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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
ERNST SCHERTEL
IN DIANERKULTUR...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
ERNST SCHERTEL
IN DIANERKULTUREN IM WESTEN NORDAMERIKAS
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK . BASEL
Zwei Menschen kamen im Boot Auf dem Schreibtisch liegt die Landkarte Nordamerikas. Genau doppelt so groß wie Europa, greift der Halbkontinent mit seinen nördlichsten Inselausläufern bis zur Grenze des Packeises, mit seinen südlichen Küsten erreicht er fast den Wendekreis, wo 'die Tropen beginnen. Die beiden großen Ozeane umspielen seine Flanken, und gegen seine Nordseite branden die Wogen und treiben die Eisfelder des Nördlichen Eismeeres. Der Blick folgt der Westküste, wo das Felsengebirge — die Rocky Mountains — breitgelagert den Saum des Pazifik begleitet. Wie ein Rückgrat gibt dieses gewaltige Gebirge, das an Ausdehnung den Zug des Himalaya weit übertrifft, dem Erdteil gleichsam Halt und Stütze. Im Norden, von der Bering-Straße bis zur Grenze KanadaUSA, ist die Küste zerrissen und von einer Kette großer und kleiner Inseln umsäumt. In längst vergangenen Zeiten hat sich hier das Land nach dem Ozean hin gesenkt, die Randzone ertrank im Meer, und das Meer füllte die Täler aus, schuf tiefgreifende Fjorde, trennte Brocken des ehemaligen Festlandes ab und machte sie zu Inseln. Im Süden, von der kanadischen Grenze bis nach Kalifornien hin, verläuft die Küste wenig gegliedert und arm an vorgelagerten Inseln und schwingt sich in sachtem Bogen leicht nach Südost (s. die Karte auf der gegenüberliegenden Seite). Wie die Küstenlinie zweigeteilt erscheint, mit der Trennlinie etwa an der Südgrenze Kanadas und im anschließenden Staate Washington — dem nordwestlichen Staatsgebiet der USA —, so zeigt sich auch das Klima auf der fast sechstausend Kilometer langen Küstenstrecke völlig verschieden. Der Süden ist durchweg heiß und trocken, weithin in Wüsten verwandelt und in großen Teilen kaum bewohnbar, der Norden dagegen ist im allgemeinen mild, regenreich und voll ansehnlichen Pflanzenwuchses. Das mag seltsam erscheinen, da die nördliche Zone hoch hinaufreicht und kalt und unwirtlich sein müßte. Der Golfstrom des Stillen Ozeans', ein warmer, von Japan herüberziehender Kreuzehen = 'Beringmeer-Kultur. Striche = Nordwestindianer (,Pazifiden'). Kreise = Kalitomische Kultur (,Californiden') 2
Meeresstrom, macht indes die Temperaturen erträglich nnd schafft gute Bedingungen für ausreichende Regenfälle. So bietet gerade dieser Abschnitt stellenweise beste Lebensbedingungen für Mensch, Tier und Pflanze. Dichte Zedernwälder bedecken das Bergland, Beeren, Nüsse und eßbare Wurzelgewächse gedeihen, Großwild und Kleintiere liefern leichte Jagdbeute, die Flüsse wimmeln von Fischen, und auch das Meer verschenkt in Festlandnähe mit seiner reichen Tierwelt Nahrung in Fülle. Kein Wunder also, daß dieser riesige nnd gesegnete Landstrich schon in den ältesten Zeiten Menschen zur Besiedlung angezogen hat, ja, daß hier überhaupt die frühesten Menschenspuren Gesamtamerikas den Vorgeschichtsforschern sichtbar geworden sind. Woher aber kamen dies ersten amerikanischen Menschen? Auf dem Doppelkontinent deutet nichts darauf hin, daß er die Urheimat der einst und heute dort lebenden Menschen gewesen ist. Nirgendwo, weder in Nord- noch in Mittel-, noch in Südamerika, haben Grabungen oder Zufallsfunde Reste eines Vor- oder Urmenschen zutage treten lassen. Amerika war nach allem, was wir wissen, in den Epochen, als in der Alten Welt und in Afrika sich die Menschwerdung vollzog, ein ganz menschenleerer Erdteil. Die Menschen sind von außen her nach Amerika eingewandert. Nicht auf einmal kamen sie. Es war ein Vorgang, der Jahrtausen währte. Sie kamen als größere oder geringere Einwandererschar — vom langsamen Einsickern verstreuter Horden bis zum Einbrn geschlossener Stämme und Völker. Vor etwa 30 000 Jahren, wä rend der letzten Eiszeit, betraten die ersten von ihnen den leeren Kontinent. Der Zustrom aber ist niemals abgerissen. Wir folgen noch einmal auf der Amerikakarte dem Verlauf der Westküste bis hoch hinauf in den Norden, bis zu den westlichsten Ausläufern Alaskas. An der Bering-Straße machen wir halt. Diese Meeresstraße bringt hier zwischen Kap Prince of Wales und Kap Deschnew die beiden Erdteile Amerika und Asien bis auf 75 Kilometer einander nahe. Bei guter Sicht ist das jenseitige Ufer zu erkennen. Wie Trittsteine liegen inmitten der Wasserstraße die beiden kleinen Diomedes-Inseln, granitene Reste des versunkenen Küstengebirges von Alaska. In den Wintern bildet das Packeis eine feste Bracke herüber und hinüber. 4
Zwei Menschen im Boot. Schnitzerei aus dem Kulturkteis der Nordwestindianer Unsere Kenntnis der ältesten Vorgeschichte Amerikas ist zwar noch sehr lückenhaft, aber von Jahr zu Jahr hellen sich die Zusammenhänge auf. Heute gilt es als gewiß, daß die frühesten Einwanderer vor 30 000 Jahren die Bering-Straße als Zugang nach Amerika benützt haben. Sie kamen aus dem nordöstlichen Sibirien und überquerten die Asien und Amerika trennende Meerenge, die während der Eiszeit durch die Vergletscherung den Übergang wohl zu jeder Jahreszeit ermöglichte. Was die Nordost-Sibirier ,nach drüben' gelockt hat, wissen wir nicht. Vielleicht folgten sie den Fährten von Mammuten, die über das Eis hinüberwechselten, vielleicht trieb sie auch nur die Freude am Abenteuer. Zu Fuß oder mit Schlitten sind diese ersten Jäger- und Wanderborden auf den amerikanischen Erdteil hinübergezogen. Aber es gab offenbar noch andere Einfallstore für die Zuwandere» 5
aus der Ferne. Immer mehr häufen sich die Anzeichen, die darauf hindeuten, daß Angehörige von Fremdvölkern mit Seefahrzeugen auch von Südasien und von Indonesien über den Stillen Ozean das nordamerikanische Festland erreicht haben. Vor allem müssen die ,Schwarzen Inseln', die Inselflur, die Australien im Nordosten umrahmt, Menschen herübergesandt haben: dunkelhäutige Melanesier. Die dunkle Hautfarbe vieler amerikanischer Rassen hat zu diesem Schluß geführt, daß Nordostsibirien nicht das einzige Herkunftsland der amerikanischen Menschheit gewesen sein kann. In Sibirien hat es niemals Menschen dunkler Hautfärbe gegeben. Ihre Heimat können nur Südasien und die ,Schwarzen Inseln', Melanesien, gewesen sein. Die Vorstellung einer Überquerung des Stillen Ozeans in so früher Zeit verliert ihre scheinbare Ungeheuerlichkeit, wenn man die meerweiten Fahrten der Südseestämme denkt oder auch an die heutigen kühnen Ozeandurchquerungen durch Floß- oder Paddelbootfahrer. Gewiß mögen bei solch waghalsigen Unternehmungen in früherer Zeit oft Tausende umgekommen sein, doch es genügte, wenn einzelne oder gar Hunderte die ferne Überseeküste erreichten. Der Forscher wird hier durch gewisse Überlieferungen der Eingeborenen unterstützt. Ihre Sagen und Mären sind zwar in ein phantastisches Rankenwerk eingesponnen, aber der geschichtliche Kern läßt sich doch manchmal noch herausschälen. Aufschlußreich ist besonders eine Sage, die sich bei den Indianern von der kanadischen Insel Vancouver an der Nordwestküste erhalten hat, da in ihr eine Erinnerung an eine frühe Begegnung von dunkelhäutigen und weißen Menschen in diesem Räume lebendig geblieben zu sein scheint. Auch deutet sie wohl darauf hin, daß hier im Nordwesten Amerikas ein zentrales Einfallstor nicht nur für die weißen, sondern auch für die farbigen Einwanderer bestanden hat. Diese indianische Vorzeit-Erzählung weiß zu berichten, daß im dortigen Indianerland einst tierartige Wesen gelebt haben, die von einem halbtierhaften Gott erschaffen worden waren. Wie der Gott selber, so waren auch seine Geschöpfe von plumper Gestalt, am ganzen Körper behaart und von dumpfer, noch unerweckter Sinnesart. Trotzdem aber lag in jedem dieser Wesen bereits der Keim oder die Fähigkeit zur echten Menschwerdung. Und wahrhaft, manche von ihnen entwickelten sich im Ablauf der Geschichte zu immer men6
schenähnlicheren Formen, während andere in ihrem niederen Zustand zurückblieben. So ging es undenkliche Zeiten hindurch. Dann aber brach eines Tages ein Ereignis herein, das einen völligen Wandel schuf: In einem Boot kamen von Norden her zwei richtige Menschen der Küste entlang gefahren. Sie waren groß von Gestalt und boten in ihrem Äußeren einen so fremdartigen und beängstigenden Anblick, daß die am Strand versammelten Tierwesen ein gewaltiger Schrecken überkam und der größte Teil von ihnen in das Innere des Landes entfloh. Zurück blieben nur die wenigen, die sich bereits der Menschengestalt genähert hatten. Sie schlössen Freundschaft mit den Ankömmlingen und wurden nun auch selbst zunehmend zu richtigen Menschen wie die Fremden. Der Völkerkundler und Vorgeschichtsforscher, der diese Mär ihrer Phantastik entkleidet, glaubt in den plumpen und behaarten Halbtierwesen die eingewanderten dunkelfarbigen Melanesier zu erkennen, die aber doch schon Ansätze zur Höherentwicklung zeigten. Zu den Angehörigen dieser Rasse stießen hellhäutige Menschen, die aus dem Norden „der Küste entlang gefahren" waren und als überlegen empfunden wurden, so daß sich der niedrigere Teil der melanesischen Bevölkerung in das Landesinnere zurückzog. Der verbleibende Rest der schon Höherentwickelten unter ihnen gelangte unter dem Einfluß der Hellhäutigen zu gehobeneren Lebensformen. Daß wir uns die ,tierhaften' Ureinwohner als dunkelhäutig, die großwüchsigen Einwanderer dagegen als hellhäutig vorstellen dürfen, ergibt sich aus der Erfahrung, daß ,tierhaft' und ,dunkelhäutig' bei primitiven Völkern vielfach gleichgestellt wird und dunkelhäutige Rassen Hellhäutige oftmals als die ,höheren' Mensehen ansehen. Und so glaubt man, daß der Nordwesten — die Insel Vancouver und das anschließende Festland — zu irgendeiner frühen Zeit von dunklen Rassen besiedelt worden ist, die nur melanesischen Ursprungs gewesen sein können. Ein hellhäutiges Volk, einer der Schübe, die lange nach der Eiszeit von Nordsibirien herüberkamen, ist dann mit ihnen zusammengestoßen. Aus dieser Rassenmischung sind die eigentlichen ,Indianer' entstanden, welche die dunkle Hauttönung der Melanesier mit der Hellhäutigkeit der Sibirier verbinden. Das alles hat sich etwa zu Beginn des letzten Jahrtausend» v, Chr. abgespielt.
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Die .Indianer' gehen also nicht auf jene Eiszeitmenschen zurück, die vor 30 000 Jahren über die Bering-Straße nach Amerika gekommen waren. Von ,Indianern' kann man erst seit etwa 1000 v. Chr. ßprechen.
Die Bärenmutter So hatten sich melanesische und sibirische Volksteile vermischt, und sie hatten im Westen des heutigen Kanada eine Rasse hervorwachsen lassen, die man heute den Indianern zurechnet. Der Völkerkundler bezeichnet sie als ,Pazifiden', um ihren engen Zusammenhang mit dem ,Pazifischen' oder ,Stillen' Ozean zu betonen. Es sind Menschen von mittlerer Körpergröße, ihr Schädel ist kurz, und sie zeigen ein breites Gesicht. Zu dieser Menschengruppe gehören nicht nur alle Küsten- und Inselvölker im Nordwesten, sondern auch viele Indianerstämme des Binnenlandes. Die Hautfarbe dieser nordwestamerikanischen Eingeborenen ist nicht einheitlich, sie wechselt von sehr dunkel bis hell-brünett, je nachdem, ob bei ihnen das sibirisch-nordische oder das melanesisch-tropische Erbgut überwiegt. Gemischt wie die körperlichen Merkmale erscheinen dabei auch die seelisch-geistigen Anlagen. An die nordasiatisch-sibirische Heimat erinnert zum Beispiel der Glaube an einen jenseitigen Hochgott, der im Himmel oder über dem Himmel wohnt. Dieser Himmel aber ist in ihrer Vorstellung eine gewaltige Kuppel aus Lasurstein, aus Kristall oder ähnlichen schimmernden Gesteinen. Als melanesisches Erbe dagegen erscheint die ungeheure Rolle, die der Sippen-Ahne im Vorstellungsleben dieser Menschen spielt. Dieser Ahne besitzt geradezu die Würde eines Gottes, aber er tritt in Tiergestalt auf, wie in der eben erzählten Sage von den zwei Menschen im Boot. Diesem uranfänglichen Gott-Tier bringen die Indianer unterwürfige Verehrung entgegen, und kein Tier der gleichen Art darf getötet werden. Unvereinbar erscheinen diese beiden Gottesvorstellungen — der jenseitige Hochgott und der sehr diesseitige Tiergott-Ahne —, aber in den Mythen und Sagen des Volkes sind sie ganz unbefangen miteinander verschmolzen. Besonders farbig und anschaulich haben die Indianer vom Mount f 8
Shasta, einem schneebedeckten Vulkan in den Felsengebirgen des Nordwestens, die beiden seltsamen Gottwesen zusammengeführt. Am Anfang der Dinge, so erzählen sie, wohnte der Große Geist ganz oben auf der Himmelskuppel, und blickte auf die Erde nieder. Als es ihn eines Tages gelüstete, hinabzusteigen, bohrte er mit einem Steinmesser ein Loch in die Kuppel und warf durch die Öffnung Schnee und Eis herunter, und es entstand der Schneeberg Mount Shasta. Und der Große Geist ließ sich an einem Strick auf den Gipfel des Berges hernieder und stieg von da in das flache Itand hinab. Aber alles war leer und wüst. Da beschloß der Geistgott Bäume zu pflanzen, und er grub mit seinem Finger Löcher in den öden Boden. Aus jedem dieser Löcher wuchs alsbald ein prächtiger Baum, bis dichter Wald das ganze Land bedeckte. Als dann im Herbst zum ersten Male die Blätter fielen, sammelte der Große Geist das welke Laub und blies darauf. Und es wurden Vögel daraus, und eilig flatterten sie davon. Der Große Geist aber griff nach einer Keule, die oben dick und unten dünner war, und zerbrach sie in drei Stücke. Aus dem dünnen Ende ließ er die Fische werden, aus dem Mittelstück die übrigen Tiere und aus dem dicksten Teil die Grizzlibären, die über die Welt herrschen sollten. Die Grizzlibären gingen aufrecht wie Menschen und konnten ihre Vorderbeine wie Arme und Hände gebrauchen. Es waren so wilde und gefährliche Wesen, daß selbst der Große Geist von Angst vor diesen Unholden erfüllt wurde und sich vor ihnen in Sicherheit zu bringen suchte. Er höhlte den Mount Shasta aus und schuf aus ihm ein gewaltiges Berghaus, und in dieser Behausung verschloß er sich mitsamt seiner Familie. Dort blieb er wohnen, und man sah zu Zeiten den Rauch seines Herdfeuers aus dem offenen Schlund der Bergspitze aufsteigen. So vergingen Tausende von Jahren. In der Frühe eines Tages aber begann ein wütender Sturm vom Meer her zu brausen und den ganzen Berg in seinen Grundfesten zu erschüttern. Der Große Geist erboste über diese Ungehörigkeit, und er beauftragte sein Töchterchen, nach oben zu steigen und dem Sturm zu befehlen, daß er sein Toben einstelle. Und er schärfte dem Mädchen ein, nur mit der Hand zu winken und nicht etwa den Kopf hinauszustrecken. Gehorsam stieg das Mädchen hinauf zu der Öffnung in der Bergspitze 9
und winkte mit der Hand dem Sturm, damit er nachlasse. Der Sturm aber kehrte sich nicht daran, sondern tobte weiter. Das Mädchen stand unschlüssig da und überlegte, ob es nicht einen Blick auf die ihr unbekannte Außenwelt werfen solle — und es erhob vorsichtig den Kopf. Da ergriff der Sturm das Kind an den langen Haaren und trug es weit weg über die Wipfel der Bäume bis in das Land der Grizzlibären. Hier am Rand des Gebirges ließ er das kleine Wesen in den Schnee fallen. Von Ängsten und von Frostschauern geschüttelt blieb das Töchterchen des Großen Geistes am Boden liegen. In jener Gegend aber wohnte eine Familie von Grizzlibären. Der Bärenvater kam just von der Jagd zurück, trug seine Keule geschultert und führte an einem Strick einen jungen Elch. Als er das fremdartige, rothäutige Mädchen frierend im Schnee liegen sah, erbarmte es ihn, und er hob es auf und trug es in die Grubenhü zu seiner Frau. Die Bärenmutter nahm das seltsame Wesen lie voll auf und nährte es an ihrer Brust wie ihr eigenes Junges. So wuchs das Kind des Großen Geistes mit den jungen Bären mit Geschwistern heran, und als es erwachsen war, machte es Älteste der Bärensöhne zu seinem Weib. Es gebar ihm zahlrei Kinder — die ersten wirklichen indianischen Menschen. Die Grizzlibären waren sehr stolz auf diese neue Rasse, die da aus ihrer Mitte hervorging. Sie halfen allesamt der.jungen Mutter und ihren Kindern eine geräumige Grubenhütte bauen, die mit Erde überworfen wurde. Sie wuchs zu einem Hügel auf, den man heute noch sehen kann — es ist der ,Kleine Mount Shasta'. Die Jahre gingen dahin. Der Große Geist grämte sich in seinem Berghaus um seine verlorene Tochter, aber lange schon hatte er die Hoffnung aufgegeben, sie jemals wiederzusehen. Den Grizzlibären erzählte das Mädchen zu irgendeiner Stunde, da sie mit ihnen zusammensaß, von ihrer hohen Abkunft, und sie beunruhigten sich sehr über das, was sie getan hatten. Die alte Bärenfrau klagte und jammerte darüber, daß man dem Großen Geist keine Nachricht über das Schicksal seiner Tochter hatte zukommen lassen. So traten die Alten der Bärensippe zusammen, um zu beratschlagen, was zu tun sei, und man beschloß, den erstgeborenen Sohn des Götterkindes zu dem Vater zu schicken, ihm Kunde von dem Geschehenen zu bringen. 10
Der Große Geist weinte vor Freude, als er erfuhr, daß seine Tochter noch lebte, und er eilte mit hastenden Schritten den Mount Shasta hinunter, nur den einen Wunsch im Herzen, sein verlorengeglaubtes Kind bald in die Arme schließen zu können. Die Grizzlibären standen mit geschulterter Keule Spalier vom Mount Shasta bis zu der Grubenhütte
Zauberer und Besessene Immer wieder kamen im Laufe der Jahrtausende Menschen in das Land, über die Meerenge der Behring-Straße, aus der Inselwelt des Stillen Ozeans, auf vielen Wegen, und immer bunter wurde die Vielzahl der dort lebenden Volksstämme. Rassisch waren sie oftmals 11
völlig voneinander verschieden, und auch sprachlich gab es lange Zeit keine Brücke herüber und hinüber. Und doch entwickelte das bunte Völkergemenge an der Nordwestküste Nordamerikas über alle rassischen und sprachlichen Unterschiede hinweg eine einheitliche Kultur, und auch in ihr ist im wesentlichen das sibirische und melanesische Erdbe dieser Menschen lebendig verschmolzen worden. Diese Kultur ist ungemein sinnenfroh, die Liebe zu den schönen Dingen, zu Prunk und Aufwand bis zur unbegreiflichsten Verschwendung offenbart sich in ihr — aber ebenso eine seltsame und unheimliche Gebundenheit an weltferne Vorstellungen, ja an Wahnideen. Dadurch aber, daß jedermann an diese Phantasiegebilde glaubt, gewinnen auch sie im Leben der Allgemeinheit eine gewisse ,Wirklichkeit' und bestimmen das Dasein oft nicht weniger wirksam als die Dinge der greifbaren Welt. Diese Menschen sind so gleichsam zwei Wirklichkeiten verfallen — einer ,diesseitigen' und einer Jenseitigen' —, und beide Welten fließen ineinander, werden zu einer Einheit, so daß sie nicht mehr zu trennen sind.
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Im Mittelpunkt dieser rätselvollen Doppelwelt steht der Glaube an ,Geister' oder ,Dämonen', die unsichtbar den Menschen umgeben und das ganze Weltall erfüllen; aber auch die Gewißheit, daß der Mensch mit diesen ,Gespenstern' in geheimnisvoll-zauberische Beziehung treten könne. Diese Beziehung kann tätig oder leidend sein. Gewissen Menschen wird die Macht zugeschrieben, die Dämonen zu bannen und sie gefügig zu machen, andere aber werden entgegen ihrem Willen von den Geistern befallen und unterjocht. Wer sie beherrscht, darf sich ,Zauberer' oder ,Schamane' nennen, wer den Dämonen verfällt aber gilt als ^Besessener'. Aber auch jeder Stammesangehörige kann ein gewisses Maß von ,Zauberkraft' besitzen, und die Angst, von solchen Zauberträgern ,behext' zu werden, ist deshalb überall groß bei den Nordwestindianern. Keiner traut dem andern, allerorts ist man auf der Hut vor zauberischen Schädigungen. Jede Erkrankung, jeder beiläufige Unfall wird als Behexung aufgefaßt oder als ein Befallensein von einem Dämon, den irgendein mißgünstiger Nachbar einem auf den Hals gehetzt hat. Dieses ewige Dasein der Angst ist der Hauptgrund zu der sprichwörtlich gewordenen Verschlossenheit wie auch der vielgerühmten Höflichkeit aller echten Indianer. Die Verschlossen12
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Rundgesicht (Pazifide) in einer Schnitzerei der Haida. Der Mann versinnbildlicht den Vollmond, während die Vögel mit langen Schnäbeln die z.uund abnehmende Mondsichel darstellen, überall sieht man rätselvolle Augen
heit entspringt der Angst, den vielleicht zauberbehafteten Nebenmenschen durch ein unbedachtes Wort zu reizen, und die Höflichkeit verfolgt den Zweck, sich mit jedermann gut zu stellen, damit sein Rachezauber nicht über einen kommt. Die eigentlichen Zauberer, die ,Schamanen' oder ,Medizinmänner', aber sind außergewöhnliche Menschen, die meist eine besondere .Ausbildung' erfahren haben und manchmal auch die Häuptlingswürde bekleiden. Sie besitzen die Gabe, sich in einen Rausch- oder Traumzustand zu versetzen, in dem sie mit den ,Geistern' Verbindung aufnehmen. In solchen Augenblicken des Berauschtseins vermeinen sie die drei Welten — die Unterwelt, die Erdenwelt und die Himmelswelt — zu durchfliegen, sie bestehen phantastische Abenteuer und Kämpfe mit den Dämonen, gewinnen Einblick in geheime Zusammenhänge, und sie wissen denjenigen Dämon ausfindig zu machen, der bei einer Krankheit oder einer sonstigen Behexung seine Hand im Spiel hat. Diesen Dämon zwingen sie, von dem Befallenen abzulassen, damit die Heilung eintreten kann. Um seine Bemühungen wirksamer zu machen, bedient sich der ,Zauberer' auch 13
aller möglichen Tricks und Taschenspielereien, aber er muß sich vorsehen; würde man ihn einer solchen Machenschaft überführen, so wäre es aus mit seinem Schamanentum; verfehmt und ausgestoßen bliebe ihm nichts anderes übrig, als das Stammesgebiet zu verlassen oder elendig umzukommen. Der Geisterglaube dieser Indianer spielt nicht nur in das eigentliche Zauberwesen hinein; er bestimmt auch das ganze kulturelle Leben, die Bildnerei, die Musik, die Dichtung und all die feierlichen und großen kultischen Veranstaltungen im Jahresablauf. Auf dem Geisterglauben beruht auch das geheimnisvolle Maskenwesen, ohne das diese Indianerstämme nicht zu denken sind; in seinem gewaltigen Umfang und in seinem Einfallsreichtum kann es nur noch mit der ausgeprägten Maskenkunst Melanesiens verglichen werden. Zwar haben alle Völker der Erde zu allen Zeiten magische Verhüllungen gekannt und verwendet, aber nirgends hat dieses Maskentum ei solch umfassende Bedeutung gewonnen wie bei den Melanesier und den ihnen verwandten Indianern im Nordwesten Nordamerika Hier ist die Maske nicht nur Mummenschanz und Spiel; sie hat eine tiefernsten Sinn, der in der Weltanschauung dieser Völker begründet ist — in ihrem alles durchdringenden und erfassenden Geisterglauben. Jede der Masken verkörpert einen Geist, einen Dämon oder sonst ein Überwesen, oft auch den Ahnen. Durch das Anlegen der Maske verwandelt sich ihr Träger in das betreffende Geister- oder Ahnenwesen, und er gebärdet sich nun ganz so, als wäre er selbst jenes Wesen. Wer sich die Maske des Dämons angelegt hat, von dem hat dieser Dämon Besitz ergriffen, er ist ,besessen' von ihm, und er muß sich wie ein Dämon in wahnsinnhaften Körperbewegungen ergehen, in pantherartigen Sprüngen und wurmartigen Verkrümmungen von fürchterlichster Wildheit; und auch die Zuschauer werden von der Besessenheit erfaßt und getrieben, zu tanzen, zu springen und zu stampfen. Der entfesselte Rauschzustand läßt alle Erfaßten in irrem Taumel sich selber vergessen. Eine grauenhafte Wahnsinnsmusik von Baumtrommeln, Flöten und Rasseln begleitet die Tanzorgien, die oft Tage und Nächte hindurch andauern. Wer sich bei den primitiven Volksstämmen in Melanesien, in Indonesien, in Hinterindien und Tibet umgeschaut hat, der weiß, daß hier die Urkräfte eines gleichen Dämonenglaubens zum Durchbruch 14
kommen. Immer ist es die Maske, welche die unheimliche Verwandlung des Menschen in den Dämon bewirkt. Überall gieren diese Menschen nach einer solchen Verwandlung in das Geistwesen, wollen sich über das eigene Ich hinaussteigern und in eine fremde, als übergeordnet empfundene Wesenheit hineinschlüpfen. Es ist das Verlangen nach Entrückung aus den Fesseln des gewöhnlichen Daseins in eine andere jenseitige Welt.
Der Club der Menschenfresser In die Urheimat der melanesischen Inselwelt reichen auch die Wurzeln der Geheimbünde zurück, die im Dasein der indianischen Nordwestküstenstämme Amerikas eine so geheimnisvolle Rolle spielen. Den Geheimbünden dürfen nur die Männer angehören. Sie umgeben sich mit einer undurchdringlichen Mauer strengster Verbote für alle Nicht-Eingeweihten. Die Mitglieder wohnen oder versammeln sich in eigenen Clubhäusern, die vom Grauen des Geheimnisses umwittert sind. Jeder nicht Zugehörige wäre des Todes, wenn er das Haus zu betreten wagte. Wie das melanesische so schmückt auch das indianische Clubhaus eine riesige, die Front beherrschende Dämonenfratze. Drohend und abwehrend lastet das schwere Gebilde über dem Eingangstor; an manchen Häusern ist sie so angeordnet, daß ihr weit aufgerissener Rachen selbst das Tor bildet. Unter demDämonenbild her oder durch diesen Höllenrachen hindurch führt der Weg in das halbdunkle Innere. Stufenförmig bauen sich die Sitzreihen um die Mitte des Hauses auf. Von den Wänden, von der Decke und von deren Stützbalken grinsen im Schein des Herdfeuers teuflische Dämonengesichter über kleinen verzerrten Körpern. Sie sind umrankt von prunkvoll-grauenhaften Schmuckgebilden, die keine bestimmten Gegenstände darstellen, aber wie von einer höllischen Lebendigkeit durchpulst erscheinen. Diese Clubs bilden — weit über die Familien und Klans hinaus — in dem indianischen Lande den eigentlichen Mittelpunkt des gesamten sozialen, geistigen, künstlerischen und religiös-kultischen 15
Lebens. Hier werden alle wichtigen Dinge beraten — Krieg und Friedensschluß, Bündnisse, Handelsabsprachen, Gesetze, Festveranstaltungen, Jagdzüge; hier werden die Masken geschnitzt, die Kultgeräte hergestellt und die Musikinstrumente gebaut. Hier werden die neu Eingeweihten mit den Geheimlehren und dem Mythenschatz des Stammes vertraut gemacht, hier werden sie in die Zauberformeln und Zauberpraktiken eingeführt. Es ist nicht leicht, Mitglied dieser indianischen Geheimbünde zu werden. Es gehören dazu nicht nur Eignung und fördernde Empfehlung durch Altmitglieder, sondern — merkwürdigerweise — vor allem Geld. Wer dem Bund angehören, vor allem aber wer zu einem höheren Rang innerhalb des Clubs aufsteigen will, muß bezahlen. Man könnte also sagen, die Club-Organisation sei auf Besitz aufgebaut. Dieser Zug aber geht durch das ganze Gesellschaftsleben dieser Indianer. Wer etwas gelten will, muß reich sein. Selbst die Häuptlingswürde wird meist nicht vom Tauglichsten, sondern vom Reichsten bekleidet. Aber das Amt leidet kaum darunter, denn der Häuptling hat ohnehin nicht viel zu sagen. Häuptling zu sein ist hier mehr eine Sache der persönlichen Eitelkeit. Der Neuling zahlt keine geringe Aufnahmegebühr, aber selbst der hohe Geldbetrag öffnet allein noch nicht die Dämonen-Eingangspforte. Der Neueintretende muß sich auch sehr harten, ja grausamen Einweihungszeremonien fügen und schwere Prüfungen bestehen, bevor er den niedrigsten Grad, den des ,Lehrlings', erhält. Seit alters sind die Anforderungen an den jungen Mann festgelegt, der die Aufnahme in den Geheimbund begehrt. Regungslos hat er die Schmerzen zu ertragen, die mit den geheimnisvollen Prüfungen am Einweihungstag verbunden sind. Der Neuling soll durch die Überwindung seiner selbst neu geboren werden. Er gibt sein bisheriges Ich auf, um dafür eine neue ,Seele' zu gewinnen. Der Jüngling muß in sinnbildlicher Form ,sterben', um als ein Verwandelter aufzuerstehen. Der angesehenste, mächtigste, aber auch grauenhafteste unter diesen Geheimbünden war der Hamaza-Club. In diesem Geheimbund wurde als oberster Herr ein Dämon von besonders furchtbarem Aussehen verehrt. Er war dargestellt mit einem gewaltigen Kopf, der in ein breites, zähnefletschendes Maul auslief und von einer wirren 16
Dämon übeT dem Eingang zu einem Haus der Tlinktt-Indianer, recht! Totem-Pfahl roten Mähne umflattert war. In die Mähne waren hölzerne Nachbildungen menschlicher Schädel geknüpft. Holzschädel ,schmückten 1 auch das Gewand des Götzen. Die schauerliche Figur war schwarz, weiß und rot bemalt — in den gleichen Farben wie in Melanesien, wo ähnliche Dämonen verehrt wurden. Grauenhaft wie das Bild des Dämons war auch sein Kult. Der Hamaza-Dämon forderte Menschenopfer, und sie wurden auch gewährt. Das Fleisch der Geopferten wurde von den Geheimbündlern verzehrt und ihr Blut getrunken. Auch in Melanesien gab es die gleichen Menschenopfer und den gleichen Kannibalismus, und man sagt, daß in abgelegenen Gebieten der ,Schwarzen Inseln' diese grausigen Bräuche vereinzelt noch heute fortbestehen. Die Indianer hatten an sich einen Abscheu vor Menschenfresserei, aber vielleicht wirkten hier Überlieferungen ihrer melanesischen Herkunft nach. Auch bei den indianischen Azteken Mittelamerikas wurde ja das Fleisch der Geopferten 17
verzehrt und ihr Blut in Brote verbacken, über die sich die Festteilnehmer stürzten. Diese kannibalischen Menschen glaubten daran, daß sie sich durch das Verzehren eines Menschen und das Einschlürfen seines Blutes die geheimen Kräfte des Geopferten aneigneten. Vielerorts glaubten sie auch, daß diese Geopferten sich durch ihre Opferung in Dämonen verwandelten und daß man sich durch das Verzehren auch die Zauberbegabung dieser zu Überwesen Gewordenen einverleiben könne. Das ist der tiefere Sinn aller solcher Menschenopfer. Ein ähnlicher Gedanke lag auch der Kopfjägerei zugrunde, die in Melanesien und auch in Amerika geübt wurde — auf den Pazifikinseln und auch in Südamerika kommt sie auch heute noch vor. Durch Aneignung des Kopfes des Feindes wollte man sich in den Besitz seiner Kräfte setzen. Im Laufe der Zeit wurde bei allen nordamerikanischen Indianern die Kopfjägerei durch das Skalpieren des besiegten Gegners ersetzt. Auch mit dem Geheimbundwesen stand die Kopfjägerei von Anfang an in enger Verbindung; in den Clubhäusern des Grauens wurden die Köpfe der gefällten Feinde präpariert, bemalt und als Zauberfetische aufbewahrt.
Zwischen Traum und Wachen Geister und Dämonen begleiten, ängstigen, bedrohen den Indianer des Nordwestens in jeder Phase seines Daseins. Der natürliche Reichtum des indianischen Wohngebietes gewährt den Eingeborenen Nahrungsmittel genug, und sie können auf den mühseligen Ackerbau fast ganz verzichten. Ihre Hauptnahrungsquellen sind die Fischerei und die Jagd auf große Seesäugetiere, Wale, Delphine und Robben. Man betreibt auch etwas Jagd in den Wäldern des Hinterlandes, und die Frauen sammeln Beeren, Wurzeln und Nüsse als Zukost. Aber auch Fang, Jagd und Sammeln sind überschattet vom Dämonenglauben. Wenn eine Harpune zerbricht und der Wal davonschwimmt, wird die Schuld nicht dem Verfertiger der Harpune oder der Ungeschicklichkeit des Schleuderers zugeschrieben; ein Geist oder Dämon hatte dann seine Hand im Spiel, und diesen Geist oder Dämon galt es erst ausfindig zu machen und zu bannen. Banngewalt aber 18
besitzt nur der Schamane. Auch vor jedem Jagdzug oder anderen wichtigen Unternehmungen müssen zahllose rituell vorgeschriebene Kleinigkeiten beachtet werden, damit das Vorhaben nicht von vornherein aussichtslos erscheint. Die Siedlungen der Nordwestindianer, die sich stets der Küste entlang hinziehen, machen einen wohlhabenden und oft fast prächtigen Eindruck. Es sind meist viereckige Giebelhäuser, die mit Steinwerkzeugen aus Brettern und Balken gezimmert und über und über mit Malereien und herrlichen Schnitzereien bedeckt sind. Auch beim Betreten des Inneren überraschen den Besucher meist reich bemalte Schnitzarbeiten. Die Nordwestindianer sind die geborenen Schnitzer, und kein anderes Volk erreicht sie in dieser Kunst. Nur die Melanesier können hierin mit ihnen verglichen werden, und so liegt es nahe, auch diese Begabung auf die teilweise melanesische Abkunft zurückzuführen. Auf den ,Schwarzen Inseln 1 wie in den Indianerhütten ist das alles mit größtem Feingefühl für ziervolle und farbig reiche Ausschmückung geschaffen, aber auch die Dämonenangst und das Grauen vor dem Unheimlichen kommt darin zum Ausdruck. Und gleichzeitig jenes Schweben zwischen Traum und Wachen, das allen Kunstäußerungen dieser Völker eine so seltsam packende Wirkung verleiht. Bei den meisten die&er Bildwerke kann man im unklaren sein, ob sie irgendeinen Gegenstand der Außenwelt wiedergeben sollen oder aber Ausgeburten einer fieberhaften Phantastik sind und überhaupt nichts mit irgendwelchen ,Dingen' unserer Umwelt zu tun haben wollen. Oft gehen dabei Körper und Gesichter mit fließender Grenze in reiche Schmuckformen über, und auch dann entwickeln scheinbar reine Ornamente eine geheimnisvolle innere Bewegtheit, als ob es Lebewesen wären. Besonders unheimlich wirkt eine Überschüttung der Flächen mit augenartigen Gebilden, die einen unergründlich anzustarren scheinen. Es ist melanesisch.es Erbe. Am phantastischten aber entfaltet sich die Schnitzkunst — abgesehen von den Masken — in der Ausgestaltung der ,Totempfähle, oder ,Ahnenpfeiler', die bis zu 15 Meter hoch vor den Häusern stehen und in ihren Bildern sozusagen die ganze dämonische Geschlechterchronik der betreffenden Sippe erzählen. Auch das ist melanesischer Brauch. Darüber hinaus aber wird alles beschnitzt, was mir irgendwie eine Form hergeben kann: Lanzenschäfte, Werkzeuge, 19
Schüsseln, Löffel, ja fast jedes Brett, aber auch die kunstvoll aus ganzen Baumstämmen ausgehöhlten Boote. Überall Dämonengesichter und verschlungenes Rankenwerk. Man verfällt dieser phantastischen Geisterwelt. Nur Geister und Dämonen spielen in dieser Bilderwelt eine Rolle. Man glaubt zwar an den über der Himmelskuppel wohnenden ,Hochgott', aber es gibt keinen Gotteskult oder gar eine bildliche Darstellung des Hochgottes. Diese Völker kennen also keine Gottesbilder oder Idole, wie sie bei den alten Babyloniern, Ägyptern, Griechen und Römern so häufig waren. Ihre Gottauffassung gleicht mehr den Vorstellungen der Juden und Mohammedaner, die sich auch kein ,BiId und Gleichnis' ihres Gottes machen. Man darf annehmen, daß hier bei den Indianern des Nordwestens das nordasiatische Erbe durchbricht. Wie in Melanesien kennt die Gesellschaftsverfassung der Nordwestindianer Mutterrecht und Vaterrecht nebeneinander oder ineinander verwoben. Sippenname, Titel, Rang und Vermögen vererben sich teils in der männlichen und teils in der weiblichen Linie. Diese Rechtsverhältnisse sind sehr bedeutsam, denn wer hier ohne Titel, Rang und Vermögen geboren wird, kann auch nichts werden. Alle Güter befinden sich in festen Händen, und wer nicht schon etwas besitzt, kann es zu nichts bringen — außer durch Heirat und die dadurch hereinkommende Erbschaft. Das ,Vermögen' der Indianer besteht — außer im Hausbesitz und Hausgerät — aus Muscheln, die als Bargeld dienen, aus Decken, Matten, Körben, kunstvoll beschnitzten Kisten und Geräten aller Art, und aus Booten, die sehr kunstvoll ausgestattet sind. Hochgeschätzt sind die einfachen Platten aus kalt gehämmertem Kupfer, die zwar an sich keinen großen Wert darstellen, aber wie unser Papiergeld einen bestimmten Wert verkörpern — also nicht ,WertTräger' sondern nur ,Wert-Zeichen' sind. Dieser Wert ist aber sehr schwankend und richtet sich danach, wieviel der augenblickliche Besitzer selber beim Erwerb dafür bezahlt hat. Es ist eine recht merkwürdige ,Geldwirtschaft'. Bei großen Käufen müssen ganze Ladungen von Decken, Matten, Booten und Kupferplatten transportiert werden. Neben diesen materiellen Gütern gibt es auch ein ,Vermögen' aus ideellen Werten; es besteht in Titeln und Rangstufen, 20
Holzgeschnltzter, bemalter Kriegshelm der TUnkit-Indianer (Rundgesicht) im Besitz von besonders wirksamen Zaubersprüchen, von Talismanen und Amuletten, aber auch in Bildungswerten, der Kenntnis bestimmter Dichtungen, Mythen oder Sippenlegenden. Der größte Teil des indianischen ,Vermögens' ist eine Ansammlung von Überflüssigkeiten. Denn auch der reichste Mann braucht für seine persönlichen Bedürfnisse nur einige wenige Decken, Matten, Kisten und andere Gebrauchsgegenstände, und höchstens ein oder zwei Boote. Und mit dem Muschelgeld und den KupferplattenBanknoten kann er sich auch wieder nichts anderes kaufen als eben noch mehr Decken, Matten und Boote. Für den Lebensunterhalt ist Geld überhaupt nicht erforderlich, denn Nahrung kann er sich täglich unentgeltlich selber aus dem Meer holen. Gibt er einen Teil seines Vermögens etwa für die Aufnahme in einen Geheimbund hin, so sammeln sich eben dort all die Decken, Matten und Boote an, mit denen in dieser Überfülle kein Mensch etwas anfangen kann. Der Reichtum ist also im indianischen Nordwesten mehr eine 21
Sache der Einbildung als der Wirklichkeit; selbst der Reichste kann sich an wirklichen und notwendigen Lebensgütern nicht viel mehr leisten als der Arme.
Potlatsch - das Verschwendungsfest Im Gesellscliaftsleben dieser Völker gehört das äußere Gehabe, das Angeben, Sich-in-Szene-Setzen zum Umgangsspiel. Wer hier etwas gelten will, muß etwas aus sich machen. Es genügt nicht, daß er reich ist oder über Titel und Würden verfügt; man verlangt von ihm, daß er diese Tatsache seinen Mitmenschen gründlich und immer wieder neu zur Kenntnis bringt. Wer reich ist, muß verschwenden — selbst wenn er darüber sich selber an den Bettelstab bringt. Und er darf diese Verschwendung nicht etwa im Verborgenen üben, sondern muß es vor aller Augen tun und muß dabei den Leuten sozusagen einhämmern, daß er es ist, der sich das leisten kann, daß es sein Geld oder sein Reichtum ist, der hier ohne Wimperzucken verschleudert wird — verschleudert teils unter das Volk, teils aber an andere Besitzende in Form von Geschenken. Wer am meisten schenken kann, ist am angesehensten. Aber diese Art von Geschenken ist eine sehr zweischneidige Sache: Jeder so Beschenkte muß dem Geber bei passender Gelegenheit wieder etwas schenken — und zwar ungleich viel mehr, als ihm geschenkt worden ist. So entstellt ein fast sportmäßiger Wettstreit des Schenkens, und jeder versucht, seinen ,Gegner 1 im Schenken zu übertrumpfen. Wie bei einer Versteigerung bietet jeder immer mehr — bis der andere nicht mehr mitkann und sein Vermögen nidits mehr hergibt. Der Betroffene ist dann nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich erledigt. Der Sieger aber triumphiert und sieht sich nach neuen Opfern um, wenn nicht im eigenen Stamm, dann bei einem fremden, oft weit entfernt wohnenden. Ausflüchte gibt es nicht, der ,Erwählte' muß die Herausforderung annehmen. Den sinnfälligsten und öffentlich weithin sichtbarsten Ausdruck findet dieser ,Geschenk-Wettstreit' in Gestalt des ,Geschenkfestes' oder ,Potlatsch\ ein Wort, das soviel wie Geschenk bedeutet. Den Potlatsch können nur sehr reiche Leute veranstalten, meist Häuptlinge oder sonstige hohe Würdenträger, die schon durch ihre kost22
spielige Würde beweisen, daß sie reich sind. Umfassende Vorbereitungen gehen einem solchen Fest voraus. In alle Welt werden Boten mit den Einladungen geschickt, und die also Beehrten haben nun alle Hände voll zu tun, um der Einladung entsprechend großartig und großspurig nachkommen zu können. Auch die Eingeladenen müssen zeigen, was sie sind und was sie sich leisten können. Ein solcher Potlatsch kann die Form eines Volksfestes und Jahrmarktes annehmen. Von nah und fern strömen die Geladenen mit ihren Kriegern, Gefolgsleuten, Schatzmeistern und ,Deckenzählern 4 zusammen. Sie kommen über Land oder zu Wasser in großen Bootsflotten, die mit Decken, Fellen, Matten und anderen Reichtümern beladen sind und von dem Rang und der Größe ihres Besitzers Zeugnis ablegen. Die kostbare Ladung wird entweder in den Wettstreit eingesetzt oder gegen andere Waren eingetauscht. Das Bild einer ganzen Völkerschau entrollt sich an einem solchen Festtag. Alle Stämme scheinen vertreten: die Tlinkit und Haida, die Quakiutl, Zimschian und Nutka, die Salisch, Kutenag und wie sie alle heißen, vertraute und fremde Stämme — aber doch alle zugehörig zu ein und derselben Kultur der Nordwestküste des Kontinents. Es ist ein buntes Wogen der verschiedensten Trachten und ein Sprachengewirr, das jede Unterhaltung unmöglich zu machen scheint. Aber jeder dieser Stämme beherrscht mehrere der Nachbarsprachen, eine allgemein verbreitete Art von Handelssprache überbrückt die letzten Schwierigkeiten der Verständigung. Das Festdorf vermag die Masse der Gäste nicht zu fassen, und so kampieren die meisten der Ankömmlinge in mitgebrachten Zelten rings um die Siedlung. Nur die Vornehmsten finden im Haus des Häuptlings Aufnahme, der zu dem Wettstreit eingeladen hat. Was an Frauen, Töchtern, Müttern und Großmüttern im Dorfe lebt oder aus der Ferne herbeigekommen ist, wird mit Kochen beschäftigt. Denn bald beginnt eine riesige Schmauserei, bei der Fisch, Wal und Robben in merkwürdigsten Zubereitungen das Hauptgericht darstellen. In mächtigen, reich beschnitzten Trögen — wahren Badewannen — wird all das Gesottene und Gebratene aufgetischt, und jeder der Gäste nimmt sich davon, so viel er nur in sich hineinzustopfen vermag. Und dann geht es zum Wettstreit, der den Mittelpunkt des gan23
zen Festes bildet. Er findet im Hause des Häuptlings hinter verschlossenen Türen statt. In gemessener Haltung und unter Wahrung strengster Höflichkeitsvorschriften sitzen dort die Teilnehmer und sonstigen Geladenen des engeren Kreises beisammen. Nach Musik- und Tanzdarbietungen beginnt der Kampfgang. Eine Ansprache des Häuptlings leitet ihn ein, aber sie widerspricht allem, was wir in Europa unter einer höflichen Festansprache verstehen. Es ist eine geradezu aufreizende Prahl- und Protzrede ungefähr folgender Art: . „Häuptlinge, Versammelte, ihr seid gekommen aus euren armseligen Hütten, um meinen Reichtum anzustaunen. Ich bin der Große, der Gewaltige, der Bär unter den Häuptlingen — ihr aber seid nur Ratten und elende Würmer, die nichts besitzen und zeigen können. Mein Reichtum ist unermeßlich, und meine Macht und Würde hat nicht ihresgleichen unter der Sonne. Bettler und Unwürdige seid ihr alle mir gegenüber. Wie könnt ihr es wagen, euch mit eurem armseligen Besitz mit mir messen zu wollen! Ich bin unbesiegbar an Reichtum, und niemand vermag es mir gleichzutun . . . " Mit solchen Großsprechereien geht es eine Zeitlang weiter, und alle sitzen stumm da und lassen diese Prahl- und Schmähreden mit steinernem Antlitz über sich ergehen. Von einem richtigen Häuptling verlangt und erwartet man eben, daß er hochmütig, eitel und anmaßend bis zum Äußersten ist, und so findet man das alles ganz in Ordnung. Man selbst würde ja an seiner Stelle ebenso sprechen, sofern man etwas auf sich hält. Aber nun hat der Wettstreit begonnen. Der ,Deckenzähler' des Häuptlings hat bereits einen Stoß von zweihundert Decken zurechtgelegt. Der Deckenzähler des Gegners bringt vierhundert. Der Häuptling bietet tausend. Der Gegner antwortet mit zweitausend. Das Haus kann all die Decken nicht mehr fassen, und sie müssen draußen aufgeschichtet werden. Die Deckenzähler sind mit der Kontrolle vollbeschäftigt. Schon gehen die Wettkämpfer zu anderen Kampfmethoden über. Der Häuptling läßt zwei seiner schönsten Boote zertrümmern. Der Gegner aber hat vier in Reserve und folgt dem Beispiel. Kupferplatten mit hohen Wertnotierungen kommen an die Reihe. Der Häuptling wirft sie ins Feuer. Der Gegner muß ihn übertrumpfen. So geht es weiter, bis einer der beiden Kampfhähne 24
nichts mehr zu bieten hat und sich als besiegt erklärt. Um nicht in ewige Schande zu geraten, füllt er einen Schuldschein aus, der noch seine Kinder und Kindeskinder belasten wird. Der Schuldschein bedeutet für den Empfänger so viel wie bares Geld; für ihn ist es ein Zuwachs seines Vermögens, auch wenn der Schuldbetrag niemals einkommen sollte. Solche Geschenkfeste — oder besser ,Verschwendungsfeste' — sind nur möglich in Ländern, in denen es so viele Nahrungsquellen gibt, daß die Beschaffung des notwendigen Lebensunterhaltes in jedem Falle gesichert ist. In den kargen Nordländern wäre dieser Leichtsinn undenkbar. Ursprungsgebiet dieses Brauches muß das südliche Asien sein, wo wir zum Beispiel bei den Naga-Völkern Hinterindiens
Links: Teilstück eines Totemplahls der Halda, grinsendes Rundschädelgesicht, aus Holz geschnitzt und bemalt. RechtB: Kopt einer Ahnenligur der Salisch, langgesichtig, bemalte Holzschnitzerei 25
eine ganz ähnliche Sitte oder Unsitte finden. Von dort hat sich der Brauch über Indonesien und Melanesien bis an die Nordwestküste Amerikas verbreitet, wo der warme Japan-Strom ähnlich günstige Lebensbedingungen bietet wie der Süden.
Werden und Vergehen Die Nordwestküste ist am spätesten von allen Landstrichen Amerikas in den Gesichtskreis der Europäer getreten. Die Reiche der Azteken in Mittelamerika und der Inka in Peru waren schon längst zerschlagen, und in der Gegend des heutigen New York siedelten schon lange zahlreiche europäische Kolonisten, als man vom Nordwesten des Kontinents noch keine Kenntnis hatte. Man ahnte nur, daß sich dort das Land schier ins Unendliche erstreckte. Zwar hatte schon im Jahre 1592 der spanische Seefahrer Juan de Fuca Teile der Küste gesichtet, aber er hatte das Land nicht näher erkundet. Erst im Jahre 1778 landete der englische Kapitän Cook an einem Küstenstrich und brachte in Aufzeichnungen und Sammlungen reiches wissenschaftliches Material mit nach England zurück. Dreizehn Jahre später erkannte der Forschungsreisende George Vancouver, daß der von James Cook entdeckte und betretene Küstenstrich eine Insel war, die den Namen Vancouver erhielt. Cook wiederholte in den Jahren 1791 bis 1794 seine Reisen in den Nordwesten, und es gelang ihm, die ganze Nordwestküste zu entschleiern. Er stellte auch fest, daß es von hier aus keine Wasserstraße zum Atlantischen Ozean hinüber gab, die von zahlreichen Entdeckungsreisenden gesucht worden war. Immer häufiger kreuzten seitdem Handelsschiffe vor den neu entdeckten Küstenländern. Man tauschte bei den Eingeborenen kostbare Pelze gegen meist billige europäische Erzeugnisse ein, Stahlwerkzeuge und vor allem Gewehre und Munition. Mit einem der Handelsschiffe gelangte auch der zwanzigjährige Schlossergeselle John R. Jewitt aus Lincolnshire in England in jene fernen Gebiete. Bei der Landung fiel er in die Hände der Indianer und mußte als Sklave eines Nutka-Häuptlings die Jahre 1803 bis 1805 dort verbringen. Diesem einfachen Manne, der kein Forscher war, aber alles mit offenen Augen beobachtete, verdanken wir die ein26
gehendsten Schilderungen des Alltagslebens jener indianischen Völker. Die Berichte sind besonders wertyoll, weil sie aus einer Zeit stammen, in der die Nordwestindianer noch ganz urtümlich lebten und von den Europäern noch nicht beeinflußt waren. Doch hatten sie auf dem Landweg bereits das Pferd kennengelernt und es als Reittier übernommen. Es erlangte bei ihnen aber nie die Bedeutung wie bei den Indianern der binnenländischen Prärien und veränderte kaum ihre Lebensweise. Erst während der ,Pionierzeit' des 19. Jahrhunderts — als sich die Europäer mühsam von Osten nach der Westküste vorarbeiteten — wurden auch die Indianer des Nordwestens mehr und mehr von den Weißen durchsetzt und in ihre Abhängigkeit gezwungen. Da der Nordwesten erst spät entdeckt und erst spät in das englische Kolonialreich einbezogen worden ist, sind in jenen Gebieten erst wenige Ausgrabungen möglich geworden. Aber man entdeckte riesige Muschelabfallhaufen, in denen manche aufschlußreiche Fundstücke aus früheren Zeiten zum Vorschein kamen. Diese Abfallhaufen gehen höchstens bis in das Jahr 1300 n. Chr. zurück. Weiter in die Vergangenheit konnte man durch Ausgrabungen nicht vordringen. Aber es war undenkbar, daß diese reichen und klimatisch ungemein günstigen Gebiete in irgendeiner nacheiszeitlichen Epoche unbewohnt geblieben sein könnten. Da Ausgrabungen nichts über diese älteren und ältesten Epochen verraten haben, war der Forscher auf andere Methoden angewiesen. Er verglich den noch feststellbaren Kulturbesitz der Nordwestindianer mit dem näherer oder ferner lebenden Völkergruppen, und so wurde der Blick unwillkürlich auf Nordostasien, aber auch auf Hinterindien, Indonesien und eben Melanesien gelenkt. Nur in diesen beiden weit auseinanderliegenden Gebieten fanden sich vergleichbare Bräuche und Lebensgewohnheiten, und daraus schloß die wissenschaftliche Forschung, daß jene Kultur- und Völkerströme in zahlreichen einzelnen Schüben ans dem östlichen Sibirien gekommen sein mußten, während ein anderer von Südostasien, Melanesien und Neuseeland ausging. Beide Ströme sind an der Nordwestküste Amerikas zusammengetroffen und haben dort jenes Rassengemisch und jene neue eigenartige Kultur emporwachsen lassen — die der ,Pazifische Indianer', der ,Pazifiden' — von denen wir berichtet haben. 27
Die Kultur der Nordwestküste mußte also viel älter sein, als die spärlichen Ausgrabungen verraten konnten. Wir befinden uns an der Nordwestküste im ältesten Besiedlungsraum Nordamerikas, wo die Eiszeit- und Nacheiszeit-Völker Sibiriens eingedrungen sind, vor allem die sogenannten ,Folsom-Menschen'. Von hier aus ist auch die Besiedlung des südlichen und östlichen Nordamerika erfolgt. Hier hat sich durch die Vermischung von Nordasiatentnm mit dem Melanesiertum die Verwandlung der eingedrungenen Fremdvölker zu ,Indianern' vollzogen. Durch den Einbruch der Europäer ist diese lange und reiche Entwicklung abgebrochen worden.
Die Söhne des Nordens Wir machen in Gedanken noch einen kurzen Abstecher höher in den Norden nach Alaska und sehen uns noch an der Bering-Straße um, seit der Eiszeit Einfallstor asiatischer Völker nach Nordamerika. Das Klima ist in den nördlichen Teilen der BeringmeerKüste sehr kalt, in dem südlichen Abschnitt und auf den anschließenden Aleuten-Inseln dagegen macht sich der warme Japanstrom geltend und schafft ein mildes, feuchtes Klima, in dem Pflanzen gedeihen und auch Nadelwälder sich ausbreiten. Dortzulande stößt die Forschung immer wieder auf die Spuren der asiatischen Amerika-Einwanderer, vor allem der Folsom-Menschen, die in der Hauptmasse hier lange Zeit verweilt haben müssen, während immer wieder Teile von ihnen tiefer in das nordamerikanische Festland vordrangen und sich nach Süden und Südosten hin über große Gebiete verbreiteten. Die Folsom-Kultur scheint vom Ende der letzten Eiszeit an viele Jahrtausende unverändert bestanden zu haben. Von den Wanderern, die vor den Folsom-Menschen von Asien herübergekommen waren, haben wir nur spurenweise Kunde erhalten. Aber immer wieder — auch später — sind hier Wandervölker und -gruppen aus dem unermeßlichen asiatischen Kontinent aufgetaucht, haben sich niedergelassen oder sind weitergezogen ins amerikanische Küsten- oder Binnenland. Wir wissen nicht viel von ihnen. In allen 28
Einzelheiten wird erst um 100 v. Chr. eine Kultur greifbar. Sie umfaßt nicht nur die Beringmeer-Küste Alaskas, sondern blieb auch noch im nordöstlichen Sibirien lebendig, von wo sie ihren Ausgang genommen hatte. Die Bevölkerung war besonders durch ein ungewöhnlich hochgewölbtes Schädeldach und ein ganz schmales Gesicht gekennzeichnet. So werden die Menschen schlank und hochgewachsen gewesen sein, ein ausgesprochenes Nordvolk. Es ist derselbe Typ, den auch zum Beispiel die späteren Sioux-Indianer zeigen. Die Behausungen bestanden aus meist runden, halb oder ganz unterirdischen Grubenhütten von einigen Metern Durdimesser, die mit Erde überworfen und durch einen schräg nach unten führenden /Tunnel' zugänglich waren. Diese Grubenhäuser gingen auf eine sibirische Bauweise zurück. Die Erdwohnungen unterschieden sich scharf von den oberirdischen aus Balken und Brettern errichteten Giebelhäusern der uns durch die vorigen Kapitel bekanntgewordenen indianischen Menschen der Nordwestküste. Auch die Beringmeer-Leute hatten eine hohe bildnerische Begabung, die sich aber fast ausschließlich als Kleinschnitzkunst in Walroßzahn oder Knochen äußerte. Lebhaft jedoch wurde die aus Sibirien mitgebrachte Töpferkunst gepflegt, die bei den indianischen ,Pazifiden' nie Aufnahme gefunden hatte. Jene Beringmeer-Keramik ist die älteste in ganz Nordamerika und gelangte von hier bis an die Großen Seen. Eine tiefgreifende Wandlung dieser Beringmeer-Kultur begann sich erst um das Jahr 1000 n. Chr. anzukündigen und gewann in den folgenden Jahrhunderten immer mehr Boden, als die Nordwestindianer in das Beringmeergebiet vordrangen und nun auch dem Norden ihre Eigenart aufprägten. So erscheinen jetzt auch im Beringmeergebiet die breitgesichtigen Rundschädel der ,Pazifiden' und mit ihnen auch ihr kulturelles Zubehör: Geheimbünde, Maskenwesen, Kopfjagd, Menschenopfer und Menschenfresserei. Auf künstlerischem Gebiet kommt jetzt auch die Großschnitzerei in Holz auf, vorwiegend die kunstvolle Ausschmückung von Masken und Helmen. Im Gegensatz zu der ruhigeren und wirklichkeitsnäheren Formenwelt der ursprünglichen Beringmeer-Kultur wird nun alles wildphantastisch grausig und unheimlich verzerrt. Manches erscheint fast noch ,melanesischer' als bei den Nordwestleuten selbst. Wanderten die so verwandelten Menschen ab in den großen Kontinent, so tru29
gen auch sie das Erbe aus beiden Kulturen mehr oder weniger stark mit sich. Durch dieses „mehr oder weniger" unterscheiden sich die verschiedenen Indianervölker bis nach Mittelamerika hin.
Im Sonnenbrand der Wüste Ein Teil der Abwanderer aus dem Beringmeerbereich sahen sich weiter im Süden einer völlig neuen Umwelt gegenüber. Hier herrschte eine fast tropische Hitze, und eine üppige südliche Pflanzenwelt umgab sie. Es war die Gegend des heutigen Kalifornien, das nun ihre neue Heimat werden sollte. Sie stießen hier auf ältere Völker, die ebenfalls, aber schon vor Jahrtausenden, noch vor den Folsom-Menschen, von Sibirien her Amerika betreten hatten: die Kotschise. Sie waren wie jene Fischer und Jäger, die in halb oder ganz unterirdischen Grubenhütten wohnten, sie besaßen den gleichen altsibirischen Mythenschatz wie die Zuwanderer und verehrten wie sie im Schamanen den Beherrscher der Geister. Aber die Kotschise waren doch insgesamt anders als die Zuwanderer, die ja den Einfluß der indianischen Nordwestkultur erfahren hatten und so selber zu ,Indianern' geworden waren. Die Zuwanderer hatten eine dunklere Hautfarbe, ihre Kunst war dämonisch ausschweifend, und sie übten noch den unheimlichen Brauch, Menschen zu opfern und zu essen. Sie verbanden die Härte des Nordmenschen mit der ausschweifenden Einbildungskraft Melanesiens. Sie waren eben zu einer neuen Rasse geworden. Sie ließen sich in der fremden Umwelt nieder, jagten und fischten mit ihren verbesserten Geräten und bauten Siedlungen — viel schöner und größer, als es die Kotschise gekonnt hatten. Und die Zuwanderer begannen die Kotschise zu überlagern, vermischten sich mit ihnen oder vernichteten sie und wurden die alleinigen Herren Kaliforniens. Dann aber begann sich wie ein ferner Samum jene Katastrophe anzukündigen, die schließlich weite Gebiete des Südwestens von Nordamerika fast unbewohnbar machen sollte: die Austrocknung. Langsam aber unaufhaltsam versiegten die zahllosen Flüsse und Bäche, die Seen trockneten aus und wurden zu Salzwüsten. Die Tier- und Pflanzenwelt erstarb. So gab es bald im südlichen Kalifornien keine Möglichkeit mehr für ein höher geartetes Leben. Wer hier noch wohnen blieb, war rettungslos dem Zurücksinken in ärmlichste Verhältnisse preisgegeben. 30
So verließen große Gruppen der Südwestindianer dieses so unwirtlich gewordene Gebiet. Sie wanderten weiter nach Süden, bis sie das wildreiche und fruchtbare Hochland von Mexiko erreichten. Aber auch hier wohnten bereits Menschen, dichtgedrängt und von ganz anderer Art als die indianischen Eindringlinge. Menschen von viel fortgeschrittener Lebensweise, die Äcker bestellten und Städte bauten und die auf künstlichen Bergen ihre Götter verehrten. Aber die Indianer paßten sich rasch an, lernten das ihnen Fehlende oder zwangen die Einheimischen in ihren Dienst. So wurde es ihnen möglich, etwa zu Beginn unserer Zeitrechnung ihre erste wirkliche Stadt zu bauen, die sie ,Teotihuacan' nannten. Den zurückgebliebenen Brüdern in Kalifornien aber ging es immer schlechter. Auch die nördlicheren kalifornischen Landesteile trockneten mehr und mehr aus. Die Wüste wuchs. Mitleidlos brannte die Sonne auf die lechzende Erde. So machten sich weitere Indianergruppen auf den Weg nach Mittelamerika. Es kam zum Bruderkrieg mit den Herren von Teotihuacan. Die Stadt wurde zerstört und an ihre Stelle eine neue erbaut, die ,TuIa' hieß. ,Tolteken' nannte man die neuen Beherrscher des mexikanischen Hochlands. Aber schon drei Jahrhunderte später kam ein neuer Schub indianischer Flüchtlinge aus Kalifornien an. Es waren die ,Tschitschimeken'. Sie nahmen Tula ein und setzten sich dort fest. Auch sie aber vermochten sich nicht lange ihres Sieges zu erfreuen, denn schon um die Wende zum 14. Jahrhundert drangen die letzten Schübe der kalifornischen Indianer nach: die ,Azteken 4 . Zunächst gaben sie sich recht bescheiden und waren froh, überhaupt wieder an Wasserquellen sitzen zu dürfen. Allmählich aber erhoben sie ihr Haupt, wurden anmaßend und besitzgierig, und eines Tages stürmten sie Tula, zerstörten es bis auf den Grund und erbauten ihre neue Hauptstadt ,TenochtitIan\ jene Stadt, die dann von den Spaniern erobert wurde. So endeten diese Wanderer aus dem höchsten Norden Nordamerikas nun am Rande der Tropen und wurden wie alle andern Urbewohner Opfer der gleichmachenden europäischen Zivilisation. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky L u x - L e s e b o g e n 262 ( G e s c h i c h t e ) — H e f t p r e i s 25 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) ilurcb jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lui, Murnau, Oberbayern. Seidl-Park. — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth
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