C.H.GUENTER
Nach Peking oder zur Hölle
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Die kilometerlange Straße des Fried...
43 downloads
728 Views
500KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
C.H.GUENTER
Nach Peking oder zur Hölle
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Die kilometerlange Straße des Friedens, die das Regierungsviertel von Peking mit dem Flugplatz verband, war mit Herbstlaub bedeckt. Das Laub war feucht, denn die Nachtkühle hatte am Morgen Nebel gebracht. Mit hoher Geschwindigkeit und voll eingeschalteten Lichtern bewegte sich eine Fahrzeugkolonne aus der Stadt. Eskortiert von den Wagen der Sicherheitskräfte, raste eine sieben Meter lange Limousine nach Norden. Den 300 PS starken ZIL-114 hatte der sowjetische Staatspräsident der chinesischen Parteispitze geschenkt, als zwischen beiden Ländern noch Eintracht herrschte. Doch inzwischen hatte man sich verfeindet. Der Fuhrpark der Regierung wurde auf amerikanische Cadillac und deutsche Mercedes 600 umgerüstet. Am Flugplatz war schon der rote Teppich ausgerollt. Er begann zwischen zwei Oleanderbäumen in Kübeln, führte an einer Offiziers-Ehrenwache in Kompaniestärke vorbei zu einer startbereiten Boeing-707. Eine Minute früher als vorgesehen rollte die Kolonne über das Flugfeld. Die schwarze Funktionärslimousine hielt metergenau. Ein Offizier riß den Schlag auf. Zugleich setzte die Militärkapelle mit dem Abschiedsmarsch ein. Der Major der Wachkompanie machte seine Meldung und begann sie mit folgenden Worten: »Angetreten zu Ehren Ihrer Abreise, Marschall Xie-LeiFeng.« Dem Fond der Limousine entstieg ein kleines runzeliges Männchen, kaum 1,60 groß, aber mit dem Kopf eines chinesischen Einstein. Er trug die Uniform der Marschälle der Armee, einen eleganten hochgeschlossenen Einreiher im Mao-Look aus bestem grauen Tuch mit breiten roten Streifen an den Hosen4
beinen. Den Stehkragen zierten zwei Sterne, fünfzackig aus purem Gold, mit einem Kranz von fünf Rubinen besetzt. Jetzt, ohne die Wärme der Luxuslimousine, schien der General zu frösteln. Ein Adjutant hängte ihm den zobelgefütterten Mantel um. Rasch schritt der kleine Marschall, kaum einen Blick auf die Ehrenkompanie werfend, zur Gangway. Binnen weniger Sekunden war er mit seiner Begleitung im Inneren des vierstrahligen Jet verschwunden. Die Gangway wurde weggefahren, der rote Teppich eingerollt. Die Düsentriebwerke sprangen an. Der Langstreckenjet setzte sich Richtung Startbahn in Bewegung. An Rumpf, Leitwerk und Flächen trug er das Eiserne Kreuz. Es handelte sich um ein Flugzeug der deutschen Bundesluftwaffe. Die Ehrenwache salutierte, als die Boeing abhob und in den tiefhängenden Wolken verschwand. * Daß die Bundesregierung den Befehl gegeben hatte, den einflußreichen Chinesen wie ein rohes Ei zu behandeln, wäre pure Untertreibung gewesen. Er wurde behandelt wie eine seltene exotische Blume, die nur eine Nacht lang blühte und von der auf Erden nur noch ein einziges Exemplar existierte. Für den zwölfstündigen Flug bis Bonn befanden sich eine Reihe erlesener Gerichte an Bord. Neben Lunch und Dinner wurden dem wichtigen Gast in Reiseflughöhe 9000 mehrere Filme geboten. Teils zur Unterhaltung, teils aber auch zur Information bezüglich Kultur- und Wirtschaftsleben im Deutschland von heute. Über Kopfhörer lieferte der mitreisende Dolmetscher eine Art Simultanübersetzung. Doch während eines Streifens mit dem Titel: »Ruhrgebiet, 5
Kohle und Stahl« legte der greise Marschall die Hörer ab und wandte sich lächelnd an den staatlich geprüften Übersetzer. »Ich fürchte, mein Deutsch ist ebensogut wie Ihr Chinesisch, mein Freund.« Als höflicher Mann des Ostens sagte er ›gut‹ statt ›miserabel‹. Der Umstand, daß Marschall Xie deutsch sprach, verblüffte die mitreisenden Beamten des Bonner Außenministeriums. Davon hatte in dem umfangreichen Dossier über Xie kein Wort gestanden. »Darf man fragen«, wandte sich der Legationsrat an Xie, »wo Sie Deutsch gelernt haben, Exzellenz?« »Nicht per Fernkursus, falls Sie daran dachten«, lautete die Antwort des safranhäutigen Marschalls, »sondern aus einem Reclam-Heft mit Goethes Faust, das mein Vater im Jahre 1900 nach Niederschlagung des Boxeraufstandes bei einem toten deutschen Marinesoldaten fand. Ich gebe zu, daß mein Vater damit einen gefallenen Soldaten fledderte. Immerhin verdanke ich dieser Untat meine Einführung in eine der hervorragendsten Kultursprachen. Meine Familie besaß nämlich eine der ersten Faust-Übersetzungen ins Chinesische. So lernte ich Ihre Sprache durch Wort und Satzvergleich.« Daraus ging eindeutig hervor, daß Marschall Xie nicht nur ein militärisches Talent, sondern auch ein Sprachgenie sein mußte. Der deutsche Beamte hielt diese Erklärung jedoch für so unwahrscheinlich, daß er sich Notizen machte. Sie lauteten: Sofort nachprüfen, woher Sprachkenntnisse von Xie stammen. Das Wetter konnte besser nicht sein. Nach dem Zwischentanken in Karatschi schob starker Rückenwind die Boeing über den Persischen Golf und die Arabische Halbinsel Richtung Mittelmeer. 6
Der Kommandant der Boeing, ein Luftwaffenoberst, ließ nach Bonn funken, daß die Landung früher als geplant schon um 13 Uhr mitteleuropäischer Zeit erfolgen würde. Ehrenkompanie, Empfangskomitee und Wagenkolonne mußten also zwanzig Minuten früher bereitstehen. Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Der Flugingenieur, schräg hinter den zwei Piloten an einem meterlangen Kontrollpult sitzend, stellte eine Unregelmäßigkeit im Betriebsablauf fest. Erst war es nur das schwache Ausschlagen eines Manometers, das sich nachregulieren ließ. Wenig später blinkte eine rote Lampe auf. Sie wurde durch Umschalten auf einen anderen Systemkreis zum Verlöschen gebracht. Das wirkte sich leider nur wenige Minuten lang aus. Erneut näherte sich die Nadel des Überwachungsgerätes dem Nullwert. Der Flugingenieur schaltete auf Reserve, dann auf den Notkreislauf. Dies mit nur geringem Erfolg. Schließlich schrieb er vier Worte auf einen Notizblock, riß den Zettel ab und reichte ihn dem Kommandanten über die Schulter. Der zuckte zusammen und las noch einmal. – Druckabfall in der Hydraulik – * Hinten im Passagierraum nahmen die Gäste einen Imbiß. Dazu trank man deutschen Sekt. Danach steckte man sich Zigarren Marke Fridericus Rex an. Von der Hektik im Cockpit merkte man wenig. Dort Wandte sich der Oberst an seinen Flugingenieur. »Ursache des Druckabfalls?« »Undichter Servo.« »Alle drei?« Nur ein Schulterheben war die Antwort. Da bei einem Großjet so gut wie alles hydraulisch betätigt 7
wurde, stellte der Kommandant die nächste Frage: »Wie lange halten wir durch?« »Flaps und Fahrwerk kann ich noch fahren.« Aber jede noch so geringfügige Ruderbewegung kostete Druck. Der Druck wurde über das Medium Öl weitergegeben, und das Öl floß durch ein Leck ab. Deshalb mußten blitzschnelle Entscheidungen getroffen werden. »Position?« wandte sich der Oberst an seinen Navigator. »Fünfundzwanzig Ost, zwanzig Meilen südlich Tinos.« Dem Oberst wäre am liebsten gewesen, er hätte auf einem NATO-Flugplatz irgendwo in der Türkei heruntergehen können. Die Amerikaner, waren verschwiegen. Sie hätten für die Sicherheit des Marschalls garantiert und an die Öffentlichkeit wäre kein Wort gedrungen. Aber ein Wechsel auf Gegenkurs, der Flug bis Kleinasien, das war nicht drin. Italien bot sich noch an. Die NATOBasis Lecce nahe Brindisi. Lecce lag auch nicht nahe genug. Sie standen jetzt über den Kykladen, ihr Kurs führte nach Athen. Der Oberst, der für Marschall Xie verantwortlich war, solange er ihn in seinem Flugzeug hatte, traf die einzig mögliche Entscheidung. »Notruf Bonn BVM. Leitstelle. Müssen in Athen landen. Aufenthaltsdauer unbestimmt. Erbitten Maßnahmen für Unterbringung des Marschalls in Botschaft.« Der Funker rief Bonn. Der zweite Pilot, ein Hauptmann, rief Athen Tower, meldete eine Notfallsituation und bat um vorrangige Landefreigabe für Ellinikon. Er erhielt sie umgehend. »Wenn das nur gut geht«, murmelte der Oberst. »Mein Fräulein Mutter«, sagte der Copilot, »war ein wohlerzogenes bürgerliches Mädchen, trotzdem hätte ihr unsere Lage möglicherweise das Wörtchen ›beschissen‹ 8
entlockt.« Der Restdruck im hydraulischen System erlaubte ihnen, die Klappen und das Fahrwerk in Position zu bringen. Oberst Hartmann, ein alter Hase, der schon im spanischen Bürgerkrieg Ju-52-Transporter in jeden Bergkessel geslipt hatte, brachte das Kunststück fertig und setzte die 707 heil auf die verschmierte Athener Landebahn. Von den bereitstehenden Rettungs- und Notarztwagen mußten sie glücklicherweise keinen Gebrauch machen. Es gab weder Teppich noch Blasmusik. Ein schlichter Mercedes 450-S mit CD-Schild rollte an die abseits parkende Boeing heran. Während der greise Marschall, nur begleitet von seinem Flügeladjutanten, im Botschafterauto Platz nahm, machte sich eine Crew von Mechanikern an die Behebung des Schadens. Es konnte Stunden dauern, aber auch einen Tag. Vorsichtshalber wurde der hohe Staatsgast in die Stadt gefahren, um dort gegebenenfalls zu übernachten. Die Sicherheitsmaßnahmen waren zwar völlig unzureichend, die Möglichkeit eines Zwischenfalles aber insofern gering, als strengste Geheimhaltung gewahrt wurde. Nicht einmal die griechischen Behörden waren eingeweiht. Man stellte Marschall Xie-Lei-Feng und seinem Adjutanten das Gästehaus der deutschen Botschaft an der AmaliasAvenue zur Verfügung. Diese Villa lag etwas von der Straße zurückversetzt mit ihrer Kehrseite zum Zappion Park hin, hatte eine Mauer mit Gittertor und war mühelos kontrollierbar. Die Botschaft organisierte Dienerschaft und Bewacher aus ihrem Personalbestand. Binnen weniger Stunden hatten sich Unterbringung, Bewirtung und Schutz des Marschalls reibungslos eingespielt. Nachdem der achtzigjährige Marschall gebadet und geruht hatte, machte der Botschafter seine Aufwartung. Im Namen der Bundesregierung entschuldigte er sich für 9
den Zwischenfall, aber die moderne Technik habe leider ihre Tücken. Mit asiatischer Höflichkeit erwiderte Xie: »Wenn ich richtig informiert bin, handelt es sich bei diesem Flugzeug um ein Erzeugnis der amerikanischen Luftfahrtindustrie. Die Panne geht also nicht zu Lasten des guten Rufes von made in Germany.« Wie immer sie gemeint sein mochte, jedenfalls erleichterte diese Bemerkung den deutschen Diplomaten. Er versprach, für eine möglichst kurze Dauer des Zwischenaufenthaltes zu sorgen. Als er in die Botschaft zurückgekehrt war, telefonierte der Diplomat mit Oberst Hartmann draußen am International Airport. »Ein lumpiges Überdruckventil im Systemregler war schuld«, erklärte der Offizier. »Und nicht einmal das ganze Ventil, sondern ein federunterstützter Schließkegel im Wert von zwei Mark achtzig.« »Kleine Ursachen große Wirkungen«, seufzte der Botschafter. »Wann sind Sie startklar?« Was Hartmann zu melden hatte, klang nicht gut. »Wir führen das Ersatzteil nicht mit, weil so ein Ventil normalerweise hundert Jahre seinen Dienst versieht, aber schon nach fünftausend Betriebsstunden ausgewechselt wird. Die Lufthansa Linienmaschine München-Athen bringt das Ventil heute abend herunter.« »Ist in Athen denn keines zu beschaffen?« fragte der Botschafter bekümmert. »Wir waren in der Werft von Olympic Airways. Sie müßten eines der Ventile aus ihren eigenen Boeings ausbauen. Doch dazu sind sie nicht bereit.« »Wann«, fragte der Botschafter, »wäre es denn soweit?« »Nachdem wir das Ersatzteil aus München haben, in fünfzehn Minuten.« 10
»Wann?« fragte der Botschafter noch einmal. »Spätestens 20 Uhr.« Der Botschafter schien zu rechnen. »Schade, das ist für den alten Herrn unzumutbar. Ein Flug in der Nacht, Ankunft bei Dunkelheit, nein, das geht nicht. Außerdem regnet es seit einer Stunde in Bonn. Das Protokoll schlägt vor, es so einzurichten, daß Sie morgen um zehn Uhr vormittags einschweben. Entweder heute vor neunzehn Uhr oder morgen um zehn.« »Also morgen«, entschied der Oberst. »Wir machen die Maschine startklar, bleiben heute nacht alle an Bord und organisieren den Objektschutz.« »Tun Sie das«, sagte der Botschafter. »Auch wenn in diesem Land Terroranschläge sehr selten sind, tun Sie es trotzdem. Wir bringen den Marschall morgen spätestens 07 Uhr 30 an Bord. * Der Botschafter vertrat die Bundesregierung schon seit geraumer Zeit in Athen. Er kannte also Griechenland. Seine Einschätzung von Ruhe und Ordnung war korrekt. Übergriffe extremer politischer Gruppen kamen selten vor. Der internationale Terrorismus hatte das Land offenbar noch nicht entdeckt. Die Kriminalität hielt sich in Maßen, Aktionen von Spionageorganisationen blieben – wie meistens – unbekannt. Der Botschafter machte sich über die Sicherheit seines prominenten Gastes keine allzugroßen Sorgen. Er improvisierte für Xie noch eine kleine Abendgesellschaft in familiärem Rahmen. Schon um 22 Uhr trennte man sich. Der Botschafter wollte den Marschall Punkt sieben Uhr persönlich an der Gästevilla abholen. »Das Flugzeug ist klar«, versicherte er. 11
»Und ich werde auch klar sein«, hatte Xie auf deutsch geantwortet. Acht Stunden später wurde der Diplomat durch den Anruf seines Botschaftssekretärs aus der Gästevilla geweckt. »Der Marschall verhält sich so merkwürdig«, meldete der Angestellte. »Was verstehen Sie darunter?« »Sein Adjutant klopfte an die Tür, aber er gab keine Antwort.« »Er hört ein bißchen schwer. Klopfen Sie eben lauter.« »Das erfolgte bereits, Exzellenz.« »Na und?« »Keine Reaktion.« »Dann öffnen Sie die Tür, gehen Sie hinein.« »Die Tür war von innen versperrt, Exzellenz.« »Dann sperren Sie sie auf, brechen Sie sie auf, zum Teufel, muß ich Ihnen denn jeden Schritt erst schriftlich genehmigen?« »Die Türriegel wurden von uns gesprengt, Exzellenz.« Den Botschafter überflog ein eisiger Schauer. Er selbst war ein Mann vorsichtiger Erklärungen. In zwanzigjähriger Dienstzeit für das Außenministerium hatte er gelernt, daß man Hiobsbotschaften ebenso in winzigen Dosen verabreichte wie Drohungen oder ein Lob. Der Sekretär befolgte offenbar diesen uralten Diplomatengrundsatz. Dem Botschafter schwante jetzt Schlimmes. »Und worin besteht das merkwürdige Verhalten des Marschalls. Ist ihm nicht wohl?« »Das vermag ich nicht zu beurteilen, Exzellenz. Der Marschall ist nicht da. Sein Bett ist leer.« »Die obere Suite hat nur einen Zugang. Und davor stand hoffentlich ein Posten.« »Die ganze Nacht. Aber das… das Fenster ist offen.« »Mein Gott«, stöhnte der Botschafter. 12
Immer wieder war erwogen worden, die Fenster vergittern zu lassen. Doch man wollte die hohen Gäste nicht einsperren wie Gefängnisinsassen. Vielleicht macht der Marschall nur einen Morgenspaziergang im Park, dachte der Botschafter. Aber um das zu tun, stiegen greise Feldmarschälle nicht aus dem Fenster im ersten Stock einer Villa und ließen sich an der Dachrinne zu Boden. »Ich komme«, sagte der Botschafter tonlos. * Marschall Xie-Lei-Feng war und blieb verschwunden. Ausgenommen das geöffnete Fenster, hinterließ er keine Spur. Am Fassadenputz des Hauses zeigte sich kein Kratzer, kein Abdruck auf dem Rasen bis zur Parkmauer. Niemand hatte in der Nacht ein Geräusch vernommen. »Er ist ein alter Soldat«, sagte Xies Adjutant. »Bevor er sich schlafen legt, pflegt er die Taschen seiner Uniform zu entleeren und den Inhalt säuberlich in Reih und Glied aufgereiht hinzulegen. Außer der goldenen Sprungdeckeluhr, einem Geschenk von Präsident Roosevelt, Kamm, Taschentuch, Brille und der kleinen Achatdose mit seinen Kräuterpillen, deren Zusammensetzung nur er allein kennt, besitzt er ja kaum etwas.« Von all diesen Dingen war kein Stück mehr vorhanden. Xies Aufbruch hatte sich demnach nicht in Hast vollzogen. Die Frage, ob der Marschall zu einsamen Ausflügen neige – die letzte Hoffnung des Botschafters, daß der Marschall umgehend wieder auftauchen könnte Knüpften sich daran – beantwortete der Adjutant wie folgt: »Ich kenne den Marschall seit elf Jahren. Wenn er im Leben etwas haßte, dann waren es unvorhergesehene Dinge. Ereignisse, die gegen sein Programm, seine Berechnungen 13
und Erwartungen verstießen. Er war ein Systematiker. Völlig undenkbar, daß er freiwillig verschwand.« Der Botschafter telefonierte mit dem Minister in Bonn und beendete seinen Bericht mit einem zutreffenden Vergleich. »Eher konnte man damit rechnen, daß vom Dach einer Kaffernhütte in Zentralafrika im Sommer ein Eiszapfen herunterfällt und einen am Kopf trifft, als mit so etwas.« Dann bat er um Anweisungen. »Keine Polizei«, forderte Bonn. »Wir schicken das beste Team von Spürhunden nach Athen, das wir zusammentrommeln können. In wenigen Stunden sind die Leute am Tatort.« »Tatort?« fragte der Botschafter bestürzt. »Seien wir doch realistisch«, antwortete der Minister. »Es kann sich nur um eine Entführung handeln.« »Dann waren Profis am Werk.« »Die Sache muß von langer Hand vorbereitet worden sein.« »Sie glauben also…« »Ich fürchte«, schränkte der Minister seinen Standpunkt ein, »daß wir damit eine ungeheure Menge an Arger bekommen werden. Von den Vorwürfen aus Peking mal ganz abgesehen. Die Sache kann zu einer Verschlechterung der Beziehungen führen. Und das gerade jetzt, wo wir das bei Gott nicht gebrauchen können.« Der Botschafter versuchte sich zu verteidigen. »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte daraufhin der Minister, »wenn es eine international gesteuerte Gruppe gibt, die ihn haben wollte, dann hätte sie ihn überall bekommen, selbst in Bonn, selbst in Schloß Brühl, trotz einer Hundertschaft von Bundesgrenzschützern.« »Was in Dreiteufelsnamen ist denn an diesem netten alten Herrn so wichtig, daß man ihn…?« 14
Der Minister, zweifellos ausreichend über die Führungspersönlichkeiten anderer Staaten informiert, antwortete: »Er war weder als Nachfolger des Parteivorsitzenden, noch als Generalsekretär des ZK, noch für das Amt des Staatspräsidenten vorgesehen. Er ist kein Cheftheoretiker, und seine große Zeit als Generalstäbler war vorbei, nachdem er mit Mao an der Spitze der Bauerndivisionen gegen die Hauptstadt zog – und trotzdem gilt er in Peking als unersetzlich.« »Unersetzlich ist niemand«, erwiderte der Botschafter. »Xie offenbar schon.« »Warum?« fragte der Botschafter noch einmal. »Ja, warum?«, kam es aus Bonn zurück. Die Frage verklang unbeantwortet in zweitausend Kilometer Kupferdraht. 2. Heiß wehte der Wind aus der Savanne ins Hochland. Mühsam wälzten sich die Fahrzeuge auf ihren Stollenreifen durch den unwegsamen Busch. Die Hitze wurde tierisch. In der Ferne standen grünblau die Berge. Noch neunzig Meilen bis Chinguar. Im vordersten Wagen der Expedition saßen deren Leiter Dr. Sprink aus Southampton und sein Assistent, ein Archäologe von der California University namens Douglas. Der junge blonde Douglas fuhr den Ford-Bronco. Dr. Sprink studierte immer wieder die Karten. »Nichts stimmt«, schimpfte er. »Als ob dieses Angola nie vermessen worden wäre. Und nirgendwo ein Wegweiser.« »Der Krieg«, bemerkte der Amerikaner, »machte alles kaputt.« »Es liegt wohl eher daran, daß die Portugiesen einfach nicht in der Lage waren eine konstruktive Kolonialherr15
schaft in Angola auszuüben. Es gibt keine Straßen, keine Brücken, keine Infrastruktur. Nun, dafür bekamen sie letztlich die Quittung.« Nach mehreren Meilen durch schwierigstes Gelände, teils sandige Anstiege, dann wieder Fels und Geröll, durch die sich die Wagen den Weg wie durch ein Labyrinth suchen mußten, fluchte Dr. Sprink. »Laut Karte müßten wir jetzt südlich zum Cobango-Fluß abbiegen, dann hinauffahren zu seinem Quellgebiet. Wenn ich nur wüßte, ob unsere Position stimmt.« In diesem Augenblick quäkte das Sprechfunkgerät, das zwischen den Männern vom Wagendach baumelte. Einer der Wagen meldete beängstigende Geräusche im Verteiler-Differential. »Da haben wir’s«, sagte Douglas, »ich riet zu Militärfahrzeugen. Ein noch so geschundener CMC oder Dodge kann mehr als diese Luxusautos. Was nützt eine Klimaanlage, wenn wir nicht mehr weiterkommen.« »Wir entschieden uns dafür«, antwortete Dr. Sprink, »weil die Industrie sie kostenlos zur Verfügung stellte und wegen ihres zivilen Aussehens. Überall gibt es noch versprengte Partisanenhaufen. Die schießen auf alles, was grün ist.« »Man hätte Militärfahrzeuge weiß und rot lackieren können«, wandte Douglas ein. »Dazu fehlte uns das Geld.« Das glaubte Dr. Douglas schon lange nicht mehr. »Dachte, wir sind eine internationale Expedition, Sir.« »Nur, was die Mannschaft angeht.« Und die Ausrüstung, dachte Dr. Douglas. Ein leiser Schauder überkam ihn, wenn er an diese sonderbaren Geräte dachte. Angeblich hatte sich Dr. Sprink alles aus den USA, aus England, Frankreich und Germany zusammengeschnorrt. Die Autos, die Zelte, die Medikamente, den Proviant, den ganzen Klimbim. – Nun, vielleicht ging es gut, aber wahrscheinlich ging es nicht gut. So wie 16
mit dem Mann, der sie zu diesem unerforschten Bergsee in Zentralangola führen sollte. Er war bei der Anfahrt zum Flugplatz in Dakar verunglückt. Ein schlechtes Vorzeichen. Ersatz war nicht so schnell zu beschaffen. Zunächst arbeiteten sie sich also ohne Führer durch das wildeste Gebiet eines Landes, das noch halb im Krieg war. »Wozu eigentlich die Waffen?« fragte Dr. Douglas. »Die Maschinenpistolen. Wo wir doch in friedlicher Absicht kommen.« »Gegen die marodierenden Eingeborenenbanden«, erklärte der Expeditionsleiter. »Nach außen hin friedlich, aber für alle Fälle gerüstet, lautet die Devise. Vielleicht ist diese Expedition etwas verfrüht. Das Rätsel des Sees kann man auch noch in zehn Jahren lösen. Aber ich habe es mir als meine letzte Aufgabe gestellt. Und zwar in diesem Sommer.« Vor der Pensionierung, dachte der Amerikaner. – Jeder wollte vor seinem Abgang noch einmal tüchtig auf die Pauke hauen. Wer das nicht verstand, der hatte nichts vom Leben und nichts von der menschlichen Eitelkeit kapiert. Dem alten Sprink ging es eben um die Schätze im Cobango-See. Zumindest behauptete er das. – Aber Dr. Douglas glaubte ihm nicht alles, was er behauptete. Sie hielten an, um die anderen vier Wagen nachkommen zu lassen und sich um das Range-Rover-Getriebe zu kümmern. * Der Rover brauchte nur eine Injektion von Molybdänfett in die trockenen Achsenantriebsgelenke und schon konnte es weitergehen. Die Nacht kam und die Hitze blieb. »Gegen alle Regeln«, sagte Dr. Sprink, »sonst wird es immer verdammt kalt, sobald die Sonne sinkt.« 17
»Die Zeiten ändern sich auch in Afrika, Sir.« »Aber nicht die Gesetze der Meteorologie.« Wer weiß, dachte der Amerikaner, der von Anfang an keine Lust gehabt hatte bei dieser Expedition mitzumachen. Da man ihm aber eine Professur versprochen hatte und die Einrichtung eines Lehrstuhls für afrikanische Kultur am Tropengürtel, war er eingestiegen. Die Expedition machte Nachtlager. Am Morgen ging es weiter. Doch am Tag darauf saß sie endgültig fest. In sechzig Meter Tiefe vor den Wagen schäumte der Cobango-Fluß. Links und rechts waren Steilhänge mit Elefantengras bewachsen und rutschig wie nasser Lehm, hinter ihnen ein schmaler Schlauch von Canon und kaum Platz zum Wenden. Es ging nicht mehr rückwärts und nicht mehr vorwärts. Die Wagen umzudrehen, erforderte ein Verschiebespiel von höherer Schachmathematik. »Es war eben doch die falsche Abzweigung«, meinte der Franzose und wickelte sich eine Zigarette. Dr. Sprink kniete am Boden über der Karte. »Neun Meilen flußabwärts, jenseits der Stromschnellen wartet der weiße Hunter.« »Wenn er überhaupt da ist.« »Seit drei Tagen schon.« »Dann ist er längst nicht mehr dort.« »Er wurde bezahlt.« »Die weißen Jäger kassieren auch mal, ohne zu arbeiten.« Es war nicht zu ändern. Einer von ihnen mußte versuchen den Scout am Flußknie zu erreichen, damit die Pechsträhne endlich aufhörte. Am Siebzehnten hatten sie am See sein wollen, denn jetzt stand das Wasser am niedrigsten. Heute war schon der Zweiundzwanzigste. In einem Monat begann die Regenzeit. Der Blick des Expeditionsleiters fiel auf den jüngsten Teilnehmer. 18
»Würden Sie es versuchen, Dug?« fragte er, obwohl er sich längst entschieden hatte. »Ich war nicht mal bei den Pfadfindern«, antwortete der Amerikaner. »Um so besser«, rief der Italiener, »dann können Sie nichts falsch machen. Ich kannte einen, der verirrte sich in den Abruzzen und erfror, nur weil er sich daran hielt, was er bei den schlauen Grünhemden gelernt hatte.« Der Amerikaner versah sich mit ausreichend Proviant, einem Schlaf sack und machte sich auf den Weg. Um den Abstieg über die Steilflanke zu vermeiden, nahm er den Weg durch die Hügel. Dort geriet er in urwaldartig verfilzten Busch und verirrte sich so, daß selbst Kompaß, Sonne Mond und Sterne ihm nicht mehr aus der Wildnis halfen. Nach zwei Tagen ging der Proviant zu Ende, nach drei Tagen das Wasser. Am vierten Tag fand ihn der weiße Jäger restlos erschöpft und von Insektenstichen gepeinigt. »Ich sah die Geier auffliegen«, erklärte der Jäger, »und dachte mir, da muß sich ein verdammtes Greenhorn verirrt haben. Sie sind nicht der erste.« »Wie weit«, fragte Dr. Douglas, »war ich vom Treffpunkt entfernt?« »Knapp eine Meile.« »So kann man krepieren, kurz vor der Haustür.« »Was regen Sie sich auf«, sagte der Jäger, »ich habe Sie gefunden. Nehmen Sie erst mal einen Schluck Tee.« * Dr. Douglas und Clive Daniel, der weiße Jäger, freundeten sich an. Sie übernahmen, nachdem sie zur Expedition gestoßen waren, den Führungswagen. Mit dem erfahrenen Pfadfinder neben sich fühlte sich Dr. Douglas sicher. Aber es 19
half ihm wenig. Sie alle entgingen nicht ihrem Schicksal, denn sie bekamen es mit Kräften zu tun, die nicht kalkulierbar waren. Der Jäger und der Archäologe waren beide Pfeifenraucher und machten sich beide nicht übermäßig viel aus Frauen. Clive Daniel liebte Afrika und die Jagd, und Dr. Douglas lebte für die Primitivkulturen längs des Tropengürtels. »Ich sammle Löwenschwänze wie andere Leute Briefmarken«, sagte der Jäger mit einer Portion Selbstironie. »Und ich Holzskulpturen des Danga-Stammes wie andere Leute die Erstausgaben der Klassiker.« »Und die wollen Sie da oben im See finden? Holz zerfällt doch im Wasser.« »Nicht Eichenholz. Eichenholz wird eher noch härter.« »Aber es schwimmt obenauf und wurde längst abgetrieben.« »Es gab einen Totenkult und der schrieb vor, daß die Holzfiguren, die die Verstorbenen darstellen, in Gefäßen versenkt wurden.« »Die sind auch längst verrostet.« »Sie stecken im Schlamm. Schlamm konserviert.« »Kommt darauf an, welches Metall man für die Gefäße verwendet hat.« »Richtig«, bestätigte Dr. Douglas. »Sie nahmen Gold. Manchmal auch Silber, aber meistens Gold.« Der Jäger verstand. »Sie bekommen ja leuchtende Augen«, bemerkte Dr. Douglas spöttisch. Doch der Jäger winkte ab. »Gold in jeder Form, ob es aus Funden stammt, oder von reichen Touristen, reizt mich wenig. Ich habe genug Gewehre, zwei Jeeps, ein Haus und Geld auf der Bank. Mich reizt nicht einmal das Abenteuer, denn es ist immer wieder dasselbe alte Abenteuer. Mich reizt nur das Neue.« 20
»Dann sind Sie am Cobango-See richtig«, äußerte der Amerikaner. »Es gibt unzählige Legenden darüber.« »Und viele Rätsel. Warum versenkten hochkultivierte Stämme vor Jahrhunderten dort ihren wertvollsten Besitz. Was veranlaßte sie, alles aufzugeben und wieder in die Steinzeit zurückzukehren?« »Keiner hat es je aufgeschrieben«, sagte der Jäger. »Wir werden es rekonstruieren.« »Zuerst müssen Sie den Plunder im See finden.« »Wir haben die besten Aussichten.« »Es gab schon mehrere Expeditionen. Keine verzeichnete nennenswerten Erfolg.« Darin stimmte der Amerikaner dem Jäger voll zu. »Sagen Sie ruhig, daß es Dutzende von Expeditionen waren, und alle wurden sie von irgendwelchen Katastrophen heimgesucht, seien es Unfälle, Krankheiten, Seuchen oder Kämpfe mit den Eingeborenen gewesen. Ich denke, diesmal ist der Zeitpunkt günstiger.« »Mag sein«, räumte der Jäger ein. »Eingeborene gibt es kaum noch.« »Gegen Seuchen haben wir eine wohlsortierte Apotheke.« »Und gegen die Gefahren und sonstigen Unbilden des Landes haben Sie mich. Der alte Daniel läßt euch schon nicht verkommen.« »So schätze ich Sie ein.« Dr. Douglas schaltete in den Allradantrieb. Vor ihnen lag eine Mulde, gefüllt mit feinem Sand, wie eine Pfanne voll Mehl. Später einmal, fast nebenbei, stellte der Jäger eine merkwürdige Frage. »Sind Sie sicher, Dug, daß Sie wirklich nur versunkene Altertümer suchen?« »Aber ja. Um was sollte es denn sonst gehn?« »War nur eine Frage«, antwortete der Jäger ausweichend. 21
Sie saßen fest, schaufelten sich frei, zogen einander mit den Winden heraus, fuhren weiter. Und das alles bei satten 45 Grad Celsius, hoher Luftfeuchtigkeit und Windstille. * Dr. Sprink wollte mit seiner Expedition alle bisher begangenen Fehler vermeiden. Er entwarf eine Art Schlachtplan, wie man am besten vorgehen würde. Jeder Schritt war präzise nach den Möglichkeiten und den zu erwartenden Hindernissen abgewogen. Für jeden denkbaren Fehlschlag sah man eine Ausweichmöglichkeit vor, so wie der menschliche Körper bei Verstopfung des Adersystems eine Umgehung ausfindig macht. War der kleine Kratersee zu voll, würde man ihn leerpumpen. War die Schlammschicht zu dick, würde man sie mit den senkrecht gestellten Propellern eines Außenbordmotors zur Seite schwemmen. Fand man trotzdem die Schätze nicht, würde man neuentwickelte Sonden einsetzen, die mit Hilfe eines Computers sogar Gold und Silber zu unterscheiden vermochten. Nur regnen durfte es nicht. Aber daß die Regenzeit vor Mitte September einsetzte, kam selten vor. Dr. Sprink verbreitete rundum Optimismus. Nur der weiße Jäger schaute sorgenvoll zu den Wolken jenseits der Hügel. Um seine Meinung befragt, sagte er: »Regel eins lautet, der Regen fällt in umgekehrter Proportion zur Entfernung vom Äquator. Wir haben hier mit sieben Wochen zu rechnen. Regel zwei lautet, alles hängt vom vorangegangenen Wetter ab, von Winden, von der Höhenlage, von der Wassertemperatur an der Küste. Und weil auf diese Weise alle Erfahrungen von Ausnahmen durchlöchert werden können, lautet Regel Nummer drei, die beiden ersten Regeln zu vergessen.« 22
»Danke«, sagte Dr. Sprink. »Sie haben uns damit sehr geholfen, Mister Daniel.« Die Wissenschaftler machten sich an die Arbeit, und der Jäger ging auf die Jagd, um frisches Fleisch für die Töpfe zu schießen. Es gab keinerlei besondere Rückschläge. Dennoch gingen die Arbeiten kaum vorwärts. Der Wasserspiegel war nicht zu hoch, die Schlammschicht nicht zu dick. Trotzdem machte ihn das bißchen Wasser so zäh wie Leim und die Propeller schafften zu wenig beiseite, um an die versunkenen Schätze heranzukommen. Ohne richtige Panne lief doch alles ständig ein bißchen daneben. Einmal kam der Jäger zurück und machte ein langes Gesicht. »Was haben Sie?« erkundigte sich Sprink. »Die Beute war doch gut.« »Mein altes Leiden«, sagte der Jäger, »der Magen.« Daß er log gestand er nur dem Amerikaner Dr. Douglas. »Irgend etwas ist los im Buschland«, berichtete er. »Ich weiß nicht was.« »Eingeborene?« »Ist die Expedition überhaupt genehmigt?« »Von wem sollte sie?« fragte Douglas. »In Lobozo fühlte sich keiner zuständig.« »Dann haben Sie also das Vakuum genützt, ehe zu befürchten war, daß man jede Forschungsarbeit am See verbot?« »So ist es.« »Vielleicht hat sich draußen etwas gegen Sie formiert.« »Was?« »Keine Ahnung, Dug. Wir leben in Afrika. Es gab Aufstände. Die Revolution hat sogar die Portugiesen vertrieben.« »Mit Hilfe der Kommunisten.« 23
»Und die wiederum könnten Sie von hier vertreiben.« »Wir stehen unter dem Schutz der Vereinten Nationen.« »Schützen die etwa die Menschen vor dem Hungertod, vor dem Zerfleischtwerden?« »Was haben Sie gesehen, Clive?« drang Dr. Douglas in den Jäger. »Nichts«, erwiderte dieser, »nur gefühlt habe ich etwas. Unruhe, Rachedurst der alles Fremde zerstört, Vergeltungsgier.« »Sie kommen mir bald vor wie einer von diesen Medizinmännern.« »Das sind ganz hervorragende Leute. Ärzte und Psychologen. »Und wir sind bewaffnet«, entgegnete der Amerikaner zuversichtlich. Aber es war nicht aufzuhalten. An dem Tag, als Dr. Douglas den ersten Fund machte, einen der besten seit 90 Jahren, veranstalteten sie eine kleine Feier. Die Goldstatuette, ein kopulierendes Menschenpaar, hing an einer Schnur vom Gestänge des Küchenzeltes. Dr. Sprink ließ die Büchsen mit den Aspikhühnern öffnen. Dazu gab es Bier und Skotch Whisky. Sie feierten bis die Sterne sichtbar wurden. Dann begab sich alles in die Schlafsäcke. – Nur der Jäger nicht. Er gab vor, einem Streifengnu folgen zu wollen, das bei Sonnenaufgang unten am Fluß wechselte. Antilopenfleisch sei eine Delikatesse. So kam es, daß er überlebte. Am nächsten Morgen schlug keiner die Glocke zum Wekken. Sämtliche Expeditionsteilnehmer, elf Wissenschaftler aus sechs Ländern, lagen tot in den Zelten. Allen war die Kehle durchgeschnitten worden. Aber daran waren sie nicht gestorben. Neben einigen Leichen lagen merkwürdige leere Hülsen, zeigefingerlang aus gelblich-weißem Plastikmaterial. 24
3. Der Vorfall in Athen brachte die verantwortlichen Stellen bis in die letzten Nervenfasern zum Erzittern. Der AA-Chef informierte den Kanzler. Der wiederum rief den Krisenstab zusammen. Der KS stellte einen Maßnahmen- und Personenkatalog zusammen. Aber wer sollte mit der Suche nach Marschall Xie betraut werden? »Bundeskriminalamt?« fragte einer. »Kann im Ausland nur über Interpol tätig werden.« »Bundesverfassungsschutz fällt ohnehin aus.« »Wie steht es mit MAD?« »Der militärische Abschirmdienst«, erklärte ein Stabsmitglied, »wird sich darum kümmern, wie es zu der Panne an der Regierungsmaschine kam. Aber er hat ohne NATOKoordination keine Einsatzmöglichkeit im Ausland.« »Bleibt also nur…«, der Stabsvorsitzende trommelte mit den Fingernägeln gegen sein Orangensaftglas, »…also nur«, beendete er den Satz. Seine Kollegen nickten. Dabei blickten sie den Chef des Kanzleramts an. »Der Bundesnachrichtendienst ist Ihr Ressort, Herr Kollege.« Der Angesprochene griff zum Telefonhörer und ließ sich eine Nummer geben, deren Vorwahl 089 war. Das BND-Hauptquartier München-Pullach bekam Alarm. * In seinem weltweit gespannten Netz aktivierte der BND zunächst den Knotenpunkt Athen. Der Mann, der dort als Chef einer Tarnfirma saß, würde die nötigen Vorbereitungen treffen. Aber Topexperte für solche Fälle war er nicht. Ein Agent mit Allroundtalent mußte ihm zu Hilfe kommen. 25
In der Operationsabteilung stand Oberst Sebastian vor der großen Wandkarte und wirkte unschlüssig. »Wo steht der nächste Code-Agent?« Auf Knopfdruck wurde der Computer abgefragt. Der besorgte sogleich die Markierung. Ein roter Lichtstrahl, aus einem rückwärtigen Projektor gegen die Glaswand geworfen, brachte einen Punkt zum Blinken. Das wechselnde Signal flackerte im Meer von Kleinasien. »Agent Nummer vierzehn.« »Einsatzort?« »Limnos.« Daß Limnos eine der großen griechischen Inseln in der nördlichen Ägäis war, sehr dicht an der Türkei gelegen, das konnte selbst derjenige, der es nicht wußte auf der Europaprojektion mühelos erkennen. »Operationsziel?« fragte Sebastian und klemmte das Monokel sturmfest ein. »Er fuhr doch nicht zur Weinprobe hin, oder?« »Die Griechen hatten Ärger auf ihrer Bohrinsel Zeus. Zunächst dachte man an Sabotage von Seiten der Türkei, die ja ebenfalls die Erdölfelder beansprucht. Aber Ankara hob die Finger zum Schwur. Nun ist unser Mann einer libyschen Gruppe auf der Spur. Den Libyern mißfällt es offenbar, daß ihnen im Ägäisöl eine Konkurrenz erwächst.« »Die außerdem noch im NATO-Bereich sprudelt«, ergänzte Sebastian. »Wieweit ist Nummer vierzehn gekommen?« »Er hat die Tätergruppe personell eingekreist.« »Dann kann er ohnehin nichts mehr tun«, entschied Sebastian. »Die Griechen riefen uns zu Hilfe, den Rest müssen sie nun selbst erledigen. Nummer vierzehn begibt sich sofort per Hubschrauber nach Athen und dort an die Arbeit. Wenn die Griechen nach dem Grund fragen, soll er Hepatitis vorschützen.« 26
Der Assistent wandte ein, daß Nr. 14 kein Mann für kriminalistische Puzzlearbeit sei.« »Keiner kann alles«, entgegnete der Alte. Dabei fiel sein Blick auf eine andere Leuchtprojektion. Der Punkt tanzte nahe Sizilien. Am Eingabegerät leuchtete die Zahl 18 auf. »Einer könnte es«, murmelte der Oberst. »Aber Urban ist wohl zu weit ab vom Schuß. Ich habe versprochen, daß unser Mann bis spätestens fünfzehn Uhr in der Athener Botschaft eintrifft. Also sorgt dafür.« Während er dies äußerte, schielte Sebastian immer wieder in Richtung Sizilien. »Einsatzziel für Nummer achtzehn?« fragte er. Jeder wußte es, keiner sprach es aus, daß der Code-Agent Nr. 18 das vom Chef bevorzugte Arbeitstier war. Der Alte liebte Bob Urban nicht und er haßte ihn nicht, sie waren einander nur verbunden wie das linke dem rechten Auge. Der Assistent begann zu referieren. »Die deutsche Ehefrau eines dänischen NATO-Generals hat ihren Mann in Belgien mit einem britischen Rennfahrer unter Mitnahme von französischen Geheimdokumenten verlassen.« »Richtung Italien«, seufzte Sebastian. »Wenn das nicht international ist.« »Urban jagt den beiden das VS-Material ab.« »Jagt er noch, oder hat er es schon?« »Nächster Kontakt findet erst in zwanzig Stunden statt.« »Dann soll sich Nummer vierzehn gefälligst in Bewegung setzen.« Der Alte wollte gerade die Abteilung verlassen und in sein Büro gehen, als ihn ein Telefongespräch aus Bonn zurückrief. Mit einem Dackelgesicht, so zerknautscht wie sein Anzug, hörte er, was der Krisenstab als nächstes beschlossen hatte, 27
und welche Ergebnisse zur Stunde vorlagen. Nach dem Auflegen hob er die Braue, daß das Monokel aus dem Auge sprang. »Von Xie nicht ein Hauch bis jetzt«, sagte er. »Hat man Peking schon unterrichtet?« »Der Minister ist dabei. Im übrigen, es war Sabotage.« »An der Flugzeughydraulik?« »Die winzige Feder eines Überdruckventils hatte die falsche Kennung. Es sprach zu früh an. Aber erst nachdem zehnstündiger Einsatz die Feder lahmgelegt hatte. Soweit die Feststellung des Bordingenieurs der 707 in Athen.« »Das war Präzisionsarbeit«, bemerkte jemand. »Der Hydraulikölverlust sollte auf dem Rückflug von Peking nach Bonn auftreten.« »Man hatte ihn so berechnet, daß es mit größter Wahrscheinlichkeit zu einer Zwischenlandung in Athen kam.« »Demnach muß in Athen alles für eine Entführung Xies vorbereitet gewesen sein.« »Oder für seine Absetzbewegung«, äußerte Sebastians Assistent. Der Oberst hielt das für Unsinn. »Ein so alter Funktionär setzt sich nicht mehr ab. Wohin auch, warum auch?« Einer der anwesenden Experten begann zu rechnen. »Die Luftwaffen-Boeing wurde vor Antritt der Reise penibel gecheckt.« »Dabei muß jemand das präparierte Ventil eingesetzt haben.« »Das ist feststellbar.« »Man muß nur dem Wartungs-Team und dem verantwortlichen technischen Offizier aufs Zahnfleisch fühlen.« Oberst Sebastian konnte seine Leute in diesem Punkt beruhigen. »Sie sind dabei«, versicherte er. »Der MAD ist schon dabei.« 28
Er war einfach zu lange wach. Zwei Tage und zwei Nächte schon. Jetzt dämmerte bereits der dritte Morgen. Er war übermüdet, ein Zustand, bei dem man ständig an der Grenze der Bewußtlosigkeit hin und hertanzte. Aber ein Profi mußte das können. Beim Fahren wurde die Motorhaube immer länger. Nach dem letzten Tankstop in – wie hieß doch das kalabrische Nest – hatte er das Gefühl, er ziehe den Benzinschlauch wie einen endlos langen Elefantenrüssel hinter sich her. Dann kamen Stunden, da spürte er jede Bodenunebenheit durchkommen. Der BMW fühlte sich an wie ein Trampeltier. Aber bald spürte er auch das nicht mehr. Alles schien in Watte gepackt zu sein. Wie er bis Brancaleone gekommen war, ganz unten an der Stiefelspitze Italiens, er hatte keine Ahnung. Plötzlich sah er vor einem Hotel, draußen am Strand, das weiße Mustang-Coupe stehen. Hier also hatten die zwei ihr Nest gebaut. Ungewaschen, unrasiert in Dreck und Speck betrat er die Marmorhalle des 4-Sterne-Hotels. »Alles belegt, Signore«, empfing ihn der Portier. Bob Urban wollte es gar nicht wissen. »Belegt bis unters Dach, bedaure.« »Mister Clifford Lomax?« fragte Urban. »Welches Zimmer?« »Bungalow vier.« Urban murmelte ein Grazie, ging durch das Hotel und nahm Espressoduft wahr. Er hatte schon soviel Espresso in sich, daß ihm der Gedanke daran Ekel bereitete. Er jagte die letzte Reserve Adrenalin ins Blut und eilte über den Plattenweg zwischen Palmen und Meer zum Bungalow Nummer vier. Die Jalousien waren zu, die Tür auch. Drinnen hörte er Lachen und leise Musik. Sie amüsierten sich wohl darüber, 29
wie fein ihnen der Coup gelungen war. Das würde er ihnen versalzen. Mit einem wütenden Tritt rammte er die lumpige Tür nach innen. Die Wucht hatte das Schloß aus dem Sperrholz gefetzt. Die Tür schlug gegen den Puffer. Das Liebespaar, der Rennfahrer und die stattliche Blondine, lagerten nackt auf dem Bett und machten Augen wie an Weihnachten. Doch rasch bekam Angst die Oberhand. Der Pistenfeger wollte etwas maulen. Urban schmierte ihm die Hand durchs Gesicht, daß ihm die Lippe schwoll. Die Lady kreischte. Urban packte ihr Bein und warf sie aus dem Bett, daß sie vor Schreck verstummte. Dann schnippte er mit dem Finger. »Die Papiere, Herrschaften!« »Welche… was für… keine Ahnung.« Sekunden später schwoll die fiese Visage des Rennfahrers auch auf der anderen Seite an. »Polizei«, drohte Urban, »Gefängnis, ein paar Wochen lassen wir euch schmoren bei Kakerlaken und Nudeleintopf. Dann Abschub nach Brüssel. Wieder U-Haft. Gerichtsverhandlung wegen Spionage, Landesverrat und so. Das kann sich ziehn. Ein, zwei Jahre.« »Oder?« fragte der Rennfahrer. Er reagierte jetzt so, wie es sich für einen schnellen Jungen gehörte. »Die Papiere!« verlangte Urban noch einmal. Die Frau stand da, an den Schrank gelehnt, und hatte damit zu tun mit ihren kleinen Händen ihren großen Busen zu verbergen. »Gib sie ihm«, entschied der Engländer. Sie ging zum Koffer, holte eine Tasche heraus, aus der Tasche ein. Necessaire und aus dessen Innenfutter die Papiere. »Das hätte Hunderttausend gebracht«, stellte Urban fest. »Raketendisposition für die nächsten vier Jahre und alle 30
Lagepläne für Mehrfach-Atomsprengköpfe zwischen Hammerfest und Sizilien.« »Scheiße«, sagte der Rennfahrer. »Ich muß am Wochenende in Monza sein. Großer Preis von Italien.« »Ich hindere Sie nicht daran«, erklärte Urban, warf einen mitleidigen Blick auf das desillusionierte Liebespaar und ging. Draußen verbarg er die geheimen NATO-Papiere unterm Hemd auf der Brust, und wankte hinauf zum Hotel. Kein Zimmer frei, hatte der Portier gesagt. – Er war müde, frei oder nicht frei, es war ihm egal. Das letzte Adrenalin war inzwischen verbraucht. Die Müdigkeit wirkte jetzt wie Säure. Urban ging im Hotel einfach in den ersten Stock. Dort probierte er eine Tür nach der anderen und legte sich im ersten offenen Zimmer ins erste freie Bett. Mit allem Dreck und Speck. Er schlief sich gut aus. Zwei Stunden und eine halbe. Mehr brauchte er nicht, um wieder 300 Kilometer zu schaffen. Er war Agent Nr. 18, der Mann für harte Geschäfte. * Mit vollem Hammer nahm der BMW die gebührenfreie Autobahn von Reggio nach Norden. Urban hörte Nachrichten. Auf keiner Welle spielte sich etwas Ernsthaftes ab. Er holte Musik herein. Punk-Rock war auch nicht unbedingt sein seelisches Leibgericht. Mit einem Mal tütete es. Die Ruflampe des Autotelefons flackerte. Wußte der Teufel wie sie es fertigbrachten, ihn immer zu kriegen, selbst hier unten im tiefen Süden. Er hob ab. Die Stimme des Alten kam leider klar und deutlich aus dem Hörer. »Haben Sie die beiden?« fragte Sebastian. »Ich habe die Fetzen«, meldete Urban. »Die beiden sind mir wurscht.« 31
»Schalten Sie mal auf Verzerrung«, bat der Alte. Urban drückte den Knopf. Nach einer Sekunde war der Oberst wieder klar vernehmbar. Aber jetzt konnte keiner mehr mithören. Ein Frequenzmodulator zerhackte jedes Wort in Einzelteile. Wer ihn nicht hatte, der vernahm nur Schnitzel und rattern. »Xie ist verschwunden«, berichtete der Alte. Es gehörte zum guten Ton, daß man 1/A-Agenten über die Lage auf dem laufenden hielt. Urban lag die abgedroschene Bemerkung auf der Zunge, Xie werde sich auf dem Heimweg vom Zigarettenholen verlaufen haben. »Wo?« fragte er statt dessen. »Athen.« »Was tat er dort?« »Hydraulikschaden. Notlandung.« Urban kannte sich ein wenig damit aus. »Wenn ein Flugzeug runter muß, dann ist es im Zweifelsfall immer ein Hydraulikschaden. Flugzeuge haben das an sich wie Damen von Welt ihre Migräne.« »Wir rotieren hier. Trotzdem noch keine Spur von Xie.« Deshalb rief ihn der Alte nicht an, um ihm zu sagen, was sie nicht hatten. Der wollte doch etwas Bestimmtes. »Es war Sabotage«, fuhr Sebastian fort. »Zu weiche Feder im Überdruckhauptventil. Falsches Material. Es ermüdete zu rasch.« »Fragt den, der es reinschraubte«, schlug Urban vor. »Der technische Offizier ist ein Oberleutnant Haberfaß. Der Flugzeugmechaniker der dafür abzeichnete, ein Feldwebel Stern. Fritz Stern.« »Den würde ich mir mal vorknöpfen.« »Stern ist in Jahresurlaub.« »Dann schnappt ihn euch dort.« »Wir sind dabei«, sagte der Alte. »Deshalb rufe ich Sie an.« 32
Urban hatte es kommen sehen. »Ich bin total kaputt. Ich muß aus Sicherheitsgründen ablehnen.« »Dann lasse ich Sie erschießen«, antwortete der Alte. »Ich protestiere. Hundertvierzigstündigen Dauereinsatz verbietet ja schon der Tierschutzverein.« »Proteste sind unerwünscht«, entgegnete der Alte, »ihnen wird gar nicht erst stattgegeben. Außerdem sind Sie kein Pferd, sondern ein Mensch.« Urban wußte, daß er nicht drumherum kam. Trotzdem machte er einen letzten Versuch. »Ich brauche Zeit zum Überlegen.« »Die haben Sie. Zwei Minuten.« »Okay, und wie heißt das Drecksnest?« »Das Drecksnest heißt Adria.« »Ein großer Platz zum amüsieren.« »Lido Garibaldi oder so.« »Lido paßt immer.« »Ihnen kann man nichts recht machen«, sagte der Alte. Das ist die Höhe, dachte Urban, der absolute Tritt ans Schienbein ist das, das schlägt dem Faß den Boden durch. Er hatte eine gute Idee. Leise, fast zärtlich legte er auf und schaltete die Autotelefonanlage ab. * Aber er war ihr Mann fürs harte Geschäft. Urban machte einen Schlenker, fuhr in Bologna Richtung Osten und gondelte am nächsten Tag gemütlich an den spätsommerlichen Gestaden der Adria entlang. Der große Touristenrummel ging zu Ende. Aber noch waren alle Hotels und Appartements an den kleinen Lidi besetzt. Nur die Strände waren leer. Dies nicht nur zur Siestazeit, 33
sondern auch noch um 17 Uhr. Urban wunderte sich. Nirgendwo zwischen Rimini und Porto Garibaldi war ein Mensch im Wasser zu sehen. Er hielt an, um einen Espresso zu trinken. »Wo sind die Leutchen alle?« fragte er den Padrone der Strandbar. »Ist bei euch die Pest ausgebrochen?« »Ganz so schlimm ist es nicht«, sagte der Mann. »Aber wir haben Badeverbot. Für die ganze Küste. Für vier Tage.« »Waren die Touristen etwa nicht brav?« »Das Wetter war böse«, erklärte der Wirt. »Unwetter in der Po-Mündung. Nichts davon gehört? Unwetter bringen Hochwasser und Überschwemmung. Dann spült der Po allen möglichen Dreck ins Meer. Giftige Chemieabfälle, Tierkadaver. In einer Woche haben Wind und Gezeiten den Mist adriawärts geholt.« »Dann esse ich heute abend besser keinen Fisch«, meinte Urban, zahlte und fragte noch, welche Methode der Mann für die beste hielt, um einen bestimmten deutschen Touristen in Porto Garibaldi zu finden. »Da gibt es mehrere«, meinte der Padrone Tassen spülend. »Hotels abklappern, bei den Vermietern der Ferienwohnungen und Bungalows fragen, dann bleiben noch die Parkplätze, falls Sie wissen, welchen Wagen der Herr fährt.« »Weiß nicht mal wie er aussieht«, bedauerte Urban. Weil die Bar leer war und einigermaßen kühl, machte Urban dem Wirt einen Vorschlag in Höhe von zwanzigtausend Lire. »Ihr Telefon für eine Stunde.« »Solange wie Sie wollen, wenn Sie jedes Gespräch bezahlen. Hier haben Sie schon mal dreißig Münzen.« Urban bekam die gekerbten schmutzigen Messingdinger, sowie das Telefonbuch und fing an. Um 18 Uhr hatte er sämtliche Hotels und Albergos durch. Angeblich wohnte nirgends ein Fritz Stern aus Köln. Er 34
sprach mit den Büros die Wohnungen und Häuser vermieteten. Zweimal hatte er nicht den geringsten Erfolg. Das dritte gab ihm einen Tip. »Ich führe den Mann nicht in meinem Buch«, erklärte der freundliche Italiener, »aber wenn Sie sicher sind, daß Signor Stern in Garibaldi ist, haben Sie noch eine Chance an den Campingplätzen.« Urban fragte sich, warum er nicht selbst darauf gekommen war. Schon beim ersten in Richtung Lido di Pomposa hatte er Glück. Beim Platzwart war ein Fritz Stern mit Wagentyp und Kennzeichen eingetragen. Stern war ohne Begleitung gekommen. Urban suchte den weißen Record Caravan und fand ihn eingeklemmt zwischen einem Wohnwagen und einem Zelt. Der Wohnwagen konnte dem Feldwebel nicht gehören. Sein Opel hatte keine Schleppkupplung. Außerdem führte der Wohnwagen Hamburger Kennzeichen. Also wohnte Stern in dem Hauszelt nebenan. Die Reißverschlüsse waren zu, weit und breit niemand zu sehen. Urban ging hinein, schaute sich kurz um. Neben dem Feldbett stand ein Klapphocker. Darauf ein Radio und mehrere Zeitungen. In einem Reiseführer klemmte ein Foto. Es zeigte einen Mann und eine Frau lachend im Badeanzug. Die Frau war mollig und blond, der Mann hager und ebenfalls blond. Hinten stand: Fritzi und Fritz. September. Verregnet, aber glücklich. Das mußte schon einige Zeit her sein. Denn in diesem Jahr war der September ziemlich heiß. Stern war diesmal allein nach Italien gefahren und möglicherweise nicht mehr ganz so glücklich wie im letzten Jahr. Während Urban noch überlegte, was ein Mann ohne Begleitung tat, wenn Baden verboten war, sah er in der Ecke einen roten 5-Liter-Plastikkanister. Er schraubte ihn auf. 35
Drinnen schwappte Benzin. Urban schnupperte ausgiebig. Es stank zwar nach Benzin, der Farbe nach mußte es aber Zweitaktergemisch sein. Für den Opel taugte das nicht. Vermutlich besaß Stern ein Boot mit Außenbordmotor. Urban blinzelte durch das schmale Fliegengitter. Der Opel hatte keinen Dachträger. Stern führte sein Boot also im Inneren des Kombi mit. Dann mußte es sich um ein zusammenlegbares Schlauchboot handeln. Urban wollte das Zelt schon wieder verlassen, als er durch die Leinwand einen in die Länge gezogenen männlichen Schatten wahrnahm. Schon wurde er angeraunzt. »Was tun Sie da?« Urban trug Straßenkleidung, dunkle Gabardinehosen, hellblaues Hemd, Krawatte und die leichte Sommerversion eines Clencheck-Sakkos. Das machte ihn unter den Halbnackten verdächtig. Er schaute sich den Mann an. Er war behaart, mit Bauch und hatte dunkles Haar. Stern war das nicht. »Bist auf Klauen aus, Spaghetti«, nahm ihm der andere das Wort aus dem Munde. »Sieht man mir das an?« »Das besagt gar nichts, Spaghetti, wie du aussiehst.« Plötzlich stutzte der Zeltnachbar. »Deutscher auch noch. Jetzt begaunern einen schon die eigenen Landsleute.« »Das geht nur Stern und mich was an«, antwortete Urban. »Ach, Sie kennen sich.« »Wo ist Stern?« »Wenn ein Zelt verschlossen ist, dann ist der Besitzer nicht da. Sollten Sie aber wissen.« »Oder er schläft«, meinte Urban. »Deshalb kam ich herein. Oder denken Sie, ich nehme was weg von dem Plunder?« Der andere steckte jetzt zurück und bot Urban eine Zigarette an. Urban lehnte ab, es war nicht seine Marke. 36
»Wo finde ich ihn?« »Wird mit dem Boot raus sein. Kommt wohl erst bei Dunkelheit zurück.« »Danke«, sagte Urban und ging. Jedes weitere Wort hätte ihn gezwungen seinen Besuch zu begründen und seine Identität zu lüften. * Bob Urban wartete bis 22 Uhr auf die Rückkehr von Feldwebel Fritz Stern. Als dann noch immer kein Licht im Zelt brannte, suchte er sich ein Hotelbett, schlief fünf Stunden und wanderte am frühen Morgen wieder zum Strand. Sterns Zelt war verschlossen und feucht von Nässe. Durch das Fliegengitter fiel Urbans Blick auf einen leeren Schlaf sack. Er schlenderte zu der Stelle, wo die Boote der Campingleute lagen. Er sah nur Kanus, Katamarane, zwei Kunststoffjollen und ein Schlauchboot in Weißrot, japanische Kaufhausware ohne Motorspiegel. Weit drüben über der dalmatischen Küste kam die Sonne heraus. Urban spazierte den Strand entlang und sah dann im schrägen Licht etwas treiben. Für ein verlorengegangenes Gummitier war es zu groß, für eine Obstkiste nicht flach genug, für Treibholz wieder zu glatt und ebenmäßig geformt. Das schwarze Ding trieb in der Strömung nach Süden. Von einem Sandhügel aus hatte Urban besseren Überblick. Es handelte sich um ein Schlauchboot mit Heckmotor, vielleicht einskommafünf PS. Am Boden lag etwas Helles. Trotz Badeverbotes ging er rasch aus dem Anzug. Schwimmhose hatte er keine dabei. Aber weit und breit war niemand zu sehen. Beherzt rannte er in die lehmigbraun gischtende Dünung, fest entschlossen so wenig wie möglich 37
von der verseuchten Brühe in die Augen kommen zu lassen. Zügig schwamm er hinaus, hatte dann aber Mühe das Boot einzuholen. Trotz des geringen Tiedenhubs war die Strömung bei einsetzender Ebbe beachtlich. Schließlich konnte er eine der Leinen fassen und das Boot an Land ziehen. Noch ehe er es auf dem Trockenen hatte, sah er die Bescherung. Im Boot lag ein Toter. Kein Zweifel, es war der Mann auf dem Foto neben Fritzi. Urban brauchte Sterns Lage kaum zu verändern, um zu sehen, daß der Feldwebel weder eine Schuß- noch eine Messer- oder Schlagverletzung hatte. Woran war er gestorben? Urban hob seinen linken Arm an, um die Steifheit zu prüfen. Die Leichenstarre war schon eingetreten. Demnach war er mindestens sechs Stunden tot. Genaue Angaben ließen sich nur durch Verdauungsanalyse des Mageninhaltes und komplizierte Temperatur-Rückrechnung vornehmen. Dazu sah sich Urban nicht in der Lage. So etwas war nur mit perfekter Ausrüstung zu ermitteln. Aber etwas anderes konnte er. Nämlich gut sehen. Am Rande der Achselbehaarung entdeckte Urban einen roten streichholzkopfgroßen blauumrandeten Punkt. Er rührte von einem Einstich her. Da sich Bienen, Hornissen oder Wespen selten aufs Meer hinauswagten, kamen sie für diesen Stich nicht in Frage. Urban suchte nach Anzeichen für Vergiftung. Der Tote hatte auffallend dunkle Lippen mit Resten von getrocknetem Schaum dazwischen. Aus der Falte zwischen Gummiwulst und Bootsboden förderten Urbans suchende Finger ein winziges Stück gelblich weißen Plastikmaterials zu Tage. Es hatte die Form eines Fahrradventilgummis, verjüngte sich aber nach oben und war an einem Ende verschlossen. Das offene Ende trug ein Schraubgewinde. Kann, überlegte Urban, das Verschlußstück einer Einwegspritze sein. 38
Die Täter machten die Spritze erst im letzten Moment gebrauchsfertig. Nach der tödlichen Injektion nahmen sie die Spritze mit, aber die Zeit, um den Plastikverschluß zu suchen, die hatten sie nicht mehr gehabt. Urban brachte das zentimeterlange Kunststoffstück an sich. Den toten Feldwebel Stern mußte er seinem weiteren Schicksal überlassen. Eine Erklärung über das manipulierte Hydraulikventil würde er nie mehr abgeben können. Wahrscheinlich hatte man ihn umgebracht, damit er für immer schwieg. Urban kleidete sich an, ging zur Straße hinauf, wo er seinen BMW geparkt hatte, und fuhr Richtung Ferrara. Von unterwegs aus rief er die Gendarmeriestation von Lido Garibaldi an. Ohne seinen Namen zu nennen. 4. Lio Tsou war eine bildschöne Chinesin und seit neun Jahren eine echte Aufsteigerin. Damals hatte die Kulturrevolution wieder einmal alle Schanghaier Universitäten betroffen. Seit Monaten gab es keine Vorlesung mehr. Die Studentinnen der Medizin wurden einkassiert und als Krankenschwestern nach Hanoi geschickt. Denn in Vietnam herrschte Krieg. Lio Tsou, eben Neunzehn und nicht gerade ängstlich, hatte sich zu einem Frontlazarett gemeldet. Gewiß nicht in der stillen Hoffnung, daß sie bei einer Offensive den amerikanischen Truppen in die Hände fallen könne. Als es dann wirklich soweit kam, hatte sie nichts dagegen. Auf dem Jeep eines GI fuhr sie mit nach Saigon. Dort entdeckte sie ihr Sprachtalent. Binnen vier Wochen konnte sie einigermaßen gut Englisch. Und weil sie kein Kind von Traurigkeit war, ging sie in einen Army-Nightclub als Barfrau. 39
Eines Abends dachte sie, so gut zwitschern wie diese Plinse aus Hollywood kannst du schon lange. Zugegeben, sie war betrunken gewesen, trotzdem schmiß sie dem Publikum eine Version von ›Day by Day‹ um die Ohren, daß die Amis ganz wild auf eine Dreingabe wurden. Lio lieferte sie ihnen. Die Amerikaner fanden ihre exotische Ausstrahlung hinreißend. Dazu kam eine außerordentlich vorteilhafte Figur und Lios Wille zum Erfolg. So wurde sie Barsängerin. Weil sie sich jetzt ihre Liebhaber aussuchen konnte, verdiente sie einen Haufen Dollar. Mit den Dollars ging sie auf den schwarzen Markt und machte nur Geschäfte auf der Basis eins zu zehn. Als sich die Niederlage abzuzeichnen begann, gab sie dem Werben eines französischen Künstleragenten nach und ließ sich für einen Club in Paris verpflichten. Ihre Dollars waren dort Stück für Stück noch sechs neue Franc wert. Mit dem, was sie mitbrachte und dem, was hinzukam, kaufte sie sich in Nizza eine Wohnung. Sie kostete damals nur tausend Franc pro Quadratmeter. Bald nahm der Aufstieg von Lio Tsou kuriose Formen an. Sie machte einen Film, schrieb sogar ein Buch und wurde ein begehrtes Fotomodell. Bei ihren Männerbekanntschaften zählte nur, daß die Liebe klein, die Abfindung aber groß war. Binnen kurzem besaß sie so wertvollen Schmuck, daß sie die Originale im Banksafe aufbewahrte und nur die Kopien trug. Doch von einem Tag zum anderen drehte sich das Blatt. Europas Wirtschaft funktionierte nicht mehr so gut, die Gewinne wurden kleiner, die Verehrer sparsamer. Außerdem wandelte sich der Publikumsgeschmack. Keiner wollte noch farbige Modelle in den Magazinen und Modeblättern sehen. Lios zweites Buch, ein Roman von der 40
Liebe eines Chinesen zu einer Schwedin wurde ein Mißerfolg. Der Verlag blieb auf den Büchern sitzen. Jetzt, mit siebenundzwanzig Jahren, war Lio auch in den Clubs nicht mehr gefragt. Auf Gesang und Grazie kam es dort nicht mehr an. Das Publikum wollte nacktes Fleisch sehen. Lio Tsou verbrauchte erst ihre Zinsen, dann griff sie das Kapital an. Sie verkaufte ihren Schmuck, später ihre Antiquitäten. Es war eine Menge Geld, aber sie hatte verlernt, sich einzuschränken. Sie lebte weiter auf großem Fuß, fuhr einen Riesenschlitten, hielt sich ein Motorboot und gab Partys. Manchmal dachte sie, verdammt, wärst du doch in Saigon geblieben. Du könntest heute Ärztin in China sein, vielleicht auf einem elenden Dorf, aber du hättest eine Aufgabe. – Das war die Zeit, in der Lio Tsou zur Absteigerin wurde. Aber sie gab nicht auf. * Für eine Idee pro Tag war Lio Tsou immer gut, auch wenn sie nur ihr Make-up veränderte, ihre Frisur oder aus zwei alten Kleidern ein anderes nähte. Manchmal erfand sie ein neues Kochrezept und verkaufte es an ein FeinschmeckerJournal. Doch an diesem Mittwoch war ihre Fantasie wie ausgetrocknet. Gegen zehn Uhr rief ihre Bank an: Lio lag noch im Schlummer, da behauptete dieser Prokurist doch, daß sie pleite sei. »Was, bitte, bin ich?« fragte sie mit ihrer hübschen Stimme, die an das Zwitschern von Nachtigallen erinnerte. »Wie darf ich das verstehen?« »Ihr Konto, Madame, ist heillos überzogen.« »Die paar tausend Franc.« 41
»Es sind neunzigtausend mittlerweile und heute liegt wieder ein Scheck über siebentausend vor.« »Sie haben doch Sicherheiten«, entgegnete Madame Tsou. »Welcher Art, bitte, Madame?« »Nun, meinen Wagen.« Der Bankmensch lachte abfällig. »Gnädigste, ein zweiundsiebziger Chevrolet ist nur noch den Schrottpreis wert.« »Er hat vierzigtausend gekostet«, erwiderte sie. »Heute erlösen Sie gerade hundert Franc dafür, Madame müssen ihn aber noch auf eigener Achse zum Schrottplatz fahren.« Sie dachte nach. »Und meine Wohnung?« »Wurde mit einer Hypothek belastet, Madame.« »Sie ist mehr wert.« »Sie vergessen die aufgelaufenen Zinsen und Zinseszinsen.« »Man sagte mir, ich könnte eine halbe Million dafür bekommen.« »Dann versuchen Sie es bitte, Madame«, riet der Bankbeamte. »Wir wären glücklich, wenn Sie die Hypothek ablösen könnten. Aber angesichts der Lage auf dem Immobilienmarkt mache ich mir keine großen Hoffnungen. Jetzt im Herbst geht doch kaum etwas.« Lio wurde jetzt trotzig. »Überlassen Sie mir das.« Der Bankbeamte räusperte sich. »Wann dürfen wir also mit einer größeren Einzahlung rechnen?« »Morgen«, zischte sie und legte auf. Sie kramte nach Zigaretten, steckte sich eine an und goß den Rest Rotwein aus der Flasche ins Glas. Sie wollen nur deine Wohnung billig schlucken, überlegte 42
sie wütend. Alles Halunken, alles Gangster. Nichts desto weniger sah sie ihre Lage deutlich vor Augen. Es mußte etwas geschehen. Sie mußte sich sanieren, sonst landete sie eines Tages mit dem Pappkarton in der Absteige. Noch einmal las sie die Zeitungen vom Vortag. Schon gestern war ihr beim Überfliegen des ›Soir‹ eine Idee gekommen: Marschall Xie, der alte Hexenmeister, war also in Athen abhanden gekommen. Wer ihn kannte, wer näher Bescheid wußte, den wunderte das nicht. Offenbar wußte man in Europa kaum etwas über ihn. Man hielt ihn für einen hervorragenden Strategen. Aber das war nicht alles. Vielleicht ließen sich gewisse Insider-Kenntnisse, über die sie verfügte, zu Geld machen. Ein paar Dollar, so um zweihunderttausend, hätten ihr über den Berg geholfen. Lio Tsou überlegte, wen sie dabei vor ihren Karren spannen könnte. Sie war so klug wie schön. Und sie hatte Freunde, die immer noch zu einem Geschäft mit ihr bereit waren, wenn es sich lohnte. Und weil sie unter Zeitdruck stand, fand sie auch einen Weg. Sie rief einen Mann in Paris an. * Fu Xang, ehemaliger Hongkong-Chinese, betrieb im Norden der Stadt eine Großwäscherei. Nebenbei arbeitete er für die Amerikaner, für Peking wie für Taiwan und pflegte emsig Kontakte. Lio hatte ihn anläßlich der Feier zum chinesischen Neujahrsempfang in Cannes kennengelernt. Nach den üblichen Höflichkeiten kam sie zur Sache. »Ich bin in Not, mein Freund«, gestand sie. 43
»Ich weiß«, sagte Fu Xang, »es kam mir zu Ohren.« »Du kennst unser Sprichwort«, fuhr die schöne Lio fort, »Für einen Durstigen sieht die ganze Welt wie eine Wüste aus.« »So schlimm steht es mit dir, mein Schmetterling?« Es war chinesische Sitte keinen Menschen um Hilfe zu bitten. Man trug ihm seine Probleme vor und wartete, bis er ein Angebot machte. Nachdem ihm das Ex-Playgirl die Lage geschildert hatte, fragte der Geschäftsmann: »Ist dir mit fünftausend Franc gedient?« »Ich danke für deine Güte«, antwortete Lio, »sie beweist mir deine Treue. Aber nicht das Zehnfache davon würde mir nützen. Was ich brauche, ist das Gewicht deiner Worte, Fu Xang.« Der Mann in Paris verstand. »Sprich deutlicher, meine Freundin.« »Was mir fehlt, ist der Kontakt zu einem Diplomaten der Botschaft.« »Taiwans oder Pekings?« Sie lachte hell wie eine Glocke. »Taiwan ist zwar reich, aber nicht wichtig genug.« »Und Nationalchina ist wichtig, aber nicht sehr reich.« »Zweimal hunderttausend Dollar wird man schon haben.« »Gewiß, wenn es Nutzen bringt.« »Oder Schaden abwendet«, ergänzte Lio Tsou. »Und was soll ich dem Mann berichten?« wollte Fu Xang von ihr erfahren. Lio atmete tief. Es war durch den Draht bis Paris zu hören. »Sag ihm, nein, deute ihm an, daß es jemanden gibt, der die Hintergründe für die Entführung von Marschall Xie sehr wohl kennt. Eine Person, die vor Jahren an der Universität in Peking seine Schülerin war.« »Du vermutest nur«, verbesserte sie ihr Freund in Paris. 44
»Ich weiß es«, beharrte die schöne Chinesin, »denn es ist kein anderer Grund denkbar. Bitte sage dem Mann von der Botschaft, daß ich für ein Geschenk von zweimal hunderttausend Dollar schweigen werde. Dafür nehme ich es mit ins Grab. Sollten sie aber meine Bitte ablehnen, dann kann ich nicht verhindern, daß es der deutschen Regierung und den Reportern der großen Zeitungen bekannt werden wird.« »Und du willst mir das Geheimnis nicht verraten, meine Liebe?« fragte Fu Xang listig. Sie überlegte, wie sie ihm den Wunsch versagen könne, ohne die gewohnte Höflichkeit außer acht zu lassen. »Es stellt mein einziges Kapital dar«, erklärte sie, »und es ist gefährlich, davon zu wissen. Du würdest dein Leben einer Bedrohung aussetzen, Fu Xang, wenn du davon Kenntnis hättest. Aber wenn es dir gelingt, diesen Kontakt herzustellen, stehe ich hoch in deiner Schuld.« Er war ein Mann und wußte, wie das zu verstehen war. »Ich werde mir Mühe geben«, versprach Xang, »schon um deiner Zuneigung willen. Denn wie lautet doch eines unserer Sprichwörter: Für einen liebenden Mann sieht die ganze Welt wie dein Mund aus. Wenn wir Erfolg haben, Lio, darf ich dich dann bei mir in Paris zur Teestunde erwarten?« »Oder du kommst zu mir nach Nizza.« »Das eine oder das andere«, erwiderte Fu Xang, seines Erfolges sicher. Schon einen Tag später meldete sich ein Mann telefonisch bei Lio Tsou. Er sagte, er käme aus Paris, er erwarte sie am Flughafen und sei bereit, mit ihr zu verhandeln. »Nicht am Flughafen«, antwortete Lio Tsou alles mögliche befürchtend, »wir treffen uns in der Bar des PalaceHotels. In einer Stunde.« Der Anrufer stimmte zu. Da er chinesisch gesprochen hatte, reines Mandarin, war Lio sicher, daß er ein Abgesandter der Botschaft war und über entsprechende Vollmachten verfügte. 45
5. Dreiundzwanzig Stunden später flog Bob Urban nach Athen. Der Alte hatte ihm die Notwendigkeit mit simplen Worten begründet. »Wenn es brennt, schickt man die Feuerwehr. Jetzt brennt aber sogar die Feuerwehr. Also muß einer hin, um die Feuerwehr zu löschen.« »Dann hat sie entweder kein Wasser im Schlauch«, sagte Urban, »keine Courage oder Rauchvergiftung.« »Alles zusammen«, erklärte der Oberst. »Wir beorderten Nummer vierzehn von Limnos herüber. Erst konnte sein Helikopter die Bohrinsel wegen Nebels nicht finden, dann ließ ihn die griechische Kripo nicht in die Villa. Nachdem sich Xies Verschwinden herumgesprochen hatte, sperrten sie das ganze Viertel ab. Als Nummer vierzehn ohne Genehmigung eindrang, nahmen sie ihn fest. Nun sitzt er, und der Anwalt versucht ihn gegen Kaution herauszupauken.« »Und es brennt weiter.« »Insofern, als der Marschall verschwunden bleibt und bis jetzt kein Lebenszeichen von sich gab. Unsere Telefone in Athen, in Bonn und hier sind pausenlos besetzt, für den Fall, daß Lösegeldforderungen eintreffen.« »Lösegeld«, murmelte Urban kopfschüttelnd, »das ist doch kein Fall von Kidnapping, den sich irgendeine Gangsterclique ausgedacht hat.« »Sondern?« »Da steckt mehr dahinter. Die Sache hat Dimension.« »Aber, zum Teufel, in welche Richtung?« »Die werden den Ballon schon noch aufblasen«, befürchtete Urban, »dann erkennen wir seine Farbe und wohin er fliegt.« Urban legte sich auf das Ledersofa. Inzwischen wurde die BND-Cessna startklar gemacht. 46
Im Keller arbeiteten Stralmans fleißige Laborwichtel mit Hochdruck an der Herkunftsbestimmung des Plastikstücks aus dem Schlauchboot. Als die zweimotorige BND-Maschine von Riem klargemeldet wurde, telefonierte Urban gerade mit der Technischen Abteilung. »Es handelt sich um eine Abschlußkappe aus PVCKunststoff, Spezifikation für Einwegspritzen, halb flexibel«, übermittelte ihm Professor Stralman, Leiter der BNDForschung. »Der thermoplastische Bereich reicht von 60 Grad minus bis 60 Grad plus.« »Also tropen- und polartauglich.« »Ungefähr.«. »Was enthielt die dazugehörige Spritze?« »Um das festzustellen, benötigen wir wenigstens ein tausendstel Gramm des Inhaltes. Wir gingen verdammt sorgfältig vor, aber im Verdünner blieb nicht eine Spur davon zurück.« »Wer stellt solche Spritzen her?« »Dutzende von Zulieferern für die Arzneimittelindustrie«, lautete die Antwort. »Danke«, sagte Urban. »Vielleicht fällt Ihnen noch etwas dazu ein. Bin übermorgen aus Athen zurück.« Bevor er zum Flugplatz hinausfuhr, winkte ihn der Chef noch einmal in die Operationsabteilung. »Sie wissen, worauf es ankommt, Nummer achtzehn.« »Keine Ahnung.« Sebastian kannte seinen Mann. Wenn sich Urban schamlos ausgenutzt und rigoros eingesetzt fühlte, dann machte er einen Igel. »Noch etwas«, gab ihm der Alte mit auf den Weg. »Betrifft den Marschall. Er spricht fabelhaft deutsch.« »Ich auch.« »Sie sind aber kein Chinese.« 47
»Euer Kuli bin ich schon«, bemerkte Urban. »Das ist die Vorstufe zum Chinesen.« »Marschall Xie gab vor, Deutsch im Selbststudium aus Goethes Faust erlernt zu haben. Angeblich fand sein Vater bei einem im Boxeraufstand gefallenen Matrosen ein Reclam-Buch. Durch Vergleich mit der chinesischen FaustAusgabe hat er sich angeblich unsere Sprache angeeignet.« »Dann lerne ich Klavierspielen aus der MozartBiographie«, entgegnete Urban. »Wir gingen der Sache natürlich nach.« »Geschenkt«, sagte Urban. »Sie stellten dabei fest, daß es um neunzehnhundert noch gar keine Faustübersetzung ins Chinesische gab.« »Auf diese Idee kam noch keiner«, erwiderte der Alte voll Bewunderung. »Wir stellten etwas ganz anderes fest. Xie war schon einmal in Deutschland. Vor fünfzig Jahren. Er studierte in Tübingen.« »Tübingen?« fragte Urban erstaunt. »Dachte, er ist Marschall, Militärtheoretiker, ein strategisches Genie. Wo in Tübingen kann man auf General lernen?« »Er studierte Medizin.« »So ein bißchen nebenbei?« »Nein, mit Abschluß. Als Bester seines Jahrgangs. Was ist besser als summa cum laude?« »Cum Lorbeerkranz«, murmelte Urban. »Ein Doktor ist er also auch noch. Will Ihnen was sagen, Großmeister, Ihr kleines gelbes Männchen mißfällt mir von Minute zu Minute mehr oder weniger.« Das war vor drei Stunden gewesen. Jetzt fuhr Urban im Wagen des Athener BND-Residenten vom Flugplatz zur Innenstadt.
48
Die Polizeisperre um das Gästehaus am Zappion-Park war aufgehoben worden. Dafür schrieben jetzt alle Zeitungen von der Marschallentführung, und Reporter lauerten in der Amalias Avenue. Urban befaßte sich mit der Rückseite des Villenanwesens. Der Athener BND-Resident begleitete ihn. »Das Haus interessiert dich wohl gar nicht?« fragte der levantinisch aussehende Berliner. »Wozu?« sagte Urban. »Türen, Fenster, Gitter sind selbst für einen kleinen Einstiegdieb nichts als Fuzzikram. Ich möchte wissen, wie es weiterging, als sie ihn aus dem Haus geschafft hatten.« »Falls er nicht freiwillig mitkam.« »Ein alter Mann mit Gicht?« bemerkte Urban und kniff ein Auge zu. Zunächst suchte er noch nach Fahrzeugspuren, auch wenn er ganz und gar nicht an einen Autotransport glaubte. Dieser Coup hatte mehr als Straßenverkehrsformat. Leider war das Parkgelände jenseits der Villenmauer von Dutzenden von Polizisten- und anderen Stiefeln zertrampelt worden. »Fand die Kripo etwas?« erkundigte sich Urban beiläufig. »Ja. Nummer vierzehn, deinen Kollegen.« »Wann kommt er frei?« »Die lassen sich Zeit. Sie behaupten, er sei ein deutscher Geheimagent.« Der Resident grinste. »Ist natürlich Unsinn.« »Die Kripo fand also nichts.« »Sie behauptet es.« Zwischen der Mauer und einem rasenfreien Viereck, das als Kinderspielplatz diente, lagen etwa achtzig Meter. Das Viereck war von Blumenbeeten und Rosenbüschen begrenzt. »Rosenbüsche um einen Spielplatz«, schimpfte Urban, »der Gartenarchitekt haßt entweder kleine Kinder oder er weiß nicht, wie Dornen pieken. Da reißt sich doch jeden Tag einer beim Herumtoben die Pelle auf.« 49
Urban blieb stehen und deutete zu Boden. »Was sind das für Abdrücke?« »Hier stand eine Wippschaukel.« »Haben sie sie kaputtgeschaukelt?« Urban ging in die Hocke und visierte die zwei geraden, im trockenen Erdreich parallellaufenden, besenstieldicken Linien ab. »Länge drei Meter. Abstand auch drei Meter. Muß eine verdammt große Schaukel gewesen sein. Mindestens eine Tonne schwer.« Urban betastete das Erdreich zwischen den Abdrücken. Ungefähr in der Mitte fand er die festgetrampelte Kiesschicht klebrig. »Hundescheiße«, meinte sein Kollege. »Ist nicht so schwarz. Stinkt auch anders.« »Wonach stinkt es denn?« Urban hielt ihm die Finger hin. »Nach Hund, der in einer Tankstelle wohnt.« »Und täglich Altöl schlabbert«, ergänzte Urban. In einem Papiertaschentuch nahm er etwa hundert Gramm davon mit. »Was denkst du?« fragte der BND-Resident, der offiziell Exporteur von griechischem Wein und Konserven war. »Tropföl.« »Die Schaukel war nicht motorisiert.« »Dann schaukelte hier eben etwas anderes.« »Geh, mach’s nicht so spannend.« »Die Abdrücke, das Öl, sind Spuren eines Hubschraubers«, schätzte Urban. Weil ihre Anwesenheit den Passanten allmählich auffiel, gingen sie rasch weiter. »Wir werden das Öl analysieren«, sagte Urban, »und feststellen, ob es Motor- oder Rotorgetriebeöl ist, oder beides vermischt. Gewiß finden wir auch Bestandteile von Flug50
benzin oder Kerosin. Damit und anhand der Kufenbreite kriegen wir das Helikoptermodell. Das Landegestell eines Hubschraubers ist so typisch wie Radstand und Spur eines Personenkraftwagens. Dann wissen wir, ob er einen Kolbenmotor oder eine Turbine hatte, ob er alt war oder neu.« »Daraus zieht ihr Rückschlüsse auf die Ausrüstung der Entführer.« »Und auf ihre finanzielle Potenz.« »Oder die Spuren stammen doch von der Schaukel.« Urban blieb stehen, steckte sich eine MC an, schaute sich um, schaute hinauf in den blauen griechischen Himmel. »Dann möchte ich nicht in meiner Haut stecken«, sagte er. * Für den Rückflug nach München war es schon zu spät. Außerdem hätte Urban gern in das Untersuchungsprotokoll der Athener Kripo Einblick genommen. Er wußte nur noch nicht, wie er es anstellen sollte. Er ließ sich ins Olympic Palace Hotel bringen und nahm dort ein Bad. Es klopfte. Das Zimmermädchen brachte noch zwei Handtücher. Urban rubbelte sich trocken, da klopfte es wieder. Ein Mann stand im Zimmer, der kaum zum Hotelpersonal gehörte. Er trug einen billigen zu blauen Anzug mit Nadelstreifen, billiges Hemd und billige Krawatte. Im Mund kaute er eine billige Zigarre. Beim zweiten Hinsehen erkannte ihn Urban. »Konstantinou Vassileos!« rief Urban. »Welche Ehre.« Der Besucher deutete mitten in sein Spitzmausgesicht. »Welche Nase, sollten Sie sagen, mein Freund. Ich roch Ihre Anwesenheit geradezu. Ich rieche Sie immer.« Der Polizeiinspektor schaute sich nach einem Ascher um, 51
obgleich seine Zigarre gar nicht brannte. Aber Urban kannte ihn. »Whisky ist dort in der silbernen Flasche.« Urban ging ins Bad und warf dem Kriminalbeamten einen von den Plastikzahnbechern zu. Vassileos bediente sich. »Warum riefen Sie mich nicht an, Roberto?« »Ihr habt schon einen von uns eingelocht.« »Das würden wir bei dem großen Dynamites nicht wagen.« »Er entkäme ja doch wieder, meinen Sie.« Der Beamte stützte sich aufs Bett und trank langsam. »Erfolg gehabt?« Urban schlüpfte in Hemd und Hose. »Sehen Sie Marschall Xie irgendwo? Ich sehe ihn nicht.« »Vielleicht haben Sie ihn im Koffer versteckt.« »Sie Witzbold«, antwortete Urban. »Nach zwei Tagen noch eine Spur zu finden, das gelingt nicht mal Gottvater persönlich.« Urban reichte dem Inspektor Feuer für seine Zigarre. Der immer ein wenig ungewaschen wirkende Vassileos hüllte sich in Qualm und Alkoholdunst. »Was entdeckten Sie am Spielplatz, Dynamites?« »Lauerten Sie hinter den Büschen?« »Sie kratzten etwas von der Erde und schoben es in ein Taschentuch.« »Nur ein wenig ölgetränkten Dreck.« »Vom Drehbolzen der Wippschaukel«, der Grieche winkte ab. »Wir setzten natürlich Hunde ein und ließen sie an Xies Badehandtuch schnuppern. Mehr von ihm war leider nicht vorhanden. Die Hunde verfolgten die Spur durch den Park bis zum Spielplatz. Xie muß tatsächlich eine Weile geschaukelt haben.« »Dachte, die Schaukel sei in Reparatur.« »Ach ja, richtig.« 52
»Bestieg er vielleicht einen Hubschrauber?« »Mitten in der Nacht, ohne daß jemand vom Lärm erwachte?« »Es sind immerhin neunzig Meter von der Villa bis zum Spielplatz. Dazwischen stehen Bäume, und Hecken. Der Landeplatz ist groß genug.« »Und die Kufenabdrücke sind es auch«, ergänzte der Beamte. Er hatte sich wohl eine ähnliche Theorie zurechtgelegt. Plötzlich stand er auf und vollführte die Armbewegungen eines startenden Vogels, was sehr komisch aussah. »Der Himmel ist weit«, rief er. »Und das Meer ist nah.« »Und es gibt tausend Inseln rings um Hellas.« »Kann ich eine Kopie Ihres Berichtes bekommen, Vassileos?« fragte Urban. »Was darin steht, wissen Sie ohnehin.« »Erbärmlich wenig«, konstatierte Urban. »Los, trinken wir noch was.« »Laden Sie mich lieber zum Essen ein.« Sie gingen hinunter in die Plaka, in eines der prima Freßlokale, die nur den Einheimischen bekannt waren. In diesen zwei Stunden, in denen sich der hungrige, schlechtbezahlte Inspektor Vassileos den Magen mit Fisch, Hammelragout und Schafskäse, mit Wein und einem Mokka füllte, konnte Bob Urban für seinen Kollegen Nr. 14 mehr tun, als der Botschafter auf dem offiziellen Weg. Vassileos wollte dafür sorgen, daß Nr. 14 am nächsten Tag frei kam. Nur was den Auftrag betraf, war Urban nicht einen Schritt weitergekommen. In seinem klapprigen Datsun setzte ihn Vassileos spät vor dem Hotel ab. 53
Es war heiß gewesen, in dem Restaurant, fast dämpfig. Sie hatten nahe bei der Küche gesessen. Urban spürte auf der Haut einen Film aus Knoblauch und Hammelfett. Also duschte er noch einmal. Er drehte gerade von heiß auf kalt, als wieder jemand hereinkam. Wird das Zimmermädchen sein und den Schlafanzug herauslegen, dachte er. Eine ziemlich ungenierte Person war das. Sie kam direkt ins Bad. Zuerst sah Urban durch den Dampf nur ihre Beine. Sie trug schwarze Nylons und schwarze Schuhe. Der Rock war ein wenig kurz. Dann sah er ihre Bluse. Sie hatte kaum Busen. Und das Haar war zu blond. Eine Perücke. Das Mädchen hatte so wenig weibliche Züge wie weibliche Knie. Außerdem hatte es einen Revolver in der Rechten. Einen kurznasigen fünfschüssigen 45er. Das Mädchen war ein Kerl. In Zimmermädchenmaskerade hatte er sich Eingang verschafft. Am meisten aber faszinierte Urban, was der Bursche in der Linken hielt, nämlich eine betriebsbereite Einwegspritze aus weißlich gelbem Plastikmaterial. Das Ding war schon entschärft. Ohne Abdeckung streckte es ihm seine gefährliche Nadel entgegen. Inhalt der Spritze mindestens fünf Kubikzentimeter. Urban tat, was ein nackter Mann gegen solche Streitmacht nur tun konnte. Blitzschnell drehte er die Mischbatterie auf heiß. Gleichzeitig faßte er nach oben, zog die Brause vom Halter und richtete den kräftigen Strahl gegen den Killer in Frauentracht. Dem hatte die Sekunde genügt, um bis auf Tuchfühlung heranzurücken. Urban spürte den Druck der Waffe am Bauch. Er sah die Spritze, das tödliche gelbe Ding, dessen Bruder schon Feldwebel Stern erledigt hatte, näherkommen. 54
In seinem Kopf heulten die Alarmsirenen. – Diese Leute leisteten ganze Arbeit. Sie waren allgegenwärtig und schalteten jeden aus, der ihnen gefährlich werden konnte. Stern wurde erledigt, weil er das marode Ventil für sie in die 707 eingeschraubt hatte und im Verhör hätte aussagen können. Jetzt war er, Urban dran, weil er vielleicht eine Spur zu Marschall Xie gefunden hatte. Aber das bißchen Spur im Park war wenig gegen diesen Killer, falls er ihn lebend bekam. Urban versuchte alles, um dies zu erreichen. Aber zunächst ging es ums nackte Leben. Der heiße Strahl traf den Mann ins Gesicht. Er wich aus und schloß instinktiv die Augen. Dadurch verlor der Lauf seiner Waffe Kontakt zu Urbans Körper. Urban spürte den Druck schwinden, nützte die Zehntelsekunde und hieb seine Handkante auf das Gelenk hinter der Waffe. Der Schlag bewirkte wenig. Handkante und Ziel waren naß und glitschig. Doch der Angreifer wich zurück. Urban trat ihm in den Leib. Der Mann verfing sich im Duschvorhang. Dann schoß er. Der Knall kam gedämpft, die Kugel schlug in die Fliesen. Die Waffe entglitt der Hand. Doch die Hand mit der Spritze war noch intakt. Urban packte eines der dicken Badetücher, umwickelte seinen Arm damit und näherte sich der Spritze wie einer züngelnden Kobra. Der Killer sah im Zustechen seine letzte Chance. Irgendwo mußte er Urbans Körper treffen. Offenbar genügte es schon, ihn nur anzureißen und einen Tropfen es Giftes in den Kreislauf zu bringen. Er umtänzelte Urbans Abwehr, täuschte Angriffe vor, machte zuckende Ausweichbewegungen, links, rechts. Als er eine Lücke in Urbans Abwehr zu entdecken glaubte, stach er zu. Durch das Handtuch hindurch. Urban fühlte die Nadel auf seiner Haut. 55
Du mußt ihn daran hindern, daß er den Kolben hineindrückt, durchfuhr es Urban schockartig. Er riß den Arm hoch. Die Injektionsspritze entglitt der feuchten Hand des Gegners. Urban trat ihm mit dem Fuß in den Leib und traf. Der andere keuchte auf und versuchte sich kriechend in den Nebenraum zu retten. Auch Urban kam zu Fall. Er rutschte auf den glitschigen Fliesen aus, verfehlte die Handtuchstange neben dem Waschbecken, schlug mit dem Kopf gegen das Becken und war für einen Moment weg. Als er wieder auf den Beinen stand, folgte er der nassen Spur. Aber mehr als die blonde Perücke und die Injektionsspritze mit ihrer tödlichen Giftladung war von dem Killer nicht zurückgeblieben. Auf der Spritze stand: Made in USA. 6. Der Kurier fuhr gegen 03 Uhr morgens in Paris los, um am Abend in Nizza zu sein. Normalerweise schaffte man mit einem Citroen CX die Strecke Paris-Nizza leicht in sechs Stunden. Der Kurier mußte aber vorher nach Frankfurt. Das bedeutete siebenhundert Kilometer Umweg. Oder einen halben Tag. Trotz Nebels zwischen Reims und Metz kam der Kurier auf der Autoroute schnell durch und parkte an der Frankfurter Shanghai-Bank, wenige Minuten bevor diese öffnete. Am Schalter wies er sich aus. Sofort wurde er zur Direktion gebracht. Dort lagen für ihn zweimal hunderttausend Dollar bereit. Da die Bündel bereits in versiegelten Kuverts steckten, zögerte der Kurier, sie in seinen Aktenkoffer zu legen. »Vertrauen Sie uns nicht?« fragte einer der Bankprokuristen. 56
»Natürlich schon«, antwortete der Kurier. »Ich soll aber nicht verschlossene Umschläge übernehmen, sondern Bargeld. Und Bargeld muß ich nachzählen. Zumindest habe ich die banderolierten Pakete zu prüfen.« Der Prokurist verzog keine Miene. »Wenn es danach ginge, könnten wir auch in Zweifel ziehen, ob Sie der echte Kurier sind.« »Ich bin Chinese wie Sie«, entgegnete der kleine Herr im dunklen Anzug und der großen Hornbrille. »Schauen Sie sich die Siegel an. Es sind Staatssiegel. Wir sind ein staatliches Unternehmen.« Doch der Kurier mißachtete alle Regeln der Höflichkeit. »Es gab schon falsche Kuriere und Umschläge mit nichts als kleingeschnittenem Zeitungspapier darin«, bemerkte er. »Sie sind neu in dem Geschäft, wie?« fragten die Direktoren. »Gewöhnlich befördere ich geheime Akten zwischen unseren Botschaften.« »Dann verstehen wir allerdings Ihr Mißtrauen.« Die Umschläge wurden noch einmal geöffnet. Der Kurier prüfte den Inhalt. Es handelte sich um korrekt gebündelte, maschinell abgezählte Zehner, Fünfziger und Hunderter. Er nahm Zwischenproben vor und nickte dann. »Okay!« Danach verschloß er den Koffer und quittierte den Empfang. Wenige Minuten später war er wieder auf der Autobahn. Er fuhr Richtung Karlsruhe – Basel, um kurz vorher, in Mühlhausen, nach Frankreich abzubiegen. Vor Freiburg mußte er tanken. Auch spürte er eine erste Müdigkeit aufkommen. Also ging er in die Raststätte und trank einen Kaffee. Den Aktenkoffer nahm er mit. Er ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen. 57
Um 11 Uhr 40 fuhr er weiter. Die Sicht war jetzt klar, lie Autobahn trocken. Es wurde heiß. Der Kurier fuhr mit durchgetretenem Gaspedal. Vollgas hatte kein CX auf die Dauer gern, Sie überhitzten leicht. Daß der Motor Aussetzer bekam, konnte aber nicht an der Überhitzung liegen. Die Temperaturanzeige stand noch nicht einmal im roten Bereich. Trotzdem bewegte sich der Citroen bald nur noch ruckartig vorwärts. Nach Sekunden der Kraftlosigkeit setzte der Schub wieder ein, um nach einem deutlichen Vergaserpatschen wieder nachzulassen. Der Kurier verstand von Autos nur wenig. Er wußte, wo man Benzin einfüllte und wo der Knopf saß, mit dem man die Motorhaube öffnete. Er wußte auch, wo man Öl hineingab und Wasser. Damit erschöpften sich seine technischen Kenntnisse. Irgendwo hatte er gehört, daß man einen Fahrer sehr ärgern konnte, wenn man ihm eine Prise Zucker in den Benzintank schüttete. Es hieß, mit Zucker würde der Sprit seine Zündfähigkeit verlieren. Er hatte aber nie recht daran glauben wollen, daß so etwas funktionierte. Woran auch immer seine Reiselimousine krankte, bald ging gar nichts mehr. Der Kurier mußte hart rechts heranrollen und die Warnblinkanlage betätigen. Jetzt konnte er nur hoffen, daß der Pannendienst vorbeikam. Immer wieder schaute er auf die Uhr und rechnete. Bis 20 Uhr würde es mit Nizza wohl nichts werden. Hoffentlich nahm die Empfängerin des Geldes die Verspätung nicht übel. Nach wenigen Minuten stoppte vor ihm ein weißes Bagheera-Coupé mit Pariser Kennzeichen. Zwei Herren stiegen aus. »Wir sind zwar nicht der Pannendienst«, erklärten sie, »aber vielleicht können wir Ihnen helfen?« 58
Daß der Fahrer Chinese war, schien sie nicht im mindesten zu überraschen. Sofort kümmerten sie sich um den Citroen, öffneten die Haube, machten am Motor herum. Dann steckten sie sich Zigaretten an. »Die Maschine ist noch zu heiß«, sagte der eine, »dauert ein paar Minuten. Lassen wir ein bißchen frische Luft heran. Ich glaube, es ist die Benzinleitung, der Schlauch, der zum Vergaser führt.« »Können Sie das beheben?« fragte der Kurier besorgt um seinen dollargefüllten Aktenkoffer. Obwohl die zwei Herren aus dem Sportwagen seriös wirkten, ging er um den Citroen herum, öffnete die hintere Tür rechts und beugte sich hinein, um den Aktenkoffer, der am Boden zwischen den Sitzen stand, an sich zu bringen. In diesem Moment spürte er etwas in der Schulter. Es war ein feiner nicht besonders schmerzhafter Stich, etwa so, als habe ein Insekt zum Blutsaugen angesetzt. Überrascht drehte er sich um. Eigentlich wandte er nur den Kopf nach links. Dicht hinter ihm stand einer der Herren aus dem Bagheera und lächelte. Das Lächeln begann zu verschwimmen. Der Kurier sah es nur noch in Andeutungen, wie hinter Milchglas. »Ist Ihnen etwas?« wurde er gefragt. Da versagten seine Stimmbänder bereits den Dienst. * »Es ist das gleiche Material«, versicherte Professor Stralman, oberster BND-Techniker. »PVC-Kunststoff, Spezifikation für Einwegspritzen, halbflexibel, thermoplastischer Bereich von sechzig Grad plus bis sechzig Grad minus.« »Und die Form der Abdeckkappe?« »Identisch in Kalibrierung und Gewinde. Zollmaß, vielmehr Inches.« 59
»Made in USA«, ergänzte Urban. Der Professor nahm den wackeligen Zwicker ab. »Darüber besteht kein Zweifel, daß die Kappe aus dem Schlauchboot an der Adria die gleiche ist wie die aus Athen.« »Folglich gehörte sie auch zum gleichen Spritzenmodell«, schloß Urban. »Das steht fest.« »Und der Inhalt?« »Eine hochgiftige Cyanidkombination«, schätzte Stralman. »Die Untersuchung läuft noch.« »Wer ist der Hersteller?« »Das läßt sich erst sagen, wenn die Analyse vorliegt.« Urban ließ nicht locker. »Wie wär’s mit einer Vorhersage?« Stralman lieferte so etwas höchst ungern. Vorhersagen waren wie Horoskope meist ungenau. Mitunter waren sie aber nötig, um die Fahndung voranzutreiben. Nicht selten entschieden Stunden oder Minuten über Sieg und Niederlage. »Zyankali ist ein raschwirkendes Gift. Es lahmt das Atemzentrum. Diese Spritze hier faßt zehn Kubikzentimeter. Um einen Menschen zu töten genügen schon zwei Kubik, was sage ich, schon einer genügt. Warum also füllte man solche Mengen in Fertigspritzen ab. Dafür gibt es im Moment nur eine Erklärung. Die Spritze wird für veterinärmedizinische Zwecke hergestellt, oder für Großwildjäger.« »Um kranke Tiere damit einzuschläfern.« Der Professor hob die Schultern. »So wird es wohl sein.« Urban wiederholte noch einmal die Frage nach dem Hersteller. »Präparate dieser Art werden häufig gebraucht. Sie sind ein Massengeschäft, das jedes größere Pharmazeutische 60
Werk mitnimmt. Genauso wie jede bessere Arzneimittelfabrik ein Schnupfen- und ein Kopfwehmittel herstellt.« »Dann gute Jagd weiter«, wünschte Urban. »Dir ein ruhiges Wochenende, mein Junge«, rief Stralman hinter Urban her, als er schon in den Lift trat. Urban hatte die ernstliche Absicht, mit halber Drehzahl über die nächsten Tage zu kommen. Die Hetze nach Kalabrien, die Suche nach dem Flugzeugmechaniker, dann der Trip nach Athen und der fast großartig zu nennende Mißerfolg dort, das alles machte schlapp wie Föhnwetter. Daß sie zügig weiterkamen, dafür bestand ganz und gar keine Gefahr. Von Marschall Xie gab es weit und breit keine Spur, obwohl sich inzwischen neben Interpol und Interkrim auch die NATO-Geheimdienste in die Suche eingeschaltet hatten. Meßbar war bis jetzt nur die Konsequenz des ganzen, nämlich eine zunehmende Abkühlung des Verhältnisses zu Peking. Das Gesicht des Chefs war wie trübe verhangener Himmel mit aufziehenden Gewitterwolken. »Als wir noch unbedeutend waren«, seufzte der Alte; ging es uns gut. Jetzt verlangt man Wunder von uns.« Urban ging gleich weiter in sein Büro. Neben der Mokkatasse lag ein Blatt Papier. Darauf standen die wenigen Fakten die er hatte. - Xie entführt in Athen. - Kufenabdrücke im Park stammen von MIL-1 Hubschrauber - Baujahr 1962 - Sickeröl enthält Anteile von Benzin - Wenn ein MIL-1 landete, dann das Modell mit dem 9Zylinder-Sternmotor. Sternmotore verlieren gerne Öl - Wer benutzt heute noch diesen uralten Hubschrauber 61
- Wahrscheinlich eine nicht sehr finanzstarke Organisation - Feldwebel Stern wurde vermutlich von ihr bestochen - Stern wurde als Risiko betrachtet und mit Cyan-Injektion getötet - Mordversuch nach derselben Methode im OlympicPalace in Athen - Hersteller der Fertigspritze ein US-Konzern Ein knappes Dutzend Punkte. Das war alles. Urban rief noch einmal zum Labor hinunter. »Wie hoch war der Bleizusatz im Benzinanteil des Sikkeröls?« »Schwierige Frage.« »Im Ostblock werden als Klopfbremse andere Additives verwendet.« »Es handelt sich um westliches Flugbenzin«, sagte Stralman. »Das ist fast sicher.« »Wie sicher?« wollte Urban wissen. »Die Probe war winzig. Außerdem verdunsten die ätherischen Bestandteile bei Benzinen rasch. Daß wir überhaupt soweit kamen, grenzt an ein Wunder.« Einen Satz mit Wunder hatte Urban erst vor kurzem vernommen. Er dankte, legte auf und starrte vor sich hin, bis ihn das Rasseln des Summers weckte. Das Bundeskriminalamt war in der Leitung. Sein Wiesbadener Kollege fiel gleich mit der Tür ins Haus. »Sucht Ihr nicht diesen Xie?« »Habt Ihr ihn etwa?« »Xie ist Chinese.« »Das dürfte sich herumgesprochen haben.« »Wir dachten nur, weil auch wir einen Chinesen am Hals haben.« 62
Nun erfuhr Urban näheres. Auf der Autobahn südlich Freiburg war ein Citroen aufgefallen. Die Türen standen offen, hinten lag ein toter Chinese. Der Citroen führte Pariser Kennzeichen, eine 75er Nummer also. »Nett von euch«, sagte Urban, »aber was hat der Tote bis auf seine Hautfarbe und seiner Mongolenfalte mit Xie gemeinsam?« »Mit Xie wenig, aber vielleicht mit diesem BundeswehrFlugzeugmechaniker.« Der BKA-Mann machte es spannend. »Mir kam da ein Bericht in die Finger, er lag zufällig, in der Sammelmappe Xie, demzufolge ein gewisser Fritz Stern an der Adria durch Cyan-Injektion ermordet wurde.« »Vermutlich mit Veterinär-Cyankali.« »Na bitte. – An dem Chinesen im Citroen fand man einen Einstich am Schulterblatt rechts. Todesursache möglicherweise Atemlähmung durch Cyankalivergiftung. Sehr hohe Dosis.« Jetzt war Urban voll da. Offenbar gab es doch noch Wunder. »Name?« »Der Mann besitzt einen Diplomatenpaß. Ausgestellt von der Pekinger Botschaft in Paris. Ferner hatte er die Kopie einer Empfangsquittung über zweimal hunderttausend Dollar von der Schanghai-Bank in Frankfurt am Main bei sich und eine Adresse in Nizza. Der Herr dort heißt Lio Tsou, Eté – Appartement Nr. 39.« »Dann war der Tote wohl auf dem Weg dorthin.« »Die Straßenkarte klemmte aufgeschlagen in der Türablage. Er wollte über Belfort zur Lyoner Autobahn.« »Und das Geld?« »Keine Spur davon.« »Ein Kurier?« »Schon möglich.« 63
»Wurde die Bank oder die Botschaft in Paris verständigt?« fragte Urban. »Wir sind dabei, wollten aber vorher eure Meinung hören.« Urban überlegte kurz. »Zieht es hinaus.« »Wie lange?« Urban rechnete. »Ich kann in acht Stunden in Nizza sein. Gebt es nicht vor morgen früh weiter.« »Ich will es versuchen.« Wenn da kein Zusammenhang bestand… Ganz gleich, war die Chance auch noch so klein – er mußte hin! Aus dem gemütlichen Wochenende wurde wieder nichts. Urban spürte es messingartig auf der Zunge. * Diese Wohnung, Nizza, Eté-Appartements Nr. 39, war der absolute Hammer. Ein chinesischer Tempel von einem Hollywoodarchitekten auf anno 2000 getrimmt. Und erst diese Lio Tsou. Urban hatte einen Herren erwartet und stand einer Chinesin gegenüber, einer Prinzessin aus der MingDynastie, zierlich, Lackfrisur und Teepuppengesicht, in einem Kleid aus Goldlame, lochgeschlossen mit Stehkragen und schmaler Silhouette. Ihr Französisch war fehlerlos wie ihre Grazie. Sogar das Rrrr konnte sie perfekt sprechen. »Monsieur Urban«, wiederholte sie seinen Namen, »Sie bringen das Geschenk meiner Freunde aus Paris.« Damit das Sandelholzkästchen nicht schon im ersten Augenblick zuschnappte, nahm er den gebotenen Platz an, eine Ecke der daunenweichen Couch, und ließ sich zum Tee einladen. Der Tee war offenbar schon fertig. 64
Als ihn Madame Tsou auf dem Servierwagen hereinfuhr, schaute sie sich verstohlen um. Weil sie nicht entdecken konnte, was sie suchte, machte sie eine Andeutung. »Man sagte mir, ein Landsmann überbringe das Geschenk der Regierung.« »Er ist verhindert«, erklärte Urban wahrheitsgemäß. Bei grünem Tee und Mandelgebäck fragte Madame neugierig: »Sie haben es doch nicht etwa im Wagen gelassen, Monsieur Urban.« »Wo denken Sie hin, Madame«, antwortete er und begann mit dem Sondieren. »Zweihunderttausend Dollar.« Ihr roter Kirschmund schürzte sich zu einem Lächeln. »Sie tragen es also bei sich. Etwa am Körper?« Urban gab noch etwas Zucker in den Tee. »Ein außerordentlich schönes Stück von einem Geschenk. Finden Sie nicht auch, Gnädigste? Angesichts der Devisenknappheit der Regierung.« »Ich leiste auch etwas dafür«, wurde ihm erwidert. Urban tippte blind. »Leistung nennen Sie das?« Sie formulierte ihre Antwort fast blumig. »Dienen durch Schweigen kann oft mehr bewirken als dienen durch Arbeit.« Es ging also darum, daß sie etwas verschwieg. Demnach wußte sie etwas und die Regierung zahlte einen Haufen Dollar dafür, daß sie es für sich behielt. Darauf hob er ab. »Sind Sie denn sicher, Madame«, fuhr Urban fort, »daß Ihr Schweigedienst soviel wert ist?« »Würden Sie sonst dafür bezahlen?« Er hob beide Hände. Sie waren ringlos, wie sie sofort zu erkennen schien. »Ich würde nicht einen Cent herausrücken«, sagte er. »Aber Sie, Monsieur, sind nicht die Pekinger Regierung. 65
Dort weiß man meine Kenntnisse über Marschall Xie-LeiFeng richtig zu bewerten.« Es hing also mit Xie zusammen. Urban mußte schlucken, um sich nichts anmerken zu lassen. »Man bewertet Ihre Kenntnisse also mit zweimal Hundertausend.« »Das war meine Forderung«, erklärte die hübsche Lio Tsou. Mein Gott, dachte er, bitte laß es so weitergehen. Laß das Telefon nicht klingeln oder Besuch kommen. Er fühlte sich schon nahe dem Ziel. Sein nächster Versuchsballon startete. »Und Sie glauben, Xie wurde deshalb entführt, weil er…« »Ich bin sicher.« »Und getötet?« »Das wiederum glaube ich nicht, denn man wird sich seines Könnens bedienen wollen.« »Brauchen die Entführer es denn?« »Jeder kann es gebrauchen.« Urban lehnte sich zurück und kniff die Augen schmal. »Wir Eingeweihten kennen natürlich die enormen Fähigkeiten des Marschalls, die er neben seinem militärischen Genie noch besitzt. Aber glauben Sie denn, Madame, daß es nicht auch anderswo auf der Welt Leute seines Talentes gibt?« »Nicht auf diesem speziellen Gebiet.« Mit einem Mal wurde es ganz heiß. »Schaffte man ihn deshalb beiseite?« »Demnach«, antwortete die Chinesin nachdenklich, »müssen diese Leute über seine besonderen Fähigkeiten Bescheid wissen und sie entweder brauchen oder ihre Verbreitung fürchten. Aber da schätzt man Xie wohl falsch ein. Seine letzten Geheimnisse gab er nicht einmal seinen Schülern preis, damals auf der medizinischen Universität. Er nimmt sie lieber mit ins Grab, eifersüchtig über sie wachend.« 66
»In der Überzeugung, daß sie keinem nützen würden.« Urban riet und kombinierte und tastete sich durch den Nebel. Er war dicht daran, es zu erfahren, und tat alles, um es zu bekommen. Er glaubte, sich korrekt zu verhalten, als er sich nach dem Tee eine Zigarette ansteckte. Dazu nahm er die Streichhölzer vom Tisch. Zu spät. Als die Flamme schon brannte, merkte er, daß es Räucherhölzer waren. Erst wunderte sich Lio Tsou darüber, dann sagte sie: »Lange arbeiten Sie aber noch nicht für die Botschaft.« »In der Tat, Madame.« »Sprechen Sie unsere Sprache?« »Nur hundert Worte, Madame.« Verdammt, der Faden war gerissen. Noch der geringste Fehler, und er fand das Ende niemals wieder. Doch da war es schon geschehen. Lio Tsou bedeckte die hochübereinandergeschlagenen Beine, deren Vollkommenheit Urban im hochgeschlitzten Kleid hatte bewundern dürfen, stand auf und streckte ihm die flache Hand hin. »Sie waren mein Gast, Monsieur Urban. Erledigen wir nun das Geschäftliche. Wünschen Sie eine Quittung?« Jetzt mußte er damit herausrücken. »Tut mir leid, aber da ist leider eine Panne passiert, Madame.« Ihre Augen wurden erstaunlich rund und starr. »Sagen Sie bloß, Sie hätten das Geschenk nicht.« »Es war unterwegs, Madame«, berichtete er. »Der Kurier hob es bei der Frankfurter Schanghai-Bank ab, kam aber nicht weit. Er ist tot. Der Koffer mit den Dollars wurde nicht mehr gefunden.« Ihre Zwitscherstimme nahm den Klang von Messerstahl an. »Das ist euer Problem. Dann besorgt neue.« »Nein, Madame«, entgegnete er, »unser Problem ist das nicht. Ich bin Beauftragter des German Geheimdienstes.« 67
Sie setzte sich rückartig, bewahrte aber Fassung. »Der deutschen Regierung war Marschall Xie anvertraut. Sie konnte seine Sicherheit nicht garantieren. Jetzt ist niemand auf der Welt so sehr an Xies Wohlfahrt interessiert wie Bonn. Deshalb also dieses schändliche Theater. Ich verstehe.« Urban machte sie jetzt mit allen Tatsachen vertraut, um doch noch an das Geheimnis des Marschalls zu gelangen. »Der Pariser Geldkurier wurde auf deutschem Boden ermordet. Bei ihm fanden wir Ihre Adresse. Der Rest war Rekonstruktion.« Lio Tsou verhandelte jetzt beinhart. »Entweder meine Forderung wird erfüllt, oder ich decke Ihre schamlosen Tricks in der Öffentlichkeit auf.« Urban schlug ihr ein Geschäft vor. Er hatte Vollmacht dazu. »Wenn Ihr Wissen uns hilft, Marschall Xie zu finden, bin ich beauftragt, Ihnen für die Information eine angemessene Summe zu zahlen.« Sie schloß die Augen und atmete tief. »Kein Asiate verliert gerne sein Gesicht«, sagte sie leise, »dafür würde man mich töten.« »Das würde man in jedem Falle, Madame«, äußerte Urban sachlich. »Entweder würden es Pekings Agenten tun, oder die Killergruppe jener Organisation, die Xie in ihre Hand brachte und jetzt verhindern muß, daß man das Motiv dafür erkennt.« »Wenn ich Ihr Angebot also annehme«, schlußfolgerte sie, »muß ich sterben.« »Wir würden Sie zu schützen wissen, Madame.« »Wie lange?« »Bis man das Interesse an Ihnen verliert.« »Bis zur Widerauffindung des Marschalls also.« »Das läßt sich zeitlich nicht so genau eingrenzen.« 68
Die nächsten Minuten verstrichen in totalem Schweigen. Das Räucherholz, es war im Ascher verkohlt, hatte den Raum mit betäubenden Düften erfüllt. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte Urban. Sie kam ihm plötzlich recht blutleer vor. »Ich muß nachdenken«, sagte Lio Tsou, »sehr genau nachdenken.« Bob Urban hatte sich nie überschätzt. Mit allem, was er sich abforderte, blieb er gerne ein wenig unter dem, was er wirklich bringen konnte. So bildete er eine Art Notreserve. Auch hielt er sich nicht für einen begnadeten Psychologen. Er war lediglich psychologisch geschult und kannte die Grundregeln. Irgendwann würde diese Frau ihre Konzentrationsübung beendet haben. Schneller ginge es allerdings, wenn sie sich für eine gewisse Zeitspanne von dem Problem freimachte. Dann erschien die Lösung irgendwann automatisch auf dem inneren Bildschirm. Vielleicht fand er auch Möglichkeiten, den Prozeß zu beschleunigen und in seinem Sinne zu beeinflussen. »Darf ich Sie zum Essen einladen?« fragte er. Lio schien aus einem bösen Traum zu erwachen. »Wohin?« »Ihre Wahl, Gnädigste.« Sie wäre keine Frau gewesen und er vom Charme einer Steinzeitaxt, wenn sie das Angebot nicht gereizt hätte. »Bin in zehn Minuten fertig.« »Bitte«, fügte er noch hinzu, »berücksichtigen Sie, daß ich keinen Smoking bei mir habe.« Sie blickte ihn plötzlich ganz anders an. Mehr mit den Augen eines Weibes. »Sie gefallen mir«, sagte sie, »außerdem haben Sie einen englischen Schneider. Sie können sich doch überall sehen lassen. Dinnerjacketts tragen heute nur noch Plastikfabrikanten, aber nicht Leute meiner Kreise.« 69
Es dauerte etwas länger. Als sie wiederkam, sah sie wirklich aus wie Suzie Wong, verfeinert durch die künstlerischen Hände eines Porzellanfigurenmachers. Sie trug ein enges Futteral von einem schwarzen Kleid aus Seide, seitlich geschlitzt und hochgeschlossen, aber auf der Brust mit mandelförmigem Dekolleté. Dazu hatte sie schwarze Lacksandalen gewählt, glänzend wie ihr Haar, und als Schmuck eine schwarze Perle, die den Mittelpunkt zwischen ihren Brüsten bildete. Bestimmt war sie falsch. Als echte Perle hätte sie den Wert von zehn Cadillacs repräsentiert. Lässig nahm sie ein Nerzcape über den Arm. Sie fuhren die Küste hinauf bis Antibes. Es gab da ein Restaurant, das einfach super in war, obwohl keiner wußte warum. Es machte nicht besonders viel her, nicht mehr als jede andere verräucherte Fischerkneipe in einem miesen kleinen Hafen. Bis das Essen kam, verschwand Urban kurz, um zu telefonieren. Das Diner war nicht besonders, wenn man die Maßstäbe der neuen französischen Küche anlegte, und die Preise waren fast lächerlich. Trotzdem konnte man hier jeden Abend den Geld- und Kunstadel Frankreichs antreffen. Sie hatten nur deshalb einen Platz bekommen, weil Lio Tsou vor Jahren den Laden bekannt gemacht hatte. Man stellte ihnen einen kleinen Tisch neben das Podium des Jazzgitarristen. Dort saßen sie dann etwas eingeklemmt, aber nicht mehr eingeklemmt als der amerikanische Automobilmilliardär und der Weltstar aus London. Es gab deftige Fleischstücke einer gegrillten Sau, Brot mit einer Mischung aus Öl und provenzialischen Kräutern geröstet, süffigen Wein und Käse so rassig, daß einem der Atem wegblieb. Bei dem Lärm ringsum war es unmöglich, daß Urban der schönen Chinesin näher kam. Jetzt sein Problem anzu70
schneiden, wäre dasselbe gewesen, wie im Karneval von Rio über Immanuel Kant zu philosophieren. Lio hielt mühelos bis Mitternacht durch. Sie traf ein dutzend Leute und tauschte hundert Küßchen, ohne dabei, wunderbarerweise, ihr Make-up zu verschmieren. Als die besten Leute gingen, wollte auch Lio nicht länger bleiben. »Jetzt wäre ein bißchen Bewegung recht«, schlug Urban vor. »Ich bin dafür«, sagte sie. »Gehen wir schwimmen.« »Nachts bewege ich mich am liebsten im Bett«, gestand sie. Aus ihrem Mund klang es gar nicht frivol. »Ich habe auch eine Mokkamaschine zu Hause.« »Und ich nehme auch Bourbon«, alberte er, »und wenn Eis ausgegangen ist, nehme ich ihn sogar ohne Soda.« »Sie sind mir einer«, sagte Lio. Auf der Fahrt nach Nizza lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. Er dachte, sie wäre eingeschlafen, aber als er falsch fuhr, sagte sie ihm hellwach, wo er abbiegen müsse. »Denken Sie wieder nach?« fragte er, um an den Grund seines Besuches zu erinnern. »Noch nicht angefangen damit«, log sie. Er parkte den BMW zwischen den Platanen vor ihrem Haus. Sie fuhren hinauf in die oberste Etage. In der Wohnung sperrte sie ab und legte die Kette vor. Vielleicht tat sie es automatisch. Dann öffnete sie die Tür zur Terrasse. »Das Meer«, rief sie, »die Sterne, voilá. Ich bin gleich zurück.« »Keinen Kaffee«, bat er, »bitte keine Umstände.« »Ich will mich nur frisch machen.« Er steckte sich eine MC an, hatte sie etwa halb geraucht, als sie hinter ihn trat. Die Prinzessin war jetzt zur Priesterin geworden. Sie trug 71
gelbe Seide auf nackter Haut. Seide, die zweifellos dünner war, als alles, was Urban bisher gesehen hatte. Egal, was sie auf dem Altar der Liebe zu opfern bereit war, im Grunde ging es ihr nur darum, das Geschäft anzukurbeln. Diese Frau setzte ihre Artillerie verdammt gut ein. Allein der exotische Duft hätte eine Festung kampflos erobert. Urban gab sich alle Mühe, es locker zu nehmen. »War Ihnen zu heiß, Gnädigste?« fragte er anzüglich. »Dann wäre ich nackt, Monsieur.« »Seide wärmt, sagt man.« »Aber sie macht auch sinnlich.« »Pardon, ich hielt es für einen Schlafanzug.« »Sie sind ein Spötter. Ich mag Spötter, aber jetzt übertreiben Sie.« »Kann sein.« »Gehen wir hinein?« fragte sie. Er drehte sich um. Drinnen brannten nur noch Kerzen. Oha, dachte er. In diesem Moment passierte verschiedenes gleichzeitig. Wie immer kam es unerwartet und auf einmal. Drunten heulte ein Motor auf. Irgendein Spinner tourte seinen Wagen hoch. Dann gab es einen harten Knall. Und der kam nicht aus dem Auspuffsystem des Automobils. Urban riß die Chinesin instinktiv von der Stelle, an der sie sich befanden, weg. Daß er ihr im Wege stand, dafür konnte er nichts. Sie prallte trotz der Heftigkeit noch sehr sanft gegen ihn und klammerte sich sofort fest, indem sie die Arme um seinen Hals warf. Etwas zischte haarscharf an ihnen vorbei, durch die Tür in die Zimmerdecke. Über Lios Lippen kam kein Laut. Sie preßte ihren Körper an den seinen und ließ ihn nicht los. Auf dem Teppich liegend, geschützt von der Terrassenmauer, fanden sie sich wieder. 72
»Was war das?« Urban schielte zur Decke. »Nur ein Giftpfeil aus einem Narkosegewehr.« Um ihren Mund zuckte es. »Das haben Sie bestellt, Monsieur Urban.« »Ich schwöre.« »Um mich kirre zu kriegen.« »War das nötig?« »Gib es doch zu, du Filou.« »Ich schwöre«, sagte er noch einmal. »Und wenn schon«, sie küßte ihn und ihr Körper war auf dem seinen wie der einer Schlange. * In der Nacht, Lio schlief leise atmend neben ihm, verließ Urban das Bett, ging in den Wohnraum, stieg auf einen Sessel und holte den kleinen Pfeil des Narkosegewehrs aus dem Deckenputz. Er schob ihn in die Reverstasche seines Glenchecksakkos und glitt wieder neben Lio. Später, als der Morgen graute, murmelte Lio verschlafen: »Nun habe ich zu Ende gedacht.« »Wieviel?« fragte Urban. »Ich bin keine Nutte. – Fünfzigtausend Dollar.« »Nein, Nutte bist du keine«, sagte er staunend, »soviel bekäme nicht einmal die berühmte Dame von Babylon.« »Als Gegenleistung biete ich alles, was ich weiß.« »Und was weißt du?« »Erst die Hand drauf.« »Und das genügt dir?« zweifelte er. »Verdammt, ich hab Vertrauen zu dir, du Ratte. – Übrigens, Ratten sind bei uns hochangesehene Tiere.« »Sonst hätte ich dir den Hintern versohlt«, sagte er und schlug ein. 73
»Bitte tu’s«, flüsterte sie, »ich liebe das.« »Erst die Information«, verlangte er lachend. »Und das Geld kommt nie.« »Ich hab’s versprochen, ich bin eine Ratte.« Lio richtete sich auf, stützte sich auf die Ellbogen, ihre kleinen Brüste ungeniert vorzeigend. »Xie studierte in Tübingen Medizin.« »Ist das alles?« »Bevor er mit Mao in den Befreiungskrieg zog, war er Lehrer an der Universität und später auch noch ein paar Jahre lang.« »Das ist bekannt.« »Er wandelte sich vom Schulmediziner zum Naturheiler.« »Soll vorkommen.« »Er kennt die Geheimnisse, schwere Krankheiten zu kurieren.« »Durch Hypnose?« »Nein, auch nicht durch Akupunktur, bei der er zweifellos ein großer Meister ist. Sein Fachgebiet ist die Akupressur.« Urban wußte nicht allzuviel davon. Sie half ihm. »Man drückt hie und da auf einen Körperpunkt und das Leiden ist wie weggeblasen. Populär ausgedrückt.« »Was noch?« drängte er. »Ich halte es für möglich, daß Xie eine Kombination dieser Vielzahl von Körperpunkten fand, eine geheime Konstellation, die bisher unheilbaren Krankheiten beikommen könnte. Und das ist Milliarden Dollar wert.« »Aber deine Information, Baby, ist noch keine fünfzigtausend wert.« Sie verbarg ihr Gesicht in den rosa Kissen. Es kam ihm vor, als weine sie. Ihr Rücken und ihre Schultern zuckten. Er ließ sie zu Ende heulen. Es wurde schon hell im Schlafzimmer, als sie den Kopf aus den Kissen hob. Ihre Wangen zeigten wirklich feuchte Spuren. 74
»Aber ich bin sie doch wert, die fünfzigtausend Dollar?« fragte sie so erschütternd naiv, daß er sie in den Arm nahm und streichelte. Genaugenommen war sie nicht weniger erfolglos gewesen als er. »Wir sind beide«, sagte er tröstend, »dieselben armen Schweine, Madame.« 7. Clive Daniel, der weiße Jäger, verständigte den Distriktgouverneur von dem Massaker am Cobango-See. Nach sechs Tagen schickte der Gouverneur zwei Eingeborene Polizisten. Sie nahmen die Untersuchung vor. Von Spurensicherung hatten sie soviel Ahnung wie ein Blinder von der Farbe Rot. Jedem Kriminalisten hätten sich die Haare gesträubt. Weil sie sich den Überfall nicht erklären konnten, erklärten sie kurzerhand Clive Daniel für verhaftet. Offenbar hatte die Verhaftung aber noch andere Gründe. Während die schwarzen Gentlemen in ihren knielangen Shorts im Schatten saßen und Zigaretten aus dem Expeditionsvorräten qualmten, mußte der Jäger elf Gräber ausheben. Er hätte es ohnehin gemacht. Es war der letzte Dienst, den er der Wissenschaftlergruppe erweisen konnte. Diese gottverdammten Negerpolizisten hätten die Toten glatt in der Hitze vergammeln lassen. Während sich die Buschgendarmen mit Expeditionswhisky vollaufen ließen, hatte Clive Daniel Zeit noch etwas für seine toten Bwanas zu tun. Er suchte nach einer bestimmten Kiste, die sie stets wie einen Augapfel gehütet hatten. Schließlich fand er sie versteckt zwischen Felsbrocken am Ufer des Kratersees. Sie war verschlossen. Kein Problem, er hatte dem toten Dr. Sprink den Schlüssel abgenommen. 75
Nachdem er die Kiste geöffnet hatte, fand er darin Gesteinsproben mit schwarzen Adern und Spezialinstrumente. Clive Daniel verstand eine Menge von der Jagd, von Großwild und vom Überleben im afrikanischen Busch, von Physik und Geologie hingegen sehr wenig. Aber es kam ihm vor, als habe er eines der Geräte vor Jahren bei einem russischen Bergbauingenieur gesehen. Es handelte sich um einen bibelgroßen schwarzen Kasten. Am vorderen Ende trug er ein verchromtes Rohr, so dick wie ein Auspuff, etwa zehn Zoll lang, am anderen Ende ein paar Drehknöpfe und eine Art Voltmeter. Er wollte verdammt sein, wenn das nicht ein Geigerzähler zum Aufspüren radioaktiver Strahlung war. Dr. Sprink hatte die Kiste immer vor seinen und Douglas’ Augen zu verbergen gewußt. Wahrscheinlich hatte sie mit dem offiziellen Ziel der Expedition auch nichts zu tun. Um diese Männer nicht im nachhinein noch in Mißkredit zu bringen, schleifte Clive Daniels die Kiste zum Wasser und versenkte sie im See. Er tat dies auch zu seinem eigenen Schutz. Früher oder später würden Gerüchte aufkommen. Wenn man Beweise dafür fand, was diese Wissenschaftler wirklich hier oben gesucht hatten, würde man sich auch an ihn halten, an den Scout, den Führer der Expedition, den Kenner des Landes. Niemand würde ihm abnehmen, daß er nichts gewußt oder geahnt hatte. Auf bestimmte Weise hätten sie damit sogar recht gehabt. Er nahm die Säcke mit den privaten Dingen der Toten, warf sie in den Ford Bronco und tankte ihn voll. Nachdem er sich überzeugt hatte, ob die Reservekanister gefüllt waren, startete er. Die zwei Polizisten würden noch Stunden brauchen, um auf die Beine zu kommen. Er kannte jeden befahrbaren Weg weit und breit. Drunten 76
im Ovamboland konnte er dann alles den südafrikanischen Behörden übergeben. Aber der Ford lief nicht. Daniel öffnete die Haube und schaute sich den Motor an. Die zwei Nigger hatten die Verteilerkappe herausgerissen, um seine Flucht zu verhindern. Das einzige, was diese Kaffern von einem Benzinmotor verstanden, hatten sie dem Bronco angetan und ihn damit zu einem Haufen Edelschrott verwandelt. Da keimte in Clive Daniel der Verdacht, daß sie mit den Killern unter einer Decke steckten. Die eingeborenen Polizisten, die gerade ihren Namen schreiben und mühsam bis vierzig zählen konnten, hatten nicht nur den Bronco, sondern auch die anderen Wagen fahrunfähig gemacht. Der weiße Jäger saß da und wartete, bis sie zu erwachen geruhten. Gegen Abend, als die Kälte kam, war es endlich soweit. Die Schwarzen waren mächtig wütend, weil sie verkaterte Köpfe hatten. Sie befahlen ihm, Essen zu bereiten. Weil er sich weigerte, begannen sie mit ihren Maschinenpistolen herumzuspielen, die Läufe auf Daniel gerichtet. Also heizte er den Spirituskocher an, öffnete Fleisch- und Bohnendosen und kochte ein würziges Eintopfgericht. In der Nacht hörte Daniel, wie einer der Polizisten zum Jeep ging und über Funk mit Cassinga sprach. Doch sein Captain hatte offenbar keine Anweisungen. Er wollte sie erst von den Militärbehörden einholen. Am Morgen gab es neuen Funkverkehr. Diesmal bekamen die Polizisten Order, mit dem weißen Jäger als Gefangenen nach Cassinga zurückzukehren. Vorher sollten sie nach einer Kiste mit Gesteinsproben suchen und diese auf jeden Fall mitbringen. Die zwei Benguali-Neger suchten bis zum Mittag, konn77
ten aber nichts finden. Kein Wunder, Daniel hatte die Kiste ja im Wasser versenkt. Nun beratschlagten sie, wie sie es mit der Rückfahrt handhaben wollten. Alles, was sie in der Wildnis zurückließen, würde binnen kurzem, wenn die Regenzeit einsetzte, verrotten und vermodern. Viel zu schade um die Geländewagen, die man für gutes Geld losschlagen konnte. Der Schwarze mit den zwei Winkeln an der Uniform fragte Clive Daniel: »Du kannst Auto fahren?« »Im Vergleich zu dir habe ich es erfunden, Mann.« Der Schwarze verstand den Spott nicht und flüsterte mit dem anderen, der nur einen Winkel trug. Allmählich formte sich ihre Entscheidung heraus. »Jeder fährt einen Wagen. Ich fahre mit dem Jeep vorneweg, du Clive in der Mitte, Solo hinterher. Welche Wagen sollen wir nehmen. Welche sind die besten, glaubst du?« »Der Bronco und der Unimog«, sagte der Engländer. Nun rückten sie den Verteiler und den Filterdeckel des Mercedes-Diesel heraus. Daniel mußte beide unter ihren Augen einbauen. Dann ging es los. Solo übernahm den Unimog. Der war größer als der Bronco. Der Neger glaubte wohl, das größere Fahrzeug sei auch seiner rassischen Überlegenheit angemessen. Bevor sie anließen, sagte der mit den zwei Winkeln: »Du bleibst schön in der Mitte, Mann. Beim ersten Versuch, von türmen knallt es.« »Klar, Sergeant«, antwortete der weiße Jäger. * Der Bronco mit seinem superstarken Fünfliter-Achtzylinder war zweifellos der stärkste Wagen. Mit dem Bronco traute sich Clive Daniel zu; der Kolonne davonzufahren. Trotz der 78
Maschinenpistolen. Ihre müden Geschosse prallten an den dicken Geländereifen ab wie Tennisbälle vom Netz. Aber diese Buschpolizisten hatten Funk. Damit konnten sie eine Masse Unsinn anstellen. Sie konnten das Suchflugzeug rufen, alle Straßen nach Süden sperren lassen und Patrouillen auf die Beine bringen. – Er mußte abwarten. Als sie kampierten, machte Solo die Wagen wieder fahruntüchtig. Die wichtigen Ersatzteile warf er in einen Leinenbrotbeutel, den er als Kopfkissen verwendete. Nach dem Eintopf begann die übliche Sauferei. Erst palaverten sie in Benguela-Dialekt, später fingen sie zu gröhlen an. Dazu gossen sie sich den feinen Scotch pintenweise in den Hals. Nach dem Lallstadium kippten sie nach links in die Wärme des Lagerfeuers. Daniel ließ ihnen Zeit. Später machte er den Bronco fahrbereit. Am Unimog ließ er die Luft aus allen Rädern und warf die Ventile weg. Am Jeep stieß er den Schraubenzieher mehrmals durch die Lüftungsgitter des Funkverstärkers. Und war der Schaden noch so geringfügig, sie würden ihn niemals beheben können. Um 23 Uhr fuhr er los. Bis zur Grenze hatte er zweihundert Meilen, davon ein Drittel schweres Gelände, das keinen höheren Schnitt als zwanzig erlaubte. Weiter draußen, wo sich die Berge in der Ebene verliefen, ging es dann schneller. Am besten wäre er in den Flußtälern vorwärtsgekommen, wo es Andeutungen von Straßen gab. Aber dort wickelte sich der ganze Verkehr ab. In den Tälern fuhren die Lastwagen der Armee und der Kubaner, die für die Sowjets alles in die Hand genommen hatten. Mit den Kubanern konnte man zur Not noch reden. Gar nicht reden konnte man mit den Leuten vom ostdeutschen Hilfskorps. Die sächsischen Freiwilligenverbände schauten einem nicht auf die Hand, wieviel Backschisch darin lag, 79
sondern in die Papiere. Und die mußten echt sein. Die Burschen aus Dresden und Leipzig waren penetranter als die alten Preußen. – O Mann, was war aus der schönen Welt geworden. Vor wenigen Jahren noch gehörte dieses Land den Schwarzen, dem Wild, dem Jäger und sonst keinem. Jetzt gehörte es den Kommunisten. Clive Daniel fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie dem letzten Elefanten einen Stempel mit Hammer und Sichel auf den Hintern gebrannt hatten. Notgedrungen entschied er sich für die Savannenroute. Sie war länger, aber sicher. Auch über der Savanne brummten schon ihre Flugzeuge, aber sie stießen nicht auf jede Staubfahne herunter. Außerdem würde es Nacht sein, bis er in die Steppe kam. In zwanzig Stunden wußte er, ob es geklappt hatte, oder ob sie ihn erschießen würden. Denn daß man ihm das Massaker am Cobango-See anhing, falls man ihn erwischte, das war so gut wie sicher. Einen besseren Schuldigen als ihn konnten sie der Welt nicht präsentieren. Und ein Motiv fand sich immer. * Einmal wäre es fast schiefgegangen. Wenige Meilen östlich des Rukanafalls erfaßte ihn plötzlich der Suchscheinwerfer eines Grenzpostens. Clive Daniel hatte nicht damit gerechnet, daß sie ihre Wachen so tief staffelten. Das ostdeutsche Freiwilligenkontingent hatte offenbar seine Erfahrungen im Grenzschutz eingebracht. Der weiße Scheinwerferkegel ließ ihn nicht los, so sehr er auch die Geschwindigkeit erhöhte. Und die letzten Meilen waren flach wie ein Nudelbrett. Über das Heulen des Motors glaubte Daniel eine lautspre80
cherverstärkte Stimme zu hören. Auch war es ihm, als fielen Schüsse. Zum Glück hatten sie keine schweren Maschinenwaffen. Die Automat-Gewehre reichten nicht so weit. Er fuhr Schlangenlinien bis ihn der Scheinwerfer endlich verlor. Eine Stunde später wußte er, daß er den Boden von Ovamboland unter den Rädern hatte. Beim ersten Polizeiposten hielt er an. »Ich muß sofort den Gouverneur sprechen«, sagte er zu dem Offizier und überreichte ihm eine Timex-Uhr aus der Geschenkkiste der Expedition. »Habe eine dringende Meldung zu machen.« »Der Gouverneur ist in Johannisburg«, hieß es. »Wo sitzt der nächste amerikanische oder britische Konsul?« »In Windhuk.« Mit dem Wagen brauchte er drei Tage dahin. »Gibt es ein Flugzeug?« »Die Mission hat eines. Aber es kommt erst nächste Woche wieder herauf.« »Dann lassen Sie mich telefonieren«, bat der weiße Jäger. Daniel brachte es fertig, daß ihm der britische Konsul eine Cessna schickte. Dies aber nur, weil er sich aufführte, als finde droben in Angola gleich eine Explosion statt, und er sei der einzige, der davon wisse. Am Nachmittag, als er dem Diplomaten gegenübersaß und berichtete, schätzte dieser Daniels Meldung eher noch wichtiger ein. »Es war eine internationale Expedition«, sagte der Konsul, »und im Vertrauen, ich hörte, daß die Mitglieder nicht nur aus Archäologen und Kunsthistorikern bestanden.« »Sondern auch aus Geophysikern«, ergänzte der weiße Jäger. 81
Der Konsul, ein Gentleman im Stil der ehemaligen britischen Indiencolonels, hob die rötlichen Brauen. »Dann plaudere ich ja kein Geheimnis aus.« »Trotzdem fanden sie nebenbei ein paar goldene Kultfiguren, Sir.« Der Konsul stopfte seine Shagpfeife. »Und in der Hauptsache? Ich meine, was fanden sie in der Hauptsache?« »Uran«, tippte Clive Daniel. »Die schwarzen Adern in den Steinen sind wahrscheinlich Pechblende, das Ausgangsprodukt zur Gewinnung von Kernenergie.« Der Diplomat zog an den Schnüren seines Tabaksbeutels, steckte die Pfeife an einem langen Streichholz in Brand und paffte duftende Wolken über die Veranda. »Wer waren die Killer? – Waren es die Eingeborenen mit ihren Buschmessern?« »Was wissen Eingeborene von Energiepolitik, Sir.« »Man könnte sie aufhetzen, indem man die Forscher als die Grabschänder ihrer Ahnen bezeichnete.« »Es gärt zwar unter den Stämmen«, räumte der Jäger ein, »besonders unter den Benguelas. Aber wohl aus anderen Gründen. Es hängt mit der Soldateska zusammen. Erst wurden sie von den Portugiesen unterdrückt, ausgeraubt und geknechtet. Jetzt sind es die Kubaner, die angeblich von den kommunistischen Guerilleros zur Hilfe gerufen wurden.« »In Vertretung Moskaus«, bemerkte der Konsul. »Für einen Neger bedeutet Uran wenig.« »Für eine Großmacht hingegen viel, Sir.« Doch der Konsul verwarf den Gedanken. »Niemand wußte etwas von Dr. Sprinks Geheimauftrag. Außerdem sind den Männern die Kehlen auf Eingeborenenart durchschnitten worden, wie Sie behaupten.« Nun griff Clive Daniel in die Brusttasche seines verschwitzten Khakihemdes und entnahm ihm eine leere Ein82
wegspritze aus gelblich weißem Plastikmaterial. »Damit verstehen Eingeborene nicht umzugehen, Sir.« Der Konsul musterte das Ding verblüfft. »Sind Sie da ganz sicher, Mister Daniel?« »Wenn Eingeborene Tiere auf der Jagd lähmen, dann benutzen sie ihre eigenen Pfeile mit Naturgiften.« »Und das hier enthielt ein fabrikmäßig hergestelltes Narkosepräparat, meinen Sie.« Clive Daniel erhob sich. Er war müde und hatte Verlangen nach einem heißen Bad. »In London, Washington und Paris sollte man Schlüsse daraus ziehen, Sir.« Der Konsul stellte dem Jäger einen Bungalow seines Landsitzes zur Verfügung. Beim Hinübergehen sagte er: »Mir liegt daran, daß Sie uns zur Verfügung stehen, Clive!« Dafür hatte der Jäger nur ein bitteres Lächeln. »Ich habe keine Pläne, Sir«, antwortete er. »Nach Angola kann ich in nächster Zeit wohl nicht zurück. Nicht offiziell. Nur zu, verfügen Sie über mich, Sir.« 8. Urban legte die Pfeilspitze aus der Zimmerdecke in Nizza auf seinen Pullacher Schreibtisch. »Es war ein gelungenes Arrangement«, berichtete er. »Es wirkte so gefährlich wie dieses Projektil aussieht. Kollege Ponelle leistete gute Arbeit. Ein paar Zentimeter daneben und er hätte ihre fabelhafte Pfirsichhaut tatsächlich verunziert.« Oberst i.G.a.D. Sebastian warf den nadelspitzen Flugkörper, der mit entsprechender Präparation sogar ein tonnenschweres Rhinozeros ins Traumland geschickt hätte, in den Abfallkorb. 83
Dann lehnte er sich im Ledersessel zurück und faltete die Hände vor dem Bauch. »Hatten Sie wenigstens Erfolg damit?« »Es bewirkte eine gewisse Unterstützung meiner Absichten.« »Wie kamen Sie zurecht?« »Ich weiß jetzt, was Lio Tsou weiß.« Urban lieferte einen kurzen Überblick. »Und was kostet es?« »Abgesehen von meinem persönlichen Einsatz, der mir außerordentlich schwerfiel, die Kleinigkeit von fünfzigtausend Dollar.« Der Alte schluckte nur. »Wenn wir Xie damit finden, soll es mir recht sein.« »Noch ist es weniger als ein Schritt auf der Marathonstrecke, die noch vor uns liegt.« Nun wollte Urban wissen, was sich Neues im Hauptquartier ergeben hatte. Sebastian führte die zehn Fingerspitzen beider Hände zusammen, bis sie sich berührten. »So sieht es derzeit in der Politik aus. Der eine Finger ist Bonn, der andere Peking. Im Originalton lautet es etwa wie folgt: Entweder ihr bringt Xie unbeschädigt nach Peking, oder ihr fahrt zur Hölle.« »Das zieht doch die ganze NATO mit hinein.« »Ich fröstle bei dem Gedanken, wie kalt das werden kann.« »Jemand treibt bewußt einen Keil zwischen uns und China. Da wir zur NATO gehören und auch die USA zur NATO gehören, treibt man den Keil auch zwischen die USA und China. Der Treiber ist demnach einer, dem die neue Machtkonstellation nicht paßt.« »Wer hat solche Interessen?« »Nur Moskau.« Der Oberst winkte ab. 84
»Das wurde tief sondiert. Die Russen haben nichts damit zu tun. Sie winken ab.« »Stimmt«, sagte Urban aus bitterer Erfahrung, »die klekkern nicht, die klotzen nur.« »Wer bleibt also?« »Der Hersteller dieser Todesspritzen«, führte Urban auf. »Da sehe ich nichts«, der Oberst machte den Monokeleinklemmer, »in dieser Richtung.« »Ich auch nicht«, fuhr Urban fort, »aber irgendwo läuft da ein roter Faden durch. Xie war Naturarzt mit besonderen Fähigkeiten. Vielleicht kam er damit der Entwicklung eines sensationellen Arzneimittels in die Quere und mußte deshalb verschwinden.« »Klingt hübsch, aber nach Zukunftsroman.« »Alles ist ein Roman, oder?« »Ja, und der Traum ist die Wirklichkeit«, höhnte der Alte. »Was unternehmen Sie jetzt?« Urban nannte ihm sein Programm in Punkten: »An erster Stelle steht die Bestimmung des Herstellers der Todesspritze und seiner Produktpalette. Dann folgt die Analyse der Möglichkeiten eines Naturdoktors mit Spezialgebiet Akupressur. Ihr folgt die Analyse der möglichen Querverbindungen zwischen beiden.« »Tun Sie das«, drängte der Alte. Als Urban schon an der Tür war, rief Sebastian noch etwas hinter ihm her: »Und analysieren Sie alles, was Sie über Angola wissen.« Urban kam zurück. »Angola? Angola in Afrika?« »Was fällt Ihnen dazu ein?« »Es gab eine Zeit«, sagte Urban, »da fanden in New York pro Tag mehr Mordfälle statt als in München im Monat. Aber in Angola wurde in jeder Stunde mehr gemordet als in New York in einem Jahr.« 85
.
»Damit hat es zu tun«, bestätigte Sebastian. »Professor Stralman wird Ihnen Näheres darüber erzählen. Mich entschuldigen Sie jetzt, ich muß mit dem Chef nach Bonn. Bericht zur Lage beim Krisenstab.« »Na dann«, wünschte Urban. »Ich Ihnen auch«, knurrte der Alte. * Stralman deutete auf die Athener Giftspritze und sagte: »Seit gestern ist sie kein Unikat mehr.« »Wo sind ihre anderen Brüder?« »Am Cobango-See im Hochland von Angola. Noch ist alles eine geheimdienstliche Intiminformation.« In groben Zügen erfuhr Urban, was Stralman zu Ohren gekommen war. Die USA, England, Frankreich und auch die Bundesrepublik hatten eine internationale Expedition ausgerüstet. Offiziell ging es um die Bergung altafrikanischer Kulturgüter aus dem Cobango-See. Gerüchteweise wurde verbreitet, daß die Wissenschaftler auch nach Uranvorkommen suchten. Denn nur mit dem Vorhandensein großer Pechblendenlager war das Engagement Moskaus dort unten zu erklären. »Das indirekte Eingreifen Moskaus«, verbesserte Urban. »Erst verjagten die Kommunisten die alte Kolonialmacht Portugal, nun installieren sie eine neue mit Hilfe von Moskaus Satelliten. Weiß nicht, ob mir die portugiesische Schlamperei nicht lieber gewesen wäre.« »Das Land wird mehr und mehr abgeriegelt. Uransucher der Multis ließ man nicht herein, also tarnte man das Unternehmen mit Archäologen.« »Und brachte sie um, getarnt als ein Eingeborenenüberfall.« »Als die wahre Absicht ruchbar wurde.« 86
»Eingeborene verfügen nicht über Cyanspritzen. Da steckt etwas anderes dahinter.« »Du glaubst, die Morde wurden von der Regierung gesteuert?« Urban hob die Schultern und ließ sie fallen. »Das Motiv gefällt mir nicht. Man hätte die elf Männer festnehmen, einsperren und ausweisen können. Das hätte einen erstklassigen Propagandaeffekt abgegeben. Aber sie einfach umzulegen und den Überfall totzuschweigen, das mißfällt mir.« Auch Stralman machte dieser Einwand nachdenklich. »Du willst sagen, daß sie gar nicht der Uransuche wegen getötet wurden.« »Es widerspricht dem sonstigen Vorgehen dieser Leute. Wenn sie aus einem Dollar zwei machen können, dann tun sie es. Ebenso verhalten sie sich auf ideologischem Gebiet. Nun aber laufen sie Gefahr, daß man sie Barbaren nennt.« Stralman nahm den Zwicker ab. Wenn er nachdachte, zuckten bei ihm die Gesichtsmuskeln und der Zwicker fiel von der Nase. »Könnte Dr. Sprink und sein Team etwas anderes entdeckt haben?« »Oder nahe daran gewesen sein, etwas zu entdecken.« »Dann sind sie dabei beobachtet worden.« »Oder Sprink hatte einen Spion im Lager.« »Sie wurden alle ausnahmslos umgebracht. Hätte man den V-Mann nicht verschont?« »Spione und V-Leute sterben selten im Bett«, erklärte Urban. »Aber alles ist nur ein Verdacht von mir, ein böser.« »Der weiße Scout versichert, daß in der fraglichen Zeit keine Eingeborenen im Bergland unterwegs gewesen seien. Er hätte es bemerken müssen.« »Dann kamen die Killer aus der Luft.« Kaum ausgesprochen, fühlte Urban die Zündwirkung des Gedankens. 87
»Hubschrauber«, fügte er spontan hinzu. »Hat nur das Militär.« »Xie wurde auch per Hubschrauber entführt.« Urban nahm sich vor, die Berichte dieses weißen Jägers Clive Daniel zu verfolgen. Die Sache interessierte ihn. Doch erst befaßte er sich mit dem Nächstliegenden. »Die Spritze«, fragte er, »ist sie endlich identifiziert?« Stralman nahm einen Laborbericht zur Hand, las ihn aber nicht ab sondern gab den Inhalt mit eigenen Worten wieder. »Zur Identifizierung trug eine Chiffre im Gewinde bei, die nur unter dem Mikroskop zu erkennen ist. Man könnte sie das geheime Wasserzeichen der Gifthersteller nennen. Der Code führte uns zur Cervin-Pharmatech-Corporation in Baltimore. Auf unsere fernschriftliche Anfrage hin wurde bestätigt, daß neue Cyangifte zur Rattenbekämpfung im Test sind, daß es sich bei den Spritzen aber um reines Labormaterial für Großversuche an Tieren handelt. Diese Spritzen sind noch nicht im Handel. Sie stehen bei der CPC unter Verschluß. Insgesamt wurden nur 250 Partien abgefüllt.« »Unter Verschluß«, Urban stöhnte. »In einem Laborschrank, zu dem hundert Leute den Schlüssel haben. Mindestens vierzehn Spritzen müssen fehlen. Eine kam in Italien zum Einsatz, eine in Athen, eine bei Freiburg, und elf in Angola.« »Mehr war aus der Firma CPC nicht herauszuholen«, versicherte Stralman. »Nach meinen privaten Recherchen übrigens ein hochfeiner Laden. Sie befassen sich mit der Interferon-Synthese.« »Auf deutsch, sie jagen den Krebs.« »Sie jagen ihn alle. Es wird das Geschäft des Jahres Zweitausend.« »Bis zu seiner Ausrottung.« »In hundert Jahren wird man Krebskranke unter Naturschutz stellen müssen, so selten sind sie bis dahin gewor88
den.« Urban steckte sich eine MC an. Mit dem Rauch wehten seine Gedanken weit weg. »Die Konkurrenz unter den Pharmaherstellern ist groß.« »Die Entwicklung eines Präparates kostet Abermillionen. Wenn es schief auf dem Markt liegt, kann ein Unternehmen daran zugrunde gehen.« »Auch daran, wenn ein Konkurrent schneller ist.«, »Oder besser ist.« »Aber was hat das mit Xie zu tun?« Damit holte Stralman Urban wieder zur Erde zurück. »Er war ein großer Naturarzt, der Feldmarschall Xie.« »Spezialgebiet Akupressur.« Urban drückte die halbgerauchte Montechristo aus und empfahl sich. »Gesundheit ist alles«, rief er und schaute auf die Uhr. »Bin mit einem Onkel Doktor verabredet.« »Und Wissen ist Macht«, ergänzte der Professor. »Triffst du möglicherweise einen Spezialisten für chinesische Heilmethoden?« »Mit Sicherheit«, sagte Bob Urban. * Urban hatte etwas anderes erwartet. Keine Luxuspraxis in einer hocheleganten Villa und keinen Doktor vom Playboytyp. Allein schon die Assistentin war ein halbes Filmfestival. »Wo tut es denn weh?« fragte der Arzt, seinen Patienten mit beiden Händen begrüßend. »Dort, wo Unwissenheit schmerzt«, sagte Urban. Der Modearzt wurde sofort reserviert. »Ach, dann sind Sie dieser Spezialagent aus Grünwald.« »Weiter westlich«, korrigierte ihn Urban, »und Sie sind der Wunderheiler mit den goldenen Nadeln.« 89
»Weiter östlich«, erwiderte der Arzt seinerseits und deutete auf seine Fingerkuppen. »Ich mache es mehr damit.« Er schickte seine Assistentin hinaus. Urban durfte im Sessel und nicht auf dem Sofa Platz nehmen. Auszuziehen brauchte er sich auch nicht. Der Doktor, er hatte den beneidenswerten Namen Sinclair Silvester, entnahm seinem diamantbesetzten goldenen Etui eine dünne Zigarette. Etui und goldenes Feuerzeug waren gut und gern zweitausend Krankenscheine wert. Noch glaubte Urban fest daran, was man sich über Dr. Silvester erzählte. Er habe, hieß es, ein schwerreiches deutsches Mädchen aus dem Ruhrgebiet, das sich für sterbenskrank hielt, von dieser Krankheit geheilt. Zum Dank dafür war er von der Stahlprinzessin per Heiratsurkunde aufgekauft worden. Sie hatte ihm die Praxis eingerichtet, lebte jetzt aber in Indien in einer Kommune und entsagte allem Irdischen. Urban faßte sein Anliegen in geziemende Sätze. »Ich hätte gern alles über Akupressur«, schloß er seine Bitte, »in wenigen Worten.« »Einen Schnellkursus also«, spottete Dr. Silvester. »Es ist mir natürlich eine Ehre, dem BND hilfreich sein zu dürfen. Das Bundesverdienstkreuz fehlt mir nämlich noch.« »Sie kriegen eines von mir«, sagte Urban. »Ich habe alle Stufen.« Dann kam man zur Sache. Auf Knopfdruck schlossen sich die Vorhänge. Auf Knopfdruck versickerte das Licht hinter den Deckenleisten, auf Knopfdruck schwenkte ein Spiegel zur Seite und gab eine Leinwand frei. Automatisch liefen eine Reihe von Dias ab, die einen geschlechtslosen menschlichen Körper zeigten. Dazu ertönte Dr. Silvesters Stimme: »Akupressur kann man frei übersetzen mit schmerzfrei werden durch Fingerdruck. Natürlich muß man wissen, an 90
welchen Stellen des Körpers und in welcher Stärke der Druck auszuüben ist. In den viertausend Jahren, in denen die chinesische Volksmedizin diese Methoden kennt, wurden sie überaus verfeinert. Eine schlüssige Erklärung, warum die Akupressur Schmerzen lindert, gibt es bis heute nicht. Die chinesischen Naturärzte sind da anderer Auffassung als wir mit unserer modernen, hochentwickelten Humanmedizin. Wahrscheinlich ist, daß Akupressur durch Reizung sogenannter Nerven-Pforten, durch die auch die Schmerzimpulse laufen, wirkt. Die Schmerzreize können nicht mehr ungehindert fließen.« Der Arzt machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: »Ziemlich sicher hingegen ist, daß wir mit Akupressur eine schmerzlindernde Wirkung, sehr selten aber eine schmerzbeseitigende Wirkung erzielen. Völlig auszuschließen ist letzteres jedoch nicht. Alles hängt von einer Kombination der Schmerzpunkte ab, oder von der Auffindung neuer bis heute unbekannter Punkte. Aber das läuft auf ein Millionenpuzzle hinaus. Man spricht davon, daß es in China Ärzte gibt, die auf dem Gebiet der Volksheilkunde mehr können als andere. Es sind Ärzte, welche die letzten Grenzen bereits überschritten haben und Krankheiten heilen können. Sogar den Krebs, wie man glaubt. Das Besondere an der Akupressur ist, daß sie bei einiger Übung von Kranken auch selbst ausgeführt werden kann. Insofern ist sie besser als jedes Schmerzmittel, weil sie keine Nebenwirkungen hat.« Urban erfuhr noch vieles über Akupressur. Offenbar hatte Dr. Silvester schon Vorträge darüber gehalten. Was er sagte war verständlich, wohlgeordnet und klar. Urban bekam anhand der Dias erklärt, welche Schmerzpunkte zu reizen waren, um etwa Kopfschmerzen, Zahnschmerzen, Ischias, Bluthochdruck, Depressionen, Asthma, Bandscheibenschmerzen oder Herzunregelmäßigkeiten zu lindern. 91
Die Dias waren zu Ende, das Licht ging an, der Vorhang schwang auf. Urbans erste Frage lautete: »Wie viele Schmerzpunkte gibt es, Doktor Silvester?« »Der Laie kommt mit drei Dutzend der wichtigsten Punkte aus. Ich selbst kenne etwa die zehnfache Menge. Vielleicht fünfhundert. Vor allem aber habe ich die Übung, sie auch zu finden, denn jeder Körper hat eine etwas andere Topographie. Chinesische Spezialisten wiederum dürften mit fünfmal soviel Schmerzpunkten arbeiten wie europäische Ärzte, und die ganz einsamen Experten verfügen über ein Repertoire, das in die Tausende geht.« »Wenn man die alle kombinieren will…« »Gibt es Milliarden von Möglichkeiten«, räumte Dr. Silvester bereitwillig ein. »Das Tragische dabei ist, daß man nicht sofort erkennt, ob die einzelnen Kombinationen Wirkung zeigen. Leider ist es nicht so, daß erst eine rote Lampe brennt und bei positivem Ergebnis die grüne.« »Alles Erfahrungssache, Doktor.« »Für deren Erwerb ein Arztleben leider zu kurz ist. Erst viele Generationen von Ärzten, die ihre Erfahrungen niederschreiben, helfen hier weiter.« »Oder der Zufall.« »Oder das Glück.« Urban spitzte die nächste Frage an wie einen Pfeil. »Was könnte uns das totale Beherrschen der Akupressur oder der Akupunktur bescheren?« »Die Heilung jeder Krankheit ohne Messer und Chemie.« »Halten Sie es für möglich, daß einzelne Meister dieser Kunst sehr nahe an diese Grenze herangekommen sind?« Dr. Silvester hob seine nervigen, gepflegten Hände. »Wer weiß. Annehmen möchte ich es. Ich glaube daran wie an die Erfüllung eines schönen Traumes.« Urban hatte eine letzte Frage. »Kennen Sie den chinesischen Naturarzt Xie-Lei-Feng?« 92
»Nur einen Marschall dieses Namens.« »Danke, Doktor«, sagte Urban. »Vielleicht haben Sie mir geholfen. Die Rechnung bitte direkt an den BND Pullach.« »Wofür?« fragte der smarte Doktor. Das fragte sich Urban allerdings auch. Er glaubte nicht, daß ihn das Gespräch weiterbrachte. Aber er hatte nichts unversucht lassen wollen. Er stand schon an der Tür, als ihn Dr. Silvester beim Arm nahm und in eine gut beleuchtete Position schob. Der Arzt blickte Urban in die Augen. »Leiden Sie an einer Trigeminusneuralgie?« »Nach großen Anstrengungen mitunter.« »Und im Augenblick?« »Ein wenig.« Der Arzt nahm beide Hände. Die eine führte er zu Urbans Ohrläppchen, die andere ergriff Urbans Linke. Urban spürte Druck auf dem harten Wulst direkt oberhalb des Ohrläppchens. Der Arzt preßte die Stelle etwa fünfmal hintereinander fest zusammen. Gleichzeitig drückte er einen Punkt oberhalb des Handrückens aufs Gelenk zu, eine Kuppe, wo man gewöhnlich die Armbanduhr trug. – Und der Nervenschmerz war wie weggeblasen. »Gut so?« fragte der Arzt. Urban nickte. »Perfekt.« »Das war eine Gratisprobe. Eine Demonstration von Blitzdiagnose und Therapie. Damit Sie mich nicht für einen Scharlatan halten.« »Sie sind der Größte, Doktor«, sagte Urban verblüfft. »Ja, aber leider nur im südlichen Teil Münchens«, bedauerte der Arzt und lächelte schon seinem nächsten Patienten zu.
93
Der Chef war auf neunzig, ein Kessel, unter den man drei Feuer gelegt hatte. »Peking stellt ein Ultimatum«, brachte er aus Bonn mit. »Und was machen sie wenn?« »Überprüfung der Freundschaftspolitik, Aussetzung der Wirtschaftsgespräche, Entzug der Ölbohrerlaubnis für die VEBA in Mittelchina.« »Schlimmer kann es kaum kommen.« »Wenn wir den uns anvertrauten Marschall Xie nicht bald finden.« »Selbst wenn Sie Harakiri machen, es gibt noch keine verwertbare Spur.« Der Alte, sonst schweinchenrosa im Gesicht, wirkte heute aschgrau. »Welche Maßnahmen laufen denn?« »Der Giftspritzenhersteller in Baltimore prüft seine Bestände. Ich habe ferner einen Bericht von Clive Daniel aus Windhuk angefordert, um den Weg der Cyanspritzen nach Angola verfolgen zu können. Viel verspreche ich mir nicht davon. Auch weiß ich jetzt einiges über Akupressur. Leiden Sie zufällig an Trigeminusneuralgie, Großmeister?« »Ich leide an Verdauungsbeschwerden«, schnarrte der Alte. Die Punkte dafür hatte sich Urban leider nicht zeigen lassen. »Welche Maßnahmen greifen denn?« »Keine bis jetzt.« »Ihre kleine Freundin in Nizza, dieser bunte Kolibri, ob der nicht noch ein Liedchen zwitschern könnte?« »Vielleicht beim Anblick von fünfzigtausend Dollarscheinen.« »Okay, und wann zum Teufel setzen Sie sich in Bewegung?« »Triefenberg hat die Zahlung nicht genehmigt.« 94
»Verdammt, sollen wir es vielleicht aus unserem Sparstrumpf holen«, fluchte der Alte, hängte sich ans Telefon und putzte den Finanzgrafen dermaßen zusammen, daß eine Stunde später die Moneten abgezählt und gebündelt in einem braunen Umschlag aus Natronpapier in der Operationsabteilung lagen. Urban nahm den Umschlag und ging. Er würde nach Nizza fliegen und Lio noch einmal besuchen. Er würde ihr auf den Zahn fühlen, nicht zu knapp, und dies, obwohl er wußte, daß man ihr nicht trauen konnte. Eigentlich traute er ihr nicht weiter, als er sie im dichten Nebel sehen konnte. 9. Weil sie sich nicht zu helfen wußten und weil alles geheim war, riefen sie die CIA zu Hilfe. Bis Mitternacht wartete der Manager der CervinPharmatech-Corporation auf den Mann vom Geheimdienst. Er empfing den Spezialagenten mit einer Miene, als ginge gleich die Welt unter. »Wir fürchten«, sagte er, »in unseren Laboratorien fand einer der folgenschwersten Diebstähle des Jahrhunderts statt.« »Diebstahl«, wiederholte der Agent aus Washington den Sachverhalt, »ist eigentlich ein Fall für den Sheriff.« »Mit Sicherheit überschreitet die Affäre die Grenzen des Bundesstaates Virginia.« »Nun, dann wäre das FBI zuständig«, meinte der Mann, der extra aus Washington herübergekommen war. »Vielleicht entwickelt sie sich sogar zu einer weltweiten Katastrophe.« Dann wäre Interpol zuständig gewesen und noch lange nicht die Central Intelligence Agency. Aber erst wollte der Experte hören, um was es ging. 95
Der Manager der CPC fuhr mit ihm einige Etagen tiefer. Nach längerem Marsch durch ausgedehnte Labors erreichten sie einen tresorartig geschützten vollklimatisierten Raum. »Es fing damit an«, erklärte der Manager, »daß wir eine Anfrage aus München wegen eines Cyan-Präparates erhielten. Das Präparat ist noch nicht auf dem Markt. Wir prüften den Bestand an Testampullen und konnten zunächst kein Minus feststellen. Dann aber zählten wir noch einmal durch und kamen zu dem Ergebnis, daß ein Karton mit 24 Fertigspritzen fehlt.« Der Agent fragte, wie der Name des Präparates laute und wofür es Verwendung finde. »Es wird hier unter Cervinex geführt und zum raschen Töten von Versuchstieren eingesetzt.« »Lagern hier noch andere Präparate?« »Genauso ist es, Sir.« »Stellten Sie auch hier Fehlmengen fest?« »Dazu sind wir nicht in der Lage«, lautete die Auskunft. »Wie wollen Sie herausfinden, ob von Kulturböden mit einer unzählbaren Zahl von Bakterien einige hundert oder tausend fehlen. Allein schon bei Berührung mit einer Pipettenspitze bleiben daran Millionen haften. Sie sind winziger als menschliche Zellen. Sie sind so klein wie Moleküle.« Der CIA-Agent hatte das Gefühl, daß er jetzt die Tür zu einem großen Geheimnis aufstoßen mußte. »Sie sprachen von Bakterien, Sir. Bakterien welcher Art?« »Wir sind seit kurzem in der Lage«, fuhr der Manager fort, »menschliche Eiweißstoffe nachzubilden, was niemals vorher möglich war. Sogenannte DNS-Rekombinationen.« Der Spezialagent, er hatte vor seinem Eintritt in die Agency ein Chemiestudium absolviert, bekam eine Schreckensvision. »Bei Berührung mit günstigen Nährböden oder Wirtstieren, in diesem Fall Menschen, kann das zu Katastrophen führen, die ganze Landstriche entvölkern.« 96
Der Manager teilte diese Befürchtung nicht ganz. »Wir haben die körpereigenen Moleküle präzise nachgebildet. Dadurch schließen wir Nebenwirkungen mit toxischen Effekten eigentlich aus.« »Absolut sicher sind Sie aber nicht?« Bis jetzt hatte der Agent noch immer nicht erfahren, warum der Manager den Vorfall als einen der folgenschwersten Diebstähle des Jahrhunderts qualifizierte. Das wollte er endlich wissen. »Schön, wo liegt nun wirklich der Hund begraben?« »Im nächsten Entwicklungsschritt.« Der Manager machte jetzt nur noch Andeutungen. »Dadurch, daß es uns gelungen ist, biochemisch aktive Moleküle systematisch aufzubauen, können wir zum Beispiel Urokinase bakteriell erzeugen, einen Stoff, der Blutgerinsel auflöst.« »Gegen Herzinfarkt?« »Ferner ist es uns gelungen Insulin aus Bakterienkulturen zu gewinnen. Das Präparat ist marktreif.« »Und befindet sich hier in diesem klimatisierten Tresor.« »Es kommt noch schlimmer, Sir«, sagte der Manager jetzt mit leiser Stimme. »Sicher haben Sie schon von der körpereigenen Wunderdroge Interferon gehört. Sie heilt alles vom Schnupfen über Gelbsucht bis zum Krebs. Dies wurde jetzt in klinischen Tests festgestellt. Bisher kostete jedes Gramm davon fünfzig Millionen Dollar. Unsere Bakterien lassen sich auch für die Interferongewinnung einspannen.« Der CIA-Agent blieb erstaunlich kühl. »Wer sie hat, hat also auch die Rekombinationsmöglichkeit.« Der Manager nickte schwitzend. »Und demjenigen, der das Cervinex mitnahm, war es ein leichtes, auch eine der Bakterienkulturen mitzunehmen. Und sei es nur soviel wie unter den Fingernagel eines Babys geht.« 97
»Es kann«, schränkte der CIA-Agent ein, »es muß nicht so sein.« »Für uns zählt, ob er hat oder nicht hat.« »Die nächste Frage ist, wer dafür in Frage kommt.« »Das ist ein anderes Gebiet«, meinte der Manager, »oder besser eine andere Abteilung. Gehen wir jetzt ins Personalbüro.« * »Der Mann heißt Paul Clavant.« Der CIA-Agent bekam die Personalpapiere und überflog sie. »Paul Clavant aus Philadelphia. Abgebrochener Biologiestudent. Und den stellten Sie ein, trotz des großen Angebotes an erstklassigen Universitätsabsolventen?« »Er arbeitete bei uns als Laborgehilfe.« »Hier steht Labortechniker.« »Dazu fehlten ihm leider die praktischen Voraussetzungen, wie sich während der Probezeit ergab. Er bat uns darum, ihn nicht auf die Straße zu setzen. So stuften wir ihn herunter zum Laborgehilfen. Er gab sich große Mühe.« »Ist die Pharmatech-Corporation ein Wohlfahrtsunternehmen?« fragte der CIA-Agent anzüglich. Der technische Direktor versuchte die Sache zu erklären. »Ob Sie es glauben oder nicht, es ist schwieriger, einen Mann zu finden, der den ganzen Tag die Labors und die Geräte in Ordnung hält, als promovierte Bio-Chemiker. Die Dreckarbeit will keiner mehr machen. Nicht einmal Schwarze.« »Clavant arbeitet seit zwei Jahren hier.« »Und fehlte nie.« »Sie meinen, er war nie krank.« »Bis auf diese Grippe im Juni. Nun, so etwas kann jedem 98
einmal passieren. Auch daß er anschließend Urlaub nahm, fanden wir noch ganz in Ordnung. Als sein Urlaub zu Ende war, telegraphierte er, daß er abermals erkrankt sei. Seitdem hat ihn keiner mehr gesehen.« »Ein eindeutiges Manöver, um Nachforschungen zu verzögern«, bemerkte der CIA-Experte. »Er hätte auch kündigen können«, sagte der Manager, »niemand hätte sich etwas dabei gedacht.« »Ohne die Anfrage aus München wäre der Bestand an Cervinex niemals kontrolliert worden?« »Nicht vor Jahresende.« »Oder wenn der Giftstoff, um Ihre Ratten, Mäuse und Affen zu töten, sich erschöpft hätte.« »Er reicht für Jahre. Einige Milligramm genügen, um ein Tier von seinen Schmerzen zu erlösen.« Hier hakte der CIA-Agent nach. »Und wie viele Gramm sind nötig, um einen Menschen zu töten?« »Intravenös nullkommafünf Kubik.« »Dann bringt eine volle Spritze leicht zwanzig Männer um.« »Wie kommen Sie darauf?« Der Manager wirkte verkrampft, der Mann aus Langley hingegen völlig locker. »Was glauben Sie, Sir«, fragte er, »warum ich so schnell zu Ihnen kam? Ihre Cervinex-Fertigspritzen sind wieder aufgetaucht. Die meisten allerdings, nachdem sie ihre Arbeit verrichtet hatten, ziemlich leer.« »Paul Clavant«, murmelte der Manager entsetzt. »Hatte er Zugang zu dem Safe?« »Der stand tagsüber offen.« »Sind Ihre Mitarbeiter überprüft?« »Alle abgecheckt.« 99
»Vermutlich so gut wie dieser Mister Clavant«, kommentierte der CIA-Agent. »Aber noch ist ja nichts bewiesen.« »Was werden Sie jetzt unternehmen?« »Clavant suchen«, erklärte der CIA-Agent. »Von woher kam sein Telegramm?« »Aus Jamaica.« »In sechs Stunden haben wir ihn«, sagte der CIA-Agent. * Sie hatten Paul Clavant weder in sechs noch in sechzehn Stunden, förderten aber zutage, daß er eigentlich Paolo Clavantez hieß. Der Mann der CIA in Kingston/Jamaica rannte mit dem Funkfoto des Gesuchten von Hotel zu Hotel. In einer kleinen Pension hatte er Erfolg. »Si, der Senor wohnte hier«, erinnerte sich die Wirtin, »nur ein paar Tage, irgendwann im Sommer.« »Woran erkennen Sie ihn?« »Am Gesicht«, behauptete die Donna. »An der breiten Nase. Aber er hatte anderes Haar. Dunkler wohl. Er sprach spanisch wie ein Amerikaner. Ich möchte nicht behaupten, daß er Kubaner ist, aber die S?nora, die er bei sich hatte, war mit Sicherheit aus Havanna.« »Was bringt Sie darauf?« »Sie kam mit dem Schiff von Niquero herüber, um ihren Mann zu treffen. Dann nahmen sie gemeinsam die Fähre nach drüben.« »Clavantez und die Frau?« »Es war an einem Dienstag. Die Fähre geht nur einmal die Woche.« »Die beiden waren verheiratet?« »Sie taten zumindest so. Sie hatten ein Doppelzimmer und waren beide sehr verknallt ineinander. Entweder frisch verehelicht oder lange getrennt gewesen.« 100
Der Mann der CIA in Jamaica holte sich die Erlaubnis, das Zimmer durchsuchen zu dürfen, was mit einem Zehner kein Problem war. Aber seit dem Sommer hatten hier eine Menge anderer Gäste gewohnt. Er fand keine Spur mehr von Clavantez. Trotzdem hängte er noch einen ganzen Tag an die Ermittlungen, um herauszufinden, was Clavantez in Jamaica getrieben hatte. Spätabends rief er in Washington an. »Clavantez«, meldete er, »muß kubanischer Spion gewesen sein.« »Aber sie schleusten ihn doch nicht bei Pharmatech ein, um ein Tötungsmittel für Tierärzte zu klauen.« »Vielleicht erledigte er noch andere Aufträge in der Tarnung eines Labordieners. Das Präparat nahm er mit, als sein Einsatz ohnehin zu Ende war.« »Gifte dieser Art gibt es auch in Kuba zu kaufen.« »Aber wohl nur in russischer Verpackung und nicht in der eines amerikanischen Herstellers«, meinte der Mann in Jamaica. »Das wäre einleuchtend.« »Um damit falsche Spuren zu legen, sobald das Material zum Einsatz kam.« »Dann planen die Burschen auf verdammt lange Sicht.« »Abwarten und im geeigneten Moment zuschlagen, das macht Angriffe aus dem Dunkeln so gefährlich.« »Zum Glück«, sagte der Mann in Washington, »hat es diesmal die anderen erwischt.« »Dann ist der Fall also erledigt?« fragte der Agent in Kingston. »Für dich ja«, bestätigte das CIA-Hauptquartier. Damit hatte Langley den Fall noch nicht vom Hals. Nun mußte beobachtet werden, ob die biologischen Forschungslabors in Kuba, in der UdSSR, ja im ganzen Ostblock, in nächster Zeit Fortschritte auf dem Gebiet der wirtschaftli101
chen Nutzung der Genmanipulation erzielten. Falls ja, dann hatte Paolo Clavantez in Baltimore nicht nur die Cyankalispritzen mitgenommen. Außerdem mußte der BND auf Grund des Kooperationsvertrages der NATO-Geheimdienste verständigt werden. 10. Robert Urban war sich klar darüber, daß Frauen vom Kaliber Lio Tsou wenig für die Ehe, aber gut fürs Agentengeschäft taugten. Frauen wie Lio waren gefährlich, für Männer seines Jobs hingegen genau das richtige. Er traute der Dame nicht weiter, als er sie bei dichtem Nebel sehen konnte, trotzdem stand er am frühen Abend vor ihrer Tür. Durch die Wand kam der Sound einer Gitarre, hart und rhythmisch geschlagen. Er liebte diese Carioca-klänge. Dabei lief es ihm immer kalt den Rücken entlang. Er läutete, bis aufgemacht wurde. »Hallo«, rief er. Das Gesicht der Schönen aus dem Chinaland, erst eine abweisende Maske, entspannte sich zu einem verzückten Staunen. »Dich habe ich nicht erwartet.« »Hatte selbst noch keine Ahnung von dieser Reise heute morgen.« »Und kommst einfach auf gut Glück, Cherie?« Urban hängte den Burberry an den Haken. »Ich wußte, daß du da bist.« »Von wem? Hast du Späher?« »Ich habe Späher«, gestand er, »auch in Nizza. Aber ich rief an.« »Mich?« tat sie erstaunt. »Ich rief dich an. Du hast dich mit ›Qui‹ gemeldet. Da102
nach legte ich wieder auf. Das war vor zwei Stunden in München.« »Du bist wie der Blitz.« »Ich bin der Blitz«, betonte er und warf sich in das daunenweiche Sofa vor dem Kamin. Sie brachte Gin, Wermut und Eis für einen Martini. »Es war Gedankenübertragung«, sagte sie und war schon wieder draußen. Das gab ihm Zeit, den nächsten Zug vorzubereiten. »Deine Sorgen teilten sich mir auf transzendentalem Wege mit«, erklärte er. »Ich bin der Geldbriefträger.« Sie tat, als sei das nicht mehr wichtig. »Und ich fürchtete, du hättest das längst vergessen.« »Hat sich deine Lage gebessert?« »Ich verkaufte eine alte Vase. Das hilft mir über den Winter. Nun kann ich die Wohnung behalten und das Auto.« Sofort wußte er, daß sie log. Aber warum log sie? Er mixte die Martinis, steckte sich eine MC an, trank und lehnte sich zurück. »Was war Gedankenübertragung?« Lio nippte nur an dem Drink ehe sie antwortete. »Du batest mich nachzudenken.« »Sag bloß, dir fiel noch etwas ein.« »Mir fiel die alte grüne Ming-Vase ein und der Name eines Freundes beim SDECE.« Urban nickte, als verstehe er jetzt. »Du besorgtest dir eine Information, um mich damit anzulocken und mit mir die fünfzigtausend Dollar.« »So ist es. Aber wie ich sehe, erwies es sich als unnötig. Du kamst von selbst vorbei.« Irgendwie stank es hier nach Verrat. Urban wußte nur noch nicht, wohin die Giftwolke trieb. »Demnach liegt eine Überschneidung unserer Interessen vor«, erwiderte er. »Ich besuche dich noch einmal in der 103
Hoffnung, daß der Anblick von Banknoten dein Erinnerungsvermögen aktivieren könnte.« »Es ist bereits aktiviert«, versicherte sie. »Und?« »Darf ich trotzdem die Scheine fühlen?« Dagegen hatte er nichts. Er holte den Umschlag aus dem Mantel, öffnete ihn und ließ zu, daß sie ihre schmale Hand hineinwühlte. »Das tut gut«, flüsterte sie immer wieder, »gut tut das.« Als sie genug gefühlt hatte, verschloß er den Umschlag und behielt ihn bei sich. »Und was wußte dein alter Freund vom SDECE?« Egal was Lio von sich gab, es ließ sich leicht überprüfen. Auch er hatte einen alten Freund beim französischen Geheimdienst. Gil Quatembre hätte ihn todsicher angerufen, wenn es eine brauchbare Information gegeben hätte. Gil wüßte von dem Damoklesschwert, das über Urbans Hals schwebte. »Der alte Freund vom SDECE«, berichtete Lio mit steinernem Gesicht, »weiß vielleicht, wo sie Marschall Xie hingebracht haben.« Ein Elektroschock fuhr Urban in die Glieder. Entweder war das die Hand des rettenden Engels, oder die unverschämteste Behauptung, seitdem er dieses Labyrinth betreten hatte. »Wohin?« fragte er mit belegter Stimme. »Sandwiches oder Konfekt?« fragte Lio. »Eine Antwort«, verlangte er barsch. Sie schloß die Augen. »Er ist«, setzte sie an, »nein, vielmehr er soll, ganz in der Nähe sein… gewesen sein.«
104
Lio hatte Urban ein verlassenes Nest namens Utelle genannt, ein Weinbauerndorf in den Seealpen. Wenn er sich nicht täuschte, lag das auf der Strecke zum Col de Turini. Er kannte es aus der Zeit, als er noch autoverrückt gewesen war, und die Rallye Monte Carlo mitfuhr. Irgendwo hatte ein Wegweiser gestanden mit Utelle darauf. Das lag schon zehn Jahre zurück. Gewiß würde es das Dorf noch geben. Da oben hatten schon Menschen gelebt, als Hannibal mit seinen Elefanten übers Gebirge gekommen war, und in tausend Jahren würde es nicht anders sein. »Am Ende des Dorfes«, hatte Lio gesagt, »ein Weingut mit kleinem Turm. Ein Araber hat es gekauft. Er will es zu einem Sanatorium umbauen. Aber die Arbeiten haben noch nicht begonnen. Im Moment wirkt es ziemlich heruntergekommen.« Er hatte noch wissen wollen, wie ihr Informant beim SDECE hieß. »Alain Girad«, hatte sie gesagt. Daraufhin war er gegangen. Jetzt stand er keine achtzig Meter von ihrer Wohnung entfernt am Kai Papacino in einer Bar, telefonierte und versuchte den V-Mann Ponelle zu erreichen. Aber bei Ponelle ging niemand an den Apparat. Verdammt, Ponelle, dachte Urban, beeil dich, jede Minute ist kostbar. Endlich meldete sich eine verschlafene Stimme. »Nur kurz mal vor dem Abendessen hingelegt«, entschuldigte sich Ponelle. »Was kann ich noch für euch tun? War der Mietwagen am Flugplatz?« »Er war so in Ordnung wie der Pfeilschuß letzte Woche«, sagte Urban. »Du wirst dein Abendessen ausfallen lassen, Ponelle und fährst für mich sofort nach Utelle.« »Mon Dieu!« stöhnte der V-Mann, »das sind mindestens achthundert Kurven. Wenn ich dran denke, dreht sich mein Magen um.« 105
»Macht nichts, wenn er leer ist.« Urban ging nicht auf das Gejammere ein. »Durch den Ort durch, am Ende links in den Hügeln findest du ein verlassenes Weingut mit Turm. Es soll umgebaut werden. Im Moment dient es oder diente es als Aufbewahrungsort für einen Mann, den wir suchen.« »Xie?« fragte Ponelle. »Warum fährst du nicht selbst hin?« »Ich komme nach. Aber ich muß diese Lio Tsou im Auge behalten und sonst noch einiges.« »Eh bien, ich setze mich in Bewegung.« »Bis später dann in Utelle.« »Später ist es Nacht.« »Hast du Schiß?« Urban legte auf. Dann rief er im Marseiller Büro des SDECE an. Er nannte seinen Namen, einen Code, und verlangte Quatembre. Gil war nicht da. Urban hatte nicht damit gerechnet, daß Gil auf seinen Anruf wartete, aber vieles wäre einfacher gewesen. »Habt ihr einen Mann namens Alain Giraud?« erkundigte er sich. »Allerdings, aber der ist mit Quatembre unterwegs.« »Merci.« Urban hängte auf. Er fragte nicht, wann die beiden zurückkamen, es wäre in jedem Fall zu spät gewesen. Noch immer konnte er nicht fassen, daß der SDECE etwas über den Verbleib des Marschall Xie wußte, ohne Pullach zu verständigen. Er rannte zurück zu den Eté-Appartements und sah Lio Tsou wegfahren. Ihr weißer Amischlitten schob seine Chromschnauze aus der Tiefgarageneinfahrt. Urban sah zwei Möglichkeiten. Er konnte ihr folgen, oder erst ihre Wohnung filzen. Da er zu wissen glaubte, wohin sie fuhr und sie leicht einzuholen hoffte, nahm er den Lift nach oben. 106
Das Sicherheitsschloß widerstand seinem Spezialwerkzeug nicht länger als dem regulären Schlüssel. Drinnen in der Wohnung orientierte er sich kurz, ging dann zu dem schwarzen Lackschrank, in dem sie ihren Schmuck aufbewahrte. Er zog alle Schübe. Überall lag Krimskrams, Modeschmuck, ein halbdutzend Damenuhren zum Umhängen oder am Arm zu tragen, Briefe, Rechnungen, ein Sortiment Schlüssel, künstliche Wimpern, leere Lippenstiftbehälter. Unter einer Packung Nylons, schwarz mit Naht, lag Geld. Gut und gern zehntausend Dollar, noch banderoliert. Die Banderole trug den Stempel einer Bank in London. Der Erlös aus der Ming-Vase war das nicht. Die hatte Lio angeblich in Monte Carlo verscherbelt. Was Urban auf der Banderole für das Zeichen des Geldzählers hielt, war eine Notiz. Drei Worte: Utelle Alain Giraud. Er hätte ein Brett so dick wie eine Eiche vor den Augen haben müssen, um nicht zu begreifen, daß das ganze eine Falle war. Lio hatte von irgendwoher Geld bekommen, um ihn auf eine falsche Spur zu. hetzen. Dazu hatte man ihr den Namen eines SDECE-Agenten gegeben und den Namen eines Ortes. Er hatte es geahnt. Sie war gefährlich. Er traute ihr nicht weiter, als er sie im dichten Nebel sehen konnte. Ihr Vorsprung betrug etwa acht Minuten. Der sollte aufzuholen sein. * Ein fünfeinhalb Meter langer Chevrolet-Schlitten war zwar ein echter Weichmann, aber wer es darauf anlegte, konnte damit ziemlich schnell sein. Wenn Lio Tsou nur halb so gut Auto fuhr, wie sie hübsch war, dann mußte Urban voll hei107
zen. Er schenkte dem Peugeot-Mietwagen nichts. Er forderte ihm eher noch ein bißchen mehr ab als ihm in die Wiege gelegt worden war. Der Motor quittierte es mit bösem Brummen, warf aber brav seine Pferde auf die Kurbelwelle. Was Urban auf der Avenue de la Victoir vorlegte, hätte ihn in Flensburg punktemäßig auf Jahre hinaus bedient. Zum Glück war er schneller vorbei als die Flies pfiffen. Außerhalb der Stadt kam er aus dem zweiten Gang nicht mehr heraus. Das Gaspedal am Bodenbrett driftete er durch die Kurven. Zum Teufel, das mochte ein Kurs für leidenschaftliche Rallye-Piloten sein, aber nicht für einen, der es wirklich eilig hatte. Die Dunkelheit kam. Hinter den Hügeln war es schon Nacht. Nur wo die Sonne ihre letzten Strahlen hinwarf, ging es noch ohne Licht. Urban drosch den Peugeot, daß er jeden Porsche naßgemacht hätte. Er kam sich ungeheuer schnell vor, aber die Rücklichter des Chevrolet tauchten nicht auf. Oder du bist auf dem falschen Trip, überlegte er, machte es eine Spur langsamer, trat dann aber wieder voll durch und winkelte die Limousine um die Ecken. Bloß nicht aufgeben, auch wenn man falsch lag, das war immer der Trick dabei. Noch eine lange Gerade, dann kam Levens. Weiter zum Turini hinauf. Steilstrecke, Serpentinen, enge Kurven. – Ein Lkw kam entgegen, zwang ihn fast in den Graben. Er fluchte laut. Die Temperaturanzeige stand im roten Sektor. Endlich die Abzweigung. Die Straße wurde ein Sträßchen, noch enger, noch schlechter, noch kurviger. Dann sah er Lichter aufblitzen. – Das war Utelle. Fahrzeit 35 Minuten. Ein Rennprofi hätte es nicht besser gekonnt. Der Wirbelsturm in Urban wurde zur Windstille. Das Ortsschild kam. Wenig später der Dorfplatz. Vor dem Cafe 108
standen ein paar Stühle unter Weinlaub, zwei Bauern tranken ihren abendlichen Pastis. Urban rollte durch und im Westen wieder hinaus. Die Straße endete, wurde zu einem Karrenweg. Aufs Geratewohl nahm er die Abzweigung in die Hügel. Die Sterne kamen heraus. Der Nachthimmel war klar. Gegen den Horizont sah er zwei Dächer, dazwischen einen Turm. Es mußte das verlassene Weingut ein. Mit vollem Licht und Gas nahm er die Kurve um die Stallungen, preschte in den Hof hinein, bremste scharf. Unmittelbar hinter dem weißen Chevrolet Cabrio und Ponelles Chrysler kam er zum stehen. Beide Wagen standen friedlich nebeneinander. Jeweils eine Tür, die des Fahrers, stand offen. Urban blieb sitzen. Irgend etwas an der Situation mißfiel ihm. »Ponelle!« rief er in die Stille hinein. Keine Antwort. »Lio!« rief er, »Madame Tsou!« Es blieb ohne Reaktion. Lauter Schwerhörige, dachte er und hupte mehrmals. Kaum war der Hupton verhallt, glaubte er ein Geräusch zu vernehmen. Urban ließ sich aus dem Peugeot fallen und rollte in Deckung eines steinernen Brunnentroges. Seine Nerven waren intakt. Er konnte sich nicht geirrt haben. Das Geräusch, was immer das Schnarren auch bedeutet haben mochte, es kam aus dem Gebäude linker Hand. Vorsichtig richtete er sich auf und näherte sich dem dunklen Viereck in der natursteinernen Mauer. Überall duftete es stark nach Wein. Es duftete so wie in Gebäuden, wo seit Jahrhunderten Wein gepreßt, vergoren und gekeltert worden war. Das drang ins Holz und ins Gemäuer wie der Rußgestank in die Haut eines Schornsteinfegers. Das Geräusch wiederholte sich nicht mehr. Urban tastete sich in das Gebäude hinein, rief noch einmal den Namen seines V-Mannes. 109
Da, wieder dieses Scharren, als bewege jemand den Körper auf rauhem Untergrund. Urban änderte nun die Richtung. Nach wenigen Schritten bekam sein Fuß Widerstand. Etwas Weiches Sackartiges lag am Boden. Er bückte sich, tastete es ab. Ein Körper. Dort wo der Kopf saß, fühlte er klebrig warme Feuchtigkeit. Urban tastete weiter, fand eine Lampe und knipste sie an. Vor ihm am Boden lag Ponelle. Er hatte einen Kopfschuß von Schläfe zu Schläfe. In der Hand hielt er einen Ring, schweres Gold mit Siegel aus grünem Achat. In den Stein eingeschnitten ein Drache. Zweifellos chinesische Arbeit. Urban konnte es nicht fassen. Ponelle war für ihn in die Falle gegangen. Zwar hatte er die Falle hinten dichtzumachen versucht, aber es war ihm mißlungen. Ponelle mußte sterben, weil ein toter Agent weniger Ärger verursachte. – Aber wo war Lio? Urban fand sie nicht weit entfernt von Ponelle. Sie saß gegen eine Spindelpresse gelehnt und lächelte mühsam, als Licht in ihre Augen fiel. »Verzeih«, sagte sie flüsternd. »Was?« »Es war eine Falle. Ich sollte dich hineinlocken. Plötzlich tat es mir leid. Ich wollte dich warnen. Leider zu spät!« Man hatte Lio Tsou behandelt wie jeden Verräter. Ihre Bluse war in Herzhöhe rot verfärbt. Es konnte nur noch Minuten dauern. »Wer?« fragte Urban. »Sie waren einfach da. Vor zwei Tagen. Sie boten mir Geld. Wer auch immer von welchem Geheimdienst auch immer zu mir käme, ich sollte ihm sagen, Xie sei in Frankreich in der Provence. In Utelle. Ich hätte die Information vom SDECE, sollte ich…« Das Sprechen fiel ihr schwer. »… sagen.« 110
»Lügen.« »Verzeih!« »Du bist dabei, es zu büßen«, bemerkte Urban hart. »Was waren das für Leute?« »Amerikaner, ich glaube Amerikaner.« In der Annahme, ihr Plan würde gelingen, hatten sie hier gewartet, um ihn abzuknallen. Aber sie hatten Ponelle erwischt und ihm, quasi als Beweis, daß Xie hier war, dessen Siegelring in die Faust gedrückt. Kein Zweifel, daß die Echtheit des Ringes jeder Nachprüfung standhielt. Wenn es aber Xies Ring war, dann mußten diese Leute den Marschall haben. Wo auch immer auf dieser Welt sie ihn versteckten, sie hatten ihn. »Schade«, sagte Urban, »da ist nichts mehr zu ändern.« »Ich weiß, ich muß sterben.« »Du glaubst es waren Amerikaner?« »Vielleicht aus Kalifornien… Südkalifornien… oder New Mexiko… oder gar Mexiko.« »Warum?« »Sie sprachen einmal leise miteinander, als ich Kaffee machte. Da sprachen sie spanisch.« O verdammt, dachte er, wo ist endlich der Weg aus diesem Labyrinth? Mit Lio ging es deutlich zu Ende. Sie atmete flach. Ihr Puls war kaum noch spürbar. Nur das Blut sickerte weiter aus dem Schußkanal in der Brust. »Halt meine Hand, bis es vorbei ist«, bat sie ihn. Er nahm ihre Hand und sagte: »Nein, so stirbt man nicht als eine Frau aus Kreisen, die dem Tod lächelnd ins Auge sehen.« Sie bewegte langsam den Kopf. »Lächelnd oder traurig«, antwortete sie, »was kümmert es mich jetzt noch. Es kümmert mich wenig, rein gar nichts.« Sie starb leicht. Sie hing wohl nicht sehr an einem Leben, das ohnehin nicht viel wert gewesen war. 111
11. Drüben am Strand wiegte der tropische Wind die Palmen. Die Dünung des Südatlantik schäumte gegen die Küsten Afrikas und versickerte schließlich im heißen Sand. »Cap Benguele«, sagte der Kommandant des amerikanischen Hubschrauberträgers zu dem deutschen Geheimagenten, »zwanzig Meilen querab.« Bob Urban beugte sich über die Karte. Von Cap Benguele hatte er den kürzesten Weg zum Ziel. Aber sie mußten die Nacht abwarten. Nur bei Dunkelheit konnte man die Grenzen Angolas auf eine Weise überwinden, daß noch Aussicht blieb, heil wieder nach Hause zu kommen. »Wie weit«, fragte Urban den Kommandanten, »können Sie heran?« »Sie haben kein Radar hier, es sei denn, die Invasionstruppen hätten fahrbare Stationen errichtet. Aber da hätten sie was zu tun bei tausend Meilen Küstenlänge.« Urban trank seinen Kaffee auf der Brücke und wandte sich an den ersten Wachoffizier der ›Mohawk‹. »Ist die Position von Mister Daniel bekannt?« »Wir treffen das U-Boot ab 22 Uhr im Quadrat QX.« »Mein Fluggerät schon klar?« »Letzte Checks laufen im Deckshangar.« »Dann haue ich mich ein paar Stunden in die Koje.« »Wünsche Ihnen klar bei Backbord Auge, Commander Urban.« Urban ging in die Offizierskammer, die man für ihn freigemacht hatte und kleidete sich aus. Nach seiner Erfahrung war echte Entspannung nur nackt unter der Decke möglich. Während der Hubschrauberträger ›Mohawk‹ Sanft krängend seinen Kurs nahm und Lichtreflexe vom Bulleye her an der Decke tanzten, dachte er noch einmal alles durch. Ob 112
er auch jeden Punkt berücksichtigt hatte, und ob seine Kombinationen stimmten. Ob sie aufgingen, würde sich ohnehin erst in 48 Stunden zeigen. Oder noch später. * Das Aufräumen in Utelle, dem Ort des Massakers, hatte Urban seinen Freunden vom Service de Documentation Exterieure et de Contre-Espionage überlassen. Gil Quatembre, den er in der Nacht noch erreichte, war bereit, ihm die Schmutzarbeit abzunehmen, diskret und rasch, ohne Fragen zu stellen. »Damit habe ich einen Gegendienst in gleicher Höhe gut«, sagte Gil. Das war alles. Auf Urbans Frage, ob er oder sein Kollege Alain Giraud jemals den Namen Lio Tsou vernommen habe, fragte Gil, ob das ein neues chinesisches Morchelgericht sei. »Es ist der Name der Toten«, erklärte Urban. »Und wer ist der tote Mann?« »Den kenne ich nicht«, log Urban. Trotz aller Freundschaft war es schlechterdings unmöglich, einzugestehen, daß der BND in Nizza über einen VMann verfügt hatte. Jeder wußte es, aber keiner gab es zu. Auch die Franzosen hatten V-Leute in München und Bonn und in Knatterbach an der Knatter, aber man sprach nicht darüber. Urban kehrte nach München zurück und landete nach einer stürmischen Reise, die ihm sein ganzes Blindflugkönnen abverlangte, um 02 Uhr morgens in Unterbiberg, weil sie in Riem nach 23 Uhr keine Maschinen mehr hereinließen. Trotz der späten Stunde fuhr er ins Hauptquartier und legte Stralmans großen Analysateuren den goldenen Ring mit dem Drachenstein auf den Tisch. Wie sie es anstellten, das wußte er nicht. Er fragte auch 113
nicht. Es war ihm gleichgültig, ob sie es aus Augenzeugenberichten hatten oder direkt aus Peking, jedenfalls behaupteten sie, daß der Ring echt sei. »Tausendprozentig?« »Kommt es auf ein paar mehr oder weniger an?« »Eine falsche Spur kann uns endgültig ins Abseits führen.« »Also tausendprozentig«, hieß es. »Der Ring hat die Größe von Xies Finger. Außerdem fanden wir im unteren Teil der Fassung Hautabrieb und winzige Partikel, die mit dem von ihm verwendeten Lotion identisch sind. Die Zellen zeigten unter dem Mikro die Struktur eines Achtzigjährigen.« In seinem Büro faßte Urban gerade die neuesten Fakten zusammen, als ihm eine Information der CIA Washington vorgelegt wurde. Sie war zehn Stunden alt und eingelaufen, als er nach Nizza flog. Das Fernschreiben klärte in wenigen Zeilen den Sachverhalt mit den Todesspritzen auf. Ein Karton davon war aus dem Labor des Herstellers entwendet worden. Und zwar von einem Paul Clavant alias Paolo Clavantez, vermutlich Agent des kubanischen Geheimdienstes BIH (Brigada Investigation Havanna). Damit ließen sich alle herabhängenden Fäden zusammenknüpfen. Die Typen, die Lio Tsou umgedreht hatten, um Urban in die Falle zu locken, ihn dort auszuschalten und seiner Leiche, ganz wie der des V-Mannes Ponelle, den Ring des Marschalls in die Hand zu drücken, diese Typen hatten sich als Amerikaner ausgegeben. Insgeheim aber hatten sie spanisch gesprochen. Daß sie von Havanna ferngesteuert wurden, darüber bestand jetzt kein Zweifel mehr. Und sie hatten den echten Ring des Marschalls besessen. Die Schlußfolgerung, daß Xie von den Kubanern in Athen 114
entführt worden sei, war jetzt nicht mehr allzu kühn. Aber das kleine Kuba hatte kaum Interesse daran, Xie in die Hand zu bekommen. Xie wäre für Cuba kein wertvolles Objekt für irgendein Tauschgeschäft gewesen. Zumindest konnte es sich Urban nicht vorstellen. Also handelten die Kubaner im Auftrag jenes großen Dirigenten, in dessen Orchester sie die Kesselpauke spielten. Schon oft waren die Kubaner vorgeschickt worden, wenn die große Sowjetunion nicht in Erscheinung treten wollte. So in Abessinien, so in Angola. Angola war das Stichwort für den nächsten Gedankensprung. In Angola hatte man eine internationale Expedition kaltblütig ausgeschaltet. Gewiß nicht nur, weil sie nebenbei ein wenig nach Uran suchte. Es mußte einen anderen Grund dafür geben. Vielleicht hatte Dr. Sprink seine Nase in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen. In Sachen, die die militärische Besatzung des Landes, die Kubaner also, geheimhalten wollten. Aber geheimhalten vor wem? – Wenn man gewisse Dinge geheimhielt, dann nur aus Angst oder Berechnung und Leuten, Gruppen oder Mächten gegenüber, die stärker waren. Hier kam Urban nicht weiter. Er fragte bei der Britischen Botschaft in Johannisburg an, wohin man den weißen Jäger Clive Daniel gebracht habe. Das Gespräch mit Daniel ergab, daß sie auf derselben Wellenlänge dachten. Urban machte einen Vorschlag. Clive Daniel erklärte sich sofort bereit mitzumachen, gegen hohes Honorar natürlich plus hoher Gefahrenzulage. Nun hatte Urban die CIA in Washington und MI-6 in London unterrichtet. Von dort war ihm jede Hilfe zugesagt worden. Ein Langstreckenaufklärungsflugzeug der Bundesmarine, eine Brequet 1150, hatte ihn in den östlichen Südatlantik gebracht, wo auf Position 12 Grad Ost 14 Grad Süd der 115
amerikanische Hubschrauberträger ›Mohawk‹ patrouillierte. Urban war mit dem Fallschirm abgesprungen. Das im Morgengrauen vor ziemlich genau acht Stunden gewesen. Jetzt lag er in der Koje der Offizierskammer. Die ›Mohawk‹ nahm Kurs Nordost auf die angolanische Küste zu. Bei Dunkelheit wollten sie ein britisches U-Boot treffen, das Clive Daniel mitbrachte. Dann ging der Höllentanz los. * Die US Navy hatte Urban einen Hughes-300 zur Verfügung gestellt, einen der besten Leichthubschrauber der Welt. In seinen Flugeigenschaften war er flink wie ein Moskito, trotz seines kleinen 200-PS-Motors. Der Dreisitzer war mit Zusatztank ausgerüstet. Damit sollte er neunhundert Kilometer weit kommen. Im Tiefflug, bei Mondlicht, summte der wespenartige H300 Richtung Küste. Urban hielt ihn knapp über der Wasseroberfläche. »Eine hohe Welle macht uns glatt den Hintern naß«, tagte der blondbärtige Daniel, angeschnallt neben Urban. »Das täuscht. Ich gehe nicht unter 15 Meter.« »Wie schnell sind wir?« »Hundertsechzig.« »Dann können wir in vier Stunden am Cobango-See sein.« »Ungefähr.« »Wenn das Ding durchhält.« Urban blieb wortkarg. Er hatte alle Hände, die Füße und die Augen voll zu tun. Die Füße standen in den Rudern, die Hände arbeiteten an Knüppel und Pitch, die Augen hingen an den Instrumenten. Drehzahl, Öldruck, Treibstoffdruck, Zylinderkopftemperatur, Kurs, Höhe, alles war wichtig. »Das Ding hält«, sagte Urban. Er gehörte nicht zu denen, die ein falscher Ton in Motor 116
oder Rotorgetriebe gleich in Panik versetzte. Nicht schon zu Anfang einer Operation. Vielleicht gegen Ende zu, wenn es haarig wurde. Jetzt aber hatte er andere Sorgen. Der Jäger sprach sie aus. »Der Treibstoffvorrat geht rapide abwärts.« »Hin kommen wir allemal.« »Und zurück?« »Zur Hälfte.« »Tolle Organisation«, meinte der Jäger. »Wir verlassen uns auf Ihre Angaben, Clive. Sie sagten, am See läge noch genug Sprit für die Wagen von Sprinks Expedition. Den müssen wir uns holen. Ohne den geht es nicht. Ich hoffe nur, daß Sie sich nicht irren.« »Es sind mindestens zwanzig Kanister Supersprit. Sie haben sie abseits in einer Mulde gelagert, mit Steinen und Gestrüpp abgedeckt.« »Na also«, sagte Urban. Der helle Strich, das war die Küste. Urban zog am Pitch. Der H-300 stieg mit etwa vier Metersekunden. Eine halbe Minute später huschten sie über die Palmwipfel hinweg. Erst kam der Waldgürtel, dann Buschland, dann Hügelsavanne. Der Jäger schielte auf den Gummizusatztank, der den dritten Platz in der kugelförmigen Kabine einnahm. »Den müssen wir wohl rauswerfen.« »Klar, wir brauchen den Platz für unseren Passagier.« »Falls wir ihn finden.« »Vor zwei Tagen klangen Sie optimistischer, Clive.« »Je näher ich herankomme, desto unwahrscheinlicher kommt es mir vor, daß Marschall Xie am Cobango-See sein soll.« Er lachte bitter. »Es ist ein Unterschied, ob du an eine Frau nur denkst, oder ob du sie vor dir hast. Hast du sie vor dir, ist alles nicht mehr so einfach wie in der Phantasie, mein Junge.« 117
»Ein letzter Versuch«, sagte Urban, »aber alles spricht dafür.« »Und was spricht dagegen?« »Auch alles«, sagte Urban. * Sie folgten dem Schienenstrang der neuerbauten Eisenbahnlinie von der Hafenstadt Mossamiedes ins Landesinnere. »Die Bahn«, erklärte der Jäger, »führt weiter bis Sambia. Soll mal quer durch den Süden laufen bis Mosambique und zu den Häfen am Indischen Ozean. Wird aber noch zwanzig Jahre dauern, wenn sie sich weiter so auf die Köpfe dreschen, diese Nigger.« Urban wußte, daß er ohne den ortskundigen Führer hier hilflos gewesen wäre. »Wie geht es dann weiter?« »Bei Nova Lisboa müssen wir uns südlich halten. Dann fangen die Berge an.« »Haben Sie«, fragte Urban, »dieses Land schon einmal von oben gesehen, Clive?« »Nur mein Jagdgebiet, wenn wir Wild zu treiben versuchten. Aber nie bei Nacht.« »Und nie das Hochland.« »Aber ich kenne es besser als ein Schwarzer. Außerdem besitze ich Projektionsvermögen.« »Sie mögen keine Schwarzen?« fragte Urban. »Nein, Sie etwa?« »Warum nicht.« Weil Urban nur knapp geantwortet hatte, rief der Engländer: »Ich weiß, seit Hitler ist euch Rassismus verboten. Armes Deutschland. Was macht ihr mit eurem Haß. Schluckt ihr ihn runter?« 118
Urban war die gute Zusammenarbeit mit Daniel wichtig. Deshalb wechselte er das Thema. »Schalten Sie bitte auf den Reservetank um, Clive.« »Jetzt schon, Boss?« »Damit er leer ist wenn wir ankommen. Dann werden wir ihn leichter los.« Der Jäger fummelte und betätigte den Hahn der daumendicken Plastikleitung. Der Vierzylinder Lycoming-Motor saugte zügig am Inhalt. 200 PS brauchten einfach Stoff, um da zu sein. Urban ging dem Profil des Geländes folgend höher. Der Jäger deutete auf ein wechselndes Licht am Himmel. »Ein Stern?« »Sterne haben keine eingebauten Blinkschalter«, sagte Urban. »Jagdflugzeuge?« »Die fliegen nicht bei Nacht. Nur ein Passagierjet.« »Ob der uns sieht?« »Eher registriert uns das Anflugradar von Caconda.« »Verdammt, tun Sie was dagegen«, fluchte der Engländer. Urban hielt stur seinen Kurs. Was sollte er machen. Wenn man gegen jede Gefahr etwas unternehmen wollte, dann baute man sich am besten einen Bunker im Wald und legte sich für alle Zeiten ins Bett. Es mochte kurz nach Mitternacht sein, da zeigte Clive nach unten. »Der Cobango-River.« »Wie kennen Sie ihn unter all diesen Flußtälern heraus?« »Nase«, sagte Daniel. »Woran erkennt ein Sänger den Kammerton a?« Sie folgten dem Fluß. Bald wurde er deutlich schmäler, äderte in Bäche aus, wurde zu Rinnsalen und endete irgendwo im Wald unter ihnen. »Wo ist der See?« fragte Urban kreisend. 119
»Welcher See?« »Der Cobango, aus dem er entspringt.« Daraufhin erteilte ihm der Jäger eine kurze Lektion über die Unzulänglichkeit afrikanischer Landkarten. »Der Fluß und der See haben zwar denselben Namen, aber daß der Fluß aus dem See kommt, beruht auf einer irrtümlichen Annahme. Livingstone, der den See als erster fand und seine Eigentümlichkeiten beschrieb, verließ sich dabei auf die Angaben der Eingeborenen. Er hatte wohl auch keine Zeit, seinem Geheimnis nachzugehen.« »Welchem Geheimnis?« fragte Urban. »Der See hat keinen Abfluß«, berichtete der Jäger, »trotzdem entleert er sich immer wieder. Man konnte sich das zunächst nicht erklären, bis man eines Tages das unterirdische Höhlensystem entdeckte, über dem der See ruht wie ein natürlicher Brunnentrog.« »Und wie fand man das Höhlensystem?« »Die Forscher vermuteten schon immer wertvolle Schätze am Grund des Sees.« Urban unterbrach den Jäger. »Wie kamen die Schätze dahin?« »Das weiß man bis heute nicht genau. Ich nehme an, daß durch das Uran Gesundheitsschäden bei den Stämmen hervorgerufen wurden. Die Medizinmänner vermuteten Rache der Götter und opferten ihnen. Später verließen die Stämme dieses Gebiet.« »Die Expeditionen suchten also nach den Opfergaben, und Dr. Sprink fand das Uran, dessen Wirkung die Stämme für die Rache der Götter hielten und sie vertrieb.« »Die Suche gestaltete sich stets äußerst schwierig. Keine der Expeditionen fand je einen Abfluß. Sie führten Grabungen und Sprengungen aus, um ihn trocken zu legen.« »Gelang das?« »Nur teilweise. Die Schlammschicht ist meterdick und 120
gab die Schätze nicht preis. Aber das Ekrasit legte die Sinterhöhlen frei.« Urban hielt weiter Kurs nach Weisung des Jägers. Unter ihnen zogen kahle Höhen besetzt mit Elefantengras und Buschwerk vorbei. »Dort also«, sagte Urban, »Sie glauben also, nur dort kann es sein.« »Wo sonst?« äußerte der Jäger. Wenig später schimmerte im Mondlicht eine silberglänzende Schüssel inmitten der Berge. Das Ziel lag vor ihnen. Urban ging tiefer und suchte einen Platz zum Landen. * Urban hatte den H-300 an der abfallenden Flanke des Vulkansees aufgesetzt. Der Motor war abgestellt, der Rotor drehte sich im leichten Wind. Die Dehnungshitze ließ die Aggregate knacken. »Wenn jetzt was kaputt geht«, bemerkte der Jäger, »dann adio Donna Grazia.« Urban lauschte in die Nacht hinaus. Die Geräusche des Urwalds, das Zirpen und Rascheln, das Keuchen schlafender Tiere, das Rauschen naher Quellen faszinierte ihn im Augenblick mehr als die ganze Technik. »Zwanzig Minuten Fußmarsch bis zu den Höhlen«, schätzte der Jäger. »Man sollte erst volltanken«, schlug Urban vor. »Bis ich das Benzindepot im Dunkeln finde, das kostet uns Stunden.« Urban, der ohnehin nicht damit gerechnet hatte, daß das Unternehmen in einer einzigen Nacht zu schaffen sei, schnallte sich los, nahm Maschinenpistole und Lampe und folgte dem Engländer. 121
Sie querten eine Schutthalde aus Lavagestein und arbeiteten sich an deren südlichem Rand durch verfilztes Gestrüpp. Nach einer halben Stunde unterbrach der Jäger keuchend die Arbeit mit dem Buschmesser. »Hab mich verlaufen. Das kommt vor. Gehn wir nach Osten, etwas bergwärts.« Nach weiteren 15 Minuten änderte Daniel abermals die Richtung. Urban, der wußte, wie schwer es war, ein kleines Loch in einem großen Berg zu finden, sagte nichts. Nur einmal äußerte er sich: »Wenn das Wasser des Sees aufgrund irgendwelcher Druckvorgänge gelegentlich abläuft, dann tut es das schon seit tausend Jahren. Dann gibt es auch ein Bachbett.« Clive Daniel steckte sich eine Zigarette an. »Dort oben ist es«, sagte er grinsend. Sie folgten dem steilen geröllhaltigen Abflußkanal, bis dieser von Buschwerk dachartig überwölbt wurde. Unmerklich ging das Grün in grauen Fels über. Ihre Schritte hallten. Sie waren drin. Im Laufe der nächsten Stunden suchten sie die weiträumigen Auswaschungen unter dem See ab. Sie betraten jede noch so kleine Nebenhöhle, folgten kriechend allen Verzweigungen bis zu ihrem Ende. Sie zwängten sich in Spalten, kletterten in höhere Etagen, ließen sich in die Tiefe und fanden doch nichts. Erschöpft hockten sie sich hin, nahmen einen Schluck Kaffee aus der Feldflasche und kauten Kekse dazu. »Nichts«, sagte der Jäger. »Wie auch?« »Es lag nahe«, tröstete sich Urban. »Enttäuscht?« »Alles sprach dafür.« »Wenn er je hier war, dann brachten sie ihn nach dem Massaker weg.« 122
»Dann würde es Spuren geben. Aber diese Leute sind eben Profis.« »Und wir nicht. Daran liegt es.« »Nicht auf dem Gebiet des Kidnapping.« Mittlerweile ging es auf 04 Uhr. Draußen würde es inzwischen hell geworden sein. »Ich muß den Helikopter tarnen«, erklärte Urban. »Bin in einer Stunde zurück.« »Was soll ich noch hier«, rief der Engländer so laut, daß das Echo mehrfach zurückkam. In dieser Sekunde fiel der Schuß. Er war gut gezielt. Die erste Kugel zertrümmerte ihre Lampe, so daß sie im Dunkeln saßen. Also doch, dachte Urban. Sie haben sich selbst verraten. Er tastete nach Clive und brachte seinen Mund an dessen Ohr. »Der Schuß kam von links.« »Da waren wir doch schon.« »Wir müssen etwas übersehen haben. Ich nehme die Ersatzlampe mit und schaue mich um. Halten Sie die Knarre klar.« Urban konnte sich wie eine Katze bewegen, aber völlige Lautlosigkeit schaffte er nicht. Noch zweimal wurde geschossen. Die Schüsse halfen ihm, sich zu orientieren. Vom letzten Schuß sah er sogar die kurze blaue Mündungsflamme. Er richtete die Lampe darauf, schaltete sie aber noch nicht ein, sondern lauschte angestrengt, bis er den Gegner im Dunkel atmen hörte. Die Lampe im weggestreckten Arm, machte er Licht. Der weiße Kegel erfaßte die feuchte Höhlenwand. Dort stand ein baumlanger Benguela in gefleckter Tarnuniform, verdreckt und bärtig. Kein Wunder, daß einer so aussah, wenn er in dieser Höhle hausen mußte. »Hände hoch!« schrie Urban. 123
Aber der Soldat riß den Maschinenkarabiner in Anschlag. Zum Durchziehen kam er nicht. Clive Daniel war schneller. Unter seinem Schuß sackte der Soldat zusammen. »Vorsicht!« schrie Urban, »da muß noch einer stecken.« Im gleichen Moment entstanden an der Höhlenwand Schattenspiele, als setzte ein riesenhafter Bär zu einem tödlichen Prankenhieb an. Mit einer blitzschnellen Drehung brachte sich Urban aus der Fallinie. Die Faust mit der Buschaxt sauste vorbei. Der zweite Soldat versuchte sich mit einem weiten Satz in Sicherheit zu bringen. Er kam flach auf, raffte sich hoch. Sie hörten das Hämmern seiner Stiefel in einer Nebenhöhle. Das Geräusch entfernte sich rasch. Urban hatte ihn ein Stück verfolgt, kam aber unverrichteter Dinge zurück. »Der kennt sich hier besser aus.« »Wie ich diesen Kerl einschätze, haut er ab«, meinte Clive. »In sein Dorf.« Nun suchten sie dort weiter, wo sie das Ende dieses Höhlenblinddarms übersehen hatten. Die Spalte war eng. Man mußte sich hindurchwinden. Aber dann erweiterte sich die Höhle wieder zu einem 30 qm großen Raum. Es gab zwei Feldbetten dort, einen Tisch und eine Art Affenkäfig. Auf dem Tisch stand ein Funkgerät. Am Boden des Käfigs lag ein alter Mann, gelbhäutig und mager, wie tot. Urban löste den gesicherten Riegel und kümmerte sich um den Gefangenen. Clive Daniel schaute sich ein wenig um. »Der Sender ist noch in Betrieb«, rief er bestürzt. »Er steht auf Automat-Alarm«, sagte Urban. »Das verkürzt leider unsere Zeit.« »Dann nichts wie weg.« Erst kümmerte sich Urban um den Greis, dessen Litewkakragen die Spuren zweier Marschallsterne zeigte. Xie gab nur noch schwache Lebenszeichen von sich. 124
Man hatte Urban die für einen Notfall besten aller bekannten Medikamente mitgegeben. Zunächst verabreichte er dem Marschall intravenös ein Kombipräparat. Es enthielt Traubenzucker mit kreislauf- und herzbelebenden Zusätzen. * Aus dem Feldbett machten sie eine Bahre, trugen den alten Mann hinaus und bergauf zum Hubschrauber. Jetzt, im Licht der aufgehenden Sonne, sahen sie auch die Antenne. Eine Kupferlitze schwang sich von Baum zu Baum. Kein Zweifel, damit war der Notruf glatt abgesetzt worden. Die Frage war nur, wie man den Wächtern des Gefangenen zu Hilfe kommen würde. Mit Fahrzeugen dauerte das mehrere Tage. »Der ist ihnen wichtig genug, daß sie Flugzeuge einsetzen«, keuchte Clive Daniel am hinteren Ende der Tragbahre. »Der Wächter war kein ausgebildeter Funker«, schätzte Urban, »sonst hätte er nicht auf automatischen Geber geschaltet. Vielleicht nehmen sie an, daß der Gefangene ernsthaft erkrankt ist und schicken nur einen Arzt.« »Hoffen wir’s.« Die Plexiglasscheiben des H-300 glitzerten im Tau. Von den Rotorflügeln tropfte es. Hohe Luftfeuchtigkeit kündigte die Regenzeit an. Sie zogen den dritten Sitz von der Schiene und legten den Marschall flach hin. Dann begann Urban mit den Startvorbereitungen. Batteriehauptschalter ein. Die Nadeln der Instrumente zitterten. Die Treibstoffanzeige wies noch knapp siebzig Liter aus. Das reichte für etwas mehr als eine Stunde Flug, oder hundertfünfzig Kilometer. Das war zu wenig. Damit kamen sie nicht nach Sambia und nicht nach Ovamboland. Und erst recht nicht bis zur Küste. 125
Sie mußten unbedingt tanken. Noch war es still. Am Himmel keine Wolke und kein Flugzeug zu sehen. Urbans Hand kippte die Startersicherung hoch. Da bewegte sich der Marschall. Er öffnete die Augen und richtete sich erstaunt auf. Urban sprach ihn deutsch an. »Sie sind in Sicherheit, Exzellenz. Mein Name ist Urban, Bundesnachrichtendienst. Wir versuchen Sie heil hier herauszuschaffen. Wenn Sie sich etwas benommen fühlen sollten, dann ist das auf die Wirkung der Injektion zurückzuführen.« »Ich fühle mich wohl«, äußerte der Marschall. »Bitte nehmen Sie keine Rücksicht auf mich.« Nur noch kurze Zeit, dachte Urban, tun wir das. Nachdem er wochenlang nichts anderes gemacht hatte, als diesen Mann zu finden, würde er alles dransetzen, ihn in Freiheit zu bringen. Danach allerdings würde er auch mal an sich denken. »Kann ich einen Schluck Wasser haben?« fragte Xie. Clive reichte ihm Fruchtsaft. »Apfelsaft mit Zitrone. Sehr gut.« »Sie sind vom Westen«, der Marschall sprach langsam, »das stimmt mich fröhlich. Wissen Sie, was man mit mir vorhatte?« »Ich fürchte eine Art Erpressung«, sagte Urban. Der Anlasser surrte. »Ich sollte irgendwo in der Welt meine Fähigkeiten als Arzt beweisen. An einem Mann, der an einer geheimnisvollen Krankheit leidet. Ich glaube dieser Mann sitzt in Moskau.« »Und die Kubaner entführten Sie. Langsam reißt ein, daß die Russen für jede Art Schmutzarbeit ihre Vasallen heranziehen.« 126
»Aber«, fuhr der Marschall fort, »die Kubaner spielen ebenfalls mit gezinkten Karten.« Urban hatte eine ungefähre Vorstellung davon. »Zwischen Havanna und Moskau läuft längst nicht mehr alles so ideal. Die Kubaner benutzen Sie also als schmerzhaftes Druckmittel.« »Entweder mehr Wirtschaftshilfe, neue Waffen, oder wir geben den alten Xie-Lei-Feng nicht heraus.« Der Marschall kicherte greisenhaft. »Nicht zu fassen, welchen Wert man auf seine alten Tage noch bekommt.« Er hatte wohl nicht die richtige Vorstellung von seinem wirklichen Wert. Oder es war Bescheidenheit. Der Boxermotor sprang an. Mit den ersten Umdrehungen knatterten blaue Fahnen aus dem Auspuff. Bald lief das Triebwerk rund. »Als ob ich je meine Hilfe verweigert hätte«, hörte Urban den Marschall murmeln. Der Motor hatte Betriebstemperatur. Urban gab Startdrehzahl und hob ab. Kaum über den Bäumen, deutete Clive Daniel gen Osten. Drei Punkte näherten sich im Tiefflug. »Shit«, war alles, was der Engländer von sich geben konnte. * Der Hughes-300 hatte kaum abgehoben, da heulte es, als gehe über Wald und See ein Ungewitter nieder. Die Punkte waren Jagdbomber, ältere MIG-19, ein Typ, den die Sowjet-Luftflotte längst ausgemustert hatte, der nur noch bei den Hilfsvölkern geflogen wurde. Unter ihren stark gepfeilten Flächen hatte jede Maschine zwei Bomben hängen. Die MIG waren so schnell, daß sie den Hubschrauber, grau in grau wie er war, wohl nicht er127
kannten. Zischend ritten sie auf ihrem schwarzen Abgasstrahl heran. Unmittelbar über ihnen rissen die Piloten ihre Maschinen plötzlich hoch und klickten die Bomben aus. Die erste hatte den Boden noch nicht erreicht, als die letzte sich löste. Instinktiv zog Urban den Kopf ein, kippte den Hubschrauber zur Seite und zog im Schrägflug davon. Bloß weg von diesem Inferno, das gleich losgehen mußte. »Sie bomben alles zusammen«, schrie der Jäger, »diese Wahnsinnigen.« Eine ungeheure Detonation fetzte ihm das letzte Wort von den Lippen. In ihrem Rücken flammte es weiß und grellrot auf. Die Druckwelle der 500-Kilo-Bombe holte sie ein, schüttelte sie, drohte sie in den Wald zu schleudern. Der Helikopter bebte in allen Nieten. Und schon kam die nächste Detonation. »Sind die irre?« fragte Clive Daniel kalkig im Gesicht. Zweifellos zog er es vor, unbewaffnet einem anstürmenden Nashornbullen gegenüberzustehen, als hier zu sitzen, ohne etwas tun zu können. Die schwimmerförmig ausgebildeten Kufen des H-300 streiften Geäst. Berührungen dieser Art gingen meistens schief. Wenn jetzt noch eine Druckwelle daherkam, dann lagen sie unten. Dann war alles umsonst gewesen. Urban konnte den Helikopter, balancierend wie ein Trapezkünstler, aufrichten. Er gewann Höhe, hatte dreißig Meter, als die nächsten Detonationen sie packten. Er blickte kurz zurück. Der Cobango-See sah jetzt aus wie vor tausend Jahren vielleicht, als der Vulkan, dessen Kegel er jetzt ausfüllte, zum letzten Mal Feuer gespien hatte. Eigentlich sah man nur noch eine schwarze Rauchwand, hinter der es tiefrot glühte. Wieder schüttelte die Riesenfaust das kleine Fluggerät. »Sechs«, zählte Urban. 128
Seine Hände hatten Knüppel und Pitch so fest umklammert, daß die Knöchel weiß hervorstanden. Ein Tosen erfüllte die Luft. Es war, als hätten sich ungeheure Wassermassen einen Weg gebrochen und rauschten jetzt zu Tal. Wenig später holte sie eine letzte, die siebende Detonation ein. Sie war schwächer, aber für Urban die vernichtendste von allen. »Was war das?« fragte der White Hunter,, »Sie hatten doch nur sechs Bomben.« »Das Benzindepot«, befürchtete Urban. Clive wischte sich fassungslos übers Gesicht. »Ging es ihnen etwa darum?« »Nein, das Depot bekamen sie gratis mitgeliefert.« »Dann ging es ihnen um uns.« »Gott gebe, daß sie uns nicht gesehen haben.« »Warum schlugen sie dann alles kurz und klein?« »Ganz einfach«, sagte Urban. »Sie löschen ihre Schande aus. Dem Funkruf entnahmen sie, daß irgend jemand versucht den Marschall zu befreien. Das mußten sie verhindern.« »Indem sie Xie und seine Befreier töten.« »Denn nur Tote schweigen wirklich dauerhaft.« Urban flog in einer weiten Kurve über Ost nach Süden. Nur weg vom Kurs der zurückkehrenden MIG. Mit Sicherheit würden sie noch einmal vorbeikommen, um sich von der Wirkung ihres Bombardements zu überzeugen. Urban warf einen Blick auf den Marschall. Xie lag in merkwürdig unnatürlicher Stellung da. Eine Hand hatte er am Hals, die andere auf der Brust. Seine Finger drückten die Epidermis. Es sah aus, als versuche er durch AutoAkupressur seinen Körper in einen Zustand zu versetzen, in dem er alles, was noch geschah, leichter überstand. »Was ist mit ihm?« fragte Clive Daniel verwundert. »Er hilft sich selbst.« 129
»Auf welche Weise?« Urban lenkte den Engländer ab und deutete auf die Tankanzeige. »Das Problem ist, wie helfen wir uns.« »Der kürzeste Weg ist nach Ovamboland.« »Keine Chance«, rechnete Urban. »In fünfzig Minuten spätestens bleibt der Quirl stehen. Aber dieser Motor ist so ausgelegt, daß er mit Superbenzin läuft. Kann man irgendwo tanken?« »Wohl nur an den Überlandstraßen.« »Und wo verlaufen die?« »Parallel zur Bahnlinie. Dort gibt es im Dreißigmeilenabstand Hütten mit Fässern, die mitunter eine Flüssigkeit enthalten, die man Benzin nennen könnte.« »Bringen Sie uns hin«, befahl Urban. * Das klare Licht des Morgens zeigte in der Ferne etwas, das sich wie ein Stück gebogener Draht durch die Hügel der Savanne nach Osten zog. Sie hatten die Bahnlinie erreicht. Jetzt mußten sie an der parallelführenden Lastwagenpiste eine Zapfstelle finden. Urban rechnete sich schon wieder leise Chancen aus, als auch seine letzte Hoffnung zerrann. Hinter ihnen, von schräg oben, hämmerte auf sie das typisch-feiste Tack-Tack von Bordkanonen herunter. Die erste MIG zischte über sie hinweg. Wieder wurden sie beschossen. Die Leuchtspuren der 23-MillimeterBordwaffen überholten sie giftig nahe. »Treffer!« schrie der Engländer. »Noch einer!« Sie zogen die Köpfe ein, obwohl das wenig nützte. Urban las die Instrumente ab. Sie zeigten normal an. Auch flog der Hughes noch völlig korrekt und reagierte auf jede 130
Ruderbewegung. Urban ging so tief wie möglich herunter. Dicht über dem Boden tanzte er mit 160 in Schlangenlinie dahin. Leider mit weniger als zwanzig Liter Benzin im Tank. Die Warnanzeige brannte schon seit Minuten. Die dritte MIG hatte zum Glück auch daneben geschossen. Vor ihnen wurden die Jagdbomber hochgerissen. Sie kamen garantiert wieder. Clive Daniel blickte Urban aus geweiteten Augen an. Sie hatten rotentzündete Ränder. Was jetzt, schien er zu fragen. Urban machte sich keine Illusionen. Ohne Sprit, gejagt von MIGs, mit der Aussicht abgeschossen zu werden, wenn er nicht landete, das war ihre Lage. Er schaute sich zu Xie um. Der lag mit geöffneten Augen leise murmelnd wie in Selbsthypnose. Noch einen Kilometer bis zur Bahnlinie. Der Motor hatte schon Aussetzer. Urban tat, was er tun mußte. »Sie wissen nicht«, sagte er, »wie viele wir sind. Bis sie uns zu fassen kriegen, kann einige Zeit vergehen. Einer von uns bleibt bei Xie, einer muß versuchen sich durchzuschlagen.« Der Engländer hatte verstanden. »Um der Welt zu sagen, was hier gelaufen ist.« »Mit Welchen Mitteln sie Politik machen.« Clive Daniel zog die Schlußfolgerung daraus. »Okay, ich kenne das Land am besten. Wenn einer durchkommt, dann ich.« Minuten später setzte Urban den Helikopter neben dem Bahndamm der Sambia-Linie auf. Mit dem allerletzten Tropfen Sprit vollführte er eine glatte schulmäßige Landung. Urban stieg aus, steckte sich eine Zigarette an und wechselte mit Clive Daniel einen Händedruck. »Hat mich gefreut«, sagte er. 131
»War eine kurze aber sehr interessante Bekanntschaft«, versicherte der Engländer. »Ich tu, was ich kann. Für Sie, Bob und für den Marschall.« »Kommen Sie gut durch«, wünschte ihm Urban. Um den Marschall brauchte er sich nicht zu kümmern. Der wußte selbst am besten, was gut für ihn war. Urban stand einfach so herum, nahm kleine Schlucke Bourbon aus der Reiseflasche zu sich und qualmte den Rest aus der MCPackung auf. Nach vierzig Minuten schon waren sie wieder da. Sie kamen von Süden mit Armeejeeps und von Westen mit einem Sonderzug, bestehend aus einer Diesellok und zwei Wagen. »Mit einer Übermacht von fünfzig zu eins legte sich Urban nicht an. Beherzt blickte er in ihre Maschinenpistolen und hob die Hände. Was ihn aber ziemlich erschütterte, war der Umstand, daß sie einen Mann bei sich hatten, der gefesselt und arg zusammengeschlagen war. Clive Daniel, der weiße Jäger, mußte ihnen direkt in die Arme gelaufen sein. 12. Der Sonderzug ratterte nach Osten. Im hinteren Wagen saß die Wachmannschaft, ein Dutzend Schwarze unter Führung eines kubanischen Sergeanten. Vorn auf der Dieselmaschine standen der Lokführer sowie ein Soldat. Und im Wagen, der von Lok und Bewachern in die Mitte genommen wurde, saßen Marschall Xie, Clive Daniel, Bob Urban und zwei Offiziere. Den greisen Marschall hatten sie auf eine der Holzbänke gelegt, deren Lehne gegen die Fahrtrichtung zeigte. Unter 132
Xies Kopf befand sich ein Polster aus Armeedecken. Bob Urban und der Engländer waren gefesselt. Mangels Handschellen hatte man ihre Gelenke mit Stricken, geflochten aus Savannengras, umwickelt. Leider hielten diese Stricke ziemlich gut. Der eine Offizier, ein Leutnant, war Kubaner. Seine Haut hatte einen etwas dunkleren Schimmer als die des Hauptmanns. Der Hauptmann sprach perfektes Deutsch mit sächsischem Klang. Er war vermutlich Angehöriger der ostdeutschen Freiwilligenlegion. Offen erklärte er, daß er hier als Dolmetscher fungiere. »Sprechen Sie Chinesisch?« fragte Urban beiläufig. »Kein Wort. Aber Spanisch.« »Das spreche ich auch«, versicherte Urban. »Sie hätten sich die Mühe sparen können.« Der Hauptmann, ein gutaussehender sehr adretter Bursche, bemerkte herablassend: »Sie werden noch froh sein, wenn Sie über einen Mittelsmann zu den Kubanern verfügen. Unsere Freunde aus Havanna können sehr ungemütlich werden.« »Sie meinen, daß sie im Verhör zu foltern pflegen.« »Deshalb ist es besser, wenn Sie mir vorher Ihr Herz ausschütten. Sie sind Deutscher.« »Da hierüber kein Zweifel bestand, leugnete es Urban auch nicht ab. »Name, Dienstgrad?« »Feldpostnummer«, ergänzte Urban. »Von mir erfahren Sie keine Silbe.« »Warten wir es ab«, erwiderte der DDR-Hauptmann. Und dann überaus freundlich: »Zigarette?« Urban starrte zum Fenster hinaus. Der Zug machte höchstens sechzig Stundenkilometer. Es ging immer der Sonne entgegen, also nach Osten. »Sie kamen vom Atlantik herein«, fuhr der Hauptmann fort. »Dort liegt ein US-Kriegsschiff.« 133
»Was Sie nicht sagen«, knurrte Urban. »Ihr Helikopter ist ein amerikanisches Modell. Seit wann arbeitet der deutsche Geheimdienst Hand in Hand mit der CIA?« Urban konnte über soviel Naivität nur lächeln. »Und die DDR Hand in Hand mit Aggressoren.« »Ich fürchte, hier handelt es sich um eine Bildungslücke Ihrerseits, Oberst Urban«, bemerkte der Volksarmeehauptmann scharf. Das wußten sie also auch. Kein Wunder. Ihre Leute in Athen, in Nizza, an der Autobahn nach Freiburg waren ja nicht blind gewesen. »Vielleicht schließen Sie meine Bildungslücke und | erzählen mir, wohin diese Bahnlinie führt«, erwiderte Urban. »Über Munghanga, dann zum Bongo-Fluß.« »Und weiter nach Sambia.« »Bis Sambia ist die Bahn leider nicht ganz fertiggestellt. Sie bauen noch daran.« »Sie bringen uns also nach Munghanga.« »Da sind wir schon durch«, antwortete der Hauptmann. »Wir bringen Sie in ein Gefangenenlager, wo wir die aufrührerischen Elemente dieses Landes unter Verschluß halten. Dort haben wir alle Möglichkeiten, Sie sicher aufzubewahren und zu verhören. Aus Lager Diluo kommt keiner heraus.« »Lebend«, ergänzte Urban. »Das kommt auf das Verhalten des Gefangenen an.« Das Land wurde flacher. Die Berge wichen immer weiter zurück, bis man ihre Höhenzüge nur noch in der Ferne ahnte. Beiderseits der Bahnlinie war jetzt Savanne, oder auch Grasprärie, wie man sie in den USA bezeichnet hätte. Ab und zu tauchte ein Rudel äsendes Großwild auf. Antilopen und Zebras flohen vor dem ratternden Zug in die Weite. 134
»Kaum eine Karte verzeichnet diese Bahnlinie«, äußerte Clive Daniel. »Offiziell ist sie noch gar nicht eingeweiht«, erklärte der VA-Hauptmann. »Aber wir haben ihnen Beine gemacht.« »Wem?« wollte Daniel wissen. »Dem Spender der Bahnlinie.« »Muß man den kennen?« erkundigte sich Urban vorsichtig. Der Hauptmann winkte ab. »In wenigen Minuten werden Sie ihn kennenlernen. Noch zwanzig Kilometer, und wir halten im Camp. Dort nehmen wir Dieselkraftstoff für die Lok auf. Urban überlegte. Richtig, er hatte schon darüber gelesen. Irgendwo hatte eine Notiz gestanden, daß die Volksrepublik China ihren Brüdern in Zentralafrika eine Bahnlinie zum Geschenk machte. Das war lange her. Inzwischen hatte sich die Lage in Afrika geändert, hatten sich die Schwerpunkte stark verschoben. Das Geschenk mit der Bahnlinie hatte nicht verhindern können, daß Angola jetzt sowjetisches Einflußgebiet war. Aber die Chinesen, vertragstreu wie sie einmal waren, führten die Bahnlinie weiter und bauten sie bis zur letzten Schwelle. »Siebentausend Chinesen«, erwähnte der VA-Hauptmann, »treiben die Trasse durch dieses mörderische Land vorwärts.« »Apropos Chinesen«, sagte Urban, »haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich um unseren prominenten Gast aus Peking kümmere?« »Verstehen Sie ihn denn?« »Ohne weiteres«, prahlte Urban. Er stand auf und ging zu Marschall Xie hinüber. Leise sprach er auf ihn ein. Aber nicht deutsch, sondern mit den paar Worten Chinesisch, die er im Repertoire hatte. 135
Der Marschall begriff ihn sofort. Er war offenbar in besserem Zustand, als er zu erkennen gab. Bald leuchtete die Kampflust des alten Kriegers in seinen Schlitzaugen. * Die Chance war kaum meßbar klein. Ein letzter Versuch nur. Unter Ansatz von ein wenig Psychologie konnte es klappen. Eigentlich ging es nur darum, das Dutzend waffenstarrender Soldaten im zweiten Wagen auszuschalten. Wenn es fehlschlug, würden zumindest zwei Leute in diesem brüllend heißen Todescamp verkommen. Bob Urban und Clive Daniel. Niemand würde sie jemals von dort herausholen können. Der Zug verringerte sein Tempo. Hier und da tauchte beiderseits des Geleises eine Gestalt auf. Klein, blauer Anzug, weite Hosen, einen Kulistrohhut auf dem Kopf. Die Arbeiter hatten Rohre mit T-förmig aufgeschweißten Querstücken oben. Damit drehten sie Schrauben in die Schwellen hinein. Je langsamer der Zug fuhr, desto dichter säumten jetzt Kulis die Strecke. Sie pickelten den Schotter unter die Schienen und legten ein einfaches Rangiergleis mit Weichen an. Bald fuhr der Sonderzug nur noch Schrittempo. Die Bremsen griffen schleifend. Jetzt, dachte Urban, jetzt. Sobald der Zug hält, umgeben die Soldaten den mittleren Wagen sofort mit einem Kordon. Er nickte dem Jäger zu und dann Marschall Xie. Der Marschall richtete sich auf, kam auf die Beine und näherte sich dem Fenster. »Weg vom Fenster«, schrie der kubanische Leutnant. Of136
fenbar war er sich der Gefahr bewußt, die entstehen konnte, wenn die Kulis draußen ihren Volkshelden zu Gesicht bekamen. Seelenruhig drehte sich der verwitterte alte Mann um, und schien mit fast zärtlicher Bewegung den Hals des Kubaners streicheln zu wollen. Er streichelte ihn vom Ohr abwärts. Dabei verharrte er etwa eine halbe Sekunde an einer bestimmten Stelle. Der stämmige Offizier wurde plötzlich starr, dann sackte er langsam in sich zusammen. Xie hatte einen jener tödlichen Punkte berührt, wo man die Funktion jedes menschlichen Körpers unterbrechen konnte. Der VA-Hauptmann sah, was lief, und sprang auf. Aber Urban war schneller. Er hämmerte ihm beide Fäuste seiner gefesselten Hände erst in den Nacken und dann, als sich der Körper des Hauptmanns zum Bogen spannte, von unten gegen das Kinn. Hart krachte der Offizier gegen die Bank. Urban riß das Fenster auf, packte den greisen Xie und bugsierte ihn dorthin, daß ihn alle die tausend Chinesen sehen konnten. Der Zug hielt mit einem Ruck an. Und Marschall Xie begann nach kurzer Sammlung auf seine herandrängenden Landsleute einzureden. Es dauerte nicht lange. Er brauchte nur wenige Worte, und schon hatten sie ihn erkannt. Sie hoben begeistert ihr Werkzeug, die Schaufeln und Pickel, die Gleisrammen und die schweren Schraubenschlüssel und brüllten ein frenetisches Willkommen. Was Xie zu ihnen sprach, verstand Urban nicht, aber als die schwarzen Soldaten aus dem hinteren Wagen zu stürmen versuchten, standen sie einer Mauer von Feindseligkeit gegenüber. »Feuer!« befahl ihr Sergeant. 137
Doch kein Schuß fiel. Jede Gegenwehr ging im wütenden Geschrei unter. Urban sah die gefleckten Uniformen der Soldaten in der Masse der blauen Ameisen verschwinden. Aufgesaugt wie von Löschpapier. Die Kulis stürmten in den Waggon, schnitten auf Xies Befehl Urban und den Engländer von den Fesseln frei und trugen den Marschall auf ihren Schultern fort. »Träume ich«, fragte Clive Daniel, »oder was?« »Wachen Sie rasch auf«, riet ihm Urban, »denn lange hält so ein Traum nicht vor.« * Xie war einschlägig geschult. Ohne daß Urban ihn daran erinnerte, wußte er genau, daß ihr Vorsprung kurz war, die Macht der Truppen hingegen groß genug, um sie auch im letzten Winkel Angolas zu kriegen. »Diese Männer hier«, sagte er in einem Nebenraum der Kantinenbaracke zu Urban, »tun alles für mich. Sie würden mich mit ihren Leibern schützen.« »Siebentausend Unbewaffnete gegen eine Armee«, erwiderte Urban. »Sie würden zwischen ihren Leibern sterben, Exzellenz.« Clive Daniel stürzte herein. Er hatte sich draußen umgesehen. »Wir können die Brücke sprengen, dann kommt der Ersatzzug nicht heran. Die Kulis können quer über die Straße einen tiefen Graben schaufeln, das schafft kein Truppentransporter.« »Sie haben Panzer«, erinnerte Urban. »Dann gibt es da noch ein Flugzeug«, meldete Clive, »einen winzigen Zweisitzer. Gehört irgendeiner Mission. Aber die Tante weigert sich zu fliegen.« 138
»Welche Tante?« . »Irgendeine Ordensschwester. Aber Sie können ja ganz gut fliegen, Bob.« Urban suchte die Schwester im Camp. Sie hatte gerade Samariterstunde und verarztete verletzte und kranke Chinesen. Urban scheuchte die Kulis hinaus und nahm die fromme Frau ins Gebet. »Sie müssen den Marschall nach Ovambaland bringen«, forderte er. »Ich habe gehört, daß er hier ist«, antwortete die Ordensschwester ruhig, »aber ich werde nicht tun, was Sie verlangen. Ich habe Anweisung, mich nicht in politische Angelegenheiten zu mischen.« »Dann fliege ich«, drohte Urban. Das brachte ihm einen resignierenden Blick seitens der frommen Frau ein. »Das ist Ihre Sache.« »Und dann werde ich der Welt mitteilen, daß sich eine katholische Ordensfrau weigerte, möglicherweise einen Krieg zu verhindern.« »Das ist für mich keine Alternative, mein Herr.« »Wären hunderttausend Dollar für Ihre Kollekte eine Alternative?« fragte Urban. »Sie bluffen. Sie können gar nicht fliegen«, entgegnete die Nonne mit dem Milchgesicht naiv. »Ich muß«, erklärte Urban, »leider etwas Wichtigeres tun. Ich muß die falsche Fährte ziehn, bis Sie in Sicherheit sind, Mutter.« Er redete, wie er schon lange nicht mehr geredet hatte. Er predigte, er bekniete die Nonne, er flehte sie an. Er sprach mit Engelszungen. Endlich legte sie ihre Instrumente weg und rief wütend: »Verdammt noch mal. Dann in Gottes Namen also.« 139
Sie wollte ihre zwei Doktorkoffer mitnehmen. »Das geht nicht«, entschied Urban. »Übergewicht. Sie haben zwei Passagiere.« »Die bringt meine alte Auster nicht mehr hoch.« »Einmal schon noch«, sagte Urban. »Der Marschall besteht nur aus Haut und Knochen. Außerdem haben Sie bald eine neue Maschine. Ich verbürge mich dafür.« Der Engländer bekam einen Anfall von Mannesmut. »Sie müssen Xie rausfliegen, Bob«, sagte er. »Nur Sie schaffen das.« »Die Schwester ist eine erfahrene Buschpilotin«, entgegnete Urban, »und Sie kommen mit, Clive. Schließlich sind Sie freiwillig hier. Sterben ist nicht Ihr Job.« »Ihrer etwa?« »Einer muß die falsche Spur ziehen, muß die Hunde in die Irre führen. Und das genau ist mein Job. Bringen Sie XieLei-Feng gut nach Ovamboland.« Zwanzig Minuten später startete der schmalbrüstige Hochdecker. Urban schaute ihm nach, bis er jenseits des Flusses im Blau des Himmels verschwand. * Urban hatte sich den besten Wagen geschnappt, einen älteren Ford Custom des Chefingenieurs. Den drosch er nach Osten auf die Grenze zu, um eine falsche Spur zu ziehen. Er fuhr von der Hitze des Tages in die Kühle der Nacht hinein. Die Straßen Afrikas waren immer voller Geheimnisse. Trotzdem raste Urban mit vollem Hammer über die löcherigen Sandstraßen. – Afrika unverdünnt. Rasch kam die Dunkelheit. Auf der Straße lagen Tiere, um sich zu wärmen. 140
Wildkatzen erkannte man früh genug am Glimmen ihrer Augen. Man konnte ihnen ausweichen. Den Ziegen nicht so gut. Aber die hauten von selbst ab. Ziegen waren vorsichtig. Urban fuhr immer mit durchgetretenem Gaspedal. So um hundertvierzig. In den Dörfern etwas langsamer, hundertdreißig etwa. Immer wieder schielte er nach hinten, ob ein Flugzeug auftauchte. Und hinter jeder Kurve erwartete er eine Straßensperre. Aber er hatte Glück. Er fand auch immer wieder eine Zapfstelle und ließ sich den Tank aus Fässern füllen. Es wurde Tag, er wurde müde. Die Sonne stieg, es wurde heiß, die Temperatur ging hinauf. In der Limousine und im Motor. Afrika pur. Die rote Lampe leuchtete auf. Um die Zylinderkopfdichtung nicht zu riskieren, um die Kühlwassertemperatur zu senken, schaltete Urban die Heizung ein. Das half. Aber das auf Stufe drei laufende Gebläse machte die Hitze im Wagen unerträglich. Jetzt schwitzte er nicht nur, er wurde regelrecht zu Pemmikan, zu Dörrfleisch. Luftgetrocknet, nannte man das. Staub flimmerte im Licht. War er schon drüben oder nicht? Er fuhr und fuhr. Alles verschwamm vor ihm. Straße, Steppe, Hügel, Weite, alles eins. Fata Morgana. Er war so fertig wie selten. Afrika, was für eine Hölle. Eines schwor er sich. Solange die Kiste läuft, hältst du durch. Der Ford lief, bis das Benzin zu Ende war. Als der Motor seinen letzten Ruck machte, sackte auch Urban wie leblos über das Lenkrad. Stunden vergingen. Irgendwann hörte er Stimmen. Er konnte sich auch täuschen. 141
Dann allerdings war es wohl der Gesang der Engel im Jenseits. * Da lag er nun, im Schatten des Krals, auf gestampftem Lehmboden. Die Strohwände der Hütte waren hochgerollt. Er konnte über das Buschland blicken. Aber es war ihm verdammt nicht danach, nach dieser Schinderei. Ein Mädchen kam herein, eine Schönheit mit blauem Schleier vor Mund und Nase, sonst aber völlig nackt. »Tee?« fragte sie. »Schlafen«, murmelte er. »Dein Auto ist sehr krank, Massa.« »Es ist kaputt«, antwortete er. »Macht aber nichts. Gibt wichtigere Dinge.« »Kann lange dauern, bis jemand vorbeikommt«, sagte das Mädchen. »Schon treiben die Wolken der Regenzeit.« »Ich habe Pause«, erwiderte er, »große.« »Kann Wochen dauern, Massa.« »Einmal wird eine Karawane vorbeiziehn.« Die schöne Schwarze lächelte. Er glaubte es zumindest, denn unter dem Schleier bewegte sich ihr Mund. »Ich bin deine Dienerin, sagt der Häuptling.« »Ich lasse ihm dafür danken.« »Einen Tee jetzt, Massa?« »Schlafen«, wiederholte er nur. »Ich werde da sein, wenn du erwachst, Fremder«, flüsterte sie. »Immer wenn du einschläfst oder erwachst und du mich brauchst.« Das hörte sich verdammt nicht übel an. Bei solchen Aussichten konnte einem manches egal sein. Vor allem was da draußen jenseits der Hügel vor sich ging. Urban stellte sich fest darauf ein, daß seine Welt für eine 142
Weile nicht größer war als dieses friedliche Tal. Es war ihm gleichgültig, was hinter den Bergen passierte. Was geht es mich an, dachte er, es geht mich nichts an, rein gar nichts. So oder ähnlich hatte erst vor kurzem jemand gesprochen. Ja, richtig, Lio Tsou, als sie starb. ENDE
143