten. Die Berechtigung des Begriffs öffentliche Meinung kann daher nicht durch die Suche und Entdeckung des Wesens der öffentlichen Meinung festgestellt werden, sondern muss, wie es Luhmann in seiner erwähnten Studie versucht, durch die Explikation der Probleme überprüft werden, die die klassische Staatstheorie mithilfe der öffentlichen Meinung erklären wollte.
These III: Begriffe dürfen nur jeweils ein Phänomen bezeichnen Floyd K. Allport,12 W. Phillips Davison,13 und Ulla Otto14 referieren und kritisieren die Vielzahl der Bedeutungsvarianten des Begriffs öffentliche Meinung zur Kennzeichnung unterschiedlicher Personengruppen und unterschiedlicher Meinungen. Dieser Kritik ist generell zuzustimmen. Es wäre wünschenswert, dass der Begriff öffentliche Meinung nur einer einzigen Klasse von Objekten zugeordnet würde notwendig ist dies jedoch keineswegs. Der Begriff Rolle z. B. wird in der Psychologie einer anderen Klasse von Verhaltensweisen zugeordnet als in der Soziologie, der Begriff Klasse in der Soziologie einem anderen Objektbereich als in der Mathematik, der Begriff Black Box in der Psychologie anderen Korrelaten als in der Ökonomie. Auch innerhalb einzelner Disziplinen existieren diese Unterschiede. Der Begriff Statusinkonsistenz wird in der Soziologie in der Bedeutung von Statusabweichung von einem Durchschnittsstatus und in der Bedeutung von Statusdiskrepanz zwischen zwei individuellen Status verwendet,15 der Begriff Gewalt wird in der Politologie zur Kennzeichnung physischer Einwirkungen gebraucht, daneben aber auch zur Charakterisierung psychischer Verhaltenssteuerungen durch die Androhung von Gewalt, der Begriff Politik dient der Bezeichnung gewaltloser Integration von Interessen und zur Beschreibung gewaltsamer staatlicher Handlungen,16 und selbst die logischste und klarste aller Wissenschaften, die Mathematik, kann nicht einmal den Namen der eigenen Wissenschaft eindeutig bestimmen.17 Dennoch zweifelt niemand daran, dass alle die genannten Begriffe sinnvoll und nützlich sein können.
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Obwohl eine völlig eindeutige Terminologie erstrebenswert ist, wird man sich in der Regel mit mehrdeutigen Begriffen behelfen müssen. Es genügt dann, dass eindeutig entschieden werden kann, welche Bedeutungsvariante verwendet wird. Die Brauchbarkeit wissenschaftlicher Begriffe hängt nicht von ihrer Einmaligkeit ab, und ihre wissenschaftliche Fruchtbarkeit ist nicht mit ihrer Exklusivität identisch. Die Begriffsvielfalt in den Sozialwissenschaften ist allerdings ein Zeichen dafür, dass in den Sozialwissenschaften die fruchtbaren Begriffe die weniger fruchtbaren entweder schwerer verdrängen als in den Naturwissenschaften oder aber im Vergleich zu ihren konkurrierenden Begriffen tatsächlich nicht wesentlich fruchtbarer sind.
Intension und Extension von Begriffen Metasprache heißen Sprachen zur Beschreibung und Regelung der Objektsprache. Zur Metasprache gehören die Feststellungen über eine Objektsprache und die Festsetzungen für eine Objektsprache. Metasprache aller Wissenschaftssprachen ist letztlich die Umgangssprache. Jede Wissenschaft enthält daher auch eine nicht unbeträchtliche Anzahl undefinierter Begriffe. Dies gilt auch für die formallogischen Disziplinen. Feststellungen über eine Sprache sind empirisch gehaltvolle Aussagen über die tatsächliche Verwendung eines Wortes in einer Sprache. Da Feststellungen über eine Sprache empirisch gehaltvolle Aussagen sind, können sie empirisch richtig oder empirisch falsch sein: sie sind wie die Feststellungen in einer Sprache synthetisch determiniert. Feststellungen über eine Sprache können daher verifiziert oder falsifiziert werden. Ihr Wahrheitswert wird durch eine Untersuchung des Objektbereichs festgestellt. Ist der Objektbereich der Feststellung über eine Sprache selbst eine Objektsprache, wird der Wahrheitswert von Feststellungen über die Objektsprache durch eine empirische Untersuchung der Objektsprache und nicht des Objektbereichs dieser Objektsprache ermittelt. Für unseren Fall heißt dies: Feststellungen über die Verwendung des Begriffs öffentliche Meinung in der Wissenschaftssprache bei einem Autor X müssen durch eine Untersuchung des tatsächlichen Sprachgebrauchs und nicht der angesprochenen Objekte überprüft werden. Über die Objekte sagen solche Feststellungen in der Regel nichts aus. Festsetzungen für eine Sprache sind normative Aussagen, die die Verwendung eines Wortes in einer Sprache regeln. Festsetzungen für eine Sprache besitzen keinen empirischen Gehalt. Sie geben weder Auskunft über die tatsächliche Verwendung des Ausdrucks in der Objektsprache noch über die Beschaffenheit des Objektbereiches. Da die Festsetzungen für eine Sprache keine empirisch gehaltvollen Aussagen sind, können sie auch nicht empirisch richtig oder empi-
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risch falsch sein: Sie sind immer per definitionem richtig. Festsetzungen für eine Sprache besitzen in Diskussionen daher den gleichen unangreifbaren Status wie logisch richtige Urteile. Die Definition: Zoff: Leser von Bild ist bekanntlich eine solche Festsetzung für eine Sprache. Zu den Festsetzungen für eine Sprache gehören die Nominaldefinitionen. Eine Nominaldefinition ist die mehr oder weniger willkürliche Identifikation eines meist längeren bekannten Ausdrucks mit einem kurzen noch unbekannten Ausdruck. Der längere bekannte Ausdruck heißt Definiens, der kürzere Definiendum. Nominaldefinitionen sind Konventionen zur Vereinfachung der Kommunikation. Im Definiens einer Nominaldefinition muss mindestens eine Eigenschaft genannt sein, die allen Korrelaten gemeinsam ist. Die Festsetzung Zoff: Leser von Bild nennt eine solche Eigenschaft. Sie selbst besitzt bekanntlich keinen empirischen Gehalt. Wir können sie aber in empirisch gehaltvollen Feststellungen benützen und alle möglichen Korrelate klassifizieren: Dies ist ein Zoff, Dies ist kein Zoff usw. Diese Feststellungen sind empirisch gehaltvolle Aussagen und können daher falsch sein. Durch die Festsetzung wird zuvor bestimmt, in welchen Fällen sie falsch sein werden und in welchen nicht. Finden wir ein Objekt, das die Eigenschaft besitzt, können wir nicht sagen: Es stimmt, Zoff lesen Bild. Dies folgt bereits logisch aus der Definition. Wir können sinnvoller Weise nur sagen: Es ist ein Zoff. Lehrbücher der Wissenschaftstheorie behandeln die Bedeutung empirischer Zuordnungskriterien im Definiens einer Definition meist dogmatisch. Definitionen, so kann man lesen, sollen keine empirischen Kriterien enthalten. Als Beispiele finden wir dann jedoch trotzdem Definitionen, deren Definiens empirische Kriterien enthalten. So definiert Eike von Savigny: Sauerstoff: Chemisches Element, Ordnungszahl 8, Atomgewicht 15.9994, Siedepunkt -182,97 °C.18 Der Verfasser kritisiert nur die hier nicht zitierten Charakterisierungen Metall und Schmelzpunkt -238,3 °C. Er kritisiert sie jedoch nicht etwa, weil es sich um empirische Elemente, sondern weil es sich um falsche empirische Elemente handelt. Richtige empirische Feststellungen, so können wir schließen, können daher durchaus Bestandteile von Definitionen sein. Wir werden die Frage der empirischen Kriterien in Definitionen daher pragmatischer behandeln und überlegen, welche Folgen die Einführung von empirischen Kriterien in Definitionen besitzen. Zur Klärung dieser Frage führen wir zwei neue Begriffe ein: Intension und Extension. Intension eines Begriffs heißt das, was mit dem Begriff gemeint ist, seine Bedeutung. Extension eines Begriffs kennzeichnet die Klasse der Gegenstände, denen das Gemeinte zugesprochen werden kann.19 Beispiele sind die Begriffe Paarzeher und Wiederkäuer. Die Intensionen beider Begriffe sind verschieden: der eine Begriff enthält eine Angabe über die Füße, der andere über die Verdauung. Dennoch ist die
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Extension beider Begriffe gleich: Alle Paarzeher sind Wiederkäuer. Es gibt drei logisch richtige Kombinationsmöglichkeiten der Intension und Extension zweier Begriffe: 1. 2. 3.
Intensionen und Extensionen sind beide gleich, Intensionen sind verschieden, Extensionen gleich, Intensionen sind verschieden, Extensionen verschieden.
Der vierte denkbare Fall Intensionen gleich, Extensionen verschieden ist logisch ausgeschlossen. Welche Folgen besitzt die Einführung von empirischen Kriterien in das Definiens eines Begriffs? Zur Beantwortung dieser Frage kann man einen Trick anwenden. Gegeben sei die Definition Wissenschaft: systematische Beschäftigung mit entscheidbaren Aussagen. Hierzu soll die empirische Aussage Alle Wissenschaften beschäftigen sich mit empirisch gehaltvollen Aussagen in die Definition aufgenommen werden. Die Definition lautet nun: Wissenschaft: systematische Beschäftigung mit empirisch gehaltvollen, entscheidbaren Aussagen. Mathematik und Logik gehören damit per definitionem nicht mehr zu den Wissenschaften. Der Positivismus hat durch dieses Verfahren die Theologie aus dem Bereich der Wissenschaften verbannt. Der Gegenstandsbereich, die Extension eines Begriffs, kann sich, wie das Beispiel zeigt, bei der Aufnahme empirisch gehaltvoller Aussagen in das Definiens des Begriffs verändern. Dabei muss man drei Fälle unterscheiden: 1.
2.
3.
Der Gegenstandsbereich bleibt gleich. Der Gegenstandsbereich a des Begriffs A bleibt gleich, wenn die empirisch gehaltvolle Aussage B über a auf alle einzelnen a zutrifft. Dieser Fall liegt bei der zitierten Fassung der Definition des Sauerstoffs vor. Der Gegenstandsbereich verringert sich. Der Gegenstandsbereich a des Begriffs A verringert sich, wenn die empirisch gehaltvolle Aussage B über a nicht auf alle einzelnen a zutrifft. Dieser Fall liegt in dem oben angeführten Beispiel vor. Der Gegenstandsbereich verschwindet. Der Gegenstandsbereich a des Begriffs A verschwindet, wenn die empirisch gehaltvolle Aussage B über a auf kein a zutrifft. Dieser Fall liegt bei der von Savigny konstruierten Definition des Sauerstoffs (Verweis auf Metall und Schmelzpunkt) vor.
Die Überlegungen zum Verhältnis von empirischen Kriterien im Definiens und der Extension wissenschaftlicher Begriffe erlauben vier generelle Feststellungen
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über die Folgen der Aufnahme von empirisch gehaltvollen Elementen in das Definiens einer Definition: 1.
2.
3.
4.
Empirisch gehaltvolle Aussagen verändern den Gegenstandsbereich die Extension nur dann nicht, wenn es sich um notwendige Eigenschaften der Korrelate handelt. Empirische Aussagen, in denen wir diesen Tatbestand formulieren, heißen All-Sätze. Sie besitzen die Form: Alle sind ... alle haben ....20 Dies wäre im Beispiel von Zoff: Leser von Bild der Fall bei der Aufnahme der Aussage Alle Zoff können lesen. Empirisch gehaltvolle Aussagen verändern den Gegenstandsbereich immer, wenn es sich nicht um notwendige Eigenschaften handelt. Da es in den Sozialwissenschaften nur wenige All-Sätze gibt, verändert die Aufnahme von empirischen Aussagen in eine Definition fast immer ihren Gegenstandsbereich. Dies wäre der Fall bei der Aufnahme des Zusatzes Alle Zoff können Farben unterscheiden, keiner ist farbenblind. Je mehr All-Sätze zu Definitionsbestandteilen werden, desto geringer wird der Bereich falsifizierbarer Aussagen mithilfe des Terminus über seine Korrelate. Im Grenzfall sind alle All-Sätze in der Definition enthalten, d. h. die Definition enthält die Beschreibung aller notwendigen Eigenschaften der Korrelate. Die genaue Kenntnis der Definition ist gleichbedeutend mit der genauen Kenntnis aller notwendigen Eigenschaften der Korrelate: die Definition enthält ihr Wesen, Definitionsanalyse ist Wesensanalyse. Dies wäre näherungsweise der Fall bei der zusätzlichen Aufnahme von u. a. Alle Zoff bevorzugen rechte Parteien und Alle Zoff befürworten die These Sicherheit ist wichtiger als Freiheit. Je kleiner der Gegenstandsbereich der Definition durch die Aufnahme teilweise falscher empirischer Behauptungen wird, desto größer wird der Informationsgehalt objektsprachlicher Aussagen mit dem Begriff. Wir erfahren mehr über einen Wissenschaftler, wenn wir die engere zweite Definition im oben genannten Beispiel verwenden, als wenn wir die weitere erste benutzen. Dies kann von Vorteil sein, ist es aber nicht notwendigerweise. Man benötigt dann nämlich zur Kennzeichnung des gleichen Gegenstandsbereiches zwei oder unter Umständen wesentlich mehr Begriffe. Im Grenzfall besitzt jeder Begriff nur noch ein Korrelat. Solche Begriffe bezeichnet man als Eigennamen.
Die Ergebnisse der Überlegungen kann man in zwei Näherungsformeln festhalten: Je kleiner die Extension von Begriffen ist, desto mehr Begriffe benötigt man zur Bezeichnung einer gegebenen Menge von Gegenständen. Je kleiner die Ex-
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tension von Begriffen ist, desto größer ist der Informationsgehalt von objektsprachlichen Aussagen mit den Begriffen.
These IV: Begriffe sind wertfrei oder wertend Werturteile sind Feststellungen in einer Objektsprache über Objekte, in denen ihnen unter expliziter oder impliziter Berufung auf allgemeine Urteilsprinzipien besondere Werte zu- oder abgesprochen werden.21 Das Problem der Wertung wird überwiegend anhand von Feststellungen in einer Objektsprache über Objekte diskutiert, es spielt jedoch auch bei der Erörterung metasprachlicher Feststellungen über und Festsetzungen für die Objektsprache eine Rolle. Dabei wird die Auffassung vertreten, dass durch die Aufnahme oder Eliminierung normativer Elemente in das Definiens einer Definition wertende oder wertfreie Begriffe geprägt werden. Gerhard Schmidtchen nennt in seinem Beitrag über das Normative im Begriff der öffentlichen Meinung22 als Beispiel die Charakterisierung des Gegenstandsbereichs des Begriffs öffentliche Meinung durch Wilhelm Hennis anhand von drei Merkmalen: 1. durch ihre Öffentlichkeit im Sinne der Zurückführbarkeit auf eine bestimmte Quelle. Wer sie mitbestimmen will, muss sich durch Einsicht wenn man so will durch eine eigene Meinung auszeichnen. Das Gerede ist niemals öffentliche Meinung, 2. ist öffentliche Meinung inhaltlich durch ihren repräsentativen, der Wahrheit verpflichteten Charakter ausgezeichnet. Interessentenforderungen können niemals öffentliche Meinung sein, 3. erschöpft sich die Funktion der öffentlichen Meinung im Bejahen oder Missbilligen politischer Akte. Sie kann fordern, aber sie kann als Meinung nichts erzwingen. Um zu erzwingen, muss sie sich verwandeln in verfassungsmäßig organisierten und legitimierten Willen.23 Schmidtchen bezeichnet die zitierten Elemente als normative Bestimmungen, weil sie die Anwendung des Begriffs nur auf solche Objekte zulassen, die den Forderungen des Definiens gerecht werden, und er betrachtet, ohne diesen Terminus selbst zu verwenden, derartige Begriffe als wertende Begriffe, weil sie zwischen bestimmten Personen und Meinungen, die per definitionem Träger oder nicht Träger der öffentlichen Meinung sind, diskriminieren. Diese Betrachtung des Problems erscheint aus drei Gründen nicht überzeugend. Eine Definition beruht erstens immer auf einer Entscheidung und führt immer zu einer Unterscheidung. Durch die Entscheidung, einen Begriff in einer
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bestimmten Weise zu definieren, werden bestimmte Elemente der Realität zu den Korrelaten des Terminus vereinigt und andere Elemente der Realität von den Korrelaten des Terminus ausgeschlossen. In diesem Sinne normiert und diskriminiert jede Definition. Die Diskriminierung zwischen Personen und Meinungen durch den Begriff öffentliche Meinung ist daher kein Argument gegen seine Definition. Die metasprachlich fixierte Diskriminierung zwischen den Trägern der öffentlichen Meinung sowie allen anderen Personen wird zweitens erst durch objektsprachliche Aussagen über die beiden Personenkategorien zu einer politischen und sozialen Diskriminierung. In diesen objektsprachlichen Aussagen spricht Hennis den Trägern der öffentlichen Meinung bestimmte Werte und Vorrechte zu. Diese Werte und Vorrechte sind jedoch keine logischen Folgen aus der Definition, sondern politische Konsequenzen aus seiner Demokratietheorie. Die normativen Elemente im Definiens des Begriffs öffentliche Meinung sind drittens keine normativen Erwartungen an das Verhalten der Personen, auf die der Begriff zutrifft, sondern an das Verhalten der Personen, die den Begriff gebrauchen. Sie sollen nach dem Willen von Hennis den Begriff nur dann anwenden, wenn die Personen und Meinungen bestimmte empirische Eigenschaften erfüllen. Es erscheint daher zweckmäßiger, die inkriminierten Sätze des Definiens nicht als normative Bestimmungen, sondern als empirische Kriterien der Definition zu betrachten, und nicht zwischen wertfreien und wertenden Begriffen, sondern zwischen weiteren und engeren Begriffen zu unterscheiden. Beide Begriffsarten können selbstverständlich wertend besetzt sein dieser Sachverhalt gehört jedoch in die Psychologie der Kommunikation und nicht zur Logik der Definition.
These V: Begriffe sollen empirische Informationen über die Phänomene enthalten, die sie bezeichnen Die Vertreter der empirischen Meinungsforschung wenden den Begriff öffentliche Meinung laut Hennis wahllos an. Die öffentliche Meinung müsse, damit sie den Namen öffentliche Meinung verdiene, eine ganze Reihe von Eigenschaften besitzen. Die Definition des Begriffs von Hennis enthält insgesamt sieben empirische Kriterien, denen Meinungen gerecht werden müssen, damit man sie als öffentliche Meinung bezeichnen darf. Diese sieben Kriterien lauten verkürzt: 1. 2. 3. 4.
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Die Meinung muss auf eine Quelle zurückführbar sein, es muss eine einsichtige Meinung sein, sie muss repräsentativ sein, sie muss der Wahrheit verpflichtet sein,
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sie darf keine Interessentenforderung sein, sie darf keine politische Entscheidung erzwingen, sie muss sich, wenn sie politische Entscheidungen beeinflusst, in organisierten und legitimierten Willen verwandeln.
Die Aufnahme derart vieler empirischer Kriterien in das Definiens des Begriffs öffentliche Meinung besitzt einen beachtenswerten Vorteil: Eine richtige empirisch gehaltvolle Feststellung in einer Objektsprache mithilfe dieses Begriffs über den Objektbereich hat einen großen Informationsgehalt. Die Feststellung Die öffentliche Meinung stürzte die Regierung Erhard sagt dann beispielsweise, dass die Regierung Erhard von einer einsichtigen, repräsentativen und der Wahrheit verpflichteten Meinung, die auf eine Quelle zurückgeführt werden konnte, keine Interessentenforderung war und sich in organisierten und legitimierten Willen verwandelt hatte, gestürzt worden ist. Wir erhalten mit einem einzigen Satz über den Sturz der Regierung Erhard eine ganze Theorie über diesen Vorgang. Diesem Vorteil stehen beträchtliche Nachteile gegenüber. Die Aufnahme vieler empirischer Kriterien in das metasprachliche Definiens eines Begriffs verringert erstens die Anzahl der prüfbaren empirisch gehaltvollen Aussagen mit dem Begriff. Die Klasse der empirischen Zuordnungskriterien im Definiens verhält sich dabei umgekehrt proportional zur Zahl der empirisch gehaltvollen Feststellungen mit dem Begriff: Je mehr empirische Zuordnungskriterien in das Definiens des Begriffs aufgenommen werden, desto mehr Feststellungen mit dem Begriff sind logisch richtig oder falsch und können deshalb empirisch nicht geprüft werden. Mit dem Begriff öffentliche Meinung von Hennis dürfen wir z. B. nicht den Satz formulieren Die öffentliche Meinung verursachte einen Putsch. Da der Begriff öffentliche Meinung nach Hennis nur solche Meinungen bezeichnen soll, die sich in verfassungsmäßig legitimierten Willen verwandeln, wenn sie politische Entscheidungen beeinflussen, und einem Putsch sicher kein solcher Wille zugrunde liegt, wäre der Satz logisch falsch. Die Aufnahme vieler empirischer Kriterien in das metasprachliche Definiens eines Begriffs verringert zweitens die Zahl der quantitativen Aussagen mit dem Begriff. Die Klasse der empirischen Zuordnungskriterien im Definiens eines Begriffs verhält sich dabei wieder umgekehrt proportional zur Klasse der möglichen quantitativen Aussagen mit dem Begriff. Die empirischen Zuordnungskriterien im Definiens des Begriffs schreiben für seine richtige Anwendung die Existenz bestimmter Eigenschaften der Korrelate vor und schließen dadurch gleichzeitig quantitative Aussagen über die Ausprägungen dieser Eigenschaften aus. Mithilfe des Begriffs öffentliche Meinung von Hennis kann man daher z. B. nicht den Satz formulieren Die öffentliche Meinung war vor zwanzig Jahren
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mehr der Wahrheit verpflichtet als heute. Da der Begriff öffentliche Meinung nach Hennis nur solche Meinungen bezeichnen soll, die der Wahrheit verpflichtet sind, könnte man nur behaupten, dass die öffentliche Meinung früher, da die Meinungen häufiger der Wahrheit verpflichtet waren, weiter verbreitet war. Die Aufnahme vieler empirischer Kriterien in das metasprachliche Definiens eines Begriffs verringert drittens die theoretische Fruchtbarkeit des Begriffs. Wissenschaftliche Theorien und Gesetze sind logische Konstruktionen in einer Objektsprache, denen bestimmte Regelmäßigkeiten in ihrem Objektbereich entsprechen. Die theoretische Fruchtbarkeit der Begriffe ist dabei um so größer, je mehr neue theoretische Konstruktionen sie ermöglichen. Begriffe, die in ihrem Definiens viele empirische Kriterien enthalten, verhindern eine freie Gruppierung aller Eigenschaften ihrer Korrelate und behindern dadurch eine rationale wissenschaftliche Theoriebildung. Da der Begriff öffentliche Meinung von Hennis z. B. nur dann angewandt werden darf, wenn die bezeichneten Meinungen die genannten sieben Bedingungen erfüllen, erfahren wir durch die Anwendung des Begriffs nichts mehr über die Bedingungen, unter denen die Meinungen diese Bedingungen erfüllen. Der Begriff stiftet nicht diese Beziehungen, sondern setzt sie voraus. Die Aufnahme vieler empirischer Kriterien in das metasprachliche Definiens eines Begriffs erschwert viertens die Prüfung des Wahrheitsgehaltes der objektsprachlichen Aussagen mit dem Begriff. Feststellungen mit Begriffen, die in ihrem Definiens viele empirische Kriterien enthalten, können auf vielfältige Weise logisch und empirisch richtig oder falsch sein. Da die logischen und empirischen Bedingungen selten hinreichend genug expliziert werden, sind Feststellungen mit derartigen Begriffen oft falsch, obwohl sie plausibel und richtig erscheinen. Die Explikation der auf den ersten Blick durchaus richtig erscheinenden Feststellung Die öffentliche Meinung stürzte die Regierung Erhard zeigt z. B., dass diese Feststellung trotz ihrer Plausibilität mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch ist. Die Meinungen, die zum Sturz der Regierung Erhard führten, waren nicht alle auf eine Quelle zurückzuführen, sie waren nicht alle der Wahrheit verpflichtet und sie waren nicht selten Interessentenforderungen. Die Meinungen, die zum Sturz der Regierung Erhard führten, erfüllten damit entweder nicht die Bedingungen der Definition des Begriffs öffentliche Meinung von Hennis oder aber sie führten, soweit sie die Bedingungen der Definition erfüllten, da sie viel zu schwach gewesen sein dürften, nicht zum Sturz der Regierung Erhard.
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These VI: Komplexe Phänomene verlangen komplexe Begriffe Geisteswissenschaftlich orientierte Sozialwissenschaftler vertreten häufig die These, dass die Komplexität der Begriffe einer Wissenschaft eine notwendige Folge der Komplexität ihrer Gegenstände ist. Die Begriffe der Sozialwissenschaften müssten, weil sie sehr komplexe Phänomene bezeichneten, im Unterschied zu den Begriffen der Naturwissenschaften, die nur auf vergleichsweise einfache Gegenstände hinwiesen, in ihren Definiens umfangreiche Bestimmungen enthalten. Die Definitionen dieser Begriffe besäßen daher notwendigerweise häufig schon den Charakter von umfangreichen Beschreibungen oder komplexen Theorien. Als Beispiele für die einfachen Gegenstände naturwissenschaftlicher Begriffe werden z. B. Elemente wie Eisen oder Schwefel, Tiergattungen wie Insekten oder Säugetiere und Organe wie Nieren oder Gehirne genannt, als Beispiele für die komplexen Gegenstände sozialwissenschaftlicher Begriffe Empfindungen wie Hoffnung oder Furcht, Verhaltensweisen wie Konformität oder Rebellion und Institutionen wie die Parteien und der Staat. So kann man nach Otto der öffentlichen Meinung nur auf dem Umweg über eine deskriptive Erläuterung gerecht werden. Sie muss der Natur der Sache nach sehr vielfältig und kompliziert sein, vermag jedoch am ehesten Aufschluss über dieses Phänomen zu geben. Eine solche Begriffsbestimmung in Form einer deskriptiven Erläuterung sollte nach Möglichkeit den Charakter einer Theorie erhalten; denn nur einer Theorie kann es gelingen, die Fülle der historischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren und Komponenten zu einer thematischen Zusammenschau zu vereinen.24 Die Annahme, dass die Begriffe in den Sozialwissenschaften komplexer sein müssten als die Begriffe in den Naturwissenschaften, beruht auf der Annahme, dass das Definiens eines Begriffs eine umfassende Beschreibung der empirischen Eigenschaften seiner Korrelate enthalten muss. Einfachheit und Komplexität sind aber keine vorgegebenen Größen. Die Komplexität der Begriffe in den Sozialwissenschaften ist keine Folge der Komplexität ihrer Gegenstände, sondern die Komplexität ihrer Gegenstände ist eine Folge der Komplexität ihrer Begriffe. Und die Einfachheit der Begriffe in den Naturwissenschaften ist keine Folge der Einfachheit ihrer Gegenstände, sondern die Einfachheit der Gegenstände ist eine Folge der Einfachheit ihrer Begriffe. Würde man alle empirisch gehaltvollen Aussagen über die verschiedenen Erscheinungsweisen, Funktionen, Wirkungen und Verhaltensweisen der Elemente, Tiergattungen oder Organe in das Definiens ihrer jeweiligen Begriffe aufnehmen, wären die Korrelate dieser Begriffe noch wesentlich komplexer als die Korrelate der sozialwissenschaftlichen Begriffe.
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Die spezifische Leistung der Definitionen naturwissenschaftlicher Begriffe besteht gerade darin, dass sie von der Komplexität der Objekte abstrahieren und im Extremfall nur durch ein im Definiens genanntes Kriterium identifizieren. Die Komplexität der Gegenstände wird dadurch nicht in die Komplexität von Begriffen überführt, sondern mithilfe der Begriffe in empirisch gehaltvollen Einzelaussagen und theoretischen Verallgemeinerungen intersubjektiv prüfbar rekonstruiert. Die spezifische Schwäche der Definitionen sozialwissenschaftlicher Begriffe besteht andererseits darin, dass sie nicht hinreichend von der Komplexität der durch vorwissenschaftliche Erfahrung scheinbar sinnhaft geordneten Komplexität ihrer Gegenstände abstrahieren und deshalb auch nicht hinreichend zu ihren eigenen wissenschaftlich-analytischen Einheiten vorstoßen. Die Korrelate der sozialwissenschaftlichen Begriffe sind, mit anderen Worten, bis heute noch zu sehr die Gegenstände der Alltagserfahrung.
These VII: Wissenschaftliche Begriffe müssen sich mit ihren Korrelaten ändern Die Korrelate der Begriffe der Sozialwissenschaften verändern sich nach einer weit verbreiteten Auffassung im Unterschied zu den Korrelaten der Begriffe der Naturwissenschaften im Laufe der historischen Entwicklung. Während die Begriffe der Naturwissenschaften daher ahistorisch und konstant seien, müssten sich die Begriffe der Sozialwissenschaften mit ihren Korrelaten verändern. Als Beispiele für die unveränderlichen Korrelate naturwissenschaftlicher Begriffe kann man wieder Elemente wie Eisen oder Schwefel, Tiergattungen wie Insekten oder Säugetiere und Organe wie Nieren oder Gehirne nennen, als Beispiele für die veränderlichen Korrelate der sozialwissenschaftlichen Begriffe Empfindungen wie Hoffnung und Furcht, Verhaltensweisen wie Konformität oder Rebellion und Institutionen wie die Parteien oder den Staat. Die Annahme, dass sich die Korrelate der naturwissenschaftlichen Begriffe nicht verändern, erweist sich bei genauerer Betrachtung als fragwürdig. Das Eisen z. B. wird gereinigt und verunreinigt, es wird geschmiedet und gegossen, es wird gehärtet, es altert und es wird brüchig. Was bleibt gleich am Eisen? Gleich bleiben eigentlich nur sehr wenige Eigenschaften wie z. B. sein Atomgewicht. Die Kenntnis dieser einzigen Eigenschaft genügt aber zur Identifizierung des Eisens und diese Identifikation ermöglicht uns eine Vielzahl empirisch gehaltvoller Aussagen mithilfe des Begriffs Eisen über das sich verändernde Eisen. Es wäre kaum sinnvoll, für die verschiedenen Zustände des Eisens eigene Begriffe einzuführen oder die Begriffe mit den Zuständen zu ändern. Kein Biologe würde fordern, man müsse den Begriff Amsel neu definieren, weil die damit charakterisierten Vögel ihre Lebensform geändert haben. Da der Begriff
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weiterhin eindeutig einer Klasse von Objekten zugeordnet werden kann und damit eine störungsfreie Kommunikation über diese Objekte möglich ist, wird man ihn beibehalten und feststellen, dass Amseln seit einigen Jahren nicht mehr nur am Boden Futter aufnehmen. Genausowenig wird man die Definitionen der Begriffe Arbeiter, Bürger, Demokratie oder Verbrechen nur deshalb ändern müssen, weil sich Einstellungen, Verhaltensweisen, Funktionen und Folgen der bezeichneten Objekte geändert haben. Auch diese These basiert auf der Annahme, Definitionen von Begriffen zur Bezeichnung von Objekten, die sich verändern, müssten im Definiens möglichst viele empirische Zuordnungskriterien enthalten. Enthalten sie keine solchen Kriterien, braucht man sie nicht zu ändern, enthalten sie solche, sollte man sie streichen. Ein wesentliches Argument für die These lautet, man könnte historische Entwicklungen nur feststellen, wenn man die Begriffe mit ihren Korrelaten verändere. Auch diese Behauptung ist fragwürdig. Veränderungen können nur durch den Vergleich zweier Zustände eines Objektes oder den Vergleich zweier Objekte miteinander festgestellt werden. Ein exakter Vergleich ist nur dann möglich, wenn man eine der beiden Vergleichspunkte als konstant betrachtet. Dieser Sachverhalt findet sich z. B. in der Logik des Experimentes und in der allgemeinen Relativitätstheorie: Bewegungen lassen sich nur relativ zu einem Bezugssystem messen. Nur wenn wir 1974 den gleichen Begriff Arbeiter verwenden wie Karl Marx, können wir feststellen, wie sich Herkunft, Einkommen, Einstellung usw. der Arbeiter geändert haben. Ändern wir den Begriff, können wir dies nicht mehr. Eine der elementarsten Bedingungen historischer Analysen ist daher die Unveränderlichkeit der Begriffe. Nur sie ermöglicht die Beobachtung von Veränderungen.
These VIII: Aussagen über Begriffe sind Aussagen über die Phänomene, die sie bezeichnen Die sozialwissenschaftliche Forschung besteht zum großen Teil in der Beschäftigung mit der Bedeutung zentraler Begriffe im Werk bedeutender Sozialwissenschaftler. Es geht um die Beantwortung der Frage, was ein oder mehrere Sozialwissenschaftler mit einem bestimmten Begriff gemeint hatten. Theorien mit wissenschaftlichen Begriffen werden dadurch zu Gegenständen von Theorien über wissenschaftliche Begriffe. Diese Theorien können, da sie die möglichen Bedeutungen der Begriffe entfalten und systematisieren, einen erheblichen wissenschaftlichen Nutzen besitzen. Geisteswissenschaftlich orientierte Sozialwissenschaftler vertreten zuweilen auch die Meinung, dass die Kenntnis der Bedeutung wissenschaftlicher Begriffe mit der Erkenntnis der Beschaffenheit ihrer
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Korrelate identisch ist. Die Beschäftigung mit den verschiedenen Bedeutungen, die die Begriffe im Werk eines oder mehrerer Sozialwissenschaftler besitzen, führt nach dieser Ansicht zur Erkenntnis der Gegenstände der Begriffe. Die Begriffsanalyse ersetzt im Extremfall die empirische Forschung. Diese essenzialistische Erkenntnistheorie25 beruht auf zwei meist unausgesprochenen Annahmen. Die erste Annahme lautet, dass das Definiens eines Begriffs viele empirische Hinweise auf seine Korrelate enthält, die die Natur der Sache oder das Wesen des Begriffsgegenstandes beschreiben. Die zweite Annahme lautet, dass die empirischen Zuordnungskriterien im Definiens des Begriffs zugleich empirisch gehaltvolle Aussagen über seinen Gegenstand sind. Die Definitionen werden daher auch als Wesensdefinitionen oder Realdefinitionen bezeichnet, die Begriffsklärungen Real- oder Wesensanalysen genannt Im Folgenden soll dieses Verfahren an einem Beispiel näher betrachtet werden. Der Aufsatz von Otto enthält z. B. die Aussage: So schrieb Necker unter anderem: Diese öffentliche Meinung stärkt oder schwächt alle menschlichen Institutionen. Sie ist es, die wie von der Höhe eines Thrones die Preise und Kronen austeilt, die Berühmtheiten schafft und vernichtet.26 Diese Aussage enthält gut erkennbar zwei verschiedene Teile: die Aussage von Otto über die Aussage von Necker und die Aussage von Necker über die öffentliche Meinung. Beide Aussagen können wir zunächst getrennt betrachten. Die Aussage von Otto, dass Necker den zitierten Satz geschrieben hat, ist eine empirisch gehaltvolle Feststellung in einer Metasprache über eine Objektsprache. Die Metasprache ist die referierende Sprache von Otto, die Objektsprache die referierte Sprache von Necker. Der Wahrheitswert der metasprachlichen Feststellung wird an der Objektsprache überprüft. Man stellt dabei fest, ob Necker tatsächlich den zitierten Satz geschrieben hat. Informationen über die Stärke oder die Schwäche der öffentlichen Meinung sind hierfür nicht nötig. Über die Stärke oder Schwäche der öffentlichen Meinung, über die Natur der Sache oder das Wesen der öffentlichen Meinung sagt diese empirisch gehaltvolle Feststellung nichts aus. Sie besitzt für den Objektbereich der Objektsprache keinen Informationsgehalt. Die Aussage von Necker ist auf den ersten Blick eine empirisch gehaltvolle Feststellung in einer Objektsprache über einen Objektbereich. Der zitierte Satz besitzt jedoch nur dann einen empirischen Gehalt, wenn der Begriff öffentliche Meinung an anderer Stelle definiert wurde. Die Interpretation des Satzes als empirisch gehaltvolle Feststellung mit dem Begriff setzt also eine Definition des Begriffs voraus. Wurde der Begriff noch nicht definiert, ist der Satz nicht empirisch prüfbar und besitzt damit auch keinen empirischen Gehalt. Man kann dies leicht prüfen, indem man in dem Zitat den Begriff öffentliche Meinung durch ein undefiniertes Zeichen, etwa die Buchstabenkombination Uik ersetzt: Diese Uik stärkt oder schwächt alle menschlichen Institutionen. Sie ist es, die wie
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von der Höhe eines Thrones die Preise und Kronen austeilt, die Berühmtheiten schafft und vernichtet. Dieser Satz ist, da er kein definiertes Subjekt enthält, empirisch nicht prüfbar und besitzt deshalb auch keinen empirischen Informationsgehalt. Er ist sinnlos. Wissenschaftliche Aussagen kann man, wie das Beispiel zeigt, häufig entweder als Aussagen in einer Metasprache oder als Aussagen in einer Objektsprache interpretieren. Entscheidet man sich dazu, die Aussage als Feststellung in einer Objektsprache über einen Objektbereich zu interpretieren, dann besitzt diese Feststellung für diesen Objektbereich einen empirischen Gehalt. Sie informiert uns über den Objektbereich. Man kann jedoch eine Aussage nur dann als empirisch gehaltvolle Feststellung in einer Objektsprache interpretieren, wenn ihre zentralen Begriffe unabhängig davon zuvor in einer Metasprache definiert wurden. Der Begriff öffentliche Meinung wie ihn Necker verwendet, wird in dem angesprochenen Zusammenhang nirgends explizit definiert. Wir können das Zitat daher nicht als empirisch gehaltvolle Feststellung in einer Objektsprache über einen Objektbereich interpretieren. Die zitierten und referierten Aussagen Neckers über die öffentliche Meinung werden vielmehr zur Charakterisierung der Verwendung des Begriffs öffentliche Meinung durch Necker verwendet. Sie können deshalb nur als eine implizite Definition des Begriffs öffentliche Meinung mithilfe eines Beispielsatzes betrachtet werden. Bei der zitierten Passage handelt es sich folglich um eine essenzialistische Leerformel eine scheinbar empirisch gehaltvolle Aussage, die jedoch lediglich die logische Grammatik, den Gebrauch der verwendeten Sprache27 spiegelt. Das Zitat von Necker erscheint, wie die Ersetzung des Subjektes zeigte, nur deshalb als empirisch gehaltvolle Feststellung in einer Objektsprache, über einen Objektbereich, weil wir dem Begriff öffentliche Meinung im Werk Neckers, dessen Bedeutung wir durch die Darstellung ja erst kennenlernen, aus dem Repertoire unserer Vorstellungen intuitiv eine Bedeutung unterlegen. Fehlt diese Manipulationsmöglichkeit, verliert der Satz seinen Sinn. Unser Vorverständnis ermöglicht damit nicht nur ein Verständnis seines Sprachgebrauchs, sondern verdeckt auch gleichzeitig unser Unverständnis des damit bezeichneten Sachverhaltes. Es verhindert die Entdeckung eines Problems, indem es eine intuitive Lösung anbietet. Dies bedeutet jedoch, da sie das Ergebnis unseres vorwissenschaftlichen Verständnisses ist, keinen wissenschaftlichen Fortschritt. Der wissenschaftliche Fortschritt setzt vielmehr voraus, dass wir die wissenschaftlichen Begriffe so wählen und die wissenschaftlichen Fragen so formulieren, dass unser vorwissenschaftliches Verständnis darauf keine Antwort mehr weiß.
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Quantitative und qualitative Wissenschaft Die Verwendung von Definitionen mit vielen oder wenigen empirischen Kriterien, bzw. mit hohem oder geringem Informationsgehalt ist eine wesentliche Grundlage von qualitativer, bzw. quantitativer Wissenschaft. Erstere wird zwar häufig als theoretische, letztere als empirische Forschung charakterisiert. Dies ist jedoch aus mindestens vier Gründen irreführend. Erstens beruht ein Großteil der quantitativen und der qualitativen Wissenschaft auf theoretischen Annahmen. Beispiele hierfür sind die Untersuchungen von Elisabeth Noelle-Neumann zur Wirkweise der öffentlichen Meinung28 und die Studien von Paul Veyne zur Unterscheidung zwischen Privatleben und Öffentlichkeit im Römischen Reich.29 Zweitens handelt es sich bei zahlreichen empirischen Studien nicht um quantitative Untersuchungen, sondern um Einzelfallanalysen. Beispiele hierfür sind Analysen zur Abstammung des Homo sapiens anhand von einzelnen Knochenfunden30 und zur Lokalisierung von Gehirnfunktionen anhand von Patienten mit spezifischen Schädigungen.31 Drittens beruhen viele qualitative Studien auf quantitativen Daten. Beispiele hierfür sind Untersuchungen zur Malweise von Renaissancekünstlern auf der Grundlage von chemischen Analysen der Farben32 und Studien zum Ablauf historischer Schlachten anhand einer Vermessung der Schlachtfelder.33 Viertens sind qualitative Analysen vielfach eine Voraussetzung für quantitative Untersuchungen. Beispiele hierfür sind Intensivinterviews mit einzelnen Personen zur Entwicklung der Fragebögen für quantitative Befragungen34 sowie detaillierte Analysen einzelner Bilder und Texte zur Entwicklung der Codebücher für quantitative Inhaltsanalysen.35 Die Unterscheidung zwischen theoretischer und empirischer Forschung ist aus den genannten Gründen keine sinnvolle Basis für die Charakterisierung von quantitativer und qualitativer Wissenschaft. Eine derartige Basis liefert dagegen der oben skizzierte Umgang mit dem Verhältnis von Begriff und Gegenstand. Qualitative Wissenschaft zielt auf die Identifikation von allen relevanten Eigenschaften eines Forschungsobjektes etwa der öffentlichen Meinung und die Aufnahme dieser Eigenschaften in das Definiens der Definition des Forschungsobjektes. Im Extremfall führt dieses Verfahren dazu, dass es sich bei dem so definierten Forschungsobjekt um einen Einzelfall handelt, der exakt bestimmt ist. Quantitative Wissenschaft beruht dagegen auf der Identifikation weniger Eigenschaften eines Forschungsobjektes und der Definition des Forschungsobjektes durch diese Eigenschaften. Im Extremfall enthält das Definiens nur eine einzelne Eigenschaft. Grundlage dieser Vorgehensweise ist die Abstraktion von allen anderen Eigenschaften des Forschungsobjektes. Abbildung 1 illustriert diese Unterschiede.
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Abbildung 1:
Gegenstände der qualitativen und quantitativen Forschung
Qualitativ
Quantitativ
1 n
O1 2
O2 V1
7
3
O
O4 V2
6
4 5
O3
O5 O6 On
Im Modell der qualitativen Forschung verweisen die Ziffern 1 bis 7 beispielhaft auf die Eigenschaften, die die öffentliche Meinung nach Hennis per definitionem besitzen muss, um als solche gelten zu können. Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen die Objekte, die die sieben Eigenschaften aufweisen. Ein wesentliches Ziel der Forschung besteht darin, diese Objekte durch zusätzliche Daten so genau wie möglich zu beschreiben. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer dichten Beschreibung.36 Im Modell wird dies durch die zusätzlichen Linien angedeutet. Öffentliche Meinung wird hier als ein ganzheitliches, durch individuelle Merkmale charakterisiertes Phänomen betrachtet, das in seiner Einzigartigkeit erkannt werden soll. Im Modell der quantitativen Forschung verweisen die Elemente O1 bis On auf Fälle von öffentlicher Meinung, die per Definitionem nur wenige Eigenschaften aufweisen und die im Einzelfall durch weitere Charakterisierungen ergänzt werden können. Im Modell der quantitativen Forschung wird die öffentliche Meinung durch vergleichsweise wenige Eigenschaften charakterisiert. In der Definition von Elisabeth Noelle-Neumann handelt es sich um drei Eigenschaften. Sie definiert öffentliche Meinung als (1) Meinungen im kontroversen Bereich, die man (2) öffentlich äußern kann, (3) ohne sich zu isolieren. 37 Genaugenommen geht es bei der quantitativen Forschung aber nicht um die einzelnen Fälle von öffentlicher Meinung. Es geht auch nicht um die davon betroffenen Personen. Sie sind austauschbar. Es geht vielmehr um die Beziehungen zwischen einzelnen Aspekten der Fälle z. B. dem Grad der Konsonanz der Medienberichterstattung und 39
der Bereitschaft zur öffentlichen Äußerung kontroverser Meinungen. Beide können verschiedene Ausprägungen annehmen und heißen deshalb Variablen. Für sie stehen im Modell der quantitativen Forschung die Buchstaben V1 und V2. Ein Ziel der Forschung besteht in einer Antwort auf die Frage, ob in allen denkbaren Fällen von öffentlicher Meinung eine systematische Beziehung zwischen solchen Variablen besteht und wie sie aussieht. Einige Möglichkeiten der quantitativen Analyse von öffentlicher Meinung auf der Grundlage einer sparsamen Definition sollen anhand von Elisabeth Noelle-Neumanns Konzeption illustriert werden. Dazu wird auf Ergebnisse der experimentellen Sozialpsychologie und der Demoskopie verwiesen. Alle Aussagen sind als Hypothesen zu betrachten. Die öffentliche Meinung beeinflusst die Vorstellungen der Angehörigen einer politischen Einheit von der tatsächlichen und der zukünftigen Meinungsverteilung. Je mehr Stimmen die öffentliche Meinung hinzugewinnt, desto eher halten die Angehörigen einer politischen Einheit diese Stellungnahme zu einem kontroversen Sachverhalt für die zukünftige Mehrheitsmeinung. Je größer der Abstand zwischen der öffentlichen Meinung und den konkurrierenden Meinungen ist, desto eher halten die Angehörigen einer politischen Einheit diese Stellungnahme für die tatsächlich vorhandene Mehrheitsmeinung. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Mehrheitsmeinung mit der öffentlichen Meinung identisch ist oder von ihr abweicht.38 Die Vorstellungen der Angehörigen einer politischen Einheit von der augenblicklichen und der zukünftigen Mehrheitsmeinung beeinflussen die Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Individuen. Auch hierbei spielt es keine Rolle, ob die Vorstellungen der Individuen von den augenblicklichen oder zukünftigen Mehrheitsmeinungen richtig oder falsch sind. Entscheidend ist allein die Annahme, es handele sich um die augenblicklichen oder zukünftigen Mehrheitsmeinungen. Die Stärke des Einflusses der öffentlichen Meinung hängt dabei u. a. von den Persönlichkeitseigenschaften der betroffenen Individuen ab.39 Die öffentliche Meinung beeinflusst die Transformation sozialer Probleme in institutionalisierte Themen der Kommunikation sowie in Gegenstände der politischen Diskussion und Entscheidung. Die Thematisierung durchläuft dabei mehrere Phasen, in denen zunächst Eingeweihte und Interessierte die öffentliche Meinung vertreten, mit dem Widerspruch der Gegner die Basis verbreitern und gegen ihren Widerspruch das soziale Problem als Thema institutionalisieren. Themen können als institutionalisiert bezeichnet werden, wenn und insoweit die Bereitschaft, sich in Kommunikationsprozessen mit ihnen zu befassen, unterstellt werden kann.40 Die öffentliche Meinung beeinflusst die Entstehung sozialer Normen zur Bewertung kontroverser Sachverhalte, zu deren Beurteilung keine objektiven
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Kriterien vorhanden sind.41 Gerade im Bereich der politischen Diskussion dürften derartige Sachverhalte häufig thematisiert werden. Die Normbildung reduziert die hohe Beliebigkeit des politisch und rechtlich Möglichen ..., wenn nicht durch Wahrheiten, so doch durch diskussionsgestählte Meinungen. 42 Dies ist eine wesentliche soziale Funktion der öffentlichen Meinung. Sie ermöglicht die Entstehung eines Konsensus und damit die Integration heterogener Interessen. Die öffentliche Meinung beeinflusst die Bereitschaft der Angehörigen einer politischen Einheit, ihre Beurteilung kontroverser Sachverhalte außerhalb der Privatsphäre zu artikulieren. Je stärker Individuen davon überzeugt sind, dass ihre eigene Meinung zu einem kontroversen Sachverhalt zur öffentlichen Meinung werden wird, oder dass sie schon die öffentliche Meinung ist, desto eher sind sie bereit, ihre Meinung außerhalb der Privatsphäre zu artikulieren. Je mehr sie jedoch davon überzeugt sind, dass die gegnerische Meinung zur öffentlichen Meinung werden wird oder schon die öffentliche Meinung ist, desto eher verschweigen sie außerhalb der Privatsphäre ihre eigene Meinung. 43 Die öffentliche Meinung übt auf politische Institutionen und andere Einrichtungen einen Entscheidungsdruck aus. Er ist um so größer, je mehr Personen die öffentliche Meinung vertreten und je größer die Dominanz der öffentlichen Meinung gegenüber den konkurrierenden Meinungen ist. Weitere Einflussfaktoren bilden die Art des politischen Problems, das Gegenstand der Entscheidung sein soll, die Zusammensetzung und die Art der Entscheidungsinstanz sowie der Zeitpunkt der angestrebten Entscheidung. Der Entscheidungsdruck nimmt dabei zunächst mit der Zeit zu, nach einem Scheitelpunkt jedoch wieder ab. Die öffentliche Meinung verliert an Einfluss, die Entscheidung wird obsolet.44 Politische Instanzen, die einer Entscheidung im Sinne der öffentlichen Meinung ausweichen wollen, versuchen die Entscheidung daher in der Regel zu verschieben, während die Anhänger der öffentlichen Meinung auf eine möglichst schnelle Entscheidung drängen. Fasst man diese Annahmen zusammen und ergänzt sie durch einige empirische Befunde, kann man die Entstehung der öffentlichen Meinung, ihren Verlauf und ihren Verfall als einen Spiralprozess darstellen. 45 Die öffentliche Meinung entsteht durch die Artikulationsbereitschaft der Anhänger einer Meinung zu einem Sachverhalt. Die Artikulationsbereitschaft der Anhänger einer Meinung zu einem Sachverhalt institutionalisiert den Sachverhalt als Thema der öffentlichen Kommunikation und die Meinung zu diesem Thema als öffentliche Meinung. Da die Massenmedien Stellungnahmen zu kontroversen Sachverhalten millionenfach verbreiten, spielen sie im Prozess der öffentlichen Meinung eine bedeutende Rolle. Sie treten dabei in der Rolle als Initiatoren oder Multiplikatoren oder in der Doppelrolle der Initiatoren und Multiplikatoren des initiierten Meinungswandels auf.
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In dem Maße, in dem die öffentliche Meinung absolut und im Vergleich zu konkurrierenden Meinungen an Stärke gewinnt, beginnen die Anhänger der Gegenmeinungen zu schweigen. Sie verstärken dadurch das Übergewicht der öffentlichen Meinung und erhöhen gleichzeitig die Artikulationsbereitschaft ihrer Anhänger, die ihrerseits wieder das Übergewicht der öffentlichen Meinung verstärkt. Durch den Konformitätsdruck der öffentlichen Meinung schließen sich ihr Opportunisten und Konvertiten an. Die öffentliche Meinung wird damit unter bestimmten Bedingungen zur Mehrheitsmeinung. Die Definition des Begriffs öffentliche Meinung wirft eine Vielzahl von Fragen über den Ursprung und die Träger der öffentlichen Meinung auf, die nicht durch das wissenschaftliche Vorverständnis beantwortet werden können und führt damit über dieses Vorverständnis hinaus: Gibt es identifizierbare Quellen der öffentlichen Meinung? Welche Personen und Institutionen gehören zu den Avantgardisten? Besitzen alle Themen der öffentlichen Meinung gleiche oder ähnliche Quellen? Welche Personen und Institutionen gehören zu den Konformisten, die sich dem Meinungstrend anschließen und ihn verstärken? Welche Personen und Institutionen gehören zu den Resistenten, die dem Druck der öffentlichen Meinung widerstehen? Welche Personen und Institutionen gehören zu den Nonkonformisten, die sich von der öffentlichen Meinung lösen und sie schwächen? Hängt die Zugehörigkeit zu einer der Kategorien von den Themen der öffentlichen Meinung ab oder gibt es Personen und Institutionen, die unabhängig von den Themen der öffentlichen Meinung zu einer der Kategorien gehören usw.? Die Darstellung könnte leicht durch weitere Befunde, Hypothesen und Fragen ergänzt werden. Da es nicht das Ziel dieser Überlegungen ist, eine Theorie der öffentlichen Meinung zu entwickeln, brechen wir die Ausführungen jedoch hier ab und kehren zu unserer Ausgangsfrage nach der Möglichkeit und den Vor- und Nachteilen einfacher und realistischer Begriffe in den Sozialwissenschaften zurück.
Zusammenfassung und Folgerungen Die wichtigsten Ergebnisse kann man in 17 Feststellungen zusammenfassen: 1.
2.
42
Grundlage der Analyse des Verhältnisses von Begriffen und ihren Gegenständen ist die Unterscheidung von Objekten, Objektsprache und Metasprache. Die Metasprache enthält empirisch nicht gehaltvolle Festsetzungen für die Objektsprache, die Objektsprache empirisch gehaltvolle Feststellungen über den Objektbereich.
3. 4.
5. 6. 7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
Die Existenz von Begriffen ist kein hinreichender Beleg für die Existenz der damit bezeichneten Phänomene. Begriffe, die keine natürlich vorgegebenen Phänomene bezeichnen, können sinnvoll sein. Dies ist dann der Fall, wenn sie theoretisch oder praktisch bedeutsame Fragestellungen ermöglichen. Eine einheitliche Verwendung von Begriffen ist wünschenswert, jedoch oft nicht erreichbar und nicht unbedingt erforderlich. Definitionen bestimmen die Intension von Begriffen das Gemeinte und die Extension der damit bezeichneten Objekte. Die Aufnahme von empirischen Kriterien in das Definiens einer Definition verändert auch die Extension der Begriffe: Je mehr Elemente aufgenommen werden, desto kleiner wird die Klasse der Objekte, auf die die Begriffe zutreffen. Jede Definition stellt eine Diskriminierung dar, weil sie der Unterscheidung zwischen den damit bezeichneten, bzw. nicht bezeichneten Objekten dient. Ob dies mit einer sozialen Diskriminierung im Sinne eines Werturteils verbunden ist, hängt vom konkreten Sprachgebrauch ab. In die Definition von Begriffen können mehr oder weniger empirische Festlegungen aufgenommen werden. Je mehr Elemente ausgenommen werden, desto kleiner wird die Extension der Begriffe, d. h. die Zahl der Objekte, die damit bezeichnet werden. Die Aufnahme vieler empirischer Festlegungen verringert die theoretische Fruchtbarkeit der Definitionen und die Zahl der empirisch prüfbaren Aussagen mithilfe der so definierten Begriffe. Die Komplexität der Gegenstände von Begriffen ist nicht notwendigerweise vorgegeben, sondern oft eine Folge der Definitionen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn wissenschaftliche Begriffe wie es in den Sozial- und Geisteswissenschaften häufig geschieht direkt aus der Alltagssprache abgeleitet werden. Wissenschaftliche Begriffe müssen sich nicht mit ihren Gegenständen ändern. Dies ist vor allem dann nicht der Fall, wenn sie im Definiens wenige empirische Festlegungen enthalten. Aussagen über Begriffe sind nicht notwendigerweise Aussagen über die Gegenstände der Begriffe. Vielfach handelt es sich dabei um essenzialistische Leerformeln, die einen empirischen Gehalt vortäuschen, tatsächlich jedoch nur über die Art der Begriffsverwendung informieren. Der Unterschied zwischen quantitativer und qualitativer Wissenschaft ist nicht identisch mit dem Unterschied zwischen empirischer und theoretischer Wissenschaft. Er beruht vielmehr vor allem auf dem unterschiedlichen Verhältnis von Begriff und Gegenstand in beiden Bereichen. Der qualitativen
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Forschung liegen Begriffe zugrunde, deren Definiens zahlreiche empirische Festlegungen enthalten und deshalb nur auf wenige Objekte zutreffen. Der quantitativen Forschung liegen dagegen Begriffe zugrunde, deren Definiens wenige empirische Festlegungen enthalten und deshalb viele Objekte bezeichnen. 15. Ziel der qualitativen Wissenschaft ist die möglichst vollständige Charakterisierung von mehr oder weniger vorgegeben Forschungsobjekten in ihrer Einzigartigkeit. Ziel der quantitativen Wissenschaft ist die Analyse der Zusammenhänge zwischen Variablen, die durch die Abstraktion von den Besonderheiten der Objekte gewonnen werden, die oft erst durch Definitionen geschaffen werden und im Prinzip austauschbar sind. 16. Die Fruchtbarkeit der Definitionen, die der quantitativen Forschung zugrunde liegen, ist umso größer, je mehr Beziehungen zwischen verschiedenen Variablen dadurch ermöglicht werden. Im Unterschied zur qualitativen Forschung geht es dabei nicht vorrangig um die Charakterisierung von Objekten, sondern um die Bestimmung von Korrelationen und Kausalitäten zwischen Variablen. 17. Eine conditio sine qua non von quantitativer Wissenschaft ist Abstraktion, d. h. die Reduktion der Komplexität der vorgefunden Realität. Gegenstand der quantitativen Wissenschaft ist deshalb nicht die Realität an sich, sondern ein möglicher Ausschnitt von Realität, der eigens zum Zwecke der Analyse u. a. durch Definitionen, d. h. die mehr oder weniger willkürliche Zuordnung von Begriffen und Gegenständen, geschaffen wird. Ein Beispiel hierfür ist die Analyse der öffentlichen Meinung im hier referierten Sinn.
1 Vgl. Floyd H. Allport: Toward a Science of Public Opinion. In: Public Opinion Quarterly l (1937) S. 7-23. 2 Vgl. Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung. Stuttgart 41969, S. 415-428; Wilhelm K. Essler: Wissenschaftstheorie I. Definition und Reduktion. Freiburg 1970, S. 26 f. 3 Vgl. Eike von Savigny: Grundkurs im wissenschaftlichen Definieren. Übungen zum Selbststudium. München 21971, S. 9-32. 4 Vgl. Karl-Dieter Bünting: Einführung in die Linguistik. Frankfurt a. M. 1971, S. 32. 5 Vgl. Thomas D. Weldon: Kritik der politischen Sprache. Vom Sinn politischer Begriffe. Neuwied 1962, S. 64-103; Paul K. Feyerabend: Das Problem der Existenz theoretischer Entitäten. In: Ernst Topitsch (Hrsg.): Probleme der Wissenschaftstheorie. Festschrift für Victor Kraft. Wien 1960, S. 3572. 6 Vgl. Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie I. Sprachanalyse, Deduktion, Induktion in Natur- und Sozialwissenschaften. München 31971, S. 23-51.
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Vgl. Ursula Otto: Die Problematik des Begriffs der öffentlichen Meinung. In: Publizistik 11 (1966) S. 99-130. 8 Vgl. Wilhelm Hennis: Meinungsforschung und repräsentative Demokratie. Zur Kritik politischer Umfragen. Tübingen 1957. 9 Niklas Luhmann: Öffentliche Meinung. In: Ders.: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung. Köln/Opladen 1971, S. 9-34, dort S. 9. 10 Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 1973, S. 96106. 11 Vgl. W. Phillips Davison: Public Opinion. In: David L. Sills (Hrsg.): International Encyclopedia of the Social Sciences. New York 1968, Bd. XIII, S. 188-197. 12 Vgl. Floyd K. Allport, a. a. O., S. 7 ff. 13 Vgl. W. Phillips Davison, a. a. O., S. 188 f. 14 Vgl. Ursula Otto, a. a. O., S. 102-115. 15 Vgl. Baldo Blinkert / Barbara Fülgraff / Peter Steinmetz: Statusinkonsistenz, soziale Abweichung und das Interesse an Veränderungen der politischen Machtverhältnisse. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 24 (1972) S. 24-45. 16 Vgl. Hans M. Kepplinger: Rechte Leute von links. Gewaltkult und Innerlichkeit. Olten 1970, S. 1541 (= Das politische Denken Hans Magnus Enzensbergers. Diss. phil. Mainz 1970). 17 Vgl. Gert König: Mathematik als Wissenschaft. In: Alwin Diemer (Hrsg.): Der Wissenschaftsbegriff. Meisenheim am Glan 1970, S. 139-154. 18 Eike von Savigny, a. a. O., S. 30. 19 Vgl. Helmut Seiffert, a. a. O., S. 42-46. 20 Vgl. Karl R. Popper: Logik der Forschung. Tübingen 31969, S. 31-46. 21 Vgl. Hans Albert: Das Werturteilsproblem im Lichte der logischen Analyse. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 112 (1956) S. 410-439. 22 Vgl. Gerhard Schmidtchen: Die befragte Nation. Über den Einfluß der Meinungsforschung auf die Politik. Freiburg 21961, S. 238-240. 23 Vgl. Wilhelm Hennis, a. a. O., S. 27. 24 Vgl. Ursula Otto, a. a. O., S. 100. 25 Vgl. Hans Albert: Probleme der Wissenschaftslehre in der Sozialforschung. In: René König (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Stuttgart ³1973, Bd. 1, S. 57-92. 26 Vgl. Ursula Otto, a. a. O., S. 105. 27 Vgl. Gert Degenkolbe: Über logische Struktur und gesellschaftliche Funktion von Leerformeln. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 17 (1965) S. 331. Vgl. auch Ernst Topitsch: Über Leerformeln. Zur Pragmatik des Sprachgebrauchs in der Philosophie und politischen Theorie. In: Ders. (Hrsg.): Probleme der Wissenschaftstheorie, a. a. O., S. 233-264; Michael Schmid: Leerformeln und Ideologiekritik. Tübingen 1972, S. 106-129. 28 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale (1980). München 62001. 29 Vgl. Paul Veyne: Das römische Reich. In: Ders.: Geschichte des privaten Lebens. Bd. I: Vom Römischen Imperium zum Byzantinischen Reich (1985). Frankfurt a. M. 1989, S. 19-228. 30 Vgl. Tim D. White et al.: Pleistocene Homo sapiens from Middle Awash, Ethiopia. In: Nature 423 (2003) S. 742-747; Lee R. Berger et al.: Australopithecus sediba: A New Species of Homo-Like Australopith from South Africa. In: Science 328 (2010) S. 195-204. 31 Vgl. Beate Sabisch et al.: Children with Specific Language Impairment. The Role of Prosodic Processes in Explaining Difficulties in Processing Syntactic Information. In: Brain Research 1261 (2009) S. 37-44. 32 Vgl. Josef Riederer: Kunstwerke chemisch betrachtet. Materialien, Analysen, Altersbestimmung. Berlin 1981; Jean-Pierre Mohen / Michel Menu / Bruno Mottin (Hrsg.): Im Herzen der Mona Lisa. Dekodierung eines Meisterwerks. München 2006.
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Vgl. Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst. Das Altertum. Von den Perserkriegen bis Caesar (1900). Berlin 2003, S. 7-123. Ein neueres Beispiel sind die quantitativen Analysen der Logistik der europäischen Armeen im 17. Jahrhundert von Geoffrey Parker. In: Ders.: Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800 (1988). Frankfurt a. M. 1990, S. 68106. 34 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann / Thomas Petersen: Alle, nicht jeder. Einführung in die Methoden der Demoskopie (1996). Berlin/Heidelberg 42005, S. 59-91. 35 Vgl. die entsprechenden Beiträge in Werner Wirth / Edmund Lauf (Hrsg.): Inhaltsanalyse: Perspektiven, Probleme, Potentiale. Köln 2001. 36 Vgl. Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures: Selected Essays. New York 1973. 37 Elisabeth Noelle-Neumann, a. a. O., S. 91. Die Ziffern wurden vom Verfasser in den Text von Noelle-Neumann eingefügt. 38 Vgl. Richard S. Crutchfield: Conformity and Character. In: American Psychologist 10 (1955) S. 191-198; Stanley Milgram: Nationality and Conformity. In: Scientific American 205 (1961) Nr. 6, S. 45-51. 39 Vgl. Norman S. Endler: Conformity Analyzed and Related to Personality. In: The Journal of Social Psychology 53 (1961) S. 271-283; William D. Wells / Guy Weinert / Marilyn Rubel: Conformity Pressure and Authoritarian Personality. In: Journal of Psychology 42 (1956) S. 133-136. 40 Niklas Luhmann, a. a. O., S. 22. 41 Vgl. Muzafer Sherif: A Study of Some Social Factors in Perception: In: Archives of Psychology 27 (1935) S. 1-60; Arthur Jenness: The Role of Discussion in Changing Opinion Regarding a Matter of Fact. In: Journal of Abnormal and Social Psychology 28 (1932/33) S. 279-296. 42 Niklas Luhmann, a. a. O., S. 12. 43 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, a. a. O., S. 59-95. 44 Vgl. Niklas Luhmann, a. a. O., S. 18 f. 45 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, a. a. O., passim.
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Theorien der Nachrichtenauswahl als Theorien der Realität
Warum berichten die Massenmedien über dieses und nicht über jenes Ereignis? Diese einfache Frage stand am Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Nachrichtenauswahl. So einfach die Frage klingt, so schwierig ist jedoch nach mehr als vierzig Jahren intensiver Forschungsarbeit ihre Beantwortung. Dies hat mehrere Gründe. Ein wichtiger Grund besteht darin, dass die Untersuchungen in unterschiedlichen Traditionen stehen und deshalb unter verschiedenen Stichworten zusammengefasst werden. Das erste Stichwort vereint die sogenannten Gatekeeperstudien, das zweite die Nachrichtenwertstudien und das dritte die Untersuchungen zum News-Bias.
Traditionen Am Beginn der Gatekeeper-Forschungstradition steht eine Untersuchung, die David Manning White 1950 unter dem Titel The Gate Keeper: A Case Study in the Selection of News veröffentlichte.1 White bat den Mr. Gates genannten wire editor einer kleinen Tageszeitung ihre Auflage betrug etwa 30.000 Exemplare innerhalb einer Woche auf allen Agenturmeldungen, die er nicht veröffentlicht hatte, die Entscheidungsgründe zu notieren. Die Begründungen fasste er zu zwei großen Klassen von Aussagen zusammen. Die erste Klasse enthielt in verschiedenen Formulierungen die Behauptung, das Ereignis sei an sich nicht berichtenswert. Hierbei handelte es sich meist um subjektive Wertungen, wie z. B. den Hinweis, das Ereignis sei uninteressant, die Nachricht schlecht geschrieben, ihre Tendenz propagandistisch gewesen. Die zweite Klasse enthielt Aussagen, in denen ebenfalls in verschiedenen Formulierungen festgestellt wurde, die Nachricht sei dem Zwang zur Auswahl zum Opfer gefallen. Hierbei handelte es sich meist um objektive Sachverhalte, wie z. B. die Länge der Nachricht, der Zeitpunkt ihrer Übermittlung oder die Distanz zwischen Publikations- und Ereignisort. Parallel zur Analyse der bewussten Entscheidungsgründe verglich White in einer Input-Output-Analyse die Themenstruktur der eingehenden Meldungen mit der Themenstruktur der Berichterstattung. Auf diese Weise konnte er
H. M. Kepplinger, Realitätskonstruktionen, DOI 10.1007/978-3-531-92780-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
zeigen, dass Mr. Gates u. a. politische Themen bevorzugte und human interestMeldungen vernachlässigte. Zur Ergänzung seiner Daten erfragte er das Selbstverständnis von Mr. Gates, wodurch er zusätzliche Hinweise für die Erklärung seiner Ergebnisse erhielt. Die wegweisende Untersuchung von White wurde in den Jahren nach ihrer Veröffentlichung vielfach kritisiert, vor allem wurde bemängelt, dass er Mr. Gates als isolierten Akteur betrachtete, der keinen äußeren Einflüssen unterlag.2 Am Beginn der Nachrichtenwertforschung steht vermutlich Walter Lippmanns Essay über Public Opinion. Darin stellte er eine ganze Liste von Nachrichtenfaktoren zusammen, die den Nachrichtenfaktoren von Johan Galtung und Marie Holmboe Ruge sehr ähnlich sind. Auch den Begriff Nachrichtenwert (news value) benutzte Lippmann schon.3 Nur drei Jahre nach Lippmanns theoretischem Buch veröffentlichte Charles Merz in der Zeitschrift New Republic eine Inhaltsanalyse der zehn größten Titelgeschichten in der New York Times, wobei er einige gemeinsame Merkmale, wie z. B. Konflikthaltigkeit, Personalisierung und Prominenz fand, die später als Nachrichtenfaktoren bezeichnet wurden.4 Auch wenn es sich hierbei nur um rudimentäre Ansätze handelt, bleibt festzuhalten, dass die Nachrichtenwerttheorie wesentlich älter ist, als die viel zitierten Studien von Einar Östgaard 5 sowie von Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge6 nahelegen. Weitere Belege hierfür finden sich in den Lehrbüchern für die journalistische Praxis, die schon seit den dreißiger Jahren auf die Bedeutung von Nachrichtenfaktoren wie Nähe (proximity oder nearness), Prominenz (big names), Überraschung (oddity) oder Konflikt (conflict oder controversy) hinwiesen so etwa Carl Warren in seinem 1934 erschienenen Leitfaden Modern News Reporting.7 Allerdings wurden diese Ansätze erst in jüngerer Zeit angemessen empirisch überprüft.8 Der Beginn der Forschungstradition, die unter dem Stichwort News Bias bekannt ist, lässt sich noch schwerer lokalisieren als der Beginn der Nachrichtenwertforschung. Charakteristisch für die Vorgehensweise ist jedoch eine relativ frühe Studie von Malcolm W. Klein und Nathan Maccoby, die in ihrer 1954 veröffentlichten Untersuchung Newspaper Objectivity in the 1952 Campaign Einseitigkeit als überzufällige Abweichung von Ausgewogenheit im Sinne der Gleichbehandlung definierten: Einseitig ist danach eine Wahlberichterstattung, wenn sie einen Kandidaten mehr beachtet oder positiver darstellt als einen anderen. Klein und Maccoby verglichen die Parteineigung der Verleger oder Herausgeber von Tageszeitungen, die aus einer Umfrage bekannt war, mit der Anzahl der Artikel, der Platzierung der Artikel und der Anzahl der Meinungsäußerungen in den Artikeln über die Kandidaten der republikanischen und der demokratischen Partei, Eisenhower und Stevenson. Sie konnten zeigen, dass Zeitungen, deren Verleger oder Herausgeber sich zur republikanischen Partei bekannten,
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mehr Artikel über Eisenhower veröffentlichten als Zeitungen, deren Verleger oder Herausgeber sich zur demokratischen Partei bekannten. Die Artikel waren darüber hinaus besser platziert und enthielten mehr Meinungsäußerungen, deren Tendenz allerdings nicht ermittelt wurde.9 Klein und Maccoby hatten wie zuvor schon White die Frage nach der Unabhängigkeit und Objektivität der Berichterstattung aufgeworfen, die das Selbstverständnis von Verlegern und Journalisten herausforderte. In den folgenden Jahren entwickelten sich drei Forschungsansätze, in denen der Zusammenhang zwischen Einstellung und Berichterstattung näher untersucht wurde. Bei dem ersten Forschungsansatz handelt es sich um experimentelle Untersuchungen, in denen der Vorgang der Berichterstattung simuliert wurde. Charakteristisch hierfür sind drei Studien von Jean S. Kerrick, Thomas E. Anderson und Luita B. Swales, die die Autoren 1964 unter dem Titel Balance and the Writers Attitude in News Stories and Editorials veröffentlichten.10 Die Autoren stellten fest, dass progressive Journalismus-Studenten, die Nachrichten und Kommentare für eine konservative Zeitung schreiben sollten, überdurchschnittlich viele konservative Argumente benutzten. Das gleiche galt analog für konservative Journalismus-Studenten, die Nachrichten und Kommentare für eine progressive Zeitung schreiben sollten. Falls keine redaktionelle Linie vorgegeben, die vorgelegten Fakten aber in sich werthaltig waren, wählten die Probanden jene Fakten für die Publikation aus, die ihren persönlichen Einstellungen entsprachen. Bei dem zweiten Forschungsansatz handelt es sich um die Kombination von Umfragedaten und Inhaltsanalysen. Charakteristisch hierfür ist eine Untersuchung von Ruth C. Flegel und Steven H. Chaffee, die die Ansichten von 17 Journalisten zweier Zeitungen zu 13 kontroversen Themen mit der Tendenz der Berichterstattung ihrer Zeitungen über diese Themen verglichen. Flegel und Chaffee stellten dabei einen starken Zusammenhang zwischen den Journalistenmeinungen und den Medieninhalten fest. Einen Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Verlegermeinung und dem Medieninhalt fanden sie dagegen nur bei der Zeitung, deren Verleger wie die Journalisten selbst eine eher progressive Position vertrat.11 Bei dem dritten Forschungsansatz handelt es sich um Kombinationen von Inhaltsanalysen und externen Realitätsindikatoren (Beobachtungen, offiziellen Statistiken usw.), wobei zwei Ansätze unterschieden werden können: Einzelfallanalysen und Zeitreihenanalysen. Charakteristisch für die Einzelfallanalysen ist die Studie von Kurt Lang und Gladys Engel Lang zur Rückkehr von General MacArthur aus Korea, in der sie die persönlichen Eindrücke von geschulten Beobachtern mit der Fernsehdarstellung verglichen und starke Divergenzen ermittelten. Charakteristisch für die Zeitreihenanalysen ist eine Untersuchung von G. Ray Funkhouser zu den wichtigsten Themen der sechziger Jahre, in der er
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gravierende Unterschiede zwischen der realen Entwicklung verschiedener Probleme soweit sie aus den vorhandenen Indikatoren erkennbar ist und ihrer Gewichtung in der Berichterstattung feststellte.12
Erklärungen Der zweite Grund für die verwirrende Forschungslage ist die Vermischung von zwei Ansätzen, die man als akteurs- und variablenorientiert bezeichnen kann (Abbildung 1). Beim akteursorientierten Ansatz wird die Nachrichtengebung auf das Handeln verschiedener Personen, Organisationen und Institutionen zurückgeführt. Beim variablenorientierten Ansatz wird sie dagegen durch Faktoren erklärt, die den Charakter theoretischer Konstrukte besitzen. Im Rahmen des akteursorientierten Ansatzes lassen sich mindestens sechs Einflussquellen erkennen: 1.
2.
3.
4.
5.
6.
Journalisten, die die Nachrichten auswählen, bearbeiten und u. U. kommentieren. Hierbei können die Journalisten als Individuen oder als Gruppenmitglieder betrachtet werden.13 Eigentümer und Manager von Kommunikationsunternehmen, die selbst keine Journalisten sind oder zumindest keine genuin journalistischen Aufgaben wahrnehmen.14 Anzeigenkunden, die einen Einfluss auf den redaktionellen Teil der Berichterstattung nehmen bzw. deren Interessen im Vorgriff berücksichtigt werden.15 Politische Machtgruppen, die ihren Einfluss über Eigentümer und Manager oder direkt geltend machen. Dies kann auch durch das Zuspielen oder Verweigern von Informationen geschehen.16 Wirtschaftliche Machtgruppen, die nicht durch die Vergabe oder Verweigerung von Anzeigenaufträgen einwirken, sondern andere ökonomische oder juristische Mittel einsetzen.17 Hierzu gehören u. a. Schadenersatzklagen. Die Öffentlichkeit im Verbreitungsgebiet, deren Wertvorstellungen die Themen und Tendenzen der Berichterstattung beeinflussen können.18
Im Rahmen des variablenorientierten Ansatzes lassen sich mindestens neun Einflussquellen unterscheiden: 1.
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Eigenschaften von Ereignissen, über die Nachrichten informieren, bzw. objektive Relationen zwischen Ereignissen und Publikationsorganen. Beispiele hierfür sind die Distanz zwischen Ereignis- und Berichtsort, die An-
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
zahl der beteiligten Personen und die Dauer des Geschehens. Eine genauere Beschäftigung mit der Problematik zeigt, dass es nur relativ wenige solcher Eigenschaften gibt und dass sie praktisch oft nur schwer feststellbar sind.19 Zuschreibungen zu Ereignissen, über die Nachrichten informieren. Beispiele hierfür sind die kulturelle Nähe zwischen Ereignis- und Berichtsregion, die Prominenz der beteiligten Personen und der Schaden einer Handlung. Hierzu gehören auch journalistische Entscheidungen darüber, was überhaupt als ein Ereignis zu betrachten ist. Selbst wenn zwischen den Individuen hohe Übereinstimmung besteht, ist ihre Grundlage Konsens und nicht Erkenntnis.20 Eigenschaften von Nachrichten. Beispiele hierfür sind die sachliche Richtigkeit der Informationen, die Länge der Meldung, der Zeitpunkt ihrer Verfügbarkeit. Auch hier zeigt sich, dass es nur relativ wenige solcher Eigenschaften gibt, die wie die Richtigkeit der Informationen häufig nur schwer feststellbar sind.21 Zuschreibungen von Eigenschaften zu Nachrichten. Beispiele sind die Verständlichkeit einer Meldung und die Prägnanz ihrer Formulierungen. Die Wahrnehmung dieser Eigenschaften hängt von subjektiven Dispositionen ab, Übereinstimmungen beruhen zumindest teilweise auf Konsens und nicht auf Erkenntnis.22 Werte und Ziele von Journalisten. Beispiele hierfür sind politische Einstellungen und individuelle Karrieremotive. Hierbei handelt es sich offensichtlich um individuell unterschiedliche Eigenschaften, die sich zudem erheblich ändern können.23 Formelle Verhaltenserwartungen an Journalisten. Beispiele hierfür sind die Bestimmungen des Presserechtes und die Forderungen des Pressekodex sowie die Programmgrundsätze der Rundfunkanstalten.24 Informelle Verhaltenserwartungen an Journalisten. Beispiele hierfür sind informelle Erwartungen von Kollegen, Vorgesetzten, Freunden und Gegnern usw., wobei es sich auch um virtuelle Erwartungen handeln kann, die nur in der Vorstellung der Handelnden bestehen.25 Formelle Weisungen an Journalisten. Beispiele hierfür ergeben sich aus der Richtlinienkompetenz von Verleger und Chefredakteur, in anderen politischen Systemen auch aus der Zuständigkeit von z. B. Informationsministerien.26 Organisatorische Zwänge. Beispiele hierfür sind der Zeit- und Platzmangel, die Verfügbarkeit von Agenturmaterial oder umbruchtechnische Beschränkungen.27
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Abbildung 1:
Einflüsse auf die Nachrichtenauswahl
Akteursorientiert
Variablenorientiert Eigenschaften von Ereignissen Zuschreibungen zu Ereignissen
Journalisten Eigentümer, Manager Anzeigenkunden Politische Machtgruppen Wirtschaftliche Machtgruppen Öffentlichkeit im Verbreitungsgebiet
Eigenschaften von Nachrichten Zuschreibungen zu Nachrichten Nachrichten- Werte und Ziele von Journalisten auswahl
Nachrichtenauswahl
Formelle Verhaltenserwartungen an Journalisten Informelle Verhaltenserwartungen an Journalisten Formelle Weisungen an Journalisten Organisatorische Zwänge
Die ersten vier Einflussgrößen gehören zusammen. Sie bilden verschiedene Aspekte journalistischer Berufsnormen: Weil es bestimmte journalistische Berufsnormen gibt, besitzen die genannten Faktoren einen Einfluss auf die Berichterstattung. Man kann diese Klasse von Einflussfaktoren in Anlehnung an einen Vorschlag von Flegel und Chaffee als intrinsische Faktoren oder Variablen bezeichnen28 und die Berichterstattung zumindest teilweise als Ergebnis professioneller Routine betrachten.29 Die Wirkung anderer Faktoren lässt die Nachrichtenauswahl dagegen als einen Willkürakt, als die Folge subjektiver Motive erscheinen. Hierzu gehören vor allem die subjektiven Werte und Ziele von Journalisten, die informellen Verhaltenserwartungen an Journalisten sowie mit gewissen Einschränkungen die formellen Weisungen an Journalisten. Man kann diese Klasse von Einflussfaktoren, erneut in Anlehnung an Flegel und Chaffee, als 52
extrinsische Faktoren oder Variablen bezeichnen.30 Der Vergleich beider Einflussgrößen macht deutlich, dass es sich im ersten Fall um mehr oder weniger legitime, im zweiten Fall dagegen um mehr oder weniger illegitime Faktoren handelt. Dies kann man als eine wesentliche Ursache dafür betrachten, dass Journalisten wie Flegel und Chaffee gezeigt haben auch dann Zusammenhänge zwischen extrinsischen Faktoren, hier ihren eigenen Werthaltungen und der Tendenz der Berichterstattung, bestreiten, wenn sie empirisch eindeutig nachweisbar sind. Der erwähnte Sachverhalt besitzt erhebliche Konsequenzen für die öffentliche Reaktion auf Ergebnisse der Kommunikatorforschung.
Realitätsmodelle Die theoretischen und empirischen Studien zur Nachrichtenauswahl enthalten in der Regel keine expliziten Aussagen über das Verhältnis von Ereignis, Selektionsentscheidung und Berichterstattung. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet Winfried Schulz Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, der das Problem jedoch ausschließlich unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten diskutiert.31 Eine weitere Annahme stellt die Studie von Harvey Molotch und Kollegen dar, die auch die Richtung möglicher Kausalbeziehungen problematisieren.32 Vergegenwärtigt man sich die sozusagen klassischen Gatekeeperstudien von Walter Gieber, der nach White eine dominierende Rolle einnahm, so kann man die Nachrichtenauswahl als Wirkungsprozess verstehen, in dem die Ereignisse als Ursachen, die Selektionsentscheidungen als intervenierende Variablen und die Beiträge als Wirkungen betrachtet werden. Die Journalisten erscheinen in diesem Modell als mehr oder weniger passive Vermittler, die vorausgesetzt es wirken keine extrinsischen Faktoren die Realität so darstellen, wie sie ist. Ihre Berichterstattung orientiert sich unter dieser Voraussetzung ausschließlich an der Ereignisqualität, und sie ist folglich realitätsgerecht. Das Hauptziel der traditionellen Gatekeeperforschung, wie sie vor allem von Gieber und seinen Mitarbeitern vertreten wurde, bestand deshalb darin, Störfaktoren aufzudecken, um Realitätsverzerrungen auszuschalten. Die Untersuchungen besaßen insofern einen, von erkenntnistheoretischem Optimismus getragenen, emanzipatorischen Charakter. Betrachtet man die Nachrichtenwertstudien, so erscheint die Berichterstattung als Folge einer Wechselbeziehung zwischen objektiven Eigenschaften von Ereignissen und Nachrichten einerseits und journalistischen Berufsnormen andererseits, aufgrund derer die Ereignisse berichtenswert oder die Nachrichten publikationswürdig sind. Dabei kann man Nachrichtenfaktoren, die unabhängig von Raum und Zeit gelten, von Nachrichtenfaktoren unterscheiden, die entweder nur
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für bestimmte politische Systeme gelten33 oder einem historischen Wandel unterworfen sind.34 In allen Fällen wird meist implizit unterstellt, dass die berichteten Sachverhalte unabhängig von der vorangegangenen oder folgenden Berichterstattung existieren. Die Journalisten reagieren damit auch hier gesteuert durch spezifische Normen auf eine vorgegebene Realität, die sie mehr oder weniger angemessen wiedergeben. Damit besitzen sie die Rolle von Mediatoren zwischen Ereignis und Rezipienten, deren Aufgabe in einer sachgerechten Selektion besteht. Sowohl die Gatekeeperstudien als auch die Nachrichtenwertstudien beruhen damit im Kern auf einem reinen Selektionsmodell (Abbildung 2). Abbildung 2:
Selektion
E1
E2
K
P
E3 E: Ereignisse; K: Kommunikator; P: Publikation
Das Selektionsmodell, das in seinem Aufbau den Stimulus-Response-Theorien entsprach, die zur gleichen Zeit der Wirkungsforschung etwa der HovlandSchule zugrunde lagen, mag auf den ersten Blick überzeugend erscheinen. Es ist jedoch aus mehreren Gründen nicht realitätsgerecht. Der erste Einwand betrifft die implizite Annahme einiger Autoren, dass die Relevanz der Ereignisse objektiv erkennbar ist. Dies ist jedoch, wie bereits die Studie von White nahelegt, nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich bei der Relevanz um eine Eigenschaft, die den Ereignissen aufgrund von professionellen Werten und subjektiven Vorstellungen zugeschrieben wird. Journalisten würden deshalb die Realität selbst dann nicht einfach so darstellen wie sie ist, wenn sie keinerlei anderen Einflüssen ausgesetzt wären. Sie würden sie auch dann noch so darstellen, wie sie sie u. a. aufgrund ihrer Tätigkeit sehen. Daraus folgt nicht, dass Realität jenseits journalistischer Darstellungen prinzipiell nicht erkennbar wäre oder dass es keine Möglichkeit gäbe, exaktere von weniger exakten Darstellungen zu unterscheiden. Das Erkenntnisproblem muss von der Selektionsproblematik unterschieden werden, weil in die Nachrichtenselektion unvermeidlich Konventionen eingehen, die mit einer rein auf Erkenntnis gerichteten Betrachtungsweise kaum vereinbar
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sind. Beispiele sind der rein konventionelle Charakter von Faktoren wie Prominenz, Schaden oder kulturelle Nähe. Da die Nachrichtenauswahl in erheblichem Maße konventionellen Charakter besitzt, kann die Berichterstattung über ein bestimmtes Ereignis in der Regel nicht mit dem Hinweis auf die Existenz des Ereignisses, sondern nur durch den Hinweis auf die Geltung entscheidungsrelevanter Konventionen gerechtfertigt werden. Die Behauptung, das Ereignis sei so wichtig gewesen, dass man darüber habe berichten müssen, ist eine Scheinerklärung, die die Frage verdeckt, weshalb man es für so wichtig gehalten hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Hinweis auf die Chronistenpflicht, denn kein Chronist verzeichnet alles, und die Frage lautet immer, was und warum. Es gibt mit anderen Worten keine sozusagen natürliche, sondern immer nur eine soziale Rechtfertigung der Nachrichtenauswahl. Der zweite Grund betrifft die implizite Annahme, dass die Ereignisse, über die Journalisten berichten, unabhängig von der Berichterstattung vorgegeben sind. Dies ist jedoch, wie Kurt Lang, Gladys Engel Lang35 und Daniel Boorstin36 gezeigt haben, falsch. Die Präsenz der Medien, speziell des Fernsehens, verändert das Verhalten der Akteure. Deshalb stellt das Fernsehen auch das dar, was es selbst an Verhaltensveränderungen vor allem im nonverbalen Bereich bewirkt. Lang und Lang haben dies als reziproken Effekt bezeichnet.37 Die Akteure inszenieren darüber hinaus Ereignisse eigens zum Zweck der Berichterstattung, wobei sie letztlich mit genau jenen Regeln spielen, die eine unabhängige Berichterstattung sichern sollen. Man kann deshalb von einer instrumentellen Inszenierung von Ereignissen sprechen. Boorstin hat solche Ereignisse als Pseudoereignisse bezeichnet. Markante Beispiele hierfür sind Wahlparteitage, die mehr für die berichtenden Journalisten als die anwesenden Anhänger veranstaltet werden. Selbst wenn man davon ausgeht, dass nur ein geringer Teil dieser Nachrichten Pseudoereignisse zum Gegenstand haben, muss man damit rechnen, dass ein erheblicher Teil der Nachrichten über Ereignisse informiert, die ohne die Erwartung der Berichterstattung überhaupt nicht stattgefunden hätten. Die Ereignisse, im Selektionsmodell Ursachen der Berichterstattung, werden in den Analysen von Lang und Lang sowie von Boorstin Mittel zum Zweck der Berichterstattung. Die Kausalbeziehung Ereignis Berichterstattung wird mit anderen Worten durch die Finalbeziehung erwartete Berichterstattung Pseudo-Ereignis überlagert. Damit bietet es sich an, den Sachverhalt in Anlehnung an Nicolai Hartmanns Analyse des Finalnexus als überformte Kausalität darzustellen.38 Dabei steht am Anfang der Wirkungskette eine Zwecksetzung die Publikation oder die erwarteten Publikationsfolgen. Es folgt die Wahl eines geeigneten Mittels, das die Publikation stimulieren soll das Pseudo-Ereignis. Erst jetzt beginnt der zuvor gezeigte Ursache-Wirkungsprozess, der erneut durch die Selektionsentscheidung als intervenierende Variable unterbrochen wird. Die
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Schaffung von Pseudoereignissen kann man als Ereignismanagement bezeichnen. Abbildung 3 illustriert das Verhältnis von Ereignis und Berichterstattung unter Berücksichtigung der instrumentellen Inszenierung von Ereignissen.39 Abbildung 3:
Ereignismanagement Zwecksetzung Mittelwahl P
A
PE
K
P
PF
A: Akteur; PE: Pseudoereignis; K: Kommunikator; P: Publikation; PF: Publikationsfolgen
Das Modell des Ereignismanagements erweitert zwar das Gatekeepermodell um eine gerade für die politische Kommunikation wichtige Dimension die Intentionalität des Handelns, die auf die öffentliche Resonanz zielt. Es klammert jedoch noch immer einen wesentlichen Faktor aus, die Intentionalität der journalistischen Selektionsentscheidung. Hierbei kann man zwei Arten von Intentionen unterscheiden: Intentionen, die auf den Zweck der Berichterstattung selbst und Intentionen, die auf Zwecke jenseits der Berichterstattung zielen. Beide Intentionen können die Nachrichtenauswahl beeinflussen. Man kann von einer instrumentellen Aktualisierung sprechen. Während beim Ereignismanagement die Ereignisse zweckgerichtet geschaffen werden, werden bei der instrumentellen Aktualisierung bereits geschehene Ereignisse zweckgerichtet genutzt. Dies schließt die instrumentelle Nutzung von Fakten und Argumenten ein. Intentionen, die völlig oder vorrangig auf die Berichterstattung selbst zielen, liegen z. B. dann vor, wenn eine Nachrichtensendung ein vorgegebenes Verhältnis von innen- und außenpolitischen Meldungen enthalten soll.40 Um dieses Verhältnis herzustellen oder nicht zu stören, werden bei bestimmten Nachrichtenlagen zusätzliche Meldungen aus dem Bereich der Innenpolitik aufgenommen oder aber ausgeschlossen. Entscheidend ist hier nicht der Nachrichtenwert, sondern die Strukturvorgabe. Ein anderes Beispiel ist die Einladung von Diskussionspartnern aus verschiedenen politischen Lagern, die eine ausgewogene Präsentation aller Standpunkte ermöglichen soll.41 Auch hier ist der Zweck, die Ausgewogenheit der Sendung, vorgegeben, die Intentionen richten sich darauf, den Zweck zu erfüllen.
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Intentionen, die völlig oder vorrangig auf Zwecke jenseits der Berichterstattung zielen, liegen vor allem dann vor, wenn Journalisten in Konfliktfällen durch ihre Berichterstattung zielgerichtet einen der Gegner (und damit eine von mehreren möglichen Entwicklungen) behindern bzw. fördern, indem sie negativ bzw. positiv bewertete Ereignisse, Themen oder Aussagen hochspielen. In diesem Fall nehmen Journalisten durch ihre Berichterstattung eine mehr oder weniger aktive Rolle in den Konflikten ein. In der Bundesrepublik Deutschland billigten 1984 immerhin 45 Prozent der Journalisten von Presse, Hörfunk und Fernsehen das bewusste Hochspielen von Informationen, die der eigenen Konfliktsicht entsprachen. Zugleich zeigen sich zwischen den Ansichten der Journalisten zu drei Konflikten und der Auswahl von Meldungen, die diese Konfliktsicht unterstützen, statistisch signifikante Zusammenhänge.42 Die praktische Bedeutung der instrumentellen Aktualisierung lässt sich durch quantitative Inhaltsanalysen der Berichterstattung nachweisen. So publizierten in der Bundesrepublik Deutschland Tageszeitungen, deren Journalisten sich überwiegend für die Kernenergie aussprachen, vor allem positive Expertenurteile über die Kernenergie, während Tageszeitungen, deren Journalisten sich überwiegend gegen die Kernenergie wandten, genau umgekehrt verfuhren.43 Ähnliche Ergebnisse liegen aus den USA vor, wobei zudem deutlich wird, dass die Selektion der Expertenansichten unabhängig von ihrem Rang war bzw. zum Teil im Kontrast zu ihrer relativ geringen fachlichen Qualifikation stand.44 In beiden Fällen wird man annehmen können, dass die Journalisten bewusst oder unbewusst bestimmte Ansichten hoch- und entgegengesetzte Ansichten herunterspielten, um Entscheidungen und Entwicklungen entsprechend ihrer eigenen Problemsicht zu fördern. Abbildung 4 illustriert das Verhältnis von Ereignis und Berichterstattung unter Berücksichtigung der instrumentellen Aktualisierung von Ereignissen. Abbildung 4:
Instrumentelle Aktualisierung Zwecksetzung Mittelwahl
E1 E2
PF K
P
PF
E3 E: Ereignisse; K: Kommunikator; P: Publikation; PF: Publikationsfolgen
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Keines der drei vorangegangenen Modelle charakterisiert für sich allein betrachtet das Verhältnis von Berichterstattung und Realität angemessen. Für eine angemessene Modelldarstellung wird man vielmehr drei Typen von Ereignissen unterscheiden müssen, die man als genuine, inszenierte und mediatisierte Ereignisse bezeichnen kann. Genuine Ereignisse werden hier Vorfälle genannt, die unabhängig von der Berichterstattung der Massenmedien geschehen. Beispiele sind Erdbeben, Unfälle und natürliche Todesfälle. Inszenierte Ereignisse werden Vorfälle genannt, die eigens zum Zwecke der Berichterstattung herbeigeführt werden (Pseudoereignisse). Beispiele sind vor allem die verschiedenen Formen von Pressekonferenzen. Mediatisierte Ereignisse werden Vorfälle genannt, die zwar vermutlich auch ohne die zu erwartende Berichterstattung geschehen wären, aufgrund der erwarteten Berichterstattung aber einen spezifischen, mediengerechten Charakter erhalten. Beispiele sind Parteitage, Produktvorstellungen, Olympiaden und Dichterlesungen. Eine besondere Bedeutung besitzen in diesem Zusammenhang mediatisierte Konflikte, d. h. Kontroversen zwischen mindestens zwei Gegnern über einen Sachverhalt, die via Massenmedien vor einem Publikum ausgetragen werden und deshalb spezifischen Gesetzmäßigkeiten folgen.45 In jeder Gesellschaft geschehen permanent genuine, mediatisierte und inszenierte Ereignisse, wobei der Anteil der jeweiligen Ereignistypen bzw. ihre relative Bedeutung für die Umweltorientierung vermutlich von historischen und politischen Faktoren abhängt. Journalisten berichten aufgrund von vielfältigen Ursachen und Zwecken über einige dieser Ereignisse umfangreicher als über andere, während sie wieder andere völlig übergehen. Dabei hängt der Einfluss zweckgerichteter Selektionsentscheidungen im Sinne einer instrumentellen Aktualisierung von Ereignissen ebenfalls von historischen und politischen Faktoren ab. So wird man politische Systeme mit einem hohen Anteil zweckorientierter Selektionsentscheidungen von politischen Systemen mit einem geringen Anteil zweckorientierter Selektionsentscheidungen unterscheiden können. Dies dürfte in ähnlicher Weise auch auf die Entscheidung für oder gegen die Publikation einzelner Aspekte von Ereignissen bzw. der Bewertung von Ereignissen durch die Akteure und durch Beobachter gelten. Da die Realität, über die die Massenmedien berichten, zum Teil eine Folge der zu erwartenden Berichterstattung ist, stellt sich die Frage, ob das grundlegende Paradigma der Medienwirkungsforschung sachlich angemessen ist. Nach diesem Paradigma können Wirkungen der Berichterstattung nur nach der Berichterstattung auftreten. Damit werden jedoch bedeutende Wirkungen per definitionem aus der Wirkungsforschung ausgeklammert. Dies betrifft die oben skizzierten Wirkungen der erwarteten Berichterstattung z. B. auf die Inszenierung von Ereignissen. Bedeutsamer dürften jedoch die Wirkungen sein, die die Existenz der Massenmedien als Institutionen auf die Struktur öffentlicher Kommunikation im weitesten Sinne ausübt etwa die zu-
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nehmende Bedeutung von PR-Maßnahmen für die Selbstdarstellung von Unternehmen, Parteien, Verbänden und Regierungen.46 Auch wenn man diese Aspekte des Verhältnisses von Realität und Berichterstattung berücksichtigt, bleibt aber immer noch ein ebenso bedeutender Aspekt ausgeklammert, der Einfluss der vorangegangenen Berichterstattung auf die Entstehung der berichteten Ereignisse. Die Realität, über die die Massenmedien berichten, ist zum Teil auch eine Folge der vorangegangenen Berichterstattung. Nach dem Jom-Kippur-Krieg im Jahr 1973 erweckten z. B. die deutschen Massenmedien den falschen Eindruck, es käme kurzfristig zu einer Versorgungslücke auf dem Rohölmarkt. Als Folge dieser Vorstellung nahm die Nachfrage nach Ölprodukten sprunghaft zu. Dadurch entstanden aufgrund der beschränkten Kapazität der Raffinerien Versorgungslücken. Die Massenmedien berichteten intensiv über diese Versorgungslücken und forderten erfolgreich, das Autofahren an vier Wochenenden zu verbieten.47 Ähnliche Wechselwirkungen bestehen auch bei langfristigen Meinungstrends. So waren die Sorgen der Bevölkerung über die Kernenergie und die Umweltbelastung, über die die Massenmedien intensiv berichteten, u. a. eine Folge ihrer vorangegangenen Darstellung beider Themen.48 In allen genannten Fällen wurden die Publikationsfolgen selbst zum Gegenstand von Publikationen, was ein zirkuläres Modell des Verhältnisses von Realität und Berichterstattung nahelegt. Abbildung 5 zeigt ein solches Modell, in das auch die vorangegangenen Modelle integriert sind. Alle bisherigen Modelle beruhen auf der Annahme, dass die Berichterstattung der Massenmedien mehr oder weniger exakt die Realität abbildet. Diese Annahme setzt voraus, dass eine solche Realität existiert, dass sie erkennbar ist und dass sie mit der Berichterstattung verglichen werden kann. Hierbei handelt es sich zum Teil um erkenntnistheoretische und zum Teil um methodische Fragen. Geht man davon aus, dass Realität existiert, erkennbar ist und mit der Berichterstattung verglichen werden kann, dann kann man u. a. die Veränderung der Berichterstattung durch die Veränderung der Realität erklären, die Angemessenheit der Berichterstattung über die Realität ermitteln und die Information über die Realität als eine Funktion der Massenmedien betrachten. Geht man jedoch davon aus, dass Realität nicht existiert, nicht erkennbar ist oder nicht mit der Berichterstattung verglichen werden kann, sind die genannten Ansätze wissenschaftlich sinnlos. In diesem Fall muss in den Modellen zwei bis fünf jeweils die linke Seite gestrichen werden. Die Annahme, dass die Berichterstattung der Massenmedien die Realität abbildet, wurde in den vergangenen zwanzig Jahren grundlegend in Frage gestellt. Dabei kann man mehrere Positionen unterscheiden. Die erste Position lautet: Es gibt keine Realität, über die die Massenmedien berichten könnten. Da-
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Abbildung 5:
Integriertes Modell
P
A
PE1
K
P
PF
PE1 ME1 ME1 GE1 GE1 A: Akteur; GE: Genuine Ereignisse; ME: Mediatisierte Ereignisse; PE: Pseudoereignisse; K: Kommunikator; P: Publikation; PF: Publikationsfolgen
raus folgt, dass man diese Realität weder erkennen, noch mit der Berichterstattung vergleichen kann. Die Berichterstattung spiegelt die Realität weder angemessen noch unangemessen. Sie stellt vielmehr ein Konstrukt dar, das nichts anderes reflektiert als die Arbeitsbedingungen von Journalisten. Da dieses Konstrukt nicht durch medienexterne Kriterien in Frage gestellt werden kann, besitzen die Journalisten ein Monopol für die Definition von Realität: Real und relevant ist, was sie als real und relevant darstellen; was sie nicht als real und relevant darstellen, ist nicht real und relevant.49 Die entscheidende Frage lautet hier, was Begriffe wie Realität, objektive Welt und world out there bedeuten sollen. Hierbei müssen zwei Bedeutungen unterschieden werden. Die Begriffe können zum einen das Wesen (essence) der Realität z. B. von Politik, Wirtschaft oder Kultur bedeuten oder bestimmte Aspekte von Realität z. B. Wahlabsichten, Währungskurse und Buchpublikationen bezeichnen. Legt man die erste Definition zugrunde, ist Realität tatsächlich nicht erkennbar, zugleich bewegt man sich jedoch außerhalb des Realitäts-
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verständnisses, das die Grundlage der empirischen Wissenschaft bildet. So beschäftigt sich die Chemie nicht mit der Materie, sondern mit spezifischen Aspekten der Materie, die eigens zum Zwecke der Analyse explizit definiert wurden (Elementen). Zugleich bestreitet man implizit die Möglichkeit jeder empirischen Wissenschaft, also auch einer intersubjektiven Analyse des Verhaltens von Journalisten bei der Produktion von Nachrichten, denn auch dies ist, von einem anderen Blickpunkt aus betrachtet, eine world out there. Legt man die zweite Definition zugrunde, dann ist die Realität bzw. der für die Analyse relevante Aspekt von Realität durchaus erkennbar und kann mit seiner Darstellung in den Massenmedien verglichen werden.50 Die zweite Position lautet: Es gibt durchaus eine objektiv erkennbare Realität, über die die Massenmedien berichten, auch kann man diese Realität erkennen und mit der Berichterstattung der Massenmedien vergleichen. Allerdings sagen derartige Vergleiche nichts über die Qualität der Berichterstattung aus, denn es ist nicht Aufgabe der Massenmedien, jene Realität zu spiegeln, die durch andere Indikatoren etwa Statistiken über Verkehrstote, Ölimporte, Arbeitslose usw. erfasst wird. Die Statistiken verzeichnen vielmehr Tatsachen, die selbst keine soziale Bedeutung besitzen, und es ist die Aufgabe der Massenmedien, diese Tatsachen zu interpretieren und ihnen dadurch eine allgemeine Bedeutung zu geben. Sie berichten folglich nicht vorrangig über die Welt der Tatsachen, sondern sie konstituieren die soziale Bedeutung von Realität, indem sie diese Tatsachen wertend interpretieren. Der Umfang der Berichterstattung über einen Reaktorunfall spiegelt deshalb z. B. nicht die Schwere der tatsächlichen oder möglichen Schäden. Er konstituiert vielmehr die soziale Bedeutung, die diesem Geschehen zukommt, wobei die Journalisten eine Schlüsselstellung einnehmen, die nicht durch Hinweise auf die reinen Fakten in Frage gestellt werden kann.51 Die entscheidende Frage lautet hier, was die Journalisten charakterisieren wollen, ihre eigenen Bewertungsmaßstäbe oder die dargestellte Realität bzw. wie die Rezipienten die Darstellung verstehen, als Spiegelung journalistischer Sichtweisen oder als Charakterisierung objektiv erkennbarer Sachverhalte. Die weitaus meisten Journalisten werden ihre Realitätsdarstellungen keineswegs vorrangig als Ausdruck ihrer spezifischen Realitätssichten betrachten, sondern als ein möglichst getreues Abbild der dargestellten Realität ansehen. Hierauf deutet u. a. das allgemeine Bekenntnis zur Objektivität der Berichterstattung durch Journalisten in allen westlichen Ländern, für die entsprechende Daten vorliegen. 52 Die weitaus meisten Leser, Hörer und Zuschauer werden zudem die Realitätsdarstellungen ebenfalls so verstehen, wie die Journalisten sie gemeint haben. Hierauf deutet u. a. die allgemein hohe Glaubwürdigkeit der Massenmedien, wobei jedoch durchaus auch medienspezifische Unterschiede bestehen.53 Folgt man dieser Überlegung, stellen sich zwei Fragen, die nur empirisch beantwortet werden
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können. Die erste Frage lautet, ob die Realitätsindikatoren, die mit der Berichterstattung verglichen werden, jene Realitätsaspekte erfassen, die die Journalisten darstellen wollen, und die die Rezipienten dargestellt glauben. Die zweite Frage lautet, ob zwischen der Realität und der Realitätsdarstellung eine Kluft besteht und welche Konsequenzen sie u. U. für die Individuen, Gruppen und die Gesellschaft als Ganzes besitzt. Die dritte Position lautet: Es gibt eine objektiv erkennbare Realität, über die die Massenmedien berichten. Weil man hier Realität objektiv erkennen kann, kann man die Berichterstattung der Massenmedien damit vergleichen. Dabei kann man auch feststellen, ob die Massenmedien diese Realität verzerrt oder unverzerrt wiedergeben.54 Solche Vergleiche sind zwar nicht bei allen Themen der Massenmedien möglich, weil keine entsprechenden externen Daten vorliegen, allerdings gibt es hinreichend viele Vergleichsmöglichkeiten, um sinnvolle Aussagen über die Berichterstattung der Massenmedien zu ermöglichen. Die entscheidende Frage lautet hier, ob die Qualität der externen Indikatoren gut genug ist, um sie als Standard zu benutzen, an dem die Medienberichterstattung gemessen wird. Diese Frage kann nur im Einzelfall entschieden werden. Darüber hinaus ergeben sich zum Teil gravierende Methodenprobleme beim Vergleich von verschiedenen Realitätsindikatoren, die ebenfalls nur im konkreten Einzelfall gelöst werden können. Hierzu gehört vor allem die Gegenüberstellung von kumulierten Aussagen oder Beiträgen in den Massenmedien und von Intensitätsmaßen z. B. aus Statistiken zur Umweltbelastung, die beide als Indikatoren für die Bedeutung von z. B. Umweltschäden in der Berichterstattung und in der Realität betrachtet werden. Ferner gehört hierzu die Kombination von Aussagen in den Massenmedien und von externen Messungen, die u. U. eine unterschiedliche zeitliche und räumliche Geltung besitzen, in einem Fall möglicherweise einen ganz bestimmten Ort an einem ganz bestimmten Tag betreffen, sich im anderen Fall aber auf allgemeine Zustände innerhalb einer Region beziehen.
Schlussfolgerungen Jede Theorie der Nachrichtenauswahl beruht letztlich zumindest implizit auf einer Theorie über das Verhältnis von Realität und Berichterstattung, die ihrerseits Annahmen über den Einfluss der Massenmedien als Institution und die Wirkung ihrer Berichterstattung enthält. Hierbei handelt es sich zumindest teilweise um ein rückgekoppeltes System. Daher können zumindest die langfristigen Einflüsse der Massenmedien und Wirkungen ihrer Berichterstattung mit linearen Kausalanalysen nicht angemessen beschrieben werden. Darüber hinaus werden solche Darstellungen auch der Rolle der Journalisten in der öffentlichen Kom-
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munikation nicht gerecht. Aus beiden Gründen erscheint es erforderlich, die Massenmedien bzw. die Journalisten nicht als externe Faktoren zu betrachten, die Aspekte von Realitätsdarstellungen und dadurch u. U. Realität verändern. Vielmehr sind sie als Teile dieser Realität zu verstehen, die ohne sie nicht so existieren würde, wie sie existiert. Bestreitet man die Existenz einer solchen Realität, was durch die Verwendung eines spezifisch philosophischen Realitätsbegriffs geschehen kann, bestreitet man zugleich die Möglichkeit, die Tätigkeit von Journalisten selbst als eine empirisch analysierbare Realität zu betrachten. Zudem wird den Journalisten bzw. den Massenmedien ein Monopol für die Definition sozialer Realität zugesprochen, das ihre Tätigkeit gegen jede Kritik von außen immunisiert. Bestreitet man generell den Sinn eines Vergleichs zwischen externen Realitätsdarstellungen in den Massenmedien und externen Realitätsindikatoren, immunisiert man ebenfalls die Journalisten gegen eine faktenorientierte Kritik. Dabei schließt diese Immunisierung genau jene Fakten aus der Kritik aus, über die die Mehrheit der Journalisten nach eigenem Selbstverständnis berichten und die die Mehrheit der Leser, Hörer und Zuschauer von ihrer Berichterstattung erwarten.
1 Vgl. David Manning White: The Gate Keeper. A Case Study in the Selection of News. In: Journalism Quarterly 27 (1950) S. 383-390. 2 Vgl. u. a. Walter Gieber: News Is What Newspapermen Make It. In: Lewis A. Dexter / David Manning White (Hrsg.): People, Society, and Mass Communication. New York/London 1964, S. 171-180. 3 Vgl. Walter Lippmann: Public Opinion. New York 1922, S. 338-357. 4 Vgl. Charles Merz: What Makes a First-Page Story? A Theory Based on the Ten Big News Stories of 1925. In: New Republic, 30. Dezember 1925, S. 156-158. 5 Vgl. Einar Östgaard: Factors Influencing the Flow of News. In: Journal of Peace Research 2 (1965) S. 39-63. 6 Vgl. Johan Galtung / Mari Holmboe Ruge: The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crises in Four Norwegian Newspapers. In: Journal of Peace Research 2 (1965) S. 64-91. 7 Vgl. Carl Warren: Modern News Reporting. New York/Evanston 1934. 8 Vgl. Winfried Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg i. Br. 1976; Joachim Friedrich Staab: Nachrichtenwert-Theorie. Formale Struktur und empirischer Gehalt. Freiburg i.Br. 1990. Vgl. Hierzu auch die Beiträge in der Sondernummer von Communications. The European Journal of Communication Research 31 (2006) zu News Decisions and News Values. 9 Vgl. Malcolm W. Klein / Nathan Maccoby: Newspaper Objectivity in the 1952 Campaign. In: Journalism Quarterly 31 (1954) S. 285-296; vgl. zur News Bias-Forschung auch Karl Erik Rosengren: Bias in News: Methods and Concepts. In: Studies of Broadcasting 15 (1979) S. 31-45; Hans Mathias Kepplinger: Die aktuelle Berichterstattung des Hörfunks. Eine Inhaltsanalyse der Abend-
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nachrichten und politischen Magazine. Freiburg i. Br. 1985; Klaus Schönbach: Trennung von Nachricht und Meinung. Empirische Untersuchung eines journalistischen Qualitätskriteriums. Freiburg i. Br. 1977. 10 Vgl. Jean S. Kerrick / Thomas E. Anderson / Luita B. Swales: Balance and the Writers Attitude in News Stories and Editorials. In: Journalism Quarterly 41 (1964) S. 207-215. 11 Vgl. Ruth C. Flegel / Steven H. Chaffee: Influences of Editors, Readers, and Personal Opinions on Reporters. In: Journalism Quarterly 48 (1971) S. 645-651. 12 Vgl. Kurt Lang / Gladys Engel Lang: The Unique Perspective of Television and its Effect: A Pilot Study. In: American Sociological Review 18 (1953) S. 3-12; G. Ray Funkhouser: The Issues of the Sixties: An Exploratory Study in the Dynamics of Public Opinion. In: Public Opinion Quarterly 37 (1973) S. 62-75. 13 Vgl. Mark Fishman: Manufacturing the News. Austin 1980; Ders.: News and Nonevents. Making the Visible Invisible. In: James S. Ettema / D. Charles Whitney (Hrsg.): Individuals in Mass Media Organizations: Creativity and Constraint. Beverly Hills/London/New Delhi 1982, S. 219-240; Harvey Molotch / Marilyn Lester: News as Purposive Behavior: On the Strategy Use of Routine Events, Accidents, and Scandals. In: American Sociological Review 39 (1974) S. 101-112. 14 Vgl. Lewis Donohew: Newspaper Gatekeepers and Forces in the News Channel. In: Public Opinion Quarterly 31 (1967) S. 61-68. 15 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt/Neuwied 1962. 16 Vgl. Walter Gieber / Walter Johnson: The City Hall Beat: A Study of Reporter and Source Roles. In: Journalism Quarterly 38 (1961) S. 289-297. 17 Vgl. Clifford G. Christians / Kim B. Rotzoll / Mark Fackler: Media Ethics. Cases and Moral Reasoning. New York/London 1983, S. 29 ff. 18 Vgl. Lewis Donohew, a. a. O. 19 Vgl. Joachim Friedrich Staab: a. a. O., S. 116-128. 20 Ebd. 21 David Manning White, a. a. O. 22 Vgl. Werner Früh: Lesen, Verstehen, Urteilen. Untersuchungen über den Zusammenhang von Textgestaltung und Textwirkung, Freiburg i. Br.1980. 23 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Hans-Bernd Brosius / Joachim Friedrich Staab / Günter Linke: Instrumentelle Aktualisierung. Grundlagen einer Theorie publizistischer Konflikte. In: Max Kaase / Winfried Schulz (Hrsg.): Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde. Opladen 1989, S. 199-220. 24 Vgl. Keith P. Sanders / Won H. Chang: Codes The Ethical Free-For-All: A Survey of Journalists Opinions about Freebies. Columbia 1977; Michael Ryan / David L. Martinson: Ethical Values, the Flow of Journalistic Information and Public Relations Persons. In: Journalism Quarterly 61 (1984) S. 27-34. 25 Vgl. Warren Breed: Social Control in the Newsroom: A Functional Analysis. In: Social Forces 33 (1955) S. 326-335; George Gerbner: Ideological Perspectives and Political Tendencies in News Reporting. In: Journalism Quarterly 41 (1964) S. 495-508, S. 516; Leon Mann: Counting the Crowd: Effects of Editorial Policy on Estimates. In: Journalism Quarterly 51 (1974) S. 278-285. 26 Vgl. David R. Bowers: A Report on Activity by Publishers in Directing Newsroom Decisions. In: Journalism Quarterly 44 (1967) S. 43-52; Gertrude J. Robinson: Foreign News Selection is NonLinear in Yugoslavias Tanjug Agency. In: Journalism Quarterly 47 (1970) S. 340-351. 27 Vgl. George A. Bailey / Lawrence W. Lichty: Rough Justice on a Saigon Street: A Gatekeeper Study of NBCs Tel Execution Film. In: Journalism Quarterly 49 (1972) S. 221-229; David L. Altheide: Creating Reality. How TV News Distorts Events. Beverly Hills 1974. 28 Ruth C. Flegel / Steven H. Chaffee, a. a. O., S. 649.
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Vgl. Gaye Tuchman: Objectivity as Strategic Ritual: An Examination of Newsmens Notions of Objectivity. In: American Journal of Sociology 77 (1972) S. 660-679; Dies.: Making News by Doing Work: Routinizing the Unexpected. In: American Journal of Sociology 79 (1973) S. 110-131. 30 Ruth C. Flegel / Steven H. Chaffee, a. a. O., S. 649. 31 Vgl. Winfried Schulz, a. a. O., S. 21-23. 32 Vgl. Harvey L. Molotch / David L. Protess / Margaret T. Gordon: The Media-Policy Connection: Ecologies of News. In: David L. Paletz (Hrsg.): Political Communication Research: Approaches, Studies, Assessments. Norwood 1986, S. 26-46. 33 Vgl. Johan Galtung / Mari Holmboe Ruge, a. a. O. 34 Vgl. Jörgen Westerståhl / Folke Johansson: News Ideologies as Moulders of Domestic News. In: European Journal of Communication l (1986) S. 133-149. 35 Vgl. Kurt Lang / Gladys Engel Lang, a. a. O. 36 Vgl. Daniel J. Boorstin: Das Image. Der amerikanischen Traum (1961). Reinbek 1964. 37 Vgl. hierzu Hans Mathias Kepplinger: Reziproke Effekte. In: Ders.: Medieneffekte. Wiesbaden 2010, S. 135-153. 38 Vgl. Nicolai Hartmann: Teleologisches Denken. Berlin 1951. S. 64 ff. 39 Zur logischen Analyse dieser Fälle vgl. Hans Mathias Kepplinger: Politik und publizistische Funktionen von Kleinen Anfragen. In: Ders.: Politikvermittlung. Wiesbaden 2010, S. 95-115. 40 Vgl. Gertrude J. Robinson, a. a. O. 41 Vgl. Claudia Mast: Politiker im Fernsehen. Zur Frage des kommunikativen Zugangs zu einer Parteisendung. In: Publizistik 22 (1977) S. 35-46. 42 Vgl. Hans Mathias Kepplinger et al., a. a. O.; Hans Mathias Kepplinger: Voluntaristische Grundlagen der Politikberichterstattung. In: Frank E. Böckelmann (Hrsg.): Medienmacht und Politik. Mediatisierte Politik und politischer Wertewandel. Berlin 1989, S. 59-83. 43 Vgl. den Beitrag Die Konstruktion der Kernenergiegegnerschaft. In diesem Band, S. 205-232. 44 Vgl. S. Robert Lichter / Stanley Rothman / Linda S. Lichter: Media Meltdown. In: Dies.: The Media Elite. Bethesda 1986, S. 166-219. 45 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Publizistische Konflikte. In: Ders.: Publizistische Konflikte und Skandale. Wiesbaden 2010, S. 9-27. Siehe hierzu auch den Beitrag Die Konstruktion von Kriegsdienstverweigerung. In diesem Band, S. 177-205. 46 Vgl. Michael Kunczik: Public Relations. Konzepte und Theorien. Köln 42002, S. 101-123. 47 Vgl. den Beitrag Die Konstruktion der Ölkrise 1973/74. In diesem Band, S. 153-176. 48 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Künstliche Horizonte. Folgen, Darstellung und Akzeptanz von Technik in der Bundesrepublik. Frankfurt a. M. 1989, S. 173-223. 49 Vgl. Mark Fishman a. a. O. 50 Vgl. hierzu den Beitrag Begriff und Gegenstand öffentliche Meinung. In diesem Band, S. 19-46. 51 Vgl. Winfried Schulz: a. a. O, S. 25-29; W. Lippmann a. a. O., passim. 52 Vgl. Wolfgang Donsbach / Bettina Klett: Subjective Objectivity: How Journalists in Four Continents Define a Key Term of their Profession. In: Gazette 51 (1993) S. 53-83; Wolfgang Donsbach / Jens Wolling: Redaktionelle Kontrolle in der regionalen und überregionalen Tagespresse. Ein internationaler Vergleich. In: Beate Schneider / Kurt Reumann / Peter Schiwy (Hrsg.): Publizistik. Beiträge zur Medienentwicklung. Konstanz 1995, S. 421-433. 53 Vgl. Nikolaus Jackob: Vergessen oder vergeben? Journalistische Fehlleistungen und ihre Folgen für das allgemeine Vertrauen in die Medien. In: Communicatio Socialis 42 (2009) S. 382-404. 54 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann / Rainer Mathes: The Event as Event and the Event as News: The Significance of Consonance for Media Effects Research. In: European Journal of Communication 2 (1987), S. 391-414. Vgl. hierzu auch Stefanie Best: Der Intra-Extra-Media-Vergleich. Ein wenig genutztes Analyseinstrument und seine methodischen Anforderungen. Ein Beitrag zur Nachrichtenwert-Theorie. In: Publizistik 45 (2000) S. 51-69.
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Der Ereignisbegriff in der Publizistikwissenschaft
Die Realitätsdarstellung der Massenmedien wird meist als Abbild eines Ausschnitts der Realität betrachtet. Gelegentlich wird sie auch als Konstrukt angesehen, das vorrangig die Arbeitsbedingungen der Medien spiegelt. In beiden Fällen ist das Verhältnis von Ereignis und Bericht erklärungsbedürftig. Im zweiten Fall geht es um die Prinzipien, nach denen die Medien ihre Darstellung von Realität konstruieren, im ersten Fall zusätzlich um Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen Realität und Darstellung soweit die medienrelevante Realität anhand medienunabhängiger Indikatoren erkennbar ist. Die Auswahl der Ereignisse, über die die Medien berichten, ist Gegenstand der Nachrichtenforschung. Dort wird das Geschehen als vorgegebene Wirklichkeit und die Berichterstattung als ihre Widerspiegelung betrachtet. Sie erscheint als Folge von Selektionsentscheidungen, in denen die Eigenschaften der aktuellen Ereignisse sowie die Selektionskriterien der Journalisten die unabhängigen Variablen sind, und die Publikationsentscheidung die abhängige Variable ist.1 Diese Konzeption leistet zwar einen Beitrag zur Erklärung der Nachrichtenauswahl von Journalisten. Sie wird jedoch aus zwei Gründen dem Verhältnis der Berichterstattung zum aktuellen Geschehen insgesamt nicht gerecht. Die Medien stellen erstens nicht nur eine vorgegebene Ereigniswelt dar. Die Ereignisse, über die die Medien berichten, sind z. T. selbst bereits eine Folge der vorangegangenen Berichterstattung,2 z. T. werden sie eigens für die Berichterstattung inszeniert und würden ohne sie überhaupt nicht existieren. Die Berichte sind zweitens keine einfachen Abbilder der Ereignisse. Sie sind vielmehr auf komplexe Weise mit ihnen verschränkt.3 Oft sind die Anlässe und Gegenstände der Berichte identisch, zuweilen sind sie jedoch auch verschieden. So greifen viele Beiträge anhand aktueller Ereignisse vorangegangene Geschehnisse auf, die ihren eigentlichen Schwerpunkt bilden. Es findet eine Re-Thematisierung statt.4 Die vorliegende Studie soll verschiedene Aspekte von Ereignissen, die für die Berichterstattung der Medien und die Realitätswahrnehmung der Bevölkerung relevant sind, identifizieren. Dazu werden analytische Konzepte vorgestellt, mit denen man das Verhältnis zwischen dem aktuellen Geschehen und der medialen Berichterstattung empirisch untersuchen kann. Das Mittel hierfür ist eine Reihe von Nominaldefinitionen. Es geht folglich nicht um eine essenzialistische
H. M. Kepplinger, Realitätskonstruktionen, DOI 10.1007/978-3-531-92780-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Theorie des Verhältnisses zwischen Realität und Berichterstattung, sondern um eine theoriegeleitete Analyse eines Ausschnitts dieses Zusammenhangs. Grundlage ist die Unterscheidung zwischen zwei Handlungsebenen der Ebene des Dargestellten und der Ebene der Darstellung. Auf beiden Ebenen sind die Akteure spezifischen Erfolgsbedingungen ausgesetzt: Ein Sportler muss im Stadion sportliche Leistungen zeigen, im Fernsehinterview aber wortgewandt sein. Wer dies nicht ist, wird auch dann kaum ein Star der Sportberichterstattung, wenn er sportlich erfolgreich ist. Dies trifft analog auch auf Politiker zu. Zwischen der vermuteten Sachkompetenz eines Politikers und seiner Wahrnehmung als Politikstar bestehen deshalb z. T. erhebliche Unterschiede.5 Aus diesen generellen Feststellungen kann man drei Fragen ableiten. Erstens, wie wirken sich die Erfolgsbedingungen der einen Ebene auf die Handlungen auf der anderen Ebene aus? Beeinflusst z. B. die Ortientierung von Politikern an den Medien ihr politisches Handeln? Hierbei geht es um die Kausalbeziehungen zwischen den Ebenen. Zweitens, wie sind die Berichte über das aktuelle Geschehen mit diesem Geschehen verbunden? Welchen Zusammenhang gibt es z. B. zwischen Berichtsanlässen und Berichtsgegenständen? Hierbei geht es um die Konstruktionsprinzipien der Realitätsdarstellung. Beides die Kausalbeziehungen wie die Konstruktionsprinzipien sind vermutlich keine festen Größen. Daraus folgt Drittens, haben sich die Kausalbeziehungen und die Konstruktionsprinzipien im Laufe der Zeit geändert und, wenn ja, wie? Hierbei geht es um den Wandel der publizistischen Konstruktion von Realität. Die aktuelle Berichterstattung der Medien ist eine Grundlage der Vorstellungen der Bevölkerung vom aktuellen Geschehen, aus denen die Bürger ihre z. T. individuellen Folgerungen ableiten. Wenn sich die aktuelle Berichterstattung ändert, ändern sich vermutlich auch die Vorstellungen und Folgerungen der Bevölkerung. Die Änderung der Darstellung setzt nicht notwendigerweise eine entsprechende Änderung des Dargestellten voraus. Sie ändert sich auch, wenn sich die Kausalbeziehungen sowie die Konstruktionsprinzipien wandeln. Die Kenntnis dieses Wandels gibt Auskunft über zwei Fragen: Welcher Anteil der veränderten Darstellung von Realität beruht auf veränderten Konstruktionsprinzipien anderen Vorgehensweisen der Medien bei der Berichterstattung über das aktuelle Geschehen? Und welcher Anteil der veränderten Darstellungen reflektiert veränderte Kausalbeziehungen Einflüsse der Medien auf das Verhalten derer, über die sie berichten? Die Beantwortung dieser Fragen ermöglicht im Idealfall eine Dekomposition unserer Vorstellungen von Realität, soweit sie auf der aktuellen Berichterstattung der Medien beruhen. Hierbei handelt es sich nicht um eine einfach beantwortbare Testfrage, sondern um ein Forschungsprogramm, das nur langfristig zum Erfolg führen kann.
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Objekte der Berichterstattung Die Massenmedien berichten über Menschen und Tiere, Naturerscheinungen und Kunstgegenstände usw. Dies geschieht in der Regel jedoch nur dann, wenn sie zum Ereignis wurden wenn sie etwas Besonderes geleistet haben oder gerade entdeckt wurden, wenn sie aus einer Serie ähnlicher Geschehnisse herausragen usw. Wir werden uns deshalb und zur Vereinfachung der Problematik nur mit drei Objekten der Berichterstattung befassen mit Ereignissen, Stellungnahmen und Themen. Als Ereignisse bezeichnen wir zeitlich und räumlich begrenzte Geschehnisse. Sie besitzen folglich einen erkennbaren Anfang und ein absehbares Ende. Beispiele für Ereignisse sind einzelne Staatsbesuche, Konferenzen und Unfälle. Die Ausdehnung eines Ereignisses bzw. die Abgrenzung zwischen verschiedenen Ereignissen ist nicht vorgegeben, sondern die Folge von individuellen oder kollektiven Ereignisdefinitionen.6 So kann man z. B. einen Verkehrsunfall samt seiner Vorgeschichte und seinen Nachwirkungen als ein Ereignis betrachten. Man kann jedoch in dem Geschehen auch drei Ereignisse sehen: die Vorgeschichte, den Unfall selbst und die Nachwirkungen. Die Definition von Ereignissen hängt auch von der individuellen Sichtweise ab. Formal betrachtet kann man Beobachter erster, zweiter, dritter usw. Ordnung unterscheiden. Bei Verkehrsunfällen z. B. sind Augenzeugen Beobachter erster Ordnung, Journalisten, die über ihre Beschreibungen berichten, Beobachter zweiter Ordnung, Publizistikwissenschaftler, die deren Berichte analysieren, Beobachter dritter Ordnung usw. Für die Augenzeugen gehören viele Beobachtungen zum Ereignis, die für Journalisten nicht relevant sind z. B. die Farbe des Unfallwagens. Andererseits sind für Journalisten Informationen relevant, die die Augenzeugen weder beobachtet noch vermisst haben z. B. die Verwicklung des Unfallfahrers in frühere Unfälle. Für Publizistikwissenschaftler mögen Aspekte des Ereignisses wichtig sein, die keinen der anderen Beobachter interessieren z. B. die relative Häufigkeit von Verkehrsunfällen im Vergleich zu anderen Unfällen, die ähnlich häufig berichtet werden. Stellungnahmen sind eine spezielle Art von Ereignissen. Zu den Ereignissen gehören sie, weil es sich ebenfalls um zeitlich abgegrenzte Geschehnisse handelt. Der Begriff Stellungnahmen wird hier weit gefasst und schließt Reden und Presseerklärungen ein. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Stellungnahme mündlich oder schriftlich erfolgt. Beispiele sind mündliche und schriftliche Äußerungen bei Pressekonferenzen, im Bundestag, bei Gedenktagen usw. Obwohl Stellungnahmen Ereignisse sind, unterscheidet sie ein wesentliches Merkmal z. B. von Unfällen und Konferenzen. Charakteristisch für Stellungnahmen ist, dass sie intentional auf etwas anderes verweisen. Hierbei kann es sich um Ereignisse im oben
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genannten Sinn, um andere Stellungnahmen sowie um Themen (vgl. unten) handeln. Beispiele hierfür sind Stellungnahmen zu einem Flugzeugabsturz, zur Äußerung der verantwortlichen Fluggesellschaft oder generell zur Entwicklung der Flugsicherheit. Durch ihren Verweischarakter besitzen Stellungnahmen eine besondere kommunikative Funktion: Sie lenken die Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung. Berichte über Stellungnahmen haben zwei Ursachen die Bedeutung der Äußerung bzw. ihres Urhebers und die Bedeutung des Gegenstandes der Stellungnahme. Äußerungen von Prominenten besitzen z. B. auch dann einen relativ hohen Nachrichtenwert, wenn sie Unwichtiges betreffen. Andererseits müssen sich Unbekannte zu bedeutsamen Sachverhalten äußern, damit ihre Stellungnahmen einen hohen Nachrichtenwert erhalten. Weil die Publikation von Stellungnahmen in der Regel zwei Ursachen besitzt und weil Stellungnahmen darüber hinaus eine besondere kommunikative Funktion haben, erscheint es sinnvoll, sie als eine besondere Klasse von Ereignissen zu betrachten. Als Themen bezeichnen wir Zustände, deren Anfang und Ende nicht absehbar sind. Beispiele sind diplomatische Beziehungen, Abrüstung oder Verkehr. Themen besitzen eine Doppelnatur. Zum einen verstehen wir darunter Sachgesichtspunkte, denen man einzelne Ereignisse zuordnen und die man dementsprechend als Sammelkategorien betrachten kann. Hierbei handelt es sich um den so genannten thematischen Bezug von Ereignissen. So fassen wir bei Inhaltsanalysen und Umfragen üblicherweise Ereignisse unter thematischen Gesichtspunkten zusammen Zusammenstöße zwischen Autos zu Verkehrsunfällen usw. Trotzdem sind Themen nicht nur die Summe der Ereignisse, die zu ihnen gehören. Vielmehr diskutieren wir Themen auch unabhängig von einzelnen Ereignissen. In diesem Sinn sprechen wir von Unglücken, Erfolgen, Zufällen, Überzeugungen usw. Hierbei handelt es sich um Themen als Sinnkomplexe. Die Abgrenzung der Themen von Ereignissen ist nicht vorgegeben, sondern hängt ebenfalls von der Perspektive ab. Wenn wir als Akteure oder Beobachter ein Geschehen als eine raum-zeitliche Einheit wahrnehmen, begreifen wir es als Ereignis. Falls wir eine solche Grenze nicht erkennen können oder wollen, betrachten wir es als Thema: Ein bestimmter Staatsbesuch ist ein politisches Ereignis. Alle Besuche ausländischer Staatsoberhäupter in Deutschland bilden dagegen ein Thema. Der Vietnamkrieg ist aus heutiger Sicht ein historisches Ereignis, aus damaliger Sicht war er ein aktuelles Thema. Ereignisse waren dagegen die Bombardierung von Hanoi und die Tet-Offensive. Zwar grenzen wir gelegentlich auch Themen räumlich und zeitlich ein z. B. alle Staatsbesuche in Bonn von 1951 bis 1995. Trotzdem betrachten wir auch dies als Thema, weil es sich nicht um ein
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durchgängiges Geschehen mit einheitlichen Grenzen, sondern um eine offene Folge von Ereignissen handelt. Die Definition von Begriffen muss von ihrer Operationalisierung unterschieden werden. Dies gilt auch für den Ereignisbegriff. Die Ereignisse selbst und die Berichte darüber kann man medienextern und medienintern bestimmen. Medienexterne Operationalisierungen geschehen entweder durch Entscheidungen Dritter oder durch Festlegungen von Publizistikwissenschaftlern. Erstere stützen sich meist auf medienexterne Informationen (mechanische Messungen, statistische Erhebungen, repräsentative Umfragen usw.), die in Statistiken eingehen. Beispiele hierfür sind Umwelt-, Kriminal- und Wirtschaftstatistiken.7 Letztere stützen sich meist auf medienvermittelte Informationen, anhand derer sie theoriegeleitet oder intuitiv die relevanten Ereignisse festlegen. Zwar gehen in diese Ereignisdefinitionen auch Medieninformationen ein. Die Festlegung der Ereignisse nehmen jedoch andere vor, die sich auf zahlreiche Quellen stützen und mit zeitlichem Abstand auf der Grundlage des dann vorhandenen Wissens urteilen. Medieninterne Operationalisierungen legen Entscheidungen von Journalisten zugrunde. Als Ereignis kann man die kleinste Geschehenseinheit betrachten, der mindestens eine Publikation einen eigenen Beitrag widmet. Berichten mehrere Medien über den gleichen Flugzeugunfall und ein Blatt veröffentlicht getrennte Artikel über den Hergang des Absturzes und über die Reaktionen der Angehörigen, handelt es sich per definitionem um zwei Ereignisse. Blätter, die beide Sachverhalte im gleichen Beitrag behandeln, berichten folglich über zwei Ereignisse, wobei der Umfang der Berichterstattung über die beiden Ereignisse separiert und getrennt erfasst werden kann.8 Dieses Verfahren erfordert ein zweistufiges Vorgehen im ersten Schritt die Erstellung eines Ereigniskatalogs (bzw. Ereigniskosmos) sowie im zweiten Schritt die Analyse der Berichterstattung über die so ermittelten Ereignisse. Das Verhältnis zwischen Ereignis und Ereignisbericht hängt in empirischen Analysen von der Operationalisierung der Ereignisse und ihrer darauf aufbauenden Klassifikation ab. Meist liegt kein Ereigniskosmos vor. Als Ereigniskosmos bezeichnen wir ein Verzeichnis aller publizistisch relevanten und für die Fragestellung bedeutsamen Ereignisse. Falls kein Ereigniskosmos vorliegt, werden sowohl die Ereignisse als auch die Ereignisberichte generellen Kategorien von Ereignissen zugeordnet (z. B. Verkehrsunfälle mit Todesfolge). Bei dieser Vorgehensweise sind die einzelnen Ereignisse nicht mehr identifizierbar (Aggregatdaten-Analyse). Sie gehen in der Masse ähnlicher Ereignisse auf. Folglich kann man nur die Häufigkeit bestimmter Ereignistypen mit der Häufigkeit der Berichte über diese Ereignistypen vergleichen.9 Diese Verbindung von Darstellung und Dargestelltem ist vergleichsweise ungenau, dennoch besteht aufgrund der verfüg-
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baren Daten oft keine andere Möglichkeit. Liegt ein Ereigniskosmos vor, der alle einzelnen Ereignisse individuell verzeichnet,10 können die einzelnen Ereignisberichte einzelnen Ereignissen zugeordnet werden und umgekehrt (IndividualdatenAnalyse). Dadurch kann für jedes Ereignis nicht nur festgestellt werden, ob z. B. die Berichtshäufigkeit der Ereignishäufigkeit entspricht. Man kann zudem auch ermitteln, wer über ein bestimmtes Ereignis wie berichtet hat bzw. wer es nicht berichtet oder nur am Rande erwähnt hat. Auf diese Weise werden neben den Informationsleistungen auch Informationsdefizite sichtbar.
Publizistische Funktion von Ereignissen Alle Ereignisse sind Teile von Ereignisnetzen. Jedes Ereignis wird durch mindestens ein anderes verursacht und ruft selbst meist mehrere andere hervor. Theoretisch sind derartige Netze endlos, praktisch nehmen wir jedoch nur Teile davon wahr. Wir steigen an mehr oder weniger beliebigen Stellen in Ereignisnetze ein. Zudem nehmen wir in der Regel nur einen Teil des Geschehens wahr, den wir als zentralen Ereignisstrang betrachten. Hierbei handelt es sich um einen oft nur sehr begrenzten Ausschnitt aus dem Geschehen, der u. a. vom Kenntnisstand sowie vom Erkenntnis- oder Verwertungsinteresse der Betrachter bestimmt wird. Dies führt vor allem bei der Betrachtung negativer Ereignisse (Unglücke, Skandale usw.) zu erheblichen Unterschieden in der Sichtweise der beteiligten Akteure und der unbeteiligten Beobachter, zu denen meist auch die Journalisten gehören.11 Ereignisse, die die Aufmerksamkeit der Medien auf ein Geschehen lenken, bezeichnen wir als Auslöseereignisse. Sie wirken auf zwei Handlungsebenen ein auf die Ebene der Darstellung und auf die Ebene des Dargestellten. Auf der Darstellungsebene stimulieren sie Berichte, auf der Ebene des Dargestellten Folgeereignisse, die jedoch nicht notwendigerweise berichtet werden. Als Folgeereignisse bezeichnen wir Geschehnisse, die direkt durch Auslöseereignisse, d. h. ohne den Umweg über die Berichterstattung darüber, verursacht werden. Beide sind Elemente der Ebene des Dargestellten. Weil Auslöseereignisse die Aufmerksamkeit auf einen Ausschnitt des Geschehens lenken, besitzen sie eine publizistische Funktion, die andere Ereignisse nicht haben. Ein Beispiel hierfür ist ein Tankerunglück, über das die Medien berichten (Auslöseereignis), sowie die dadurch hervorgerufenen Umweltschäden und Sanierungsmaßnahmen (Folgeereignisse), die berichtet oder auch nicht berichtet werden können. Auslöseereignisse stehen als Ursache nicht tatsächlich am Anfang einer Ereigniskette, vielmehr erscheint uns dies vielfach nur so, weil wir ihre Ursachen
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nicht oder nur unzureichend kennen. Tatsächlich besitzen Auslöseereignisse selbst immer eigene Ursachen, die ihrerseits Ursachen haben, die lange in die Vergangenheit zurückreichen. Die Ursache des Tankerunglücks mag ein Unwetter auf See sowie die Trunkenheit des Kapitäns gewesen sein. Die Trunkenheit mag eine Folge aktueller Probleme im Privatleben des Kapitäns gewesen sein, die ihrerseits eine lange Vorgeschichte haben können usw. Auslöseereignisse lenken nicht nur den Blick auf das folgende, sondern auch auf das vorangegangene Geschehen hier das Privatleben des Kapitäns. Besonders deutlich ist dies bei Skandalisierungen von Personen und Organisationen, die eine Sogwirkung entwickeln, in die immer mehr frühere und entlegene Ereignisse und Aspekte einbezogen werden. Sie werden instrumentell intentional und zweckgerichtet aktualisiert.12 Die Folgeereignisse, über die Medien berichten, sind in der Regel nicht die einzigen Konsequenzen der Auslöseereignisse. Vielmehr verursachen Auslöseereignisse meist zahlreiche andere Folgeereignisse, über die wir möglicherweise nie etwas erfahren, weil sie den Journalisten nicht bekannt wurden oder unerheblich erschienen. Möglicherweise gab es nach den bekannt gewordenen Umweltschäden Spätfolgen, die besondere Maßnahmen erforderten, von denen die Öffentlichkeit aber nichts erfuhr. Möglicherweise änderte die Reederei die Praxis ihrer Personalführung, möglicherweise installierte sie auf ihren Schiffen technische Warngeräte, möglicherweise führte sie neue Vorschriften zur Kursplanung ein usw. Die zentrale Handlungskette, die wir erfahren, stellt immer nur einen Ausschnitt aus dem gesamten Ereignisnetz dar. Dies ist ein Grund dafür, dass verschiedene Medien u. U. unterschiedliche Bilder von einem Geschehen zeichnen, ohne dass diese Bilder falsch sein müssen. In solchen Fällen geht es nicht um die Richtigkeit, sondern die Relevanz der Realitätsausschnitte für die Klärung des zentralen Problems. Dies wirft die hier nicht klärbare Frage auf, was man als zentrales Problem betrachtet. Abbildung 1 illustriert diesen Sachverhalt an dem skizzierten Beispiel. Die Massenmedien können theoretisch nur über Auslöseereignisse berichten oder auch Folgeereignisse melden. Im ersten Fall springt die Berichterstattung von einem zum nächsten isolierten Ereignis. Sie ist punktuell. Im zweiten Fall verfolgt sie eine Ereigniskette. Sie ist strukturell und besitzt eine größere Tiefenschärfe. Als Tiefenschärfe bezeichnen wir die Länge der Ereigniskette, die in der Berichterstattung erkennbar wird. Je größer die Tiefenschärfe der Berichterstattung ist, desto eher verfolgen die Medien die Entwicklung eines Geschehens. Je geringer sie ist, desto eher konzentrieren sie sich auf wechselnde Einzelereignisse. Im ersten Fall wird das Bild eines zusammenhängenden Geschehens, im zweiten Fall der Eindruck einer zusammenhanglosen Folge von Ereignissen vermit-
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Abbildung 1:
Publizistische Funktion von Ereignissen
Seitlicher Handlungsstrang A
Unwetter auf See
Zusammenstellung von Rettungsmannschaften
Schwierigkeiten beim Rettungseinsatz
Dominierender Handlungsstrang
Auslöseereignis Tankerunglück
Folgeereignis 1 Ölpest
Folgeereignis 2 Fischsterben
Seitlicher Handlungsstrang B
Betrunkener Kapitän
Festnahme des Kapitäns
Verhör des Kapitäns
telt. Normalerweise folgt die Berichterstattung der Massenmedien eingespielten Routinen. Diese Routinen werden durch Schlüsselereignisse wie z. B. schwere Erdbeben, katastrophale Unfälle oder schwere Verfehlungen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens außer Kraft gesetzt bzw. durch Routinen abgelöst, die die Berichterstattung über herausragende Ausnahmefälle steuern, so genannte Schlüsselereignisse. Als Schlüsselereignisse bezeichnen wir Geschehnisse, die zum Gegenstand einer außergewöhnlich intensiven Berichterstattung werden, wobei offen bleibt, ob dies auf dem besonderen Charakter der Ereignisse oder auf besonderen Umständen ihres Kontextes beruht. Sie müssen, weil nur so eine zirkuläre Argumentation vermieden werden kann, unabhängig von der folgenden Berichterstattung über ähnliche und thematisch verwandte Ereignisse bestimmt werden. Ähnliche Ereignisse gehören zur gleichen Ereignisklasse wie Schlüsselereignisse z. B. zu den Erdbeben, zu den Verkehrsunfällen usw. Thematisch verwandte Ereignisse sind Ereignisse, die in einem thematischen Zusammenhang mit Schlüsselereignissen stehen, jedoch nicht der gleichen Ereignisklasse angehören z. B. Forderungen nach besseren Hilfsmaßnahmen anlässlich von Erdbeben, nach Geschwindigkeitsbegrenzungen anlässlich von Unfällen usw.13 Schlüsselereignisse stellen eine besondere Form von Auslöseereignissen dar, weil sie Berichte auslösen und Folgeereignisse verursachen. Anders als normale Auslöseereignisse verändern sie jedoch zusätzlich die Routinen der Berichterstattung. 74
Schlüsselereignisse fokussieren die Aufmerksamkeit des Publikums auf ein bestimmtes Geschehen und wecken das Interesse an zusätzlichen Informationen. Sie fokussieren mit gleichem Effekt die Aufmerksamkeit der Journalisten. Weil Informationen knapp sind, berichten diese nicht nur über die Schlüsselereignisse, sondern auch über ähnliche Ereignisse und thematisch verwandte Ereignisse, die ohne die Schlüsselereignisse nicht beachtet worden wären. Schlüsselereignisse stimulieren zudem Aktivitäten von Interessengruppen, die eine Chance sehen, jetzt beachtet zu werden. Die Folge davon sind mediatisierte und inszenierte Ereignisse (vgl. dazu unten). Durch die skizzierten Wechselwirkungen entsteht auch dann der Eindruck, dass sich die Ereignisse häufen, wenn außer den Schlüselereignissen nichts Ungewöhnliches geschehen ist. Die Folge ist die gelegentlich begründete, häufig jedoch sachlich unbegründete Vorstellung einer EreignisSerie. Beispiele hierfür liefern die Berichterstattung über Betriebsstörungen nach einem Störfall bei der Hoechst AG am 22. Februar 1993,14 über AIDS nach der Bekantgabe der AIDS-Erkrankung von Rock Hudson am 7. Juli 1985, über Lastwagen-Unfälle nach dem schweren Tanklaster-Unglück in Herborn am 7. Juli 1987 und über Erdbeben nach dem Erdbeben in San Francisco am 17. Oktober 1989. In der Zeit vor und nach den drei zuletzt genannten Schlüsselereignissen (jeweils vier Wochen) war die Zahl der ähnlichen Ereignisse nahezu gleich. Die Zahl der Berichte über ähnliche und thematisch verwandte Ereignisse war jedoch danach wesentlich größer als zuvor.15
Journalistische Verarbeitung von Geschehnissen Aus journalistischer Sicht kann sich die Bedeutung des aktuellen Geschehens auf den konkreten Einzelfall beschränken oder darüber hinausweisen. Im ersten Fall wird ein Journalist nur diesen Einzelfall berichten z. B. einen Verkehrsunfall im zweiten Fall wird er anhand des Verkehrsunfalls eine allgemeine Problematik behandeln z. B. den Straßenzustand am Unfallort oder die zulässige Höchstgeschwindigkeit usw. Im ersten Fall sind der Anlass und der Gegenstand des Berichtes identisch, im zweiten Fall sind sie verschieden: Anlass ist der Unfall, Gegenstand ist die dadurch offensichtlich gewordene Thematik. Das gleiche Geschehen kann folglich journalistisch unterschiedlich verarbeitet werden, abhängig davon, wie ein Journalist in einer konkreten Situation den Vorfall sieht. Während die publizistische Funktion eines Ereignisses darin liegt, dass es berichtet wird, besteht seine journalistische Verarbeitung darin, wie es berichtet wird. Eine Grundlage für die Erfassung der journalistischen Verarbeitung von Ereignissen bietet die Unterscheidung von Berichtsanlass und Berichtsgegenstand.
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Als Berichtsanlass bezeichnen wir den (vermutlichen) Auslöser eines Beitrages. Ein solcher Anlass ist nur erkennbar, wenn es sich um ein Ereignis oder eine Stellungnahme handelt. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich definitionsgemäß um ein Thema. Als Berichtsgegenstand bezeichnen wir den inhaltlichen Schwerpunkt eines Beitrages. Dies ist entweder ein Ereignis, z. B. ein Verbrechen, oder ein Thema, z. B. Kriminalität. Theoretisch können auch Stellungnahmen zum Gegenstand eines Beitrags werden. In der Praxis kommen sehr tief gestaffelte Konstellationen von Stellungnahmen vor: Eine Stellungnahme von A, die den Berichtsanlass liefert, zu einer Stellungnahme von B zu einer Stellungnahme von C zu einem Thema D usw.16 Das Verhältnis von Berichtsanlass und Berichtsgegenstand kann man als einen weiteren Indikator für die Tiefenschärfe der Berichterstattung ansehen, der allerdings nicht beim Ereignis, sondern bei der Berichterstattung ansetzt: Je eher der Berichtsgegenstand vom Berichtsanlass verschieden ist, desto größer ist die Tiefenschärfe der Berichterstatung, weil die einzelnen Beiträge über den Zusammenhang zwischen verschiedenen Ereignissen bzw. zwischen Ereignissen und Themen informieren. Je eher beide zusammenfallen, desto geringer ist die Tiefenschärfe der Berichterstattung.17
Zum Verhältnis von publizistischer Funktion und journalistischer Verarbeitung Die publizistische Funktion von Ereignissen und ihre journalistische Verarbeitung sind theoretisch unabhängig voneinander: Ein Auslöseereignis bzw. Folgeereignis kann Berichtsanlass oder Berichtsgegenstand sein oder beides zugleich. Dies gilt auch umgekehrt: Berichtsgegenstand bzw. Berichtsanlass können sowohl Auslöse- als auch Folgeereignisse sein. Zwischen der publizistischen Funktion von Ereignissen und ihrer journalistischen Verarbeitung bestehen jedoch begrifflich fassbare, theoretisch und praktisch relevante Beziehungen. Falls ein Auslöseereignis Berichtsanlass und Berichtsgegenstand ist, sprechen wir von der Thematisierung eines Ereignisses es ist neu und wichtig. Falls ein Auslöseereignis zum Anlass für einen Beitrag über ein Folgeereignis wird, handelt es sich um die Ausweitung eines Themas in das thematisierte Geschehen werden als Nebenaspekte Folgeereignisse einbezogen. Hier und in den folgenden Fällen benutzen wir den Begriff Thema im Sinne des thematischen Bezugs eines Ereignisses. Falls ein Auslöseereignis zwar nicht der Anlass, aber der Gegenstand eines Berichtes ist, sprechen wir von Re-Thematisierung. Dies trift auch auf den Fall zu, dass ein Folgeereignis zum Anlass für einen Bericht über das dazugehörige
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Auslöseereignis wird. Der Unterschied zwischen den beiden Re-Thematisierungen besteht darin, dass einmal ein Folgeereignis (z. B. die Verhaftung eines Straftäters) und einmal ein Ereignis, das bisher nichts damit zu tun hatte, zum Berichtsanlass wird z. B. eine ähnliche Straftat. Die vermutlich wichtigste Form der Re-Thematisierung ist die Berichterstattung über historische Ereignisse anhand von Gedenk-, Geburts- und Todestagen. Falls ein Folgeereignis zugleich Berichtsanlass und Berichtsgegenstand ist, handelt es sich um die Eskalation eines Themas nun werden auch weitere Geschehnisse zum Anlass und Gegenstand von Berichten. Dies trifft auch auf den Fall zu, dass ein Folgeereignis zwar nicht den Anlass, aber den Gegenstand eines Berichtes bildet. Beide Fälle sind typisch für Skandale aller Art sowie für die Berichterstattung im Gefolge von Schlüsselereignissen. Sie führen zu einer Ausdifferenzierung der Thematik, indem immer mehr ähnliche und thematisch verwandte Ereignisse aufgegriffen werden. Abbildung 2 zeigt das Zusammenspiel der publizistischen Funktionen von Ereignissen und ihrer journalistischen Verarbeitung in einer 6-FelderTypologie. Abbildung 2:
Zusammenspiel der publizistischen Funktionen und der journalistischen Verarbeitung von Ereignissen Journalistische Verarbeitung von Ereignissen
Publizistische Funktion von Ereignissen
Nur Berichtsgegenstand
Nur Berichtsanlass
Berichtsanlass und Berichtsgegenstand
Auslöseereignis Re-Thematisierung eines Ereignisses
Ausweitung eines Themas
Thematisierung eines Ereignisses
Folgeereignis
Re-Thematisierung eines Ereignisses
Eskalation eines Themas
Eskalation eines Themas
Ursachen von Ereignissen Die Entstehung und der Verlauf von Ereignissen werden mehr oder weniger stark von Menschen beeinflusst. Falls Menschen eine Rolle spielen, geschieht dies mit oder ohne Blick auf die Medien. Aufgrund dieser Sachverhalte kann man drei Klassen von Ereignissen unterscheiden genuine, mediatisierte und inszenierte.18 77
Als genuine Ereignisse bezeichnen wir Geschehnisse, die unabhängig von der Berichterstattung der Massenmedien geschehen. Ihre Ursachen liegen ausschließlich oder nahezu ausschließlich auf der Ereignisebene. Beispiele hierfür sind Erdbeben, Unfälle und natürliche Todesfälle. Als mediatisierte Ereignisse bezeichnen wir Geschehnisse, die zwar vermutlich auch ohne die zu erwartende Berichterstattung passuert wären, wegen ihr aber einen spezifischen, mediengerechten Charakter erhalten. Ihre Ursachen liegen sowohl auf der Ereignis- als auch auf der Berichtsebene. Beispiele hierfür sind die Olympischen Spiele in neuerer Zeit oder die meisten Bilanz-Pressekonferenzen von Aktiengesellschaften. Als inszenierte Ereignisse bezeichnen wir Geschehnisse, die eigens zum Zwecke der Berichterstattung herbeigeführt werden und folglich ohne die erwartete Berichterstattung nicht eintreten würden. Ihre Ursachen liegen ausschließlich oder nahezu ausschließlich auf der Berichtsebene. Beispiele hierfür sind die meisten Pressekonferenzen von Regierungen, Parteien und Unternehmen. Allerdings handelt es sich auch bei zahlreichen Demonstrationen, Warnstreiks und Terrorakten um Ereignisse, die vorwiegend für die Medien inszeniert werden. Abbildung 3 illustriert die Position der genuinen, mediatisierten und inszenierten Ereignisse auf bzw. zwischen den beiden eingangs unterschiedenen Handlungsebenen. Dabei ist zu beachten, dass jedes dieser (genuinen, mediatisierten, inszenierten) Ereignisse ein Auslöse- oder Folgeereignis, bzw. ein Berichtsanlass oder Berichtsgegenstand sein kann. Die Ursachen der Ereignisse werden m. a. W. von 19 ihrer publizistischen Funktion und journalistischen Verarbeitung unterschieden. Abbildung 3, die man sowohl typologisch als auch historisch lesen kann, stellt diesen Sachverhalt dar. Die unterste Ebene charakterisiert den ursprünglichen Zustand: Das beobachtbare Geschehen bestand aus genuinen Ereignissen Massenmedien gab es noch nicht, oder sie waren für den Ablauf des Geschehens irrelevant. Die zweitunterste Ebene charakterisiert den Zustand, seit die Ereignisse an den Bedürfnissen der Massenmedien ausgerichtet werden: Das Geschehen ist z. T. mediatisiert worden, seine Ursachen liegen folglich jetzt häufig in der ursprünglichen Ereignisebene und in der neuen Berichtsebene. Dabei wirkt sich sowohl der Eindruck vergangener Beiträge als auch die Erwartung zukünftiger Berichte auf das Geschehen aus. Die drittunterste Ebene charakterisiert den darauf folgenden Zustand: Die Ereignisse werden z. T. eigens für die Medien inszeniert. Die Ursachen dieser Ereignisse liegen in der vergangenen und erwarteten Berichterstattung. Ohne sie würden die Ereignisse nicht geschehen. Die Berichterstattung selbst löst sich damit im Verlauf dieser Entwicklung inhaltlich immer mehr von jener ursprünglichen Ereignisebene, von der alles seinen Ausgang genommen hat. Sie wird im Extremfall autonom. Ihre Inhalte werden nicht mehr von einer medienunabhängigen Realität vorgegeben. Die berichtete Realität und
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Abbildung 3:
Ursachen genuiner, mediatisierter und inszenierter Ereignisse
Berichtsebene
inszeniertes Ereignis
mediatisiertes Ereignis genuines Ereignis Ereignisebene
Ereignisse / Dargestelltes
Wirkung vergangener Ereignisse / Berichte
Berichte / Darstellung
Wirkung antizipierter Berichte
ihre Darstellung bilden vielmehr ein selbstreferentielles System, das sich von seiner Umwelt abgekoppelt hat. Die hier skizzierte Entwicklung besitzt erhebliche Konsequenzen für den Begriff der Medienwirkung sowie für die Medienwirkungsforschung. Üblicherweise betrachten wir als Wirkung der Medien ihren Einfluss auf die Masse der Leser, Hörer und Zuschauer. Diese Sichtweise ist sachlich nur dann angemessen, wenn man annimmt, dass sich das berichtete Geschehen unabhängig von der Berichterstattung ereignet. Danach sind die Ereignisse selbst und alle ihre Eigenschaften vorgegeben. Sie sind die unabhängige Variable. Die Berichterstattung ist dagegen eine abhängige Variable. Diese Vorstellung trifft offensichtlich immer seltener zu. Die Ereignisse und ihre Eigenschaften sind z. T. eine abhängige Variable geworden. Sie sind abhängig von der vergangenen und zukünftigen Berichterstattung.20 Folglich besteht die Wirkung der Medien auch in ihrem Einfluss auf die Entstehung dessen, worüber sie berichten. Zu denken ist dabei u. a. an Entscheidungen von Politikern, Unternehmern, Künstlern, Sportlern usw., die mit Blick auf die Medien getroffen werden. Hierbei handelt es sich zwar nur um wenige Personen. Diese Medienwirkungen erstrecken sich demnach nur auf einen 79
relativ kleinen Kreis. Die Entscheidungen der Wenigen besitzen jedoch möglicherweise einen bedeutsameren Einfluss auf Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport als die Meinungs- und Verhaltensänderungen der Masse der Leser, Hörer und Zuschauer. Dieser Sachverhalt ist weithin bekannt, wird jedoch von der Medienwirkungsforschung bisher praktisch kaum zur Kenntnis genommen. Deshalb verfehlt die Medienwirkungsforschung einen erheblichen Teil der Medienwirkungen.
Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag wurden analytische Kategorien entwickelt, mit denen die Verschränkung von dargestelltem gesellschaftlichen Verhalten und medialer Darstellung beschrieben werden kann. Im ersten Schritt wurden drei Objekte der Berichterstattung definiert. Dazu wurden Ereignisse im engeren Sinn, Stellungnahme und Thema definiert und operationalisiert. Bei den Ereignissen wurde im weiteren Verlauf zwischen ähnlichen und thematisch verwandten Ereignissen unterschieden. Im zweiten Schritt wurde die publizistische Funktion von Ereignissen dargestellt. Dazu wurden Auslöse- und Folgeereignisse unterschieden. Auslöseereignisse bilden ein Scharnier zwischen der Ereignis- und der Berichtsebene. Ein Spezialfall sind Schlüsselereignise, die die Berichtsroutinen ändern. Im dritten Schritt wurde die journalistische Verarbeitung des Geschehens aufgezeigt. Dazu wurden Berichtsanlässe und Berichtsgegenstände unterschieden. Berichtsanlässe sind ein Scharnier zwischem dem aktuellen Geschehen und ihrer fallübergreifenden Bedeutung. Im vierten Schritt wurden die medialen Ursachen der Ereignisse expliziert. Dazu wurden genuine, mediatisierte und inszenierte Ereignisse unterschieden. Mithilfe der publizistischen Funktion der Ereignisse und ihrer journalistischen Verarbeitung wurde eine fünfte analytische Konzeption operationalisiert, die Tiefenschärfe der Berichterstattung. Die Begriffe werfen eine Reihe von Fragen auf, die hier nicht diskutiert werden können, aber zumindest erwähnt werden sollen:
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Unterscheidet sich die Tiefenschärfe der Berichterstattung verschiedener Mediengattungen? Hängt die Tiefenschärfe der Berichterstattung vom Thema ab?
Welche Rolle spielen mediatisierte und inszenierte Ereignisse in der Berichterstattung verschiedener Mediengattungen? Gibt es Zusammenhänge zwischen den Themen der Berichterstattung und den Ursachen der berichteten Ereignisse? Handelt es sich hierbei um medien- und zeitunabhängige Konstanten oder sind sie variabel? Hat sich das Verhältnis der publizistischen Funktionen von Ereignissen und ihrer journalistischen Verarbeitung im Laufe der Zeit geändert? Gibt es ungeachtet der manifesten und entsprechend bekannten Erinnerung an historische Ereignisse heute generell mehr Re-Thematisierungen als früher? Eskaliert die Berichterstattung z. B. über große Unglücke und schwere Verbrechen heute häufiger als früher, weil Folgeereignisse eher zum Anlass und Gegenstand weiterer Berichte werden? Welche Rolle spielen dabei Nachrichtenagenturen und andere Datenquellen? Welche Bedeutung besitzen unterschiedliche Publikationspraktiken der verschiedenen Mediengattungen für das Bild vom aktuellen Geschehen, das die Leser, Hörer und Zuschauer erhalten? Haben sich diese Praktiken im Laufe der Zeit etwa unter dem Einfluss neuer Wettbewerbssituationen geändert und wie könnten sich die derart vermittelten Bilder vom aktuellen Geschehen auf die Realitätsvorstellungen und Verhaltenstendenzen langfristig ausgewirkt haben bzw. auswirken?
Folgerungen Den Ausgangspunkt der Studie bildete eine publizistikwissenschaftliche Fragestellung. Aus den begrifflich theoretischen Überlegungen kann man eine allgemein gesellschaftstheoretische Folgerung ableiten: Die Realität und ihre Darstellung bilden ein rückgekoppeltes System. Je länger derartige Systeme operieren, desto größer wird der Anteil der berichteten Realität, der selbst bereits Wirkung von Berichterstattung ist, und desto größer wird der Anteil der mediatisierten und inszenierten Ereignisse am berichtenswerten Geschehen. Der durch Menschen verursachte Überbau emanzipiert sich immer mehr von der durch die Natur vorgegebenen Basis. Die dargestellte Welt ist folglich eine Folge der Darstellung der Welt. Die vergangene Darstellung gibt zudem die Perspektive vor, aus der das aktuelle Geschehen dargestellt wird. Der Grund hierfür liegt in der wachsenden Bedeutung von mediengespeisten Archiven aller Art, die für die journalis-
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tische Interpretation des aktuellen Geschehens herangezogen werden. Dieser zirkuläre Prozess findet in ähnlicher Weise auch bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Nachrichten statt: Die Mehrzahl der Leser, Hörer und Zuschauer interpretiert das aktuelle Geschehen, über das die Medien berichten, auf der Basis ihrer Vorstellung von vergangenen Ereignissen, die sie ihrerseits überwiegend aus den Medien kennen.21 Der Zusammenhang von Ereignis Darstellung Wahrnehmung Handlung wird in Folge der skizzierten Entwicklung immer mehr durch seine Binnenstruktur das Mediensystem und immer weniger durch seine Umwelt das aktuelle Geschehen gesteuert. Zwar inszenieren die gesellschaftlichen Akteure mit wachsendem Erfolg Ereignisse für die Medien, um sie für ihre Zwecke einzusetzen. Hierbei handelt es sich jedoch um einen Pyrrhussieg, weil ihr Erfolg bei den Medien darauf beruht, dass sie sich den Erfolgsbedingungen der Medien unterwerfen. Dies manifestiert sich vor allem in der Politik, in der der Erfolg bei den Medien längst wichtiger ist als der Erfolg bei der Parteibasis die Entscheidung der SPD für Gerhard Schröder und gegen Oskar Lafontaine als Kanzlerkandidaten und die Blitzkarriere von Angela Merkel sind nur zwei von zahlreichen Belegen für diese Entwicklung. Die Eigengesetzlichkeit der Medien überlagert dadurch zunehmend die Eigengesetzlichkeit der gesellschaftlichen Teilsysteme, die auf die Resonanz der Medien angewiesen sind.
1 Hans Mathias Kepplinger / Rouwen Bastian: Der prognostische Gehalt der NachrichtenwertTheorie. In: Publizistik 45 (2000) S. 462-475. 2 Vgl. dazu den Beitrag Die Konstruktion der Ölkrise 1973/74. In diesem Band, S. 153-176. 3 Vgl. z. B. Elisabeth Noelle-Neumann / Rainer Mathes: The Event as Eventand the Event as News. The Significance of Consonance for Media Effects Research. In: European Journal of Communication 2 (1987) S. 391-414; Günter Bentele: Objektivität und Glaubwürdigkeit von Medien. Eine theoretische und empirische Studie zum Verhältnis von Realität und Medienrealität. Unveröffentl. Habilitationsschrift, Freie Universität Berlin, 1988, S. 313-411. 4 Vgl. Jürgen Wilke: Die Rethematisierung von Zeitgeschichte in den Massenmedien. In: Stephan Kronenburg / Horst Schichtel (Hrsg.): Die Aktualität der Geschichte. Historische Orientierung in der Mediengesellschaft. Siegfried Quandt zum 60. Geburtstag. Gießen 1996, S. 175-192. 5 Hans Mathias Kepplinger: Politiker als Stars. In: Werner Faulstich / Helmut Korte (Hrsg.): Der Star. Geschichte Rezeption Bedeutung. München 1997, S. 176-194. 6 Mark Fishman: News and Nonevents. Making the Invisible Visible. In: James S. Ettema / D. Charles Whitney (Hrsg.): Individuals in Mass Media Organizations. Creativity and Constraint. Beverly Hills, London 1982, S. 219-240; Joachim F. Staab: Nachrichtenwert-Theorie. Formale Struktur und empirischer Gehalt. Freiburg i. Br. 1990, S. 100-106.
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7 Vgl. Karl E. Rosengren: International News: Intra and Extra Media Data. In: Acta Sociologica 13 (1970) S. 96-109; Ders.: International News: Methods, Data and Theory. In: Journal of Peace Research 11 (1974) S. 145-156. 8 Vgl. dazu Hans Mathias Kepplinger: Die aktuelle Berichterstattung des Hörfunks. Eine Inhaltsanalyse der Abendnachrichten und politischen Magazine. Freiburg i. Br. 1985. 9 Vgl. Stefanie Best: Der Intra-Extra-Media-Vergleich. Ein wenig genutztes Analyseinstrument und seine methodischen Anforderungen. Ein Beitrag zur Nachrichtenwert-Theorie. In: Publizistik 45 (2000) S. 51-69. 10 Vgl. Harvey Molotch / Marilyn Lester: Accidential News: The Great Oil Spill as Local Occurrence and National Event. In: American Journal of Sociology 81 (1975) S. 235-260; Hans Mathias Kepplinger: Die aktuelle Berichterstattung des Hörfunks, a. a. O.; Hans Mathias Kepplinger / Uwe Hartung: Die Lokal- und Regionalberichterstattung des Hörfunks und der Presse in Rheinland-Pfalz II. Rheinhessen und Raum Koblenz/Montabaur. Baden-Baden 1999. 11 Hans Mathias Kepplinger / Simone C. Ehmig / Uwe Hartung: Alltägliche Skandale. Eine repräsentative Analyse regionaler Fälle. Konstanz 2002, S. 43-56. 12 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Hans-Bernd Brosius / Joachim F. Staab / Günter Linke: Instrumentelle Aktualisierung. Grundlagen einer Theorie publizistischer Konflikte. In: Max Kaase / Winfried Schulz (Hrsg.): Massenkomunikation. Theorien, Methoden, Befunde. Opladen 1989, S. 199220; Hans Mathias Kepplinger / Peter Eps / Frank Esser / Dietmar Gattwinkel: Am Pranger. Der Fall Späth und der Fall Stolpe. In: Wolfgang Donsbach et al. (Hrsg.): Beziehungsspiele Medien und Politik in der öffentlichen Diskussion. Gütersloh 1993, S. 159-220. 13 Vgl. dazu den Beitrag Die Konstruktion von Ereignisserien nach Schlüsselereignissen. In diesem Band, S. 85-98. 14 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Uwe Hartung: Störfall-Fieber. Wie ein Unfall zum Schlüsselereignis einer Unfallserie wird. Freiburg i. Br. 1995. 15 Vgl. dazu den Beitrag Die Konstruktion von Ereignisserien nach Schlüsselereignissen. In diesem Band, S. 85-98. 16 Vgl. Detlef Schröter: Qualität im Journalismus. Testfall: Unternehmensberichterstattung in Printmedien. München 1992; Silke Adam: Medieninhalte aus der Netzwerkperspektive. Neue Erkenntnisse durch die Kombination von Inhalts- und Netzwerkanalyse. Publizistik 53 (2008) S. 180-199. 17 Vgl. hierzu Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg i. Br. 1998, S. 164-173. 18 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Ereignismanagement. Wirklichkeit und Massenmedien. Zürich 1992, S. 51-52. 19 Theoretisch kann man auch genuine, mediatisierte und inszenierte Stellungnahmen unterscheiden. Praktisch ist dies jedoch aus zwei Gründen kaum sinnvoll. Der erste Grund besteht darin, dass vor allem die Abgrenzung zwischen mediatisierten und inszenierten Stellungnahmen kaum möglich ist. Der zweite Grund besteht darin, dass eine solche Differenzierung sachlich nicht aussagekräftig ist, weil eine Zunahme von Stellungnahmen unabhängig von ihren Ursachen einen hinreichenden Indikator für die Mediatisierung des Geschehens darstellt. Dies trifft auf Ereignisse im engeren Sinn nicht zu. Deshalb werden nur Ursachen dieser Ereignisse in der oben skizzierten Weise erfasst. 20 Vgl. hierzu den Beitrag: Reziproke Effekte. In: Hans Mathias Kepplinger: Medieneffekte. Wiesbaden 2010, S. 135-153. 21 Vgl. auch den Beitrag: Verarbeitung von Fernsehnachrichten. In: Hans Mathias Kepplinger: Medieneffekte. Wiesbaden 2010, S. 85-104 .
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Die Konstruktion von Ereignisserien nach Schlüsselereignissen
Am 22. Februar 1993 entwichen aus einem Druckkessel der Hoechst AG 12 Tonnen eines Gemischs aus ortho-Nitroanisol und anderen Substanzen. Ein Teil ging über einem Wohngebiet und einem Kleingartenareal nieder. Im Werk selbst, wo große Mengen lagen, ließ die Hoechst AG das Gemisch durch Arbeiter in Ganzkörper-Schutzanzügen beseitigen, den Menschen draußen riet sie, den Belag mit Wasser zu entfernen, was bei Journalisten erste Zweifel an seiner Ungefährlichkeit hervorrief. Als bekannt wurde, dass das als mindergiftig bezeichnete ortho-Nitroanisol im Verdacht steht, krebserregend zu sein, brach eine Flut von Presse-, Hörfunk- und Fernsehberichten über den Unfall sowie über 17 weitere Betriebsstörungen los, die den Eindruck vermittelte, bei der Hoechst AG habe sich eine einmalige Störfall-Serie ereignet. Die meisten Experten aus verschiedenen Bereichen Unternehmen, Politik, Verwaltung und Journalismus hielten diese Vermutung für falsch. Sie waren der Ansicht, dass die Hoechst AG nach dem erwähnten Störfall auch kleinste Vorfälle an die Öffentlichkeit weitergab und die Medien auch Vorfälle meldeten, die sie normalerweise nie beachtet hätten. Die Experten sahen damit auch wenn sie dies anders formulierten in dem Störfall ein Schlüsselereignis, das das Verhalten der Beteiligten verändert und dadurch den irreführenden Eindruck einer Ereignis-Serie vermittelt hatte.1 Ähnliche Zusammenhänge belegt eine wegweisende Studie zur Berichterstattung über spektakuläre Verbrechen,2 ohne dass sie den Einfluss von Schlüsselereignissen auf die Berichterstattung schlüssig beweist. Hierfür müssen fünf Bedingungen gegeben sein, die dort nicht erfüllt werden.
Begriffliche und methodische Voraussetzungen Die Existenz eines Schlüsselereignisses muss erstens unabhängig nachgewiesen und nicht nur aus den vermuteten Folgewirkungen erschlossen werden. Ein Indikator für die Existenz eines Schlüsselereignisses sind ungewöhnlich viele Berichte über ein genau definiertes Geschehen. Die Voraussetzung ist im Vergleich zur
H. M. Kepplinger, Realitätskonstruktionen, DOI 10.1007/978-3-531-92780-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Normalberichterstattung mindestens die doppelte Zahl an Beiträgen. Als Schlüsselereignis bezeichnen wir spektakuläre Ereignisse, die umfangreich berichtet werden bzw. spektakuläre Berichte über mehr oder weniger übliche Ereignisse. Ob es sich um ein Schlüsselereignis handelt, hängt demnach weniger vom Charakter des Ereignisses als von der Intensität der Berichterstattung ab. Die Berichte über das Schlüsselereignis müssen zweitens von den Berichten über ähnliche Ereignisse unterschieden werden. Ähnliche Ereignisse sind Geschehnisse der gleichen Klasse von Ereignissen, z. B. andere Erdbeben nach einem Erdbeben. Nur wenn man die Schlüsselereignisse von ähnlichen Ereignissen unterscheidet, kann man den Einfluss der Berichterstattung über das Schlüsselereignis auf die Darstellung ähnlicher Ereignisse erkennen und feststellen, ob die Medien nach Schlüsselereignissen auch häufiger über ähnliche Ereignisse berichten. Drittens müssen externe Daten über die Häufigkeit der fraglichen Klasse von Ereignissen vorliegen z. B. der Erdbeben vor und nach dem Schlüsselereignis. Diese Daten müssen unabhängig von der Medienberichterstattung ermittelt worden sein und die tatsächliche Entwicklung genauer erfassen als die Medienberichte. Nur so kann man prüfen, ob die Medien nach Schlüsselereignissen ähnliche Ereignisse eher aufgreifen als vorher.3 Viertens muss sichergestellt sein, dass ähnliche Ereignisse, die nach dem Schlüsselereignis geschehen, keine Folge der vorangegangenen Berichterstattung sind. Es muss sich mit anderen Worten um genuine Ereignisse handeln.4 Andernfalls kann man den Einfluss der Schlüsselereignisse auf die Berichterstattung über ähnliche Ereignisse nicht von ihrem Einfluss auf die Entstehung solcher Ereignisse unterscheiden, die ihrerseits zum Anlass von Berichten werden. Fünftens müssen ähnliche Ereignisse von thematisch verwandten Ereignissen unterschieden werden. Thematisch verwandte Ereignisse sind Geschehnisse, die in einem sachlichen Zusammenhang mit dem Schlüsselereignis stehen, jedoch nicht der gleichen Klasse von Ereignissen angehören in unserem Beispiel etwa Forderungen nach der Verbesserung von Erdbebenprognosen. Die thematisch verwandten Ereignisse werden häufig durch das Schlüsselereignis bzw. die Berichterstattung hervorgerufen oder zumindest beeinflusst. Es handelt sich mit anderen Worten um inszenierte oder mediatisierte Ereignisse, die zum Zwecke der Berichterstattung herbeigeführt bzw. den Bedürfnissen der Medien angepasst werden.5 Die ähnlichen und die thematisch verwandten Ereignisse gehören zu einem Thema, das durch ein Schlüsselereignis etabliert wurde. Ein Thema bilden folglich alle Ereignisse, die in einem sachlichen Zusammenhang zum Schlüsselereignis stehen bzw. so gesehen werden.
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Theoretische Annahmen Schlüsselereignisse setzen Rückkoppelungsprozesse in Gang, die sich so lange selbst verstärken, bis andere Ereignisse die Aufmerksamkeit fesseln oder das Interesse von selbst erlahmt. Dadurch nimmt die Berichterstattung über ähnliche Ereignisse auch dann zu, wenn sich diese Ereignisse in der Realität nicht häufen. Dabei besteht eine Beziehung zwischen der Intensität der Berichterstattung über das Schlüsselereignis und der Intensität der Folgeberichterstattung: Je intensiver die Medien über ein Schlüsselereignis berichten, desto intensiver ist die Folgeberichterstattung. Im Verlauf dieser Rückkoppelungsprozesse kann man Effekte auf vier Personenkategorien unterscheiden. Erstens, Schlüsselereignisse (a) fokussieren die Aufmerksamkeit der Leser, Hörer und Zuschauer auf ein bestimmtes Geschehen, (b) lassen es bedeutsam erscheinen und (c) wecken das Interesse an zusätzlichen Informationen.6 Zweitens, sie (a) fokussieren die Aufmerksamkeit der Journalisten. Dies hat die gleichen Folgen wie bei Lesern, Hörern und Zuschauern. Zudem (b) wecken sie bei Journalisten die Vermutung, dass das Publikum weitere Informationen verlangt. Weil derartige Informationen knapp sind, berichten sie nicht nur über die Schlüsselereignisse selbst, sondern auch über (c) ähnliche Ereignisse, die ohne das Schlüsselereignis nicht beachtet worden wären, (d) ähnliche Ereignisse aus früheren Zeiten sowie (e) thematisch verwandte Geschehnisse. Dies vermittelt auch dann den Eindruck, dass sich die Ereignisse häufen, wenn außer dem Schlüsselereignis nichts Ungewöhnliches geschehen ist. Drittens, sie stimulieren Aktivitäten von Interessengruppen, die eine Chance sehen, dass ihre Anliegen von den Massenmedien beachtet werden, weil sie zum etablierten Thema passen. Die Folge sind (a) mediatisierte und (b) inszenierte Ereignisse.7 Viertens, die von den Schlüsselereignissen initiierte Entwicklung übt einen Entscheidungsdruck auf Verantwortliche in Politik, Wirtschaft, Verwaltung usw. aus.8 Sie reagieren dabei u. U. auf Forderungen, die auf fiktiven Entwicklungen beruhen. Die Folge sind Entscheidungen, die möglicherweise sinnvoll, durch die aktuelle Ereignislage jedoch nicht gerechtfertigt sind.
Anlage der Untersuchung Für die folgende Analyse wurden drei Ereignisse identifiziert, die den Anforderungen an Schlüsselereignisse gerecht werden das Tanklasterunglück in Herborn am 7. Juli 1987, das Erdbeben in San Francisco am 17. Oktober 1989 und die Bekanntgabe der AIDS-Erkrankung von Rock Hudson am 7. Juli 1985. Die Ereignisse sind von thematisch verwandten Geschehnissen (z. B. Forderungen
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nach schnellerer Hilfe für Erdbebenopfer) klar unterscheidbar. Die Häufigkeit ähnlicher Ereignisse (Verkehrsunfälle, Erdbeben, AIDS) ist aus externen Quellen bekannt9 und es handelt sich um genuine Ereignisse, d. h. sie wurden nicht durch die Berichterstattung hervorgerufen. In den vier Wochen nach dem TanklasterUnfall gab es etwas weniger Verkehrsunfälle mit etwas weniger Verkehrstoten als in den vier Wochen vorher.10 In den vier Wochen vor dem Erdbeben in Kalifornien ereigneten sich weltweit vier Erdbeben ohne Tote, in den vier Wochen nach dem Schlüsselereignis gab es drei Erdbeben mit 53 Toten. In den vier Wochen vor der Mitteilung, dass Rock Hudson an AIDS leidet, wurden in Deutschland 23 neue HIV-Infektionen und 13 AIDS-Tote gemeldet, in den vier Wochen nach dem Schlüsselereignis waren es 20 neue HIV-Infektionen und 11 Tote (Tabelle 1).11 Tabelle 1: Anzahl der ähnlichen (genuinen) Ereignisse vier Wochen vor und nach den Schlüsselereignissen Vorher n
Nachher n
Veränderung n
Verkehr Unfälle
49.325
47.432
-1.893
702
649
-53
Anzahl
4
3
-1
Tote
0
53
+53
Infektionen
23
20
-3
Tote
13
11
-2
Tote Erdbeben
AIDS
Quellen: Statistisches Bundesamt (Verkehrsunfälle); Schadensbericht der Münchener Rückversicherung (Erdbeben); AIDS-Zentrum des Bundesgesundheitsamtes (AIDS).
Erfasst wurden alle Beiträge in sechs Tageszeitungen und vier Wochenblättern vier Wochen vor und vier Wochen nach den drei erwähnten Ereignissen.12 Die untersuchten Blätter veröffentlichten über die erwähnten Ereignisse 201 Beiträge.13 Am häufigsten berichteten sie mit 100 Beiträgen über den Tanklasterunfall. Allerdings fanden auch das Erdbeben in San Francisco (67 Beiträge) und die AIDS-Erkrankung von Rock Hudson (34 Beiträge) eine intensive Beachtung.
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Damit kann man alle drei Ereignisse als Schlüsselereignisse betrachten.14 Weil über den Tanklasterunfall erheblich mehr berichtet wurde, hat dieses Schlüsselereignis die nachfolgende Berichterstattung vermutlich am stärksten beeinflusst. Die folgende Analyse beruht auf einem quasi-experimentellen Vergleich der Berichterstattung vor und nach den Schlüsselereignissen. Die Schlüsselereignisse werden als experimentelle Stimuli betrachtet und aus der Analyse herausgenommen. Gegenstand der Analyse ist folglich nur die Berichterstattung über die drei Themen vor und nach dem jeweiligen Schlüsselereignis ohne die Berichte über die Schlüsselereignisse selbst. Ziel der Analyse ist eine Antwort auf die Frage, ob und wie die Schlüsselereignisse die nachfolgende Berichterstattung veränderten.
Ergebnisse Gesamtberichterstattung Die untersuchten Zeitungen und Zeitschriften haben in den vier Wochen nach dem Schlüsselereignis etwa vier- bis sechsmal so viele Beiträge über Verkehrsunfälle (297 vs. 82), AIDS (133 vs. 25) und Erbeben (121 vs. 19) veröffentlicht als in den vier Wochen vorher. Darin eingeschlossen sind die Beiträge über die Schlüsselereignisse. Dieses Ergebnis ist trivial und bildet nur den Hintergrund für die folgende Analyse, aus der die Beiträge über die Schlüsselereignisse herausgenommen werden.
Berichterstattung über ähnliche und thematisch verwandte Ereignisse Gegenstand der folgenden Analyse sind nur noch die Beiträge über ähnliche und thematisch verwandte Ereignisse. Nicht mehr beachtet werden die Beiträge über die Schlüsselereignisse selbst. Nach den Schlüsselereignissen sind nahezu doppelt so viele Beiträge über ähnliche (genuine) Ereignisse erschienen also andere Verkehrsunfälle, AIDS-Fälle und Erdbeben (183 vs. 82). Zudem haben die Blätter deutlich mehr Beiträge über thematisch verwandte (mediatisierte und inszenierte) Ereignisse veröffentlicht (77 vs. 4), also z. B. Forderungen nach schärferen Sicherheitskontrollen von Lastwagen, nach mehr AIDS-Forschung und nach mehr Vorsorge gegen Erdbebenschäden. Die Zunahme erfolgte mit unterschiedlicher Intensität bei allen drei Themen und war erwartungsgemäß nach dem Tanklaster-Unfall am stärksten (Abbildung 1).
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Abbildung 1:
Berichterstattung über ähnliche (genuine) und thematisch verwandte (mediatisierte/inszenierte) Ereignisse Anzahl der Beiträge ohne Schlüsselereignisse
113 61 Verkehrsunfälle
34
3
18
46 Erdbeben AIDS
2
19 19
0
5
0 1
Vor den Schlüsselereignissen Ähnliche Ereignisse
3
Unklar
24
35
32
40
Nach den Schlüsselereignissen Thematisch verwandte Ereignisse
Basis: Alle Beiträge vier Wochen vor und vier Wochen nach den Schlüsselereignissen, die nicht das Schlüsselereignis selbst als Berichterstattungsanlass hatten.
Die verstärkte Berichterstattung über ähnliche (genuine) Ereignisse stand in einem Fall den Verkehrsunfällen im eindeutigen Widerspruch zur tatsächlichen Entwicklung. Auch in einem weiteren Fall AIDS wird man die tatsächliche Entwicklung kaum als Ursache der erheblich größeren Anzahl von Berichten betrachten dürfen. Im dritten Fall den Erdbeben kann man möglicherweise die größere Zahl der Erdbebenopfer als Ursache der größeren Zahl von Berichten ansehen. Allerdings ist dies nicht zwingend, weil die Zahl der Erdbeben und darum geht es in den Beiträgen etwas geringer war. Zudem gibt es für den Anstieg der Beiträge über Erdbeben nach dem Schlüsselereignis wie man sehen wird eine andere Erklärung.
Instrumentelle Aktualisierung früherer Ereignisse Wieso konnten die Zeitungen und Zeitschriften nach den Schlüsselereignissen häufiger über ähnliche Ereignisse Verkehrsunfälle, AIDS-Fälle und Erdbeben
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berichten, obwohl deren Zahl eher zurückgegangen war? In der folgenden Analyse geht es zunächst um die Zahl der Beiträge, danach um die Zahl der darin berichteten Ereignisse. Die Blätter haben etwas häufiger als vorher über neue Ereignisse berichtet. Dies betraf AIDS-Fälle (7 vs. 2) und Erdbeben (18 vs. 17). Sie haben jedoch weniger über neue Verkehrsunfälle (41 vs. 61) berichtet. In zwei Fällen haben sie folglich neue Ereignisse stärker als zuvor beachtet. Dies erklärt jedoch die starke Zunahme der Berichte über genuine Ereignisse nicht. Hierfür ist ein Blick auf die Berichterstattung über zurückliegende ähnliche Ereignisse erforderlich. Die untersuchten Blätter haben nach allen drei Schlüsselereignissen häufiger als zuvor über Ereignisse berichtet, die längere Zeit zurücklagen. Sie publizierten 12 Beiträge über AIDS-Opfer, die bereits vor der Bekanntgabe von Rock Hudsons AIDS-Erkrankung gestorben waren, 21 Beiträge über Verkehrsunfälle vor dem Herborner Unglück sowie 35 Beiträge über Erdbeben vor dem Beben in Kalifornien. Nach den Schlüsselereignissen haben insgesamt 37 Prozent aller Beiträge ähnliche Ereignisse aus der Vergangenheit thematisiert. Vorher kam dies kaum vor. Die Blätter haben nach den Schlüsselereignissen nicht nur mehr Beiträge über zurückliegende ähnliche Ereignisse gebracht. Sie haben darin auch mehr Ereignisse aus der Vergangenheit erwähnt als früher. Sie haben über 17 AIDS-Erkrankungen, 64 Erbeben und 72 ähnlichen Verkehrsunfällen aus der Vergangenheit berichtet. Damit kann man feststellen: Während sich die Blätter vor den Schlüsselereignissen fast nicht mit der Vergangenheit befasst haben, haben sie das nach den Schlüsselereignissen äußerst intensiv getan. Sie haben frühere Geschehnisse instrumentell aktualisiert,15 also Ereignisse aufgegriffen, die zuvor nicht beachtet worden waren, jetzt aber in den etablierten Kontext passten (Abbildung 2).
Assimilierung ähnlicher Ereignisse Die Schlüsselereignisse und ähnliche Ereignisse gehören per definitionem zur gleichen Ereignisklasse. Trotzdem kann man verschiedene Stufen der Ähnlichkeit unterscheiden. Die AIDS-Erkrankung eines Prominenten ähnelt z. B. der AIDSErkrankung Rock Hudsons mehr als die AIDS-Erkrankung eines Unbekannten. Die Ähnlichkeit der Ereignisse zu den Schlüsselereignissen wurde mit einer vierstufigen Skala eingeschätzt. Die folgenden Aussagen beziehen sich nur auf die sehr ähnlichen Ereignisse (höchste Skalenstufe). Vermutlich sind vor und nach den drei Schlüsselereignissen etwa gleich viele Ereignisse geschehen, die den Schlüsselereignissen sehr ähnlich waren. Über diese Ereignisse haben die unter-
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Abbildung 2:
Berichterstattung über zurückliegende ähnliche (genuine) Ereignisse Anzahl der Beiträge und Anzahl der erwähnten Ereignisse (ohne Schlüsselereignisse)
72
21 64 Verkehrsunfälle
0
0
35 Erdbeben AIDS
0
2
2 0
Vor den Schlüsselereignissen Beiträge*
12
17
Nach den Schlüsselereignissen
Ereignisse**
* Alle Beiträge mit mindestens einem ähnlichen (genuinen) Ereignis, das vor dem jeweiligen Schlüsselereignis passierte. ** Anzahl der in den Beträgen erwähnten ähnlichen (genuinen) Ereignisse, die vor dem jeweiligen Schlüsselereignis passierten.
suchten Blätter aber vor den Schlüsselereignissen nur selten berichtet. Möglicherweise haben sie auch nur die Aspekte, die den Schlüsselereignissen sehr ähnlich waren, nicht erwähnt: Nahezu alle Verkehrsunfälle, Erdbeben und AIDSFälle, über die die Blätter vor den Schlüsselereignissen berichtet haben, besaßen jedenfalls nur eine geringe Ähnlichkeit mit den Schlüsselereignissen. Nach den Schlüsselereignissen haben die Blätter dagegen häufig über Ereignisse berichtet, die den Schlüsselereignissen sehr ähnlich waren, bzw. sie haben jene Aspekte hervorgehoben, die sie als sehr ähnlich erscheinen ließen.16 Hierbei handelte es sich um Berichte über andere Unfälle von Tanklastzügen und Lastwagen mit anderen Gefahrengütern, über andere Erdbeben in Kalifornien sowie über vergleichbare Erdbeben an anderen Orten und über AIDS-Fälle im Showbusiness oder persönlichen Umfeld von Rock Hudson. Auch dieser Wandel hat sich sowohl in der Zahl der Berichte über sehr ähnliche Ereignisse als auch in der Häufigkeit der erwähnten Ereignisse niedergeschlagen, also der Häufigkeit des berichteten Geschehens. Die Berichterstattung hat dadurch den wahrscheinlich irreführenden Eindruck vermittelt, dass sich die sehr ähnlichen Ereignisse gehäuft haben (Abbildung 3). 92
Abbildung 3:
Berichterstattung über genuine Ereignisse, die dem Schlüsselereignis sehr ähnlich waren Anzahl der Beiträge und Anzahl der erwähnten Ereignisse (ohne Schlüsselereignisse)
136 65 Verkehrsunfälle
10
10 91
6
Erdbeben AIDS
0
6 7
0
Vor den Schlüsselereignissen Beiträge*
59
7
Nach den Schlüsselereignissen
Ereignisse**
* Alle Beiträge, in denen mindestens ein sehr ähnliches (genuines) Ereignis genannt wird auch wenn dieses Ereignis nicht der Berichtsanlass war. ** Anzahl sehr ähnlicher (genuiner) Ereignisse, die in allen erfassten Beiträgen erwähnt wurden.
Eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Blätter zeigt, dass nicht alle Medien auf die Schlüsselereignisse in gleicher Weise reagiert haben. Die Schlüsselereignisse haben auf die Berichterstattung der Tageszeitungen einen wesentlich größeren Einfluss gehabt als auf die Berichterstattung der Wochenblätter, was vor allem auf die Erscheinungshäufigkeit zurückzuführen ist. Allerdings hat es auch deutliche Unterschiede zwischen den Tageszeitungen gegeben. Die Schlüsselereignisse hatten auf die Berichterstattung von Bild (+ 41 Beiträge), der Allgemeinen Zeitung Mainz (+ 40), der Stuttgarter Zeitung (+ 35), der Abendzeitung (+34), einen großen, auf die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung (+ 24) einen mittleren und auf die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (+ 17) einen relativ geringen Einfluss. Verallgemeinernd kann man damit feststellen: Die Schlüsselereignisse besaßen auf die Berichterstattung der Qualitätszeitungen nur einen relativ geringen, auf die Berichterstattung der regionalen Abonnementzeitungen und vor allem der Straßenverkaufszeitung einen relativ großen Einfluss.
93
Komposition der Gesamtberichterstattung über die drei Themen Auf der Grundlage der vorliegenden Daten kann man den Anteil ermitteln, den die Berichterstattung über verschiedene Typen von Ereignissen an der Entstehung der Berichtswellen hatten. Hierbei geht es nicht mehr um den Vergleich der Perioden vor und nach den Schlüsselereignissen, sondern nur um die Zusammensetzung der Berichterstattung im Anschluss daran. Deshalb werden hier auch die Beiträge über die Schlüsselereignisse berücksichtigt. Zwischen 26 und 55 Prozent der Beiträge nach den Schlüsselereignissen gingen auf die Schlüsselereignisse selbst zurück. Zwischen 18 und 41 Prozent sind auf ähnliche (genuine) Ereignisse zurückzuführen. Darin sind vergangene und aktuelle Ereignisse enthalten. Zwischen sechs und 56 Prozent beruhten auf thematisch verwandten (mediatisierten/inszenierten) Ereignissen. Die großen Unterschiede zwischen den drei Themen zeigen, dass das Bedürfnis nach zusätzlichen Informationen, das die Schlüsselereignisse geweckt hatten, auf unterschiedliche Weise befriedigt wurde. Dabei spielte die Verfügbarkeit der Informationen eine wesentliche Rolle: Je mehr dramatische Informationen über das Schlüsselereignis selbst vorlagen, desto eher konzentrierte sich die Berichterstattung auf das Schlüsselereignis (Erbeben mehr als Verkehrsunfälle, Verkehrsunfälle mehr als AIDS). Standen viele aktuelle ähnliche Ereignisse zur Verfügung, hatte die Berichterstattung eher neue als alte ähnliche Ereignisse zum Gegenstand (Verkehrsunfälle mehr als AIDS und Erdbeben). Je mehr Reaktionen von Interessengruppen verfügbar waren, desto eher konzentrierte sich die Berichterstattung auf mediatisierte und inszenierte Ereignisse (AIDS mehr als Verkehrsunfälle, Verkehrsunfälle mehr als Erdbeben) (Abbildung 4). Zusammenfassung und Folgerung Die wichtigsten Ergebnisse kann man in acht Feststellungen zusammenfassen: 1.
2.
94
Die Bekanntgabe der AIDS-Erkrankung von Rock Hudson 1985, das Tanklasterunglück von Herborn 1987 und das Erdbeben in San Francisco 1989 waren gemessen an der Anzahl der Medienbeiträge darüber Schlüsselereignisse. In den vier Wochen nach den Schlüsselereignissen wurden nicht mehr, sondern etwas weniger AIDS-Erkrankungen, schwere Verkehrsunfälle und Erdbeben bekannt als in den vier Wochen vorher. Es hat nicht mehr, sondern weniger Verkehrstote gegeben, allerdings sind bei Erdbeben mehr Menschen gestorben.
Abbildung 4:
Zusammensetzung der Berichterstattung nach den Schlüsselereignissen Anteil der Beiträge in Prozent Verkehrsunfälle
Erdbeben
AIDS
6 24 8
29
56
9 33 55 36
n=279
9 9 26
n=121
n=133
Schlüsselereignisse Aktuelle ähnliche (genuine) Ereignisse Frühere ähnliche (genuine) Ereignisse Thematisch verwandte (mediatisierte/inszenierte Ereignisse)
3.
4.
5.
6.
Die untersuchten Zeitungen und Zeitschriften haben in den vier Wochen nach den Schlüsselereignissen intensiv über die Schlüsselereignisse, ähnliche Ereignisse und thematisch verwandte Ereignisse berichtet. Die Gesamtintensität der Berichterstattung war umso größer, je intensiver die Blätter über die Schlüsselereignisse berichtet hatten. Die untersuchen Zeitungen und Zeitschriften haben in den vier Wochen nach den Schlüsselereignissen erheblich mehr Beiträge über ähnliche und thematisch verwandte Ereignisse veröffentlicht als in den vier Wochen vorher. Nicht darin eingeschlossen sind die Berichte über die Schlüsselereignisse selbst. Sie haben in den vier Wochen nach den Schlüsselereignissen mehr Beiträge über zurückliegende ähnliche Ereignisse veröffentlich, und sie haben darin besonders häufig frühere Ereignisse erwähnt. Nicht darin eingeschlossen sind die Berichte über die Schlüsselereignisse selbst. Sie haben in den vier Wochen nach den Schlüsselereignissen wesentlich mehr Beiträge über sehr ähnliche Ereignisse veröffentlicht als vorher, bzw. sie haben nachher besonders intensiv auf Ähnlichkeiten hingewiesen. Nicht darin eingeschlossen sind die Berichte über die Schlüsselereignisse selbst.
95
7.
8.
Die Schlüsselereignisse haben sich auf die Berichterstattung aller untersuchten Blätter ausgewirkt. Sie besaßen allerdings auf die Folgeberichterstattung der Tageszeitungen einen größeren Einfluss als auf die Berichterstattung der Wochenblätter. Der Inhalt der Gesamtberichterstattung nach den Schlüsselereignissen hing stark von der Art der Schlüsselereignisse bzw. den verfügbaren Informationen ab. Falls in den dem Schlüsselereignis folgenden Tagen viele Informationen dazu vorlagen (Erdbeben), haben sie sich auf das Schlüsselereignis konzentriert. Falls nicht so viele Informationen über das Schlüsselereignis vorlagen aber viele ähnliche Ereignisse geschehen sind (Verkehrsunfälle), haben sie intensiv über die aktuellen Ereignisse berichtet. Falls weder viele neue Informationen über das Schlüsselereignis noch über neue ähnliche Ereignisse vorlagen (AIDS), haben sie intensiv über thematisch verwandte Ereignisse berichtet.17
Aus den Feststellungen kann man vier Folgerungen ableiten: 1.
2.
3.
4.
96
Nach Schlüsselereignissen bildet die Berichterstattung über ähnliche vergangene Ereignisse ein funktionales Äquivalent für Informationen, mit denen die Medien das zuvor von ihnen geweckte Publikumsinteresse befriedigen. Schlüsselereignisse geben dem Geschehen eine spezifische Gestalt. Sie framen das Geschehen und wecken dadurch ein spezifisches Interesse. Deshalb werden in der Folgeberichterstattung andere Ereignisse in der Vergangenheit und Gegenwart den Schlüsselereignissen möglichst ähnlich gemacht und als Beleg für eine Ereignisserie publiziert. Nach Schlüsselereignissen vermittelt die Berichterstattung auch dann den Eindruck, dass sich eine ganze Serie ähnlicher Geschehnisse ereignet, wenn sich die Ereignisse nicht häufen. Die vermuteten Ereignisserien haben m. a. W. in Wirklichkeit nicht stattgefunden. Nach Schlüsselereignissen kann man von der Häufigkeit der Berichte nicht oder nur mit großen Vorbehalten auf die Häufigkeit der berichteten Ereignisse schließen. Dies trifft vor allem auf Ereignisserien zu, die man nach extremen Einzelfällen aufgrund der gehäuften Berichterstattung über Kindesmissbrauch, Vergewaltigungen, illegale Parteispenden und den Verkauf von nicht mehr verkehrsfähigen Lebensmitteln usw. vermuten kann.
1 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Uwe Hartung: Störfall-Fieber. Wie ein Unfall zum Schlüsselereignis einer Unfallserie wird. Freiburg i. Br. 1995, S. 11-49. 2 Vgl. Mark Fishman: Crime Waves as Ideology. In: Social Problems 25 (1978) S. 531-543. 3 Vgl. Karl Erik Rosengren: International News. Intra and Extra Media Data. In: Acta Sociologica 13 (1970) S. 96-109; Stefanie Best: Der Intra-Extra-Media-Vergleich Ein wenig genutztes Analyseinstrument und seine methodischen Anforderungen. Ein Beitrag zur Nachrichtenwert-Theorie. In: Publizistik 45 (2000) S. 51-69. 4 Vgl. den Beitrag Theorien der Nachrichtenauswahl als Theorien der Realität. In diesem Band, S. 47-65. 5 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Reziproke Effekte. In: Ders.: Medieneffekte. Wiesbaden 2010, S. 135-153. 6 Vgl. Maxwell E. McCombs / Donald L. Shaw: The Agenda-Setting Function of Mass Media. In: Public Opinion Quarterly 36 (1972) S. 176-187. 7 Vgl. Harvey Molotch / Marilyn Lester: News as Purposive Behavior: On the Strategic Use of Routine Events, Accidents, and Scandals. In: American Sociological Review 39 (1974) S. 101-112. 8 Vgl. David Protess et al.: The Impact of Investigative Reporting on Public Opinion and Policy Making. Targeting Toxic Waste. In: Public Opinion Quarterly 51 (1987) S. 166-185; David Protess et al.: The Journalism of Outrage. Investigative Reporting and Agenda Building in America. New York 1991. 9 Vgl. Statistisches Bundesamt: Straßenverkehrsunfälle und Unfallfolgen 1987 nach Tagesdatum. Wiesbaden 1990 (unveröffentlichtes Manuskript); Münchener Rückversicherung: Schadenbeben 1989. München 1990 (unveröffentlichtes Manuskript); AIDS-Zentrum im Bundesgesundheitsamt: Gemeldete AIDS-Fälle und AIDS-Todesfälle in der Bundesrepublik Deutschland. Verteilung nach Registrierdatum. Berlin 1992 (unveröffentlichtes Manuskript). 10 Die Zahl der Tanklaster-Unfälle bzw. der Unfälle von Lastwagen allgemein wird in Deutschland statistisch nicht gesondert erfasst. Als Indikator für die tatsächliche Häufigkeit der Unfälle dienten deshalb die Gesamtzahl aller Verkehrsunfälle in einem Zeitraum vier Wochen vor und vier Wochen nach dem Schlüsselereignis sowie die Zahl der Verkehrstoten. 11 Im gleichen Zeitraum dürfte die Zahl der HIV-Infektionen und AIDS-Toten weltweit gestiegen sein. Allerdings wird man nicht annehmen können, dass es in der kurzen Zeit eine sprunghafte Zunahme gab. 12 Untersucht wurden Bild, Abendzeitung, Allgemeine Zeitung Mainz, Stuttgarter Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Aktuelle, Bild der Frau, Stern, Der Spiegel. 13 Über die Erkrankung von Rock Hudson erschienen bereits vor ihrer Bekanntgabe drei spekulative Artikel. Sie sind in den 201 Beiträgen nach dem Schlüsselereignis nicht enthalten. 14 Über den Tod von Rock Hudson erschienen 30 entsprechende Beiträge. Beide Ereignisse bildeten damit Schlüsselereignisse. Analysiert wurde die Berichterstattung nach beiden Schlüsselereignissen. Da die Ergebnisse sehr ähnlich sind, wird hier nur die Berichterstattung nach dem ersten Schlüsselereignis dargestellt. 15 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Hans-Bernd Brosius / Joachim Friedrich Staab / Günter Linke: Instrumentelle Aktualisierung. Grundlagen einer Theorie publizistischer Konflikte. In: Max Kaase / Winfried Schulz (Hrsg.): Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde. Opladen 1989, S. 199-220. 16 Vgl. hierzu auch Kurt Lang / Gladys Engel Lang: The Unique Perspective of Television and its Effect: A Pilot Study. In: American Sociological Review 18 (1953) S. 3-12; James D. Halloran / Philip Elliott / Graham Murdock: Demonstrations and Communication. A Case Study. Harmondsworth 1970.
97
17 In der Terminologie der Nachrichtenwert-Theorie kann man formulieren: Schlüsselereignisse vergrößern den Nachrichtenwert des Nachrichtenfaktors Thematisierung. Weil es sich bei Schlüsselereignissen meist um überraschende Extremereignisse handelt, wächst der Nachrichtenwert des erwähnten Nachrichtenfaktors dann, wenn er kombiniert mit den Faktoren Konflikt, Kriminalität, Erfolg oder Schaden in extremer Ausprägung vorliegt.
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Der Umgang der Medien mit Ungewissheit
Nachrichten heißen Nachrichten, weil man sich danach richten kann. Dies ist nur möglich, wenn die Nachrichten richtig sind. Das gilt in gleicher Weise für Berichte und Reportagen, die deshalb nicht mehr eigens erwähnt werden. Vermutlich sind fast alle Nachrichten richtig. Die meisten der richtigen Nachrichten haben jedoch für das Verhalten der meisten Menschen keine praktische Relevanz. Ein kleiner Teil von ihnen besitzt sie aber durchaus. Das gilt vor allem für Nachrichten, die individuelle Chancen und Risiken anzeigen beispielsweise die Größe des Jackpots beim Lotto und die Entdeckung von Gammelfleisch. Erfahrungsgemäß beeinflussen solche Nachrichten das Verhalten von vielen Menschen. Die Richtigkeit dieser Nachrichten ist allerdings keine hinreichende Voraussetzung dafür, dass man daraus rationale Folgerungen ableiten kann. Beispielsweise sinkt nach Berichten über die Größe des Jackpots aufgrund der wachsenden Zahl der Wetter die Wahrscheinlichkeit des Gewinns der Gesamtsumme. Der Rückgang ist zwar nicht groß, aber bemerkenswert. Wenn dies allen klar wäre, würden manche möglicherweise nicht wetten. Nach Berichten über die Entdeckung von Gammelfleisch essen viele Menschen auch dann kein Fleisch mehr, wenn dazu kein Anlass besteht, weil es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Einzelfall handelt. Wenn sie dies wüssten, würden vermutlich viele ihre Essgewohnheiten nicht ändern. Es genügt folglich nicht, dass Nachrichten richtig sind, damit man sein Verhalten sachgerecht danach richten kann. Sie müssen auch alle verhaltensrelevanten Informationen enthalten. Dies wirft die Frage auf, ob und inwieweit bei Berichten über Chancen und Risiken diese Bedingung gegeben ist.
Formen der Ungewissheit Die Risikoberichterstattung ist nur ein kleiner Teil eines größeren Problems des generellen Umgangs der Medien mit Unsicherheit. Ein Beispiel liefert die Meldung: Die Hypo Real Estate (HRE) stand 2008 kurz vor dem Bankrott. Sie enthält zwei implizite Wahrscheinlichkeitsaussagen. Die erste lautet: Es ist sicher, dass der berichtete Zustand bestanden hat. Die zweite lautet: Die Information über den Zustand trifft mit Sicherheit zu. Dies muss jedoch nicht so sein.
H. M. Kepplinger, Realitätskonstruktionen, DOI 10.1007/978-3-531-92780-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Man kann eine unsichere Meldung über das gleiche Ereignis verbreiten: Es spricht viel dafür, dass die HRE 2008 kurz vor dem Bankrott stand. Man kann auch eine sichere Aussage über ein Ereignis machen, für das nur eine große Wahrscheinlichkeit spricht: Die Kreditbürgschaft der Bundesregierung garantiert die Marktfähigkeit der HRE. Schließlich kann man eine unsichere Aussage über ein unsicheres Ereignis treffen: Ob die Kreditbürgschaft der Bundesregierung die Marktfähigkeit der HRE sichert, ist offen. Die Beispiele zeigen, dass selbst einfache Nachrichten implizit immer zwei Wahrscheinlichkeitsaussagen enthalten eine über die Existenz des Sachverhaltes und eine über die Richtigkeit der Information. Deutlich wird dies bei Aussagen über zukünftige Entwicklungen, im Prinzip gilt es jedoch, wie jeder Historiker weiß, auch für Aussagen über die Vergangenheit und Gegenwart. Unterscheidet man jeweils drei Klassen von Wahrscheinlichkeiten, ergibt dies folgende Typologie der Darstellung und des Dargestellten (Abbildung 1). Abbildung 1:
Typologie der (implizierten) Wahrscheinlichkeit der Darstellung und des Dargestellten Richtigkeit von Existenzbehauptungen
Existenz des Sachverhaltes / Ereignisses
sicher
möglich
ausgeschlossen
I
II
III
möglich
IV
V
VI
ausgeschlossen
VII
VIII
IX
sicher
Bei den meisten Meldungen handelt es sich vermutlich um richtige Nachrichten vom Typ I: Sie lassen keinen Zweifel daran, dass sich das berichtete Geschehen tatsächlich ereignet hat oder ereignen wird. Nachrichten vom Typ IX gibt es vermutlich nur als Lachnummern in Satiren: Sie enthalten erkennbar falsche Informationen über ein Geschehen, das sich offensichtlich nicht ereignet hat oder ereignen wird. Beide Typen sind für die hier behandelte Thematik nicht direkt relevant und werden deshalb zunächst nicht weiter beachtet. Dies gilt auch für die beiden Arten von Falschmeldungen (Typen VII und III) die sichere Behauptung eines Ereignisses, das nicht stattgefunden hat und die sichere Leugnung eines Ereignisses, das geschehen ist. Auch sie werden vorläufig vernachlässigt. Direkt relevant für den Umgang der Medien mit Unsicherheit sind dagegen die Meldungen über Ereignisse, die möglich sind (Typen IV bis VI), sowie die
100
Meldungen, deren Informationen nur möglicherweise zutreffen (Typen II und VIII). Die Berichterstattung der Medien über das aktuelle Geschehen ist das Ergebnis einer hochgradigen Verdichtung von Informationen. Man wird von den Medien folglich nicht erwarten können, dass sie die Unsicherheit von Ereignisbehauptungen und von den behaupteten Ereignissen getrennt sichtbar machen. Allerdings wird man durchaus erwarten, dass sie Ungewissheiten auf die eine oder andere Weise verdeutlichen. Mit Blick auf die drei zuerst angesprochenen Fälle (Typen IV bis VI) stellt sich deshalb die Frage: Wie berichten die Medien über Ereignisse, die möglich sind? Sie besitzt aus den genannten Gründen zwei Aspekte. Erstens: Geben die Medien Hinweise darauf, wie wahrscheinlich ein Ereignis eingetreten ist oder eintreten wird? Zur Kennzeichnung der Wahrscheinlichkeit des Geschehens gibt es zahlreiche Möglichkeiten direkte quantitative Wahrscheinlichkeitsangaben (Die Regenwahrscheinlichkeit in Amsterdam beträgt 70 Prozent.), indirekte quantitative Wahrscheinlichkeitsangaben (In Deutschland starben 2005 auf Autobahnen 662 Menschen.) und allgemeine sprachliche Hinweise (In Deutschland gibt es in der chemischen Industrie selten Störfälle.). Zweitens: Geben die Medien Hinweise darauf, wie sicher sie sind, dass ihre Vermutungen zutreffen? Auch zur Kennzeichnung der Wahrscheinlichkeit von Existenzbehauptungen gibt es mehrere Möglichkeiten die Verwendung des Indikativs bzw. Konjunktivs (Temperatur steigt bzw. Temperatur könnte steigen), die Verwendung qualifizierender Hinweise (offensichtlich, eindeutig bzw. vermutlich, anscheinend), sowie Angaben zur Charakterisierung der Quellen (...aus sicherer Quelle bzw.
dem Vernehmen nach). Das Gleiche gilt analog auch für die als Typen II und VII gesondert angesprochenen Fälle. Zwischen den Informationen und dem Verhalten liegt immer eine Schlussfolgerung. Richten kann man sich nach Nachrichten deshalb nur, wenn die Journalisten (oder ihre Quellen) aus den vorhandenen Informationen handlungsrelevante Hinweise ableiten, oder wenn die Rezipienten solche Folgerungen selbst ziehen. Typisch für den ersten Fall sind Berichte über die mögliche Entwicklung von Krisen aller Art. Sie enthalten oft explizite Hinweise darauf, wie sich die Dinge möglicherweise entwickeln werden. Dadurch erübrigen sich Folgerungen der Rezipienten. Dieser Fall wird im Folgenden Zukunftsaussage genannt. Typisch für den zweiten Fall sind Meldungen über Erdbeben in einem Urlaubsgebiet. Sie enthalten oft nur Informationen über das bisherige Geschehen, aus denen die Rezipienten eigene Folgerungen ableiten können. Dieser Fall wird im Folgenden als Risikodarstellung bezeichnet. In beiden Fällen sind die Folgerungen mit Unsicherheit behaftet. Im ersten Fall liegt das Risiko eines Fehlschlusses bei den Kommunikatoren, im zweiten Fall bei den Rezipienten, die
101
aber in beiden Fällen die praktischen Konsequenzen solcher Fehlschlüsse zu tragen haben.
Risikodarstellungen Bei den oben genannten Beispielen (Jackpot / Gammelfleisch) handelt es sich um Chancen bzw. Risiken. Ihr Ausmaß hängt bekanntlich von der Größe des möglichen Nutzens bzw. Schadens und seiner Eintrittswahrscheinlichkeit ab. Wer die Größe einer Chance oder eines Risikos erkennen will, braucht folglich mindestens zwei Informationen. Praktisch benötigt er meistens wesentlich mehr Informationen: über das Gebiet, für das ein Risiko besteht (z. B. Deutschland), die relevante Periode (z. B. ein Jahr), den Personenkreis, der dem Risiko ausgesetzt ist (z. B. die Fleischesser).1 Wie stellen die Medien Risiken dar? Hinweise zur Beantwortung dieser Frage gibt eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung über Gefahren in amerikanischen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehprogrammen von Eleanor Singer und Phyllis M. Endreny. Danach enthielten 1960 und 1984 weniger als 10 Prozent aller Beiträge über Todesfälle Angaben darüber, wie viele Menschen pro Jahr den jeweiligen Todesursachen zum Opfer fielen. Informationen über die räumliche Ausdehnung der betroffenen Gebiete fanden sich in knapp einem Fünftel der Beiträge, Informationen über die Zahl der gefährdeten Menschen in ähnlich vielen. Weil man anhand der weitaus meisten Berichte die Größe der Risiken nicht erkennen kann, leiten die Autorinnen aus ihrer Untersuchung die Folgerung ab: Die Medien berichten nicht über Risiken. Sie berichten über Schadensfälle.2 Die Untersuchung von Singer und Endreny ist wie eine vergleichbare Studie über die Risikodarstellung in Deutschland thematisch sehr weit gefasst. 3 Den Gegenpol bilden Studien über einzigartige Fälle.4 Sie ermöglichen Aussagen über einen Großteil der Berichterstattung bzw. über extreme Ausnahmen, sagen aber nichts über die wiederkehrenden Krisenberichte aus, die die Bevölkerung nachhaltig bewegen. Ein Beispiel hierfür ist der BSE-Skandal hervorgerufen durch die Erkrankung von Rindern an einem tödlichen Gehirnleiden, das im Verdacht steht, ein beim Menschen ebenfalls tödliches Gehirnleiden (vCJK) zu verursachen. In England waren in den frühen 90er Jahren pro Jahr bis zu 35.000 Rinder an BSE erkrankt. Deutschland galt lange als BSE-frei. Das erste BSERind aus deutscher Zucht wurde am 24. November 2000 festgestellt. Am 6. Dezember wurde ein BSE-Schnelltest verbindlich angeordnet. Im gleichen Monat wurden in Deutschland sechs Rinder positiv getestet. Im folgenden Jahr waren es 125. Getestet wurden etwa 2,8 Millionen Rinder. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Rind an BSE litt, betrug folglich 1 / 22.400. Dies entspricht 0,004 Prozent
102
der Rinder.5 Die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung an CJK beträgt etwa 1 / 1.000.000. Demnach erkranken an CJK etwa 0,0001 Prozent der Bevölkerung. Geht man davon aus, dass der Verzehr von BSE-Fleisch die neue Form von CJK (vCJK) verursacht, ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich geringer. Sie liegt etwa zwischen 1 / 5.000.000 und 1 / 100.000.000.6 Das entspricht im ungünstigsten Fall 0,0005 Prozent derer, die BSE-Fleisch gegessen haben. Die deutschen Medien haben in den 90er Jahren nur relativ selten über BSE berichtet. Dies änderte sich schlagartig nach der Entdeckung des ersten BSERindes aus deutscher Züchtung.7 Bei einem Teil der folgenden Berichte handelte es sich um drastische Gefahrendarstellungen, die mit Ekel erregenden und Furcht einflößenden Bildern illustriert wurden. Da es hier nicht um die Mechanismen der Skandalisierung von Missständen geht, bleibt dies außer Betracht. Hier geht es um die Frage, ob die deutschen Zeitungen und Zeitschriften ihre Leser so informiert haben, dass sie sich ein begründetes Urteil über die Risiken von BSE und vCJK bilden konnten. Grundlage bildet eine quantitative Inhaltsanalyse der Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung, von Bild, Spiegel, Stern und Focus von Anfang Dezember 2000 bis Anfang April 2001. Erfasst wurden alle redaktionellen Beiträge über BSE, CJK und vCJK jeweils in der ersten vollständigen Woche der fünf angesprochenen Monate. Die Zugriffskriterien bildeten die erwähnten Begriffe sowie alle relevanten Alternativen (Rinderwahn, Creutzfeldt usw.). Ermittelt wurde u. a., ob die Beiträge Informationen über den Anteil der erkrankten an den getesteten Rindern, die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung der Rinder an BSE bzw. von Menschen an CJK oder vCJK enthielten. Die erwähnten Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten in den erfassten Wochen insgesamt 487 relevante Beiträge. Nahezu die Hälfte (48 Prozent) erschien in den Politikteilen, gefolgt von den Wirtschaftsteilen (17 Prozent) und den Regionalteilen (15 Prozent). Mit deutlichem Abstand folgten die Wissenschaftsteile (4 Prozent) und Feuilletons (4 Prozent). Bemerkenswert häufig handelte es sich bei den Beiträgen um Titelgeschichten der Magazine (3 Prozent). Der Rest entfiel auf andere Rubriken. Die folgenden Zahlenangaben lassen erkennen, dass eine Unterscheidung der einzelnen Quellen nicht sinnvoll ist. Sie werden deshalb zusammen ausgewiesen. Informationen über die Zahl der BSERinder in Deutschland enthielten 6 Prozent der Beiträge. Angaben über den Anteil der positiv getesteten Rinder fanden sich in 1 Prozent ihrer Beiträge. Informationen über die Zahl der in Deutschland registrierten Fälle von vCJK enthielt 1 Prozent der Beiträge. Angaben über die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung an vCJK durch den Verzehr von Rindfleisch in Deutschland fanden sich in 3 Prozent der Beiträge.8 Angesichts der wenigen Beiträge, die überhaupt Risikoinformationen enthielten, kann man die Frage vernachlässigen, ob sie dem damaligen
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Stand der Kenntnisse entsprachen. Stattdessen muss man feststellen, dass die genannten Blätter extrem selten jene Informationen publizierten, die ihre Leser für eine angemessene Beurteilung der Risiken benötigt hätten. Zu einem rationalem Urteil und entsprechenden Handlungskonsequenzen waren sie demnach kaum in der Lage.
Zukunftsaussagen Der Pressecodex verpflichtet in Ziffer 2 die Medien dazu, die zur Veröffentlichung bestimmten Informationen (
) mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen (
) als solche erkennbar zu machen. Wie sie dieser Verpflichtung gerecht werden, kann anhand der Berichterstattung über die ökologischen Schäden durch den 2. Golfkrieg (17. Januar 27. Februar 1991) geprüft werden. Dabei ging es vor allem um drei Themenblöcke die Dauer der Ölbrände in der Wüste, die Größe der Ölpest im Golf sowie um die Auswirkungen der Ölbrände auf das Weltklima. Im Rückblick kann man die wichtigsten Entwicklungen folgendermaßen rekonstruieren. Am 7. Februar meldete die kuwaitische Nachrichtenagentur, die Iraker hätten in Kuwait nahe der Grenze zu Saudi-Arabien 50 Bohrlöcher angezündet. Vermutlich sollte der schwarze Qualm die lasergesteuerten Panzerabwehrraketen der Alliierten daran hindern, ihre Ziele zu finden.9 Insgesamt brannten etwa 700 Ölquellen. Sobald die Bohrfelder von Minen geräumt waren, trafen Brandbekämpfer am Golf ein. Zunächst hatten amerikanische Firmen das Monopol für die Löscharbeiten. Nach einigen Wochen zeigte sich, dass die Amerikaner keine hinreichenden Erfolge hatten. Die Kuwaiter entschlossen sich deshalb, weitere Löschfirmen an den Golf zu holen, die im Spätsommer 1991 in Kuwait eintrafen. Durch den Einsatz von 27 Löschteams aus 10 Ländern konnten die letzten Ölfeuer am 6. November 1991 gelöscht werden.10 Die enormen Mengen an Ruß und CO2 ließen Befürchtungen aufkommen, dass die Brände zu einem kleinen nuklearen Winter führen und Auswirkungen auf das Weltklima haben könnten. Entsprechende Befürchtungen bestanden schon im Vorfeld des Krieges. Deshalb hatte die englische Regierung noch bevor die Ölquellen in Kuwait brannten eine Studie über mögliche Klimafolgen in Auftrag gegeben, die am 17. Januar veröffentlicht wurde.11 Zwei Monate später bestätigten Modellrechnungen des MaxPlanck-Instituts für Meteorologie in Hamburg die Ergebnisse dieser Studie. Im Juni 1991 nahm das Zentrum für Umweltforschung der Universität Frankfurt am Main per Flugzeug Messungen über Kuwait und angrenzenden Gebieten vor. Alle drei Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die Brände keinen dauerhaften
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Einfluss auf das Weltklima haben und der freiwerdende Ruß keinen nuklearen Winter verursachen würde. Auch eine Beeinflussung der Stratosphäre durch die Partikel wurde ausgeschlossen. Regionale Klimaeffekte erschienen unwahrscheinlich. Später wurde ein zeitweises regionales Absinken der Temperatur um maximal zwei Grad für möglich gehalten, das keine Auswirkungen auf den Monsun hätte. Im Gegensatz zu diesen relativ optimistischen Prognosen standen extrem pessimistische Vorhersagen einer Reihe von z. T. prominenten Klimaforschern, die eine schwere Schädigung des Weltklimas vorhersagten. 12 Am 25. Januar 1991 wurde ein riesiger Ölteppich vor der Küste Kuwaits entdeckt. Wenige Tage darauf bewegte sich ein ca. 900 km² großer Ölteppich langsam an der Küste entlang nach Südosten und bedrohte vor allem SaudiArabien.13 Über 700 km Küste waren mit einem Ölband bedeckt. Bis Mitte Juni 1991 war am Golf über eine Million Barrel Öl geborgen worden. In Karan wurden 14 000 m³ verseuchte Erde von der Küste entfernt und durch sauberen Sand ersetzt. Anzeichen für ein großflächiges Absinken des Öls wurden nicht gefunden. Trotz der Maßnahmen wurden von der Ölpest die Salzsümpfe und Mangroven erheblich geschädigt. Mehr als 30.000 Seetaucher und Kormorane starben durch das Öl. Eine große Zahl Watvögel wurde verseucht, von denen ein Teil gerettet werden konnte. Die Mehrzahl der Vögel verließ bei Ausbruch der Ölpest die Gebiete und konnte sich selbst retten. Seit Herbst 1992 siedelten sie sich wieder in den ehemals verseuchten Regionen an. 14 Die Fische in den betroffenen Gebieten des arabischen Golfes wiesen keine sichtbaren Schädigungen auf. Ein Jahr nach der Ölpest gab es keine Anzeichen dafür, dass in ungewöhnlichem Ausmaße Wale starben. Auch die Populationen der Delphine schienen nicht geschädigt worden zu sein.15 Die Medien konnten zum Zeitpunkt ihrer Berichterstattung nicht sicher wissen, wie lange es dauern würde, bis die Ölbrände gelöscht sein würden, welche ökologischen Folgen die Ölpest haben würde und welche Auswirkungen die Ölbrände auf das regionale Klima und auf das Weltklima besitzen würden. Es geht folglich nicht darum, ob sie die Entwicklung richtig oder falsch dargestellt haben. Es geht vielmehr darum, wie sie damit umgegangen sind, dass alle Zukunftsaussagen notwendigerweise unsicher waren. Diese Frage wird anhand der Berichterstattung des Spiegel und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die ökologischen Folgen des Golf-Krieges untersucht. Gegenstand der Analyse sind ausschließlich Aussagen über die Zukunft die ökologischen und klimatischen Folgen der Ölbrände und der Ölpest sowie die Dauer bis zur Beendigung der Ölbrände. Der Untersuchungszeitraum beginnt am 1. Januar und endet am 31. Dezember 1991. Der Spiegel veröffentlichte 168 relevante Zukunftsaussagen in 27 Beiträgen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung publizierte 297 Zukunftsaussagen in 133 Artikeln. Demnach fanden sich in den meist wesentlich längeren
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Spiegel-Beiträgen durchschnittlich sechs Zukunftsaussagen pro Artikel, in den kürzeren FAZ-Beiträgen dagegen nur zwei. Über die Hälfte aller FAZVorhersagen (53 Prozent) erschienen in Artikeln des Politik-Ressorts; die meisten Spiegel-Voraussagen (43 Prozent) befanden sich in Titel-Stories. Der weitaus größte Anteil der Spiegel-Vorhersagen (85 Prozent) und mehr als die Hälfte der FAZ-Voraussagen (54 Prozent) waren Teile von Hintergrundberichten. Jeweils zwei Drittel der thematisch relevanten Zukunftsaussagen (Frankfurter Allgemeine Zeitung: 65 Prozent; Spiegel: 66 Prozent) erschienen in Berichten, die sich fast ausschließlich mit der ökologischen Situation am Golf beschäftigten.16 Der Tenor der Zukunftsaussagen wurde mithilfe von fünfstufigen Skalen u. a. anhand der Behauptungen über den Grad der Zerstörung/Gefahr, die Dauer der Auswirkungen, die Möglichkeit der Schadensbegrenzung und die Anzahl der betroffenen Menschen ermittelt. Diese Ergebnisse sind im vorliegenden Zusammenhang nur als Hintergrundinformation relevant. Sie werden deshalb sehr knapp referiert.
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Über die Bekämpfung der Ölbrände veröffentlichte der Spiegel im Unterschied zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den beiden ersten Quartalen sehr negative Prognosen. Eine erfolgreiche Brandbekämpfung erschien in absehbarer Zeit nicht möglich. Im 3. Quartal verzichtete der Spiegel nahezu völlig auf Informationen über die Erfolgsaussichten der Löscharbeiten, im 4. Quartal schloss er sich der bereits von Beginn an relativ optimistischen Darstellung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an. Über die Auswirkungen der Ölbrände auf das Klima veröffentlichten die Frankfurter Allgemeine Zeitung und vor allem der Spiegel vom 1. bis zum 3. Quartal immer negativere Prognosen. Demnach schienen die Ölbrände das regionale Klima und das Weltklima ernsthaft zu bedrohen. Im 4. Quartal präsentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung ein deutlich anderes Bild. Nun hielten sich negative und positive Zukunftsaussagen die Waage. Der Spiegel blieb dagegen bei seinen sehr negativen Prognosen. Über die Entwicklung der Ölpest veröffentlichten die Frankfurter Allgemeine Zeitung und der Spiegel im 1. und 2. Quartal sehr negative Zukunftsaussagen. Demnach schien die Ölpest schwerwiegende und dauerhafte ökologische Schäden zu verursachen. Im 3. Quartal brachte die Frankfurter Allgemeine Zeitung überwiegend positive Prognosen, die eine baldige Beseitigung des Öls und seiner Folgen in Aussicht stellten, während der Spiegel 17 seine Berichterstattung über die Ölpest einstellte.
Die Sicherheit der einzelnen Zukunftsaussagen wurde mit einer fünfstufigen Skala ermittelt. Ihre Stufen waren mit definitiv sicher, überwiegend/eher sicher, ambivalent sichere und unsichere Elemente, überwiegend/eher unsicher und eindeutig unsicher beschriftet. In Zweifelsfällen wurde zur Klassifikation der Zukunftsaussagen ihr jeweiliger Kontext herangezogen. Als definitiv sicher wurden Aussagen klassifiziert, wenn die Prognosen keinerlei Zweifel oder Einschränkungen erkennen ließen. Ein Bespiel hierfür ist die Aussage Die Ernte wird ausbleiben, Millionen werden verhungern. Als definitiv unsicher wurden Aussagen angesehen, wenn dem zukünftigen Geschehen erkennbar nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit zugebilligt wird. Ein Beispiel hierfür ist die Formulierung Womöglich wird der Monsun ausbleiben, Millionen wären dann vom Hungertod bedroht. Nicht klassifizierbare bzw. ambivalente Zukunftsaussagen wurden gesondert erfasst. Für die folgende Darstellung werden die definitiv und überwiegend sicheren bzw. unsicheren Aussagen zusammengefasst. Angesichts des unsicheren Kenntnisstands könnte man annehmen, dass die beiden Blätter bei ihren Zukunftsaussagen in der Regel deutlich gemacht haben, dass das Eintreten der beschriebenen Entwicklungen ungewiss ist. Dies trifft jedoch nicht zu. In nahezu der Hälfte der Fälle (49 Prozent) erschien das Eintreten des Vorausgesagten als nahezu sicher. Nur ein Drittel (30 Prozent) der Zukunftsaussagen enthielt Hinweise darauf, dass die zukünftigen Entwicklungen auch ausbleiben könnten. Ein weiteres Viertel der Aussagen enthielt Hinweise sowohl auf die Unsicherheit als auch auf die Sicherheit des Vorhergesagten. Dabei bestanden erhebliche Unterschiede zwischen dem Spiegel und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Der Spiegel stellte seine Zukunftsaussagen meist als sicher dar, die Frankfurter Allgemeine Zeitung wies dagegen relativ häufig auf die Unsicherheit ihrer Prognosen hin (Tabelle 1). Tabelle 1: Sicherheit bzw. Unsicherheit der Zukunftsaussagen Spiegel (n=168) %
FAZ (n=297) %
überwiegend sicher
65
39
ambivalent
17
24
überwiegend unsicher
18
37
100
100
Summe
107
Die Zukunftsaussagen des Spiegel waren, wie oben erwähnt, pessimistischer als die Zukunftsaussagen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Beim Spiegel wiesen 79 Prozent, bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 64 Prozent einen eindeutig oder eingeschränkt negativen Tenor auf. Bedeutsamer als der Tenor der Zukunftsaussagen selbst ist jedoch ihre Präsentation. Beim Spiegel erschienen 50 Prozent aller pessimistischen Zukunftsaussagen als sicher, bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung waren es nur 30 Prozent. Die beiden Blätter charakterisierten folglich die zukünftigen Entwicklungen nicht nur inhaltlich unterschiedlich. Sie gingen dabei unterschiedlich mit der fragwürdigen Sicherheit von Zukunftsaussagen um: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellte die zukünftigen Entwicklungen relativ negativ dar, machte jedoch relativ oft deutlich, dass es sich hierbei um unsichere Vermutungen handelte. Der Spiegel beschrieb dagegen die weiteren Entwicklungen sehr pessimistisch und vermittelte dabei meist den Eindruck, die negativen Entwicklungen würden mit Sicherheit eintreten (Tabelle 2). Tabelle 2: Tenor und Sicherheit bzw. Unsicherheit der Zukunftsaussagen Spiegel Tenor
Entwicklung erscheint als... sicher
FAZ Tenor
optimistisch/ pessimistisch/ positiv negativ (n=34) (n=127) % %
optimistisch/ positiv (n=88) %
pessimistisch/ negativ (n=157) %
79
50
50
30
ambivalent
6
25
25
25
unsicher
15
25
25
45
Summe
100
100
100
100
Ein Großteil der Vorhersagen stammte von Experten. Als Experten werden hier Personen verstanden, die aufgrund ihrer fachlichen Spezialisierung oder durch ihren Tätigkeitsbereich Sachkenntnis über die Lage am Golf besaßen. In erster Linie waren dies Spezialisten aus Wissenschaft und Forschung, wie z. B. Atmosphärenchemiker, Meteorologen, Geophysiker, Biologen. Dazugerechnet wurden auch Personen, die sich durch praktische und technische Sachkompetenz auszeichneten, wie z. B. die Mitglieder der Löschtrupps. Auch Politiker, die durch ihre Tätigkeit spezielle Kenntnisse über die Zusammenhänge am Golf besaßen, werden hier zu den Experten gezählt. Die Hälfte (51 Prozent) der Vorhersagen 108
des Spiegel und mehr als ein Drittel (39 Prozent) der Vorhersagen der FAZ stammten von Experten. Der Spiegel berief sich dabei häufiger auf Experten aus dem Bereich Forschung und Wissenschaft, die Frankfurter Allgemeine Zeitung ließ mehr sachkompetente Personen aus dem politischen Bereich zu Wort kommen. Die redaktionelle Linie von Medien besitzt, wie Klaus Schönbach in seiner wegweisenden Studie über die Trennung von Nachricht und Meinung (1977) gezeigt hat, einen mehr oder weniger großen Einfluss auf die Nachrichtenauswahl. Überträgt man seine Überlegungen auf die Auswahl von Experten, kann man von einer instrumentellen Aktualisierung18 sprechen: Zu Wort kommen vor allem jene Experten, die die Linie der jeweiligen Medien vertreten. Dies traf auf die Prognosen des Spiegel über die ökologischen Folgen des Golfkrieges zu. In seiner Berichterstattung gab es einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Tenor der Journalisten- und der Experten-Aussagen: Jeweils drei Viertel und somit der Großteil der Vorhersagen der Journalisten (74 Prozent) und der Experten (78 Prozent) waren pessimistisch. Die Vorhersagen der Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung waren fast so oft negativ wie die Vorhersagen ihrer Kollegen vom Spiegel (60 Prozent). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte trotzdem ähnlich viele positive wie negative Vorhersagen von Experten (42 Prozent und 46 Prozent). Folglich bestand hier kein Zusammenhang zwischen dem Tenor der Journalisten- und der Experten-Aussagen (Tabelle 3). Tabelle 3: Tenor der Journalisten- und Experten-Prognosen Spiegel
FAZ
Journalisten (n=83) %
Experten (n=85) %
Journalisten (n=183) %
Experten (n=114) %
positiv/optimistisch
21
20
19
46
ambivalent
6
2
21
12
negativ/pessimistisch
74
78
60
42
101
100
100
100
Vorhersage
Summe
Journalisten können die Bedeutung der Experten und die Seriosität ihrer Aussagen durch die Charakterisierungen ihrer Kompetenz und Glaubwürdigkeit herauf- und herabsetzen. Ein Beispiel für die Betonung der Kompetenz von Exper109
ten liefert folgende Darstellung im Spiegel: Ein Funke oder ein Streichholz genügt, sagt Gary Kenney, Chef des Londoner Chemie-Beratungsunternehmens Cremer & Warner. Kenney weiß, wovon er redet. Er war zehn Jahre Sicherheitsbeauftragter des Ölgiganten Aramco in Saudi-Arabien. Die englische Regierung schätzte seine Erfahrungen so hoch ein, daß er in den Ausschuss berufen wurde, der 1988 die Explosion der Ölbohrplattform Piper Alpha in der Nordsee untersuchte (28.01.1991). Damit stellt sich die Frage, ob und wie die beiden Blätter die Kompetenz der von ihnen präsentierten Experten charakterisierten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung charakterisierte die von ihr zitierten oder referierten Experten so gut wie nie (3 Prozent der 114 Stellungnahmen). Ihre Darstellungsweise kann folglich hier vernachlässigt werden. Der Spiegel bewertete die von ihm präsentierten Experten dagegen relativ häufig (43 Prozent der 85 Stellungnahmen). Zwischen dem Tenor der vom Spiegel erwähnten Expertenaussagen und der wertenden Charakterisierung der Experten durch den Spiegel bestand ein deutlicher Zusammenhang: Die Zeitschrift stellte Experten, die sich pessimistisch über die weitere Entwicklung äußerten, relativ häufig, Experten, die sich optimistisch äußerten, dagegen nur relativ selten als bedeutende und glaubwürdige Fachleute vor (42 Prozent vs. 18 Prozent der jeweiligen Fälle). Der Spiegel instrumentalisierte folglich nicht nur Experten, die die dominierende Sichtweise des Blattes präsentieren, sondern stattete sie zusätzlich mit einer besonderen Glaubwürdigkeit aus, die die Sichtweise der Zeitschrift zu verbürgen schien. Zusammenfassend kann man feststellen, dass beide Blätter während und direkt nach dem Golfkrieg falsche Vorstellungen von den ökologischen Folgen der Zerstörungen präsentiert haben. In den folgenden Monaten unterschied sich die Berichterstattung der beiden Blätter aber deutlich. Der Spiegel blieb weitgehend bei seiner Darstellung, ließ seine Prognosen, die sich im Laufe der Zeit als falsch herausstellten, als gewiss erscheinen und brach die Berichterstattung über einzelne Aspekte, die nicht mehr haltbar waren, ab. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung machte von Beginn an deutlich, dass es sich bei den Zukunftsaussagen um unsichere Annahmen handelte und passte sie im Laufe der Zeit dem jeweiligen Kenntnisstand an. Die Berichterstattung des Spiegel über die ökologischen Folgen des Golfskrieges entsprach damit weitgehend dem Typ I der Typologie in Abbildung 1: Die Zeitschrift veröffentlichte in hohem Maße Informationen über die zukünftige Entwicklung, an deren Richtigkeit sie keinen Zweifel ließ und vermittelte dadurch den Eindruck, dass die vorhergesagte Entwicklung in jedem Fall eintreten würde. Falls die Berichterstattung des Spiegel einen Einfluss auf die Vorstellungen seiner Leser besessen hat, dann hat sie Wissensillusionen vermittelt: Die Leser haben etwas sicher zu wissen geglaubt, was sich ex post
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facto als falsch herausgestellt hat, ohne dass ihnen dies mit gleicher Intensität mitgeteilt wurde. Die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entsprach weitgehend dem Typ V: Die Zeitung veröffentlichte in hohem Maße Informationen über die zukünftigen Entwicklungen, deren Vorläufigkeit erkennbar war und vermittelte dadurch den Eindruck, dass die vorhergesagten Entwicklungen keineswegs sicher waren. Die unterschiedliche Darstellungsweise der zukünftigen Entwicklung dürfte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Unterschied zum Spiegel ihre Berichterstattung dem sich wandelnden Kenntnisstand anpassen konnte, ohne dadurch ihre frühere Berichterstattung zu desavouieren. Falls die Berichte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Einfluss auf die Vorstellungen ihrer Leser gehabt haben, dann hat es sich um kritische Einsichten gehandelt: Die Leser waren sich nicht sicher, dass sie wirklich wissen, wie sich die Dinge entwickeln würden, wussten aber am Ende relativ genau das, was man damals wissen konnte.
Erklärungsversuche Die Fallstudie zur Darstellung von Risiken (BSE) deutet darauf hin, dass alle Medien gleichermaßen versagt haben. Ob man diese Befunde verallgemeinern kann, müsste anhand einer breiteren Stichprobe überprüft werden. Die Fallstudie zur Darstellung von Prognosen deutet darauf hin, dass alle Medien Zukunftsaussagen nicht hinreichend als unsicher ausgewiesen haben. Auch diese Verallgemeinerung müsste anhand einer breiteren Stichprobe überprüft werden. Zugleich verweist die zweite Studie jedoch darauf, dass verschiedene Medien die Unsicherheit von Aussagen über zukünftige Entwicklungen in unterschiedlichem Maße verdeutlichen und damit auf die Ungewissheit der Entwicklungen selbst hingewiesen haben. Dieser Befund wird durch eine Analyse der Schweizer Presse gestützt, die ebenfalls einen generellen Mangel an gewissheitsreduzierenden Faktoren konstatiert und dabei deutliche Unterschiede in der Praxis einzelner Blätter ausweist.19 Bei den ermittelten Sachverhalten handelt es sich um Defizite der Berichterstattung: Die Medien sind in unterschiedlichem Maße ihrer Informationspflicht nicht gerecht geworden. Zum einen haben sie ihren Lesern nicht die Informationen gegeben, die sie benötigt hätten, um sich ein sachlich angemessenes Urteil über Risiken zu bilden, zum anderen haben sie den Eindruck einer Gewissheit über zukünftige Entwicklungen vermittelt, der nicht berechtigt war und sich als sachlich falsch herausgestellt hat. Warum war und ist das so? Singer und Endreny20 nennen mit Blick auf die Risikoberichterstattung zwei Gründe, die in der
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Natur der Sache liegen. Zum einen seien in vielen Fällen die erforderlichen Informationen nicht bekannt, weil es um Zusammenhänge geht, deren Ursachen nicht geklärt sind. Man könne beispielsweise die Zahl der Krebstoten feststellen, wisse aber nicht, wie viele auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen seien. Zum anderen lägen viele Informationen nicht in der erforderlichen Form vor. Beispielsweise wisse man, wie viele Menschen jährlich beim Skifahren ums Leben kommen, man wisse aber nicht, wie viele Ski fahren und wie hoch die Todesrate unter ihnen ist. Beide Argumente sind richtig, verfehlen aber, weil sie implizit zu viel verlangen, den Kern des Problems. Zum einen kann man nicht erwarten, dass die Medien z. B. zu jedem Todesfall seine relative Häufigkeit nennen. Dies würde, weil der normale Tod eine Alltagserscheinung ist, niemanden interessieren. Man kann dies allerdings dann erwarten, wenn es sich um herausragende Ereignisse handelt beispielsweise Autounfälle mit mehr als 10 Toten. In solchen Fällen wären relative Häufigkeiten und Vergleiche mit anderen Verkehrsunfällen durchaus möglich und aufschlussreich. Dies gilt für alle Ereignisse, die eine besondere Bedrohung signalisieren. Zum anderen kommt es in Fällen, die tatsächlich oder scheinbar eine besondere Bedrohung darstellen, nicht darauf an, dass man die exakten Wahrscheinlichkeiten kennt. Für eine sachlich begründete Urteilsbildung reichen grobe Näherungswerte aus, zumal dann, wenn sie mit bekannten Risiken verglichen werden. So ist es unerheblich, ob in Deutschland das Risiko eines Rindes an BSE zu erkranken 1 / 22.400 oder 1 / 30.000 war, wenn man weiß, dass das Risiko eines Menschen, Opfer eines Verkehrunfalls zu werden, etwa 1 / 12.000 betrug. Der Mangel an Daten ist vermutlich eine wichtige Ursache der unzureichenden Information der Bevölkerung über Risiken, erklärt aber allenfalls einen kleinen Teil der Informationsdefizite. Ein weiterer Grund dürfte das Selbstverständnis der Journalisten sein. Ein Großteil der Journalisten ist davon überzeugt, dass ihre Aufgabe darin besteht, die Gesellschaft vor Gefahren zu warnen. Um dieses Ziel zu erreichen, halten mehr als zwei Drittel der deutschen Zeitungsredakteure die übertriebene Darstellung von Problemen für vertretbar.21 Ein Mittel dazu ist die übertriebene Darstellung eines Schadens, ein anderes die Ausblendung seiner geringen Wahrscheinlichkeit. Weitere Mittel sind die Präsentation von unsicheren Prognosen als sichere Vorhersagen sowie die Darstellung möglicher Ereignisse als unausweichliche Geschehnisse. Ähnliche Überzeugungen wie die Zeitungsredakteure vertreten viele Wissenschaftsjournalisten. Nach ihrer Ansicht sollten die Medien engagiert Missstände aufdecken und anprangern. Die Information über wissenschaftliche Risikoabschätzungen spielt dagegen aus ihrer Sicht im Vergleich nur eine geringe Rolle.22 Auch das Selbstverständnis von Journalisten dürfte nur einen Teil des fragwürdigen Umgangs vieler Journalisten mit Ungewissheit erklären. Wei-
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tere Gründe bestehen vermutlich darin, dass sie den Umgang mit Ungewissheiten nicht gelernt haben und entsprechende Berufsnormen fehlen. Zwar erläutern alle wichtigen Lehrbücher des Journalismus die Bedeutung der vier Ws: Was ist wann und wo geschehen und wer war daran beteiligt? Forderungen nach Informationen darüber, wie häufig etwas geschieht, wie wahrscheinlich es sich wiederholt, wie viele Menschen es möglicherweise betrifft und wie sicher solche Vermutungen sind, gehören jedoch nicht zu den journalistischen Berufsnormen.23 Dies trifft auch auf den Pressecodex zu. Zwar enthält er in der eingangs zitierten Ziffer 2 die Forderung nach der Offenlegung von Vermutungen. Allerdings fehlen hierzu selbst in den ausführlichen Anmerkungen zu den einzelnen Ziffern präzisierende Angaben. Damit nicht genug. Ziffer 14 untersagt speziell bei der Berichterstattung über medizinische Themen eine übertriebene Darstellung, die unbegründete Befürchtungen und Hoffnungen (
) erwecken könnte. Daraus folgt jedoch im Umkehrschluss, dass solche Darstellungen bei anderen Themen zulässig sind. Angesichts dieser Sachlage kann man kaum damit rechnen, dass die Verbreitung aussagekräftiger Information über Chancen und Risiken zu den journalistischen Routinen gehört. Ein Grund für die oft übertriebene Darstellung von tatsächlichen und möglichen Schäden die Aussparung ihrer meist geringen Wahrscheinlichkeiten und die Verschleierung der Vorläufigkeit von Zukunftsaussagen dürfte auch darin liegen, dass sich viele Journalisten der damit verbundenen Problematik genauso wenig bewusst sind, wie viele Sozialwissenschaftler, die sich nicht speziell mit der Thematik befassen. Sie besteht darin, dass die übertriebene Darstellung von Risiken wie eine Überdosis von Medikamenten wirkt: Sie besitzt unbeabsichtigte negative Nebenwirkungen, für die im Falle der Risikoberichterstattung niemand verantwortlich sein will, weil die Übertreibungen einem guten Zweck dienen, der Verminderung und Verhinderung von Schäden.24 Im Falle des BSE-Skandals bestanden diese Nebenwirkungen u. a. darin, dass 70.000 fast ausnahmslos gesunde Rinder notgeschlachtet und der Verkauf des Fleischs nach Nordkorea und anderen Ländern auf Kosten der Steuerzahler mit 185 Millionen Euro subventioniert wurden,25 dass in der Fleisch verarbeitenden Industrie innerhalb eines knappen Jahres 13.000 Menschen arbeitslos wurden26 und dass der Staat pro Rind und Test auch dann noch 50 Euro ausgab, als fast keines mehr infiziert war, während zur gleichen Zeit die Krankenkassen für die infektiologische Diagnostik von Patienten pro Tag drei Euro zur Verfügung stellten. Niemand weiß genau, welche positiven und negativen Folgen scheinbar sichere Zukunftsaussagen und unvollständige Risikoinformationen besitzen. Unbekannt ist auch, wie viele Schäden z. B. im BSE-Fall durch eine angemessene Information der Bevölkerung verhindert worden wären. Angesichts der Überzeugung der meisten Journalisten, sie müssten durch ihre Berichterstattung über drohende Gefahren Schäden
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verhindern, wäre eine Verminderung der negativen Folgen von irreführenden Risikoberichten ein hinreichender Grund für ausreichende Informationen. 27 Ein weiterer, vergleichsweise trivialer Grund für den fragwürdigen Umgang vieler Journalisten mit ungewissen Informationen und Ereignissen dürfte darin liegen, dass sie durch die Verschleierung von Ungewissheit die Glaubwürdigkeit ihrer Meldungen erhöhen. Für diese Annahme spricht der immer häufigere Hinweis darauf, etwas sei offenbar, wenn es gerade nicht offenbar ist, sondern nur plausibel vermutet werden kann. So werden Abfälle gefunden, die offenbar illegal deponiert wurden, Personen verhaftet, die offenbar gegen Gesetze verstoßen haben und Naturkatastrophen festgestellt, die offenbar eine Folge des Klimawandels sind. Ein konkretes Beispiel für diese Praxis lieferten die aktuellen Fernsehberichte über die Notlandung eines Verkehrsflugzeugs am 16. Dezember 2009 auf dem Hudson River. Dort hieß es, als noch niemand genau wissen konnte, was die technischen Probleme tatsächlich ausgelöst hatte, offenbar seien Vögel die Ursache gewesen. Wenn es wirklich offenbar gewesen wäre, hätte man sich den Hinweis darauf sparen können. Dann hätte sich aber die Behauptung, falls die Vermutung, um die es sich tatsächlich gehandelt hatte, falsch gewesen wäre, eindeutig als Fehlinformation erwiesen. Vor dieser Blamage schützt die Floskel offenbar, weil sie latent genau jene Einschränkung andeutet, die sie manifest leugnet, die Ungewissheit des Geschehens und die Vorläufigkeit der Informationen darüber.
1
Vgl. Klaus Heilmann: Das Risiko der Sicherheit. Stuttgart 2002, S. 16-38. Siehe hierzu auch: Klaus Heilmann / John Urquhart: Keine Angst vor der Angst. München 1983. 2 Eleanor Singer / Phyllis M. Endreny: Reporting Hazards. Their Benefits and Costs. In: Journal of Communication 37 (1987) Nr. 3, S. 10-26, dort S. 14. Vgl. auch Peter M. Sandman: Mass Media and Environmental Risk. In: Risk: Health, Safety & Environment 4 (1994) Nr. 3, S. 251-260. 3 Hans Mathias Kepplinger: Künstliche Horizonte. Folgen, Darstellung und Akzeptanz von Technik in der Bundesrepublik. Frankfurt a. M. 1989. 4 Claus-Erich Boetzkes: Organisation als Nachrichtenfaktor. Wie das Organisatorische den Content von Fernsehnachrichten beeinflusst. Wiesbaden 2008, S. 279-298. 5 Hartwig Prange: Zur Risikoeinschätzung der BSE und zur Bewertung der BSE-Gesellschaftskrise. In: Tierärztliche Umschau 56 (2001) S. 271-275. 6 Hans-Jürgen Danneel: Versuch einer Risikoabschätzung für den Verzehr von Rindfleisch in der Bundesrepublik Deutschland. Unveröffentlichtes Manuskript, 2001; Sucharit Bhakdi / Jürgen Bohl: Prionen und der BSE-Wahnsinn. Eine kritische Bestandsaufnahme. In: Deutsches Ärzteblatt 99 (2002) Nr. 17, A-1134-1137; B-944-947, C-888-891. 7 Vera Hagenhoff: Analyse der Printmedien-Berichterstattung und deren Einfluß auf die Bevölkerungsmeinung. Eine Fallstudie über die Rinderkrankheit BSE 1990-2001. Kovac 2003. 8 Benjamin Fairbrother: Über den Umgang mit Ungewißheit in den Medien am Beispiel der Berichterstattung über die BSE-Krise in Deutschland im Winter 2000/2001. Mainz 2004, S. 128-131 (unveröffentlichte Magisterarbeit).
114
9
Gi-Woong Son: Umweltmilitarismus, Sozio-Militarismus und Öko-Militarismus. Münster 1992, S. 288. 10 Nicolau Barceló: Keine weiteren Siege wie diesen! Die ökologischen Auswirkungen des zweiten Golfkriegs. In: Berthold Mayer / Christian Wellmann (Hrsg.): Umweltzerstörung. Kriegsfolgen und Kriegsursache. Frankfurt a. M. 1992, S. 117-127, hier: S. 120; Keesings Archiv der Gegenwart, 1991, S. 36-317. 11 Christian-Dietrich Schönwiese: Klima im Wandel. Tatsachen, Irrtümer, Risiken. Stuttgart 1992, S. 97. 12 Christian-Dietrich Schönwiese, Klima im Wandel, a. a. O., S. 140 f. Ders.: Das Problem menschlicher Eingriffe in das Globalklima (Treibhauseffekt) in aktueller Übersicht. Frankfurt a. M. 1992, S. 96 f. 13 Keesings Archiv der Gegenwart, 1991, S. 35-333. 14 Peter Symens / Abdullah Suhaibani: The impact of the 1991 Gulf War Oil Spill on Bird Populations in the Northern Arabian Gulf a Review. In: Abdulaziz H. Abuzinada / Friedhelm Krupp (Hrsg.): The Status of Coastal and Marine Habitats two Years after the Gulf War Oil Spill. Göttingen 1994, S. 47-54. 15 Daniel Robineau / Pierre Fiquet: Cetaceans of Dawhat ad-Dafi and Dawhat al-Musallamiya (Saudi Arabie) one year after the Gulf War oil spill. In: Abdulaziz H. Abuzinada / Friedhelm Krupp (Hrsg.): The Status of Coastal and Marine Habitats two Years after the Gulf War Oil Spill. Göttingen 1994, S. 76-80. 16 Antje Fritz: Über den Umgang mit Ungewißheit in den Medien. Mainz 1988 (unveröffentlichte Magisterarbeit). 17 Die Fernsehanstalten (ARD, ZDF, RTL plus) veröffentlichten bis zum 28. Februar 1991 in ihren Nachrichtensendungen, Magazinen und Sondersendungen ausschließlich negative Prognosen über die Auswirkungen des Krieges auf die Umwelt. Vgl. Heike Löblein: Die Darstellung des Golfkrieges in der Fernsehberichterstattung. Mainz 1993, S. 126 (unveröffentlichte Magisterarbeit). 18 Hans Mathias Kepplinger: Künstliche Horizonte, a. a. O., S. 145 f. 19 Othmar Baeriswyl: Gewissheitsgrade in Zeitungstexten. Eine Analyse gewissheitsreduzierender Elemente informativer Texte der Schweizer Zeitungen Neue Zürcher Zeitung, Tagesanzeiger und Blick. Freiburg (Schweiz) 1989, S. 153-174. 20 Eleanor Singer / Phyllis M. Endreny, a. a. O., S. 15. 21 Hans Mathias Kepplinger / Kerstin Knirsch: Erlaubte Übertreibungen. Anmerkungen zu den berufsethischen Grundlagen des Skandaljournalismus. In: Ute Nawratil / Philomen Schönhagen / Heinz Starkulla, Jr. (Hrsg.): Medien und Mittler sozialer Kommunikation. Beiträge zu Theorie, Geschichte und Kritik von Journalistik und Publizistik. Festschrift für Hans Wagner. Leipzig 2002, S. 265-273. 22 Projektgruppe Risikokommunikation: Kontakte zwischen Experten und Journalisten bei der Risikoberichterstattung. Ergebnisse einer empirischen Studie. Münster 1994 (unveröffentlichter Projektbericht). 23 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet das Lehrbuch von Philip Meyer: The New Precision Journalism. Bloomington 1991. 24 Kerstin Knirsch: Zweck und Mittel im Journalismus. Warum Journalisten die Wirklichkeit gelegentlich anders darstellen als sie sie sehen und wie sie mit den Folgen umgehen. Diss. phil. Mainz 2005, S. 191-249. 25 Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.08.2001. 26 Handelsblatt 23.11.2001; Sucharit Bhakdi / Jürgen Bohl, a. a. O. 27 Hierfür gibt es Hoffnung. So verbreitete dpa zur Jahreswende 2008/09 mehrere Meldungen über Risiken mit genauen Wahrscheinlichkeitsangaben, z. B. am 9. Januar 2009 zu den Risiken, Opfer eines Flugzeugunglücks zu werden (vgl. Allgemeine Zeitung Mainz vom 9. Januar 2009).
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Die Verdunkelung des publizistischen Ereignishorizontes
Kein Mensch kann alle Meldungen über alle publizistisch relevanten Ereignisse verfolgen. Dies ist trivial. Nicht trivial ist die Frage, über welche Ereignisse er sich überhaupt aus den Medien informieren kann wie der publizistische Ereignishorizont aussieht, der ihn umgibt. Der Begriff publizistischer Ereignishorizont steht für das publizistisch relevante Geschehen, über das die meisten Medien üblicherweise berichten. Hierbei handelt es sich um jenen Realitätsausschnitt, über den sich Zeitungsleser, Radiohörer oder Fernsehzuschauer aus den Medien informieren können.1 Ändert sich der publizistische Ereignishorizont, dann ändert sich die Basis ihrer Realitätsvorstellungen. Dies führt zu der Frage, ob und wie sich der publizistische Ereignishorizont im Laufe der Zeit geändert hat. Sie steht im Mittelpunkt der vorliegenden Studie. Dabei geht es vor allem darum, ob die Medien im Laufe der Zeit ein eher positives oder negatives Bild vom aktuellen Geschehen gezeichnet haben. Bei der Analyse des publizistischen Ereignishorizontes wird man drei Zeitperspektiven unterscheiden müssen, die vermutlich jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen historische Trends im Verlauf von Jahrhunderten, zeitgeschichtliche Trends im Verlauf von einigen Jahrzehnten und aktuelle Trends im Verlauf von wenigen Tagen oder Wochen. In keinem Fall wird man lineare Entwicklungen in die eine oder andere Richtung erwarten dürfen, weil jede solche Entwicklung an Grenzen stößt, die entweder zum Abbruch oder zur Umkehrung zwingen. Deshalb erscheint es sinnvoll, innerhalb der erwähnten Perioden einzelne Zeitabschnitte zu unterscheiden. Ein Beispiel für historische Trends liefert die Berichterstattung von deutschen Zeitungen im Verlauf von drei Jahrhunderten.2 Seit dem frühen 17. Jahrhundert ging der Anteil der Beiträge über die Androhung von Gewalt stark zurück. Dagegen nahm der Anteil der Beiträge über verbale Konflikte erheblich zu. Der Anteil der Nachrichten über negative Ereignisse sank bis Mitte des 19. Jahrhunderts erheblich,3 nahm danach aber wieder deutlich zu. Dadurch öffnete sich eine Schere zwischen dem Anteil der Beiträge über negative und positive Ereignisse, die durch die Ereignislage nicht hinreichend erklärt werden kann. Ein Beispiel für zeitgeschichtliche Trends liefert die Berichterstattung der schwedischen Presse.4 Von Beginn des 20. Jahrhunderts bis Anfang der achtziger Jahre
H. M. Kepplinger, Realitätskonstruktionen, DOI 10.1007/978-3-531-92780-0_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
blieb der Anteil der Nachrichten über negative Ereignisse relativ konstant. Allerdings verlagerte sich die Berichterstattung seit Beginn der siebziger Jahre zunehmend auf negatives Geschehen in der Umwelt, dem Arbeitsmarkt und im Sozialbereich. Der Anteil der Beiträge mit Kritik an Personen und Sachen blieb bis Anfang der siebziger Jahre relativ konstant und stieg danach von maximal 10 auf fast 30 Prozent. Ein Beispiel für aktuelle Trends liefert die Entwicklung der Berichterstattung über Ausländer nach den ausländerfeindlichen Anschlägen in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen. Nach den Anschlägen nahm die generelle Berichterstattung über Ausländer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung zu. Gegenstand war ein breites Themenspektrum von der Asylpolitik bis zum Rechtsradikalismus allgemein. Dagegen blieb die Berichterstattung in den Informationssendungen von ARD, ZDF und RTL schwerpunktmäßig auf die Straftaten beschränkt.5 Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist der Wandel des publizistischen Ereignishorizontes seit den frühen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Dies geschieht anhand einer Nachrichtensendung des Hessischen Rundfunks in einem Zeitraum von 31 Jahren sowie der Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und der Welt in einem Zeitraum von 45 Jahren. Thema der Analyse der Hörfunknachrichten sind alle Meldungen über das aktuelle Geschehen weltweit, Thema der Analyse der Pressebeiträge ist die Deutschlandberichterstattung. Ziel der Untersuchung sind Antworten auf drei Fragen: Ist der publizistische Ereignishorizont im Laufe der Zeit positiver oder negativer geworden? Wann haben Veränderungen stattgefunden? Sind thematische und medienübergreifende Gemeinsamkeiten erkennbar? Im Mittelpunkt der Hörfunkanalyse steht der Anteil der Beiträge über positive, neutrale und negative Ereignisse. Sie beruht folglich auf eine Klassifikation der Wertigkeit des behandelten Geschehens. Im Mittelpunkt der Presseanalyse steht der Saldo der Aussagen über Probleme bzw. ihre Lösung. Sie beruht auf einer Klassifikation einzelner Aussagen in Nachrichten, Berichten und Kommentaren. Beide Teilstudien behandeln folglich verschiedene Aspekte der gleichen Thematik mit unterschiedlichen Methoden.
Entwicklung der Hörfunknachrichten Anlage der Untersuchung Analysiert wurden die Mittagsnachrichten des HR von 1955 bis 1985, der die Manuskripte als Gegenleistung für eine Beratung zur Verfügung stellte. Gegenstand der Analyse ist eine Stichprobe, in die für jedes zweite Jahr ein Tag pro
118
Monat aufgenommen wurde. Aus den Jahren 1955, 1957 usw. bis 1985 wurden jeweils 12 Sendungen erfasst.6 Für die folgende Darstellung wird der Gesamtzeitraum in fünf Perioden mit fünf bzw. sieben Jahren unterteilt. Bei der Analyse der Beiträge wurde zwischen den aktuellen Ereignissen und den Ereignishintergründen unterschieden. Zudem wurde die Valenz der Ereignisse erfasst. Der Begriff aktuelles Ereignis bezeichnet den Anlass zu einem Beitrag. Der Begriff Ereignishintergrund bezeichnet das Geschehen, das dem aktuellen Ereignis vorausgeht und mit ihm in einem eindeutigen Zusammenhang steht. Man kann hier auch vom Bezug der Berichterstattung sprechen. Fehlt ein Ereignishintergrund, liegt ein punktuelles Ereignis vor. Das folgende Beispiel illustriert die Unterschiede: Vor der Küste Alaskas ereignet sich ein Tankerunglück. Der HR widmet diesem Ereignis einen Nachrichtenbeitrag. Das Tankerunglück ist der Berichtsanlass dieses Beitrages. In den folgenden Meldungen, die sich auf das Tankerunglück beziehen, wird über neue Aspekte des Ereignisses berichtet, z. B. die Suche nach Überlebenden, die Verschmutzung des Meeres oder der Prozess gegen Verantwortliche. Das aktuelle Geschehen, das den Anlass für einen erneuten Beitrag zu dem vorausgegangenen Ereignis darstellt, ist nun der Berichtsanlass (bzw. das aktuelle Ereignis) des Beitrages. Das Tankerunglück stellt jetzt den Ereignishintergrund dar. Für jeden Beitrag wurde das aktuelle Ereignis sowie der Ereignishintergrund festgestellt und anhand von Ereignislisten klassifiziert. Der Begriff Valenz bezeichnet den positiven, neutralen oder negativen Charakter der Ereignisse. Der Klassifikation liegt die Sichtweise fiktiver Personen zugrunde, wobei im Zweifelsfall die vermutete Mehrheitsmeinung den Ausschlag gibt. So dürfte die Mehrheit der Bevölkerung Terroranschläge als negative Ereignisse sehen, auch wenn es andere Betrachtungsweisen gibt. Eine positive oder negative Valenz wurde nur dann verschlüsselt, wenn ein weitgehender Konsens der Sichtweise unterstellt werden konnte. Alle Ereignisse, bei denen des nicht der Fall war, wurden als neutral verschlüsselt. Die Kategorie der neutralen Ereignisse umfasst daher genaugenommen zwei Unterklassen von Ereignissen: Ereignisse, die keine Valenz besaßen, und Ereignisse, über deren Valenz kein Konsens bestand. Als negative Ereignisse wurden betrachtet: alle Arten von Gewaltanwendung (z. B. Verbrechen, Terrorakte, staatliche Willkür, Krieg), Verletzung, Krankheit oder Tod, wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Krisen und Konflikte, Kontroversen zwischen Einzelpersonen oder Gruppen, Misserfolge und Niederlagen sowie Unfälle und Katastrophen. Die negative Klassifikation erfolgte unabhängig von den Zielen und Motiven der handelnden Personen. Beispielsweise wurde ein Terroranschlag unabhängig von der Person des Täters und des Opfers sowie von den Beweggründen des Täters als negatives Ereignis klassifiziert. Als positiv wurden betrachtet: Erfolge auf politischem,
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wirtschaftlichem oder sozialem Gebiet (z. B. Entspannung des internationalen Klimas, Demokratisierung eines Landes, stabile wirtschaftliche Lage, soziale Errungenschaften, medizinischer Fortschritt), das Ausbleiben oder die zahlenmäßige Verringerung negativer Ereignisse (z. B. Rückgang der Verkehrstoten) oder die Abschwächung eines negativen Zustandes (Abnahme des Analphabetismus). Beispielsweise stellt der Rückgang der Arbeitslosenquote ein positives Ereignis dar.
Übersicht über die Gesamtberichterstattung Der HR strahlte in den untersuchten Hörfunksendungen insgesamt 1.737 Nachrichtenbeiträge mit einem Umfang von 22.069 Zeilen aus. Die durchschnittliche Zahl der Meldungen pro Sendung nahm im Verlauf des Untersuchungszeitraumes von acht auf zehn zu. Gleichzeitig ging ihr durchschnittlicher Umfang von 15 auf 12 Zeilen zurück. Der HR berichtete alles in allem wesentlich häufiger über negative als über positive aktuelle Ereignisse (32 bzw. 18 Prozent). Die meisten Meldungen thematisierten jedoch Ereignisse, die entweder keine Wertigkeit besaßen oder ambivalent waren (50 Prozent). Etwa die Hälfte der aktuellen Ereignisse, über die der HR berichtete, besaß einen erkennbaren Ereignishintergrund (49 Prozent). Er war in zwei Drittel aller Fälle negativ (66 Prozent) und in etwa einem Drittel neutral oder ambivalent (30 Prozent). Einen positiven Ereignishintergrund hatten nur ganz wenige aktuelle Ereignisse. Zwischen der Valenz des Ereignishintergrundes und der aktuellen Ereignisse bestand ein schwacher aber signifikanter Zusammenhang. Deshalb kann man von einer generellen Tendenz zur Konsistenz von Ereignishintergrund und aktuellem Ereignis sprechen. Allerdings hatten auch Meldungen über positive aktuelle Ereignisse meist einen negativen Ereignishintergrund. Dies ist auf den großen Anteil von Meldungen mit negativem Ereignishintergrund zurückzuführen. Bei diesen Meldungen handelte es sich meist um Berichte über Ereignisse, die einen zuvor schlechten Zustand verbesserten, z. B. eine geglückte Rettung (Tabelle 1).
Entwicklung der Berichterstattung über aktuelle Ereignisse Der Anteil der Nachrichten über negative aktuelle Ereignisse nahm im Laufe der Zeit von 20 Prozent (1955-1959) auf 37 Prozent (1979-1985) zu. Seinen Höchststand hatte er in den siebziger Jahren mit 41 Prozent. Diese kurvenlineare Entwicklung entspricht den Ergebnissen anderer Langzeitstudien, die ebenfalls für die späten siebziger und frühen achtziger Jahre einen Trendwechsel ausweisen.7
120
Tabelle 1: Zusammenhang zwischen der Tendenz der aktuellen Ereignisse und der Tendenz des Ereignishintergrundes Tendenz der aktuellen Ereignisse positiv n
neutral n
negativ n
Summe n
positiv
15
6
14
35
neutral
31
153
69
253
negativ
141
208
211
560
insgesamt
187
367
294
848
kein Ereignishintergrund erkennbar
120
504
265
889
Summe
307
871
559
1.737
Tendenz des Ereignishintergrundes
Zusammenhang zwischen den Valenzen der aktuellen Ereignisse und der Ereignishintergründe bei erkennbarem Ereignishintergrund: Cramers V = 0,178.
Die Zunahme von Nachrichten über negative aktuelle Ereignisse ging vor allem zulasten der Berichterstattung über neutrale bzw. ambivalente Geschehnisse. Dagegen ist der Anteil der Beiträge über positive aktuelle Ereignisse weitgehend konstant geblieben (Abbildung l). Die wachsende Konzentration auf negative aktuelle Ereignisse vollzog sich in der Berichterstattung über sieben von zwölf Lebensbereichen (Ereignisklassen). Drei der 15 Lebensbereiche wurden wegen geringer Fallzahlen zu einer Restkategorie zusammengefasst. Die wachsende Konzentration zeigte sich in der Berichterstattung über Ereignisse aus dem Bereich der Außenpolitik und der Innenpolitik, der Wirtschaft und der Wissenschaft, der Geschichte und der Gesellschaft sowie der Kriminalität. Auf die genannten Themenbereiche entfielen 83 Prozent aller Nachrichten. Die Veränderungen sind wegen der geringen Fallzahlen aufgrund der Unterscheidung zwischen zwölf Themenbereichen in fünf Perioden statistisch häufig nicht signifikant. Sie weisen jedoch alle in die gleiche Richtung. Deshalb kann man feststellen, dass es sich bei der wachsenden Konzentration auf negative aktuelle Ereignisse um einen allgemeinen Trend der Berichterstattung über Lebensbereiche handelte. Besonders deutlich war er in den achtziger Jahren in der Berichterstattung über Außen- und Innenpolitik sowie über Wirtschaft und Gesellschaft (Tabelle 2).
121
Abbildung 1:
60
Anteil der Nachrichten über positive, neutrale und negative aktuelle Ereignisse in Prozent
59
50 40
44
45
41
37
16
17
30 20
21 20
10 0 1955-1959
1961-1965 positiv
1967-1971 neutral
1973-1977 negativ
1979-1985
Entwicklung der Berichterstattung über die Ereignishintergründe Der Anteil der Nachrichten über aktuelle Ereignisse mit negativem Ereignishintergrund blieb im Laufe der Zeit von einer Ausnahme abgesehen relativ konstant. Er lag bei etwa einem Drittel aller Beiträge bzw. bei zwei Drittel der Beiträge mit erkennbarem Ereignishintergrund. Die erwähnte Ausnahme bildete die Periode von 1973 bis 1977, in der 39 Prozent aller Nachrichten auf einen negativen Kontext verwiesen. Der wachsende Anteil von Nachrichten über aktuelle Ereignisse mit negativem Hintergrund vollzog sich vor allem zulasten der Berichte über aktuelle Ereignisse ohne erkennbaren Hintergrund. Dagegen blieb der Anteil der Nachrichten über aktuelle Ereignisse mit positivem Hintergrund im gesamten Untersuchungszeitraum verschwindend gering. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war folglich die Berichterstattung besonders negativ, d. h. der Sender hatte sich in seinen Nachrichten besonders stark auf negative aktuelle Ereignisse mit einem entsprechend negativen Ereignishintergrund konzentriert (Abbildung 2).
122
Tabelle 2: Tendenz der Berichterstattung zu einzelnen Themen Anzahl der Beiträge über negative Ereignisse 1955-1959 1961-1965 1967-1971 1973-1977 1979-1985 insgesamt (n=291) (n=313) (n=298) (n=373) (n=462) (n=1.737) % % % % % % Außenpolitik (n=570)
13
23
32
36
32
27**
Innenpolitik (n= 324)
31
26
33
48
40
38
Wirtschaft (n=327)
16
24
31
31
28
27
Gesellschaft (n=63)
0
17
33
33
21
22
Geschichte (n=79)
4
21
11
43
50
19*
Wissenschaft (n=29)
x
x
0
0
42
17
Kriminalität (n=123)
17
17
50
45
55
46
Human Interest (n=38)
71
46
25
50
100
46
7
0
8
0
8
6
50
0
40
x
33
31
100
69
100
89
82
87
x
x
40
x
40
33
20
25
34
41
37
32
Supranat. Organisationen (n=53) Kirche (n=26) Unfälle/Katastrophen (n=69) Anderes (n=36) insgesamt (n=1.737)
x: n kleiner als 5; * p<0,05; ** p<0,01 (Chi-Quadrat). Für die Signifikanztests wurden Beiträge über positive und neutrale Ereignisse zusammengefasst und den Beiträgen über negative Ereignisse gegenübergestellt.
123
Abbildung 2:
Anteil der Nachrichten über Ereignisse mit positivem, neutralem und negativem Ereignishintergrund in Prozent
60 50
50
49 43
40 34
39
14
15
2
3
2
1973-1977
1979-1985
33
30 20
17
10 0 1955-1959
1961-1965 positiv
1967-1971 neutral
negativ
ohne EH
Zusammenhänge zwischen aktuellen Ereignissen und Ereignishintergründen Die wachsende Konzentration der Nachrichten auf negative aktuelle Ereignisse vollzog sich weitgehend unabhängig vom jeweiligen Ereignishintergrund. Gleichgültig, wie der Ereignishintergrund war, der Anteil der Nachrichten über negative aktuelle Ereignisse nahm in jedem Fall zu. Bei negativem Ereignishintergrund vergrößerte er sich von 27 auf 41 Prozent, bei neutralem von 12 auf 33 Prozent und bei positivem von 0 auf 43 Prozent.8 Die gleiche Entwicklung zeigte sich bei Nachrichten über aktuelle Ereignisse ohne erkennbaren Ereignishintergrund. Damit ist folgende Feststellung möglich: Bei der wachsenden Konzentration auf Nachrichten über negative aktuelle Ereignisse handelte es sich um eine spezifische Entwicklung, die mit dem jeweiligen Ereignishintergrund nichts zu tun hatte (Abbildung 3).
124
Abbildung 3:
Anteil der Nachrichten über negative aktuelle Ereignisse bei verschiedenem Ereignishintergrund in Prozent
70
67
60 50
30
27
20
18
10
12
0
43 41 36 33
40
40
27
16
0
1955-1959
1961-1965 positiv
1967-1971 neutral
1973-1977 negativ
1979-1985 ohne EH
Für die Signifikanztests wurden Beiträge über positive und neutrale Ereignisse zusammengefasst und den Beiträgen über negative Ereignisse gegenübergestellt.
Einen negativen Ereignishintergrund kann man als Problem betrachten, in dessen Kontext ein aktuelles Ereignis gestellt wird. Das aktuelle Ereignis ist positiv, wenn es dazu beiträgt, das Problem zu verkleinern, und negativ, wenn es dazu beiträgt, das Problem zu vergrößern. Es ist neutral, wenn es keinen Einfluss auf die Lösung des Problems besitzt. Damit stellt sich die Frage, wie der HR im Laufe der Zeit durch die Konzentration auf negative oder positive Ereignisse die Möglichkeit zur Lösung von Problemen charakterisierte. Eine Antwort darauf gibt die Betrachtung der Berichterstattung über aktuelle Ereignisse mit negativem Ereignishintergrund. Am Beginn des Untersuchungszeitraums berichtete der HR im Zusammenhang mit Problemen (negativer Ereignishintergrund) genauso häufig über Verbesserungen der Situation (positive aktuelle Ereignisse) wie über Verschlechterungen (negative aktuelle Ereignisse) (28 bzw. 27 Prozent). Am Ende des Untersuchungszeitraumes berichtete er erheblich häufiger über Verschlechterungen als über Verbesserungen (41 bzw. 25 Prozent). Die wachsende Konzentration der Berichterstattung auf negative Ereignisse vollzog sich vor
125
allem auf Kosten der Darstellung neutraler Ereignisse, was den zuvor ermittelten Ergebnissen entspricht. Die wachsende Konzentration der Nachrichten auf die Intensivierung bestehender Probleme ist erneut aufgrund der geringen Fallzahlen statistisch nicht signifikant. Sie ergänzt jedoch die bereits vorliegenden Befunde. Am Beginn des Untersuchungszeitraumes vermittelten die Nachrichten des HR den Eindruck, die bestehenden Probleme würden weder schlimmer noch besser. Dies zeigte sich sowohl an dem hohen Anteil von Nachrichten über neutrale aktuelle Ereignisse als auch an dem gleichgewichtigen Anteil von Nachrichten über negative und positive aktuelle Ereignisse. Am Ende des Untersuchungszeitraumes riefen sie dagegen den Eindruck hervor, die bestehenden Probleme würden immer schlimmer. Dies zeigt sich an dem hohen Anteil der Nachrichten über negative aktuelle Ereignisse. Ein relativ positives Weltbild war folglich im Untersuchungszeitraum einem eindeutig negativen Weltbild gewichen, das daran zweifeln ließ, dass die anstehenden Probleme zu bewältigen sind (Abbildung 4). Abbildung 4:
Beiträge über aktuelle Ereignisse mit negativem Ereignishintergrund Tendenz der aktuellen Ereignisse in Prozent
50 45
44 41
40 35
30
28 27
33 25
20
21
10
0 1955-1959
1961-1965 positiv
126
1967-1971 neutral
1973-1977 negativ
1979-1985
Zwischenbilanz 1.
2.
3.
4.
Der HR veröffentlichte im gesamten Untersuchungszeitraum mehr Nachrichten über negative als über positive aktuelle Ereignisse. Man kann deshalb von einem generellen Negativismus der Hörfunknachrichten sprechen. 9 Daraus folgt, dass die Hörer des HR mit einem entsprechend negativen publizistischen Ereignishorizont konfrontiert wurden. Der Ereignishintergrund der weitaus meisten Nachrichten über aktuelle Ereignisse war negativ. Dies änderte sich im Laufe der Zeit nicht wesentlich. Der Anteil der Nachrichten über negative aktuelle Ereignisse nahm im Laufe des Untersuchungszeitraumes erheblich zu. Das geschah weitgehend unabhängig vom Ereignishintergrund.10 Daraus folgt, dass der Ereignishorizont der Hörer des HR im Laufe der Zeit negativer wurde. Die wachsende Konzentration der Nachrichten auf negative aktuelle Ereignisse zeigte sich in der Berichterstattung über sieben von zwölf Lebensbereichen, auf die 83 Prozent aller Beiträge entfielen. Daraus kann man schließen, dass es sich um eine allgemeine, weitgehend themenunabhängige Entwicklung handelte.
Entwicklung der Berichterstattung der Qualitätszeitungen Für die folgende Analyse wurden die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und Die Welt ausgewählt, weil sie seit den frühen fünfziger Jahren als Qualitätszeitungen gelten und unterschiedliche redaktionelle Linien aufweisen. Gegenstand der Analyse ist ihre Deutschlandberichterstattung. Hierzu gehören alle Beiträge über das Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland sowie im Ausland mit Relevanz für Deutschland.11 Dies schließt die Berichterstattung über die SBZ/DDR ein, soweit die Bundesrepublik davon betroffen war. Untersucht wurden pro Medium jeweils 18 Ausgaben im Jahr, also insgesamt 2.430 Ausgaben in 45 Jahren. Dabei wurden die Titelseiten und die Rubrik Vermischtes/Aus aller Welt vollständig erfasst, von den allgemeinen politischen Teilen jeder zweite Beitrag. Der Inhalt der relevanten Beiträge wurde mit einem komplexen Codebuch sehr differenziert analysiert. Ermittelt wurden u. a. die Anlässe und Gegenstände der Beiträge, die Urheber von Aussagen und die Art ihrer Stellungnahmen, die erwähnten Akteure und ihre Handlungen. 12 Die FAZ veröffentlichte von 1950 bis 1995 in der untersuchten Stichprobe 15.389, die WELT 15.121 und die SZ 14.688 Beiträge. Diese 45.198 Beiträge bilden die Basis der folgenden Analyse.13 Weil es nicht um Besonderheiten der Zeitungen
127
sondern um allgemeine Trends im Journalismus geht, wird ihre Berichterstattung zusammen betrachtet. Aus dem gleichen Grund werden die Ergebnisse zu 15 Drei-Jahres-Intervallen zusammengefasst. Die Zahl der Beiträge nahm von 2.590 in der ersten auf 3.141 in der letzten Periode zu. Die größte Zahl der Beiträge erschien in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Danach ging sie deutlich zurück. Der Berichtsumfang entwickelte sich mit einer Zeitverzögerung ähnlich. 14
Übersicht über die Deutschlandberichterstattung Für die folgende Analyse wird die Deutschlandberichterstattung zu drei großen Themenschwerpunkten zusammengefasst. Den ersten Schwerpunkt bildet die Gesellschaft. Hierzu gehören die Privatwirtschaft (Land- und Forstwirtschaft, produzierendes Gewerbe, der Dienstleistungsbereich sowie die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und -nehmern), das soziale und kulturelle Leben (Wissenschaft, Medien, Glaubensfragen), die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, die natürlichen Lebensbedingungen sowie Unglücke, Verbrechen, Epidemien und Katastrophen. Dieser Themenkomplex war Gegenstand von 17.757 Beiträgen. Die meisten Beiträge hiervon betrafen die Privatwirtschaft sowie das soziale und kulturelle Leben. Den zweiten Themenschwerpunkt bilden die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland jener Bereich, der traditionell mehr oder weniger stark in die Zuständigkeit des Staates fällt. Zu den inneren Angelegenheiten gehören die Volkswirtschaft (allgemeine Wirtschaftslage, öffentliche Haushalte, Geldwertstabilität), das Verkehrswesen (Straßen-, Schienen-, Wasser- und Luftverkehr),15 Wissenschaft und Bildung,16 das Sozialwesen (Sozialleistungen, Familienfragen, Wohnungssituation), das gesamte Rechtswesen sowie das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Themenschwerpunkt war Gegenstand von 15.564 Beiträgen. Die bei weitem meisten Beiträge betrafen das politische System die Parteien, die Parlamente, die Regierungen usw. Mit deutlichem Abstand folgte die Berichterstattung über das Rechtswesen, das Sozialwesen und die Volkswirtschaft. Den dritten Themenschwerpunkt bilden die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik. Hierzu gehörten die zwischenstaatlichen Beziehungen im traditionellen Sinn, die Beziehungen zur SBZ/DDR sowie die Landesverteidigung. Dieser Themenschwerpunkt war Gegenstand von 11.877 Beiträgen. Davon entfiel über die Hälfte auf die zwischenstaatlichen Beziehungen, im Wesentlichen handelte es sich hierbei um die Außenpolitik der Bundesrepublik. Das deutschdeutsche Verhältnis und vor allem die Verteidigung spielten dagegen wesentlich geringere Rollen.
128
Darstellung von Problemen und Problemlösungen Die untersuchten Zeitungen berichteten in 30 Prozent aller erfassten Beiträge über Probleme und Problemlösungen in Deutschland. Sie bilden die Grundlage der folgenden Analyse. Ihre Darstellung der Probleme und Problemlösungen weist zwei dominierende Trends aus: Die Zahl der Beiträge über Probleme nahm im Laufe der Jahrzehnte deutlich zu. Dadurch stieg der Anteil der Beiträge über Probleme von der ersten bis zur letzten Periode von 65 Prozent auf 77 Prozent. Einen tiefen Einschnitt in diesen langfristigen Trend gab es nur während des Zusammenbruchs des Ostblocks und während der deutschen Wiedervereinigung. Die Zahl der Berichte über Problemlösungen ging im Laufe der Jahrzehnte leicht zurück. Dadurch verringerte sich der ursprünglich schon geringe Anteil dieser Berichte an allen von 35 Prozent auf 23 Prozent. Die Problemlösungen gerieten zunehmend aus dem Blickfeld der Leser, weil sie von einer wachsenden Zahl von Problemdarstellungen in den Hintergrund gedrängt wurden (Abbildung 5). 17 Abbildung 5:
Darstellung von Problemen und Problemlösungen Anzahl der Beiträge
1.000 880
800 723
600
559
400
360 307
217
200
0 51- 54- 57- 60- 63- 66- 69- 72- 75- 7853 56 59 62 65 68 71 74 77 80 Problem (n=9.835)
81- 84- 87- 90- 9383 86 89 92 95
Problemlösung (n=3.906)
Basis: Beiträge über Probleme und Problemlösungen (Leistungen) in Deutschland (n=13.741).
129
Die Beiträge über Probleme verdeckten nicht in allen Bereichen den Blick auf die Problemlösungen. Dies belegt eine thematische Differenzierung der Berichterstattung anhand des Saldos der Beiträge über beide Sachverhalte. Sie ermöglicht vier Feststellungen. Erstens, der Saldo der Darstellung von Problemen und Problemlösungen über alle drei Themenbereiche war im gesamten Untersuchungszeitraum negativ. Zweitens, die Zeitungen vermittelten bis zum Beginn der sechziger Jahre den Eindruck, dass es in den drei Bereichen eine ähnliche, leicht negative Leistungsbilanz gäbe. Drittens, der Saldo der Darstellung der auswärtigen Beziehungen blieb über den gesamten Untersuchungszeitraum nur leicht negativ. Daran änderten auch einige markante, zeitgeschichtlich bedingte Abweichungen nichts. Dazu gehörte die Berlin- und die Kuba-Krise in den frühen sechziger Jahren sowie die neue Ostpolitik Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Erstaunlicherweise schlugen sich der Zusammenbruch des Ostblocks und die deutsche Wiedervereinigung in der Berichterstattung nicht in ähnlicher Weise nieder. Viertens, der Saldo der Darstellung von Problemen und Problemlösungen bei inneren Angelegenheiten und im gesellschaftlichen Bereich wurde von Mitte der sechziger bis zum Beginn der achtziger Jahre immer negativer. Die Bundesrepublik Deutschland schien in dieser Phase immer weniger in der Lage zu sein, ihre inneren Probleme zu meistern. Danach setzte eine Trendwende ein. Diese Gegenbewegung hatte während der deutschen Wiedervereinigung ihren Höhepunkt, war jedoch nicht von Dauer (Abbildung 6). Die untersuchten Zeitungen vermittelten in vielen Beiträgen einen klaren Eindruck von der Schuld an Problemen und vom Verdienst an ihrer Lösung: Mehr als drei Viertel der Beiträge über Probleme enthielten Aussagen über ihre Verursacher (77 Prozent), über vier Fünftel der Beiträge (89 Prozent) über Problemlösungen Hinweise auf diejenigen, die die Probleme bewältigten. Als Verursacher der Probleme wurden in den meisten Beiträgen Personen oder Organisationen aus Staat und Politik genannt (55 Prozent). Relativ selten fanden sich Hinweise auf Personen oder Organisationen aus der Gesellschaft (22 Prozent).18 Das gleiche Muster enthielt die Berichterstattung über diejenigen, die Probleme gelöst haben (59 Prozent Akteure aus Staat und Politik vs. 26 Prozent Akteure aus dem vorstaatlichen Raum).19 Staat und Politik erschienen folglich als wichtigste Verursacher und Bewältiger von Problemen. Allerdings überwog eindeutig der Eindruck, dass sie die Probleme eher verursacht als gelöst hatten: Akteure aus Staat und Politik erschienen doppelt so häufig als Problemverursacher wie als Problemlöser (4.177 vs. 2.077 Beiträge). Den Saldo der Zuschreibungen von Schuld und von Verdienst kann man als publizistische Leistungsbilanz der Akteure betrachten. Sie war nach Darstellung der untersuchten Tageszeitungen bis Mitte der sechziger Jahre nicht schlecht. Die Zahlen der Beiträge über die Verursachung und Lösung von Problemen hielt
130
Abbildung 6:
Darstellung der Problemlösungsfähigkeit auf Politikfeldern Saldo aus Beiträgen über Probleme und Problemlösungen
100 Problemlösungen 0 -59
-74
-100
-89 -184
-200 -263
-300 -348
-400 Probleme 51- 54- 57- 60- 63- 66- 69- 72- 75- 78- 81- 84- 87- 90- 9353 56 59 62 65 68 71 74 77 80 83 86 89 92 95 Auswärtige Beziehungen (n=3.761) Innere Angelegenheiten (n=5.325)
Gesellschaft (n=4.655)
Basis: Beiträge über Probleme und Problemlösungen (Leistungen) in Deutschland (n=13.741).
sich bei der Darstellung der Gesellschaft zunächst die Waage. In der Darstellung von Staat und Politik gab es dagegen bereits damals ein leichtes Übergewicht der negativen Beiträge. Danach wurde die publizistische Leistungsbilanz der Gesellschaft negativ: Die Unternehmen, Tarifparteien, Verbände, Interessengruppen usw. schienen mehr Probleme zu verursachen als zu lösen. Hieran änderte sich bis Mitte der neunziger Jahre nichts. Dramatischer änderte sich die Darstellung der Leistungsbilanz von Staat und Politik, die bis Mitte der siebziger Jahre ins Bodenlose stürzte. Zwar setzte in den frühen achtziger Jahren eine Trendwende ein. Trotzdem erschien die Leistungsbilanz von Staat und Politik nach Darstellung der drei Tageszeitungen auch Mitte der neunziger Jahre erheblich schlechter als in den fünfziger und frühen sechziger Jahren (Abbildung 7).
131
Abbildung 7:
100
Schuld an Problemen und Verdienst für Problemlösungen Saldo aus Beiträgen über Verdienst und über Schuld
Verdienst 12
0 -81
-100
-86
-200
-213
-300
-400
-291 Schuld
5153
5456
5759
6062
63- 6665 68
6971
Gesellschaft (n=2.551)
7274
7577
78- 8180 83
8486
8789
9092
9395
Staat und Politik (n=6.254)
Basis: Beiträge über Verdienst und Schuld in Deutschland (n=11.072). Nicht ausgewiesen sind Verdienst- und Schuldzuschreibungen an überstaatliche Einrichtungen, andere Staaten und sonstige Akteure (n=2.267).
Zwischenbilanz 1.
2.
132
Die FAZ, SZ und Welt veröffentlichten nahezu dreimal so viele Beiträge über Probleme des Landes wie über ihre Lösung. Dies ist ein Beleg für den generellen Negativismus der Problemdarstellung in der Deutschlandberichterstattung und des entsprechenden publizistischen Ereignishorizontes der Leser. Man kann deshalb von einem generellen Negativismus ihrer Deutschlandberichterstattung sprechen. Daraus folgt, dass die Leser der Zeitungen mit einem entsprechend negativen publizistischen Ereignishorizont konfrontiert wurden. Die Zahl der Beiträge über Probleme des Landes nahm vom Beginn der sechziger Jahre bis Mitte der achtziger Jahre erheblich zu und ging danach
3.
4.
etwas zurück. Die Zahl der Beiträge über Problemlösungen blieb dagegen im gesamten Zeitraum weitgehend konstant. Aufgrund der erwähnten Entwicklungen öffnete sich im Laufe der Jahrzehnte eine Schere zwischen den Berichten über Probleme und Problemlösungen. Das betraf vor allem die Darstellung der Probleme im Bereich der inneren Angelegenheiten sowie in der Gesellschaft. Daraus folgt, dass der Ereignishorizont der Leser der Zeitungen im Laufe der Zeit negativer wurde. Fast im gesamten Untersuchungszeitraum wurden dem Staat und der Politik sowie der Gesellschaft allgemein eher die Schuld an der Verursachung von Problemen zugeschrieben als das Verdienst für ihre Lösung. Seit Beginn der sechziger Jahre war der Saldo der Beiträge über Verdienst und Schuld für beide Bereiche negativ. Sie erschienen demnach eher als Quelle der Probleme denn als Urheber ihrer Lösung. Das traf besonders auf den Staat und die Politik vor allem in den siebziger Jahren zu.
Zusammenfassung und Folgerungen Die wichtigsten Ergebnisse der beiden Studien kann man in drei Feststellungen zusammenfassen: 1.
2.
3.
Die untersuchten Medien vermitteln seit den fünfziger Jahren ein überwiegend negatives Bild vom aktuellen Geschehen. Dies gilt für die Darstellung der weltweiten Ereignisse in den Hörfunknachrichten und für die Darstellung der Problemlösungsfähigkeit Deutschlands in den Tageszeitungen. Die Leser und Hörer wurden demnach mit einem überwiegend negativen publizistischen Ereignishorizont konfrontiert. Die Darstellung des aktuellen Geschehens wurde im Laufe der Jahrzehnte negativer. Hierbei handelt es sich um einen langfristigen Trend, der sich in der Berichterstattung über nahezu alle Themen niederschlägt. Der publizistische Ereignishorizont der Leser und Hörer wurde demnach im Laufe der Zeit immer negativer. Innerhalb des erwähnten Negativtrends gab es eine Phase, in der das aktuelle Geschehen besonders negativ dargestellt wurde. Sie begann in den sechziger Jahren und hatte in den siebziger Jahren ihren Höhepunkt. Der publizistische Ereignishorizont der Leser und Hörer sah demnach vor allem in den siebziger Jahren besonders düster aus.
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Die vorliegenden Daten liefern keinen Beleg dafür, dass man die Ergebnisse verallgemeinern und als typisch für die aktuelle Berichterstattung aller relevanten Medien betrachten kann. Für diese Vermutung spricht jedoch die Rolle der Zeitungen als Leitmedien für andere Medien im publizistischen Spektrum. Allerdings wird man vermuten können, dass die ermittelten Negativtrends z. B. bei Straßenverkaufszeitungen und einigen anderen Medien noch stärker ausgeprägt waren. Auf der Grundlage dieser Annahmen kann man aus den Befunden eine zentrale Folgerung ableiten: Der publizistische Ereignishorizont der deutschen Bevölkerung wird seit den frühen sechziger Jahren des vergangenen Jahrhundert düsterer. Sie muss anhand der aktuellen Berichterstattung immer mehr den Eindruck gewinnen, die neuen Entwicklungen würden die vorhandenen Probleme eher vergrößern als verkleinern. Dies besitzt vermutlich zwei Konsequenzen: Zum einen fördert es eine pessimistische Weltsicht: die Dinge entwickeln sich zunehmend zum Schlechten. Zum anderen stärkt er Zweifel an den Institutionen: die Verantwortlichen sind nicht in der Lage, die anstehenden Probleme zu lösen. Beide Aspekte charakterisieren ein in der Bundesrepublik Deutschland weit verbreitetes Weltbild, das man auch als eine Folge der Realitätsdarstellung durch die Massenmedien ansehen kann. Bei der Suche nach den Ursachen des wachsenden Negativismus der aktuellen Berichterstattung muss man zwei Einflussfaktoren unterscheiden die Veränderung des aktuellen Geschehens, über das die Medien berichten, sowie die Selektion und Aufbereitung der Meldungen durch die Redakteure. Der Einfluss der medienexternen Ereigniswelt auf die Berichterstattung kann im vorliegenden Fall nicht exakt analysiert werden, weil die dafür erforderlichen Daten fehlen. Allerdings lassen sich einige Veränderungen der Berichterstattung durch herausragende Ereignisse plausibel machen. Ein Beispiel sind die ideologischen und gewaltsamen Auseinandersetzungen der siebziger und achtziger Jahre, die man als eine Ursache der besonders negativen Berichterstattung in dieser Zeit betrachten kann. Auch wenn man einzelne Ausschläge im Verlauf der Berichterstattung durch solche Geschehnisse plausibel machen kann, reicht das für eine Erklärung des danach weitergehenden, dominierenden Gesamttrends nicht aus. Zudem deuten systematische Studien zur Entwicklung der Berichterstattung darauf hin, dass man ihre Veränderung nicht oder allenfalls rudimentär durch die Veränderung der berichteten Realität erklären kann.20 Gegen eine alleinige oder hauptsächliche Erklärung des wachsenden Negativismus der aktuellen Berichterstattung durch eine entsprechende Veränderung der Realität spricht auch, dass er sich in der Darstellung nahezu aller Themen niederschlug. Eine solche Erklärung wäre nur dann plausibel, wenn man annehmen würde, dass sich die objektive Lage auf allen Gebieten verschlechtert hat. Dafür gibt es jedoch keine Belege.
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Die Medien berichten nicht nur über objektive Fakten die tatsächliche Luftverschmutzung ermittelt anhand der Schwefeldioxidbelastung, die tatsächliche Gefährdung durch die Energieerzeugung festgestellt anhand der dabei auftretenden Todesfälle, die tatsächliche Armut ermittelt anhand der Zahl der Obdachlosen usw. sondern auch über die Interpretation solcher Sachverhalte durch die gesellschaftlichen Akteure. Zu diesen Akteuren gehören die Betroffenen und ihre Fürsprecher, die Unternehmen und Interessenverbände, die Experten, Politiker und andere. Das Anwachsen der Problemberichterstattung ist vermutlich eine Folge der fortschreitenden Professionalisierung ihrer Klagen über weiterhin bestehende Missstände. Sie manifestiert sich u. a. in dem Entstehen der NGOs, der wachsenden Zahl der Bürgerinitiativen und Interessenverbände. Hinzu kommt eine zweite Entwicklung. Die Überzeugungskraft der Kritik an Missständen hängt nicht nur von ihrem Ausmaß ab, sondern auch von dem Glauben, dass sie vermeidbar sind. Deshalb wird die Kritik an den bestehenden Verhältnissen mit dem technisch-wirtschaftlichen Fortschritt immer überzeugender: Was vorher für unabänderlich gehalten wurde, erscheint nun unerträglich. Der Erfolg bei der Minderung früherer Missstände ist demnach paradoxerweise eine Ursache der erfolgreichen Problematisierung der bestehenden. Diese Entwicklungen außerhalb der Medien trafen auf eine folgenreiche Veränderung innerhalb der Medien Generationswechsel in den Redaktionen und die damit verbundene Änderung der Berufsauffassung von Journalisten.21 Mit Blick auf die hier relevante Periode kann man drei Journalistengenerationen unterscheiden die 1909-35 geborene Großväter-Generation, die das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg noch bewusst miterlebten, die 1936-50 geborene Väter-Generation, die von der Studentenbewegung geprägt wurde sowie die 1951-66 geborene Enkel-Generation, die in die gewaltsamen Konflikte um die Kernkraft und die NATO-Nachrüstung hineinwuchs.22 Die Berufsmotive und das Aufgabenverständnis der drei Journalisten-Generationen unterscheidet sich deutlich: Je jünger die Journalisten sind, desto eher haben sie diesen Beruf ergriffen, weil sie die Möglichkeit reizt, Missstände aufzudecken und zu kritisieren (14 Prozent, 19 Prozent, 22 Prozent) und desto eher billigten sie es, dass Journalisten ohne Rücksicht Kritik üben, auch wenn die Folgen nicht zu übersehen sind (36 Prozent, 39 Prozent, 45 Prozent). Hinzu kommt ein Wandel der politischen Einstellungen, den man generell als Linkstrend bezeichnen kann.23 Er schlägt sich in konkreten politischen Überzeugungen nieder. Dazu gehört die Meinung, der Umweltschutz sollte Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen haben (74 Prozent, 85 Prozent, 91 Prozent), Der Staat sollte mehr gegen die neue Armut tun (68 Prozent, 78 Prozent, 86 Prozent) und Man sollte es den Ausländern so leicht wie möglich machen, bei uns zu bleiben (39 Prozent, 43 Prozent, 48 Prozent). Jede dieser Meinungen ist implizit mit einer Kritik an den
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bestehenden Verhältnissen verbunden. Diese Grundhaltungen manifestieren sich vermutlich nicht nur in der wachsenden Bereitschaft von Journalisten, Missstände selbst als Probleme darzustellen, sondern auch in ihrer wachsenden Bereitschaft, die Klagen anderer zu publizieren.24 Die zunehmende Resonanz ihrer Aktivitäten stellt ihrerseits eine Gratifikation dar, die zu einer bedeutsamen Ursache für die wachsende Zahl der Kritiker an den bestehenden Verhältnissen wurde. Die Verdunkelung des publizistischen Ereignishorizontes der Bevölkerung ist deshalb vermutlich die Folge eines rückgekoppelten Prozesses, der sich selbst verstärkt und dabei zunehmend von der intersubjektiv feststellbaren Realität löst.
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Der publizistische Ereignishorizont muss vom publizistischen Ereigniskosmos unterschieden werden. Hierbei handelt es sich definitionsgemäß um alle Ereignisse, die von mindestens einer Zeitung, Zeitschrift, Hörfunk- oder Fernsehstation berichtet werden. Der publizistische Ereigniskosmos ist ein wissenschaftliches Konstrukt ohne direkte Relevanz für die einzelnen Rezipienten. Allerdings ermöglicht er einen Vergleich zwischen den Ereignissen, über die z. B. ein Hörfunksender berichtetet hat, mit jenen, über die er nicht berichtet hat. 2 Vgl. Jürgen Wilke: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft. Berlin 1984, S. 115180. 3 Eine Ausnahme von dem allgemeinen Trend bildet das Revolutionsjahr 1796. In diesem Fall kann man die größere Berichtshäufigkeit plausibel auf eine größere Ereignishäufigkeit zurückführen. 4 Vgl. Jörgen Westerståhl / Folke Johansson: News Ideologies as Moulders of Domestic News. In: European Journal of Communication l (1986) 133-149. Siehe hierzu auch die Beiträge Die Konstruktion der Kriegsdienstverweigerung. In diesem Band, S. 177-204 und Die Konstruktion der Kernenergiegegnerschaft. In diesem Band, S. 205-232. 5 Vgl. Hans-Bernd Brosius / Frank Esser: Eskalation durch Berichterstattung? Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt. Opladen 1995, S. 116-130. Siehe hierzu auch die Beiträge Die Konstruktion von Ereingisserien nach Schlüsselereignissen. In diesem Band, S. 85-98 und Die Konstruktion der Ölkrise 1973/74. In diesem Band, S. 153-176. 6 Da für den gesamten Juni 1967 keine Unterlagen erhalten waren, wurden für 1967 nur 11 Sendungen berücksichtigt. 7 Vgl. Jörgen Westerståhl / Folke Johansson: a. a. O.; Hans Mathias Kepplinger: Künstliche Horizonte. Folgen, Darstellung und Akzeptanz von Technik in der Bundesrepublik. Frankfurt 1989, S. 64-85. 8 Die Aussagen über die aktuellen Berichte mit positivem Ereignishintergrund beruhen auf sehr wenigen Meldungen, die Prozentzahlen sind daher mit Vorbehalt zu betrachten. 9 Auf die Politikberichterstattung der FAZ, SZ und Welt von 1951 bis 1995 traf dies nicht zu. Ein knappes Drittel der Beiträge (30 Prozent) berichtete über positive, ein knappes Viertel (23 Prozent) über negative Ereignisse. Die meisten Beiträge berichteten über ambivalente Ereignisse, bzw. über Geschehnisse, die keine Valenz besaßen. Eine Ursache des relativ großen Anteils der Meldungen über positive Ereignisse war der hohe Anteil der Berichte über positive Ereignisse in Zusammenhang mit den auswärtigen Beziehungen. Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg i. Br. 1998, S. 111 ff.
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Dies gilt tendenziell auch für die Politikberichterstattung der FAZ, SZ und Welt. Der Anteil der Beiträge über positive Ereignisse ging von Anfang der fünfziger Jahre bis Mitte der neunziger Jahre von knapp 40 Prozent auf etwas über 30 Prozent zurück. Der Anteil der Berichte über negative Ereignisse nahm von knapp 20 Prozent auf knapp 30 Prozent zu. Die zuletzt genannte Entwicklung vollzog sich vor allem zulasten der Ereignisse ohne entsprechende Valenz. In den siebziger Jahren überwog die Berichterstattung über negative Ereignisse zeitweise die Berichterstattung über positive Ereignisse. Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik, a. a. O., S. 112 ff. 11 Relevant sind die Beiträge definitionsgemäß dann, wenn das berichtete Geschehen Auswirkungen auf Deutschland besitzen kann bzw. wenn deutsche Akteure daran maßgeblich beteiligt sind. 12 Vgl. hierzu die Übersicht über die Kategorien in Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik, a. a. O., S. 243-250. 13 Eine Übersicht über die erfassten Realitätsausschnitte gibt Tabelle 3 in Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik, a. a. O., S. 91. 14 Der Umfang nahm von 126.122 Zeilen in der ersten auf 196.709 Zeilen in der letzten Periode zu. Ihren größten Umfang besaß die Berichterstattung in der ersten Hälfte der achtziger Jahre. Der zunächst wachsende Umfang der Deutschlandberichterstattung war vor allem eine Folge der Ausweitung der Rubriken für Innen- und Außenpolitik. Der Rückgang der Deutschlandberichterstattung in den achtziger Jahren war eine Folge der Verringerung der Beitragszahlen der FAZ, vor allem jedoch der WELT. 15 Ohne Unfälle. Sie werden zum gesellschaftlichen Geschehen gerechnet. 16 Soweit diese Bereiche, etwa wie Schulen und Universitäten, in die staatliche Zuständigkeit fallen. 17 Vergleichbare Ergebnisse liegen für die Fernsehnachrichten von ARD, ZDF, RTL und SAT1 vor. Sie haben die Lage Deutschlands von Frühjahr 1998 bis Herbst 2002 überwiegend negativ dargestellt. Im Laufe dieser Zeit ist der Saldo aus positiven und negativen Berichten negativer geworden. Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Marcus Maurer: Abschied vom rationalen Wähler. Warum Wahlen im Fernsehen entschieden werden. Freiburg i. Br. 2005, S. 33-37. 18 Die übrigen 23 Prozent der Beiträge entfielen auf überstaatliche Einrichtungen, ausländische Akteure etc. 19 Die übrigen 15 Prozent der Beiträge entfielen auf überstaatliche Einrichtungen, ausländische Akteure etc. 20 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Künstliche Horizonte, a. a. O., S. 111-172. Siehe hierzu auch die Literaturübersicht in Winfried Schulz: Massenmedien und Realität. Die ptolemäische und die kopernikanische Auffassung. In: Max Kaase / Winfried Schulz (Hrsg.): Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde. Opladen 1989, S. 135-149. 21 Damit haben auch Westerståhl und Johansson den Wandel der aktuellen Berichterstattung in Schweden erklärt. 22 Vgl. Simone Christine Ehmig: Generationswechsel im deutschen Journalismus. Freiburg i. Br. 2000, S. 129-167. 23 Vgl. hierzu Hans Mathias Kepplinger / Simone Christine Ehmig: Der Einfluß politischer Einstellungen von Journalisten auf die Beurteilung aktueller Kontroversen. In: Medienpsychologie 9 (1997) S. 271-292. 24 Vor allem nach den hier untersuchten Jahrzehnten hat der wachsende Konkurrenzdruck den Negativismus der Berichterstattung vermutlich weiter verstärkt. Ausgelöst wurde er durch die Etablierung der privaten Hörfunk- und Fernsehsender Mitte der achtziger Jahre, den Zusammenbruch der new economy Anfang des neuen Jahrtausends sowie durch den Verlust an Werbeeinnahmen an die neue Konkurrenz im Internet. Diese Entwicklungen tragen jedoch nichts zur Erklärung der hier dokumentierten Veränderungen der Berichterstattung bei.
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Die Ausweitung des publizistischen Ereignishorizontes
Wer täglich die aktuelle Berichterstattung von Presse, Hörfunk und Fernsehen verfolgt, gewinnt den Eindruck, dass sich die Ereignisse zusehends häufen. Gelegentlich hat man auch das Gefühl, es geschehe nichts oder zumindest nichts Interessantes. Was ist richtig? Bei genauer Betrachtung stellt sich schell heraus, dass die Antwort schwieriger ist, als man intuitiv annimmt. Dies beginnt schon damit, dass keine Klarheit darüber besteht, was man unter einem Ereignis verstehen soll.1 Es setzt sich fort mit der Unklarheit darüber, wie die berichteten Ereignisse mit der Berichterstattung verknüpft sind und es endet noch lange nicht bei der Frage, wie man die Häufigkeit von Ereignissen in der Realität ermitteln und sachgerecht mit der Häufigkeit der Berichterstattung vergleichen kann. Die theoretisch und methodisch komplexen Fragen können hier nicht im Detail diskutiert werden.2 Dennoch sollen einige wichtige Aspekte aufgezeigt und geklärt werden.
Beschleunigungen Die ersten Zeitungen, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden, erhielten ihre Nachrichten von den reitenden Boten der Post. Dies blieb 200 Jahre lang der Normalfall. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Übermittlung von Nachrichten durch die Entwicklung der Dampfschiffe und der Eisenbahn sowie durch die Erfindung der Telegrafie und des Telefons beschleunigt. Der nächste Schub kam im 20. Jahrhundert durch die Erfindung der drahtlosen Telegrafie. Dadurch wurden immer mehr Nachrichtenquellen an entlegenen Orten erschlossen. Die technische Entwicklung erhöhte nicht nur die Übertragungsgeschwindigkeit. Sie weitete den erschlossenen Ereignisraum aus und vergrößerte dadurch die Zahl der berichtenswerten Ereignisse. Diese Entwicklungen besaßen vier bedeutsame Folgen: Erstens, die Zeit zwischen Ereignis und Nachrichteneingang in den Redaktionen ist von mehreren Wochen auf wenige Minuten geschrumpft.3 Zweitens, die Zahl der innerhalb einer Zeiteinheit einer Stunde, eines Tages, einer Woche usw. verfügbaren Meldungen hat erheblich zugenommen. Drittens, die durchschnittliche Entfernung zu den bekannten Ereignissen hat deutlich zugenommen. Viertens, der Ereigniskosmos, d. h. die räumliche und thematische
H. M. Kepplinger, Realitätskonstruktionen, DOI 10.1007/978-3-531-92780-0_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Ausdehnung der Ereignisse, die zum Gegenstand von Nachrichten werden können, wurde erheblich ausgeweitet. Beschleunigt wurden auch die Verarbeitung und Verbreitung der Informationen von den Medien zu den Rezipienten. Bis zum frühen 19. Jahrhundert konnten auf den Pressen pro Tag nur einige hundert Exemplare gedruckt werden. Durch die Erfindung der Schnellpresse und der Rotationsmaschine Anfang bzw. Mitte des 19. Jahrhunderts stieg der Ausstoß zunächst auf mehrere zehntausend und dann auf mehrere hunderttausend Exemplare. Zugleich reduzierte sich die Verbreitungszeit durch die Entwicklung der modernen Verkehrsmittel. Mit der Erfindung des Hörfunks und des Fernsehens nahm im 20. Jahrhundert die Verarbeitungs- und Verbreitungszeit weiter ab, sodass heute innerhalb weniger Minuten Millionen erreicht werden können. Durch das Internet haben sich im 21. Jahrhundert die Entscheidungen über die Auswahl und Übermittlung von Nachrichten zunehmend von den Anbietern auf die Nutzer verlagert. Dadurch haben die traditionellen Medien ihr Selektionsmonopol verloren. Der Anbietermarkt hat sich zum Nachfragermarkt entwickelt. Beschleunigt wurde auch die Präsentation der Informationen. In den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF ist zwischen 1983 und 1998 die Länge der Schnittsequenzen in Filmberichten von durchschnittlich 22 auf durchschnittlich neun Sekunden zurückgegangen. Die Dauer der Stellungnahmen von Politikern wurde im gleichen Zeitraum von durchschnittlich 34 auf durchschnittlich 15 Sekunden verkürzt. Die Politikberichterstattung der beiden öffentlich-rechtlichen Sender hat sich damit formal weitgehend der Politikberichterstattung der Privatsender angeschlossen.4 Dies hat den Politikern die Möglichkeit genommen, ihre Sichtweise wenigstens ansatzweise zu begründen. Dazu bleibt in der Regel keine Zeit mehr. Diese Entwicklung dürfte weitergehen. In den USA haben Politiker durchschnittlich weniger als fünf Sekunden, um ihre Ansichten zu äußern. Die erwähnten Prozesse besaßen zwei bedeutsame Folgen: Erstens, der zeitliche Abstand zwischen dem Dargestellten und der Darstellung ist erheblich geschrumpft und nähert sich dem Wert null. Ein Beispiel kann das illustrieren: In der ersten Hälfte der 17. Jahrhunderts erschienen über 70 Prozent der Meldungen über das internationale Geschehen zwei bis vier Wochen nach den Ereignissen. Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen 99 Prozent dieser Meldungen noch am Tag des Geschehens.5 Zweitens, die Zahl der von den einzelnen Medien berichteten Ereignisse ist erheblich gestiegen. Legt man die Zahl der publizierten Meldungen zugrunde, hat sie sich vom frühen 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert verdreifacht.6 In den folgenden Jahrzehnten dürfte sie noch einmal dramatisch gestiegen sein, allerdings liegen dazu keine Daten vor. Dadurch hat sich der Ereignishorizont der Bevölkerung, d. h. das aktuelle Geschehen, das sie kennt oder zu kennen glaubt, wesentlich ausgeweitet.
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Gegenbewegungen Die erwähnten Entwicklungen kann man nicht verallgemeinern oder in die Zukunft fortschreiben. Ein Gegenbeispiel liefert die Berichterstattung über entfernte Ereignisse. Die Zahl der Nachrichten über entfernte Ereignisse ist zwar gestiegen, jedoch ist ihr Anteil an allen Nachrichten gesunken, weil die Zahl der nationalen und regionalen Meldungen noch stärker zugenommen hat.7 Ausschlaggebend hierfür sind Gründe jenseits der technischen Entwicklung. Zum einen fielen nationale Meldungen früher oft der Zensur zum Opfer, was ihren geringen Anteil erklärt. Zum anderen wurde durch die wachsende Mobilität der Bevölkerung das Geschehen in der näheren Umgebung zur Terra Incognita, über die sich die Zugezogenen in den lokalen Medien informieren. Ein zweites Gegenbeispiel ist die Berichterstattung über deutsche Politik seit den frühen fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Zahl der Berichte in den Qualitätszeitungen hat bis zur Mitte der neunziger Jahre nur um den Faktor 1,2 zugenommen und ist seit Mitte der siebziger Jahre sogar rückläufig.8 Die Zahl der berichteten Ereignisse hat zwar um den Faktor 2,0 zugenommen. Allerdings ist auch sie nach einem Höhepunkt Mitte der siebziger Jahre wieder zurückgegangen.9 Ein drittes Gegenbeispiel sind die Fernsehnachrichten der öffentlich-rechtlichen Sender. So bestehen zwar einzelne Meldungen heute aus mehr Elementen. Die Zahl der Meldungen aber ist seit mehreren Jahren nahezu konstant. Auch hierfür sind Gründe jenseits der technischen Entwicklung ausschlaggebend. Zwar stehen den Medien innerhalb einer Zeiteinheit immer mehr Meldungen zur Verfügung, und alle Medien zusammen berichten über immer mehr Ereignisse. Die einzelnen Medien geraten jedoch wegen der begrenzten Aufnahmefähigkeit ihrer Rezipienten selbst an Kapazitätsgrenzen: Mehr Meldungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Beiträge nicht gelesen, gehört oder gesehen werden.
Ereignishäufigkeiten Hat sich die die berichtete Realität beschleunigt? Geschehen heute innerhalb einer Zeiteinheit Tage, Wochen, Monate mehr berichtenswerte Ereignisse als früher? Für die folgende Betrachtung ist eine Unterscheidung von drei Ereignistypen erforderlich genuine, mediatisierte und inszenierte Ereignisse.10 Genuine Ereignisse geschehen und verlaufen ohne Einwirkung der Medien. Dazu gehören alle Naturkatastrophen, fast alle Unfälle, die meisten Erfindungen und viele wirtschaftliche und politische Entscheidungen. Mediatisierte Ereignisse geschehen ebenfalls ohne Einwirkung der Medien, ihre Art und ihr Verlauf werden jedoch gezielt auf die Bedürfnisse der Medien ausgerichtet. Dazu gehören viele Bilanz-
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konferenzen von großen Unternehmen, Parlamentsdebatten und Sportveranstaltungen. Inszenierte Ereignisse werden eigens zum Zwecke der Berichterstattung gemacht und würden ohne diese Erwartung nicht geschehen. Dazu gehören alle Pressekonferenzen und Interviews, außerdem eine Vielzahl von Ereignissen, von denen man dies nicht sofort annehmen würde Produktpräsentationen und Sportveranstaltungen, Kongresse usw. Ein Beispiel für die Entwicklung der Häufigkeit von genuinen Ereignissen sind die Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages.11 Sie zielen auf allgemeinverbindliche Regelungen, den sachlich relevanten, nachhaltig wirkenden Ertrag eines Parlaments. Beispiele sind Debatten über den Bundeshaushalt, über Verfassungsänderungen und über internationale Abkommen. Diese Aktivitäten waren Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht seltener oder häufiger als zu Beginn der fünfziger Jahre. So fanden in der zwölften Legislaturperiode (1990-94) ähnlich viele Plenarsitzungen statt wie in der ersten (243 vs. 283). Auch die Zahl der eingebrachten und verabschiedeten Gesetze blieb nahezu gleich (507 vs. 545). Von einer allgemeinen Häufung der genuinen Parlamentstätigkeit kann deshalb nicht gesprochen werden. Auch die neuen Daten für die 14. und 15. Legislaturperiode (1994-98 und 1998-2002) weisen keinen eindeutigen Trend auf.12 Die Entwicklung der Häufigkeit genuiner Aktivitäten des Deutschen Bundestages kann man selbstverständlich nicht verallgemeinern. In manchen Bereichen ist die Zahl der genuinen Ereignisse pro Zeiteinheit gestiegen besonders dramatisch hat z. B. die Zahl der bewaffneten Raubüberfälle zugenommen. Hier hat sich das Geschehen beschleunigt, weil der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Taten geringer geworden ist. In anderen Bereichen ist die Zahl der genuinen Ereignisse pro Zeiteinheit gesunken. So hat z. B. die Zahl der Schwerverbrechen, der Verkehrstoten und der tödlichen Arbeitsunfälle seit Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen. Hier hat sich das Geschehen aus dem gleichen Grund verlangsamt. Wendet man den Blick von den genuinen zu den mediatisierten und inszenierten Ereignissen, zeigt sich ein ganz anderes Bild. Dies kann wieder anhand der Aktivitäten des Deutschen Bundestages illustriert werden. Zu den mediatisierten und inszenierten Ereignissen gehören Aktuelle Stunden, öffentliche Anhörungen sowie schriftliche und mündliche Anfragen. Kleine Anfragen zielen auf die Vermittlung von Informationen an das Parlament, die Medien und die interessierte Öffentlichkeit.13 Die Zahl der Aktuellen Stunden hat von der vierten bis zur zwölften Legislaturperiode von 1 auf 103 zugenommen, die Zahl der öffentlichen Anhörungen ist von 2 auf 301 angewachsen. Die Zahl der mündlichen und schriftlichen Anfragen ist von der ersten bis zur achten Legislaturperiode von knapp 400 auf über 23.000 hochgeschnellt und beträgt seither etwa 20.000.14 Bei den sogenannten Kleinen Anfragen geht es den meisten Abgeord-
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neten zwar immer noch darum, die Regierung unter Druck (zu) setzen (45 Prozent) und die eigene Information zu verbessern (39 Prozent). Nahezu genauso viele erklären jedoch, es gehe ihnen vor allem darum, die Medien auf Probleme aufmerksam zu machen (36 Prozent). Es geht ihnen darum, wichtige Themen in den Medien zu platzieren (40 Prozent). Dies deutet darauf hin, dass sich die Motive zur Einbringung von Kleinen Anfragen und ihre Funktion erheblich geändert haben. Sie haben sich von einem Mittel zur Information der Parlamentarier zu einem Mittel der Öffentlichkeitsarbeit entwickelt.15
Künstliche Beschleunigungen Trotz der Ausweitung des publizistisch erschlossenen Ereignisraumes gibt es aus Sicht der Journalisten auch heute nicht genügend herausragende Ereignisse. Nach Einschätzung der Nachrichtenchefs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und der Welt geschieht an 65 Prozent aller Erscheinungstage kein Ereignis, das einen Aufmacher rechtfertigt.16 Aus Sicht der Journalisten finden innerhalb der konstanten Publikationsintervalle nicht zu viele, sondern zu wenige relevante Ereignisse statt. Trotzdem müssen die Zeitungen mit einem Aufmacher erscheinen. Das Gleiche gilt für die Innenteile der Blätter, die verschiedenen Ressorts. Trotzdem müssen die Redakteure in den Wirtschaftsteilen, in den Sportseiten und im Feuilleton Ereignisse als bedeutsam herausstellen. Hierfür gibt es mehrere Möglichkeiten. Eine erste Möglichkeit bietet die Konzentration der Berichterstattung auf inszenierte Ereignisse. Solche Ereignisse werden von zahlreichen gesellschaftlichen Akteuren vor allem in ereignisarmen Zeiten gemacht. Dazu gehören die meisten Stellungnahmen von Politikern. Ihre Zunahme schlägt sich deutlich in der Berichterstattung nieder. Zu Beginn der fünfziger Jahre bildeten Stellungnahmen von Politikern den Anlass von 28 Prozent der Politikberichte der Qualitätszeitungen. Mitte der neunziger Jahre waren es 33 Prozent, während der politischen der Krise der sozial-liberalen Koalition sogar über 50 Prozent.17 Ein ähnliches Bild vermittelt die Wahlkampfberichterstattung der Qualitätszeitungen. Bei den ersten drei Bundestagswahlen bildeten Pressekonferenzen und Stellungnahmen von Politikern den Anlass von durchschnittlich 27 Prozent aller Beiträge. Bei den Bundestagswahlen von 1990 bis 1998 waren es durchschnittlich 31 Prozent. Zugleich ging der Anteil der Berichte über Wahlkampfauftritte von durchschnittlich 27 Prozent auf 10 Prozent zurück.18 Diese Entwicklung besitzt zwei Ursachen: Zum einen hat die Bedeutung und Zahl der Wahlkampfveranstaltungen abgenommen. Zum anderen haben die für die Medien inszenierten Ereignis-
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se die entfallenen Berichtsanlässe ersetzt und eine sogar noch wachsende Zahl von Wahlkampfberichten ermöglicht. Eine zweite Möglichkeit bietet der Rückgriff auf frühere Ereignisse, die als Vorläufer des aktuellen Geschehens dargestellt werden. Dies geschieht vor allem nach der Berichterstattung über spektakuläre Ereignisse. Sie weckt ein großes Interesse an ähnlichen Ereignissen, das die Medien meist nicht befriedigen können, weil es an entsprechenden Ereignissen mangelt. Folglich berichten sie über frühere Ereignisse ähnlicher Art oder über thematisch verwandte Ereignisse. Beispiele hierfür liefern die Berichterstattung 1985 nach der Bekanntgabe der AIDS-Erkrankung von Rock Hudson, nach dem Tanklastunfall 1987 in Herborn und nach dem Erdbeben in San Francisco 1989.19 Hier stieg die Zahl der Berichte über frühere und ähnliche Ereignisse an. Weil keine gleichartigen Ereignisse geschahen, berichteten die Blätter häufig über länger zurückliegende Lastwagenunfälle, frühere Erdbeben, bereits verstorbene AIDS-Kranke. Solche Berichte erwecken auch dann den Eindruck von Ereignisserien, wenn wie in den genannten Fällen die Zahl der Ereignisse des gleichen Typs gleich bleibt. Eine dritte Möglichkeit bietet die gezielte Suggestion einer zunehmenden Ereignishäufigkeit, ohne dass dafür Belege existieren. Meist geschieht dies durch Formulierungen wie immer mehr oder immer häufiger. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Frankfurter Rundschau, die Allgemeine Zeitung Mainz und Bild behaupteten beispielsweise 1990 in einem einzigen Monat in ihren Überschriften oder im ersten Absatz ihrer Beiträge in 67 Fällen, dass etwas immer mehr oder immer häufiger geschehen sei. Einen Beleg dafür lieferten die Blätter in gut der Hälfte aller Fälle aber nicht. Statt Angaben über mindestens zwei Zeitpunkte enthielten die Beiträge nur Angaben über einen Zeitpunkt oder überhaupt keine konkreten Zahlen. Solche Berichte vermitteln auch dann den Eindruck, dass sich das Geschehen beschleunigt hat, wenn es dafür keine Belege gibt.20
Aufmerksamkeitsspannen Die Berichterstattung der Medien besitzt einen erheblichen Einfluss auf die Vorstellung der Bevölkerung von den Problemen des Landes. Auf die Vorstellungen von den Problemen in ihrer eigenen Lebenswelt haben sie dagegen, von Ausnahmen wie bei der Skandalisierung z. B. von Lebensmitteln abgesehen, keinen nennenswerten Einfluss.21 Dies führt gelegentlich zu grotesken Fehlurteilen. So glaubten 1987 nahezu zwei Drittel der Deutschen, dass die Umwelt bei uns ziemlich zerstört ist. Zugleich erklärten mehr als die Hälfte, die Umwelt in der Gegend, in der sie wohnen, sei im großen und ganzen in Ordnung.22 Bemer-
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kenswert ist im vorliegenden Zusammenhang auch, dass der Bevölkerung zu jedem beliebigen Zeitpunkt nur eine relativ geringe Zahl von Problemen bewusst ist. In der Regel sind dies durchschnittlich 4,2 bis 5,1 Probleme.23 Dies besitzt zwei bedeutsame Konsequenzen. Erstens, neue Probleme wecken nur dann ein Problembewusstsein, wenn die Medien häufig darüber berichten. Die Gründe liegen in der begrenzten Aufnahmekapazität des Publikums. Dies belegt eine Analyse der Erinnerung an Fernsehnachrichten. Sie sind die bei weitem wichtigste Informationsquelle der meisten Bürger, zumal das Fernsehen als einziges Medium auch jene erreicht, die sich nicht für das aktuelle Geschehen interessieren. Allerdings hinterlassen einzelne Meldungen nur geringe Spuren. Direkt nach den Fernsehnachrichten erinnern sich die Zuschauer an zwei bis drei von 15 Meldungen. Falls sich die Zuschauer an eine Meldung erinnern, weiß ein Viertel keine Einzelheiten mehr. Etwa die Hälfte kennt bis zu 25 Prozent der mitgeteilten Informationen. Nur eine kleine Minderheit, etwa 15 Prozent, weiß noch mehr als die Hälfte.24 Die generell geringen Erinnerungsleistungen werden durch die Beschleunigung der Präsentation viele kurze Beiträge, schnelle Schnittfolgen noch verschlechtert. Die Anbieter nehmen dies in Kauf, weil solche Sendungen stärkere Erregungen hervorrufen, jüngeren Zuschauern besser gefallen und seltener weggedrückt werden.25 Aus den genannten Gründen sind, damit ein Problem ins Bewusstsein eines nennenswerten Teils der Bevölkerung gelangt, normalerweise mindestens zwei bis fünf Meldungen in den Fernsehnachrichten erforderlich.26 Probleme, über die sie nur einmal berichten, existieren für die Mehrheit nicht. Zweitens, Probleme, die aufgrund intensiver Medienberichte ins Bewusstsein kommen, verdrängen wegen der begrenzten Aufmerksamkeit der Menschen bereits bekannte Probleme. Dies geschieht nicht nach dem Zufallsprinzip, sondern unterliegt Gesetzmäßigkeiten. So werden Berichte über spektakuläre Ereignisse z. B. schwere Unglücke, exzessive Verbrechen und spektakuläre Berichte über drohende Gefahren BSE, SARS, Klimawandel usw. besonders gut behalten, vor allem wenn sie erregende Bilder enthalten. Solche Killerthemen verdrängen relativ leicht strukturelle Probleme Rentenfinanzierung, Staatshaushalt, Energieversorgung usw. aus dem Bewusstsein. 27 Darin liegt eine Chance z. B. für jene, die zum Gegenstand eines Skandals werden, weil die Aufmerksamkeit für andere Probleme das Interesse an ihrem Fall verdrängen kann. Selbst wenn das Problembewusstsein über einen längeren Zeitraum erhalten bleibt, etwa die Sorge um die Sicherung der Renten, erlischt das Interesse an der Berichterstattung nach wenigen Wochen. Ein Grund für die relativ kurzen Aufmerksamkeitsspannen der Bevölkerung besteht darin, dass die meisten Menschen die Masse an Informationen nicht hinreichend verarbeiten können und nur wenig
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dazulernen.28 Dies gilt vor allem für die unteren Bildungsschichten, was zu einer Wissenskluft zwischen den Bildungsschichten führt. Allerdings hält sich auch der Wissenszuwachs in den oberen Bildungsschichten in engen Grenzen. Dies ist den Lesern, Hörern und Zuschauern durchaus bewusst. So waren auf dem Höhepunkt der BSE-Krise, im Januar 2001, nur 15 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass sie sich anhand der vielen verschiedenen Berichte, die man hört oder liest, noch ein klares Bild machen können. Dagegen fühlten sich 69 Prozent der oberen Bildungsschicht und 82 Prozent der unteren Bildungsschicht durch die Berichterstattung überfordert, weil sie oft gar nicht mehr wussten, was richtig und was falsch ist.29 Der Eindruck, die Übersicht zu verlieren, weckt Überdruss am Thema. Die Leute können es nicht mehr hören und schalten ab.
Entscheidungskorridore Die Meinungsbildung der Bevölkerung und damit ihr Problembewusstsein folgt anderen Kriterien als die Entscheidungsprozesse der Politik. Ausschlaggebend für das Problembewusstsein der Bürger sind die Menge und die Art der Medienberichte über ein Thema in Konkurrenz zu anderen Themen sowie die Verarbeitungskapazität und Aufmerksamkeitsspannen des Publikums. Ausschlaggebend für Entscheidungsprozesse in der Politik sind die Mehrheitsverhältnisse und Personenkonstellationen in den Entscheidungsgremien (Fraktion, Koalition, Kabinett, Bundesrat) sowie die zeitliche Aufeinanderfolge der machtrelevanten Ereignisse (Parteitage, Landtags- und Bundestagswahlen). Sie bestimmen die Entscheidungskorridore der Politik die Zeitspannen, in denen Entscheidungen möglich und wahrscheinlich sind. Das Problembewusstsein der Bevölkerung ist wegen der unterschiedlichen Kriterien in den beiden Bereichen zwei Risiken ausgesetzt. Das erste Risiko besteht in der asynchronen Entwicklung von Problembewusstsein und Entscheidungskorridoren. Das Problembewusstsein der Bevölkerung besitzt nur dann einen Einfluss auf die Entscheidungen der Politik, wenn der Höhepunkt des Problembewusstseins innerhalb der Entscheidungskorridore der Politik liegt. Nur dann kann sich die öffentliche Meinung direkt auf politische Entscheidungen auswirken. Erreicht das Problembewusstsein seinen Höhepunkt in einer Periode, in der die erforderlichen Mehrheitsverhältnisse nicht in allen relevanten Gremien vorhanden sind, oder wichtige Termine Entscheidungen zu riskant machen, wird in der Regel, weil die Verantwortlichen Abstimmungsniederlagen vermeiden wollen, nicht entschieden. Die Politik greift die Probleme entweder überhaupt nicht auf oder vertagt die Entscheidung auf nur vage benannte Zeitpunkte. Ein Beispiel hierfür ist der Verzicht der sozial-
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liberalen Koalition unter Helmut Schmidt auf das lange geplante Presserechtsrahmengesetz. Das Risiko des Scheiterns von Meinungsbewegungen, das hier nicht weiter diskutiert werden kann, ist umso größer, je mehr Vetospieler an Entscheidungen beteiligt sind. In zentralistischen Staaten mit Mehrheitswahlrecht wie Großbritannien sind es relativ wenige, in föderalistischen Staaten mit Verhältniswahlrecht wie Deutschland sind es relativ viele. Das zweite Risiko resultiert aus der geringen Aufmerksamkeitsspanne der Bevölkerung. Sie ist erheblich kürzer als die rechtlich vorgeschriebenen und sachlich notwendigen Entscheidungsprozesse der Politik. Die Dauer der Gesetzgebungsverfahren hat von der ersten bis zur siebten Legislaturperiode von durchschnittlich etwa 200 auf 250 Tage zugenommen, ist bis zur neunten Legislaturperiode auf knapp 190 Tage zurückgegangen und bis zur zwölften Legislaturperiode wieder auf über 200 Tage angestiegen. Seit einigen Jahren wird die Dauer der Verfahren nicht mehr erfasst, sodass über die Entwicklung seit 1994 keine genauen Aussagen möglich sind. Deshalb kann trotz erheblicher Schwankungen im Zeitverlauf weder von einer Beschleunigung noch von einer Verlangsamung der Gesetzgebungsverfahren die Rede sein. Wenn trotzdem der Eindruck entstanden ist, dass die Gesetzgebungsverfahren heute länger dauern als früher, dann ist dies vor allem auf die gestiegene Menge der Informationen zurückzuführen, die die Bevölkerung heute immer wieder daran erinnern, dass noch keine Entscheidung gefallen ist. 30
Stillstand Zwar hat die Zahl der Meldungen pro Quelle im Laufe der Zeit nicht sehr stark zugenommen. Trotzdem werden die Bürger heute mit erheblich mehr Meldungen konfrontiert als früher. Die Ursachen dieses scheinbaren Widerspruchs liegen vor allem in der gestiegenen Zahl der Hörfunk- und Fernsehsender sowie in der größeren Zahl der Nachrichtensendungen. Hinzu kommen seit einigen Jahren die allzeit verfügbaren Onlinedienste der Medien. Vor 100 Jahren hat ein Teil der Bürger eine Zeitung pro Tag gelesen. Vor 80 Jahren hat ein Teil zusätzlich oder ausschließlich Radionachrichten gehört. Vor 40 Jahren hat ein Teil der Bürger zusätzlich oder ausschließlich die Fernsehnachrichten verfolgt. Heute nutzt ein Teil zusätzlich oder ausschließlich das Internet als Quelle aktueller Informationen. In Zahlen ausgedrückt: Im Jahr 2000 haben 46 Prozent täglich drei Mediengattungen genutzt, 36 Prozent zwei Mediengattungen und 15 Prozent eine Mediengattung. Drei Prozent haben keine Medien genutzt. Folglich wurden täglich 97 Prozent der Bürger von den Medien erreicht, wobei die meisten von ihnen gleich mehrere Quellen nutzten.31
147
Nicht nur die Zahl der Medien, die die Bürger nutzen, hat sich vervielfacht. Vervielfacht haben sich auch die Kontakte der Bürger zu den aktuellen Sendungen. In den sechziger Jahren haben öffentlich-rechtliche Fernsehsender eine Nachrichtensendung ausgestrahlt. Heute sind es über den Tag verteilt mindestens fünf. Früher gab es im Tagesverlauf nur wenige Hörfunknachrichten. Heute strahlen alle öffentlich-rechtlichen Sender stündlich Nachrichtensendungen aus, manche sogar halbstündlich. Weil der Hörfunk heute häufig als Begleitmedium bei der Arbeit oder beim Autofahren genutzt wird, wird ein Großteil der Bürger täglich mit zahlreichen Nachrichtenangeboten konfrontiert den Beiträgen der bevorzugten Zeitung, den Nachrichten des Hörfunks, den Fernsehnachrichten usw. Alle Medien konzentrieren sich in ihrer aktuellen Berichterstattung auf die herausragenden Ereignisse. Zwar setzen die öffentlich-rechtlichen und die privaten Fernsehsender in ihren Nachrichten eigene Schwerpunkte. Die herausragenden Ereignisse bringen jedoch alle. Zwischen ihren Angeboten bestehen folglich große Schnittmengen.32 Deshalb wird ein Großteil der Bevölkerung täglich aus verschiedenen Quellen mit leicht abweichenden Formulierungen mehrfach über die gleichen Ereignisse unterrichtet. Konzentriert man die Betrachtung auf die knappe Hälfte der Bürger, die täglich drei Mediengattungen nutzen, und nimmt man an, dass sie im Laufe des Tages eine Zeitung lesen, zwei Fernsehnachrichten- und drei Hörfunknachrichtensendungen zumindest nebenbei verfolgen, dann werden sie sechsmal mit jedem der wichtigsten Ereignisse des Tages konfrontiert. Nimmt man ferner an, dass der Bundestag ein Gesetz in drei Lesungen berät und beschließt, dass die Parlamentssitzungen jeweils zu den wichtigsten Tagesereignissen gehören und dass es keine Vorab- und Nachfolgeberichterstattung gibt, dann wird ein Muster-Bürger 18 Mal mit dem Gesetzesvorhaben konfrontiert. Den Gesetzesvorhaben gehen in der Regel Kabinettsbeschlüsse voraus. Geht man davon aus, dass dies ohne Konflikte an einem Tag geschieht, kommen zu den 18 Konfrontationen sechs hinzu, was 24 Konfrontationen ergibt. Geht man schließlich davon aus, dass es mindestens jeweils eine Interessengruppe gibt, die für bzw. gegen das Vorhaben ist, und dass sich beide bei den vier Ereignissen (ein Kabinettsbeschluss, drei Parlamentssitzungen) zu Wort melden und die Medien darüber berichten, dann kommen bei der Nutzung von sechs Informationsquellen 6 x 4 x 2 = 48 Konfrontationen hinzu. Daraus ergibt sich, dass der Muster-Bürger 24 + 48 = 72 Mal mit einem weitgehend unstrittigen Gesetzesvorhaben konfrontiert wird. Selbst wenn er wollte, könnte er sich diesen Informationen nicht entziehen, es sei denn, er schaltet innerlich ab. Die ermittelte Zahl von 72 Konfrontationen ist selbstverständlich viel zu niedrig. Komplexe Vorhaben wie die Steuer-, Renten- und Gesundheitsreform
148
werden notwendigerweise monatelang beraten. Dabei treten mehrfach zahllose Beratergremien und Interessenvertreter auf. Es finden Tagungen und Demonstrationen statt, die Länder und Kommunen melden sich zu Wort und schaffen damit sie in die Medien kommen mediengerechte Ereignisse. Dies führt dazu, dass die Zahl der inszenierten und mediatisierten Ereignisse dramatisch steigt, während die Zahl der genuinen Ereignisse die verfahrensmäßig notwendigen Beratungen der politischen Gremien im Vergleich zu früheren Zeiten gleich bleibt. Allerdings wissen heute selbst die desinteressierten Teile der Bevölkerung, dass die Politik ein Gesetzesvorhaben betreibt, während sich früher nur die interessierten Teile der Bevölkerung dessen bewusst waren. Im Fall von komplexen Gesetzesvorhaben wird unser Muster-Bürger leicht 500 bis 1.000 Mal mit dem Geschehen konfrontiert, bevor eine Entscheidung gefallen ist. Die Art und Anzahl der Informationen dürfte seine Verarbeitungskapazität weit überfordern, was dazu führt, dass er wenig dazu lernt. Die Länge der Berichterstattung dürfte zudem seine Aufmerksamkeitsspanne weit überschritten haben, was dazu führt, dass er die Meldungen zu dem Thema, das ihn früher einmal interessiert hat, wenn überhaupt, nur noch widerwillig verfolgt. Und weil er nebenbei immer wieder erfährt, dass noch immer keine Entscheidung gefallen ist, glaubt er, es herrsche Stillsand: Die Politiker reden nur, handeln aber nicht. Der vermeintliche Stillstand ist die Folge der künstlichen Beschleunigung.
Zusammenfassung Die wichtigsten Befunde kann man in 13 Thesen zusammenfassen: 1. 2. 3. 4.
5.
Der Ereignisraum, über den die Medien berichten, ist stark erweitert worden. Die Geschwindigkeit, mit der Informationen von den Ereignisorten über die Medien zu den Rezipienten gelangen, hat stark zugenommen. Der publizistische Ereigniskosmos, d. h. die Zahl der publikationswürdigen Ereignisse, über die Informationen vorliegen, hat erheblich zugenommen. Innerhalb definierter Ereignisräume, z. B. eines Landes, hat die Zahl der berichtenswerten genuinen Ereignisse aber nicht generell zugenommen. Die Häufigkeit verschiedener Ereignisse hat sich vielmehr gegenläufig entwickelt. Innerhalb definierter Ereignisräume hat die Zahl der inszenierten und mediatisierten Ereignisse dramatisch zugenommen.
149
6. 7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
Aus Sicht der Journalisten geschehen nicht zu viele, sondern zu wenige publikationswürdige Ereignisse. Die Medien kompensieren den Mangel an berichtenswerten genuinen Ereignissen u. a. durch die Berichterstattung über inszenierte und mediatisierte Ereignisse. Der publizistische Ereignishorizont der Bevölkerung, d. h. das aktuelle Geschehen, das sie kennt oder zu kennen glaubt, hat sich wesentlich erweitert. Die Medien wecken nur dann das Problembewusstsein, wenn sie wiederholt über die gleichen Probleme berichten. Probleme, über die nur einmal berichtet wird, existieren für die Masse der Bevölkerung nicht. Weil die Aufnahmekapazität der Rezipienten beschränkt ist, verdrängen neue Probleme bereits bekannte Probleme aus dem Bewusstsein. Besonders erfolgreich sind dabei sogenannte Killerthemen. Weil die Aufmerksamkeitsspannen der Rezipienten beschränkt sind, verlieren sie nach kurzer Zeit das Interesse an Problemen. Trotzdem werden sie vielfach über längere Zeit mit entsprechenden Berichten konfrontiert. Politische Entscheidungen dauern oft länger als die Aufmerksamkeit der Bevölkerung und sind nur innerhalb von Entscheidungskorridoren möglich, die vor allem durch die Mehrheitsverhältnisse in den Gremien sowie durch machtrelevante Termine begrenzt sind. Das Problembewusstsein der Bevölkerung entwickelt sich oft nicht synchron zu den Entscheidungskorridoren. In diesen Fällen werden entweder keine Entscheidungen getroffen oder sie werden dann getroffen, wenn die Bevölkerung das Interesse an den Problemen und an der Problemlösung bereits wieder verloren hat.
Folgerungen Auch dann, wenn die Bevölkerung das Interesse an Problemen bereits wieder verloren hat, wird sie mit einer großen Zahl von Meldungen über den Stand der Dinge konfrontiert. Die Folge ist eine immer wieder ins Bewusstsein gehobene Diskrepanz zwischen den eigenen Erwartungen an die Problemlösungskapazität der Politik und den Prozessen der politischen Entscheidungsfindung. Sie schlägt sich in der Überzeugung nieder, in der Politik würde nur geredet und nicht gehandelt. Daran ändern auch die Entscheidungen nichts, wenn sie getroffen werden, weil sie als selbstverständlich, überfällig und inhaltlich suboptimal erlebt werden.
150
Der Glaube, dass in der öffentlichen Kommunikation mehr Informationen zu besseren Kenntnissen, vertieftem Verständnis und verstärktem Interesse führen, ist aus den genannten Gründen eine Illusion. Die Beziehung zwischen der Informationsmenge einerseits sowie den Kenntnissen, dem Verständnis und dem Interesse andererseits ist nicht linear sondern aller Wahrscheinlichkeit nach kurvenlinear: Letztere nehmen nach einem langsamen Beginn zunächst deutlich zu, stagnieren dann aber bald auf einem relativ niedrigen Niveau und schlagen in ein dezidiertes Desinteresse um.
1
Vgl. den Beitrag Der Ereignisbegriff in der Publizistikwissenschaft. In diesem Band, S. 67-84. Vgl. hierzu die Beiträge in: Klaus-M. Kodalle / Hartmut Rosa (Hrsg.): Rasender Stillstand. Beschleunigung des Wirklichkeitswandels. Konsequenzen und Grenzen (Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Band 12). Würzburg 2008. 3 Vgl. hierzu die Fallstudie von Lutz Hagen: Informationsqualität von Nachrichten. Meßmethoden und ihre Anwendung auf die Dienste von Nachrichtenagenturen. Opladen 1995. 4 Vgl. Wolfgang Donsbach / Katrin Büttner: Boulevardisierungstrend in deutschen Fernsehnachrichten. Darstellungsmerkmale der Politikberichterstattung vor den Bundestagswahlen 1983, 1990 und 1998. In: Publizistik 50 (2005) S. 21-38. 5 Vgl. Jürgen Wilke: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Berlin 1984, S. 122. 6 Ebenda, S. 98. 7 Ebenda, S. 151. 8 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg i. Br. 1998, S. 49. 9 Ebenda, S. 172. 10 Vgl. die Beiträge Theorien der Nachrichtenauswahl als Theorien der Realität. In diesem Band, S. 47-65 sowie Der Ereignisbegriff in der Publizistikwissenschaft. In diesem Band, S. 67-84. 11 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik, a. a. O., S. 152-163. 12 In der 14. Legislaturperiode (1994-1998) wurden 923 Gesetze eingebracht und 566 verabschiedet. In der 14. Legislaturperiode waren es 864 bzw. 559, in der verkürzten 15. Legislaturperiode 760 bzw. 608. Vgl. http://dip.bundestag.de/gesta/is/statistischerUeberblick.pdf. 13 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik, a. a. O., S.153-163; Hans Mathias Kepplinger: Politische und publizistische Funktionen von Kleinen Anfragen. In: Ders.: Politikvermittlung. Wiesbaden 2009, S. 99-115. 14 Ausnahmen bilden verkürzte Legislaturperioden. 15 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Politische und publizistische Funktionen von Kleinen Anfragen, a. a. O. 16 Vgl. Wolf Schneider / Detlef Esslinger: Die Überschrift. Sachzwänge, Fallstricke, Versuchungen, Rezepte. München 22002, S. 135 f. Der Wert 65 Prozent beziffert den Durchschnitt aus den Schätzungen der drei Nachrichtenchefs. 17 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik, a. a. O., S. 168. 18 Vgl. Jürgen Wilke / Carsten Reinemann: Kanzlerkandidaten in der Wahlkampfberichterstattung 1949-1998. Köln 2000, S. 66. 2
151
19
Vgl. den Beitrag Die Konstruktion von Ereignisserien nach Schlüsselereignissen. In diesem Band, S. 85-98. 20 Vgl. Hans-Bernd Brosius / Carsten Breinker / Frank Esser: Der Immermehrismus: Journalistisches Stilmittel oder Realitätsverzerrung? In: Publizistik 36 (1991) S. 407-427. 21 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Marcus Maurer / Thomas Roessing: Vom Kompetenz- zum Machtverlust. In: Elisabeth Noelle-Neumann / Hans Mathias Kepplinger / Wolfgang Donsbach: Kampa. Meinungsklima und Medienwirkung 1998. Freiburg i. Br. 1999, S. 215-236, dort S. 221. 22 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann / Renate Köcher (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1993-1997. München 1997, S. 911. 23 Vgl. Hans-Bernd Brosius / Hans Mathias Kepplinger: Killer and Victim Issues: Issue Competition in the Agenda-Setting Process of German Television. In: International Journal of Public Opinion Research 7 (1995) S. 210-231, dort S. 216. 24 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Verarbeitung von Fernsehnachrichten. In: Ders.: Medieneffekte. Wiesbaden 2010, S. 85-104. 25 Vgl. Annie Lang et al.: Wait! Dont Turn That Dial! More Excitement to Come! The Effects of Story Length and Production Pacing in Local Television News on Channel Changing Behavior and Information Processing in a Free Choice Environment. In: Journal of Broadcasting & Electronic Media 48 (2005) S. 3-22. 26 Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Klaus Gotto / Hans-Bernd Brosius / Dietmar Haak: Der Einfluß der Fernsehnachrichten auf die politische Meinungsbildung. Freiburg i. Br. 1989, S. 140-143. 27 Vgl. Hans-Bernd Brosius / Hans Mathias Kepplinger: Killer and Victim Issues, a. a. O. 28 Die intensive Berichterstattung der Medien über die Einführung der 35-Stunden-Woche, die Ausländerpolitik der Bundesregierung und die Mittelamerikapolitik der USA haben von Juni 1984 bis Juni 1985 das Fakten- und das Strukturwissen der Bevölkerung nur geringfügig verbessert. Vgl. Isabella-Afra Holst: Realitätswahrnehmung in politischen Konflikten. Grundlagen einer Theorie der Wissenskluft. Konstanz 2000, S. 163, 193, 214. 29 Elisabeth Noelle-Neumann / Renate Köcher (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 19982002. München 2002, S. 273. 30 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik, a. a. O., S. 58-65. Die Dauer der Gesetzgebungsverfahren wird seit einigen Jahren nicht mehr erfasst. Vgl. http://dip.bundestag.de /gesta/is/statistischerUeberblick.pdf. 31 Vgl. Uwe Hasebrink: Publikum, Mediennutzung und Medienwirkung. In: Otfried Jarren / Hartmut Weßler (Hrsg.): Journalismus Medien Öffentlichkeit. Eine Einführung. Wiesbaden 2002, S. 323412, dort S. 338. 32 Vgl. dazu die vergleichenden empirischen Analysen in Hans Mathias Kepplinger: Die aktuelle Berichterstattung des Hörfunks. Eine Inhaltsanalyse der Abendnachrichten und politischen Magazine. Freiburg i. Br. 1985; Hans Mathias Kepplinger / Joachim Friedrich Staab: Das Aktuelle in RTLplus. Analysemethoden Untersuchungsergebnisse Interpretationsmuster. München 1992.
152
Die Konstruktion der Ölkrise 1973/74
Untersuchungen über die Wirkungen der Massenmedien wurden häufig von der Besorgnis angeregt, dass deren Inhalte einen negativen Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft ausüben. Statt der gesellschaftlichen Veränderungen werden aber meist die einmaligen Reaktionen isolierter Individuen analysiert.1 Dabei unterstellt man mehr oder weniger bewusst, dass die Wirkung der Massenmedien auf die Entwicklung der Gesellschaft die Summe einmaliger Reaktionen isolierter Individuen ist.2 Die Wirkungsforschung hat dadurch die Gesellschaft, die durch Kommunikation konstituiert wird und die selbst die Kommunikation strukturiert, aus der Analyse ausgeschlossen. Die folgende Studie beschreibt die Entwicklung der sogenannten Ölkrise in der Bundesrepublik Deutschland im Winter 1973/74 und analysiert die Bedeutung der Massenmedien für die Entwicklung und den Verlauf des Geschehens. Dazu werden fünf Daten-Gruppen miteinander verglichen: die Entscheidungen der erdölexportierenden Länder; die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohöl und Rohölprodukten; die Berichterstattung der Presse über die Entscheidungen der erdölexportierenden Länder und die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohöl und Rohölprodukten; die Wahrnehmung der Situation durch die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland; die Reaktionen der Verbraucher von Rohölprodukten auf die von ihnen wahrgenommene Situation. Der Untersuchungszeitraum beträgt sechs Monate, vom September 1973 bis zum Februar 1974. Da in der entscheidenden Phase der Entwicklung zunächst die Verbraucher auf die Berichterstattung der Massenmedien und dann die Massenmedien auf die Verhaltensweise der Verbraucher reagierten, wird die Berichterstattung der Massenmedien an zwei Stellen behandelt.
Politischer Hintergrund Die erdölexportierenden Länder veränderten im Herbst und Winter 1973 durch eine Serie von Entscheidungen die Situation der Weltwirtschaft. Dabei kann man vier Arten von Entscheidungen unterscheiden: Verstaatlichungen von Erdölgesellschaften, Preiserhöhungen, Förderkürzungen und Lieferbeschränkungen. 3
H. M. Kepplinger, Realitätskonstruktionen, DOI 10.1007/978-3-531-92780-0_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Am 1. September 1973 übernahm Libyen durch Gesetz 51 Prozent der Anteile u. a. der Erdölgesellschaften Esso, Mobil, Texaco, Chevron, Shell und Gelsenberg.4 Der Verstaatlichung dieser Unternehmen war am 11. Juni die der Bunker Hunt-Oil Company vorausgegangen, die zu einer mehrwöchigen diplomatischen Auseinandersetzung zwischen Libyen und den Vereinigten Staaten geführt hatte.5 Die Entscheidungen Libyens bildeten durch ihre politische Bedeutung der libysche Staatschef Oberst Gaddafi bezeichnete sie als eine gezielte Maßnahme gegen die Vereinigten Staaten einen ersten Höhepunkt in dem ausbrechenden Konflikt. Am 16. Oktober 1973 erhöhten die sechs Mitgliedstaaten der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) am Persischen Golf (Saudi-Arabien, Kuwait, Katar, Abu Dhabi, Irak, Iran) einseitig den sogenannten Posted Price den Basispreis für die Steuerberechnung im Förderland um 70 Prozent, nachdem sie schon am 8. und 9. Oktober bei Verhandlungen mit Vertretern der westlichen Erdölgesellschaften eine Revision früherer Abkommen gefordert hatten. In den folgenden Tagen und Wochen erhöhten weitere arabische und nichtarabische Staaten einseitig die Preise für Rohöl und Rohölprodukte.6 Am 17. Oktober 1973 beschlossen neben Saudi-Arabien, Kuwait, Irak und Libyen weitere sechs arabische Staaten, die Förderung von Rohöl um 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu kürzen und weitere monatliche Kürzungen um 5 Prozent, solange Israel die 1967 eroberten arabischen Gebiete besetzt hält. Die Förderkürzungen waren Reaktionen auf den arabisch-israelischen Krieg, der am 6. Oktober 1973 ausgebrochen war.7 Am 18. Oktober 1973 stoppte Abu Dhabi seine Öllieferungen an die Vereinigten Staaten. Innerhalb weniger Tage folgten Boykottmaßnahmen von Libyen, Saudi-Arabien, Kuwait und anderen arabischen Staaten. Am 21. Oktober stoppte Algerien seine Öllieferungen an die Niederlande. Auch hier folgten innerhalb weniger Tage andere arabische Staaten. Diese Entscheidungen waren ebenfalls Reaktionen auf den arabisch-israelischen Krieg. Die arabischen Staaten warfen den boykottierten Ländern eine Unterstützung Israels vor und versuchten durch ihre Entscheidungen die politische Haltung dieser Länder zu beeinflussen.8 Die Entscheidungen der arabischen Staaten kamen nicht völlig überraschend. Schon im Januar 1973 hatten sich die Regierungen von Saudi-Arabien, Abu Dhabi und Kuwait mit Vertretern der westlichen Erdölgesellschaften auf Regierungsbeteiligungen von 51 Prozent geeinigt. Im Juni übernahm Nigeria 35 Prozent, im August Iran 50 Prozent westlicher Erdölgesellschaften. Auch die Förderkürzungen und Boykottmaßnahmen kündigten sich schon im Frühjahr 1973 an, als der Stellvertretende Vorsitzende des Revolutionären Kommandorates des Irak, Saddam Hussein Takriti, während eines Freundschaftsbesuches in der UdSSR erklärte, die arabischen Staaten würden das Erdöl als politische Waf-
154
fe im Kampf gegen Israel einsetzen.9 Im Oktober 1973 überlagerte sich jedoch eine Vielzahl verschiedenartiger Entscheidungen, die z. T. sehr unterschiedliche Motive besaßen, wodurch der Eindruck einer plötzlichen, eruptiven Entwicklung entstehen konnte. Die erwähnten Entscheidungen besaßen langfristige und kurzfristige Folgen. Zu den langfristigen Folgen gehören vor allem außerordentlich starke Preissteigerungen für Rohöl und Rohölprodukte sowie die dadurch hervorgerufenen Veränderungen im Weltwährungssystem und in der Weltkonjunktur.10 Zu den kurzfristigen Folgen gehören Lücken in der Versorgung der westlichen Industrienationen. Diese Versorgungslücken wirkten sich jedoch, wie noch gezeigt werden wird, in der Bundesrepublik Deutschland nicht in der Weise aus, wie sie in der Öffentlichkeit erwartet worden waren.
Rohöl-Einfuhren nach Deutschland Die Bundesrepublik Deutschland ist in ihrer Energieversorgung in einem hohen Maße von Importen abhängig. Der Anteil des Rohöls und der Rohölprodukte am gesamten Energiebedarf betrug im Jahre 1973 etwa 55 Prozent.11 Im gleichen Jahr musste sie etwa 60 Prozent ihres Energiebedarfs einführen; etwa 87 Prozent der Energieeinfuhren bestanden aus Rohöl und Rohölprodukten. Mehr als 80 Prozent der Rohöleinfuhren kamen aus arabischen Ländern. Die Bundesrepublik Deutschland war damit besonders auf die Rohöllieferungen aus diesen Ländern angewiesen und von den Förderkürzungen stark betroffen. Die arabischen Länder hatten 1973 gegen die Bundesrepublik Deutschland keine direkten Lieferbeschränkungen verhängt. Weil ein großer Teil des Rohöls und der Rohölprodukte jedoch über den niederländischen Seehafen Rotterdam in die Bundesrepublik eingeführt wird, konnte sich der Boykott gegen die Niederlande indirekt auch auf die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland auswirken. Trotz der Förderkürzungen und des Boykotts wurde im Oktober und November 1973 in die Bundesrepublik Deutschland erheblich mehr Rohöl eingeführt als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.12 Der Sachverständigenrat der Bundesregierung stellte daher in einem Sondergutachten Zu den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Ölkrise am 19. Dezember 1973 fest, dass die Belieferung der Bundesrepublik mit Rohöl und Mineralölerzeugnissen bis Ende November 1973 noch kaum beeinträchtigt war.13 Erst im Dezember 1973 und in den folgenden Monaten gingen die Rohöleinfuhren entsprechend den Prognosen des Sachverständigenrates zurück und lagen unter den Einfuhren in den entsprechenden Vergleichsmonaten des Vorjahres. Diese Verringerung der Rohöleinfuhren war jedoch wahrscheinlich zumindest teilweise auch darauf zurückzuführen, dass die Nachfrage nach Rohölprodukten seit Dezember 1973 sehr stark
155
zurückging und ebenfalls unter die Werte der Vergleichsmonate des Vorjahres fiel.14 Insgesamt importierte und verbrauchte die Bundesrepublik Deutschland im Jahr der Ölkrise erheblich mehr Rohöl und Rohölprodukte als 1972 und 1974 (Abbildung 1).15 Abbildung 1:
Rohöl-Einfuhren in die Bundesrepublik Deutschland 1972/73 und 1973/74 in Millionen Tonnen
11
10
9
8
7
6 September
Oktober
November 1972/73
Dezember
Januar
Februar
1973/74
Quelle: Die Ölversorgung im Spiegel der Zahlen. In: Oel. Zeitschrift für die Mineralölwirtschaft, 12. Jg. 1974/Heft 4, S. 91 f.
Die gute Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohöl und Rohölprodukten im Oktober und November 1973 besaß im Wesentlichen vier Gründe. Die Minderlieferungen einiger arabischer Staaten wurden erstens zum Teil durch Mehrlieferungen anderer arabischer und nichtarabischer Staaten zumindest teilweise ausgeglichen.16 Der Boykott gegen die Niederlande und ihre Seehäfen wurde zweitens zum Teil dadurch unterlaufen, dass Tanker, die ursprünglich Rotterdam anlaufen sollten, nach Wilhelmshaven umgeleitet wurden. 17 Die Tanker vom Persischen Golf sind drittens auf ihrer Fahrt um Afrika nach Nordeuropa etwa vier Wochen unterwegs, sodass sich die Lieferkürzungen erst voll auswirken konnten, als sie teilweise schon wieder rückgängig gemacht worden waren. Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Versorgung der Bundesrepu-
156
blik Deutschland gesichert werden konnte, bestand viertens darin, dass die Bundesregierung entsprechend den Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium für Wirtschaft vom 16./17. November 1973 und des Sachverständigenrates der Bundesregierung vom 19. Dezember 1973 keine Vorschriften für Höchstpreise erließ.18 Dadurch konnten zur Überbrückung von Lieferkürzungen freie Ölmengen auf dem Ölmarkt kostendeckend gekauft und angeboten werden. Vertreter der Mineralölwirtschaft beurteilten die Versorgungslage aufgrund der geschilderten Fakten widersprüchlich, insgesamt jedoch eher zurückhaltend. Die Zeitschrift für die Mineralölwirtschaft Oel bezeichnete die Situation im Januar 1974 als Krise in der mengenmäßigen Versorgung und als einen totalen Umbruch der Verhältnisse.19 Im gleichen Monat äußerte jedoch der Sprecher des Mineralölwirtschaftsverbandes, Hans-Joachim Burchard, in einer internen Stellungnahme seines Verbandes: Die Mineralölindustrie hat den Ausdruck Krise ... immer für überspitzt gehalten und von Versorgungsengpässen und Versorgungsproblemen gesprochen. Dieser Ausdruck erscheint auch rückblickend angemessener.20 Die Darstellung der Zeitschrift Oel dürfte angesichts dieser internen Stellungnahme eher eine öffentliche Rechtfertigung als eine präzise Definition der Situation gewesen ein. Auch Autoren außerhalb der Ölindustrie bestreiten überwiegend, dass im Herbst und Winter 1973 die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland derart schlecht gewesen sei, dass man von einer Krise sprechen könne.21 Fasst man die objektiven Daten und die wertenden Äußerungen zusammen, kann man feststellen: In der Bundesrepublik Deutschland gab es keine Ölkrise.
Mediendarstellungen Die Massenmedien der Bundesrepublik Deutschland berichteten über die Entscheidungen der erdölexportierenden Länder und über die Versorgung des Landes mit Rohöl und Rohölprodukten sehr häufig und in sehr umfangreichen Beiträgen. Für die quantitative Analyse der Berichterstattung der Massenmedien wurden die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Welt, Bild und Express ausgewählt, und zwar deshalb, um zwei verschiedene Typen von Zeitungen Qualitätszeitungen und Straßenverkaufszeitungen und Zeitungen mit verschiedener politischer Richtung liberale und konservative miteinander vergleichen zu können. Der Untersuchungszeitraum beginnt am 1. September 1973 und endet am 28. Februar 1974. Untersucht wurde jede zweite Ausgabe, in ihnen jeweils die ersten vier Seiten. Bei den drei Abonnementzeitungen wurden zusätzlich die ersten vier Seiten des Wirtschaftsteils analysiert, bei den beiden
157
Straßenverkaufszeitungen anstelle der vierten Seite die letzte Seite. Erfasst wurde jeder Beitrag, dessen Überschrift auf Ereignisse in Zusammenhang mit der Ölversorgung hinwies. Zur Erleichterung der Identifikation wurde eine Liste mit Schlüsselbegriffen erstellt; dazu gehörten u. a. Öl, Benzin, Krise, OPEC, Energie, Fahrverbot, Geschwindigkeitsbegrenzungen usw. Die Zeitungen haben auf den erwähnten Seiten zur Thematik insgesamt 1.446 Beiträge mit einem Gesamtumfang von 77.355 Zeilen veröffentlicht. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung publizierte 410 Beiträge mit 25.198 Zeilen, die Süddeutsche Zeitung 420 mit 24.995 Zeilen, Die Welt 414 mit 21.154 Zeilen, Bild 123 mit 3.901 Zeilen und Express 79 mit 2.107 Zeilen.22 Die Hauptthemen waren: die Versorgung mit Rohöl und Rohölprodukten, Nachfrage nach Rohölprodukten, Beurteilung der Gesamtsituation, Ursachen von Versorgungsmängeln, Maßnahmen gegen Versorgungsmängel, Auswirkungen der Situation auf künftige Entwicklungen. Bei der Codierung wurden Aussagen über die Bundesrepublik Deutschland und Aussagen über andere Staaten getrennt erfasst. Außerdem wurden Tatsachenfeststellungen und Vermutungen unterschieden. Der Vergleich der Berichterstattung der einzelnen Zeitungen zeigt, dass trotz der unterschiedlichen Typen und politischen Richtungen sowie trotz des unterschiedlichen Umfanges ihrer Berichterstattung keine großen Differenzen bei der Thematisierung der Ölkrise bestanden;23 die Behandlung der zentralen Kategorien verlief sehr genau parallel. Die fünf Zeitungen werden deshalb für die folgende Darstellung zusammengefasst und obwohl sie im statistischen Sinne nicht repräsentativ sind als Indikator für die Berichterstattung der Presse allgemein betrachtet.24 Die untersuchten Zeitungen stellten von September 1973 bis Februar 1974 die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohöl und Rohölprodukten sehr negativ dar: Etwa 6l Prozent aller Aussagen zu diesem Thema enthielten die Behauptung oder Vermutung, die Versorgungslage sei schlecht (ungenügend) oder würde sich verschlechtern; nur etwa 40 Prozent enthielten die Behauptung oder Vermutung, die Versorgungslage sei gut (normal) oder würde sich verbessern. Die meisten Vermutungen und damit die wenigsten Tatsachenbehauptungen wurden über die Lieferbeschränkungen gegen die Bundesrepublik Deutschland (68 Prozent), die Energieversorgung allgemein (60 Prozent) und die Förderung von Rohöl (56 Prozent) veröffentlicht. Die Journalisten fühlten sich hier offensichtlich besonders unsicher. Besonders sicher scheinen sie bei der Berichterstattung über zwei andere Themen gewesen zu sein: die künstliche Verringerung des Angebotes durch die Erdölgesellschaften und die Vorräte der Bundesrepublik Deutschland an Rohöl und Rohölprodukten. Über diese beiden Themen publizierten sie überwiegend (76 Prozent und 87 Prozent aller Aussagen) Tatsachenbehauptungen (Tabelle 1).
158
Tabelle 1: Positive und negative Tatsachenbehauptungen und Vermutungen über die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohöl und Rohölprodukten
Aussagen zum Thema
Tatsachen
Vermutungen
Alle Beiträge
positiv negativ
positiv negativ
positiv negativ
Versorgung mit Rohöl
65
56
56
72
121
128
Versorgung mit Rohölprodukten
42
54
11
44
53
98
Vorräte an Rohöl und Rohölprodukten
75
25
9
6
84
31
Förderung von Rohöl
8
27
13
33
21
60
Energieversorgung allgemein
8
19
14
27
22
46
Künstliche Verknappung durch Ölgesellschaften
0
41
0
13
0
54
Lieferbeschränkung, Boykott
0
15
0
32
0
47
Aussagen insgesamt
198
237
103
227
301
464
Es wurden nur Aussagen berücksichtigt, die sich auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen. Im Fall der Lieferbeschränkungen wurden auch allgemeine Aussagen berücksichtigt, wenn sie sich nicht explizit auf andere Länder bezogen. Positiv bedeutet, dass die Versorgungslage gut ist oder sich bessert; negativ bedeutet, dass die Versorgungslage schlecht ist oder sich verschlechtert. Im Fall Lieferboykott bedeutet positiv, dass kein Boykott stattfindet und negativ, dass er stattfindet; entsprechend ist die Bedeutung bei künstlicher Verknappung.
Schon im September publizierten die Zeitungen mehr Behauptungen und Vermutungen, dass die Versorgungslage schlecht sei oder sich verschlechtere, als Aussagen, dass die Versorgungslage normal sei oder sich normalisiere. Dadurch war ein Rahmen für die Beurteilung der nachfolgenden Ereignisse geschaffen. Ihre Beurteilung war in einer gewissen Weise schon vorstrukturiert.25 Schon in der ersten Oktoberwoche während die ersten Förderkürzungen bekanntgegeben wurden schnellte die Anzahl der negativen Behauptungen und Vermutungen in die Höhe. Sie stieg kontinuierlich in der zweiten Woche und erreichte in der dritten Woche einen ersten Höhepunkt, ging aber Ende Oktober wieder zurück. 159
Nach den erneuten Förderkürzungen und Lieferbeschränkungen stieg sie in der ersten Novemberwoche wieder stark an und erreichte mit 60 Aussagen innerhalb einer Woche ihren absoluten Höhepunkt; die inzwischen aufgebauten negativen Erwartungen schienen sich voll zu bestätigen. Die Versorgungslage der Bundesrepublik Deutschland war damit in der Presse nachhaltig als äußerst kritisch definiert. Auch in den folgenden Wochen, in denen u. a. die arabischen Länder beschlossen, dass die Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von einer für Dezember geplanten Förderkürzung nicht betroffen sein sollten (18. November 1973), beherrschten negative Darstellungen der Versorgungslage die Berichterstattung der untersuchten Zeitungen. Erst seit der ersten Dezemberwoche verringerte sich die Anzahl der negativen Darstellungen; die Berichterstattung war ausgewogener, es wurden etwa gleich viele negative und positive Aussagen publiziert (Abbildung 2). Abbildung 2:
Positive und negative Aussagen über die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohöl und Rohölprodukten Zahl der Aussagen
70 60 50 40 30 20 10 0 1 September 2 3 4 1973
5 Oktober 6 7 8 1973
9 November 10 11 12 13Dezember 14 15 16 17 Januar 18 19 20 21 Februar 22 23 24 1974 1974 1973 1973 positiv
negativ
Der relativ ähnliche Verlauf der Kurven über die Häufigkeit der Vermutungen und die Häufigkeit der negativen Aussagen deutet darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen der Äußerung von Vermutungen und negativen Aussagen gab. Diese Annahme wird durch eine Unterteilung der Tatsachenaussagen und
160
Vermutungen nach negativer und positiver Tendenz bestätigt: Vermutungen waren signifikant häufiger negativ als Tatsachenaussagen, diese waren entsprechend häufiger positiv als Vermutungen (Tabelle 2). Tabelle 2: Positive und negative Tatsachenaussagen und Vermutungen über die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohöl und Rohölprodukten Tatsachen (n=419) %
Vermutungen (n=299) %
Summe (n=718) %
positiv
47
36
42
negativ
53
64
58
insgesamt
100
100
100
Tendenz
p<0,001 (Chi-Quadrat-Test). Die Gesamtzahl der Aussagen (n=718) ist kleiner als die Gesamtzahl der Aussagen in Tabelle l (n=765), weil hier die Aussagen zu Lieferbeschränkungen nicht mitgezählt wurden. Dies geschah, weil die Kategorie nur bejahend, nicht verneinend angelegt war, sodass das Ergebnis verzerrt worden wäre.
Der Zusammenhang zwischen der Art der Aussagen (Tatsachen Vermutungen) und der Tendenz der Aussagen (positiv negativ) ist wahrscheinlich komplexer als Tabelle 2 andeutet. Er dürfte dynamisch und asymmetrisch sein. Eine Häufung negativer Tatsachen wie in der zweiten Oktoberwoche 1973 führt vermutlich zu einer Häufung negativer Vermutungen, während eine Häufung positiver Tatsachen nicht unbedingt zu einer Häufung positiver Vermutungen führt. Negative Vermutungen entfalten sich mit anderen Worten aufgrund der Häufung negativer Tatsachen disproportional häufiger als positive Vermutungen aufgrund positiver Tatsachen. Dieser Zusammenhang zwischen Art der Aussagen und Tendenz der Aussagen dürfte zwei Gründe besitzen: Negative Vermutungen im Zusammenhang mit der Häufung negativer Tatsachen werden durch die Furcht vor den Konsequenzen der negativen Tatsachen motiviert, während im umgekehrten Fall eine ähnlich starke Motivation fehlt. Negative Informationen besitzen einen hohen Nachrichtenwert,26 sodass die Tendenz besteht, den Mangel an negativen Nachrichten durch negative Vermutungen zu kompensieren.
161
Sichtweisen der Bevölkerung Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland reagierte auf die Entscheidungen der erdölexportierenden Länder und auf die Berichterstattung der Presse darüber außerordentlich besorgt. Diese Besorgnis zeigt sich sowohl bei einem Vergleich der Urteile über die Bedeutung des Erdöls als Energiequelle in verschiedenen Jahren als auch bei einem Vergleich der Befürchtungen über Versorgungsschwierigkeiten in verschiedenen Monaten des Jahres 1973. Auf die Frage: Auf dieser Liste stehen verschiedene Energiearten. Wenn Sie die einmal miteinander vergleichen: Was ist Ihrer Meinung nach für uns heute das Wichtigste, worauf könnten wir am wenigsten verzichten? nannten 1970 11 Prozent, 1971 und 1972 jeweils 9 Prozent der Bevölkerung das Öl. Im November 1973 äußerten 23 Prozent der Bevölkerung, wir könnten am wenigsten auf das Öl verzichten. Die Behauptungen und Vermutungen, dass die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Öl gefährdet sei, hat damit das Bewusstsein der Abhängigkeit vom Öl, das in der Bevölkerung vorher kaum vorhanden war, verbreitet. Die Reaktion der Bevölkerung bestand weniger in der Einsicht, wir müssen verzichten, als in der Vorstellung, wir können nicht verzichten. Diese Vorstellung der Bevölkerung blieb im Unterschied zu den aktuellen Befürchtungen über eine drohende Benzinknappheit (vgl. unten) trotz der nachlassenden Thematisierung durch die Massenmedien auch in den folgenden Jahren erhalten. Betrachtet man die Vorstellung von der eigenen Abhängigkeit als einen Indikator für Problembewusstsein, dann hat der Erdölschock von 1973 das Problembewusstsein der Bevölkerung gestärkt, obwohl dies sachlich unbegründet war. Die Berichterstattung der Massenmedien erweist sich unter diesem langfristigen Gesichtspunkt als funktional, unter einem kurzfristigen Gesichtspunkt dagegen als dysfunktional (Abbildung 3).27 Eine Serie von insgesamt sechs Umfragen in fünf aufeinanderfolgenden Wochen gibt die Möglichkeit, die Wahrnehmung der Versorgungslage durch die Bevölkerung genau nachzuzeichnen. Um die Daten dem Wochenrhythmus der Inhaltsanalyse anzupassen, wurde aus jeweils zwei Befragungsergebnissen der Mittelwert gebildet, sodass fünf Werte zur Verfügung stehen. Die Wahrnehmung der Versorgungslage wurde durch die Frage ermittelt: Glauben Sie, das Benzin könnte in den nächsten zwei, drei Monaten so knapp werden, dass es zu ernsten Versorgungsschwierigkeiten kommt, oder halten Sie solche Befürchtungen für übertrieben? Die Frage wurde zwischen dem 10. November und Ende Dezember 1973 an Autobesitzer gestellt, die von den Versorgungsschwierigkeiten daher besonders hart betroffen gewesen wären.28 In der zweiten, dritten und vierten Woche des November fürchteten mehr als zwei Drittel der befragten Autobesitzer (72 Prozent, 72 Prozent, 69 Prozent), das Benzin werde so knapp, dass es zu
162
Abbildung 3:
Anteil der Bevölkerung, die Öl für die wichtigste Energiequelle hält, auf die man am wenigsten verzichten kann in Prozent
28 24 20 16 12 8 4 0 1970 (Jan.)
1971 (Jan.)
1972 (Feb.)
1973 (Nov.)
1974*
1975*
1976 (Sept.)
1977 (Sept.)
* Keine Daten vorhanden. Quelle: Jochen Hansen: Der Erdölschock in der öffentlichen Meinung. In: Brennpunkte. Publikation des Gottlieb-Duttweiler-Instituts 1974, 36/25, S. 7-13 und Institut für Demoskopie Allensbach Archiv.
ernsten Versorgungsschwierigkeiten kommt. Im Dezember verringerte sich die Zahl derer, die derartige Befürchtungen äußerten, sehr schnell auf zunächst 53 Prozent und dann 34 Prozent. Vergleicht man die Entwicklung der Bevölkerungsmeinung mit der aus Abbildung 2 übernommenen Entwicklung der Berichterstattung, so zeigt sich, dass sich die Besorgnis in der Bevölkerung in dem Maße verringerte, in dem die Zahl der besorgniserregenden Aussagen in der Presse zurückging (Abbildung 4). Die außerordentlich große Besorgnis der Bevölkerung über die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohölprodukten dürfte entscheidend von der negativen Berichterstattung der Massenmedien beeinflusst worden sein. Für diese Annahme sprechen mehrere Gründe: Die Bevölkerung besaß zumindest am Beginn der Entwicklung keinerlei negative Erfahrungen. Auch als es zu kurzfristigen Lieferschwierigkeiten gekommen war, waren nur verhältnismäßig wenige Personen direkt betroffen. Die eigene Erfahrung scheidet als Quelle der Information und Ursache der Besorgnis aus. Die Besorgnis der Bevölkerung nahm im Dezember trotz der eigenen Erfahrung mit dem Fahrverbot der Regierung, das
163
Abbildung 4:
Negative Aussagen über die Versorgung in der Presse/Besorgnis über ernste Versorgungsschwierigkeiten unter PKW-Besitzern Anzahl negativer Aussagen / Anteil PKW-Besitzer in Prozent
80 70 60 50 40 30 20 10 0 1 September 2 3 4 1973
5
6Oktober 7 8 1973
Februar 9 November 10 11 12 13 Dezember 14 15 16 17 18Januar 19 20 21 22 23 24 1973 1973 1974 1974
Negative Aussagen
Besorgnis
Quelle: Jochen Hansen: Der Erdölschock in der öffentlichen Meinung. In: Brennpunkte. Publikation des Gottlieb-Duttweiler-Instituts 1974, 36/25, S. 7-13.
noch dargestellt wird, stark ab, nachdem die negative Berichterstattung der Massenmedien zurückgegangen war. Die Wirkung, die die Berichterstattung der Massenmedien besaß, beruhte dabei keineswegs notwendigerweise darauf, dass sie direkt die Besorgnis jedes einzelnen verursachte. Die Berichterstattung löste vielmehr wahrscheinlich eine Kettenreaktion aus, die auch von Personen weitergeleitet wurde. Der entscheidende Zündfunke für die Kettenreaktion bildete jedoch die Berichterstattung der Massenmedien. Man muss sie daher auch dann als Ursache der Entwicklung betrachten, wenn sie nicht jede Wirkung selbst direkt hervorgerufen hat. Sie bildete die conditio sine qua non.
Verhalten der Bevölkerung In der Bundesrepublik Deutschland nahm der Absatz von Rohölprodukten innerhalb des Untersuchungszeitraumes von Oktober 1973 bis Februar 1974 einen völlig atypischen Verlauf. Normalerweise steigt er von September bis etwa zur 164
Jahreswende kontinuierlich an und geht anschließend ebenso kontinuierlich wieder zurück. Anders im Jahr der Ölkrise. Hier stieg der Absatz von Rohölprodukten im Oktober 1973 um mehr als eine Million Tonnen über die ursprünglichen Schätzungen der Mineralölindustrie hinaus steil an. Der Absatz von Benzin und Diesel lag um 7 Prozent, der Absatz von schwerem Heizöl um 15 Prozent und der Absatz von leichtem Heizöl sogar um 31 Prozent über dem Absatz im Oktober 1972. Im November 1973 ging der Absatz von Rohölprodukten leicht zurück. Er lag jedoch immer noch erheblich über dem im vorangegangenen Jahr und über den ursprünglichen Schätzungen der Mineralölindustrie.29 Im Dezember 1973 fiel der Verkauf von Rohölprodukten weit unter die Schätzungen der Mineralölindustrie und den Absatz im Dezember 1972, stieg im Januar noch einmal etwas an und fiel dann erneut unter die Schätzungen und die Verkaufszahlen des Vorjahres auf einen absoluten Tiefpunkt. Im Februar 1974 lagen der Absatz von Benzin um 15 Prozent, der Absatz von schwerem Heizöl um 30 Prozent, der Absatz von Dieselöl um 31 Prozent und der Absatz von leichtem Heizöl sogar um 49 Prozent unter dem Absatz im Februar des vergangenen Jahres.30 Die Kurve für den Absatz von Rohölprodukten hatte deshalb nicht wie in normalen Jahren ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte, sondern in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraumes (Abbildung 5). Die Tatsache, dass besonders der Absatz von leichtem und schwerem Heizöl zunächst sehr stark anstieg und dann ebenso stark zurückging, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Verbraucher im Oktober und November ihre gesamten Lagerungsmöglichkeiten ausnutzten und im Januar und Februar noch von ihren Vorräten zehren konnten. Ähnlich starke Veränderungen waren bei Benzin und Diesel wegen der mangelnden Vorratsmöglichkeiten nicht aufgetreten. Der starke Absatzrückgang von Dieselöl im Februar könnte u. a. darauf zurückzuführen sein, dass ein Teil der Verbraucher die großen Mengen an leichtem Heizöl, die in dem milden Winter 1973/74 nicht verbraucht wurden, trotz des Verbotes als Dieselkraftstoff für ihre Personen- und Lastwagen verwendete. Die ungewöhnlich starke Nachfrage nach Rohölprodukten im Oktober und November 1973 dürfte durch die Besorgnis der Bevölkerung hervorgerufen worden sein, dass die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohölprodukten gefährdet war, die ihrerseits wahrscheinlich durch die Berichterstattung der Massenmedien hervorgerufen worden war. Man muss sie deshalb als eine indirekte Wirkung der Berichterstattung betrachten.
165
Abbildung 5:
Verkauf von Rohölprodukten (alle Arten) in der Bundesrepublik Deutschland 1973/74 im Vergleich zu 1972/73 in Millionen Tonnen
13
12
11
10
9
80 September
Oktober
November
Dezember
Januar
Februar
1973-74 (tatsächliche Entwicklung); 1973-74 (erwartete Entwicklung unter normalen Bedingungen); 1972-73 (erwartete Entwicklung unter normalen Bedingungen) Quelle: Die Ölversorgung im Spiegel der Zahlen. In: Oel. Zeitschrift für die Mineralölwirtschaft, 12. Jg. 1974/Heft 4, S. 93.
Beschlüsse der Bundesregierung Die Mineralölgesellschaften in der Bundesrepublik Deutschland sind gesetzlich verpflichtet, sogenannte Pflichtvorräte zu halten. Diese Pflichtvorräte entsprechen in der Regel dem Produktionsvolumen von 60 Tagen des vorangegangenen Jahres.31 Die tatsächlichen Vorräte werden als Abweichungen von den Pflichtvorräten berechnet, indem man das Produktionsvolumen eines Tages des Vorjahres zugrunde legt; sie liegen dann z. B. um 10 Tage über den Pflichtvorräten. Obwohl im Oktober und November 1973 erheblich mehr Rohöl und Rohölprodukte eingeführt wurden als in den beiden Vergleichsmonaten des vergangenen Jahres, sanken die Vorräte, die über die Pflichtvorräte hinaus vorhanden waren, im Oktober und November erheblich ab. Bei der Produktgruppe I (vor allem Benzin) verringerten sie sich von zwölf auf sechs bzw. fünf Tage, bei der Produktgruppe II (vor allem leichtes Heizöl) von 27 auf 24 bzw. 25 Tage und bei der Produktgruppe III (schweres Heizöl) von 30 auf 20 bzw. 14 Tage. Erst im Laufe des Dezember und Februar stiegen die Vorräte bei Benzin und leichtem Heizöl 166
wieder an, während sie bei schwerem Heizöl relativ konstant blieben (Abbildung 6).32 Abbildung 6:
Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Benzin, leichtem und schwerem Heizöl über die gesetzlichen Pflichtvorräte hinaus Versorgungsvorrat in Tagen
32 28 24 20 16 12 8 4 0 September 1973
Oktober 1973 Benzin
November 1973
Dezember 1973
schweres Heizöl
Januar 1974
Februar 1974
leichtes Heizöl
Quelle: Die Ölversorgung im Spiegel der Zahlen. In: Oel. Zeitschrift für die Mineralölwirtschaft, 12. Jg. 1974/Heft 4, S. 93.
Durch die ungewöhnlich große Nachfrage nach Rohölprodukten kam es im Oktober und November 1973 kurzfristig zu Lieferschwierigkeiten. Die Mineralölwirtschaft konnte die Nachfrage nicht immer vollständig befriedigen, an einzelnen Tankstellen gab es an einigen Tagen kein Benzin, Hausbesitzer mussten auf Heizöllieferungen warten. Die kurzfristigen Lieferschwierigkeiten, verbunden mit dem dramatischen Rückgang der Vorräte, erweckten den Eindruck einer Versorgungskrise. Die Bundesregierung erließ unter dem Eindruck dieser Entwicklung am 9. November ein bis Ende 1974 befristetes Energiesicherungsgesetz. Auf der Grundlage dieses Gesetzes beschloss die Bundesregierung am 19. November eine Verordnung, die ein allgemeines Fahrverbot für Kraftfahrzeuge an vier Sonntagen (25. November, 2., 9. und 16. Dezember 1973) aussprach und 167
die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen und Landstraßen auf 100 km/h bzw. 80 km/h begrenzte. Ähnliche Regelungen wurden in anderen europäischen Ländern beschlossen.33 Die Beschlüsse der Bundesregierung haben erheblich dazu beigetragen, dass sich die Versorgungslage verbesserte.34 Der auffallende Rückgang der Vorräte an Rohöl und Rohölprodukten beruhte jedoch zumindest im Oktober und November 1973 wahrscheinlich überwiegend auf einer statistischen Täuschung. Durch die enorme Nachfrage nach Rohölprodukten im Oktober und November verlagerten sich die Vorräte von den Vorratslagern der Mineralölindustrie in die Vorratslager der Verbraucher ohne dass sie sofort verbraucht wurden. Die in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich vorhandenen Vorräte bei der Mineralölwirtschaft und den Verbrauchern zusammen blieben wahrscheinlich weitgehend konstant. Die Versorgungsmängel des Jahres 1973 sind daher mit aller Wahrscheinlichkeit nicht durch eine krisenhafte Verringerung des Angebotes, sondern durch eine krisenhafte Steigerung der Nachfrage hervorgerufen worden. Die Ölkrise des Jahres 1973 war weniger eine Krise im Wirtschaftssystem als eine Krise im Kommunikationssystem, die sich auf das Wirtschaftssystem auswirkte. Sie bestand nicht in einem Mangel an Energie, sondern in einem Mangel an sachgerechten Informationen, der durch negative Spekulationen kompensiert wurde und dadurch genau jenen Zustand provozierte, den man vermeiden wollte.
Etikettierung der Situation als Krise Die Verwendung wertender Begriffe, z. B. des Begriffes Krise, ist ein Mittel zur Definition einer Situation, die einem zunächst objektiven oder wertfreien Sachverhalt seine gesellschaftliche Bedeutung gibt.35 Um festzustellen, ob die untersuchten Zeitungen die Versorgungslage der Bundesrepublik Deutschland als Krise definierten, wurde die Verwendung des Begriffes in allen Beiträgen über die Energieversorgung ermittelt und hierzu die Begriffe Krise, Ölkrise, Energiekrise, Versorgungskrise, Wirtschaftskrise, Wachstumskrise und ähnliche Begriffskombinationen codiert jeder einzelne Begriff in jedem Beitrag jedoch nur einmal. Die untersuchten Zeitungen verwandten den Begriff Krise gelegentlich schon im September 1973 in ihrer Berichterstattung über die Energieversorgung. Erst im Oktober nahm jedoch die Anzahl der Erwähnungen stark zu; diese Entwicklung setzte sich im November fort und erreichte in der letzten Woche des Novembers ihren absoluten Höhepunkt. Allein in dieser einzigen Woche wurde der Begriff 86mal in Zusammenhang mit der Energieversorgung verwandt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nur jede zweite Zeitungsausgabe analysiert wur-
168
de. Daraus ist zu folgern, dass die fünf Zeitungen den Begriff Krise insgesamt sogar etwa 160mal in dieser einen Woche gebrauchten. Anschließend nahm die Häufigkeit der Erwähnungen im Dezember zunächst schnell, im Januar und Februar dann langsamer ab. Der Begriff verschwand gegen Ende des Untersuchungszeitraumes weitgehend aus der Berichterstattung. Zwischen der Definition der Situation als Krise und der tatsächlichen Versorgungslage bestand kein sinnvoller Zusammenhang. Die Presse reagierte auf den dramatischen Rückgang der Reserven verhältnismäßig spät, dann aber unverhältnismäßig heftig und schließlich obwohl sich sachlich kaum etwas geändert hatte fast nicht mehr (Abbildung 7). Abbildung 7:
Etikettierung der Situation als Krise Zum Vergleich: Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohölprodukten (Mittelwerte aus den drei Produktgruppen)
Zahl der Aussagen | Millionen Tonnen
90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1September 2 3 4 1973
5 Oktober 6 7 8 1973
Januar 9November 10 11 12 13Dezember 14 15 16 17 18 19 20 21 Februar 22 23 24 1973 1973 1974 1974
Definition als Krise
Versorgung
Die untersuchten Zeitungen haben den Begriff Krise in ihrer Berichterstattung über die Energieversorgung insgesamt 633mal benutzt. Der Begriff wurde dabei von verschiedenen Personen verwandt: von Journalisten, die ohne weitere Quellenangaben von Krise sprachen, von Politikern, Wirtschaftlern, Wissenschaftlern und anderen Personen, die von den Journalisten zitiert wurden. Da einige dieser Personen in einem Beitrag mehrere Varianten des Krisenbegriffs verwandt haben, ist die Zahl der Personen, die den Begriff verwandt haben geringer als die 169
Zahl der Begriffe sie beträgt 569. Weitaus am häufigsten haben Journalisten den Begriff Krise benutzt: In 72 Prozent aller Fälle haben sie den Begriff ohne einen Hinweis auf andere Personen publiziert, in 15 Prozent aller Erwähnungen wurden Äußerungen von Politikern referiert oder zitiert, in 4 Prozent Wirtschaftsleute, in 1 Prozent Wissenschaftler. Die restlichen Erwähnungen teilen sich auf verschiedene andere Quellen.36 Die Versorgungslage der Bundesrepublik Deutschland wurde damit eindeutig von den Massenmedien bzw. von den Journalisten und nicht von anderen Personen oder Institutionen als Krise etikettiert. Geht man davon aus, dass die negative Berichterstattung der Massenmedien über die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohöl und Rohölprodukten im Oktober und November die übersteigerte Nachfrage wesentlich mit verursacht hatte, dann definierten die Massenmedien einen Zustand als Krise, den sie selbst entscheidend mit herbeigeführt hatten. Dabei waren die Massenmedien bzw. die für sie arbeitenden Journalisten gerade diejenigen, die die Situation im Unterschied zu Politikern, Wirtschaftlern und Wissenschaftlern für eine Krise hielten. Eine Berechnung soll diese These stützen.
Erklärung der Ursachen der Situation In der Berichterstattung der Massenmedien über die Ursachen oder Urheber der genannten Krise blieb die Rationalität des wirtschaftlichen Handelns weitgehend verborgen. An die Stelle von Einsichten in die Logik des Marktes treten Verschwörungstheorien. Danach haben dunkle Mächte mit minderwertigen Motiven die Ölkrise inszeniert. Die untersuchten Zeitungen nannten in 89 Fällen Urheber bzw. Ursachen für die Versorgungsschwierigkeiten. Am häufigsten erwähnten sie die arabischen Staaten (34 Prozent), nahezu gleich häufig (27 Prozent) die Erdölgesellschaften. Der Nahostkrieg allgemein wird nur relativ selten (15 Prozent), die Verbraucher noch seltener als Ursache genannt (10 Prozent). Die häufige Erwähnung der Erdölgesellschaften als Urheber der sogenannten Krise ergänzt die Behauptung, die Mineralölgesellschaften hätten die Versorgung künstlich verschlechtert. Da keine verlässlichen Unterlagen vorliegen, ist es nicht möglich festzustellen, ob die Mineralölgesellschaften mögliche Lieferungen zurückgehalten haben. Da sie jedoch in den entscheidenden Monaten Oktober und November wesentlich mehr Rohölprodukte verkauften als in allen vergleichbaren Monaten, ist es unerheblich, ob sie darüber hinaus noch zu weiteren Öllieferungen in der Lage gewesen wären. Das negative Bild, das die untersuchten Zeitungen von der Rolle der Mineralölgesellschaften gezeichnet haben, spiegelte sich in den Vorstellungen der Bevölkerung. Diese wurden im Februar 1974 durch die Frage ermittelt: Manche
170
meinen, die Ölkrise sei nur hochgespielt worden. Glauben Sie, da ist was Wahres dran oder glauben Sie das nicht? Insgesamt 72 Prozent der Bevölkerung glaubten, die Ölkrise sei hochgespielt worden, 19 Prozent glaubten es nicht und 9 Prozent waren unentschieden. Die Meinung der Bevölkerung von den Urhebern dieser Dramatisierung wurde durch die Frage ermittelt: Wer könnte wohl Ihrer Meinung nach ein großes Interesse daran gehabt haben, die Ölkrise hochzuspielen? Könnten Sie es nach dieser Liste hier sagen? Die genannte Liste enthielt Antwortvorgaben, darunter waren die Massenmedien leider nicht. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung (58 Prozent) meinte, vor allem die Gesellschaften hätten ein Interesse daran gehabt, dass die Ölkrise hochgespielt worden sei. Etwas mehr als ein Drittel (37 Prozent) nannte die erdölexportierenden Länder, etwas mehr als ein Fünftel (22 Prozent) die Bundesregierung, etwa ein Zehntel (11 Prozent) die Sowjetunion und 5 Prozent nannten die CDU/CSU-Opposition. Die Mineralölwirtschaft und die erdölexportierenden Länder waren damit sowohl in der Berichterstattung der Massenmedien als auch in der hiervon wahrscheinlich geprägten Vorstellung der Bevölkerung die Hauptschuldigen der sogenannten Ölkrise.
Zusammenfassung und Folgerungen Zusammenfassung 1.
2.
3.
4.
Nach den Verstaatlichungen, Förderkürzungen und Lieferbeschränkungen durch die erdölproduzierenden Länder im Oktober 1973 wurde in die Bundesrepublik Deutschland mehr Rohöl importiert als in allen vorangegangenen Jahren. Der entscheidende Grund hierfür bestand darin, dass es in Deutschland keine Höchstpreisverordnungen gab und die Ölfirmen hier die besten Preise erzielen konnten. Die Massenmedien vertreten durch drei Qualitäts- und zwei Boulevardzeitungen haben ab Oktober extrem viele Aussagen über negative Auswirkungen der erwähnten Entscheidungen auf die Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit Rohöl- und Rohölprodukten veröffentlicht. Dabei hat es sich vielfach um Vermutungen gehandelt. Die Sorgen der Bevölkerung stiegen im Gefolge des Anstiegs der negativen Berichterstattung und fielen im Gefolge ihres Rückgangs. Dies zeigte sich in der Überzeugung, dass Öl die wichtigste Energiequelle sein, bzw. dass ernste Versorgungsschwierigkeiten bestehen oder eintreten werden. Die Bevölkerung (und die Unternehmen) kauften im Gefolge der zunehmend negativen Berichterstattung und ihrer wachsenden Sorgen mehr Roh-
171
5.
6.
7.
ölprodukte als in vergleichbaren Jahren. Dies traf auf den Kauf von Benzin, leichtem Heizöl und schwerem Heizöl zu. Als Folge der gestiegenen Nachfrage und der beschränkten Kapazität der Raffinerien kam es zu Versorgungslücken. Dies betraf vor allem die Verfügbarkeit von Benzin und Diesel an den Tankstellen sowie von leichtem Heizöl. Die Medien berichteten umfangreich über die erkennbaren Versorgungslücken und die dadurch verstärkten Sorgen der Bevölkerung. Die Bundesregierung beschränkte die zulässige Höchstgeschwindigkeit und erließ deshalb, da ihr die tatsächliche Versorgungslage bekannt war, am 9. November 1973 ein Fahrverbot für Kraftfahrzeuge an vier Sonntagen.37 Die Medien charakterisierten im Gefolge dieser Entscheidung die Situation zunehmend als Krise und erklärten sie vor allem durch das Verhalten der arabischen Staaten und der Erdölgesellschaften.
Exkurs Im Iran begannen im Januar 1978 gewaltsame Demonstrationen gegen den Schah Rezah Pahlavi, die zu seinem Rücktritt und im Februar 1979 zur Machtübernahme von Ayatollah Khomeini führte. Diese Entwicklung besaß erhebliche Auswirkungen auf die Ölförderung im Iran, die Ölversorgung der Bundesrepublik Deutschland und die Darstellung der Situation durch die deutschen Medien. Die wichtigsten Aspekte dieser Entwicklung kann man in sieben Feststellungen zusammenfassen:38 1. 2. 3.
4.
5.
172
Ab September 1978 streikten etwa 10.000 Arbeiter der Ölindustrie, im November kam der Ölexport zum Erliegen. Der Iran war 1978 der wichtigste Lieferant von Rohöl in die Bundesrepublik Deutschland. Der Ausfall der Importe aus dem Iran wurde bis Januar 1979 vor allem durch Importe aus Saudi-Arabien ausgeglichen, das seine Fördermengen erheblich ausgeweitet hatte. Nachdem u. a. Saudi-Arabien seine Fördermengen wieder reduziert hatte, brachen die Importe im Februar und März 1979 massiv ein. Die Importlücke wurde aus den Reserven ausgeglichen und erreichte die Verbraucher nicht. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und Die Welt veröffentlichten über die Entwicklung im gleichen Zeitraum nur etwa halb so viele Beiträge wie über die entsprechende Entwicklung 1973.
6.
7.
Der Schwerpunkt ihrer Berichterstattung lag nicht auf der Versorgung mit Rohöl und Rohölprodukten sondern auf der Entwicklung der Preise, die wegen der Förderkürzungen erheblich gestiegen waren. Auch im Februar und März, als die Importe dramatisch eingebrochen waren, stellten sie die Versorgungslage weniger negativ dar als 1973. Die Bevölkerung nahm den Rückgang der Importe nicht wahr und sie reagierte auf diese Situation nicht mit einer verstärkten Nachfrage nach Benzin, Diesel sowie leichtem und schwerem Heizöl. Ursache ihres Verhaltens war folglich nicht die objektive Versorgungslage, sondern ihre Darstellung durch die Medien hier repräsentiert durch drei Qualitätszeitungen.
Folgerungen Aus der detaillierten Analyse der Entwicklung 1973/74 kann man zumal im Vergleich zu der hier nur kurz referierten Analyse der Entwicklung 1978/79 drei allgemeine Folgerungen ableiten: 1.
2.
Die Berichterstattung der Massenmedien beeinflusst die gesellschaftliche Entwicklung auch dann, wenn sie ein falsches oder inadäquates Bild der tatsächlichen Verhältnisse zeichnet. Vermitteln die Massenmedien ein richtiges Bild, dann reagieren die Individuen auf die Berichte wie auf die Realität; vermitteln sie jedoch ein falsches, dann orientieren sie sich eher an den Berichten als an der für Experten erkennbaren Realität. Dies geschieht umso wahrscheinlicher, je mehr das Bild, das sich die Individuen von der Wirklichkeit machen, von den Berichten der Massenmedien abhängt.39 Eine entscheidende Frage für die Analyse der Wirkung der Massenmedien auf gesellschaftliche Entwicklungen lautet daher: Welche gesellschaftlichen Entwicklungen nähmen einen anderen Verlauf, wenn die Massenmedien darüber nicht oder anders berichten würden? Der Begriff der WirkungsUrsache wird dabei im Sinne der conditio sine qua non verstanden. Der direkte Kontakt zwischen den Inhalten der Massenmedien und allen Teilen der Gesellschaft ist keine notwendige Voraussetzung für die Wirkung der Massenmedien auf alle Teile der Gesellschaft.40 Die entscheidende Voraussetzung besteht vielmehr darin, dass die Massenmedien einen Zündfunken für eine Entwicklung liefern, die dann nach eigenen Regeln abläuft. Die gesellschaftliche Wirkung der Massenmedien besteht mit anderen Worten nicht in der Addition der Wirkungen auf Einzelindividuen, sondern darin, Kettenreaktionen auszulösen. Die Stärke der Wirkung hängt deshalb nicht von der Anzahl der Stimuli ab. Die Bevölkerung der Bundesrepublik
173
3.
1
hat nach der vorliegenden Untersuchung schon auf die erste Welle der negativen Berichte über die Versorgungslage mit Hortungskäufen reagiert. Die zweite, größere Publikationswelle im November hat dieses Verhalten nicht verstärkt. Daraus ergibt sich die Frage: Wann erreicht die Berichterstattung der Massenmedien über ein bestimmtes Thema ihre kritische Masse, d. h.: Wann ist sie häufig und homogen genug, um eine Kettenreaktion auszulösen? Die Massenmedien vermitteln in ihrer Berichterstattung das Bild einer sozialen Wirklichkeit, die nach anderen Regeln funktioniert als es die soziale Wirklichkeit selbst tut.41 Die Logik der Wirklichkeit unterscheidet sich mit anderen Worten von der Logik der dargestellten Wirklichkeit. Die realen gesellschaftlichen Zusammenhänge bleiben dadurch zumindest teilweise verborgen. Wir leben in einer Zeit, in der die Massenmedien immer stärker das Bild von der Gesellschaft beeinflussen. Deshalb ist es notwendig, Antwort auf eine weitere Frage zu finden: Welchen Einfluss hat das falsche Bild von den gesellschaftlichen Zusammenhängen, das die Massenmedien zuweilen vermitteln, auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge, d. h. auf die Regeln der Gesellschaft?
Ansätze zur Erforschung gesellschaftlicher Wirkungen der Massenmedien finden sich in George Gerbner / Larry Gross: Living with Television: The Violence Profile. In: Journal of Communication 26 (1976) Nr. 2, S. 171-199. 2 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Paradigm Change in Communications Research. In: Communication 4 (1979) S. 163-182. 3 Zur Vorgeschichte und Geschichte der Ölkrise vgl. Archiv der Gegenwart 43. Bonn 1973, Sp. 18.316, 18.319; Hans-Joachim Burchard: Der Souveränitätswechsel beim Erdöl. In: Außenpolitik 25 (1974) Nr. 4, S. 447-460; ders.: Eröffnung des Dialogs mit den Erdölländern. In: Außenpolitik 26 (1975) Nr. 2, S. 133-155; W. Flachs: Entwicklungstendenzen im Erdölsektor. Referat anlässlich der internationalen Tagung Middle East im Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon (Schweiz) am 26. Mai 1975 (nicht im Buchhandel); Exxon: Testing the Tiger. In: Time (18. Februar 1974). Deutsch in: Esso AG (Hrsg.): Die Oel-Uno. Hamburg 1974 (nicht im Buchhandel). 4 Vgl. Tagebuch der Ölkrise. Zahlen, Daten, Fakten - Eine Zusammenstellung der Esso AG In: Esso AG (Hrsg.): a. a. O. 5 Vgl. Archiv der Gegenwart, 43. Bonn 1973, Sp. 18.108. 6 Vgl. Archiv der Gegenwart, 43. Bonn 1973, Sp. 18.316, 18.318; Tagebuch der Öl-Krise, a. a. O. 7 Ebenda. 8 Ebenda. 9 Vgl. Archiv der Gegenwart 43. Bonn 1973, Sp. 17.636, 17.959, 18.085, 17.787. Siehe auch HansJoachim Burchard: Der Souveränitätswechsel beim Erdöl, a. a. O. 10 Zur Preisentwicklung, die hier völlig ausgespart wird, um die Darstellung nicht zu überlasten, vgl. Deutscher Bundestag: Drucksache 7/1624 vom 29. Januar 1974; Bundesministerium für Wirtschaft
174
(Hrsg.): Daten zur Entwicklung der Energiewirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1974 (nicht im Buchhandel). Die Hortungskäufe im Oktober können z. T. auch durch die Preissteigerungen hervorgerufen worden sein. Allerdings haben ähnlich starke Preissteigerungen z. B. für leichtes Heizöl 1970 und 1972 nicht zu vergleichbaren Reaktionen geführt. 11 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.): a. a. O., S. l ff. 12 Vgl. Die Ölversorgung im Spiegel der Zahlen. In: Oel. Zeitschrift für die Mineralölwirtschaft 12. Jg. 1974/Heft 4, S. 91. An dieser Stelle ist zu fragen, ob die Daten der Mineralölwirtschaft zuverlässig sind. Diese Frage kann nicht endgültig beantwortet werden, weil keine objektiven Vergleichsdaten vorhanden sind. Die Mineralölwirtschaft besaß jedoch um ihre kurzfristigen Lieferschwierigkeiten im Oktober und November und die allgemeinen Preiserhöhungen begründen zu können eher ein Interesse daran, die Versorgungslage als schlecht zu charakterisieren. Aufgrund dieser Interessenlage erscheinen an der eher optimistischen Darstellung keine Zweifel angebracht. 13 Deutscher Bundestag: Drucksache 7/1456 vom 19. Dezember 1973: Sachverständigenrat der Bundesregierung: Sondergutachten Zu den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Ölkrise. 14 Vgl. die Darstellung der Nachfrage in Abbildung 5, S. 166. 15 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.): a. a. O., S. 2; Esso AG (Hrsg.): Oeldorado 74. Hamburg 1975 (nicht im Buchhandel). 16 Vgl. Die Ölversorgung im Spiegel der Zahlen: a. a. O., S. 91. 17 Vgl. Esso-Hausmitteilungen vom 13. Dezember 1973; Mitteilungen des Mineralölverbandes e. V. vom 14. Dezember 1973. 18 Vgl. Gutachtliche Äußerungen des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft zu den Themen: Höchstpreisvorschriften für Energie und Stabilitätspolitische Probleme der gesetzlichen Rentenversicherung. In: Der Bundesminister für Wirtschaft (Hrsg.): BMWAStudienreihe 5, o. O., o. J. (Bonn 1973). 19 G. L.: Krise im Rückspiegel. In: Oel. Zeitschrift für Mineralölwirtschaft 13. Jg. 1974/Heft l, S. 2. 20 Mitteilungen des Mineralölverbandes e.V. vom 18. Januar 1974. 21 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Energie. In: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 162. Bonn 1975, S. 23 (nicht im Buchhandel); Rolf Freund: Energieprobleme. Ölkrise Beginn einer Energie- und Währungskrise? In: Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.): Politik in Schaubildern, Nr. 5. Berlin 1974 (nicht im Buchhandel). 22 Die Berichte wurden von Herbert Roth codiert. Vgl. Herbert Roth: Wie verhalten sich Massenmedien in Krisenzeiten? Eine inhaltsanalytische Untersuchung anhand der Ölkrise. Johannes GutenbergUniversität Mainz. Magisterarbeit 1976 (nicht im Buchhandel). Die Untersuchungsdaten haben wir im Sommersemester 1978 in einem Colloquium mit Examenskandidaten des Instituts für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz diskutiert, denen wir für ihre Anregungen danken. 23 Vgl. Herbert Roth: a. a. O., S. 101-109. 24 In der folgenden Darstellung wird der Zusammenhang zwischen der Berichterstattung über die Energieversorgung in der Bundesrepublik Deutschland in der Presse und den Reaktionen der Bevölkerung in der Bundesrepublik auf die Versorgungslage und die Berichterstattung über die Versorgungslage untersucht. Deshalb werden nur diejenigen Berichte beachtet, die diese Reaktionen vermutlich besonders nachhaltig beeinflusst haben, nämlich die über die damals aktuelle Situation in der Bundesrepublik Deutschland. 25 Vgl. Kurt Lang / Gladys Engel Lang: The Unique Perspective of Television. In: Wilbur L. Schramm (Hrsg.): Mass Communications. A Book of Readings. Urbana, Ill. 21960, S. 544-560. 26 Vgl. Winfried Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Freiburg i. Br. 1976. 27 Vgl. Jochen Hansen: Der Erdölschock in der öffentlichen Meinung. In: Brennpunkte. Publikation des Gottlieb-Duttweiler-Instituts (1974) Nr. 36/25, S. 7-13. 28 Ebenda.
175
29
Vgl. Die Ölversorgung im Spiegel der Zahlen, a. a. O., S. 92. Ebenda. 31 Vgl. Rolf Freund: a. a. O., S. 61. 32 Vgl. Die Ölversorgung im Spiegel der Zahlen, a. a. O., S. 93. 33 Vgl. Archiv der Gegenwart 43. Bonn 1973, Sp. 18.329, 18.343. 34 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann / Hans Mathias Kepplinger: Communication in the Community. A Report on the Findings in Mainz. In: James D. Halloran (Hrsg.): Community and Communication. Paris: UNESCO 1978. Gekürzte deutsche Fassung unter dem Titel: Journalistenmeinungen, Medieninhalte und Medienwirkungen. Eine empirische Untersuchung zum Einfluss der Journalisten auf die Wahrnehmung sozialer Probleme durch Arbeiter und Elite. In: Gertraude Steindl (Hrsg.): Publizistik aus Profession. Festschrift für Johannes Binkowski aus Anlaß der Vollendung seines 70. Lebensjahres. Düsseldorf 1978, S. 80-97. 35 Vgl. Jochen Hansen: a. a. O. Vgl. zu dem gesamten Fragenkomplex auch: Torsten Österman / Anders Wikman / Roger Bernow: Swedes and the Oil Shortage. SR/PUB 94/73; Torsten Österman / Anders Wikman / Roger Bernow: Public Information during the Oil Crisis 1973/74. An Appendix to the Final Report of the Commission on Energy Emergency Preparedness Energy Preparedness for Crisis (SOU 1975: 60-61). 36 Eine Äußerung eines Politikers, Wirtschaftlers oder Wissenschaftlers konnte von den verschiedenen Zeitungen mehrfach referiert oder zitiert werden. 37 Hierbei handelt es sich um symbolische Politik als Folge eines reziproken Effektes der Berichterstattung. Vgl. hierzu Hans Mathias Kepplinger: Reziproke Effekte. In: Ders.: Medieneffekte. Wiesbaden 2010, S. 135-153. 38 Vgl. hierzu Hans Mathias Kepplinger: German Media and Oil Supply in 1978 and 1979. In: Nelson Smith / Leonard J. Theberge (Hrsg.): Energy Coverage - Media Panic. An International Perspective. New York 1983, S. 22-49. 39 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Realkultur und Medienkultur. Freiburg i. Br. 1975, S. 13-37. 40 Vgl. hierzu Hans Mathias Kepplinger: Wirkungsbegriffe. In: Ders.: Medieneffekte. Wiesbaden 2010, S. 9-25. 41 Vgl. hierzu Hans Mathias Kepplinger: Was unterscheidet die Mediatisierungsforschung von der Medienwirkungsforschung? In: Ders.: Politikvermittlung. Wiesbaden 2009, S. 117-128. 30
176
Die Konstruktion der Kriegsdienstverweigerung
Die sozialen und politischen Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland um das Jahr 1970 überraschten sowohl durch ihre Dramatik als auch durch ihre Radikalität. Sie erschienen als isolierte Eruptionen, die ohne erkennbare Vorankündigung und ohne inneren Zusammenhang mit der vorangegangenen Entwicklung ausgebrochen waren. Ein Beispiel sind die Auseinandersetzungen um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, an deren vorläufigem Ende ein Gesetz stand, das gegen schwerwiegende Bedenken einiger Regierungsmitglieder verabschiedet wurde, nach Ansicht des Bundespräsidenten vermutlich nicht rechtmäßig zustande gekommen war und nach seiner rechtmäßigen Verabschiedung vom Bundesverfassungsgericht in wesentlichen Teilen für verfassungswidrig erklärt wurde. Die folgende Untersuchung analysiert diese Entwicklung von 1961 bis 1975. Am Ende waren alle Beteiligten von den Wehrpflichtigen und der Bundeswehr bis zu den Politikern und Journalisten mit einer anderen Realität konfrontiert als am Anfang. Im Verlauf der Jahre berichteten die Medien über das aktuelle Geschehen und führten vermutlich dadurch die folgenden Entwicklungen mit herbei. Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich weniger um eine historische Studie, die alle wichtigen Einzelereignisse darstellt, als um eine sozialwissenschaftliche Analyse, die theoretisch relevante Ereignisketten herausarbeitet. Thematisch handelt es sich um zwei miteinander verwobene Entwicklungen die Rechtfertigung der Kriegsdienstverweigerung und das Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Die Diskussion des zweiten Themas folgt zeitlich der Auseinandersetzung um das erste und wird deshalb im Anschluss daran behandelt. Theoretisch geht es um zwei Arten von sozialen Normen um informelle Verhaltenserwartungen an Wehrpflichtige, die ihre Entscheidung für oder gegen den Wehrdienst beeinflusst haben, sowie um die rechtlichen Vorschriften, die die Möglichkeiten für die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerung geregelt haben. Deshalb werden folgende Daten vorgestellt:
Die rechtlichen Regelungen zum Beginn des Untersuchungszeitraumes; die Aktivitäten gesellschaftlicher Gruppen zur Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern;
H. M. Kepplinger, Realitätskonstruktionen, DOI 10.1007/978-3-531-92780-0_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
die Rechtfertigung legaler und illegaler Verhaltensweisen von Wehrpflichtigen in der Presse; die Rechtfertigung legaler und illegaler Verhaltensweisen von Wehrpflichtigen durch relevante Bezugsgruppen; die Ausbreitung legaler und illegaler Verhaltensweisen unter den Wehrpflichtigen; sowie die Veränderung der Gesetze, die das Verhalten der Wehrpflichtigen ursprünglich regelten, und ursprünglich illegale Verhaltensweisen zumindest vorübergehend legalisierten.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Berichterstattung der Presse über die Kriegsdienstverweigerung von 1961 bis 1975. Sie beruht auf einer quantitativen Inhaltsanalyse von 10 Tageszeitungen, einer Wochenzeitung und einem wöchentlichen Magazin.1 Die Darstellung der Bevölkerungsmeinung zum Wehrdienst beruht auf repräsentativen Umfragen,2 die Darstellung des Verhaltens der Wehrpflichtigen auf offiziellen Statistiken.3 Für die Darstellung der rechtlichen und politischen Hintergründe wurden historische Nachschlagewerke verwendet. 4 Die Berichterstattung der untersuchten Zeitungen und Zeitschriften werden nicht als direkte oder einzige Ursachen der erkennbaren Verhaltensänderungen angesehen. Dazu war ihre Reichweite viel zu gering. Sie wird vielmehr als Indikator für den Medientenor jener Jahre angesehen, also die Berichterstattung von Presse, Hörfunk und Fernsehen insgesamt, der seinerseits als eine Ursache der Entwicklung betrachtet werden kann.
Ausgangslage Das Grundgesetz enthält in Artikel 4, Absatz 3 die Bestimmung: Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Die Weigerung, Kriegsdienst mit der Waffe zu leisten, gehört folglich zu den Grundrechten. Das Wehrpflichtgesetz führte 1956 die allgemeine Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland ein und regelte zugleich die Kriegsdienstverweigerung. Es legte ein Verfahren zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern fest und bestimmte, dass Kriegsdienstverweigerer einen zivilen Ersatzdienst ableisten müssen. Das Bundesverfassungsgericht entschied 1960 im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens, in dem die Verfassungsmäßigkeit des Wehrpflichtgesetzes überprüft wurde, was unter einer Gewissensentscheidung von Kriegsdienstverweigerern zu verstehen ist.5 Gewissensentscheidungen sind danach generelle, absolute Entscheidungen gegen jede Art von Wehrdienst mit der Waffe. Damit wurde die Kriegsdienstverweigerung
178
aus aktuellen politischen Motiven rechtlich ausgeschlossen. Das Wehrpflichtgesetz regelte 1956 auch die Funktion und Dauer des zivilen Ersatzdienstes für Kriegsdienstverweigerer. Das Gesetz über den zivilen Ersatzdienst klärte 1960 Einzelheiten der Organisation des zivilen Ersatzdienstes.6 Das Grundgesetz, die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundesverwaltungsgerichtes, das Wehrpflichtgesetz und Gesetz über den zivilen Ersatzdienst bildeten 1960 den rechtlichen Rahmen für die Entscheidung über die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer und regelten damit die Einberufung zum allgemeinen Wehrdienst, bzw. zum zivilen Ersatzdienst. Schon vor der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht hatte die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) das Recht auf Kriegsdienstverweigerung verteidigt und dabei auch die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung aus politischen Motiven gefordert.7 Nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht richteten mehrere Landeskirchen der EKD Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerer ein, deren Tätigkeit durch eine Arbeitsgemeinschaft koordiniert wurde. Die Forderung nach einem hauptamtlichen Referenten für Kriegsdienstverweigerung, die schon 1964 erhoben worden war, wurde jedoch erst 1969 erfüllt.8 Die EKD war, trotz ihrer zunächst geringen Aktivität, die wichtigste Organisation, die die Ziele der Kriegsdienstverweigerer unterstützte. Die Kriegsdienstverweigerer der Bundesrepublik selbst besaßen Anfang der sechziger Jahre keine eigenständige, wirkungsvolle Organisation. Die Studentenbewegung änderte etwa ab 1968 den Charakter und die politische Bedeutung der Kriegsdienstverweigerung. Die speziellen Motive der Kriegsdienstverweigerer verschmolzen mit den politischen Zielen der Studentenbewegung. Die Kriegsdienstverweigerung wurde jetzt gezielt als ein Mittel im Kampf gegen den Vietnam-Krieg, die Notstandsgesetze und die Bundeswehr eingesetzt.9 Die Kriegsdienstverweigerer gründeten eigene, regionale Verbände, die 1971 in der Bundeszentrale für Ersatzdienstleistende in Frankfurt zusammengeschlossen wurden.10 Parallel zur Politisierung der Kriegsdienstverweigerung stieg die Anzahl der Wehrpflichtigen, die Anträge auf Kriegsdienstverweigerung stellten.11 Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass die Anzahl der Dienstplätze für anerkannte Kriegsdienstverweigerer nicht ausreichten und Missstände im zivilen Ersatzdienst auftraten.12 Die Politisierung der Kriegsdienstverweigerung und die Missstände im zivilen Ersatzdienst führten zu einer Politisierung des zivilen Ersatzdienstes. Die Ersatzdienstleistenden reagierten im Januar und Februar 1970 mit einem illegalen, bundesweiten Streik auf den Versuch, Ersatzdienstleistende zu kasernieren.13 Vertreter der Ersatzdienstleistenden forderten im März 1970 im Mühlheimer Modell neue Ziele für den zivilen Ersatzdienst. Der zivile Ersatzdienst sollte als echte Alternative zum Wehrdienst Möglichkeiten der friedlichen Konfliktlösung lehren.14 Die Deutsche Frie-
179
densgesellschaft lehnte im Mai 1970 auch die Organisationsform des zivilen Ersatzdienstes ab und forderte eine Selbstorganisation der Ersatzdienstleistenden. Der zivile Ersatzdienst sollte dadurch zu einem Mittel für die Veränderung der Gesellschaft werden. Im Dezember 1970 forderten die Ersatzdienstleistenden in einem neuen illegalen Streik den Rücktritt des Bundesbeauftragten für den zivilen Ersatzdienst.15 Im März 1971 riefen die Vertreter der Ersatzdienstleistenden zu einem illegalen, bundesweiten Streik der Ersatzdienstleistenden auf.16
Kriegsdienstverweigerung Gesamttendenz der Darstellung Die untersuchten Zeitungen und Zeitschriften publizierten von 1961 bis 1975 insgesamt 904 Artikel über die Kriegsdienstverweigerung. Die einzelnen Zeitungstypen und Zeitungen behandelten das Thema dabei unterschiedlich häufig. Die vier nationalen Abonnementzeitungen veröffentlichten allein 651 Artikel, die vier ausgewählten regionalen Abonnementzeitungen mit vergleichbarer Auflage veröffentlichten dagegen nur 179 Artikel. Die Wochenzeitung und das wöchentliche Magazin veröffentlichten obwohl sie wesentlich seltener erschienen 62 Artikel, die beiden täglichen Straßenverkaufszeitungen veröffentlichten dagegen nur 12 Artikel. Die vier nationalen Abonnementzeitungen und die beiden intensiv gelesenen wöchentlichen Publikationen haben damit vor allem die Kriegsdienstverweigerung thematisiert. Dabei besaß eine der nationalen Abonnementzeitungen eine Sonderrolle: Die Frankfurter Rundschau veröffentlichte 236 Artikel das sind 26 Prozent der Berichte in allen untersuchten Zeitungen und Zeitschriften und 36 Prozent der Berichte in den vier nationalen Abonnementzeitungen. Die Zeitungen und Zeitschriften berichteten in 391 Aussagen über die Motive und Ziele der Kriegsdienstverweigerer und stellten sie überwiegend positiv oder neutral dar. Obwohl das Bundesverfassungsgericht politische Motive und Ziele weitgehend für illegal erklärt hatte, wurden besonders häufig die politischen Motive und Ziele der Kriegsdienstverweigerer in den untersuchten Zeitungen und Zeitschriften gerechtfertigt. Dieser Legitimation stand nur eine vergleichsweise schwache Kritik der politischen Ziele und Motive gegenüber, die den bestehenden Rechtszustand verteidigte. Die Darstellung der Motive und Ziele der Kriegsdienstverweigerer stand in einem eindeutigen Zusammenhang mit der politischen Tendenz der Zeitungen: Je weiter links der politische Standort der einzelnen Zeitungen war, desto häufiger stellten sie die Motive und Ziele der Kriegsdienstverweigerer positiv dar, je weiter rechts der politische Standort
180
der einzelnen Zeitungen war, desto häufiger stellten sie sie negativ dar (Tabelle 1). Tabelle 1: Darstellung der Motive und Ziele von Kriegsdienstverweigerern in der Presse Anzahl der Aussagen Darstellung Positiv
Neutral
Negativ
Summe
Politische Motive, Ziele
62
60
23
145
Religiöse Motive, Ziele
48
47
2
97
Moralische Motive, Ziele
37
39
1
77
Altruistische Motive, Ziele
9
10
1
20
Egoistische Motive, Ziele
1
11
40
52
157
167
67
391
Summe
Die Folgen der Kriegsdienstverweigerung wurden nicht so eindeutig positiv dargestellt wie die Motive und Ziele der Kriegsdienstverweigerer. Dennoch überwogen auch hier die positiven die negativen Aussagen. Die untersuchten Zeitungen und Zeitschriften publizierten 90mal das Argument, der zivile Ersatzdienst würde die soziale Lage vieler Menschen verbessern, 46mal das Argument, die Kriegsdienstverweigerung würde die Verteidigungsbereitschaft schwächen und 38mal das Argument, die Kriegsdienstverweigerung würde die Disziplin der Truppe gefährden. Innerhalb der einzelnen Zeitungstypen stand die Darstellung der Folgen der Kriegsdienstverweigerung wieder in einem eindeutigen Zusammenhang mit dem politischen Standort der Zeitungen: Je weiter links der politische Standort der Zeitungen war, desto häufiger behaupteten sie, dass die Kriegsdienstverweigerung die soziale Lage vieler Menschen verbessern würde. Zusammenfassend kann man feststellen, dass es sich bei der Berichterstattung über die Kriegsdienstverweigerung um einen publizistischen Konflikt mit einer einseitigen Machtverteilung gehandelt hat.17 Während sich die Kriegsdienstverweigerer und ihre Fürsprecher klar positioniert haben und von den linksliberalen Blättern eindeutig unterstützt wurden, haben sich die Kritiker der Kriegsdienstverweigerung nicht so eindeutig artikuliert und fanden in den rechtskonservativen Blättern keine vergleichbar engagierte Plattform. In diesem publizistischen Konflikt haben vor allem (aber nicht nur) die linksliberalen Blätter auch Ziele und Motive der Kriegsdienstverweigerer gerechtfertigt, die nach 181
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes keine hinreichende Grundlage für die Kriegsdienstverweigerung waren. Besonders zwei nationale Abonnementzeitungen, die Frankfurter Rundschau und die Süddeutsche Zeitung, und die beiden wöchentlichen Publikationen haben die Kriegsdienstverweigerung darüber hinaus als ein Verhalten mit positiven sozialen Folgen dargestellt. Die Kriegsdienstverweigerung erhielt dadurch einen neuen Charakter. Sie wurde von einem rechtlich möglichen zu einem sozial wünschbaren Verhalten.
Thematisierung im Zeitverlauf Die Thematisierung der Kriegsdienstverweigerung begann in den untersuchten Blättern 1963. Nachdem die Blätter zuvor nur vereinzelt das Thema aufgegriffen hatten, berichteten sie von nun ab verhältnismäßig kontinuierlich darüber. Es dauerte jedoch auch jetzt noch immerhin sechs Jahre bis sich das Thema durchgesetzt, und sogar sieben Jahre bis die Berichterstattung ihren Höhepunkt erreicht hatte. Das Thema war zum Bestandteil der öffentlichen Meinung geworden. Die Etablierung der Kriegsdienstverweigerung als Gegenstand der Presseberichte erfolgte nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft. Nach einer relativ konstanten Berichterstattung über etwa vier Jahre und einem Rückgang der Berichterstattung im fünften Jahr, explodierte die Anzahl der Artikel förmlich im sechsten und siebten Jahr. Die Kriegsdienstverweigerung war scheinbar plötzlich als Gegenstand der öffentlichen Diskussion präsent. Niklas Luhmann unterschied zwischen Themen und Meinungen. Themen dienen nach seiner Ansicht nicht unmittelbar der inhaltlichen Festlegung von Meinungen, sondern zunächst und vor allem dem Einfangen der Aufmerksamkeit ... Zuwendung von Aufmerksamkeit heißt ... noch nicht Bindung an bestimmte Meinungen und Entscheidungsinhalte, sondern ist allenfalls eine Vorstufe dazu.18 Die neutrale Thematisierung eines Sachverhaltes geht nach dieser Auffassung der wertenden Meinungsbildung voraus. Luhmann schloss daraus, der vielleicht wichtigste Grundzug eines solchen Verlaufs (sei) die Abnahme der Distanz von Thema und Meinung, bzw. Entscheidung.19 Diesen theoretischen Annahmen widerspricht die empirische Analyse. Zu keiner Zeit gab es die angenommene Phasenverschiebung zwischen neutralen und wertenden Äußerungen. Die Distanz zwischen Thema und Meinung nahm im Laufe der Entwicklung eher zu als ab (Abbildung l).
182
Abbildung 1:
Thematisierung der Kriegsdienstverweigerung durch neutrale und wertende Aussagen* Anzahl der Aussagen
80 70 60 50 40 30 20 10 0 61
62
63
64
65
66
67
68
69
wertende Aussagen
70
71
72
73
74
75
76
77
78
neutrale Aussagen
* Gegenstände der Aussagen waren die Ziele und Motive der Kriegsdienstverweigerer sowie die Aktionen zu ihrer Unterstützung.
Luhmann diskutierte einige Strategien, durch die die Trennung von Thema und Meinung umgangen werden kann und verwies dabei auch auf die Presse, die die Differenz zwischen Thema und Prämissen so vermische, dass u. a. Unterstellungen als Selbstverständlichkeiten der Diskussion entzogen werden. Diese Strategie bedient sich so Luhmann, der Manipulation, da sie in bezug auf ihre Prämissen einseitige (unbeantwortbare) Kommunikation bleibt. Solche Umgehungen haben bei unvermeidlich hoher Unaufmerksamkeit des Publikums typische Erfolgschancen.20 Die Einsicht in die unvermeidlich hohe Unaufmerksamkeit des Publikums wirft die Frage auf: Wie soll ohne die Vermischung von Thema und Meinung Aufmerksamkeit erzeugt werden? Die Thematisierung von Sachverhalten in der öffentlichen Auseinandersetzung geschieht, so kann man vermuten, notwendigerweise durch Tatsachenaussagen und Meinungen, wobei die Meinungen die Tatsachenaussagen nicht nur kommentieren sondern darüber hinaus auch ihre Selektion strukturieren. Die Motive und Ziele der Kriegsdienstverweigerer haben die untersuchten Blätter in drei Wellen positiv dargestellt. Die erste Welle war 1963, die zweite
183
Welle war 1965 und die dritte Welle war 1968/69. Die späteren Wellen waren jeweils höher als die vorausgegangenen Wellen. Die Intensität, mit der die Motive und Ziele der Kriegsdienstverweigerer gerechtfertigt wurden, nahm damit im Laufe der Entwicklung zu. Die untersuchten Blätter haben die Motive und Ziele der Kriegsdienstverweigerer vor 1969 nur sehr selten negativ dargestellt. Die Anzahl der positiven Aussagen überwog deutlich die Anzahl der negativen Aussagen. Erst 1969, während der dritten Welle positiver Darstellungen, nahm die Kritik so stark zu, dass man von einem manifesten Konflikt um die Motive und Ziele sprechen kann. In den folgenden Jahren wurden mehr negative als positive Aussagen über die Motive und Ziele publiziert. Die Anzahl aller wertenden Aussagen über die Motive und Ziele war nun jedoch wesentlich geringer als in den vorangegangenen Jahren. Die Kritiker der Motive und Ziele hatten auf die publizistische Aktivität ihrer Anwälte nicht nur sehr spät reagiert, sie hatten ihre Ansicht auch erst dann als Mehrheitsansicht durchgesetzt, als das Thema bereits aus der publizistischen Diskussion verschwand. Ihr publizistischer Sieg war damit ein Pyrrhussieg, er besaß keinerlei Wert mehr für sie (Abbildung 2). Abbildung 2:
Positive und negative Darstellung der Ziele und Motive von Kriegsdienstverweigerern Anzahl der Aussagen
35 30 25 20 15 10 5 0 61
62
63
64
65
66
67
68
69
Motive, Ziele positiv
70
71
72
73
74
75
76
77
78
Motive, Ziele negativ
Am Beginn der geschilderten Entwicklung stellten die untersuchten Zeitungen vor allem moralische und religiöse Motive und Ziele positiv dar. Die Anzahl der 184
positiven Aussagen über moralische und religiöse Motive und Ziele war daher zunächst wesentlich größer als die Anzahl der positiven Aussagen über politische Motive und Ziele. Letztere nahm jedoch seit 1963 erheblich zu und übertraf 1968 sogar die Anzahl der positiven Aussagen über moralische und religiöse Motive. Die Rechtfertigung der Motive und Ziele von Kriegsdienstverweigerern hatte sich von der Rechtfertigung moralischer und religiöser Motive auf die Rechtfertigung politischer Motive und Ziele verlagert. Die untersuchten Zeitungen haben damit in zunehmendem Ausmaß Verhaltensweisen gerechtfertigt, die gegen die bestehenden Gesetze verstießen oder mit ihnen nur bedingt vereinbar waren (Abbildung 3). Abbildung 3:
Moralisch-religiöse und politische Rechtfertigung der Kriegsdienstverweigerung Anzahl der Aussagen
35 30 25 20 15 10 5 0 61
62
63
64
65
66
67
68
politische Rechtfertigung
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
moralisch-religiöse Rechtfertigung
Die Folgen der Kriegsdienstverweigerung stellten die untersuchten Zeitungen zum Beginn der geschilderten Entwicklung vor allem positiv dar. Diese Situation änderte sich 1968 schlagartig. Von nun an wurden mit Ausnahme des Jahres 1970 erheblich mehr Aussagen über die negativen Folgen als Aussagen über die positiven Folgen der Kriegsdienstverweigerung publiziert. Die Kritiker der Kriegsdienstverweigerung reagierten auch hier wieder sehr spät. Sie konnten sich jedoch eindeutig gegen deren Anwälte durchsetzen (Abbildung 4).
185
Abbildung 4:
Darstellung positiver und negativer Folgen der Kriegsdienstverweigerung Anzahl der Aussagen
30 25 20 15 10 5 0 61
62
63
64
65
66
67
68
69
positive Folgen
70
71
72
73
74
75
76
77
78
negative Folgen
Die Darstellung positiver Motive und Ziele von Kriegsdienstverweigerern und die Darstellung positiver Folgen der Kriegsdienstverweigerung kann man als Rechtfertigung des Verhaltens von Kriegsdienstverweigerern betrachten. Sie stellte eine soziale Motivation dar, das Verhalten auszuüben. Die untersuchten Zeitungen haben in diesem Sinne das Verhalten von Kriegsdienstverweigerern in drei großen Wellen gerechtfertigt und damit sozial motiviert. Die erste Welle dauerte von 1963 bis 1965. In diesen drei Jahren erschienen fast ausschließlich Aussagen, die das Verhalten rechtfertigten. Aussagen, die das Verhalten kritisierten, fehlten dagegen fast völlig. Ihr Anteil an der Gesamtzahl aller wertenden Aussagen über Motive, Ziele und Folgen betrug 9 Prozent. Die zweite Welle dauerte von 1968 bis 1969. Sie war kürzer, jedoch dramatischer. Auch in diesen beiden Jahren erschienen mehr Aussagen, die das Verhalten rechtfertigten, als Aussagen, die das Verhalten kritisierten. Der Anteil der Aussagen, die das Verhalten kritisierten, war jedoch wesentlich größer als zuvor. Er betrug 45 Prozent. In den folgenden fünf Jahren wurden wesentlich mehr Aussagen publiziert, die das Verhalten kritisierten als Aussagen, die das Verhalten rechtfertigten. Die Auseinandersetzung über die Motive, Ziele und Folgen hatte in der Presse ihren Höhepunkt jedoch inzwischen überschritten. Sie war auf eine andere Ebene verlagert worden (Abbildung 5). 186
Abbildung 5:
Rechtfertigung und Kritik der Kriegsdienstverweigerung Anzahl der Aussagen
50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
Rechtfertigung
71
72
73
74
75
76
77
78
Kritik
Nach Elisabeth Noelle-Neumann ruft die öffentliche Darstellung tatsächlicher oder vermeintlicher Mehrheitsmeinung bei den Anhängern tatsächlicher oder vermeintlicher Minderheitenmeinungen Isolationsfurcht hervor. Sie entziehen sich durch Schweigen der Isolation, was die Position der Anhänger der tatsächlichen oder vermeintlichen Mehrheitsmeinung zusätzlich verstärkt.21 Aus NoelleNeumanns theoretischen Annahmen kann man für den vorliegenden Fall folgern, dass die Anwälte der Kriegsdienstverweigerung durch ihre Aktivität die Kritiker der Kriegsdienstverweigerung zum Schweigen gebracht und dadurch die Mehrheit gewonnen haben. Dies trifft jedoch nicht zu. Die Kritiker der Kriegsdienstverweigerung schwiegen vielmehr gerade in der Anfangsphase, als noch kein starker Meinungsdruck bestand und sie publizierten ihre Ansichten ausgerechnet in der Kulminationsphase, als sich schon massive Mehrheiten zugunsten der Kriegsdienstverweigerer gebildet hatten (vgl. unten). Schweigen und Artikulationsbereitschaft verlangen daher hier nach einer anderen Erklärung. Die Kritiker der Kriegsdienstverweigerung und ihrer Auswüchse schwiegen zu Beginn der geschilderten Entwicklung höchstwahrscheinlich nicht deshalb, weil sie sich einem Meinungsdruck ausgesetzt sahen. Sie schwiegen vielmehr wahrscheinlich deshalb, weil der Status quo für sie derart selbstverständlich war, dass sie keinen Anlass sahen, ihn aktiv zu verteidigen. Erst als der Status quo durch die Verhaltensänderungen der Wehrpflichtigen manifest bedroht war, 187
begann ihre publizistische Aktivität. Der gesamte publizistische Prozess kam daher nicht durch das zaghafte Schweigen der Kritiker der Kriegsdienstverweigerung, sondern durch die fordernde Aktivität ihrer Verteidiger in Gang. Die Aktivität einer fordernden Minderheit innerhalb und außerhalb der Presse hat, so kann man vermuten, die Meinungen in der Bevölkerung langfristig beeinflusst. Dabei sind Bezugsgruppen entstanden, die die Kriegsdienstverweigerung billigten und durch ihr Engagement wahrscheinlich Gegner der Entwicklung in der Bevölkerung zum Schweigen brachten. Die Daten und Interpretationen deuten daher darauf hin, dass die Meinungsbildung in großen Kollektiven in zumindest zwei Phasen nach unterschiedlichen Gesetzen abläuft: einer Initialphase, in der das aktive Engagement und einer Konfliktphase, in der die passive Isolationsfurcht die Ursache der Veränderungen ist.
Meinungswandel der Bevölkerung Auskunft über die Meinungen der Bevölkerung von den Kriegsdienstverweigerern und Wehrdienstleistenden im Spätsommer 1968 geben die Antworten auf zwei Fragen. Die erste Frage lautet: Nehmen wir einmal den Fall, dass ein junger Mann den Wehrdienst verweigert und sagt, dass er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, Soldat zu werden. Hätten Sie vor diesem Menschen viel oder wenig Achtung? Die zweite lautet: Wenn Sie von einem jungen Mann hören, dass er seinen Wehrdienst abgeleistet hat, ist das in Ihren Augen ein Plus oder würden Sie das nicht sagen? Die Bevölkerung beurteilte Wehrdienstleistende im Spätsommer 1968 als die Auseinandersetzung um die Kriegsdienstverweigerung ihrem Höhepunkt zustrebte positiver als Kriegsdienstverweigerer. Etwa jeder Zweite bekannte im August, in seinen Augen sei es ein Plus, wenn ein junger Mann seinen Wehrdienst abgeleistet hat. Nur etwa jeder Vierte widersprach dieser Wertschätzung, etwa jeder Fünfte war unentschieden. Zur gleichen Zeit äußerte nicht ganz jeder Zweite, er hätte vor einem Kriegsdienstverweigerer, der aus Gewissensgründen handele, viel Achtung. Jeder Dritte stellte jedoch ausdrücklich fest, er hätte vor einem Kriegsdienstverweigerer, der aus Gewissensgründen handele, wenig Achtung. Etwa jeder Fünfte war unentschieden oder gab andere Antworten. Die Kriegsdienstverweigerung wurde damit nicht nur häufiger kritisiert als der Wehrdienst. Die Kritik an der Kriegsdienstverweigerung war auch, weil sie nicht nur in der Zurückweisung eines positiven Urteils, sondern in der Formulierung eines negativen Urteils bestand, schärfer als die Kritik an dem Wehrdienst (Tabelle 2).
188
Tabelle 2: Wertschätzung von Wehrdienstleistenden und Kriegsdienstverweigerern durch die Bevölkerung im August 1968 Wehrdienst- Kriegsdienst- Differenz leistende verweigerer % % % Positiv (Ein Plus, viel Achtung)
52
45
+7
Negativ (Würde ich nicht sagen, wenig Achtung)
27
33
-6
Unentschieden, kein Urteil, andere Angaben
21
22
-1
100
100
0
Summe
Quelle: Elisabeth Noelle-Neumann / Erich Peter Neumann (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968-1972. Allensbach/Bonn 1974, S. 499; Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 2043. Zwischen den Einstellungen zur Kriegsdienstverweigerern und Wehrdienstleistenden besteht nur eine schwache Beziehung von cc = 0,15.
Auskunft über die vermutete Meinung der Mehrheit von den Wehrdienstleistenden gaben die Antworten auf die folgende Frage: Glauben Sie, dass ein junger Mann, der seinen Wehrdienst abgeleistet hat, bei der Bevölkerung angesehener ist als ein Ungedienter, oder glauben Sie (das) nicht? Die Bevölkerung besaß von den Wehrdienstleistenden 1968 überwiegend zwar eine positive Meinung und sie beurteilte einen Wehrdienstleistenden eher positiv als einen Kriegsdienstverweigerer. Trotzdem glaubte sie, dass es genau umgekehrt war. Nur jeder Fünfte war der richtigen Ansicht, dass ein junger Mann, der seinen Wehrdienst abgeleistet hat, bei der Bevölkerung angesehener ist als ein Ungedienter. Mehr als jeder Zweite widersprach jedoch dieser Ansicht und vertrat die falsche Meinung, dass dies nicht so sei. Etwa jeder Fünfte war unentschieden. Die Mehrheit der Bevölkerung unterschätzte damit das tatsächlich überwiegend positive Urteil über die Wehrdienstleistenden ganz erheblich. Etwa ein Drittel der Bevölkerung besaß darüber hinaus zwar selbst ein eher positives Urteil über die Wehrdienstleistenden, fühlte sich mit diesem Urteil jedoch in der Minderheit (Tabelle 3).
189
Tabelle 3: Tatsächliche und vermeintliche Wertschätzung von Wehrdienstleistenden durch die Bevölkerung im August 1968 Zur Frage nach der tatsächlichen Wertschätzung vgl. Tabelle 2 Tatsächliche Wertschätzung %
Vermeintliche Wertschätzung %
Differenz %
Positiv (Ein Plus, angesehener)
52
22
+ 30
Negativ (Würde ich nicht sagen.)
27
59
- 32
Unentschieden, kein Urteil, weiß nicht
21
19
+2
100
100
0
Summe Quelle: Anmerkung zu Tabelle 2, dort S. 498.
Eine Ursache der falschen Vorstellungen von der tatsächlichen Wertschätzung, die Wehrdienstleistende und Kriegsdienstverweigerer in der Bevölkerung genossen, dürfte die Berichterstattung der Massenmedien gewesen sein. Nachdem die untersuchten Blätter und vermutlich weitere Publikationsorgane jahrelang ein eindeutig positives Bild von den Kriegsdienstverweigerern gezeichnet hatten, glaubte die Mehrheit der Bevölkerung offensichtlich, dass dies die allgemein verbreitete Ansicht sei. Die Wertschätzung der Kriegsdienstverweigerer hing deutlich vom Alter der Befragten ab. Je jünger die Befragten waren, desto eher besaßen sie vor einem Kriegsdienstverweigerer viel Achtung. In der Kategorie der Jüngsten (1629 Jahre) äußerten im August 1968 immerhin 54 Prozent diese Ansicht, in der Kategorie der Ältesten (60 und älter) dagegen nur 38 Prozent. Die größte Wertschätzung besaßen die Kriegsdienstverweigerer damit gerade in jener Bezugsgruppe, die für die Entscheidung von Wehrpflichtigen für den Wehrdienst oder den Zivildienst wahrscheinlich die bedeutendste Rolle spielt: der Gruppe der Gleichaltrigen. Damit dürfte die Entscheidung selbst in vielen Fällen schon vorstrukturiert gewesen sein (Tabelle 4).
190
Tabelle 4: Wertschätzung von Kriegsdienstverweigerern im August 1968 durch verschiedene Altersgruppen Zur Frage nach der tatsächlichen Wertschätzung vgl. Tabelle 2 Wenig Achtung %
Andere Angaben %
Keine Angaben %
Summe
Alter
Viel Achtung %
16-29
54
26
5
15
100
30-44
45
31
5
19
100
45-59
41
38
6
15
100
60 und älter
38
39
4
19
100
%
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 2043.
Obwohl die untersuchten Zeitungen und mit ihnen sicher weitere Publikationsorgane seit 1968 zunehmend kritisch über die Kriegsdienstverweigerung berichteten, besaß die Mehrheit der 16-29jährigen auch in den folgenden Jahren vor den Kriegsdienstverweigerern viel Achtung. Selbst 1971, als unter dem Eindruck der lawinenartig angestiegenen Anträge auf Kriegsdienstverweigerung die Kritik an den Kriegsdienstverweigerern in der Gesamtbevölkerung von 33 auf 42 Prozent zugenommen hatte,22 blieben die positiven Einstellungen zu Kriegsdienstverweigerern in der erwähnten Altersgruppe und damit unter den Wehrpflichtigen erhalten. Die Wehrpflichtigen bildeten damit auch nach dem Wandel in der Berichterstattung über die Kriegsdienstverweigerung eine Bezugsgruppe, die die Kriegsdienstverweigerung konstant legitimierte. Ihre Einstellungen hatten sich, soweit sie davon abhängig gewesen waren, von der Berichterstattung der Massenmedien gelöst. Hinter der scheinbar konstanten Einstellung der 16-29jährigen verbirgt sich eine klare Entwicklung. Als die Auseinandersetzungen um die Kriegsdienstverweigerung in der Öffentlichkeit ihrem Höhepunkt zustrebten, beurteilten die Jugendlichen mit Volksschulbildung und mit höherer Schulbildung Kriegsdienstverweigerer relativ ähnlich. In den folgenden Jahren entfernten sich die Ansichten der Angehörigen beider Bildungskategorien immer weiter voneinander. Unter den Volksschülern sank die Anzahl derjenigen, die vor Kriegsdienstverweigerern viel Achtung besaßen. Bei den Befragten mit höherer Schulbildung verlief die Meinungsbildung umgekehrt. Die Anzahl derjenigen, die vor den Kriegsdienstverweigerern viel Achtung besaßen, stieg. Die Unterschiede
191
zwischen den beiden Bildungskategorien vergrößerten sich dadurch erheblich (Tabelle 5). Tabelle 5: Wertschätzung von Kriegsdienstverweigerern durch Jugendliche im Alter von 16-29 Jahre mit verschiedener Schulbildung Zur Frage nach der tatsächlichen Wertschätzung vgl. Tabelle 2 1968 %
1971 %
1976 %
Viel Achtung
52
50
47
Wenig Achtung
27
33
31
Viel Achtung
62
65
66
Wenig Achtung
20
15
14
Volksschule:
Höhere Schule:
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 2043, 2068, 3023.
Die Veränderung in der Beurteilung von Kriegsdienstverweigerern besaß im Wesentlichen drei Konsequenzen: Sie führte zu einer Kluft zwischen den Ansichten der Befragten mit unterschiedlicher Schulbildung, zu einem Dissens unter den Befragten mit Volksschulbildung und zu einem Konsens unter den Befragten mit höherer Schulbildung. Diese Entwicklung dürfte auf folgende Ursachen zurückzuführen sein: Schon 1968 stellte ein wesentlich größerer Anteil von Jugendlichen mit höherer Schulbildung Anträge auf Kriegsdienstverweigerung als Jugendliche mit Volksschulbildung. Die Jugendlichen mit höherer Schulbildung hatten daher unter ihren Freunden und Bekannten wesentlich mehr Kriegsdienstverweigerer als die Jugendlichen mit Volksschulbildung. Die vielen Kriegsdienstverweigerer im Bekanntenkreis der Jugendlichen mit höherer Schulbildung dürfte deren positive Einstellung zur Kriegsdienstverweigerung verstärkt haben. Dagegen werden die vielen Wehrdienstleistenden im Bekanntenkreis der Jugendlichen mit Volksschulbildung angesichts der wachsenden Verweigererzahlen die Kritik an den Kriegsdienstverweigerern vergrößert haben. Die Rechtfertigung und Kritik der Kriegsdienstverweigerer bildete dadurch in den beiden Bildungskategorien Rückkoppelungsprozesse, die sich selbst verstärkten und in gegensätzliche Richtungen drängten. Damit waren die gruppendynamischen
192
Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich die Anzahl der Kriegsdienstverweigerer unter den Jugendlichen mit höherer Schulbildung in den kommenden Jahren unabhängig von äußeren Einflüssen geradezu eruptiv vergrößerte.23 Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Bevölkerung insgesamt 1968 den Wehrpflichtigen mehr Wertschätzung entgegenbrachte als den Kriegsdienstverweigerern, zugleich jedoch übertriebene Vorstellungen von der tatsächlichen Wertschätzung der Kriegsdienstverweigerer besaß. Eine Ursache dieser Diskrepanz dürfte die überwiegend positive Darstellung der Kriegsdienstverweigerung in den Massenmedien gewesen sein. Besonders diejenige Bezugsgruppe, die die Entscheidung von Wehrpflichtigen für den Wehrdienst oder den Zivildienst wahrscheinlich besonders stark beeinflusste, die 16-29jährigen, besaß schon 1968 überwiegend eine hohe Achtung vor Kriegsdienstverweigerern, auch wenn sie die Lauterkeit ihrer Motive häufig anzweifelte. Innerhalb dieser Altersgruppe waren es wiederum diejenigen mit hoher Schulbildung, die eine hohe Achtung von Kriegsdienstverweigerern besaßen. Sie bildeten eine relativ homogene Bezugsgruppe, die die Entscheidung von Wehrpflichtigen zur Kriegsdienstverweigerung zunehmend rechtfertigte. Die Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung stellte so betrachtet eine Handlung dar, die neben den individuellen Vorteilen einen sozialen Nutzen in Form gesellschaftlicher Anerkennung besaß. Sie war nichts anderes als die Anpassung des Verhaltens an die Verhaltenserwartungen relativ kleiner aber relevanter Bezugsgruppen.
Entwicklung der Kriegsdienstverweigerung Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen war 1961 ein legales aber unkonventionelles Verhalten. Entgegen den Erwartungen der Bundesregierung, die für die ersten Jahre mit weitaus mehr Kriegsdienstverweigerern gerechnet hatte, stellten 1961 nur 3.804 Wehrpflichtige einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung das waren weniger als 0,5 Prozent der Wehrpflichtigen dieses Jahrganges. Im folgenden Jahr erhöhte sich die Anzahl der Antragsteller etwas, ging jedoch 1963 wieder zurück und fiel 1964 sogar unter den Wert von 1963.24 Die Kriegsdienstverweigerer bildeten mit anderen Worten eine verschwindend kleine Minderheit der Wehrpflichtigen. Von 1965 bis 1967 stieg die Anzahl der Wehrpflichtigen, die Anträge auf Kriegsdienstverweigerung stellten, leicht an. Von 1968 bis 1972 nahm sie jährlich sehr stark um jeweils etwa 6.000 zu (mit Ausnahme von 1972) und erreichte 1973 ihren vorläufigen Höhepunkt (Abbildung 6).
193
Abbildung 6:
Anträge auf Kriegsdienstverweigerung im Vergleich zu ihrer Rechtfertigung in der Presse
35.000 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 Anzahl der Anträge
71 72 73 74 75 76 77
78
Anzahl der rechtfertigenden Aussagen
Den größten Teil der Antragsteller bildeten obwohl sie nur einen kleinen Teil der Wehrpflichtigen stellten Schüler (54 Prozent) und Studenten (12 Prozent). Unter den Schülern dominierten wiederum ganz eindeutig die Gymnasiasten (94 Prozent).25 Man hat die Kriegsdienstverweigerung deshalb als Abiturientengrundrecht bezeichnet, das überwiegend von Jugendlichen mit hoher Schulbildung in Anspruch genommen wurde. Dieser Sachverhalt spiegelt die verbreitete Hochachtung für Kriegsdienstverweigerer unter Jugendlichen mit hoher Schulbildung und die verbreitete Missbilligung der Kriegsdienstverweigerer unter Jugendlichen mit geringer Schulbildung: Die Entscheidungen der Angehörigen beider Kategorien folgte den unterschiedlichen Verhaltenserwartungen ihrer jeweiligen Bezugsgruppen und führte zur Entscheidung für die Kriegsdienstverweigerung oder für den Wehrdienst mit der Waffe. Die divergierenden Verhaltensweisen besaßen mit anderen Worten weitgehend identische Ursachen. Ein Vergleich der beiden Verlaufskurven zeigt, dass der Zunahme der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung eine mehrjährige Legitimationsphase vorausging.
194
Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer Aktivitäten der Verfahrenskritiker Das Verfahren zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern diente dazu, nur solche Antragsteller als Kriegsdienstverweigerer anzuerkennen, die aus Gewissensgründen den Wehrdienst mit der Waffe ablehnten. Es war daher ein Mittel zur Verhaltenskontrolle und Verhaltenssteuerung. Seitdem die Anzahl der Wehrpflichtigen, die einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt hatte, stark zugenommen hatte, wurde das Verfahren zur Anerkennung der Kriegsdienstverweigerer zunehmend kritisiert. Die Gründe für dieses scheinbar paradoxe Verhalten bestanden darin, dass die Kriegsdienstverweigerung durch ihre langjährige Rechtfertigung eher positiv bewertet wurde und das Verfahren zur Kontrolle der Anträge erhebliche Mängel aufwies. Eine besonders aktive Rolle in dieser Diskussion spielte erneut die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD). Sie hatte schon vor der Einführung des Verfahrens zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern eine Gewissensprüfung skeptisch beurteilt.26 Nach seiner Einführung hatte Präses Beckmann zunächst die Zusammensetzung des Prüfungsausschusses kritisiert.27 Dies war jedoch nur der erste Schritt auf dem Weg zur Forderung nach einer Radikalreform. Folgerichtig verlange die Synode der Landeskirchen von Hessen und Nassau 1969 als erste bedeutende Organisation die Abschaffung des Verfahrens.28 Die Deutsche Friedensgesellschaft Internationale der Kriegsdienstgegner29 und der Deutsche Gewerkschaftsbund30 wiederholten 1970 diese Forderung. Drei Jahre später wurde sie Teil des Programms der SPD. Der Parteitag der SPD beschloss im April 1973, dass das Anerkennungsverfahren abgeschafft werden solle. Voraussetzung sollte sein, dass eine genügend große Anzahl von Plätzen für Zivildienstleistende geschaffen wird.31 Die 5. Synode der EKD wiederholte kurze Zeit später die Forderung der Synode der Landeskirchen von Hessen und Nassau und machte sie damit zum Programmbestandteil aller Evangelischen Kirchen in Deutschland.32 Im folgenden Jahr schloss sich die Katholische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst in einem gemeinsamen Beschluss mit der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer dieser Haltung an.33 Damit bestand eine breite Front von Gegnern des Verfahrens zur Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung. Gleichzeitig erreichte die Diskussion eine neue politische Dimension.
195
Berichterstattung über das Anerkennungsverfahren Die untersuchten Blätter publizierten 107 Aussagen zur Legalität und Legitimität des Verfahrens zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern, 153 Aussagen zur Abschaffung und Änderung des Verfahrens und 67 Aussagen über die Art der geplanten Änderungen, also insgesamt 327 Aussagen. Die nationalen Abonnementzeitungen bildeten wieder die weitaus wichtigsten Informationsquellen. Sie publizierten 235 dieser Aussagen, also 71 Prozent. Zwischen der politischen Position der Zeitungen und den Urteilen über die Legalität und Legitimität, den Forderungen nach Abschaffung oder Änderung des Verfahrens und den Urteilen über die Art der geplanten Änderungen bestanden wieder deutliche Zusammenhänge. Die beiden politisch links bzw. links von der Mitte stehenden nationalen Abonnementzeitungen, Frankfurter Rundschau und Süddeutsche Zeitung, lehnten in 54 Aussagen das Verfahren zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern eindeutig ab. Ihre Kritik richtete sich dabei nahezu ausschließlich gegen die Legitimität des Verfahrens, während seine Legalität kaum bestritten wurde. Dies deutet darauf hin, dass die Kritik des Verfahrens überwiegend politische und nicht rechtliche Motive besaß. Die beiden politisch rechts, bzw. rechts von der Mitte stehenden nationalen Abonnementzeitungen, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Welt, unternahmen fast nichts, um das bestehende Verfahren zu verteidigen. Sie überließen den Gegnern des Verfahrens vielmehr erneut fast kampflos das Feld. Die Kritik an der Legitimität des Verfahrens mündete bei den politisch links bzw. links von der Mitte stehenden nationalen Abonnementzeitungen zu 59 Forderungen nach Abschaffung des Verfahrens, denen in den politisch rechts bzw. rechts von der Mitte stehenden nationalen Abonnementzeitungen nur 15 Forderungen nach der Beibehaltung des Verfahrens bei Änderung der bestehenden Regeln gegenüberstanden. Die starke und konzentrierte Forderung nach Abschaffung des Verfahrens wurde damit nicht durch eine ähnlich starke und konzentrierte Forderung nach einer Reform des Verfahrens aufgefangen. Die Berichterstattung über das Verfahren zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern folgt damit dem gleichen Schema wie die Berichterstattung über die Ziele und Motive der Kriegsdienstverweigerer und die Folgen der Kriegsdienstverweigerung. Die progressiven Zeitungen hier repräsentiert durch zwei nationale Abonnementzeitungen sind durch ihre Berichterstattung für eine Veränderung des Status quo eingetreten. Die konservativen Zeitungen repräsentiert wieder durch zwei nationale Abonnementzeitungen haben den Status quo nicht oder nur schwach verteidigt und auch Reformen nur halbherzig vertreten. Erst nachdem sich der Status quo änderte oder geändert hatte, kritisierten sie die Veränderungen. Sie agierten nicht sondern reagierten. Da sie zuvor den pro-
196
gressiven Zeitungen jedoch nahezu kampflos das Feld überlassen hatten, hatten die Veränderungen jedesmal schon eine so große Eigendynamik entwickelt, dass ihre Kritik viel zu spät kam, um sie ernsthaft aufhalten zu können. Die progressiven und konservativen Zeitungen spiegelten hierbei jedoch nur die Aktivität bzw. die Passivität der Gegner und Befürworter der jeweils bestehenden Zustände (Abbildung 7). Abbildung 7:
Aussagen für und gegen das Anerkennungsverfahren Anzahl
80 70 60 50 40 30 20 10 0 61
62
63
64
65
66
67
68
69
Aussagen gegen da s Verfahren
70
71
72
73
74
75
76
77
78
Aussagen für das Verfahren
Meinungen der Bevölkerung zum Anerkennungsverfahren Auskunft über die Meinung der Bevölkerung zur Abschaffung des Verfahrens im Oktober 1974 gaben die Antworten auf folgende Frage: Es ist vorgeschlagen worden, dass in Zukunft jeder Wehrpflichtige frei wählen kann, ob er entweder Wehrdienst leisten oder Ersatzdienst machen möchte. Was ist Ihre Meinung zu diesem Plan? Sind Sie grundsätzlich dafür oder dagegen, dass jeder Wehrpflichtige künftig zwischen Wehrdienst und Ersatzdienst frei wählen kann? Die publizistische Kritik an dem Verfahren zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerung und die Forderung nach seiner Abschaffung wurde Mitte der siebziger Jahre von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt. Nahezu zwei Drittel der Bevölkerung war der Ansicht, jeder Wehrpflichtige sollte künftig zwischen Wehrdienst und 197
Ersatzdienst frei wählen können. Besonders die Anhänger der FDP und der SPD vertraten diesen Standpunkt nahezu einhellig, während die Ansichten bei den Anhängern der CDU/CSU eher geteilt waren (Tabelle 6).34 Tabelle 6: Freie Wahlmöglichkeit zwischen Wehrdienst und Ersatzdienst? Das Urteil der Bevölkerung im Oktober 1974
Bevölkerung insgesamt
Dafür
Dagegen
Summe
%
Unentschieden/ Keine Meinung %
% 60
25
15
100
Anhänger der
100
CDU/CSU
52
31
17
100
SPD
72
18
10
100
FDP
75
19
6
100
Quelle: Elisabeth Noelle-Neumann (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1974-1976. Wien/München/Zürich 1976, S. 106
Im Dezember 1974 nannte die Bevölkerung die Reform des Wehr- und Ersatzdienstes mit der Abschaffung des Prüfverfahrens aus einer Liste von sechs Reformplänen der Bundesregierung nach der Reform der Lehrlingsausbildung als zweitwichtigste Gesetzgebungsaufgabe, die auf jeden Fall noch vor der Bundestagswahl 1976 verwirklicht werden sollte.35 Die Kritik an dem bestehenden Verfahren und die Forderungen nach seiner Abschaffung, die beide 1974 ihren Höhepunkt erreichten, übten damit einen beträchtlichen Entscheidungsdruck auf die Regierung und die sie tragenden Parteien aus, zumal sie besonders von den Anhängern der FDP und SPD getragen wurden.
Reaktionen der Politik Die Fraktionen der SPD und der FDP legten im Juni 1975 dem Bundestag einen gemeinsamen Entwurf zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstes vor, der die Abschaffung des Prüfungsverfahrens für ungediente Wehrpflichtige vorsah.36 Er stellte einen Kompromiss zwischen den Vorstellungen der Koalitionsfraktionen und des Bundesministers für Verteidigung dar. Die
198
CDU/CSU-Opposition legte im Oktober 1975 dem Bundestag einen eigenen Gesetzesentwurf vor, der grundsätzlich die Beibehaltung des Anerkennungsverfahrens vorsah. Das Verfahren selbst sollte jedoch durch verschiedene organisatorische Maßnahmen verbessert werden.37 Der Entwurf der SPD/FDP-Koalition zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes wurde im April 1976 mit den Stimmen der SPD und der FDP angenommen, obwohl die aus SPD und FDP gebildete Regierung Bedenken besaß. Nachdem das Gesetz rechtskräftig geworden war, erhob die Bundestagsfraktion der CDU/CSU Klage beim Bundesverfassungsgericht.38 Eine wesentliche Ursache dafür, dass ein Teil der SPD- und FDP-Politiker dem Gesetz entgegen ihren wie sich zeigen sollte berechtigten Bedenken zustimmten, dürften die reziproken Effekte der kritischen Medienberichterstattung über das bisherige Anerkennungsverfahren gewesen sein, zumal Parlamentarier vermuten, dass kritische Medienberichte auf die Wähler, bzw. Menschen in ihren Wahlkreisen einen besonders starken Einfluß besitzen.39 Nachdem die Wehrpflichtigen, die den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern wollten, ihre Absicht nur noch schriftlich dem Kreiswehrersatzamt mitteilen mussten, stieg die Zahl der Antragsteller erneut stark an.40 Das Ausmaß dieses Anstiegs übertraf selbst die größten Befürchtungen des Bundesverteidigungsministeriums. Das Bundesverfassungsgericht erließ daraufhin am 15. Dezember 1977 eine einstweilige Anordnung gegen das Wehrdienstgesetz in der Fassung vom 13. Juli 1977.41 Danach mussten sich Wehrpflichtige, die den Kriegsdienst verweigern wollten, bis zur endgültigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wieder einer Gewissensprüfung unterziehen. Das Gericht begründete diesen Schritt mit der Tatsache, dass es bis zum 1. Dezember 1977 130.000 Kriegsdienstverweigerer gab, denen nur 34.000 Zivildienstplätze gegenüberstanden, von denen nur etwa 11.000 sofort besetzbar waren. Damit sei die Gefahr der Wehrungerechtigkeit erheblich angestiegen. Am 13. April 1978 verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über die Klage der CDU/CSU-Fraktion. Es erklärt die Klage in weiten Teilen für berechtigt und das Gesetz in entscheidenden Teilen für verfassungswidrig.42 Das Verfahren zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern wurde daraufhin bis zu seiner endgültigen Neuregelung in seiner leicht modifizierten alten Form wieder eingeführt. Abbildung 8 zeigt die entscheidenden Elemente der gesamten Entwicklung im Zusammenhang.
199
Abbildung 8:
45.000
Rechtfertigung der Kriegsdienstverweigerung, Anträge auf Kriegsdienstverweigerung, Kritik am Anerkennungsverfahren und politische Aktivitäten zur Abschaffung des Verfahrens
Anträge auf Kriegsdienstverweigerung
Anzahl der Argumente
40.000
80 70
35.000
60
30.000 4
50
25.000 3
20.000
40
2 1
15.000
30 20
10.000
10
5.000
0
0 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78
------ Rechtfertigung der Kriegsdienstverweigerung; Anträge auf Kriegsdienstverweigerung; Kritik am Anerkennungsverfahren. Erläuterung zu den senkrechten Linien 1- 4: 1. Vorlage eines gemeinsamen Gesetzesentwurfs der SPD/FDP-Fraktionen zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes; 2. Annahme des Gesetzes durch den Bundestag; 3. Inkrafttreten des Gesetzes; 4. Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Die Länge der Linien verweist auf die zunehmende Bedeutung der Entscheidungen.
Zusammenfassung und Folgerung Die Entwicklungen zeigen einige Regelmäßigkeiten, die man in fünf Punkten zusammenfassen kann: 1. 2.
200
Die Verhaltensänderungen der Wehrpflichtigen und die Entscheidungen der Bundesregierung wurden intellektuell vorbereitet. Sie wurden gerechtfertigt. Die Urheber der Rechtfertigungen waren zunächst relativ kleine Gruppen bzw. wenige Zeitungen. Sie bildeten eine fordernde Minderheit.
3.
4.
5.
Die fordernde Minderheit konnte ihre Argumente zunächst ohne Widerspruch publizieren. Die Gegner der fordernden Minderheit widersprachen ihr in der Regel erst, als sich im Gefolge der Rechtfertigung des Verhaltens das Verhalten entsprechend änderte. Das illegale Verhalten war in bestimmten Gruppen der Gesellschaft legitim. In Bezug auf die Legitimität gab es mit anderen Worten in unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft keinen Unterschied. Das illegale Verhalten besaß daher wahrscheinlich die gleichen Ursachen wie das legale Verhalten: Die Anpassung an die Verhaltenserwartungen relevanter Bezugsgruppen. Die sozialen Veränderungen, die in der Gesetzesänderung des Bundestages gipfelten, waren die Folge der Radikalisierung der Argumentation und des Verhaltens. Die bestehenden Normen wurden zunächst akzeptiert, der Verhaltensspielraum bis an die normativen Grenzen ausgeschöpft. In einer zweiten Phase wurden die Normen kritisiert, die Normverletzung gerechtfertigt, die Norm zunehmend gebrochen und schließlich beseitigt.43 Der gesamte Prozess der sozialen Veränderungen dauerte von seinen intellektuellen Ursprüngen bis zu seinem justiziablen Kulminationspunkt etwa 15 Jahre. Etwa die Hälfte dieser Zeit verging, ohne dass die Gegner der Veränderungen den bestehenden Zustand nachhaltig verteidigt haben.
Die skizzierte Entwicklung belegt, dass auch dramatische soziale Veränderungen nur langsam und kontinuierlich entstehen. Ein großer Teil dieser Veränderungen beruht auf der Rechtfertigung der bevorstehenden Veränderungen. Eine wesentliche spielt Rolle hierbei die positive Resonanz der Forderungen von Minderheiten bei einem Teil der meinungsbildenden Medien. Die hierbei relevanten Medien spielen eine Doppelrolle. Zum einen sind sie Chronisten des jeweils aktuellen Geschehens einschließlich der Aktivitäten der Anhänger und Gegner der Kriegsdienstverweigerung. Zum anderen sind sie durch ihre Gewichtung der Themen und Sichtweisen eine Ursache der Entwicklungen, der Meinungs-, Verhaltens- und Gesetzesänderungen. Die traditionelle Frage, ob die Medien Urheber oder Spiegel der öffentlichen Meinung sind, thematisiert ein Scheinproblem. Sie sind beides. Der gemeinsame Erfolg der Aktivisten und der involvierten Medien beruhte zum einen auf ihrem entschlossenen Engagement, das sich auch in einer zunehmenden Radikalisierung ihrer Forderungen zeigt, zum anderen auf der späten und nur zögerlichen Verteidigung bestehender Normen durch ähnlich engagierte Forderungen nach der Beseitigung offensichtlicher Mängel. Die erwähnte Rechtfertigung des Normwandels findet zwar in der Öffentlichkeit statt, sie wird jedoch von der Mehrheit der Bevölkerung und der zuständigen Politiker nicht hinreichend beachtet oder nicht ernst genug genommen. Ihre konzentrierte Auf-
201
merksamkeit setzt erst dann ein, wenn die Veränderung in Form von Verhalten manifest wird und eine so große Eigendynamik gewonnen hat, dass sie auch eine Entscheidung gegen die Überzeugung eines erheblichen Teils der Entscheidungsberechtigten erzwingt und deshalb revidiert werden muß. Die starke Eigendynamik gegen Ende des Geschehens der schrittweisen Unterhöhlung der bestehenden Verhaltensnormen, der Etablierung von Verhaltensaltarnativen, die selbst normative Kraft entfalten und der Forderung nach ihrer Legalisierung dürfte ein Grund dafür sein, weshalb auch Änderung von Verhaltensnormen nach einer sehr langen Anlaufzeit als plötzliches und dramatisches Geschehen wahrgenommen wird.
1 Folgende Presseerzeugnisse wurden analysiert: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Die Welt, Süddeutsche Zeitung, Berliner Morgenpost, Kölnische Rundschau, Kölner Stadtanzeiger, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Bild-Zeitung, Abendzeitung München, Die Zeit, Der Spiegel. Grundlage für die Inhaltsanalyse waren Materialsammlungen des Bundespresseamtes. 2 Vgl. Elisabeth Noelle / Erich Peter Neumann (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 19471955. Allensbach 1956; Dies. (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957. Allensbach 1957; Dies. (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-1964. Allensbach 1965; Dies. (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965-1967. Allensbach 1967; Dies. (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968-1973. Allensbach 1974; Elisabeth Noelle-Neumann (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1974-1976. München 1976. 3 Vgl. Bundesminister der Verteidigung (Hrsg.): Weißbuch 1971/72. Bonn 1972; Ders. (Hrsg.): Weißbuch 1973/74. Bonn 1974; Deutscher Bundestag (Hrsg.): Jahresbericht 1968 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. Bundestagsdrucksache V/3912 vom 19.2.1969. Bonn 1969; Deutscher Bundestag (Hrsg.): Jahresbericht 1969 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. Bundestagsdrucksache VI/453 vom 26.2.1970; Deutscher Bundestag (Hrsg.): Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten. Jahresbericht 1974. Bundestagsdrucksache 7/3228 vom 13.2.1975. Bonn 1975; Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.): Mitteilungen an die Presse Nr. XIII/4 vom 21.1.1976. Bonn 1976. 4 Vgl. Archiv der Gegenwart. Bonn 1956 ff. 5 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20.12.1960 l BvL 21/60. In: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Bd. 12. Tübingen 1962, S. 45-61. Zur Klärung des Begriffs Gewissen siehe auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.7.1969 BVerwG VII C. In: Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, Bd. 9. Berlin 1960, S. 97-100. 6 Vgl. Gesetz über den zivilen Ersatzdienst vom 13.1.1960. In Bundesgesetzblatt. Teil I. Bonn o. J. (1960) S. 10-16. 7 Vgl. Ratschlag zur gesetzlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer. In: epdDokumentation Nr. 16/1975. Frankfurt a. M. 1975, S. 41. Zur Haltung der EKD zur Kriegsdienstverweigerung siehe auch Walther Bienert: Krieg, Kriegsdienst und Kriegsdienstverweigerung. Nach der Botschaft des Neuen Testaments. Stuttgart 1952; Martin Schröter (Hrsg.): Kriegsdienstverweigerung als christliche Entscheidung. I. A. der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer. München 1965; Ulrich Duchrow / Gerta Scharffenorth (Hrsg.): Konflikte zwischen Wehrdienst und Friedensdiensten. Ein Strukturproblem der Kirche. Stuttgart 1970.
202
8
Vgl. Bernd W. Kubbig: Kirche und Kriegsdienstverweigerung in der BRD. Stuttgart 1974, S. 65. Vgl. Franz W. Seidler / Helmut Reindl: Die Wehrpflicht. Dokumentation zu Fragen der allgemeinen Wehrpflicht, der Wehrdienstverweigerung und der Wehrgerechtigkeit. München 1971, S. 186. 10 Vgl. Autorenkollektiv der Bundeszentrale der Ersatzdienstleistenden: Über die Selbstorganisation der Ersatzdienstleistenden. In: Hans-Jürgen Haug / Hubert Maessen (Hrsg.) Kriegsdienstverweigerer: Gegen die Militarisierung der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1971, S. 96-109, dort S. 107. 11 Vgl. Bundesminister der Verteidigung (Hrsg.): Weißbuch 1973/74. Bonn 1974, S. 57. 12 Vgl. Der Zivildienst. Zeitschrift für den Zivildienstleistenden, Jg. 6, 1975, Nr. 3/4, S. 2. 13 Vgl. Autorenkollektiv der Bundeszentrale der Ersatzdienstleistenden, a. a. O., S. 100. 14 Vgl. Franz W. Seidler / Helmut Reindl: Die Wehrpflicht, a. a. O., S. 139. 15 Vgl. Der Zivildienst, a. a. O., S. 10. 16 Vgl. Autorenkollektiv der Bundeszentrale der Ersatzdienstleistenden, a. a. O., S. 107. 17 Zu Begriff und Struktur von publizistischen Konflikten vgl. Hans Mathias Kepplinger: Publizistische Konflikte. In: Ders.: Publizistische Konflikte und Skandale. Wiesbaden 2009, S. 9-27. 18 Ebenda, S. 16. 19 Ebenda, S. 19. 20 Ebenda, S. 25. 21 Elisabeth Noelle-Neuman: Die Schweigespirale. Über die Entstehung der öffentlichen Meinung (1974). In: Dies.: Öffentlichkeit als Bedrohung. Beiträge zur empirischen Kommunikationsforschung. Freiburg 1977, S. 169-203. Siehe hierzu auch: Dies.: Die Schweigespirale (1980). München 6 2001 passim. 22 Vgl. Allensbacher Berichte 1976, Nr. 10. 23 Bei der Entscheidung für den Wehrdienst oder die Kriegsdienstverweigerung spielten neben der Achtung durch die Bezugsgruppe die politischen Präferenzen der Wehrpflichtigen eine bedeutende Rolle, die jedoch hier nicht weiter untersucht werden soll. Die soziale Wertschätzung für Kriegsdienstverweigerer hing deutlich mit der Parteipräferenz zusammen. Viel Achtung vor Kriegsdienstverweigerern hatten unter den Anhängern der CDU/CSU 35 Prozent, unter den Anhängern der FDP 51 Prozent und unter den Anhängern der SPD 53 Prozent. Vgl. Allensbacher Berichte 1976, Nr. 10. 24 Bundesministerium der Verteidigung Informations- und Pressestab (Hrsg.): Mitteilungen an die Presse Nr. XIII/4 vom 21.1.1976. Bonn 1976. 25 Vgl. Albert Krölls: Kriegsdienstverweigerung. Grundrecht zwischen Gewissensfreiheit und Kriminalität. Eine rechtssoziologische Studie zur Kriegsdienstverweigerung in der Bundesrepublik. Leverkusen 1976, S. 70. 26 Vgl. epd-Dokumentation Nr. 16/1975, a. a. O., S. 48. 27 Vgl. Bernd W. Kubbig: Kirche und Kriegsdienstverweigerung, a. a. O., S. 73. 28 Vgl. epd-Dokumentation Nr. 16/1975, a. a. O., S. 54. 29 Vgl. Franz W. Seidler / Helmut Reindl: Die Wehrpflicht, a. a. O., S. 190 f. 30 Vgl. Erklärung des DGB zur Wehrdienstverweigerung vom 8.7.1970: DGB fordert gleiche Bedingungen für Kriegsdienstverweigerer und Wehrdienstleistende. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Kontrovers. o. O. (Bonn), o. J. (1973), S. 128. 31 Vgl. Beschluss des SPD-Parteitages zum Zivilen Ersatzdienst" in Hannover 1973. In: epdDokumentation Nr. 16/1975, a. a. O., S. 4. 32 Vgl. Beschluss der 1. Tagung der 5. Synode der EKD (29. Mai-2. Juni 1973) in Coburg. In: epdDokumentation Nr. 16/1975, a. a. O., S. 53. 33 Vgl. Kongress der kirchlichen Beauftragten, Berater und Beiständen für Kriegsdienstverweigerung. Veranstaltung der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) und der Katholischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst (KAK) vom 2.4.1974. In: epd-Dokumentation Nr. 15/1975, a. a. O., S. 46 f. 9
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34
Eine Umfrage des infas-Instituts mit ca. 1.000 Befragten vom Oktober/November 1974 zeigte ein ähnliches Ergebnis. Danach waren 57 Prozent der Gesamtbevölkerung für eine freie Entscheidung, 31 Prozent für eine Gewissensprüfung und 12 Prozent unentschieden. Vgl. epd-Dokumentation Nr. 15/1975, a. a. O., S. 62. 35 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1974-1976. Wien 1976, S. 99. 36 Vgl. Albert Krölls: Kriegsdienstverweigerung, a. a. O., S. 250. 37 Vgl. Ebenda, S. 253. 38 Vgl. Hintergrund. Archiv- und Informationsmaterial. Hrsg.: Deutsche Presse Agentur (Hrsg.): Archiv/HG 2808. Hamburg 1977, S. 6. 39 Zu Begriff und Wirkweise der reziproken Effekte vgl. Hans Mathias Kepplinger: Reziproke Effekte. In: Ders.: Medieneffekte. Wiesbaden 2010, S. 135-153. Zu den Vermutungen von Parlamentariern über den Einfluss der Medien auf ihre Wähler siehe ders.: Fehler und Folgen von negativen Politikberichten, ebenda, S. 175-190. 40 Während die Anzahl der Anträge für die einzelnen Monate 1976 und 1977 bis Ende Juli sich etwa parallel entwickelte, trat mit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes eine wesentliche Veränderung ein. In den folgenden Zahlenpaaren werden die Werte von 1976 und 1977 gegenübergestellt: Januar 6.940 : 5.677, Februar 6.071 : 5.556, März 4.878 : 5.363, April 3.258 : 3.766, Mai 2.690 : 2.982, Juni 2.117 : 2.822, Juli 813 : 2.621, August 454 : 7.617, September 2.401 : 6.746, Oktober 3.124 : 8.609, November 3.006 : 10.563, Dezember 2.882 : ca. 11.000. Vgl. Archiv der Gegenwart, a. a. O., 1977, S. 21.451. 41 Vgl. Deutsche Presse Agentur (Hrsg.): Hintergrund. Archiv- und Informationsmaterial. Nachtrag zu Archiv/HG 2708. Hamburg 1977. 42 Vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13.4.1978 2-BvF l, 2,4, 5/77. In: Neue Juristische Wochenschrift 25 (1978) S. 1.245-1.255. 43 Vgl. hierzu auch: Irving L. Horowitz / Martin Liebowitz: Soziale Abweichung und politische Marginalität. Ansatz zu einer Neudefinition der Beziehung zwischen Soziologie und Politik (1967/8). In: Walter R. Heinz / Peter Schöber (Hrsg.): Theorien kollektiven Verhaltens. Beiträge zur Analyse sozialer Protestaktionen und Bewegungen, Bd. II. Darmstadt-Neuwied 1972, S. 166-198.
204
Die Konstruktion der Kernenergiegegnerschaft
Die öffentliche Diskussion über die friedliche Nutzung der Kernenergie wird durch einige Annahmen geprägt, deren Richtigkeit so gewiss erscheint, dass sie außer Frage steht. Dies gilt auch für die Berichterstattung der Massenmedien. Zu den Gewissheiten gehört die Überzeugung, dass die Umbewertung der Kernenergie eine Folge der Reaktorunfälle von Harrisburg und Tschernobyl ist. Die wachsende Kritik an der Kernenergie beruht nach dieser Vorstellung im Wesentlichen auf zwei Gründen: der zunehmenden Gefährdung von Mensch und Natur durch die Kernenergie und der wachsenden Einsicht in die Natur des Problems. Sie ist damit Ausdruck eines geschärften Problembewusstseins, wenn nicht gar eines höheren Grades an Rationalität. Zu den Gewissheiten gehört auch die Überzeugung, dass die Umbewertung der Kernenergie in der Berichterstattung der Massenmedien eine Folge des geschärften Problembewusstseins der Bevölkerung ist, deren Ängste sie spiegelt. Nach dieser Vorstellung sind die Ängste der Bevölkerung nicht eine Wirkung, sondern eine Ursache der Berichterstattung. Die Umbewertung der Kernenergie in der Berichterstattung der Massenmedien ist damit auch Ausdruck einer besseren Funktionserfüllung durch die Massenmedien, wenn nicht gar eines höheren Grades an Demokratie. Gelegenheit, dies und eine Reihe anderer Annahmen zu prüfen, gibt eine quantitative Inhaltsanalyse der Darstellung der Kernenergie von 1965 bis 1986. Analysiert wurde die Berichterstattung der Frankfurter Rundschau, der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt, der Zeit, des Spiegel und des Stern. Ausschlaggebend für die Auswahl der Zeitungen und Zeitschriften war ihre Bedeutung innerhalb des Mediensystems der Bundesrepublik Deutschland, die sich u. a. darin zeigt, dass sich Journalisten anderer Medien an ihnen orientieren. Die vier Tageszeitungen repräsentieren darüber hinaus relativ gut das publizistische Spektrum der Bundesrepublik Deutschland, sodass man ihre Berichterstattung als einen Indikator für die Berichterstattung anderer Tageszeitungen betrachten kann. Die Untersuchung beruht auf einer repräsentativen Stichprobe, in die pro Blatt und Jahr 13 Ausgaben aufgenommen wurden. Folglich wurden 286 Ausgaben pro Blatt oder insgesamt 2.002 Ausgaben erfasst. Analysiert wurden die ersten vier Seiten des politischen Teils der Zeitungen sowie der gesamte politische Teil der Zeitschriften. Alle Aussagen betreffen folglich nur den politischen Teil der Blätter. In einer Zusatzstudie wurden für
H. M. Kepplinger, Realitätskonstruktionen, DOI 10.1007/978-3-531-92780-0_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
sechs Jahre auch noch der Wirtschaftsteil und der Kulturteil untersucht. Die Ergebnisse werden hier jedoch, um die Darstellung übersichtlich zu halten, nicht ausgewiesen. Gegenstand der Untersuchung sind alle wertenden Aussagen über die Kernenergie. Hierzu gehören Aussagen über die Kernenergie allgemein, den Bau und Betrieb kerntechnischer Anlagen, die Sicherheits- und Umwelttechniken und den kerntechnisch gewonnenen Strom. Ferner gehören hierzu Aussagen über die Notwendigkeit von Kernenergie, die Bedingungen, die Sicherheit, die Leistungsfähigkeit und die Funktionsfähigkeit kerntechnischer Anlagen sowie Aussagen über den Nutzen und Schaden von Kernenergie. Dabei wurden verschiedene Geschädigte und Nutznießer unterschieden. Schließlich wurden alle allgemein wertenden Aussagen über Kernenergie und alle Aussagen über KernenergieExperten erfasst. Für jede Aussage wurden der Urheber und die Tendenz festgehalten, sodass eine klare Zuordnung von Urheber, Gegenstand und Tendenz der Aussage möglich ist. Durch die Kombination der verschiedenen Elemente konnten 1.606 unterschiedliche Aussagen über die Kernenergie erfasst und 176 Urhebern zugeordnet werden. Darüber hinaus wurde die Tendenz der Aussagen in fünf bzw. sieben Abstufungen festgehalten. In der Berichterstattung der Massenmedien finden sich zwei Typen wertender Aussagen: explizite und implizite Wertungen. Explizite Wertungen liegen vor, wenn der Urheber die Kernkraft selbst, ihre Ursachen, Folgen usw. mit eindeutig wertenden Begriffen charakterisiert. Beispiele hierfür sind u. a. gut, schlecht, verheißungsvoll, verhängnisvoll, Segen, Fluch. Implizite Wertungen liegen vor, wenn der Urheber der Kernenergie allgemein positiv oder negativ bewertete Bedingungen, Folgen oder Begleiterscheinungen zuschreibt. Beispiele hierfür sind die Sicherung oder Gefährdung von Arbeitsplätzen, der Stromversorgung, der Gesundheit oder von Leben. Explizite und implizite Bewertungen finden sich sowohl in Kommentaren als auch in Nachrichten und Berichten. Bei expliziten Wertungen in Kommentaren handelt es sich meist um Äußerungen der Verfasser, bei expliziten Wertungen in Nachrichten und Berichten dagegen meist um referierte oder zitierte Äußerungen Dritter. In der Berichterstattung der untersuchten Blätter bestand eine hohe Übereinstimmung zwischen der Tendenz expliziter und impliziter Wertungen. Beide Aussageformen werden deshalb bei der Datenpräsentation zusammengefasst. Bei der Interpretation der Daten ist zu beachten, dass der Begriff Tendenz im allgemeinen Sinn einer wertenden Charakterisierung von Kernenergie zu verstehen ist.
206
Überblick über die Berichterstattung Die untersuchten Tageszeitungen und Wochenblätter veröffentlichten von 1965 bis 1986 im politischen Teil der analysierten Ausgaben insgesamt 7.909 wertende Aussagen über Energie. Hochgerechnet auf alle Ausgaben ergibt das einen Wert von etwa 80.000 wertenden Aussagen. Die Frankfurter Rundschau publizierte deutlich mehr wertende Aussagen über Energie als die anderen Tageszeitungen, der Spiegel deutlich mehr als die anderen Wochenblätter. Bei der Frankfurter Rundschau handelte es sich um ca. 20.000, bei den anderen Tageszeitungen um jeweils ca. 16.000 wertende Aussagen, beim Spiegel waren es ca. 7.500, beim Stern ca. 4.000 und bei der Zeit ca. 1.000. Die Energieberichterstattung der Tageszeitungen und Wochenblätter war eindeutig auf die Kernenergie konzentriert. Alle anderen Energien, einschließlich des Öls, spielten daneben nur eine völlig untergeordnete Rolle. Bei den Tageszeitungen betrug der Anteil der wertenden Aussagen über die Kernenergie an allen wertenden Aussagen über Energie 80 Prozent, bei den Wochenblättern 74 Prozent. Betrachtet man die Tendenz der Berichterstattung, ergibt sich folgendes Bild. Bei den Tageszeitungen zeigt sich ein klares Rechts-Links-Gefälle: Je weiter links die Zeitung angesiedelt ist, desto negativer stellte sie die Kernenergie dar. Die Darstellung der Kernenergie war damit hochgradig politisiert. Bemerkenswerterweise war auch in der Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Saldo aller wertenden Aussagen leicht negativ. Eindeutig positiv berichtete nur die Welt. Bei den Wochenblättern wird dagegen ein Links-LinksPlateau sichtbar: Alle drei Blätter berichteten über die Kernenergie ähnlich negativ. Damit bestand ein breiter Konsens zwischen Frankfurter Rundschau, Süddeutscher Zeitung, Zeit, Spiegel und Stern, die die Kernenergie in ähnlich negativer Weise charakterisierten. Die Urheber der wertenden Aussagen waren in der Berichterstattung der Tageszeitungen meist Politiker (43 Prozent), gefolgt von Journalisten (26 Prozent). Besonders häufig kamen Politiker in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (51 Prozent) und der Welt (49 Prozent) zu Wort, relativ selten dagegen in der Frankfurter Rundschau (41 Prozent) und vor allem in der Süddeutschen Zeitung (34 Prozent). Bei den Wochenblättern stammten die meisten wertenden Aussagen von Journalisten (35 Prozent), gefolgt von Politikern (29 Prozent). Besonders häufig waren journalistische Wertungen im Spiegel (37 Prozent), während die Zeit Aussagen von Politikern (35 Prozent) und Journalisten (34 Prozent) eher wie die Süddeutsche Zeitung gewichtete. Das Bild der Kernenergie wurde damit in allen untersuchten Blättern vor allem durch wertende Äußerungen von Politikern und Journalisten geprägt, auf die etwa 60-70 Prozent aller wertenden Aussagen entfielen. Daneben spielten die Äußerungen von Wissenschaftlern sowie
207
Arbeitgebern und Arbeitnehmern nur eine untergeordnete Rolle. Von Wissenschaftlern stammten in den Tageszeitungen 10 Prozent, in den Wochenblättern 11 Prozent der wertenden Aussagen, wobei die Frankfurter Rundschau (12 Prozent), die Süddeutsche Zeitung (13 Prozent) und der Spiegel (13 Prozent) relativ gesehen mehr Aussagen von Wissenschaftlern publizierten als die Frankfurter Allgemeine Zeitung (6 Prozent), Die Welt (7 Prozent), Die Zeit (9 Prozent) und der Stern (9 Prozent). Der Anteil der Aussagen von Naturwissenschaftlern und Technikern an allen wertenden Äußerungen war noch wesentlich geringer. Er betrug bei den Tageszeitungen drei, bei den Wochenblättern vier Prozent. Die Journalisten fast aller Blätter äußerten sich überwiegend negativ über die Kernenergie. Eine Ausnahme machten nur die Mitarbeiter der Welt. Die Tendenz der Äußerungen von Journalisten war beim Spiegel (-1,4) und Stern (1,2) extrem negativ, bei der Zeit (-0,7) und der Frankfurter Rundschau (-0,7) sehr negativ, bei der Süddeutschen Zeitung (-0,5) und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (-0,4) moderat negativ und bei der Welt (+0,2) schwach positiv. Die Werte schwanken theoretisch zwischen + 3 und -3. Bei der Interpretation der empirischen Mittelwerte muss berücksichtigt werden, dass ein Wert von -1,4 einem Verhältnis von 80 Prozent negativen zu 20 Prozent positiven Aussagen mittlerer Intensität entspricht. Die Tatsache, dass sich die Journalisten fast aller untersuchten Blätter überwiegend negativ über die Kernenergie äußerten, muss nicht bedeuten, dass sie der Kernenergie überwiegend kritisch gegenüberstanden. Man kann sie vielmehr auch so verstehen, dass sie sich überwiegend dann mit der Kernenergie beschäftigten, wenn ein Anlass für negative Äußerungen bestand. Allerdings bedeutet dies wiederum noch nicht, dass die negativen Äußerungen berechtigt waren. Das Verhältnis von Anlass, Aufmerksamkeit und Bewertung ist mit anderen Worten komplexer als es zuweilen scheinen mag. Die untersuchten Blätter gingen in etwa jedem zweiten Artikel auf die Schäden (52 Prozent), jedoch nur in etwa jedem vierten Beitrag auf den Nutzen (24 Prozent) der Kernenergie ein. Im Mittelpunkt stand in beiden Fällen jedoch nicht der tatsächliche Schaden oder Nutzen, sondern der mögliche Schaden oder Nutzen durch Kernenergie. Die Darstellung des Schadens und Nutzens der Kernenergie war damit hochgradig spekulativ. Relativ häufig beschäftigten sich die untersuchten Blätter auch mit der Sicherheit und Störanfälligkeit von Kernkraftwerken (36 Prozent). Hierbei handelte es sich um allgemeine bzw. spezifische Aussagen über die Funktionsfähigkeit, die zusammen betrachtet werden müssen. Auch auf die Bedingungen von Kernkraft gingen die untersuchten Blätter noch recht häufig ein (29 Prozent). Hierbei handelte es sich vorwiegend um Aussagen über die politischen und rechtlichen Voraussetzungen für den Bau von Kernkraftwerken. Dagegen spielte die Notwendigkeit von Kernkraftwerken in der Berichterstattung nur eine untergeordnete Rolle (14 Prozent). Noch bedeutungs-
208
loser war in der Berichterstattung die Leistungsfähigkeit von Kernkraftwerken (8 Prozent). Damit blieben in der Berichterstattung die zwei entscheidenden Gründe für den Bau von Kernkraftwerken, Notwendigkeit und Leistungsfähigkeit, weitgehend ausgespart.1 Bei allen Aussagen über den Schaden und Nutzen durch Kernenergie wurde festgestellt, wer als Geschädigter oder Nutznießer genannt wurde. Nutznießer der Kernenergie waren nach Darstellung der untersuchten Blätter vor allem politische Institutionen der Staat, Regierungen, Parteien oder einzelne Politiker. Dadurch wurde der Eindruck erweckt, die Kernkraft diene vor allem den Interessen dieser Institutionen und Personen. Mit deutlichem Abstand wurden als Nutznießer Wirtschaftssubjekte genannt. Hierzu zählen Unternehmen, jedoch auch einzelne Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wiederum mit weitem Abstand folgten einzelne Staatsbürger, nochmals mit weitem Abstand die Umwelt. Andererseits waren die einzelnen Staatsbürger und die Umwelt nach Darstellung der untersuchten Blätter ganz eindeutig die Geschädigten der Kernenergie. Dadurch wurde der Eindruck erweckt, die Kernkraft gefährde vor allem die Belange der einzelnen Staatsbürger und der Umwelt. In der Berichterstattung der untersuchten Blätter standen sich damit zwei klar getrennte Lager mit gegensätzlichen Interessenlagen gegenüber, die Politik und Wirtschaft auf der einen Seite sowie die Einzelnen und ihr Lebensraum auf der anderen Seite. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse. Nicht in die Tabelle aufgenommen wurde eine relativ geringe Zahl von Aussagen, in denen der Nutzen oder Schaden der Kernenergie bestritten wurde. Tabelle 1: Darstellung von Nutznießern und Geschädigten* Basis: Aussagen Nutznießer Geschädigte (n = 380) (n = 932) % %
Summe (n= 1.312) %
Staatsbürger
18
40
34
Politische Institutionen
45
14
23
Wirtschaftssubjekte
28
11
16
Kultursubjekte
-
-
-
Umwelt
9
35
28
Summe
100
100
101
* Ohne zurückgewiesenen Nutzen/Schaden.
209
Entwicklung der Berichterstattung Die untersuchten Blätter stellten die Kernenergie Ende der sechziger Jahre eindeutig positiv dar. Allerdings zeichnete sich schon 1969 eine Wende zum Negativen ab. Bereits 1972 war die Tendenz der Berichterstattung erstmals überwiegend negativ. Im darauf folgenden Jahr wurde sie noch einmal eindeutig positiv, jedoch handelte es sich hierbei nur um einen einmaligen Ausschlag, dessen Ursache noch zu klären sein wird. Seit 1974 stellten die untersuchten Blätter die Kernenergie nahezu kontinuierlich negativ dar. Die Umbewertung der Kernenergie in der Berichterstattung der untersuchten Blätter hatte sich damit bereits lange vor den Reaktorunfällen in Harrisburg (1979) und Tschernobyl (1986) vollzogen, war jedoch, weil die Kernenergie in der Berichterstattung kaum eine Rolle spielte, unbeachtet geblieben. Erst als die Tendenz der Darstellung insgesamt negativ war, nahm die Intensität der Berichterstattung deutlich zu, wodurch vor allem gegen Ende der siebziger Jahre der irrtümliche Eindruck entstand, es habe eine plötzliche Umbewertung der Kernenergie stattgefunden. Betrachtet man die Tendenz und Intensität der Thematisierung der Kernenergie im Zeitverlauf, so wird deutlich, dass die Reaktorunfälle von Harrisburg und Tschernobyl sowie eine Reihe weniger bedeutsamer Vorfälle vermutlich weniger Ursachen der Umbewertung der Kernenergie waren als Anlässe für die Intensivierung der Berichterstattung auf der Basis der bereits vollzogenen Umbewertung. Sie bestätigten zumindest subjektiv die negative Beurteilung der Kernenergie, die sich in Teilen des Journalismus längst durchgesetzt hatte und den Reaktorunfällen ihre Bedeutung verlieh. Folgt man dieser Interpretation, dann waren die negativen Urteile nicht vornehmlich die Folge der Reaktorunfälle. Vielmehr waren die negativen Urteile vornehmlich eine Ursache der Berichtsintensität: Weil Teile des Journalismus der Kernenergie inzwischen kritisch, wenn nicht sehr kritisch gegenüberstanden, wurden die Reaktorunfälle und andere Negativereignisse immer intensiver beachtet. Abbildung l zeigt die Entwicklung der Tendenz und Intensität der Berichterstattung im Zeitverlauf. Im Verlauf der skizzierten Entwicklung rückten zwei Aspekte immer mehr in den Mittelpunkt der Berichterstattung: der Bau und Betrieb kerntechnischer Anlagen und allgemeine Hoffnungen, vor allem jedoch Befürchtungen, die in Zusammenhang mit der Kernenergie standen. Dagegen blieb die Berichterstattung über die Sicherheits- und Umwelttechniken, die für kerntechnische Einrichtungen entwickelt wurden, und über den Beitrag der Kernkraftwerke zur Stromerzeugung völlig bedeutungslos. Damit war die Tendenz der Berichterstattung schon durch die Themenschwerpunkte weitgehend vorgegeben. Die Ziele und Zwecke verschwanden hinter den Mitteln, allgemeine Urteile über die Kernenergie überlagerten die Aussagen über die Sicherheits- und Umwelttechniken.
210
Abbildung 1: 2.000
Entwicklung der Intensität und Tendenz der Berichterstattung Tendenz
Anzahl der Aussagen
1.600
2 1,5
1.200
Thematisierung
1
800 0,5
400 0
-800
1985
1980
1975
1970
1965
-400
0 -0,5
Bewertung
-1
Die Umbewertung der Kernenergie vollzog sich in mehr oder weniger starkem Maße bei allen untersuchten Blättern. Als Wendepunkt kann man das Jahr 1974 betrachten. Allerdings gab es erhebliche Unterschiede der Intensität des Tendenzwandels. Den weitaus radikalsten Positionswechsel vollzog der Stern, der von einer extrem positiven zu einer eindeutig negativen Berichterstattung überging. Auch die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung gingen von einer positiven zu einer negativen Darstellung über, wobei die negative Tendenz der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sehr moderat blieb. Die Zeit und vor allem der Spiegel verstärkten dagegen ihre bereits früh vorhandene Negativtendenz, wobei der Spiegel die Zeit noch an Ablehnung übertraf. Auch die Welt machte einen Tendenzwandel durch. Als einziges Blatt stellte sie jedoch auch nach der allgemeinen Umorientierung die Kernenergie noch insgesamt positiv dar. Allerdings nahm sie mit dieser Haltung seit 1974 im Gegensatz zu den vorangegangenen Jahren eine Außenseiterposition ein. Die Zeit und der Spiegel bildeten damit Vorreiter einer Entwicklung, die mit erheblicher Verzögerung alle anderen Blätter mehr oder weniger ergriff. Ob die beiden Blätter diese Entwicklung mit verursacht oder nur vorweggenommen haben, kann mit den vorliegenden Daten nicht entschieden werden. Bei der Interpretation der Tendenzwerte für die Zeit ab 1974 muss beachtet werden, dass sich in den Mittelwerten vor allem die intensive Berichterstattung gegen Ende
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des Untersuchungszeitraumes niederschlägt. Abbildung 2 zeigt die Tendenzänderungen der einzelnen Blätter bis 1973 und ab 1974. Abbildung 2:
Tendenzen der Berichterstattung in den einzelnen Blättern von 1965-1973 und 1974-1986 Mittelwert (+ 3/-3) 1965-1973
1974-1986
Positiv
Positiv
2
2
1,5
1,5
1
1
0,5
0,5
Negativ
Stern
Zeit
Welt
-1,5
FR
SZ
-1
FAZ
Stern
Spiegel
FR
SZ
-0,5
Spiegel
-1,5
Zeit
-1
FAZ
-0,5
0
Welt
0
Negativ
Einfluss der Berichterstattung auf die Bevölkerungsmeinung Kumulierte Effekte der Normalberichterstattung Die langfristigen Zusammenhänge zwischen der Darstellung der Kernenergie in der Presse und den Ansichten der Bevölkerung zur Kernenergie können anhand einer Frage überprüft werden, die das Institut für Demoskopie Allensbach seit 1975 insgesamt achtmal einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland vorlegte.2 Die Frage lautet: Darüber, welche Vorteile und Nachteile Kernkraftwerke haben, gibt es unterschiedliche Ansichten. Auf diesen Karten hier ist einiges aufgeschrieben, was man über Kernkraftwerke so alles hören und lesen kann. Würden Sie das bitte einmal ansehen und mir alles herauslegen, wo Sie meinen, das stimmt, das trifft auf Kernkraftwerke zu? Die Karten nannten je sieben Vor- und Nachteile, bzw. Nutzens- und Schadensarten, die auch in der Inhaltsanalyse der Presseberichterstattung erfasst wurden. Hierbei 212
handelte es sich u. a. um die positiven Aussagen Kernkraftwerke machen uns unabhängiger vom Ausland, die Stromversorgung von Kernkraftwerken ist wirtschaftlicher und billiger und Kernkraftwerke sind umweltfreundlicher als andere Kraftwerke sowie u. a. um die negativen Aussagen das Wasser der Flüsse wird durch das abfließende Kühlwasser zu warm und verschmutzt dadurch mehr, bei Kernkraftwerken entstehen Gefahren durch die Abfälle, den Atommüll und die Umgebung der Kernkraftwerke wird mit Radioaktivität verseucht. Für die Analyse der Zusammenhänge wurden die Ansichten der Bevölkerung zu den sieben positiven und sieben negativen Aspekten zu einem Index zusammengefasst und den entsprechend zusammengefassten Aussagen der Presseberichterstattung gegenübergestellt. Bei Gegenüberstellung der Darstellung positiver und negativer Aspekte der Kernenergie in der Presse mit den Ansichten der Bevölkerung zu den gleichen Sachverhalten zeigt sich ein hohes Maß an Übereinstimmung. Die untersuchten Blätter beschäftigten sich in ihrer Berichterstattung ab 1974 überwiegend mit negativen Aspekten der Kernenergie. Die Bevölkerung, die ursprünglich vor allem die positiven Seiten der Kernenergie sah, nahm ab 1975 immer weniger ihre positiven und spätestens ab 1979 überwiegend ihre negativen Aspekte wahr. Nach 1979 wurde die Berichterstattung weniger negativ, parallel dazu hellte sich das Bild auf, das die Bevölkerung von der Kernenergie besaß. Nachdem sich 1985 wieder eine insgesamt positive Meinung zur Kernenergie durchgesetzt hatte, wurden die Ansichten der Bevölkerung zur Kernenergie im Gefolge der Berichterstattung über den Reaktorunfall von Tschernobyl extrem negativ. Abbildung 3 zeigt die Entwicklung. Für die gestrichelt gezeichneten Perioden liegen keine Daten vor. Die grafische Darstellung des Zusammenhangs kann durch eine statistische Analyse ergänzt werden. Herangezogen werden hierzu zeitversetzte Kreuzkorrelationen auf Jahresbasis, für die die fehlenden Daten interpoliert wurden. Die zeitversetzten Korrelationen zeigen, dass über den gesamten Zeitraum von 1975 bis 1986 betrachtet die Berichterstattung des Stern (0,66), des Spiegel (0,71) und der Frankfurter Rundschau (0,47) der Bevölkerungsmeinung um drei, zwei bzw. ein Jahr vorausgingen. Die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (0,45) und der Süddeutschen Zeitung (0,48) entwickelten sich parallel zu der Bevölkerungsmeinung, während die Berichterstattung der Welt (0,58) ihr im Abstand von zwei Jahren folgte. Dagegen reagierte die Zeit (-0,45) im Abstand von einem Jahr auf die jeweils herrschenden Meinungstrends mit einer entgegengesetzten Tendenz. Vor allem Stern und Spiegel können damit als Meinungsführer betrachtet werden, wobei offen bleiben muss, ob die beiden Publikationen die Sichtweisen der Bevölkerung (und anderer Publikationsorgane) nur vorwegnahmen oder mit verursachten.
213
Abbildung 3: Darstellung von Vor- und Nachteilen der Kernenergie und Vorstellungen der Bevölkerung davon Indexwerte Anzahl der Aussagen | Index 150
100 50
10 Beurteilung von Vor- und Nachteilen der Kernenergie durch die Bevölkerung
5
0 1965
-50
-5
-100
-10
1970
1975
1980
1985
1987
Darstellung von Vor- und Nachteilen der Kernenergie in der Berichterstattung
-150
-200 -500
Einfluss der Berichterstattung über den Reaktorunfall bei Harrisburg Im Laufe der Berichterstattung der deutschen Medien über die Kernenergie gibt es mehrere Schlüsselereignisse. Dazu gehört neben dem Reaktorunfall bei Tschernobyl vor allem der Reaktorunfall bei Harrisburg am 28. März 1979. Dieser Reaktorunfall stellte keine direkte Bedrohung der Bevölkerung in Deutschland dar und sie hatte keinerlei eigene Informationen über das Geschehen. Ihre Vorstellungen beruhten vielmehr ausschließlich auf ihren bisherigen Überzeugungen und der aktuellen Berichterstattung der Medien. Aufgrund eines glücklichen Zufalls liegen aus der Zeit vor und nach dem Reaktorunfall bei Harrisburg repräsentative Bevölkerungsumfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach vor. Deshalb kann man in diesem Fall den Einfluss der Darstellung eines Schlüsselereignisses auf die eigene Meinung und auf die Vorstellungen von den Meinungen anderer Menschen untersuchen. Die Meinungen zur Kernenergie wurde vom Institut für Demoskopie Allensbach im Februar/März 1979 und im 214
Main/Juni 1979 also vor und nach dem Reaktorunfall bei Harrisburg mit folgender Frage ermittelt: Eine Frage zu Kernkraftwerken: Sind Sie alles in allem eher dafür oder dagegen, dass in der Bundesrepublik weiterhin neue Kernkraftwerke gebaut werden? Könnten Sie es nach diesem Bildblatt mit den schwarzen und weißen Kästchen sagen? Es geht so: Das oberste weiße Kästchen würde bedeuten sehr dafür; und das unterste schwarze Kästchen ganz und gar dagegen. Je mehr Sie also für den Bau neuer Kernkraftwerke sind, ein um so höheres Kästchen wählen Sie, und je mehr Sie dagegen sind, ein um so niedrigeres schwarzes Kästchen nehmen Sie. Was ist Ihre Meinung? Vorgelegt wurde ein Bildblatt mit einer 11-stufigen Skala. Für die folgende Darstellung werden Personen, die die oberen oder unteren vier Stufen angegeben hatten als Befürworter, bzw. Gegner bezeichnet, und diejenigen, die sich für die drei mittleren entschieden hatten, als Unentschiedene. Der Reaktorunfall bei Harrisburg besaß einen deutlichen Einfluss auf die Meinungen der Deutschen zum Bau neuer Kernkraftwerke. Der Anteil der Befürworter ging um vier Prozentpunkte zurück, zugleich nahm der Anteil der Gegner um acht Prozentpunkte zu (Tabelle 2). Tabelle 2: Einfluss der Berichterstattung über den Reaktorunfall bei Harrisburg auf die Meinungen zur Kernenergie
Befürworter1 Unentschiedene/Ambivalente Gegner
2
vor Harrisburg* (n = 970) %
nach Harrisburg** (n = 947) %
49
45
30
26
3
20
28
4
99
99
Summe
* Februar/März 1979; ** Mai/Juni 1979; 1obere vier Skalenstufen; 2mittlere drei Skalenstufen; 3 untere vier Skalenstufen; 4Abweichungen von 100 Prozent rundungsbedingt. Quelle: IfD-Umfragen 3065 und 3070, nach Mathes 1989.
Die Berichterstattung über den Reaktorunfall bei Harrisburg konnte nicht nur die eigenen Meinungen zur Kernenergie beeinflussen, sondern auch die Vorstellungen davon verändern, wie die Mehrheit dazu dachte. Beide Effekte konnten auch auf Gesprächen mit Freunden und Bekannten beruhen, die allerdings ihre Informationen ebenfalls aus den Medien hatten, weil es keinerlei direkte Kontakte
215
zum Geschehen gab. Deshalb handelte es sich auch bei der Veränderung der Vorstellungen von den Meinungen der Bevölkerung insgesamt um direkte und indirekte Effekte der Medienberichterstattung, die ohne sie nicht aufgetreten wären. Den Einfluss der Berichterstattung über den Reaktorunfall bei Harrisburg kann man anhand der Antworten auf folgende Frage erkennen: Jetzt einmal abgesehen von Ihrer eigenen Meinung: Was glauben Sie: Sind die meisten Leute in der Bundesrepublik Deutschland für oder gegen den Bau neuer Kernkraftwerke? Auf die Vorstellungen von den Meinungen der meisten Deutschen wirkte sich das Geschehen bzw. seine Darstellung in den hiesigen Medien noch stärker aus als auf die eigenen Meinungen: Der Anteil der Befragten, die der Ansicht waren, die meisten Deutschen seien für den Bau neuer Kernkraftwerke, ging von 28 auf 21 Prozent zurück. Zugleich stieg der Anteil der Befragten, die der Meinung waren, die meisten Deutschen seien dagegen, von 28 auf 36 Prozent an. Das Meinungsklima verschlechterte sich mit anderen Worten noch stärker als die tatsächlichen Ansichten (Tabelle 3). Tabelle 3: Einfluss der Berichterstattung über den Reaktorunfall bei Harrisburg auf die Vorstellungen von der Bevölkerungsmeinung vor Harrisburg* (n = 970) %
nach Harrisburg** (n = 947) %
die meisten sind dafür
28
21
halb und halb/unmöglich zu sagen
44
43
die meisten sind dagegen
28
36
100
100
Summe
* Februar/März 1979; ** Mai/Juni 1979. Quelle: IfD-Umfragen 3065 und 3070, nach Mathes 1989.
Der Einfluss der Darstellung des Reaktorunfalls bei Harrisburg auf die Meinungen zum Bau neuer Kernkraftwerke mag gering erscheinen. Gegen diese Interpretation sprechen jedoch zwei Fakten. Zum einen wurde hier nur der kurzzeitige Effekt erfasst. Zum anderen zweifelten im Laufe der Jahre auch aufgrund der ablehnenden Medienberichterstattung immer mehr Befürworter der Kernenergie daran, dass auch die Mehrheit der Bevölkerung für die Kernenergie war. Dagegen blieben die Gegner der Kernenergie unterstützt vom negativen Medientenor bei ihrer Überzeugung, dass die Mehrheit die Kernenergie ablehnte. Dies ließ das 216
Lager der Befürworter kleiner erscheinen als es tatsächlich war, was den Druck der öffentlichen Meinung verstärkte und individuelle Meinungsänderungen förderte.3 Die Erosion der Zustimmung zur Kernenergie lässt sich folglich als mehrstufiger Prozess begreifen, der bei der schemageleiteten und schemabildenden Darstellung der Kernenergie durch die meinungsbildenden Medien begann und durch die Darstellung von Schlüsselereignissen vorangetrieben wurde. Sie schlug sich zunächst vor allem in den Vorstellungen der Bevölkerung von der Meinung der Mehrheit nieder und wirkte sich dann auch auf ihre eigenen Meinungen zur Kernenergie aus (Abbildung 4). Abbildung 4:
Entwicklung der Vorstellungen der Befürworter und Gegner von der Mehrheitsmeinung in Prozent
70
Anteil der Kernenergiegegner, die glaubten, die Mehrheit sei gegen die Kernenergie
60 50 40 30 20
Anteil der Kernenergiebefürworter, die glaubten, die Mehrheit sei für die Kernenergie
10 0 1977
1978
1979
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
Ursachen der Berichterstattung Bedeutung der Technikfolgen Die Darstellung der Kernenergie in den untersuchten Blättern kann interne und externe Ursachen besitzen. Als externe Ursachen werden hier Faktoren im Gegenstandsbereich der Berichterstattung verstanden, darunter der Beitrag der Kernenergie zur Elektrizitätsversorgung und die Anzahl der Störfälle in Kernkraftwerken. Als interne Ursachen kann man Faktoren im Tätigkeitsbereich der
217
Berichterstatter ansehen, darunter die subjektiven Ansichten von Journalisten und die Strukturbedingungen ihres Handelns. Einen Grenzfall bilden die Äußerungen von Interessenvertretern, die in der Berichterstattung über die Kernenergie zu Wort kommen, weil hier auch die Meinungen der Journalisten zählen. Zunächst werden zwei externe Ursachen betrachtet, anschließend einige interne Faktoren dargestellt. Den Übergang bildet eine Analyse der erwähnten Meinungsäußerungen von Interessenvertreten aller Art, einschließlich der Journalisten, die sie zu Wort kommen lassen. Die Störfälle in Kernkraftwerken der Bundesrepublik Deutschland werden in mehreren Kategorien erfasst, wobei man kerntechnisch relevante Störfälle (Eil- und Sofortmeldungen, Kategorien A/S/B/E/V) und kerntechnisch irrelevante Störfälle (Normalmeldungen, Kategorien C/N) unterscheiden kann.4 Bei den kerntechnisch nicht relevanten Störfällen handelt es sich um betriebstechnische Ereignisse, die auch in anderen technischen Einrichtungen auftreten könnten. In beiden Fällen kann der Schaden mehr oder weniger groß sein, wobei jedoch die kerntechnisch relevanten Störfälle generell das größere Schadenspotenzial besitzen. Die Gesamtzahl der Störfälle nahm von 1977 bis 1979 zu, von 1979 bis 1983 ab und stieg anschließend erheblich an. Die Darstellung der Störfälle in den untersuchten Blättern folgt, oberflächlich betrachtet, dieser Entwicklung. Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, dass mit zunehmender Zahl von Störfällen nicht nur die Zahl der Aussagen zunahm, in denen Störfälle behauptet wurden. Parallel dazu nahm vielmehr auch die Zahl der Aussagen zu, in denen die Störfälle selbst oder negative Folgen bestritten wurden. Das gleiche gilt analog für die Verringerung der Störfälle. Die Gesamtzahl der Störfälle besaß damit einen allenfalls begrenzten Einfluss auf die Aussagen über Störfälle in den untersuchten Blättern. Noch fragwürdiger wird der Zusammenhang zwischen der Realität, soweit sie aus den vorliegenden Statistiken erkennbar ist, und ihrer Darstellung, wenn man sich auf die kerntechnisch relevanten Störfälle konzentriert. Die Zahl dieser Störfälle ging seit 1979, trotz des verstärkten Einsatzes der Kernenergie zur Stromgewinnung, gravierend zurück. Dennoch nahm bereits ab 1984 die Anzahl der Aussagen, in denen auf Störfälle hingewiesen wurde, zunächst etwas, dann dramatisch zu. Dies trifft aber ab 1985 auch für die Aussagen zu, in denen Störfälle selbst oder negative Folgen bestritten wurden. Die Anzahl der kerntechnisch relevanten Störfälle besaß damit noch weniger als die Gesamtzahl der Störfälle einen Einfluss auf die Aussagen in den untersuchten Blättern. Allenfalls könnte man behaupten, der Rückgang der kerntechnisch relevanten Störfälle habe eine Zunahme der kontroversen Darstellung von Störfällen bewirkt (Abbildung 5).
218
Abbildung 5:
Entwicklung der Anzahl der Störfälle in der Bundesrepublik Deutschland und der Anzahl der Aussagen über Störfälle
Anzahl der Störfälle
Anzahl der Aussagen
350
70
300
60
250
50
200
40
150
30
100
20
50
10
0
0 1977
1978
1979
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
Kerntechnisch relevante Störfälle
Kerntechnisch irrelevante Störfälle
Anzahl der negativen Aussagen
Anzahl der positiven Aussagen
Die Radioaktivität, die ein Maß für die Menge der strahlenden Substanzen darstellt, wird an der Universität München seit 1955 regelmäßig gemessen.5 Erfasst und ausgewiesen werden bei der genannten Messung kumulierte Werte, d. h. die Radioaktivität, die jeweils auf einem Quadratmeter vorhanden ist. Die bei weitem stärkste Radioaktivität wurde 1963 und 1964 gemessen. Verursacht wurde sie vor allem durch die oberirdischen Atomversuche 1961 bis Mitte 1963. Von 1965 und 1967 ging die Radioaktivität stark zurück und blieb bis zum Frühjahr 1986 auf etwa dem gleichen Niveau. Das Reaktorunglück von Tschernobyl führte zu einer erheblichen Erhöhung der Radioaktivität, wobei nahezu der Höchstwert von 1963 erreicht wurde. Im Unterschied zu 1963 ging die Radioaktivität 1986 bereits wenig später auf etwas mehr als die Hälfte zurück. Beim Vergleich der Werte von 1963 bis 1965 mit jenen von 1986 ist zu beachten, dass die Radioaktivität in der ersten Periode die Folge des wiederholten Niederschlages relativ geringer Mengen, in der zweiten Periode dagegen die Folge des einmaligen Niederschlages einer vergleichsweise großen Menge war, wobei zudem erhebliche regionale Unterschiede bestanden. So wurden in Bayern weitaus höhere Werte 219
gemessen als in Schleswig-Holstein und Niedersachsen.6 Aufgrund der ermittelten Strahlenbelastung und der bisher vorliegenden Erkenntnisse zu ihren Auswirkungen, die u. a. auf den Erfahrungen mit der starken Belastung in den sechziger Jahren beruhen, stellte die Strahlenschutzkommission in ihrem Bericht über die Auswirkungen des Reaktorunfalls in Tschernobyl auf die Bundesrepublik Deutschland fest, dass eine Gefährdung der Bevölkerung nicht bestand.7 Die untersuchten Blätter nahmen die starke Radioaktivität am Beginn des Untersuchungszeitraumes kaum zur Kenntnis. Nach Beendigung der oberirdischen Atomtests hörte die Berichterstattung nahezu völlig auf. Dies änderte sich erst Anfang der siebziger Jahre. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Berichterstattung in Zusammenhang mit dem Reaktorunfall in Harrisburg, der jedoch für die Bundesrepublik Deutschland keine messbaren Folgen besaß. Danach nahm die Intensität der Darstellung wieder ab. Der Reaktorunfall von Tschernobyl führte dann zu einer äußerst intensiven Berichterstattung über tatsächliche und mögliche Schäden durch Radioaktivität, wobei sich wie schon in Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Reaktorunfall von Harrisburg auch die Zahl der Aussagen über tatsächliche und mögliche Schäden durch Radioaktivität in kerntechnischen Anlagen der Bundesrepublik Deutschland erheblich erhöhte. Überblickt man die Entwicklung, zeigt sich eine krasse Divergenz zwischen der Thematisierung der Radioaktivität am Beginn und am Ende des Untersuchungszeitraumes. Dies trifft auch dann zu, wenn man 1986 alle Aussagen über die radioaktive Verseuchung durch kerntechnische Einrichtungen in der UdSSR vernachlässigt. Auch innerhalb dieser Extrem-Jahre zeigen sich zahlreiche Divergenzen zwischen realen und dargestellten Gefährdungen. Aufgrund dieser Divergenzen kann man kaum behaupten, dass die Intensität der Radioaktivität die wesentliche Ursache der entsprechenden Berichtsintensität war (Abbildung 6).8 Die Gegenüberstellung der Entwicklung des realen Nutzens und Schadens durch Kernenergie mit ihrer Darstellung in den untersuchten Blättern zeigt, dass die Entwicklung der Berichterstattung nicht oder allenfalls rudimentär aus der Entwicklung realer Veränderungen erklärbar ist. Daraus folgt, dass die Entwicklung der Berichterstattung wenig über die tatsächlichen Entwicklungen aussagt. Hierbei handelt es sich nicht um eine Besonderheit der Berichterstattung über Kernenergie. Der gleiche Sachverhalt zeigt sich vielmehr auch bei der Berichterstattung über andere Techniken.9 Dies deutet darauf hin, dass der Schluss von der Darstellung auf die Realität wie auch von der Realität auf die Darstellung nur mit Einschränkungen möglich ist. Die Restriktion für den Schluss von der Realität auf die Berichterstattung lautet: Wenn tatsächliche Schäden vorliegen, folgt daraus nicht, dass die Massenmedien darüber berichten. Dies trifft auch auf massive und offensichtliche Schäden zu, wie die Luftverschmutzung und die Was-
220
Abbildung 6:
Entwicklung der radioaktiven Niederschläge und der Anzahl der Aussagen über die Radioaktivität
1.000 Bq/m2
Anzahl der Aussagen
400
60
350
50
300 40
250 200
30
150
20
100 10 50 0
0 1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
Radioaktivität gemessen in München; Anzahl der Aussagen über radioaktive Verseuchung durch kerntechnische Einrichtungen in der BRD; Anzahl aller Aussagen über radioaktive Verseuchung durch kerntechnische Einrichtungen Radioaktive Niederschläge nach Stierstadt 1986. Siehe auch FAZ vom 28. Mai 1986.
serverunreinigung in den späten sechziger Jahren, die allgemein erkennbar waren. Eine bestimmte Dimension und eine hinreichende Erkennbarkeit der Schäden ist mit anderen Worten kein hinreichender Grund für eine entsprechende Dimension der Berichterstattung über Schäden. Für die Berichterstattung über Schäden müssen folglich zusätzliche Gründe vorliegen, die noch dargestellt werden. Die Restriktion für den Schluss von der Darstellung auf die Realität lautet: Wenn die Massenmedien über Schäden berichten, dann liegen meist tatsächlich Schäden vor. Aus der Dimension der Berichterstattung kann man jedoch nicht auf die Dimension der Schäden schließen. Das trifft auch auf eine massive Berichterstattung wie jene über die radioaktiven Niederschläge nach Harrisburg und Tschernobyl sowie die radioaktiven Schäden zu, die in den jeweiligen Jahren durch kerntechnische Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland verursacht wurden.
221
Bedeutung der Interessengruppen Die Berichterstattung der Massenmedien über riskante Technologien hängt nicht nur von ihrem Nutzen und Schaden, sondern auch von zahlreichen anderen Faktoren ab. Dazu gehört das öffentliche Engagement der Befürworter und Gegner einer Technologie. Wie intensiv die Befürworter und Gegner der Kernenergie sich tatsächlich für ihre Ziele eingesetzt haben, ist unbekannt. Bekannt ist jedoch, wie häufig und mit welcher Tendenz sie in den oben genannten Zeitungen und Zeitschriften zu Wort kamen. Aufgrund der Analyse ihrer Berichterstattung kann man drei Klassen von Personen unterscheiden. Die erste Klasse bildeten die Personen, die während des gesamten Untersuchungszeitraumes (1966-1986) bei ihrer Meinung blieben. Hierzu gehörten die Mitarbeiter der Unternehmen (Hersteller und Betreiber von Kernkraftwerken) und die Mitglieder verschiedener Umweltgruppen. Sie bildeten von Beginn an die wichtigsten Kontrahenten im Konflikt um die Kernenergie. Allerdings kamen die Mitarbeiter der Unternehmen erst relativ spät zu Wort und zudem äußerten sie sich weniger entschieden als ihre Gegner. Dies deutet darauf hin, dass die Unternehmen die Kritik an der Kernenergie zunächst nicht ernst genommen und später ihre Sichtweise nicht entschieden vertreten haben. Die zweite Klasse bilden Personen, die im Laufe der Jahre ihre Ansichten zur Kernenergie geändert haben. Hierzu gehören vor allem die Journalisten und die Politiker. Beide wechselten soweit sie in der Presse zu Wort kamen das Lager. Dieser Meinungswechsel setzte jedoch bei den Journalisten wesentlich früher ein als bei den Politikern. Dadurch näherten sich die Journalisten immer mehr den entschiedenen Gegnern der Kernenergie. Durch den Meinungswandel der Journalisten entstand eine Kluft zwischen den Ansichten der Journalisten und Politiker. Die Politiker schlossen diese Kluft, indem sie sich mit einiger Zeitverzögerung dem Meinungswandel der Journalisten anschlossen. Eine eigene Klasse bildeten die Wissenschaftler. Sie kamen in den sechziger Jahren mit sehr positiven Stellungnahmen zu Wort. Während der Umbruchphase war von ihnen jedoch nahezu nichts zu lesen. Erst als die Umbewertung der Kernenergie in der Presse vollzogen war, tauchten sie wieder auf nun mit zum Teil positiven und zum Teil negativen Stellungnahmen. Überblickt man diese gesamte Entwicklung kann man feststellen: Die Passivität der Unternehmen bis Mitte der siebziger Jahre und das geringe Engagement der Wissenschaftler in der Phase des Meinungsumschwungs hat vermutlich wesentlich dazu beigetragen, dass die Kritiker der Kernenergie in den folgenden Jahren ganz entscheidend die Berichterstattung über die Kernenergie prägen konnten (Abbildung 7).
222
Abbildung 7:
Entwicklung der Publikation von wertenden Aussagen verschiedener Urheber Tendenz
1,5
1
0,5
0
-0,5
-1
-1,5 1966
1968
1970
1972
1974
1976
1978
1980
Journalisten
Politiker
Umweltgruppen
Wissenschaftler
1982
1984
1986
Unternehmen
Bedeutung der Journalistenmeinungen Die Wahrnehmung komplexer Sachverhalte erfolgt aufgrund von Stereotypen, Schemata oder Frames. Sie lassen einen Sachverhalt hier die Kernenergie bedeutsam erscheinen, lenken die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte, z. B. die Gefährdung durch nationale Kernkraftwerke, und lassen andere Elemente zurücktreten, z. B. die besonderen Umstände des Reaktorunfalls bei Tschernobyl am 26. April 1986. Ein Beispiel hierfür ist die Berichterstattung über die Kernkraft vor und nach dem Reaktorunfall bei Tschernobyl am 26. April 1986 in der deutschen und französischen Presse. Untersucht wurde die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und des Spiegel sowie von Le Figaro, Le Monde und L´ Éxpress vom 3. März bis zum 13. Sep-
223
tember 1986 (20 Wochen).10 Bereits in den acht Wochen vor dem Reaktorunfall bei Tschernobyl hatten die deutschen Blätter fast dreimal so viel Aussagen über die Kernenergie veröffentlicht wie die französischen Blätter (458 vs. 164). In Deutschland war das Thema Kernenergie demnach schon vor dem Reaktorunfall bei Tschernobyl wesentlich stärker etabliert. Die Schwerpunkte der Berichterstattung bildeten schon damals die Chancen und Risiken der deutschen Kernenergie. Das restliche Westeuropa spielte im Vergleich dazu nur eine untergeordnete Rolle. In der französischen Presse ging es dagegen vor allem um die Chancen und Risiken der Kernenergie im Ausland, vor allem im restlichen Westeuropa und in der Dritten Welt. Frankreich war dagegen nur selten ein Thema. Nach dem Reaktorunfall bei Tschernobyl bildete die Kernenergie einen Schwerpunkt der Berichterstattung der deutschen Blätter. Sie veröffentlichten zu dieser Thematik über 17.000 Aussagen, die französischen Blätter enthielten dagegen nur etwas mehr als 6.000 Aussagen. Eine naheliegende Erklärung für den Unterschied scheint die unterschiedliche radioaktive Belastung beider Länder durch den Reaktorunfall zu liefern. In Teilen Bayerns lag sie zeitweise weit über den zulässigen Grenzwerten. Allerdings handelte es sich hierbei um ein relativ kleines Gebiet. Dagegen wurden im überwiegenden Teil der Bundesrepublik ähnlich wie in Frankreich keine oder keine erheblichen Belastungen festgestellt. Die extrem intensive Berichterstattung über die Kernenergie der deutschen Blätter lässt sich deshalb durch die kurzzeitige, regionale Belastung allein nicht erklären. Eine genauere Analyse der Berichterstattung zeigt, dass sich die Gewichtung der Thematik und ihrer Aspekte in beiden Ländern durch Tschernobyl nicht wesentlich verändert hat. Vielmehr wurde durch Tschernobyl die bereits vorhandene Darstellung nur erheblich intensiviert. Dabei prägten die bereits etablierten Schemata die Berichterstattung. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, das 1953 zuerst beschrieben und seither mehrfach nachgewiesen wurde.11 Die deutschen Blätter berichteten vor und nach dem Reaktorunfall fast dreimal so intensiv über die Kernenergie wie die französischen Blätter. Die Gewichtung der Thematik hatte sich folglich nicht verändert. Auch die Sichtweisen blieben ähnlich. Die deutschen Blätter berichteten nach Tschernobyl fast genauso intensiv über die deutsche Kernenergie wie über den Reaktorunfall bei Tschernobyl. Hier wurde der Reaktorunfall als eine Bestätigung der etablierten Ängste vor den Risiken der Kernenergie begriffen, die naturgemäß vor allem mit Blick auf das eigene Land erörtert wurden. Die französischen Blätter berichteten dagegen nach Tschernobyl kaum über die französische Kernenergie, sondern konzentrierten sich auf den aktuellen Anlass. Hier wurde der Reaktorunfall als eine Folge eines spezifischen Problems der Kernenergie in der UdSSR begriffen, das
224
mit der Sicherheit der Kernkraftwerke in Frankreich nichts zu tun hatte. Tabelle 4 zeigt den Einfluss etablierter Schemata auf die Berichterstattung über die Kernenergie nach dem Reaktorunfall bei Tschernobyl. Tabelle 4: Einfluss etablierter Schemata auf die Darstellung des Reaktorunfalls bei Tschernobyl Deutsche Blätter
Französische Blätter
Vor Tschernobyl (n=458) %
Nach Tschernobyl (n=17.726) %
62
39
7
3
7
5
33
15
23
4
40
4
restliche westliche Welt
1
2
7
5
Sowjetunion
-
43
-
66
Bundesrepublik Deutschland Frankreich restliches Westeuropa
Vor Tschernobyl (n=164) %
Nach Tschernobyl (n=6.093) %
Unfall Tschernobyl
-
40
-
61
Anderes
-
3
-
5
restliches Osteuropa
1
1
-
1
Dritte Welt
2
1
12
x
keine örtliche Begrenzung
2
5
-
5
andere Orte / nicht entscheidbar
-
x
-
x
98
100
99
99
1
Summe
x = weniger als 0,5 Prozent; 1Abweichungen von 100 Prozent rundungsbedingt. Quelle: Muller 1988.
Der Reaktorunfall bei Tschernobyl war wie der Reaktorunfall bei Harrisburg ein Schlüsselereignis. Dies gilt für Deutschland, wenn man die absolute Zahl der Aussagen zugrundelegt noch mehr als für Frankreich (7.090 vs. 3.717). Schlüsselereignisse fokussieren die Aufmerksamkeit der Journalisten sowie ihrer Leser, Hörer und Zuschauer auf ein bestimmtes Geschehen, lassen es besonders bedeutsam erscheinen und wecken das Interesse an zusätzlichen Informationen und ähnlichen Vorgängen. Dies führt dazu, dass Journalisten über ähnliche Vorfälle 225
berichten, die andernfalls nicht beachtet worden wären, und dass sie in ihrer Berichterstattung andere Vorfälle ähnlicher erscheinen lassen als sie es sind. Dies geschieht u. a. durch die Hervorhebung von gemeinsamen, jedoch sachlich unwichtigen Merkmalen. Die Folge von Schlüsselereignissen ist eine Häufung von Berichten über tatsächlich oder scheinbar ähnliche Vorfälle, die den Eindruck einer ganzen Serie von Ereignissen machen, obwohl sich die Ereignisse nicht gehäuft haben. Tatsächlich haben sich in solchen Fällen nicht die Ereignisse in der Realität gehäuft, sondern die Selektionskriterien in den Redaktionen gewandelt.12 Hierzu gehörte u. a. die intensive Berichterstattung über einen relativ unbedeutenden Störfall im Reaktor bei Hamm, der sich technisch grundlegend vom Reaktor bei Tschernobyl unterschied. Trotzdem wurde auch dieser Störfall in der Berichterstattung zahlreicher Medien zum Teil einer EreignisSerie, an deren Beginn der Reaktorunfall bei Tschernobyl stand. Bereits nach wenigen Wochen hatte die Berichterstattung über die Kernenergie in Deutschland die Berichterstattung über Tschernobyl in den Hintergrund gedrängt. Sie bildete ab jetzt nicht mehr das zentrale Thema der Berichterstattung über die Kernenergie, sondern das verbindende Element. Dieses verbindende Element ließ das aktuelle Geschehen in Deutschland als Teil einer generellen Bedrohung von katastrophalem Ausmaß erscheinen. Abbildung 8 zeigt die Gewichtung einzelner Aspekte der Kernenergie in der deutschen Presse im Zeitverlauf. Journalisten sind keine völlig neutralen Vermittler der Sichtweisen verschiedener Gruppen in der Gesellschaft, weil sie Meldungen, die ihre individuelle Sichtweise bestätigen, für wichtiger halten als Meldungen, die ihrer individuellen Sichtweise widersprechen. Die Folge ist eine allgemeine Neigung zur instrumentellen Aktualisierung, der Publikation von Informationen, die der Sichtweise von einzelnen Journalisten bzw. der redaktionellen Linie eines Mediums entsprechen. Diese Neigung wird zwar durch das Bemühen der meisten Journalisten um Neutralität, durch organisatorische Zwänge sowie durch den Wettbewerb gebremst, schlägt sich jedoch trotzdem in der aktuellen Berichterstattung über kontroverse Themen nieder.13 Die Auswirkungen der instrumentellen Aktualisierung manifestieren sich auf zweifache Weise. Zum einen folgt die Auswahl der Nachrichten und Berichte der Tendenz der Kommentare und Glossen: Zeitungen, deren Kommentatoren meist gegen die Kernenergie Stellung nehmen, berichten besonders umfangreich über aktuelle Ereignisse, die gegen die Kernenergie sprechen; Zeitungen, deren Kommentatoren sich meist für die Kernenergie aussprechen, berichten dagegen eher über aktuelle Ereignisse, die für die Kernenergie sprechen. Zum anderen lassen sie vor allem solche Experten zu Wort kommen, die ihre eigene Meinung teilen und mit der Autorität von Wissenschaftlern vertreten. Dies war auch bei der Berichterstattung über die Kernenergie so. Abbildung 9 zeigt die Tendenz der Aussagen von Journalisten bei
226
Abbildung 8:
Einfluss eines Schlüsselereignisses auf die Folgeberichterstattung Anzahl der Aussagen in Tausend
3,0
2,5
Themen der Beiträge
Kernenergie in Deutschland 2,0
Kernenergie in anderen Ländern T schernobyl
1,5
1,0
0,5
0,0 10
15
20
Reaktorunfall bei Tschernobyl
25
30
35 Wochen
den oben erwähnten Zeitungen und Zeitschriften sowie die Tendenz der Aussagen von Experten, die in ihren Blättern zu Wort kamen. Je eindeutiger die Journalisten eines Blattes von 1965 bis 1986 gegen die Kernenergie Stellung nahmen, desto eher ließen sie Experten zu Wort kommen, die sich ebenfalls dagegen aussprachen Hierbei handelt es sich um ein generelles Phänomen, das sich z. B. auch 1997 bei der Berichterstattung über die umstrittenen Transporte von nuklearen Abfällen in das Lager Gorleben zeigte 14 (Abbildung 9). Die instrumentelle Aktualisierung von Expertenmeinungen zur Kernenergie stellt keine deutsche Besonderheit dar. Sie wurde bereits vor Jahren durch eine amerikanische Untersuchung nachgewiesen und nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl durch eine Wiederholungsstudie bestätigt. In beiden Fällen waren die befragten Experten in ihrer überwiegenden Mehrheit einer Meinung. Dabei sprachen sie sich für den Ausbau der Kernenergie aus bzw. vertraten die Ansicht, dass ein Reaktorunfall wie der in Tschernobyl in einem amerikanischen Kernkraftwerk nicht geschehen könne. Die analysierten Medien stellten dagegen die Experten als zerstritten dar und vermittelten dabei einen Eindruck von den Ex-
227
Abbildung 9:
Instrumentelle Aktualisierung von Experten durch Journalisten Anzahl der Aussagen
positiv
100
FR
SZ
FAZ
Welt
Zeit
Spiegel
Stern
50 0 -50 -100 -150 -200 negativ
Saldo der Aussagen von Journalisten
Aussagen von Experten
pertenmeinungen, der den tatsächlichen Ansichten der Experten widersprach.15 Die instrumentelle Aktualisierung von Experten besitzt mehrere Folgen. Erstens, die Experten, die von den Medien vor allem zitiert werden, vertreten oft nicht die Ansichten der Mehrheit der Experten. Zu Wort kommen häufig die Vertreter von Minderheitenmeinungen, die fälschlicherweise als Vertreter der Mehrheitsmeinung erscheinen. Zweitens, die Bevölkerung erhält anhand der Experten, die in den Medien z. B. für oder gegen Kernenergie Stellung nehmen, keinen realistischen Eindruck von der tatsächlichen Stärke der beiden Lager. Drittens, aus der Tatsache, dass die Medien z. B. zunehmend über Experten (Politiker, Künstler usw.) berichten, die sich gegen die Kernenergie aussprechen, kann man nicht mit Sicherheit folgern, dass die Zahl der Gegner tatsächlich größer wurde. Man kann auch nicht mit Sicherheit folgern, dass sich die Gegner häufiger an die Medien gewandt haben als die Befürworter, obwohl ein solches Verhalten naheliegt, weil die Aussicht, gehört zu werden, ein Motiv darstellt, sich an die Medien zu wenden. Diese Überlegungen führen zu Abbildung 7 zurück: Die Tatsache, dass die Wissenschaftler in der kritischen Phase kaum zu Wort kamen, kann auch daran gelegen haben, dass die Befürworter der Kern-
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energie Mitte der siebziger Jahre kaum noch beachtet wurden, zunehmend demotiviert waren und schließlich den Gegnern weitgehend das Feld überließen.
Erklärungen Bei den hier aufgezeigten Entwicklungen der Kernkraft, der Darstellung der Kernenergie und ihrer Einschätzung durch die Bevölkerung handelt es sich nicht um einen Sonderfall. Vielmehr dokumentieren die weitaus meisten der vergleichenden Untersuchungen gravierende Divergenzen zwischen der erkennbaren Realität und der Berichterstattung.16 Damit stellt sich die zentrale Frage, warum das so ist. Eine Antwort gibt eine genauere Betrachtung des Charakters von Dimensions-Urteilen, wie sie sich auch in der Kernenergie-Berichterstattung finden Urteilen, bei denen es vor allem um die Einschätzung der Dimension von sozialen, politischen oder technischen Problemen geht. Wichtige Hinweise zur Erklärung liefern die Experimente zur Normierung der Wahrnehmung von Muzafer Sherif.17 In einem ersten Experiment präsentierte Sherif einzelnen Versuchspersonen in einem abgedunkelten Raum einen festen Lichtpunkt. Nach einiger Zeit scheint sich dieser feste Lichtpunkt aufgrund des sogenannten autokinetischen Effekts zu bewegen. Die Aufgabe der Versuchspersonen bestand darin, die Distanz der (scheinbaren) Bewegung so genau wie möglich anzugeben. Sherif zeigte seinen Versuchspersonen den Lichtpunkt einhundertmal, so dass von jeder Versuchsperson einhundert Urteile vorlagen. Die Ergebnisse des ersten Experiments belegen, dass die Versuchspersonen individuell verbindliche Schwankungsbreiten und Bezugspunkte entwickelten, die individuelle Standards oder Normen bildeten, an denen sie ihre Urteile orientierten. In einem zweiten Experiment testete Sherif die Versuchspersonen in der ersten Sitzung alleine, in der zweiten bis vierten Sitzung jedoch zusammen mit einer oder zwei anderen Versuchspersonen, wobei die Versuchspersonen in den Gruppensitzungen ihre Urteile in beliebiger Reihenfolge abgaben. Die Ergebnisse des zweiten Experiments belegen, dass die Versuchspersonen ab der zweiten Sitzung gruppenspezifische Schwankungsbreiten und Bezugspunkte entwickelten, die gruppenspezifische Standards und Normen der Urteilsbildung darstellten. Sowohl die individuellen als auch die gruppenspezifischen Standards und Normen behielten ihre Geltung über die jeweiligen Testsituationen hinaus. Versuchspersonen, die die Normen in Gruppen entwickelt hatten, urteilten deshalb auch dann noch entsprechend den gruppenspezifischen Normen, wenn sie später in Einzelsitzungen getestet wurden. Sherif betrachtete die Ergebnisse seiner Experimente als Bestätigung seiner generellen Annahme, dass Individuen dazu tendieren, in objektiv instabilen oder
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unstrukturierten Situationen individuelle oder gruppenspezifische Normen zu bilden, die einen Ersatz für echte Bezugspunkte der Urteilsbildung darstellen. Die Situation, in die Sherif seine Versuchspersonen brachte, gleicht in mehrfacher Hinsicht der Situation von Journalisten angesichts positiver oder negativer Folgen der Kernenergie. In beiden Fällen existiert erstens ein eindeutig wahrnehmbares Ereignis, der Lichtpunkt bzw. der Nutzen oder Schaden. In beiden Fällen ist zweitens die fragliche Eigenschaft des Ereignisses, die Größe der Bewegung bzw. des Nutzens oder Schadens theoretisch und praktisch zumindest in Grenzen bestimmbar. In beiden Fällen sind drittens die Beobachter aufgrund ihrer spezifischen Situation dazu jedoch nicht (hinreichend) in der Lage; die Versuchspersonen Sherifs nicht, weil sie nicht zu dem Lichtpunkt gehen können, um ihn zu vermessen, die Journalisten u. a. nicht, weil sie keine objektiven Messwerte kennen oder weil sie keine Vergleichswerte heranziehen oder weil sie die Aussagekraft solcher Werte nur unzureichend beurteilen können. Es fehlen in beiden Situationen externe Bezugspunkte, die ein sachlich angemessenes Urteil erlauben. In beiden Fällen entstehen deshalb gruppenspezifische Normen, die für die Urteilsbildung auch über die Gruppensituation hinaus verbindlich sind. Sie bilden einen Ersatz für externe Bezugspunkte und ermöglichen dadurch Urteile, für die die Voraussetzungen fehlen. Die gruppenspezifischen Normen unterscheiden sich von Gruppe zu Gruppe und im Falle der analysierten Kernenergieberichterstattung von Periode zu Periode. Dennoch werden sie sozusagen als natürliche Bezugspunkte der eigenen Urteile erlebt. Das Urteil selbst, die Dimensionierung des Nutzens oder Schadens, erscheint folglich subjektiv als objektive Darstellung der Realität, zumal das Urteilsobjekt, der Nutzen oder Schaden, unzweifelhaft vorhanden ist. Tatsächlich handelt es sich jedoch, da die Voraussetzungen für eine angemessene Dimensionierung des Nutzens oder Schadens fehlen, um den Ausdruck einer subjektiven, gruppenspezifisch verankerten Norm. Die Urteilenden erliegen mit anderen Worten einem essenzialistischen Trugschluss: Was sie für ein Urteil über die Natur der Sache halten, ist in Wirklichkeit ein Indikator für ihre gruppenspezifische Wahrnehmungsweise. Die Dimensionierung des Nutzens oder Schadens reflektiert weniger die unterschiedlichen Dimensionen des realen Nutzens oder Schadens als die unterschiedlichen Normen zur Beurteilung des Nutzens oder Schadens durch bestimmte Gruppen in bestimmten Perioden.
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Die Summe der Prozentwerte beträgt mehr als 100, weil in einem Beitrag mehrere Aspekte angesprochen werden konnten. 2 Institut für Demoskopie Allensbach: Medienwirkung und Technikakzeptanz. Allensbacher Bericht über ein Forschungsprojekt des BMFT, o. O., o. J. (Allensbach 1987). 3 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale (1980). München 62001. 4 Vgl. Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.): Übersicht über besondere Vorkommnisse in Kernkraftwerken der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 1986. Bonn 1987. 5 Dabei wird Regen, Schnee und der bei trockenem Wetter herabfallende Staub auf seine ,BetaAktivität untersucht. Diese ist nur ein Teil, etwa 30 Prozent, der Gesamtaktivität, aber es ist der bei weitem gefährlichste Teil. Die außerdem noch vorhandene Gamma-Aktivität wirkt biologisch nur etwa 100-mal schwächer. Vgl. Klaus Stierstadt: Radioaktivität und Strahlungsgefahr. Sektion Physik der Ludwig-Maximilians-Universität München 1986, S. 2 (unveröffentlichtes Manuskript). 6 Vgl. Dokumentation der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung (Hrsg.): Umweltradioaktivität und Strahlenexposition in Südbayern durch den Tschernobyl-Unfall. München 1986, S. 520 f. 7 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.): Auswirkungen des Reaktorunfalls in Tschernobyl auf die Bundesrepublik Deutschland. Zusammenfassender Bericht der Strahlenschutzkommission. Stuttgart 1987. Die Feststellung der Strahlenschutzkommission wurde durch Vergleiche der Totgeburten und Geburten Missgebildeter vom 28. November bis 28. Dezember 1986 in den hochbelasteten bayerischen und niedrigbelasteten niederdeutschen Gebieten bestätigt. Hierbei ergaben sich keine Unterschiede untereinander und zum vorangegangenen Jahr. Vgl. Welt am Sonntag, 3. Januar 1988. Andererseits wurden nach einer Hochrechnung, die an der Universität Athen durchgeführt wurde, aufgrund der Rezeption des Reaktorunfalls von Tschernobyl in Griechenland ca. 2.500 zusätzliche Abtreibungen durchgeführt. Die Schätzungen für Westeuropa belaufen sich auf 100.000 bis 200.000 zusätzliche Abtreibungen. Vgl. D. Trichopoulos et al: The Victims of Chernobyl in Greece: Induced Abortions after the Accident. In: British Medical Journal 295 (1987) S. 1100. 8 Mehrere der untersuchten Blätter veröffentlichten etwa ein Jahr nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl umfangreiche Beiträge, die die ursprüngliche Darstellung der Gefährdung der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland berichtigten. Charakteristisch hierfür waren Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22. April 1987) und in der Frankfurter Rundschau (25. Juli 1987) mit den Überschriften Strahlenbelastung durch Tschernobyl geringer als erwartet und Strahlenbelastung nach Tschernobyl blieb erfreulicherweise gering. Beide Beiträge vermittelten ein differenziertes Bild der tatsächlichen Belastung, wobei auch Ursachen von Fehleinschätzungen genannt wurden. 9 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Künstliche Horizonte. Folgen, Darstellung und Akzeptanz in der Bundesrepublik. Frankfurt a. M. 1989. 10 Analysiert wurden alle Ausgaben der beiden Wochenblätter bzw. jede zweite Ausgabe der vier Tageszeitungen. Ermittelt wurden in den deutschen Blättern 17.726, in den französischen Blättern 6.093 Aussagen über die Kernenergie. Vgl. Claude Muller: Der Einfluß des Reaktorunfalls von Tschernobyl auf die Darstellung der Kernenergie in der Presse der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs. Mainz 1988 (unveröffentlichte Magisterarbeit). 11 Vgl. Kurt Lang / Gladys Engel Lang: The Unique Perspective of Television and its Effect: A Pilot Study. In: American Sociological Review 18 (1953) S. 3-12. Siehe dazu auch James D. Halloran / Philip Elliott / Graham Murdoch: Demonstrations and Communication. A Case Study. Harmondsworth u. a. 1970; Elisabeth Noelle-Neumann / Rainer Mathes: The Event as Event and the Event as News. In: European Journal of Communication 2 (1987) S. 391-415. 12 Vgl. den Beitrag Die Konstruktion von Ereingisserien nach Schlüsselereignissen. In diesem Band, S. 85-98.
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Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Hans-Bernd Brosius / Joachim Friedrich Staab / Günter Linke: Instrumentelle Aktualisierung. Grundlagen einer Theorie publizistischer Konflikte. In: Max Kaase / Winfied Schulz (Hrsg.): Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde. Opladen 1989, S. 199-220. Siehe hierzu auch: Hans Mathias Kepplinger: Publizistische Konflikte. In: Ders.: Publizistische Konflikte und Skandale. Wiesbaden 2009, S. 9-27. 14 Vgl. Winfried Schulz / Harald Berens / Reimar Zeh: Der Kampf um Castor in den Medien. München/Zürich 1998, S. 102. 15 Stanley Rothman / S. Robert Lichter: The Nuclear Energy Debate: Scientists, the Media and the Public. In: Public Opinion 5 (1982) S. 47-52; Media Monitor: Chernobyl Anniversary. Media vs. Scientists, Bd. l, Heft 3 1987. Zur Rezeption von Tschernobyl in den USA siehe auch Sharon M. Friedman / Carole M. Gorney / Brenda P. Egolf: Reporting on Radiation: A Content Analysis of Chernobyl Coverage. In: Journal of Communication 37 (1987) Nr. 3, S. 58-67; David M. Rubin: How the News Media Reported on Three Mile Island and Chernobyl. In: Journal of Communication 37 (1987) Nr. 3, S. 42-57. 16 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Künstliche Horizonte a. a. O.; Denis McQuail: Mass Communication Theory. An Introduction. London u. a. 52008; Winfried Schulz: Massenmedien und Realität. Die ptolemäische und die kopernikanische Auffassung. In: Max Kaase / Winfried Schulz (Hrsg.): a. a. O., S. 135-149. 17 Vgl. Muzafer Sherif: The Psychology of Social Norms. New York 1966; Muzafer Sherif / Carolyn W. Sherif: Social Psychology. New York 1969.
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Quellennachweise
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