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Gescannt und überarbeitet von schroeg
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Dr. Glenn Morton, Mitglied des Königlichen Kollegiums der Chirurgen, war auf dem Weg von seiner Privatklinik zu seinem Landsitz Lannix Manor. Er fuhr seinen Jaguar ruhig und beherrscht und war so konzentriert wie vor einer schwierigen Operation. Der Polizist an einer der belebtesten Kreuzungen von Brighton, der ihn erkannte und achtungsvoll zwei Finger zum Gruß an die Kopfbedeckung legte, konnte ebenso wenig irgendeine Spur von Aufregung an Dr. Morton entdecken wie wenige Minuten später Sansom, der Butler von Lannix Manor, der seinem Herrn die Tür öffnete. „Ich möchte nicht gestört werden, Sansom." „Jawohl, Sir." ,Ich möchte nicht gestört werden' bedeutete, daß Dr. Morton für nichts und niemanden zu sprechen war, ja, dass man nicht einmal an die Tür klopfen durfte, hinter der er sich aufhielt. Selbstverständlich wurden auch keine Telefongespräche durchgestellt. Sansom wußte Bescheid. Er wie alle anderen Angestellten hier in Lannix Manor. Wenn Dr. Morton nicht gestört werden wollte, war das so, als sei er überhaupt nicht im Haus. Es gab nur einen Menschen, der sich über das absolute Störungsverbot hinwegsetzen durfte. Das war William Grimsby, Chauffeur und Pilot und ‚Mädchen für alles' bei Dr. Morton. Manchmal erweckte diese Tatsache Neid und Mißgunst bei den anderen Angestellten. Aber da es sonst nichts gab, worüber sie sich beklagen konnten, fanden sie sich auch mit Grimsbys Vorzugsstellung ab. Dr. Morton durchquerte die Bibliothek, von Lannix Manor und betrat das dahinter liegende Kartenzimmer. Er schloß die Tür und hielt sich diesmal nicht damit auf, die sieben großen Karten, die die Wand bedeckten, eine nach der anderen wegrollen zu lassen. Er hatte es eilig, und das hätte ein Beobachter jetzt spüren können. Wenn es einen gegeben hätte. Dr. Morton und Grimsby waren drüben in den versteckten Räumen unterhalb der Privatklinik gewesen, als das Alarmsignal ertönte. Was der Alarm bedeutete, konnte man nur an Ort und Stelle sehen. Jedenfalls mußte sich ein ernster Zwischenfall ereignet haben. Etwas, das Dr. Mortons Karriere und seine Existenz mit einem Schlag beenden konnte. Immerhin hielt er hier unter dem weitläufigen Herrensitz in nur ihm und Grimsby zugänglichen Räumen nicht nur zwei Gangster gefangen, die ihnen vor einiger Zeit in die Quere gekommen waren, sondern auch Mr. Spratt, einen leibhaftigen Chefinspektor von Scotland Yard. Dr. Morton hatte den nach unten führenden Gang erreicht, an dem der eigentliche Zugang zu den geheimen Räumen lag. Hier war alles in Ordnung. Die Anlage war so gebaut, daß ein Eindringling, der bis hierher gelangt war — unwahrscheinlich genug —, dem wirklichen Geheimnis zwar auf der Spur war, es aber aller Voraussicht nach trotzdem nicht erreichte. Der Gang stellte eine Verbindung zwischen dem Haupthaus von Lannix Manor zu dem Garagentrakt, den ehemaligen Stallungen, dar. Na und? Für sein Vorhandensein konnte man immer eine glaubhafte Erklärung finden. Dr. Morton zögerte. Das Alarmsignal bedeutete, daß mindestens einer der Gefangenen eine der verschlossenen Türen gewaltsam geöffnet hatte. Wahrscheinlicher war es jedoch, daß da drin mindestens die beiden Gangster aus dem Nachlaß eines inzwischen verstorbenen Mr. Knowles sich zusammengetan hatten und darauf lauerten, ihre Freiheit wiederzugewinnen. Morton unterschätzte ihre Gefährlichkeit nicht. Er wußte, daß sie sich keine Schußwaffen beschafft haben konnten, denn dergleichen wurde hier unten nicht aufbewahrt. Aber für zwei entschlossene Männer gab es andere Möglichkeiten, sich zu bewaffnen. Seite 3
Zwei? — Vielleicht waren es auch drei, die drin auf ihn lauerten. Durchaus möglich, daß die Gangster Chefinspektor Spratt befreit hatten, und ohne Zweifel würde er sich vorübergehend mit ihnen zusammentun, wenn's darum ging, Dr. Morton und dem sicheren Tod zu entkommen. Dr. Morton hatte die kurzläufige Llama-Automatic in der rechten Hand, eine kleine, zuverlässige Waffe, die er fast immer bei sich trug und mit der er auf kurze Entfernungen traumhaft sicher traf. Er zögerte noch, die unsichtbare Tür zu öffnen. Mal angenommen, dachte er, die drei lauern dahinter. Ich kann vielleicht einen sofort ausschalten, wenn die Tür aufgeht. Den zweiten erwische ich womöglich auch noch. Wenn sie aber zu dritt sind, bleibt immer noch einer übrig, der vielleicht mich erwischt. Dieser dritte wäre dann immer erst hier im Gang. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde Grimsby ihn erledigen, bevor er ans Tageslicht käme. Aber ich wäre dann vielleicht tot . . . Es war sinnlos, ein Risiko einzugehen, wo man's vermeiden konnte. Jedenfalls in dieser Situation. Es gab andere Situationen, in denen Dr. Morton Herausforderungen annahm. Herausforderungen, die seinen Jagdinstinkt ansprachen. Das hier war nicht dazu angetan. Hier galt es nur, eine plötzlich aufgetretene Gefahr auszuschalten. Dr. Morton ging einige Schritte weiter. Er betätigte einen gut getarnten Schalter. In der Decke entstand eine Öffnung, als zwei anscheinend fest miteinander verfugte Bruchsteine auseinander glitten. Ein weiterer Knopfdruck fuhr eine Treppenleiter aus. Dr. Morton schwang sich hinauf. Oben konnte er nur gebückt stehen. Mit der Gewandtheit eines Raubtiers bewegte er sich vorwärts. Er stieg zwischen einem Gewirr von Leitungen und Apparaturen hindurch. Hier befand er sich in der Zentrale der Klimaanlage, die die ganze unterirdische Anlage mit Frischluft und Wärme versorgte. Er war jetzt froh, seinerzeit Grimsbys Vorschlägen gefolgt zu sein. Grimsby mit seinem immer wachen Sinn fürs Praktische hatte vorgeschlagen, einen zweiten Zugang für Notfälle zu installieren. Es hatte eine Menge Geld und Zeit und Arbeit gekostet, aber jetzt schien es sich zu lohnen. Dr. Morton schlich lautlos zur hintersten linken Ecke der Anlage und löste dort einen Verschluß, der eine rechteckige Platte festhielt. Sehr behutsam schob er sie zur Seite. Er lauschte. Unten war alles ruhig, und es wäre auch zu sonderbar gewesen, hätten die Gangster ausgerechnet in dem kleinen Vorratsraum darauf gelauert, ihn oder Grimsby zu überwältigen, um ihre Freiheit zu gewinnen. Morton hielt sich an dem Griff über seinem Kopf fest. Er pendelte jetzt über der Öffnung. Das war auch eine von Grimsbys praktischen kleinen Konstruktionen: Er brauchte nur den im Griff versteckten Knopf nach links zu drücken, schon schwebte er langsam nach unten. Sekunden später stand er in einem der Schränke. Im Gegensatz zu den anderen war er von innen zu öffnen, allerdings nur, wenn man die Mechanik kannte. Sicherheitshalber lauschte Dr. Morton auch jetzt wieder. Er preßte ein Ohr gegen die Schranktür, konnte jedoch keinerlei Geräusch wahrnehmen. Er öffnete die Tür spaltbreit. Der Raum war leer. Die Tür nach draußen schien fest geschlossen. Dr. Morton nahm die kurzläufige Llama wieder zur Hand und öffnete die Schranktür ganz. Auf leisen Sohlen ging er durch den Vorratsraum. Wieder ein Ohr an die Tür, wieder nichts. Wenn die Gangster — unter Um- ständen gemeinsam mit Chefinspektor Spratt — dort draußen im Gang lauer- ten, was anzunehmen war, verhielten sie sich jedenfalls mucksmäuschenstill. Dr. Morton drückte langsam und leise den Türgriff. Die Llama hatte er im Anschlag. Die Tür gab nach. Jetzt konnt er den langen, breiten Gang überblicken. Er glich dem
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unterhalb der Privatklinik zum Verwechseln. Auch hier waren Fußboden und Wände gefliest. Alles wirkte sehr sauber, fast steril. Und am Ende des Gangs, dort wo die von dieser Seite nicht getarnte Tür in den Verbindungsgang zwischen Haus und Garage führte, lauerten die beiden Gangster. Von Chefinspektor Spratt war nichts zu sehen. Dr. Mortons Blick wanderte über die Reihen der Türen links und rechts. Die meisten waren offen. Die Tür zu Spratts Zimmer allerdings war geschlossen. Dr. Morton nickte. Bestimmt hatten die beiden auch in Spratts Zimmer geschaut. Er nahm an, daß sie den Chefinspektor erkannt und es vorgezogen hatten, sich nicht mit ihm zu verbünden. Es war ihnen wohl lieber, wenn der Mann vorn Yard hier unten verschimmelte, und sie hielten sich für stark genug, den Kampf um Leben und Freiheit ohne ihn zu bestehen. Sie hatten sich bewaffnet. Hatten offenbar einen Stuhl zerlegt und hielten je eins der kräftigen Beine in der Hand. Damit konnte man zuschlagen. Damit war ein Mann leicht auszuschalten. Sie hatten aber auch Messer. Skalpelle, um genau zu sein, und die mußten sie in dem kleinen Operationsraum gefunden haben, der am anderen Ende des Flurs lag. Dr. Morton öffnete die Tür weiter und trat auf den Gang hinaus. Immerhin waren die beiden Männer mehr als 20 Meter entfernt. Zu weit, um mit der Llama zwei völlig sichere Schüsse abzugeben. Er schlich langsam auf sie zu. Als er noch etwa zehn Meter entfernt war, drehte der eine sich um und schien et- was sagen zu wollen. Da entdeckte er Glenn Morton. „Paß auf!" schrie er seinem Partner zu. Der wirbelte herum. Er war ein Mann mit fabelhaften Reaktionen und im Um- gang mit Messern fast so gut wie William Grimsby. Es ist bestimmt nicht leicht, ein Skalpell als Wurfmesser zu benutzen, aber das glitzernde Ding flog exakt auf Dr. Morton zu. Morton ließ sich fallen, während er abdrückte. Der Messerwerfer sank mit einem Schmerzensschrei zusammen. Es war der letzte Laut, den er von sich gab. Der andere, der Dr. Morton zuerst entdeckt hatte, handelte instinktiv. Er war losgerannt, als er geschrieen hatte, und als Dr. Morton sich fallen ließ und schoß, hechtete er durch die Luft, knallte auf den gefliesten Boden, wobei er das Stuhlbein loslassen mußte, und war bei Morton, bevor der zum zweitenmal abdrücken konnte. Er packte nach der Hand, die die Waffe hielt. Seine Finger klammerten sich um Mortons Gelenk. Die andere Hand fuhr auf Dr. Mortons Kehle zu und schloß sich um den Hals des Arztes. Morton reagierte instinktiv. Sein linkes Bein hatte etwas Platz. Platz genug, um das Knie anzuziehen und zuzustoßen. Er traf den anderen nicht sehr exakt, aber die Wirkung genügte für den Augenblick. Der Griff um seinen Hals lockerte sich. Morton warf sich herum. Er mußte die Waffe loslassen, aber als sein Gegner sie zu erreichen versuchte, war er für Bruchteile von Sekunden unaufmerksam. Morton wirbelte herum. Seine Hand traf den Oberarm des Gangsters. Der Knochen brach. Das war deutlich zu hören. Der Schrei, aus Schmerz und Wut gemischt, folgte erst einen Moment später. Ein einarmiger Gegner ohne Waffe war nur noch Routine für Dr. Morton. Er ließ den anderen angreifen. Zwangsläufig gab der sich dabei eine Blöße. Morton nutzte sie rücksichtslos aus. Diesmal traf seine Handkante den Hals, und aus dem eben erst abebbenden Schrei wurde ein Röcheln, das rasch verstummte. Dr. Morton ließ sich keuchend nach vorn fallen. Er hatte für den Kampf, der insgesamt nicht länger als eine halbe Minute gedauert hatte, all seine Kräfte mobilisiert. Er hätte im Bedarfsfall noch eine Weile auf die gleiche Weise
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weiterkämpfen können, aber da das nicht notwendig war, gönnte er sich eine kurze Erholung. Etwas warnte ihn. Sein immer wacher Instinkt. Noch bevor er Spratt hörte oder gar sah, wußte er, daß der Chefinspektor hinter ihm war. Die Gangster hatten sich also doch mit ihm verbündet, hatten ihn herausgelassen. Vermutlich war Spratt noch mit der Durchsuchung der Räume beschäftigt gewesen, als Morton die Tür zwischen Vorratsraum und Flur geöffnet hatte, und jetzt schlich er sich von hinten an. Er kam aus der Richtung des kleinen Operationsraums. Bestimmt war er bewaffnet. Es gab ja genügend Skalpelle und ähnliches. Dr. Morton rührte sich nicht. Nur sein Blick wanderte über den Fußboden und zu der kurzläufigen Llama. Sie war zu weit weg. Er hatte keine Möglichkeit, sie zu erreichen. Seiner Schätzung nach war Chefinspektor Spratt noch höchstens drei Meter hinter ihm. Er würde das Skalpell nicht werfen. Er würde versuchen, unbemerkt nahe genug an Dr. Morton heranzukommen, um damit zuzustoßen. Diese Sekundenbruchteile dehnten sich wie eine Ewigkeit. Morton mußte die Zähne zusammenbeißen, um sich nicht zu verraten. Jetzt! Jetzt kam der Angriff. Dr. Morton drehte sich blitzschnell herum und stieß mit den Füßen zu. Das Skalpell rutschte an seinem rechten Schuh entlang, aber Chefinspektor Spratt verlor's nicht. Er war sehr blaß. Während der Haft hier unterhalb von Lannix Manor hatte er bestimmt 30 Pfund abgenommen. Aber er hatte sich fit gehalten und war ein nicht zu unterschätzender Gegner. Statt wild über seinen Gegner herzufallen, wich er einen Schritt zur Seite und lauerte auf eine bessere Gelegenheit, mit Dr. Morton fertig zu werden. Morton kam zwar auf die Füße, aber er war immer noch unbewaffnet, während Spratt das Skalpell in der rechten Hand hielt und keinen Zweifel daran ließ, daß er es zu benutzen wußte. Dr. Morton spürte warmes Blut über seinen rechten Fuß sickern. Die Verletzung konnte aber nicht schlimm sein. Spratt hatte keine Sehne getroffen, nicht einmal einen Muskel völlig durchtrennt. Den Schritt zur Seite hatte er mit Überlegung getan. Er war jetzt zwischen Dr. Morton und der kurzläufigen Automatic. Natürlich konnte er's nicht riskieren, sich nach der Waffe zu bücken. Aber er konnte ihr einen Tritt geben, so daß sie scheppernd mindestens zehn Meter über den gefliesten Boden des Gangs rutschte, bevor sie gegen die Wand knallte und liegen blieb. „Sie machen einen Fehler, Chefinspektor", murmelte Morton. Der andere antwortete nicht. „Es ist Ihr Tod, wenn Sie nicht augenblicklich zur Vernunft kommen!" „Das werden wir sehen", sagte Spratt. Sie umkreisten sich. Jeder wartete darauf, daß der andere sich eine Blöße gab. „Vielleicht schaffen Sie's tatsächlich, mich auszuschalten", sagte Dr. Morton. „Aber Sie haben nichts davon. Sie kommen nicht raus. Grimsby wird Sie umlegen." „Sie sind rein gekommen, und nicht durch die Tür. Ich komme schon raus", sagte der Chefinspektor. Er sprach nur, um den anderen abzulenken. Vielleicht auch, weil er hoffte, Morton würde die Fluchtmöglichkeit irgendwie verraten. „Sie können den Weg finden, den ich genommen habe", knurrte Morton. "Er stößt auf einen Gang. Und da ist Ihre Flucht zu Ende." Spratt machte einen Ausfall, aber Morton parierte ihn. Das Skalpell ging dicht an ihm vorbei. Spratt bewegte und drehte sich so geschickt, daß Morton keine Chance zu einem Schlag hatte. Seite 6
Er lachte höhnisch. „Wollen Sie sich's nicht überlegen, Chefinspektor? Werfen Sie das Messer weg und ergeben Sie sich. Es ist Ihnen doch nicht schlecht gegangen hier unten. Ziehen Sie den Tod wirklich vor?" „Ihren Tod", gab Spratt trocken zurück. „Und wenn ich selbst dabei draufgehe — nun, dann habe ich wenigstens die Genugtuung, daß ich einen der schlimmsten Verbrecher des Landes unschädlich gemacht habe." „Nicht so theatralisch, Chefinspektor!" Wieder klang Mortons höhnisches Lachen durch den gefliesten Gang, wurde von den Wänden reflektiert und verstärkt. Der Chefinspektor drehte sich erneut, aber Morton wartete vergeblich auf den Angriff. Selbstverständlich mußte er den Bewegungen seines Gegners folgen. Es irritierte ihn, daß Spratt sich langsam auf die Tür des kleinen Operationsraums zu bewegte. Es war ein Rückzug. Morton verstand den Sinn nicht. „Sie finden mich theatralisch, Morton? — Ich finde Sie zum Kotzen, wenn Sie's wissen wollen." „Ich glaube, es gibt auf der ganzen Welt keinen Menschen mehr, den Ihre Meinung interessiert”, gab Morton kalt zurück. „Und sehr bald werden Sie keine Meinung mehr haben, Spratt. Tote haben keine Meinung." Etwas in Spratts Blick hätte ihn warnen sollen. Der Chefinspektor wirkte eine Spur zu gleichgültig. Aber als Dr. Morton begriff, war es zu spät. „Heben Sie die Flossen hoch!" Die Stimme klang mühsam. Der Mann hatte Artikulationsschwierigkeiten, aber Dr. Mortons Schlag gegen den Hals hatte ihn nicht umgebracht. Er war physisch so stark, daß er in unglaublich kurzer Zeit wieder zu Bewußtsein gekommen war. Sein Gehirn hatte in dem Augenblick zu arbeiten begonnen, als die Llama-Automatic über den gefliesten Fußboden schepperte. Dr. Morton hatte keine Schwierigkeiten, zwei und zwei zusammenzuzählen. Der Chefinspektor hatte sich umgedreht, um ihn abzulenken. Deshalb auch war er langsam in Richtung Operationsraum zurückgewichen. So war dem Gangster Zeit genug geblieben, bis zu der Waffe zu robben und sie an sich zu bringen. Im Augenblick konnte Morton nichts anderes tun, als der Aufforderung nachzukommen. Langsam hob er die Hände. Er stand mit dem Rücken zur Wand. Je nachdem, wie er den Kopf wandte, konnte er den Chefinspektor rechts, den Gangster links von sich sehen. „Machen Sie keine Dummheiten", sagte Spratt. Er meinte nicht Morton. „Ich weiß schon, was ich zu tun habe", brummte der Gangster. Er hielt die Llama in der linken Hand. Der rechte Arm hing schlaff herab. Sein Hals war zu geschwollen. Er hatte Mühe, auf die Beine zu kommen, aber der Lauf der Llama zeigte unablässig auf Dr. Mortons Magen. „Schießen Sie nicht", sagte Spratt. „Wir brauchen ihn lebend, um hier herauszukommen." „Weiß Bescheid", knurrte der andere. Dr. Morton lächelte. Er wirkte völlig unbeschwert und ließ die Hände langsam sinken. Spratt und der Gangster musterten ihn mißtrauisch und verwundert. „Ich dachte, ich hätte Sie getötet", sagte Dr. Morton lächelnd zu dem Gangster. „Schade, daß es nicht so ist." „Keine Faxen!" warnte der Bursche. „Nehmen Sie die Flossen wieder hoch. Der Chefinspektor meint zwar, wir brauchten Sie lebend, aber bevor Sie dazu kommen, Dummheiten zu machen, puste ich Sie lieber um." „Ja doch!" sagte Dr. Morton verbindlich. „Daran zweifle ich nicht."
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Er lehnte sich gegen die Wand. Er grinste übers ganze Gesicht, und das wirkte so aufreizend, daß sogar Spratt spürte, wie er allmählich die Beherrschung verlor. „Was wird denn nun?" fragte Morton ruhig. „Wie haben Sie sich die Fortsetzung gedacht, Chefinspektor?" „Sie werden uns nach draußen bringen." „Wirklich?" „Ich an Ihrer Stelle würde es nicht drauf ankommen lassen.” „Worauf?" „Sehen Sie sich den da an. Glauben Sie, er zögert, Sie zu erschießen, wenn Sie nicht tun, was wir sagen?" Dr. Morton war absolut nicht so ruhig, wie er sich gab. Aber die scheinbare Ruhe verwirrte seine Gegner. „Er wird nicht schießen", sagte Morton selbstsicher. „Er wäre ein Idiot, wenn er's täte. Nur wenn ich lebe, hat er eine Chance herauszukommen." „Dann sind wir uns ja einig", sagte Spratt. „Also los!" „Wie bitte?" „Gehen Sie auf die andere Seite." „Da hinüber?" fragte Dr. Morton höflich. „Ja. Los!" Morton zuckte die Achseln und ging langsam auf die gegenüberliegende Seite des Flurs. „Und jetzt, Chefinspektor? Haben Sie weitere Wünsche?" „Jetzt gehen Sie — langsam und vorsichtig — auf die Tür dort hinten zu. Vergessen Sie nicht, daß die Waffe ständig auf Sie gerichtet ist." „Schönen Dank für den Hinweis", sagte Morton ironisch. Spratt überhörte das. Er sprach mit seinem Partner. „Wenn Sie schießen müssen, zielen Sie auf die Beine. Bringen Sie ihn nicht um. Auch nicht aus Versehen, verstehen Sie? Er muß leben!" „Zum Teufel, behandeln Sie mich nicht wie einen dummen Jungen!" fauchte der andere. Streitet euch nur, dachte Morton. Mir ist's recht. Warum der Chefinspektor ihn zu der anderen Seite des Gangs geschickt hatte, war klar. Er wollte ihn nicht in die unmittelbare Nähe des Gangsters kommen lassen, um die Möglichkeit eines plötzlichen Angriffs zu vermeiden. Dummkopf! dachte Morton. Etwas so Riskantes hätte ich bestimmt nicht versucht. Wozu denn auch? Ich habe noch eine Menge Möglichkeiten, von denen ihr nichts ahnt! Allmählich wurde er tatsächlich so ruhig, wie er sich gab. Sein ironisches Grinsen war jetzt nicht mehr aufgesetzt, sondern echt. „So recht, Chefinspektor?" fragte er, während er langsam aufs andere Ende des langen Flurs zuging. Chefinspektor Spratt machte einen Fehler. Er ließ sich dazu hinreißen, Morton anzufauchen: „Sie reden nur, wenn Sie gefragt werden!" „Tatsächlich?" fragte Morton spöttisch. „Sie wollen mir verbieten, zu reden? Wie dumm, Chefinspektor. Sie sollten wissen, daß man nur Verbote ausspricht, deren Einhaltung man auch sicherstellen kann. — Ich rede, wann es mir paßt und was mir paßt." Ein Schuß peitschte durch den Flur. Sein Echo hallte von den Wänden wider. Die Kugel pfiff haarscharf an Dr. Mortons linkem Oberschenkel vorbei. Er blieb stehen und wandte sich betont langsam zu dem Gangster um. Seite 8
„Was soll das?" fragte er herausfordernd. „Lassen Sie den Blödsinn!" fauchte Spratt im gleichen Moment. „Er soll den Mund halten und parieren!" gab der Gangster wütend zurück. „Der nächste Schuß trifft!" Dr. Morton hatte ihn inzwischen passiert. Er ging langsam weiter. Alle zwei Schritte wandte er den Kopf und sah zurück. Jetzt war Chefinspektor Spratt bei dem Mann angelangt. „Geben Sie mir die Waffe." „Warum?" „Sie können sich ja kaum auf den Beinen halten! Geben Sie her, es ist sicherer." Spratt hatte die Hand ausgestreckt und wartete darauf, daß er die Llama bekam. Aber der andere schüttelte den Kopf. Sein Gesicht wirkte verkniffen. Kein Zweifel, daß er dem Chefinspektor nicht restlos traute. Die Polizei war schließlich seit langen Jahren sein natürlicher Gegner. Verständlich also, daß er zögerte, die Waffe aus der Hand zu geben, die ihm Kraft verlieh. Noch ein Schritt. Jetzt war rechts von Dr. Morton eine Tür. Wieder wandte er den Kopf. Spratt und der andere standen immer noch nebeneinander. Der kurze Lauf der Llama zeigte in Mortons Richtung. Er beschloß, den Versuch trotzdem zu wagen. Seine rechte Hand drückte die Klinke nach unten. Er warf sich gegen die aufgehende Tür. Ein Schuß peitschte durch den Gang, traf aber nicht. Die Kugel blieb im Rahmen stecken. Morton warf die Tür von innen ins Schloß. Abschließen konnte er nicht, denn der Schlüssel steckte draußen. Er griff nach dem nächststehenden Stuhl und bezog die Position, für die er sich schon vorher entschieden hatte. Es kam, wie er's erwartete. Chefinspektor Spratt stieß die Tür auf und schrie: „Machen Sie keinen Blödsinn, Morton! Kommen ..." Der Stuhl krachte auf seinen Kopf und zersplitterte. Der Chefinspektor hatte sich um einige Zentimeter zu weit vorgewagt. „So, und jetzt ist Schluß!" sagte der Gangster haßerfüllt. „Dieser blöde Bulle hat's nicht anders verdient. Aber glaub nur nicht, daß du mich reinlegen kannst!" Dr. Morton versuchte nicht, überlegen zu lächeln. Sein Gegner war nervös und konnte sich zu Kurzschlußhandlungen hinreißen lassen. Er hatte zweimal geschossen. Beim nächsten mal markierte er womöglich einen Treffer, ob er das wollte oder nicht. „Okay", sagte Morton also ernst, während er mit leicht erhobenen Händen aus dem Zimmer trat, vorsichtig einen Fuß nach dem anderen über den still und stumm daliegenden Chefinspektor hebend. „Geh zur Tür. Los, los!" „Bin schon auf dem Weg." Er ging mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten zu der Tür, die zum Verbindungsgang zwischen Lannix Manor und den Garagen führte. Es war den Gangstern und Chefinspektor Spratt nicht schwer gefallen, diese Tür als den gesuchten Ausgang zu identifizieren, denn zum Unterschied von allen anderen Türen hatte sie weder Schlüssel noch Schlüsselloch. An der Wand daneben befand sich eine kleine metallglänzende Platte mit zehn Tasten, die von Null bis Neun nummeriert waren. Dr. Morton blieb vor der Tür stehen. Er klopfte mit den Knöcheln dagegen und sagte: „Stahl. Sehr massiv. Das haben Sie sicher vorhin schon festgestellt." Er wartete darauf, daß der Gangster näher kam. Er mußte unbedingt nahe genug kommen, wenn er ihn hier überwältigen wollte. „Machen Sie auf", sagte der andere. „Und dann?" „Los, machen Sie schon!" Die Stimme klang ausgesprochen bösartig.
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„Kommen Sie nur nicht auf den Gedanken, zu schießen, wenn die Tür aufgeht", warnte Dr. Morton. „Der Gang auf der anderen Seite ist ebenso gesichert. Sie hätten allein keine Chance." Er wandte sich der metallglänzenden Platte zu. Mißtrauisch kam der Gangster näher. Offenbar befürchtete er einen Trick. Wenn du wüßtest, wie berechtigt dein Mißtrauen ist! dachte Dr. Morton. Im Plauderton erläuterte er: „Es ist eine siebenstellige Kombination. Allein hätten Sie Wochen und Monate gebraucht, um sie herauszufinden. Wahrscheinlich wäre es Ihnen überhaupt nicht gelungen. Eine interessante Sache. Meiner Meinung nach wird ein Mensch wahnsinnig bei dem Versuch, die möglichen Kombinationen durchzuprobieren. Zwangsläufig wird er wahnsinnig." Er lächelte zwar nicht, blickte seinen Gegner aber freundlich und gelassen an. Noch einmal wollte er ihn testen, um seine Reaktion besser bestimmen zu können. „Los!" Die Stimme war ein gefährliches Zischen. Erinnerte an das Zischen einer Schlange. Dr. Morton begann langsam, die Kombination einzugeben. Er hatte jetzt drei Tasten gedrückt und schien nachzudenken, welche als vierte folgen mußte. Der Gangster beugte sich unwillkürlich vor und starrte auf die langen, nervigen Finger, die sich scheinbar nervös bewegten. Morton dachte an einen Mr. Stone. Mr. Stone hatte auch den nicht zu unterdrückenden Wunsch nach Freiheit verspürt. Drüben unter der Privatklinik. Mr. Stone hatte Dr. Morton ebenfalls mit einer Schußwaffe bedroht und hinter ihm gestanden, als Dr. Morton die siebenstellige Kombination wählte. Mr. Stone war damals auf eine besonders langwierige und entsetzliche Art gestorben. Die fünfte Taste. Die sechste. Der Blick des Gangsters glitt für einen Moment zur Seite. Gleich mußte die Tür nachgeben. Jetzt, wenn Morton die siebente Taste drückte. „Hände hoch! Und keine Bewegung!" tönte es scharf und bestimmt vorn anderen Ende des Flurs. Der Gangster wirbelte herum und drückte mitten in der Bewegung ab. Sein Schuß war der einzige. Aber bevor er merkte, daß er auf einen Trick hereingefallen war auf den gleichen Trick, wie seinerzeit Mr. Stone —, hatte Dr. Morton seinen linken Arm ergriffen und so heftig herumgerissen, daß die Llama wieder einmal durch die Luft flog und scheppernd auf dem gefliesten Boden landete. Diesmal ging Dr. Morton kein Risiko mehr ein. Er schlug dem anderen, der sich nicht zu wehren vermochte, da sein rechter Arm gebrochen war, mit der Handkante ins Genick. Eigentlich war das Grimsbys Spezialität. Er hatte seinem Chef den Schlag beigebracht, der absolut tödlich wirkte und zudem den Vorzug hatte, daß hinterher niemand behaupten konnte, das Genick sei durch einen Handkantenschlag gebrochen worden. Jeder Gerichtsmediziner würde die Möglichkeit einräumen müssen, daß es sich um einen Aufprall, einen Unfall handelte. In diesem Fall spielte das allerdings keine Rolle. Dr. Morton ging auch weiterhin kein Risiko ein. Er hob die Llama auf und kehrte dorthin zurück, wo Chefinspektor Spratt auf dem Boden lag. Er war nicht tot. Morton drehte ihn um und beobachtete den allmählich zu sich Kommenden. Als Spratt die Augen aufschlug, sagte er: „Habe ich Sie nicht gewarnt, Chefinspektor? Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Sie am Ende der Verlierer sein würden?"
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Spratt stöhnte. Sein Kopf schmerzte bei jeder Bewegung. Als er sich aufrichtete, fiel sein Blick auf den Gangster. Er brauchte nicht zu fragen. An der unnatürlichen Haltung des Kopfes erkannte er, daß der Mann tot war. „Eigentlich wollte ich Sie eben erschießen", sagte Dr. Morton ruhig. „Aber ich habe es mir anders überlegt. Ich werde Sie später zur Klinik hinüberbringen lassen. Sie werden mir noch nützlich sein, Chefinspektor." Seine Stimme klang zunehmend grausamer, und obwohl Spratt noch Mühe hatte, sich zu konzentrieren, jagte diese Grausamkeit ihm kalte Schauer über den Rücken. „Ich werde Sie operieren, Spratt. Ich werde Ihr Gehirn aus dem Kopf lösen, indem ich es Stück für Stück freilege. Ich habe diesen Versuch schon einmal durchgeführt. Sie erinnern sich doch an Philipp Gregory? Ihn habe ich zu dem gleichen Experiment benutzt. Als der Eingriff beendet war, war Mr. Gregory nur noch ein lebloser Haufen Fleisch. Sein Gehirn aber hat noch tagelang gelebt. So wird es auch Ihnen gehen, Chefinspektor. Vorher werde ich Ihnen jede Einzelheit der Operation erklären. Sie sind ein kluger Mann und werden alles begreifen." Dr. Morton schwieg und starrte den anderen an. „Wie gefällt Ihnen das, Chefinspektor? Wünschen Sie sich jetzt, schon tot zu sein? Das könnte ich verstehen. Zumal ich beabsichtige, diesmal auf , die Narkose zu verzichten und Sie bei vollem Bewußtsein zu operieren. Ich bin gespannt, wie Sie sich benehmen." Er sprach weiter, aber niemand hörte zu. Denn Chefinspektor Spratt von Scotland Yard war in eine wohltätige Ohnmacht gesunken. Es kam selten vor, daß Dr. Glenn Morton eine Wochenendeinladung annahm. Natürlich konnte er sie nicht immer ausschlagen. Hin und wieder beherbergte auch Lannix Manor ein Dutzend oder mehr Gäste. An diesem Wochenende allerdings verspürte Glenn Morton Freude, als er sich seinem Ziel näherte. Er war unterwegs nach Beaury Abbey, dem Landsitz des Earl of Saffron. Er hatte Sir Henry vor einiger Zeit das Leben gerettet, als der nach einem Verkehrsunfall zu verbluten drohte. Das war aber in Mortons Augen nicht wichtig. Wichtig war, daß er Sir Henry vor einigen Tagen in seiner Klinik in Brighton gegenübergesessen und plötzlich erkannt hatte, wie sehr sie in mancher Hinsicht übereinstimmten. Dr. Morton war kein Mensch, der dem Überschwang eines Gefühls unbeherrscht nachgab. Aber in diesem Fall war er ganz sicher, daß sich zwischen dem Earl of Saffron und ihm eine echte Freundschaft entwickeln könnte. Es gab Übereinstimmungen in ihren Charakteren, wie man sie nur selten trifft. „Ich möchte wetten", murmelte Dr. Morton jetzt, als er nur noch wenige Meilen von Beaury Abbey entfernt war, daß Henry of Saffron ebenso wenig Skrupel kennt wie ich, wo sie angebracht sind. Er wird mich verstehen. Eines Tages werde ich mit ihm über alles sprechen können, und — wer weiß — vielleicht finde ich in ihm sogar den Partner, den ich brauche, um in noch größerem Maßstab zu arbeiten." Es war bestimmt ein Zufall, daß Sir Henry ihn an der Freitreppe von Beaury Abbey empfing. Dr. Morton freute sich trotzdem darüber. „Schön, daß Sie es möglich machen konnten", sagte der Earl of Saffron — was einem Gefühlsausbruch schon bedenklich nahe kam, berücksichtigt man die englische Mentalität. „Es wird sicher ein angenehmes Wochenende", sagte Dr. Morton höflich. „Hoffen wir's. Sie können sich wohl denken, daß ich auch immer eine Reihe von Gästen hier habe, die mir ziemlich gleichgültig sind." „Gesellschaftliche Verpflichtungen." Seite 11
„So ist es. Meine Mutter . . . Ach, lassen wir das." Er lachte amüsiert und fügte hinzu: „Es wäre bestimmt noch schlimmer, wenn ich verheiratet wäre." „Das ist zu vermuten", stimmte Dr. Morton trocken bei. „Allerdings spreche ich da nicht aus Erfahrung." „Wie wär's, wenn die glücklichen Junggesellen einen Schluck nähmen, sobald Sie sich frisch gemacht haben?" „Ausgezeichnet." „Ich gehe vor", sagte Sir. Henry, "Sie sehen doch den Pavillon dort drüben? Da finden Sie mich. Ich werde aufpassen und Ihnen die Tür öffnen. Es ist mein Refugium, und gewöhnlich empfange ich dort keine Gäste." Dr. Morton nickte. Ein Mädchen brachte sein leichtes Gepäck in die schon vor mehreren hundert Jahren zum Palast umgebaute Abtei. Sein Zimmer lag im ersten Stockwerk und bot einen bezaubernden Blick über den weiten Park mit seinen großzügigen Rasenflächen und den Baumgruppen, von denen manche die Ausmaße eines kleineren Waldes hatten. Im Vergleich hiermit war Lannix Manor samt Park eine armselige Hütte. Aber Morton neidete Sir Henry den Besitz nicht. Er hatte während der vergangenen Jahre, obwohl verschiedene Unternehmungen 14 ein Heidengeld verschlangen, ein Ver- mögen angehäuft, von dem er bis ans Ende eines langen Lebens sorglos und luxuriös hätte zehren können. Geld interessierte Dr. Morton immer nur als Mittel zum Zweck. Als er sich jetzt fragte, ob er einen Palast wie Beaury Abbey samt allem, was dazugehörte, zu besitzen wünschte, kam er zu einem negativen Schluß. Schon das Personal, fas er beispielsweise in Lannix Manor brauchte, störte ihn hin und wieder. Hier hätte ihn eine ganze Legion dienstbarer Geister umgeben. Schaurige Vorstellung. Vor allem, weil jeder Mann und jede Frau auch ein kleines Risiko darstellte. Die menschliche Neugier ver- mag alle Schranken zu überwinden ... Hier auf Beaury Abbey, dachte Dr. Morton, könnte ich meine Tage damit verbringen, das Personal zu überwachen und unsichere Elemente auszumerzen. Er wusch sich Gesicht und Hände und kehrte dann in die Halle zurück. Sie war um diese Zeit leer, aber verschiedene Anzeichen deuteten darauf hin, daß außer ihm schon eine ganze Reihe von Wochenendgästen angekommen war. Die Hände in den Hosentaschen, das Gesicht der bläßlichen Sonne ausgesetzt, die kaum wärmte, schlenderte Dr. Morton über den gepflegten Rasen zu dem runden Pavillon hinüber. Er schien ebenso alt zu sein wie ganz Beaury Abbey. Kleine Fenster waren in Abständen von etwa drei Yards eingelassen. Man konnte nicht hineinsehen. Dr. Morton umrundete den Pavillon und fand die Tür. Er brauchte nicht zu klopfen. Sir Henry öffnete. „Treten Sie ein, Dr. Morton", sagte er vergnügt. „Ich weiß nicht, wie Sie zur Unsitte des Martinitrinkens stehen. Jedenfalls habe ich ein größeres Quantum angerührt." „Ich hab was übrig für Oliven", sagte Dr. Morton. Der Earl füllte zwei Gläser. Sie tranken sich zu. „Setzen Sie sich, Dr. Morton. Wie gefällt Ihnen mein kleines Buen Retiro?" Dr. Morton sah sich ausgiebig um, be- vor er antwortete. „Sie haben einen sehr ausgeprägten Geschmack." „Aber nicht Ihren? Wollen Sie das damit sagen?" fragte Sir Henry grinsend. „Ganz und gar nicht! Ich fühle mich hier auf Anhieb wohl. So sehr, daß Sie schon ziemlich deutlich werden müssen, wenn Sie mich von hier vertreiben wollen." Seite 12
„Okay", sagte Sir Henry burschikos. „Freut mich, daß es Ihnen gefällt. — Sie sehen übrigens aus, als könnten Sie ein paar Tage Erholung gebrauchen." „Der Schein trügt nicht." „Anstrengende Zeit in der Klinik? Oder ist's die Praxis in der Harley Street, die Sie so mitnimmt?" Dr. Morton betrachtete sein Gegen- über. „Beides", sagte er schließlich knapp. „Was halten Sie von Golf?" „Akzeptabler Sport. Aber wenn Sie mein Handikap wüßten, würden Sie nicht so leichtsinnig fragen." „So schlecht?" erkundigte Sir Henry sich belustigt. „Miserabel.” „Wie kommt's? Eigentlich haben Sie doch alles, was ein Golfer braucht." „Nur keine Zeit für solche Hobbies. Mein erster Golflehrer meinte tatsächlich, ich sei veranlagt. Aber wenn man nur alle ein, zwei Jahre mal 18 Holes macht ..." „Wird mir eine Freude sein, trotzdem mit Ihnen zu spielen. Gute Gelegenheit, sich zu unterhalten." „Danke. Aber die haben wir hier auch." „Allerdings." Sie sahen sich eine Weile schweigend an. Dann sagte der Earl of Saffron: „Als ich in Brighton in Ihrer Klinik war, Doktor, hatte ich ein seltsames Gefühl." „Ach?" „Ich hatte das Gefühl, daß Sie ein Mensch mit einem ganzen Sack voller Geheimnisse sind." „Schon möglich." „Und weiter, daß Sie diese Geheimnisse vielleicht mit einem Burschen teilen würden, der zu Ihnen paßt." Das kam ziemlich plötzlich. Dr. Morton schwieg und wartete ab. Als der Earl nichts mehr hinzufügte, bequemte er sich schließlich zu der Bemerkung: „Kann schon sein, Sir." Wieder ein längeres Schweigen. „Das braucht seine Zeit", sagte Sir Henry dann. Dr. Morton nickte. „Noch einen Martini?" „Gern. Schmeckt ausgezeichnet." „Danke." Der Earl of Saffron schenkte die Gläser voll, griff nach der Schale mit den Oliven und sagte beiläufig: „Wir haben übrigens ein gemeinsames Hobby." „Ich weiß", erwiderte Dr. Morton. „Ihre Sammlung ist — entschuldigen Sie, daß ich das Wort schon wieder benutze — geheimnisumwittert. Jeder weiß, daß Sie unschätzbare Raritäten besitzen, aber kein Mensch hat sie gesehen. Man weiß nur, daß Sie alles kaufen, was gut und selten ist, und dann ist es verschwunden." Dr. Morton lächelte. „Dahinter steckt keine böse Absicht. Ich habe nur zu wenig Zeit, andere Liebhaber einzuladen und mit ihnen zu fachsimpeln." „Verstehe. — Meine Sammlung wird gerade überholt. Habe einen tüchtigen jungen Mann gefunden, der was davon versteht. Wir können bei Gelegenheit einen Blick in die ‚Schatzkammer' werfen. Mein Urgroßvater hat seinerzeit angefangen, Schußwaffen zu sammeln." „Bekannt", sagte Dr. Morton. „Ich freue mich, etwas davon zu sehen. Revanchiere mich selbstverständlich gern." Seite 13
Sie hatten ein Thema gefunden, über das sie notfalls tagelang reden konnten. In der Tat beschäftigte es sie noch, als sie zum Lunch hinübergingen. Dr. Morton ließ es über sich ergehen, daß er mit gut zwei Dutzend Leuten bekannt gemacht wurde. Er traf auch einige flüchtige Bekannte im Schloß des Earl of Saffron: zum Beispiel Miss Helen Sandringham. Er hatte sie kennen gelernt, als sie zusammen mit ihrem Großvater, Colonel Sandringham, eine Party im Claridge's besuchte. Miss Helen Sandringham war damals mit Mr. Philipp Gregory befreundet gewesen, in dessen Wohnung man wenig später ein ermordetes Mädchen auffand und der selbst auf rätselhafte Weise spurlos verschwand. Und nie mehr auftauchen wird, dachte Dr. Morton, als er Miss Sandringham sah. Darauf könnte ich Ihnen Brief und Siegel geben, mein liebes Kind. „Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht mehr an mich", sagte er lächelnd. „Aber gewiß, Dr. Morton! Einen Mann wie Sie vergißt man nicht." „Danke." Sie war auf ein wenig naive Art reizend. „Irre ich mich, oder waren Sie einige Zeit in Nordafrika?" „Wir sind erst in der vergangenen Woche zurückgekommen, Großvater und ich." Sie errötete. Daß ein so berühmter Mann wie Dr. Glenn Morton von ihrer Reise wußte, schmeichelte ihr und verwirrte sie. Als Dr. Morton montags gegen Mittag nach London in sein Haus am Grosvenor Square zurückkehrte, waren er und Sir Henry sich sehr viel näher gekommen. Sie hatten vereinbart, daß der Earl of Saffron das nächste Wochenende in Lannix Manor verbringen würde. Auf der Rückfahrt hatte Dr. Morton darüber nachgedacht, wen außer Sir Henry er zu diesem Wochenende einladen würde und hatte im Kopf eine Liste von etwa zehn Personen zusammengestellt. Das genügte. Auf diese Weise würde ihnen wieder eine Menge Zeit bleiben, sich zu unterhalten und gegenseitig zu ergründen. Er telefonierte von Grosvenor Square aus mit der Praxis in der Harley Street und mit der Privatklinik in Brighton. Seine Anwesenheit war weder hier noch dort unbedingt erforderlich. Alles lief reibungslos, und das steigerte Dr. Mortons Wohlbefinden. Jemand klopfte an die Tür seines Arbeitszimmers. So klopfte nur einer. „Kommen Sie herein, Grimsby!" rief Dr. Morton. Während die Tür noch geöffnet war, erkundigte er sich laut und jovial: „Wie war der Urlaub, mein Lieber? Freue mich, daß Sie jetzt wieder da sind. Donnerwetter, sind Sie braungebrannt!" Grimsby grinste, während er die Tür schloß. Draußen in der Halle stand Johannes, Dr. Mortons deutscher Butler, und hatte jedes Wort mitbekommen. Grimsby nahm Platz, schlug ein Bein übers andere und sagte fröhlich: „Danke der Nachfrage, Sir. Ich habe mich wirklich gut erholt." „Was macht die Wunde, Grimsby?" fragte Dr. Morton jetzt mit normaler Lautstärke. „Wunde, Sir? Eine kleine Narbe. Ohne jede Bedeutung. Ich habe die Fäden bereits gezogen." „Was denn? Sie haben selbst ?" „Sie störten mich, um ehrlich zu sein, Sir. Und ich brauchte sie ja nicht mehr." Dr. Morton schüttelte amüsiert den Kopf. „Erinnern Sie mich in der Praxis oder in der Klinik daran, daß ich noch mal nachschaue", sagte er lächelnd. „Grimsby, Sie sind wirklich unverwüstlich. Jeden anderen — mich eingeschlossen — hätte eine solche Verletzung für sechs bis acht Wochen außer Gefecht gesetzt." „Ein harmloser Stich”, behauptete Grimsby bescheiden. „Nur nicht für Mr. Knowles. Für ihn war er leider tödlich." Seite 14
„Friede seiner Seele", antwortete Dr. Morton. „Hat sich was getan, während ich weg war?" „Nein, Sir. Im Augenblick läuft alles reibungslos. Diesem Charles habe ich eine Tracht Prügel verabreicht, als er aufsässig wurde. Mrs. Mitford ist jetzt lammfromm. Mrs. Clandon geht es soso. Und Chefinspektor Spratt habe ich in sein neues Quartier gebracht." „Unbemerkt?" „Selbstverständlich, Sir. Völlig unbemerkt." „Wie benimmt er sich?" „Gefaßt, aber etwas verstört, Sir." „Kein Wunder", sagte Dr. Morton. „Ich habe ihm erzählt, was mit ihm geschehen wird." „Darf ich mir eine Frage erlauben, Sir?" „Bitte, Grimsby." „Wollen Sie ihn wirklich ohne Narkose operieren?" Dr. Morton sah ihn schweigend an. Ein anderer hätte angenommen, daß er gar nicht verstanden hatte. Aber Grimsby wußte es besser, er kannte seinen Chef in allen Nuancen. „Warum nicht?" fragte Dr. Morton schließlich. „Wenn es mir neue Erkenntnisse bringt? Sie glauben doch nicht, daß ich Skrupel habe, Grimsby?" „Wäre schlimm, Sir." Dr. Morton nickte schweigend. „Die beiden Leichen sind beseitigt, Sir." „Gut. Ich wollte das selbst erledigen, bin aber nicht mehr dazu gekommen." „Das gehört ja auch zu meinen Aufgaben." „Gewiß." „Wenn ich darum bitten darf, Sir: Vergessen Sie diese alberne Verletzung. Ich bin jetzt wirklich wieder topfit. Am Wochenende habe ich trainiert. Ich glaube sagen zu dürfen, daß meine Reaktionen nie besser waren. Und genügend Kraft besitze ich auch wieder." „Sehr schön, Grimsby. — übrigens möchte ich mit Ihnen über einen Mann sprechen, dessen Name schon einmal erwähnt wurde. Ich habe ihn am Wochenende in Beaury Abbey getroffen." „Ich bin neugierig, Sir." „William Harroghby." „Ja, ich erinnere mich, Sir. Er ist Ihr Patient, nicht wahr?" „Er war mein Patient. Als er sich weigerte, der von mir für notwendig erachteten Operation zuzustimmen, habe ich ihm nahegelegt, sich einen anderen Arzt zu suchen." „Er hat's getan?" „Ja." „Und ist immer noch nicht operiert." „Nein. Ich habe das Gefühl, daß er seinen Entschluß mittlerweile bereut. Er war sehr höflich und zuvorkommend und hat mich eingeladen. In sein Haus in Chelsea. Für übermorgen abend." „Werden Sie hingehen, Sir?" „Mit gutem Grund." „Wahrscheinlich wird er Sie bitten, seine Behandlung wieder zu übernehmen." „Schon möglich. Und ich werde sogar zustimmen." „Ist er inzwischen sauber, Sir?" Dr. Morton zuckte die Achseln. „Das weiß ich nicht, Grimsby. Aber ich werde es herausfinden.” Seite 15
„Nötig hätte er die krummen Touren bestimmt nicht mehr. Allein der Coup mit den Grundstücken in St. Pancras hat ihm Hunderttausende eingebracht." „Er ist ein großer Geschäftemacher", sagte Dr. Morton nachdenklich. „Und ein Mann, der nie genug kriegt. „Sie denken, er ist immer noch im Menschenhandel?" „Ich habe keine Beweise dafür. Ich weiß nur, daß der Menschenhandel immer noch sehr lukrativ ist. Und ich sehe keinen Grund, warum Mr. Harroghby seine Finger ohne Not aus einem so lukrativen Geschäft nehmen sollte." „Vielleicht wäre es nützlich, wenn ich mich ein wenig in seinem Haus umsähe, Sir." „Daran habe ich auch schon gedacht." „Vermutlich sehr schwer rein zu kommen." „Bestimmt. Es sei denn, jemand verschafft Ihnen Einlaß." „übermorgen?" fragte Grimsby grinsend. „Zum Beispiel", sagte Dr. Morton ernst. „Sie halten es sicher für angebracht, daß ich mich ein wenig verkleide, Sir?" „Für sehr angebracht, Grimsby." Sie verstanden sich ohne große Worte. Grimsby fühlte sich so wohl wie lange nicht. Er war wieder gesund, und interessante Aufgaben standen bevor. Dienstags kümmerte Dr. Morton sich um die Praxis in der Harley Street und verbrachte einen anstrengenden, arbeitsreichen Tag. Mittwochs war er in Brighton, wo die Herren Williams und Forsyth ihm bei zwei schwierigen Eingriffen assistierten, die er mit seinen berühmt sicheren, mutigen und schnellen Händen erledigte. Zwei Stunden später, kurz nach dem Lunch, lag Chefinspektor Spratt unten in den verborgenen Räumen auf dem Operationstisch. Die starken Lampen blendeten ihn. Er war so festgeschnallt, daß er sich nicht rühren konnte. Grimsby stand neben ihm und zog ein gelangweiltes Gesicht. Als Dr. Morton hereinkam, sagte er: „Es ist soweit, Chefinspektor. Nehmen wir Abschied voneinander. Sie werden bald tot sein. Nur Ihr Gehirn wird weiterleben. Sie sind der zweite Mensch auf der Erde, dessen Gehirn den Körper um beträchtliche Zeit überlebt." Dr. Mortons Stimme war klar und kalt. Die Zeit, in der er gewisse Sympathien für den Chefinspektor empfunden hatte, waren vorbei. Obwohl es erst der zweite derartige Eingriff war, den Dr. Morton vornahm, brauchte er wesentlich weniger Zeit dafür als beim ersten mal. Vieles war bereits zur sicheren Routine geworden. Es war einer von Dr. Mortons heraus ragendsten Vorzügen, daß er unwahrscheinlich schnell lernte. Praktiken, die er einmal angewandt hatte, waren ihm bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Er hätte sie beinahe mit geschlossenen Augen wiederholen können. Der Eingriff dauerte etwa zwei Stunden. Hinterher legte Dr. Morton sich für eine knappe Stunde hin. Bevor er nach London fuhr, hatte er noch ein Gespräch mit Grimsby. „Es gibt eine schmale Tür auf der Ostseite, Sir", sagte Grimsby. „Wenn ich mich nicht irre, müßte sie von den Gesellschaftsräumen aus leicht zu erreichen sein." „Ich werde mir Mühe geben, Grimsby." „Danke, Sir." „Gehen Sie kein unnötiges Risiko ein." „Selbstverständlich nicht." Dr. Morton nickte. Er wußte, daß er sich auf Grimsby verlassen konnte und daß solche Ermahnungen eigentlich überflüssig waren. Er wußte aber auch, daß Grimsby ihm den Rat nicht übel- nahm. William Harroghbys Haus in Chelsea war von der protzigen Art. Es lag am Cheyne Walk, direkt an der Themse, in der Nähe von Battersea Bridge und war so geräumig, Seite 16
daß man mühelos eine Familie mit drei Dutzend Kindern darin hätte unterbringen können. Mr. Harroghby hatte jedoch keine Kinder. Dr. Morton hatte bis zu diesem Abend nicht einmal gewußt, daß er ver- heiratet war. Aber das ging vielen Leu- ten so, die mit Mr. Harroghby bekannt waren. Er pflegte selten bis nie über seine Frau zu sprechen, und wenn's irgend ging, versteckte er sie vor seinen Gästen. Dr. Morton begrüßte er mit überschwenglicher Freundlichkeit. Er stellte ihn den anderen Gästen vor wie ein achtes Weltwunder. Dr. Morton war peinlich berührt, verstand das aber zu verbergen. Er hielt sich nach Möglichkeit im Hintergrund und beobachtete Mr. Harroghby. Die anderen Gäste waren drei Ehepaare mittleren Alters, ein weißhaariger Mann mit blutjunger Freundin, zwei ziemlich verliebt aussehende jüngere Paare, einige schweigsame Männer, die vermutlich eine Art Leibwache für den Hausherrn bildeten, drei Burschen vom Playboytyp und verschiedene Frauen zwischen 20 und 30, aus denen Dr. Morton nicht auf Anhieb klug wurde. Es konnten leichte Mädchen sein. Ebenso gut aber auch ehrbare Hausfrauen. Dr. Morton fiel auf, daß der Butler einmal hereinkam, Mr. Harrogby etwas zuflüsterte und wieder verschwand, worauf Harroghby einen der jungen Männer mit den verkniffenen Gesichtern herbeiwinkte. Der junge Mann entfernte sich. Kurz darauf verließen noch zwei von den Burschen den Raum. Einige Augenblicke fürchtete Dr. Morton, Grimsby sei unvorsichtig gewesen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm jedoch, daß es noch viel zu früh für Grimsby war. Er erhob sich und schlenderte zur Fensterfront. Der Garten lag weitgehend im Dunkeln. Nur das Haus wurde von verschiedenen Lampen angestrahlt. Viel- leicht war Mr. Harroghby stolz auf seinen Besitz. Wahrscheinlicher schien es Dr. Morton, daß es sich um eine Sicherheitsmaßnahme handelte. Er ging in die Halle hinaus. Der Butler hüstelte diskret. „Die Toiletten?" „Dort bitte, Sir." Grimsby hatte mit der schmalen Tür eine gute Wahl getroffen, wie Dr. Morton jetzt feststellte. Er hatte sich bei seiner Ankunft, bevor er das Haus betrat, vergewissert, wo diese Tür lag. Jetzt merkte er, daß sie beim Rückweg von der Toilette leicht zu erreichen war. Er brauchte den Butler nicht einmal abzulenken, denn der konnte ihn von der Halle aus nicht sehen. Auf lautlosen Sohlen huschte Dr. Morton zu der schmalen Tür hinüber. Sie lag auf einem Treppenabsatz, einige Stufen tiefer als das Hauptgeschoß. Offenbar gehörte sie zu einer schmalen Dienstbotentreppe, wie sie in solchen Häusern noch vorhanden waren. Der Schlüssel steckte innen. Dr. Morton drehte ihn behutsam und vergewisserte sich, daß die Tür nun wirklich unverschlossen war. Dann kehrte er zu der Gesellschaft zurück. „Wir haben Sie schon vermißt, Dr. Morton", verkündete Mr. Harroghby jovial. „Kommen Sie, setzen Sie sich doch bitte zu uns und sagen Sie uns Ihre Meinung." „Wozu?" fragte Morton nicht unfreundlich, aber mit geringem Interesse. Man sprach über Politik. Dr. Morton war zurückhaltend mit seinen Äußerungen und er verbarg sein plötzlich sehr waches Interesse, als einer der jungen Männer zurückkam und seinem Chef etwas ins Ohr flüsterte. Mr. Harroghby stand auf und entschuldigte sich:
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„Es tut mir wirklich außerordentlich leid, meine Damen und Herren. Eine Sache von einiger Wichtigkeit. Sie verstehen. Bin Anruf aus Übersee. Ich werde mich beeilen." Jetzt war nur noch einer von der vermutlichen Leibwache im Raum. Dr. Morton stand auf, nahm sein Glas und schlenderte zu der Wand, die von einem großen Kamin aus der viktorianischen Epoche beherrscht wurde und an der verschiedene moderne Bilder hingen, die in diesem Zimmer einen schrillen Mißklang bedeuteten. Er schien ganz in die Betrachtung der Bilder vertieft, aber in Wirklichkeit suchte er nach einer Möglichkeit, den Raum unbeobachtet zu verlassen. Diese Möglichkeit kam, als der Leibwächter sich in ein Gespräch mit einer der jungen Frauen einließ. Dr. Morton benutzte die Tür am Ende der Kaminwand. Er hatte keine Ahnung, wohin sie führte, und nahm sich nicht einmal die Mühe, nach einer Ausrede zu suchen, falls man ihn überraschte. Er stand in einem kleinen Zimmer, das über mehrere Wandschränke und Sitzgelegenheiten verfügte, Dr. Mortons kundigem Blick jedoch den Eindruck vermittelte, als werde es so gut wie nie benutzt. Morton sah sich um. Die Wandschränke stimmten in Holz und Farbton völlig mit der Täfelung der übrigen Wände überein. Sie waren alt, kein Zweifel. Trotzdem irritierte Dr. Morton etwas. Als er die Türen genauer betrachtete, erkannte er auch, was es war. Vier der fünf Türen wiesen die üblichen schmalen Zwischenräume zwischen Blatt und Rahmen auf, bei der fünften jedoch war dieser Zwischenraum mit einer gut passenden Gummidichtung verschlossen. Dr. Morton öffnete diese Tür. Dahinter lag kein Schrank, sondern ein kleines Zimmer ohne Fenster. Dr. Morton erkannte auf den ersten Blick, daß es sich um eine Sendestation handelte. Er sah sich um, konnte aber nichts finden, was ihm irgendwelche genaueren Hinweise gegeben hätte. Es lohnte nicht, im Augenblick länger hier herumzuschnüffeln und eine Entdeckung zu riskieren. Morton kehrte zunächst in das Zimmer mit den Wandschränken und von dort in den großen Gesellschaftsraum zurück. Er hatte Glück. Der Leibwächter war immer noch ins Gespräch mit der jungen Frau vertieft. Harroghby selbst war noch nicht wieder da. Er kam aber bald zurück, und wie sich's ergab, zog er Dr. Morton in einer Ecke in ein Gespräch über seine Krankheit. „Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht, Doktor", sagte er vertraulich. Dr. Morton zuckte die Achseln. „Es gibt viele Kollegen, die mindestens ebenso tüchtig sind wie ich." „Aber nicht so konsequent. Sie haben mir zur Operation geraten. Sie haben darauf bestanden." Er seufzte. „Hätte ich auf Sie gehört, dann wäre jetzt schon alles überstanden." „Allerdings." „Wenn ich Sie nun bitte, Doktor . . ." Er sah Morton lauernd an. „Worum, Harroghby?" Dr. Morton war absichtlich unhöflich. Er vertrug es nicht, wenn Leute, die ihm unsympathisch waren, sich so plump-vertraulich gaben. „Würden Sie mich wieder in den Kreis Ihrer Patienten aufnehmen?" fragte Harroghby fast unterwürfig. Dr. Morton fixierte ihn ausgiebig. „Ich würde Sie operieren, Harroghby, wenn Sie mich darum bitten. Ich habe Ihnen schon vor geraumer Zeit gesagt, daß das Ihre einzige Chance ist." Harroghby wand sich.
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„Ja, ja, Sir, nur . . . Sagen Sie mir, welche Chance ich habe! Die Operation ist ja nicht einfach. Kein Blinddarm oder so etwas. Ich meine ... Können Sie mir garantieren, daß ich's überlebe?" „Nein", sagte Dr. Morton gleichmütig. „Die statistische Chance ist vier zu eins. Nicht schlecht also. Aber garantieren kann ich nicht." „Vier zu eins", wiederholte Harroghby. An seiner Schläfe zuckte ein Nerv. „Natürlich werden die Chancen von der Konstitution des Patienten bestimmt. Von seinem Allgemeinzustand." „Und der ist bei mir ..." „Mittelprächtig. Sie trinken und rauchen zuviel. Aber das wollen wir jetzt nicht wieder aufwärmen. Das habe ich Ihnen schon bei früheren Gelegenheiten gesagt, nicht wahr?" Mr. Harroghby nickte ergeben. Er rang sich durch und sagte schließlich: „Ich komme in Ihre Klinik, Dr. Morton. Ich komme hin, sobald ich kann." „Je eher, desto besser." „Im Augenblick geht es nicht", sagte Harroghby hastig. „Diffizile Geschäfte, Sie verstehen. Ich kann jetzt nicht weg. Aber sobald das alles unter Dach und Fach ist. Vielleicht schon in acht bis zehn Tagen ... Können Sie mir dann ein Bett freihalten, Doktor?" „Ich habe immer einige Betten frei", sagte Dr. Morton. „Ich bin nicht der Staatliche Gesundheitsdienst." Mr. Harroghby nickte zufrieden. Jetzt, da er sich zu der Operation entschlossen hatte, schien er sich besser zu fühlen. Er wirkte fast fröhlich und animierte seine Gäste, das kalte Büfett nicht zu vergessen. Es war etwa elf Uhr, als ein gellender Schrei durch Mr. Harroghbys Haus hallte und alle Gäste erstarren ließ. Dr. Morton stellte sein Glas auf den nächsten Tisch und ging langsam auf die Tür zu, die zur Halle führte. Er hatte ein ungutes Gefühl. Grimsby war vermutlich im Haus. Möglicherweise gab es einen Zusammenhang zwischen seinem Auftauchen und dem Schrei. Mr. Harroghby war blaß geworden. Er kniff die Lippen zusammen und wirkte sehr ärgerlich. Er murmelte eine Entschuldigung und eilte auf die Tür zu, die Dr. Morton jetzt fast erreicht hatte. Der stellte mit Interesse fest, daß auch Mr. Harroghbys Wachhunde, die schweigsamen jungen Männer, durch den Schrei alarmiert worden waren. „Es ist nichts", sagte Mr. Harroghby zu Dr. Morton und lächelte gequält. „Kein Grund zur Aufregung." „Vielleicht kann ich helfen", sagte Morton ruhig. „Wird nicht nötig sein." Harroghby öffnete die Tür und ging in die Halle. Dr. Morton und die Wachhunde folgten. Mitten in der Halle stand der Butler und wußte sich offenbar nicht zu entscheiden. Als er seinen Brotherrn sah, murmelte er: „Die gnädige Frau, Sir. Sie hat geschrieen. Aber Sie haben Anweisung gegeben ..." „Schon gut", knurrte Harroghby, warf Morton einen Seitenblick zu, hätte ihn gern zurück zu den anderen Gästen geschickt, fand aber nicht die richtigen Worte und lief auf die Treppe zu, die breit und leicht geschwungen in den ersten Stock hinaufführte. Dr. Morton folgte ihm ebenso wie die schweigsamen jungen Männer. Er wunderte sich nicht, als er sah, daß zwei von ihnen plötzlich Waffen in den Händen hielten. Er blieb etwas zurück. Von hinten, fand er, konnte er die Lage besser kontrollieren. Wenn Grimsby wirklich verantwortlich für den Schrei war, und wenn er in Seite 19
Schwierigkeiten geriet, mußte er ihm helfen. Auch wenn sich dadurch Probleme ergaben. In diesen Sekunden dachte Dr. Morton die Angelegenheit völlig kalt und leidenschaftslos durch und entschied, in welcher Reihenfolge Mr. Harroghby und seine Knechte im Zweifelsfall umzulegen seien. Mr. Harroghby hatte den ersten Stock erreicht und lief nach links. Dr. Morton sah die Tür, die am Ende des Flurs offen stand. In ihrem Rahmen erkannte er eine kleine, schlanke Frau. Sie lehnte sich an und hatte eine Hand schützend vors Gesicht gelegt. „Was ist los?” herrschte Harroghby sie an. „Warum hast du geschrieen?" Die Frau gab keine Antwort. Sie wimmerte nur. Harroghby war jetzt bei ihr und rüttelte sie grob an der Schulter. „Ich habe dir gesagt, du sollst in deinem Zimmer bleiben. Was machst du hier?" Wieder das Wimmern. Harroghby schüttelte die Frau so heftig, daß ihr Körper hin und her schwankte. Sie griff nach der Klinke der offen stehenden Tür und hielt sich daran fest. „Was soll das, Harroghby?" Dr. Mortons Stimme war scharf und kalt. „Sehen Sie nicht, daß die Dame einen Schock erlitten hat? Lassen Sie sie los, zum Teufel!" Harroghby drehte sich herum und öffnete den Mund zu einer heftigen Erwiderung. Aber er besann sich und sagte so ruhig, wie's ihm möglich war: „Sie haben sicher recht, Doktor. Wollen Sie sich um sie kümmern? — Es ist meine Frau, Sir. Sie . . . Nun, sie ist nicht ganz gesund." „Gehen wir da hinein", sagte Dr. Morton sanft. „Legen Sie sich hin, Madame. Dort auf die Couch." Er hörte die Stimme eines der jungen Männer: „Warum hat sie geschrieen? Sie muß doch 'nen Grund gehabt haben. Ob jemand im Haus ist?" „Durchsuchen", sagte Harroghby leise, aber bestimmt. Ich habe mich selbst ausmanövriert, dachte Dr. Morton. Aber ich konnte nicht zulassen, daß er das arme Ding so behandelt. Sie ist ja völlig fertig. Bestimmt nicht nur durch das akute Erlebnis. Sie ist ein Nervenbündel. Er untersuchte sie rasch und routiniert. „Bleiben Sie hier liegen, Madame", sagte er sanft. „Ich komme gleich wieder und gebe Ihnen ein Mittel, das Ihnen helfen wird. Ruhig, ganz ruhig!" Sie nickte dankbar. Bewegte die Lippen. „Wollen Sie etwas sagen?" Mrs. Harroghby nickte. „Weshalb Sie geschrieen haben?" „Ein Mann", flüsterte sie. „Ich kam hier herein, und da war ein Mann." „Schon gut", sagte er. „Der Mann kommt bestimmt nicht wieder. Sie brauchen sich nicht zu ängstigen. Ich bin in ein paar Minuten zurück." Harroghby stand vor der Tür und sah ihn fragend an. „Nun, Sir?" „Sie ist krank, Harroghby." „Ich weiß, sie hat's mit den Nerven." „Ist sie in Behandlung?" Er schüttelte den Kopf. „Warum nicht?" Harroghby wand sich. Das Thema war ihm unangenehm. Dr. Mortons Stimme klang scharf:
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„Sie wissen, daß Ihre Frau ärztlicher Behandlung bedarf. Es ist unverantwortlich, sie ihr vorzuenthalten, Harroghby. Wissen Sie, daß es ein Gesetz gegen unterlassene Hilfeleistung gibt?" „Sie hat hier alles, was sie braucht." Er hält sie wie eine Gefangene, dachte Dr. Morton Er hält seine eigene Frau gefangen. Warum? Weil sie etwas weiß? Weil sie eine Gefahr darstellt? Jetzt war nicht der Augenblick, sich näher mit dem Thema zu befassen.
Leseprobe aus ERBER'S GRUSELKRIMI-DOPPELBAND DAS NEUE GESICHT von Peter Saxon Ihr Gesicht war so weiß wie Papier, und die Vorderseite ihres Rollkragenpullovers war von Erbrochenem befleckt. Ihre Hände zitterten, sie ging wie in Trance, mit kleinen, zuckenden Schritten. „Es ist ein Kopf!" würgte sie hervor. „In der Küche!" „Ein Kopf?" wiederholte Georgie stupid. Sie machte eine wilde Geste, sie drückte ihr Gesicht an Riks Brust, sie hielt ihn zitternd fest. Ihre Stimme war kaum hörbar. „Er war — im Kühlschrank. In einem Beutel. 0 Gott, es ist schrecklich — schrecklich!" Groper und Georgie liefen an ihnen vorbei in die Küche. Einen Augenblick lang war Stille — eine fast spürbare Stille —, dann kamen sie wieder zurück. Sie stürzten durch den Flur, ihre Gesichter waren so grün wie Sandys Gesicht weiß war. Versäumen Sie nicht diesen spannenden Doppelband, den Ihr Zeitschriftenoder Bahnhofsbuchhändler für Sie bereithält. Sollte dieser Band dort bereits vergriffen sein, so schreiben Sie bitte an: ANNE ERBER VERLAG 7595 SASBACHWALDEN, POSTFACH 5
„Ich gehe zu meinem Wagen und hole ein Beruhigungsmittel. Weiter kann ich im Moment nichts für Ihre Frau tun. Sie muß schlafen.” „Danke, Sir", sagte Harroghby zögernd. „Ich bin Ihnen wirklich dankbar . ." Aus einem anderen Teil des Hauses drangen erregte Stimmen. Man verstand nicht, was sie sagten, aber offenbar hatten Harroghbys Wachhunde eine Spur des Eindringlings gefunden. Harroghbys Gesicht war blaß. Er versuchte, Dr. Mortons eindringlichem Blick auszuweichen. „Einbrecher, Mr. Harroghby?" „Nun, das ist immerhin möglich. Scheint fast so, nicht wahr?" „Warum rufen Sie nicht die Polizei? Statt hier herumzustehen, sollten Sie die Polizei verständigen." „Ich — ich glaube nicht, daß das notwendig ist", murmelte Mr. Harroghby und wand sich. Er spürte wohl selbst, in welch seltsames Licht er sich mit seiner Weigerung setzte. Die Stimmen verstummten nicht. Dr. Morton traf eine Entscheidung.
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„Wo wollen Sie denn hin, Sir?" fragte Harroghby überrascht und unwillig, als Morton, statt die breite leicht geschwungene Treppe nach unten zu benutzen, den Gang im ersten Stock entlanglief. Dr. Morton gab keine Antwort. Am Ende des Flurs gab es ein Treppenhaus. Vermutlich das, was unten neben der schmalen Tür zum Garten endete. Er nahm mit jedem Schritt drei Stufen und prallte unten fast mit einem der Wachhunde zusammen. Der drehte sich um und starrte ihn verblüfft an. „Was ist Ios?" fragte Dr. Morton. „Ist die Polizei verständigt?" Es galt, möglichst viel Verwirrung zu stiften. „Die Polizei?" fragte der Bursche denn auch verwundert. „Was, zum Teufel .." Dr. Morton schob ihn zur Seite. Zwei von den Männern tauchten von der anderen Seite auf. Sie trugen großkalibrige Waffen und bewegten sich mit der Sicherheit berufsmäßiger Killer. „Er muß dort drin sein", sagte der eine. „Wir haben alles abgesucht. Er kann nicht in den Keller entkommen sein. Die Tür ist von außen versperrt." Er riß eine Tür auf und hob seine Pistole. Dr. Morton, der schräg hinter ihm stand, sah einen Schatten quer durch den dunklen Raum huschen. Er stand so, daß er sehen konnte, wie der Mann zielte und wie sein Finger sich um den Abzug krümmte. Dr. Morton schlug zu. Die Kugel drang in die Decke. Drin im Zimmer fiel etwas um. „Was, zum Teufel haben Sie sich gedacht, Sir?" fragte der Mann, der geschossen hatte und massierte seinen Arm. Aus dem Zimmer klang das Zersplittern einer Glasscheibe. Zwei von den Killern drängten sich an ihrem Kollegen und Dr. Morton vorbei. Man hörte, daß der Eindringling sich über die Fensterbrüstung schwang und in den Garten hinaus sprang, hörte den Aufprall und die davoneilenden Schritte. „Sie hätten ihn töten können", sagte Dr. Morton sanft und lächelte. „Das wollten Sie doch sicher nicht, oder?" Der Mann glotzte ihn an und war so verwirrt, daß er nichts zu erwidern wußte. Einer einer Kollegen kam zurück. „Henry ist hinter ihm her", sagte er. "Aber er wird ihn nicht erwischen. Verflucht, der Alte wird . . ." Sein Blick fiel auf Dr. Morton, und er verstummte. Mr. Harroghby kam die Treppe herab. „Wer hat geschossen?" fragte er. „Ich." Von der anderen Seite drängten die restlichen Partygäste herbei. „Glücklicherweise ist nichts passiert", sagte Dr. Morton lächelnd. Der Mann, der geschossen hatte, zog ein finsteres Gesicht, sagte aber nichts. Dr. Morton ging hinaus zu seinem Wagen, um ein Beruhigungsmittel für Mrs. Harroghby zu holen. Nachdem er es ihr verabreicht hatte, kehrte er zu der Gesellschaft zurück. Der Zwischenfall wurde eifrig diskutiert. Man hörte jede gewünschte Theorie, wie das in solchen Fällen üblich ist. Die schweigsamen jungen Männer enthielten sich jeglicher Meinung. Mr. Harroghby war blaß und schien verärgert. Die Party fand bald ein Ende. Als Dr. Morton sich von Harroghby verabschiedete, sagte er um Fassung und Freundlichkeit bemüht: „Es bleibt also dabei, Sir, daß ich in Ihre Klinik komme, sobald meine Zeit es erlaubt." „Ja, Sir." „Und — machen Sie sich keine Gedanken über den kleinen Zwischenfall. Ich werde Scotland Yard selbstverständlich unterrichten. Vielleicht fängt man den Burschen." Dr. Morton nickte.
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„Tun Sie das", sagte er. „Schrecklich, wie diese Einbrüche heutzutage überhand nehmen." Mr. Harroghby schickte ihm einen langen, nachdenklichen Blick hinterher, während Morton zu seinem Wagen ging und einstieg. Er fuhr zu seinem Haus am Grosvenor Square. Daß Grimsby noch nicht dort war, überraschte ihn. Er zog sich mit einer Flasche Sherry in sein Arbeitszimmer zurück und wartete. Er mußte bis zum frühen Morgen warten. Die Sherryflasche war inzwischen fast leer, und Dr. Morton hatte seine Gedanken weidlich spazieren geführt und das Thema William Harroghby hin und her gewendet. Er war zu einem Schluß gekommen, hatte einen Plan entworfen. Für den Fall, daß Grimsbys Beobachtungen seine Vermutungen bestätigten. Grimsby sah, daß im Arbeitszimmer Licht brannte. Er nahm sich nicht die Zeit, sein Äußeres in Ordnung zu bringen. Leise klopfte er an die Tür des Arbeitszimmers. „Kommen Sie rein", sagte Dr. Morton so laut, daß man es draußen in der Halle hörte. Grimsby sah müde und erschöpft aus, und seine Kleidung war zerrissen. Immerhin sah er sich selbst schon wieder ähnlich, denn auf dem Weg zum Arbeitszimmer hatte er sich der buschigen Augenbrauen und des Backenbarts sowie verschiedener anderer Kleinigkeiten entledigt, die sein Aussehen so vollkommen verändert hatten, daß er seiner eigenen Mutter nicht aufgefallen wäre. „Setzen Sie sich, Grimsby." „Danke, Sir." „Whisky?" „Kann ich gebrauchen, danke." Dr. Morton goß einen dreifachen Chivas Regal ein und für sich selbst den Rest des Sherrys. „Sagen Sie nichts. Lassen Sie mich raten: Sie waren noch einmal in Harroghbys Haus." Grimsby grinste und nickte. „Ich hielt die Gelegenheit für günstig. Die Burschen rechneten nicht damit, daß ich so verrückt sein würde, postwendend zurückzukommen. Sie hatten nicht mal das zerschlagene Fenster verbarrikadiert. Nur das Zimmer abgeschlossen, was mich natürlich kaum aufhielt." „Natürlich nicht", sagte Dr. Morton lächelnd. „Schönen Dank übrigens, Sir, für die Unterstützung." „Oh, keine Ursache, Grimsby. Das war doch selbstverständlich. Ihrer zufriedenen Miene entnehme ich, daß Sie Erfolg hatten." „Allerdings, Sir." „Ich bin sehr gespannt." Grimsby nahm noch einen Schluck von dem wunderbaren, zwölf Jahre alten Whisky, den er am liebsten pur und zimmerwarm trank und rückte sich in dem bequemen Sessel zurecht: „Für mich besteht kein Zweifel, Sir. Mr. Harroghby hat seinen Menschenhandel keineswegs aufgegeben. Im Ge genteil. Das Geschäft scheint zu florieren. Ich möchte mich sogar zu der Behauptung versteigen, daß seine Maklertätigkeit Mr. Harroghby nur einer. Bruchteil dessen einbringt, was er au: dem Handel mit weißem Fleisch zieht.* Dr. Morton nickte. „Ich war sicher, daß er sich nicht vor dem schmutzigen Geschäft zurückgezo• gen hat, als ich den Senderaum ent. deckte."
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„Den habe ich mir auch angesehen Beim zweiten Besuch. Ich habe aucl einige der benutzten Frequenzen festgestellt. Vielleicht hilft uns das noch weiter." „Das — hm — Material kommt immer noch aus Südafrika, Grimsby?" „Zum Teil. Sie denken an das, was so vor zehn oder zwölf Jahren gemunkelt wurde?" „Ja." „Inzwischen hat Harroghby sein Tätigkeitsfeld beträchtlich ausgeweitet. Aber Aden scheint immer noch der Hauptumschlagplatz zu sein. — übrigens handelt er auch mit englischen Mädchen. Und mit jungen Männern." Dr. Morton nahm's schweigend zur Kenntnis. Es überraschte ihn nicht. „Erstaunlich, womit man sein Geld machen kann", murmelte Grimsby. „Und das in unserer Zeit." Er berichtete Dr. Morton Einzelheiten, die seine zwei Besuche in Mr. Harroghbys Haus zutage gefördert hatten. Dr. Morton brauchte ihn nicht oft mit Zwischenfragen zu unterbrechen. Abschließend faßte er zusammen: „Von dem Haus am Cheyne Walk aus wird also ein weltweiter Menschenhandel betrieben." „Dort ist die Zentrale, zweifellos.” „Und Mr. Harroghby ist der Kopf des Unternehmens." Grimsby nickte. „Er bereitet im Moment eine größere Transaktion vor. Das hat er mir selbst gesagt." Morton lächelte dünn. „Allerdings sprach er nicht von Menschenhandel." „Was unternehmen wir, Sir?" Dr. Morton seufzte. „Im Augenblick wohl gar nichts, Grimsby. Ich sehe keine Möglichkeit. Wir waren in den letzten Wochen ziemlich aktiv. Denken Sie nur an die Besuche, die Superintendent Walker mir abgestattet hat. „Nein, nein, wir können es uns nicht leisten, jetzt Aufsehen zu erregen." „Was bedeutet das, Sir?" „Wir müssen abwarten. Mr. Harroghby wird das jetzt angelaufene Geschäft noch durchführen. Sorry. Hinterher allerdings kommt er in die Klinik in Brighton, und ich werde ihn operieren. Und dann . . ." Er brach ab und lächelte. Grimsby nahm das Lächeln auf. „Ich glaube zu verstehen, Sir." Dr. Morton wurde wieder ernst. „Mir tut seine Frau leid, Grimsby." „Sie wäre mir fast zum Verhängnis geworden. Geisterte plötzlich durchs Haus, und als sie mich entdeckt hatte, gellte sie wie eine Feuerwehrsirene." „Sie ist krank. Gestört. Vermutlich durch Harroghbys Schuld. Irgendwann muß sie von seinen schmutzigen Geschäften erfahren haben. Er hält sie gefangen, nehme ich an. Ihr Geist ist ziemlich verwirrt." Grimsby zuckte die Schultern. Mrs. Harroghby interessierte ihn nicht. Er hatte sich schon gefragt, warum er ihr nicht den Hals herumgedreht hatte, als sie zu schreien begann. Sir Henry, der siebente Earl of Saffron, kam Freitagnachmittag nach Lannix Manor. Er war der erste der Wochenendgäste, und darüber freuten sich beide: der Earl und Dr. Morton. „Hübscher Besitz", sagte Sir Henry, während sie einen Spaziergang durch den Park machten. „Bescheiden für das, was Sie gewohnt sind. Aber ich fühle mich hier wohl." Seite 24
„Ich würde Beaury Abbey sofort dagegen eintauschen", sagte Sir Henry seufzend. „Was ist das schon? Ein Berg von Tradition und so weiter, und kostet mich Jahr für Jahr ein Vermögen. Lannix Manor ist bestimmt auch nicht billig zu unterhalten, aber hier stimmen doch die Relationen noch. Was habe ich effektiv davon, daß ich Beaury Abbey vor dem Verfall bewahre? Der Staat lauert nur darauf, mir neue Belastungen aufzubürden, und jeder Schmock nimmt's mir übel, daß ich den ganzen Bau, mein Schlafzimmer eingeschlossen, nicht rund um die Uhr zur Besichtigung freigebe." „Die Unzufriedenheit mit dem Staat breitet sich immer weiter aus", stellte Dr. Morton nachdenklich fest. „Unabhängig davon, wer gerade an der Regierung ist." „Na und?” fuhr Sir Henry auf. „Etwa nicht zu Recht?" „Mich brauchen Sie nicht zu überzeugen, Sir Henry, daß einiges faul ist im Staate." Sie schwiegen mehrere hundert Yards lang. Dann sagte Sir Henry mit Nachdruck: „Man müßte es wieder so machen wie meine Vorfahren." „Sie haben ihr Recht in die eigenen Hände genommen, vermute ich." „Und sie waren nicht zimperlich", bestätigte der Earl of Saffron. Wieder trat eine längere Pause ein. „Man muß stark sein", sagte Dr. Morton schließlich. „Und völlig amoralisch. Skrupel kann man sich nicht leisten, wenn man sich außerhalb der geltenden Gesetze stellt." „Natürlich nicht", brummte Sir Henry. „Was unsere Studenten und überhaupt die jüngere Generation sich erlauben, läßt mich lachen. Diese Pseudo-Revolutionäre!" „Ihnen fehlt sie eben, die Kraft. Sie sind nicht konsequent." „Richtig." Dr. Morton nickte. Jetzt hatten sie fast die Grenze von Lannix Manor erreicht und standen an dem Kanal, der zum Meer führte. Sir Henry sah interessiert landeinwärts. „Sie haben ein Bootshaus, Glenn?" Es war das erstemal, daß er Dr. Morton einfach beim Vornamen nannte. Morton wunderte sich nicht darüber. Er empfand es auch nicht als Anmaßung. „Ja, ein Bootshaus. Es steht schon mehr als hundert Jahre. Ich habe es kürzlich renovieren lassen." „Darf ich es mir ansehen?" „Bitte." Sie schlenderten auf das Bootshaus zu. Dr. Morton zog ein Schlüsselbund aus der Tazche. Er öffnete die Tür, die man über drei Stufen erreichte. Im Bootshaus lagen verschiedene Segelboote und Kähne und ein offenes Boot herkömmlicher Bauart mit einem recht starken Inbord-Motor. All dem schenkte Sir Henry jedoch keinen einzigen Blick. Was ihn faszinierte, war eine etwa 15 Yards lange Motoryacht, die überall Aufsehen erregen mußte, selbst im Hafen von SaintTropez oder Monte Carlo. Ihr Rumpf war matt- schwarz und von einer Form, die revolutionär wirkte. Dem Kenner signalisierte sie sofort volle Seetüchtigkeit und hohe Geschwindigkeit. „Ein Traum", murmelte Sir Henry. „Sie läuft mindestens 50 Knoten." „60 Knoten", korrigierte Dr. Morton lächelnd. „Mühelos. Möchten Sie's ausprobieren, Henry?" „Nichts lieber als das!" „Also gehen wir an Bord." Dr. Morton betätigte einen Schalter. Das Tor des Bootshauses öffnete sich hydraulisch und sehr schnell. „Drago", murmelte Sir Henry, immer noch im Bann des ersten, überwältigenden Eindrucks. „Sie hat ihren Namen verdient. Wirkt wirklich wie ein Drachen. Wo haben Sie sie bauen lassen, Glenn?" Seite 25
„Bei Italcraft in Rom." Sir Henry blieb hinter Dr. Morton stehen, während der sich in den der Körperform angepaßten Schalensitz setzte. Das Instrumentenbrett erinnerte fast an ein Flugzeug-Cockpit. Gesteuert wurde die Drago mit einem rennwagenmäßigen schwarzen lederbezogenen Rad. Mit Sachkenntnis beobachtete der Earl die Startvorbereitungen. Erst begann der linke Motor zu grummeln, dann der rechte. Als Dr. Morton sie noch im Stand ein wenig höher drehen ließ, heulten sie auf und ließen ihre unbändige Kraft erkennen. Die Drago vibrierte ganz leise. „Benzinmotoren, ja?" „Richtig. Zweimal 450 PS." „Sie haben eine Menge Technik an Bord." „Ja", sagte Dr. Morton schlicht, ohne näher auf diese Bemerkung einzugehen. Die zusätzliche Technik stammte nicht von der römischen Werft, sondern von Grimsby. Und weil man nicht alles vor neugierigen Augen verbergen konnte, hütete Dr. Morton sich auch, gewöhnliche Gäste mit an Bord der Drago zu nehmen. Sir Henry war eine Ausnahme. Die Yacht lief leicht und fast geräuschlos durch den Kanal aufs Meer zu. Sie kamen unter einer Brücke durch, auf der neugierige Ausflügler standen und das Wunderding anstarrten. „So etwas würde heute kaum noch genehmigt", sagte Dr. Morton lächelnd. „Wenn i c h um die Genehmigung eingekommen wäre, diesen Kanal zu bauen — noch dazu so aufwendig, weil gezeitensicher —, hätte man mich ausgelacht und auf die öffentlichen Yachthäfen verwiesen. Aber glücklicherweise ist der Besitz von Lannix Manor mit einer ganzen Reihe von Privilegien verbunden. Unter anderem steht dieser vor mehr als hundert Jahren erbaute Kanal einzig und allein dem Besitzer von Lannix Manor zur Verfügung." „Warten Sie nur", sagte Sir Henry grinsend. „Wenn wir demnächst wieder eine sozialistische Regierung bekommen, werden auch solche alten Zöpfe radikal abgeschnitten." Morton lächelte leicht. „Was das betrifft, teile ich Ihren Pessimismus nicht, Henry. Worin unterscheiden sich die Sozialisten denn heute noch von den Konservativen? Sie schreien ein bißchen lauter, aber schließlich sind es doch nur Nuancen. Die einen sind so schlecht wie die anderen." Sie erreichten das Meer. Die Motoren hatten jetzt die notwendige Betriebstemperatur, wie Dr. Morton an den Instrumenten ablas, und der beschleunigte so plötzlich, daß Sir Henry sich an seinem Sitz festhalten mußte, um nicht umgerissen zu werden. „Verzeihen Sie, Henry", sagte Morton lächelnd. „Setzen Sie sich lieber." „Beeindruckend", murmelte der Earl, während er sich in den zweiten der Schalensitze gleiten ließ. „Sagen Sie, Glenn, eine solche Yacht legt man sich doch nur zu, wenn man einen Grund hat." „Allerdings." • „Erstens, weil sie eine Menge Geld kostet. — Zwischen 30 000 und 40 000 vermute ich?" „50 000 mit allem Drum und Dran." „50 000 Pfund", wiederholte Sir Henry. „Wirklich ein beachtlicher Betrag. — Aber es ist ja nicht nur das Geld. Man kauft sich nicht ein Schiff wie die Drago, wenn man ein bißchen herumschippern und sein Vergnügen daran haben will, draußen auf dem Wasser in der Sonne zu liegen." Seite 26
„Bestimmt nicht." „Eigentlich sind Sie auch nicht der Typ, der aus einer Laune so viel in einen ausgefallenen Sport investieren würde." „Nein", bestätigte Dr. Morton lakonisch. „Sie haben also eine andere Motivation." „Über die ich normalerweise nicht spreche." „Oh, entschuldigen Sie, Glenn. Ich habe mich zu weit vorgewagt. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß ich ansonsten absolut kein neugieriger Mensch bin?" „Ich glaube Ihnen", sagte Morton lächelnd. „Bei der Gelegenheit: Ich interessiere mich für Sie auch mehr als für andere Menschen, die ich so kennen lerne." Sir Henry nickte. „Es gibt etwas, das uns gegenseitig anzieht, mit der Kraft eines Magneten, sagte er leise. „Und es geht überraschend schnell." Dr. Morton lachte: „Wie ich einige meiner Kollegen kenne, die sich mehr mit der so genannten Seele als mit dem Körper befassen, würden sie spätestens in diesem Stadium sexuelle Momente konstatieren." Sir Henry stimmte in das Lachen ein. „Bin froh, daß Sie keiner von diesen Quacksalbern sind, Glenn. Sind mir alle zu intellektuell. Bei einem Chirurgen weiß man doch eher, wo man dran ist." „Glauben Sie?" „Nun ja . . . Sie wissen doch, wie ich's meine." Dr. Morton nickte. „Ein Chirurg ist in erster Linie Handwerker. Ein guter Handwerker oder ein schlechter, je nachdem. Man kann ihm zwar nur in den seltensten Fällen über die Schulter sehen bei seiner Arbeit, aber man weiß trotzdem, was er macht. Er schneidet hier ein Bein oder einen Arm ab, löst dort eine Niere aus und kappt da einen Blinddarm, nimmt die Resektion eines Magens vor oder baut einen Herzschrittmacher ein. Alles Dinge, die auch der Laie versteht, wenn er sich ein bißchen Mühe gibt. Die Psychotherapeuten hingegen ..." Sir Henry unterbrach ihn lachend: „Trotzdem bleiben bei einem Mann von Ihrem Format eine Menge Geheimnisse, Glenn." „Womit wir wieder bei der Motivation für den Kauf dieses Schiffs wären." „Oh, ich bestehe durchaus nicht auf einer Erklärung!" wehrte Sir Henry ab. „Ich gebe sie Ihnen aber trotzdem. Ich habe das Schiff gekauft, weil ich es eines Tages brauchen könnte. Zum Beispiel dann, wenn ich gezwungen wäre, mich sehr rasch von der Insel zu entfernen. Wenn ich nicht mit den üblichen Verkehrsmitteln reisen könnte." Er drosselte das Tempo der Drago und sah Sir Henry an. Sein Blick war nicht herausfordernd, aber interessiert. Ein leichtes Lächeln kräuselte seine Mundwinkel. „Ich verstehe", sagte Sir Henry behutsam. Dr. Morton erläuterte: „Ich besitze auch ein recht schnelles Flugzeug mit großer Reichweite. Eine TurboTwin. Eine Cessna 340."
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Leseprobe Fenster von Michael Avallone Haben Sie manchmal Angst? Jemand, der eine merkwürdige Geschichte erzählt, ist natürlich leicht versucht, sie dem Zuhörer so eindrucksvoll wie möglich zu schildern. Es gehört einfach zur menschlichen Natur, daß man zwei sagt und eins meint — und es ist natürlich viel interessanter, wenn zehn Leute umgebracht werden, als wenn nur einer stirbt. So ähnlich ist auch die Geschichte von Barton Frisbee. Allerdings mit einem großen Unterschied. Sie ist nämlich wahr ... und sie geschah erst im letzten Jahr. Barton Frisbee war Fensterdekorateur in einem der bedeutendsten Modeläden in Los Angeles. Er arbeitete so geschickt und so faszinierend, daß immer, wenn er die Fenster der Brenda Department Store dekorierte, die Menschen draußen standen, um ihm zuzusehen. Barton Frisbee war ohne Zweifel ein Künstler. Er hätte ein Michelangelo oder ein Rembrandt sein können — so geschickt arbeitete er mit seinen Fingern! Wie leicht bewegten sich seine Hände, wenn sie zeichneten und schufen — und jede seiner drei Schaufensterpuppen schien sich völlig zu verändern, wenn er seine modischen Einfälle an ihnen ausprobierte. Seine Bewunderer waren nicht zu zählen. Wenn er zum Beispiel seine Frühjahrskollektion in seinen Schaufenstern unterbrachte, dann beobachtete ihn die Menge atemlos. Und das war ziemlich erstaunlich, denn Barton Frisbee war unter keinen Umständen hübsch zu nennen. Ganz im Gegenteil: Er war entsetzlich häßlich. Er sah aus wie der Glöckner von Notre-Dame; er hatte einen Buckel, und der Kontrast zwischen ihm und den Schaufensterpuppen, wenn er zwischen ihnen hindurch kroch, Berge wunderbarer Stoffe auf den gekrümmten Armen, war phantastisch. Und dennoch war irgend etwas Schönes in Barton Frisbee. Und Schönheit war in seinen Kreationen für die Fenster des Brenda Department Store. Kein Mensch lachte über ihn. Nicht bis zu jenem entsetzlichen Morgen im Mai. Die Fenster waren leer, denn Barton Frisbee sollte an diesem Morgen alles neu gestalten. Zwei große Schaufensterpuppen standen unbekleidet da und warteten darauf, geschmückt zu werden. Die Auslage stand unter einem Motto: Freude im Sommer — laß Brenda dich für den Sommer an- kleiden. Und es war bereits einiges vorbereitet, man sah, aus Papiermache, ein sandiges Ufer, man sah Strandbälle und Strandschirme. Barton Frisbee kam aus einer winzigen Tür im Hintergrund und betrat seine Bühne. Neugierige Passanten standen bereits vor dem Fenster. Der große Frisbee war bereit, sich an die Arbeit zu machen. Fasziniert beobachteten die Leute, wie der häßliche, buckelige Mann an seine Arbeit ging. Sie sahen, wie er seine Modelle anzog, ein Mann und eine Frau, er bekleidete sie mit Sommersachen. Die Frau trug ein leich- tes, gepunktetes Kleid, der Mann bekam Hosen und ein Sporthemd. Es war ein hübscher Anblick. Aber plötzlich rollte der Strandball gegen die weibliche Figur und warf sie um. Und sie riß die männliche Schaufensterfigur mit. Fortsetzung in der nächsten Ausgabe
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Und einen Hubschrauber”, sagte Sir Henry trocken. „Richtig. Auch so ein Ding ist manchmal recht praktisch." Sie fuhren einen weiten Bogen. Schweigend. Erst als der spitze Bug der Drago wieder auf die ferne Küste von Brighton zeigte, die zu einem schmalen Strich zusammengeschmolzen war, seufzte Sir Henry und sagte: „Ich beneide Sie, Glenn." „Um dieses Schiff?" fragte der andere gutmütig-spöttisch. Sir Henry blieb ernst. „Um alles. Um Ihr Leben. Sie tun das, was Sie tun wollen. Ich hingegen ..." „Wollen Sie ans Steuer, Henry?" „Gern, danke." Sie tauschten die Plätze. Dr. Morton gab seinem Freund die notwendigen Hinweise für die Bedienung des superschnellen Schiffs. Nach einer Weile fragte er ruhig: „Warum tun Sie's nicht auch, Henry?" „Es ist verdammt schwer für einen Mann in meiner Stellung." „Es ist für jeden schwer, in jeder verdammten Stellung", gab Morton fast grob zurück. „Sicher, das stimmt. Also bin ich vermutlich zu schwach?" Es war eine Frage. Dr. Morton sagte vorsichtig: „Das müßte man herauszufinden versuchen." „Wie?" „Oh, ich bin sicher, irgendwann ergibt sich eine Gelegenheit." „Sie würden mir eine Chance geben, Glenn?" „Ja." „Ist das nicht leichtsinnig? — Ich kann natürlich nicht beurteilen, was Sie aufs Spiel setzen ... „Alles", sagte Morton ruhig. Die Drago, die mindestens zur Hälfte aus dem gischtenden Wasser des Ärmelkanals ragte, raste weiter auf den Strand von Brighton zu. Ziemlich spät drosselte Sir Henry die Kraft der beiden Motoren. Der Bug senkte sich ins Wasser und das Schiff beschrieb einen eleganten Bogen, um den Stichkanal zu erreichen, der nach Lannix Manor führte. „Sie können sich auf mich verlassen, Glenn", sagte Sir Henry. Am Montagmorgen erlebte Dr. Morton eine Überraschung. Er war auf dem Weg nach London und wollte nur einmal kurz in der Klinik vorbeischauen, als Cynthia Barrington sich meldete und sagte: „Mr. Harroghby ist da, Glenn. Er fragt nach Ihnen. Ich wollte ihn an Mr. Williams oder Mr. Forsyth verweisen, aber er besteht darauf, Sie zu sprechen." „Wo ist er?" „In der Halle." „In Ordnung. Ich gehe gleich hinüber." Mr. Harroghby stand auf, als er Dr. Morton kommen sah. Er lächelte leicht gequält. „Was führt Sie her, Sir?" erkundigte Dr. Morton sich freundlich. „Ich hatte wirklich nicht so bald mit Ihnen gerechnet." „Ich hätte jetzt Zeit, Sir”, sagte Har- roghby. „Und da ich — ehrlich gestan- den — doch einige Angst vor der Ope- ration habe, möchte ich sie so schnell wie möglich hinter mich bringen. Können Sie mich aufnehmen und möglichst bald unters Messer bringen?" „Das läßt sich wohl machen", sagte Dr. Morton überlegend. „Ja, es geht. Ich werde Sie übermorgen drannehmen." „Nicht sofort?" Morton lachte. Seite 31
„Nein, Harroghby, das geht nicht. So ein Eingriff erfordert einige Vorbereitungen." In deinem Fall ganz besonders, dachte er. „Na, ich habe keine andere Wahl . . ." „Wie geht es Ihrer Gattin, Sir?" Harroghby starrte ihn an, als verstehe er nicht. Dann sagte er hastig: „Oh, danke, der geht's gut. Glänzend geht's der. Sie — sie läßt grüßen und dankt Ihnen, daß Sie sich um sie gekümmert haben, an dem Abend ..." Dr. Morton nickte lächelnd und fragte: „Hatten die Leute vom Yard Erfolg?" „Wie bitte?" „Haben sie den Einbrecher geschnappt?" „Ach so! Nein, nein, leider nicht. Wie ich's befürchtet hatte: Fehlanzeige. Aber so geht das ja immer. Wir dürfen Steuern zahlen bis zum Schwarzwerden, aber wenn wir den Staat brauchen . ." Er war drauf und dran, sich in Rage zu reden. Doch Dr. Morton stoppte ihn mit einer Handbewegung. „Wenden Sie sich an die Aufnahmeschwester, Harroghby. Ich muß nach London in meine Praxis. Sowie ich zu- rück bin, schaue ich nach Ihnen." Harroghby bedankte sich. In London rief Dr. Morton, sobald er Zeit dazu fand, Grimsby herbei. Er be- richtete ihm von Harroghbys unerwartetem Auftauchen. „Was hat das zu bedeuten, Sir?" „Ich finde nur eine logische Erklärung, Grimsby." „Das Unternehmen ist verschoben." „Richtig. Können Sie sich darum kümmern?" „Selbstverständlich." „Vielleicht finden Sie etwas heraus." „Ich werde mir Mühe geben, Sir." Grimsby war schon nach drei Stunden zurück, und sein Gesichtsausdruck ver- riet, daß er Erfolg gehabt hatte. Er be- richtete: „Einzelheiten sind nicht durchgedrungen, Sir. Aber verschiedene Hilfskräfte, die Mr. Harroghby hin und wieder zu beschäftigen pflegt, haben Nachricht er- halten, daß man sie momentan nicht braucht. Dabei hatten sie schon Anzahlungen erhalten." „Anzahlungen wofür, Grimsby?" Der andere zuckte die Schultern. „Die Leute sind diskret, Sir. Ich hielt es auch nicht für so wichtig, das herauszubekommen." „Richtig." „Jedenfalls scheint sich etwas ereignet zu haben, was Mr. Harroghby zwingt, seine Pläne zu verschieben. Und mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um ein Ereignis außerhalb Englands." „Die Zwischenfälle in Nahost?" fragte Dr. Morton mehr sich selbst als Grimsby. „Das wäre eine Erklärung, Sir." Morton nickte. „Gut, Grimsby. Ich danke Ihnen. Uns kann es ja nur recht sein. Wir haben Harroghby früher in die Hand bekommen, als wir dachten. Vielleicht hilft das einer Menge Menschen.” „Durchaus möglich, Sir." Der Eingriff, bei dem Mr. Williams und Mr. Forsyth sowie der Anästhesist der Klinik Dr. Morton assistierten, verlief unerwartet problemlos. Obwohl die Konstitution des Patienten nicht die beste war und der junge Arzt, der die Narkose machte, auch Bedenken hinsichtlich Mr. Harroghbys Kreislauf äußerte, ging alles glatt, und zwei Seite 32
Stunden nach dem Beginn der Operation rollten zwei Pfleger den noch Narkotisierten in sein Einzelzimmer an der Südseite des modernen Klinikbaus zurück. Wenn Mr. Harroghby aufwachte, würde sein Blick über das Meer schweifen; erfahrungsgemäß liebten alle Patienten diese Aussicht. Sie steigerte ihr Wohlbefinden und trug zur rascheren Genesung bei. Dr. Morton sah häufig nach seinem Patienten. Am zweiten Tag nach der Operation setzte er sich für einige Minuten an Harroghbys Bett, um sich mit ihm zu unterhalten. Harroghby war ziemlich blaß und fühlte sich matt, aber er lächelte. „Wie geht's Ihnen?" erkundigte der Chirurg sich. "Danke, Sir. Sie haben mir das Leben gerettet." „Jemand mußte es ja tun", erwiderte Dr. Morton lächelnd. „Und es ist mein Beruf." „Es war dumm von mir, solche Angst zu haben, nicht wahr?" „Darüber würde ich mir jetzt keine Gedanken mehr machen, Harroghby." „Wie lange muß ich noch hier liegen, Dr. Morton?" „Drei bis vier Wochen. Mindestens. Können auch sechs werden." „So lange?" „Sie sind ziemlich korpulent, Harroghby. Ich habe zwar die Gelegenheit genutzt, einiges von Ihrem Fett weg zu schneiden . . ." „Sie haben was?" fragte Harroghby entgeistert. Dr. Morton lachte. „Ja", erklärte er. „Das pflegt man oft zu tun. Sie sind mir doch nicht gram? Hängen Sie etwa an Ihrem Bauch?" „Nein, nein, selbstverständlich nicht", sagte Harroghby grinsend und schüttelte den Kopf. „Ich muß mich nur erst an die Vorstellung gewöhnen." Seine Finger tasteten den dicken Verband ab, den er um die Körpermitte trug. „Um das fortzusetzen, was ich vorhin sagen wollte: Sie haben nach meiner Meinung kein besonders gutes Heilfleisch. Machen Sie sich also ruhig auf einen längeren Aufenthalt gefaßt." „Ja, das läßt sich wohl nicht ändern", sagte Harroghby mit gerunzelter Stirn. „Obwohl ..." „Was wollten Sie sagen?" „Ach, nichts." „Denken .Sie an Ihre Geschäfte?" fragte Dr. Morton und gab sich keine Mühe, den Spott in seiner Stimme zu unterdrücken. „Meine Geschäfte? Ja, natürlich. Wissen Sie, der Laie stellt sich das nicht immer richtig vor. Es kommt im Geschäfts- leben oft sehr darauf an, daß man exakt den rechten Termin abpaßt. Es gibt Gelegenheiten, die kommen und gehen so schnell, daß man schon ein sehr waches Auge haben muß, um sie nicht zu ver- passen." „Das verstehe ich durchaus", sagte Dr. Morton verbindlich. „Obwohl ich kein Geschäftsmann bin. Für Ihre Geschäfte trifft das Gesagte sicher in besonderem Maße zu. Bei einem so weit verzweigten Unternehmen ..." Er brach ab und fixierte Mr. Harroghby schweigend. „Weit verzweigt, ja, ja", sagte der und fühlte sich plötzlich gar nicht mehr so gut. Lag's an den Nachwirkungen der Operation oder an Dr. Mortons Worten? Er wußte es selbst nicht. Als er versuchte, darüber nachzudenken — der Arzt hatte sein Zimmer inzwischen verlassen —, fielen ihm die Augen zu, und er schlief ein. Zwei Dinge merkte die Schwester nicht, die Mr. Harroghby abends, wie angeordnet, die intravenöse Injektion verabreichte (was sie, streng genommen, gar nicht tun durfte, was einer der Ärzte hätte tun müssen, was aber hier wie in fast allen Kliniken trotzdem Aufgabe der Schwestern war, die es auch meistens ohne irgendwelche Schwierigkeiten zustande brachten). Seite 33
Erstens merkte sie nicht, daß Grimsby, der plötzlich auftauchte und ein wenig mit ihr flirtete, die für Mr. Harroghby bestimmte Spritze vertauschte. Zweitens merkte sie nicht, daß Grimsby später noch einmal in den kleinen Raum kam, in dem alle gebrauchten Spritzen gesammelt wurden, und die HarroghbySpritze zum zweiten mal austauschte. Am nächsten Morgen machte Mr. Williams Visite bei Mr. Harroghby. Er brauchte keine lange Untersuchung, um festzustellen, daß der Patient tot war. Selbstverständlich wurde Dr. Morton umgehend verständigt. Er hatte sich während der Nacht drüben in Lannix Manor aufgehalten und war nach wenigen Minuten zur Stelle. „Ihre Diagnose, Williams?" „Herzversagen, Sir. Zweifelsfrei." Dr. Morton besah sich Harroghby, nickte und seufzte. „Schade. Die Operation war so zufrieden stellend verlaufen. Haben wir uns einen Vorwurf zu machen, Willianis?" „Bestimmt nicht, Sir. Harroghby hat Herz- und Kreislauf stärkende Mittel er- halten. Wir haben auch sonst alles getan..." „Gut. Dann stellen Sie den Totenschein aus und regeln Sie alles Notwendige." „Die Angehörigen, Sir?" „Seine Frau verständige ich selbst." „Danke, Sir." Eine knappe Stunde später trafen Dr. Morton und Grimsby sich tief unter der Klinik. „Alles glatt gegangen, Sir?" „Scheint so, Grimsby. Wie sieht es hier aus?" „Oh, hier läuft auch alles glänzend.” „Interessantes Experiment, nicht wahr, Grimsby?" „Sehr interessant, Sir." „Sie haben die verwendete Spritze doch beseitigt?" „Selbstverständlich." „Für alle Fälle. Ich glaube allerdings nicht, daß irgendwer auf dumme Gedanken kommt." „Wenn schon", sagte Grimsby. „Auf der richtigen Spritze sind sogar die Fingerabdrücke der Schwester." Sehr schön. Ich hoffe nur, der zweite Teil des Versuchs verläuft ebenso erfolgreich." „Ich zweifle nicht daran, Sir." Dr. Morton lächelte. „Sie zweifeln wohl nie an mir, Grimsby?" „Nein, Sir." „Das ist ein Fehler, Grimsby." Mrs. Harroghby, vergrämt und nervös, erschien am frühen Nachmittag. Dr. Morton empfing sie selbst und führte sie, weil sie's so wünschte, zu dem Toten. Der Wachhund, mißtrauisch und mit finsterem Blick, mußte vor der Tür warten. Das paßte ihm offensichtlich überhaupt nicht, aber Dr. Mortons Anweisung erlaubte keinen Widerspruch. Ganz zufällig hielt Grimsby sich in der Nähe auf und achtete darauf, daß der Bursche keine Dummheiten versuchte ... „Wie ist das nur passiert?" fragte die vergrämte, magere Mrs. Harroghby und sah Dr. Morton aus verschleierten Augen an. „Eine Herzschwäche, Madame. Sie haben mein vollstes Mitgefühl. Ich kann auch verstehen, daß Sie bestürzt sind, weil Sie Ihren Gatten nicht mehr lebend gesehen haben. Aber ich versichere Ihnen, wir haben nicht damit gerechnet, daß er . . . Nun, er machte gestern, als ich mit ihm sprach, einen ausgezeichneten Eindruck." Seite 34
Mrs. Harroghbys Gestalt straffte sich plötzlich. Ihr Blick wurde klarer, und sie sagte mit fester Stimme: „Ich glaube, es ist besser so, Dr. Morton." Er sah sie an, verwundert, aber äußerlich ruhig. Er war jetzt sicher, daß sie von Harroghbys schmutzigen Geschäften gewußt hatte. Unter diesem Aspekt war ihre Haltung mehr als verständlich. „Was werden Sie jetzt tun, Mrs. Harroghby?" erkundigte er sich höflich. „Ich weiß es nicht." Die alte Unsicherheit kehrte zurück. Ihre Schultern sanken nach vorn. Dr. Morton zwang sie, sich zu setzen. „Dürfen wir Ihnen die Formalitäten abnehmen, Mr. Harroghby?" „Wollen Sie das wirklich tun?" „Es ist doch das mindeste, was wir für Sie tun können." „Sie kümmern sich um die Beisetzung?" „Selbstverständlich. Wir werden alles veranlassen." „Danke", sagte sie aufatmend. „Ich wüßte wirklich nicht, wie ich das schaffen sollte. Und die Leute, die in unserem Haus sind . . ." Sie brach ab, fuhr aber nach einer Pause fort: „Ich möchte sie nicht um etwas bitten. Ich möchte am liebsten gar nichts mit ihnen zu tun haben. Ja, es wäre gut, wenn ich sie nicht mehr sehen müßte." Sie hatte mit wachsender Heftigkeit gesprochen. Dr. Morton beobachtete sie und sagte leise: „Fahren Sie weg, Mrs. Harroghby. Verlassen Sie London. Gehen Sie für eine Weile aufs Land. Irgendwohin. Das wird Ihnen gut tun." Sie nickte. Ihre Finger krampften sich nervös um den Griff ihrer schwarzen Handtasche. „Darf ich Ihnen eine Empfehlung mitgeben, Madame?" „Eine Empfehlung?" Sie sah ihn fragend an. „Sie nehmen mir meine Offenheit bestimmt nicht übel." Seine Stimme klang sanft und beruhigend. „Sie sollten sich in ärztliche Behandlung begeben, Madame. Für eine Weile. Bis Sie wieder völlig in Ordnung sind. Sie müssen Ihr Gleichgewicht wieder finden." Mrs. Harroghby nickte. „Ich gebe Ihnen ein paar Zeilen an einen Kollegen in Torquay mit. Dort sind Sie fabelhaft untergebracht. Sie werden sehen, in einigen Wochen fühlen Sie sich wie neugeboren." Man merkte Mrs. Harroghby ihre Dankbarkeit an. Sie brachte sogar so etwas wie ein Lächeln zustande. „Ja, Dr. Morton, ich fahre gern dorthin. Sofort!" „Wie Sie wollen. Die Beisetzung wird allerdings erst morgen oder ..." „Ich will nicht dabei sein!" sagte sie heftig. Fuhr dann ruhiger fort: „Ich habe ihn ja noch einmal gesehen. Das genügt. Auch wenn man mich für herz- los hält. Ich kann nicht zu dieser Beerdigung gehen." Dr. Morton nickte. Er setzte sich mit Schwester Cynthia Barrington in Verbindung und ließ den Brief an seinen Kollegen in Torquay schreiben. Bevor Mrs. Harroghby sich verabschiedete, sagte sie: „Mir ist noch etwas eingefallen, Sir. Er wollte, daß man ihn verbrennt." „Wir werden alles veranlassen", versprach Morton ruhig. Natürlich hängt man so etwas nicht an die große Glocke. Aber die Privatklinik von Dr. Morton hatte, wie viele derartige Unternehmen, immer einen gewissen Vorrat an Särgen in ihrem Magazin.
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Für Mr. Harroghby suchte man einen Holzsarg aus, der in mehreren Exemplaren vorhanden war. Als es Nacht wurde, stand dieser Sarg mit Harroghbys sterblicher Hülle bereit, zum Krematorium gebracht zu werden. Das würde am nächsten Vormittag geschehen, und die Einäscherung war für drei Uhr nachmittags vorgesehen. Einer der jungen, sonst so schweigsamen Männer, hatte von London aus angerufen und Dr. Morton verlangt. Er hatte ohne Umstände gefragt: „Wie konnte das passieren, Sir? Was hat meinen Chef umgebracht?" „Sein Herz", hatte Dr. Morton kühl geantwortet. „Mir scheint, da stimmt einiges nicht, Sir. Gestern ging's ihm noch glänzend, und heute ist er tot! Wie erklären Sie das?" „Mr. Harroghby ist einer Herzschwäche erlegen. Mr. Williams, einer der Oberärzte hier in der Klinik, hat diese Diagnose gestellt. Sie ist von mir bestätigt worden.” Einige Sekunden blieb es still. Dann sagte der junge Mann am anderen Ende der Leitung mit einem bösartigen Unterton: „Das kann ich glauben oder auch nicht!" „Was wollen Sie andeuten, Sir?" fragte Dr. Morton kühl zurück. „Andeuten? Wenn Sie's genau wissen wollen, da ist was faul!" „Wenn Sie dieser Ansicht sind, kennen Sie Ihre Pflichten ja." „Pflichten?" fragte der andere mißtrauisch. „Sie müssen zur Polizei gehen und Anzeige erstatten. Dann gibt es eine amtliche Untersuchung über Mr. Harroghbys Tod." Der junge Mann atmete hörbar durch die Nase ein. „Die Polizei!" sagte er dann verächtlich. „Die kann nicht mal 'nen Einbrecher fangen." „Nein", sagte Dr. Morton. „Vor allem dann nicht, wenn sie nichts von dem Einbruch erfährt." „Wer hat Ihnen gesagt . . ." Jäh brach der junge Mann ab. Zu spät. Er hatte sich verraten. „Ihr Chef", sagte Dr. Morton kühl. Am anderen Ende wurde der Hörer behutsam auf die Gabel gelegt. „Da hätten wir ihn", sagte Grimsby und löste die letzte Schraube des Sargs. „Ich habe dafür gesorgt, daß er genügend Luft bekommt. Erstickt ist er bestimmt nicht." „Und der andere Sarg?" fragte Dr. Morton. „Ist dem hier zum Verwechseln ähnlich." „Womit haben Sie ihn gefüllt?" „Mit diesem neuen Plastikzeugs, säuberlich in Säckchen gefüllt. Der Inhalt entspricht aufs Pfund genau Mr. Harroghbys Gewicht." „Sehr schön", sagte Dr. Morton lächelnd. „Die Sache ist doch sicher, Sir?" erkundigte Grimsby sich. „Ich meine, weil er verbrannt werden soll." „Keine Angst. Das Plastikmaterial hinterläßt Rückstände, die nur ein Chemiker als nicht von einer menschlichen Leiche stammend identifizieren könnte." „Und der Geruch?" „Auch kein Grund zur Besorgnis. Die Öfen des Krematoriums sind dicht. Das Material entwickelt auch keinerlei verräterische Düfte oder Gase." Grimsby nickte zufrieden. Er klappte den Sarg auf. Mr. Harroghby lag friedlich darin und wirkte sehr tot. Dr. Morton prüfte die bereits aufgezogene Spritze, während Grimsby eine Vene am Arm des ‚Toten' suchte und die Stelle desinfizierte. Dr. Morton verabreichte Harroghby die Injektion. „Wie lange wird es dauern?" „Keine fünf Minuten, wenn alles klappt." Seite 36
„Wenn alles klappt, Sir?” Dr. Morton zuckte die Schultern. „Mir fehlen die Erfahrungen mit diesem Präparat. Es belastet den Kreislauf nicht unerheblich. Möglicherweise kommt Harroghby nur zu sich, um dann tatsächlich einer Herzschwäche zu erliegen. Aber wir haben ja alles vorbereitet, um dem entgegenzuwirken." Er beobachtete den Mann im Sarg, dessen Gesicht langsam Farbe bekam. Nach ungefähr fünf Minuten hob und senkte der Brustkorb sich fast normal, und wenig später begann Harroghby, seltsame Laute von sich zu geben. Seine Lider bewegten sich. „Wie kommt's daß Mr. Williams drauf hereingefallen ist, Sir?" fragte Grimsby. „Ich meine: Der Herzschlag war doch während der ganzen Zeit vorhanden und .. ." „Schwach, Grimsby. So schwach, daß nur eine sehr genaue Untersuchung das bewiesen hätte. Da aber alle Symptome auf Tod durch Herzversagen hindeuteten und da ich Williams Diagnose bestätigte ..." '„Verdammt leicht zu täuschen, der Mann", knurrte Grimsby. „Glücklicherweise", sagte Morton lächelnd. „Deshalb haben wir Mr. Harroghby ja auch ‚sterben' lassen, als wir wußten, daß Williams die nächste Visite hatte." Mr. Harroghby schlug die Augen auf. Er starrte Dr. Morton an, dann Grimsby. Seine Lippen bewegten sich, aber er war zu schwach, um zu sprechen, ja, er merkte offenbar nicht einmal, daß er sich nicht in seinem Krankenbett, sondern in einem hölzernen Sarg befand. Dr. Morton beobachtete ihn genau. Harroghbys Gesicht verfärbte sich purpurrot und dann blau. „Sauerstoff!" sagte Morton, während er gleichzeitig nach Spritze und Ampulle griff. Grimsby arbeitete umsichtig und mit Routine. Ihm machte solche Tätigkeit Spaß. Es störte ihn schon lange nicht mehr, wenn er dabei an sein zwangsweise abgebrochenes Medizinstudium erinnert wurde. Sie beschäftigten sich länger als eine Stunde mit Mr. Harroghby. Dann richtete sich Dr. Morton auf und sagte ruhig: „Geschafft. Jetzt besteht keine akute Gefahr mehr, Grimsby." Wieder kam Harroghby zu sich. Diesmal schien er sich besser und stärker zu fühlen. Er verzog das Gesicht sogar zu einem dünnen Grinsen, als er Dr. Morton ansah. Seine Stimme war allerdings nur ein Flüstern: „Was war los, Doktor? Hab ich abgebaut?" „Ja." „Aber jetzt — ist alles in Ordnung?" „Ja", sagte Dr. Morton. „Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen." Grimsby fand diese Auskunft besonders makaber und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Es ist . . . so eng", flüsterte Mr. Harroghby. „Was ist denn . . . mit dem Bett .. ?" Mühsam bewegte er den Kopf. Seine Augen wurden groß und rund. Er blickte Dr. Morton ungläubig an. Der lächelte. „Es ist tatsächlich ein Sarg, Mr. Harroghby", erklärte er freundlich. „Beunruhigen Sie sich nicht. Grimsby wird Sie jetzt zu Bett bringen." „Ja, Sir”, sagte Grimsby gehorsam, beugte sich hinab und hob den ziemlich schweren Mr. Harroghby aus dem Sarg, um ihn zu dem vorbereiteten Bett zu tragen. "Wieso . . . ? Weshalb hab ich da drin gelegen?" flüsterte Mr. Harroghby. Dr. Morton war Grimsby und seiner Last gefolgt und stand jetzt neben dem Bett, die Hände in den Taschen seines weißen Arztmantels. „Weil Sie tot waren, Mr. Harroghby." Seite 37
„Tot?" Morton nickte. „Ich war tot?" „Sie sind es noch." Harroghby verstand nicht. Sein Blick hing an Dr. Mortons Gesicht. Er schüttelte den Kopf. Wartete vergeblich darauf, daß Dr. Morton ihm eine Erklärung für seine rätselhaften Worte gab. „Ich bin doch nicht tot, Sir! Ich lebe doch!" „Gewiß, Sie leben. Und aller Wahrscheinlichkeit nach werden Sie sich von der Operation vollständig erholen, Mr. Harroghby." „Warum sagen Sie dann, daß ich tot bin?" Harroghbys Flüstern war mit einem Keuchen versetzt. „Glauben Sie, es tut mir gut, wenn Sie solche Witze machen, Sir?" „Keine Witze, Harroghby", sagte Dr. Morton sanft. „Ihre Frau und Ihre Killer und alle Welt da draußen sind von Ihrem Tod überzeugt. Sie sind in der vergangenen Nacht gestorben und werden morgen eingeäschert." Er machte eine kleine Pause und fuhr fröhlich fort: „Ihre Witwe teilte mir mit, daß Sie sich für das Krematorium entschieden hätten." „Sind Sie verrückt, Doktor?" „Nein, nein, ganz und gar nicht." „Er begreift nicht", sagte Grimsby belustigt. „Wer . . . ist das?" erkundigte Harroghby sich schwach. „Mr. Grimsby wird sich hier um Sie kümmern, Harroghby. Sie können nach ihm klingeln, wenn Sie etwas brauchen." „Und wenn Sie Glück haben, komme ich", setzte Grimsby grinsend hinzu. Es war zuviel für Mr. Harroghby. Er verstand überhaupt nichts und wollte eine Menge Fragen auf einmal stellen, aber in seinem Kopf drehte sich alles, und Dr. Mortons und Mr. Grimsbys Gesichter verschwammen. Er schloß die Augen und war wenige Sekunden später weggetreten. Grimsby sah Dr. Morton fragend an. „Kein Grund zur Besorgnis", sagte der. „Er schläft jetzt. Nach meiner Schätzung wird er mindestens zwölf Stunden schlafen, und das kann ihm ja nicht schaden." „Womit auch der zweite Teil des Experiments gelungen wäre, Sir." Dr. Morton runzelte die Stirn. „Der zweite Teil, ja. Aber noch nicht der letzte." Schon vor Morgengrauen stand ein schmutziggrauer Volvo in einer Seitenstraße, von der aus Fahrer und Beifahrer die Ausfahrt der Privatklinik von Dr. Morton im Auge behalten kennten. Die Männer sahen den Leichenwagen kommen, sahen ihn in der Klinik verschwinden und eine Viertelstunde später wieder auftauchen. Sie folgten ihm unbemerkt. Und ihnen folgte unbemerkt ein alter Austin A 60, wie man ihn zu Tausenden auf den Straßen sieht. Grimsby saß hinter dem Lenkrad des Austin. Sein Gesicht war verschlossen, aber er regte sich nicht auf. Er hatte damit gerechnet, daß die jungen Männer des Mr. Harroghby den Tod ihres Chefs nicht einfach so hinnehmen würden. Sie waren mißtrauisch. Dr. Morton hatte ihr Mißtrauen — nicht ohne Absicht — geschürt, indem er Mrs. Harroghbys Begleiter den Eintritt ins Zimmer des ‚Toten' verwehrt hatte. Diese Provokation sollte die Burschen zum Handeln ermuntern, und offenbar ging Dr. Mortons Rechnung wieder einmal auf. Der Leichenwagen erreichte das Krematorium. Der schmutziggraue Wagen der Verfolger parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Grimsby fuhr um die nächste Ecke. Er kannte sich hier glänzend aus und war auf dem Gelände des Seite 38
Krematoriums, als die Männer von Harroghby noch überlegten, wie sie's am besten und unauffälligsten anstellten, in die Nähe des Sargs zu kommen. Sie waren nicht ungeschickt. Einer lenkte den Wächter ab, verwickelte ihn in ein Gespräch, bot ihm eine Zigarette an und spielte den wißbegierigen, netten Jungen. Der andere näherte sich dem eben erst ausgeladenen Sarg, identifizierte ihn — was nicht schwierig war, da ein Schildchen mit Harroghbys Namen dranhing — und versuchte, ihn zu öffnen. Grimsby stand im Hintergrund, im Dämmerlicht zwischen einigen Topfpalmen, die hier auf ihren Einsatz warteten, und sah interessiert zu. Der junge Mann löste eine Schraube nach der anderen. Grimsby hätte verhindern können, daß er einen Blick in den Sarg warf, aber er tat's nicht. Er ließ zu, daß der junge Mann seine Arbeit ungestört beendete. Jetzt war die letzte Schraube gelöst. Jetzt hob er den Sargdeckel — und starrte mit gerunzelter Stirn auf die transparenten Kunststoffsäckchen mit ihrem körnigen Inhalt. Er brauchte ungefähr sechs Sekunden, um den Anblick zu verdauen. Mißtrauisch sah er sich um, entdeckte Grimsby jedoch nicht. Hastig schloß er den Sarg und drehte die Schrauben wieder zu. Grimsby nickte zufrieden. Die Reaktion war genauso, wie Dr. Morton es vorausgesagt hatte. Sie entsprach im übrigen auch seiner eigenen Erwartung. Beide waren sicher gewesen, daß die Killer des Mr. Harroghby keinen Krach schlagen würden, wenn sie entdeckten, daß die Leiche ihres Chefs verschwunden war. Grimsby zog sich leise zurück. Er saß bald wieder in dem unauffälligen alten Austin, startete den Motor und ließ den Wagen um das Viertel rollen. Als er die letzte Ecke passierte, stiegen die beiden jungen Männer eben in ihr schmutzig- graues Fahrzeug. Er folgte ihnen. Sie fuhren in Richtung London. Im starken Verkehr, der den ganzen Tag über auf der A 23 herrscht, fiel es ihm leicht, ziemlich dicht dran zu bleiben, ohne Aufsehen zu erregen. 46 Als der schmutziggraue Volvo im südlichen London auf die 202 einbog, nickte Grimsby. Er hatte damit gerechnet, daß die Burschen zu Mr. Harroghbys Haus fahren würden. Der Wagen überquerte die Themse auf der Vauxhall Bridge und bog links ab. Er folgte dem Fluß zunächst auf dem Grosvenor Square, dann auf dem Chelsea Embankment und gelangte so zum Cheyne Walk. Grimsby parkte den Austin in der Old Church Street. Was er vorhatte, war gefährlich. Er wußte, daß Dr. Morton es nicht gebilligt hätte; deshalb verzichtete er darauf, sich mit seinem Chef in Verbindung zu setzen. Leise grinsend ging er auf Mr. Harroghbys Haus zu. Er umrundete den scheußlich prächtigen Bau und gelangte auf der Rückseite an eine Stelle, die ihm bei früheren Be- suchen aufgefallen war. Im Schutz dichter Büsche überquerte er hier den eisernen Zaun. Er schlich zu dem Haus hin- über, ohne zu wissen, ob man ihn aus einem der Fenster beobachtete. Möglich war's schon, aber nicht sehr wahrscheinlich, denn die Killer hatten jetzt be- stimmt anderes zu tun, als den Park zu bewachen. Diesmal war niemand da, der ihm eine Tür aufschloß, und auch den Weg, den er bei seinem zweiten Besuch genommen hatte, konnte er nicht benutzen, denn die Fensterscheibe war längst erneuert worden.
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Grimsby suchte sich ein Kellerfenster aus, zog einen großen Saugnapf mit Griff aus den unergründlichen Taschen seines alten Burberrys', drückte ihn gegen die Scheibe und zerschnitt sie rasch und geschickt mit einem Glasschneider. Jetzt konnte er nach innen greifen und die Verriegelung lösen. Eine halbe Mi- nute später stand er in einem finsteren, muffig riechenden Kellerraum, dessen Tür zwar verschlossen war, aber mit einem so lächerlich primitiven Schloß, daß Grimsby es fast nur anzugrinsen brauchte, um in den Kellergang zu gelangen. Natürlich war er vorsichtig und be- wegte sich fast lautlos. Er huschte die Kellertreppe hinauf und sah sich einem Problem gegenüber. Auch hier war die Tür abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte auf der anderen Seite. Grimsby runzelte die Stirn. Diese alten, groß dimensionierten Schlösser machten manchmal erhebliche Schwierigkeiten. Oft war's einfacher, mit einem modernen Zylinderschloß fertig zu werden. Das Ding hier hielt ihn geschlagene fünf Minuten auf. Besonders unangenehm war aber, daß er nicht wußte, ob auf der anderen Seite jemand lauerte. Die Sache ging nicht ganz geräuschlos vonstatten, und wenn einer der Knaben auf der anderen Seite stand, konnte er in aller Ruhe warten, bis Grimsby die Tür öffnete und zum Vorschein kam. Kein sonderlich angenehmer Gedanke. Grimsby zog seine Lieblingswaffe, ein schmales, langes Messer mit sehr schar- fer, beidseitig geschliffener Klinge. Es war sowohl zum Stechen wie auch — in Grimsbys Hand — zum Werfen geeignet. Vorsichtig öffnete er die Tür, darauf gefaßt, daß ein möglicher Gegner auf diesen Moment lauerte, um ihn zu überwältigen. Aber es war niemand da. Nachdem Grimsby sich hiervon überzeugt hatte, atmete er tief durch, schlüpfte hinaus, schloß die Tür hinter sich, drehte auch den Schlüssel und sah sich suchend um. Wo konnten die Burschen stecken? Das Haus war sehr weitläufig. Seiner Schätzung nach gab es hier mindestens 35 bis 40 Zimmer. Wo also .. ? Auf gut Glück marschierte Grimsby los, immer auf der Hut, immer bereit, einen möglichen Gegner blitzschnell und lautlos zu erledigen. Aber er hoffte inständig, daß es nicht dazu kommen würde. Er wollte das Haus nach Möglichkeit so ungesehen und unbemerkt verlassen, wie er's betreten hatte. Er hatte Glück. Wenigstens für den Anfang. Denn er hörte Stimmen aus dem großen Raum, durch den man in den kleineren, holzgetäfelten kam, von dem aus die als Wandschrank getarnte Tür zur Sendestation führte. Es war der Raum mit dem Kamin aus der viktorianischen Epoche und den modernen Gemälden, in dem seinerzeit die Party stattgefunden hatte. Nachdem Grimsby sein Ohr gegen das Schlüsselloch gepreßt hatte, konnte er Bruchstücke der Unterhaltung verstehen. Er verweilte ungefähr zehn Minuten hier, ohne sich zu rühren und ohne gestört zu werden. Dann glaubte er, genug gehört zu haben. Er ging auf leisen Sohlen zurück zur Kellertreppe, schloß die Tür auf und verschwand nach unten. Leider konnte er nicht wieder abschließen. Er hoffte, daß das nicht auffallen würde. Nach ungefähr zehn Minuten stieg Grimsby in den alten, unauffälligen Austin und setzte sich über das eingebaute Funktelefon mit seinem Chef in Verbindung. „Ich wollte nur wissen, wo Sie sind, Sir. Kann ich Sie gleich sprechen?"
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„Selbstverständlich, Grimsby. Ich warte hier in der Praxis auf Sie. Wir können zusammen lunchen." Cynthia Barrington, die schöne Krankenschwester, die ihren Chef aus allernächster Nähe kannte und ihn trotzdem liebte (was bestimmt für Dr. Morton spricht), freute sich sehr auf die Tage, an denen Dr. Morton in seiner Praxis in Londons vornehmer Harley Street war. Sie freute sich auf diese langen Vormittage, die meist wie im Flug vergingen und gewöhnlich damit endeten, dar Dr. Morton sie aufforderte, den Lunch mit ihr zu teilen. Auch an diesem Tag hatte er Lunch für zwei bestellt. Cynthia hatte eine der anderen Schwestern in ein Feinkostgeschäft in der Nähe geschickt, in dem es verschiedene Spezialitäten gab, die Dr. Morton besonders schätzte. Sie hatte in dem kleinen Raum neben Dr. Mortons Zimmer den Tisch gedeckt und schaute auf die Uhr. Dr. Morton war mit dem letzten Patienten dieses Vormittags beschäftigt. Gleich . Grimsby kam herein, grinste sie unpersönlich an, sah an ihr vorbei und sagte: „Hallo, Schwester Barrington. Ist der Chef fertig?” Schon Grimsbys Auftauchen ließ Schwester Barringtons gute Laune um etliche Grad sinken. Sie wußte, daß er sie nicht mochte und mochte ihn deshalb auch nicht. Sie wußte weiter, daß Dr. Morton Grimsby sehr schätzte und daß er sehr tüchtig sein mußte. Manchmal spürte sie so etwas wie Eifersucht ... „Dr. Morton hat noch einen Patienten", sagte sie kühl. „Weiß er, daß Sie kommen, Mr. Grimsby?" „Gewiß doch", sagte Grimsby lächelnd und rieb sich die Hände. „Wir werden zusammen lunchen, wenn's recht ist." „Sie werden . . . Ach so." Schwester Barrington verstand. Es gab ihr einen Stich, aber sie schalt sich eine kleine Närrin und erinnerte sich daran, daß Dr. Morton kein Wort davon gesagt hatte, daß er mit i h r zu lunchen beabsichtigte. Daß Grimsby ihm bei diesen improvisierten Mahlzeiten Gesellschaft leistete, kam schließlich nicht zum erstenmal vor. Dr. Morton rief Schwester Barrington über die Gegensprechanlage zu sich. Sie nahm sich zusammen. Er durfte ihre Enttäuschung nicht bemerken. Tatsächlich wirkte sie so ausgeglichen und zuverlässig wie immer, als sie das Krankenblatt des Patienten nach Dr. Mortons Angaben vervollständigte. „Grimsby schon da, Cynthia?" „Er wartet draußen, Glenn." „Schön. Ich habe etwas mit ihm zu besprechen. Sagen Sie bitte Bescheid, daß ich nicht gestört werden will." „Geht in Ordnung, Glenn." „Sie sind heute besonders hübsch." Er sah sie an und lächelte. „Haben Sie eine Verabredung, Cynthia?" „Nein, Glenn. Natürlich nicht!" „Natürlich nicht? Ich fände es natürlich, wenn Sie eine Verabredung hätten. Ein junges, hübsches Mädchen wie Sie ..." Cynthia senkte den Blick und wurde ein wenig rot, was man bei ihrem sparsamen Make-up gar nicht übersehen konnte. Glenn Morton amüsierte sich darüber. Er glaubte, ziemlich genau zu wissen, was in Cynthia Barrington vorging. „Schicken Sie Grimsby bitte nach nebenan", sagte er, stand auf und dehnte sich. Er war froh, daß er diesen Vormittag hinter sich hatte. Nichts als Routine. Reiche Leute, die ihn mit ihren Wehwehchen nervten und allesamt eher einen Psychiater als einen Chirurgen brauchten. Aber er konnte sich dem nicht entziehen. Die Praxis hier in der Harley Street war notwendig. Nicht zuletzt als Tarnung ... „Tag, Grimsby", sagte er, als sein Mitarbeiter den kleinen Raum betrat. „Setzen Sie sich." Seite 41
„Guten Tag, Sir. Danke." Grimsby legte seinen Mantel ab und warf ihn über einen Stuhl. Sein Blick wanderte interessiert über den gedeckten Tisch. Er verspürte kräftigen Appetit. Als Dr. Morton sein Grinsen bemerkte, sagte er: „Machen Sie sich nicht lustig über Cynthia, Grimsby.” „Sie hat das sehr hübsch hergerichtet, Sir. Weil sie dachte ..." „Cynthia ist ein nettes, sehr tüchtiges und überaus zuverlässiges Mädchen, Grimsby. Sie könnten Ihre Vorurteile endlich begraben." „Wie Sie meinen, Sir. Ich habe auch nichts gegen Miss Barrington. Bis auf eine Kleinigkeit." „Nämlich?" „Sie ist eine Frau." Dr. Morton zuckte die Achseln. Er hatte oft genug versucht, Grimsby zu helfen. Aber sein Verhältnis zu Frauen war und blieb gestört. Manchmal äußerte sich das auf sehr drastische Art. Dr. Morton überlegte, wann Grimsby sich zuletzt ausgetobt und abreagiert hatte. Soviel er wußte, war das in Innsbruck gewesen. Lag schon eine Weile zurück, und bald ... „Kommen wir zur Sache", sagte er. „Bedienen Sie sich und schießen Sie los, Grimsby." „Gern, Sir." Grimsby nahm sich eins dieser kleinen köstlichen Brötchen, die ein vom Kontinent herübergekommener Bäcker herstellte. Er schnitt es entzwei und belegte es mit hauchdünn geschnittenem Lachsschinken. Dann betrachtete er nachdenklich und mit gerunzelter Stirn die verschiedenen Schälchen mit Beilagen, ehe er sich für einige Cornichons entschied. „Es war genauso, wie Sie es vermutet hatten", begann er mit gleichmütiger Stimme. „Zwei von Harroghbys Kreaturen folgten dem Leichenwagen. Ich war etwas schneller am Ziel und sah zu, wie einer der beiden den Sarg öffnete." „War er sehr überrascht?" fragte Dr. Morton lächelnd. „Nicht einmal. Er schien etwas ähnliches erwartet zu haben." „Weiter!" „Die beiden fuhren nach London und zu Harroghbys Haus." „Sie sind Ihnen gefolgt." „Selbstverständlich, Sir." „Und nicht nur bis vor die Tür, Grimsby!" Sie sahen sich sekundenlang in die Augen. In Grimsbys Blick war eine Art Trotz. Als Dr. Morton den Kopf schüttelte und zu lächeln begann, grinste Grimsby. „Nicht nur bis vor die Tür, Sir. Ich hielt es für angebracht, mich noch ein wenig umzuhören, bevor ich die Aktion beendete." „Das war riskant." „Nicht sonderlich. Wirklich nicht, Sir. Ich kam völlig ungestört und unbeobachtet in das Haus und konnte der ganzen Mannschaft aus nächster Nähe zuhören." „Sie sind ein Teufelskerl, Grimsby!" „Oh . . ." Er zog sein bescheidenstes Gesicht, steckte den Rest des köstlichen kleinen Brötchens in den Mund und kaute gründlich. Dann spülte er mit einem Schluck Porter nach, bevor er fortfuhr: „Man 'vermutet ganz richtig, daß Mr. Harroghby gar nicht tot ist, sondern daß Sie ihn — aus welchem Grund auch immer — auf die Seite gebracht haben. Einer der Knaben war allerdings der Ansicht, Harroghby sei tot. Er entwikkelte eine abenteuerliche Theorie darüber, was sie mit der Leiche des Herrn und Meisters zu
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tun beabsichtigten, aber die anderen hörten nicht auf seine schwachsinnigen Thesen." „Ganz clevere Burschen, wie?" „Ziemlich clever, Sir." „Haben sie schon einen Plan?" „Allerdings, Sir. Natürlich rätseln sie, warum Sie an Mr. Harroghby interessiert sind, und was Sie mit ihm vorhaben. Ich glaube, allgemein hat sich die Ansicht durchgesetzt, daß Sie im Sold einer konkurrierenden Gruppe stehen — oder gar eine solche Gruppe leiten." „Vielleicht wäre das nicht uninteressant", sagte Dr. Morton lächelnd. „Wir hätten tatsächlich glänzende Möglichkeiten, uns in den Menschenhandel ein- zuschalten, Grimsby." Der andere nickte. Er wußte, daß Dr. Morton sich lustig machte, ging aber nicht darauf ein, da es ihm wichtiger schien, den Rest seiner Beobachtungen darzulegen. „Die Entscheidung ist ziemlich rasch gefallen, Sir. Man hat beschlossen, Sie bei nächster Gelegenheit zu schnappen — das war der Terminus, den die Herren gebrauchten — und auszuquetschen. Man ist sicher, daß Sie bei entsprechender Behandlung singen werden. Dann will man Mr. Harroghby be- freien." „Treue Mitarbeiter", sagte Dr. Morton amüsiert. „Es geht doch wirklich nichts über treue Mitarbeiter." „Sie sollten die Gefahr nicht unter- schätzen, Sir." „Selbstverständlich nicht, Grimsby. Wissen die Burschen, daß ich momentan in der Praxis bin?" „Das wohl nicht. Aber ich vermute, daß jetzt schon ein Wage» unten bereitsteht und man den Eingang des Hauses überwacht. Man wird auch Lannix Manor und die Klinik und selbst- verständlich Ihr Haus am Grosvenor Square bewachen." „Sind unsere Gegner denn so zahlreich?" „Offensichtlich. Ich sah ungefähr sieben oder acht Wagen hinter der Villa am Cheyne Walk parken. Sieht so aus, als hätte man die ganze Bande dort zusammen gezogen." „Die ganze Bande", murmelte Dr. Morton. „Alle auf einem Fleck." Grimsby berichtete im Verlauf der Mahlzeit weitere Einzelheiten, die er bei seinem Besuch in Harroghbys Haus er- lauscht hatte. Schließlich schwieg er und sah Dr. Morton erwartungsvoll an: „Haben S i e einen Plan, Sir?" „Zunächst werde ich nach Brighton zurückkehren und mich mit Mr. Har- roghby unterhalten. Ich glaube, daß er jetzt durchaus in der Lage ist, uns Rede und Antwort zu stehen." Dr. Morton verließ das Haus in der Harley Street zwei Minuten nach Grims- by. Der saß schon in dem alten, unauf- fälligen Austin A 60, dem niemand an- sah, daß er über einen starken Dreilitermotor verfügte und auch sonst einige Extras hatte, die man nicht für Geld und gute Wörter kaufen konnte, die alle miteinander Grimsbys Erfindungsgabe und seinem Geschick entstammten. Grimsby nickte leicht. Dr. Morton wußte Bescheid. Er war auf der Hut, als er zu seinem Jaguar-Coupe ging und die Tür auf schloß. Langsam fuhr er in südlicher Richtung. Als er die Themse erreicht hatte und sie auf der Westminster Bridge überquerte, wußte er, welcher Wagen ihn verfolgte. Eine schmutziggraue Volvo-Limousine, in der ein einzelner Mann saß. Dieser Limousine wiederum folgte Grimsby mit dem alten Austin. Dr. Morton gab sich keine Mühe, den Verfolger abzuhängen. Er fuhr auf der A 23 in Richtung Brighton, aber er blieb nicht lange auf der Hauptstraße. Seite 43
Der Fahrer in dem schmutziggrauen Wagen registrierte verwundert, daß das JaguarCoupe einige Kilometer vor Crawley rechts abbog. Er blieb etwas zurück, denn die schmale Landstraße war wenig befahren, und er wollte nicht auffallen. „Was hat Morton vor?" fragte er sich murmelnd, „Warum fährt er nicht nach Brighton? Ob ich versuche, ihn hier zu schnappen?" Er konzentrierte sich ganz auf das rote Jaguar-Coupe und bemerkte nichts von dem alten Austin, der ihm folgte. Als der Jaguar in einer Kurve verschwand, trat er das Gaspedal durch und schloß dichter auf. Auch der Austin beschleunigte. Die Straße führte hügelan und wand sich in vielen engen Kurven. Dr. Morton und Grimsby kannten diese Strecke sehr gut. Morton fuhr sie nicht zufällig. Was sie vorhatten, war die Neuauflage eines Versuchs, den sie vor mehr als zwei Jahren schon einmal erfolgreich durchgeführt hatten. Je kurvenreicher die Straße wurde, desto dichter schloß der schmutziggraue Volvo auf. Erstens hatte der Fahrer Angst, Dr. Morton zu verlieren, und zweitens hielt er es für gefahrlos. Dr. Morton würde sich ebenso auf die Straße konzentrieren müssen wie er selbst, nahm er an. Er war ein guter, geschickter Fahrer, aber was er hier leisten mußte, forderte ihm wirklich sein ganzes Können ab. Morton fuhr jetzt ein teuflisches Tempo. Der Jaguar ging im Powerslide durch die meisten der engen Kurven. Ob er bemerkt hatte, daß er verfolgt wurde? Ob er glaubte, seinen Verfolger hier abschütteln zu können? Der junge Mann in dem schmutzig- grauen Wagen grinste höhnisch. Er hatte zwar keine so schnelle Karre wie der Doktor da vorne, aber er wußte damit umzugehen. Er wußte, was er ihr und sich zumuten konnte. Und das war eine ganze Menge. Vor einer besonders scharfen Rechtskurve nahm er erst im letzten Augenblick das Gas weg und stieg leicht auf die Bremse. Links war ein Abgrund, der gut und gern 60 Yards in die Tiefe führte. Der junge Mann warf einen Blick in den Rückspiegel und erstarrte. Ein Wagen raste von hinten direkt auf ihn zu ohne zu bremsen. „Idiot!" schrie der junge Mann und versuchte, sein Fahrzeug nach rechts zu ziehen. Aber da prallte der Austin schon hinten rechts auf den schmutziggrauen Volvo auf. Der schoß nach vorn und über den Rand des Abgrunds. Während der junge Mann seinen letzten schaurigen Schrei ausstieß, schlingerte der Austin hart am Rand der Straße entlang, die Räder faßten wieder, und in einer Staubwolke verschwand Grimsbys Wagen am Ausgang der engen Rechtskurve. Grimsby hörte den Aufprall. Er sah den Widerschein der Stichflamme im Rückspiegel und grinste zufrieden. Einige Meilen weiter fuhr er auf einen Parkplatz, stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. Er ging um den Austin herum und betrachtete ihn unauffällig. Die vordere Stoßstange wies einige Schrammen auf. Mehr war nicht zu sehen. Die besonders kräftige Armierung hatte sich wieder einmal bewährt. Grimsby fuhr weiter. Er konnte sich Zeit lassen, denn die Burschen, die in Brighton lauerten, würden es bestimmt nicht wagen, Dr. Morton anzugreifen, wenn der von seinem Parkplatz zum Hauptportal der Klinik ging. Da Dr. Morton in der Klinik noch einige Routinearbeiten zu erledigen hatte, war Grimsby schließlich vor ihm unten im Tiefkeller, in den geheimen Räumen, deren Zugang nur ihnen beiden bekannt war. Er sah nach Mrs. Clandon, die sich in den letzten Wochen so an ihn gewöhnt hatte, daß sie ihm sogar ein schüchternes Lächeln gönnte. „Wie geht's Ihnen heute, Madam?" erkundigte er sich höflich. Seite 44
„Oh, danke, Mr. Grimsby. Soweit ganz gut. Nur . . ." „Ja, Madam?" Sie seufzte. „Ich bin so zerstreut. Ich kann mich kaum konzentrieren. Glauben Sie, ich sollte mit Dr. Morton darüber sprechen?" „Gewiß doch, Madam." „Er wird mir bestimmt helfen, nicht wahr?" "Sicher, Madam." Grimsby schloß die Tür und drehte den Schlüssel. Das vergaß er bestimmt nicht mehr, denn einmal war Mrs. Clandon hier unten herumgeirrt, hatte einen der anderen Gefangenen befreit — und der hatte Grimsby aufgelauert und ihm einen bösen Stich in den Leib versetzt. Beinahe wäre er dabei draufgegangen. Als Grimsby jetzt daran dachte, strich er mit zwei Fingern vorsichtig über die Narbe. Dann grinste er selbstgefällig. Dr. Morton hatte wieder mal Grund gehabt, sich darüber zu wundern, wie zäh er war und wie schnell er selbst nach einer lebensgefährlichen Verletzung wieder fit wurde. Es gab noch drei andere Gefangene hier unten, rechnete man den Neuzugang nicht mit: Charles, einen jungen Burschen, den Dr. Morton in London eingefangen hatte, quasi beiläufig, als Mittel zum Zweck, Mrs. Eliza Mitford, eine in den einstweiligen Ruhestand versetzte Richterin, und Thornton Lewis, einen dunklen Ehrenmann, letzte Erinnerung an die Auseinandersetzung mit einem Schmugglerring, der Großbritannien mit weichen und harten Drogen versorgt hatte. Grimsby beendete seine Inspektion und wollte gerade zu Mr. Harroghbys Zimmer gehen, als Dr. Morton herunter kam. „Hat geklappt, wie?" fragte er fröhlich. „Er ist runtergepurzelt, Sir. Es gab einen hübschen Knall und ein lustiges Feuerchen. Schätze, die Polizei wird ihre Schwierigkeiten haben, den Knaben zu identifizieren." „Bedauerlicher Unfall, Grimsby." „Nichts anderes, Sir", sagte der andere grinsend. Sie betraten Harroghbys Zimmer. Harroghby war wach und sah ihnen mit gerunzelter Stirn entgegen. Er hatte genug Zeit gehabt, nachzudenken. Das Ergebnis, zu dem er gekommen war, stimmte ihn alles andere als zuversichtlich. „Wie geht's Ihnen, Harroghby?" fragte Dr. Morton gleichmütig, griff nach Harroghbys Arm und kontrollierte den Puls. Dann schlug er die Decke zurück und begann, den Verband zu lösen. „Ich hoffe, Sie verraten mir, was das soll, Sir", sagte Harroghby. Seine Stimme war schwach und leise. „Gern. Wir haben Sie aus dem Ver- kehr gezogen." „Weshalb?" "Können Sie sich das nicht selbst denken?" „Nein." „Dann sind Sie dumm." „Er glaubt, er kann ein Spielchen mit uns spielen, Sir", sagte Grimsby grinsend und beugte sich über den Patienten, der sich unwillkürlich tiefer in die Kissen drückte. „Er kennt uns noch nicht. Sonst wäre er vernünftig und kooperativ." „Ich habe Sie für einen Ehrenmann gehalten, Sir", sagte Harroghby enttäuscht und beleidigt. „Ihr Fehler", gab Dr. Morton zurück. „Aber auch ohne diesen Fehler hätten wir Sie geschnappt, Harroghby. Ich hatte schon vor geraumer Zeit ein Auge auf Sie geworfen. Als ich jetzt sicher war, daß Sie immer noch im Menschenhandel tätig sind, war mein Entschluß gefaßt." Seite 45
„Ich? Im Menschenhandel?" Harroghby versuchte es auf diese Tour, aber Dr. Morton und Grimsby verzogen keine Miene. Sie schwiegen, und Harroghby er- kannte, daß das Theaterspielen sinnlos war. „Was wollen Sie?" fragte er matt. „Was verlangen Sie von mir?" „Sie könnten uns ein wenig über Ihr neuestes Projekt erzählen. Worum es im einzelnen geht, wer drinsteckt, war- um die Verzögerung eingetreten ist und so weiter." Harroghby schwieg. „Nein?" fragte Grimsby. „Keine Kooperation?" „Wenn ich singe. . ." Sein Ton war hoffnungsvoll. „Was dann?" fragte Grimsby grob. „Dann sparen Sie sich eine Menge Unannehmlichkeiten, Mister! Wir haben verschiedene Methoden, Sie zum Singen zu bringen, von denen man nicht weiß, welche unangenehmer ist. Sie können's gern ausprobieren." Harroghby war zusammengezuckt. Er starrte Grimsby mit einer Mischung aus Haß und Angst an. Dr. Morton lächelte verbindlich und sagte: „Nicht doch, Grimsby. Erstens ist Mr. Harroghby im Augenblick viel zu schwach, um die Behandlung zu ertragen, und zweitens brauchen wir die Informationen vorerst gar nicht. Das hat Zeit. Was Sie in seinem Haus erfahren haben, genügt doch im Moment vollkommen." „Er war in meinem Haus?" fragte Harroghby überrascht und starrte Grimsby an. Es war unglaublich! Warum paßten die Burschen nicht endlich besser auf? Sie mußten doch gewarnt sein nach dem ersten Zwischenfall. Aber vielleicht brach die Organisation zusammen, weil man ihn für tot hielt. Ein Gedanke, der Harroghby sehr deprimierte. „Ich war in Ihrem Haus", sagte Grimsby freundlich und bleckte seine kräftigen Zähne. „Ich war vorhin schon zum dritten mal in ihrem Haus, Harroghby." „Zum dritten mal? Dann waren Sie auch . . ." „Richtig. Dr. Morton war seinerzeit so freundlich, mich einzulassen. Leider lief mir Ihre Gattin über den Weg und schrie, und so mußte ich meinen ersten Besuch abbrechen." Dr. Morton konnte nicht anders. Harroghbys fassungsloses Gesicht ließ ihn laut lachen. „Stellen Sie sich vor, Sir, Grimsby war in der gleichen Nacht noch einmal in Ihrer Villa. Er ist durch die zerbrochene Scheibe eingestiegen, durch die er entkommen war. Ist das nicht der Gipfel der Frechheit?" „Nicht der Rede wert", murmelte Grimsby und senkte bescheiden den Blick. Harroghby starrte stumm von einem zum anderen. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Seine Kinnlade hing herab. Im Moment fühlte er sich etwa so, wie das Publikum im Zirkus denkt, daß der dumme August sich fühlt . . . „Übrigens sind wir wirklich viel mitteilsamer als Sie, Harroghby", erklärte Dr. Morton. „Wir verraten Ihnen etwas, das Ihnen Freude machen wird. Ihre Killer sind ziemlich sicher, daß Sie noch leben. Sie haben Ihren Sarg im Krematorium geöffnet und festgestellt, daß keine Leiche drin war." Ein heißer Schauer lief Harroghby über den Rücken. Diese Nachricht war wirklich erfreulich. Er faßte wieder Hoffnung. Gleich darauf jedoch verzog er ärgerlich das Gesicht. Warum, zum Teufel, paßten die Burschen nicht besser auf? Wie konnte es passieren, daß Grimsby sie belauscht hatte und entkommen war? Seite 46
Dr. Morton hatte ihn beobachtet. Er wußte ziemlich genau, was hinter Harroghbys Stirn vorging. „Schade, wenn man sich nicht auf seine Leute verlassen kann, was? Ich bin mindestens so gespannt wie Sie, Harroghby. Was glauben Sie, wie die Sache weitergeht?" Harroghby schwieg. An seiner Stelle antwortete Grimsby: „Die Knäblein werden versuchen, etwas für ihren Boß zu tun, nicht wahr, Sir? Sie brauchen ihn nämlich. Offenbar ist das Geschäft für sie allein eine Nummer zu groß." „Scheint wirklich so", nahm Dr. Morton den Ball auf. „Sie werden also versuchen, Mr. Harroghby aus der Klemme zu helfen." „Ja", sagte Grimsby. „Und da ihnen nichts anderes einfällt, werden Sie sich Ihrer zu bemächtigen versuchen, Sir, um Sie gegen Mr. Harroghby auszutauschen." „Ein klarer, übersichtlicher Plan, Grimsby." Grimsby lachte glucksend. „Mit einem winzigen Schönheitsfehler, Sir." „In der Tat?" Während sie sich unterhielten, ließen sie keinen Blick von Harroghby und amüsierten sich beide darüber, wie dessen Kopf hin und her ging, wie er mit aufgerissenen Augen und offenem Mund lauschte und mit der Verarbeitung dessen, was er hörte, nicht ganz nachkam. „Der Schönheitsfehler ist: Sie sind zu dumm. Und zu unfähig. Sie stellen sich an wie Amateure." Er machte eine Pause. Auch Morton sagte nichts. Sie wollten Harroghby Zeit lassen, nachzudenken und sich zu äußern. Tatsächlich sagte Harroghby: „Sie sind bestimmt keine Amateure! Was Sie getan haben, werden Sie noch bereuen! Sie können sich darauf verlassen, daß meine Jung's mich hier rausholen!" „Wirklich?" fragte Dr. Morton und gab seiner Stimme einen Anstrich von Furcht. Grimsby konnte nicht anders. Er platzte laut heraus. „Dann dürfen sie sich aber nicht so anstellen wie der Bursche in diesem schmutzigen Volvo, den ich vorhin bei Crawley von der Straße geschubst habe!" „Ja, stellen Sie sich vor!" sagte Dr. Morton im Plauderton. „Ihre Burschen versuchen, mich im Auge zu behalten. Einer folgte mir von London aus. Er merkte nur nicht, daß er ebenfalls verfolgt wurde. In einer Kurve hat Mr. Grimsby ihn erwischt. Der Abgrund ist dort gut 50 Yards tief . .." „Es gab einen mächtigen Knall und eine wunderschöne Stichflamme", sagte Grimsby und lächelte versonnen. Harroghby war noch blasser geworden, als er ohnehin war. Seine Kiefer mahlten. Er blieb stumm. Dr. Morton hatte die Untersuchung beendet und legte einen frischen Verband an. Er gab Grimsby einige Hinweise für die weitere Behandlung des Patienten. Dann stand er auf. „Da Ihre Jungens so munter sind und versuchen, mir Schwierigkeiten zu machen, werden wir zu einem ziemlich radikalen Mittel greifen müssen, Harroghby." Es schien ihm leid zu tun. „Ich habe keine Lust, mich mit jedem der Burschen einzeln zu befassen. Wir werden sie auf einen Streich ausschalten." „Sie haben Besuch, Sir", sagte die junge Schwester, die Dienst am Empfang tat. Dr. Morton saß in seinem Arbeitszimmer in der Klinik. Er drückte den Knopf der Gegensprechanlage und erkundigte sich, wer ihn zu sprechen wünschte.
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„Lassen Sie mich mal, Schwester", hörte er eine sonore Stimme, die er sofort erkannte. „Glenn? Ich hoffe, ich störe nicht. Bin zufällig in Brighton und dachte, ich schaue mal vorbei." „Henry! Das ist eine Überraschung. Ich freue mich. Kommen Sie herüber, bitte. Sie kennen den Weg ja." „Wie wär's mit einem kleinen Bummel am Strand entlang, Glenn? Das Wetter ist nicht schlecht heute." „Auch recht. Bin sofort da." Dr. Morton freute sich wirklich, den Earl of Saffron zu sehen. Er zog einen leichten Wettermantel über und ging in die Halle hinüber. Sie schüttelten sich die Hände. Es kam selten vor, daß Dr. Morton jemanden so herzlich begrüßte. Sogar der jungen Schwester am Empfang fiel das auf. Sie vergaß ihre Pflichten für mehrere Minuten. Die beiden Männer waren längst verschwunden, als sie immer noch verträumt hinter ihnen herstarrte. Sie himmelte Dr. Morton an wie fast alle Schwestern hier in der Klinik. Doch dieser Earl war auch nicht schlecht ... Sir Henry und Glenn Morton stapften durch den Sand. Der Wind blies ziemlich kräftig von vorn, aber das störte sie nicht. Im Gegenteil. Es tat gut, sich so durchpusten zu lassen. „Wissen Sie, daß ich einen ganz bestimmten Gedanken hatte, als ich nach Brighton kam und beschloß, bei Ihnen vorbeizuschauen?" „Nun?" „Ich muß immer wieder an Ihr phantastisches Schiff denken, Glenn." „Verstehe." „Ich habe mir überlegt, daß ein paar Tage auf See uns beiden nicht schaden könnten. Sie machen immer noch einen ziemlich überarbeiteten Eindruck und ..." „Oh, ich fühle mich glänzend", sagte Dr. Morton lächelnd — und das entsprach den Tatsachen. „Trotzdem", beharrte Sir Henry. „Der Mensch muß hin und wieder ausspannen. Muß heraus aus seiner gewohnten Umgebung." „Ich habe selten so viel Entspannung gehabt wie in letzter Zeit", sagte Glenn Morton. „Seit ich das Wochenende auf Beaury Abbey verbracht habe."• „Ist das eine Abfuhr?" fragte Sir Henry und seufzte. „Ich hatte es fast befürchtet." „Nein, nein! Der Gedanke, ein paar Tage aufs Wasser zu gehen, ist in der Tat verlockend." „Ich dränge mich auf, nicht wahr?" „Sie wissen, daß es nicht so ist, Henry." „Wir haben was füreinander übrig, das weiß ich. Aber ich sollte es nicht so schamlos ausnützen." „Unsinn!" „Also fahren wir?" fragte der andere hoffnungsvoll. „Einverstanden. Nur über den Termin müssen wir uns später einigen. Irgendwann in den nächsten Tagen." „Verstehe. Sie haben wahrscheinlich eine Menge Termine, die Sie erst entsprechend abstimmen müssen." „Ja, es wartet viel Arbeit auf mich. Interessante Arbeit." Er dachte an Chefinspektor Spratts Gehirn, das immer noch lebte und mit dem er an diesem Tag bereits zwei Stunden verbracht hatte, das ihm aber gewiß auch während der nächsten Tage noch eine Anzahl wichtiger Erkenntnisse liefern würde. Der Gedanke an den Chefinspektor, dessen Körper sich längst im Säurebad aufgelöst hatte, stimmte ihn für eine Weile nachdenklich. Doch dann kehrte er zur Gegenwart zurück. Seite 48
„Haben Sie schon einen Plan für unseren Ausflug, Henry?" „Nun, wir könnten an der Küste entlang nach Westen schippern, Glenn. Ich habe in der Nähe von Lizard eine bescheidene Hütte. Dort kenne ich einen Fischer, der räuchert den verdammt besten Seefisch im Umkreis von hundert Meilen. Eine Delikatesse! Allein der Räucherfisch ist die Reise wert, das garantiere ich Ihnen!" Glenn Morton amüsierte sich über den Nachdruck, mit dem Sir Henry sprach und sagte: „Also gut, schippern wir an der Küste entlang." Sie beobachteten zwei Schwimmer, die sich trotz der kühlen Witterung in die Wellen des Ärmelkanals wagten. Dann gingen sie schweigend weiter. Es war der Earl of Saffron, der das Schweigen brach. „Ich habe natürlich einen Hintergedanken, Glenn." „Ach?" „Sie halten mich vielleicht für ein biß'Chen naiv und voreilig und so weiter. Aber ich bin auf diesen Trip vor allem deshalb scharf, weil ich denke, daß wir uns besser kennen lernen und beide eine Menge Spaß dabei haben könnten." „Das denke ich auch", sagte Dr. Morton ruhig. Die Nacht senkte sich über London. Es war eine fast sternklare Nacht. Nur über der Themse hing leichter Dunst. Einer der alten Wächter an den Docks von Walham Green steckte seine Nase in die Luft und sagte zu seinem Kollegen: „Kommt was auf, Joe. Ist für die nächsten Tage vorbei mit dem schönen Wetter." „Was du immer weißt", widersprach der andere. Er wußte, daß sein Kollege recht hatte. Er widersprach ihm aus Gewohnheit. „Ich riech's. Und ich weiß, was ich weiß. Keine zwei Stunden, da stecken wir hier im dichtesten Nebel, den du seit drei Wochen erlebt hast! Denk an meine Worte!" Joe brummte Unverständliches. Er stand auf und schlurfte hinüber zum Aufenthaltsraum. Er spürte den aufkommenden Nebel selbst. In den Knochen spürte er ihn. Dagegen half nichts. Nicht mal der Tee mit Rum. Er trank ihn trotzdem. Trank einen ganzen Becher und bildete sich ein, daß das helfen würde. Nicht weit von den Docks entfernt, am Cheyne Walk, hatten sich ungefähr zehn Männer versammelt. „Sind wir jetzt komplett?" „Bis auf Max und Price”, sagte ein anderer. „Max bewacht immer noch die Klinik. Morton ist noch nicht wieder aufgetaucht." „Verdammt!" sagte der, der zuerst gesprochen hatte. „Max hätte ihn greifen sollen, als er am Strand war!" „Viel zu gefährlich", widersprach einer der anderen, „da hat's doch von Menschen gewimmelt. Und Morton ist bestimmt nicht der Mann, der sich so leicht überrumpeln läßt." „Siehe Price", meldete sich eine leicht heisere Stimme. „Leute, ich wette, Price ist nicht mehr. Vorhin kam in den Nachrichten die Meldung von einem Unfall in der Nähe von Crawley durch. Wagen völlig zerstört und ausgebrannt, Fahrer tot und verkohlt. Kaum zu identifizieren." „Was für'n Typ von Wagen?" fragte einer. „Das haben sie nicht gesagt. — Wenn Price könnte, hätte er sich längst gemeldet." Ein längeres Schweigen folgte. Dann sagte der, der offenbar für die Zeit von Harroghbys Abwesenheit die Führung übernommen hatte: „Wir müssen jetzt zu einem Schluß kommen. Wir können uns keine Zeit mehr lassen. Ich bin überzeugt, daß Mr. Harroghby noch lebt. Und ich müßte mich sehr täuschen, wenn Morton ihn nicht irgendwo in der Klinik versteckt hielte. Seite 49
Ich bitte um Vorschläge, Jung's!" Ein alter Mann humpelte über den Gehsteig. Er ging gebückt und hatte die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben. Das Gehen schien ihm Schwierigkeiten zu machen. Er blieb immer wieder stehen, lehnte sich gegen eine Hauswand und ruhte sich aus. Einmal lehnte er auch an einem Laternenmast und versuchte mit zitternden Fingern, sich eine Zigarettenkippe anzuzünden, gab's aber bald leise fluchend auf. Er humpelte weiter. Direkt auf einen kleinen Morris zu, der nahe der Straßenecke geparkt war. Der Fahrer beobachtete ihn schon seit geraumer Zeit, aber ohne sonderliches Interesse. Er schenkte ihm nicht mehr Aufmerksamkeit als einer Fliege, die über sein Hosenbein krabbelte. Wenn sie lästig wurde, konnte er immer noch nach ihr schlagen . Der Alte blieb erneut stehen, steckte die Zigarettenkippe zwischen die Lippen und suchte in seinen ausgebeulten Taschen nach den Streichhölzern. Er war jetzt so nah, daß der Mann im Wagen sein Gesicht mit den eingefallenen Wangen und dem Stoppelbart deutlich sehen konnte. Der Alte hob den Kopf, sah, daß jemand im Wagen saß und lächelte hoffnungsfroh. Er humpelte herbei und klopfte an die Scheibe. Mit einigem Unwillen kurbelte der Mann sie herunter. „'zeihung, Sir", brabbelte der Alte. „Sie ham nich zufällig Feuer für mich?" Mit einem widerwilligen Grunzen drückte der Mann den Zigarrenanzünder und wartete, bis er wieder heraussprang. Der Alte beugte sich durch das Wagenfenster. „He! Bleib wo du bist!" sagte der Mann und beugte sich angewidert zurück. Dann keuchte er überrascht und entsetzt, und seine Augen weiteten sich. Er klappte den Mund auf und wollte schreien, aber dazu hatte er keine Kraft mehr. Der Zigarrenanzünder fiel ihm aus der Hand und sengte ein kleines Loch in die Fußmatte des Morris. Der alte Mann zog das schmale Messer mit der beidseitig geschliffenen Klinge aus dem Körper des Toten und wischte es sorgfältig an dessen Anzug ab. Er öffnete die Wagentür, schob die Leiche auf den linken Sitz, nahm selbst hinter dem Lenkrad Platz und startete den Motor. Einige Meilen östlich von Brighton rollte der Morris mit dem Toten wenig später ins Meer. Es war eine besonders empfehlenswerte Stelle an der Küste, wollte man etwas auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen. Was das Meer hier schluckte, gab es nie wieder her. Dafür sorgten die Strömungsverhältnisse. Der alte Mann, der jetzt gar nicht mehr gebrechlich und schwach wirkte, stieg in einen in der Nähe geparkten Austin und fuhr nach Brighton zurück. Der Dunst über der Themse hatte sich mittlerweile bereits zum Nebel verdichtet, und allmählich griff der Nebel auf die ganze Stadt über. Was hab ich gesagt, Joe!" triumphierte der alte Wächter an den Docks von Walham Green. "Noch eine Stunde, dann siehst du die Hand vor den Augen nicht mehr!" „Der Nebel drückt", sagte Joe ärgerlich. „Der sinkt spätestens morgen bis Mittag so weit runter, daß du auf'm Fernsehturm den schönsten Sonnenschein hast." „Wer will schon auf den häßlichen Turm!" sagte der andere abschätzig. Zur gleichen Zeit startete in Brighton ein Sikorsky-Hubschrauber. Grimsby saß am Steuer. Dr. Morton lehnte sich entspannt zurück und konzentrierte sich auf das, was sie vorhatten. Einige Patienten der Privatklinik erwachten bei dem Lärm, den der Hubschrauber verursachte.
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„Wo fliegt der Alte hin?" erkundigte Mr. Williams, einer der Oberärzte, sich bei der Nachtschwester. „Mr. Grimsby bringt ihn in sein Cottage nach Dartmoor." Mr. Williams behielt seinen respektlosen Ton bei: „Ach, hat er wieder die soziale Tour? Ich möchte wirklich wissen, was er davon hat, daß er die Bauern dort kostenlos behandelt. Sie wissen's sowieso nicht zu schätzen." „Dr. Morton ist ein guter Mensch!" sagte die Nachtschwester streng. „Gewiß, gewiß! Wenn ich sein Geld hätte, könnte ich mir's auch leisten, den selbstlosen Samariter zu spielen." Im Weggehen murmelte er was von Selbstbefriedigung, was ihm noch einen ärgerlichen Blick der Nachtschwester eintrug. In Wahrheit bewunderte Williams seinen Chef ebenso wie fast alle anderen. Dr. Morton hatte verschiedene Macken, aber die konnte er sich auch leisten. Denn als Chirurg war er ein Genie und stand weit über allen anderen Ärzten, die Mr. Williams kannte. Sich selbst eingeschlossen. Der Sikorsky-Hubschrauber flog tatsächlich in Richtung Dartmoor, aber er war noch nicht über Chichester, da zog Grimsby ihn in einer weiten Kurve nach Nordosten und schlug Kurs auf London ein. „Wird neblig, Sir", sagte er. „Könnte Schwierigkeiten geben." „Dann müssen wir umdisponieren", sagte Dr. Morton. „Vorläufig halten wir uns an den Plan." Sie flogen schweigend und erreichten die Themse bei Woolwich. „Hab ich's nicht gesagt!" murmelte Grimsby. „Hier ist die Suppe schon so dick, daß man sie löffeln kann, Sir." „Geh'n Sie so tief, wie Sie's verantworten können, Grimsby." Der Pilot nickte nur. Er hatte eben selbst vorschlagen wollen, dicht über dem Wasser zu fliegen. Wie das oft geschieht, war die Sicht dort unten tatsächlich noch ausreichend. Das würde allerdings nicht mehr lange so bleiben. Der Sikorsky-Hubschrauber folgte den Windungen des Flusses. Es gab einige Schiffer, die aufmerksam wurden und sich wunderten. Es gab sogar einige, die ärgerlich nach dem Kennzeichen Ausschau hielten, um sich über den nächtlichen Ruhestörer zu beschweren. Aber selbst wenn sie's erkannt hätten, hätte ihnen das nichts genutzt. Denn Grimsby hatte das Kennzeichen für diesen Einsatz vorsichtshalber geändert. „Wo sind wir?" fragte Dr. Morton und beugte sich zur Seite. „Ist der große Bogen vor Stepney, Sir." Dr. Morton warf einen Blick auf seine Uhr und schwieg wieder. Grimsby mußte verdammt aufpassen, um nicht eine der jetzt zahlreicher werdenden Brücken zu rammen. „Westminster Bridge", murmelte er. „Ist bald soweit, Sir." Sie passierten Lambeth Bridge und Vauxhall Bridge. Der Nebel wurde immer schlimmer. Dr. Morton konzentrierte sich auf die Funkfrequenzen, die interessant für sie waren. Er hörte eine Menge Meldungen, aber noch schenkte niemand dem Hubschrauber, der da über der Themse hing, Aufmerksamkeit. „Chelsea Bridge", sagte Grimsby. Mit ruhiger Hand erledigte Dr. Morton eine Reihe von Handgriffen. „Alles klar, Grimsby", sagte er knapp. „Albert Bridge." Der Sikorsky verringerte seine Geschwindigkeit. Er schwebte jetzt fast auf der Stelle. Grimsby suchte sich im Nebel zu orientieren. Es war nicht einfach, und er durfte sich nicht irren. Von oben sah Mr. Harroghbys Haus natürlich ganz anders aus. Seite 51
„Ich glaube, dort ist es, Sir." Grimsby deutete mit dem Kinn hinüber. Dr. Morton nickte. „Zweifellos, Grimsby." Die Gemüter hatten sich erhitzt. Entsprechend erregt war die Debatte. Der junge Mann in der Nähe des Fensters hatte Mühe, sich Gehör zu verschaffen. „Still!" sagte er. „Verflucht, haltet doch mal eure Mäuler!" Zwei sprachen immer noch. „Könnt ihr nicht still sein, ihr Idioten", schrie der Mann am Fenster. „Was ist denn? Was brüllst du so?" Auch der letzte in der Runde hielt endlich den Mund. „Hört ihr nichts?" fragte der Mann am Fenster leise. „Ein Flugzeug!" sagte einer. „Nein, ein Hubschrauber!" korrigierte ein anderer. „Komisch. Ich hab hier abends noch nie 'nen Hubschrauber gehört!" Einer sprang auf. „Morton!" sagte er. „Morton hat einen Hubschrauber!" Das Knattern des Rotors war jetzt so deutlich zu hören, als sei der Hubschrauber dicht über dem Haus. Und das war er in der Tat. „Was hat das zu bedeuten?" fragte einer der jungen Männer aufgeregt. „Los, raus!" schrie ein anderer. Aber es war zu spät. Grimsby hatte den Hubschrauber direkt über dem Haus senkrecht hochgezogen, nickte Dr. Morton zu und sagte: „Jetzt, Sir!" Dr. Morton klinkte aus. Grimsbys Eigenbau-Sprengsatz fiel fast genau auf die vorgesehene Stelle. Ein Blitz, ein Donner. Die Stille der Nacht und Mr. Harroghbys Haus wurden gleichzeitig zerrissen. Der Hubschrauber stob in westlicher Richtung davon. Er blieb über der Themse, bis die Vororte Londons Feldern und Wiesen Platz machten. „Ich freue mich auf einen tüchtigen Whisky drüben im Cottage, Sir", sagte Grimsby und grinste erleichtert. Dr. Morton nickte. „Und ich bin froh, daß Mrs. Harroghby meinem Rat gefolgt und nach Torquay gefahren ist", sagte er. „Es würde mich stören, wenn die arme Seele jetzt auch unter den Trümmern am Cheyne Walk läge." Grimsby hatte kein Verständnis für solche Überlegungen. Aber das behielt er für sich. ENDE
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... und hier eine Leseprobe aus dem nächsten Band: DR. MORTON 8 „SIR HENRY, DER DRITTE IM BUND" „Sie haben absolut richtig gehandelt, Henry", versicherte Dr. Morton und hielt dem anderen sein leeres Glas hin. „Geben Sie mir noch einen Schluck. Ich kann ihn vertragen." "Das glaube ich", sagte Sir Henry nickend und goß seinem Freund einen weiteren Dreistöckigen ein. Er war glücklich, Glenn Morton wieder an Bord der Drago zu haben. Und ein Hochgefühl erfüllte ihn, weil Glenn sein Verhalten nicht nur billigte, sondern wiederholt beteuert hatte, es sei die einzige Entscheidung gewesen. „Wie geht's weiter, Glenn?" „Das hängt von den Leuten auf der Santa Luisa ab, Henry. Wir müssen warten" „Sie geben also nicht auf?" „Jetzt?" Dr. Morton lachte. „Ich nehme an, die Frage war nicht ernst gemeint, Henry." „Nein, natürlich nicht", sagte der andere und stimmte in Mortons Lachen ein. Er wurde wieder ernst und sagte: „Einfach angreifen können wir natürlich auch nicht. Die Kerle haben ein Maschinengewehr und können auch damit umgehen. Wir hätten keine Chance." „Nein, mit grober Gewalt ist denen nicht beizukommen", bestätigte Dr. Morton. „Was machen Sie da, Glenn?" „Ich will nur die Sauerstoffflasche anschließen, um sie zu füllen." „Lassen Sie mich das machen. Ruhen Sie sich aus, Glenn!" „Oh, ich bin ganz in Ordnung. Danke, Henry. Geht schon." „Sie haben also noch keinen Plan?" „Nein. Wir könnten natürlich Grimsby zu Hilfe rufen." „Wie sollte er uns helfen?" „Mit dem Hubschrauber beispielsweise", sagte Dr. Morton knapp. Er sprach in einem Ton, der Sir Henry davon abhielt, weitere Fragen zu diesem Thema zu stellen. Es war sonderbar. Manchmal schien Dr. Morton, den er inzwischen als seinen besten Freund betrachtete, obwohl sie sich erst so kurze Zeit kannten, sich in ein Schneckenhaus zurückzuziehen. Dann konnte man nichts anderes tun als warten, bis er wieder herauskam. „Ich denke aber, wir kommen auch allein zurecht", sagte Glenn. „Schauen Sie doch mal nach der Santa Luisa." Er hatte das kaum gesagt, als ein Pfeifton erklang und eine der Lampen neben dem Radarschirm aufleuchtete. „Sie haben den Anker gehievt", murmelte Dr. Morton. „Sie versuchen, sich im Schutz der Nacht davonzumachen. So habe ich mir das vorgestellt." Sir Henry blickte durch das Nachtsichtgerät. „Sie haben aber kein einziges Segel gesetzt, Glenn." „Das habe ich auch nicht erwartet. Die Santa Luisa ist technisch perfekt ausgerüstet. Dazu gehört auch ein starker Motor. Passen Sie auf, Henry, der Pott läuft gut und gern seine 25 Knoten!" „Kein Problem für die Drago!" „Nein." „Wir können der Santa Luisa leicht folgen." Dr. Morton nickte. „Soll ich das Steuer nehmen. Glenn?”
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„Ja, Henry. Ich bin Ihnen dankbar. Lassen Sie der Santa Luisa noch etwas mehr Vorsprung und folgen Sie ihr dann. Kontrollieren Sie ihre Position auf dem Radarschirm." „Aye, aye, Sir!" sagte Henry fröhlich. „Wir fahren selbstverständlich ohne Positionslichter." „Ebenso wie die Santa Luisa", sagte Dr. Morton und nickte. „Sie legen sich auf's Ohr, nicht wahr?" „Ja. In ein paar Stunden löse ich Sie ab. Wecken Sie mich bitte, wenn ich nicht von selbst wach werde, Henry." „Geht in Ordnung, Glenn." Sir Henry, der siebente Earl of Saffron, fühlte sich in Pfadfinderzeiten zurückversetzt. Er rieb sich die Hände, nachdem Dr. Morton unter Deck verschwunden war. Zu einer Spazierfahrt waren sie aufgebrochen, zu einem harmlosen Törn — und jetzt steckten sie mitten im dicksten Abenteuer, das er je erlebt hatte. Sir Henry fand, daß er allen Grund hatte, sich glänzend zu fühlen. Dr. Morton hatte ihm den Auszug der Halterung gezeigt, auf der das Nachtsichtgerät befestigt war. Auch eine Konstruktion des tüchtigen Grimsby. Während Sir Henry den Auszug betätigte, das Nachtsichtgerät zu sich herzog, dachte er: Wirklich ein tüchtiger Bursche. Ein technisches Genie. Ich muß ihn näher kennen lernen. Glenn sieht bestimmt nicht den subalternen Mitarbeiter in Grimsby, für den ich ihn zuerst gehalten habe. Die beiden sind ein Team. Die verbindet viel mehr miteinander, als ein Außenstehender sich träumen läßt. Er kontrollierte noch einmal Kurs und Geschwindigkeit der Drago. Sie lief etwa 22 Knoten nach Westsüdwest. Die Santa Luisa blieb im eingestellten Fadenkreuz des Radarschirms. Das bedeutete, daß sie sich mit der gleichen Geschwindigkeit und in der gleichen Richtung bewegte. Sir Henry blickte durch das Nachtsichtgerät. Er fand die Santa Luisa bald, stellte das Bild scharf und teilte seine Aufmerksamkeit jetzt gleichmäßig zwischen den Instrumenten der Drago, dem Radargerät und dem Nachtsichtgerät. Dr. Morton war bestimmt schon länger als eine Stunde unter Deck verschwunden, als Sir Henry einen überraschten Laut ausstieß. Er hatte sein Auge gerade ans Okular des Nachtsichtgeräts gebracht, als zwei Männer etwas über die Reling der Santa Luisa warfen. Etwas, das einem großen Sack glich. Sir Henrys Entschluß war schnell gefaßt. Er öffnete die Tür zum Niedergang und rief: „Glenn! Glenn, wachen Sie bitte auf, bitte! Kommen Sie herauf!"
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