Ortega y Gasset
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN _____________________________________________ Ideas y creencias 1934 I G...
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Ortega y Gasset
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN _____________________________________________ Ideas y creencias 1934 I GLAUBEN UND DENKEN Die Ideen hat man - in den Glaubensgewißheiten lebt man „An die Dinge denken“ und „Mit ihnen rechnen“ Wenn wir einen Menschen, das Leben eines Menschen verstehen wollen, suchen wir uns vor allem ein Bild von seinen Ideen zu machen. Seit der Europäer „historischen Sinn“ zu haben glaubt, ist das die elementarste Forderung. Wie sollte auch die Existenz eines Menschen nicht durch seine Ideen und die Ideen seiner Zeit beeinflußt werden? Der Fall liegt ganz klar. Gewiß; doch ist er zugleich auch recht zweideutig; ja, nach meiner Meinung ist es gerade die ungenügende Klarheit über das, was wir eigentlich im Sinne haben, wenn wir nach den Gedanken eines Menschen — oder einer Epoche — fragen, was uns hindert, uns über sein Leben, über seine Geschichte klarzuwerden. Unter „Ideen eines Menschen“ können wir sehr verschiedene Dinge verstehen, so zum Beispiel die Gedanken, die er sich über dieses oder jenes macht, und diejenigen, die sein Nebenmensch sich macht und die er nachspricht und sich aneignet. Diese Ideen können die verschiedensten Grade von Wahrheit aufweisen und sogar „wissenschaftliche Wahrheiten“ sein, doch bedeuten solche Unterschiede nicht viel für die weit tiefer liegende Frage, die wir jetzt stellen werden. Denn, seien es nun einfache Gedanken des täglichen Lebens oder „wissenschaftliche Theorien“ im strengen Sinne des Wortes, immer wird es sich um Einfälle handeln, die einem Menschen kommen, seine eigenen oder durch den Nebenmenschen ein-
DER UNTERSCHIED ZWISCHEN GLAUBEN UND DENKEN
geflüsterte. Das besagt aber offenbar, daß der Mensch schon da war, ehe ihm der Gedanke kam und er ihn sich zu eigen machte. Dieser Gedanke entsteht, auf die eine oder andere Weise, im Innern eines Lebens, das vor ihm da war. Nun gibt es aber kein menschliches Leben, das nicht von Anfang an auf bestimmte fundamentale Glaubensgewißheiten gegründet und sozusagen auf ihnen errichtet wäre. Leben heißt, es mit etwas zu tun haben — mit der Welt und mit sich selbst. Aber diese Welt und dieses „Selbst“, in dem der Mensch sich vorfindet, erscheinen ihm schon in der Form von Interpretationen, das heißt von „Ideen“ über die Welt und über sich selbst. Hier stoßen wir auf eine andere Schicht von Ideen, die ein Mensch hat, aber wie verschieden von allen jenen, die ihm einfallen oder die er sich zu eigen macht! Diese Grund-„Ideen“, die ich „Glaubensgewißheiten“ nenne — man wird schon sehen warum —, tauchen nicht eines Tages oder zu einer gewissen Stunde innerhalb unseres Lebens auf, wir kommen zu ihnen nicht durch einen besonderen Denkakt; es sind mit einem Wort keine Gedanken, die wir haben, noch sind es Einfälle, nicht einmal von jener durch ihre logische Vollkommenheit ausgezeichneten Art, die wir als wissenschaftliche Erkenntnisse bezeichnen. Ganz im Gegenteil: diese Ideen, die im wahrsten Sinn „Glaubensgewißheiten“ sind, bilden das Festland unseres Lebens und haben darum nicht den Charakter von Einzelinhalten, d. h. es sind nicht Ideen, die wir haben, sondern Ideen, die wir sind. Ja, noch mehr: gerade weil es fundamentale Glaubensgewißheiten sind, vermischen sie sich für uns mit der Wirklichkeit selbst — sie sind unsere Welt und unser Sein — und verlieren dadurch den Charakter von Ideen, von Gedanken, die uns ebensogut nicht hätten einfallen können. Hat man einmal den Unterschied zwischen diesen beiden Schichten von Ideen klar erkannt, so leuchtet die verschiedene Rolle, die sie in unserem Leben spielen, ohne weiteres ein. Und damit auch der enorme Unterschied ihres funktionellen Ranges. Von den Gedanken, die uns einfallen und die wir uns zu eigen machen — und ich wiederhole, daß ich dazu auch die strengsten wissenschaftlichen Erkenntnisse rechne —, können wir sagen, daß wir sie hervorbringen, stützen, erörtern, verbreiten, für sie kämpfen, ja, sogar imstande sind, für sie zu sterben. Was wir aber nicht können, ist . . .
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
aus ihnen leben. Sie sind unser Werk und setzen gerade darum schon unser Leben voraus, das sich auf Glaubensgewißheiten gründet, die wir nicht selbst hervorbringen, über die wir uns im allgemeinen nicht einmal Rechenschaft geben und die wir weder erörtern noch verbreiten, noch unterstützen. Mit den Glaubensgewißheiten tun wir im Grunde überhaupt nichts, wir leben einfach in ihnen. Genau das, was uns niemals mit unseren Einfällen und Vorstellungen geschieht. Die Volkssprache hat mit sicherem Gefühl den Ausdruck „im Glauben sein“ gefunden. Und in der Tat: im Glauben ist man, und einen Gedanken hat man und hält ihn aufrecht. Aber der Glaube ist das, was uns hat und uns aufrechterhält. Es gibt also Ideen, mit denen wir uns begegnen — es sind die Einfälle —, und Ideen, in denen wir uns begegnen, die schon da zu sein scheinen, ehe wir anfingen zu denken. Wenn wir das einmal erkannt haben, überrascht uns, daß die einen wie die ändern in gleicher Weise als Ideen bezeichnet werden. Die Gleichheit der Bezeichnung ist das einzige, was uns hindert, zwei Dinge zu unterscheiden, deren Verschiedenheit uns so klar in die Augen springt, und ohne weiteres die beiden Ausdrücke: Glaubensgewißheiten und Ideen (im Sinne von Einfällen und Vorstellungen) als einander entgegengesetzt zu verwenden. Das ungereimte Verfahren, eine und dieselbe Bezeichnung zwei so verschiedenen Dingen zu verleihen, beruht indes weder auf einem Zufall noch auf einer oberflächlichen Unachtsamkeit. Es kommt von einer viel tiefer liegenden Unachtsamkeit, von der Verwirrung zwischen zwei grundverschiedenen Problemen, die zwei nicht weniger verschiedene Arten des Denkens und des Bezeichnens erfordern. Aber lassen wir jetzt diese Seite der Angelegenheit auf sich beruhen: sie ist zu verworren. Uns genügt es, festzustellen, daß „Idee“ ein Begriff aus dem psychologischen Wortschatz ist und daß die Psychologie, wie jede Einzelwissenschaft, nur untergeordnete Befugnisse besitzt. Die Wahrheit ihrer Begriffe ist durch den besonderen Gesichtspunkt bedingt, der sie feststellt, und gilt nur in dem Horizont, den dieser Gesichtspunkt eröffnet und abgrenzt. Wenn also die Psychologie von etwas sagt, daß es eine „Idee“ sei, so nimmt sie nicht für sich in Anspruch, damit das Entscheidendste, das Wirklichste darüber gesagt zu haben. Der einzige Gesichts-
DIE ZWEITRANGIGKEIT DES GEDACHTEN
punkt, der nicht speziell und relativ ist, ist der des Lebens, aus dem einfachen Grunde, weil alle übrigen sich aus ihm ergeben und nur bloße Besonderheiten von ihm sind. Nun denn: als Lebenserscheinung gleicht die Glaubensgewißheit in nichts dem Einfall und der Vorstellung; ihre Funktion im Organismus unseres Daseins ist grundverschieden und in gewissem Sinn entgegengesetzt. Welche Bedeutung kann im Vergleich damit die Tatsache haben, daß in der psychologischen Perspektive beides „Ideen“ sind und nicht Gefühle, Willensäußerungen und dergleichen! Es empfiehlt sich also, daß wir mit dem Ausdruck „Ideen“ nur all das bezeichnen, was in unserem Leben als Auswirkung unserer geistigen Tätigkeit erscheint. Aber die Glaubensgewißheiten sind von völlig anderer, entgegengesetzter Art. Zu ihnen kommen wir nicht durch eine Verstandestätigkeit; sie wirken vielmehr schon in unserem innersten Grunde, wenn wir beginnen, über etwas nachzudenken. Aus diesem Grunde pflegen wir auch nicht ausdrücklich von ihnen zu sprechen, sondern begnügen uns damit, auf sie anzuspielen, wie wir das mit allem zu tun pflegen, was für uns die Wirklichkeit selbst ist. Die Theorien dagegen, auch die wahrhaftigsten, existieren nur, während sie gedacht werden: darum müssen sie auch in eine bestimmte Form gebracht werden. Hieraus ergibt sich ohne weiteres, daß alles, worüber wir nachdenken, für uns ipso facto von problematischer Wirklichkeit ist und in unserem Leben nur einen zweitrangigen Platz einnimmt, wenn wir es mit unseren echten Glaubensgewißheiten vergleichen. An diese denken wir weder jetzt noch später: unsere Beziehung zu ihnen besteht in etwas sehr viel Wirksamerem: sie besteht darin, daß wir mit ihnen rechnen, immer ohne Unterbrechung. Diese Gegenüberstellung von „an eine Sache denken“ und „mit ihr rechnen“ erscheint mir von außerordentlicher Wichtigkeit, wenn wir Klarheit in die Struktur unseres menschlichen Lebens bringen wollen. Der Intellektualismus, der die ganze Vergangenheit der Philosophie fast ununterbrochen tyrannisierte, hat verhindert, daß wir uns diesen Unterschied klargemacht haben und hat sogar den Wert der beiden Begriffe in ihr Gegenteil verkehrt. Ich will mich deutlicher erklären: Der Leser vergegenwärtige sich einmal irgendeine seiner Verhaltensweisen, auch die scheinbar einfachste. Er befindet sich in sei-
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
nem Haus und entschließt sich, aus diesem oder jenem Grunde, auf die Straße zu gehen. Was kann nun in diesem seinem ganzen Verhalten in Wirklichkeit als gedacht bezeichnet werden, selbst wenn wir dieses Wort in seinem weitesten Sinn verstehen, das heißt als klares und gegenwärtiges Bewußtsein von etwas? Der Leser hat sich Rechenschaft über seine Motive gegeben, über den gefaßten Entschluß, über die Ausführung der Bewegungen, mittels deren er die Türe geöffnet hat und auf die Straße hinabgegangen ist. All das denkt er im günstigsten Fall. Nun aber: auch in diesem günstigsten Fall und so sehr er auch in seinem Gedächtnis nachforscht, wird er in ihm keinen Gedanken entdecken, durch den er festgestellt hätte, daß „es eine Straße gibt“. Der Leser hat sich keinen Augenblick die Frage gestellt, ob sie da sei oder nicht. Warum nicht? Wir werden nicht leugnen können, daß es für den Entschluß, auf die Straße hinabzugehen, von einiger Wichtigkeit ist, daß die Straße existiert. In Wirklichkeit ist es sogar das Wichtigste von allem, die Voraussetzung für alles Weitere. Und trotzdem hat sich der Leser gerade mit diesem so wichtigen Faktum überhaupt nicht befaßt, er hat gar nicht daran gedacht, weder um es zu leugnen, noch um es zu bestätigen, noch um es in Zweifel zu ziehen. Soll das heißen, daß das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der Straße ohne Bedeutung für sein Verhalten gewesen wäre? Offenbar nicht! Denn wenn er an der Tür seines Hauses entdeckte, daß die Straße verschwunden wäre, daß die Erde an der Schwelle seines Hauses endete oder daß sich vor ihm ein Abgrund aufgetan hätte, würde ihm eine heftige Überraschung bewußt werden. Worüber? Darüber, daß die Straße nicht da ist. Aber sind wir nicht darin übereingekommen, daß er zuvor gar nicht daran gedacht hatte, daß sie da sei, noch sich überhaupt eine Frage nach ihr gestellt hatte? Diese Überraschung zeigt deutlich, bis zu welchem Grad die Existenz der Straße in seinem früheren Zustand und Verhalten wirksam war, das heißt wie weit der Leser mit ihr rechnete, auch wenn er nicht an sie dachte, ja, gerade weil er nicht an sie dachte. Der Psychologe wird uns sagen, daß es sich hier um ein gewohnheitsmäßiges Denken handle, von dem wir uns keine Rechenschaft mehr geben, oder er wird die Hypothese des Unterbewußten ins Feld führen usw. All dies, was übrigens sehr fragwürdig ist, bleibt
DER IRRTUM DES INTELLEKTUALISMUS
aber schließlich für unseren Fall vollständig außer Betracht. Denn immer wird die Tatsache bestehen bleiben, daß das, was entscheidend in unserem Verhalten mitwirkte, da es seine Grundvoraussetzung war, von uns nicht mit klarem Bewußtsein gedacht worden war. Es war in uns, aber nicht in bewußter Form, sondern auf verborgene Weise in unser Bewußtsein und unser Denken einbezogen. Nun denn: wenn etwas auf diese Weise in unserem Leben mitwirkt, ohne daß wir es denken, nenne ich es „mit ihm rechnen“. Und diese Weise ist das Eigentümliche der in uns wirkenden Glaubensgewißheiten. Ich sagte, daß der Intellektualismus den Wert und die Bedeutung der beiden Begriffe in ihr Gegenteil verkehre. Nun wird der Sinn dieser Anschuldigung klar. Der Intellektualismus neigt in der Tat dazu, das am klarsten Bewußte als das Wirksamste in unserem Leben zu betrachten. Jetzt sehen wir aber, daß die Wahrheit gerade in der entgegengesetzten Richtung liegt. Die stärkste Wirkung auf unser Verhalten übt das aus, was in unserer geistigen Tätigkeit verborgen eingeschlossen ist, all das, womit wir rechnen und woran wir, weil wir mit ihm rechnen, nicht denken. Erkennen wir nun den ungeheuren Irrtum, den man beging, als man das Leben eines Menschen oder einer Epoche aus seinem Ideengehalt, das heißt aus seinen besonderen Ideen, erklären wollte, statt daß man viel tiefer bis in die Schicht seiner mehr oder weniger ausgesprochenen Glaubensgewißheiten vorgedrungen wäre, bis dahin, wo die Dinge sind, mit denen man rechnet? Wenn man das unternähme und seine Aufmerksamkeit auf die Gesamtheit der Dinge richtete, mit denen man rechnet, würde man in Wahrheit die Geschichte der Menschheit aufrollen und das Leben aus seinen Untergründen aufhellen. Die Beklemmungen unserer Epoche — Wir glauben an die Vernunft und nicht an ihre Ideen — Die Wissenschaft als Poesie Ich fasse zusammen: Wenn wir versuchen, uns ein Bild von den Ideen eines Menschen oder einer Epoche zu machen, pflegen wir zwei grundverschiedene Dinge miteinander zu vermengen: seine
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
Glaubensgewißheiten und seine Vorstellungen oder „Gedanken“. In Wirklichkeit dürfen nur diese letzteren „Ideen“ genannt werden. Die Glaubensgewißheiten bilden das Fundament unseres Lebens, den Schauplatz, auf dem es sich abspielt. Denn sie stellen uns vor das, was für uns die Wirklichkeit selbst ist. Unser ganzes Verhalten, einschließlich des intellektuellen, hängt davon ab, wie das System unserer echten Glaubensgewißheiten beschaffen ist. In ihnen „leben wir, in ihnen bewegen wir uns und sind“. Und gerade darum pflegen wir kein ausgesprochenes Bewußtsein von ihnen zu haben, wir denken sie nicht, sie wirken vielmehr verborgen und einbezogen in alles, was wir bewußt tun und denken. Wenn wir wahrhaft an etwas glauben, haben wir nicht die „Idee“ dieser Sache, sondern „rechnen einfach mit ihr“. Die Ideen dagegen, das heißt die Vorstellungen, die wir von den Dingen haben, seien es eigene oder entlehnte, besitzen in unserem Leben keinen Wirklichkeitswert. Sie wirken in ihm genau wie unsere Gedanken und nur als solche. Das bedeutet, daß unser ganzes „intellektuelles Leben“ unserem wirklichen und echten Leben nachgeordnet ist und in ihm nur eine virtuelle, imaginäre Dimension darstellt. Man wird fragen, was dann die Wahrheit der Ideen, der Theorien bedeutet. Ich antworte: Die Wahrheit oder Falschheit einer Idee ist eine „innerpolitische“ Angelegenheit innerhalb der eingebildeten Welt unserer Ideen. Eine Idee ist für uns wahr, wenn sie der Idee entspricht, die wir von der Wirklichkeit haben. Aber unsere Idee von der Wirklichkeit ist nicht unsere Wirklichkeit. Diese besteht aus all dem, womit wir im Leben tatsächlich rechnen. Nun denn: von den meisten Dingen, mit denen wir tatsächlich rechnen, haben wir nicht die geringste Idee, und wenn wir sie haben — vermöge einer besonderen Anstrengung des Nachdenkens über uns selbst —, so macht das keinen Unterschied, weil sie nicht als Idee Wirklichkeit für uns ist, sondern im Gegenteil nur in dem Maße Wirklichkeit ist, in dem sie für uns nicht nur Idee, sondern eine vor allem Denken vorhandene Glaubensgewißheit ist. Vielleicht gäbe es für unser Zeitalter nichts Wichtigeres, als Klarheit darüber zu erlangen, welche Rolle und welche Stellung im menschlichen Leben allem Intellektuellen zukommt. Es gibt Zeit-
WIR WISSEN MIT DEN IDEEN NICHTS MEHR ANZUFANGEN
alter, die durch eine besondere in ihnen herrschende Beklemmung gekennzeichnet sind. Zu diesen gehört auch das unsrige. Aber jedes dieser Zeitalter ängstigt sich ein wenig anders und aus verschiedenem Grunde. Die große Beklemmung von heute erhält ihre Nahrung letztlich daraus, daß der Mensch nach mehreren Jahrhunderten üppigster und mit größter Aufmerksamkeit verfolgter geistiger Produktion auf einmal nicht mehr weiß, was er mit den Ideen anfangen soll. Er ahnt wohl, daß er sie mißverstanden hat, daß ihre Rolle im Leben eine ganz andere ist, als sie ihnen in den letzten Jahrhunderten zugeschrieben wurde, aber was ihre wahre Aufgabe ist, weiß er noch nicht. Darum ist es von besonderer Wichtigkeit, daß wir vor allem lernen, das „intellektuelle Leben“ — das offenbar kein eigentliches Leben ist — reinlich zu scheiden von dem lebendigen, dem wirklichen Leben, von dem, was wir sind. Haben wir das getan und richtig getan, wird der Augenblick gekommen sein, um die beiden weiteren Fragen zu stellen: In welcher Wechselbeziehung wirken die Ideen und die Glaubensgewißheiten? Woher kommen, wie bilden sich die Glaubensgewißheiten? In einem früheren Abschnitt sagte ich, daß es irreführend wirken mußte, wenn man die Bezeichnung „Ideen“ unterschiedslos den Glaubensgewißheiten und den Einfällen gab. Nun füge ich hinzu, daß es gleich schädlich wirken muß, wenn man von Glaubensgewißheiten, Überzeugungen usw. spricht und es sich nur um Ideen handelt. Es ist in der Tat zweideutig, von „glauben“ zu reden, wenn irgendeine Gedankenverbindung in unserem Geist Zustimmung hervorruft. Nehmen wir den extremen Fall, den des wissenschaftlichen Denkens, eines Denkens also, das sich auf Evidenzen gründet. Nun, auch in diesem Fall kann man nicht ernstlich von Glaubensgewißheiten sprechen. Das Evidente, so evident es auch sei, ist für uns keine Wirklichkeit, wir glauben nicht daran. Unser Geist muß zwar seine Wahrheit anerkennen; seine Zustimmung ist aber automatisch, mechanisch. Aber, wohlverstanden, diese Zustimmung, diese Anerkennung der Wahrheit bedeutet nur, daß, wenn wir über den Fall nachdenken, wir keinen andern und von der Evidenz abweichenden Gedanken mehr zulassen werden. Aber . . . siehe da: Die Zustimmung des Verstandes setzt als Bedingung voraus, daß wir beginnen, über den Fall nachzudenken, daß wir den-
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
ken wollen. Das genügt, um die wesenhafte Unwirklichkeit unseres ganzen „intellektuellen Lebens“ an den Tag zu bringen. Unsere Zustimmung zu einem Gedanken mag, ich wiederhole es, unumgänglich sein; aber da es in unserer Hand liegt, ihn zu denken oder auch nicht zu denken, verwandelt sich diese so unumgängliche Zustimmung, die sich uns als höchst gebieterische Wirklichkeit aufdrängt, in etwas von unserem Willen Abhängiges und hört damit ipso facto auf, Wirklichkeit für uns zu sein. Denn Wirklichkeit ist gerade das, womit wir rechnen müssen, ob wir wollen oder nicht. Wirklichkeit ist der Gegenwille, das, was wir nicht selbst setzen, sondern im Gegenteil das, worauf wir stoßen. Darüber hinaus hat der Mensch ein klares Bewußtsein davon, daß sein Verstand sich nur mit fragwürdigen Dingen befaßt, daß die Wahrheit der Ideen sich aus dieser ihrer Fragwürdigkeit ernährt. Darum liegt diese Wahrheit in dem Beweis, den wir uns bemühen, von ihr zu geben. Die Idee braucht die Kritik wie die Lunge den Sauerstoff. Sie hält und befestigt sich, indem sie sich auf andere Ideen stützt, die ihrerseits auf wieder anderen beruhen und so ein Ganzes oder ein System bilden. Sie errichten also eine Welt neben der wirklichen Welt, eine ausschließlich aus Ideen gebildete Welt, von der der Mensch weiß, daß er sie erschaffen hat und für die er verantwortlich ist. So daß die Verläßlichkeit der zuverlässigsten Idee sich auf den Grad verringert, in dem sie den Zusammenhang mit allen übrigen Ideen aufrechterhält und erträgt. Nichts weniger, aber auch nichts mehr. Man kann eben den Feingehalt einer Idee nicht wie den einer Münze untersuchen, indem man sie gegen die Wirklichkeit wie gegen einen Probierstein streicht. Die höchste Wahrheit ist die des Evidenten, aber der Wert der Evidenz selbst ist seinerseits bloße Theorie, Idee und geistige Kombination. Zwischen uns und unseren Ideen liegt also immer eine unüberbrückbare Distanz: die zwischen dem Wirklichen und dem Eingebildeten. Dagegen sind wir mit unseren Glaubensgewißheiten untrennbar verbunden. Darum können wir auch sagen, daß wir sie sind. Gegenüber unseren Gedanken genießen wir einen mehr oder weniger großen Spielraum von Unabhängigkeit. So groß auch ihr Einfluß auf unser Leben sein mag, so können wir sie doch immer wieder ausschalten und uns von unseren Theorien frei machen. Ja, noch mehr: in Wirklichkeit erfordert es von uns immer
DER VERNUNFTGLAUBE DES MODERNEN MENSCHEN
eine besondere Anstrengung, uns so zu verhalten, wie wir denken, das heißt dieses Denken vollständig ernst zu nehmen. Das offenbart, daß wir nicht wirklich daran glauben, daß wir es als ein ausgesprochenes Wagnis empfinden, uns auf unsere Ideen so weit zu verlassen, daß wir ihnen unser Verhalten ausliefern, indem wir sie behandeln, als ob sie Glaubensgewißheiten wären. Wir würden sonst nicht das konsequente „Seinen-Ideen-getreu“-leben als besonders heldenhaft preisen. Indessen kann nicht geleugnet werden, daß wir unser Verhalten normalerweise nach vielen „wissenschaftlichen Wahrheiten“ richten. Ohne es als heldenhaft zu betrachten, lassen wir uns impfen, führen wir Handlungen aus und wenden Werkzeuge an, die uns im Grunde gefährlich erscheinen und deren Sicherheit nur durch die Sicherheit der Wissenschaft selbst verbürgt ist. Die Erklärung hierfür ist sehr einfach und kann übrigens dazu dienen, dem Leser einige Schwierigkeiten aufzuhellen, die ihm schon seit dem Beginn dieser Untersuchung aufgestoßen sein werden. Wir brauchen uns nur zu vergegenwärtigen, daß eine der wichtigsten unter den Glaubensgewißheiten des modernen Menschen sein Glaube an die „Vernunft“, an die Intelligenz ist. Die Veränderungen, die dieser Glaube in den letzten Jahren erfahren hat, wollen wir jetzt nicht näher untersuchen. Seien sie, wie sie wollen, unbestreitbar ist jedenfalls, daß dieser Glaube im wesentlichen noch weiter besteht, das heißt, daß der Mensch fortfährt, mit der Wirksamkeit seines Verstandes als mit einer der Wirklichkeiten zu rechnen, die es gibt und die sein Leben ausmachen. Wenn wir den Fall aber in aller Gemütsruhe betrachten, so werden wir bemerken, daß der Glaube an die menschliche Intelligenz etwas anderes ist als der Glaube an bestimmte Ideen, die diese Intelligenz hervorbringt. An keine dieser Ideen glauben wir unmittelbar. Dieser Glaube richtet sich auf das Faktum Intelligenz in seiner Allgemeinheit, und dieser Glaube ist keine Idee über die Intelligenz. Man vergleiche nur die Sicherheit dieses Glaubens an die Intelligenz mit der unklaren Idee, die fast alle Menschen von der Intelligenz haben. Da diese übrigens ihre Vorstellungen unaufhörlich korrigiert und der Wahrheit von gestern die von heute überordnet, müßte die dauernde Veränderung der Theorien den Verlust unseres Glaubens an die Intelligenz nach sich ziehen, wenn dieser Glaube darin bestünde, daß er un-
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
mittelbar an die Ideen glaubte. Nun, gerade das Gegenteil geschieht. Unser Glaube an die Vernunft hat die skandalösesten Wandlungen ihrer Theorien, samt den tiefgehenden Veränderungen der Theorien über die Vernunft selbst, unerschüttert überstanden. Diese letzteren haben zweifellos die Formen dieses Glaubens beeinflußt, aber der Glaube selbst wirkte unter der einen oder ändern Form unbeirrt weiter. Hier haben wir ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, was den Historiker vor allem ändern interessieren wird, wenn die Geschichtsschreibung sich in Wahrheit entschließt, Wissenschaft, die Wissenschaft vom Menschen zu werden. Statt sich darauf zu beschränken, die Geschichte der Ideen über die Vernunft von Descartes bis zur Gegenwart aufzuzeichnen, das heißt ihre zeitliche Aufeinanderfolge festzustellen, wird er es sich angelegen sein lassen, mit aller Genauigkeit zu erforschen, von welcher Art der Glaube an die Vernunft war, der in jeder Epoche tatsächlich wirksam war, und welches seine Konsequenzen für das Leben waren. Denn es ist klar, daß die Schlußfolgerung für das Drama, aus dem das Leben besteht, eine andere ist, wenn sie von dem Glauben ausgeht, daß ein allmächtiger und gütiger Gott existiert, als wenn sie auf dem gegenteiligen Glauben beruht. Und ebenso, wenn auch vielleicht in geringerem Maße, ist das Leben dessen, der an die unbegrenzte Fähigkeit der Vernunft glaubt, die Wirklichkeit zu entdecken, wie man das gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich glaubte, anders als das Leben dessen, der wie die Positivisten um 1860 glaubt, die Vernunft sei ihrem Wesen nach eine relative Erkenntnis. Eine solche Untersuchung würde uns gestatten, mit aller Deutlichkeit die Wandlungen zu erkennen, die unser Glaube an die Vernunft während der letzten zwanzig Jahre durchgemacht hat, und das wiederum würde ein überraschendes Licht auf fast alle die sonderbaren Dinge werfen, die sich in unserer Zeit abspielen. Aber im Augenblick geht es mir nur darum, dem Leser vor Augen zu führen, welcher Art unsere Beziehung zu den Ideen, zu der intellektuellen Welt ist. Diese Beziehung ist kein Glaube: die Inhalte unserer Gedanken und Theorien sind für uns keine Wirklichkeit, sondern nur . . . Ideen. Der Leser wird nicht recht verstehen, was etwas für uns ist, wenn es nur eine Idee und keine Wirklichkeit für uns ist, wenn ich ihm
DIE WISSENSCHAFT MUSS AN DIE POESIE HERANGERÜCKT WERDEN
nicht nahelege, sich einmal die Haltung zu vergegenwärtigen, die er „Phantasien“ und „Einbildungen“ gegenüber einnimmt. Aber die Welt der Phantasie, der Einbildung ist doch die Poesie! Gewiß, ich schrecke davor keineswegs zurück: im Gegenteil, gerade dahin wollte ich kommen. Um uns klarzumachen, was die Ideen für uns sind, welche Rolle sie im Leben spielen, müssen wir den herzhaften Entschluß fassen, die Wissenschaft viel näher an die Poesie heranzurücken, als man das bisher gewagt hat. Ich möchte sogar sagen — wenn man mich nach meinen bisherigen Ausführungen richtig verstehen will —, daß die Wissenschaft der Poesie viel näher steht als der Wirklichkeit, daß ihre Funktion im Organismus des Lebens sehr derjenigen der Poesie gleicht. Mit einem Roman verglichen, erscheint die Wissenschaft zweifellos als die Wirklichkeit selber. Aber beim Vergleich mit der echten Wirklichkeit zeigt es sich, daß die Wissenschaft viel vom Roman, von der Phantasie, von der geistigen Konstruktion, vom Phantasiegebilde hat. Der Zweifel und der Glaube — Das „Meer von Zweifeln“ — Der Ort der Ideen Der Mensch ist im Grunde gläubig, oder was das gleiche ist: die tiefste Schicht unseres Lebens, die alle übrigen stützt und trägt, ist aus Glaubensgewißheiten gebildet1. Diese sind also die feste Erde, auf der wir uns abmühen. (Nebenbei sei bemerkt, daß diese Metapher selbst ihren Ursprung in einer der elementarsten Glaubensgewißheiten hat, die wir besitzen und ohne die wir vielleicht nicht leben könnten: die Glaubensgewißheit, daß die Erde fest ist, trotz den Erdbeben, die manchmal an ihrer Oberfläche auftreten. Man stelle sich vor, daß diese Glaubensgewißheit aus dem einen oder ändern Grunde einmal verschwände. Die radikale Wandlung, die dieses Verschwinden in der Gestaltung des menschlichen Lebens hervorrufen würde, in ihren Hauptzügen zu beschreiben, wäre eine ausgezeichnete Übung zur Einführung in das historische Denken.)
1
Wir lassen dabei die Frage unberührt, ob unter dieser tiefsten Schicht nicht noch etwas anderes ist, ein metaphysischer Grund, den nicht einmal unsere Glaubensgewißheiten erreichen.
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
Aber in dieser Grundschicht unserer Glaubensgewißheiten tun sich da und dort, wie Bodenluken, ungeheure Hohlräume des Zweifels auf. Der Augenblick ist günstig, um auszusprechen, daß der Zweifel, der wirkliche Zweifel, der nicht einfach methodischer oder intellektueller Herkunft ist, eine Form des Glaubens darstellt und der nämlichen Schicht in der Architektur des Lebens angehört. Auch im Zweifel lebt man. Nur hat in diesem Fall das Leben einen beängstigenden Charakter. Im Zweifel lebt man wie in einem Abgrund, das heißt im Zustand des Fallens. Er ist daher die Verneinung der Festigkeit. Wir spüren plötzlich, daß unter unseren Füßen die feste Erde nachgibt, und wir scheinen zu fallen, ins Bodenlose zu fallen, ohne uns dagegen wehren, ohne etwas tun zu können, um uns festzuhalten, um zu leben. Es ist wie der Tod im Leben, wie die Teilnahme an der Vernichtung unseres eigenen Daseins. Trotz alledem bewahrt der Zweifel aus seiner Verwandtschaft mit der Glaubensgewißheit den Charakter, etwas zu sein, in dem man lebt, das heißt etwas, das wir nicht selbst schaffen oder festsetzen. Er ist keine Idee, die wir denken oder auch nicht denken, vertreten, kritisieren oder genauer präzisieren könnten, sondern wir sind auf eine absolute Art in ihm selbst. Man halte es für kein Paradoxon, aber es fällt mir sehr schwer, zu beschreiben, was der echte Zweifel ist, wenn ich nicht sage, daß wir an unseren Zweifel glauben. Ware das nicht so, zweifelten wir an unserem Zweifel, so wäre das nicht weiter schlimm. Das Furchtbare ist aber, daß er in unserm Leben genau dasselbe bewirkt wie die Glaubensgewißheit und daß er der gleichen Schicht angehört wie diese. Der Unterschied zwischen dem Glauben und dem Zweifel besteht also nicht im „glauben“. Der Zweifel ist kein „nicht glauben“ gegenüber dem „glauben“, noch ist er ein „nein glauben“ gegenüber einem „ja glauben“. Der Unterschied liegt in dem, was man glaubt. Der Glaube glaubt, daß Gott existiert oder daß Gott nicht existiert. Er versetzt uns also in eine „positive“ oder „negative“, jedenfalls aber unzweideutige Wirklichkeit, und darum fühlen wir uns in ihm auf festem Boden. Was uns im Wege steht, die Rolle des Zweifels in unserm Leben richtig zu verstehen, ist die Annahme, daß er uns nicht vor eine Wirklichkeit stelle. Und dieser Irrtum rührt wiederum davon her, daß man nicht erkannt hat, wieviel der Zweifel mit dem Glauben
DIE ROLLE DES ZWEIFELS
gemein hat. Es wäre viel bequemer, wenn es genügte, an etwas zu zweifeln, um es vor uns als Wirklichkeit verschwinden zu lassen. Das ist aber nicht der Fall, der Zweifel wirft uns vielmehr vor das Zweifelhafte, vor eine Wirklichkeit, die ebensosehr Wirklichkeit ist wie die auf die Glaubensgewißheit gegründete, nur ist sie zweideutig, zwitterhaft, unsicher, und wir wissen nicht, wie wir uns ihr gegenüber verhalten und was wir tun sollen. Kurz: der Zweifel heißt leben im Unsicheren als solchem, er ist das Leben im Augenblick des Erdbebens, eines ununterbrochenen und unaufhörlichen Erdbebens. Über diesen Punkt, wie über so viele andere des menschlichen Lebens, gibt uns die volkstümliche Sprache besseren Aufschluß als das wissenschaftliche Denken. Die Denker haben, so unglaublich es klingt, diese Grundwirklichkeit stets unbeachtet gelassen und ihr den Rücken gekehrt. Der einfache Mann dagegen, der kein Denker ist, aber auf das Entscheidende besser achtet, hat seine eigene Existenz mit scharfem Blick ins Auge gefaßt und hat das Ergebnis des Geschauten in seiner ihm geläufigen Sprache niedergelegt. Wir vergessen zu leicht, daß in der Sprache bereits eine Art von Weltanschauung zum Ausdruck kommt. Wenn wir sie als Mittel zur Wiedergabe komplizierter ideologischer Zusammenhänge verwenden, nehmen wir die ursprüngliche Ideologie nicht ernst, die aus ihr spricht und die sie darstellt. Wenn wir dagegen zufällig einmal nicht genau auf das achten, was wir mittels der stehenden Wendungen der Sprache sagen wollen, sondern auf das horchen, was sie uns selbst sagen, so überrascht uns ihre Schärfe, ihr scharfsinniges Erfassen der Wirklichkeit. Alle volkstümlichen Wendungen, die sich mit dem Zweifel befassen, bringen zum Ausdruck, daß der Mensch sich in ihm wie in einem unbeständigen, unfesten Element untergetaucht fühlt. Das Zweifelhafte empfindet er wie eine fließende Wirklichkeit, in der er sich nicht halten kann und darum untergeht. Daher der Ausdruck: „sich in einem Meer von Zweifeln befinden“. Das ist das Gegenbild zu dem Element der Glaubensgewißheiten: die feste Erde. Und im gleichen Bilde bleibend, spricht man vom Zweifel wie von einem Hin- und Herschwanken und einem Wogen der Wellen. Offenbar wird die Welt des Zweifels als eine Meereslandschaft empfunden und flößt dem Menschen Vorstellungen und
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
Empfindungen eines Schiffbruchs ein. Der als ein Hin- und Herschwanken beschriebene Zweifel läßt uns aber auch erkennen, bis zu welchem Grade er Glaube ist. Er ist es so sehr, daß er aus einer Art Überschwängerung des Glaubens besteht. Wir zweifeln, weil wir uns in zwei widersprechenden Glaubensgewißheiten befinden, die gegeneinander andrängen, uns von der einen zur anderen werfen und uns den Boden unter den Füßen verlieren lassen. Die „Zweiheit“ kommt ganz klar zum Ausdruck in dem „Zwei“ des Zweifels. Wenn der Mensch fühlt, wie er in diese Abgründe stürzt, die sich in dem festen Grunde seiner Glaubensgewißheiten auftun, setzt er sich energisch zur Wehr. Er bemüht sich, aus dem Zweifel herauszukommen; aber wie? Das Charakteristische am Zweifelhaften ist ja gerade, daß wir ihm gegenüber nicht wissen, was wir tun sollen. Was werden wir also tun, wenn das, was uns geschieht, genau das ist, daß wir nicht wissen, was wir tun sollen, weil die Welt — versteht sich, ein Teil von ihr — sich als zweideutig darstellt? In dieser Lage übt der Mensch eine seltsame Tätigkeit aus, die fast keine zu sein scheint: er beginnt zu denken. Über eine Sache nachzudenken, ist das Geringste, was wir mit ihr tun können. Wir brauchen sie nicht zu berühren, wir brauchen uns dazu kaum zu bewegen. Wenn alles um uns her versagt, bleibt uns trotzdem noch diese Möglichkeit, über das, was uns fehlt, nachzudenken. Der Verstand ist das nächstliegende Werkzeug, mit dem der Mensch rechnen kann. Er ist ihm stets zur Hand. Solange er glaubt, pflegt er ihn nicht zu gebrauchen, weil das Denken eine mühsame Anstrengung ist. Aber wenn er in Zweifel gerät, greift er nach ihm wie nach einem Rettungsring.# Die Lücken in unseren Glaubensgewißheiten sind also der Lebensraum, in dem die Ideen sich entfalten können. Bei ihnen handelt es sich immer darum, die unsichere zweideutige Welt des Zweifels durch eine Welt zu ersetzen, in der die Zweideutigkeit verschwindet. Wie erreicht man das? Indem man eingebildete Welten erfindet; die Idee ist Einbildung und Erfindung. Dem Menschen ist keine schon vorherbestimmte Welt gegeben. Nur die Leiden und Freuden seines Lebens sind ihm gegeben. Durch sie geleitet, muß er die Welt erfinden. Ihren größten Teil hat er von seinen Vorfahren geerbt; er wirkt in seinem Leben als ein System fester Glaubens-
NUR DAS EINGEBILDETE KANN EXAKT SEIN
gewißheiten. Aber mit allem Zweifelhaften, mit allem, was fraglich ist, muß er selbst zurechtkommen. Zu diesem Zweck entwirft er eingebildete Formen von Welten und von seinem möglichen Verhalten in ihnen. Unter ihnen erscheint ihm eine — von der Idee aus betrachtet — als die sicherste, und diese nennt er Wahrheit. Aber, man beachte wohl: das Wahre, und auch das vom wissenschaftlichen Standpunkt aus Wahre, ist nur ein Sonderfall des Eingebildeten. Es gibt exakte Einbildungen. Ja, noch mehr: nur das Eingebildete kann exakt sein. Man kann den Menschen nicht richtig verstehen, wenn man nicht erkennt, daß die Mathematik aus derselben Wurzel entspringt wie die Poesie, aus der Gabe der Einbildung. II DIE INNEREN WELTEN Die Lächerlichkeit des Philosophen — Die „Autopanne“ und die Geschichte — Noch einmal „Ideen und Glaubensgewißheiten“ Es geht jetzt darum, daß die zeitgenössischen Geister sich darüber klarwerden, was vielleicht die tiefste Wurzel unserer gegenwärtigen Ängste und Leiden ist, das heißt, daß nach mehreren Jahrhunderten ununterbrochener und fruchtbarster geistiger Arbeit und, nachdem man alles von ihr erhofft hatte, der Mensch anfängt, nicht mehr zu wissen, was er von den Ideen halten soll. Er wagt es nicht, sich ohne weiteres und radikal von ihnen abzuwenden, weil er im Grunde noch glaubt, daß die Verstandesfunktion etwas Wunderbares sei. Aber gleichzeitig steht er unter dem Eindruck, daß die Rolle und der Rang, die allem Geistigen im menschlichen Leben zukommen, nicht mehr die gleichen sind, die ihm in den letzten drei Jahrhunderten zugeschrieben wurden. Aber was soll diese Rolle sein? Das eben ist die Frage. Wenn man diese Ängste und Nöte der Zeit, in der wir leben, in ihrer ganzen unerbittlichen Unmittelbarkeit erleidet, könnte es auf den ersten Blick lächerlich erscheinen, zu sagen, daß sie ihren Ursprung und ihre Wurzel in einer so abstrakten und rein gei-
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
stigen Angelegenheit, wie es die Einschätzung des Geistigen ist, hätten. Mit ihr verglichen, zeigt das furchterregende Antlitz unserer Leiden — Wirtschaftskrisen, Kriege und Mordtaten, Verdruß und Verzweiflung — keinerlei Ähnlichkeit. Dem möchte ich nur zwei Überlegungen entgegenhalten. Die eine: daß ich noch niemals gesehen habe, daß die Wurzel einer Pflanze ihrer Blüte oder ihrer Frucht gliche. Wahrscheinlich ist es sogar die Eigentümlichkeit jeder Ursache, daß sie in nichts ihrer Wirkung gleicht. Das Gegenteil zu glauben, hieße, in den Irrtum verfallen, den man durch die magische Weltdeutung begeht. Zweitens gibt es gewisse Lächerlichkeiten, die gesagt werden müssen, und dafür ist der Philosoph da. Plato wenigstens erklärte wörtlich im tiefsten Ernst und in feierlichstem Zusammenhang, daß es die Bestimmung des Philosophen sei, lächerlich zu wirken (vergleiche den Parmenides-Dialog). Man glaube aber nicht, daß das eine so leicht zu erfüllende Aufgabe sei. Sie verlangt eine Art von Unerschrockenheit, die den großen Kriegern und den wildesten Revolutionären in der Regel abging. Diese und jene pflegten ziemlich eitle Leute zu sein, und sie bekamen es mit der Angst zu tun, wenn es sich einfach darum handelte, lächerlich zu wirken. Darum stünde es der Menschheit wohl an, sich die besondere Art des philosophischen Heroismus zunutze zu machen. Wir können nicht leben, ohne eine letzte Instanz über uns anzuerkennen, deren Wirken und Walten wir spüren. Ihr legen wir alle unsere Zweifel und Streitfälle wie einem obersten Gericht vor. In den letzten Jahrhunderten waren es die Ideen oder das, was man die „Vernunft“ zu nennen pflegte, die diese über alles erhabene Instanz darstellte. Heute ist dieser Glaube an die Vernunft ins Wanken gekommen, er ist vernebelt, und da er unser ganzes übriges Leben trägt, können wir weder leben noch zusammenleben. Denn nirgends zeigt sich am Horizont ein anderer Glaube, der ihn ersetzen könnte. Daher dieses Gefühl des Entwurzeltseins, von dem unser ganzes Dasein durchdrungen ist, und diese Empfindung, als ob wir fielen, in eine bodenlose Leere fielen und, so verzweifelt wir auch mit den Armen um uns schlagen, nichts finden, woran wir uns festhalten könnten. Nun: es ist nicht möglich, daß ein Glaube stirbt, es sei denn, daß ein neuer geboren würde, aus dem gleichen Grunde, wie es unmöglich ist, einen Irr-
DAS GEFÜHL DER ENTWURZELUNG
tum einzusehen, ohne daß man sich ipso facto auf dem Boden einer neuen Wahrheit wiederfände. Es dürfte sich also nur um eine Art Erkrankung des Glaubens an die Vernunft handeln, aber nicht um seinen Tod. Sorgen wir also für seine Wiedergenesung! Der Leser möge sich einmal an das kleine Drama erinnern, das sich in seinem Alltagsleben abspielte, als ihm auf einer Autofahrt eine Panne zustieß und er nichts von dem Mechanismus seines Wagens verstand. Erster Akt: Der Vorfall ist für die Fortsetzung der Reise von absoluter Bedeutung, denn das Auto ist stehengeblieben, und zwar nicht nur ein wenig, sondern ganz und gar. Da er die Teile nicht kennt, aus denen sich das Auto zusammensetzt, ist dieses für ihn ein unteilbares Ganzes. Wenn etwas in ihm in Unordnung ist, so heißt das, daß es völlig in Unordnung ist. Darum sucht der Laienverstand für die absolute Tatsache des Stillstands des Wagens eine ebenso absolute Ursache, und jede Panne erscheint ihm zunächst als endgültig und hoffnungslos. Verzweiflung, tragische Gebärden! „Wir werden die Nacht hier verbringen müssen.“ Zweiter Akt: Der Mechaniker tritt mit überraschender Gemütsruhe an den Motor heran. Er macht sich an der einen oder anderen Schraube zu schaffen. Er setzt sich ans Steuer. Und siehe da! Der Wagen fährt siegessicher und wie neugeboren an. Jubel, Gefühl der Errettung. Dritter Akt: In den Strom von Freude, der uns überflutet, mischt sich eine schwache, aber peinliche Empfindung: ein gewisses Gefühl der Beschämung. Es dämmert uns, daß unsere erste Fassungslosigkeit ganz unüberlegt und etwas kindisch war. Wie konnten wir vergessen, daß eine Maschine ein Gefüge aus vielen Einzelteilen ist und daß die geringste Störung in einem dieser Teile ihren völligen Stillstand zur Folge haben kann? Es wird uns klar, daß die absolute Tatsache des Stillstands nicht notwendigerweise eine ebenso absolute Ursache haben muß, sondern daß vielleicht ein kleiner Eingriff genügt, um den Mechanismus wieder in Ordnung zu bringen. Mit einem Wort: wir fühlen uns ein wenig beschämt wegen unseres Mangels an Gemütsruhe und empfinden Respekt vor dem Mechaniker, dem Manne, der etwas von der Sache versteht. In der furchtbaren Panne, die heute dem historischen Leben widerfahren ist, befinden wir uns im ersten Akt. Was den Fall aber so schwer macht, ist der Umstand, daß es, da es sich um die Maschine
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
des öffentlichen Lebens und kollektiver Angelegenheiten handelt, für den Mechaniker nicht leicht ist, mit der gleichen Gemütsruhe und mit der gleich guten Wirkung die richtigen Schrauben zu handhaben, wenn er nicht von vornherein mit dem Vertrauen und der Achtung der Reisenden rechnen kann, wenn diese nicht überzeugt sind, daß es jemand gibt, der „die Sache versteht“, das heißt, daß der dritte Akt sich vor dem zweiten abspielen müßte, und das ist keine einfache Sache. Außerdem ist die Zahl der Schrauben und Räder, die bewegt werden müßten, ebenso groß wie die Verschiedenheit der Orte, an denen sie sich befinden. Gut! Möge also jeder seine Aufgabe ohne Dünkel und ohne viel Aufhebens erfüllen! Darum befinde ich mich jetzt, ein Sukkubus, unter der Haube des Motors und greife in eines seiner geheimsten Getriebe. Kehren wir nunmehr zu unserer Unterscheidung zwischen Glaubensgewißheiten und Ideen oder Einfällen zurück. Glaubensgewißheiten sind alle jene Dinge, mit denen wir absolut rechnen, auch wenn wir nicht an sie denken. Weil wir sicher sind, daß sie existieren und daß sie so sind, wie wir glauben, machen wir uns keine weiteren Gedanken über sie, sondern verhalten uns automatisch so, wie wenn wir mit ihnen rechneten. Wenn wir uns auf die Straße begeben, versuchen wir nicht, quer durch die Häuser zu gehen: wir vermeiden automatisch, mit ihnen zusammenzustoßen, ohne daß in unserem Geist der Gedanke auftaucht: „die Mauer ist undurchdringlich“. In jedem Augenblick stützt sich unser Leben auf ein ungeheuer großes Repertorium ähnlicher Glaubensgewißheiten. Es gibt aber Dinge und Situationen, denen wir ohne eine feste Glaubensgewißheit begegnen: wir begegnen ihnen im Zweifel, ob sie sind oder nicht sind, oder ob sie so sind oder anders. Dann bleibt uns nichts übrig, als uns eine Idee, eine Meinung über sie zu bilden. Die Ideen sind also die „Dinge“, die wir mit vollem Bewußtsein konstruieren und ausarbeiten, und zwar genau genommen darum, weil wir nicht an sie glauben. Ich denke, daß dies der beste Versuch einer Erklärung ist, die der großen Frage nach der seltsamen und subtilen Rolle, die in unserem Leben die Ideen spielen, keinen andern Ausweg mehr läßt. Man beachte dabei, daß unter dieser Bezeichnung alle erfaßt werden: die Ideen des Alltags wie die wissenschaftlichen Ideen, die religiösen Ideen
DER ORTHOPÄDISCHE CHARAKTER DER IDEEN
wie die einer anderen Gattung. Denn die volle und echte Wirklichkeit existiert für uns nur in dem, an was wir glauben. Die Ideen entspringen aber aus dem Zweifel, das heißt aus einem Hohlraum oder einer Lücke in unserem Glauben. Darum ist das, was wir denken, keine volle und echte Wirklichkeit für uns. Was ist es dann? Sofort bemerken wir den orthopädischen Charakter der Ideen: sie treten da auf, wo eine Glaubensgewißheit zerbrochen oder schwach geworden ist. Wir wollen uns jetzt nicht fragen, welches der Ursprung der Glaubensgewißheiten ist und woher sie kommen, weil die Antwort, wie wir sehen werden, verlangt, daß wir uns vorher klarzumachen versuchen, was die Ideen sind. Die beste Methode wird sein, daß wir von der gegenwärtigen Situation und von dem unbestreitbaren Tatbestand ausgehen: und dieser besteht darin, daß wir uns auf der einen Seite aus Glaubensgewißheiten gebildet sehen — kommen sie, woher sie wollen — und auf der ändern Seite aus Ideen, daß jene unsere wirkliche Welt ausmachen, und diese . . . wir wissen nicht recht was, sind. Die Undankbarkeit des Menschen und die nackte Wirklichkeit Das schwerste Gebrechen des Menschen ist die Undankbarkeit. Diese superlativische Behauptung stütze ich darauf, daß jedes widergeschichtliche Verhalten des Menschen, dessen Wesen gleichbedeutend mit seiner Geschichte ist, eine Art Selbstmord bedeutet. Der Undankbare vergißt, daß das meiste von dem, was er besitzt, nicht sein Werk ist, sondern daß es ihm von andern geschenkt wurde, die sich bemühten, es zu schaffen und zu erhalten. Nun denn: indem er das vergißt, verkennt er von Grund aus die wahre Beschaffenheit dessen, was er besitzt. Er glaubt, daß es ein freies Geschenk der Natur und wie diese selbst unzerstörbar sei. Das läßt ihn in der Ausnützung der günstigen Gegebenheiten, denen er sich gegenübersieht, vollständig irregehen und diese Vorteile mehr oder weniger verlieren. Heute sind wir in weitem Ausmaße Zeugen dieses Vorgangs. Der moderne Mensch macht sich nicht mehr wirklich klar, daß wir fast alles, was wir besitzen, um unsere
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
Existenz mit einiger Bequemlichkeit zu führen, der Vergangenheit verdanken und daß wir deshalb in unserem Umgang mit ihr mit großer Aufmerksamkeit, viel Zartgefühl und Scharfsinn vorgehen müssen — daß wir sie vor allem immer gut im Auge behalten müssen, weil sie genaugenommen in dem gegenwärtig ist, was sie uns hinterließ. Die Vergangenheit vergessen, ihr den Rücken kehren, ruft die Wirkung hervor, die wir heute vielfach beobachten können: die Rebarbarisierung des Menschen! Aber diese äußersten und vorübergehenden Formen der Undankbarkeit interessieren mich im Augenblick nicht. Mir kommt es mehr auf das normale Niveau an, auf dem der Mensch sich dauernd bewegt und das ihn hindert, sich Rechenschaft über seine wahre Beschaffenheit zu geben. Und da die Philosophie darin besteht, daß wir uns selbst erkennen und begreifen, was wir sind und was das, was uns umgibt, in seiner echten und ursprünglichen Wirklichkeit ist, heißt das nichts anderes, als daß die Undankbarkeit eine schreckliche philosophische Blindheit in uns hervorruft. Wenn man uns fragt, was das in Wirklichkeit ist, worauf wir unsere Füße setzen, antworten wir sofort, daß es die Erde sei. Unter diesem Wort verstehen wir einen Weltkörper von einer gewissen Beschaffenheit und Größe, das heißt eine Masse von kosmischer Materie, die sich mit einer Regelmäßigkeit und Sicherheit um die Sonne dreht, die so groß sind, daß wir uns auf sie verlassen können. Solcher Art ist die feste Glaubensgewißheit, in der wir leben, und darum ist sie für uns die Wirklichkeit, und weil sie die Wirklichkeit ist, rechnen wir ohne weiteres mit ihr und stellen uns in unserem täglichen Leben keine weitere Frage mehr über diesen Fall. Wenn wir aber die gleiche Frage an den Menschen des 6. Jahrhunderts v. Chr. gestellt hätten, so wäre seine Antwort eine ganz andere gewesen. Die Erde war für ihn eine Göttin, die Göttinmutter, Demeter. Nicht ein großer Brocken Materie, sondern eine göttliche Macht, die ihren Willen und ihre Launen hatte. Das genügt, um zu erkennen, daß die echte und ursprüngliche Wirklichkeit der Erde weder das eine noch das andere ist, daß der Erde-Weltkörper und die Erde-Göttin nicht die Wirklichkeit sind, sondern zwei Ideen, oder wenn man will, eine wahre Idee und eine irrige über diese Wirklichkeit, die bestimmte Menschen eines schönen Tages unter großen Anstrengungen erfunden hatten.
PROBLEMATISCHE WIRKLICHKEIT
So daß die Wirklichkeit, die die Erde für uns ist, nicht ohne weiteres von dieser selbst herkommt, sondern daß wir sie einem Menschen, vielen Menschen der Vergangenheit verdanken und daß ihre Wahrheit im übrigen von vielen schwierigen Überlegungen abhängt. Mit einem Wort, daß sie problematisch und nicht fraglos ist. Die gleiche Beobachtung könnten wir auch sonst überall machen, was uns schließlich zu der Entdeckung führen würde, daß die Wirklichkeit, in der wir zu leben glauben, mit der wir rechnen und auf die wir letztlich alle unsere Hoffnungen und Befürchtungen setzen, das Werk und die Arbeit anderer Menschen ist und nicht die echte und ursprüngliche Wirklichkeit. Um diese aber in ihrer ganzen Nacktheit zu finden, müßten wir alle die Glaubensgewißheiten von heute und von anderen Zeiten aufgeben, die nichts anderes als vom Menschen erdachte Interpretationen dessen sind, was er im Leben in sich selbst und in seiner Umwelt vorfindet und ihm begegnet. Vor aller Interpretation ist die Erde nicht einmal ein „Ding“, weil „Ding“ schon ein Bild des Seins ist, eine Form des sich irgendwie Verhaltens (im Gegensatz zum Phantasiegebilde), die von unserm Geist entworfen wurde, um sich jene ursprüngliche Wirklichkeit zu erklären. Wenn wir dankbar wären, hätten wir ohne weiteres eingesehen, daß wir alles, was uns die Erde als Wirklichkeit bedeutet und was uns in ausreichendem Maß erlaubt, zu wissen, wie wir uns ihr gegenüber verhalten sollen, was uns beruhigen kann, um nicht von unaufhörlichen Ängsten erstickt leben zu müssen, der Anstrengung und dem Geist anderer Menschen verdanken. Ohne ihre Anstrengungen ständen wir in unserer Beziehung zur Erde und ebenso zu allem übrigen, was uns umgibt, wie der erste Mensch da, das heißt von Angst und Schrecken überwältigt. Alle diese Anstrengungen haben wir in Form von Glaubensgewißheiten ererbt, die das Kapital sind, von dem wir leben. Die große und vielleicht elementarste Wahrnehmung, die das Abendland in den kommenden Jahren machen wird, wenn es endlich aus dem Rausch der Unvernunft erwacht sein wird, der es im 18. Jahrhundert erfaßte, wird sein, daß der Mensch, vor allem andern, Erbe ist. Und daß dieses und nichts anderes ihn wesensmäßig vom Tier unterscheidet. Aber zu wissen, daß man Erbe ist, heißt historisches Bewußtsein haben.
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
Die echte Wirklichkeit der Erde hat keine Gestalt, keine Lebensform, ist reines Rätsel. In ihrer ursprünglichen und nackten Konsistenz begriffen, ist sie der Boden, der uns im Augenblick trägt, ohne daß er uns die geringste Sicherheit dafür böte, daß er sich uns nicht im nächsten Augenblick versagen wird; er ist es, der uns die Flucht vor einer Gefahr erleichtert hat, er ist es auch, der uns in Form der „Distanz“ von der geliebten Frau und unseren Kindern trennt; er ist es, der manchmal den Charakter des mühsamen Bergauf und manchmal die angenehme Beschaffenheit des Bergab aufweist. Die Erde an sich und losgelöst von den Ideen, die der Mensch sich von ihr gebildet hat, ist also kein „Ding“, sondern ein unsicheres Repertorium von Erleichterungen und Erschwerungen unseres Lebens. In diesem Sinne sage ich, daß die echte und ursprüngliche Wirklichkeit keine Gestalt besitzt. Darum darf man sie auch nicht „Welt“ nennen. Sie ist ein Rätsel für unsere Existenz. Sich lebend fühlen, heißt, sich unwiderruflich ins Rätselhafte untergetaucht fühlen. Auf dieses ursprüngliche und vorgeistige Rätsel reagiert der Mensch, indem er seinen geistigen Apparat spielen läßt, der vor allem andern Einbildungskraft ist. Er schafft die mathematische Welt, die physikalische Welt, die religiöse, moralische, politische und poetische Welt, die tatsächlich „Welten“ sind, weil sie Gestalt besitzen und eine Ordnung, einen Plan darstellen. Diese imaginären Welten werden dem Rätsel der echten Wirklichkeit gegenübergestellt und werden als wahr angenommen, wenn sie sich dieser in größter Annäherung anzugleichen scheinen. Aber, wohlverstanden, niemals verschmelzen sie sich mit der Wirklichkeit selbst. In diesen oder jenen Punkten ist die Übereinstimmung so groß, daß eine teilweise Verschmelzung eintreten könnte — und wir werden die Konsequenzen sehen, die sich daraus ergeben —, aber da diese Punkte vollkommener Angleichung vom Rest, dessen Angleichung ungenügend ist, untrennbar sind, bleiben diese Welten, in ihrer Totalität betrachtet, das, was sie sind: imaginäre Welten, Welten, die nur aus unserer Arbeit und Gnade existieren; mit einem Wort, „innere Welten“. Darum können wir sie „unsere“ nennen. Und wie der Mathematiker als solcher seine Welt besitzt, ebenso wie der Physiker als solcher seine physikalische Welt, so hat jeder von uns die seinige.
INNERLICHKEIT — EIN PRIVILEG DES MENSCHEN
Wenn das wahr ist, bemerkt man dann nicht das Überraschende, das darin liegt? Es zeigt sich also, daß der Mensch vor der echten Wirklichkeit, die rätselhaft und darum furchtbar ist — ein Problem, das nur für den Verstand existiert und darum ein unwirkliches Problem ist, ist niemals furchtbar, aber eine Wirklichkeit, die gerade als Wirklichkeit und an sich rätselhaft ist, ist die Furchtbarkeit selbst — , dadurch reagiert, daß er in seinem Innern eine imaginäre, eine eingebildete Welt absondert. Das heißt, daß er sich zunächst aus der Wirklichkeit zurückzieht, selbstverständlich nur in seiner Vorstellung, — und in seiner inneren Welt lebt. Das ist das, was das Tier nicht kann. Das Tier muß immer seine ganze Aufmerksamkeit auf die Wirklichkeit richten, wie diese sich ihm darbietet; es muß immer „außer sich“ sein. In seinem Buch „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ deutet Scheler diese verschiedene Beschaffenheit des Tieres und des Menschen an, er versteht sie aber nicht ganz, er kennt nicht ihren Grund und ihre Möglichkeiten. Das Tier muß aus dem einfachen Grund „außer sich“ sein, weil es kein „in sich“, kein chez soi hat, keine Innerlichkeit, in die es sich versetzen könnte, wenn es sich aus der Wirklichkeit zurückziehen wollte. Und es hat keine Innerlichkeit, das heißt keine innere Welt, weil es keine Einbildungskraft besitzt. Was wir unsere Innerlichkeit nennen, ist nichts anderes als unsere eingebildete Welt, die Welt unserer Ideen. Diese Bewegung nach innen, dank deren wir die äußere Welt einige Augenblicke außer acht lassen, um ganz auf unsere Ideen zu merken, ist die Besonderheit des Menschen und heißt „sich in sich selbst versenken“. Aus dieser Versenkung tritt der Mensch dann wieder heraus in die Wirklichkeit, aber jetzt, indem er sie, wie durch ein optisches Instrument, aus seiner inneren Welt, aus seinen Ideen heraus betrachtet, von denen sich einige zu Glaubensgewißheiten verfestigten. Und das Überraschende, das ich schon vorher ankündigte, ist: daß der Mensch sich auf doppelte Weise in seiner Existenz begegnet, einmal innerhalb der rätselhaften Wirklichkeit und gleichzeitig in der klaren Welt der Ideen, die ihm zugefallen sind. Diese zweite Existenz ist darum eine „eingebildete“; man beachte aber, daß eine eingebildete Existenz haben zur absoluten Wirklichkeit des Menschen gehört.
Die Wissenschaft als Poesie — Das Dreieck und Hamlet — Das Schatzhaus der Irrtümer Ich stelle also fest, daß das, was wir die wirkliche oder „äußere“ Welt zu nennen pflegen, nicht die nackte, echte und ursprüngliche Wirklichkeit ist, in die der Mensch sich versetzt sieht, sondern eine Interpretation, die er dieser Wirklichkeit gegeben hat, also eine Idee. Diese Idee hat sich zu einer Glaubensgewißheit verfestigt. An eine Idee glauben, heißt aber glauben, daß sie die Wirklichkeit ist, das heißt sie nicht mehr als bloße Idee sehen. Es ist aber klar, daß diese Glaubensgewißheiten anfänglich „nichts mehr“ als Einfälle und Vorstellungen oder Ideen sensu strictu waren. Sie traten eines schönen Tages als das Werk der Einbildungskraft eines Menschen hervor, der sich in sich selbst versenkte und für einen Augenblick die äußere Welt unbeachtet ließ. Die physikalische Wissenschaft zum Beispiel ist eines dieser geistigen Bauwerke, die der Mensch errichtete. Einige dieser physikalischen Ideen wirken heute in uns als Glaubensgewißheiten, aber die meisten von ihnen sind für uns Wissenschaft — nichts mehr und nichts weniger. Wenn man also von der physikalischen Welt spricht, so muß man sich vor Augen halten, daß wir sie zu ihrem größten Teil nicht als wirkliche Welt betrachten, sondern daß sie eine eingebildete, eine „innere Welt“ ist. Und die Frage, die ich jetzt dem Leser vorlege, geht dahin, wie er ganz genau, und ohne unklare und unbestimmte Ausdrücke zu gebrauchen, die geistige Haltung des Physikers bestimmen will, wenn dieser die Wahrheiten seiner Wissenschaft sich ausdenkt. Oder anders ausgedrückt: Was ist für den Physiker seine Welt, die Welt der Physik? Ist sie für ihn die Wirklichkeit? Offenbar nicht. Seine Ideen scheinen ihm Wahrheiten zu sein, aber das ist eine Kennzeichnung, die den Charakter, bloße Denkergebnisse zu sein, noch unterstreicht. Es ist nicht mehr möglich, wie in glücklicheren Zeiten, die Wahrheit hübsch artig in der Weise zu definieren, daß man sagt, sie sei die „Übereinstimmung“ des Denkens mit der Wirklichkeit. Der Begriff „Übereinstimmung“ ist zweideutig. Wenn wir ihn im Sinne der „Gleichheit“ verstehen, erweist er sich als unrichtig. Niemals ist eine Idee mit der Sache gleich, auf die sie sich bezieht. Und wenn man sie in dem etwas unbestimmteren Sinne
THEORIE UND WIRKLICHKEIT
der „Entsprechung“ nimmt, erkennt man damit schon an, daß die Ideen nicht die Wirklichkeit sind, sondern ganz das Gegenteil, das heißt: Ideen und nichts als Ideen. Der Physiker weiß sehr wohl, daß es das, was seine Theorie aussagt, in der Wirklichkeit nicht gibt. Im übrigen würde die Wahrnehmung genügen, daß die Welt der Physik unvollständig ist, daß sie voll von ungelösten Problemen ist, die uns verbieten, sie mit der Wirklichkeit selbst zu verwechseln, die ja gerade diejenige ist, die ihm diese Probleme stellt. Die Physik ist deshalb für ihn keine Wirklichkeit, sondern ein imaginärer Bereich, in dem er in der Einbildung lebt, während er weiterhin in der echten und ursprünglichen Wirklichkeit seines Lebens lebt. Nun, all dies ist etwas schwierig zu verstehen, wenn wir die Physik und die Wissenschaft im allgemeinen betrachten — wird es aber nicht einleuchtend und klar, wenn wir darauf achten, was mit uns vorgeht, wenn wir einen Roman lesen oder einer Theatervorstellung beiwohnen? Wer einen Roman liest, lebt selbstverständlich in der Wirklichkeit seines Lebens; aber diese Wirklichkeit seines Lebens besteht jetzt darin, daß er sich ihr durch die virtuelle Dimension der Phantasie entzogen hat und sozusagen in der eingebildeten Welt lebt, die der Dichter ihm beschreibt. Darum halte ich auch den schon im ersten Abschnitt dieser Untersuchung ausgesprochenen Satz für so fruchtbar: daß wir nur dann gut verstehen, was etwas für uns ist, wenn es keine Wirklichkeit für uns ist, sondern eine Idee, wenn wir auf das achtgeben, was die Poesie für den Menschen darstellt, und uns unerschrocken dazu entschließen, die Wissenschaft als eine Art von Dichtung zu sehen. Die „poetische Welt“ ist in der Tat das einleuchtendste Beispiel für das, was ich „innere Welten“ genannt habe. In ihr treten mit unbefangenem Zynismus und ganz ungeniert die jenen Welten eigentümlichen Merkmale auf. Wir sind uns bewußt, daß sie reine Erfindung und aus unserer Phantasie geboren ist. Wir nehmen sie nicht als Wirklichkeit, und trotzdem beschäftigen wir uns mit ihren Objekten ebenso wie mit den Dingen der äußeren Welt, das heißt — da leben gleichbedeutend mit sich beschäftigen ist — wir leben oftmals im poetischen Bereich und dem Wirklichen fern. Dabei kann man im Vorübergehen feststellen, daß bis heute noch nie-
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
mand eine ungefähre Antwort auf die Frage gegeben hat, warum sich der Mensch mit der Poesie beschäftigt, wozu er sich mit nicht geringer Anstrengung ein poetisches Universum schafft. Und doch kann in Wahrheit nichts seltsamer sein. Als ob der Mensch nicht gerade mit seiner wirklichen Welt zu tun hätte, daß es keiner Erklärung für die Tatsache bedürfte, daß es ihm Vergnügen macht, in wohlüberlegter Weise Unwirklichkeiten zu ersinnen! Wir haben uns allerdings angewöhnt, von der Poesie ohne großes Pathos zu sprechen. Wenn man erklärt, daß sie keine ernste Angelegenheit sei, erregen sich höchstens die Dichter, die als genus irritabile bekannt sind. Es kostet uns also keine große Mühe, zu erkennen, daß eine so wenig ernste Sache reine Phantasie ist. Die Phantasie steht im Ruf, die Närrin des Hauses zu sein. Aber was sind die Wissenschaft und die Philosophie anderes als Phantasie? Der mathematische Punkt, das geometrische Dreieck, das physikalische Atom besäßen nicht die exakten Qualitäten, durch die sie bestimmt werden, wenn sie nicht reine geistige Konstruktionen wären. Wenn wir ihnen in der Wirklichkeit begegnen wollen, das heißt im Wahrnehmbaren und nicht im Eingebildeten, müssen wir uns notgedrungen des Maßes bedienen, und damit verringert sich ipso facto ihre absolute Genauigkeit, und sie verwandeln sich in ein unvermeidliches „ein wenig mehr oder weniger“. Was für ein Zufall! Gerade das, was auch mit den Personen der Dichtung geschieht. Es besteht kein Zweifel: das Dreieck und Hamlet haben die gleiche Abstammung, Sie sind Kinder der Närrin des Hauses, Phantasmagorien. Die Tatsache, daß die wissenschaftlichen Ideen der Wirklichkeit gegenüber Verpflichtungen haben, die von denen der Poesie verschieden sind, und daß ihre Beziehung zu den Dingen enger und ernsthafter ist, darf uns nicht hindern, zu erkennen, daß sie, die Ideen, nichts anderes als Phantasien sind und daß wir sie trotz ihrer Ernsthaftigkeit nur als solche ansehen dürfen. Wenn wir das Gegenteil tun, nehmen wir ihnen gegenüber eine falsche Haltung ein: wir nehmen sie, als ob sie die Wirklichkeit wären, oder was dasselbe ist, wir verwechseln die inneren Welten mit den äußeren. Das ist aber das, was der Verrückte zu tun pflegt. Der Leser stelle sich einmal die ursprüngliche Situation des Menschen vor. Um zu leben, muß er etwas tun, sich mit dem beschäfti-
DIE „INNERE WELT“ DER WISSENSCHAFT
gen, was ihn umgibt. Um aber entscheiden zu können, was er mit all dem tun soll, muß er wissen, woran er sich ihm gegenüber zu halten hat, das heißt er muß wissen, was es ist. Da diese ursprüngliche Wirklichkeit ihm nicht in aller Freundschaft ihr Geheimnis enthüllt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seinen geistigen Apparat in Bewegung zu setzen, dessen wichtigstes Organ — wie ich behaupte — die Einbildungskraft ist. Der Mensch erschafft sich damit ein gewisses Bild oder eine Gestalt der Wirklichkeit. Er nimmt an, daß sie so oder so sei, er erfindet die Welt oder wenigstens ein Stück von ihr. Also nichts anderes, als was ein Romandichter mit dem aus seiner Einbildung geborenen Charakter seines Werkes vornimmt. Der Unterschied liegt im Zweck, für den es geschaffen wird. Ein topographischer Plan ist nicht mehr und nicht weniger phantastisch als das Landschaftsbild eines Malers. Aber der Maler hat seine Landschaft nicht gemalt, damit sie ihm als Führer auf seiner Wanderung durch das Land diene, wohl aber ist der Plan zu diesem Zweck gezeichnet worden. Die „innere Welt“ der Wissenschaft ist der ungeheuer große Plan, an dem wir seit 3½ Jahrhunderten arbeiten, um uns unter den Dingen zurechtzufinden. Und zwar so, wie wenn wir uns sagten: „Vorausgesetzt, daß die Wirklichkeit so ist, wie wir sie uns einbilden, müßte unser zweckmäßigstes Verhalten in ihr und mit ihr so sein. Machen wir die Probe, ob das Ergebnis befriedigt.“ Aber die Probe ist mit Risiken verbunden. Denn es handelt sich dabei um kein bloßes Spiel, vielmehr hängt von ihr das Gelingen unseres Lebens ab. Ist es aber nicht unsinnig, so zu tun, als hinge unser Leben von der unwahrscheinlichen Übereinstimmung zwischen der Wirklichkeit und unserer Einbildung ab? Ohne Zweifel, es ist unsinnig. Aber es handelt sich dabei um keine Frage unseres freien Willens. Denn wir können — wir werden schon sehen, in welchem Ausmaß — zwischen einer Einbildung und einer anderen wählen, um unser Verhalten danach einzurichten, und daraufhin die Probe machen, aber wir können nicht zwischen einbilden und nicht einbilden wählen. Der Mensch ist dazu verurteilt, Dichter seines Romans zu sein. Das mögliche Gelingen seiner Phantasmagorien mag noch so unmöglich sein, wie man will; aber sei's drum, es ist die einzige Wahrscheinlichkeit, mit der der Mensch rechnen kann, um sein Leben zu bestehen. Die Probe ist mit so viel Schwierigkeiten verbunden, daß es dem
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
Menschen bis zur Stunde noch nicht in befriedigendem Maße gelungen ist, sein Problem zu lösen und in der Gewißheit zu leben oder das Richtige zu treffen. Und das wenige, was er in dieser Richtung erreichte, hat Jahrtausende und Jahrtausende erfordert und ist über Irrtümer erreicht worden, das heißt dadurch, daß man sich auf abwegige Phantasien einließ, die wie Sackgassen waren, aus denen man sich übel zugerichtet wieder zurückziehen mußte. Aber diese Irrtümer, als solche erprobt und ausgestanden, sind das einzige, woran wir uns halten können, sind das einzig wirklich Erreichte und Feststehende. Zum mindesten weiß der Mensch heute, daß die von ihm in der Vergangenheit erfundenen Weltbilder nicht die Wirklichkeit sind. Mit Hilfe von Irrtümern wird der Bereich des möglichen Gelingens abgegrenzt. Darum ist es so wichtig, die Irrtümer im Gedächtnis zu bewahren, denn dieses ist die Geschichte. In der persönlichen Existenz nennen wir sie „Lebenserfahrung“, aber sie hat das Mißliche an sich, daß sie wenig nutzbringend ist, weil das gleiche Subjekt zuerst irren muß, um später das Richtige zu treffen, und weil das „später“ dann oft ein „zu spät“ wird. Aber in der Geschichte gab es eine Vergangenheit, die irrte, und unsere Zeit, die sich die Erfahrung zunutze machen kann. Die Unterscheidung und Gliederung der inneren Welten Mein größtes Anliegen ist es, daß der Leser, auch der wenigst gebildete, sich auf den Bergpfaden, zu denen ich ihn geführt habe, nicht verirren möge. Das zwingt mich, das Gesagte verschiedene Male zu wiederholen und die Stationen unserer Wanderung abzustecken. Was wir die Wirklichkeit oder die „äußere Welt“ zu nennen pflegen, ist noch nicht die ursprüngliche und von jeder menschlichen Ausdeutung freie Wirklichkeit, sondern das, von dem wir glauben, in starkem und festem Glauben, daß es die Wirklichkeit sei. Alles, was wir in dieser wirklichen Welt an Zweifelhaftem und Ungenügendem vorfinden, zwingt uns, uns Ideen darüber zu bilden. Aus diesen Ideen formen sich die „inneren Welten“, in denen wir leben, wobei wir uns bewußt sind, daß sie unsere Erfindung sind, wie wir
WARUM DIESE VIELHEIT VON INNEREN WELTEN?
den Plan eines Gebietes erleben, während wir es durchwandern. Man darf aber nicht glauben, daß die wirkliche Welt uns zwänge, nur durch wissenschaftliche und philosophische Ideen zu reagieren. Die Welt der Erkenntnis ist nur eine der vielen inneren Welten. Neben ihr besteht die Welt der Religion, die poetische Welt und die Welt der praktischen Vernunft oder „Lebenserfahrung“. Genaugenommen handelt es sich darum, etwas Klarheit darüber zu gewinnen, warum und in welchem Ausmaß der Mensch diese Vielheit von inneren Welten besitzt oder, was dasselbe ist, warum und in welchem Ausmaß der Mensch Religionsgläubiger, Wissenschaftler, Philosoph, Dichter und „Weiser“ oder „Weltmann“ ist. Zu diesem Zweck lade ich den Leser ein, sich vor allem einmal Rechenschaft darüber zu geben, daß alle diese Welten, einschließlich der wissenschaftlichen, eine gewisse Dimension mit der Poesie gemeinsam haben, das heißt, daß sie das Werk unserer Phantasie sind. Was man als wissenschaftliches Denken bezeichnet, ist nichts anderes als exakte Phantasie. Ja noch mehr: wenn man nur ein wenig nachdenkt, wird man gewahr werden, daß die Wirklichkeit niemals exakt ist und daß nur das Phantastische exakt sein kann (der mathematische Punkt, das Atom, der Begriff im allgemeinen und die dichterische Person). Nun aber ist das Phantastische das, was dem Wirklichen am meisten entgegengesetzt ist; und in der Tat widersetzen sich in uns alle von unseren Ideen gebildeten Welten dem, was wir als die eigentliche Wirklichkeit, die „äußere Welt“, empfinden. Die dichterische Welt repräsentiert den äußersten Grad des Phantastischen, und im Vergleich mit ihr scheint uns die Welt der Wissenschaft dem Wirklichen näherzustehen. Ganz recht: aber wenn uns die Welt der Wissenschaft, mit der Welt der Poesie verglichen, fast als wirklich erscheint, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß auch sie phantastisch und, mit der echten Wirklichkeit verglichen, nichts als Phantasmagorie ist. Aber dieser doppelte Hinweis läßt uns erkennen, daß die verschiedenen „inneren Welten“ durch uns in die wirkliche oder äußere Welt einbezogen werden und ein mächtiges Element der Unterscheidung und Gliederung bilden. Damit will ich sagen, daß eine von ihnen, die religiöse zum Beispiel oder die wissenschaftliche, uns der echten Wirklichkeit am nächsten zu kommen scheint, daß auf ihr die Welt der praktischen
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
Vernunft oder der Lebenserfahrung aufgebaut ist und um diese herum die der Poesie. Tatsächlich erleben wir jede dieser Welten in verschiedenem Grad von „Ernsthaftigkeit“ oder, umgekehrt, in verschiedenen Graden von Ironie. Kaum haben wir dies festgestellt, so steigt in uns die deutliche Erinnerung daran auf, daß diese Unterscheidung und Gliederung zwischen unseren inneren Welten nicht immer die gleiche gewesen ist. Es hat Zeiten gegeben, in denen das der echten Wirklichkeit Nächste, vom Menschen aus gesehen, die Religion und nicht die Wissenschaft war. Es gibt eine Epoche der griechischen Geschichte, in der die „Wahrheit“ für die Hellenen Homer war, also das, was man Poesie zu nennen pflegt. Damit mündet unsere Untersuchung in die große Frage ein: Ich behaupte, daß das europäische Bewußtsein immer noch den Fehler macht, daß es leichthin über diese Vielheit von Welten spricht und sich niemals wirklich damit beschäftigt hat, ihre Beziehungen und die Frage, woraus sie letztlich bestehen, aufzuklären. Die Wissenschaften sind Wunder in ihren eigenen Rahmen und Inhalten; wenn man sich aber auf Herz und Gewissen befragt, was die Wissenschaft, als Beschäftigung des Menschen, gegenüber der Philosophie, der Religion, der Lebensweisheit usw. ist, so begegnet man nur den unklarsten Vorstellungen und Begriffen. Offenbar sind all dies — Wissenschaft, Philosophie, Poesie — Dinge, die der Mensch erschafft, und alles, was er erschafft, erschafft er mit etwas und für etwas. Gut; aber wozu erschafft er diese verschiedenen Dinge? Wenn der Mensch sich um Erkenntnis bemüht, wenn er Naturwissenschaft oder Philosophie treibt, so tut er das ohne Zweifel darum, weil er eines schönen Tages entdeckt, daß er sich über Dinge, die ihm wichtig sind, im Zweifel befindet und er in der Gewißheit leben möchte. Nun muß man aber genau beachten, was eine derartige Situation mit sich bringt. Zunächst stellen wir fest, daß es sich dabei um keine ursprüngliche Situation handeln kann; damit will ich sagen, daß das Leben im Zweifel voraussetzt, daß man eines Tages in ihn gestürzt wurde. Der Mensch kann nicht damit anfangen, daß er zweifelt. Der Zweifel ist etwas, das einem Menschen plötzlich zustößt, der vorher einen Glauben oder eine Glaubensgewißheit besaß, in der er sich bis dahin befunden hatte. Sich
DER KAMPF MIT DEM SKEPTIZISMUS
um Erkenntnis bemühen ist also eine Sache, die durch eine vorgängige Situation bedingt ist. Wer glaubt, wer nicht zweifelt, braucht kein ängstliches Bemühen um Erkenntnis in Bewegung zu setzen. Dieses entsteht aus dem Zweifel und bewahrt die Kraft immer lebendig, die ihn hervorrief. Der Mann der Wissenschaft muß ständig bemüht sein, an seinen eigenen Wahrheiten zu zweifeln. Diese sind nur insoweit Wahrheiten der Erkenntnis, als sie jedem möglichen Zweifel standhalten. Sie leben also in einem ständigen Kampf mit dem Skeptizismus. Diesen Kampf nennt man Prüfung. Dies enthüllt auf der andern Seite, daß die Gewißheit, nach der der Erkenntnissuchende — der Wissenschaftler oder der Philosoph — strebt, keine beliebige ist. Wer glaubt, besitzt die Gewißheit gerade darum, weil er sie sich nicht selbst geschaffen hat. Die Glaubensgewißheit ist eine Gewißheit, in der wir uns befinden, ohne zu wissen, wie oder woher wir in sie eingegangen sind. Jeder Glaube ist empfangen worden. Darum ist sein Prototyp „der Glaube unserer Väter“. Wenn wir uns aber um Erkenntnis bemühen, haben wir gerade diese uns geschenkte Gewißheit verloren, in der wir lebten, und wir sehen uns gezwungen, uns unter Aufbietung aller unserer Kräfte eine andere zu schaffen. Und das ist wiederum unmöglich, wenn der Mensch nicht glaubt, daß er dazu Kräfte besitzt. Es hat genügt, dem am leichtesten zugänglichen Begriff des Erkennens ein wenig zuzusetzen, um dieses besondere menschliche Tun durch eine Reihe von Bedingungen eingeengt erscheinen zu lassen, um zu entdecken, daß der Mensch nicht einfach und unter beliebigen Umständen anfängt, sich um Erkenntnis zu bemühen. Wird nicht dasselbe auch auf alle andern geistigen Beschäftigungen des Menschen: Religion, Poesie usw. zutreffen? Dessenungeachtet haben sich die Denker bisher noch nicht bemüht — so unglaublich es auch klingt —, die besonderen Bedingungen dieser geistigen Beschäftigungen näher zu präzisieren. Sie drängen nicht einmal auf die Gegenüberstellung jeder einzelnen mit den übrigen. Nach meiner Kenntnis stellt allein Dilthey die Frage mit einer gewissen Reichweite und hält sich, um uns zu sagen, was Philosophie ist, für verpflichtet, uns auch zu sagen, was Wissenschaft, was Religion und was Literatur ist. Denn es ist ganz klar,
IDEEN UND GLAUBENSGEWISSHEITEN
daß alle diese Dinge etwas miteinander gemein haben. Cervantes und Shakespeare geben uns ebenso eine Idee von der Welt wie Aristoteles und Newton. Und die Religion ist keine Angelegenheit, die sich nicht auch mit dem Universum befaßte. Es ergibt sich also, daß, wenn die Philosophen diese Vielheit von Richtungen im, sagen wir, geistigen Tun des Menschen beschrieben haben — diese etwas ungenaue Bezeichnung genügt, um sie von allen Betätigungen des „praktischen“ Typs zu unterscheiden —, sie sich damit zufrieden geben und alles gesagt zu haben glauben, was über dieses Thema zu sagen sei. Es ist dabei für den Fall nicht besonders wichtig, daß einige diesen Richtungen auch noch den Mythus hinzufügen, den sie in etwas unklarer Weise von der Religion unterscheiden. Was wirklich wichtig ist zu bemerken, das ist die Tatsache, daß es sich für sie alle, Dilthey eingeschlossen, bei diesen verschiedenen Richtungen um dauernde und wesensmäßige Formen des Menschen, des menschlichen Lebens handelt. Danach wäre der Mensch ein Wesen, das diese Anlagen zur Betätigung als wesensmäßiges Eigentum besitzt, so wie er Beine hat und ein System physiologischer Reflexe und einen Apparat, um artikulierte Laute von sich zu geben. Er wäre also von Natur aus religiös, und von Natur aus in Philosophie oder Mathematik bewandert, und von Natur aus dichterisch begabt — wobei dieses „von Natur aus“ bedeutete, daß er die Religion, die Erkenntnis und die Poesie als „Fähigkeiten“ oder dauernde Anlagen zu eigen habe. Und in jedem Augenblick wäre der Mensch alles dieses — Religiöser, Philosoph, Wissenschaftler, Poet —, wenn auch in verschiedenem Grad und Verhältnis. Es ist klar, daß die Philosophen beim Nachdenken über diese Dinge folgendes erkannten: die Begriffe Religion, Philosophie, Wissenschaft, Poesie können sich nur angesichts bestimmter menschlicher Aufgaben und Verhaltensweisen bilden, die in gewissen Zeiten und Schauplätzen der Geschichte erscheinen. So nimmt zum Beispiel die Philosophie, um uns nur beim Einleuchtendsten aufzuhalten, erst vom 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland eine klare Gestalt an; die Wissenschaft zeigt eine besondere und unverwechselbare Physiognomie erst seit dem 17. Jahrhundert in Europa. Wenn man sich aber einmal angesichts eines zeitlich bestimmten menschlichen Tuns eine klare Idee gebildet hat, dann sucht man in
FÜR EINE REVISION „VERFLÜCHTIGTER“ IDEEN
jeder geschichtlichen Epoche etwas, das ihm, wenn auch nur entfernt, ähnlich sieht, und man schließt daraus, daß der Mensch auch in dieser Epoche religionsgläubig, Wissenschaftler und Poet war. Das heißt, daß es nichts genützt hat, von jedem dieser Dinge eine klare Idee gebildet zu haben, sondern daß man sie später wieder verflüchtigte und betäubte, um sie auf unter sich ganz verschiedene Phänomene anwenden zu können. Die Verflüchtigung besteht darin, daß wir diese Formen menschlicher Betätigung von jedem konkreten Inhalt entleeren und sie frei von jedem bestimmten Inhalt betrachten. Zum Beispiel sehen wir als Religion nicht nur jeden Glauben an irgendeinen Gott an, sondern nennen auch den Buddhismus eine Religion, obwohl der Buddhismus an keinen Gott glaubt. Und in ähnlicher Weise nennen wir Erkenntnis jede Meinung über das, was es gibt, sei es dieses oder jenes, was der Mensch meint, das es gebe, oder sei es die Art und Weise des Meinens selbst; und wir nennen Poesie jedes sprachliche menschliche Werk, dessen Form uns gefällt, ohne Rücksicht auf Wert und Maß der sprachlichen Schöpfung, an der wir Gefallen finden, und mit beispielhafter Großzügigkeit teilen wir die unerschöpfliche und widerspruchsvolle Vielfalt poetischer Inhalte einer unbegrenzten Mannigfaltigkeit von Stilen zu. Nun, dieser so fest eingewurzelte Brauch muß nach meinem Dafürhalten zum mindesten eine Revision und wahrscheinlich eine tiefgreifende Reform erfahren. Dies werde ich an anderer Stelle versuchen.