Stephen Coonts
Fluchtpunkt New York Ein Jake-Grafton-Roman
Eine Terroristen-Zelle mit dem Namen »Schwert des Islam« is...
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Stephen Coonts
Fluchtpunkt New York Ein Jake-Grafton-Roman
Eine Terroristen-Zelle mit dem Namen »Schwert des Islam« ist auf dem russischen Schwarzmarkt in den Besitz von vier NuklearSprengköpfen gelangt. Da alles darauf hindeutet, dass markante Ziele in den U.S.A. angegriffen werden sollen, beauftragt der amerikanische Präsident höchstpersönlich und unter höchster Geheimhaltungsstufe Admiral Jake Grafton, die drohende Gefahr abzuwenden. Doch die Terroristen tarnen sich sehr geschickt und nehmen mit ihrem Nuklearwaffen-Transport Kurs auf die amerikanische Ostküste … ISBN: 3-442-36086-2 Original: »Liberty« Ins Deutsche übertragen von Andreas Brandhorst Verlag: Blanvalet Verlag Erscheinungsjahr: 9/2004 Umschlaggestaltung: Design Team München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Admiral Jake Grafton bekommt von dem Agenten Janas Ilin eine brisante Information übermittelt: Ein verbrecherischer General hat auf dem russischen Schwarzmarkt vier Nuklear Sprengköpfe an eine Gruppe islamischer Fundamentalisten verkauft. Die Terroristen nennen sich »Schwert des Islam« und sind entschlossen, die Waffen gegen die verhasste amerikanische Gesellschaft einzusetzen. Über Pakistan ist die tödliche Fracht bereits Richtung Suezkanal unterwegs, mit Kurs auf markante Bauwerke in den USA. Da erhält Jake vom US-Präsidenten höchstpersönlich alle notwendigen Vollmachten, um der drohenden Gefahr für sein Land entgegenzuwirken. Er geht mit einer kleinen Spezialisten-Crew und mit Hilfe von FBI und CIA unter allerhöchster Geheimhaltungsstufe ans Werk: Alle Sicherheitskameras weltweit werden vernetzt, alle größeren Geldbewegungen weltweit werden gecheckt. Da explodiert im Mittelmeer ein Schiff – das die fraglichen Sprengköpfe eine Zeit lang transportiert hat, wie Ilin den Admiral wissen lässt. Erst nach und nach erkennt Jake, dass zwischen dem mysteriösen Tod eines Geheimagenten in Washington, der Ermordung von Touristen in Kairo und der Schiffsexplosion ein Zusammenhang besteht. Doch die Waffen sind in Port Said längst neu verladen worden und kommen ihren Zielen in der Zwischenzeit näher und näher … Der neue Jake-Grafton-Roman – ein packender Thriller, explosiv wie ein Pulverfass, randvoll mit Action und Dramatik! »Stephen Coonts ist der Meister der Techno-Thriller.« People Magazine
Autor Stephen Coonts studierte Politologie an der Universität von West Virginia und war Pilot bei der Navy. 1977 schied er aus dem Militärdienst aus und absolvierte ein Jurastudium. Er ist seit langem einer der erfolgreichsten Autoren Amerikas und lebt heute in Boulder, Colorado.
Dieses Buch ist allen gewidmet, die an politische und religiöse Freiheit glauben.
Prolog Die Nacht war finster. In den Städten, Dörfern und Bauernhöfen der weiten grasigen Steppe von Zentralasien gab es keine Elektrizität, sodass auch keinerlei Lampen die große Dunkelheit verdrängen konnten. Dichte Wolken hielten den Schein des Mondes und der Sterne fern, schluckten ihn und ließen nichts für die Erde übrig. Zwei Fahrzeuge fuhren über den rissigen Asphalt einer Straße, ein alter Ford-Lieferwagen ohne Fenster und ein zweiachsiger Lastwagen mit geschlossenem Laderaum. Ihre Scheinwerferlichter waren die einzigen Anzeichen von Leben in der Nacht. Neben der Straße verlief ein hoher Maschendrahtzaun, oben mit drei Stacheldrahtsträngen versehen. Hier und dort waren kleine, verrostete Schilder am Zaun befestigt, ihre kyrillische Aufschrift nicht mehr zu entziffern. Einige Stunden nach Einbruch der Dunkelheit erreichten Lieferwagen und Laster eine Anhöhe, und die Fahrer bemerkten ein Licht in der Ferne. Als sie sich näherten, stellten sie fest, dass es von einer nackten Glühbirne hoch an einem Pfosten neben einem Tor stammte, das eine Lücke im Zaun bildete. Ein kleines Wachhaus grenzte ans Tor. Vier Bewaffnete, Soldaten, befanden sich in der Nähe: Zwei saßen, und die beiden anderen lehnten am Tor. Ein metallener Schlagbaum blockierte die Zufahrt. Lieferwagen und Laster bogen von der Straße ab und hielten vor dem Tor. Der Beifahrer im Lieferwagen stieg aus, ging zum Wachhaus und sprach dort mit einem Soldaten. Kurze Zeit später kam ein Offizier aus dem Holzgebäude. Mit einer Taschenlampe leuchtete er in den Lieferwagen, musterte den Fahrer, ging dann ums Fahrzeug herum und deutete auf die Hecktür. Der Mann neben ihm öffnete sie und gab dem 5
Offizier Gelegenheit, in den Lieferwagen zu leuchten. Vier mit Sturmgewehren bewaffnete Männer saßen dort auf dem Boden. Mehrere dunkle Segeltuchbeutel zeigten sich im Wagen, außerdem Säcke, die vielleicht Proviant und Trinkwasserbehälter enthielten. Der Offizier überprüfte auch den Laster und seinen Laderaum, kehrte dann zum Wachhaus zurück und verschwand darin. Der Beifahrer des Lieferwagens blieb bei den Soldaten stehen. Durch die Fenster war zu sehen, dass der Offizier telefonierte. Seine Männer standen am Tor, die Waffen in den Händen, und behielten den dunklen, schmutzigen Lieferwagen im Auge. Der Offizier legte auf, trat in die Tür des Wachhauses und gab den Soldaten ein Zeichen, die daraufhin den Schlagbaum hoben. Die beiden Fahrzeuge ließen das Wachhaus und sein Licht hinter sich zurück. Die Straße führte aus dem Tal, am Hang eines Hügels empor und über seine Kuppe hinweg durch die Steppe. Fünfzehn Minuten später erreichten sie ein umzäuntes und hell erleuchtetes Lager. Ein bewaffneter Wächter winkte Lieferwagen und Laster durchs Tor. Sie fuhren an zwei Panzern vorbei. Die Männer in den Türmen beobachteten die beiden Fahrzeuge und sprachen in die Mikrofone ihrer Headsets. Ein Soldat bedeutete den Wagen, vor einem einstöckigen Gebäude mit kleinen Fenstern zu halten. Vor diesem Gebäude und auf der Straße standen zwölf bewaffnete Soldaten in Kampfanzügen. Drinnen im Hauptraum saßen vier Personen an einem langen Tisch, drei Offiziere der Armee und eine Frau, gekleidet in ein gut geschnittenes Kostüm. Die Frau rauchte. Vor den Offizieren lagen Sturmgewehre auf dem Tisch. »Ich bin Ashruf«, sagte der Beifahrer aus dem Lieferwagen auf Russisch. Er musterte die Offiziere nacheinander und ver6
suchte offenbar, einen Eindruck von ihnen zu gewinnen. Sein Blick verharrte auf der Frau, die schlank war, langes schwarzes Haar hatte und etwa dreißig zu sein schien. »General Petrow«, sagte einer der Offiziere und sah auf die Uhr. »Sie sind spät dran.« »Wir wollten die Grenze nicht am Tag passieren.« Ashruf deutete nach oben. »Wegen der Satelliten.« »Unter all den Wolken können sie nichts sehen«, brummte General Petrow. Da irrte er, aber das wusste er nicht. Petrow war dicklich und mittelgroß, hatte kurzes graues Haar. Er nickte in Richtung eines eiförmigen Objekts auf einer Holzpalette in der Ecke des Raums. »Da ist er. Möchten Sie ihn untersuchen?« »Es sollten vier sein.« »Hier gibt es hunderte. Nachdem wir das Geld bekommen haben, können Sie sich vier aussuchen.« Ashruf trat zu dem Objekt und bückte sich, um es aus der Nähe zu betrachten. Er war gut in Form und etwas größer als der Durchschnitt, hatte einen kurzen, gepflegten Bart. Er trug eine Freizeithose, Sandalen, ein weites Hemd und einen Turban. Zwar war es hell im Zimmer, aber Ashruf holte eine Taschenlampe hervor und untersuchte damit jeden Quadratzentimeter des auf der Palette festgeschnallten Objekts. General Petrow näherte sich und ging neben Ashruf in die Hocke. »Sind Sie zufrieden?« Ashruf sah ihn kurz an und setzte die Inspektion fort. Schließlich richtete er sich auf, ging zur Tür und nach draußen. Er kehrte kurz darauf mit einem Aluminiumkoffer zurück, legte ihn vor der Palette auf den Holzboden und öffnete ihn. Nachdem er mehrere Schalter betätigt hatte, holte er einen Stab hervor, dessen Kabel er mit dem Koffer verband. Dann hielt er den Stab über das Objekt, bewegte ihn hin und her und behielt 7
dabei die Anzeigen der Messinstrumente im Auge. Schließlich schaltete er das Gerät aus, löste das Kabel des Stabs, schloss den Koffer und hob ihn. »Ich bin zufrieden«, sagte er. »Gut«, erwiderte Petrow. »Wir prüfen nun das Geld. Holen Sie es und legen Sie es auf den Tisch.« Ashruf und drei seiner Männer trugen Matchbeutel herein und entleerten sie auf dem Tisch: Währung der Vereinigten Staaten, Bündel aus Hundert-Dollar-Scheinen, jeweils fünfzig pro Bündel. Offiziere und Zivilisten nahmen einige der Bündel und begannen zu zählen. Ashruf und seine Männer standen in der Nähe und warteten. Die Frau, deren Name Anna Modin lautete, griff nach einem Bündel, verteilte die Banknoten auf dem Tisch und hob dann eine Ledertasche vom Boden neben ihrem Stuhl. Sie entnahm ihr eine schwarze Stablampe und ein Vergrößerungsglas, das an einer kleinen Lichtplatte befestigt war. Mit diesen Instrumenten untersuchte sie die Geldscheine, einen nach dem anderen. Anschließend sammelte sie die Banknoten, zählte sie und bündelte sie mit einem Gummiband. Dann griff sie tief in den Haufen, nahm ein weiteres Bündel und setzte die Untersuchungen fort. »Die Scheine sind alle echt«, wandte sich Ashruf an Petrow, der ihm keine Beachtung schenkte. Der General fuhr damit fort, das Geld zu zählen. Als Modin ihre Instrumente beiseite legte, stapelten die Soldaten die Bündel auf und zählten sie. »Zwei Millionen Dollar«, sagte Petrow. »Sind alle zum gleichen Ergebnis gekommen?« Niemand widersprach. Ein Wink von Petrow, und die anderen begannen damit, das Geld in den Matchbeuteln zu verstauen. Der General sah Ashruf an. »Möchten Sie diesen, oder wol8
len Sie alle vier zufällig auswählen?« Ashruf antwortete nicht sofort und überlegte. »Wir nehmen diesen und drei weitere.« »Jeder von ihnen wiegt etwa hundert Kilo. Sechs Männer können einen tragen.« Ashruf nickte erneut. »Nehmen Sie Ihre Leute«, sagte Petrow. Die bewaffneten Russen beobachteten, wie Ashruf und seine Begleiter aus dem Lieferwagen und dem Laster sich an der Palette versammelten. Auf Ashrufs Kommando hin hoben sie sie an und trugen sie durch die Tür zum Lastwagen. Mit viel Schnaufen und Pusten hoben sie die Palette mit dem Objekt darauf in den Transportraum des Lasters. Anschließend kletterten sie auf die Ladefläche, schoben die Palette in eine Ecke und sicherten sie dort mit Seilen. Petrow stieg in einen Lastwagen voller bewaffneter Soldaten, und Ashruf und seine Leute folgten ihm durch die Dunkelheit. Sie fuhren mehrere Kilometer weit, passierten einige hohe Zäune und gelangten in einen Bereich mit langen Reihen aus Erdhügeln. Schließlich hielt der Laster des Generals, und die Soldaten verließen seine Ladefläche, wiesen den Fahrer des zweiten Lastwagens an, vor einer stählernen Doppeltür zu parken. Einer der Bewaffneten schloss auf; zwei andere öffneten die Tür und schalteten im Innern des Erdhügels das Licht ein. Mehrere Dutzend Paletten standen dort, und auf jeder von ihnen lag ein eiförmiges Objekt, mit Metallbändern befestigt. Neben jeder Palette ragte eine Stahlstange aus dem Boden, und von dort aus führten Leitungen zu den Metallteilen an der Rückseite des jeweiligen Objekts. »Treffen Sie Ihre Wahl«, sagte Petrow. Die Objekte waren weiß lackiert, aber auf manchen wuchs ein Pilz. Ashruf kratzte etwas vom Pilzbefall und dem Lack darunter 9
ab. Im Licht seiner Taschenlampe bemerkte er Rostflecken. Erneut benutzte er das Gerät im Aluminiumkoffer. Nachdem er acht oder neun Objekte untersucht hatte, wählte er drei aus, bei denen die Oberflächenkorrosion geringer als bei den anderen war. Als Ashruf und seine Männer die Erdungsleitungen lösten, sagte General Petrow: »An Ihrer Stelle würde ich mit den Sprengköpfen vorsichtig sein, solange sie nicht geerdet sind. Die Zünder sind sehr empfindlich. Wenn sich in einem davon elektromagnetische Energie sammelt, so wäre es durchaus möglich, dass ihr lumpenköpfigen Hurensöhne euch plötzlich bei Mohammed in der Hölle wiederfindet, zusammen mit vielen eurer Freunde.« Ashruf schenkte dem General keine Beachtung. Er gab seinen Männern arabische Befehle und ließ sie um die erste Palette herum Aufstellung beziehen. Sie hoben sie vorsichtig an und brachten sie zum Lastwagen. Nachdem sie jenen Sprengkopf sicher verstaut hatten, kehrten sie ins Lager zurück und holten den nächsten. Das Verladen dauerte etwa eine halbe Stunde. Anna Modin stand vor dem einstöckigen Gebäude des Lagers, als die beiden Lastwagen zurückkehrten. Ashruf blieb neben dem Fahrer sitzen, während seine Männer den Laderaum verließen, die Tür schlossen und im Lieferwagen Platz nahmen. General Petrow und Modin sahen den beiden Fahrzeugen nach, als sie an den Panzern vorbei in Richtung Haupttor fuhren. »Ein profitabler Abend, General«, sagte Anna Modin. »Zwei Millionen amerikanische Dollar. Herzlichen Glückwunsch.« »Sie haben Ihre zehntausend verdient«, erwiderte Petrow und beobachtete die Rücklichter von Lieferwagen und Laster am Hang des niedrigen Hügels jenseits des Lagertors. Als sie außer Sicht gerieten, sagte er: »Lassen Sie uns auf unser Glück trinken. 10
Haben Sie ihn erkannt?«, fragte Petrow und meinte Ashruf. »Ja«, antwortete Anna Modin. »Der Name, den er am häufigsten benutzt, lautet Faruk Al-Zuair. Er ist Ägypter, glaube ich. Könnte auch Palästinenser oder Saudi sein. Wird von den Israelis und Ägyptern gesucht. Bomben sind seine Spezialität, aber wenn ich mich recht entsinne, fahnden die Ägypter nach ihm, weil er einige Touristen mit der Machete in Stücke gehackt hat. Ungläubige, Sie verstehen.« »Er hat Freunde mit Geld«, sagte Petrow. Er war ein praktisch denkender Mann. »Sie hätten der Welt einen großen Dienst erwiesen, wenn Sie ihn erschossen und das Geld behalten hätten«, sagte Anna. »Und dann wäre der Abend ebenso profitabel gewesen«, entgegnete Petrow und lächelte. »Leider verstehen Sie die Feinheiten des Kapitalismus und internationalen Handels nicht, Anna Mikhailowa. Kunden zu töten ist schlecht fürs Geschäft. Zuair und seine Freunde kehren vielleicht eines Tages mit weiteren Millionen zurück.« »Eines Tages«, sagte Anna Modin hoffnungsvoll und folgte General Petrow zu seinem Büro.
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1 Der hoch gewachsene, schlanke Mann trat aus dem Gebäude der Vereinten Nationen in Manhattan, blieb oben an der Haupttreppe stehen und nahm eine Zigarette aus einem metallenen Etui. Er trug einen dunkelgrauen, teuer wirkenden Anzug und eine dunkelblaue Seidenkrawatte, darüber einen gut geschnittenen Wollmantel. Er zündete die Zigarette an, ließ das Feuerzeug zuschnappen und ging die Treppe hinunter. Er gesellte sich den vielen Passanten auf dem Bürgersteig hinzu und ging zielstrebig, schenkte den anderen Leuten nicht mehr Beachtung als ein New Yorker. An der sechsundvierzigsten Straße Ost wandte er sich Richtung Westen und folgte dem Verlauf der Einbahnstraße, auf der wie üblich dichter Verkehr herrschte. Er ging mit den langen Schritten eines Mannes, der ein Ziel hat, ohne es besonders eilig zu haben, überquerte die Second, Third, Lexington und Park Avenue, wandte sich dann in der Madison Avenue nach Norden. Als er die achtundvierzigste Straße erreichte, setzte er den Weg nach Westen fort, überquerte die Fifth Avenue, ignorierte die Menge auf dem Platz vor dem Rockefeller Center, ging weiter, warf die Zigarette vor dem NBC-Gebäude weg – es war bereits seine dritte – und ging hinein. Sieben Minuten später, in der U-Bahn-Station des Rockefeller Center, betrat er, kurz bevor sich die Türen schlossen, den Waggon eines nach Süden fahrenden F-Zugs, und hielt sich an einer Stange neben der Tür fest. Der Zug setzte sich sofort in Bewegung. Während der Zug durch die Dunkelheit donnerte, musterte der große Mann wie beiläufig die anderen Passagiere. Locker und entspannt stand er da, hielt sich an der Stange fest und beobachtete ohne erkennbares Interesse, wie bei jedem Halt Leute ein- und ausstiegen. 12
In Brooklyn verließ er den Zug, ging die Treppe zur Straße hoch, kehrte dann sofort in die U-Bahn-Station zurück und nahm einen anderen F-Zug nach Norden, zurück nach Manhattan. Diesmal verließ er den Zug bei der Station Grand Street in Little Italy. Oben auf dem Bürgersteig ging er nach Süden, und eine Stunde später passierte er den Eingang der Staten Island Ferry und schritt durch den Battery Park. Mehrmals sah er auf die Uhr. Schließlich blieb er stehen, zündete sich eine weitere Zigarette an und nahm auf einer Bank Platz, von der aus man über den Hafen von New York sehen konnte. Fünfzehn Minuten später stand er wieder auf, kehrte zum Fährenpier zurück und ging auf dem Broadway nach Norden. Nach drei Blocks stieg er in ein nach Norden fahrendes Taxi. »Neunundsiebzigste und Riverside Drive, bitte.« Auf dem Broadway kamen sie nur im Schneckentempo voran. Der Taxifahrer, ein Mann aus dem Mittleren Osten, fluchte bei jedem roten Licht. Nördlich des Times Square war der Verkehr flüssiger. Nachdem der große Mann das Taxi verlassen hatte, ging er in Richtung Hudson River, und wenig später schlenderte er über den River Walk. Er betrat den Fußgängerpier, der in den Fluss ragte, und kam an einigen Dutzend Personen vorbei, die am Geländer standen und nach Süden blickten. Viele von ihnen hatten Kameras und machten Aufnahmen von der Skyline, in der die beiden Türme des World Trade Center fehlten. Am Ende des Piers gab es mehrere Sitzbänke, und bis auf eine von ihnen waren alle frei. Vier Männer, zwei von ihnen Polizisten in Uniform, hielten Spaziergänger und Touristen vom Bereich mit den Sitzbänken fern, doch der große Mann trat wortlos an ihnen vorbei und näherte sich der Sitzbank, auf der ein Mann in mittleren Jahren saß. Er trug Jeans, Turnschuhe und eine ver13
blasste Skijacke. Die Augen verbargen sich hinter einer Sonnenbrille. Er hielt eine zusammengerollte Zeitung in der einen Hand und sah auf, als sich der große Mann näherte. »Guten Morgen, Jake«, sagte der Große. »Hallo, Ilin.« »Ich bin sauber, nehme ich an.« »Seit der U-Bahn-Station beim Rockefeller Center.« Der hoch gewachsene Mann nickte. Er hieß Janas Ilin und war Führungsoffizier des SVR (Slushba Vneishnei Rasvedki), des russischen Auslandsgeheimdienstes – der Nachfolger der Auslandsabteilung des Ersten Hauptdirektorats, des sowjetischen KGB. Der Mann in Jeans war Konteradmiral Jake Grafton von der Marine der Vereinigten Staaten. Er sah aus wie Ende vierzig, hatte kurzes, dünner werdendes Haar, das er direkt nach hinten kämmte. Seine Nase wirkte ein wenig zu groß für das Gesicht. Er schien recht gut in Form zu sein, und ein Rest von Sonnenbräune wies darauf hin, dass er viel Zeit im Freien verbrachte. »Nicht unbedingt klug, ein Treffen an einem so ungeschützten Ort«, sagte Jake. Ilin hatte den Treffpunkt vorgeschlagen. Ilin lächelte. »Manchmal sind offene Ort wie dieser die besten.« Er sah sich um. Eine Zeit lang blickte er nach Süden, zum südlichen Ende von Manhattan, ließ den Blick dann an der Küstenlinie entlanggleiten, musterte die Leute auf dem Pier und beobachtete die Boote auf dem Hudson. »Eine solche Ungeheuerlichkeit hätte in Russland nicht geschehen können«, sagte er und deutete zum südlichen Ende von Manhattan. Jake Grafton brummte unverbindlich. »Ich weiß, was Sie denken«, fuhr Ilin nach einem kurzen Blick auf den Amerikaner fort. »Sie denken, dass wir einigen Dutzend Arabern gar nicht erst die Möglichkeit gegeben hätten, sich frei in unserem Land zu bewegen, und da haben Sie 14
Recht. Aber das ist nicht der kritische Punkt. Bin Laden, AlKaida, der Islamische Dschihad, all die religiösen Fanatiker wissen: Wenn sie in Russland so etwas anstellen …«, er deutete nach Süden, »… jagen wir sie bis ans Ende der Welt und erledigen sie, wo immer wir sie finden. Wir rotten sie aus, bis zum letzten Mann.« »So wie der KGB Hafizullah Amin in Kabul umbrachte?«, fragte Jake. 1979 hatte eine mit afghanischen Uniformen getarnte Spezialeinheit des KGB den Präsidentenpalast angegriffen und den Präsidenten von Afghanistan, seine Familie und sein Gefolge getötet. Der von Moskau ausgewählte Nachfolger bat um sowjetische Hilfe, die glücklicherweise sofort zur Verfügung stand, da die Rote Armee bereits ins Land eingefallen war. »Genau. Aber ihr Amerikaner geht nicht so vor wie wir Russen.« Ilin nahm eine Zigarette aus seinem Etui und zündete sie an. »Dem Himmel sei Dank. Ihr habt eine Million Afghanen umgebracht und wie viele Soldaten verloren? Etwa dreißigtausend?« »Wenn ich mich recht entsinne, habt ihr vier Millionen Vietnamesen getötet und achtundfünfzigtausend Soldaten in eurem kleinen Buschfeuerkrieg verloren.« »Ich schätze, das habe ich herausgefordert.« Jake seufzte. »Zwei Männer sind Ihnen zum Rockefeller Center gefolgt. Offenbar Russen. Jemand dort drüben traut Ihnen nicht.« »Eins zu null für Sie«, sagte Janas Ilin. Seine Lippen deuteten ein Lächeln an. »Können Sie sie beschreiben?« Jake griff in die Jackentasche und holte zwei Fotos hervor. Er reichte sie Ilin, der sie nacheinander betrachtete und dann zurückgab. »Ich kenne sie. Danke, dass Sie heute gekommen sind.« »Warum ich?«, fragte Grafton, als er die Fotos einsteckte. 15
Am vergangenen Tag hatte Ilin Jakes Frau Callie im GraftonApartment in Roslyn, Virginia, angerufen und sie um die Telefonnummer ihres Mannes gebeten. Sie kannte Ilin – im letzten Jahr hatte er mit Jake zusammengearbeitet –, und deshalb gab sie ihm die Nummer. Daraufhin rief Ilin die vom FBI und der CIA gemeinsam gebildete Antiterrorismus-Taskforce im CIAHauptquartier von Langley an, nannte Graftons Namen und bat um ein Gespräch mit ihm. Der Anruf kam von einem Münzfernsprecher in New York City. Als sich Grafton meldete, bat Ilin um eine Begegnung in New York am folgenden Tag. Sie vereinbarten das Treffen, und Grafton traf Vorbereitungen dafür, Ilin bei seinem Weg durch New York von fünf Männern beobachten zu lassen, um sicherzustellen, dass ihm niemand folgte. Wenn er einen Schatten gehabt hätte, wäre Jake nicht auf dem Pier gewesen. »Ich habe gehört, dass Sie der verantwortliche Verbindungsoffizier der Antiterrorismusgruppe von FBI und CIA sind. Ich kenne Sie, und deshalb …« »Ich glaube nicht, dass das geheim ist, aber ich kann mich auch nicht an eine Presseverlautbarung erinnern, die meine neuen Aufgaben bekannt gegeben hat.« Ein Lächeln huschte über Ilins Gesicht. »Der Umstand, dass ich Bescheid weiß, soll meine Empfehlung sein. Ich schlage vor, wir schieben dieses Thema erst einmal beiseite.« Jake nahm die Sonnenbrille ab, klappte sie vorsichtig zusammen und verstaute sie in der Innentasche seiner Jacke. Seine grauen Augen, so stellte Ilin fest, blickten sehr aufmerksam, als er den Russen musterte. »Was machen Sie in New York? Kontaktaufnahme mit einem Maulwurf?« »Ich bin ihretwegen hier.« »In offiziellem Auftrag?« »Nein.« 16
Ilin ging zum südlichen Geländer und lehnte sich darauf. Jake Grafton trat zu ihm. Ein Polizeihubschrauber surrte flussabwärts, und man hörte Jets im Anflug auf Newark und Teeterboro. Kondensstreifen zeichneten sich am blauen Himmel ab. Ilin sah kurz zu ihnen auf und schnippte seinen Zigarettenstummel in den Fluss. »Islamische Terroristen können in drei Kategorien eingeteilt werden«, sagte er im Plauderton. »Die Fußsoldaten werden in Flüchtlingslagern und Slums der arabischen Welt rekrutiert. Die jungen Männer sind ungebildet und in den meisten Fällen Analphabeten. Sie wissen nur wenig oder gar nichts von der westlichen Welt. Sie sind die Stoßtrupps und Selbstmordattentäter, die den Israelis so sehr zusetzen und Touristen in der arabischen Welt ermorden. Sie sprechen nur Arabisch. In der arabischen Gesellschaft fallen sie nicht auf, aber außerhalb davon kommen sie nicht zurecht. Solche Leute bildeten Bin Laden und andere seiner Art in Afghanistan, Libyen und im Irak zu islamischen Kriegern aus.« Grafton nickte. »Die zweite Kategorie besteht aus besser gebildeten Arabern, die Lesen und Schreiben können und über bestimmte Fertigkeiten verfügen. Die Fundamentalisten rekrutieren diese Leute, indem sie an ihre Religiosität appellieren und sie zu ihrer pervertierten Form des Islam konvertieren. Die betreffenden Personen haben oft außerhalb der arabischen Welt gelebt und können sich frei in der westlichen Gesellschaft bewegen. Diese Leute sind gefährlich. Sie waren es, die die Flugzeuge für den Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon entführten. Übrigens: Das Flugzeug, das aufs Pentagon fiel, sollte das Weiße Haus zerstören. Und das andere, das in Pennsylvania abstürzte, sollte das Kapitol treffen.« »Mhm«, brummte Grafton. Er wusste natürlich davon, aber Ilin hatte sich große Mühe bei der Vorbereitung dieses Treffens gegeben, und er war bereit, sich alles anzuhören. 17
»Die dritte Terroristenkategorie besteht gewissermaßen aus Generälen. Bin Laden und seine wichtigsten Leute, Financiers, Bankiers, technische Berater und so weiter. Es sind Muslime. Aus irgendeinem Grund passt Terrorismus in ihr ethnisches und religiöses Bild von der Welt.« Ilin legte eine kurze Pause ein und sah sich um. Es geschah fast automatisch. »Und dann gibt es da noch eine vierte Kategorie. Wenige dieser Leute sind Araber, wenige sind Muslime. Sie sehen Profit im Terrorismus. Einige von ihnen finden Gefallen an dem von Terroristen verursachten Schmerz, aus welchen Gründen auch immer. Diese Menschen sind Feinde Amerikas und der westlichen Zivilisation. Ich bin heute hierher gekommen, um mit Ihnen über einige Leute dieser Kategorie zu reden.« »Diese vierte Gruppe …«, sagte Jake. »Gehören Russen zu ihr?« »Russen, Deutsche, Franzosen, Ägypter, Japaner, Chinesen, Hindus … Die Liste ließe sich fortsetzen. Amerika ist die Macht auf dem Planeten. Es gibt viele Leute, die einen Groll gegen diese Weltmacht hegen.« »Hass ist ein sehr mächtiges Gefühl«, warf Jake ein. »Einer von Amerikas vielen Feinden ist ein russischer General namens Petrow. Er hasst Amerika nicht, er liebt Geld. Vor einigen Wochen hat er vier Atomsprengköpfe für zwei Millionen Dollar verkauft.« »An wen?« »Sie nennen sich ›Schwert des Islam‹. Petrow leitet einen Stützpunkt in der Nähe von Rubtsowsk. Der Leiter der Gruppe, die die Sprengköpfe abholte, war ein gewisser Faruk Al-Zuair, ein Mann, der sich schon seit vielen Jahren im Mittleren Osten herumtreibt und dort blutige Spuren hinterlassen hat. In Ägypten ermordete er einige Touristen und entging der Verhaftung durch die Flucht in den Irak. Ich weiß nicht, wer seine Freunde 18
sind und wo sie sich aufhalten. Eigentlich sollte ich nicht einmal etwas von Petrow, Zuair und den Sprengköpfen wissen.« »Aber Sie wissen davon.« »Ein wenig, ja.« »Stimmt es? Oder ist es erfundener Kram, von dem man erwartet, dass Sie ihn weitergeben?« »Ich glaube, es stimmt. Obwohl man nie absolut sicher sein kann. Und ganz ehrlich: Meine Vorgesetzten haben keine Ahnung, dass ich Ihnen diese Information gebe.« »Wie erfuhren Sie davon?« Die beiden Männer standen Schulter an Schulter. »Darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben. Es genügt zu sagen, dass ich die Information für glaubwürdig halte. Ich kenne Petrow. Er wäre zu einem solchen Geschäft fähig. Ich informiere die amerikanische Regierung, damit sie die erforderlichen Maßnahmen ergreift. Die meisten unserer hochrangigen Politiker wissen nichts von dieser Angelegenheit, und selbst wenn sie davon wüssten: Sie würden nichts zugeben. Sie können sich keine Schwierigkeiten mit den Vereinigten Staaten leisten.« »Soll das heißen, wir können von der Information keinen Gebrauch machen?« »Ihre Regierung sollte nicht versuchen, Moskau auf dieser Grundlage unter Druck zu setzen. Man würde alles leugnen. Und lassen Sie meine Regierung nicht wissen, woher Sie die Information haben. Ich wäre ein toter Mann, wenn sie davon erführe.« »Ich werde mein Bestes tun.« »Kommen wir nun zu der Frage, woher ich weiß, dass Sie der Antiterrorismusabteilung zugewiesen sind. Wir haben einen Maulwurf bei der CIA.« »Lieber Himmel.« Jake schüttelte den Kopf. 19
»Er heißt Richard Doyle. Lassen Sie ihn nichts mit meinem Namen drauf sehen.« »Und wenn wir ihn verhaften?« »Das liegt bei Ihnen. Solange er nicht erfährt, dass ich ihn verraten habe.« »Wir könnten ihn benutzen, um dem russischen Geheimdienst falsche Informationen zukommen zu lassen. Es gibt einen bei Spionen üblichen Ausdruck dafür, aber ich habe ihn vergessen.« »Richard Doyle ist ein Verräter«, sagte Janas Ilin leise. »Er unterschrieb sein Todesurteil, als er sich vor fünfzehn Jahren bereit erklärte, für die Kommunisten zu spionieren. Seit damals lebt er mit geliehener Zeit.« »Fünfzehn Jahre?« Jake war entsetzt. Ilin holte das metallene Etui hervor, öffnete es und entnahm ihm eine weitere Zigarette. Er drehte sie hin und her. Jake stellte fest, dass seine Hände dabei ganz ruhig blieben. »Fünfzehn Jahre … Und jetzt wird er preisgegeben.« »Mr. Doyle muss leider für eine größere Sache geopfert werden.« »Wer hat die Entscheidung getroffen?« »Ich«, sagte Ilin, ohne dass sich sein Tonfall veränderte. »Ein Mann muss Verantwortung für die Welt übernehmen, in der er lebt. Wenn nicht, macht es jemand anders für ihn, Leute wie Bin Laden, Lenin, Stalin, Hitler, Mao … Blutrünstige Fanatiker sind immer bereit, uns von unseren Übeln zu befreien.« Er zuckte mit den Schultern. »Zufälligerweise glaube ich, dass unser Planet mit dieser Zivilisation besser dran ist als ohne. Diese Welt verdient es nicht, dass sechs Milliarden Menschen Hunger leiden.« »Und Sie? Sind Sie ein Verräter?« 20
»Nennen Sie mich, wie Sie wollen.« Ilin lächelte grimmig. »Ich möchte nicht davon lesen, dass die Explosion von vier Zweihundert-Kilotonnen-Atombomben die einzige übrig gebliebene Supermacht verwüstet. Russland braucht einige Freunde.« »Wo sind die Sprengköpfe jetzt?« »Ich weiß es nicht. Sie könnten überall auf der Erde sein«, sagte Ilin und rauchte langsam. Flugzeuge zogen über den Himmel. Die Brise des späten Winters kam aus dem Westen und brachte den Geruch des Hudson mit. »Welche Art von Informationen bekommt der SVR von Doyle?« »Das ist eine interessante Frage«, sagte Ilin, und seine Miene erhellte sich. »Ich bekomme nicht viel von dem Doyle-Material zu sehen, aber man hört gewisse Dinge und stellt Vermutungen an. Doyle ist eine gute Quelle. Fast zu gut. Ich habe den Eindruck, dass sich seine Kontrolleure manchmal gefragt haben, ob er ein Doppelagent ist. Aber seine Informationen sind gut gewesen. Und sie stammen aus einem erstaunlich breiten Abschnitt der nachrichtendienstlichen Welt.« »Bekommt er Informationen von jemandem in unserer Regierung?« »Er ist bemerkenswert gut informiert.« »Irgendeine Ahnung, woher der andere Kram stammen könnte?« »Irgendwo aus dem FBI, nehme ich an. Spionageabwehr.« »Können Sie mir das eine oder andere Beispiel nennen?« »Nein.« »Das Schwert des Islam«, murmelte Jake. »Ich habe davon gehört. Man munkelt, dass jene Leute mit dem ManhattanProjekt in Verbindung standen, aber wir haben angenommen, damit hätte es sich.« Er deutete zur südlichen Skyline. 21
»Das wäre eine gefährliche Annahme«, sagte Ilin. »Vier taktische Atomsprengköpfe für LangstreckenSchiffabwehrraketen. Flottenkiller. Jeder von ihnen mit dem Zwanzigfachen der Vernichtungskraft Ihrer Hiroshima- und Nagasaki-Bomben. Leicht zu transportieren, In den Händen von kompetenten Technikern könnten sie als mobile Bomben benutzt werden.« »Praktisch.« »Sehr. Ich denke mir, dass ein Sprengkopf nicht mehr wiegt als etwa hundert Kilo, und er dürfte kaum größer sein als ein Fußball. Jemand mit Humor hat es vor Jahren so ausgedrückt: Terroristen könnten die Sprengköpfe als Kokain tarnen und sie durch den Flughafen von Miami bringen.« »Sonst noch etwas?« »Gehen Sie nicht unbedingt davon aus, dass Amerika das Ziel ist. Oh, man hält Amerika natürlich für den großen Satan und so, aber das wahre Ziel ist die westliche Zivilisation.« Ilin klatschte in die Hände. »Das Netz aus Flugzeugen, Computern, Telefonen und Banken – das alles wird, von religiösen Fanatikern bedroht, die das weltliche Gebäude zerstören möchten, das Milliarden Obdach gewährt, sie ernährt und kleidet. Sie möchten Chaos schaffen und den Vorrang ihrer Sache beweisen. Im neuen dunklen Zeitalter, das der Vernichtung unserer Zivilisation folgt, wollen sie ihr heiliges Reich errichten. Stellen Sie sich das vor: Milliarden von ungebildeten, hungernden Menschen, die sich fünfmal am Tag nach Mekka verneigen.« »Sie haben noch nicht gewonnen, und sie werden auch nicht gewinnen«, erwiderte Jake Grafton. »Wenn sie einen heiligen Krieg beginnen, mit dem Islam auf der einen und der Zivilisation auf der anderen Seite, so wird der Islam verlieren.« »Aus unserem Blickwinkel betrachtet scheint das eine sichere Vorhersage zu sein«, sagte Janas Ilin. »Jene Fanatiker wollen 22
die Vormacht der reichen Nationen brechen, und dabei steht Amerika an erster Stelle. Sie glauben, dass der Kampf die islamischen Massen radikalisieren wird und die weltlichen arabischen Regierungen hinwegfegt, die versuchen, die kulturelle Kluft zu überbrücken. Das Ziel besteht darin, die glorreiche Vergangenheit zurückzuholen und eine vereinte islamische Nation zu schaffen, die keinen Platz für Dissens lässt und ihrer Vision von Gottes Gesetz unterworfen ist. Sie glauben, den Sieg zu erringen, weil sie Gott auf ihrer Seite zu wissen meinen.« »Tanzende Derwische«, brummte Grafton. »Viele Muslime haben Bin Laden für den Mahdi gehalten, den islamischen Messias. Er hat sich selbst in dieser Rolle gesehen. Wie dem auch sei: In der muslimischen Welt gibt es starke Spannungen, und deshalb bekommen wir es wieder mit einem heiligen Krieg zu tun.« »Die Terroristen haben mal gewonnen und mal verloren«, sagte Jake nachdenklich. »Es ist ihnen tatsächlich gelungen, Angst und Schrecken zu verbreiten.« Ilin drehte sich und blickte flussaufwärts, ans Geländer gelehnt. »In all meinen Jahren beim Geheimdienst habe ich nie eine geheime Operation in der Größe des Angriffs vom elften September gesehen. Wirklich bemerkenswert.« Er seufzte. »Sie war nur deshalb möglich, weil Amerikaner so vertrauensvoll und arglos sind.« »Das hat sich inzwischen geändert«, sagte Jake Grafton bitter. »Ihre Landsleute haben etwas dazugelernt und dafür einen hohen Preis bezahlt. Eigentlich sollte man annehmen, dass zukünftige terroristische Aktionen einen kleineren Maßstab haben und von nur wenigen Personen durchgeführt werden. Gift in einem kommunalen Trinkwassersystem, manipulierte Nahrungsmittel – etwas in dieser Art würde die Erfolgsaussichten 23
maximieren, das Risiko minimieren und für großes Entsetzen sorgen. Doch jemand hat General Petrow viel Geld für Atomwaffen gezahlt.« Ilin schnippte den Zigarettenstummel fort. Er flog in einem weiten Bogen und verschwand im dunklen Fluss. »Das Gerede von Gerechtigkeit, über das ich in den Zeitungen lese, besorgt mich«, fuhr Ilin fort. »Dieser Krieg betrifft keine Gerichte und Anwälte mit ihren Spitzfindigkeiten und ihrem Juristenjargon. Ihre Feinde erringen einen Sieg, wenn Sie ihnen einen Gerichtssaal als Bühne geben. Wenn ihr Amerikaner das nicht versteht, seid ihr verloren.« Ilin streckte die Hand aus. Jake schüttelte sie. »Viel Glück, mein Freund.« »Danke dafür, dass Sie gekommen sind, Ilin.« Janas Ilin nickte kurz, blickte erneut flussabwärts und ging dann fort. Jake beobachtete, wie er über den Pier schritt und auf dem Bürgersteig zwischen den blattlosen Bäumen verschwand. Einer der nächsten Angler rollte die Schnur ein und nahm die Rute auseinander. Er verstaute sie in einem Behälter und trat zu Jake, der noch immer flussabwärts sah. »Was hatte er zu sagen, Admiral?« Die Frage stammte von Commander Toad Tarkington, Graftons Assistent. Seit Jahren arbeitete er für Jake. Er war ein Stück kleiner als der Admiral, und Lachfalten zeigten sich in seinem ebenmäßigen, attraktiven Gesicht. »Er hat mir mitgeteilt, dass vor einigen Wochen ein russischer General vier Raketensprengköpfe an eine Gruppe namens Schwert des Islam verkauft hat.« »Glauben Sie ihm?« »Die Geschichte klingt plausibel. Angeblich weiß der SVR nichts davon, dass er uns diese Information gibt, mit der er aus 24
reiner Herzensgüte die Sache der Zivilisation unterstützen möchte.« »Wo sind die Sprengköpfe jetzt?« »Er behauptet, das wisse er nicht.« Toad schürzte die Lippen und pfiff leise. »Vier Sprengköpfe! Es geht mal wieder heiß her.« »Ja, man könnte das Heulen kriegen, nicht wahr?«
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2 Am Nachmittag kehrte Jake nach Washington zurück und suchte sofort die CIA-Zentrale in Langley auf. Sein Vorgesetzter hieß Coke Twilley, ein korpulenter, kahl werdender Mann, der, wie Jake vermutete, unmittelbar nach seinem Studium zur CIA gekommen war. Er hatte einmal seinen Yale-Abschluss erwähnt, was niemanden überraschte: In den fünfziger und sechziger Jahren hatte die CIA schwerpunktmäßig bei der Ivy League rekrutiert. An der rechten Hand trug er offenbar den Ring seiner Collegeklasse. Twilley sah wie ein Universitätsprofessor aus und verhielt sich auch so. Nur selten zeigte sich ein Lächeln in seinem fleischigen Gesicht, das meistens keine Gefühle verriet, abgesehen von Langeweile. Man gewann den Eindruck, dass er nur an einem Teil seines beruflichen Lebens Gefallen fand: am Meinungsaustausch mit seinesgleichen, die dünn gesät waren in den schmutzigen Niederungen von Spionage und Büropolitik. Seine einzige menschliche Eigenschaft war eine suchtartige Abhängigkeit von Coca-Cola, der Version mit Zucker. Er trank das Zeug praktisch den ganzen Tag über, und das erklärte seinen Spitznamen. Was das Getränk mit seinem Blutzuckerniveau anstellte, wusste allein sein Arzt. Der stellvertretende Abteilungsleiter hieß Khanh Tran, und alle nannten ihn Sonny. Der gertenschlanke Vietnamese war als Siebenjähriger in die Vereinigten Staaten gekommen. Damals hatte er kein Wort Englisch gesprochen, und noch heute ließ sich ein leichter Akzent bei ihm vernehmen. Er war ein Absolvent der California Polytechnic State University und hatte sein ganzes Leben als Erwachsener in der CIA verbracht. An diesem Nachmittag in Twilleys Büro nahmen Coke Twilley und Sonny Tran Jakes Bericht entgegen, ohne ihn zu unterbrechen. Der Admiral legte sorgfältig jeden einzelnen Punkt 26
dar, und als er fertig war, fragte Twilley: »Haben Sie einen Vorschlag, wie wir dies verifizieren können?« »Beschaffen Sie sich Informationen aus einer anderen Quelle«, erwiderte Jake trocken. »Wo, glauben Sie, sind die Sprengköpfe jetzt?« Twilley drehte einen teuren Füllfederhalter hin und her, ein Weihnachtsoder Geburtstagsgeschenk aus längst vergangener Zeit. Wie üblich wirkte er gelangweilt, und vielleicht langweilte er sich tatsächlich. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Und Ilin weiß es ebenso wenig.« »Richard Doyle? Ich kenne ihn seit Jahren. Ein russischer Spion? Glauben Sie das?« »Die Behauptung dürfte zumindest einer Überprüfung wert sein. Wenn es nicht stimmt, ist kein Schaden angerichtet. Und wenn es stimmt …« Jake sprach den Satz nicht zu Ende. »Die Russen haben mir nie gefallen«, sagte Twilley, einfach so. Er trank einen Schluck Coke aus einer Kaffeetasse, lehnte sich dann auf seinem gepolsterten Drehstuhl zurück und faltete die Hände auf dem weiten Bauch. Er hatte die Angewohnheit, andere Leute eulenhaft anzustarren, und jetzt richtete er diesen Blick auf Jake – er blinzelte so selten, dass man glauben konnte, er würde nie blinzeln. »Ein Informationsgeschenk vom SVR, von der KGBBande …« Twilley schnaufte verächtlich. »Der schlimmste Abschaum der ganzen Erde. Stalins Schurken. Haben dreißig Millionen ihrer eigenen Leute umgebracht! Ich wette meine Pension, dass die Mistkerle seit Jahren Waffen an Terroristen verkaufen und das Geld in die eigene Tasche stecken. Jetzt befürchten sie, dass die Terroristen irgendwo eine Atombombe hochgehen lassen und sie damit in Schwierigkeiten bringen. Sie wollen ihren verdammten Arsch retten, indem sie uns was zuflüstern und die Schuld irgendeinem unbedeutenden General 27
geben, der irgendwo in der Provinz verrottet. Diese Burschen würden dem Teufel Kohlen verkaufen!« »Sie haben schon einmal mit Ilin zu tun gehabt, Amiral, und wahrscheinlich kennen Sie ihn besser als irgendjemand in unserer Regierung«, sagt Sonny Tran glatt. »Haben Sie den einen oder anderen Gedanken, den Sie Mr. Twilley mitteilen möchten?« »Ja«, erwiderte Jake Grafton. »Ilin gab uns etwas, womit wir beginnen können. Das Schwert des Islam. Welche Gründe auch immer Ilin dafür hatte, uns zu informieren: Wir müssen Ermittlungen einleiten. Es wäre absolut verantwortungslos, darauf zu verzichten.« »Wir werden ermitteln, Admiral«, versicherte Tran. »Und es erübrigt sich der Hinweis, dass wir auch der Sache mit Doyle auf den Grund gehen müssen.« »Wenn sich der Hinweis erübrigt – warum weisen Sie dann darauf hin?«, fragte Twilley. »Ich möchte keinen Zweifel daran lassen, dass ich Ermittlungen dringend empfehle. Nur für den Fall, dass Ilins Informationen irgendwo in unserem Apparat versickern.« Twilleys Gesicht glich einer Maske. »Ich finde diese Bemerkung anstößig, Grafton. Halten Sie die Agency für inkompetent oder schlampig?« »Niemand kann bei jedem Kampf siegen«, sagte Jake. »Aber wir sollten besser den Krieg gewinnen. Das können Sie verstehen, wie Sie wollen.« Ein mieser Tag war das gewesen. Jake hatte schlechte Laune, und die Begegnung mit Coke Twilley verbesserte sie nicht. Er stand auf, verließ Twilleys Büro und schloss die Tür hinter sich. Als Jake an jenem Abend das Apartment in Roslyn erreichte, 28
stellte er fest, dass seine Frau Callie und seine Tochter Amy Gäste hatten. Toad Tarkingtons Frau, Rita Moravia, saß mit ihrem dreijährigen Sohn auf dem Schoß neben Jack Yocke, einem Reporter und Kolumnisten der Washington Post, den die Graftons schon seit Jahren kannten. Yocke hatte eine Freundin mitgebracht, eine hoch gewachsene Frau, die einen Anzug trug und etwa dreißig zu sein schien. Sie hieß Greta Fairchild. Nach den Vorstellungen folgte Jake Callie in die Küche und küsste sie. »Wie ist es in New York gelaufen?«, fragte sie, und ihre Stimme war dabei kaum mehr als ein Flüstern. »So lala.« »Wie geht es ihm?« »Hat sich praktisch nicht verändert, soweit ich das feststellen konnte. Raucht noch immer eine nach der anderen.« »Hoffentlich machen dir die vielen Leute nichts aus. Ich wusste nicht, wann du nach Hause kommen würdest, und wir haben Yocke und die Tarkingtons schon vor Wochen eingeladen. Rita meint, Toad wird in einigen Minuten hier sein.« »Nein, macht überhaupt nichts.« Jake gab seiner Frau noch einen Kuss. »Hab dich vermisst.« »Sei vorsichtig«, warnte Callie, als er den Pullover auszog und auf einen Stuhl warf. »Fairchild ist Anwältin, scharfsinnig und ein wenig streitlustig, fürchte ich.« »Hast du Angst, dass sie mich verklagt?« »Ich habe Angst, dass du dich auf eine Kontroverse mit ihr einlässt. Du siehst aus, als könntest du Nägel kauen und Reißzwecken spucken.« Jake holte tief Luft, ließ den Atem langsam entweichen und lächelte breite. »Wie ist es hiermit?«, fragte er. »Besser. Geh und setz dich. Ich bringe dir ein Glas Wein.« Der kleine Tarkington rutschte vom Schoß seiner Mutter und 29
lief zu Jake, als der seiner Tochter Amy einen Kuss auf die Wange gab. »Onkel Hake, Onkel Hake, ich habe heute gepupt.« »Zum Stolz seiner Mutter«, sagte Rita, als die Erwachsenen lachten. »Mach weiter so, Sohn, dann bringst du es zu was in der Welt.« »Du wirst ein richtig großer Junge«, sagte Jake, hob den Knaben hoch und schmuste kurz mit ihm. Er nahm seinen üblichen Platz am oberen Ende des Tisches ein und behielt den Jungen auf dem Schoß. Yocke war groß und schlaksig. Er lächelte, als Jake würdevoll zuhörte, während der Dreijährige von seinen neuesten Toilettenabenteuern erzählte. Als das Thema erledigt war, sagte der Reporter zum Admiral: »Ich wusste gar nicht, dass man in der Marine so ungezwungen geworden ist. Jeans, na so was.« »Wir versuchen, mit der Zeit zu gehen.« Und damit begann ein lockeres Gespräch. Greta Fairchild hatte sich auf Verwaltungsrecht spezialisiert und arbeitete seit fünf Jahren für eine Washingtoner Kanzlei. Sie stammte aus Kalifornien, und Jake vermutete, dass Yocke und sie seit etwa einem Jahr zusammen waren. »Haben Sie jetzt etwas mehr Zeit, da Sie in Washington sind?«, wandte sich Callie an Rita. »Nur am Wochenende. Ich habe meine Fluglehrer-Zulassung bekommen. Tommy Carmellini ist mein erster Schüler. Es fällt mir schwer, Zeit fürs Fliegen zu finden, aber inzwischen haben wir vier Flugstunden hinter uns.« »Erschreckt er Sie noch immer?« »Nicht so sehr wie zu Anfang. Er lernt. Ich glaube, es gefällt ihm. Nachher trinkt er Bier mit Toad und erzählt ihm alles.« Toad traf fünfzehn Minuten nach Jake ein und brachte einen hohen Kinderstuhl mit. Er schüttelte allen die Hand, zog Amy 30
hoch, gab ihr einen bühnenreifen Kuss und setzte sich dann auf den leeren Stuhl neben seiner Frau. Amy hielt sich an der Rückenlehne ihres Stuhls fest und schnappte nach Luft. »Ich liebe es, wenn die Tarkingtons zum Essen kommen.« »Zwei Tage bist du weg gewesen«, sagte Rita eisig zu Toad. »Und ich bekomme keinen romantischen Begrüßungskuss. Ist das ein Wink mit dem Zaunpfahl?« »Steh auf, Teuerste.« Alle jubelten, als Toad Rita einen leidenschaftlichen FilmKuss gab. Als sie sich voneinander lösten, waren Ritas Wangen gerötet. »Na, wie sieht’s aus mit uns?«, fragte Toad. »Du hast mich überzeugt. Setz dich und sei artig.« Dem alten Toad gelingt es immer, die Situation aufzulockern, dachte Jake. Er zwinkerte Callie zu und nippte am Wein. »Steht uns so etwas bevor?«, wandte sich Fairchild an Jack Yocke, der seine Hand auf die ihre legte. »Vielleicht hat Toad noch einen dicken Kuss übrig, wenn du höflich fragst«, erwiderte Yocke. Fairchild stimmte in das Lachen mit ein. Tarkington nahm seinen Sohn von Jakes Schoß und setzte ihn auf den Kinderstuhl. Nach dem Essen bestand Rita darauf, Callie beim Abwasch zu helfen. Toad sprach mit Amy übers College – sie studierte in Georgetown –, und Jake führte Yocke ins Wohnzimmer. Greta Fairchild blieb bei den Männern. »Was macht der Krieg gegen den Terror?«, fragte Yocke. Der Umstand, dass Jake zur Antiterrorismus-Taskforce gehörte, war allgemein bekannt, doch die Öffentlichkeit wusste nichts von seinen Aufgaben. Yocke kannte Grafton seit Jahren und wusste daher, dass er keine geheimen Informationen von ihm bekommen würde. Er konnte Jake nicht als Quelle benutzen,
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nicht einmal als anonyme. Grafton war »deep background« ∗ , wie es die Journalisten nannten. Graftons Antwort auf die Frage des Reporters bestand aus einem Achselzucken. Yocke sah zu Greta, die seinem Blick offen begegnete – sie wollte sich nicht in die Küche abschieben lassen. Yocke gab auf, lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug ein Bein übers andere. Eine Zeit lang sprachen sie über Politik. Greta hatte keine Hemmungen, ihre Meinung zu sagen, und der Admiral hörte ihr interessiert zu. Schließlich wandte er sich an Yocke und fragte: »Was ist los mit der CIA?« Yocke schnaubte. »Die Organisation wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um die Russen im Auge zu behalten. Ihre Aufgabe bestand darin, den dritten Weltkrieg zu verhindern, und alles andere war zweitrangig.« »Und doch verpasste die CIA das Ende des Kommunismus und den Zusammenbruch der Sowjetunion«, sagte Grafton. »Das waren in Russland die wichtigsten Ereignisse seit der Revolution von 1917. Niemand in der Agency hatte zuvor darauf hingewiesen, dass der Kollaps des Kommunismus auch nur möglich wäre. Und dann machte es plötzlich bumm, und alle Politiker in Washington waren baff. Wie konnte es dazu kommen?« »Ich kann Ihnen nur sagen, was ich von meinen Quellen weiß …« »Gespickt mit deiner eigenen Meinung«, warf Greta Fairchild ein. »Natürlich«, sagte Yocke sofort. »Der KGB verstand es sehr gut, Sowjets zu eliminieren, die für die Vereinigten Staaten spionierten. Verschiedene amerikanische Verräter waren bereit, ∗
»Deep background« bedeutet im amerikanischen Journalismus, dass keine Quellen genannt werden. – Anmerkung des Übersetzers. 32
diese Leute für Geld dem KGB preiszugeben. Fügen Sie die natürliche Abneigung Liberalen Geheimdienstbürokratien gegenüber hinzu – es gehört sich nicht, die Post anderer Leute zu lesen –, und Sie bekommen einen Verein, der glaubte, alles Notwendige mit Signalen und Bildern herausfinden zu können. Damit meine ich Aufklärung mithilfe von Satelliten und Flugzeugen. Die CIA hatte nie genug gute Quellen an wichtigen Stellen in Moskau, um ein klares Bild von der allgemeinen Situation zu bekommen und festzustellen, was hinter den Kulissen geschah.« »Sie wurde auch vom elften September überrascht«, brummte Jake. »Ich habe gehört, dass Analysten der Agency betonten, der 1993 verübte Bombenanschlag auf das World Trade Center sei keine isolierte Aktion gewesen. Die Clinton-Regierung wollte nichts davon hören. Dann kam die USS Cole. Aber die Hauptaufgabe der CIA bestand nach wie vor darin, uns zu warnen, wenn sich die Russen auf den dritten Weltkrieg vorbereiten. Niemand hatte sie aufgefordert, uns mitzuteilen, wer in den Moscheen und Basaren der islamischen Welt Gräueltaten plant und dann ausführt …« »Kann die Agency reformiert werden?«, fragte Greta. »Ja. Man kann sie reorganisieren und mit neuen Aufgaben betrauen. Aber ich glaube nicht, dass sie jemals so gut wird wie damals der KGB. Ich denke, die amerikanischen Bürger und Politiker werden das Interesse am Krieg gegen den Terrorismus verlieren – man braucht nur die Zeitungen zu lesen. Offen gesagt, die Politiker wollen niemanden für die Suche nach schlechten Nachrichten bezahlen, und sie wollen sie nicht hören, wenn sie gefunden werden.« »Sie sind schrecklich zynisch, Jake«, sagte Greta und zwinkerte dem Gastgeber zu. »Was ist mit dem FBI? Neunzehn Selbstmordattentäter, die frei im Land herumlaufen, ohne dass 33
jemand etwas weiß? Ich schätze, J. Edgar Hoover klopft an den Deckel seines Sargs.« »Bestimmt«, brummte Jake. Das Gespräch drehte sich um andere Themen, als Amy in der Tür erschien und verkündete: »Kuchen und Eis.« Richard Doyle lebte in den endlosen Vorstädten von Virginia, in einem mittelgroßen Haus mit drei Schlafzimmern, zweieinhalb Bädern und einer Garage für zwei Autos. Sein Haus stand zwischen zwei ähnlichen Häusern an einer ruhigen, von Bäumen gesäumten kurvigen Straße, in einem Wohngebiet voller kurviger Straßen und Bodenschwellen. Westlich des Potomac gab es hunderte solcher Wohngebiete, und sie ließen sich kaum voneinander unterscheiden. Hinter ihrem Haus hatten die Doyles ein Schwimmbecken. Sie hatten es vor Jahren gekauft, als die Kinder noch klein gewesen waren, aber jetzt gingen diese zur Highschool und besuchten im Sommer das Schwimmbad, um dort mit ihren Freunden zusammen zu sein. Deshalb war das Becken leer. Schon seit einigen Jahren hatte es kein Wasser mehr enthalten. Martha Doyle verkaufte Immobilien und hatte in der Nähe ein kleines Büro, das zu einer landesweit präsenten Kette gehörte. Sie fuhr einen neuen weißen Lexus, den sie benutzte, um Kunden Häuser zu zeigen, und die Fahrzeugkosten ließen sich von der Steuer absetzen. Die meisten Kaufinteressenten waren Regierungsangestellte wie ihr Mann oder arbeiteten für Firmen, die in irgendeiner Verbindung mit der Regierung standen. Einige von ihnen waren für die Hightech-Industrie westlich des Beltway tätig. Martha Doyle wohnte an einem Ort, der sich bestens für den Verkauf von Immobilien eignete. Nur wenige Leute in dieser Region besaßen ein Haus länger als drei oder vier Jahre, und dadurch blieb der Markt immer in Bewegung. Sie trieb Sport in 34
einem Racquetklub und gehörte fünf Vereinen an. Sie war Mitglied geworden, als sie begriff, dass ihr diese Kontakte beim Geschäft nützten. Die Doyles gehörten auch einer Kirche an. Mehrmals im Monat besuchten sie den Gottesdienst und nahmen an kirchlichen Veranstaltungen teil. Niemand wusste, ob Mrs. Doyles Geschäftsinteressen dahinter steckten oder die Doyles wirklich Gefallen daran fanden, einer religiösen Gemeinschaft anzugehören. Richard Doyle arbeitete für die CIA, was seine Nachbarn allerdings ebenso wenig wussten wie der Pastor. Seine Frau wusste es natürlich, erwähnte es aber nie. Wenn jemand fragte, sagten beide Doyles, dass er für die »Regierung« arbeitete, und dabei beließen sie es. Wenn jemand nachhakte, wiesen sie darauf hin, dass er für die General Services Administration tätig war, einer großen, uninteressanten Behörde, die sich um die Instandhaltung von Verwaltungsgebäuden kümmerte. Es gab kaum etwas, das die Doyles von zehntausenden anderer Menschen unterschied, die in ähnlichen Häusern in ähnlichen Wohngebieten lebten, abgesehen von einer erstaunlichen Tatsache: Richard Doyle war ein Spion. Seine Freunde und Nachbarn wussten natürlich nichts von diesem phantastischen Geheimnis, nicht einmal seine Frau. Seit fünfzehn Jahren gab er CIA-Geheimnisse an den KGB und inzwischen den SVR weiter. Er wurde für seinen Verrat bezahlt, doch Geld war nicht sein Motiv – er hatte noch nicht einen einzigen der von den Russen stammenden Dollars ausgegeben. Das Geld lag in den Schließfächern verschiedener Banken im Großraum Washington. Richard Doyle verriet sein Land, weil er sich dadurch von den vielen anderen Mittelstandseseln unterschied, die von acht bis fünf schufteten, fünf Tage in der Woche, achtundvierzig Wochen im Jahr, und auf den magischen Tag warteten, an dem 35
sie fünfundfünfzig wurden und sich in den Ruhestand zurückziehen konnten. Richard war etwas Besonderes. Fast zwei Millionen Dollar in bar warteten in sechs Bankschließfächern auf ihn, und wenn er fünfundfünfzig wurde, wollte er nicht nach Florida. O nein! Er würde leben. Noch sieben Jahre trennten ihn von jenem glücklichen Geburtstag, und deshalb hatte er noch nicht damit begonnen, Pläne zu schmieden. Er wusste noch nicht genau, wie er den Rest seines Lebens verbringen wollte; es blieb Zeit genug, darüber zu entscheiden. An diesem Abend war Doyle allein zu Hause. Seine Frau zeigte Interessenten ein Haus, und die Kinder waren bei einem Highschool-Footballspiel. Er saß vor dem Fernseher und sah sich seit dreißig Minuten einen Dirty-Harry-Film an, als das Telefon klingelte. »Hallo?« Doyle hörte kurz zu und sah auf die Uhr. »In Ordnung«, sagte er und legte auf. Mit der Fernbedienung schaltete er den Fernseher aus, zog die Schuhe an, stand auf und streckte sich. Seine Frau würde nicht vor einer Stunde nach Hause zurückkommen, und die Kinder wollten mit den Nachbarn heimkehren. Doyle hatte also jede Menge Zeit. Er ging in die Küche, holte einen Softdrink aus dem Kühlschrank und nahm die Dose mit. Martha war mit ihrem Lexus unterwegs, und deshalb nahm er den Wagen, den er für gewöhnlich fuhr, einen drei Jahre alten kastanienbraunen Dodge Caravan. Er verschloss die Garagentür, verließ das Wohngebiet und gesellte sich nach kurzer Zeit dem Verkehr auf dem Highway hinzu. Zehn Minuten später rollte der Dodge auf den Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants in Tyson’s Corner. Von früheren Besuchen wusste er, dass die Überwachungskameras des Restau36
rants nicht den Parkplatz erfassten, aber er blieb trotzdem im Wagen sitzen. Zwei Minuten später fuhr ein anderer Wagen, eine Limousine, auf den Parkplatz und hielt mit laufendem Motor. Doyle sah sich um, stieg aus und ging zur Limousine. Er öffnete die Beifahrertür und stieg ein. »Guten Abend.« »Hallo.« Der andere Mann gab Gas und fuhr vom Fahrplatz. »Ich habe ein Dokument, das ich Ihnen zeigen möchte«, sagte er dann. »Ich wollte es nicht kopieren – zu viele Seiten.« »Heiß, wie?« »Es ist zu riskant, die Kopierer im Büro zu benutzen; sie speichern die Kopien. Morgen muss ich das Dokument in die Akte zurücklegen. Sie können die Zusammenfassung und einige wichtige Passagen lesen.« »In Ordnung.« »Wenn das Dokument wieder Teil der Akte ist, sind wir in Sicherheit und haben keine Spuren hinterlassen.« »Sie sind bei dieser Sache so besorgt, dass Sie mir keine Kopie geben wollen, wie?« »Bisher hat man mich noch nicht erwischt. Wenn Sie auffliegen, hat man nichts gegen mich in der Hand.« »Ich werde nicht auffliegen«, erwiderte Doyle geringschätzig. »Mann, ich mache dies schon seit einer Ewigkeit. Das verdammte FBI hat nicht die geringste Ahnung.« Der Fahrer lenkte die Limousine auf den Parkplatz eines Imbissladens, der zugemacht hatte. »Haben Sie jemals hier gegessen?«, fragte Doyle und zeigte auf das Schild. »Schrecklicher Fraß.« Der Fahrer hielt hinter dem Gebäude, schob den Schalthebel des automatischen Getriebes in die Parkstellung und drehte den 37
Zündschlüssel. Er drückte eine Taste unter dem Armaturenbrett und öffnete damit den Kofferraum. Dann stieg er aus, ging nach hinten, nahm einen Aktenkoffer und schloss den Kofferraum wieder. Er trat zur Beifahrerseite des Wagens, öffnete Doyles Tür und reichte ihm das Dokument. »Hier. Schalten Sie das Licht über dem Spiegel ein. Der Knopf dort.« Als Doyle nach oben sah und den Knopf suchte, holte der Fahrer eine Pistole mit Schalldämpfer hervor und schoss ihm dicht hinter dem rechten Ohr in den Kopf. Richard Doyle sackte in sich zusammen. Der Fahrer schloss die Beifahrertür, nahm am Steuer Platz, startete den Motor und fuhr los. Eine Stunde später hielt die Limousine vor einem Tor. Der Flughafen bei Leesburg war von einem Maschendrahtzaun umgeben. Der Killer betätigte die Lichthupe. Ein anderer Wagen näherte sich, und der Fahrer öffnete das Tor mit einer Berechtigungskarte. Die beiden Wagen fuhren zwischen Reihen aus Wellblechhangars, und schließlich hielt der erste. Zwei Männer stiegen aus. Der Killer half ihnen, Richard Doyles Leiche in einen Hangar zu tragen. Das Licht schalteten sie erst ein, als die Tür des Hangars geschlossen war. »Wer ist es?«, fragte einer der beiden Männer den Killer. »Wenn Sie das wirklich wissen wollen, werfen Sie einen Blick in seine Brieftasche, bevor Sie ihn in die Säure legen.« »Schätze, es spielt keine Rolle.« »Sie wissen ja, wie’s läuft. Kleidung, Brieftasche, alles in die Säure. Betonschuhe für unseren Freund, und dann ins Wasser mit ihm, mindestens achtzig Kilometer vor der Küste.« »Den Beton kriegt er noch heute Nacht«, sagte einer der Männer und stieß Doyle mit dem Fuß an. »Bis morgen kann das Zeug hart werden. Und seinen letzten Flug bekommt er 38
morgen Abend, bevor er zu reif wird.« »Gut«, erwiderte der Killer und schaltete das Licht im Hangar aus. Er öffnete die Tür und ging ohne einen weiteren Blick auf Richard Doyles Leiche hinaus. Die Limousine mit den dunklen Fenstern fuhr langsam durch die Innenstadt von Washington. An diesem Samstagabend herrschte wie immer dichter Verkehr, obgleich es bereits gegen elf war. Beim Dupont Circle gab es die Schachpartien mit den üblichen Spielern und Zuschauern. Skateboarder sausten über die Bürgersteige, und Prostituierte schritten hoffnungsvoll auf und ab, während ihre Zuhälter das Geschehen aus einiger Entfernung beobachteten. Der Fahrer der Limousine sah gelegentlich auf die Uhr. Um zwei Minuten vor elf war er einen Block vom Dupont Circle entfernt und wartete an einer Ampel. Er wurde nicht unruhig, klopfte nicht mit den Fingern ans Lenkrad, saß einfach nur ruhig da und beobachtete den Verkehr und die Fußgänger. Als die Ampel auf Grün umsprang, sah er nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass niemand bei Rot durchfuhr. Dann nahm er den Fuß von der Bremse und gab Gas. Er blieb auf der rechten Seite, näherte sich dem Circle und sah zur Schachpartie neben der Straßenlaterne – dort stand ein Mann auf und schüttelte seinem Mitspieler die Hand. Er war spät dran. Eigentlich hätte er schon an der Ecke stehen sollen. Der Fahrer steuerte den Wagen nach links, fuhr ganz um den Circle herum und hielt vor dem Drugstore. Der Schachspieler trug Jeans, einen Pulli und Turnschuhe. Er trat vom Bürgersteig herunter, öffnete die Tür zum Fond und stieg ein. Der Chauffeur fuhr sofort los. Hinten nickte der Schachspieler dem links sitzenden Passagier zu, einem großen Mann mit dünn werdendem blondem Haar. Er trug einen blauen Anzug und eine dunkelrote Krawat39
te. »Bitte entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte der Schachspieler. »Mein Gegner machte von einem Gambit Gebrauch, das ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe.« »Treffen wie dieses sind gefährlich«, sagte der Mann im Anzug. »Die Agency und das FBI haben von den Sprengköpfen erfahren.« »Wir wussten, dass das früher oder später der Fall sein würde.« »Ein Generalleutnant vom SVR hat sie informiert. Er hat ihnen auch von Richard Doyle erzählt. Wir konnten nicht warten, und deshalb habe ich Mr. Doyle vom Brett genommen.« Der Mann im Anzug schwieg. Die Neuigkeiten über Doyle kamen unerwartet und schufen Probleme, aber es hatte keinen Sinn, sich bei dem Mann zu beschweren, der das Problem gefunden und beseitigt hatte. »Die Sprengköpfe befinden sich beim Flughafen von Karatschi«, fuhr der Schachspieler fort. »Sie werden das Land am Freitag an Bord des griechischen Schiffes Olympic Voyager verlassen.« »Warum Freitag?« »Eher ließ es sich nicht bewerkstelligen.« »Wie reagiert die Regierung auf die Nachrichten?« »Die Sache liegt auf dem Schreibtisch des Präsidenten.« Der Mann im Anzug lachte leise. »So weit, so gut. Dies wird eine sehr einträgliche Operation. Vor zwei Stunden bekam mein Büro einen Anruf. Der Nationale Sicherheitsberater hat mich für morgen zum Frühstück eingeladen.« »Wie Sie wissen, habe ich meinen Rat nie versüßt«, sagte der Schachspieler und sah den Mann im Anzug an. »Die Welt verändert sich sehr schnell. Ich habe mich gegen Pakistan ausgesprochen. Ich glaube nicht, dass Sie eine richtige Vorstellung von den Gefahren haben. Die dortigen Kämpfer spielen ihr eigenes Spiel.« 40
»Wir haben dort gute Leute. Und wir haben sie gut bezahlt.« »Hoffen wir, dass alles glatt läuft. Was auch immer geschieht: Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.« »Dutch ist ein guter Mann. Er wird die Sprengköpfe liefern.« Der Schachspieler sagte nichts. »Doyle? Werden wir aus dieser Richtung etwas zu hören bekommen?« »Ich glaube nicht. Er ist vollkommen verschwunden. Ich habe auf zuverlässige Leute zurückgegriffen. Das FBI hat bereits eine große Fahndung nach ihm eingeleitet. Es wird zum Schluss gelangen, dass er übergelaufen oder ermordet worden ist. Wie auch immer, es gibt keine Spur.« Die Limousine war durch die Innenstadt gefahren und näherte sich jetzt der Union Station. »Sie können mich hier absetzen«, sagte der Schachspieler. Der Mann im Anzug machte Gebrauch von der Wechselsprechanlage und gab dem Chauffeur Anweisungen, die der Fahrer mit einem Klicken bestätigte. »Was motiviert Sie?«, fragte der Mann im Anzug, als der Wagen am Straßenrand hielt. »Das Geld oder das Spiel?« »Das Spiel natürlich«, antwortete der Schachspieler mit einem Lächeln. Er öffnete die Tür und stieg aus. Der Schachspieler blieb kurz stehen und beobachtete, wie sich die Limousine in den Verkehr einfädelte. Dann zuckte er mit den Schultern, ging zur U-Bahn-Station, nahm die Rolltreppe, passierte das Tor mit einer Marke und betrat den Bahnsteig. Als er dort auf den Zug wartete, gestattete er sich ein Lächeln. Die Partie an diesem Abend beim Dupont Circle war ausgezeichnet gewesen, doch dieses Spiel begann sublim zu werden. Der Mann in der Limousine hielt Geld für das Wichtigste im Leben. Leute mit Geld dachten das immer. Der Schachspieler lachte laut. 41
3 Das Gebäude der Walney’s Bank im Herzen von Kairo war eine kleine Kopie der Bank von England in London, und in dieser Umgebung fiel es sofort auf. Die Walney’s Bank war gegründet worden, um dabei zu helfen, während des amerikanischen Bürgerkriegs den Export von ägyptischer Baumwolle nach Großbritannien zu finanzieren. Das aktuelle Gebäude war während der Belagerung von Khartoum im Sudan fertig gestellt worden und hatte seitdem Krieg, Aufruhr und politische Unruhen überstanden. Das dunkle, geräumige Innere vermittelte den Eindruck von tiefer Ruhe und bildete damit einen starken Kontrast zum Draußen, zur lauten, schmutzigen Helligkeit und dem Verkehrschaos. Der Boden bestand aus Marmor, Schalter, Fensterstürze und Türpfosten aus dunklem, auf Hochglanz poliertem Edelholz. Walney’s stand noch immer in heimeliger Verbindung mit vielen britischen Banken, und auch mit Schweizer, deutschen, italienischen, russischen, saudi-arabischen, kuwaitischen, iranischen, pakistanischen, indischen und indonesischen Banken. Die Walney’s Bank warb in britischen Zeitschriften mit ihrem Slogan: »Walney’s behandelt Sie gut.« Britische Touristen kamen regelmäßig vorbei, um Reiseschecks einzulösen und neue zu erwerben. Englische Schalterbeamte sorgten dafür, dass sie sich wie zu Hause fühlten. Walney’s mochte so britisch wirken wie Tee und Toast, aber dieser Eindruck täuschte. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die britischen Steuern so sehr gestiegen, dass die Nachkommen des ursprünglichen Walney – eines gewissen Sir Horace, inzwischen seit mehr als hundert Jahren tot – die Bank an einer Gruppe ägyptischer Investoren verkauft hatten. Heute wurde 42
die Bank von einem gewissen Abdul Abn Saad geführt, einem gut fünfzig Jahre alten, schlanken Mann mit großer Nase, der ausgezeichnet Englisch sprach, mit einem leichten ägyptischen Akzent. Er stand nicht auf, als Anna Modin das Zimmer betrat. Sie nahm vor dem großen Schreibtisch Platz und wartete darauf, dass Saad sie ansprach. Er las zuerst ein Dokument zu Ende, bevor er aufsah. »Wie war Russland?« »Trostlos«, sagte Anna Modin. Sie hielt die Knie zusammen und saß ganz gerade, als wäre der Sessel ein Stuhl. Die Hände hatte sie auf der Handtasche im Schoß gefaltet. Sie trug das gut geschnittene Kostüm eines römischen Modedesigners, eine dazu passende Jacke und Pumps mit hohen Absätzen. Eine Perlenkette umgab ihren Hals. Das lange Haar verbarg die Perlohrringe. »Berichten Sie.« »Zuair traf pünktlich beim russischen Waffendepot ein und brachte das Geld. General Petrow verkaufte ihm vier Sprengköpfe, die er aus mehr als hundert präsenten auswählte. Zuair und seine Leute luden sie auf einen Lastwagen und fuhren fort. Petrow war sehr zufrieden mit der Transaktion. Er versuchte nicht, die Gruppe zu berauben, zu betrügen oder zu töten. Er hofft, dass sie bald zurückkehren, mit noch mehr Geld für weitere Waffen.« »Sehr gut«, brummte Saad und musterte die Frau vor dem Schreibtisch aus zusammengekniffenen Augen. »Hatten Sie irgendwelche Schwierigkeiten dabei, ins Land zu gelangen und es wieder zu verlassen?« »Nein, Sir. Ich habe im Metropole Hotel in unmittelbarer Nähe des Roten Platzes gewohnt und die Banken besucht, über die wir gesprochen haben. Anschließend habe ich mir Urlaub genommen. Während dieses Urlaubs habe ich Petrow besucht, 43
der mich erwartete. Trusewitsch hat mich ihm wie versprochen empfohlen.« Trusewitsch war ein russischer Gangster, der einen großen Teil des Drogenhandels im südlichen Russland kontrollierte. Er zählte zu Walney’s besseren Kunden. »Außerdem hat Trusewitsch Walney’s Bank Petrow empfohlen, der anderthalb Millionen amerikanische Dollar auf ein Konto einzahlte. Ich habe ihm eine Quittung gegeben und das Geld bei einer unserer Partnerbanken in Moskau hinterlegt. Inzwischen müsste der Betrag überwiesen sein.« Zum ersten Mal lächelte Abdul Abn Saad. Er nahm das Dokument, das er zuvor gelesen hat. »Die Überweisung ist tatsächlich erfolgt«, sagte er, deutete aufs Papier und legte es in die Mitte des Schreibtischs. Anna Modin wusste, dass sein Lächeln dem ironischen Aspekt dieser Angelegenheit galt. Walney’s Bank hatte Faruk AlZuair das Geld für den Waffenkauf gegeben, und ein beträchtlicher Teil davon kehrte nun in Form einer Kontoeinzahlung eines russischen Generals zurück – Geld, das an Leute verliehen werden konnte und würde, die dabei halfen, überall auf der Welt den Dschihad zu finanzieren. Die moderne Finanz war wirklich wunderbar, eine Waffe, die sich gegen ihre Erfinder richten ließ und benutzt werden konnte, um das Fundament der westlichen Zivilisation zu erschüttern und letztendlich ihren Untergang herbeizuführen. Und Walney’s profitierte von jeder einzelnen Transaktion! »Miss Modin«, sagte Abdul Saad, »Sie arbeiten jetzt seit fast fünf Jahren für die Bank. Ich muss zugeben, dass ich zunächst skeptisch war, was Ihre Einstellung betraf. Aber Sie sprechen mehrere Sprachen, kennen sich im Finanzwesen aus, haben gute Kontakte in Russland und sind außerdem diskret. Das macht Sie zu einer sehr wertvollen Mitarbeiterin.« »Danke, Sir.« 44
»Besonders Ihre Diskretion ist mir wichtig.« Für einige Sekunden senkte Modin bescheiden den Blick. »Sicher möchten Sie nach Ihrer Reise einige Tage ausruhen. Allerdings muss ich Sie aufgrund dringender Angelegenheiten bitten, am Freitag erneut zu reisen.« Anna Modin nickte. »Am Donnerstagnachmittag um sechzehn Uhr nenne ich Ihnen Reiseziel und Aufgabe.« »Danke, Sir«, sagte die Frau und stand auf. Abdul Saad sah ihr nach, als sie das Büro verließ, setzte dann seine Arbeit fort. Anna Modin suchte ihr eigenes Büro auf, einen kleinen Raum im obersten Stock des Gebäudes. Durch das eine Fenster konnte sie an klaren Tagen die Spitze der Cheopspyramide sehen. Diesmal blickte sie nicht hinaus. Sie sah sich kurz die Papiere im Eingangskorb an, setzte sich, las einen Darlehensbericht und lehnte sich dann auf ihrem Stuhl zurück. Sie dachte an Abdul Saads Hinweis auf Diskretion. Er kam einer verschleierten Drohung gleich, und das beunruhigte sie. Sie war eine russische Frau, die in einer von Männern dominierten islamischen Gesellschaft arbeitete. Mit den Bankgeschäften in der arabischen Welt hatte sie kaum etwas zu tun; sie war wegen ihrer bei Schweizer Banken gesammelten Erfahrungen eingestellt worden. Sie behielt ihren Job, weil sie verdammt gute Arbeit leistete, die meistens europäische und amerikanische Geschäftsleute betraf – bei einer europäischen Frau fühlten sie sich wohler als »unergründlichen« arabischen Männern gegenüber, die ihre Sprache nicht fließend beherrschten. Keiner der Kunden und Bankiers wusste, dass Anna Modin eine Spionin war. Sie spionierte nicht für irgendeine Regie45
rung, sondern für Janas Ilin, der vor zehn Jahren an sie herangetreten war, als sie an der Universität von Moskau studiert hatte. Sie wandte sich dem Fenster zu und sah hinaus, als sie an jene Zeit zurückdachte. Janas Ilin, Führungsoffizier des SVR. Die aufregenden Tage zu Beginn der neunziger Jahre. Das kommunistische System war gerade zusammengebrochen, und eine neue Zeit begann in Russland. Ein Freund stellte sie Ilin vor, der im Verlauf von vier gemeinsamen Abendessen – eines pro Woche, über einen Monat hinweg – ihre politischen Ansichten sondierte. Sie war keine Kommunistin, und darauf wies sie auch hin. Sie bezeichnete sich als Weltbürgerin, die zufälligerweise Russin war. Tapfer teilte sie Ilin mit, dass sie an die Demokratie und das Gesetz glaubte. Beim vierten Essen bat Ilin sie, Russland zu verlassen, im europäischen Finanzwesen zu arbeiten und ihm Informationen zu übermitteln, wenn es die Umstände erforderten. Natürlich lehnte Anna Modin ab. Sie glaubte, dass Ilin sie aufforderte, für den Nachfolger des KGB, den SVR, zu arbeiten, der gerade in Gestalt einiger ranghoher Offiziere versucht hatte, einen Staatsstreich durchzuführen und Gorbatschow zu stürzen. Die Verantwortlichen waren verhaftet worden. »Ich verlange nichts von Ihnen«, sagte Ilin. Er legte einen Pass und ein Ausreisevisum auf den Tisch, schob beides zu ihr hinüber. »Sie sind zu nichts verpflichtet. Ich besorge Ihnen ein Fach, damit Sie mit mir kommunizieren können. Wenn Sie irgendetwas entdecken, das Sie mir mitteilen möchten, so können Sie das Fach benutzen. Wenn nicht … Dann schenken Sie dem Fach einfach keine Beachtung.« Modin ging nicht auf das Angebot ein, aber zwei Wochen später, als Ilin noch einmal anrief, beschloss sie, erneut mit ihm zu reden. Die Vorstellung, Russland zu verlassen, faszinierte sie. Sie hatte so viel vom Westen gehört … Ihn zu sehen, dort 46
zu leben und zu arbeiten – das war ein großes Abenteuer. Sie konnte jederzeit nach Russland zurückkehren, wenn sie wollte. Ihre Eltern waren schon älter, und sie sprach mit ihnen über die Möglichkeit, ohne Janas Ilin und die Gespräche mit ihm zu erwähnen. Sie sahen den Enthusiasmus ihrer Tochter und willigten widerstrebend ein. Die junge Frau hörte Ilin aufmerksam zu und entschied, ein Risiko einzugehen. Als er ihr diesmal Pass und Visum reichte, steckte sie beides ein. Nach dem Abschluss des Studiums sechs Monate später reiste sie in die Schweiz und machte sich dort auf die Suche nach Arbeit. Ihre sprachlichen Fähigkeiten brachten ihr eine Stelle in einer Züricher Bank ein. Fünf Jahre lang hörte sie nichts von Ilin. Eines Tages begegnete sie ihm an einer Straßenecke, als sie die Bank verließ, um zu Mittag zu essen. Er wählte das Bistro und die Nische aus. Bei einem Sandwich und einem Glas Wein fragte er, wie es ihr erging. Schließlich kam er zur Sache. »Ich möchte Sie bitten, sich um eine Stelle bei der Walney’s Bank in Kairo zu bewerben. Dort sucht man eine erfahrene Fachkraft, und ich glaube, dass Sie gute Chance haben, eingestellt zu werden.« »Erwarten Sie von mir, für den SVR zu spionieren?« »Nein. Ich habe einen Freund bei Walney’s. Ich möchte, dass Sie Mitteilungen weitergeben, von mir zu ihm und von ihm zu mir. Ich möchte, dass Sie zu einem Kurier werden.« »Das klingt ganz nach Spionage«, erwiderte Modin. Sie dachte an ihre Schweizer Freunde und an einen Mann, von dem sie glaubte, dass er sich in sie verliebt hatte. Ilin ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie saßen in einer Ecknische, wo niemand ihr Gespräch mithören konnte. »Die Walney’s Bank ist in die Finanzierung islamischer Terrororganisationen verwickelt. Diese Gruppen bestehen aus Fanatikern, die Men47
schen aus politischen oder religiösen Gründen umbringen.« »Was passiert, wenn man mich erwischt?« »Dann werden Sie gefoltert, bis man alle Informationen aus Ihnen herausgeholt hat. Anschließend bringt man Sie um.« »Und Sie haben an mich gedacht. Wie schmeichelhaft.« »Jemand muss es tun.« Modin dachte eine Woche darüber nach und bewarb sich bei Walney’s. Man bat sie, für ein Vorstellungsgespräch nach Kairo zu kommen. Und man stellte sie ein. Das lag inzwischen fünf Jahre zurück. Anna gelangte bald zu dem Schluss, dass es gar keinen Spion in der Bank gab. Das »Fach« – eine Öffnung in der Wand hinter dem Toilettenpapierhalter auf der Damentoilette – wurde nie benutzt. Man musste, während man auf der Toilette saß, mit zwei Fingern hinter den Halter greifen, um einen eventuellen Gegenstand aus dem Fach herauszuziehen. Zuerst überprüfte sie es täglich, dann einmal in der Woche, schließlich einmal im Monat oder so. Nichts. Bis vor fünf Monaten, als sie das erste zusammengerollte Bonbonpapier in der Öffnung fand. Die Informationen befanden sich auf einem winzigen Filmstreifen. Das Bonbonpapier wirkte völlig harmlos, aber der Film war es zweifellos nicht. Jemand riskierte sein Leben, indem er Unterlagen fotografierte, und Modin riskierte ihres, indem sie den Film bei sich trug. Bei dieser und auch bei anderen Gelegenheiten nahm sie das Bonbonpapier in ihrer Handtasche mit und deponierte es in anderen »Fächern« überall in Europa. Ilin bot ihr kein Geld an, und sie forderte auch keine Bezahlung. Sie half ihm, nicht dem russischen Geheimdienst. Die Identität von Ilins Spion in der Bank blieb ihr verborgen, und sie wollte auch gar nicht darüber Bescheid wissen. Was man nicht wusste, konnte man nicht verraten, weder absichtlich 48
noch unabsichtlich, nicht einmal, um das eigene Leben zu retten. Anna Modin wusste nur, dass der Spion vermutlich eine Spionin war, denn immerhin warteten die Informationen in der Damentoilette des zweiten Stocks auf sie. Die Hausmeister waren Männer und reinigten die Toiletten nachts; einer von ihnen kam durchaus infrage. Aber sie hielt es für wahrscheinlicher, dass die kleinen Filmstreifen von einer der Frauen in der Abteilung für telegrafische Überweisungen stammten. Ägypten und vielleicht auch der Irak waren die einzigen Länder in der arabischen Welt, wo Frauen in Banken arbeiteten, und meistens beschränkten sich ihre Tätigkeiten auf einfache Büroarbeit in Hinterzimmern. Und genau dort gab es das interessante Nachrichtenmaterial. Dort konnten die Informationen gewonnen werden, auf die es Janas Ilin abgesehen hatte, das Wer und Wie viel und Wann. Vor zwei Jahren hatte Abdul Abn Saad damit begonnen, Modin mit Missionen zu beauftragen, die sich außerhalb des legalen Bankwesens bewegten. Es stimmte: Er und die Bank finanzierten und unterstützten den Terror. Vier nukleare Sprengköpfe. Auf die Innenseite eines Bonbonpapiers hatte Anna Modin einen Bericht über General Petrows Geschäft in einem Fach in der Moskauer U-Bahn für Ilin zurückgelassen. Sie hatte weder telefoniert noch irgendeinen anderen Versuch unternommen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Abdul Abn Saad und seine Leute beobachteten sie vielleicht. Diese Leute waren Halsabschneider, und sie würden ihr den Hals durchschneiden, wenn sie erfuhren, dass sie die Geschäfte der Bank verriet. Saad bezahlte sie gut für ihre Arbeit; sie bekam fast doppelt so viel wie in der Schweiz. Zuerst redete sie sich ein, es verdient zu haben, doch als die geheimen Missionen begannen, begriff sie: Man bezahlte sie, damit sie schwieg und weitermachte. 49
Die Männer waren böse. Und ungebildet noch dazu. Sie glaubten, im Westen ginge es allein um Geld. Die Tugend sahen sie nur bei sich selbst. Frauen hielten sie für eine Art Subspezies der Menschheit, nützlich nur für Vergnügen und Fortpflanzung. Modin wandte sich vom Fenster dem Schreibtisch zu und blickte auf ihre Hände. Sie zitterten. Es war ein nur leichtes Zittern, kaum merklich, aber es ließ sich nicht leugnen. Sie brannte aus. Saad hatte ihr nie zuvor gedroht. Was bedeutete das? Hatte er Verdacht geschöpft? War das Fach auf der Damentoilette entdeckt worden? Hatte man die Spionin gefasst und dadurch vom Loch in der Wand erfahren? Es war ganz einfach, eine geheime Überwachungskamera zu installieren, um zu sehen, wer etwas ins Fach legte und etwas daraus entnahm. Verhör, Folter und Tod würden schnell folgen. Vier Atomwaffen … Vielleicht hätte sie in Moskau bleiben und Ilin anrufen sollen, um herauszufinden, was er wusste, und um ihm zu sagen, er solle sich einen anderen Kurier besorgen. Doch das hatte sie nicht getan. Weil sie nicht die Person im Stich lassen wollte, die in der Walney’s Bank ihr Leben dabei riskierte, Informationen zu beschaffen. Der Umstand, dass es sich um eine Frau handelte, vermutlich eine Araberin, machte es doppelt schwer. Nein, Anna Modin konnte keine Frau im Stich lassen, die ihr Leben aufs Spiel setzte, um das Böse zu bekämpfen. Doch jetzt zitterten ihre Hände die ganze Zeit über. Sie stand auf, strich den Rock glatt, überprüfte ihr Spiegelbild im Glas der Fensterscheibe und ging dann durch den Flur zur Damentoilette. Niemand hielt sich dort auf. Am Waschbecken blieb sie stehen, beobachtete den Raum im 50
Spiegel, drehte sich um und sah sich alles ganz genau an. Sie suchte nach Veränderungen seit ihrem letzten Aufenthalt an diesem Ort vor zwei Wochen. Es schien keine zu geben. Sie betrat die Kabine, zog die Jacke aus und legte sie über den Toilettenpapierhalter. Dann rückte sie ihre Kleidung zurecht und setzte sich. Sie sah zur Decke hoch und ließ ihren Blick über die Wände schweifen, ohne irgendetwas Verdächtiges zu finden. Schließlich griff sie nach dem Toilettenpapier. Sie behielt die Jacke über der Hand, streckte zwei Finger ins Loch hinter dem Halter und tastete umher. Nichts – das Fach war leer. Der Rest des Tages verging mit Routinearbeit. Die ganze Zeit über wartete Modin darauf, dass das Beil fiel, aber nichts geschah. Das Warten … Es bestimmte das Leben eines Spions. Warten, immer angespannt, während man versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und ruhig zu wirken. Als sie an jenem Abend ihr Büro verließ, sah sie nicht zurück. An den Tagen, die Jakes Gespräch mit Coke Twilley und Sonny Tran folgten, hörte er nichts mehr über die vier Atomsprengköpfe, und niemand flüsterte Richard Doyles Namen. Jakes Aufgabe als militärischer Verbindungsoffizier bei der Antiterrorismus-Taskforce bestand hauptsächlich darin, dort den Einsatz des Militärs zu koordinieren, wo zivile Behörden oder die Regierung nicht die notwendige Arbeit leisten konnten. Er verbrachte viele Stunden am Telefon, sprach mit verschiedenen Kommandostellen überall im Land und mit Zivilisten, denen er genau erklären musste, was das Militär leisten konnte und was nicht. Commander Toad Tarkington half seinem Chef nach Kräften und verbrachte ebenfalls viel Zeit am Telefon. Jake war zu beschäftigt, um sich wegen der Sprengköpfe Sorgen zu machen, und deshalb war Toad für sie beide besorgt. 51
»Vielleicht sollten Sie noch einmal mit Coke reden«, sagte er hoffnungsvoll. »Um herauszufinden, was vor sich geht.« Jake schüttelte den Kopf und drückte eine Taste, um mit einem wartenden Anrufer zu sprechen. Eine Stunde später, als ein wenig Ruhe einkehrte, schlug Toad vor: »Was halten Sie davon, ein neues Treffen mit Ilin zu arrangieren? Vielleicht hat er noch mehr gehört.« »Wir können nichts tun, Toad.« »Verdammt noch mal, Admiral, die Welt steht vor dem Abgrund. Sie und ich sind die einzigen geistig gesunden Personen auf diesem Planeten, die davon wissen, und langsam kommen mir, auch, was Sie angeht, Zweifel.« Grafton lachte leise und wollte auf das Bonmot antworten, doch das Telefon klingelte, und er nahm ab. Was auch immer er hatte sagen wollen, es blieb unausgesprochen, denn nach dem Telefongespräch dachte er an etwas anderes. Am Donnerstagabend klingelte das Telefon in Jakes Apartment. Die Stimme am anderen Ende der Leitung gehörte dem stellvertretenden Chief of Naval Operations. Nach einer gemurmelten Begrüßung sagte er: »Warten Sie vor Ihrem Gebäude, in einer Stunde, um neun. Sie joggen, nicht wahr?« »Ja, Sir.« »Dann tragen Sie Joggingshorts und Laufschuhe. Haben Sie ein Sweatshirt mit einem Universitätslogo oder so?« Jake dachte kurz nach. »Slick Willie’s.« »Was ist das?« »Ein Bordell in Nevada, Sir.« Der stellvertretende CNO lachte leise. »Tragen Sie es. Um neun vor dem Haus.« »Könnten Sie mir sagen, worum es geht, Admiral?« »Jemand möchte Sie sprechen.« 52
Jake zog seine Joggingklamotten an, wartete vor dem Gebäude und kam sich wie ein Idiot vor, als er den leichten Verkehr in Roslyn beobachtete. Passanten schlenderten vorbei, auf dem Weg zur oder von der U-Bahn oder auf der Suche nach Entspannung in einem Café. Eine große schwarze Limousine mit dunklen Scheiben fuhr eine Minute vor neun an den Straßenrand. Eine zweite Limousine hielt vor und eine dritte hinter ihr. Ein schlanker Mann, der etwa Anfang dreißig war und eine Sportjacke trug, stieg auf der Beifahrerseite aus, öffnete die Tür zum Fond und winkte Jake herbei. Grafton trat näher und stieg ein. Der Mann schloss die Tür und nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz. »Konteradmiral Grafton«, sagte der Mann neben Jake. »Es ist mir ein Vergnügen.« Er streckte die Hand aus. »Freut mich, Ihnen zu begegnen, Sir«, sagte Jake und schüttelte die Hand des Präsidenten der Vereinigten Staaten. »Cooles Sweatshirt«, sagte der Präsident und nickte dem Fahrer zu, woraufhin der Wagen losrollte. »Ich habe viel von Ihnen gehört«, fügte der Präsident hinzu. Jake suchte nach einer passenden Antwort. Dies war der erste und einzige Präsident, dem er jemals begegnet war. Er schien ganz in Ordnung zu sein, aber … »Habe auch von Ihnen viel gehört«, murmelte er und fühlte sich schrecklich. »Erzählen Sie mir von Ihrem Treffen mit Janas Ilin letzte Woche. Ich habe die Zusammenfassung der CIA gelesen, aber ich möchte es aus erster Hand hören.« Jake erstattete ausführlich Bericht. Er erklärte, wer Ilin war, wie seine Frau Callie und er ihn vor etwa einem Jahr kennen gelernt hatten, als der Russe Mitglied der Gruppe von Verbindungsoffizieren beim Interkontinentalraketen-Abwehrsystem namens SuperÄgide gewesen war. Er erwähnte Ilins Über53
wachung durch das FBI und gab an, worum es bei dem Gespräch gegangen war: Ein russischer General hatte dem Schwert des Islam vier atomare Raketensprengköpfe verkauft, und der CIA-Offizier namens Richard Doyle war nach Ilins Aussagen ein russischer Spion. »Vier nukleare Sprengköpfe mit einem Potenzial von jeweils zweihundert Kilotonnen«, sagte der Präsident leise. Er atmete tief durch. »Glauben Sie, Ilin hat gelogen?« »Ich denke, er hat die Wahrheit gesagt, als er von den verkauften Waffen erzählte. Es …« Jake rieb die Finger, auf der Suche nach den richtigen Worten. »Es fühlte sich richtig an, könnte man sagen. Seitdem habe ich immer wieder darüber nachgedacht. Ich weiß beim besten Willen nicht, was die Russen dadurch gewinnen könnten, uns eine solche Lüge aufzutischen. Es ist keine Geschichte, die ich an ihrer Stelle gern erzählen möchte. Sie stehen dadurch wie Unfähige da, kriminelle Unfähige, die ihre korrupten Generäle nicht unter Kontrolle halten können. Und genau das sind sie, wenn die Story stimmt. Hat Ilin aus eigenem Antrieb ausgepackt, oder spielt er eine Rolle? Ich weiß keine Antwort auf diese Frage. Ich habe Ilin immer für einen Mann mit eigenen Plänen gehalten. Andererseits: Ich bezweifle, dass er es zum Generalleutnant des KGB beziehungsweise SVR – oder wie auch immer sich die Brüder in dieser Woche nennen – bringen konnte, wenn die Leute über ihm den geringsten Zweifel an seiner Loyalität und seinem Urteilsvermögen hätten. Allerdings ist es immer schwer, abstrakte Dinge wie Loyalität oder Ehre einzuschätzen.« »Seit der Machtübernahme der Kommunisten sind immer wieder Russen aus Vertrauenspositionen übergelaufen«, sagte der Präsident. »Mir scheint, wir sollten Richard Doyle gründlich unter die Lupe nehmen«, fuhr Jake fort. »Ich weiß nicht, welche Vorteile 54
Ilin oder die Russen darin sähen, einen unschuldigen CIAOffizier zu verleumden. Wenn dies ein Trick ist, so bleibt es mir ein Rätsel, welchen Nutzen sich Ilin und die anderen dadurch erhoffen. Eine derartige Lüge wäre ein gefährlicher Präzedenzfall. Doch wenn Doyle tatsächlich für die Russen spioniert und die Waffenstory gelogen ist … Vielleicht soll sie uns durch Doyles Preisgabe plausibel erscheinen.« »Ja«, sagte der Präsident. »Ich verstehe.« Jake rieb sich die Schläfe. »Das Problem ist: Ich bin kein Geheimdienstprofi, sondern ein ehemaliger Kampfflieger, der sich mit Papierkram beschäftigt und telefoniert.« »Ich bin ebenfalls kein Geheimdienstprofi«, sagte der Präsident. »Aber die Verantwortung liegt bei mir.« »Mir scheint, wir könnten hier den Fehler machen, zu viel hineinzuinterpretieren. Wir sollten zunächst einmal von der Annahme ausgehen, dass Ilin die Wahrheit sagt. Lassen Sie uns feststellen, wohin das führt. Wenn wir später herausfinden, dass Ilin gelogen hat, können wir die Situation neu einschätzen.« »Einverstanden.« »Solange wir nicht absolut sicher sind, dass keine Atomwaffen Russland verlassen haben, sollten wir alles daransetzen, die Sprengköpfe zu lokalisieren. Ich glaube, in dieser Hinsicht bleibt uns keine Wahl, Mr. President.« »Das denke ich auch«, erwiderte der Präsident und blickte auf seine Hände. Er schnitt eine Grimasse und sah nach draußen. »Die Terroranschläge haben einige der Probleme aufgezeigt, die das amerikanische politische System während der letzten dreißig oder vierzig Jahre nicht lösen konnte. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs brauchen wir einen sicheren Ort für die Endlagerung unserer nuklearen Abfälle, und wir haben noch immer keinen gefunden. Niemand will das Zeug in seiner Nähe, und deshalb steckt der Kram in Fässern in schlecht bewachten Lagerhäusern überall in Amerika.« Er hob einen Finger. 55
»Es befinden sich etwa sechs Millionen illegale Einwanderer im Land, und es gibt keine wirkungsvolle Methode, sie alle aufzuspüren und loszuwerden. Die Einwanderungsbehörde hat zweitausendzweihundert Personen, um die Illegalen zu finden und abzuschieben. So unglaublich es auch sein mag: Man hat nichts unternommen, weil viele Industrien billige Arbeitskräfte brauchen, und außerdem erwecken die illegalen Einwanderer Mitleid, weil viele von ihnen in den Gossen der Dritten Welt Hunger litten.« Ein zweiter Finger kam nach oben. »Dann wäre da das FBI, das Beweismaterial für Bundesgerichte sammeln und Spione und Terroristen entlarven soll. Es gibt genau elftausendeinhundertdreiundvierzig FBI-Agenten. Das sind alle, der Direktor mitgezählt.« Der Präsident hob weitere Finger, als er die Behörden benannte. »Die CIA hält noch immer nach Anzeichen dafür Ausschau, dass die Russen einen dritten Weltkrieg beginnen wollen. Der Zoll ist so überfordert und unterbesetzt, dass bei hereinkommenden Lieferungen nur Stichprobenkontrollen möglich sind. Die DEA führt seit einer Generation den Kampf gegen die Drogen und verliert den Krieg.« »Demokratien sind schmutzig«, sagte Jake, als der Präsident eine Pause einlegte. »Gelinde gesagt«, brummte der Präsident und schüttelte den Kopf. »Das Problem ist, dass Regierungen mit Bürokratien arbeiten müssen, um das Leben von Menschen zu schützen. Jede Bürokratie hat ihre eigenen Regeln, jede Menge Formulare, Berichte, Memos und Korrespondenz, Ein- und Ausgangskörbe, Feiertage, kranke Mitarbeiter oder Angestellte in Urlaub, außerdem die übliche Truppe aus Streithähnen, Schafsköpfen, Narren, Fanatikern, Querulanten, Inkompetenten, Klatschmäulern, Arschkriechern und falschen Fuffzigern. Die eigentliche Arbeit wird nur von einigen wenigen tüchtigen Leuten erledigt. Die große Herausforderung besteht darin, die Informationen 56
von all diesen Bürokratien zusammenzufassen und rechtzeitig zu nutzen. Und genau darum sollen Sie sich kümmern. Verzahnen Sie die von überall kommenden Informationen und verhindern Sie weitere Massenmorde.« Der Präsident sah Jake an. »Ich habe mit den Jungs im Pentagon gesprochen und von ihnen erfahren, dass Sie der Mann sind, den ich suche. Man sagt Ihnen ein gutes Urteilsvermögen und gesunden Menschenverstand nach. Und es heißt, dass Sie Resultate erzielen.« Jake war überrascht. Er hatte nicht gewusst, dass das Weiße Haus Fragen stellte. Schweigend hörte er zu, als der Präsident fortfuhr: »Ich möchte, dass Sie die Sprengköpfe finden. Auf dem Papier werden Sie innerhalb der AntiterrorismusTaskforce tätig sein, aber Sie sind Ihr eigener Herr. Bilden Sie eine geheime, unabhängige Gruppe, um die Waffen zu finden. Fordern Sie die Leute und Ressourcen an, die Sie brauchen. Finden Sie die Atomsprengköpfe, bevor sie hochgehen.« »Ja, Sir.« »Die bösen Jungs haben uns einen Schlag mitten ins Gesicht versetzt«, sagte der Präsident und blickte erneut aus dem Fenster, als die Limousine an den Regierungsgebäuden vorbeirollte. »Das hätte nie passieren dürfen. Tausende ermordet, das Leben von zehntausenden ruiniert … Wir spüren die Folgen noch immer, und es wird noch Jahre dauern, bis sich unser Land von dem Schock erholt hat. Das Amerika, in dem Sie und ich aufgewachsen sind, verändert sich. Unsere Freiheit …« Der Präsident hob die Hand zum Gesicht und ließ sie wieder sinken. »Nun, es wird sich nicht wiederholen. Nie wieder! Haben Sie verstanden?« »Ja, Sir.« Der Präsident atmete tief durch und fasste sich. »Wir müssen besser werden, und wir werden besser. CIA, FBI, INS … Wir reorganisieren alles und setzen neue Prioritäten. Wir werden 57
HUMINT in den Vordergrund stellen. Wir werden alle Mittel nutzen, die wir in die Hand bekommen, um zu verhindern, dass kriminelle Fanatiker amerikanische Bürger umbringen. Wir müssen unsere Feinde verfolgen, wo auch immer und wer auch immer sie sind, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen, politische Verbindungen, Entscheidungen des Obersten Gerichts, Prozessvorschriften, Bundesgesetzbuch oder irgendwelche Feiertage. Wir müssen die Terroristen finden, bevor sie zuschlagen.« »Nicht alle unsere Feinde sind in Kandahar«, sagte Jake. »Janas Ilin hat darauf hingewiesen, und ich halte das für wichtig.« »Ich glaube, wir verstehen uns«, erwiderte der Präsident und richtete einen abschätzenden Blick auf Jake. »Um zu tun, was Sie von mir erwarten, muss ich eine Art Computerzentrum einrichten«, sagte Grafton langsam. »In der heutigen Welt hinterlässt jeder elektronische Spuren in diversen Datenbanken. Kreditkartenbelege, Bankaufzeichnungen, Versicherungsscheine, Mietverträge für Autos, Flugreservierungen, Hotelrechnungen, Wasser- und Stromrechnungen, Telefonaufzeichnungen, E-Mails, Cookies von besuchten Websites. Unser aller Leben ist in Computern gespeichert, ein bisschen hier, ein Fakt dort, ein Schatten in der Ecke. In den siebziger Jahren hat die deutsche Polizei Computer benutzt, um alle Informationen der verschiedenen Datenbanken zusammenzufassen und gegen die Rote-Armee-Fraktion und die Baader-Meinhof-Bande vorzugehen. Sie haben sie erwischt. Und weil sie offen vorgingen, kam es in der deutschen Öffentlichkeit zu Protesten. Die Gefahr rechtfertige nicht die Verletzung der Privatsphäre, hieß es. Doch heute geht es nicht nur um Mord und Entführung, sondern um Atomwaffen, um Flugzeuge voller Passagiere, die als KamikazeBomber eingesetzt werden. Heute geht es um die Ermordung von Unschuldigen im großen Stil.« »Es ist ein Krieg«, sagte der Präsident schlicht und einfach. »Schnell handeln und hart zuschlagen. Ich will Ergebnisse, keine Ausflüchte. Ihre Gruppe wird Teil der Antiterrorismus58
Taskforce sein, aber Sie unterstehen mir.« Der Präsident gab Jake eine Karte. »Die erste Telefonnummer ist die meines Beraters Sal Molina. Rufen Sie ihn an, wenn Sie Hilfe brauchen. Die zweite Nummer ist meine. Darunter können Sie mich jederzeit erreichen.« Jake sah auf die Karte und steckte sie in die kleine Tasche seiner Joggingshorts. »Wenn die Presse Wind davon bekommt, erwartet Sie ein Amtsenthebungsverfahren und mich das Gefängnis«, gab er zu bedenken. »Ich bin bereit, das Risiko einzugehen«, sagte der Präsident. »Während meiner Amtszeit werden wir keine Opfernation sein. Jene Leute, die die Verfassung der Vereinigten Staaten schrieben, wollten uns keineswegs an der Verteidigung hindern. Der Präsident hat die Macht, die Nation zu verteidigen. Diese Macht benutze ich hier und jetzt.« »Na schön. Aber warum ausgerechnet ich?« Der Präsident räusperte sich, antwortete aber nicht sofort. Die Limousine näherte sich dem Gebäude des Obersten Gerichts. »Wir halten es für angebracht, diese Aufgabe jemandem zu übertragen, der außerhalb der Geheimdienstwelt steht.« »Die Jungs in Langley und unten im Hoover Building müssen davon erfahren. Ich brauche ihre Kooperation. Himmel, bestimmt brauche ich viele ihrer Leute. Und ich benötige die Hilfe von Experten der National Security Agency.« »Ich wollte jemanden mit Grütze im Kopf, der nicht dauernd daran denkt, wie er einen weiteren Stern bekommt«, sagte der Präsident. »Der Vorsitzende der Generalstabschefs, der CNO und der Chef des Generalstabs des Heeres haben mir Ihren Namen genannt.« Jake antwortete nicht. Zwar hatte er nie gearbeitet, um befördert zu werden, aber er war einem weiteren Stern gegenüber keineswegs abgeneigt. Doch der Präsident der Vereinigten 59
Staaten hatte ihn gerade darauf hingewiesen, dass die Militärchefs eine Beförderung für unwahrscheinlich hielten. Danke, Sir. Vielen, vielen Dank. »Jemand wird Ihnen morgen früh Unterlagen ins Apartment bringen«, fuhr der Präsident fort. »Kopien des Autorisierungsdokuments gehen an den Direktor der AntiterrorismusTaskforce sowie an die Direktoren des FBI und der CIA. Sagen Sie ihnen, was Sie an Personen, Büroräumen und Material brauchen. Ihr Budget kommt vom CIA.« »Wem in der CIA oder beim FBI trauen Sie nicht?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Ich komme mir vor wie auf einem Drahtseil ohne Sicherheitsnetz.« Das Gesicht des Präsidenten blieb ausdruckslos. »Wir haben keine Wahl, Admiral. Wir sind in einem Krieg, den wir nicht wollten und nicht begonnen haben. Aber bei Gott, wir werden ihn gewinnen.« »Wenn Sie mir genug vertrauen, um mich mit dieser Sache zu beauftragen … Dann haben Sie auch genug Vertrauen, mir alles zu sagen.« »Ich habe Ihnen gesagt, was Sie wissen müssen. Nutzen Sie Ihr gutes Urteilsvermögen und Ihren gesunden Menschenverstand. Folgen Sie Ihrem Instinkt.« Jake Grafton dachte darüber nach, als der Wagen über die Straße rollte und er die Leute auf dem Bürgersteig beobachtete: Männer, Frauen und Kinder aus allen ethnischen Gruppen der Erde. »Ich würde lieber nach Afghanistan fliegen und dort Jagd auf Bin Laden und seine Kumpane machen«, murmelte er. »Vielleicht führt Ihr Weg Sie dorthin, Admiral. Ich bin kein Hellseher.« Jake lächelte. »Na schön, Mr. President. Es ist einen Versuch 60
wert. Vielleicht verbringen wir beide unseren Ruhestand im Gefängnis, aber bei Gott: Wir werden es den verdammten Mistkerlen zeigen, solange wir Gelegenheit dazu haben.« Der Präsident streckte die Hand aus. »Man hat mir gesagt, dass Sie der richtige Mann sind.« »Wenn Sie gestatten, Sir … Bitte setzen Sie mich an der nächsten Ecke ab. Ich möchte darüber nachdenken. Ich laufe ein wenig und nehme mir dann ein Taxi.« »In Ordnung«, sagte der Präsident und drückte eine Taste der Wechselsprechanlage, um dem Fahrer Anweisungen zu geben. Jake Grafton stieg aus und sah nicht zurück. Er befand sich auf der Promenade unweit des Luft- und Raumfahrtmuseums. Er lief langsam los, und zum ersten Mal seit Monaten fühlte er sich gut. Ja, es ist ein Krieg. Und der Krieg ist mein Beruf. Er hob die Faust und lief schneller. Miguel Tejada hatte die Präriegebiete nie gemocht. Er war in Sonora aufgewachsen und hatte die letzten zehn Jahre in Los Angeles verbracht. Der Westen von Kansas ähnelte weder dem einen noch dem anderen. Die flachwelligen Great Plains erstreckten sich in alle Richtungen, so weit der Blick reichte. Wolken bildeten sich am Himmel, aber selbst um diese Zeit im Frühling war es zu trocken für Regen. Über Wolken in trockener Luft wusste Tejada Bescheid. Er saß auf dem Beifahrersitz des ersten Wagens, einer Limousine. Der Mann am Steuer hieß Luis, der Name des anderen mit der Uzi im Fond lautete Jose. Es waren nicht ihre richtigen Namen, aber diese hatten sie Miguel genannt. Im Lieferwagen hinter der Limousine saßen zwei weitere Männer namens Chico und Chuy. Sie waren drei Kilometer weit über den rissigen Asphalt der 61
alten Straße gefahren, als sie die Kuppe eines niedrigen Hügels erreichten und den alten Flugplatz sahen. Es handelte sich um einen verlassenen Luftwaffenstützpunkt aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Start- und Landebahnen formten ein Dreieck. Hier und dort wuchs Unkraut aus Ritzen im Beton. Von den einstigen Gebäuden war nur der Kontrollturm übrig geblieben: Er ragte am Rand eines riesigen Parkplatzes auf, der sich neben der Nord-Süd-Bahn über mindestens fünf Morgen erstreckte. Vor dem Turm stand ein Sattelschlepper mit achtzehn Rädern. Luis ließ den Wagen nur noch im Schritttempo rollen, als sie sich dem Loch im rostigen Drahtzaun näherten. »Parate ahí!«, sagte Miguel. Mit einem Fernglas beobachtete er den großen Laster. Keine Spur vom Fahrer. Er sah zum Turm. In den Fenstern fehlten die Scheiben, und Vögel saßen auf den Fensterbrettern, also hielt sich dort niemand auf. Hmm … Er sah sich auf dem Flugplatz um und ließ sich Zeit. Es waren keine anderen Fahrzeuge oder Personen in Sicht. Miguels Blick glitt über die grünen Weizenfelder, die in allen Richtungen bis zum Horizont reichten. Auch dort bemerkte er niemanden. »Marchate!«, sagte er, und Luis gab wieder Gas, lenkte die Limousine durch das Loch im Zaun. Miguel sah die Spuren, die der Sattelschlepper im Boden zurückgelassen hatte. Wenn er den Mann nicht gekannt hätte, wäre Miguel vorsichtiger gewesen, aber er hatte schon zweimal geschäftlich mit ihm zu tun gehabt: ein Fernfahrer, der unter seiner Fracht versteckt gelegentlich Marihuana oder Kokain mitführte. Diesmal hatte er zehn Kilo Kokain dabei. Wahrscheinlich ist der Mann die ganze Nacht gefahren und schläft jetzt im Führerhaus, dachte Miguel. Er wies Luis an, vor dem Kontrollturm zu parken. Luis drehte den Zündschlüssel, und die drei Männer stiegen aus. Kalter Wind wehte. 62
Hinter ihnen hielt der Lieferwagen an. Chuy und Chico stiegen ebenfalls aus, sahen sich um und gingen dann langsam zum Laster. Der Wind zerrte an Miguels dünner Hose. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Er hörte ein dumpfes Pochen und ein Stöhnen von Jose, drehte sich zu ihm um und sah, wie er zu Boden ging, begleitet vom verspäteten Knall des Schusses. Joses Waffe klapperte auf den Asphalt. »Vámonos!«, rief Miguel und wollte zum Wagen zurücklaufen. Etwas bohrte sich ihm ins Bein, und er fiel. Schock und Schmerz waren so groß, dass er den Schuss nicht einmal hörte. Er begann zu kriechen. Luis riss die Wagentür auf und warf sich hinters Steuer. Der Motor heulte, und einen Sekundenbruchteil später zersprang die Windschutzscheibe. Blut spritzte. Der Motor heulte noch immer, aber die Limousine rührte sich nicht vom Fleck. Miguel kroch weiter und fluchte. Ein weiterer Schuss knallte, wenige Sekunden danach noch einer. Das Dumme war: Miguel konnte nicht feststellen, woher die Schüsse kamen. Er vermutete den Schützen hinter sich, wegen der Richtung, in die die Glassplitter der Windschutzscheibe geflogen waren. Aber vielleicht irrte er sich. Miguel erreichte die zweifelhafte Sicherheit des Wagens, kroch darunter und zog das verletzte Bein hinter sich her. Er war schwer getroffen und wusste es. Das Hosenbein saugte sich mit Blut voll, und er hatte rote Streifen auf dem Asphalt hinterlassen. Irgendwie schaffte er es, die Jacke zu öffnen und die Glock aus dem Halfter zu ziehen. Sie fühlte sich gut an in der Hand. Wo zum Teufel steckte der Schütze? »Chico?« 63
Keine Antwort. Der Wind und das Heulen des Motors waren so laut, dass Chico hätte schreien müssen, um sich verständlich zu machen. »Chuy! Siehst du den Mistkerl?« Einer der Männer lag auf dem Asphalt, die Waffe an seiner Seite. Vielleicht Chico. Es gab so wenig Platz unter dem Wagen, dass sich Miguel weder umdrehen noch vor- oder zurückkriechen konnte. Verdammt! Wieder ein Schuss, gefolgt von einem Schrei. Der Schrei zitterte im Wind und verklang schließlich, als dem Schreienden die Luft ausging. Dann ertönte er erneut, schriller als vorher. Mit einer schier übermenschlichen Anstrengung schaffte es Miguel, hinten unter dem Wagen hervorzukriechen. Er sah auf das Blut am Bein hinab, als eine Kugel vom Asphalt unter dem Wagen abprallte und sich ihm in die Lunge bohrte. Die Glock rutschte ihm aus der Hand. Während der Blutdruck schnell sank, blickte er auf die Erde am Autoreifen. Das war das Letzte, was er sah. Die Schreie hatten aufgehört, als sich der Schütze fünfzehn Minuten später dem Wagen näherte. Er trug ein RemingtonGewehr, Modell 700, ausgestattet mit Zielfernrohr, und er hielt es schussbereit. Er nahm sich Zeit, trat langsam an jeden Mann heran und vergewisserte sich, dass alle tot waren. Ein Mann, Chuy, lebte noch. Er schrie nicht mehr. Nur seine Augen bewegten sich. Der Schütze wich sechs Meter zurück, zielte sorgfältig auf Chuys Kopf und schoss noch einmal. Der Kopf platzte auseinander. Als er sicher sein konnte, dass alle fünf Männer aus der Limousine und dem Lieferwagen tot waren, hielt der Schütze sein Gewehr in der Armbeuge und zündete sich eine Zigarette an. 64
Er sammelte die Waffen der Toten ein, öffnete den Kofferraum der Limousine und holte einen Kissenbezug voller Geld daraus hervor. Fünf Pistolen, drei Maschinenpistolen, eine Schrotflinte und zweihunderttausend Dollar. Ein gutes Tageshonorar. Der Schütze verstaute die Waffen und das Geld im Sattelschlepper, hinter dem Fahrersitz, und startete dann den Dieselmotor. Als der Motor warmgelaufen war, legte er den ersten Gang ein und fuhr los.
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4 Nooreem Habib war eine moderne Ägypterin. Sie hatte einen großen Teil ihrer Jugend in England verbracht und dort eine Privatschule besucht. Ihr Vater war fortschrittlich: Er schickte seine Tochter auf ein modernes Mädcheninternat, wo sie unter anderem mit Computern umzugehen lernte. Kurz vor dem Abschluss hatte die Direktorin sie zu einem privaten Gespräch zu sich bestellt. »Sie sind sehr intelligent und eine ausgezeichnete Studentin, Miss Habib. Was haben Sie mit Ihrem Leben vor?« »Ich kehre nach Ägypten zurück und heirate einen akzeptablen Mann«, antwortete Nooreem. »Das ist der Wunsch meines Vaters.« »In den vergangenen Jahren haben Sie eine große kulturelle Kluft überbrückt«, sagte die Direktorin. »Wird Ihnen das Leben genügen, das auf Sie wartet?« »Es entspricht den Wünschen meines Vaters.« »Es gibt Menschen in der arabischen Welt, die der Meinung sind, dass Morden im Namen Allahs ihre heilige Pflicht ist. Teilen Sie diese Ansicht?« »Nein«, erwiderte Nooreem Habib mit Nachdruck. »Jene Leute pervertieren den Islam. Sie sind Feinde der Menschheit.« Sie sprachen mehrere Stunden miteinander, nicht als Studentin und Direktorin, sondern als zwei erwachsene Frauen. Schließlich gab die Direktorin Nooreem eine Telefonnummer. »Wenn Sie jemals etwas erfahren, von dem Sie meinen, dass es weitergegeben werden sollte, so rufen Sie diese Nummer an.« Nooreems Vater hatte ein Konto bei der Walney’s Bank und geschäftlich mit Abdul Abn Saad zu tun gehabt, und deshalb bewarb sie sich bei der Bank um eine Stelle. Sie bekam eine, 66
arbeitete als Buchhalterin in einem Hinterzimmer und schrieb dort sorgfältig Einträge in große, gebundene Hauptbücher. Sie erinnerte sich an die Illustration in einem Dickens-Buch und kam sich wie eine jener Personen vor, die einen Buchhalterschirm auf der Stirn trugen und den ganzen Tag schrieben … Nur ein Stuhl fehlte. Und sie brauchte einen. Im letzten Jahr hatte die Bank beschlossen, Computer zu erwerben, und bald darauf war Nooreem Habib mit der Umstellung von Hauptbüchern auf computerisierte Buchführung beschäftigt. Zum ersten Mal seit der Schule fühlte sie sich intellektuell herausgefordert und fand großen Gefallen daran. Sechs Monate nach Beginn des Computerprojekts erinnerte sie sich an die Telefonnummer. Wenn man den Cash-Flow und den Überweisungsverkehr der Bank elektronisch auswertete, ergaben sich Muster. Nooreem Habib war tatsächlich sehr intelligent, und sie begriff, was es mit den Mustern auf sich hatte. Die Walney’s Bank transferierte Geld um den Globus und finanzierte damit terroristische Organisationen. Wissentlich oder unwissentlich. Instinktiv entschied sie sich dagegen, die Sache in der Bank zur Sprache zu bringen. Stattdessen rief sie die Nummer an, die ihr die Direktorin vier Jahre zuvor gegeben hatte. Eines Tages, in einem Bus in den Straßen von Kairo, gab ihr eine Frau eine Minox-Kamera und sechs Filmrollen. Auf einem Zettel in der Kamera stand, wo sie die belichteten Filme deponieren sollte. Mit der Minox fotografierte Nooreem Computerausdrucke, wickelte den Film dann in Bonbonpapier und ließ ihn auf der Damentoilette in einer Wandöffnung hinter dem Toilettenpapierhalter zurück. Den Namen Janas Ilin hatte Nooreem nie gehört. Sie wusste nicht, wer den Film anschließend aus dem Loch nahm. Ihr war durchaus klar, dass sie nichts verraten konnte, wenn man sie fasste. 67
Manchmal fragte sie sich, wer die finanziellen Informationen aus den Aufzeichnungen der Bank empfing. Die Briten, vermutete sie. MI-5. Wer auch immer: Sie waren Feinde der Terroristen, wie sie selbst. Sie hatte nur noch eine Filmrolle übrig, nicht genug für den Berg von Transaktionen, der ausgewertet werden musste, um die Muster zu erkennen, die es bestimmt gab. Während eines ruhigen Moments begann sie damit, wichtige Dateien auf eine CD zu kopieren, bis schließlich der ganze Speicherplatz belegt war. Erst dann nahm sie die Scheibe aus dem Laufwerk. Später am Morgen ging sie zur Toilette, nahm die CD mit und schob sie ins Loch hinter dem Papierhalter. Am Morgen nach dem Gespräch mit dem Präsidenten erzählte Jake Toad Tarkington von seinem neuen Auftrag, als sein Assistent im Büro eintraf. Er selbst saß schon seit einer Stunde am Schreibtisch. »Im Ernst?«, entfuhr es Toad verblüfft. »Wir sollen die Sprengköpfe finden?« »In einer halben Stunde habe ich einen Termin beim Direktor der CIA und eine Stunde danach beim Direktor des FBI. Ich schätze, die Hälfte meiner Zeit geht bei Besprechungen mit Regierungsleuten drauf, was bedeutet, dass Sie die eigentliche Arbeit leisten müssen.« »Lieber Himmel!« Toad schien es noch immer nicht fassen zu können. »Wo fangen wir an?« »Mit Büroräumen und Mitarbeitern. Und Computern und einem Budget. Morgen früh sollen die Leute mit der Arbeit beginnen.« »Wer?« »Zunächst einmal Sie und Tommy Carmellini.« Jake sah auf die Uhr. »Der erste Schritt besteht darin herauszufinden, was 68
bereits über die Jagd nach den Bomben bekannt ist. Und was das FBI in Hinsicht auf Mr. Doyle unternimmt.« »Sie sagten doch, dass der Präsident Sie damit beauftragt hat, die Sprengköpfe zu finden.« »Ja. Vermutlich kümmert sich das FBI um Freund Doyle, aber ich habe da so ein Gefühl. Ilin hat die Sprengköpfe und Doyle in Verbindung gebracht, wenn auch nur dadurch, beides im gleichen Gespräch zu erwähnen. Der Oberboss hat mir eine Menge Autorität übertragen, und davon werde ich Gebrauch machen.« »Warum nicht?«, brummte Toad. Er sah allmählich das ganze Ausmaß des Schlamassels. »Sie werden dort draußen auf dem Drahtseil sein, ganz allein, nicht wahr?«, fragte er. »Ohne Netz.« »O nein. Sie werden direkt neben mir balancieren, Schiffskamerad, bis ganz hinüber zur anderen Seite. Wenn wir es schaffen, bekommen wir wahrscheinlich nebeneinander liegende Zellen in irgendeinem feinen Bundesgefängnis.« »Welch ein angenehmer Gedanke«, erwiderte Toad ohne Begeisterung. Der Direktor der Central Intelligence Agency war ein großer, wohlbeleibter und fast kahlköpfiger Mann namens Avery Edmond DeGarmo. Er und Jake hatten schon zuvor mehrfach die Klingen gekreuzt. Sein rundliches Gesicht wirkte finster, als Jake das Büro betrat, und Jake wusste aus Erfahrung, dass es fast immer einen solchen Ausdruck hatte. DeGarmo sah aus wie jemand, der selten gute Nachrichten bekam. An diesem Morgen hatte der Direktor den Brief des Präsidenten auf dem Schreibtisch. Das wusste Jake, weil er im Empfangsbereich gewartet hatte, während DeGarmo mit dem Weißen Haus telefonierte, um sich die Authentizität des Brie69
fes bestätigen zu lassen. »Wieder dabei, wie ich sehe, Grafton«, sagte DeGarmo gereizt. »Wobei, Mr. DeGarmo?« »Sie reiten los, um die Republik zu retten.« »Ich habe nicht um diesen Auftrag gebeten.« DeGarmo schnaubte. »Ich hätte gedacht, dass Ihnen jede Hilfe beim Auffinden der russischen Atomsprengköpfe willkommen ist.« »Amateure, die alles nur vermasseln, sind keine Hilfe«, erwiderte DeGarmo scharf. »Andernfalls hätte ich Arnold Schwarzenegger gerufen.« Jake verlor die Geduld. DeGarmo und er waren zum ersten Mal vor einem Jahr aneinander geraten, nach der Entführung der USS America, als Jake bei den Ermittlungen geholfen hatte. DeGarmo glaubte offenbar, dass die Öffentlichkeit möglichst wenig von den Vorgängen in der Geheimdienstbürokratie wissen sollte. Was durchaus im Interesse der Bürokratie lag, dachte Jake. »Der Präsident hat mich beauftragt, und damit müssen wir uns beide abfinden«, sagte er trocken. »Heute Nachmittag möchte ich mir ansehen, was die Agency über die Waffen weiß und darüber, wo sie sich befinden könnten. Ich möchte alle entsprechenden Akten sehen.« »Dachte ich mir.« »Darüber hinaus möchte ich Ihre persönliche Verpflichtung, mir aktiv bei meinen Ermittlungen zu helfen.« »Wollen Sie andeuten, dass ich nicht meine Pflicht erfülle?« »Meine Aufgabe besteht darin, die Waffen zu finden. Ich bin entschlossen, sie zu erfüllen. Entweder helfen Sie mir in jeder erdenklichen Weise, oder ich handle über Ihren Kopf hinweg, Herr Direktor, und lasse Sie auf der Straße verbluten. Die Wahl liegt bei Ihnen.« 70
Avery Edmond DeGarmo beugte sich vor und richtete den Zeigefinger auf Jake. »Der Präsident der Vereinigten Staaten hat mich zum Direktor dieser Agency gemacht, und der Senat der Vereinigten Staaten hat das bestätigt. Sie werden all die Kooperation bekommen, die wir leisten können, das versichere ich Ihnen. Und wenn Sie Mist bauen, Admiral … Dann garantiere ich Ihnen, dass Sie zeit Ihres Lebens nie wieder einen Vertrauensposten in der Regierung der Vereinigten Staaten bekommen.« Jake Grafton stand auf. »Wenn wir die Sprengköpfe nicht finden, gibt es bald vielleicht keine Regierung der Vereinigten Staaten mehr«, sagte er ruhig. Er verließ das Büro, bevor DeGarmo antworten konnte. Im Vorzimmer nahm Jake die Mütze vom Tisch und strich sich nervös mit den Fingern durchs Haar. Dieses Gespräch war nicht besonders gut gelaufen. Ein toller Anfang, dachte er. Toad hatte einen Wagen und einen Fahrer besorgt, sodass Jake stilvoll beim FBI vorfahren konnte. Nach der Überprüfung seiner Ausweispapiere und dem Gang durch einen Metalldetektor führte man ihn durch lange Korridore. Schließlich erreichte er das Büro des Direktors. Der Mann hieß Myron A. Emerick und hatte sein ganzes berufliches Leben beim FBI verbracht. Er war ein echter Insider, wusste Jake, jemand, der das System skrupellos ausgenutzt hatte, um nach oben zu kommen. Emerick wartete in der Tür und schüttelte Jake die Hand, bat seinen Gast dann, in einem schwarzen Ledersessel Platz zu nehmen. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Admiral. Ich habe Ihren Namen im Lauf der Jahre oft gehört.« Er setzte sich auf die Ledercouch links von Jake. Es wirkte alles recht zwanglos, aber Jake musste den Kopf um fünfundvierzig Grad drehen, um mit dem Direktor zu sprechen. Jake stand auf, drehte den Ses71
sel und nahm erneut Platz. Emericks Sekretär saß links von ihm, mit einem Block auf dem Knie und einem Stift in der Hand. Außerdem waren zwei weitere Männer präsent, vermutlich Stellvertreter des Direktors. Jake wurde vorgestellt, schüttelte ihnen die Hände und vergaß ihre Namen sofort wieder. »Ich habe heute Morgen den Brief des Präsidenten bekommen«, sagte Emerick ernst. Er war schlank und sportlich, wog nicht mehr als fünfundsiebzig Kilo. Sein Kopf war schon ziemlich kahl, und der Rest des Haars war kurz geschnitten. An diesem Tag trug er einen teuren dunklen Anzug mit einer gelben Seidenkrawatte. Jake vermutete, dass Emerick jeden Tag Sport trieb, vermutlich Racquetball. Auf seinem Schreibtisch stand ein Foto, das seine Ehefrau und Kinder im Collegealter zeigte. »Das FBI wird alle seine Möglichkeiten nutzen, Ihnen zu helfen, Admiral, das versichere ich Ihnen«, sagte Emerick. »Doch als offizieller Repräsentant der Regierung halte ich es für wichtig, Sie vor dem Minenfeld zu warnen, auf das Sie sich begeben.« »Auf Befehl des Präsidenten«, erwiderte Jake vorsichtig. »Ben Franklin hat darauf hingewiesen, dass jene, die Freiheit gegen Sicherheit eintauschen, weder das eine noch das andere bekommen.« »Ich kenne diese Wahrheit, Sir. Ich bin kein Faschist.« »Und ich wollte auch nichts dergleichen andeuten. Wenn ich zwischen den Zeilen lese und alles richtig verstehe, werden Sie sich bei Ihrer Terroristenjagd nicht um die Gesetze kümmern, die in diesem Land die persönliche Privatsphäre schützen. Ist das eine richtige Einschätzung?« »Etwas in der Art, ja«, bestätigte Jake. »Was auch immer die Richter sagen: Das Recht darauf, sich nicht selbst zu belasten, dient dem Schutz der Schuldigen, nicht 72
der Unschuldigen. Ebenso wenig dient das Recht auf Privatsphäre dazu, Personen zu schützen, die nichts zu verbergen haben. Es schützt vielmehr die Schuldigen, all jene Leute, die das Gesetz brechen oder gegen soziale Regeln verstoßen, indem sie bei ihrem Lebenslauf, Kreditanträgen und der Steuererklärung lügen, den Ehepartner betrügen, an Pornographie Gefallen finden, Drogen nehmen und all jene kleinen Dinge tun, die sie vor Nachbarn, Kirche und der Polizei verbergen möchten. Die Welt ist voller schuldiger Personen, Admiral; man wird Sie und den Präsidenten auf dem Scheiterhaufen verbrennen, wenn Sie mit dem, was Sie erfahren, Missbrauch treiben.« »Wundervoll, Sir. Ich werde daran denken und Asbesthandschuhe tragen. Nun, es ging mir natürlich darum, mich Ihnen vorzustellen, aber ich möchte dieses Treffen auch für eine konkrete Angelegenheit nutzen, und daher meine Frage: Was gedenkt das FBI in Hinsicht auf Richard Doyle zu unternehmen? Sie wissen sicher, dass er der CIA-Mitarbeiter ist, von dem Janas Ilin behauptet hat, dass er für die Russen spioniert.« Verwunderung zeigte sich in Emericks Gesicht. »Haben Sie nichts davon gehört? Wir untersuchen sein Verschwinden.« Jake war verblüfft. »Sein Verschwinden?« »Er verschwand letzten Freitagabend. Fuhr mit dem Minivan der Familie weg, während seine Frau Kunden ein Haus zeigte – sie ist Immobilienmaklerin – und die Kinder bei einem Footballspiel der Highschool waren. Seitdem gibt es keine Nachricht von ihm. Gegen fünf Uhr am nächsten Morgen rief uns seine Frau an. Sie war sehr besorgt. Den Minivan fand man auf dem Parkplatz eines Fastfood-Restaurants in Tyson’s Corner.« Jake schüttelte den Kopf und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Irgendein Anzeichen von Gewalt?« »Bisher nicht. Die Leute von der Spurensicherung nehmen sich gerade den Wagen vor. Bisher deutet alles darauf hin, dass er ihn einfach nur geparkt hat und dann fortgegangen ist.« 73
»Und Sie wissen nicht, wohin er ging?« »Nein, das wissen wir tatsächlich nicht.« »Geld?« »Doyles Frau meinte, er hätte nicht mehr als vierzig Dollar in bar bei sich. Sie sah seine Brieftasche, als er ihr zwanzig Dollar gab, kurz bevor sie losfuhr. Doyle hat keine Schecks ausgestellt und auch keinen Geldautomaten benutzt. Wir haben seine Kreditkarten gesperrt, obgleich niemand versucht hat, sie zu verwenden. Seine Frau ist ganz außer sich. Entweder sind ihre schauspielerischen Fähigkeiten Oscar-verdächtig, oder sie weiß wirklich nicht, warum und wohin er verschwand.« »Was ist mit seinem Pass?« »Für ungültig erklärt. Wir haben alle routinemäßigen Maßnahmen ergriffen. Alle Polizisten im Land halten nach Doyle Ausschau. Bisher gab es nur falsche Alarme.« »Weiß DeGarmo von Doyle?« »O ja.« »Ich habe vor einer Stunde mit ihm gesprochen, aber er hat ihn nicht erwähnt.« »Vielleicht dachte er, dass Sie Bescheid wissen.« »Mit vielleicht kommen wir nicht weiter«, knurrte Jake und rutschte ein wenig zur Seite. »Was ist mit Doyles Büro?« »Wir sehen uns seinen Schreibtisch an, seine Akten und seinen Computer. Doyles Frau gab uns die Erlaubnis zu einer Hausdurchsuchung. Sie leiht uns auch den Familiencomputer, damit wir die Festplatte untersuchen können.« »Gibt es irgendeine Möglichkeit herauszufinden, ob er in Russland ist?« »Wenn er sich dort befindet, hat er bei der Reise nicht seinen Pass benutzt, so viel steht fest.« »Freitagabend?« 74
»Ja.« »Etwa achtundzwanzig Stunden nach meinem Treffen mit Ilin in New York.« Jake holte tief Luft. »Ich möchte die Namen aller Personen im Regierungsapparat der Vereinigten Staaten, die am Freitagabend wussten, dass Ilin Doyle erwähnt hat. Die Liste kann eigentlich nicht sehr lang sein.« »Wir ermitteln. Ich habe eine solche Liste für Montag angefordert. Sie erhalten eine Kopie, sobald ich sie bekomme.« Jake nickte. »Gut. Lassen Sie uns jetzt über Terroristen und Nuklearwaffen sprechen.« Eine Stunde später, nachdem Jake gegangen war, schickte Myron Emerick den Sekretär fort und winkte seine beiden Stellvertreter Hob Tulik und Robert Pobowski näher. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, und die beiden Männer nahmen in den Sesseln davor Platz. »Sie haben ihm nicht von den mutmaßlichen Terrorzellen erzählt, die wir im Auge behalten«, sagte Tulik. »Er hat nicht danach gefragt«, erwiderte Emerick knapp. »Der Terroranschlag vom elften September hat das Bureau überrascht, und das wird nicht noch einmal geschehen.« Emerick verfügte über eine begrenzte Anzahl von Mitarbeitern, die sich um die üblichen Verbrechen kümmern mussten, außerdem um Sicherheitsermittlungen und Gegenspionage. Das alles war jetzt gegenüber der Jagd nach möglichen Terroristen in den Hintergrund gerückt. Und davon gab es jede Menge. Die Vereinigten Staaten hatten über viele Jahre hinweg Visa an Studenten aus der arabischen Welt verteilt, und die INS hatten keine Möglichkeit, den Weg der Studenten zu verfolgen, sobald sie im Land waren. Zehntausende von Touristen trafen täglich auf den Flughäfen des Landes ein. Illegale Einwanderer kamen an jedem Tag über die mexikanische und kanadische Grenze, verschwanden wie die Touristen und Studenten im amerikanischen Mahlstrom. Unter all diesen Menschen Leute mit terroristischen 75
Absichten zu finden, kam dem Bemühen gleich, die Augiasställe zu reinigen – es war eine Aufgabe für Herkules. Anschließend musste Beweismaterial gesammelt werden, das ausreichte, um die Betreffenden zu verhaften und Anklage gegen sie zu erheben. Wie bei vielen Organisationen im Land, deren Aufgabe darin bestand, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, war das FBI hoffnungslos unterbesetzt. Emerick und seine Stellvertreter waren nach oben gekommen, weil sie im Lauf der Jahre gelernt hatten, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die für die Öffentlichkeit, die Presse und den Kongress besonders wichtig waren, und in diesen Bereichen sichtbare Resultate zu erzielen. Verhaftungen wurden vorgenommen, mit genug Beweismaterial, um die Verhafteten zu verurteilen. Das rechnete man dem Bureau als Verdienst an. Emerick sah die beiden Männer vor seinem Schreibtisch an. »J. Edgar Hoover hat das FBI nicht gegründet, damit es die Dreckarbeit macht und es der lokalen Polizei überlässt, die Früchte seines Fleißes zu ernten. Wir ermitteln, wir sammeln Beweise und wir bringen die Leute in den Knast. So sehr hat sich die Welt nicht verändert. Wenn Grafton die Lorbeeren im Falle des Erfolgs einheimst, geht das Bureau den Bach runter.« Tulik nickte. »Wenn wir die Burschen nicht finden, werden sich Presse und Kongress fragen: Wozu brauchen wir eigentlich ein FBI?« »Diese Frage stellt man sich bereits«, sagte Pobowski bitter. »Haben Sie heute Morgen das Wall Street Journal gelesen?« »Wir haben eine Aufgabe und werden sie erfüllen«, betonte Emerick. »Die verdammten Politiker können Grafton ansetzen, auf wen sie wollen, aber das FBI wird noch hier sein, wenn er kleine weiße Bälle über irgendwelche Golfplätze schlägt.« Die beiden Stellvertreter des Direktors nickten. »Vier Atomsprengköpfe sind hierher unterwegs«, fuhr Eme76
rick fort und kam zur Sache. »Davon gehen wir aus. Die Leute, für die sie bestimmt sind, weilen bereits unter uns und schmieden Pläne. Wie viele Anrufe über mögliche Terroristen bekommen wir täglich, Hob? Sechzig, achtzig?« »Ja, Sir. Mindestens. Oft noch mehr. Die Leute glauben, Terroristen im Laden an der Ecke oder in Motels zu entdecken.« Emerick nickte. »Typische Polizeiarbeit: Wir müssen die richtigen Spuren finden und ihnen folgen. Ich will, dass die verdammten Mistkerle gefunden werden, bevor die Sprengköpfe eintreffen. Wir überwachen sie, zapfen ihre Telefone an, infiltrieren, was auch immer. Und dann verhaften wir sie mit den Bomben in ihrem Besitz! Wir machen Videoaufnahmen davon und geben sie der Presse. Ich will die Burschen auf frischer Tat ertappen, damit kein noch so gewitztes Anwaltsarschloch sie heraushauen kann. Verstanden!« Ja, Pobowski und Tulik verstanden. Das Bureau würde die Anerkennung bekommen, nicht Jake Grafton und sein Amateurverein. Sie glaubten mit Leib und Seele, dass die Nation das FBI brauchte, und bei Gott: Das Büro sollte nicht untergehen, während sie es leiteten. Kurz vor dem Mittagessen an jenem Tag wurde Tommy Carmellini ins Büro seines Abteilungsleiters gerufen. »Ich hoffe, Sie sind derzeit nicht zu beschäftigt, Tommy, denn die Tunes von der Antiterrorismus-Taskforce fordern Sie an. Diese Gruppe hat Priorität, und deshalb müssen Sie los. Morgen früh sollen Sie dort antreten. Es ist eine vorübergehende Versetzung; man hat mir nicht mitgeteilt, wann Sie zu uns zurückkehren.« Carmellini war an zeitweilige Einsätze gewöhnt. An manchen Tagen schien es, als wollte die halbe Regierung, dass er irgendwo Wanzen versteckte oder in Wohnungen einbrach. Er atmete tief durch und fragte, wer seine Arbeit fortsetzen würde. Der Abteilungsleiter meinte, sein Assistent könnte ihn eine Zeit 77
lang vertreten. Schließlich stand Carmellini auf und fragte: »Wer von der Taskforce hat angerufen, Sir? Ich wusste gar nicht, dass man mich dort kennt.« Der Abteilungsleiter sah in seinen Unterlagen nach. »Ein Offizier der Marine. Konteradmiral Grafton.« Oh, oh, dachte Carmellini. Er kannte Jake Grafton. Die Marine setzte ihn nicht ein, um Papiere auf einem Schreibtisch hin und her zu schieben. Zugegeben, er war ein netter Kerl, aber er steckte immer bis zum Hals in der Scheiße. Carmellini fand Graftons Truppe im Kellergeschoss eines der neueren Gebäude auf dem CIA-Gelände, im Innern einer so genannten SCIF, einer Sensitive Compartmented Information Facility – eine Art Käfig, der verhinderte, dass elektronische Emissionen den abgeschirmten Bereich verließen. Toad Tarkington und ein Sekretär, der Gruppe gerade erst zugewiesen, machten sauber und überwachten die Ankunft von Büromöbeln. »Hallo, Toad«, sagte Carmellini und sah sich im Durcheinander um. »Wie geht’s Ihnen?«, erwiderte Toad. »Wie gehängt und vergessen. Und Sie?« »Nur wie gehängt. Die Kisten dort sind voller Büromaterial. Nehmen Sie eine.« Sie hatten den größten Teil verstaut, als Jake Grafton hereinkam. Er trug seine weiße Uniform und wirkte müde, fand Carmellini. Er winkte Tommy und Toad in einen kleinen, leeren Raum und schloss die Tür. »Na schön, Jungs«, sagte er und erklärte, was er über die Sprengköpfe und seinen neuen Auftrag wusste. Er wies auch auf das Verschwinden von Richard Doyle hin. »Ich weiß nicht, 78
ob es zwischen Doyle und den Bomben eine Verbindung gibt, aber Doyles Verschwinden hat ganz sicher mit Ilins Hinweis auf ihn zu tun. Janas Ilin nennt seinen Namen, und achtundzwanzig Stunden später verschwindet Doyle.« »Nach Russland?« »Das weiß niemand. Vielleicht findet das FBI etwas. Man ermittelt.« »Wie lief Ihr Gespräch mit dem FBI-Direktor?«, fragte Toad. »Er gab mir zu verstehen, dass gute Vorsätze in dieser Stadt nichts wert sind.« »Das hätte ich Ihnen ebenfalls sagen können, Admiral«, warf Carmellini ein. »Ihr Boss, DeGarmo …« »Oh, Sie meinen den großen Avery Edmond. Bei der Truppe – beziehungsweise bei den kleinen Leuten, wie man sie auf der Chefetage nennt – als ›A.E. DeG.‹ bekannt. So schreibt er seine Initialen. Ein wahrhaft kranker Mann. Ein so verdrehter Geist könnte einen Gehirnklempner berühmt machen, wenn er ihn in die Finger bekäme.« »Ob krank oder nicht, Avery Edmond mag keine Amateure.« »Ich habe nie richtig hierher nach Langley gepasst«, sagte Carmellini deprimiert. »Ich habe einfach nicht die richtige Einstellung, um ein guter Spion zu sein. Ach, ich bin ein grässlicher Amateur. Mein Herz ist rein.« Tarkington gab ein würgendes Geräusch von sich. »Kann ein Raketensprengkopf in eine Bombe verwandelt werden?«, fragte Carmellini. Jake dachte nach, bevor er antwortete. »Wenn ein richtiger Fachmann daran arbeitet … Ich nehme an, er könnte die Sprengköpfe mit den notwendigen Dingen ausstatten, mit Timern, Batterien und so weiter. Die betreffende Person müsste ein Waffenprofi sein, ein Experte.« 79
»Und wenn man das Plutonium aus den Sprengköpfen nimmt und es gewöhnlichem Sprengstoff hinzufügt, zum Beispiel einem Laster voller Düngemittel?«, fragte Toad. »Ist das möglich?« Jake ließ die Schultern hängen. »Plutonium ist die giftigste dem Menschen bekannte Substanz. Wer einen Atomsprengkopf öffnen will, braucht einen Sicherheitsraum, Schutzanzüge, Behälter für das Plutonium und so weiter. Den betreffenden Leuten müsste ein gut ausgerüstetes Laboratorium zur Verfügung stehen; andernfalls wären sie innerhalb weniger Minuten nach dem Öffnen des Sprengkopfs tot. Wenn sie falsch mit dem Zeug umgehen, könnte es sogar zu einer Kettenreaktion kommen.« »Wenn sie die Arbeit nicht hinter dicken Bleischirmen durchführen, müssten sie alle damit rechnen, an der Strahlenkrankheit zu sterben«, sagte Carmellini. Jake holte tief Luft und ließ den Atem langsam entweichen. »Wenn ich darüber zu entscheiden hätte … Ich würde nicht versuchen, die Sprengköpfe zu öffnen. Warum die Mühe? Man packe einen von ihnen in genug Sprengstoff und löse eine konventionelle Explosion aus, die Plutoniumstaub in einem großen Gebiet verteilt – eine schmutzige Bombe. Je mehr Wind bei der Explosion, umso größer das verseuchte Gebiet. Eine Dekontamination wäre praktisch unmöglich. Die Halbwertzeit von Plutonium liegt bei zweihundertfünfzigtausend Jahren. Es wäre die schlimmste ökologische Katastrophe in der Erdgeschichte.« Carmellini pfiff leise. »Eine schmutzige Bombe oder eine nukleare Explosion.« »Das sind die beiden Möglichkeiten.« »Jeweils zweihundert Kilotonnen«, sagte Toad leise. »Ja.« »Lieber Himmel!« 80
»Dieser Auftrag ist wie ein Angriff auf die Hölle mit einem Eimer Wasser«, bemerkte Tommy Carmellini. »Vielleicht ist dies der geeignete Zeitpunkt für mich, um eine Versetzung nach Australien zu beantragen. Ich habe gehört, dass die Strände dort alle topless sind, und angeblich lieben die Frauen Amerikaner.« »Dort gäbe es weniger Fallout«, sagte Toad. »Aber an Ihrer Stelle würde ich mir ein Flugticket zum Mars kaufen.« »Mann, wenn das mit meiner American-Express-Karte möglich wäre, hätte ich bereits eins.« Als Tommy Carmellini die Tür seines Apartments aufschloss und mit seiner kleinen Einkaufstasche eintrat – sie enthielt nur ein Sechserpack Bier, ein Brot und ein Stück Käse –, machte er nicht sofort das Licht an. Er ging zur Küche und schaltete dort die Lampe ein. Nachdem er eine Dose aus dem Sechserpack genommen hatte, verstaute er seinen Einkauf im Kühlschrank. Mit dem Bier in der Hand ging Carmellini ins Wohnzimmer und schaltete dort die Bodenlampe neben der Couch ein. Als er dastand und das Bier trank, spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Er erstarrte und lauschte. Sein Blick glitt durchs Zimmer. Und dann sah er es plötzlich. Die Dinge befanden sich nicht genau an ihrem üblichen Platz, schienen bewegt worden zu sein. Die Lampe, die er gerade eingeschaltet hatte, stand fünf Zentimeter näher an der Wand – der runde Abdruck im Teppichboden verriet die veränderte Position. Jemand war in der Wohnung gewesen und hielt sich vielleicht noch immer in ihr auf. Das Apartment war nicht groß. Innerhalb weniger Sekunden stellte Carmellini fest, dass Schlafzimmer, Bad und die Schränke leer waren. Auch im Schlafzimmer befanden sich die Dinge nicht genau 81
an ihrem Platz. Bücher, Kleidung, die Schuhe ganz unten im Schrank … Alles war bewegt worden. Carmellini betrat jeden Raum und überprüfte alles. Es schien nichts zu fehlen. Die Fenster waren intakt und geschlossen. Er kehrte zur Wohnungstür zurück und sah sich das Schloss an. Entweder hatte man einen Schlüssel benutzt oder das Schloss professionell geöffnet. Er leerte die Dose Bier, setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch und sah auf den leeren Fernsehschirm. Wonach konnte der Unbekannte gesucht haben? Es gab kein Geld in der Wohnung, keine Drogen, keine geheimen Dokumente … Er besaß einen Computer, ein Soundsystem und einen Fernseher, und alles war noch vorhanden. Carmellini betrat die kleine Nische, die er als Büro benutzte, und kontrollierte die Schubladen des Schreibtischs. Akten, Papiere, Briefe, Kontoauszüge, Rechnungen, nichts fehlte, aber alles war durchsucht worden. Carmellini dachte an die Pistole in der Schublade mit den Socken, ging ins Schlafzimmer und sah nach. Ja, da lag sie, neben einer Schachtel mit Munition. Hemden, Anzüge, Unterwäsche, Jeans, es war alles da, aber der Inhalt von Schränken und Schubladen wirkte nicht ganz so ordentlich wie sonst – jemand hatte darin gekramt, Carmellini war ganz sicher. Den CIAAusweis und die Kennkarte für das Apartmenthaus trug er bei sich, ebenso die Brieftasche mit Kreditkarten und Führerschein. Hatte jemand die Wohnung verwanzt? Aber warum, um Himmels willen? Er suchte nicht nach Mikrofonen. Tommy Carmellini verbrachte einen großen Teil seines Arbeitslebens damit, Abhöranlagen in fremden Wohnungen, Autos und Büros unterzubringen, und er wusste, wie verteufelt schwer es war, 82
gut versteckte Wanzen zu finden. Möglicherweise war der Unbekannte ein Amateur oder inkompetent. Oder er wollte Carmellini wissen lassen, dass es Wanzen gab. Die zweite Möglichkeit war wahrscheinlicher. Die Person, die Abhörvorrichtungen versteckt hatte, wollte, dass Carmellini danach suchte und welche fand. Schließlich würde er glauben, alle Wanzen gefunden zu haben, was aber nicht stimmte. Bei paranoiden Subjekten machte auch Tommy Carmellini selbst manchmal von dieser Taktik Gebrauch. Wer wollte wissen, was Tommy Carmellini in seiner Wohnung sagte? Gelegentlich kamen Freunde, und dann sahen sie sich gemeinsam ein Footballspiel an oder spielten Poker. Manchmal verbrachte eine Frau die Nacht mit ihm, aber Herr im Himmel, wer wollte sich so etwas anhören? Eine wirklich rätselhafte Sache, fand Carmellini. Er schaltete den Fernseher ein, ging die Kanäle durch und suchte nach einer Sportsendung. Am Abend des folgenden Tages brachte Tommy Carmellini ein empfindliches elektronisches Gerät von Langley mit nach Hause. Er hatte es sich von einem Kollegen aus einer anderen Abteilung geliehen, der ihm einen Gefallen schuldete, und deshalb hinterließ die Ausleihung keine Spuren in irgendwelchen Aufzeichnungen. Als er das Gerät aus dem Koffer nahm und die Batterie überprüfte, fragte er sich erneut, warum jemand ein Interesse daran haben sollte, seine Wohnung zu verwanzen. Was hoffte der Unbekannte zu hören? Zugegeben, früher war er Dieb gewesen. Zusammen mit einem Freund hatte er die feine Kunst des Einbruchs und des Geldschrankknackens erlernt. Sie hatten Diamanten gestohlen und sie einem Juwelier verkauft, der sie neu schliff und dann in seinem Laden anbot. Der Juwelier war ein schlauer Bursche gewesen und hatte damit geworben, dass er nach Antwerpen 83
flog und dort Diamanten en gros einkaufte – deshalb konnte er sie angeblich billiger als seine Konkurrenten verkaufen, weil er den Zwischenhandel umging. Er war tatsächlich nach Antwerpen geflogen, um dort Diamanten zu kaufen. Doch Carmellini und sein Freund hatten ihm mehr Diamanten beschafft, billigere als die der Diamantenhändler in Belgien. Dann flog Carmellinis Freund auf und verriet ihn ans FBI. Zu jenem Zeitpunkt hatte Carmellini im letzten Semester Jura studiert. Zum Glück machte man ihm ein Angebot: Wenn er für die CIA arbeitete, würde man ihn nicht vor Gericht stellen. Ihm blieb keine Wahl. Er war noch immer für die CIA tätig, für eine Abteilung, die auf Einbrüche im Ausland und auch im Inland spezialisiert war, obgleich Letzteres gegen das Gesetz verstieß, als das FBI Expertenhilfe anforderte. Er mochte seine Arbeit. Ihm hatten die Herausforderungen des Einbruchs beim Diebstahl von Diamanten gefallen, und es gefiel ihm auch, überall auf der Welt Safes zu knacken und ihren Inhalt zu fotografieren. Er bekam ein gutes Gehalt und genoss die Reisen. Natürlich dachte er gelegentlich daran, die CIA zu verlassen und zum Einbruch zurückzukehren … Vielleicht würde er eines Tages eine solche Entscheidung treffen. An diesem Abend suchte er mit einer stabförmigen Antenne nach den typischen Signalen, die von Mikrofonen ausgingen. Er fand zwei, eins im Wohnzimmer und das andere im Schlafzimmer, und er ließ beide an Ort und Stelle. Carmellini schaltete den Ortungsapparat aus und verstaute ihn wieder im Koffer. In einigen Tagen wollte er ihn dem Kollegen in der anderen Abteilung zurückbringen. Er nahm eine Bierdose aus dem Kühlschrank und sah aus dem Fenster, als er trank. Vier nukleare Sprengköpfe. Und niemand wusste, wo sie sich befanden. Jake Grafton steckte bestimmt nicht hinter den Wanzen in seiner Wohnung, dachte Carmellini. Er hatte schon zuvor mit 84
dem Admiral zusammengearbeitet und glaubte, dass Grafton ihm vertraute. Andernfalls hätte er ihn wohl kaum angefordert und würde ihn bestimmt nicht an wichtigen Besprechungen teilnehmen lassen. Andererseits, Jake Grafton war ein schlauer Bursche. Vielleicht … Carmellini rief sich selbst zur Ordnung. Er begann damit, Gespenster zu sehen, vielleicht deshalb, weil er zu viel Zeit in der Gesellschaft von Spionen verbrachte – er dachte allmählich in deren Bahnen. Wer auch immer die beiden Mikrofone in der Wohnung versteckt hatte: Er wollte etwas von Carmellini und rechnete damit, etwas von ihm zu hören. Er kehrte in die Küche zurück und schob ein Fertiggericht in den Mikrowellenherd. Als es warm war, ging er damit ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und wählte einen Sportsender. Ich hoffe, der Lauscher mag Basketball, dachte Carmellini und machte sich übers Essen her. Doch er dachte nicht an Basketball, sondern an Atombomben.
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5 Iwan Fedorow richtete das Scharfschützengewehr auf das kleine, dreihundert Meter entfernte Lagerhaus und blickte durch das Infrarotvisier. In jenem Gebäude hatten Faruk Al-Zuair und seine Leute den Laster geparkt, mit dem sie von Zentralasien hierher gefahren waren, rund zweieinhalbtausend Kilometer weit. Der Lauf des Gewehrs ruhte auf einer zusammengerollten Decke auf der Ziegelmauer am Dachrand des Gebäudes, von dem aus Fedorow das Lager beobachtete. Er zog den Schaft fest an die Schulter, sah durchs Zielfernrohr und bewegte die Waffe langsam über die Straße hinweg. Baufällige Lagerhäuser, Schuppen und Schrottplätze reihten sich dort unten aneinander. Es gab keine Straßenlaternen in diesem Bereich unweit des Flughafens von Karatschi, und deshalb war die Straße jetzt in der Nacht ziemlich dunkel. Weit und breit war niemand zu sehen. »Nichts«, murmelte Fedorow Zuair zu, der neben ihm auf dem Dach saß, mit dem Rücken zur Mauer. Ein Bündel lag neben ihm, ein in eine Decke gewickelter und mit Schnüren gesicherter Gegenstand. Der Ägypter war besorgt. Die Sprengköpfe befanden sich noch immer im Laderaum des Lasters, und erst am Abend des nächsten Tages konnte er mit dem Lastwagen zum Dock fahren, wo die Olympic Voyager Fracht aufnahm. »Wir können sie erst an Bord bringen, wenn das Schiff seine gesamte Fracht geladen hat und bereit ist, in See zu stechen«, hatte der Mann in Kairo gesagt. »Die Beamten sind bestochen und werden in der letzten Minute wegsehen. Wenn wir es übertreiben, sind die Behörden gezwungen, die Sache zur Kenntnis zu nehmen, um sich selbst zu schützen.« 86
Zuair hatte dieses Gespräch Fedorow gegenüber natürlich nicht erwähnt und ihn und zwei andere Russen beauftragt, das Lager mit von ihm zur Verfügung gestellten Scharfschützengewehren zu bewachen. »Meine Männer wissen, wie man mit Sturmgewehren und Handgranaten umgeht«, hatte er Fedorow mitgeteilt. »Aber sie sind keine Scharfschützen. Ich möchte, dass Sie und Ihre Freunde das Lager im Auge behalten.« Fedorow hatte natürlich gefragt, was sich im Lager befand. »Waffen«, lautete die Antwort. »In einem Laster. Sonst nichts.« Fedorow hatte hart verhandelt, und schließlich war Zuair mit dem Preis einverstanden gewesen: hundert amerikanische Dollar pro Kopf für vier Nächte Arbeit. Der Ägypter glaubte, dass Fedorow und seine Freunde aus der sowjetischen Armee in Afghanistan desertiert waren. Fedorow hatte dieser Vermutung nie widersprochen und auch nicht darauf hingewiesen, dass er gar kein Scharfschütze war. An diesem Abend wurde er seiner Aufgabe gerecht. Er hatte einmal mit einem Dragunow-Gewehr geschossen, vor Jahren. Als er die Waffe bekommen hatte, war er imstande gewesen, das Batteriefach des Infrarotvisiers zu öffnen und die Batterie auf Korrosion zu überprüfen. Sie war noch geladen, und das Visier schien einwandfrei zu funktionieren. Er hatte das Zehn-SchussMagazin eingesetzt, durchgeladen und sich vergewissert, dass die Waffe gesichert war. Zuair hatte ihn beobachtet und war offenbar zu dem Schluss gelangt, dass er mit dem Gewehr umzugehen verstand. Jetzt verdiente sich Fedorow seine hundert Dollar, indem er eine leere Straße beobachtete. »Sie glauben doch nicht, dass jemand das Lager angreifen könnte, oder?«, fragte er den Ägypter, der keine Antwort gab. Gelegentlich unterbrach ein vorbeifahrender Wagen die Monotonie. Nachdem er einige Minuten lang das Lagerhaus beobachtet hatte, schob sich Fedorow ein wenig zur Seite und blickte durchs Zielfernrohr zu den Gebäuden und Straßen auf 87
der rechten und dann auf der linken Seite. Er kontrollierte auch den Bereich hinter dem Lager, nahm sich Zeit und überprüfte alles. Dann begann er wieder von vorn. Der Russe ging systematisch vor und war gründlich – gute Eigenschaften für einen Soldaten, fand Zuair. Allerdings hatte er auch zu viele Fragen gestellt. Nein, er hielt es nicht für wahrscheinlich, dass eine der militanten islamischen Gruppen versuchen würde, das Lager anzugreifen. Sie wussten, dass sich acht Männer bei den Sprengköpfen befanden. Wenn sie mit einer Streitmacht angriffen, die groß genug war, um die acht Männer außer Gefecht zu setzen, so bestand die Gefahr, dass die Sprengköpfe beschädigt wurden. Zuair befürchtete vielmehr einen Hinterhalt, wenn er mit dem Laster aufbrach. Er hoffte, dass Fedorow und seine Freunde jeden entdecken würden, der im Bereich der Straße in Stellung zu gehen versuchte. Und er hoffte, dass sie gut genug schießen konnten, um auf eine solche Entfernung zu töten. Es war besser, einen Söldner zu bezahlen, der schießen konnte, als mit einem Bruder zu beten, der nicht mit einem Scharfschützengewehr umzugehen wusste. Der Ägypter hielt dieses Lagerviertel für den wahrscheinlichsten Ort. Kaum Zeugen, der Laster musste in den schmalen Straßen langsam fahren, und anschließend konnten die Waffen auf einen anderen Lastwagen geladen und fortgebracht werden. Ein Angriff auf den verkehrsreichen Straßen bei den Docks erschien Zuair weitaus weniger wahrscheinlich. Aber vielleicht irrte er sich. Er sah erneut auf die Uhr mit den beiden lumineszierenden Zeigern. Viertel nach zwei. Dies war die dritte Nacht auf dem Dach. Am nächsten Abend würde der Laster das Lager verlassen. Er hätte gewettet, dass es zu einem Versuch kommen würde. Zu viele Leute in der militanten Welt wussten von den Waffen. Der Besitz von vier Atomsprengköpfen hätte jede jener Grup88
pen ganz nach oben katapultiert. Ruhm. Sie alle wollten Ruhm. Als Faruk Al-Zuair zum ersten Mal von dem Plan gehört hatte, war er davon überzeugt gewesen, dass er zu nichts führte. In seinem Leben gab es jede Menge Pläne und Verschwörungen, die zu nichts geführt hatten. Er wusste nicht, was das Schwert des Islam mit den Waffen anfangen wollte; er wusste nur, dass die Gruppe eine Quelle und genug Geld hatte, um sie zu kaufen. Beim Anblick des Geldes war er zum Gläubigen geworden. Zwei Millionen amerikanische Dollar – ein solches Vermögen ging über alle Phantasien der Habsucht hinaus. Damit konnte man wie ein Sultan leben, auf einem großen Areal in einer wichtigen Stadt, mit Frauen, Prestige und Ansehen. Andererseits: Wenn man die Waffen für den Dschihad verwendete, so konnte man sich für alle Ewigkeit einen Platz im Paradies verdienen. Faruk Al-Zuair war ein wahrer Gläubiger – er wusste, dass das Leben kurz war und die Ewigkeit ewig. Der Mann in Kairo kannte ihn, und deshalb hatte er ihn für diese Mission ausgewählt. Die Waffen jetzt zu verlieren, wäre schändlich gewesen. Die Brüder würden ihn für einen Verräter Gottes halten. Der Tod war besser als das. Um auf Nummer Sicher zu gehen, hatte er Fedorow und die anderen beiden angeheuert. Die Russen waren zwar Ungläubige, aber sie lebten seit vielen Jahren hier und leisteten Gelegenheitsdienste. Sie verlangten nie viel für ihre Zeit und ihr Risiko, was vernünftig war, und sie leisteten immer gute Arbeit. Wenn Fedorow die Bruderschaft verriet, würde Zuair ihn töten. Zu diesem Zweck trug er ein Messer am Gürtel und hatte eine geladene Pistole in der Tasche. Er hatte dem Russen nie gedroht, aber der Mann wusste natürlich Bescheid. Iwan Fedorow wusste tatsächlich, dass Zuair ihn sofort umbringen würde, wenn er sich von ihm verraten fühlte. Er wusste 89
es, weil er diese Fanatiker kannte. Er hatte zehn Jahre damit verbracht, sie kennen zu lernen und nach und nach ihr Vertrauen zu gewinnen. Einen Ungläubigen töteten sie ebenso skrupellos wie einen Köter, ohne irgendwelche Gewissensbisse. Fedorow wandte sich kurz vom Okular des Zielfernrohrs ab und blickte zum Ägypter. Trotz der Dunkelheit sah er, dass Zuair eine Hand in der Tasche hatte. Bestimmt befand sich eine Pistole oder eine Handgranate darin. Fedorow blieb unbesorgt. Seit siebzehn Jahren lebte er mit der Möglichkeit, ermordet zu werden. Er war Offizier des SVR und hatte diesen Teil der Welt aufgesucht, als noch das Erste Hauptdirektorat des KGB der Auslandsgeheimdienst der Sowjetunion gewesen war. Er sprach Arabisch und wurde von den Fanatikern als ausgewanderter Renegat akzeptiert – man hielt ihn für einen kleinen Drogenhändler –, während er seinen Vorgesetzten in Moskau alles berichtete, was er herausfinden konnte. Wenn diese lumpenköpfigen Hurensöhne eine Ahnung von der Wahrheit gehabt hätten, wäre er schon vor Jahren getötet worden. Leider bewegte er sich in dieser Nacht auf dünnem Eis. Er war nie beim Militär gewesen und hatte noch nie jemanden getötet. Zuairs Auftrag bot ihm die Möglichkeit, sich tiefer in diese gefährliche Gruppe hineinzuarbeiten, die Waffen von einem korrupten General in Russland gekauft hatten – eine einzigartige Chance für ihn, wenn er den in ihn gesetzten Erwartungen gerecht wurde. Konnte er mit diesem Gewehr jemanden erschießen? Konnte er es ruhig genug halten, wenn er abdrückte? Wenn er schoss und das Ziel verfehlte, freute sich Zuair bestimmt nicht. Er wusste nicht, ob das Zielfernrohr exakt ausgerichtet war. Vielleicht verfehlte er das Ziel selbst dann, wenn es sich genau im Fadenkreuz befand, während Zuair mit einer Pistole neben ihm stand. Der Gedanke allein genügte, um ihn ins Schwitzen zu bringen. 90
Er hob das lange Gewehr und ging zur anderen Ecke des Daches, um die Straße in jener Richtung zu beobachten. Das SWD (Snaiperskaja Wintowka Dragunowa) beziehungsweise Dragunow-Gewehr hatte einen Holzschaft mit einem großen Ausschnitt, um das Gewicht der Waffe gering zu halten. Außerdem verfügte es über einen Pistolengriff, um den man die Hand schließen konnte. Oben am Schacht war ein großes Gummistück angeklebt. Es handelte sich um ein halbautomatisches Gewehr, das 7,62x54R-Patronen verwendete. Abgesehen davon, dass die Patronen einen Kranz aufwiesen, waren sie mit dem 7,62-NATO-Standard vergleichbar. Der Gasdrucklader mit feststehendem Lauf und Drehkopfverschluss war eine lange, elegante Waffe und durch den Schaftausschnitt leicht genug für ein Scharfschützengewehr. Zuair und seine Freunde hatten sich die Waffen zweifellos aus Afghanistan besorgt. Iwan Fedorow wischte sich die Hände an der Hose ab und beobachtete erneut die Straße durchs Infrarotvisier. Er sehnte sich nach einer Zigarette, wagte es aber nicht, sich eine anzuzünden. Zuair stand auf, um sich in einer Ecke zu erleichtern, nahm dann wieder Platz. Er überließ es Fedorow, Ausschau zu halten, und das war klug. Je weniger Köpfe sich auf dem Dach bewegten, desto besser. Eine weitere Stunde verging. Fedorow begann schon zu hoffen, dass Zwischenfälle ausblieben, als er einen Laster bemerkte, der ohne Scheinwerferlicht langsam durch eine Seitenstraße rollte und sich dem Lager näherte. Er richtete einige Worte an den Ägypter und winkte ihn heran. Zuair befand sich an seiner Seite, als der Laster kurz vor der Kreuzung hielt. Im Fernrohr sah Fedorow das Glühen des Motors. Die Entfernung betrug nur etwa fünfzig Meter. Während 91
er mit dem Gewehr zielte, ragten Kopf und Schultern ein ganzes Stück über die Mauer hinweg und zeichneten sich als Silhouette vor dem Nachthimmel ab. Die Burschen dort unten würden ihn sehen, wenn sie nach oben blickten. »Dies könnte es sein«, murmelte er und hoffte inständig, dass die Ankunft des Lasters nichts zu bedeuten hatte. Wenn der Laster dort blieb, konnten die anderen beiden Russen nicht eingreifen, und wenn Fedorow nicht alle Männer erwischte, kam es vielleicht zu einer Jagd auf ihn. Ganz deutlich erinnerte er sich an die dunkle Treppe, die er zum Dach emporgestiegen war, an die Holztüren auf allen drei Treppenabsätzen. Nur jene Stufen führten zurück nach unten; es gab keinen anderen Weg. Unten stieg der Mann auf dem Beifahrersitz aus, ging langsam zur Ecke und blickte sich um. Fedorow sah ihn im Zielfernrohr. »Ein Mann, keine Uniform. Keine sichtbaren Waffen.« Der Mann drückte sich an die Wand und spähte um die Ecke zum Lagerhaus. Jene Ecke befand sich an der einzigen Straße, die aus dem Viertel führte. Dieser Idiot Zuair hatte sein Versteck am Ende einer Sackgasse eingerichtet! So waren Terroristen, wusste Fedorow: schlau und mörderisch und manchmal unglaublich dumm. »Er kehrt zum Laster zurück«, flüsterte er, das Auge am Okular. Das weiche Gummi oben auf dem Schacht fühlte sich an der Wange hart an. Als er hörte, dass Zuair irgendetwas hinter ihm anstellte, warf er einen kurzen Blick zurück. Der Ägypter öffnete das Bündel. Fedorow sah erneut durchs Fernrohr. Seine Hände zitterten, und er atmete schneller. Das Bild im Visier erbebte. Er stützte den Lauf des Gewehrs auf die Mauer, um die Waffe ruhig zu halten. »Er erreicht den Laster … Andere Männer steigen aus. Vier. Und sie sind bewaffnet.« 92
»Es geht los!«, zischte Zuair. »Sehen Sie sich das hier an, eine nette Sache«, sagte der Techniker. Mit einem Trackball richtete er den Zoom auf ein Paar, das aus der Union Station kam. Die Bilder erschienen auf einem riesigen vertikalen Schirm an der Wand. Er setzte den Zoom fort, bis die Gesichter von Mann und Frau den ganzen Schirm füllten. Sie blieben stehen und umarmten sich, und sie sagte etwas zu ihm. »Ich kann nicht von den Lippen ablesen«, sagte der Techniker sehnsüchtig. »Was ich bei solchen Gelegenheiten sehr bedauere!« Jake Grafton und Toad Tarkington standen im Kommandozentrum des im vierten Stock gelegenen Polizeipräsidiums des Columbia-Distrikts. Der Techniker zeigte ihnen das Kamerasystem, das öffentliche Orte in Washington überwachte. »Über zweihundert Kameras sind bereits installiert, und es werden mit jedem Tag mehr. Die neuen sind digital und senden nur ein Signal; es gibt keine Leitungen mehr. Die Kameras sind teuer, aber die Installation ist einfach. Man befestigt sie einfach oben an Straßenlaternen oder Dächern, wo immer eine Stromversorgung möglich ist, und sie werden von hier aus kontrolliert.« Dutzende von Monitoren an den Wänden zeigten die von den Kameras übermittelten Bilder. Hinzu kamen Plasmaschirme und Projektionsbereiche so groß wie eine Kinoleinwand. Jake stand wie hypnotisiert, als er den intimen Moment vor der Union Station beobachtete. Das Paar küsste sich zärtlich, und dann ging die Frau zum Taxistand. Der Mann sah ihr nach. Die Kamera folgte der Frau. Jake drehte sich um, ließ den Blick durchs Kommandozentrum schweifen und zählte vierzig Videostationen an den vom Boden bis zur Decke reichenden Schirmen. Sowohl das FBI als auch die CIA waren mit Kommandostationen präsent. Der zuständige 93
Kontrollbeamte saß in einem weichen Sessel auf einer erhöhten Plattform, neben einem Telekonferenzschirm. »Von hier aus kontrollieren wir alles«, sagte der Techniker. »Dutzende von Kameras überwachen öffentliche Orte. Wir installieren zweihundert Kameras in den Schulen, über zweihundert in der Metro und hundert weitere für die Überwachung des Verkehrs. Die Ladenbesitzer in Georgetown nehmen auf eigene Kosten Kameras in Betrieb. Es wird nicht lange dauern, bis es überall in der Stadt Kameras gibt.« »Und sie lassen sich von hier aus steuern?«, fragte Toad. »Ja. Natürlich ist ein Computersystem in Vorbereitung, ein großes Projekt. Es wird in der Lage sein, die digitalen Bilder auszuwerten und mit den Informationen einer Datenbank zu vergleichen, um festzustellen, ob eine bestimmte Person auf der Fahndungsliste steht. Das System wird einen Haufen Geld kosten, und die Installation dürfte alles andere als unkompliziert sein.« »Was ist mit den Kameras in Hotels, Aufzügen und Geschäften?«, fragte Jake. »Empfangen Sie auch diese Bilder?« »Noch nicht, aber früher oder später werden wir dazu in der Lage sein. Das Oberste Gericht hat entschieden, dass an öffentlichen Orten niemand ein Recht auf Privatsphäre hat; in der heutigen Zeit möchte niemand überfallen und ausgeraubt werden. Die Bürgerrechtler gehen natürlich auf die Barrikaden, aber das ist unvermeidlich.« »Können Sie die Bilder aufzeichnen?« »Klar. Wir zeichnen alles auf, aber niemand sieht sich die Aufzeichnungen an. Wir brauchen ein Computerprogramm, das die Daten digitalisiert und es uns gestattet, gezielt nach einer Person zu suchen und ihr durch die Stadt zu folgen. Ein solches Programm wird es bald geben.« »Damit ließen sich Alibis überprüfen«, sagte Toad. 94
»Die Möglichkeiten sind enorm«, erwiderte der Techniker. »1984 ist fast Realität. Und die Leute wollen es.« Er bekam einen Telefonanruf und bediente weiterhin die Schirmkontrollen, während er ins Lippenmikrofon sprach. »Denken Sie, was ich denke?«, flüsterte Toad Jake zu. »Die INS haben die Software bereits«, sagte Jake. »Wenn sie jemand mit diesen Videodaten verbinden könnte, hätten wir ein funktionsfähiges System, dem sich auch die Bilder aus Hotels und Geschäften hinzufügen ließen. Wir wären imstande, jemandem in Echtzeit durch die Stadt zu folgen.« »Oder festzustellen, was jemand gestern oder in der vergangenen Woche angestellt hat«, murmelte Toad. »Hier und in New York, Los Angeles, Chicago. Ein derartiges System würde die Rauschgifthändler aus dem Geschäft drängen.« »Nicht nur sie, sondern auch bewaffnete Räuber, Killer und Attentäter, die aus fahrenden Autos heraus schießen … Und Terroristen.« »Und Terroristen«, bestätigte Toad. Jake ging langsam durch den Raum und sah sich alles an. Als er zu Toad zurückkehrte, sagte er: »Wir brauchen fachkundige Hilfe. Was halten Sie davon, wenn wir Zelda Hudson und Zip Vance aus dem Gefängnis holen und ihnen einige Computer überlassen?« Hudson und Vance waren vor einigen Monaten verurteilt worden, wegen Beihilfe bei der Entführung der USS America. Sie hatten die Computer der US-Regierung und der Rüstungsindustrie angezapft und waren auf diese Weise an wichtige Informationen gelangt. Es gab keine besseren Hacker als sie. Toad pfiff leise. »Meine Güte, Admiral. Sie müssen verzweifelt sein.« »Das Stadium der Verzweiflung habe ich letzte Woche hinter mich gebracht.« 95
»Wenn die Presse spitzkriegt, dass die beiden nicht mehr im Knast sitzen, sind Sie erledigt, Sir«, sagte Toad und musterte seinen Chef aufmerksam. Er arbeitete schon seit einer ganzen Weile für Jake und glaubte, ihn gut zu kennen. Grafton schreckte nicht vor hohen Einsätzen zurück, aber er ging nie törichte Risiken ein. »Könnten sie dabei helfen, die Sprengköpfe zu finden?«, fragte Jake. »Wenn es eine ordentliche Chance dafür gibt, bin ich bereit, etwas zu riskieren. Wenn nicht, bitte ich um bessere Vorschläge.« »Sie können sich Zugang zu Datenbanken verschaffen, die allen anderen verwehrt bleiben«, sagte Toad. »Selbst Terroristen und irre Bombenleger hinterlassen Computerspuren.« »Die Leute benutzen Kreditkarten, fliegen mit Flugzeugen, telefonieren, mieten Autos und wohnen in Motels.« Jake winkte ungeduldig. »Wir haben keine Zeit, auf die übliche Art und Weise Beweismaterial zu sammeln, selbst dann nicht, wenn uns die gesamte Manpower von FBI und CIA zur Verfügung stünde. Wir müssen jede Abkürzung nehmen, die wir finden.« »Wie viel Zeit haben wir?«, fragte Toad und kaute auf der Unterlippe. »Da können wir nur raten.« »Und wie holen wir Hudson und Vance aus dem Kittchen?« »Keine Ahnung«, brummte Jake. Er entnahm seiner Brieftasche die Karte mit den Telefonnummern, die ihm der Präsident gegeben hatte, und griff nach dem abhörsicheren Telefon des Kontrollbeamten. Vier Männer, dachte Iwan Fedorow. Welch ein Wahnsinn! Er konnte sie nicht alle gleichzeitig erschießen; bestimmt entkam einer. Und wenn er sie nicht alle traf, musste er Zuair umlegen. 96
Er entsicherte das Dragunow-Gewehr und richtete das Fadenkreuz auf die Brust des ersten Mannes, der auf der Beifahrerseite ausgestiegen war. Vermutlich handelte es sich bei ihm um den Anführer – er überprüfte gerade seine Waffe. Über die Schulter hinweg sah Fedorow zum Ägypter und versuchte zu entscheiden. Wenn er auf die Männer schoss und sie nicht alle erwischte, versuchten sie vielleicht, ihn im Treppenhaus festzunageln oder unten auf der Straße zu erschießen. Er ließ das Gewehr sinken und wollte sich umdrehen, als Zuair mit einem langen Rohr zu ihm eilte und es hob. »Schießen Sie nach mir«, zischte er und legte sich das Rohr auf die Schulter. Eine Feuerkugel sprang aus der Waffe und raste dem Laster mit einem Fauchen entgegen, das Fedorow im Gesicht zu spüren glaubte. Der Lastwagen explodierte. Ein Granatwerfer! Zuair hatte eine raketengetriebene Granate abgefeuert! Die Männer lagen auf dem Boden. Die Druckwelle hatte sie von den Beinen gerissen. »Schießen Sie!«, befahl der Ägypter. »Schießen Sie jetzt!« Die scharfen Worte rissen Fedorow aus seiner Starre. Erneut zielte er auf den Mann vor dem Wrack des Lasters, den Anführer. Das Fadenkreuz tanzte. Er zwang sich auszuatmen, griff das Gewehr fester und betätigte den Abzug. Es knallte, und ein leichter Ruck ging durch die Waffe. Er richtete das Fadenkreuz noch einmal auf den Mann und schoss ein zweites Mal. »Erschießen Sie sie alle!«, drängte Zuair dicht neben ihm. »Stellen Sie sicher, dass sie tot sind.« Fedorow blickte durchs Infrarotvisier und schwenkte die Waffe hin und her. Der Laster brannte, und sein starkes Glühen überstrahlte alles andere. Dort, ein kriechender Mann … 97
Er schoss zweimal auf ihn, suchte dann nach dem nächsten Ziel. Hinter dem Laster taumelte jemand in die Richtung, aus der der Lastwagen gekommen war. Fedorow schoss ihm in den Rücken, und der Mann fiel, blieb mit dem Gesicht nach unten liegen. Der vierte Mann … Er konnte den vierten Mann nicht finden! Die vom Laster ausgehende Wärmestrahlung war zu stark. »Er liegt unter dem Lastwagen«, sagte der Ägypter. Fedorow sah über das Zielfernrohr hinweg zur Kreuzung. Der Lastwagen brannte, und die Flammen erhellten den ganzen Bereich. Jetzt sah er den vierten Mann. Er blickte erneut durchs Visier, suchte im Glühen … Dort! Zwei weitere Schüsse. »Gehen wir«, sagte Zuair heiser. »Bevor die Polizei kommt.« »Das Gewehr – hier, wollen Sie es?« »Lassen Sie es liegen«, sagte Zuair über die Schulter hinweg. Er hatte den Granatwerfer bereits fallen gelassen und eilte zur Treppe. Fedorow warf das Gewehr beiseite und folgte dem Ägypter. Sie liefen die Treppe hinunter und machten dabei genug Lärm, um Tote zu wecken. Der Laster brannte noch immer, als sie das Gebäude verließen. Fedorow wollte Zuair weiterhin folgen, als er sich dem Lager zuwandte. »Nein«, sagte der Ägypter. »Verschwinden Sie. Wir treffen uns heute Abend an der üblichen Stelle.« Iwan Fedorow eilte fort vom Wrack des Lastwagens. Er zwang sich zu gehen, nicht zu laufen. Er hörte das Heulen einer Sirene, mehrere Blocks entfernt, erreichte eine dunkle Gasse und folgte ihrem Verlauf. Dort in der Finsternis begriff er plötzlich, was er getan hatte – die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Mit zitternden Beinen blieb er in der Dunkelheit stehen 98
und übergab sich. Es dauerte einige Minuten, bis er den Magen wieder unter Kontrolle hatte. Niemand war in der Gasse zu sehen. Die Sirene bewegte sich auf den brennenden Laster zu und verklang schließlich. Er beschloss, Moskau so schnell wie möglich einen Bericht zu übermitteln. Vielleicht konnte man dort feststellen, wen er gerade getötet hatte. Tommy Carmellini saß in seinem Büro und telefonierte, als jemand zur Tür hereinsah, den er aus einer anderen Abteilung kannte, ein gewisser Archie Foster. »Ah, Carmellini. Haben Sie eine Minute Zeit?« Tommy sah auf die Uhr. »Ich bin ziemlich beschäftigt.« »Später heute Morgen in meinem Büro? Es ist wichtig.« »Worüber möchten Sie mit mir reden?« »Nicht hier. In meinem Büro. Ich habe Ihren Besuch bei der Sicherheit angemeldet.« »Na schön. In einer halben Stunde.« Archie Foster gab ihm seine Zimmer- und Gebäudenummer, lächelte und ging. Carmellini sah erneut auf die Uhr und machte sich wieder an die Arbeit. Er hatte einmal etwas für Foster erledigt … Was war es gewesen? Irgendwas in Kolumbien. Vor einigen Jahren. Wahrscheinlich will er, dass ich dorthin zurückkehre. Nur fünf Minuten später nannte Carmellini dem Wächter in Fosters Gebäude seinen Namen und zeigte ihm seine Dienstmarke, die natürlich an einer Halskette getragen wurde, sodass jeder sie sehen und sie von elektronischen Geräten erfasst werden konnte. Er nahm den Lift und wurde am Flur, der zu Fosters Büro führte, von einem weiteren Wächter überprüft. Als er durch den Korridor schritt, kontrollierte ein elektronischer Apparat in der Decke noch einmal seine Dienstmarke. Er klopfte 99
an die Tür, die nicht abgeschlossen war, und trat ein. Jemand saß auf einem der Gästestühle, ein Mann, den Carmellini im Lauf der Jahre bei mehreren Gelegenheiten gesehen hatte. Er hieß Norv Lalouette. »Sie kennen Norv, nicht wahr, Tommy?« »Klar.« Carmellini schüttelte ihm die Hand und nahm Platz. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, hierher zu kommen. Wir haben ein Videoband, beziehungsweise die Kopie eines Videobands, das wir Ihnen zeigen möchten. Vielleicht erkennen Sie etwas Vertrautes in der Aufzeichnung.« Mit einer Fernbedienung schaltete er einen kleinen tragbaren Fernseher mit eingebautem Videorekorder ein. »Meine Güte, wie kommen Sie zu einem Fernseher in Ihrem Büro?«, fragte Carmellini, als der Videorekorder klickte und summte. »Hab ihn von zu Hause mitgebracht.« »Hübsches kleines Gerät«, sagte Carmellini, als Bilder auf der Mattscheibe erschienen. »Es gibt auch Ton«, sagte Foster und setzte seine Brille auf, um die Tasten besser zu erkennen. Die Aufzeichnung schien von einem Amateur an einem sonnigen Tag angefertigt worden zu sein. Sie zeigte eine junge Frau im Studentenalter. Die Person mit der Videokamera, offenbar ein Mann, sprach mit ihr, während sie durch eine Anlage gingen, bei der es sich um den Campus einer Universität zu handeln schien. Ja, ein Campus, kein Zweifel, mit Gebäuden aus rotem Backstein und Bäumen ohne Blätter, offenbar im späten Herbst oder Winter, aber es war ein schöner Tag. »Es ist ein bisschen seltsam, wie wir an das Band gelangt sind«, sagte Archie Foster und verringerte die Lautstärke. »Das FBI ermittelt in einem alten Mordfall. Vor drei Jahren wurde ein Professor der Universität von Colorado umgebracht: 100
Olaf Svenson. War Mikrobiologe oder so. Beschäftigte sich mit Bakterien und Mikroben. Wie dem auch sei, an einem Werktag legte ihn jemand mit einer Zweiundzwanziger in seinem Büro um. Niemand hat was gesehen oder gehört. Jemand jagte ihm zwei Kugeln in den Kopf, während er an seinem Schreibtisch saß. Eine traf ihn in der Stirn, die andere über dem linken Ohr. Kaum Blut. Er muss sofort tot gewesen sein.« Die junge Frau im Bild ging weiter, und der Mann mit der Videokamera folgte ihr, während sie auf verschiedene Gebäude des Campus zeigte. Im Hintergrund waren hin und her gehende Studenten zu sehen, die weder der Frau noch dem Mann Beachtung schenkten. »Es gab keine Anhaltspunkte«, fuhr Archie Foster fort. »Keine fremden Fingerabdrücke in Svensons Büro, keine Patronenhülsen, keine Streichholzbriefchen oder Gläser mit Lippenstift dran, nichts von diesem Blödsinn. Oh, innen und außen war der Türknauf abgewischt – daran fand man nur die Fingerabdrücke des Hausmeisters, der die Leiche entdeckte. Bei der Polizei war man sicher, dass er nicht als Täter infrage kam. Sie hielt den Fall für die Aktion eines Profis und verständigte das FBI.« Die junge Frau stand nun vor dem Eingang der Hauptbibliothek. Archie Foster richtete die Fernbedienung auf den Fernseher und wartete. Nach einigen Sekunden kam jemand hinter der Frau vorbei, und daraufhin hielt Foster das Bild an. Der Mann auf dem Bildschirm war Tommy Carmellini. Archie wandte sich Carmellini zu. »Nun, Norv hier fungiert gelegentlich als Verbindungsmann zum FBI, und vor etwa einem Monat bat man ihn, sich dieses Band anzusehen, das die Polizei von Boulder bei ihren Ermittlungen fand – er sollte in den Aufzeichnungen nach einem eventuellen Profikiller Ausschau halten. Tja, der gute alte Norv sieht sich alles genau an, stoppt das Band bei jedem Gesicht, digitalisiert die Aufnahmen und lässt sie von Computern auswerten und plötzlich … Zack! Da ist unser Spezi Tommy Carmellini!« 101
»Der Mann sieht aus wie ich«, räumte Tommy Carmellini ein. Archie Foster lachte leise. »Oh, Sie sind es. Norv und ich haben Nachforschungen angestellt. Sie waren mit Bill Chance drüben auf Kuba, als es ihn erwischte. Jeder von euch trug eine zweiundzwanziger Ruger bei sich, mit Schalldämpfer, und keine der beiden Waffen kehrte heim. Das FBI ermittelte damals gegen Olaf Svenson und versuchte nachzuweisen, dass er den Kubanern bei der Entwicklung biologischer Waffen half, aber es fand nicht genug Beweise, um die Staatsanwälte zufrieden zu stellen. Sie wissen ja, wie die verdammten Anwälte sind, Beweise, die jeden Zweifel ausschließen, und dieser ganze Scheiß. Sie gaben Svenson schließlich auf und beschlossen, ihn nicht vor Gericht zu stellen. Und dann, einen Monat später, wurde er in seinem Büro erschossen, während Sie auf Urlaub waren und sich irgendwo dort draußen in der großen weiten Welt entspannten. So sah die Sache während der vergangenen drei Jahre aus. Und dann – voilà! Da sind Sie auf dem Videoband, Carmellini, wie er leibt und lebt. Sie gehen über den Campus der Universität von Colorado, nur wenige Minuten nachdem sich Svenson aufmachte, dem Teufel zu begegnen. Sehen Sie die kleinen roten Zahlen in der rechten unteren Bildecke? Datum und Uhrzeit.« Tommy Carmellini blickte auf seine Armbanduhr. »Warum vergeuden Sie beide meine Zeit mit dieser Sache? Sie gehören nicht zum FBI.« »Nein, aber wir könnten dem FBI Bescheid geben. Noch haben wir nichts gesagt. Wir wollten erst mit Ihnen reden und hören, was Sie zu sagen haben.« »Mann, das ist echt nett von euch, Jungs«, erwiderte Tommy. »Ich wusste gar nicht, dass wir diese Art Freunde sind. Aber leider muss ich euch eine traurige Wahrheit mitteilen. Dies beweist gar nichts. Ihr habt null in der Hand. Selbst wenn die 102
Aufzeichnung mich zeigt, und ich gebe keineswegs zu, dass ich es bin: Das FBI und der US-Staatsanwalt weisen euch gerne darauf hin, dass ihr mich mit einer Knarre in der Hand in dem Gebäude dort finden müsst, um mich vor Gericht zu bringen. Wir reden hier nicht von einer Verurteilung, nur von der Anklageerhebung.« Carmellini stand auf und ging zur Tür. »Sagt dem FBI, was ihr wollt«, meinte er und griff nach dem Türknauf. »Und freut euch eures Lebens, Kumpel.« Er schloss die Tür hinter sich. »Was glauben Sie?«, wandte sich Norv Lalouette an Archie Foster, als das Geräusch von Carmellinis Schritten verklungen war. Foster sah zum Fernseher und betrachtete das Bild. »Er ist ein verdammt cooler Bursche«, murmelte er, hob die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. »Wenn er Svenson wirklich umgelegt hat, könnte er was gegen uns unternehmen«, sagte Lalouette. Foster schnaubte. »So dumm ist er nicht.« Patsy Smoot führte ein Motel an einer Straße in Broward County, Florida, nicht weit von Fort Lauderdale entfernt. Wie hunderte von anderen Motels war auch ihres in den fünfziger Jahren erbaut worden, vor dem Zeitalter der Interstates, als immer mehr motorisierte Touristen im Herbst gen Süden aufbrachen, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie einige Tage, Wochen oder gar den ganzen Winter verbringen konnten. Die Klimaanlagen befanden sich in den Fenstern der Zimmer, jedes von ihnen ausgestattet mit einem Doppelbett, einem kleinen Bad mit Dusche und einem gut zwanzig Jahre alten Fernseher. Ganz oben gab es ein kleines Apartment, in dem Patsy und ihr Mann Fred wohnten. Patsy kümmerte sich um die Büroarbeit und füllte all die Formulare aus, die heutzutage notwendig waren, um im Ge103
schäft zu bleiben. Fred war gewissermaßen das Mädchen für alles. Eine illegal eingewanderte Mexikanerin namens Maria hielt die Zimmer sauber und machte die Betten, sieben Tage in der Woche, 365 Tage im Jahr. Das Motel befand sich zwischen einem Burger King und einem heruntergekommenen Bierlokal. Auf der anderen Straßenseite hatte sich ein Gebrauchtwagenhändler niedergelassen. Ähnliche Einrichtungen säumten den Highway – jetzt vierspurig – in beiden Richtungen, so weit das Auge reichte. Wo die Geschäfte besonders gut gingen, zum Beispiel beim Burger King, gab es asphaltierte Parkplätze, doch Patsy Smoots Motel, der Gebrauchtwagenhandel und das Bierlokal mussten sich mit zermahlenen Muschelschalen begnügen. Ein lokaler Lieferant brachte und verteilte sie jedes dritte oder vierte Jahr, wenn sich die unvermeidlichen Schlaglöcher gebildet hatten oder Unkraut zu wachsen begann. »Wir müssen den Parkplatz wieder erneuern«, sagte Fred an diesem Morgen zu seiner Frau, als sie aus dem Bürofenster zu den vor dem Gebäude geparkten Wagen sah. »Das haben wir erst vor zwei Jahren gemacht«, erwiderte sie knapp. »Ich weiß, aber es ist nicht viel aufgetragen worden, und das Unkraut kommt durch. Und es gibt dort eine weiche Stelle, wo die Caravans hinters Haus fahren.« Vor zehn Jahren hatten die Smoots Anschlüsse für zehn Wohnwagen hinter dem Motel installieren lassen, in einem Bereich, der zuvor Unkraut und Müll überlassen worden war. In letzter Zeit waren immer mehr Leute mit solchen Caravans unterwegs, dachte Patsy Smoot geistesabwesend. Sie richtete den Blick wieder auf den Wagen vor Zimmer sechs. Er sah gut aus und schien neu zu sein, vermutlich ein Mietwagen. Solche Fahrzeuge verirrten sich nur selten auf den Parkplatz des Motels. Wer bei den großen Firmen einen Wagen mietete, übernachtete 104
nicht in einem billigen 24,99-Dollar-pro-Nacht-Motel, sondern in einem der luxuriöseren Motels an der Interstate. »Ich glaube, wir sollten wegen der Leute in Sechs das FBI anrufen«, sagte Patsy. »Wieso?«, erwiderte Fred. »Sie haben nichts getan und zahlen gutes Geld, noch dazu im Voraus, nicht wahr?« »Ja. Jeweils für eine Woche. Vier Männer und nur ein Doppelbett. Seit fast vier Wochen wohnen sie da.« »Meine Güte, wir sind nur zur Hälfte belegt. Wenn die Burschen abreisen, bleibt Sechs den größten Teil des Sommers über leer. Das weißt du.« »Es sind Araber«, sagte Patsy Smoot so, als dächte sie laut. »Oder Palästinenser oder Iraner oder so. Kann sie nicht auseinander halten.« »Libanesen, hat mir einer von ihnen gesagt. Sie arbeiten in einem der Lebensmittellager.« »Ich meine, wir sollten das FBI verständigen.« Fred schnaubte. »Glaubst du, sie haben eine Hure in ihr Zimmer geschmuggelt?« »Nein. Wenn das der Fall wäre, hätte ich längst telefoniert.« Patsy ärgerte sich ein wenig über Fred. Sie leitete ein anständiges Motel, und das wusste er sehr wohl. »Meine Güte!«, sagte Fred hitzig. »Was ist mit dem Typen aus Ohio in Eins? Behauptet, das Mädchen wäre seine Tochter, aber genauso gut könnte er ein Lehrer sein, der mit einer seiner Schülerinnen durchgebrannt ist. Sie sollte in der Schule sein. Wahrscheinlich bumst er sie. Vielleicht sollten wir ihn anzeigen, weil er mit einer Minderjährigen unterwegs ist. Ich weiß nicht, ob er damit gegen das Gesetz verstößt, aber zum Teufel auch.« Patsy gab keine Antwort. Fred kam zum Kern der Sache. »Wenn wir unseren ruhigen 105
Gästen die Polizei auf den Hals hetzen, können wir den Laden ebenso gut dichtmachen«, sagte er. »Wir sind weder Hüter der Moral noch die INS. Die Hälfte unserer Gäste stammt aus irgendeiner Jauchegrube der Dritten Welt. Die Leute kamen hierher nach Amerika, um sich ein besseres Leben aufzubauen. Arbeiten hart und schicken jeden Monat etwas Geld nach Hause, so wie Maria. Verdammt, Patsy, es kommt oft vor, dass bei uns vier in einem Zimmer wohnen.« »Du hältst sie also für arme Arbeiter, die in einem billigen Motel wohnen, weil sie sich nichts anderes leisten können«, entgegnete Patsy. »Aber warum fahren sie einen Mietwagen, der sie zweihundert oder gar zweihundertfünfzig Dollar pro Woche kostet?« Fred hatte genug von dieser Diskussion. Er trank den Rest Kaffee und knallte die Tasse auf den Tisch. »Mach was du willst, Frau. So wie immer. Ich weiß nicht, warum du überhaupt mit mir darüber sprichst. Aber ich sage dir eines: Nur weil diese Leute anders aussehen als wir, sind es noch lange keine Terroristen, die irgendetwas in die Luft jagen wollen. Ich mag es nicht, Leute bei der Polizei anzuschwärzen, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. So was geht mir gegen den Strich.« Er stapfte los, um den tropfenden Wasserhahn in Zwei zu reparieren. »Vielleicht brauchen wir eine verdammte Gestapo, um all die Leute zu verhaften, die uns nicht gefallen.« Die Vorhänge in Sechs waren zugezogen, wie immer. Ob sie nun einen Job hatten oder nicht: Die vier Männer verließen das Zimmer nie vor Mittag und blieben dann bis Mitternacht fort. Patsy Smoot wartete, bis sie hörte, wie ihr Mann hinter dem Gebäude den Rasen zu mähen begann, sah dann im Telefonbuch nach und wählte die Nummer des FBI. Eine FBI-Agentin in der Antiterrorismus-Taskforce Südflorida nahm den Anruf entgegen. Sie notierte alle Informationen auf einem Formular, darunter den Namen und die Führerscheindaten des Mannes, der Zimmer sechs gemietet 106
hatte, dankte Patsy und versprach, dass man der Sache nachgehen würde. Dann schickte sie das Formular einer der Gruppen, die mutmaßliche Terroristenzellen überwachten. Es befand sich am nächsten Tag an einem Klemmbrett, als Hob Tulik von Washington zur Inspektion kam, in den Unterlagen blätterte und das neue Formular sah. »Diese Zelle, Nummer elf … Wie viele Anrufe haben Sie deshalb bekommen, sieben?« »Ja, Sir. Vier männliche Verdächtige, Mitte zwanzig, aus Saudi-Arabien, glauben wir. Mit Studentenvisa eingereist. Zwei haben an der Universität von Illinois studiert, der dritte in Stanford und der vierte an der Universität von Missouri. Sie wohnen in einem kleinen Zimmer in Smoot’s Motel an der Route One, nördlich von Fort Lauderdale.« »Studieren hingebungsvoll, wie?« »Nein, Sir«, sagte der FBI-Agent und überhörte den Sarkasmus. Er nahm die Akte über Zelle elf und öffnete sie. »Seit drei Wochen beobachten wir diese Zelle. Zwei Verdächtige arbeiten in einem Lebensmittellager, einer in einem Reifenladen und ein anderer hat einen Teilzeitjob als Verkäufer in einem kleinen Geschäft. Seltsamerweise fahren sie einen Mietwagen von einer Flughafenfirma. Einer von ihnen hat eine kalifornische Fahrerlaubnis, ausgestellt auf den Namen Safraz Hassoun, und eine Kreditkarte auf den gleichen Namen. In der Fahrerlaubnis steht eine Los-Angeles-Adresse. Wir haben die Führerscheindaten und eine Kopie des Antragsformulars für die Kreditkarte angefordert.« Hob Tulik sah sich die Akte an. Sie enthielt vier Fotos der Männer – ohne ihr Wissen angefertigte Schnappschüsse. »Wer ist Hassoun?« »Keiner von ihnen. Im letzten Jahr gab es an der UCLA einen kuwaitischen Studenten namens Hassoun, aber er hat das Land verlassen, soweit wir wissen.« 107
»Wundervoll. Was geschieht in Hinsicht auf die Überwachung der Gruppe?« »Wir glauben, einer von ihnen hat ein Mobiltelefon, Sir. Wir versuchen, die Nummer herauszufinden und eine Abhörgenehmigung sowie Zugang zu den Aufzeichnungen zu bekommen. In dem Motelzimmer gibt es kein Telefon. Smoot’s Motel hat vorn einen Münzfernsprecher, und wir haben eine richterliche Genehmigung fürs Anzapfen. In drei oder vier Tagen beginnen wir damit, die Leitung abzuhören, sobald die Techniker Zeit erübrigen können. Wir haben nicht genug Leute, um die Verdächtigen rund um die Uhr im Auge zu behalten. Einer unserer Agenten folgt ihnen vom Motel zur Arbeit und zurück, aber wenn sie ihren Arbeitsplatz einmal früher verlassen als sonst, erfahren wir nichts davon.« »Und mehr können wir nicht tun?« »Wir überwachen siebzehn mögliche Zellen.« »Ich verstehe.« Jake Grafton sah sich an jenem Abend die Nachrichten im Fernsehen an, als seine Tochter Amy hereinkam. Während ihres ersten Jahrs an der Uni war sie im Studentenwohnheim untergekommen und hatte sich anschließend drei Semester lang ein Apartment mit zwei anderen Studentinnen geteilt. Jetzt wohnte sie wieder daheim. Die Heimkehr nach Hause war Amys Idee. Jake hatte der Rückkehr ins Nest zunächst recht skeptisch gegenübergestanden, bis Callie darauf hinwies, dass Amy in ein oder zwei Jahren für immer fortgehen würde. »Genieß ihre Gesellschaft, solange du noch kannst.« Inzwischen freute sich Jake jeden Abend, wenn Amy von der Bibliothek nach Hause kam, wo sie studierte und auch arbeitete. Seine Tochter gab ihm einen Kuss auf die Wange, setzte sich neben Jake aufs Sofa und streifte die Schuhe ab. »Ich muss eine Abhandlung schreiben«, sagte sie. »Und ich weiß nicht, 108
wie ich es anfangen soll.« »Das kenne ich aus eigener Erfahrung«, brummte Jake. »Die Frage lautet: Kann die konstitutionelle Demokratie im Zeitalter des Terrors überleben?« »Heikle Angelegenheit.« »Ich weiß die Antwort nicht und bin wirklich besorgt. Die Nachrichten sind schrecklich. Es scheint viele Leute auf der Welt zu geben, die nicht an Zivilisation interessiert sind – sie wollen gar keine Zivilisation.« Jake schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung aus. »Rom fiel an die Barbaren, weil es sich nicht mehr verteidigen konnte«, fuhr Amy fort. »Sind wir wie die Römer?« »Da hast du den Rahmen für deine Abhandlung. Vergleiche das heutige Amerika mit dem alten Rom.« Amy dachte darüber nach. »Keine schlechte Idee. Danke dafür. Aber es beantwortet die Frage nicht: Können wir überleben?« »Ich kenne die Antwort ebenso wenig, Amy. Niemand kennt sie. Zivilisationen sind aufgestiegen und untergegangen, seit die ersten Bauern Hütten errichteten, um sich zu schützen.« Amy war nicht in philosophischer Stimmung. Sie nahm ihre Bücher und stand auf. »Ich möchte nicht, dass meine Enkel in einem neuen dunklen Zeitalter aufwachsen, ungebildet, hungernd und von analphabetischen Heiligen beherrscht, die vom Bösen geifern und den heiligen Krieg gegen die Ungläubigen predigen.« »Da bin ich ganz deiner Meinung«, pflichtete Jake seiner Tochter bei. »Eher möchte ich all die verdammten Hurensöhne tot sehen«, fügte Amy grimmig hinzu. »Das ist politisch nicht korrekt, aber die politische Korrektheit steht mir ebenfalls bis hier.« Jake lächelte, als seine Tochter in die Küche ging, um sich ein Glas Milch und einen Snack zu besorgen. Ganz wie der Vater, dachte er und wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. 109
6 »Hier ist die erste Ausgabe des Magazins, Mr. Corrigan«, sagte die Sekretärin fröhlich und reichte ihm die Zeitschrift. »Ein Kurier hat sie direkt aus New York gebracht.« »Danke, Miss Hargrove.« Thayer Michael Corrigan saß auf einem Fitness-Fahrrad, legte das Magazin aufs Wall Street Journal und betrachtete das Titelbild. Nicht übel, dachte er. Für einen alten Knacker siehst du wirklich nicht schlecht aus. Er trat weiterhin in die Pedale, als er den Artikel überflog. Den größten Teil davon kannte er natürlich – der Text war per EMail hin- und hergeschickt worden. Der Reporter hatte sicher sein wollen, dass alle Fakten stimmten, was angeblich »so üblich« war. Corrigan wusste es besser. Nur mit vorheriger Absegnung von Titelgeschichten konnte das Magazin sicher sein, dass auch in Zukunft Industriekapitäne zu Interviews bereit waren. Niemand wollte von irgendeinem Schreiberling hereingelegt werden, der bestrebt war, sich einen Namen zu machen. Ja, die Geschichte war so abgedruckt worden, wie er sie zum letzten Mal gesehen hatte, von einigen kleinen redaktionellen Änderungen abgesehen. Corrigan wischte sich mit dem Handtuch das Gesicht ab und begann damit, aufmerksam zu lesen. Die Eckfenster des Büros gewährten Blick auf einen Ententeich voller Vögel. Der Gärtner fütterte die Enten und Schwäne jeden Tag, damit sie blieben. Die Sträucher am Teich waren im japanischen Stil geschnitten, sehr kunstvoll. Und sehr arbeitsintensiv. Die Szene bestärkte das Motto der Corrigan Engineering, Inc., das lautete: »Wir schaffen eine bessere Welt.« Thayer Michael Corrigan hatte vor sechsundvierzig Jahren mit einem Vertrag angefangen, der die Überprüfung von Ei110
senbahnbrücken in New England vorsah. Wenn man ihn auf diese Zeit ansprach, so erzählte er gern von den Brücken. Er berichtete, wie er durch Abfälle und Gestrüpp gestapft und zur Seite gesprungen war, wenn Züge kamen. Er hatte dem Reporter davon berichtet, und ein langer Abschnitt des Artikels befasste sich mit ebendiesen bescheidenen Anfängen. Corrigan hatte den Reporter nicht darauf hingewiesen, dass er vermutlich noch immer Eisenbahnbrücken inspizieren würde, wenn er nicht zwei Jahre später einem Mann in Cambridge begegnet wäre. Über dieses Treffen sprach er mit niemandem. Er sah zum Ententeich und erinnerte sich. Die Bekanntschaft hatte wie beiläufig begonnen und war recht schnell zu einer Freundschaft geworden. Gemeinsame Abendessen hier und dort, anschließend Zigarren und Whisky. Der Mann hieß Herbert Schwimmer und bezeichnete sich ebenfalls als technischen Berater, und zunächst nahm ihm Corrigan das auch ab. Er war zehn oder fünfzehn Jahre älter, hatte einen netten Akzent und meinte, seine Eltern wären vor dem Krieg aus Europa eingewandert. Eines Abends verglich Schwimmer die amerikanischen Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Kernen von Sonnen: Sie waren der Ort, wo Forschung, Technik, Wettbewerb und die Möglichkeit von Profit alte Materialien zu Neuem verschmolz, das nie zuvor existiert hatte. Schwimmer bezeichnete jene Orte als Reichtumsschmieden im Zeitalter des Kapitalismus. Corrigan wusste nicht mehr, wann sie damals zum ersten Mal über Industriespionage gesprochen hatten. »Industriegeheimnisse können unmöglich geheim bleiben«, sagte Schwimmer. »Die Leute reden mit ihren Ehepartnern, Geliebten und Freunden. Sie verlassen ein Unternehmen und arbeiten für einen Konkurrenten. Patente werden verletzt. Mitbewerber spionieren ihre Rivalen aus und betreiben Reverse Engineering … Doch es gibt eine Zeit, ein kurzes Fenster, in der Wissen einen Wert hat und 111
in Gold verwandelt werden kann.« Wochen später vertraute Herbert Schwimmer Corrigan an, dass er mit geistigem Eigentum handelte. »Ich bin nicht an Atomgeheimnissen interessiert«, sagte er mit einem Lächeln. »Mir liegt auch nichts an politischen Informationen. Ich gäbe nicht einen Cent für den neuesten Kriegsplan. Ich brauche Produkte, die ich anderen Unternehmen verkaufen kann.« »Wo?« »Hier und in Europa. Alle hüten ihre Geheimnisse und kaufen die der Konkurrenz. Der Wert von geistigem Eigentum sinkt natürlich mit der Zeit, und man muss den Markt kennen.« Das Summen der Wechselsprechanlage unterbrach Corrigan bei seinen Träumereien. »Ihre Frau ist am Telefon, Mr. Corrigan. Leitung zwei.« Corrigan betätigte eine Taste und schaltete damit den Lautsprecher ein. Er fuhr damit fort, in die Pedale zu treten. »Ja, Schatz.« »Herzlichen Glückwunsch zu dem Artikel. Noch dazu in Power.« »Hast du schon eine Ausgabe?« »Eine Freundin in New York hat mir die Titelseite gefaxt. Ein gutes Bild.« »Finde ich auch.« »Oh, Mrs. Everett vom Symphonie-Orchester ist im anderen Zimmer. Es geht um den jährlichen Zuschuss. Ich dachte an hundert. Bist du damit einverstanden?« »In Ordnung«, sagte Thayer Michael Corrigan. Sie besprachen ihre Dinnerpläne und verabschiedeten sich. Corrigan sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Erneut wischte er sich mit dem Handtuch das Gesicht ab, und seine Gedanken kehrten zu Schwimmer und seinem geschäftlichen 112
Vorschlag zurück. Er war natürlich nicht auf einmal gekommen, sondern nach und nach, im Lauf von sechs oder acht Wochen. Er selbst war es gewesen, der Schwimmer gefragt hatte, welche Geheimnisse er wollte. Zwei Monate später verkaufte Corrigan Schwimmer die ersten Informationen. Er war als Berater für ein Unternehmen tätig, das Radaranlagen produzierte. Natürlich blieb ihm der Zugang zu den Entwicklungslaboratorien verwehrt; man griff bei der strukturellen Planung eines neuen Gebäudes auf seine Hilfe zurück. Wenn er Zeit dazu fand, ging er den Inhalt von Abfallkörben durch. Glücklicherweise erwischte man ihn nicht dabei. Er entdeckte Blaupausen und technische Notizen und verwendete sie, um eine verständliche Darstellung eines neuen Radar-Designs zusammenzustellen, für die Schwimmer zehntausend Dollar zahlte. Es war enorm riskant, selbst in Abfallkörben zu suchen, und Corrigan ging nie wieder ein solches Risiko ein. Von jenem Tag an bezahlte er andere Leute dafür. Thayer Michael Corrigan war auf dem Weg nach oben. Wieder summte die Wechselsprechanlage. »Noch einmal Ihre Frau, Sir.« »Ja, Lauren.« »Entschuldige, dass ich dich noch einmal störe. T. M. Everett sagt, Rebecca DuPont spendete für das Symphonie-Orchester zweihundert. Ich weiß, dass du dies für wichtig hältst …« »Gib ihnen eine Viertelmillion.« Corrigan strampelte weiter und dachte an seine Frau. Sie hatte als Fotomodell in New York gearbeitet, als er ihr vor fünf Jahren auf einer Party begegnet war. Eine wunderschöne Frau. Sie gehörte nicht zu den halb verhungerten flachbrüstigen Modepferden, sondern war ein Modell für Fitness-Magazine, die sich an ein weibliches Publikum richteten. Wie man Fettpolster loswurde und ein hübsches Hinterteil bekam, solche Dinge. Lauren war perfekt gebaut, fünfunddreißig Jahre jünger 113
als Corrigan und bumste gern, was erklärte, warum er jeden Tag eine halbe Stunde auf dem verdammten Fitness-Fahrrad verbrachte. Und kleine blaue Pillen schluckte. Davon wusste sie nichts, und er beabsichtigte auch nicht, ihr davon zu erzählen. Dem Himmel sei Dank für die kleinen blauen Pillen. Schwimmer wäre an dem Rezept für die kleinen blauen Pillen natürlich nicht interessiert gewesen. Damals hatte sein Interesse supermodernem Hightech-Kram bei Flugzeugen, Radar, Computern, Sonar und dem Raumfahrtprogramm gegolten. Corrigan hatte eine Firma gegründet und Techniker eingestellt und verdiente echtes Geld, als ihm schließlich klar wurde, dass Schwimmers Informationen für die Sowjetunion bestimmt waren. Er stellte ihn zur Rede, und der Mann bestätigte: Ja, er arbeitete für den KGB. Aber das Risiko war gering, beharrte Schwimmer. Das FBI suchte nach Spionen im politischen Bereich und im Regierungsapparat. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich nicht an Atomgeheimnissen interessiert bin, und es ist mir völlig gleich, was Washington plant.« Natürlich – für solche Dinge hatten die Sowjets andere Quellen. Corrigan wusste, dass die eigentliche Frage lautete: Wer verdiente an dem Verkauf von Industriegeheimnissen, die Schwimmer und seine Kollegen ohnehin bekommen würden, von irgendjemandem? Sie würden die Informationen kaufen, die sie wollten, oder irgendein liberaler Schwachkopf gab sie ihnen gratis, aus ideologischen Gründen. Schwimmer hatte absolut Recht: Der Kram war wertvoll und ließ sich unmöglich geheim halten. Corrigan beschloss, dass er das Geld wollte. Er lächelte, während seine Beine auf dem stationären Fahrrad in Bewegung blieben. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Inzwischen gehörte ihm eine große Beraterfirma, die überall auf der Welt tätig war. Die einträglichste Abteilung war die kleinste – Industriegeheimnisse – und hatte ihn steinreich gemacht. 114
Im Lauf der Jahre war es natürlich zu Problemen gekommen. Die Kontakte wechselten, aber das Geld strömte weiterhin. Während der Reagan-Jahre hatte das Geschäft geblüht, als die amerikanische Industrie wie verrückt expandierte und das Computerzeitalter begann. Stealth-Flugzeuge, leise U-Boote, Lenkwaffen, computerisierte Kriegführung, Sensoren im All, neue Verschlüsselungstechniken – die Sowjets hatten viel Geld für das alles bezahlt. Ironischerweise konnten sie kaum etwas von den Dingen verwenden, für die sie bezahlten, denn es mangelte ihnen an der notwendigen industriellen Kapazität. Diese köstliche Ironie hatte Thayer Michael Corrigan sehr gefallen. Dann kam es zum Kollaps der Sowjetunion, und der Geldstrom aus dem neuen Russland versiegte. Der Timer am Fahrrad piepte. Noch eine Minute. Corrigan erhöhte das Tempo und trat so schnell wie möglich in die Pedale. Am Ende der Minute wiederholte sich das Piepen, und daraufhin wurde er langsamer, entspannte die Beine. Im Jahr 1991 hatte sich die Welt verändert, und jetzt veränderte sie sich erneut. Das Zeitalter des Terrorismus begann, und es gab erneut Gelegenheit, viel Geld zu verdienen. Die Nachfrage nach einem Produkt namens Sicherheit nahm immer mehr zu, und die amerikanische Regierung war der Kunde. Danke, Osama Bin Laden, du dämlicher lumpenköpfiger Fanatiker, der du in irgendeiner armseligen Hütte Massenmord planst. Du machst mich zum Milliardär! Er stieg vom Fahrrad, wischte sich Schweiß von Gesicht und Händen und nahm das Magazin. Erneut betrachtete er das Titelbild. Es zeigte ihn von seiner besten Seite. Er betätigte eine Taste der Wechselsprechanlage und sprach mit seinem Direktionsassistenten. »Rufen Sie das Power-Magazin an, Frank. Ich möchte das Bild kaufen, das sie für die Titelseite verwendet haben. Lassen Sie es einrahmen und im Empfangsbereich aufhängen.« 115
»Ja, Mr. Corrigan. Wird sofort erledigt.« Alderson in West Virginia war ein verschlafenes Nest zwischen zwei steilen, bewaldeten Hügeln und mit einem wundervollen Fluss, dem Greenbrier, der mitten hindurchfloss. Tommy Carmellini parkte an der Hauptstraße auf der nördlichen Seite des Flusses, stieg aus und streckte sich. Er war fast einen Meter neunzig groß, trug eine weite, leichte Sportjacke und eine Hose, die etwas zu groß wirkte. In einem Alter, in dem Männer gern ihren gut trainierten Körper zur Schau stellten, wählte Tommy Carmellini Kleidung, die seine breiten Schultern, die langen Muskelstränge und den Waschbrettbauch nicht zur Geltung brachte. Die Ärmel waren mehrere Zentimeter zu lang und verdeckten teilweise die großen Handgelenke, dicken Adern und superstarken Finger, die er durch jahrelanges Felsklettern bekommen hatte. Er betrat ein kleines Lebensmittelgeschäft, kaufte eine Dose Limonade und kehrte auf den Bürgersteig zurück, um sie dort zu trinken. Der Fluss war an dieser Stelle recht breit und strömte im Schatten großer Eichen und Ahorne dahin. Mehrere Jungen standen am Ufer und angelten. Einige von ihnen blickten neugierig zu Carmellinis Wagen – hier im Kohlerevier bekam man ein altes rotes Mercedes-Coupé nicht oft zu sehen. Als Carmellini die Dose ausgetrunken hatte, ging er noch einmal in den Laden. Er war der einzige Kunde und fragte die Verkäuferin: »Wo ist das Frauengefängnis?« »Nehmen Sie die Brücke über den Fluss und bleiben Sie auf dem Highway. Es geht ein ganzes Stück flussabwärts, aber es gibt Schilder. Leicht zu finden.« »Danke.« »Möchten Sie dort jemanden besuchen?« »Meine Mutter. Muss noch ein paar Jahre absitzen.« 116
Er warf die Dose in den Abfallkorb an der Tür und schritt zum Wagen. Ein von Wand zu Wand reichender Tisch teilte das Besucherzimmer im Gefängnis in zwei Hälften. Eine Scheibe aus kugelsicherem Glas ragte in der Mitte dieses Tisches auf, trennte Gefangene und Besucher voneinander. Carmellini war der einzige Besucher und nahm den mittleren von fünf Stühlen. Es roch nach Desinfektionsmitteln. Dicke Mauern, grün gestrichen, winzige Fenster, Gitter, die Stille … Alles strahlte Hoffnungslosigkeit aus. Als die Wärterin Zelda Hudson hereinführte, war Carmellini von der Veränderung ihres Erscheinungsbilds überrascht. Sie trug überhaupt kein Make-up, und das dunkle Haar reichte ihr nur noch bis knapp über die Ohren. Das gürtellose Gefängnishemd hing wie ein Sack an ihr. Sie sah viel älter aus als bei ihrer letzten Begegnung. Zelda nahm auf der anderen Seite Platz und sah ihn durchs Panzerglas an. Ihr Gesicht zeigte nicht das geringste Interesse. »Ich heiße Carmellini«, sagte er ins Mikrofon der Wechselsprechanlage, als die Wärterin den Raum verlassen hatte. »Ich kenne Sie.« »Es hat mich ein wenig erstaunt, als Sie sich vor Gericht schuldig bekannten, ohne zu versuchen, einen Deal mit der Justiz auszuhandeln.« Zelda steckte hinter der Entführung der USS America im vergangenen Jahr. Nachdem die Anklage das Hauptverfahren gegen sie eingeleitet hatte, bekannte sie sich schuldig, zur großen Enttäuschung der Medien, die sich einen spannenden Prozess erhofft hatten. »Ich weiß nicht, was Sie wollen, Carmellini, aber ich habe alles gesagt, was es zu sagen gibt.« »Ich war in der Nähe und dachte mir, schau mal vorbei.« 117
»Klar.« »Wie viele Jahre müssen Sie noch hinter Gittern verbringen, bevor Sie auf bedingte Haftentlassung hoffen können? Dreißig?« »Sie lesen also Zeitung.« »Eigentlich nicht. Sie wissen ja, wie Fälle sind, bei denen die Todesstrafe droht – Ruhm und Reichtum. Sie und Hillary Clinton waren auf den Titelseiten der Sensationsblätter zu sehen, wenn ich im Supermarkt Bier kaufte.« »Hoffentlich haben Sie ein Sammelalbum.« Carmellini zupfte an einem Ohrläppchen. »Sie sind immer recht schwierig gewesen, wenn ich mich recht entsinne.« »Hören Sie, Carmellini. Sie haben dabei geholfen, mich hierher zu bringen. Oh, ich weiß, ich habe Mist gebaut und so, aber Sie haben mich in dieses elende Loch verfrachtet. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und verschwinden Sie dann.« »Was halten Sie davon, den Knast zu verlassen, Zelda?« Sie sah ihn nicht einmal an. »Ich bin hier, um Ihnen einen Job anzubieten. Wenn Sie ihn annehmen, sind Sie draußen.« Zelda schnaufte abfällig. »Wen soll ich umbringen?« »Etwas Blutiges ist nicht erforderlich«, sagte Carmellini. »Ich arbeite für eine Behörde der US-Regierung, und zufälligerweise haben wir eine Stelle frei für jemanden mit Ihren Talenten.« Zelda richtete den Blick auf Carmellini. »Welche Behörde?« »Werden Sie nicht nett. Das passt nicht zu Ihnen.« »Soweit ich weiß, waren Sie bei der CIA. Sind Sie noch immer dort?« »Ja.« »Ich habe mich mit Mördern und Dieben zusammengetan, um ein U-Boot zu entführen. Ich habe mich in siebenunddreißig 118
Anklagepunkten für schuldig bekannt, Carmellini! Man legte mir keine Spionage zur Last, obwohl ich auch in dieser Beziehung schuldig bin. Nur auf Sex mit einem Farmtier wie Ihnen habe ich mich nicht eingelassen. Warum in Gottes Namen sollte die CIA an mir interessiert sein?« »Sie können gut mit Computern umgehen.« »Das ist nicht unbedingt eine seltene Fähigkeit.« »Viele Leute spielen Basketball, aber es gibt nur einen Michael Jordan.« Zelda blieb skeptisch. »Sie bieten mir einen Job bei der CIA an? Wenn ich in dreißig Jahren rauskomme … Oder ist es etwas, das ich von meiner Zelle aus erledigen kann?« »Osama Bin Laden hat die Welt verändert. Ihre Fähigkeiten werden gebraucht. Sie unterschreiben die Sicherheitsvereinbarungen, bekommen eine Gebäudekarte und ein Gehalt. Wenn Sie sauber bleiben, haben Sie ein neues Leben. Sie können sich eine Wohnung mieten, ein Auto kaufen, sich hoch verschulden, so wie alle Amerikaner, Teuerste. Wenn Sie ein falsches Spiel treiben oder Mist bauen, finden Sie sich sofort hier in Alderson wieder. Wir holen Sie nicht mit einer vorzeitigen Haftentlassung oder Bewährung heraus, und deshalb ist auch keine Verhandlung nötig, um Sie wieder einzulochen. Wir rufen einfach die Bundespolizei an und lassen Sie zurückverfrachten. Ich weiß nicht, ob Sie dann die gleiche Zelle bekommen; vielleicht müssen Sie sich mit dem begnügen, was gerade frei ist.« Zelda stützte die Ellenbogen auf den Tisch und ließ den Kopf sinken. Nach einer Weile vermutete Carmellini, dass sie weinte. »He«, sagte er ins Mikrofon. »He, sagen Sie einfach ja.« Zelda hob den Kopf wieder, und es zeigten sich keine Tränen in ihren Augen. »Ich soll euch Arschlöchern zeigen, wie man mit Computern umgeht, und anschließend schickt ihr mich mit einem Dankeschön hierher zurück. Läuft die Sache so?« 119
Carmellini zuckte mit den Schultern. »Weihnachten schicke ich Ihnen einen Kanarienvogel. Dann können Sie zur Vogelfrau von Alderson werden.« »Welche Garantie habe ich dafür, dass Sie fair spielen?« »Keine.« »Ich mag es, wenn Sie mir schmeicheln.« »Wie sind hier die Nudeln? Wie ich hörte, sollen die Hamburger in Bundesgefängnissen echt Spitze sein.« »Die Presse erfährt natürlich nichts davon, dass ich rauskomme.« »Wir müssen Ihnen eine neue Identität geben«, räumte Carmellini ein. »Sie werden Sarah Houston heißen; diesen Namen habe ich in der Geburtsurkunde, dem Führerschein und so weiter eintragen lassen. Wir haber Ihr Foto mit dem Computer bearbeitet, das Haar gefärbt und anders frisiert. Bestimmt wollten Sie schon immer mal blond sein.« »Eine Bedingung«, sagte Zelda. »Sie müssen auch Zip Vance rausholen.« Zip war ihr Komplize bei der Entführung des UBoots gewesen und hatte sich ebenfalls schuldig bekannt. Tommy Carmellini musterte die Frau auf der anderen Seite des kugelsicheren Glases. »Sie können nicht mehr viele Trümpfe auf den Tisch legen, Lady.« »Es ist mir gleich, wie Sie es anstellen. Ich gehe nur auf Ihr Angebot ein, wenn Sie auch Zip rausholen.« »Ich schätze, Ihnen werden hier nicht viele Jobs angeboten, oder? Was ist, wenn ich nein sage?« Zelda stand auf und ging zur Tür. Sie wollte anklopfen und die Wärterin rufen, als Carmellini sagte: »Komisch, auch Vance war nur unter der Bedingung einverstanden, dass Sie ebenfalls freikommen.« Sie drehte sich um und starrte ihn an. »Ich glaube, der Narr ist in Sie verliebt, Sarah Houston.« 120
Zelda rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und murmelte dann leise: »Das ist sein Problem.« Sie atmete tief durch und kehrte zum Stuhl zurück. »Können Sie mich wirklich rausholen?« »Ich habe einflussreiche Freunde.« »Und auch Zip?« Tommy Carmellini nickte. »Es wird folgendermaßen ablaufen. In einigen Tagen bekommt das Gefängnis eine ganz normale Verlegungsanweisung, in der es heißt, dass man für Sie einen Platz in einem Country Club des Bundes für WeißeKragen-Miststücke reserviert hat. Am nächsten Tag kommen zwei waschechte Bundes-Marshals, um Sie dorthin zu bringen. Ihre Papiere sind echt und mit den richtigen Unterschriften und Siegeln versehen. Aber die Marshals bringen Sie nicht aufs Land, sondern nach Washington. Sagen Sie ihnen nichts. Und dieses Gespräch hat nie stattgefunden.« Zelda schwieg. »Wir sehen uns in Washington«, sagte Carmellini, ging zur Tür und klopfte. Im Flur vor dem Besuchszimmer wandte sich Tommy Carmellini an die Wärterin. »Ich möchte den Direktor sprechen.« Die Wärterin war gelangweilt, übergewichtig und schlecht gelaunt. »He, ich weiß, dass Sie eine Art Bundesbeamter sind, aber der Direktor vereinbart Termine und so.« »Ich schlage vor, Sie lassen mich mit seiner Sekretärin reden.« Dagegen erhob die Wärterin keine Einwände und führte ihn zum Sekretariat. Die Sekretärin wollte wissen, ob Carmellini einen Termin hatte. Er brauchte fünf Minuten, um ein Gespräch mit dem Direktor durchzusetzen. Der Gefängnisdirektor hieß Gruzik; dieser Name stand zumindest auf dem Schreibtischschild. Er stand nicht auf und 121
reichte dem Besucher auch nicht die Hand. Carmellini zog einen Briefumschlag aus der Innentasche seiner Jacke und reichte ihn Gruzik. Der Umschlag enthielt einen Brief vom Direktor des Federal Bureau of Prisons. Carmellini beobachtete Gruziks Gesicht, während er den Brief las, der ihn anwies, sofort den Direktor anzurufen. Gruzik griff nach dem Telefon. Nach einer Weile legte er wieder auf und sah Carmellini interessiert an. »Wer sind Sie?« »Niemand, den Sie kennen lernen möchten. Geben Sie mir die Audio-Aufzeichnung von meinem Gespräch mit Zelda Hudson und vergessen Sie, dass Sie mich jemals gesehen haben. Und ich möchte die Seite aus dem Besucherbuch, auf der ich unterschrieben habe.« »Wir fertigen keine Aufzeichnungen von …« »Hören Sie auf mit dem Quatsch. Sie haben den Direktor gehört. ›Volle Kooperation.‹ Ich möchte das Band und die Seite aus dem Buch.« Zwei Minuten später hielt Carmellini eine Audiokassette in der Hand. Drei Minuten später riss er die von ihm unterschriebene Seite aus dem Buch, faltete sie sorgfältig und steckte sie in die Hemdtasche. »Ich werde mir das Band auf der Fahrt nach Washington anhören«, sagte er. »Es sollte besser das richtige sein.« »Die Wärterin hat das bestätigt«, erwiderte der Gefängnisdirektor verdrießlich. »Ich habe Videokameras im Wartezimmer der Besucher, in den Fluren und vor diesem Büro bemerkt. Diese Bänder möchte ich ebenfalls. Alle.« Das nahm drei weitere Minuten in Anspruch. Während sie warteten, beugte sich Carmellini vor und griff nach dem Brief vom Bureau of Prisons. »Das hier nehme ich ebenfalls mit.« Vier Videobänder wurden gebracht. Carmellini steckte die 122
Audiokassette in die Jackentasche und trug die Videokassetten in den Händen. Bevor er ging, sagte er zum Direktor: »Ich möchte ganz sicher sein, dass Sie alles richtig verstanden haben. Wenn einer Ihrer Mitarbeiter meinen Namen erwähnt, meinen Besuch oder dieses Gespräch, und wenn wir davon erfahren – dann können Sie sich einen anderen Job suchen. Und keine Strafanstalt im Land wird Ihnen eine Stelle anbieten, nicht mal als Kartoffelschäler, das garantiere ich Ihnen.« Damit schloss er die Tür hinter sich. Nach der Dusche zog Thayer Michael Corrigan einen teuren dunklen Anzug mit roter Krawatte an, bevor er damit begann, die Termine wahrzunehmen, die seine Tage als Leiter eines großen Unternehmens füllten. Wenn sie Gelegenheit dazu fanden, nahmen sich er und sein Direktionsassistent den Eingangskorb vor. Doch in dem Berg aus Papieren, die über Corrigans Schreibtisch gingen, deutete nichts auf irgendetwas Illegales hin. Natürlich sah er nie gestohlene Dokumente irgendeiner Art, und es ging auch kein Geld durch seine Hände. Andere Leute besorgten die Dokumente, bezahlten dafür und verkauften sie Kunden. Offiziell stammten die Einnahmen von verschiedenen Beraterverträgen mit ausländischen Firmen. Der Chef der Buchhaltung sorgte dafür, dass das Geld durch sichere Kanäle kam und ging und dass alles richtig verbucht wurde. Er wusste nicht, welche Geschäfte hinter den Überweisungen steckten – er wollte es auch gar nicht wissen, denn er bekam ein doppelt so hohes Gehalt wie in irgendeinem anderen Unternehmen in New England. Mit Aktienoptionen und Bonussen war er ein reicher Mann, der immer reicher wurde, und das gefiel ihm. Nur ein Mann, mit dem Corrigan täglich zu tun hatte, wusste, was wirklich vor sich ging: Karl Glück. Zwei- oder dreimal am Tag sprachen Corrigan und er miteinander. Glück war ein e123
hemaliger CIA-Agent, und auch er wurde immer reicher, aber sein Motiv war nicht das Geld. Ihm ging es um die Aufregung. Wie üblich wartete er an diesem Tag im privaten Apartment neben dem Eckbüro. Eine seiner Aufgaben bestand darin, Corrigans Büros auf Abhöranlagen zu untersuchen. Das erledigte er jeden Morgen, bevor jemand zur Arbeit erschien, und bevor Corrigan und er etwas besprachen, vergewisserte er sich mithilfe eines kleinen Geräts, dass niemand mithörte. Er verstaute das Gerät gerade in seinem Gehäuse, als Corrigan durch die Apartmenttür hereinkam. »Morgen, Karl.« »Guten Morgen, Sir.« »Was haben Sie von Dutch gehört?« »Letzte Nacht kam es zu einer Schießerei in der Nähe des Lagers mit den Waffen. Heute Abend …« Glück sah auf die Uhr und berechnete die Zeitverschiebung. »In zwei Stunden werden die Waffen zum Dock gebracht und verladen.« »Erzählen Sie mir von der Schießerei.« »Eine Gruppe rivalisierender Militanter. Die Nachricht von den Sprengköpfen hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Wir wussten, dass das der Fall sein würde. So etwas lässt sich nicht geheim halten.« »Warum sind die Waffen noch dort? Sie hätten schon vor Tagen auf dem Schiff sein sollen.« »Es gab Probleme dabei, das Schiff zu beladen und aufs Auslaufen vorzubereiten. Bestechungsgelder wurden gezahlt, aber wir können nur mäßigen Druck ausüben.« »Der Ägypter?« »Zuair ist bereit. Er will den Ungläubigen Vernichtung bringen.« »Probleme?« »Derzeit keine.« 124
»Diese Sache muss glatt laufen. Es darf zu keinen Pannen kommen.« »Es wird keine geben.« »Gut.« Karl Glück verließ das Büro. Corrigan beobachtete, wie sich die Tür hinter ihm schloss, lächelte dann. Karls Nachname vermittelte den falschen Eindruck. Er war tüchtig, weil er nicht an Glück glaubte; er nahm alles selbst in die Hand. Auch Corrigan glaubte nicht an Glück. Er war reich geworden, indem er dafür gesorgt hatte, dass Zufälle ihn nicht ruinieren konnten. Man besorge sich gute Leute, bezahle sie gut und gebe ihnen volle Unterstützung. So lautete die Formel, die er dem Power-Reporter genannt hatte. Erstaunlicherweise funktionierte sie tatsächlich … meistens. Der Zufall und menschliche Schwächen waren bei menschlichen Angelegenheiten immer präsent und konnten gelegentlich Probleme schaffen. Man musste die Probleme erbarmungslos angehen, ohne Gewissensbisse. Darauf verstanden sich Thayer Michael Corrigan und Karl Glück sehr gut, doch das hatte er dem Reporter nicht gesagt. Auch Mohammed Mohammed glaubte nicht an Glück. Man hatte ihm die Leitung eines Angriffs auf Amerika anvertraut, weil er klug war, immer sorgfältig plante und nichts dem Zufall überließ. Seiner Ansicht nach glaubten zu viele heilige Krieger, dass sie erfolgreich sein würden, weil Allah auf ihrer Seite war. Inschallah, »wenn Allah will«, lautete ihr Kredo; dies war gewissermaßen die Blaupause für ihr Leben. Sie vergaßen dabei, dass die Kräfte des Bösen überall waren, auf ewig im Kampf gegen die Kräfte Allahs. Das musste so sein, dachte er, denn andernfalls wäre die Erde ein Paradies, in dem Allah regierte. Und das war sie nicht. Nein, der Sieg ging an jene, die ihn verdienten. So hatte Allah das Universum erschaffen. Mohammed Mohammed beab125
sichtigte, sich seine Fahrkarte ins Paradies zu verdienen. An diesem Nachmittag im »Flüssiger-Sonnenschein-ZitrusLager« in Florida hielt er in seiner Arbeit inne – er war damit beschäftigt, Orangenkisten auf Paletten zu laden – und beobachtete die im Gebäude umhersausenden Gabelstapler. Er wusste noch nicht, wie man mit einem Gabelstapler umging, und er musste es lernen. Der Vorarbeiter war ein dicker, kahl werdender Mexikaner. Die meisten Arbeiter stammten aus Mexiko und unterhielten sich auf Spanisch – ein Kauderwelsch für Mohammed. Die Mexikaner und er sprachen kaum Englisch, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als diese Sprache zu benutzen. Manchmal verstand er die anderen Arbeiter oder den Vorarbeiter nicht, oder sie verstanden ihn nicht. Mohammed hatte vorgeschlagen zu lernen, wie man einen Gabelstapler fuhr, damit er einspringen konnte, wenn das einmal notwendig werden sollte. Der Vorarbeiter schien ihn verstanden zu haben, doch eine Aufforderung, an den Kontrollen eines Gabelstaplers Platz zu nehmen, war bisher ausgeblieben. Er brauchte ein solches Gerät, um die Bombe aus dem Container zu holen und auf einen Laster zu laden. Sie würde sich bereits auf einer Palette befinden, aber er durfte nicht riskieren, sie fallen zu lassen. Er musste vorher üben. Timing. Davon hing alles ab. Nachdem die Arbeiter der Spätschicht gegangen waren, würden Mohammed und seine Männer die Bombe im Lastwagen verstauen und den Laderaum dann mit Zitrusfrüchten für Washington, D.C., füllen. Am nächsten Morgen, wenn sich der Laster auf den Weg machte, wollten sie ihm folgen, den Fahrer töten, wenn er anhielt, um zu tanken oder zu rasten, und dann mit dem Lastwagen weiterfahren. In Kairo, bei der Erörterung des Plans, hatte alles sehr viel versprechend geklungen. Man lade die Bombe auf einen Las126
ter, fahre damit nach Washington und lasse sie im Herzen der Stadt explodieren. Natürlich wären sie sofort tot und würden im gleichen Moment das Paradies erreichen. Alle Menschen starben, die einen früher, die anderen später. Das war eine unveränderliche Tatsache, die einzige Gewissheit in unserer ungewissen Existenz. Sich als Märtyrer in Allahs Krieg gegen die Ungläubigen das Paradies zu verdienen, war unendlich viel besser als im Greisenalter zu sterben und alles Allahs Gnade zu überlassen. Allahu Akbar! Nun, manche Menschen kamen ins Paradies und andere nicht, das war allgemein bekannt! Warum ein Risiko eingehen? Und warum warten? Man konnte das Paradies jetzt erreichen. Mohammed nahm eine weitere Kiste und fügte sie dem Stapel hinzu. Hier in Florida schien der Plan viel komplizierter zu sein als in Kairo. Da war zunächst einmal der Zeitplan. Bis zum Eintreffen der Bombe konnten sie nichts unternehmen, und wenn sie eintraf, konnten sie nicht warten. Der Container musste entladen werden, und sie mussten sich auf den Weg machen, bevor jemand Verdacht schöpfte. Mohammed wusste, wie man einen neunachsigen Sattelschlepper fuhr. In seiner Tasche steckte sogar eine Fahrerlaubnis für Lkws. Natürlich war sie nicht auf seinen Namen ausgestellt, aber für die Amerikaner sahen Araber alle gleich aus. Es würde genügen, die Fahrerlaubnis vorzuzeigen. Das Warten war der schwache Punkt des Plans. Wenn sie überwacht oder verhaftet wurden, scheiterte ihre Mission. Der derzeit beste Ort in den Vereinigten Staaten, wo die Gruppe während jener Wochen leben und arbeiten konnte, ohne aufzufallen, war Broward County in Südflorida, denn hier wimmelte es von Menschen aus allen Ecken der Welt. Hier waren die Einheimischen weniger misstrauisch als woanders; hier hatte das Team die größte Chance, anonym zu bleiben, vom amerikanischen FBI unentdeckt. 127
Mohammed kannte das FBI. Die Männer und Frauen des Bureaus suchten ihn und andere wie ihn. Weitere Behörden waren an der Suche beteiligt. Täglich wurden seine drei Gefährten und er mit solchen Gefahren konfrontiert. Wie bei terroristischen Aktionen üblich gab es einen Zeitplan. Der Angriff war dann besonders effektiv, wenn er mit anderen koordiniert werden konnte. Von anderen geplanten Angriffen wusste Mohammed nichts, aber bestimmt gab es welche, denn die Leute in Kairo hatten ihm ein Datum genannt. Doch er konnte erst aufbrechen, wenn die Waffe eintraf, und wenn sie kam, musste er schnell handeln, ungeachtet des Datums. Daran ließ sich leider nichts ändern. Er wischte sich Schweiß von der Stirn, als er sah, wie der Vorarbeiter auf ihn zutrat. Der Mann deutete auf einen unbesetzten Gabelstapler. »Du, Mohammed, kannst heute fahren. Die Hebel lernen. Ramon zeigt dir. Ramon sehr guter Gabelstaplerfahrer. Du gut lernst.« Mohammed nickte und zeigte die Zähne. Das machten Amerikaner gern, die Zähne zeigen. Er zeigte seine mehrmals dem Vorarbeiter und lief zum Gabelstapler, wo Ramon stand. »Ah, Ramon, der Vorarbeiter hat gesagt …« »Sí. Ja, ja. Auf den Sitz.« Mohammed nahm an den Kontrollen Platz, und es begann seine erste Lektion im Gabelstaplerfahren. Er lernte mit großem Eifer, denn dies war eine weitere Sprosse der Leiter, die zum Paradies führte. Als Tommy Carmellini die nach Osten führende Interstate I-64 erreichte, nördlich von Lewisburg, bog er nicht ab, sondern blieb auf der zweispurigen Straße, die durch das Greenbrier River Valley nach Nordosten führte. Rechts und links erhoben sich niedrige, von grünen Wäldern bedeckte Berge. 128
Während er fuhr, dachte er an Archie Foster und Norv Lalouette. Wahrscheinlich stammten die Wanzen in seinem Apartment von ihnen. Wer auch immer hinter den Mikrofonen steckte, er hatte zweifellos die Wohnung durchsucht. Wenn Arch und Norv die zweiundzwanziger Ruger mit dem Schalldämpfer gefunden hätten, wären sie in der Lage gewesen, ihn in den Knast zu schicken, vielleicht sogar in eine Todeszelle. Natürlich hatten sie die Waffe nicht gefunden. Der Schalldämpfer lag im Schlamm am Grund des Potomac, der Lauf war in Maryland vergraben, der Hahn in Virginia und der Griff in North Carolina. Arch und Norv oder ihre Freunde hatten das Apartment verwanzt und dann die Bombe platzen lassen. Jetzt lauschten sie vermutlich, um festzustellen, wie er darauf reagierte. Vermutlich hörten sie auch sein Büro ab. Lieber Himmel! Sie sammelten gewiss kein Beweismaterial für das FBI, nicht mit illegalen Durchsuchungen und Abhörvorrichtungen. Sie wollten etwas. Aber was? Irgendwann würden sie es ihn bestimmt wissen lassen. Worum auch immer es ihnen ging: Sie wussten, dass es ihm nicht gefallen würde, und deshalb begannen sie damit ihn langsam durch die Mangel zu drehen. Tommy Carmellini sah weiter vorn einen Laden und hielt auf dem Parkplatz. Hinter dem Tresen stand eine gut dreißig Jahre alte Frau. Er kaufte eine Limo, ging und legte die Dose ungeöffnet auf den Beifahrersitz. An jeder größeren Kreuzung und in jedem Ort gab es einen Laden mit Grundnahrungsmitteln wie Brot, Bier und Limo. Sieben oder acht Kilometer weiter die Straße hinauf fand Carmellini einen anderen Laden, mit einer Benzinzapfsäule auf dem Hof. Er trat ein und sah einen Mann in den Fünfzigern hinter dem Tresen. Er kaufte erneut eine Limonade, lehnte sich an den Tresen 129
und trank. »Eine hübsche Gegend.« »Ja. Hab hier mein ganzes Leben verbracht. Sehr angenehm. Hübsch und friedlich. Ruhig, nicht so wie in den großen Städten.« »Ein Freund von mir hat eine Hütte in den Bergen und mich zur Jagd eingeladen. Gibt es hier viel Rotwild?« »Ich denke, Sie werden den einen oder anderen Hirsch erwischen.« Der Mann begann damit, von den Jägern zu erzählen, die hierher kamen, und von Rotwild, das so zahlreich war wie Kaninchen. »Laufen den Leuten immer wieder vors Auto. Liegen tot neben jeder Straße. Autos töten mehr Rehe als Jäger. Es hat nie so viele gegeben wie jetzt.« »Ich brauche ein Gewehr, wenn ich auf die Jagd gehen soll«, sagte Carmellini an einer passenden Stelle. »Hab an eine alte dreißig-dreißig Winchester gedacht.« »Eine gute Flinte, und ob. Hatte mal eine. Hab sie meinem Jungen geschenkt. Mit einer Dreißig-dreißig kann man nichts verkehrt machen. Nun, manche Leute haben lieber ein Zielfernrohr, und das kann man nur mit einer speziellen Halterung an einer Winchester anbringen. Brauch selbst ein Zielfernrohr, seit meine Augen nicht mehr das sind, was sie einmal waren.« »Kennen Sie hier jemanden, von dem ich eine Dreißigdreißig kaufen könnte?« »Nein. Aber Sie finden in jedem Waffengeschäft eine.« »Ich halte die Augen nach einem offen«, sagte Carmellini, lächelte breit und verabschiedete sich. Beim nächsten Laden wiederholte Carmellini das Gespräch. Nein, auch dort gab es niemanden, der ihm ein solches Gewehr verkaufen konnte. Beim dritten Stopp hatte er Glück. Der Inhaber hatte mindestens fünfundzwanzig Kilo Übergewicht und einen zottigen Bart. »Himmel, ja, ich habe eine Dreißig-dreißig im Haus, ein 130
altes Modell vierundneunzig. Benutze es nicht mehr und könnte es verkaufen, wenn der Preis stimmt. Es ist kein Sammlerstück wie die Modelle vor den Vierundsechzigern. Nein, Sir. Diese Flinte habe ich nach dem Militärdienst von einem Nachbarn gekauft. Sieht nach nichts aus, schießt aber gut.« »Ich möchte nicht viel Geld für ein Gewehr ausgeben«, sagte Carmellini und schüttelte den Kopf. »Ich gehe zum ersten Mal auf die Jagd, und vielleicht gefällt es mir nicht. Und ich würde die Flinte nur dafür verwenden. Ich möchte sie später wieder verkaufen können, für etwa den gleichen Preis, den ich dafür bezahlt habe.« »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte der Ladeninhaber. Er streckte die Hand aus. »Ich bin Fred.« »Ich heiße Bob«, sagte Tommy Carmellini und schüttelte die Hand. »Ich hab das Gewehr drüben im Haus.« Fred deutete mit dem Daumen zum Gebäude. »Kommen Sie, ich zeige es Ihnen. Den Laden mache ich für eine Weile zu.« Carmellini wartete auf der Veranda des Hauses, das direkt neben dem Laden stand, und Fred ging hinein. Wenige Minuten später kehrte er mit dem Gewehr zurück. Die Winchester schien den größten Teil ihres Lebens damit verbracht zu haben, auf der Pritsche eines kleinen Lieferwagens Kratzer zu sammeln. Offenbar war sie nur selten – wenn überhaupt jemals – geölt worden. Rost zeigte sich an mehreren Stellen, aber nicht zu viel. Das Gewehr hatte einen fünfzig Zentimeter langen Lauf, war kompakt und handlich. »Braucht nur ein bisschen Öl«, sagte Fred. »Dann löst sich der Rost sofort. Ein prächtiges Ding.« »Können wir damit schießen?« »Ich hab einige Patronen.« Fred holte vier hervor. »Schießt gut, die Flinte. Zielen Sie auf die Hundehütte dort 131
drüben. Der alte Buck starb im letzten Winter. Ich besorge mir keinen neuen Hund, nein, Sir! Tut zu weh, von ihnen Abschied zu nehmen.« Die Hundehütte war etwa vierzig Meter entfernt. Carmellini hob das Gewehr, zielte und drückte ab. Er schoss viermal, und die vier Löcher im Dach der Hundehütte konnten mit einer Schindel abgedeckt werden. »Nicht schlecht«, sagte Fred. »Unvorbereitet und so. Mit ein wenig Übung werden Sie zu einem guten Schützen.« »Wie viel?« »Zweihundert.« Carmellini schüttelte traurig den Kopf. »Das hatte ich befürchtet. Zu teuer. Mit all dem Rost … hundertfünfzig.« Sie kehrten zum Laden zurück, während sie miteinander feilschten. Carmellini zahlte schließlich zweihundert in bar für das Gewehr, eine gebrauchte Tasche für die Waffe, zwei Schachteln Munition und eine Büchse Gewehröl. Er verstaute die Sachen im Kofferraum des Mercedes und fuhr fort.
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7 »Freut mich, Sie wiederzusehen, Mr. President«, sagte Thayer Michael Corrigan, als er dem Präsidenten im Oval Office die Hand schüttelte. »Wie geht’s Ihrer Familie, T.M.?« »Gut, Sir. Und Ihrer?« »Bestens.« Der Präsident deutete auf einen Sessel für Corrigan und einen für den Nationalen Sicherheitsberater Butch Lanham. »Dies«, sagte er dann und deutete auf einen Marineoffizier in weißer Uniform, »ist Konteradmiral Jake Grafton.« Während Grafton Lanham und Corrigan die Hand reichte, nahm der Präsident auf der Couch Platz. Corrigan schenkte dem Marineoffizier kaum Beachtung; seine Aufmerksamkeit galt vor allem dem Präsidenten. »T.M.«, sagte der Präsident, »ich weiß, dass Ihr Unternehmen seit Monaten mit der Regierung über die Lizenzierung Ihrer patentierten Sensortechnik verhandelt, und ich weiß auch, dass wir kurz vor einem Abschluss stehen. Ich bitte Sie hiermit, den Vorgang abzukürzen, ein Auge zuzudrücken und eine Vereinbarung zu treffen, damit wir das Programm fortsetzen können.« Corrigan lachte. »Ich bin gern bereit zu helfen.« »Sie haben immer große Hilfe geleistet, das weiß ich«, sagte der Präsident ernst. Er meinte finanzielle Hilfe beim Wahlkampf, und das war in der Welt der Politik die einzige Hilfe, auf die es ankam. »Aber diese Angelegenheit ist dringend. Es gibt glaubwürdige Hinweise darauf, dass Terroristen mehrere nukleare Sprengköpfe von einem korrupten General in Russland gekauft haben. Das ist natürlich streng geheim.« Corrigan nickte nicht einmal. Er war kein Klatschmaul, und das wussten die einflussreichen Leute der Welt, in der er sich 133
bewegte. Allerdings wussten sie nicht, dass er durchaus bereit gewesen wäre, Profit aus irgendwelchen Geheimnissen zu schlagen, vorausgesetzt, dass man ihm dabei nicht auf die Schliche kam. Solche Dinge belasteten sein Gewissen nie. Er glaubte allen Ernstes, dass er besondere Gelegenheiten sah, die anderen verborgen blieben, weil er intelligenter war als sie. »Wir brauchen die Technik jetzt«, fuhr der Präsident fort. »Der Zoll ist seit Jahren nur mit gewöhnlichen Geigerzählern ausgestattet. Sie werden am Gürtel getragen und sind etwa so groß wie ein Pager. Einfach und unkompliziert, mit begrenzter Leistungsfähigkeit. Wir setzen jetzt auch Gammastrahlen- und Neutronendetektoren ein, und zwar dort, wo wir die Gefahr für am größten halten. Aber das genügt nicht. Es muss mehr getan werden.« »Wie ich hörte, haben Sie Grundlagenforschung in Hinsicht auf die Entdeckung von radioaktivem Material angeordnet.« Der Präsident nickte. »Ich habe ein entsprechendes Programm bei den Regierungslaboratorien in Auftrag gegeben, mit dem Ziel, eine neue Generation von Detektoren zu entwickeln. Wir arbeiten daran. Aber unsere Wissenschaftler sagen mir, dass Ihre Technik besser ist als das, was wir benutzen, und sie ist reif für die Produktion.« »Nun …« »Wir brauchen die Sensoren jetzt, T.M.! Himmel, wir brauchen sie gestern!« »Ich habe mit dem Zoll über den Preis gesprochen, Mr. President. Das Angebot erschien mir zu niedrig, aber ich werde es annehmen. Noch heute. Jetzt.« »Wir brauchen viermal so viele Sensoren, wie Zoll und Küstenwache angefordert haben«, warf der Nationale Sicherheitsberater Lanham ein. »Ihr Unternehmen muss alles andere auf Eis legen und uns dabei helfen, die Sensoren zu produzieren und für den Einsatz vorzubereiten.« 134
Sie sprachen über den geschätzten Bedarf. Corrigan zeigte sich kooperationsbereit. »Die besten Techniker in diesem Land arbeiten für mich«, sagte er. »Für sie ist nichts unmöglich.« »Wann können wir anfangen?«, fragte der Präsident. »Heute Nachmittag«, antwortete Corrigan. »Sobald ich nach Boston zurückgekehrt bin. Um den Papierkram kümmern wir uns später.« Der Präsident stand auf und streckte die Hand aus. Corrigan schüttelte sie. Als sie zur Tür gingen, sagte der Präsident: »Ich habe den Power-Artikel gelesen. Eine gute Darstellung.« »Danke«, sagte Corrigan sachlich und mit einem Hauch Bescheidenheit. Es war ein guter Artikel. »Wissen Sie«, fuhr der Präsident fort und schien laut nachzudenken, »in fünf oder sechs Monaten wird vielleicht der Botschafterposten am Hof von St. James frei. Ich kann Ihnen derzeit noch kein Angebot machen, doch wenn sich die Dinge so entwickeln, wie ich glaube, und London für Sie infrage käme … Wären Sie bereit, ein solches Angebot in Erwägung zu ziehen? Es würde natürlich bedeuten, dass Sie die Leitung Ihres Unternehmens einem anderen überlassen müssen, was Ihnen sicher nicht leicht fällt.« »Es wäre mir eine Ehre, als Kandidat für einen solchen Posten infrage zu kommen«, sagte Corrigan mit offensichtlicher Aufrichtigkeit. »Wenn ich ein solches Angebot bekäme, würde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um meine Angelegenheiten so zu regeln, dass ich es annehmen kann.« Der Präsident lächelte. »Sie werden bald von mir hören«, sagte er und schüttelte Corrigan noch einmal die Hand. Er kehrte zur Couch zurück. »Sind Sie sicher, dass uns die Sensoren helfen?«, fragte er Jake Grafton. »Nein, Sir, das bin ich nicht. Aber ich habe gehört, dass Zoll und Küstenwache immer wieder mit Corrigan verhandelt haben 135
– sie hatten nicht das nötige Geld für die Sensoren –, und das Angebot klang gut. Himmel, es geht nur um Geld.« »Wie wollen Sie die Bomben finden?« »Wir arbeiten daran, Mr. President. Mehr und bessere Sensoren gehören natürlich zu dem ganzen Paket. Ich habe mit dem Vorsitzenden der Generalstabschefs, General Alt, gesprochen, außerdem auch mit dem Stabschef der Armee, General Cahn. Wir entwickeln einen Plan, der den Einsatz von Armee und Nationalgarde vorsieht: Sie sollen Züge und Lastwagen an Kontrollstellen überprüfen, bevor sie die großen Städte erreichen. Es dürfte ungefähr eine Woche dauern, um die Leute in Position zu bringen und einsatzbereit zu machen, und dazu brauchen wir Ihre Genehmigung. Wir suchen mit konventionellen Geigerzählern, bis wir bessere Geräte bekommen. Die Delta Force ist in Bereitschaft, um gegen die Gruppen vorzugehen, die sich im Besitz eines nuklearen Sprengkopfs befinden, aber sie zu lokalisieren …« »Sind Bomben die Gefahr?« »Sie sind zumindest eine Möglichkeit. Eine andere wäre, dass ein Sprengkopf in einem Lastwagen mit gewöhnlichem Sprengstoff versteckt wird, wie die Bombe von Oklahoma City. Die Explosion verteilt dann radioaktives Plutonium, was zu einer ungeheuren ökologischen Katastrophe führen würde. Daran denke ich jedes Mal, wenn ich einen Sattelschlepper sehe.« »Sie möchten also auf das Militär zurückgreifen, um Lastwagen und Eisenbahnwaggons zu durchsuchen?« »Ja. Die Ladung wäre sehr heiß und müsste sich mit gewöhnlichen Geigerzählern leicht eindecken lassen.« »Sie haben meine Genehmigung.« »Wir sprechen auch mit der Küstenwache, der FAA und dem Zoll darüber, Häfen, Schiffe und Flugzeuge zu kontrollieren. Die verschiedenen Behörden geben sich alle Mühe. Wenn wir Schwachstellen entdecken, wende ich mich mit Empfehlungen 136
an die zuständigen Stellen und biete Hilfe an. Ich besorge mir Leute, Büros, Computer und Geld. Wir sind voll dabei.« »Ich gebe die Anweisungen«, sagte der Präsident. »Aber um die Kooperation müssen Sie sich kümmern.« Er stand auf, trat zum Fenster und blickte nach draußen. »Über Jahrhunderte hinweg wurden Statuten, Regeln und Vorschriften erlassen, und hinzu kommt ein Heer aus Karrierebürokraten, die alle versuchen, ihre Reisschüssel zu schützen. Es grenzt an ein Wunder, dass die Regierung überhaupt etwas in Bewegung setzen kann. Harry Truman sagte einmal, dass er einen großen Teil seiner Regierungszeit mit Katzbuckeln verbrachte, damit etwas geschah.« »Amen«, sagte Jake. Der Präsident wandte sich an Lanham. »Was meinen Sie, Butch?« »Ich glaube, wir haben kaum eine Wahl, Sir. Die größte Herausforderung besteht darin, eine Panik zu verhindern.« Er breitete die Arme aus. »Es darf nicht erneut zu einem Absacken der Börsenkurse kommen. Wir können es uns nicht leisten, dass die Leute alle zu Hause bleiben, was die Fluggesellschaften in die Pleite treiben und unserer Wirtschaft einen schweren Schlag versetzen würde. Die Presse wird davon erfahren, dass wir Truppen mit Geigerzählern einsetzen, und sie wird Fragen stellen. Sie müssen entscheiden, was Sie sagen wollen. Es ist unmöglich, die Aktivität tausender von Soldaten und Nationalgardisten geheim zu halten, und es wäre dumm von uns, das zu versuchen.« »Wollen wir es überhaupt geheim halten? Wäre es nicht besser, dass die ganze Welt sieht, was wir unternehmen, um der Gefahr zu begegnen?« »Ich befürchte, es könnten sich ernste Konsequenzen ergeben, wenn wir die Öffentlichkeit auf die Gefahr hinweisen«, sagte Lanham. 137
Der Präsident sah Jake Grafton an. »Was meinen Sie?« Der Admiral atmete tief durch, bevor er antwortete. »Wenn wir einen ausreichend großen Prozentsatz des Frachtguts dieses Landes kontrollieren, halten wir den Feind davon ab, etwas Konventionelles zu versuchen. Es bedeutet, dass er kreativ wird. Unsere Aufgabe besteht darin, den Erfolg eines wirklich kreativen Angriffs zu verhindern.« »Danke dafür, dass Sie es versüßen, Admiral.« Der Präsident klopfte sich aufs Bein. »Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf zu wissen, was die Regierung zu ihrem Schutz unternimmt. Geheimdienstinformationen und ihre Quellen sind natürlich geheim und müssen es auch bleiben. Wir teilen der Öffentlichkeit mit, dass wir Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, die wir für notwendig halten, und damit hat es sich.« »Ich gebe dem Pressesekretär Bescheid«, sagte Lanham und verließ das Oval Office. »Die Zeit, in der wir leben …«, murmelte der Präsident bitter. »Ich bin ziemlich sicher, dass es nicht bei einem Hinweis auf die Notwendigkeit von Sicherheitsmaßnahmen bleiben wird. Zu viele Leute wissen zu viel. Früher oder später kommt die Sache raus, und dann steh uns Gott bei.« Jake Grafton gab sich philosophisch. »Schalten Sie den Fernseher ein, wenn Sie morgens aufwachen. Wenn der CNBCHaufen über die Börse redet, ist Amerika noch heil. Ich höre eine halbe Minute lang hin, sage dann ›Danke, Jesus‹ und stehe auf.« Jake Grafton schlief nicht. Er hatte einen Plan, der ihm allerdings nicht sehr gefiel. Er hoffte, Zelda Hudson – bald Sarah Houston – und Zip Vance als zentrale Mitglieder eines Teams dazu einsetzen zu können, Informationen von überallher zusammenzutragen und nach Mustern darin zu suchen. Und nach Terroristen. Der erste Schritt bestand darin herauszufinden, 138
was alle über das Schwert des Islam wussten. Jake war nicht besonders zuversichtlich – er brauchte einen Ansatzpunkt. Und bisher hatte er keinen. Die Regierung setzte eine ganze Armee ein, um mit konventioneller Ausrüstung nach Strahlung zu suchen. Das war nur eine kurzfristige Lösung. Jake brauchte Hightech-Sensoren, um die Aufgabe einer kleinen Gruppe von Experten zu überlassen. Die Vereinigten Staaten waren groß, und es gab tausende von Importhäfen; es hätte Jahre gedauert, genug Sensoren zu produzieren und einzusetzen, um alle Wege abzusichern, auf denen die Sprengköpfe ins Land kommen konnten. Doch manche Häfen waren wahrscheinlicher als andere … Es sollte nicht lange dauern, bis sich eine vernünftige Chance dafür ergab, hereingeschmuggeltes radioaktives Material zu finden. Eine vernünftige Chance … Terroristenjagd. Dies konnte einen erwachsenen Mann dazu bringen, in Tränen auszubrechen. Nach der Besprechung beim Präsidenten kehrte Jake nach Langley zurück, um dort mit seinem neuen Mitarbeiterstab zu reden. Er hatte auch einen Offizier angefordert und bekommen, der vor einigen Jahren sein Stabschef gewesen war, Captain Gil Pascal. Außerdem gehörten zum Team: drei Personen vom Zoll, drei von der National Security Agency und zwei von der Küstenwache. »Es gibt vier Probleme, die wir lösen müssen, bevor wir die neuen Sensoren einsetzen können«, sagte Jake. »Erstens: Wir müssen uns darüber klar werden, wo und wie wir Gebrauch von ihnen machen. Wie groß ist die akzeptable Wahrscheinlichkeit, dass wir etwas entdecken? Fünfzig Prozent? Sechzig? Achtzig? Was ist mit der uns bereits zur Verfügung stehenden Technik möglich? Und was können wir tun, um Versuchen vorzubeugen, der Entdeckung zu entgehen?« Alle nickten. »Zweitens: Wir müssen entscheiden, wie wir reagieren, wenn 139
wir radioaktives Material finden. Es könnte alles sein, von Krankenhausabfällen bis hin zu einer tickenden Bombe. Wenn es sich um eine Bombe handelt, müssen wir sie unter Kontrolle bekommen, bevor die bösen Jungs Gelegenheit haben, sie zu zünden.« »Eine Kleinigkeit«, sagte der ranghöchste Offizier der Küstenwache, ein Captain. »Um das zu bewerkstelligen, brauchen wir jemanden, der in Echtzeit taktische Entscheidungen trifft. Wir reden hier von großer Verantwortung. Es erübrigt sich fast der Hinweis, dass die Konsequenzen von falschen Entscheidungen katastrophal sein könnten.« Stille folgte diesen Worten. »Und schließlich brauchen wir einen Plan für die Kontrolle von öffentlichen und Insider-Informationen über unsere Ermittlungen«, fuhr Jake fort. »Die Sache wird bekannt, früher oder später, und wenn wir es nicht richtig anpacken, könnte es zu einer Massenpanik kommen, zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder einem politischen Kollaps. Oder beidem.« Nach einem Nachmittag intensiver Diskussionen stellte Captain Pascal ein Memo für den Präsidenten zusammen, ging darin auf Jakes vier Punkte ein und fügte Vorschläge hinzu. Toad Tarkington brachte die Unterlagen zum Weißen Haus. Als sich Toad auf den Weg machte, rief Jake den FBIVerbindungsmann Harry Estep an. »Wie kommen die Ermittlungen im Fall Doyle voran?« »Wir vernehmen all die Personen im Regierungsapparat, die davon wussten, dass Ilin Doyle erwähnte.« »Und weiter?« »Wir folgen Spuren, sofern es welche gibt. Man zieht in Erwägung, die Vernehmungen mit dem Lügendetektor zu überprüfen.« 140
»Wie genau wären die Ergebnisse?« »Nun …« »Ach, zum Teufel auch, wir machen’s. Tarkington und ich sind die Ersten.« »Kommen Sie heute Abend gegen sieben«, sagte Estep und nannte eine Adresse. Um sechs Uhr an jenem Abend kehrte Toad Tarkington vom Weißen Haus zurück und brachte einen versiegelten Umschlag für Jake. Grafton öffnete ihn an seinem Schreibtisch. Er enthielt das Memo, und unter Jakes Unterschrift stand mit Hand geschrieben: »Genehmigt. Sie, Admiral Grafton, treffen die taktischen Entscheidungen.« Es folgte die Unterschrift des Präsidenten, ganz groß. Jake reichte das Dokument Toad, der es las und kommentierte: »Sie wussten, dass es darauf hinauslaufen würde.« »Ja.« »Meine Güte, er hat nicht seine Initialen geschrieben, sondern den vollen Namen, ganz groß.« »Das ist für mich«, murmelte Jake und rieb sich die Stirn. »Wenn die Sache schief läuft, sollen die Kongressabgeordneten seinen Namen lesen können, ohne die Brille aufsetzen zu müssen.« »Wenn die Sache schief läuft? Sie meinen, wenn uns die Fetzen um die Ohren fliegen?« »Das ist sehr bildhaft gesprochen, Toad, und dafür bin ich im Augenblick nicht in der richtigen Stimmung. Machen Sie es sich nicht gemütlich. Uns beiden steht eine Befragung mit dem Lügendetektor bevor. Wir schließen hier alles ab, schalten die Alarmanlage ein und machen uns auf den Weg.« 141
»Verdammt«, sagte Toad voller Abscheu. »Hoffentlich fragen sie mich nicht nach meinen alten Freundinnen. Oder nach den Schwierigkeiten in der fünften Klasse. Oder nach dem Abend am Abschlusstag … Über jenen Abend habe ich viele Lügen erzählt. Wem habe ich das mit dem Lügendetektor zu verdanken?« »Rita hat mir eine Liste mit Fragen gegeben, die sie gern beantwortet haben möchte.« »Oh, oh. Eine weitere lebensbedrohliche Erfahrung.« Der zuständige Techniker fragte sie, ob sie schon einmal unter Einsatz eines Lügendetektors ausgesagt hatten, und das war tatsächlich der Fall, vor einigen Jahren, als sie beide die Sicherheitsüberprüfung für die Special Intelligence (SI) hinter sich gebracht hatten. Jake kam als Erster an die Reihe. Man schloss eine Manschette um seinen Arm, stülpte ihm einen Sensor über den Finger und befestigte zahlreiche Kontakte an seinem Kopf. Die Fragen waren direkt: Name, Sozialversicherungsnummer, militärischer Rang, Adresse, dann einige Fragen, auf die er mit ja oder nein antworten sollte. Kannte er Janas Ilin? War er ihm je begegnet? Dann wurde er nach Richard Doyle befragt. Auf der Grundlage seiner früheren Aussagen stellte der Techniker neue Fragen, beobachtete dabei den Ausdruck und markierte bestimmte Stellen. Schließlich reichte er Jake mehrere Fotos mit dem Bild nach unten. »Bitte lesen Sie die Zahl auf der Rückseite jedes Fotos, drehen Sie es dann um und betrachten Sie es. Legen Sie es anschließend mit dem Bild nach unten beiseite und wiederholen Sie den Vorgang bei den anderen Fotos. Wenn Sie eine Person erkennen, so nennen Sie mir bitte den Namen.« Die ersten beiden Fotos erkannte Jake nicht, aber das dritte zeigte Janas Ilin, und darauf wies er hin. Die Aufnahme stammte vermutlich von einer Uberwachungskamera und zeig142
te Ilin auf einem Bürgersteig in New York – zumindest sah die Stadt wie New York aus. Der Russe schien die Kamera nicht zu bemerken. Es gab noch neun andere Bilder, und Jake erkannte kein weiteres. Als Toad den Raum betrat, um sich an den Lügendetektor anschließen zu lassen, ging Jake zur Metro und fuhr nach Hause. Wie sollte er die verdammten Bomben finden und sicherstellen, dass sie nicht explodierten? Über diese Frage dachte Jake Grafton jede freie Minute nach, in der Metro, selbst wenn er abends mit Callie spazieren ging. Sie wusste, dass er einen neuen Auftrag bekommen hatte und besorgt war, aber sie wusste nicht, woran er arbeitete und warum er sich Sorgen machte. Er wollte sich die Beine vertreten, wenn er nach Hause kam, ganz gleich, wie spät es war. »Bist du nicht müde?«, fragte Callie an jenem Abend nach dem Essen, das aus Resten aus dem Kühlschrank bestand. »Ich möchte mich vergewissern, dass Amerika noch da ist.« Wie üblich schlenderten sie über den Bürgersteig, sahen sich Schaufenster an und grüßten Leute, die sie kannten, während sie zum Potomac unterwegs waren. »Es ist ein großartiger Fluss«, hatte Jake einmal gesagt, als er übers braune Wasser blickte. Daran dachte Callie an diesem Abend, während sie neben Jake stand und beobachtete, wie er alles in sich aufnahm. Er dachte an Menschen, als sie weitergingen. Die Frau, die an der Metro-Station von einem Handkarren Kaffee verkaufte, war Filipina. Sie hatte einen amerikanischen Seemann geheiratet, der sie hierher brachte und dann verließ. Sie hatte einen Sohn aufgezogen, war Eigentümerin des Handkarrens und arbeitete jeden Tag, ob es regnete oder die Sonne schien, ver143
kaufte Kaffee und Gebäck. Über Jahre hinweg hatte sie klebrige süße Brötchen verkauft, dann Bagels, als diese in Mode kamen. Jetzt verkaufte sie Doughnuts. Auf dem Weg zur Arbeit kaufte Jake immer einen Kaffee und einen Doughnut. Den Kaffee trank er immer, aber den Doughnut warf er manchmal weg. Trotzdem, er kaufte immer einen, ob er ihn wollte oder nicht. Die Kunstgalerie – nun, sie bot Drucke an und packte alles in einen Rahmen, den man mitbrachte – gehörte einer Schwarzen, deren Vater in Mississippi ermordet worden war, während der Bürgerrechtsmärsche in den sechziger Jahren. Sie nahm Bestellungen entgegen und beriet in Hinsicht auf Farben und Rahmenarten. Vor fünf Jahren war ihr Sohn verurteilt worden, weil er bei einem misslungenen Drogendeal auf jemanden geschossen hatte; er saß noch immer irgendwo im Gefängnis. Die Rahmen schnitt ein Brite zu, der im Golfkrieg einen Fuß verloren hatte. Er war nach Amerika gekommen, um mit einer Frau zusammenzuleben. Die Beziehung war nicht von Dauer, aber er blieb. Das italienische Restaurant in der Nachbarschaft gehörte jemandem aus Hoboken, der sich vor zehn Jahren mit seinem Bruder zerstritten, das Familiengeschäft verlassen und sich hier niedergelassen hatte, um von vorn zu beginnen. Eine seiner Töchter wollte Opernsängerin werden. Gelegentlich sang sie sonntags alte italienische Lieder im Restaurant. Leider machte die Musik das Essen nicht besser. Die meisten Kunden des chinesischen Restaurants nahmen ihr Essen mit, und deshalb gab es dort nur drei Tische. Es war ebenfalls ein Familienbetrieb. Nur der Sohn sprach Englisch; er nahm die Bestellungen entgegen, und seine Eltern kochten. Jake und Callie aßen gern dort. Wenn Jake hereinkam, fragte der Sohn immer, ob er Tsingtao-Bier wollte. Das wollte Jake nie. Wenn er ein Glas Chardonnay bestellte, füllte es der Sohn bis zum Rand. »Für drei Dollar und fünfundsiebzig Cent bekommen Sie ein volles Glas«, sagte er. 144
Ein solches Viertel war es, wie tausende von anderen in Amerika, voller Menschen, die ihr Leben gut lebten, schlecht damit umgingen oder es hoffnungslos ruinierten. »Wir bringen Corrigans verdammte Sensoren in Lieferwagen unter«, murmelte er. »Was hast du gesagt, Schatz?«, fragte Callie. Sie hatte sich bei ihm eingehakt, als sie sich vom Fluss entfernten und am Hang des Hügels emporgingen. »Ich habe nur über all diese Leute nachgedacht«, sagte er. »Ich mag sie.« Er winkte mit der freien Hand. Callie drückte sich kurz an ihn, als sie heimkehrten. Am Nachmittag des folgenden Tages befragten ein FBI-Agent und zwei interne Ermittler der CIA Coke Twilley und Sonny Tran getrennt voneinander in Hinsicht auf die Sache mit Richard Doyle. Sie wollten die Namen aller Personen, die wussten, dass Ilin den vermissten Richard Doyle als russischen Spion bezeichnet hatte. Sie stellten die üblichen Fragen und überprüften die Sicherheitsmaßnahmen des Büros. Sie gingen den Bericht durch, den Tran für Twilleys Unterschrift vorbereitet hatte, fragten nach Entwürfen, zählten die Kopien und tauschten die Festplatte in Trans Computer gegen eine neue aus. Die alte nahmen sie mit. Der ganze Vorgang dauerte sechs Stunden. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass die Russen Doyle nach Russland gebracht oder ihn eliminiert hatten. Wenn er nach Russland geflohen war, würde die CIA schließlich davon erfahren. Wenn man nie wieder etwas von ihm hörte, musste man ihn irgendwann für tot halten. Vielleicht war er vom SVR verraten und umgebracht worden, weil er ausgedient hatte oder weil die Russen bei den Amerikanern Punkte sammeln wollten, ohne dass Doyle erzählte, welche Informationen er im Lauf der Jahre weitergegeben hatte. Oder der SVR hatte Doyle umgelegt, als er davon erfuhr, dass Ilin seinen Namen genannt hatte. Es würde 145
Jahre dauern und zahllose Arbeitsstunden erfordern, ein derartiges Durcheinander zu untersuchen, und wahrscheinlich ergaben sich trotzdem keine schlüssigen Antworten. Coke und Sonny wussten, dass ihre berufliche Laufbahn auf dem Spiel stand, ungeachtet des Ausgangs der Untersuchungen. Deshalb zeigten sie ihren Kollegen gegenüber volle Kooperationsbereitschaft und beantworteten bereitwillig alle Fragen. Sie machten ihrem Ärger erst Luft, als sie alles hinter sich hatten. Als die Ermittler gegangen waren, brummte Twilley: »Der Präsident befördert Grafton, und kurz darauf tauchen Schnüffler bei uns auf. Wer hier keinen Zusammenhang sieht, ist auf beiden Augen blind. Die Schnüffler können Doyle nicht finden, aber sie können es sich leisten, uns nach Herzenslust zu belästigen.« »Wenigstens hat man uns nicht aufgefordert, mit einem Lügendetektor auszusagen«, sagte Tran philosophisch. »Oh, das kommt noch«, knurrte Twilley. »Wenn ihre kleine Untersuchung zu nichts führt, ordnet Grafton bestimmt den Lügendetektor für alle an. Er ist so ein Typ.« »Irgendjemand vom FBI leitet die Jagd nach Doyle.« »Klar«, sagte Twilley bissig. »Mit Grafton im Nacken. Erinnern Sie sich an seine kleine Ansprache in diesem Büro? Ein solches Durcheinander kommt einem Amateur wie ihm gerade recht. Es ist eine gottverdammte Schnepfenjagd! Der Kerl kann jahrelang in der Scheiße wühlen und bekommt die ganze Zeit über Geld, Leute und Aufmerksamkeit von oben, während er nach einer undichten Stelle sucht, die es vielleicht gar nicht gibt.« Tran hing bis zum Feierabend lustlos in seinem Büro herum. Coke Twilley nahm die neueste Ausgabe von Chess Monthly aus dem Eingangskorb und fuhr früh nach Hause. Tran schloss Safe und Aktenschrank ab und schaltete die Alarmanlage des Büros ein, als er ging. 146
Die Olympic Voyager war ein alter, müder, zehntausend Tonnen großer Frachter mit nur einer Crew. Sie transportierte Massengüter – meistens Getreide, Stahl oder Düngemittel – zwischen dem indischen Subkontinent und Europa. Die Gewinnspanne war rasiermesserdünn, und deshalb investierte die Reederei nicht mehr als unbedingt nötig in die Wartung – die Seiten des Schiffes waren so rostig, dass sie aus der Ferne gesehen orangefarben zu sein schienen. Der Kapitän, Pappadopoulus, war Grieche, der Zweite Maat namens Erik »Dutch« Vandervelt Südafrikaner und der Zweite Offizier, Lee, kam aus Singapur. Die Besatzung bestand aus Laskaren. Vandervelt war neu und erst vor einigen Wochen in Marseille an Bord gekommen. Sein Vorgänger musste nach einer Kneipenschlägerei im Krankenhaus behandelt werden. An diesem Abend, während die Olympic Voyager an einem Pier in Karatschi lag, stand Vandervelt auf der einen Seite der Brücke, rauchte und beobachtete, wie ein Kran den letzten Teil der Ladung an Bord brachte. Lee befand sich im Maschinenraum und Kapitän Pappadopoulus in seiner Kabine, wie üblich betrunken. Seit drei Wochen kannte ihn Vandervelt, und während dieser Zeit hatte der Kapitän ständig unter Alkoholeinfluss gestanden. Manchmal war er nur ein wenig beschwipst, bei anderen Gelegenheiten besoffen oder sternhagelvoll – es hing von der Tageszeit und Mondphase ab. Die Schärfe der Zigarre, die Vandervelt rauchte, half dabei, die Luft etwas angenehmer werden zu lassen. Karatschi war eine große, schmutzige Stadt der Dritten Welt, und oft gab es eine widerliche Dunstglocke aus Rauch, Abgasen und dem Gestank von verrottendem Müll. Dass die Abwässer in die schwarze Kloake des Hafens flossen, verbesserte die Situation nicht, zumindest nicht an einem solchen Abend, wenn der Wind vom Land wehte. 147
Dutch Vandervelt sah auf die Uhr. Dreieinhalb Stunden. Wo blieb Zuair? Vandervelt hatte den größten Teil seines Lebens als Erwachsener in der Gesellschaft von groben Männern verbracht, deren Verhalten von Leidenschaft und Sucht bestimmt wurde. Er verstand, was sie motivierte. Aber der Ägypter blieb ihm rätselhaft. Er hielt ihn für einen wahnsinnigen Fanatiker und vielleicht den gefährlichsten Mann, dem er je begegnet war. Andererseits, wenn er an den Amerikaner dachte … Was waren sie doch für ein großartiges Paar, der eine angetrieben vom Zerrbild einer Gottesvision, der andere von Habgier. Wie dumm von ihm, dass er ihnen gestattet hatte, seinen Namen in Erfahrung zu bringen und sein Gesicht zu sehen. Wie dumm, von solchen Männern Geld entgegenzunehmen. Dutch hatte das Geld genommen. Eine Million amerikanische Dollar. Würde er lange genug am Leben bleiben, um sie auszugeben? Dutch Vandervelt schauderte trotz der schwülen Hitze. Als Faruk Al-Zuair den Laster in die Lagerhalle am Ende des Piers lenkte, trat einer seiner Männer zur Tür und schloss sie, noch bevor Zuair den Zündschlüssel drehte. Dreimal klopfte er an die Seite des Lastwagens, öffnete dann die Klappe. Acht Männer stiegen aus. »Ist alles in Ordnung?« »Ich habe Männer auf Gebäuden in allen Richtungen. Es sind keine Fremden oder fremde Fahrzeuge in Sicht.« Zuair inspizierte die vier leeren Container im dunklen, schmutzigen Gebäude. Er benutzte eine Taschenlampe. Unterdessen brachten seine Männer Winden und Transportkarren in Position. Es dauerte zwei Stunden, die vier Sprengköpfe in den Containern unterzubringen – jeweils eine in einem Container – und 148
zu sichern. Das war sehr wichtig: die Sicherung. Als seine Männer fertig waren, überprüfte der Ägypter noch einmal jede Waffe. Zufrieden beobachtete er anschließend, wie die Container mit Plüschtieren gefüllt wurden, jedes von ihnen in Zellophan gehüllt, damit sie sauber blieben, jeweils fünfzig in einem Plastikbeutel. Damit füllten die Männer die Container. Wer die Behälter öffnete, würde nur die Beutel sehen. Eine Stunde später stand Zuair am Bug des Schiffes und beobachtete, wie die vier Container an Bord der Olympic Voyager gebracht wurden. Neben seinen Füßen lag ein Granatwerfer, in eine Decke gehüllt. Der Pier war dunkel; das einzige Licht stammte von den Scheinwerfern des Schiffes. Nacheinander hob der vordere Kran die Container an und hievte sie aufs Hauptdeck, wo jeweils zwei aufeinander gestapelt und festgekettet wurden. Schließlich verschwand das Licht der Scheinwerfer, und nur die Positionslichter des Schiffes blieben eingeschaltet. Ein Mann ging über die Gangway – Zuair wusste, dass es sich um einen Hafenbeamten handelte – und bedeutete den Dockarbeitern, sie zu entfernen. Der Rattenschutz war schon früher abgenommen worden. Nach dem Lösen des letzten Seils setzte sich das Schiff in Bewegung. Aus eigener Kraft entfernte es sich vom Pier, verharrte dann und glitt nach vorn. Der Bug schwang herum, als der Frachter aufs Ruder zu reagieren begann. Nach und nach wurde er schneller, fuhr an den anderen, vor Anker liegenden Schiffen im Hafen vorbei und hielt aufs offene Meer zu. Zuair blickte durch seinen Feldstecher und hielt im Hafen nach Booten Ausschau. Wenn es jemand wirklich auf die Fracht abgesehen hatte, so war der Hafen oder dessen Einfahrt der wahrscheinlichste Ort für einen Überfall. So hätte er selbst es angestellt, wenn eine andere Gruppe im Besitz der Waffen 149
gewesen wäre. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, dass es andere Männer gab, die ebenso intelligent waren wie er, aber kaum jemand konnte es mit seiner Skrupellosigkeit aufnehmen. Die Bereitschaft, alles Notwendige zu tun, ungeachtet der Konsequenzen, machte ihn zum Anführer und zu einem Mann, der Unmögliches leisten konnte. Er hatte es geschafft! Jähe Siegesfreude stieg in ihm empor, als das Schiff Fahrt aufnahm und die Brise von vorn kam. Zuair blickte weiterhin durch den Feldstecher. Einige Fischerboote, ein Tankboot des Hafens, ein pakistanisches Zollboot … Niemand näherte sich dem Frachter; niemand ging auf Abfangkurs. Zuair sah zur Brücke. Dutch Vandervelt stand dort mit dem Steuermann am Ruder. Es befand sich noch jemand auf der Brücke, vermutlich ein Besatzungsmitglied. Jenseits der Wellenbrecher waren mehrere Schiffe auf dem Weg in oder aus dem Hafen. Auch sie machten keine Anstalten, sich der Olympic Voyager zu nähern. Als der Frachter schon eine Stunde unterwegs war und die Lichter von Karatschi sich nur noch vage am Horizont zeigten, ging das Lotsenboot längsseits. Zuair sah hinunter, als es die Strickleiter erreichte. Er kannte den Mann am Ruder, und er war allein. Andere Boote waren nicht in Sicht. Der Ägypter nahm den Granatwerfer, ging zur Strickleiter mittschiffs, fast genau unter der Brücke, und winkte den Männern zu, die ihn an Bord begleitet hatten. Es waren insgesamt drei, alle bewaffnet. Sie kamen zur Reling und kletterten nach unten. Das kleine Lotsenboot schaukelte auf den Wellen, und sein Ein-Zylinder-Dieselmotor tuckerte, pustete stinkende Abgase in die frische Seeluft. Die Bewaffneten traten nach vorn und kauerten sich nieder, um der Buggischt zu entgehen. Faruk Al-Zuair kletterte als Letzter die Strickleiter hinunter. Als er 150
sich an Bord befand, wartete der Mann am Ruder den richtigen Augenblick ab, bevor er Gas gab und das Rad drehte. Das Lotsenboot glitt fort vom rostigen Rumpf des Frachters. Auf der Brücke der Olympic Voyager seufzte Dutch Vandervelt erleichtert und gab das Signal für zwei Drittel Kraft voraus. Er sah zu den vier Containern auf dem Deck, kehrte ihnen dann den Rücken zu und zündete sich eine Zigarre an. Später am Abend, wenn Lee ihn abgelöst hatte, würde er den Funkraum aufsuchen und dem Mann in Amerika mitteilen, dass die Waffen an Bord und unterwegs waren. Vor Monaten hatten sie sich auf einen einfachen, nicht zu knackenden Code geeinigt: zehn unsinnige Worte, eins für jede Möglichkeit, auf einer vorher vereinbarten Frequenz gesendet. In Gedanken ging er die Liste noch einmal durch und wiederholte die Worte lautlos. Es lief alles nach Plan. Wenn das Schiff in Marseille anlegte, würde ein Mann an Bord kommen und Vandervelt, dem Kapitän und der Besatzung den Rest des Geldes zahlen. Der Mann in Kairo, von dem der Auftrag stammte, hatte zunächst die Hälfte im Voraus und die andere Hälfte nach Erledigung des Jobs vorgeschlagen, aber damit war Vandervelt nicht einverstanden gewesen. Das Risiko, betrogen zu werden, war zu groß, und er konnte wohl kaum jemanden verklagen. Er verlangte achtzig Prozent im Voraus. Der Mann in Kairo war aalglatt, ein echter Fanatiker. Er erinnerte Vandervelt an eine Schlange, die er einmal in einem Zoo dabei beobachtet hatte, wie sie eine Maus anstarrte. Sie feilschten eine Zeit lang, und schließlich begnügte sich Vandervelt mit fünfundsiebzig Prozent. Zwei Tage später brachte ihm jemand das Geld, 750000 Dollar in einem billigen harten Koffer von der Art, wie man sie kaum mehr sah. Vandervelt hatte dem Kapitän hundert Riesen gezahlt und hundert weitere unter den Besatzungsmitgliedern verteilt, mit dem Versprechen, dass sie noch mehr bekommen würden. Natürlich beabsichtigte er nicht, ihnen noch mehr Geld zu geben. 151
Er hatte vor, die ausstehende Viertelmillion zu nehmen und so schnell wie möglich unterzutauchen. Lee und der Kapitän wussten nichts davon, aber Vandervelts Seefahrerkarriere endete in Marseille. Bomben schmuggeln. Nun, wenn er nicht einverstanden gewesen wäre, hätte jemand anders den Job erledigt. So war die Welt eben. Faruk Al-Zuair stand auf dem Deck des Lotsenboots und beobachtete, wie die Olympic Voyager immer kleiner wurde. Sie schrumpfte in der Dunkelheit, als das Boot durch die Wellen pflügte und sich den Lichtern von Karatschi näherte. Es dauerte nicht lange, bis der Frachter ganz in der Finsternis der Nacht verschwunden war.
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8 Um Mitternacht kam der Zweite Offizier der Olympic Voyager auf die Brücke und löste Dutch Vandervelt ab. »Wo ist der Alte?«, fragte Vandervelt. »Er war betrunken, als ich ihn eine Stunde vor dem Auslaufen gesehen habe. Ich glaube, er hat sich in seine Kabine zurückgezogen und sie seitdem nicht mehr verlassen. Schläft vermutlich.« Vandervelt nannte Position, Geschwindigkeit und Kurs des Frachters, wies auf die anderen Schiffe, die der Radarschirm zeigte. Er blieb noch ein wenig, während Lee den Horizont mit dem Feldstecher beobachtete. »Das ist meine letzte Reise mit diesem Schiff«, sagte Lee sachlich. »Seit Sie an Bord gekommen sind, haben wir uns um alles gekümmert und waren praktisch immer im Dienst. Pappadopoulus ist die ganze Zeit über betrunken; die Situation wird sich kaum verbessern. Niemand hat eine höhere Heuer in Aussicht gestellt. Und ich garantiere Ihnen: Wenn es ein Problem gibt, verlieren wir unsere Lizenz.« Vandervelt brummte. Lee hatte Recht. Die Reederei hätte Pappadopoulus an Land holen und einen anderen Kapitän anheuern sollen. »Vielleicht zieht sich der Kapitän nach dieser Reise in den Ruhestand zurück. Wir verdienen alle eine Menge Geld.« »Ja«, sagte Lee ohne große Begeisterung. Das Geld schien ihm nicht viel zu bedeuten. Vandervelt verließ die Brücke nachdenklich. Vor der einen Gästekabine an Bord, der so genannten Reederkabine, blieb er stehen und klopfte an. Der Mann, der die Tür öffnete und ihn eintreten ließ, war mittelgroß, dunkelhaarig 153
und etwa Anfang vierzig. Seinen Namen kannte Vandervelt nicht, und er wollte ihn auch nicht wissen. Er stammte aus dem Nahen Osten, ein Syrer oder Palästinenser, vielleicht ein Iraker. Auch über seine Nationalität wollte Vandervelt nicht Bescheid wissen. Als Vandervelt in der Kabine stand und die Tür geschlossen war, fragte der Mann auf Englisch: »Sind sie an Bord?« Es ließ sich kaum ein Akzent vernehmen. Vandervelt vermutete, dass der Mann viele Jahre an einer englischsprachigen Universität verbracht hatte, wahrscheinlich einer britischen. Aber infrage kam auch eine amerikanische. »Ja. Es lief alles glatt.« »Sollen wir die Patienten untersuchen?« Der Wind kam von Backbord, eine steife Brise, die für anderthalb Meter hohe Wellen sorgte. Angesichts des Windes und der Bewegungen der Olympic Voyager mussten sich die beiden Männer auf dem Deck an etwas festhalten. Oben war niemand zu sehen. Natürlich befand sich Lee auf der Brücke, aber er war bezahlt worden. Vandervelt fragte sich, ob Lee jemandem von diesem Abenteuer erzählt hatte. Er öffnete das Vorhängeschloss des ersten Containers und half dem Mann dabei, die Türen aufzustemmen. Die Bombe war auf einer Palette festgebunden. Darunter lag eine Bleiplatte. Bolzen reichten durch die Palette bis zu der Bleiplatte. Der Mann untersuchte den Sprengkopf gründlich im Licht einer Taschenlampe. Als er sich vorbeugte, ließen die schlingernden Bewegungen des Schiffes die Containertür quietschen. »Was glauben Sie?«, fragte Dutch. »Können Sie es schaffen?« Der Mann schaltete die Taschenlampe aus. »Diese Waffe ist nicht für eine so salzige Umgebung gebaut«, kam seine Stimme 154
aus der Dunkelheit. »Bei den Kontakten hat bereits die Korrosion begonnen. Ich schätze, nach fünf oder sechs Wochen könnte sie unzuverlässig werden.« »Was bedeutet das?« »Vielleicht wird sie zu einem Blindgänger.« »Nicht mein Problem«, sagte Vandervelt. »Brauchen Sie Hilfe bei der Arbeit an diesen Dingern?« »Nein.« Dutch reichte ihm die Schlüssel für alle vier Container. »Arbeiten Sie während der Nacht. Sie haben vier Nächte.« »Es kann in zwei erledigt werden.« »Die Crew ist aufgefordert worden, Sie in Ruhe zu lassen. Geben Sie mir Bescheid, wenn jemand Sie beobachtet oder Fragen stellt.« Als Vandervelt gegangen war, trat der Mann zu einem anderen Container und öffnete ihn. Er leuchtete mit der Taschenlampe, wählte einen Werkzeugkasten und trug ihn zur Bombe. Zwei weitere Male holte er benötigte Gegenstände und brachte dann einen provisorischen Schnappriegel an der Containertür an, schlauerweise aus Schmelzfarbglas. Als er sicher sein konnte, dass die Tür geschlossen und das Innere des Containers vor neugierigen Blicken geschützt blieb, schaltete er die batteriebetriebene Lampe ein und packte die Werkzeuge aus. Dutch Vandervelt hatte Recht in Hinsicht auf die Bildung des Mannes – er hatte am MIT Ingenieurwesen studiert –, doch bei der Nationalität lag er falsch. Dr. Hamid Salami Mabruk war Ägypter, ein Kollege von Dr. Ayman Al-Zawahiri, Arzt und seit langem Anführer des ägyptischen Islamischen Dschihad. Sie hatten jahrelang versucht, die weltlich orientierte Regierung von Ägypten zu stürzen, indem sie Minister und Touristen umbrachten. Schließlich waren sie aus dem Land geflohen, als die Regierung erbarmungslos zurückschlug und es unmöglich wur155
de, in Ägypten selbst zu agieren. Die militanten Mitglieder des ägyptischen Dschihad, deren die Behörden habhaft werden konnten, wurden verhört und gefoltert, bis sie alles gesagt hatten, was sie wussten. Anschließend warf man sie ins Gefängnis oder hängte sie heimlich. Als Dr. Zawahiri nach Afghanistan floh und sich Osama Bin Laden anschloss, kehrte Mabruk nach Amerika zurück und besorgte sich eine Dozentenstelle. Derzeit war er krankgeschrieben. Er setzte sich gerade noch rechtzeitig aus Ägypten ab, denn die Behörden kannten seinen Namen – nicht den echten, sondern seinen Namen in der Bewegung – und würden ihn hinrichten, wenn sie ihn schnappten. Er wollte erst dann nach Ägypten zurückkehren, wenn die Bewegung den Sieg errang. Zawahiri und Bin Laden hatten immer wieder deutlich darauf hingewiesen: Bevor jener Tag kam, musste Ägyptens Verbündeter Amerika fallen. Hamid Salami Mabruk wollte seinen Beitrag dazu leisten. Er rückte die Lampe zurecht und begann damit, die Kontakte des Zünders von Korrosion zu reinigen. Jake Grafton hatte wichtige Aufgaben für Tommy Carmellini. Zwar hatte er sie noch nicht erläutert, aber Carmellini ahnte, was auf ihn zukam, als er an der Besprechung des Braintrusts teilnahm: Jake, Toad, Gil Pascal und Repräsentanten der wichtigsten Bundesbehörden. Zuerst wollte der Admiral wissen, wie weit die einzelnen Agencys mit der Jagd nach den Bomben waren. Die National Security Agency, NSA, überwachte die Funk- und Telefonkommunikation im ganzen Nahen Osten und versuchte, Gespräche abzuhören, bei denen es um die Bomben ging, bisher ohne Erfolg. Das FBI ermittelte in Hinsicht auf das Verschwinden von Richard Doyle. Die vom FBI-Sonderagenten Harry Estep vorge156
lesene Negativliste war beeindruckend. Doyle war nicht nach Hause zurückgekehrt, hatte weder seine Frau noch seine Vorgesetzten angerufen. Er hatte keinen Flug gebucht und auch kein Flugticket gekauft. Er hatte keinen Scheck ausgeschrieben, keine Kreditkarte benutzt und sich kein Bargeld an einem Geldautomaten besorgt. Seit dem Abend seines Verschwindens hatte er seinen Pass nicht benutzt. Die Polizei der gesamten westlichen Welt suchte nach ihm. Viermal hatte man ihn angeblich gesehen, aber keine dieser Sichtungen war glaubwürdig. »Könnte er entführt worden sein?« Diese Möglichkeit war nicht so absurd, wie man glauben mochte. KGB und SVR hatten immer wieder Personen entführt, meistens Russen, von denen sie nicht wollten, dass sie mit westlichen Regierungen sprachen. »Wir haben alle Flughäfen an der Ostküste überprüft, ohne eine Spur zu finden. Natürlich könnte man ihn in einem Kleinlaster oder im Kofferraum eines Wagens untergebracht und nach Kanada oder Mexiko gebracht haben. Wie dem auch sei, ich kann mir kaum vorstellen, wie es hätte möglich sein können, ihn auf dem Luftweg unbemerkt außer Landes zu bringen.« Estep wies darauf hin, was das FBI unternahm, um private und Firmenflüge am Abend des Verschwindens von Doyle zu überprüfen. »Er ist wie vom Erdboden verschluckt«, schloss er seinen Vortrag. »Oder darin begraben«, erwiderte Grafton. »Danach sieht’s aus«, räumte Estep ein. »Eine Profi-Aktion.« »Das scheint inzwischen sehr wahrscheinlich zu sein.« Auch die CIA war nicht untätig geblieben. Coke Twilley reichte Jake ein Dossier über General Petrow und den von ihm befehligten Stützpunkt. Jake blätterte darin, während Twilley sprach. Er gewann den Eindruck, dass die Akte hauptsächlich aus Zeitungsartikeln und Fotokopien von Seiten in Nachschla157
gewerken bestand. Allerdings enthielt das Dossier auch einen Geheimdienstbericht über die früheren sowjetischen Republiken und die Länder am Indischen Ozean. »Was ist mit der Schießerei neulich in Karatschi?«, fragte Jake, als er den Bericht überflog. »Was hatte es damit auf sich?« »Rivalisierende Banden, glauben wir«, sagte Coke. »Unsere dortigen Kontaktleute sprechen mit dem pakistanischen Geheimdienst, aber bisher wissen wir nur, dass eine Schießerei stattfand, bei der beide Seiten aus dem sowjetischen Block stammende Waffen einsetzten. Vier Tote, wenn ich mich recht entsinne, und keine Festnahmen.« Das National Imagery System hatte nichts Wichtiges beobachtet. Schließlich kam der Admiral auf die Sache zu sprechen, die Carmellini betraf. »Zelda Hudson und Zipper Vance treffen morgen ein«, sagte er. »Sind alle Vorbereitungen getroffen, Gil?« »Wir sind dabei, Sir. Die neuen Ausweispapiere kommen heute Nachmittag vom Zeugenschutzprogramm. Sarah Houston und Matt Cooper. Carmellini hat für sie unter diesen Namen ein Apartment gemietet. Wenn sie nicht zusammenleben wollen, müssen sie die Sache selbst arrangieren. Ich habe die Sicherheit verständigt. Sie erhalten Dienstmarken und alles andere, wenn sie hierher kommen.« »Gut. Tommy, sie werden direkt unter Ihnen arbeiten. Ich weise sie morgen Nachmittag bei ihrer Ankunft ein, und ich möchte, dass Sie dabei sind.« Er zögerte, und Carmellini sagte automatisch »Ja, Sir«, was ihn überraschte. Er versuchte zu vermeiden, die hohen Tiere mit »Sir« anzusprechen, auf der Grundlage der Theorie, dass es kaum jemand von ihnen verdiente. Jake Grafton hingegen gehörte zweifellos in die Sir-Kategorie. »Na schön«, sagte der Admiral. »Das wär’s. Coke, bitte blei158
ben Sie noch einen Augenblick.« Twilley blieb sitzen, während die anderen den Raum verließen. Als sich die Tür geschlossen hatte und er mit Jake allein war, sagte er: »Ich glaube, Sie gehen da einige verdammt große Risiken ein, Grafton.« »Stimmt«, gab Jake Grafton unumwunden zu und musterte Twilley kühl. »Sind Sie sicher, dass Sie mich in Ihrem Team wollen?« Grafton ließ die Frage einige Sekunden lang in der Luft stehen, bevor er antwortete. »Ich habe nicht um diesen Job gebeten.« »Ich weiß.« »Vor einigen Tagen habe ich noch für Sie gearbeitet. Jetzt sind die Rollen vertauscht. Ist Ihnen das unangenehm?« Twilley zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ein bisschen.« Graftons Lippen bildeten eine dünne Linie, und in seinen grauen Augen zeigte sich keine Wärme, als er Twilley ansah. »Sie sind ein Profi. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie die Arbeit eines Profis leisten. Dies ist unser Land. Wenn Sie sich überfordert sehen, so weisen Sie mich bitte daraufhin. Dann bitte ich DeGarmo, Sie zu ersetzen.« So etwas hätte in Twilleys Personalakte nicht gut ausgesehen, und das wussten sie beide. Twilley machte einen Rückzieher. »Das ist nicht nötig. Es sei denn, Sie wollen jemand anders.« Grafton sammelte seine Unterlagen ein. »Aber auf eines möchte ich hinweisen. Ich finde es erniedrigend, dass Sonny Tran und ich uns unter Einsatz des Lügendetektors befragen lassen sollen.« Grafton sah wieder auf. »Alle, die von Doyle wussten, bringen eine Detektorbefragung hinter sich, das gilt auch für mich. Ich habe sie bereits hinter mir.« Twilley hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Reine 159
Zeitverschwendung.« »Vielleicht.« Grafton stand auf. »Bitte schicken Sie Tran zur Corrigan Engineering in Boston; er soll sich die neuen Strahlungssensoren ansehen. Ich möchte einen Bericht darüber, was sie leisten können, wann wir sie bekommen, wie groß sie sind, wie viel Strom sie verbrauchen und wo sie sich einsetzen lassen, der ganze Kram. Er soll sich auf den Weg machen, sobald die Detektorleute mit ihm fertig sind. Toad Tarkington und ein Mann von der Küstenwache begleiten ihn.« »Warum Tran?« »Mann, ich habe nicht so viele Leute.« »Wie wäre es, einen der neuen Corrigan-Sensoren in Übersee einzusetzen?«, fragte Twilley. »Terroristen könnten hoffen, mit einem Angriff auf eine dieser Städte einen wichtigen Verbündeten Amerikas zu treffen und die Vereinigten Staaten diplomatisch zu isolieren.« »Solche Entscheidungen treffen die Typen ganz oben.« »London und Paris wären ein guter Anfang.« »Ja, stimmt«, bestätigte Jake. »Aber zunächst einmal müssen wir uns die Sensoren beschaffen. Schicken Sie Tran nach Boston.« »Sonny Tran, Boston«, sagte Coke Twilley und stand ebenfalls auf. Nachdem Twilley gegangen war, begegnete Jake im Flur Carmellini, der auf ihn gewartet hatte. »Hätten Sie einige Minuten Zeit für mich, Admiral?« Jake sah auf die Uhr und kehrte ins Besprechungszimmer zurück. Carmellini nahm dort einen Stuhl von ihm entfernt Platz. »Was haben Sie auf dem Herzen?« Carmellini kratzte sich an der Wange. »Dies ist mir ein wenig peinlich. Wenn ich die Wahrheit sage, bringe ich Sie in eine schwierige Lage, aber ich glaube, dass ich Ihnen die Wahrheit 160
schulde.« »Na schön«, sagte Jake und musterte Carmellini, der sich vom Blick seiner grauen Augen durchbohrt fühlte. »Letzte Woche hat jemand mein Apartment verwanzt. Die Wanzen sind noch immer da. Ich glaube, zwei Burschen von der CIA stecken dahinter, Archie Foster und Norv Lalouette. Es war mir zunächst ein Rätsel, warum jemand Abhörvorrichtungen in meiner Wohnung verstecken wollte, doch dann bat mich Archie in sein Büro. Norv war auch da. Sie zeigten mir Videoaufnahmen, die vor einigen Jahren von einem Touristen auf dem Campus der Universität von Colorado in Boulder angefertigt worden waren, an dem Tag, als jemand Professor Olaf Svenson umbrachte.« Jake runzelte die Stirn. »Svenson? Der Mikrobiologe, von dem man glaubte, dass er eine Poliovirus-Waffe für Castro entwickelte?« »Ja. Das FBI konnte nicht genug Beweise finden, um Anklage gegen ihn zu erheben.« »Ich erinnere mich.« Carmellini hob und senkte die Schultern. »Auf den Videoaufnahmen sah man, wie ich über den Campus ging.« »Verstehe.« Tommy Carmellinis Mund war plötzlich sehr trocken. Er schluckte mehrmals, griff nach der Karaffe mit Wasser mitten auf dem Tisch, schenkte sich ein Glas ein und trank. »Ich habe Arch und Norv gesagt, dass sie nichts gegen mich in der Hand haben. Das wussten sie natürlich. Sie wollen etwas von mir.« »Können sie weiteres Beweismaterial finden?« »Ich glaube nicht. Andererseits: Die Existenz des Videobands ist natürlich eine große Überraschung, und deshalb …« Er zuckte erneut mit den Schultern. »Vielleicht sollte die Antwort 161
lauten: Ich weiß es nicht.« »Wenn sie wirklich etwas von Ihnen wollen, kommen sie vielleicht auf den Gedanken, Beweismaterial zu fabrizieren.« »Die Möglichkeit besteht. Deshalb habe ich dieses Gespräch für nötig gehalten.« »Worauf haben sie es Ihrer Meinung nach abgesehen?« »Das weiß ich beim besten Willen nicht.« »Was soll ich unternehmen?« Carmellini schenkte sich erneut Wasser ein und nippte am Glas. »Ich wollte nur, dass Sie darüber Bescheid wissen, was los ist. Ich habe keine blasse Ahnung, was die beiden Clowns im Schilde führen, aber was auch immer es sein mag: Es dürfte eine üble Sache sein. Wenn sie die Katze aus dem Sack lassen, möchte ich Sie auf meiner Seite wissen.« Der Schatten eines Lächelns huschte über Graftons Lippen. »Das weiß ich zu schätzen.« »Das wär’s«, sagte Carmellini und stand auf. »Das ist meine kleine Geschichte. Wenn Sie mich nicht mehr in Ihrem Team wollen, so verstehe ich das.« Der Admiral nickte langsam und sah auf seine Hände. Dann hob er den Blick. »Viele Leute sind auf Kuba gestorben.« »Ja.« »Einer von ihnen war ein Kollege von Ihnen, soweit ich weiß. Jemand namens Chance.« »William Henry Chance«, sagte Carmellini. »Ein echt guter Mann.« »Die sind heutzutage schwer zu finden.« Jake erhob sich und nahm seine Papiere. Als er zusammen mit Tommy zur Tür ging, sagte er: »Halten Sie mich auf dem Laufenden.« »Ja, Sir«, erwiderte Carmellini. Das »Sir« rutschte ihm nur so heraus. 162
Zelda Hudson und Zip Vance trafen am Donnerstagnachmittag ein. Die Bundes-Marshals hatten ein Papier, das sie unterschrieben wissen wollten, eine Quittung für zwei Häftlinge. Toad Tarkington las es und wollte gerade seinen Friedrich Wilhelm auf die gepunktete Linie setzen, als Grafton neben ihm erschien. »Nein«, sagte er. »Ich unterschreibe. Wenn Sie Mist bauen, ist es mein Hals, nicht Ihrer.« Der Marshal betrachtete Jakes Unterschrift und sagte: »Sie gehören Ihnen.« Seine Kollegin nahm Hudson die Handschellen ab, während er Zip Vance davon befreite. »Bis dann«, sagte der Marshal zu Vance und folgte seiner Kollegin durch die Tür nach draußen. Jake musterte die beiden Neuankömmlinge. Sie trugen zivile Kleidung, die den Eindruck erweckte, als hätten sie darin geschlafen. »In mein Büro«, sagte er und ging voraus. »Carmellini!«, rief er und forderte ihn mit einem Wink auf, ihm zu folgen. Als die Tür geschlossen war und seine drei Gäste saßen, sagte Jake: »Eine Anweisung des Präsidenten der Vereinigten Staaten war nötig, um Sie aus dem Gefängnis zu holen, aber mit einem Anruf kann ich Sie wieder in den Knast schicken.« »Ich kann es gar nicht abwarten, dem Präsidenten zu danken«, sagte Zelda. Ihr Haar war grässlich, aber in zivilen Sachen sah sie mehr wie früher aus, fand Carmellini. Zipper Vance schien noch immer überwältigt zu sein, blickte starr auf eine Ecke von Jakes Schreibtisch und kaute auf der Unterlippe. »Miss Hudson«, sagte Jake Grafton, »über sechshundert Personen starben infolge Ihrer Verbrechen, die Sie offenbar aus Geldgier verübten. Etwa zweihundert dieser Personen waren amerikanische Soldaten und Soldatinnen. Ich weiß, dass Sie beide niemanden persönlich umgebracht haben, aber jene Menschen wären noch am Leben, wenn Sie das Gesetz geachtet hätten.« 163
Carmellini stellte fest, dass die Narbe an Jakes Schläfe zu einem hässlichen roten Fleck geworden war. Die Stimme des Admirals bekam eine besondere Schärfe. »Aus reiner Notwendigkeit habe ich alles in Bewegung gesetzt, um Sie aus dem Gefängnis zu holen. Das amerikanische Volk braucht Ihre besonderen Fähigkeiten. Glauben Sie nicht eine Minute lang, ich hätte vergessen, was Sie getan und welche Schuld Sie auf sich geladen haben. Das werde ich nie vergessen. Die Familien der Toten werden es nie vergessen. Nun, die Wechselfälle des Krieges geben Ihnen die Chance zur Buße. Vielleicht glauben Sie nicht an Buße, aber ich schon. Wenn Sie außerhalb des Gefängnisses bleiben möchten, werden Sie Mr. Carmellini gehorchen, sich in die Arbeit stürzen und Ihr Bestes geben. Dies könnte der erste Tag Ihres neuen Lebens sein – es hängt ganz von Ihnen ab. Ich will Ihnen nicht drohen, aber eines verspreche ich: Wenn Sie sich keine Mühe geben, gegen die Sicherheitsvorschriften verstoßen oder versuchen, sich aus dem Staub zu machen, so wird es mir eine Freude sein, die Tür aufzuhalten, wenn die Bundes-Marshals Sie in Ihre Zellen werfen.« Graftons Finger malte einen kleinen Kreis auf den Schreibtisch, als er mit einer Stimme fortfuhr, die Carmellini nie zuvor gehört hatte: »Wenn Sie das Vertrauen missbrauchen, das ich in Sie setze, und wenn deshalb Menschen sterben, so kehren Sie nicht ins Gefängnis zurück – dann schicke ich Sie zur Hölle. Haben Sie verstanden?« Zip Vance wich Jakes Blick aus. Zelda befeuchtete sich die Lippen, schluckte und nickte dann. Die Schärfe wich aus Jakes Stimme. »Von heute an stehen Sie als GS-5 zur Probe auf der Gehaltsliste des Bundes. Ihr Vorgesetzter ist Mr. Carmellini. Sie führen alle seine Anweisungen aus. Er wird Ihnen eine detaillierte Einweisung und die Dokumente geben, die Ihre neue Identität belegen. Außerdem zeigt er 164
Ihnen Ihren Arbeitsplatz in der SCIF. Das ist alles.« Draußen im Flur löste Carmellini seine Krawatte und öffnete den obersten Knopf des Hemds. Er schürzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff. »Glauben Sie, das würde er wirklich machen?«, fragte Zip leise. »Was er gesagt hat?« Tommy Carmellini sah ihn an und entschied, dass er keine Antwort verdiente. Er führte Zelda und Zip zur Sicherheitsabteilung. Papierkram, Fotos und Fingerabdrücke nahmen eine Stunde in Anspruch. Als sie mit ihren neuen Dienstmarken ausgestattet waren, geleitete Carmellini sie zu einem Ad-hocComputerzentrum in der SCIF. Dort beobachtete er, wie Hudson und Vance die Geräte inspizierten. Sie sprachen kaum miteinander, stellte er fest. Vielleicht warteten sie darauf, allein zu sein. »Es geht um Folgendes«, sagte Carmellini, nachdem sie Platz genommen hatten. Er saß Zelda und Zip gegenüber. »Der Admiral möchte, dass Sie beide das beste Überwachungssystem der Welt zusammenbasteln. Er möchte Zugang zu jeder Datenbank in der westlichen Welt und zu den Videokameras aller Hotels, Geschäfte, Flughäfen und Straßenkreuzungen im Land. Wir wollen imstande sein, Flugreservierungen, Fahrerlaubnisse, Pässe, Kreditkartenausgaben, Hotelreservierungen, Mietwagenbelege, Quittungen für gemietete Videospiele und alles andere zu überprüfen. Ich meine wirklich alles, im ganzen Land. Können Sie das schaffen?« »Lieber Himmel!«, brummte Zip. »Haben Sie uns aus dem Gefängnis geholt, damit wir fünfzig neue Verbrechen begehen? Das ist doch unglaublich!« »Ich frage deshalb, weil die Washingtoner Polizei versucht, ein derartiges System zu installieren – nun, vielleicht ist es nicht ganz so ehrgeizig. Es wird ein Heidengeld kosten, und bis die Software so weit ist, vergehen noch Jahre.« 165
»Danke, Carmellini, Sie Arschloch«, zischte Zelda. »Genau das haben wir gebraucht: weitere fünfzig Verbrechen! Man wird uns auf der Treppe des Kapitols kreuzigen.« »Bis die Ankläger Sie erwischen, geht den Zeitungen die Druckerschwärze aus«, sagte Carmellini. »Der Präsident und Jake Grafton kommen als Erste an die Reihe.« »Warum die Eile?«, fragte Zip Vance. »Ich weiß, dass Sie im Gefängnis gewesen sind, aber haben Sie nichts vom elften September gehört?« »Und?« »Es gibt viele böse Jungs dort draußen in den Lehmhütten.« Vance wurde nachdenklich, und selbst Zelda wirkte weniger aufsässig. Sie strich mit dem Finger über eine der Tastaturen, und nach einer Weile sagte sie: »Wir brauchen eine Kabelverbindung mit einigen der Datenbanken, auf die wir zugreifen sollen, mit oder ohne Erlaubnis. Andere lassen sich online erreichen. Können Sie oder Grafton in dieser Hinsicht etwas unternehmen?« »Auf kleine Probleme dieser Art bin ich spezialisiert«, sagte Carmellini. »Einbrüche sind mein Leben.« »Ah, ein Kollege.« »He, Lady, lassen wir die persönlichen Bemerkungen. Ich bin nur ein Diener des Staates, der seine Arbeit erledigt.« »Und Sie dienen dem Staat, indem Sie einbrechen. Nicht übel.« »Und wenn schon. Ich nehme Anweisungen entgegen und führe sie aus. Ich bin kein Ritter in glänzender Rüstung, aber ich garantiere Ihnen, dass Jake Grafton wirklich einer der guten Jungs ist.« Zelda atmete tief durch und kratzte sich am Kopf. »Wir brauchen Bandbreite, jede Menge. Ich rede hier von Glasfaser, nicht von Kupfer.« »Das sollte sich machen lassen. Wir sind hier am zweitbesten 166
verkabelten Ort auf dem ganzen Planeten. Der beste ist die NSA, die Nation Security Agency.« Tommy reichte Zelda einen Block. »Schreiben Sie auf, was Sie brauchen, Hardware und Software.« »Du willst dich doch wohl nicht darauf einlassen, oder?«, wandte sich Vance an Zelda. »Möchtest du in den Knast zurück?«, fragte sie. »Nein, verdammt. Das möchte ich nicht. Genau das ist der Punkt. Ich möchte etwas Legales und Anständiges tun. Ich möchte mir einen Strafnachlass verdienen. Grafton will uns keinen ehrlichen Job geben, und deshalb kann er mir den Buckel runterrutschen. Wir beide stecken bereits tief genug in der Scheiße!« Tommy Carmellini stand auf und flitzte zur Tür. Im Flur blieb er kurz stehen und lauschte. »Du bist computersüchtig!«, schrie Vance Zelda an. »Du bist von diesem ganzen Cyberkram abhängig. Was ist mit uns? Mit uns beiden? Hast du die Briefe vergessen, die ich von dir bekommen habe?« »Entweder dies oder das Gefängnis«, erwiderte Zelda kühl. »Glaubst du vielleicht, Grafton macht dich zu seinem Pressesprecher?« Carmellini entschied, dass die Zeit für einen Abstecher zur Toilette gekommen war. Als er zurückkehrte, war alles still. Er öffnete die Tür und sah, dass Hudson und Vance am Tisch sahen und sich stumm anstarrten. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. »Wie lautet das Urteil?«, fragte er munter. »Wir machen es«, sagte Zelda. »Was ist mit der Software? Wir können nicht jahrelang darauf warten. Das System sollte praktisch gestern einsatzbereit sein.« »Multiple Oracle-Datenbanken mit stark modifizierter Standardsoftware für das Data-Mining, damit müsste es sich eigent167
lich bewerkstelligen lassen.« Carmellini setzte sich auf den Tisch. »Von dieser Technik habe ich keinen blassen Schimmer, aber gelegentlich muss ich Admiral Grafton Dinge erklären. Wie wollen Sie vorgehen?« Zelda sah ihn an. »Was wissen Sie über Netzwerke?« »Sehr wenig.« »Netzwerke sind in modernen Nationen allgegenwärtig: private Netzwerke, das Internet, drahtlose … Selbst Starbucks benutzt WiFi – ›wireless fidelity‹ –, um ein drahtloses Netzwerk für Filialleiter in urbanen Bereichen zu schaffen. WiFiNetzwerke gibt es bei Universitäten, in Unternehmen, Anwaltskanzleien, Banken, im Senat und Repräsentantenhaus. Die meisten sind nicht verschlüsselt; man bekommt leicht Zugang und kann dann alles im Netzwerk sehen.« »Verstehe«, sagte Carmellini und nickte. »Die kommerziellen Netzwerke, die Sie erwähnt haben, Kreditkarten-Datenbanken, Banken, Telefon, medizinische Aufzeichnungen – die entsprechenden Informationen können genutzt werden. Es geschieht die ganze Zeit über. Die Öffentlichkeit erfährt davon nichts, weil die betreffenden Firmen keine schlechte Publicity wollen. Es schadet ihren Geschäften und Aktienkursen, wenn die Leute herausfinden, wie dumm sie sind. Ihre Sicherheitsmaßnahmen reichen aus, um die so genannten Script-Kiddies abzuwehren – Teenager, die Angriffsskripte von Hacker-Sites im Web verwenden. Aber jedes kommerzielle Netzwerk hat Löcher. Wir haben vor, uns still und heimlich Zugang zu verschaffen und dabei gewissermaßen unter dem gegnerischen Radar zu bleiben.« »Wie wollen Sie das anstellen?« »Bei allen Netzwerken gibt es Sicherheitspatches, deren Installation vergessen wurde. Oder frühere Anwender haben dumme Kennwörter hinterlassen, die niemand gelöscht hat. Oder sie haben Geräte mit dem Netzwerk verbunden, deren Standard168
kennwörter nie geändert worden sind. An diesen Stellen setzen wir an, weil es so einfach ist. Sobald wir als autorisierte User im Netz sind, können wir auf alle Daten zugreifen.« Carmellini lächelte. »Ich wusste, dass ihr beiden die Richtigen für diesen Job seid.« »Hören Sie auf mit dem Blödsinn«, sagte Zelda. »Ich bin nicht in der richtigen Stimmung.« »Kümmern wir uns um die Liste«, sagte Tommy und reichte ihr einen Kugelschreiber. »Zip und ich sind Hacker«, erklärte Zelda. »Wir brauchen ein kleines Team von Spezialisten, die ein Datenzentrum mit jeder Menge Power für die Datenverarbeitung einrichten können. Und wir brauchen ein Team, das die Software für das DataMining schreibt. Ohne solche Programme suchen wir nach Nadeln auf einer dreitausend Morgen großen Wiese.« Carmellini machte sich Notizen. »Und wir brauchen Top-Hardware. Die NSA verwendet hunderte RISC-Maschinen von Sun und IBM für die Datenverarbeitung.« »Wir besorgen Ihnen Leute und Ausrüstung«, versprach Carmellini. »Sie leiten alles. Grafton will, dass Sie Resultate erzielen.« Bevor Hudson und Vance das Gebäude verließen, ging Carmellini zu Jake Grafton und zeigte ihm die Liste. »Ich wette, manche Agency der Regierung hat nichts von dem, was auf dieser Liste steht«, sagte der Admiral. »Machen Sie sich morgen an die Arbeit. Nehmen Sie die Hilfe des Weißen Hauses in Anspruch. Montag soll alles hier sein. Sie haben das ganze Wochenende Zeit.« »Ja, Sir. Zelda möchte auch Karten der Netzwerkgesellschaften, um festzustellen, wo sie permanente Kabelverbindungen braucht.« 169
»Wie will sie die bekommen?« »Durch Diebstahl.« Jake nickte nur. »Was glauben Sie? Können Zelda und Zip es schaffen?« »Sie haben echt was drauf.« »Halten Sie mich auf dem Laufenden. Sie sollen die Arbeit vorantreiben. Zelda und Zip sind die schlauesten Computerfreaks, die ich kenne, und sie wissen, wie man den Weg abkürzen kann, um ein Ziel zu erreichen. Wir brauchen sie dringend, aber darauf sollten Sie besser nicht hinweisen.« »Wenn sie das noch nicht herausgefunden haben, dürfte es ihnen bald klar werden.« »Bringen Sie sie zu ihrem neuen Apartment?« »Ja, Sir.« »Holen Sie Zelda und Zip morgen früh ab und fahren Sie sie hierher. An diesem Wochenende muss alles in Schwung kommen.« Tommy Carmellini brachte Zelda Hudson alias Sarah Houston und Zip Vance alias Matt Cooper zu einer kleinen Wohnung in einem großen Komplex. Sie saßen stumm im Wagen, sahen sich alles an und sprachen kein Wort. Auf dem Parkplatz hielt Carmellini an und deutete zum Eingang. »Zwölf einundvierzig, das ist Ihr Apartment. Der Lift ist dort drüben. Ein Koffer mit Kleidung in Ihrer Größe und den üblichen Toilettenartikeln befindet sich oben. Morgen früh um sieben hole ich Sie hier ab.« Er gab ihnen beiden einen Wohnungsschlüssel. Als er Zelda ihren reichte, fügte er hinzu: »Sie haben in dreißig Minuten einen Friseurtermin; der Salon im Erdgeschoss erwartet Sie. Lassen Sie sich die Haare schneiden und färben. Blond, so wie auf dem Führerscheinfoto.« Das Foto war mithilfe eines Computers verändert worden. Carmellini öffnete seine Brieftasche und entnahm ihr drei 170
Banknoten, zwei Zwanziger und einen Zehner. Er gab sie Zip. »Besorgen Sie sich etwas zu essen.« »Ist das Ihr Geld, oder stammt es von der Agency?« »Es ist meins.« »Dann herzlichen Dank.« Carmellini schnaubte und legte den Gang ein. Zelda und Zip standen nebeneinander und blickten am Apartmenthaus empor, als Carmellini wegfuhr. Die Wohnung war klein: eine winzige Küche, ein Wohnzimmer, ein kleines Schlafzimmer und ein Bad. Die Möbel schienen aus der Konkursmasse eines Motels zu stammen. Die Bettlaken, Decken, Kissen und Küchengeräte kamen von WalMart. Während Zelda durchs Apartment ging und sich alles ansah, sank Zip auf die Couch und zog die Schuhe aus. »Ich wünschte, wir wären wieder in Newark«, sagte Zelda, blieb am Wohnzimmerfenster stehen und sah nach draußen zum Freeway. Vance atmete tief durch, streckte sich und betrachtete seine Zehen. Schließlich blickte er zu Zelda. »Dies ist unsere Chance. Wir können es schaffen.« Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. »Ich möchte nicht den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen«, sagte Vance. »Dies ist nicht viel besser.« »Du bewertest das Leben von Menschen nach der Menge des Geldes, das sie besitzen. Lernst du es denn nie besser?« Zelda drehte sich zu ihm um. »Ich bin in einer solchen Bude aufgewachsen. Ich habe es nur meinem Grips zu verdanken, dass ich einen Weg hinaus fand.« »Wenn dir kein Licht aufgeht, kommst du nie hinaus, Mädchen.« 171
»Das musst du gerade sagen«, erwiderte Zelda. »Du sitzt mit mir hier drin.« Vance griff nach seinen Schuhen. »Ja. Ich habe mich in eine unvernünftige Frau verliebt und war nicht klug genug, sie rechtzeitig zu verlassen. Ich bin so dumm gewesen, alles mitzumachen. Übrigens: Nach meiner Zählung kamen durch die Entführung des U-Boots sechshundertzweiunddreißig Personen ums Leben.« Er sah auf seine Hände hinab und schnitt eine Grimasse. Zip zog die Schuhe an und stand auf. »Grafton sprach von Buße. Für sechshundertzweiunddreißig Menschen ist verdammt viel Buße nötig. Vielleicht fühle ich mich immer wie ein Scheißkerl, aber ich kehre nicht in den Knast zurück, nicht für dich oder sonst jemanden. Lieber wäre ich tot, ehrlich gesagt.« Er ging zur Tür. »Ich habe eine Pizzeria gesehen, als wir den Parkplatz erreichten. Ich hole uns eine große Pizza. Vergiss nicht deinen Friseurtermin.« Er trat in den Flur und schloss die Tür hinter sich. Zelda sah wieder aus dem Fenster und beobachtete den Verkehr auf dem Freeway. All die Autos, all die Menschen, jeder einzelne von ihnen irgendwohin unterwegs … Und sie saß hier fest. Jake Grafton kam um halb zehn abends nach Hause. Amy war noch in der Bibliothek und arbeitete dort. Callie las ein Buch. »Lass uns spazieren gehen«, sagte er nach einem Begrüßungskuss. Callie sah auf die Uhr. »Ich habe mich den ganzen Tag darauf gefreut«, fügte er hinzu. Sie legte das Buch beiseite und zog Schuhe an. Als sie draußen über den Bürgersteig gingen, sagte Jake: »Ich ziehe mich in den Ruhestand zurück, wenn dies vorbei ist.« 172
»Weil der Präsident darauf hinwies, dass die hohen Tiere eine weitere Beförderung für unwahrscheinlich halten? Das ist doch nicht der Grund, oder?« »Vor einigen Wochen hat eine Terroristengruppe namens Schwert des Islam vier nukleare Waffen – Raketensprengköpfe – von einem russischen General gekauft. Ich soll die verdammten Dinger finden.« Callie drückte Jakes Hand. »Kannst du das?« »Die Möglichkeit besteht. Aber dazu muss ich die meisten Persönlichkeitsrechte verletzen, die es in diesem Land gibt. Ob ich die Waffen rechtzeitig finde oder nicht: Sobald diese Sache bekannt wird – und das wird sie –, bin ich erledigt. Wenn ich die Sprengköpfe gefunden habe, bleibt mir vermutlich das Gefängnis erspart. Aber wie man es auch dreht und wendet, meine Karriere als Marineoffizier ist damit beendet.« »Belastet dich das sehr?« »Ich schätze, es wird allmählich Zeit. Atomwaffen, Terroristen, Spione, Verräter – lieber Himmel, Callie, ich bin nur ein Bauernjunge aus dem Südwesten Virginias, der für Uncle Sam Flugzeuge fliegen wollte. Und das habe ich. Jetzt stecke ich bis über den Kopf in kochend heißem Wasser, und das gefällt mir ganz und gar nicht.« Sie gingen schweigend, Hand in Hand. Nach einer Weile fragte Callie: »Dies hat mit Ilin angefangen, nicht wahr?« »Er hat mir von den Sprengköpfen erzählt. Der Bericht ging bis nach ganz oben. Der Präsident beauftragte mich, die verdammten Dinger zu finden.« »Warum du?« »Das habe ich mich ebenfalls gefragt. Vermutlich glaubte er, dass bei FBI und CIA irgendetwas faul ist. Auch ich habe solche Ahnungen. Konkrete Anhaltspunkte gibt es nicht, aber ich bekomme immer wieder das Gefühl, dass sich die Leute in den 173
beiden Läden nicht trauen. Nun, vielleicht irre ich mich, vielleicht ist es etwas anderes. Wie dem auch sei: Dem Präsidenten scheint es in dieser Beziehung ebenso zu gehen wie mir.« Sie betraten ein kleines Lokal, nahmen an einem Ecktisch Platz und tranken Irish Coffee. »Terrorismus, Massenmord …«, sagte Callie. »Wie konnte es dazu kommen, Jake?« »Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer Bevölkerungsexplosion in starren, unveränderlichen Gesellschaften«, erwiderte er schwermütig. »Sie müssten sich ändern, um all die Menschen zu ernähren, aber dazu sind sie nicht imstande. Oder sie wollen es nicht. Also wächst der Druck, bis etwas platzt. Etwa eine Milliarde Menschen leben in den islamischen Ländern mit weniger als einem Dollar pro Tag. Afrika ist ein ganzer Kontinent voller solcher Leute. Die moderne Medizin hat die Geburtenrate in die Höhe schnellen lassen, aber die Menschen bleiben unwissend und ungebildet, ohne das Vertrauen zueinander, das höher entwickelte Nationen zusammenält. Die europäischen Könige, die Auseinandersetzungen mit dem Parlament, die Kriege und Schlachten um König und Vaterland – so sind Nationen entstanden. In der Dritten Welt ist so etwas nie passiert. Wir nennen sie Nationen, aber es sind keine.« »Es kommt nicht zum ersten Mal zu einer Bevölkerungsexplosion«, sagte Callie nachdenklich. »Das stimmt. Kriege und Krankheiten haben die Menschheit heimgesucht, bis die Bevölkerungsdichte auf ein bestimmtes Niveau sank. Heuschreckenschwärme, Epidemien wie die Pest, AIDS, die Napoleonischen Kriege, Jahrhunderte des Haders in China, als die Dynastien fielen … All das reduzierte die Bevölkerung auf ein Niveau, das es ermöglichte, alle Menschen mit der zur Verfügung stehenden Technologie zu ernähren.« »Terrorismus und Massenmord? Sind das die modernen Plagen?« Jake Grafton strich sich mit den Fingern durchs Haar und sah 174
seiner Frau in die Augen. »Während des Mittelalters wurden unwissende und ungebildete Menschen manipuliert, indem man an die intoleranten und fanatischen Neigungen appellierte, die es in jeder Religion gibt. Die Kreuzzüge, die päpstlichen Häresie-Verfolgungen, die Inquisition, die Auseinandersetzung zwischen Katholizismus und Protestantismus … All jene Gräueltaten wurden im Namen Gottes verübt. Das Ergebnis war die Entstehung der weltlichen Staaten, die zu Nationen heranwuchsen. Die Muslime hielten nicht damit Schritt – sie sitzen noch immer im Mittelalter fest. Der Islam lehrt, dass ein Mensch so leben sollte, dass er sich Gottes Gnade verdient – er ist nicht besser oder schlechter als andere Religionen. Aber die islamischen Fanatiker exportieren die Schrecken des Mittelalters in eine Welt, die sich über Jahrhundert weiterentwickelt hat. Vielleicht ist dieser Krieg zwischen Religion und weltlicher Gesellschaft ein Stadium, das jede Zivilisation hinter sich bringen muss. Vielleicht können die Menschen nur dadurch jene Toleranz lernen, die das Fundament aller komplexen Gesellschaften bildet, in der neue Möglichkeiten und neue Visionen reifen.« »Die Zukunft ist nicht unvermeidlich, Jake. Sie ist noch nicht geschrieben.« »Ich weiß. Das sage ich mir einmal pro Stunde.« Jake saß auf dem kleinen Balkon und genehmigte sich einen Drink, als Amy einige Minuten vor elf nach Hause kam. Sie holte sich eine Coke aus dem Kühlschrank und leistete ihrem Vater auf dem Balkon Gesellschaft. »Was machst du?«, fragte sie. »Ich beobachte den Polarstern«, sagte Jake und deutete nach oben. »In den meisten Nächten kann man ihn nicht sehen, weil die Lichter der Stadt zu hell sind, aber heute Nacht ist die Luft sehr klar.« »Woher weißt du, dass es der Polarstern ist?« 175
»Such den Großen Wagen. Siehst du ihn? Die beiden Sterne am Ende des Wagens zeigen zum Polarstern. Wenn wir hier am Nordpol der Erde wären, sähen wir ihn direkt über uns und der Nachthimmel würde den Eindruck erwecken, um ihn herum zu rotieren.« »Das wusste ich nicht.« »Er ist ein alter Freund«, sagte Jake. »Unsere Bekanntschaft geht auf die Zeit zurück, als ich die A-6 in Vietnam geflogen habe.« Jake sprach nur selten von seinen Kriegserlebnissen, und Amy nutzte die Gelegenheit, um zu fragen: »Wie war es, über den Golf von Tongking zu fliegen, den Polarstern zu sehen und zu wissen, dass in einigen Minuten der Feind versuchen würde, dich zu töten?« Jake dachte über die Antwort nach. »Winston Churchill sagte einmal, die ergreifendste Erfahrung im Leben wäre, wenn jemand auf einen schießt und das Ziel verfehlt. Er hatte Recht. Wir flogen immer tief, um dem gegnerischen Radar zu entgehen, und deshalb begannen sie oben im Norden wie wild zu schießen, wenn sie unsere Triebwerke hörten. Flakstreifen, Mündungsfeuer … ein Hagel aus Geschossen …« Er brach ab und erinnerte sich. »Eines Nachts sollten wir ein Ziel südwestlich von Hanoi angreifen, ziemlich tief im Landesinnern. Es gab niedrige Schichtwolken, und für gewöhnlich bestand unsere Taktik darin, unter den Wolken mit mehr als neunhundert Sachen zu fliegen, in einer Höhe von hundertzwanzig bis hundertfünfzig Metern. In jener Nacht hatte ich so ein Gefühl …« Jake hob und senkte die Schultern. Amy beobachtete sein Gesicht; die Lichter der Stadt reichten aus, dass sie es erkennen konnte. »Nun, ich beschloss, die normale Routine zu ändern. Wir flo176
gen in einer Höhe von dreitausend Metern, etwa anderthalb Kilometer über den Wolken. Meine Güte, ich hatte nie zuvor so schweres Flakfeuer gesehen. Mündungsfeuer, Leuchtspurgeschosse und Explosionen pulsierten in den Wolken unter uns, und es sah nach kontinuierlichem Wetterleuchten aus. Es kam zu kurzen Pausen, wenn der Feind nach unseren Triebwerksgeräuschen lauschte, und dann ging es wieder los. Die Sache war nur … es geschah alles weit unter uns. Der Feind wähnte uns unter den Wolken, doch wir waren ein ganzes Stück darüber.« »Habt ihr euer Ziel angegriffen?« »Ja. Der Navigator fand es, und ich ging in den Sturzflug. Die Bomben warfen wir dicht über den Wolken ab, und ich zog die Nase hoch, stieg auf, flog in Richtung Küste und versuchte dabei, schnell zu bleiben. Über Nordvietnam war es nicht ratsam, langsam zu fliegen; der Gegner hatte die schlechte Angewohnheit, mit SAMs auf uns zu schießen. Aber in jener Nacht bekamen wir es nicht mit Raketen zu tun.« »Habt ihr das Ziel getroffen?« »Keine Ahnung. Es war ein moderner Krieg, nehme ich an … Wir warfen die Bomben ab und wussten oft nicht, was wir trafen, wenn überhaupt. Wir erfuhren auch nicht, ob und wie viele starben. Die Jungs von der Fotoaufklärung machten ein oder zwei Tage später Aufnahmen, und ich erinnere mich nicht mehr daran, was die Bilder zeigten. Aber ich erinnere mich an dies: Als wir in jener Nacht zum Schiff zurückkehrten, sprachen einige andere Piloten, die Zeugen des Spektakels geworden waren, vom schlimmsten Flakfeuer, das sie jemals gesehen hatten. Sie wussten nicht, dass wir weit darüber geflogen waren, hielten uns für knallharte Burschen. Mir fehlte damals der moralische Mut, ihnen die Wahrheit zu sagen.« »Wer war der Navigator?« »Morgan McPherson.« »Hat dir der Kampf gefallen?«, fragte Amy. 177
»Ja«, sagte Jake. »Dass Feinde auf mich schossen und das Ziel verfehlten – es gefiel mir sehr. Aber ich wusste natürlich, dass ich nicht unverwundbar war. Wenn man das Spiel zu lange fortsetzte, erwischte es einen früher oder später.« »Und dadurch wurde es aufregend.« »Vermutlich. Einige Wochen später musste Morgan dran glauben.« Jake seufzte. »Seltsam. Er hasste es, und ich liebte es, aber er war derjenige, der sein Leben ließ.« Er trank aus und schüttelte das Eis im Glas. »Wenn ich an klaren Abenden den Polarstern sehe, denke ich an jene Nächte, als wir über den Golf flogen, und dann sehe ich erneut das Flakfeuer. Und frage mich, ob ich noch am Leben wäre, wenn wir damals, als der Feind mit allem schoss, was er hatte, so tief wie sonst geflogen wären.« »Das Spiel spielen …«, murmelte Amy. »Es klingt nach einer Sucht.« »Ja. Leute, die sich mit solchen Spielen beschäftigen, spielen immer zu lange. Bei mir ist das zweifellos der Fall.« Jake stand auf. »Gehen wir zu Bett.« Amy umarmte ihn.
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9 Die Gebäude von Corrigan Engineering befanden sich auf einem Industriegelände in den westlichen Vororten von Boston. Der Cheftechniker Harley Bennett schien nur aus Haut, Knochen und Sehnen zu bestehen und hatte nur noch einen dünnen Haarkranz. Er schien über fünfzig zu sein. »Sie sehen wie jemand aus, der es mit dem Laufen sehr ernst nimmt«, sagte Toad, als er ihm die Hand schüttelte. Bennett strahlte. »Ich laufe jedes Jahr den Marathon und beende ihn unter den ersten hundert.« »Meine Güte.« Toad hielt ihn für verrückt, doch die Höflichkeit verbot ihm, das zu sagen. Sonny Tran war ebenfalls sehr dünn – er wog keine sechzig Kilo –, aber er hatte einen zarten Knochenbau und aß wie ein Vogel. Auf dem Reagan National Airport hatte er weniger als einen halben Muffin zum Frühstück gegessen. Er war auch nicht sehr gesellig. An Bord des Flugzeugs hatte er neben Toad gesessen und keine zehn Worte gesprochen. Er las die Zeitung von vorn bis hinten, abgesehen von den Kleinanzeigen, sah eine Zeit lang aus dem Fenster und wandte sich dann einem Kreuzworträtsel zu. Im Vergleich mit ihm war der Offizier der Küstenwache, Captain Joe Zogby, ein regelrechtes Plappermaul. Als sie an jenem Morgen auf das Flugzeug warteten – und bevor er ebenfalls Zeitung las –, sprach er übers Wetter, die jüngsten Leistungen zweier Baseballmannschaften und wies auch darauf hin, dass der Aktienmarkt am vergangenen Tag ein Plus verzeichnet hatte. »Die Regierung will die Sensoren also kaufen?«, fragte Harley Bennett. »Sie bekommt hochmodernes Zeug, das kann ich 179
garantieren. Kommen Sie, werfen wir einen Blick darauf. Anschließend reden wir über alles.« Als die kleine Gruppe das Laboratorium betrat, gestikulierte er mit dem Arm und fragte: »Na, was halten Sie davon?« Die Delegation aus Washington betrachtete einen komplexen elektronischen Apparat auf einer Holzpalette. Toad bückte sich, um das Ding aus der Nähe zu betrachten. Es sah aus wie das Innere eines Computers. »Was leistet es, und wie geht es dabei vor?« Harley antwortete sofort. Nachdem er fünf Minuten lang ganz allgemein über Sensoren und Ortungstechnik gesprochen hatte, fragte Toad: »Und der Apparat funktioniert?« »Natürlich.« An dieser Stelle ging Harley ins Detail und sprach über verschiedene Arten von Strahlung und Ortungsreichweiten. »Die Reichweite variiert stark; sie hängt von Art und Intensität der Strahlung ab«, sagte er. »Die Strahlungsintensität wiederum hängt davon ab, wie gut die Strahlungsquelle abgeschirmt ist. Ein gut geschützter Reaktor, wie zum Beispiel der an Bord eines der neuen Atom-U-Boote, könnte vermutlich nur geortet werden, wenn man bis auf einige Dutzend Meter an ihn herankommt. Und wahrscheinlich nicht einmal dann, wenn es sich um den eines amerikanischen U-Boots handelt. Bei einem russischen Boot – hier spekuliere ich – wäre eine Ortung aus einer Entfernung von etwa anderthalb Kilometern möglich.« »Und wie sähe die Sache bei einem russischen Sprengkopf aus?« »Bei einem Raketensprengkopf?« »Ja.« »Die sind kaum abgeschirmt, weil eine Abschirmung Gewicht bedeutet. Das Plutonium darin zerfällt und strahlt. Wenn man die geringe Abschirmung eines Raketensprengkopfs berücksichtigt, noch dazu eines undichten russischen … Ich schätze, man könnte ihn aus einer Entfernung von acht bis zehn 180
Kilometern entdecken.« Toad pfiff leise. »Sie sind unser Mann«, sagte Joe Zogby und grinste. Selbst Sonny Tran lächelte. »Zeigen Sie uns, wie das Ding funktioniert«, forderte Toad den Techniker auf. Zuerst schloss Harley ein Kabel an und legte es dann so aus, dass es eine gerade Linie auf dem Boden bildete. Auf einem nahen Tisch stand ein Gerät, zu dem eine Trommel und ein Markierungsstift gehörten. Er schaltete es ein. »Wie Sie sehen, ist der Detektor direkt mit dem Aufzeichnungsgerät verbunden. In späteren Versionen können Sensoren, Detektor und Aufzeichnungsgerät an drei verschiedenen Orten untergebracht sein und per Datenverbindung miteinander kommunizieren. Für Kurzstreckenversionen planen wir Sensoren, die am Gürtel getragen werden können, aber so weit sind wir noch nicht.« Einem Schrank aus Blei entnahm Bennett einen kleinen Bleikasten. »Hier drin haben wir ein radioaktives Isotop, das bei gewissen medizinischen Untersuchungen verwendet wird.« Er stellte den Kasten auf den Tisch neben dem Apparat, und als er das Röhrchen mit dem Isotop daraus hervorholte, kam ein schrilles Pfeifen vom Aufzeichnungsgerät auf dem anderen Tisch; der Markierungsstift zuckte hin und her. Harley trug das Teströhrchen aus dem Laboratorium, und das Pfeifen dauerte an. Es hörte erst auf, als Bennett draußen auf dem Parkplatz stand. Er rief im Laboratorium an, um seine Position durchzugeben. Eine Stunde später telefonierte Toad Tarkington mit Jake Grafton in Washington. »Sie sollten sich besser setzen, Chef. Dies wird Ihnen nicht gefallen.« »Schießen Sie los.« 181
»Corrigan hat handgefertigte Prototypen der Detektoren, für Testzwecke. Eine Fabrik für die Dinger gibt es nicht. Er führt Verhandlungen mit dem Ziel, sie in China anfertigen zu lassen.« »In welchem China?« »Im großen roten.« »Hat er bereits die technischen Zeichnungen und dergleichen weitergegeben?« »Angeblich nicht. Offenbar hat Corrigan mit der Regierung gesprochen und eine Genehmigung für den Technologieexport beantragt. Dadurch erfuhr die Administration, was er hat.« »Was hat Freund Corrigan seit dem Gespräch mit dem Präsienten unternommen, um die Sensoren produzieren zu lassen?« »Er hat sich mit einigen auf Einzelanfertigungen speziaisierten Betrieben in Verbindung gesetzt, um die Dinger per Hand fertigen zu lassen. Was bedeutet, dass sie teuer werden. Diese Sache wird den Steuerzahler einen Haufen Geld kosten.« »Daran ist der Steuerzahler gewöhnt. Funktionieren die Detektoren?« »So scheint es. Der Cheftechniker führte einen vor und gab mir ein geheimes Leistungsblatt. Wir könnten solche Geräte gut gebrauchen.« »Lassen Sie sich einen Liefertermin geben und melden Sie sich dann wieder.« »Ja, Chef.« Jake konzentrierte sich wieder auf den Papierkram, von dem er geradezu überschwemmt wurde. Er brauchte jemanden, der dies für ihn erledigte, aber um eine solche Person zu bekommen, musste er erst den Papierkram erledigen. Vier Sprengköpfe. Wo befanden sie sich? Tommy Carmellini klopfte an seine Tür und trug die Kleidung eines Elektrikers: »A & B Installateur- und Elektroarbeiten«. Jake winkte ihn herein. 182
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Zelda und Zipper hart an der Arbeit sind. Ich wäre kaum bereit gewesen, es zu glauben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte: Es gelang ihnen sofort, auf die Kreditkartendaten der drei größten Banken zuzugreifen, einfach so. Ein Kinderspiel für sie. Sie wissen, wie Sicherheitssysteme beschaffen sind. Sie wissen, wie man sie umgeht. Und sie wissen, wie sie bekommen, was sie wollen.« »Wo haben sie das alles gelernt?« »Danach habe ich sie nicht gefragt, Sir. Ich möchte es auch gar nicht wissen. Und vermutlich wäre Zelda und Zip kaum daran gelegen, dass ihnen das FBI entsprechende Fragen stellt.« »Wir brauchen permanenten Zugang.« »Sie arbeiten daran. Eines der Sicherheitssysteme haben sie selbst entwickelt und darin eine Hintertür für sich offen gelassen.« Jake verzog das Gesicht. »Wissen Sie, Admiral, ich sage Ihnen das nicht gern, aber ich glaube, Zelda und Zip sind nicht ehrlich.« »Ihre Klamotten gefallen mir.« »Ja, Sir. Ich werde dem Polizeipräsidium wegen der Kameras einen Besuch abstatten. Morgen haben wir eine Kabelerbindung.« »New York. Wir benötigen alle Videodaten der Stadt.« »New York ist schwieriger, weil es dort keine zentrale Stelle zum Anzapfen gibt. Wir müssen dabei auf Subunternehmer zurückgreifen.« »Beim illegalen Anzapfen von Leitungen?« »Es sind zwei Unabhängige, deren Hilfe die Agency manchmal in Anspruch nimmt. Ich lasse sie für ein Interview hierher kommen, wenn Sie möchten.« »Trauen Sie ihnen?« »Ja.« 183
»Dann ist alles in Ordnung.« Eine halbe Stunde später rief Tarkington wieder an. »Ein Detektor alle zwei Wochen, Admiral. Jeder muss vor der Auslieferung eine Woche lang getestet werden.« »Wundervoll«, brummte Jake und fragte sich, was der Präsident sagen würde, wenn er davon hörte. »Lassen Sie Tran und den Burschen von der Küstenwache mit dem Auftrag dort, möglichst viel herauszufinden. Sie kehren mit dem nächsten Flugzeug hierher zurück. Ich möchte das Leistungsblatt sehen.« »Bis heute Abend.« Die kleine Glocke an der Tür läutete, als Carmellini sie am Dienstagmorgen öffnete. Er trat ein, ging zum Tresen und betrachtete die Fernseher und Videorekorder in den Regalen an der Rückwand. Sogar ein Computer war darunter. Ein Schwarzer kam durch die Tür auf der anderen Seite und ging hinter dem Tresen entlang. »He, Carmellini, Mann! Was ist los?« »He, Scout. Wie kommt ihr an all diese Fernseher und Videorekorder und so? Verkauft ihr den Kram?« »Wir haben sie, weil die Eigentümer ihre Rechnungen nicht bezahlen konnten und wir ein Pfand brauchten. Was darunter, das Sie interessiert?« »Äh … nein. Ich bin gekommen, um euch einen geschäftlichen Vorschlag zu machen.« »He, Earlene, komm da raus!«, rief Scout. »Carmellini ist hier und will uns reich machen.« Earlene war eine beeindruckende, majestätische Frau. Sie schien gut in Form zu sein, und dieser Eindruck täuschte nicht. Sie hatte zwei Jahre in der WNBA verbracht und war jetzt zur Hälfte an S & A Electric beteiligt. Carmellini wusste nicht, ob Scout und Earlene verheiratet waren; er hatte nie daran gedacht zu fragen. 184
»Hallo, Tommy.« »Hallo, Earlene.« Mit dem Daumen deutete er zum Raumteiler. »Ist sonst noch jemand da hinten?« »Nein.« »Was dagegen, wenn ich nachsehe?« Scout und Earlene wechselten einen Blick. »Ein solcher Job ist es, wie?« »Ja.« Carmellini trat um den Tresen herum zur Tür und blickte ins Hinterzimmer. Dort befand sich niemand. Er kehrte zum Tresen zurück und lehnte sich dagegen. »Ich brauche echte Hilfe. Die Agency möchte Zugang zu einigen Computern in diesem Land, zum Beispiel zum Videokontrollcomputer im Polizeipräsidium von Washington, den Mainframes der Kreditkartenunternehmen, den Computern von Flugverkehrsgesellschaften und so weiter. Ein großer Teil dieser Arbeit betrifft New York.« »Die Agency? Meinen Sie die CIA?« »Ja.« »Mann, ich dachte, sie hätte schon überall Wurmlöcher und Falltüren und den ganzen Scheiß.« »Wenn das der Fall wäre, stünde ich nicht hier.« Scott lachte. »O Mann, das ist heftig. Die CIA?« Er schlug sich aufs Bein. »Weiß man dort, dass ich vorbestraft bin?« »Himmel, nein, das weiß man dort nicht. Mein Chef hat mir gesagt, ich sollte auf die Hilfe von Leuten zurückgreifen, denen ich vertraue. Euch vertraue ich. Ich gebe ihm eine Rechnung von S & A Electric, er wird sie unterschreiben, und ihr bekommt euer Geld.« »Wir sind Elektriker, keine Telefon- oder Computerexperten.« »Ach, hör auf mit dem Quatsch. Ich wette meinen Gehalts185
scheck, dass ihr gelegentlich Telefonkabel in Gebäuden verlegt.« »Nun, ja, schon. Wir haben den notwendigen Kram und können die Kabel voneinander unterscheiden. Aber die Kennwörter sind uns ebenso unbekannt wie die Nummern der Telefongesellschaften und so.« »Darüber weiß ich Bescheid.« »Wie viel?«, fragte Earlene scharf. »Der übliche Betrag.« Scouts Gesicht zeigte Abscheu. »Das soll wohl ein verdammter Witz sein, Mann. Ich soll für den verdammten üblichen Betrag riskieren, verhaftet zu werden und die verdammte Zulassung als Elektriker zu verlieren? Mir reicht’s. Ich habe heute keine Zeit für deinen Scheiß, Carmellini.« »Wenn man uns erwischt, wird keine Anklage erhoben. Wir arbeiten für die CIA, nicht für irgendwelche Cracker-Hacker.« »Wir?« »Ich bin mit von der Partie, wenigstens teilweise. Ich habe viele Projekte und kann mich nicht um alles selbst kümmern. Darum brauche ich Hilfe. Ich habe meinem Chef gesagt, dass ich euch vertraue. Er vertraut mir, und deshalb genügt es ihm.« »Ich möchte nicht deine Illusionen zerstören, Tommy, aber was ist, wenn ich ein wenig in Versuchung gerate?« »Wie ich schon sagte: Ich vertraue dir, Scout. Dir und Earlene. Wir kennen uns. Wenn du krumme Touren versuchst, solltest du mich vorher umbringen.« »So sieht die Sache aus, wie?« »Ja.« »Verstehe.« Earlene schnaubte. »Meine Güte, wenn wir mal einen Regierungsauftrag kriegen, ist die Arbeit illegal – so tief unten in der Nahrungskette stehen wir.« 186
»Ich biete euch die Sache an, weil euer Laden einer Minderheit gehört.« »Außerdem auch noch einer Frau«, sagte Earlene. »Mein Anteil beträgt einundfünfzig Prozent.« »Die auflaufende Flut des sozialen Fortschritts hebt euer Boot an. Geld, das nur ein wenig schmutzig ist? Wie könnt ihr ein solches Angebot ablehnen?« Eine Stunde später erreichten sie das Polizeipräsidium. Tommy Carmellini legte einen Auftragsschein vor, unterzeichnet von einem ranghohen Beamten in der Abteilung für öffentliche Bauprojekte – die Unterschrift stammte von Carmellini –, und fünfzehn Minuten später stand er zusammen mit Scout und Earlene im zentralen Kabelraum des Präsidiums. Carmellini hatte seinen Helfern unterwegs erklärt, worum es ging. Sie identifizierten die Kabel der hereinkommenden Videosignale, für die Kontrolle der Kameras und die Verbindungen zum Hauptcomputer. Carmellini sah seine Annahme bestätigt: Es gab ganze Bündel von nicht verwendeten Telefon- und Glasfaserkabeln, die ins Polizeipräsidium hereinführten, ein Vermächtnis des massiven Bandbreitenausbaus während der letzten Tage des Technorummels. Zu jener Zeit waren alle Straßen im Zentrum der Stadt aufgerissen und anschließend schlecht zugepflastert worden, manchmal sogar mehrmals, wenn eine Gesellschaft nach der anderen wahllos Kabel verlegte. Die Stadtväter begünstigten den Bandbreiten-Goldrausch, kassierten die Zuschüsse und zwangen die Unternehmen nicht dazu, für die bei Pflaster und Straßenbettung angerichteten Schäden aufzukommen. Als die ganze Aufregung vorbei war und sich der Staub gelegt hatte, waren es wie in Amerika üblich die Steuerzahler, die über ruinierte Straßen fuhren und die Rechnung für Inkompetenz, Habgier und Dummheit der von ihnen gewählten Politiker präsentiert bekamen. 187
Als sie im Präsidium fertig waren, gingen Carmellini und seine Helfer nach draußen, sperrten den nächsten Straßenschacht ab und hoben den Deckel. Während Scout und Earlene unten arbeiteten, betrachtete Carmellini die Karten, die er am Wochenende gestohlen hatte. Er reichte Werkzeuge hinunter, als Scout danach rief. Um sechs Uhr abends empfing das Ad-hoc-Computerzentrum im Keller des CIA-Hauptquartiers Daten aus dem Polizeipräsidium. Carmellini stand hinter Hudson und Vance und beobachtete, wie sie die Videokameras überall in der Stadt bewegten, den Zoom auf bestimmte Personen richteten und ihnen folgten. »Was ist mit dem Erkennungsprogramm?«, fragte er. »Morgen Abend sollten wir in der Lage sein, es auszuprobieren. Dann fangen wir an, es zu verbessern und Macken auszumerzen.« »Gut.« »Es ist uns heute gelungen, auf die Kreditkartendaten von drei größeren Banken zuzugreifen«, sagte Zelda Hudson. »Wir können den Kreditverkehr über einen beliebigen Zeitraum verfolgen, Adressen und Belege einsehen. Praktisch alle Informationen stehen uns offen.« Carmellini klatschte. Zelda neigte den Kopf, und ihre Wangen glühten voller Freude über die Anerkennung. Die Sicherheitsmaßnahmen waren überraschend gut gewesen, und sie hatte die Herausforderung genossen. Zip hatte zugesehen und gelegentlich einen Tipp beigesteuert. »Wir sind ein gutes Team«, wandte sie sich an ihn, und er lächelte. Carmellini klopfte ihnen beiden auf die Schulter und ging dann zur Cafeteria, um ein Sandwich zu essen. Die Büros leerten sich allmählich. Zelda und Zip hatten noch keinen Wagen, aber sie hatten sich inzwischen einer Fahrgemeinschaft ange188
schlossen, was Carmellini von seinen Chauffeurspflichten entband. Sein Ärger auf Arch Foster und Norv Lalouette wuchs. Er hatte darauf gewartet, dass sie aktiv wurden, aber nichts geschah. Das Warten nervte ihn immer mehr. Arch und Norv waren zwei echte Fieslinge. Scout hatte im Kittchen gesessen, weil er bei seiner Arbeit in Häusern Geld und Drogen gestohlen hatte, aber er stank nicht annähernd so wie Arch und Norv. Tommy aß das Sandwich und ging dann über den LangleyCampus zu seinem Gebäude. Der Wächter kontrollierte seine Dienstmarke und ließ ihn eintreten. Im zweiten Stock wiederholte ein anderer Wächter die Kontrolle, und als er durch den Flur ging, tasteten Sensoren in der Decke die Dienstmarke elektronisch ab. Er öffnete das Ziffernschloss seines Büros, schaltete das Licht ein und drückte die Tasten, die den Alarm deaktivierten. Er ging kurz den Inhalt des Eingangskorbs durch, lehnte sich im Sessel zurück, blickte hinaus in den Abend und dachte über die Dinge nach. Es wäre interessant zu sehen, was sich in Arch Fosters Haus oder Wohnung befand. Das galt auch für Norv. Was zum Teufel hatten die beiden Mistkerle vor? Er nahm das Telefonbuch und suchte nach Foster. Mal sehen. Foster, A., Alice, Allen, Archibald … Archibald C. Offenbar ein Haus in Silver Spring. Lalouette … Er stand nicht im Telefonbuch. Vermutlich hatte er eine Geheimnummer. Die Tage vergingen, und Jake Grafton spürte, wie der Druck zunahm. Er glaubte fast zu hören, wie die Uhr des Weltuntergangs tickte. Jeder verstreichende Tag, jede Stunde, jede Minute war unwiederbringlich verloren. Er schlief nicht und aß nicht, dachte die ganze Zeit an die Probleme, mit denen er es 189
zu tun hatte. Die Computerteams aus NSA- und CIA-Fachleuten arbeiteten hart an Programmen, die Informationen aus Dutzenden von illegalen Quellen zusammenfassen und auswerten sollten – den Zugang zu jenen Quellen verdankten sie Tommy Carmellini und seinen Freunden. Jake beauftragte Zelda mit Nachforschungen in Hinsicht auf Faruk Al-Zuair und das Schwert des Islam. Zweimal täglich sprach er mit dem Berater des Präsidenten. Zu jeder Tages- und Nachtzeit telefonierte er mit Bundesbehörden und einzelnen Mitgliedern seines Stabs. Der Präsident, das Außenministerium, FBI, die verschiedenen Agencys – alle nutzten ihre ausländischen Kontakte, um Informationen zu gewinnen. An einen normalen Acht-Stunden-Tag war nicht mehr zu denken. Man arbeitete rund um die Uhr, und die Nerven lagen blank, während der Druck ständig wuchs. Das besorgte Jake. Er lief Gefahr, den Überblick zu verlieren. Seine Aufgabe, so wusste er, bestand darin, das Schiff zu steuern; ums Anheizen der Boiler kümmerten sich andere. Glücklicherweise nahm ihm Gil Pascal einen großen Teil der Arbeit ab, und damit half er sehr. Jake zwang sich, Zeit in die Lektüre der Zeitungen zu investieren, um sich über die Ereignisse in der Welt auf dem Laufenden zu halten. Er ging sogar mit seiner Frau ins Kino, doch das nützte nichts. Er schenkte dem Geschehen auf der Leinwand keine Beachtung und dachte an Atomwaffen. Jeden Morgen, noch bevor Jake mit Pascal über den Stand der Dinge sprach, berichtete ihm Toad von den Fortschritten bei den Strahlungsdetektoren. »Das Problem ist, dass sie alles entdecken«, sagte Toad an einem Morgen. »Tonnen von radioaktivem Material werden jeden Tag durch unsere Städte und Häfen transportiert: radioaktiver Abfall, Krankenhausisotope, Forschungsmaterial … Selbst bei der Herstellung von Lebensmitteln verwendet man Radioaktivität, um bestimmte Dinge zu 190
bestrahlen.« »Wir treten auf der Stelle«, brummte Jake. »Wir haben nichts, an dem wir ansetzen könnten.« »He, CAG«, sagte Toad, »früher oder später passiert was. Bestimmt ergibt sich ein Anhaltspunkt. Wir müssen zuversichtlich bleiben.« Jake starrte Tarkington groß an, der ihn seit Jahren nicht mehr »CAG« genannt hatte. Das alte Akronym der Marineflieger stand für »Commander Air Group«, Kommandant der Luftkampfgruppe, und wurde so ausgesprochen, dass es sich auf »rag«, Lumpen, reimte. Das war Jakes Titel gewesen, als er Toad vor Jahren bei einer Reise zum Mittelmeer kennen gelernt hatte. »Wir müssen zuversichtlich bleiben«, wiederholte Toad. »Zum Schluss gewinnen die Guten immer.« Wenn das doch nur wahr wäre! »Die Uhr da …« Jake deutete auf die Bürouhr an der gegenüberliegenden Wand. »Bringen Sie sie fort. Ich kann das Ding nicht mehr sehen.« Toad biss sich auf die Lippe. »Ja, Sir«, sagte er. Am Abend des siebten Tages nach dem Auslaufen passierte die Olympic Voyager Sharm al-Sheikh und erreichte den Golf von Suez. Am nächsten Morgen bekam sie beim Hafen von Suez einen Lotsen und fuhr in den Kanal. Neun Tage nach dem Verlassen von Karatschi lag sie in Port Said am nördlichen Ende des Suezkanals an einem Kai. Von der Brücke aus beobachtete Dutch Vandervelt, wie der Passagier die Leiter auf der Steuerbordseite des Schiffes zur Gangway hinunterkletterte, die Dockarbeiter an die unteren Sprossen geschoben hatten. Er überquerte den Kai und geriet außer Sicht. Nach dem Gespräch in der ersten Nacht hatte der 191
Erste Offizier nur bei zwei anderen Gelegenheiten mit ihm gesprochen. Einmal fragte der Mann nach einer Leiter, um in die beiden Container weiter oben zu gelangen, und als die Voyager das Rote Meer erreichte, meldete er, seine Arbeit erledigt zu haben. »Ich bin fertig und werde das Schiff in Port Said verlassen.« »Was ist mit Ihren Werkzeugen, Ihrer Ausrüstung?« »Es befindet sich alles in den beiden anderen Containern. Schaffen Sie alle sechs in Port Said von Bord.« »Sind die Waffen scharf?« »Stellen Sie keine dummen Fragen«, erwiderte der Mann. »Ich habe die Container mit neuen Transportdokumenten ausgestattet. Entladen Sie sie in Port Said und vergessen Sie, dass Sie jemals mit mir gesprochen haben.« Das war ein guter Rat, wusste Vandervelt. Er zündete sich eine Zigarette an und beobachtete, wie ein Dockkran den ersten Container anhob. Der Zweite Offizier Lee überprüfte die Drahtseile. Einmal sah er zur Brücke hoch, und Vandervelt gab vor, es nicht zu bemerken. Die Schauerleute bereiteten den zweiten Container vor, als Dutch merkte, dass Kapitän Pappadopoulus neben ihm stand. Glücklicherweise wehte die Brise seinen Atem von ihm fort. Der unrasierte, korpulente Kapitän trug eine schmutzige Hose, Pantoffeln und ein Hemd, das einmal weiß gewesen war. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Hemdenschoß in die Hose zu stecken. Mit einer Hand hielt er sich an der Reling fest und blickte kurzsichtig zu den Containern. »Runter damit von meinem Schiff!«, rief er heiser Lee zu und winkte mit der anderen Hand. »Schaffen Sie das elende Zeug von Bord.« »Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt für eine Szene, Käpt’n«, sagte Vandervelt. »Warum gehen Sie nicht nach unten?« 192
Pappadopoulus starrte den Ersten Offizier verdrießlich an. »Sie haben mir keine Befehle zu geben, Sie Hurensohn. Ich bin der Herr dieses Schiffes.« »Ich gebe Ihnen keine Befehle, Sir. Ich habe nur einen Vorschlag gemacht. Ihre Offiziere und die Crew werden die Container schnell entladen und dafür sorgen, dass die Voyager in einer Stunde wieder auslaufen kann.« »Ich hätte mich nie auf diesen verdammten Mist einlassen sollen«, brummte Pappadopoulus und sah erneut zu den Containern. »Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, von einem Dreckloch der Dritten Welt zum nächsten zu fahren. Ich habe Müll transportiert und mit Müll zu tun gehabt.« Er richtete den Blick auf Vandervelt. »Mit Müll wie Ihnen. Mein ganzes vergeudetes Leben lang. Aber ich war ehrlich, habe mir mit ehrlicher Arbeit ehrliches Geld verdient. Nicht viel, nein. Doch das Geld war sauber. Hat nicht gestunken. Klebte kein Blut dran.« »Ja, Sir.« »Sauberes Geld, bei Gott. Nicht wie dieser arabische Scheiß.« Zum ersten Mal sah Pappadopoulus zu den Kais, Piers, Lagerhäusern und der großen Schadstoffwolke, die von der Stadt bis aufs Meer hinaus reichte. »Das Arschloch der Welt, bei Gott.« Er schnaubte. »Angemessen, nehme ich an.« Er drehte sich halb um und sah Vandervelt eulenhaft an. »Mir bleiben nicht mehr so viele Jahre. Sie sind jung. Haben Ihre verdammte junge Seele verkauft. Sie tun mir Leid, Sie elendes Schwein.« Pappadopoulus ging zur Leiter, hielt sich dabei an der Reling und der Luke fest, obwohl das Schiff überhaupt nicht schlingerte. Dutch Vandervelt sah sein eigenes Spiegelbild in einem Brückenfenster. Sein Gesicht war blass und verhärmt. 193
Der alte Kapitän war ein Säufer, ein nutzloser Trunkenbold, aber er hatte Recht. Vandervelt hatte tatsächlich seine Seele verkauft, und das wusste er auch. »Ich tue mir selbst Leid«, murmelte er. Verdammter Mist, was hatte er getan? Warum war er bereit gewesen, sich auf diese Sache einzulassen? Die Antwort lautete: Geld. Er tat es für Geld. Und wenn die Bomben jemals explodierten, musste er für den Rest seines Lebens damit fertig werden. Er ging auf der Brücke umher und dachte darüber nach. Am vierten Tag in Zürich kehrte Anna Modin am Nachmittag nach Besprechungen mit Schweizer Bankiers in ihr Hotel zurück. Eine Unternehmensgruppe wollte Computer und Software im Nahen Osten verkaufen, und ihre europäischen Banken erwarteten von Walney’s, die Geschäfte zu finanzieren und das Risiko bei Zahlungsunfähigkeit zu tragen. Die Kreditwürdigkeit einiger Käufer ließ zu wünschen übrig; die Verhandlungen waren recht schwer gewesen. Drei Voicemails erwarteten sie. Zwei stammten von Bankrepräsentanten in Kairo – Modin hatte bereits mit ihnen telefoniert. Die dritte Nachricht kam von einem Mann, der nur den Namen eines Restaurants und eine Uhrzeit nannte, sonst nichts. Sie hörte sich die Mitteilung dreimal an, bevor sie sie löschte. Ilins Stimme. Sie war ganz sicher. Seit drei Jahren hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen, aber trotzdem war sie sicher. Anna Modin sah auf die Uhr. Ihr blieben noch dreißig Minuten. Faruk Al-Zuair ruderte das kleine Boot an der Wasserlinie der Olympic Voyager entlang. Das schmutzige Wasser des Hafens war so klar wie Motoröl und konnte im Notfall auch als Ersatz 194
dafür verwendet werden. Bei einer Sichtweite gleich null blieb einem Taucher nur der Tastsinn. In diesem Fall befand er sich unter dem Boot und wurde von einem Seil mitgezogen, das er sich um die Taille geschlungen hatte. Glücklicherweise gab es hier praktisch keine Dünung. Luftblasen stiegen auf und vermischten sich mit den Kräuselungen, die das Ruderboot verursachte. Zuair blickte an der Schiffswand empor. Wer dort oben stand, konnte das Boot ganz deutlich sehen, ein Risiko, das sich nicht vermeiden ließ. Sein Blick wanderte zu den anderen Schiffen; niemand schien dem Ruderboot Beachtung zu schenken. Ein Schiff zu versenken, bevor es einen Notruf senden oder ein zufällig vorbeikommender barmherziger Samariter die Besatzung retten konnte … Das war eine Aufgabe für einen Profi, wie Zuair sehr wohl wusste. Er hatte gründlich über das Problem nachgedacht. Er konnte Plastiksprengstoff an Bord bringen, doch nur ein Experte kannte die Stellen, an denen Explosionen einen schnellen Untergang bewirkten. Er hielt es für das Beste, Sprengladungen unter der Wasserlinie des Schiffes anzubringen. Zweifellos gab es akustische Sender, die sich bei solchen Ladungen verwenden ließen, aber sie standen Zuair nicht zur Verfügung. Er hatte vier Bomben mit jeweils fünfundzwanzig Pfund Plastiksprengstoff konstruiert. Für die Zünder benutzte er Motorradbatterien, jeweils drei, und hinzu kam ein VierundzwanzigStunden-Timer. Jede Bombe war in Polystyrol gehüllt und versiegelt, damit kein Wasser eindrang. Jedes Paket war in einem weiteren Polystyrolbeutel untergebracht, der außerdem sechs starke Elektromagneten und zwei Batterien enthielt. Nach dem Herauspressen der Luft waren auch diese Beutel versiegelt worden. Der Schalter für die Elektromagneten befand sich im Innern des Beutels; der Taucher musste ihn ertasten und dann betätigen. Die vier Bomben lagen im Boot. Zuair hatte sie vor einer 195
Stunde versiegelt, nach dem Starten der Timer. Sie tickten. Etwa fünfundzwanzig Meter hinter dem Bug hielt er das Boot an und zog am Seil des Tauchers. Mit einem Werkzeug, das er am Gürtel trug, musste der Taucher zunächst die Dreckkruste vom Rumpf kratzen, sonst würden die Elektromagneten nicht haften. Zuair sah auf die Uhr. Die Minuten vergingen langsam. Drei Minuten … vier … fünf. Nach sechs Minuten erschien der Kopf des Tauchers in der schmalen Lücke zwischen Ruderboot und Schiffswand. Dem Kopf folgte eine Hand. Der Taucher trug einen schwarzen Anzug mit Maske, Sauerstoffflaschen und einem Mundstück. Zuair blickte noch einmal zur leeren Brücke empor und griff dann vorsichtig nach einer der Bomben – jede von ihnen wog etwa dreißig Kilo. Das Boot schwankte gefährlich. Er achtete darauf, ein Kentern zu vermeiden, als er die Bombe übers Heck hinweg dem Taucher reichte, der sich von ihrem Gewicht nach unten ziehen ließ. Weniger als eine Minute später erschien die Hand erneut, und der nach oben zeigende Daumen signalisierte Erfolg. Zuair ruderte das Boot dreißig Meter weiter nach achtern und zog erneut am Seil. Als Anna Modin das Restaurant betrat, entdeckte sie Janas Ilin an einem Tisch im rückwärtigen Teil des Raums. Er sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Er stand auf, als sie näher kam, rückte ihr den Stuhl zurecht. Einige Minuten lang plauderten sie wie zwei alte Bekannte. Ilin wählte harmlose Themen für ihr Gespräch. Nach dem Essen verließen sie gemeinsam das Restaurant. Sie gingen durch die Straßen von Zürich, und Ilin hielt aufmerksam nach eventuellen Verfolgern Ausschau. »Die CD, die Sie von der Walney’s Bank mitgebracht haben, ist voller Aufzeichnungen«, sagte er. »Daraus geht hervor, wie das Geld, mit 196
dem die vier Sprengköpfe bezahlt wurden, Faruk Al-Zuair erreichte. Es hat einen ziemlich komplizierten Weg hinter sich.« Modin nickte. »Ich möchte, dass Sie die CD einem Mann in Amerika bringen. Er heißt Jake Grafton.« Er nannte Jakes Adresse in Washington. »Wann?« »Sofort. Nehmen Sie morgen früh den ersten Flug. Die Waffen wurden vor neun Tagen in Karatschi an Bord des Frachters Olympic Voyager untergebracht. Das muss er ebenfalls erfahren.« »Gibt es keine andere Möglichkeit, ihm diese Informationen zu übermitteln?« »Nein.« Ilins Antwort kam abrupt. »Ich agiere allein. Es gibt Leute im SVR und in der russischen Regierung, die mein Verhalten als Verrat bezeichnen würden. Vor einigen Wochen habe ich mir einen guten Grund für eine Reise nach Amerika einfallen lassen, aber ich kann mich nicht erneut auf den Weg machen. Dafür gäbe es keine plausible Erklärung. Wenn ich jetzt noch einmal nach Amerika fliege, werden die Leute in Moskau Verrat wittern, und dann bricht all das zusammen, wofür ich in meinem Leben gearbeitet habe.« »Ich glaube, ich habe immer gewusst, dass Sie auf sich allein gestellt sind«, erwiderte Modin. »Das ist der Grund, warum ich auf Ihre Bitte eingegangen bin, erst die Arbeit in der Schweiz und dann die in Ägypten angenommen habe.« Ilin nickte, und seine Lippen bildeten eine dünne Linie. »Vielleicht sind wir beide dumm gewesen.« Er winkte verärgert. »Ich fordere Sie auf, Ihr Leben zu riskieren. Abdul Abn Saad und seine Freunde werden vermuten, dass Sie sie verraten haben. Man wird Ihnen folgen. Der Umstand, dass Sie bereits weitergegeben haben, was Sie wissen, spielt keine Rolle – es 197
geht um Rache. Sagen Sie Jake Grafton das; er wird Sie schützen.« »Ich habe die Bomben gesehen.« »Ich weiß. Grafton wird Ihnen glauben. Deshalb trage ich dieses Anliegen an Sie heran. Abdul Abn Saad ist einer der gefährlichsten Männer überhaupt, und er steckt bis über beide Ohren in dieser Sache. Die Amerikaner müssen Bescheid wissen.« Ilin blieb stehen und sah Anna Modin an. »Wenn die Waffen explodieren, endet die Welt, die wir kennen. Dann beginnt ein neues dunkles Zeitalter. Milliarden von Menschen werden hungern. Ich weiß nicht, welche politischen Ansichten Sie vertreten, es ist mir auch gleich; mir geht es allein darum, einen solchen Schrecken zu verhindern.« »Wenn ich nicht nach Kairo zurückkehre, wird Saad in der Bank nach einem Komplizen suchen. Dann findet er Ihre Agentin.« Ilin vollführte eine Geste, die Hilflosigkeit zum Ausdruck brachte. »Vielleicht findet er sie nicht. Und wenn doch … Sie weiß nichts, das ihm helfen kann. Auch sie ist Soldat; sie kennt das Risiko.« »Nein.« Anna Modin schüttelte den Kopf. »Ich muss nach Kairo zurück und sie holen. Ich nehme sie mit nach Amerika.« »Zu gefährlich. Ich verbiete es. Sie könnten beide gefasst werden, und das ist ein inakzeptables Risiko. Sie wissen zu viel. Sie kennen mich! Man wird Sie foltern, bis Sie alles sagen. Wenn die Frau in Kairo stirbt, verlieren wir einen Soldaten. Wenn ich sterbe, haben wir die Armee und den Krieg verloren. Dann gibt es niemanden zwischen uns und ihnen.« Janas Ilin neigte den Kopf zur Seite und musterte Modin. »Verstehen Sie?« »Ja, ich verstehe. Vor Jahren haben Sie alles auf eine Karte 198
gesetzt und sich ganz auf Ihre Fähigkeit verlassen, integre Personen zu finden, die Ihnen helfen. Andererseits: Wenn wir diese Frau aufgeben, sind wir nicht besser als Abdul Ab Saad, Faruk Al-Zuair oder General Petrow. Sie sind das Böse, gegen das ich kämpfe.« Ilins Blick wirkte so hart wie der Stahl eines Gewehrs. »Nein.« »Doch«, erwiderte Modin schlicht. »Ich werde diese Frau nicht im Stich lassen. Etwas anderes kommt nicht infrage, es sei denn, Sie fliegen selbst nach Amerika. Geben Sie mir die CD und nennen Sie mir den Namen der Frau. Ich nehme sie in die Staaten mit.« Ilin blieb keine Wahl. Es gefiel ihm nicht, aber er gab ihr die CD und den Namen. Dutch Vandervelt traf eine Entscheidung, als die Container entladen wurden. Er beschloss, auf der internationalen Notruffrequenz eine Mitteilung zu senden und von den Bomben zu berichten, sobald das Schiff die ägyptischen Hoheitsgewässer verlassen hatte. Alle Schiffe im östlichen Mittelmeer würden die Nachricht empfangen und sie an die zuständigen Stellen auf der ganzen Welt weitergeben … Er hatte nach dem Goldring gegriffen und wusste jetzt, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war. Himmel, was hatte er getan? Selbst der versoffene Pappadopoulus hatte das Unheil darin gesehen. Er blickte auf seine Hände. Wahrscheinlich würde man ihn ins Gefängnis stecken. Er stellte sich vor, jahrelang hinter Gittern zu sitzen … Als der letzte Container die Olympic Voyager verlassen hatte, kam der Lotse mit einem Hafenbeamten an Bord. Sie kletterten zur Brücke empor. Dutch Vandervelt begegnete dem Lotsen 199
jetzt zum ersten Mal, und der Mann erwies sich als recht schweigsam. Der Beamte hingegen war übertrieben freundlich und salbungsvoll. »Ihre Freunde deuteten an, dass Sie keine Aufzeichnungen Ihres Aufenthalts im Hafen möchten, aus persönlichen Gründen, die natürlich alle vollkommen legitim sind, und wir möchten in jeder nur erdenklichen Weise helfen …« Nach kurzem Verhandeln einigten sie sich auf fünfhundert amerikanische Dollar. Vandervelt nahm ein Banknotenbündel aus der Tasche und zählte zehn Fünfziger ab. Dutch Vandervelt beobachtete den Horizont. Der Wind aus der Wüste brachte viel Staub, der die Sicht beeinträchtigte. Sieben bis neun Kilometer, schätzte er und versuchte, nicht mehr an Bomben, Fanatiker und seine eigene Dummheit zu denken. Mit leerem Blick sah er zu den Möwen auf, die über dem Schiff kreisten, als der Funker auf die Brücke kam. »Das Funkgerät ist zerstört! Jemand hat es zertrümmert!« »Was?« »Jemand hat das Funkgerät zerstört. Noch bevor wir angelegt haben, vermute ich. Das Ding ist hinüber.« Jemand aus der Crew? Nein. Der Lotse kam nicht infrage – er hatte die Brücke nie verlassen. Und der Hafenbeamte war unmittelbar nach Entgegennahme des Bestechungsgelds an Land zurückgekehrt. Der verdammte Atomtechniker! Er musste das Funkgerät zerstört haben, bevor er das Schiff verließ! Aber warum? Plötzlich verstand Vandervelt. Die Olympic Voyager sollte daran gehindert werden, irgendwelche Mitteilungen zu senden. Er sah sich verzweifelt um. Es befanden sich Menschen auf dem Kai, Männer und Frauen, alles Araber. Der Hafenbeamte war irgendwo in ihrer Mitte verschwunden. Mein Gott, vermutlich wollen sie das Schiff versenken und al200
le an Bord töten! Plötzlich konnten die Beine sein Gewicht nicht mehr tragen. Er hielt sich an der Reling fest, um nicht zu fallen. Natürlich. Sie konnten kein Schiff voller Seeleute zurücklassen, die nachher berichteten, was sie gesehen und gehört hatten. Was habe ich nur getan? »Was soll ich jetzt machen, Sir?« Vandervelt schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen. »Was soll ich machen, Sir?« Der Funker wiederholte seine Frage. Vielleicht würden sie ihn nicht umbringen. »Hier«, sagte Dutch und griff in die Tasche. Er holte das Banknotenbündel hervor und gab es dem Mann. »Nehmen Sie das und verschwinden Sie vom Schiff. Ich glaube, sie werden versuchen, uns alle umzubringen. Klettern Sie die Leiter hinunter und gehen Sie weg, jetzt sofort. Sehen Sie nicht zurück.« Der Mann starrte ihn groß an. »Um Himmels willen, nehmen Sie das Geld und hauen Sie ab!« Er schloss die Hand des Funkers um die Banknoten und schob ihn fort. Einen Moment später sah Dutch, wie der Mann übers Deck lief. Er zögerte an der Steuerbordleiter, sah kurz zur Brücke zurück und kletterte dann hinunter. Vandervelt winkte dem Zweiten Offizier Lee auf dem Deck zu. Zehn Minuten später arbeiteten die Maschinen, und das Schiff entfernte sich vom Kai. Das Lotsenboot wartete wie üblich außerhalb des Hafens. Dutch signalisierte Maschinen Stopp. Er hatte kein Geld für den Lotsen und wies ganz offen darauf hin. Der Lotse war entsetzt. 201
»Sie mich bezahlen müssen!« »Schreiben Sie der Reederei einen Brief, Sie armer Narr. Und gehen Sie jetzt von Bord des Schiffes. Verschwinden Sie, verdammt.« »So nicht sprechen mit mir. Respekt zeigen. Ich bin Lotse. Sehr geschickt.« »Runter vom Schiff! Auf der Stelle! Verschwinden Sie!« Der Lotse sah ein letztes Mal in Vandervelts Gesicht, wich mehrere Schritte zurück, drehte sich um und eilte zur Leiter des Hauptdecks. Als das Schiff langsamer wurde, näherte sich das kleine Lotsenboot der Steuerbordleiter. Der Lotse wartete oben zusammen mit dem Zweiten Maat, sprach die ganze Zeit über und deutete mehrmals zur Brücke. Lee sah zu Vandervelt, der ungerührt dastand. Die Wahrheit lautete: Er konnte überhaupt nichts tun – das war ihm klar geworden, während das Schiff noch am Kai gelegen hatte. Wenn er die Olympic Voyager verließ, würde man ihn töten. Wenn sie vorhatten, das Schiff zu versenken, so gab es niemanden, der sie daran hindern konnte. Vandervelt und die Crew hatten keine Waffen an Bord; sie waren vollkommen wehrlos. Er dachte darüber nach und suchte nach einem Ausweg, als er plötzlich merkte, dass Lee ihm zuwinkte, mit beiden Armen. Vier bewaffnete Männer erreichten das obere Ende der Leiter, ausgestattet mit Rucksäcken. In weniger als einer Minute waren sie auf der Brücke. Lee ging vor ihnen her, eine Pistole im Rücken. »Setzen Sie das Schiff in Bewegung«, sagte Faruk Al-Zuair und richtete eine Maschinenpistole auf Vandervelt. Lee starrte ihn an, seine Augen so groß wie Untertassen. Er schien sagen zu wollen: Siehst du, das haben wir von unserer 202
Habgier. »Wir hatten eine Abmachung«, sagte Vandervelt. Die Kugeln trafen ihn im Bauch und ließen ihn an die Brückenwand taumeln. Dutch Vandervelt fühlte, wie sich alles in ihm löste. Er konnte sich nicht auf den Beinen halten, sank mit auf den Bauch gepressten Händen zu Boden. Als sein Blutdruck schnell sank, hörte er, wie Zuair etwas zu Lee sagte. Das Letzte, was er sah, war eine schmutzige grüne Deckfliese. Sechzig Sekunden später hörte sein Herz auf zu schlagen. Zuair und seine heiligen Krieger waren gnadenlos. Während die Olympic Voyager Fahrt aufnahm und fünfzehn Knoten schnell wurde, durchsuchten sie das Schiff systematisch und erschossen alle Besatzungsmitglieder. Lee ließen sie am Leben. Er stand auf der Brücke und steuerte das Schiff, hinter ihm ein Mann mit einer Maschinenpistole. Im Lauf des Nachmittags bereitete Zuair Sprengladungen vor – den Plastiksprengstoff hatten seine Männer und er in den Rucksäcken an Bord gebracht. Er musste die Möglichkeit berücksichtigen, dass die Sprengladungen auf der Backbordseite des Schiffes, unter der Wasserlinie, vom Meer fortgerissen wurden. Er brachte den Sprengstoff an den Rohren an, die Dieselkraftstoff zu den Boilern leiteten, und auch an denen für die Wasseraufnahme aus dem Meer. Um ganz sicherzugehen, befestigte er Brandsätze mit Verzögerungszündern an den Leitern, die vom Maschinenraum emporführten. Als die Sonne unterging, waren alle Ladungen vorbereitet, und Zuair kletterte die Leiter zur Brücke hoch. Von der Seite aus blickte er mit einem Feldstecher übers Meer. Ein Schiff in Sicht, auf Gegenkurs, vermutlich nach Port Said unterwegs. Einige Kilometer hinter der Olympic Voyager und abseits ihres 203
Kielwassers fuhr ein Kabinenkreuzer mit Parallelkurs. Zufrieden schritt Zuair über die Brücke. Im Gehen zog er eine Pistole hinter dem Bund hervor und schoss dem Zweiten Offizier Lee in den Hinterkopf. »Schaffen Sie ihn dorthin«, wies er den Mann mit der Maschinenpistole an und deutete zur Luke der Radarkabine. »Schließen Sie die Tür. Wir wollen nicht, dass Leichen im Meer schwimmen.« Die Sonne versank hinterm Horizont, und dunkle Nacht umhüllte sie. Eine Stunde später kam ein großes Containerschiff aus dem Dunst hinter ihnen und überholte die Olympic Voyager. Es kam backbords vorbei, und Zuair beobachtete seine Positionslichter, drehte dann das Steuerrad und änderte den Kurs um zwanzig Grad nach Steuerbord. Anschließend brachte er das Ruder wieder in die Mittelstellung. Es dauerte fast zwei Stunden, bis die Lichter des anderen Schiffes wieder im Dunst verschwunden waren. Zuair blickte auf den Radarschirm. Er wusste nicht, wie man mit dem Gerät umging, und er kannte auch nicht den Maßstab der Darstellung, aber er sah keine Punkte in der Nähe. Das musste genügen. Er überließ dem Mann mit der Maschinenpistole das Ruder, kletterte die Leiter hinunter und ging übers Deck zu der Leiter, die nach unten führte. Im Korridor des unteren Decks schritt er zur Leiter des Maschinenraums. Zwei Tote lagen auf dem Boden. Zuair schenkte ihnen keine Beachtung und sah sich die Anzeigen im Maschinenraum an. Versuchsweise betätigte er einen Hebel, von dem er glaubte, dass er das Drosselventil kontrollierte. Der pochende Rhythmus der Maschinen verlangsamte sich, und eine Anzeige wies auf eine geringer werdende Drehzahl hin. Zuair wusste nicht, wie man die Treibstoffzufuhr der Brenn204
kammern unterbrach, und deshalb versuchte er es erst gar nicht. Er eilte die Leiter hoch und ließ die Luken hinter sich offen. Auf dem Wetterdeck spürte er das Fehlen von Vibrationen und fühlte, wie das Schiff auf die Dünung zu reagieren begann. Der Mann von der Brücke stand bereits an der Steuerbordleiter. Die anderen beiden kamen, als sich der Kabinenkreuzer näherte. Als sie sich an Bord des Kreuzers befanden, holte Faruk AlZuair einen kleinen Sender aus seinem Rucksack und schaltete ihn ein. Der grüne Indikator glühte in der Dunkelheit. Er drückte den Knopf und hörte dumpfes Grollen, als die Sprengladungen im Schiff explodierten. Die Positionslichter der Olympic Voyager leuchteten nach wie vor, und deshalb war das Schiff aus dem Cockpit des Kabinenkreuzers leicht zu sehen, als die Entfernung auf hundert Meter wuchs. Zuair wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis die Voyager sank. Eine halbe Stunde verging, ohne dass sich beim Schiff etwas tat, dann eine weitere. Der Frachter schien nicht sinken zu wollen. Verärgert sendete Zuair ein zweites Signal und zündete damit die Brandsätze. Fünf Minuten später zeigte sich mittschiffs ein mattes Glühen. Offenbar breitete sich das Feuer im Maschinenraum durch Korridore und Leiterschächte aus. Es dauerte nicht lange, bis der Wind den Beobachtern beißenden, nach Öl stinkenden Rauch entgegenwehte. Schließlich wich das Glühen offenen Flammen. Zuair wartete noch immer. Einer seiner Männer wollte aufbrechen, bevor ein Schiff in Sicht geriet, aber Faruk Al-Zuair unterbrach ihn mit einem scharfen Wort. Mehrmals sah er auf die Uhr, und dann endlich hörte er die Explosionen der Ladungen, die der Taucher im Hafen von Port 205
Said am Rumpf angebracht hatte. Es donnerte einmal, zehn Sekunden später ein zweites und drittes Mal, nach weiteren fünfzehn Sekunden ein viertes Mal. Der Kabinenkreuzer entfernte sich langsam vom Schiff, und die Männer an Bord beobachteten, wie die Olympic Voyager lichterloh brannte – die Flammen erhellten das Meer in einem Umkreis von fast einem Kilometer. Wenig später bekam das Schiff Schlagseite. Zuair übernahm selbst das Steuer und brachte den Kabinenkreuzer zum Frachter zurück. Mit einem leistungsstarken Scheinwerfer inspizierte er ihn. Ja, die Olympic Voyager hatte sich um mindestens zwanzig Grad zur Seite geneigt. Zufrieden überließ er das Ruder dem Steuermann. Als sich der Kabinenkreuzer vom Wrack entfernte, beobachtete Zuair das brennende Schiff mit dem Feldstecher. Er hoffte, dass es bis zum Morgengrauen sank. »Inschallah«, flüsterte er. Wenn Allah will.
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10 Anna Modin verließ Zürich nicht mit dem nächsten Flugzeug. Die Arbeit verlangte, dass sie noch einen weiteren Tag blieb, und sie wollte nicht aufbrechen, bevor alle Geschäfte abgeschlossen waren. Die Besprechungen endeten so spät am nächsten Tag, dass sie den letzten Flug verpasste und auf den ersten am folgenden Morgen warten musste. Bevor sie das Hotelzimmer verließ, rief sie Abn Saad an, so wie an jedem Morgen, und berichtete von ihren Treffen mit Schweizer Bankiers und europäischen Geschäftsleuten. Sie versuchte, ruhig und sachlich zu sprechen, so wie immer. Wenn Abn Saad jetzt Verdacht schöpfte … Als sie auflegte, war ihr Mund so trocken, dass sie nicht schlucken konnte. Sie trank Mineralwasser aus der Minibar des Zimmers, und ihr Puls raste. Oh, beim Gespräch mit Ilin hatte sie tapfer geklungen, voller Mut und nobler Entschlossenheit, dazu bereit, eine islamische Frau zu retten, die sie überhaupt nicht kannte und der vielleicht gar keine Gefahr drohte. Sie riskierte ihr Leben bei dem Versuch, eine Person zu retten, die sich vielleicht weigerte, Ägypten zu verlassen. Möglicherweise war Nooreem Habib verheiratet, verlobt, glücklich … Ilin wusste es nicht. Er konnte ihr nur sagen, dass Nooreem sechs Jahre lange eine englische Schule besucht hatte und eine ausgezeichnete Schülerin gewesen war. Die Direktorin hatte an sie geglaubt, und das genügte Ilin. Es genügte, um ein gewisses Vertrauen in sie zu setzen. Das Risiko war gering: Nooreem hatte nie seinen Namen gehört und wusste nichts von seinen Aktivitäten. Aber Nooreem Habib war eine tapfere Frau – so viel stand für Anna Modin fest. Sie hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um Informationen über Terroristen weiterzugeben, und das wog für 207
Modin schwerer als alle unbekannten Faktoren. Sie brauchten amerikanische Visa, teilte Ilin ihr mit. So kurzfristig konnte er nicht helfen. Anna Modin erwiderte, dass sie einen Mann in Kairo kannte … Plötzlich drehte sich ihr der Magen um, und sie eilte ins Bad und erbrach das Frühstück. Mut? Ha! Du bist eine Närrin, Anna Modin! Du bist völlig übergeschnappt! Freddy Bailey! Wenn sie in Kairo eintraf, würde sie Freddy Bailey anrufen! Ob Närrin oder nicht: Sie packte ihre Sachen und rief den Hotelpagen. Wenig später war sie mit einem Taxi zum Flughafen unterwegs. Als Jake auf seinem Schreibtisch einen Zettel mit dem Hinweis fand, dass Jack Yocke von der Washington Post angerufen hatte, regte sich Sorge in ihm. Bei dem Anruf ging es ganz offensichtlich um berufliche Dinge, denn sonst hätte Yocke zu Hause angerufen und bei Callie eine Nachricht hinterlassen. Das machte er gelegentlich, um die Graftons zum Essen oder zu einem Konzert im Kennedy Center einzuladen. Jake wartete bis Mittag und rief den Reporter mit seinem Handy an, während er über den CIA-Campus zur Cafeteria ging. »Hallo, Jack. Jake Grafton.« »Danke, dass Sie zurückrufen, Admiral.« »Schon gut.« »Ich wollte Ihnen einige Fragen stellen. Deep background.« »Meinetwegen«, sagte Jake, blieb stehen und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. »Ich stelle Nachforschungen in Hinsicht auf diesen massiven 208
Einsatz des Militärs an. So viele Soldaten in der Nähe von New York, Washington, Los Angeles, San Diego, Miami … untersuchen mit Geigerzählern Eisenbahnwaggons und Lastwagen. Können Sie mir dazu irgendetwas sagen?« »Ich lese Ihre Zeitung, Jack.« »Sie wissen also, dass Pentagon und Weißes Haus von ›routinemäßigen Vorsichtsmaßnahmen‹ sprechen?« »Das habe ich gelesen, ja.« »Könnten Sie mir zusätzliche Informationen geben? Unter uns. Ihr Name wird nicht genannt.« »Nein«, sagte Jake sofort. »Mir fällt überhaupt nichts ein. Die Soldaten kommen vom Heer und der Nationalgarde, nicht wahr?« »Ja, und ich weiß natürlich, dass Sie zur Marine gehören. Aber ich dachte, dass Sie vielleicht etwas darüber wissen.« »Warum denn?« »Mir ist da ein Gerücht zu Ohren gekommen.« »Ach?« »Angeblich sind Sie an einer Suche nach Atomwaffen beteiligt.« »Wo haben Sie diese üble Verleumdung gehört?« »Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht sagen kann.« »Ich kann weder etwas bestätigen noch dementieren, Schiffskamerad. Dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Aber ich möchte wissen, woher das Gerücht stammt. Dies ist sehr wichtig, Jack.« »Vielleicht können Sie es zurückverfolgen.« »Sie sind imstande, mir dabei zu helfen. Ihr Name bleibt unerwähnt.« »Ich kann nur sagen, dass ich das Gerücht für glaubwürdig gehalten habe. Die Person, mit der ich gesprochen habe, plau209
derte etwas aus, das mir streng geheim erschien.« »Danke für den Hinweis. Glauben Sie, die Person ruft Sie noch einmal an?« »Das ist wahrscheinlich.« »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Jack.« »Danke, Admiral.« Als Grafton nach dem Essen in sein Büro zurückkehrte, schrieb er eine Notiz für Tommy Carmellini: »Jack Yocke, ein Reporter der Washington Post, hat eine Quelle, aus der er weiß, dass ich nach Atomwaffen suche. Zelda soll jemanden nach dieser Quelle suchen lassen. Er oder sie ruft wahrscheinlich noch einmal an.« Kairo ist eine der größten Städte der Erde: eine gewaltige urbane Agglomeration, von einem großen, legendären Fluss in zwei Hälften geteilt. Menschen haben am Nil gelebt und Landwirtschaft betrieben, seit die ersten Bauern lernten, Getreide anzubauen, doch die Stadt Kairo wurde erst im Jahr 969 gegründet. Ihr westlicher Name Kairo geht auf den arabischen Namen ElKahira, die Siegreiche, zurück. Im Arabischen werden sowohl Stadt als auch Nation Misr genannt. Das moderne Kairo ist eine sonderbare Mischung aus Ost und West, Alt und Neu. Vergangenheit und Zukunft schwitzen in der schmutzigen, stinkenden Hitze der Gegenwart. Der Einfluss von Europa und Amerika ist im modernen Teil deutlich zu erkennen, doch nicht weit von dieser urbanen Pracht entfernt erstreckt sich das alte, islamische Kairo, eine Stadt schmaler Straßen, enger Gassen und voll von vibrierendem Leben. Wenn man mit dem Flugzeug kommt und über die Stadt fliegt, sieht man hier und dort glitzernden weißen Stein auf den größeren Gebäuden, meistens Moscheen. Die Zitadelle und 210
einige der älteren Moscheen sind aus weißem Kalkstein errichtet, den Verblendsteinen der Pyramiden. Vor Jahrhunderten, als die islamische Zivilisation der arabischen Eroberer Ägyptens ihren Höhepunkt erreicht hatte, nahm man jene Steine von den Monumenten der Pharaonen. Und dann der Fluss, ein allgegenwärtiges braunes Band, das aus der Wüste nach Norden führt, Wasser und Schlamm aus dem tropischen Herzen Afrikas bringt. Irgendwie erscheint es angemessen, dass über Jahrtausende hinweg die Nachkommen der alten Ägypter, die in dieser Wüstenstadt wohnten, nichts von der Quelle des Flusses wussten, der die Grundlage ihrer Zivilisation bildete. Anna Modin brachte im Flughafen die üblichen Kontrollen hinter sich und ging die Treppe hoch. In einer stillen Ecke mit leeren Stühlen telefonierte sie mit ihrem Handy. »Freddy? Ich bin’s, Anna«, sagte sie auf Englisch. »Das ist eine Überraschung«, sagte er bitter. »Ich dachte, ich würde nie wieder etwas von dir hören. Wie lange ist es her, drei Monate?« »Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Freddy.« »Ich habe bestimmt ein Dutzend Mal angerufen. Du hättest wenigstens einmal zurückrufen können.« »Du bist ein lieber Mann, Freddy, aber wir passen nicht zueinander.« »Ist das nicht erstaunlich? Ich hatte nicht die geringste Ahnung davon, bis du mich sitzen gelassen hast.« »Ich wollte dich nicht verletzen, Freddy, und ich entschuldige mich. Bei der Bank ist es zu einem Notfall gekommen. Eine Kollegin und ich müssen nach Amerika, sofort. Wir brauchen amerikanische Visa.« »Kommt zur Botschaft, wenn sie geöffnet hat. Wir geben eure Daten in den Computer und setzen euch auf die Warteliste.« 211
»Freddy! Ich habe dich nie um einen Gefallen gebeten, und das würde ich auch jetzt nicht, wenn ich die Wahl hätte. Bitte.« Am anderen Ende blieb es so lange still, dass Modin schon glaubte, die Verbindung wäre unterbrochen. »Du hast mir das Herz gebrochen, Anna«, sagte Freddy schließlich. »Es tut mir Leid, Freddy.« »Ich bekomme Schwierigkeiten, das weißt du.« »Freddy, ich sage die Wahrheit. Meine Kollegin ist in Lebensgefahr …« »Ja. Klar.« »Wir müssen nach Amerika. Mehr kann ich dir nicht sagen. Die Beamten in der Botschaft werden sich vielleicht über dich ärgern, nicht aber die Leute in Washington. Das verspreche ich dir.« Freddy seufzte. »Zwei Touristenvisa, zwei Wochen.« »Das reicht, danke.« »Wir treffen uns heute Abend um zehn im Marriott. Erinnerst du dich an das Lokal?« »Du weißt, dass ich es nicht vergessen habe.« »Früher kann ich nicht, weil ich verabredet bin.« Freddy legte auf, ohne sich zu verabschieden. Anna Modin zog ihre Reisetasche auf Rädern hinter sich her und stand vor dem Lufthansa-Schalter Schlange. Sie kaufte zwei Tickets in die Schweiz, eines für Nooreem Habib, das andere für sich selbst – der erste Flug am kommenden Morgen. Sie bezahlte in bar und gesellte sich dann der Menge hinzu, die draußen versuchte, ein Taxi zu finden. Der Fahrer des Wagens, in den sie schließlich einstieg, freute sich nicht darüber, dass sie Arabisch mit ägyptischem Akzent sprach – er hatte sie für eine europäische Touristin gehalten. Er feilschte halbherzig um den Fahrpreis und murmelte dann: »Inschallah.« Und so begann die einstündige Fahrt ins Herz von Kairo. 212
Unterwegs dachte Anna Modin über ihre Situation nach. Sie hatte Geld in der Handtasche, im BH und im Slip, amerikanische Dollars. Sie stammten von einem kleinen Bankkonto, das sie vor Jahren eingerichtet hatte, als sie noch in der Schweiz tätig gewesen war. Ihr Kairo-Konto bei Walney’s wagte sie nicht anzurühren. Sie hoffte, dass Nooreem Habib einen gültigen Pass besaß und ihn holen konnte. Wenn nicht … Das Risiko bestand darin, dass Abdul Abn Saad ihnen jemand hinterherschickte. Falls es ihnen überhaupt gelang, Ägypten zu verlassen. Angeblich war Ägypten eine eingeschränkte Demokratie, aber in Wirklichkeit bestimmte ein kleiner Kreis sehr mächtiger Männer die Geschicke des Landes. Saad gehörte nicht zu dieser Elite, aber er saß zweifellos in der zweiten Reihe. Er hatte Geld und kannte Leute, die mehr Geld hatten, die wiederum Leute mit noch mehr Geld kannten … Und er war mit den religiösen Fanatikern liiert. Es wäre ein großer Fehler gewesen, seinen Einfluss zu unterschätzen. Modins Magen blieb ruhig, als sich ihr der vertraute Anblick bot: die vielen Menschen, Tiere, kleine Gruppen von Polizisten mit automatischen Waffen. Sie hatte sich nicht erneut übergeben, vielleicht deshalb, weil sie außer dem Frühstück den ganzen Tag über nichts mehr gegessen hatte. Hungrig war sie gewiss nicht. Es entsprach ihrer Gewohnheit, direkt zur Bank zu fahren, wenn sie während der Geschäftsstunden nach Ägypten zurückkehrte, und das machte sie auch diesmal. Sie nahm den Lift zu ihrem Büro, ging anschließend zu Abdul Abn Saad und grüßte seinen Sekretär. Wenige Minuten später saß sie vor Saads Schreibtisch und berichtete von ihren Geschäftsgesprächen in Zürich. Er wirkte wie immer sehr aufmerksam. Anna Modin versuchte, sich ganz auf die Ergebnisse ihrer 213
Reise zu konzentrieren, auf die Diskussionen und Entscheidungen, die sie getroffen hatte, auf die Verpflichtungen, die sie für die Bank eingegangen war. Den größten Teil davon kannte Saad aus ihren täglichen Telefonaten, aber nach einer Reise ging er gern noch einmal alles durch, beobachtete sie und hörte zu, während sie die Gründe für ihre Entscheidungen schilderte. »Ich glaube ebenfalls, dass diese Angelegenheit profitabel für uns sein wird«, sagte er schließlich, den Blick noch immer auf ihr Gesicht gerichtet. »Sie haben gute Arbeit geleistet.« »Danke.« »Bitte nehmen Sie morgen an der Direktionssitzung teil. Ich möchte, dass die anderen über alles Bescheid wissen.« Morgen früh. Er wusste nicht, dass sie dann nicht mehr in Ägypten sein würde. Erleichterung durchströmte Modin, und sie befürchtete, dass man sie ihr ansah. »Ja, Sir«, brachte sie hervor, stand auf, verließ den Raum, ging am Schreibtisch des Sekretärs vorbei und kehrte durch den Flur zu ihrem kleinen Büro zurück. Sie sah auf die Uhr. Die Angestellten in den Hinterzimmern würden bald ihre Arbeit beenden. Sie musste jetzt sofort mit Nooreem reden. Ihr blieb keine Wahl. Die Angestellten hatten keine Telefone auf ihren Schreibtischen. Anrufe nahm der Büroleiter entgegen, der Nooreem vielleicht zum Telefon rief, vielleicht aber auch nicht, der eine Nachricht vielleicht weitergab oder sie einfach vergaß. Für Anna Modin gab es keinen plausiblen Grund, den Büroleiter zu bitten, Nooreem zu ihr zu schicken. So etwas war nie zuvor geschehen. Wenn Nooreem überhaupt da war. Bitte, Gott, lass sie hier sein. Modin ging die Treppe hinunter und durch den Korridor zum neuen Computerzentrum. 214
Sie trat durch die Tür, und ihr Blick glitt durch den Raum. Sechs Ägypterinnen saßen an den Schreibtischen, und alle trugen westliche Kleidung. Der Büroleiter stand auf der einen Seite. »Nooreem Habib, bitte«, sagte Modin. Wenn er argwöhnisch war, so deutete in seinem Gesicht nichts darauf hin. Er zeigte auf eine der Frauen. Anna Modin trat auf sie zu. Nooreem saß an einem Computerterminal und sah auf, als sich Modin näherte. Sie erhob sich, als ihr klar wurde, dass Anna wegen ihr gekommen war. Sie schien Mitte zwanzig zu sein und wirkte intelligent. »Miss Habib, ich bin Anna Modin. Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?« Nooreem musterte die Russin mit großen, klugen braunen Augen. Modin sprach leise, fast unhörbar. »Ich bin Ihr Kurier. Bitte folgen Sie mir in den Flur.« Sie drehte sich um und verließ den Raum, nickte dabei dem Büroleiter, der jetzt an seinem Schreibtisch neben der Tür saß, respektvoll zu. Habib zögerte nicht. Als Anna den Raum verließ, hörte sie, wie Nooreem kurz mit dem Büroleiter sprach und ihr dann in den Flur folgte. Modin sah sie an. »Ich bin Ihr Kurier«, wiederholte sie leise. »Sie müssen Kairo zusammen mit mir verlassen.« Nooreem riss die Augen auf. »Wegen der CD?« »Ja. Haben Sie noch etwas ins Loch gelegt?« »Nein.« »Haben Sie einen Pass?« »Ja. Zu Hause. Ich wohne natürlich bei meinen Eltern.« »Wann beenden Sie die Arbeit?« 215
Habib sah auf ihre Armbanduhr. »In zwanzig Minuten.« Der Mann vom Computerzentrum öffnete die Tür und sah in den Flur. »Im Café an der Ecke«, hauchte Anna und fügte dann in einem normalen Tonfall hinzu: »Danke für Ihre Hilfe.« Damit ging sie fort. Sie hätte gern noch mehr gesagt, aber es blieb nicht genug Zeit. Keine Zeit! Nooreem Habib betrat das Café, ging zu Anna Modins Tisch und nahm Platz. Der kleine Raum füllte sich schnell mit lauten Büroangestellten, die einen Kaffee trinken wollten, bevor sie heimkehrten. Die Entschlossenheit in Nooreems Gesicht überraschte Modin. So sah keine Frau aus, die sich davor fürchtete, Heim und Familie zu verlassen. »Sie müssen mich nach Amerika begleiten«, sagte Modin und musterte die Ägypterin aufmerksam. »Vielleicht können Sie nie nach Ägypten zurückkehren.« »Ich verstehe. Gestern bin ich mit dem Anlegen einer speziellen Datei fertig geworden. Sie enthält die Namen und Kontonummern von Personen, die den fundamentalistischen Dschihad unterstützen. Es fehlt nichts: Namen, Datum, Beträge und so weiter. Ich habe die Datei eben auf eine CD gebrannt.« Modin starrte die junge Frau groß an. »Nachdem ich mit Ihnen gesprochen habe?« »Ja.« Nooreem öffnete die Tasche, und Anna sah eine CD. Die Ägypterin schloss ihre Handtasche wieder. »Ich habe zunächst nicht bemerkt, dass Ahmed mich dabei beobachtete, aber ich glaube, er weiß nicht, was ich getan habe.« Modin legte Geld auf den Tisch. »Kommen Sie. Wir dürfen keine Zeit vergeuden.« 216
Sie mussten dorthin, wo Nooreem wohnte, damit sie ihren Pass holen konnte. Die beiden Frauen nahmen ein Taxi, das durch den dichten Verkehr nach Osten kroch. Modin und Habib saßen im Fond und schwiegen. Anna dachte an Freddy Bailey und fragte sich, ob er tatsächlich wie versprochen die beiden Touristenvisa besorgen würde. Sie überlegte auch, ob der Büroleiter Ahmed vielleicht in diesem Augenblick mit Abdul Abn Saad sprach. Für Anna war es die längste Taxifahrt ihres Lebens. Die Habibs wohnten in einem eindrucksvollen Einfamilienhaus in einem guten Viertel von Kairo, direkt gegenüber der Stadt der Toten, einem riesigen Friedhof, auf dem mindestens seit dem neunten Jahrhundert Tote bestattet wurden. Der Friedhof war gewaltig, ein Meer aus Grabsteinen, Monumenten und Krypten, das sich so weit erstreckte, wie der Blick in Dunst und Smog reichte. Mauern umgaben den Friedhof, mit Wachtürmen in Abständen von einigen hundert Metern. Auf den Türmen standen Soldaten mit Maschinenpistolen, und die Waffen zielten auf das Innere des Friedhofs. Die Mauern und Wachtürme sollten die lebenden Bewohner des Friedhofs daran hindern, nach draußen zu gelangen. Einige der ärmsten Einwohner von Kairo lebten dort, Kriminelle, Deserteure aus dem Militär, Obdachlose und so weiter. Sie hatten sogar eigene Moscheen auf dem Friedhof errichtet, in denen Imame islamischen Fundamentalismus und Dschihad predigten. Anna stieg aus dem Taxi und warnte Nooreem. »Sagen Sie nicht, dass Sie das Land verlassen. So etwas spräche sich schnell herum. Wenn Saad davon erfährt, schickt er Männer zum Flughafen, um uns aufzuhalten.« »Ich verstehe«, sagte Nooreem Habib unverbindlich und sah zum Haus. »Sagen Sie, dass Sie mit Freunden essen gehen wollen. Holen Sie Ihren Pass und lassen Sie alles andere zurück. Ich habe 217
genug Geld für uns beide dabei.« Der Taxifahrer wollte bezahlt werden. Habib betrat das Haus, während Anna feilschte. Sie gab dem Fahrer etwas Geld, versprach mehr und setzte sich in den Fond, damit er nicht einfach wegfuhr. Sie blickte an der Friedhofsmauer vorbei zu den nächsten Grabstätten, Krypten und von Mauern umgebenen Familiengräbern. Die ausgedehnten Labyrinthe ließen sich praktisch nicht überwachen, und des Nachts versuchte es die Polizei auch gar nicht. Sie schien anzunehmen, dass jeder, der sich nach Einbruch der Dunkelheit dort befand, genau das bekam, was er verdiente. Populäre ägyptische Musik plärrte aus dem Autoradio. Der Verkehr lärmte über die Straße vor dem Haus der Habibs, und Passanten bildeten ein dichtes Gedränge. Langsam verschwanden die Schatten, als sich die Abenddämmerung auf die Stadt herabsenkte. Die Zeit verging quälend langsam. Schließlich drehte sich der Taxifahrer zu Anna um und verlangte mehr Geld. Sie sah auf die Uhr – seit zwanzig Minuten waren sie hier. Sie reichte dem Fahrer weitere Banknoten und ahnte, dass sich Nooreem nicht an ihren Rat gehalten hatte. Vermutlich hatte sie ihrer Familie erzählt, dass sie das Land verließ, vielleicht für immer, und dadurch war es im Haus zu einer Szene gekommen. Ein Wagen fuhr an den Straßenrand und hielt fünfzehn Meter vor dem Taxi. Zwei Männer saßen darin. Sie sahen zurück, rückten dann die Spiegel ihres Wagens zurecht. Nach zehn Minuten und einer weiteren Zahlung an den Taxifahrer öffnete sich die Tür des Habib-Hauses. Ein gut fünfzig Jahre alter Mann blickte kurz zur Straße und schloss die Tür wieder. Oh, oh. Der Wagen mit den beiden Männern parkte noch immer am Straßenrand. Vierzig Minuten vergingen, dann fünfundvierzig. Das letzte 218
Licht des Tages verschwand. Scheinwerferlicht und das Glühen von Lampen hinter offenen Fenstern erleuchteten die Straße. An Straßenecken gab es kleine Laternen, aber die halfen nicht viel. Anderthalb Stunden nachdem Nooreem das Haus betreten hatte, öffnete sich erneut die Tür, und eine ganze Gruppe von Personen kam nach draußen. Offenbar handelte es sich um Nooreems Familie: Vater, Mutter, ein oder zwei Schwestern, mehrere jüngere Brüder. Eine Frau, die vielleicht eine Tante war. Diese Prozession näherte sich dem Taxi; einer der Jungen trug einen Koffer. Die beiden Männer im Wagen weiter vorn stiegen aus. Jeder hielt eine Pistole in der Hand. Anna Modin unterdrückte einen Schrei. Der Taxifahrer warf einen Blick auf die beiden Männer, startete den Motor und gab Gas. Der Wagen sprang nach vorn. Einer der beiden Bewaffneten befand sich auf Annas Seite. Sie öffnete die Tür und stieß sie mit all ihrer Kraft auf. Es gab einen dumpfen Schlag, als der Mann dagegen prallte. »Halten Sie an!«, heulte Anna auf Arabisch, als der Taxifahrer auf die Bremse trat – er hatte die Kollision gespürt –, dann aber wieder Gas gab. Modin beugte sich vor, drehte den Zündschlüssel und zog ihn ab. Das Taxi blieb stehen, und der Fahrer fluchte hingebungsvoll auf Arabisch. Anna stieg rasch aus und hielt dabei ihre Tasche fest. Sie lief zurück zu dem Mann, der auf der Straße lag. Weiter hinten stob die Habib-Familie auseinander, alle außer Nooreem, die wie angewurzelt dastand und den zweiten Bewaffneten anstarrte. Der Mann wirkte ebenfalls wie gelähmt, als er zu seinem auf dem Boden liegenden Kumpan sah. Anna Modin wurde langsamer, bückte sich und hob die Pistole des Verletzten auf. Sie richtete die Waffe auf den stehenden 219
Mann, der einen Schritt zurückwich und dann zu dem Wagen blickte, mit dem er gekommen war. Anna verstand nichts von Waffen und hielt jetzt zum ersten Mal eine in der Hand. Sie zielte auf den zweiten Mann und betätigte den Abzug. Nichts geschah. Die auf ihn gerichtete Waffe veranlasste den zweiten Mann, sich zu ducken und schnell zur Limousine zurückzuweichen. Doch als Modin nicht schoss, hatte er es nicht mehr so eilig. Er sah sich nach eventuellen Beobachtern um, hob dann seine eigene Pistole. O mein Gott! Anna Modin drehte sich um und rannte auf Nooreem zu. »Laufen Sie!« Nooreem sprintete los und huschte durch ein Tor im nächsten Wachturm, Anna Modin dicht hinter ihr. Die Soldaten auf dem Turm sahen, was sich unten abspielte, aber sie machten keine Anstalten, in das Geschehen einzugreifen. Die beiden Frauen liefen in die Finsternis und folgten dem Verlauf eines Weges, der von der hellen Straße wegführte. Einmal warf Modin einen Blick über die Schulter und sah den Schemen des Mannes, der ihnen folgte. Etwas schlug rechts neben Anna in die dunkle Wand, und unmittelbar darauf hörte sie den Knall des Schusses. Wenige Sekunden später knallte es erneut, aber sie sah nicht, wo die zweite Kugel einschlug. Der Weg bog abrupt nach rechts ab. Anna stieß gegen die Wand, prallte ab und lief hinter Nooreem, die sich nur als dunklere Silhouette in der Dunkelheit abzeichnete. Der Boden war uneben, und mehrmals wäre sie fast gefallen. Überrascht stellte sie fest, dass sie noch immer die Pistole in der Hand hielt. Sie wusste nicht, wie man damit schoss, und deshalb warf 220
sie die Waffe weg. Sekunden später kamen sie an einem Schatten vorbei, der nach Annas Tasche griff, die an ihrer Schulter hin- und herschwang. Mit der Kraft der Verzweiflung schloss Modin die Hand darum und lief weiter. Sie keuchte, und das Herz schlug rasend in ihrer Brust, als sie zu Nooreem aufschloss, die langsamer wurde. Hinter sich hörte Anna den Mann, der immer näher kam. »Laufen Sie schneller«, forderte sie die Ägypterin auf. »Nicht stehen bleiben.« »Ich kann nicht mehr«, schnaufte Nooreem. Sie reichte Anna ihre Handtasche. »Hier, nehmen Sie. Die CD befindet sich darin.« Anna ergriff Nooreems Arm. »Über diese Mauer«, drängte sie. »Verstecken wir uns.« Sie kletterten über die Mauer, duckten sich dahinter und hörten, wie der Mann auf der anderen Seite vorbeilief. Sie durchquerten eine kleine Parzelle und brachten die Mauer auf der anderen Seite hinter sich. Als sie den Wee fortsetzten, stieß Anna gegen ein Grabmal, das unerwartet vor ihr in der Finsternis auftauchte. Sie fiel, stand wieder auf und folgte Nooreem. Es war sehr anstrengend, über eine Mauer nach der anderen zu klettern. Mit aufgeschlagenen Knien und zerrissenen Strümpfen krochen sie über eine weitere Mauer, als das Licht einer Taschenlampe auf sie fiel. Schüsse knallten. Das Grab, das sie überquerten, gab unter ihnen nach, und sie fielen in ein Loch. Anna Modin konnte einen Schrei nicht unterdrücken. Schmutz, Spinnweben, etwas Schleimiges … Nooreem verließ die Grube als Erste und streckte die Hand aus, um Anna zu 221
helfen, die im Dreck wühlte und nach oben zu kommen versuchte. Nooreem zog sie hoch, drückte ihr die Tasche mit der CD in die Hand und schob sie an eine Mauer. Dann richtete sie sich auf und kletterte zur anderen Seite. Ein Lichtstrahl traf die Fliehende, als sie versuchte, über die Mauer hinwegzusetzen. Ein Schuss … zwei … drei … Und Nooreem Habib fiel. Der Schütze überquerte die Mauer rechts von Anna. Sie hörte ihn und sah das Licht der Taschenlampe, als er über die Mauer kletterte. Der Mann wollte bestimmt die Handtasche, doch Nooreem hatte sie nicht mehr. Anna wusste, dass er nach der Tasche suchen würde, bevor er nach ihr Ausschau hielt. Geduckt tastete sie sich an der Mauer neben dem offenen Grab entlang. Auf der anderen Seite kletterte sie so leise wie möglich über die Mauer hinweg, mit der Absicht, zu dem Weg zurückzukehren, der sie zum Friedhof gebracht hatte. Hinter ihr erklang ein Schrei, und dann fiel erneut ein Schuss. Die Odyssee dauerte zwanzig Minuten. Die ganze Zeit über leuchtete der Bewaffnete mit seiner Taschenlampe in Familiengräber, kletterte über Zäune und fluchte immer wieder. Anna atmete schwer, schluchzte leise, biss sich auf die Lippe und weigerte sich aufzugeben. Als sie wieder auf dem Weg stand, wankte sie in Richtung der fernen Straßenlichter. Sie hielt beide Handtaschen fest und wischte sich mit dem Saum des Kleids das Gesicht ab. Einige Sekunden lang verharrte sie, fasste sich und straffte die Schultern. Mit grimmiger Entschlossenheit setzte sie sich wieder in Bewegung und ging mit langen Schritten. Als sie die Außenmauer erreichte, wandte sie sich dem nächsten Wachturm und dem Tor darin zu. Die Soldaten sahen sie, gaben aber vor, sie nicht zu bemerken.
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Anna Modin rief Freddy Bailey an. Sie versuchte, ruhig zu sprechen, aber ihre Stimme zitterte. »Bitte komm mit dem Wagen und hol mich ab.« Sie beschrieb, wo sie sich befand: in einem kleinen Restaurant unweit der Stadt der Toten. Ihr Tonfall überzeugte Freddy – er widersprach nicht. »Was ist los?«, fragte er. »Wenn du hier bist, sage ich dir alles, was du wissen willst. Ich brauche deine Hilfe, Freddy.« »Ich bin unterwegs. Warte auf mich.« »Ja«, sagte Anna und unterbrach die Verbindung. Auf der Toilette sah sie in den Spiegel. Sie war zerkratzt, und ihre Beine bluteten an mehreren Stellen. Schmutz klebte an Wangen und Stirn. Mit dem Saum des Kleides wischte sie den größten Teil fort. Mörder von Frauen und Kindern. Kein Wunder, dass Nooreem sie gehasst hatte. Die junge Ägypterin war sehr mutig gewesen, dachte Anna. In einer Welt, in der sich viele Menschen vor dem Fliegen fürchten, war Nooreem Habib bereit gewesen, mit dem Teufel höchstpersönlich zu ringen. Anna wusste sehr gut, wer der Teufel war: Abdul Abn Saad. »Du wirst noch von mir hören«, flüsterte sie. »Haben Sie einen Augenblick Zeit, Admiral?« Harry Estep, der FBI-Verbindungsmann, sah zur Tür herein. »Natürlich, Harry.« »Ich habe die Ergebnisse der Lügendetektor-Befragungen, die wir auf Ihre Anweisung hin bei all jenen Personen durchgeführt haben, die von der Ilin-Doyle-Verbindung wussten.« »Gut.« »Zuerst eine Erklärung. Als man Sie mit dem Detektor ver223
band … Erinnern Sie sich an die EEG-Kabel, die man an Ihrem Kopf befestigte?« »Ich erinnere mich daran, ja. Aber ich wusste nicht, dass es EEG-Kabel waren.« »Die EEG-Verbindungen waren die eigentlich wichtige Sache. Der andere Kram sollte nur den Eindruck erwecken, dass es sich um eine gewöhnliche Lügendetektor-Befragung handelte, was aber nicht der Fall war. Normalerweise wird der Blutdruck gemessen, Atmung, Puls und so weiter – es geht um die Entdeckung unwillkürlicher emotionaler Reaktionen auf Lügen. Geschickte oder chronische Lügner können einen normalen Detektor überlisten. Die neue Technik ignoriert die emotionalen Reaktionen. Wir halten jetzt nach einem so genannten P300-Ausschlag in den EEG-Aufzeichnungen Ausschau. Zu einer solchen Hirnaktivität kommt es etwa eine Drittelsekunde nachdem man etwas Wichtiges bemerkt hat. Sie ist wie ein geistiger Erkennungsklick, automatisch und vorhersehbar. Wir suchen gewissermaßen nach ›schuldigem Wissen‹, nach einem speziellen Wissen, über das nur die schuldige Person verfügt. Die Schwierigkeit bei dieser Methode besteht darin, die richtigen Fragen zu formulieren.« »Höre jetzt zum ersten Mal davon«, brummte Jake. »Nach der Theorie sind in den Gehirnen von Verbrechern Details der Tat gespeichert, von denen Unschuldige nichts wissen. Das gilt auch für Personen, die sich eines Verbrechens bezichtigen, obwohl sie gar nichts damit zu tun haben. Personen mit geheimem Wissen zeigen eine P300-Reaktion auf ansonsten harmlos wirkende Fotos oder Worte. Unsere Erfolgsquote liegt bei etwa neunzig Prozent – ohne falsche Treffer.« »Anders ausgedrückt: Der Schuldige wird vielleicht nicht entdeckt, aber wenn es zu einem Treffer kommt, so haben Sie den Richtigen gefunden.« »Genau. Das Schöne an dieser Technik ist, dass die zu unter224
suchende Person überhaupt nichts sagen muss. Wir blicken direkt in die kognitiven Vorgänge des Gehirns. Das Recht zu schweigen wird dadurch unbedeutend.« Jake Grafton lächelte. »Das wird die ACLU freuen.« »Als Sie und Commander Tarkington befragt wurden, haben Sie beide Janas Ilins Bild erkannt«, fuhr der FBI-Agent fort. »Aber Richard Doyle erkannten Sie nicht.« »Bin ihm nie begegnet.« »Eine der anderen Personen, die wir befragten, erkannte Ilin ebenfalls: der Nationale Sicherheitsberater Butch Lanham. Er sprach nicht davon, aber der P300-Ausschlag zeigte, dass er das Foto erkannte.« »Verstehe.« »Zwei andere Personen erkannten Doyle. Twilley nannte seinen Namen. Tran hingegen verzichtete darauf, den Namen zu nennen, legte das Foto einfach beiseite und nahm das nächste.« »Haben Sie gefragt, ob er Doyle jemals begegnet ist?« »Er hat geleugnet, ihn zu kennen.« Jake wirkte nachdenklich. »Er könnte ihn in der Cafeteria gesehen und irgendwann einmal neben ihm geparkt haben, was in der Art.« »Stimmt«, räumte Estep ein. »Wir wissen nur, dass er ihn erkannt hat.« »Gut.« »Butch Lanham war echt sauer darüber, dass er die Befragung über sich ergehen lassen musste. Das gilt auch für Coke Twilley und Sonny Tran.« Jake Grafton schwieg. »Das ist noch nicht alles, Admiral«, fügte Harry Estep hinzu. »Während Twilley und Tran mit dem Lügendetektor verbunden waren, gaben sie zu, unbefugten Personen von Doyle er225
zählt zu haben.« »Sie scherzen wohl, wie?« »Nein.« Estep kratzte sich am Kinn. »Es könnte natürlich eine ganz harmlose Sache sein, aber ein kleines Vergehen zuzugeben, um über ein großes hinwegzutäuschen … Das ist eine weit verbreitete Methode, um vom Lügendetektor nicht entlarvt zu werden.« Jake Grafton drehte einen Kugelschreiber hin und her. »Danke, Harry«, sagte er dann geistesabwesend. Arch Fosters Haus lag in einem ruhigen Wohngebiet in Silver Spring, Maryland, direkt südlich der New Hampshire Avenue und etwa anderthalb Kilometer vom alten Naval Surface Weapons Center entfernt. Das Viertel bestand aus endlosen Reihen kleiner Ziegelhäuser, und alte Ahorne spendeten Schatten auf stillen Höfen. Hinter Fosters Haus ging es steil nach unten, und deshalb hatte es von der Straße aus gesehen den Anschein, als gäbe es dort einen Keller mit nutzbarem Dach. Keine Garage. Nirgends brannte Licht, und es stand kein Wagen in der Zufahrt. Tommy Carmellini parkte seinen Mercedes einen Block entfernt. Er nahm den Rucksack mit den Einbruchswerkzeugen, der vor dem Beifahrersitz lag, stieg aus und schloss den Mercedes ab. Die Schlüssel steckte er ganz bewusst in die rechte Hosentasche. Dann schlenderte er durchs Viertel und nahm alle Einzelheiten in sich auf. Um elf Uhr abends brannte hier und dort noch Licht, und durch die Fenster sah Carmellini gelegentlich einen Fernsehschirm. Einmal bellte ein Hund, aber ansonsten blieb alles ruhig. Er wusste nicht, wo sich Arch an diesem Abend befand oder wann er zurückkehrte. Wenn er kam, während sich Carmellini noch in seinem Haus aufhielt, wurden die Dinge bestimmt interessant. 226
Er holte zwei Latexhandschuhe, wie sie Chirurgen benutzten, aus der linken Hosentasche. Er hatte sie innen bereits mit Talkumpuder bestäubt, und deshalb ließen sie sich mühelos überstreifen. Er zog sie stramm. Carmellini setzte den Weg fort und sah sich aufmerksam um, ohne den Kopf zu drehen. Als er Fosters Block erreichte, ging er über den Rasen und den Hügelhang hinunter zum rückwärtigen Teil des Hauses. Ein Bach floss dort, die Ufer von Büschen und Sträuchern bewachsen – kein geeigneter Ort für Jogger oder Spaziergänger. Auf den angrenzenden Grundstücken war niemand zu sehen. Das Licht der Straßenlaternen reichte nicht bis hierher, und deshalb war es ziemlich dunkel. Nein, es gab keinen Keller mit nutzbarem Dach. Das Haus musste mindestens fünfzig Jahre alt sein, und damals hatte niemand an solche Dinge gedacht. Die Tür des Kellers befand sich unter der Küchenveranda. Mit einer kleinen, abgeschirmten Taschenlampe untersuchte er sie und sah durch ihr kleines Fenster. Keine sichtbare Alarmanlage. In der einen Ecke bemerkte er das Etikett eines Sicherheitsunternehmens, die Farben längst verblasst. Offenbar klebte es schon seit Jahren an der Scheibe. Es wäre klug, die Telefonleitung durchzuschneiden, nur für den Fall, dass der gute alte Arch eine Alarmvorrichtung an der Tür hatte, einen Bewegungsdetektor oder infrarote Sensoren im Haus. Das Stromkabel kam von einem Mast am Bach. Carmellini sah ihn sich aus der Nähe an, fand die Telefonleitung und folgte ihr an der Ziegelwand entlang bis zu einem Loch im Fundament. Wenn Arch bereit gewesen wäre, Geld in ein wirklich gutes Alarmsystem zu investierten, so hätte der Installationstechniker bestimmt auf die Telefonleitung hingewiesen, die jeder Dieb durchschneiden konnte. Das Schloss der Kellertür war ein Yale. Carmellini brauchte 227
etwa eine Minute, um es zu knacken. Die Tür schwang nach innen auf, in einen nicht ausgebauten Keller. Tommy trat ein, schloss die Tür und schaute sich den Rahmen im Licht der kleinen Taschenlampe an. Keine Alarmanlage. Er blickte durch den Raum. Ein Warmwasserboiler, ein Kessel, Schaufeln, Werkzeuge auf einer Werkbank, Kartonstapel … Aber keine Sensoren. An der nach oben führenden Treppe fand er einen Lichtschalter und betätigte ihn. Besser Licht im Haus als der Schein einer Taschenlampe, der Nachbarn argwöhnisch werden ließ. Die Treppenstufen knarrten unter seinem Gewicht. Er versuchte, die Tür am Ende der Treppe zu öffnen. Unverschlossen. Carmellini wanderte durchs Haus und sah sich alles an. Arch war ganz offensichtlich Junggeselle. Es herrschte Ordnung im Haus, aber es fehlten die Dinge einer Frau: Es gab keine auf eine weibliche Präsenz hinweisenden Dekorationen, und die Schränke enthielten keine Frauensachen. Es war unmöglich, ein Haus zu durchsuchen und alles wieder so hinzulegen, dass nichts auf die Durchsuchung hindeutete, und deshalb versuchte Carmellini es erst gar nicht. Rasch ging er Post und Broschüren in der Küche durch und trat dann ins zweite Schlafzimmer, das Arch Foster offenbar als häusliches Büro verwendete. Ein Computer stand auf dem Schreibtisch. Tommy schaltete die Lampe ein, überprüfte das Zimmer auf Sensoren und durchsuchte dann den Schreibtisch. Ein Kontoauszug von der Bank … Arch war Single und bekam ein gutes Gehalt. Er hatte 27000 $ auf dem Spar- und zwei Riesen auf dem Girokonto. Hinzu kamen 137000 $ in Aktien, so der Stand des letzten Monats. Rechnungen, bezahlte und unbezahlte … Alles sah ganz normal aus. Carmellini versuchte, die Dinge so hinzulegen, wie er sie vorgefunden hatte, und gleichzeitig fühlte er sich einem wachsenden Zeitdruck ausgesetzt. Nach dem Arbeitszimmer nahm sich Carmellini das Schlafzimmer vor. Offenbar blätterte Arch gern in Pornomagazinen. 228
Tommy verlor rasch das Interesse an der Sammlung, nahm sich die Sachen im Schrank vor und versuchte, sie möglichst wenig durcheinander zu bringen. Er fand eine Walther-Automatik, neun Millimeter, geladen, und ließ sie an Ort und Stelle. Unter dem Bett, unter den Möbeln … Er hielt nach irgendetwas Ungewöhnlichem Ausschau. Er sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde vor Mitternacht. Er war bereits lange genug hier und dachte daran zurückzukehren, wenn Arch arbeitete – dann hatte er Zeit genug, um das Haus regelrecht auseinander zu nehmen. Carmellini schaltete das Licht im Schlafzimmer aus und machte erneut eine Runde durchs Haus, schaltete wo notwendig das Licht ein und sah sich alles an. Nichts weckte seine Neugier. Wieder im Keller streckte er gerade die Hand nach dem Lichtschalter aus, als sein Blick auf die Kartons fiel. Was enthielten sie? Alte Zeitschriften oder Bücher? Hinterlassenschaften seiner Mutter? Er sah sich den Stapel genauer an. Es lag kein Staub darauf. Alle anderen Gegenstände im Keller trugen eine Staubschicht, abgesehen von den Kartons. Er öffnete den obersten, der alte Töpfe und Pfannen enthielt. Einen Karton nach dem anderen stellte er beiseite, bis er den untersten erreichte und öffnete. Oben lag zerknülltes Zeitungspapier. Er griff tiefer hinein. Banknoten. In Bündeln. Na so was! Carmellini zählte die Bündel. Mehr als hunderttausend Riesen. Zeit zu gehen. Er stellte die Kartons wieder aufeinander, schaltete das Licht aus und ging zur Kellertür. Dort sah er durchs Fenster, öffnete die Tür vorsichtig und blickte nach links und rechts. Niemand zu sehen. Er vergewisserte sich, dass das 229
Schloss zuschnappen würde, zog die Tür dann zu. Es klickte. Eine Minute später ging er die Straße hinunter, mit den Latexhandschuhen in der Hosentasche und dem Riemen des Rucksacks über der einen Schulter. Mohammed Mohammed fiel es schwer, seine Truppe unter Kontrolle zu halten. Nach zwei Jahren in Amerika fanden Ali, Yussuf und Naguib Gefallen an gewissen Aspekten der amerikanischen Kultur, wie zum Beispiel Pizza, Videospielen und Fernsehen. Als Produkte einer geschlossenen, von Männern dominierten Gesellschaft mit einer angeblich von Gott bestimmten traditionellen Lebensweise hatte ihre erste Reaktion auf Amerika aus Entsetzen bestanden, das sich jedoch schnell in Staunen verwandelte. Dass Frauen Gesicht und Figur frech zur Schau stellten, Arme, Beine und Bauch nackt zeigten, führte sofort zu der Annahme, dass es sich um Prostituierte handelte. Einige bedauerliche Zwischenfälle hatten diese Fehleinschätzung deutlich aufgezeigt, doch das Singen, Tanzen und die Rolle, die Frauen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens spielten, schockierten die Araber zutiefst. Zeitschriften wie Playboy und Penthouse waren abscheulich … und auch aufregend, etwas, das man sich heimlich ansah. Ali hatte Geschmack an der Pornographie gefunden. Ihm gefiel alles, je mehr, desto besser. Inzwischen machte er kaum mehr einen Hehl daraus. Seine Arbeit als Verkäufer in einem Laden gestattete es ihm, Zeitschriften für Erwachsene zu stehlen, und er sah sie sich auf der Toilette des Zimmers in Smoot’s Motel an, das er mit den anderen teilte. Die Tür war dabei natürlich abgeschlossen. Mohammed sprach ihn darauf an – er wusste natürlich, was vor sich ging –, und Ali rechtfertigte sich so: Warum nicht einige verbotene Freuden vor jenem glorreichen Tag genießen, 230
an dem ihn als Märtyrer des Dschihad das Paradies erwartete? Yussufs Sünde war harmloser. Er fand Musikvideos faszinierend und sah sie sich stundenlang auf MTV an, wenn er Gelegenheit hatte. In Smoot’s Motel, das Fernsehsignale nur über eine einfache Antenne auf dem Dach empfing, gab es diesen Kanal leider nicht, und deshalb besuchte Yussuf Bars, Videosäle und Bowlingbahnen – dort hielt er sich gern auf, wenn er nicht arbeitete. Der Anblick von Frauen, die schmachtend sangen, zweideutig sprachen und sich erotisch bewegten, hypnotisierte ihn regelrecht. Naguib mochte Bier und Frauen. Er hielt Bier für ein himmlisches Getränk. Während der vergangenen zwei Jahre war es ihm gelungen, in Bars sechs Frauen abzuschleppen. Jene Abenteuer stellten Höhepunkte seines Lebens dar. Ihn faszinierte der Umstand, dass ihn gewisse amerikanische Frauen attraktiv fanden. Er schrieb diese außergewöhnliche Tatsache seinem Aussehen zu und seiner Fähigkeit, geistreiche Dinge mit einem reizenden Akzent zu sagen. Allerdings wies Mohammed ihn darauf hin, dass das viele Geld in seinen Taschen ebenfalls eine Rolle dabei spielte, ebenso der Umstand, dass er allen Frauen in Sichtweite Getränke spendierte. Bei jeder Frau in einem Umkreis von fünfzig Metern machte er von seinem Charme Gebrauch. Die Schlafzimmererfolge – soweit man davon reden konnte – hatten ihm ein Selbstbewusstsein gegeben, durch das er zu einem schlechten Befehlsempfänger wurde. Sie alle, selbst Mohammed, mochten Videospiele. Stundenlang vergnügten sie sich damit, für jeweils fünfundzwanzig Cent mit Autos zu rasen oder Angreifer aus dem All abzuschießen. Mohammed begann zu befürchten, dass die Verlockungen der Teufelskultur die Entschlossenheit seiner Männer beeinträchtigten. Gelegentlich befragte er sie und versuchte, ihre Beschäftigung mit sündiger Unterhaltung einzuschränken. »Vielleicht beobachtet man uns die ganze Zeit über«, sagte er. »Wir sind mit einer heiligen Mission beauftragt. Es wäre eine Sünde zu versa231
gen.« »Wir werden erfolgreich sein«, versicherte ihm Ali. »Inschallah.« Wenn Allah will. »Aber vielleicht will Allah nicht, dass wir einen Erfolg erzielen, wenn wir inkompetent und sündig sind!«, sagte Mohammed scharf. Ganz offensichtlich glaubten sie nicht, in Gefahr zu sein. Sie wussten, dass sie niemand beobachtete. Seit zwei Jahren lebten sie in Amerika, und niemand kümmerte sich darum, was sie machten. Amerika war nicht Saudi-Arabien. Mohammed ahnte, dass er sie nicht vom Gegenteil überzeugen konnte. Je eher sie ihre Mission vollendeten, desto besser, dachte er. Bevor sie alles ruinierten. An diesem Abend erwachte er durch einen Ruf der Natur und stellte fest, dass Naguib fehlte. Er war auch nicht im Bad. So etwas geschah nicht zum ersten Mal. Mohammed zog sich im Dunkeln an, verließ das Zimmer, ging zum nahen Bierlokal und betrat es. Naguib saß an der Theke, trank Bier und unterhielt sich mit der Frau an seiner Seite, einem Flittchen in engen Jeans und einem kurzen Shirt, das den Bauch zeigte. Mohammed runzelte missbilligend die Stirn, als er sich näherte. Die Frau trug Lippenstift, hatte kurzes blondes Haar und einen nach oben gedrückten Busen, den Naguib unverhohlen bewunderte. »Komm«, sagte Mohammed, als er ihn erreichte. Naguib sah ihn schuldbewusst an und schob das Bier mit einer Hand fort. »Komm«, wiederholte Mohammed auf Arabisch. »Du solltest nicht hier sein. Das weißt du. Allah sieht dich.« »Es ist nichts Schlimmes passiert«, verteidigte sich Naguib halbherzig und kletterte vom Barhocker herunter. Er holte Geld hervor und legte es auf den Tresen. Mohammed ergriff ihn am Arm und führte ihn fort. Er über232
sah, dass die blonde Frau Naguib zuzwinkerte und ein Lächeln dafür bekam. Als die beiden Araber das Lokal verlassen hatten, öffnete die Blondine ihre Handtasche. Sie holte ein Notizbuch hervor, sah auf die Uhr und notierte etwas.
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11 Als Tommy Carmellini am Samstagmorgen erwachte, ging er in die kleine Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Während er darauf wartete, dass die braune Flüssigkeit durch den Filter lief, rieb er sich die Augen und sah aus dem Fenster. Sonnenschein kam durch Lücken zwischen den Wolken. Einen Karton voller Geld im Keller … Das musste für Arch Foster recht angenehm sein. Nun, wie kam der gute alte Arch an mehr als hundert Riesen in bar? Hundertfünfzig, um ganz genau zu sein. Vielleicht hatte er während der letzten 150 Jahre das Geld fürs Mittagessen gespart. Carmellini prüfte die Kaffeemenge in der Kanne, schob die Kanne beiseite und ersetzte sie durch eine Tasse. Nur wenige Tropfen fielen daneben. Als die Tasse gefüllt war, stellte er die Kanne an ihren Platz. Er pustete auf die heiße Flüssigkeit und trank einen Schluck. Die eigentliche Frage lautete: Was sollte er, Tommy Carmellini, mit den gewonnenen Informationen anstellen? Wenn er das Geld in Fosters Keller den Oberbossen der Agency meldete, wollten sie bestimmt von ihm hören, wieso er davon wusste. Ein Verbrechen zu gestehen, fand Carmellini an diesem Morgen ebenso wenig reizvoll wie an irgendeinem anderen. Ein anonymer Brief? Mit ziemlicher Sicherheit würde jemand Foster etwas von dem Brief zuflüstern, und dann war das Geld längst verschwunden, wenn Polizei oder FBI mit einem Durchsuchungsbefehl kamen. Ein echtes Problem. Er dachte darüber nach, während er duschte und sich anzog. Sollte er zurückkehren und sich das Geld schnappen? Es nützte nichts, der Polizei Postkarten zu schicken. Wahrscheinlich 234
stammte der Zaster aus irgendeiner schmutzigen Sache, auf die sich Arch eingelassen hatte. Warum sollte er, Carmellini, nicht verhindern, dass der verdammte Mistkerl in den Genuss seines unrechtmäßigen Profits kam? Foster hatte bestimmt keinen Karton voller Bargeld von seinem freundlichen weißhaarigen Onkel geerbt, der ihn so sehr mochte. Oder? Nun, das ließ sich leicht herausfinden. Tommy blieb an der Kommode stehen und dachte an die Dinge, die er über Foster und seinen Kumpel Norv wusste. Er holte seine Pistole hervor, lud die Waffe und steckte sie ein. Nur für den Fall. Die beiden Mistkerle hatten seine Wohnung verwanzt. Was hofften sie zu hören? Nun, Zeit für einen Bagel und einen richtigen Kaffee. Er kehrte in die Küche zurück, schaltete die Kaffeemaschine aus, verließ dann das Apartment und schloss die Tür ab. »Er kommt runter«, sagte Norv Lalouette zu Arch. »Die Eingangstür wurde gerade geschlossen.« Sie saßen in einem Lieferwagen unweit des Nebeneingangs von Tommy Carmellinis Apartmenthaus. Arch saß am Steuer. Er startete den Motor und fuhr dorthin, wo Carmellinis roter Mercedes stand. Dort schaltete er den Motor wieder aus, blickte in den Rückspiegel und beobachtete, wie Tommy aus dem Haupteingang kam. Arch hatte so geparkt, dass Carmellini wahrscheinlich durch die Lücke zwischen dem Lieferwagen und einem anderen Fahrzeug gehen würde, um seinen Mercedes zu erreichen. Ja. Er nahm den vorgesehenen Weg. »Da kommt er. Halt dich bereit.« Als sich Carmellini dem Lieferwagen näherte, öffnete Arch die Tür und richtete eine Pistole auf ihn. »Stehen bleiben!« 235
Carmellini verharrte abrupt, etwa anderthalb Meter vor Foster, der ausstieg und die Pistole in Hüfthöhe hielt, in beiden Händen. »He, Foster, was …« Weiter kam Carmellini nicht. Norv Lalouette war hinten ausgestiegen und schlug zu – ein mit Blei beschwertes Schlauchstück traf Tommy am Kopf, und er klappte bewusstlos zusammen. »Schnell«, sagte Arch. Er steckte die Pistole ein und blickte sich nach eventuellen Beobachtern um. Keine in Sicht. »Nimm die Beine. Wir legen ihn hinten rein und machen uns auf den Weg.« Sechzig Sekunden später nahm Foster wieder am Steuer Platz, startete den Motor und fuhr los. Hinten fesselte Lalouette Carmellinis Hände und Füße mit Plastikbändern und presste ihm Klebeband auf den Mund. Dann holte er eine Spritze und eine Phiole hervor. Als der Lieferwagen das nächste Mal an einer Ampel hielt, füllte er die Spritze und drehte Carmellinis rechten Arm. Die Adern zeichneten sich deutlich ab – der Bursche schien regelmäßig Sport zu treiben. Er wählte eine Ader und verabreichte dem Bewusstlosen eine Injektion. Erst dann nahm er sich die Zeit, ihn zu durchsuchen, reichte Carmellinis Pistole, Brieftasche und Schlüssel nach vorn zu Arch. Tommy Carmellini erwachte langsam – sein Bewusstsein schien sich wie in Zeitlupe zu entfalten. Er versuchte, sich zu bewegen … Vergeblich! Er lag auf dem Rücken. Er fühlte Beine, Arme und Hände, und er fühlte auch, dass er auf etwas lag, aber er konnte weder seine Gliedmaßen bewegen noch den Blick auf etwas richten. Er blickte nach oben, wusste aber nicht, was er sah. 236
Er trachtete danach, ein Geräusch zu verursachen. Etwas schien ihm den Mund zuzuhalten. Er füllte die Lungen mit Luft und versuchte zu sprechen, aber kein Laut kam ihm über die Lippen. Auch der Kopf ließ sich nicht bewegen. Carmellini war völlig hilflos. »He, er ist wach.« Jemand trat in sein Blickfeld. Das Gesicht blieb verschwommen, aber er erkannte es. Foster! »Wie geht’s, Tommy?« Carmellini blieb stumm. Er konnte nicht anders. »Du hast es dir selbst zuzuschreiben, Carmellini. Hättest nicht in mein Haus einbrechen sollen. Meine Sachen lagen nicht dort, wo ich sie zurückgelassen habe. Ich wusste, dass sich ein Schnüffler bei mir umgesehen hat, und du bist der einzige Einbrecher, den ich kenne. Du warst nicht in deinem Apartment, als dieses kleine Verbrechen verübt wurde. Und an diesem Morgen gehst du mit einem Ballermann in der Tasche los. Ts, ts, ts. Es sind natürlich alles nur Indizien, ich weiß, aber Norv und ich sind Richter und Geschworene, und wir haben dich verurteilt. Wir wollen bei dir kein Risiko eingehen, Tommy. Ich wünschte, es könnte anders sein, aber du bist ein zu lästiges Arschloch. Du bist ein Arschloch, Tommy – das ist dir doch klar, oder? Ist dir wahrscheinlich völlig schnuppe, was? Ja, dachte ich mir. Bleib einfach da liegen und schweig wie das Arschloch, das du bist. Nun, du könntest gar nichts sagen, selbst wenn du wolltest. Wir haben dir eine Injektion verabreicht, Tommy, damit der Umgang mit dir leichter wird. Wir werden dich an Bord eines Flugzeugs bringen, mit Beton an den Füßen, und achtzig Kilometer weit draußen über dem Atlantik werfen wir dich über Bord. Vielleicht hast du Glück. Vielleicht stirbst du beim Aufprall auf das Wasser. Du fällst natürlich mit den Füßen voran. 237
Und wenn dich der Aufprall nicht umbringt … Mit fünfzehn Kilo Beton an jedem Fuß schwimmt sich’s nicht besonders gut, oder?« Arch Foster beugte sich herab, bis nur noch wenige Zentimeter sein Gesicht von dem Carmellinis trennten. »Wir müssen warten, bis der Beton fest wird. Das dauert mindestens vierundzwanzig Stunden. Morgen Abend bringen wir dich ins Flugzeug, Carmellini, und dann beginnt deine letzte Reise.« Foster lachte. »Natürlich könnte ich dich jetzt gleich töten. Morgen Abend wärst du ein wenig steif, aber durchaus noch zu handhaben. Aber dich jetzt umzubringen … Es würde den ganzen Spaß verderben. Das siehst du doch ein, nicht wahr, Tommy? Während der nächsten sechsunddreißig Stunden können wir die Vorstellung genießen, dass das Arschloch Carmellini hier gelähmt liegt, sich nicht bewegen kann und an den Sturz ins Meer denkt. O ja, du wirst daran denken. Du wirst daran denken, wie sich der Aufschlag anfühlt. Platsch! Es ist so, als würdest du von einem zwanzig Stock hohen Gebäude fallen. O ja, du wirst ans Sterben denken.« Arch Foster lachte, als er fortging. Mit seiner ganzen Willenskraft versuchte Tommy Carmellini, einen Finger zu bewegen. Nur einen. Er schaffte es nicht. Arch plauderte mit Norv Lalouette, während sie vorbereitetem Beton Wasser hinzufügten. Carmellini hörte, wie Wasser aus einem Schlauch in Eimer strömte. Säcke wurden aufgerissen, und eine Schaufel klapperte. Er konnte keinen Muskel rühren und nicht einmal den Blick auf etwas richten. Aber er hörte die Geräusche um sich herum. »Wie schade, dass du die Vorteile einer Zusammenarbeit mit uns nicht gesehen hast, Carmellini. Warst nicht Manns genug, uns zu fragen, was anliegt. Nein, du musstest bei mir einbrechen und herumschnüffeln. Ich hab immer gesagt, dass du 238
ein Bursche bist, dem man nicht trauen kann, stimmt’s, Norv?« Norv brummte. Arch kehrte zurück, sah in Carmellinis Gesicht und riss ihm das Klebeband von den Lippen. »Wenn ich das hier auf dem Mund lasse, ertrinkst du vielleicht in deinem eigenen Speichel«, sagte er und lachte. »He, Norv, er kann nicht mal den Mund schließen.« Die nächsten Worte galten wieder dem Gelähmten. »Sabbere vor dich hin, Tommy.« »Ich wusste, dass das Zeug gut ist«, wandte sich Arch an Norv. »Eine Art Ketaminderivat. Hab noch nie zuvor gesehen, wie es wirkt. Bekommen habe ich es von einem Typen, der es vor einigen Jahren in China verwendete. Er sprach von einer sehr eindrucksvollen Wirkung.« »Na schön, hast mich überzeugt. Nicht so viel Wasser, Mann, sonst härtet das Zeug nie. Es darf nicht zu dünn werden.« Sie arbeiteten einige Sekunden lang mit der Schaufel, und dann sagte Arch: »Ja, das ist genug Wasser. Gut umrühren. Wenn die Suppe dick genug geworden ist, stecken wir seine Füße hinein.« »Mit Schuhen oder ohne?« »Ohne.« Tommy Carmellini spürte, wie ihm jemand die Schuhe auszog. Er hatte nicht die geringste Kontrolle über seine Beine. Auch nicht über die Blase. Er fühlte eine sich ausdehnende kalte Feuchtigkeit. »He, er hat sich gerade selbst bepisst.« »Was hast du erwartet?« »Vielleicht sollten wir ihn erschießen. Dann stinkt er nicht so.« Das war Norv. Ein echt netter Kerl. »Nein«, erwiderte Arch. »So macht es mehr Spaß.« Und er lachte erneut. Sie zogen Carmellini über den Tisch und stopften je einen 239
Fuß in einen Eimer. Er fühlte die zähflüssige kalte Masse. Tommys Knie waren jetzt um neunzig Grad gekrümmt. Erneut versuchte er, sich zu bewegen, und auch diesmal gehorchte ihm der Körper nicht. »Was meinst du? Sollen wir ihm noch eine Injektion geben?«, fragte Norv. »Eine reicht für achtundvierzig Stunden. Wenn er noch eine bekommt, hören Herzschlag und Atmung auf.« Arch beugte sich ein weiteres Mal über Carmellini und grinste. »Bis morgen, Arschloch. Ich werde den ganzen Abend an dich denken und mir vorstellen, wie du hier gelähmt liegst und auf das große Platschen wartest. Morgen Abend. Älter wirst du nicht.« »Das reicht, Arch. Lass uns gehen.« »Ja, gut.« »Ich bin noch immer der Meinung, dass wir ihn erschießen sollten.« »Verschwendung einer Kugel«, sagte Arch. »Und wir würden dem Mistkerl einen Gefallen tun. So sehr mag ich ihn nicht. Wahrscheinlich bringt ihn der Aufprall aufs Wasser um, und wenn nicht, ertrinkt er.« Er trat noch einmal zu Carmellini und flüsterte ihm ins Ohr: »Denk an den Sturz.« Das Licht ging aus. Ein wenig Tageslicht drang durch Fugen zwischen den einzelnen Segmenten der Blechwände, und deshalb wurde es nicht richtig dunkel. Carmellini hörte, wie sich eine Tür schloss, und ein Vorhängeschloss klickte. Wenige Sekunden später brummte der Motor eines Wagens, der fortfuhr. Er lauschte einige Minuten lang. Nichts. Er war allein. Er versuchte, die Arme zu bewegen. Ohne Erfolg. Der Kopf. Er bemühte sich, den Mund zu schließen, einen Finger zu krümmen oder zu sprechen. Vergeblich. Er blieb total gelähmt. 240
Eine Ewigkeit lag er reglos auf dem Tisch. Er hörte, wie Flugzeuge starteten; gelegentlich flog eines über das Gebäude hinweg, in dem er sich befand. Es klang nach Kolbenmotoren. Einmal glaubte er, einen Jet zu hören, aber das Geräusch war nicht sehr laut. Dann und wann öffneten und schlossen sich Türen in der Ferne. Zweimal vernahm er Stimmen. Er vermutete, dass er sich im privaten Hangar eines Flugplatzes befand. Als das Bild vor seinen Augen noch mehr verschwamm, wurde ihm klar, dass er weinte. »Wo ist Tommy heute Morgen, Zelda?«, fragte Jake Grafton und verzog dann das Gesicht. Er hatte vergessen, dass ihr neuer Name Sarah lautete, Sarah Houston. »Ich weiß es nicht, Admiral. Wir haben ihn noch nicht gesehen.« »Wahrscheinlich bricht er irgendwo in eine Bank ein«, sagte Zip Vance missmutig. Sie saßen vor den Computerterminals in der SCIF – oder im Technozentrum, wie Tarkington es nannte –, im Kellergeschoss des CIA-Gebäudes auf dem LangleyGelände. »Vielleicht«, sagte Jake und holte eine Liste hervor. »Hier sind drei Namen. Ich möchte, dass Sie Dossiers anlegen und alles über die Personen herausfinden.« »Alles?« »Alles. Geld, Telefonaufzeichnungen, E-Mail-Korrespondenz, besuchte Websites im Internet, was immer Sie entdecken. Ich bin an allem interessiert, das ungewöhnlich ist. Wird Zeit, das System auszuprobieren, das Sie aufgebaut haben. Diese Leute wussten, dass uns die Russen einen amerikanischen Verräter namens Richard Doyle überlassen haben, der für sie spionierte. Als sie erfuhren, dass man ihn verpfiffen hat, sprach eine der Personen vermutlich mit einem Außenstehenden, der von dieser Sache eigentlich nichts erfahren durfte. Doyle wurde wahr241
scheinlich von jemandem ermordet, der Zeit und Geld hatte, die Leiche verschwinden zu lassen.« »Er wird vermisst?« »Er ist spurlos verschwunden.« »Vielleicht hat man Doyle außer Landes gebracht«, spekulierte Zelda. »Das ist möglich«, räumte Jake ein. »Aber ich bezweifle es. Wenn er in Russland wäre, hätten wir etwas gehört, einen Hinweis in einem Telefongespräch oder so. Aber nichts dergleichen. Man könnte meinen, die Erde hätte ihn verschluckt. Ich bin ziemlich sicher, dass er tot ist.« »Lanham, Twilley und Tran«, murmelte Zip und sah auf die Liste. »Wir werden uns alle Mühe geben, Admiral«, sagte Zelda. Jake ging und dachte an Janas Ilin, den Seiltänzer. Wenn die Russen Doyle umgebracht oder ihn entführt hatten, damit er nicht auspackte, so wussten sie sicher, dass Ilin ihn ans Messer geliefert hatte. Wenn das stimmte, war Ilin tot oder verhaftet – oder würde es bald sein. Und für Jake gab es keine Möglichkeit, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Er fühlte sich hilflos, als erlebte er einen Albtraum in einem dunklen, raucherfüllten Zimmer mit Spiegeln, die alle Bilder verzerrten und es unmöglich machten, die Wirklichkeit vom Irrealen zu unterscheiden. Eine Stunde später kam Toad Tarkington in Jakes Büro, gefolgt von Sonny Tran. »Wir haben einen unten, Chef. Wie wär’s mit einem kleinen Ausflug, um zu sehen, was er leistet?« Jake nahm seine Mütze und folgte den beiden Männern. »Dort ist er«, sagte Toad, als sie den Parkplatz erreichten. Er deutete auf einen einfachen weißen Lieferwagen, ein recht neuer, wie es schien. Hinter Fahrer und Beifahrer gab es nur in der Hecktür zwei kleine Fenster. »Sie fahren, Sonny. Der Ad242
miral und ich nehmen hinten Platz und spielen ein wenig mit dem Kram. Der Techniker heißt Harley Bennett, Sir.« Er öffnete die Tür. Bennett saß an der Kontrollkonsole, und Toad stellte ihm den Admiral vor. Als Bennett den Corrigan-Detektor erklärte, fuhr Sonny Tran los. Er steuerte den Lieferwagen über den Parkplatz, der am Samstagnachmittag nur halb voll war, hielt beim Wächter an der Zufahrt und fuhr dann auf die nach Süden führende Fahrbahn des George Washington Parkway. Der Verkehr war nicht besonders stark; Tran beschleunigte auf etwa neunzig Stundenkilometer und hielt diese Geschwindigkeit. Harley Bennett sprach, während der Lieferwagen in Richtung Stadtzentrum rollte. »Wir suchen nach Alphateilchen, Röntgenstrahlen, Gammastrahlen und freien Neutronen. Es gibt jeweils individuelle Charakteristiken. Normalerweise reichen solche Strahlungen nicht sehr weit, insbesondere in der Atmosphäre, und deshalb ist die Ortungsreichweite beschränkt. Wir glauben, mit unseren Sensoren, die zum größten Teil aus Kristallen bestehen, die Grenze des Möglichen erreicht zu haben.« »Aus Kristallen?« »Ja. Erinnern Sie sich an all die Kristalle, die die NASA im Weltraum wachsen lassen wollte, angeblich allein aus wissenschaftlichen Gründen? Man verwendet Kristalle, um Strahlung zu entdecken. Nun, Corrigan Engineering konnte richtig große Kristalle nicht in der nötigen Menge bekommen. Also haben wir kleine miteinander verbunden, um die gleiche Wirkung zu erzielen, und außerdem haben wir einige neue erfunden. Weitere Sensorverbesserung und digitale Signalverarbeitung versetzen uns in die Lage, Menge und Art des georteten nuklearen Materials zu bestimmen, wodurch das Problem eines falschen Alarms gelöst sein sollte.« »Falscher Alarm?« Darüber hatte Jake noch nicht nachgedacht. 243
»Das Problem ist: In unserer Gesellschaft wimmelt es von Strahlung. Praktisch jeder elektromagnetische Apparat strahlt auf irgendeiner Frequenz. Wir wollen einen Detektor, der nicht Alarm schlägt, wenn wir an der Praxis eines Zahnarztes vorbeifahren, der gerade eine Röntgenaufnahme anfertigt.« Bennett redete gern, und Jake Grafton war ein guter Zuhörer. Der Techniker beschrieb die radioaktiven Abfälle, die täglich auf den Highways überall im Land unterwegs waren. Strahlendes Material aus Krankenhäusern, medizinische und industrielle Isotopen … Selbst gewisse Arten von Beton emittierten Radionuklide. »Die Innovation, die den Corrigan-Detektor so einzigartig macht, sind die von uns entwickelten aktiven Maßnahmen – hauptsächlich elektromagnetische Apparaturen und Neutronengeneratoren –, die die Strahlungsquelle abtasten und zu verstärkter Emission anregen.« »Und das alles befindet sich da drin?«, fragte Jake und betrachtete das Aluminiumgehäuse in der Mitte des Lieferwagens. »Ja, hier drin«, bestätigte Bennett und klopfte stolz auf den Kasten. Sonny hielt an einem Krankenhaus, das den Detektor in Aufregung versetzte. »Medizinische Strahlung«, sagte Bennett nach der Ortung. Er deutete auf die Anzeigen. »Gelegentliche Röntgenstrahlung und einige niederenergetische medizinische Isotope.« »Sie haben den Detektor natürlich an einem Raketensprengkopf getestet?« »Ja, Sir«, sagte Bennett, und es klang fast beleidigt. »Die Air Force hat uns letzte Woche einen zur Verfügung gestellt.« »Auf dem Weg hierher sind wir an Three Mile Island vorbeigefahren, Admiral«, fügte Toad hinzu. »Das Ding drehte schier durch.«
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Sie sprachen darüber, was die einzelnen Anzeigen bedeuteten. »Fahren wir nach Süden zum Beltway«, schlug Toad vor. »Dort warten wir am Straßenrand und schauen, was vorbeikommt.« Jake nickte. Toad sprach mit Sonny, der daraufhin den Motor startete und wieder losfuhr. Kurze Zeit später hielt er an der Kreuzung I-95/I-495 und schaltete die Warnblinkanlage ein. Sonny gesellte sich Bennett und den beiden Marineoffizieren hinzu. Die Männer tranken Kaffee und beobachteten die Anzeigen. »Unterwegs von Boston haben wir mehrmals radioaktive Abfälle geortet«, sagte Toad. »Wir haben einen Detektor und eine ganze Stadt, die es zu schützen gilt«, wandte sich Jake an Bennett. »Wie sollen wir vorgehen?« »Ich empfehle, eine Karte der Stadt anzulegen, sie gitterförmig in einzelne Sektoren aufzuteilen und in jedem Gitter eine Untersuchung vorzunehmen. Damit ist eine Grundlage geschaffen. Anschließend nehmen wir uns die Sektoren noch einmal vor und messen dort die Radioaktivität. Ich schätze, auf diese Weise könnten wir die Stadt zweimal pro Woche kontrollieren. Mit weiteren Detektoren können wir die Kontrollen ausdehnen, zum Beispiel auf die Flughäfen.« »Halten Sie es für unwahrscheinlich, die Sprengköpfe zu entdecken, wenn sie ins Land gelangen?« »Dazu bräuchten wir mehr Detektoren. Wenn wir genug haben, können wir einen in jedem Flughafen unterbringen, Kontrollpunkte an den wichtigsten Fernstraßen einrichten und die vorbeifahrenden Laster untersuchen. Aber da es nicht möglich ist, die Stadt mit einer Mauer zu umgeben und den Verkehr auf einige wenige Zugangspunkte zu beschränken, müssen wir mit der Sektorsuche vorlieb nehmen.« 245
»Was ist mit einem Flugzeug? Wir könnten den Detektor in einem Flugzeug unterbringen und über die Stadt fliegen.« »Das würde klappen, wenn die Flughöhe gering genug wäre.« Es dauerte nicht lange, bis ein Lastwagen mit medizinischen Isotopen vorbeifuhr. Ein akustisches Warnsignal kam vom Detektor. Als sich die Aufregung legte, sagte Jake: »Lassen Sie uns Bewegung in diese Sache bringen, Sonny. Wir fahren zum Kapitol, Weißen Haus, Lincoln Memorial und Pentagon.« »Sie glauben doch nicht, dass die Bomben bereits im Land sind, oder?«, fragte Toad. »Nicht wenn unsere Quelle die Wahrheit sagte, aber wir müssen irgendwo anfangen.« Sonny nahm wieder am Steuer Platz. Der Lieferwagen rollte über die I-295 nach Norden, vorbei am alten Marinestützpunkt Anacostia, als der Detektor erneut zu wettern begann. »Das ist seltsam«, brummte Bennett. Die Emissionen ließen nach, als der Wagen die Fahrt nach Norden fortsetzte. »Vielleicht gibt es hier nukleare Abfälle.« »Hier?«, fragte Jake und kletterte nach vorn, um nach draußen zu sehen. Hinter ihm erklangen auch weiterhin die akustischen Signale und wurden allmählich leiser. Bennett kratzte sich am Kopf. »Da war irgendetwas, so viel steht fest.« »Was?« »Ich weiß es nicht, Admiral.« Jake fluchte lautlos und wies Sonny an, in die Richtung zurückzukehren, aus der sie kamen. Tran nahm die nächste Ausfahrt, brachte die Überführung hinter sich und nahm dann die Fahrbahn nach Süden. 246
Wieder wurde der Corrigan-Detektor lebendig. Eine Stunde später stand der Lieferwagen im Hafengebiet. Auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich der Reagan National Airport. »Irgendetwas löst das Signal aus!«, stieß ein ganz offensichtlich verärgerter Harley Bennett hervor. Er hatte Sensorkabel ausgelegt und die Richtung der stärksten Reaktion festgestellt. Jake und Toad stiegen aus und sahen auf die Karte. »Vielleicht etwas in Fort McNair«, sagte Toad und deutete über den Acostia River. »Oder im Flughafen. Oder vielleicht etwas dort drüben auf dem Golfplatz im East Potomac Park.« »Nehmen wir uns zuerst Fort McNair vor«, sagte Jake. Der Verkehr wurde dichter, und deshalb dauerte es eine Weile, bis sie dorthin gelangten. Bei Greenleaf Point zeigte der Detektor die Präsenz einer Waffe an. »Ich glaube das nicht«, sagte Toad. »Es ist absolut ausgeschlossen, dass Terroristen eine Atombombe aus Russland in nur fünf Wochen hierher gebracht haben.« »Wir wissen noch nicht, woher die Emissionen kommen«, sagte Jake. Er deutete zum Golfplatz bei Hains Point, auf der anderen Seite des Washington Channel, der zum Tidal Basin führte. »Los, Sonny.« Der Sicherheitswächter des Golfplatzes wollte den Lieferwagen nicht aufs Gelände lassen. Während er mit dem Platzwart telefonierte, machte Jake von seinem Handy Gebrauch. Zehn Minuten später trafen zwei Streifenwagen ein, und eine Minute darauf kam ein Wagen mit FBI-Agenten. Der Wächter gab seinen Widerstand auf und öffnete das Tor, um den Lieferwagen und die anderen Fahrzeuge passieren zu lassen. Sie hielten am südlichen Ende der Insel, hinter einem Damm aus Pfahlwerk. Harley Bennett verband Sensorkabel mit dem Detektor und rollte sie dann auf dem Boden aus. Dann sah er sich die Anzeigen an und sagte: »Wir sind praktisch am Ziel.« Zusammen mit Jake half er den Polizeibeamten dabei, alles ab247
zusuchen. Selbst unter Büschen und Sträuchern sahen sie nach. Es gab ein kleines Gebäude in der Nähe. Der Platzwart schloss es auf. Es enthielt Schaufeln, Harken, Hacken, Werkzeuge und Ersatzteile für Reparaturen des Bewässerungssystems. »Dies ist alles aufgeschüttet, nicht wahr?«, fragte Jake den Platzwart und deutete über den Golfplatz. »Ja, Sir. Vor fünf, sechs Jahren ließ die Stadt Erde hierher bringen und das Watt auffüllen. Man baute die Mauer, und die Fahrrinne dort drüben wurde verlängert. Das Putting-Green wurde verlegt, und man pflanzte auch einige Bäume um.« »Irgendwelche Grabarbeiten in letzter Zeit?« »Nein, nichts in der Art.« »Ich erinnere mich an die Bauarbeiten vor fünf Jahren. Damals wohnte ich in der Nähe von Fort McNair.« »Die Umweltschützer schlugen wegen des Watts kaum Krach. Heute wäre das ganz anders.« »Fünf Jahre«, sagte Toad zu Jake. »Mit dem Detektor ist was nicht in Ordnung.« »Gehen wir.« Die Sache war Bennett peinlich. »Ich habe keine Erklärung dafür, Admiral. Es sei denn, jemand hat hier radioaktiven Abfall von Three Mile Island vergraben.« »Nehmen Sie den Apparat genau unter die Lupe, Harley. Überprüfen Sie alles, jedes Kabel, jeden Anschluss. Erstatten Sie Toad morgen früh Bericht.« Bennett nickte traurig und sah auf die Uhr. »Bringen Sie mich zum Büro zurück, Sonny.« Jake dankte den Gesetzeshütern und dem Platzwart für ihre Mühe und führte die kleine Prozession zum Klubhaus. In seinem Büro erwartete Jake eine Nachricht auf dem Anruf248
beantworter. Der Präsidentenberater Sal Molina hatte angerufen und bat Grafton, um neun Uhr an diesem Abend einer Besprechung im Executive Office Building neben dem Weißen Haus beizuwohnen. Jake holte die Karte mit Molinas Telefonnummer aus der Brieftasche und wählte. »Worum geht es bei dem Treffen?«, fragte er. »Durch ihre Verbindungsleute haben die Direktoren von FBI und CIA von Ihren Plänen erfahren. Sie möchten Ihre Entscheidungen infrage stellen.« »Ich verstehe.« Molina seufzte. »Der Präsident bat den Nationalen Sicherheitsberater Butch Lanham, als Schiedsrichter zu fungieren. DeGarmo will, dass man Sie rausschmeißt. Emerick hält Sie für ein kleines Licht, das völlig überfordert ist.« »Ein wirklich sympathischer Zeitgenosse, dieser Emerick.« »Ja.« »Wie wär’s, wenn Sie den Vorsitzenden der Generalstabschefs, General Alt, zu dieser Abendgesellschaft einladen? Vielleicht auch noch den Burschen, für den ich arbeite, Stuffy Stalnaker?« Stalnaker war der Chief of Naval Operations. »Ich rede mit Butch und frage ihn nach seiner Meinung«, sagte Molina. »Um neun Uhr.« Tommy Carmellini lag gelähmt auf dem Tisch, und seine Gedanken wanderten umher. Er dachte an seine Eltern und Freunde, an Orte, die er besucht, und Dinge, die er getan hatte, an dumme Dinge, deren er sich schämte und die er bedauerte. Die Nacht war gekommen, und es herrschte völlige Finsternis im Gebäude. Während der ersten Stunden nach Sonnenuntergang hatte er noch einige Flugzeuge gehört, aber dann folgte Stille. 249
Völlige Stille, unterbrochen nur vom Flüstern des Winds in den Fugen der Blechwände des Hangars. Carmellinis Gedanken trieben ziellos umher. Norv und Arch wollten ihn umbringen, daran bestand kein Zweifel. Wenn sie ihn nicht töteten, so schickte er sie ins Jenseits, und das wussten sie. Er hätte nie gedacht, dass es auf diese Weise endete. Oder so bald. Er war noch immer ein junger Mann mit vielen Jahren vor sich. Er dachte ans Sterben, als er ein Flugzeug hörte, das sich näherte. Die Geräusche wurden immer lauter – die Maschine schien sich direkt vor dem Hangar zu befinden. Dann unterbrach der Pilot die Treibstoffzufuhr, und die Triebwerke schwiegen. Triebwerke – Carmellini glaubte, dass es zwei waren. Er füllte seine Lungen mit Luft, wollte schreien … und konnte es nicht. Tommy Carmellini versuchte zu stöhnen, zu sprechen, ein einzelnes Wort zu sagen. Er konnte weder Lippen noch Zunge bewegen. Er konnte nicht schlucken, nicht den Kopf drehen … Die Tür eines nahen Hangars knarrte, als sie geöffnet wurde. Stimmen erklangen, doch die Worte blieben unverständlich. Ein kleiner Dieselmotor brummte – vermutlich eine Zugmaschine, die das Flugzeug in den Hangar bringen sollte. Nach einer Weile hörte er, wie sich die Tür des Hangars schloss. Dies war seine einzige Chance! Er musste jetzt auf sich aufmerksam machen! Erneut holte er Luft und versuchte allein mit Willenskraft, Wangen und Zunge zu bewegen, einen Laut hervorzubringen. Er schaffte es nicht. Als er einen Wagen hörte, der fortfuhr, gab Carmellini die Versuche auf. Er lag in der Dunkelheit und konzentrierte sich. Wenn es ihm gelang, einen Finger zu bewegen … 250
12 An diesem Samstagabend war es stickig im Konferenzzimmer tief im Executive Office Building. Nur die Hälfte der Lampen brannte, und die Klimaanlage war ausgeschaltet, vermutlich wegen irgendeiner bürokratischen Verordnung. Jake Grafton traf ein paar Minuten zu früh ein und stellte fest, dass er der Erste war. Admiral Stuffy Stalnaker, der CNO, und General Alt, Vorsitzender der Generalstabschefs, kamen kurze Zeit später, gefolgt von Sal Molina und Emerick vom FBI. Molina war ein halber Hispano, ein Rechtsanwalt aus Texas, und gehörte schon seit vielen Jahren zu den Mitarbeitern des Präsidenten. Er war klein, hatte lichtes Haar und machte kein Geheimnis daraus, dass er eines Tages für den Senat kandidieren wollte. Jake erinnerte sich an Zeitungsartikel, in denen Molina als große Macht im Weißen Haus dargestellt wurde, weil ihn der Präsident so sehr schätzte. Als nächste Besprechungsteilnehmer kamen der CIADirektor Avery Edmond DeGarmo und General Newton Cahn, der Stabschef des Heeres. Weitere Personen trafen ein, und private Gespräche begannen. Emerick und DeGarmo standen in einer Ecke und flüsterten miteinander, als der Nationale Sicherheitsberater Butch Lanham den Raum betrat, sich umsah und dann am oberen Ende des Tisches Platz nahm. Zwei Assistentinnen setzten sich neben ihn an die Tischecken, um Notizen zu machen. Lanham war ein äußerst sportlicher Mann. Er spielte Tennis und Racquetball, trainierte mit Gewichten und joggte, doch damit nicht genug: Er nahm auch an Triathlon- und StrongMan-Wettbewerben teil. Wie er es schaffte, das alles zwischen die vielen beruflichen und familiären Verpflichtungen zu quetschen, blieb ein Rätsel. Jake hatte Lanham einige Male im 251
Fernsehen gesehen, war ihm aber nie zuvor begegnet. Auch jetzt kam es nicht in dem Sinne zu einer Begegnung – Lanham richtete kein Wort an ihn, sah ihn nicht einmal an. Er begrüßte niemanden, blickte zu den beiden Frauen und vergewisserte sich, dass sie Notizblöcke und Kugelschreiber bereit hielten. »Wir sind hier, um über Konteradmiral Graftons Entscheidung zu sprechen, die Corrigan-Strahlungsdetektoren in Washington und New York zu verwenden. Sind unsere Informationen korrekt, Admiral?« »Corrigan kann nur jeweils einen Detektor in zwei Wochen liefern«, sagte Jake und stellte fest, dass seine Stimme plötzlich ungewöhnlich rau war. Er versuchte ganz bewusst, ruhig und normal zu klingen. »Wir hoffen, dass jeder von ihnen eine Ortungsreichweite von etwa acht Kilometern unter durchschnittlichen städtischen Bedingungen hat. Sicher sein können wir erst, nachdem wir den ersten noch weiter erprobt haben, der gerade eingetroffen ist. Meiner Ansicht nach sollten wir uns zunächst auf Washington und New York konzentrieren – diese beiden Städte halte ich für primäre Ziele von Terroristen –, bis uns genug Detektoren zur Verfügung stehen, um auch Ziele mit geringerer Priorität zu schützen.« »Wer legt die Priorität fest?«, brummte DeGarmo. »Ist das eine Frage an Admiral Grafton oder ein bissiger Kommentar?«, erwiderte Lanham scharf. »Eine Frage.« »Ich habe New York und Washington an die Spitze meiner Liste gesetzt, Sir«, sagte Jake. »In ökonomischer und politischer Hinsicht sind es die wichtigsten Städte der Welt. Wenn wir über ausreichend Detektoren verfügen, können wir uns anderen Städten zuwenden, die nach strategischen Kriterien ausgewählt werden sollten. Es geht darum, Angriffe zu verhindern. Alle Angriffe zu verhindern ist unmöglich. Eine realistische Strategie muss zum Ziel haben, die Angriffe zu 252
verhindern, die uns am meisten schaden würden.« »Mr. DeGarmo, Ihre Meinung, bitte«, sagte Lanham. »Ich glaube nicht, dass New York und Washington in großer Gefahr sind. Nach den Terroranschlägen vom elften September halte ich es für wahrscheinlich, dass die Terroristen woanders zuschlagen, wenn überhaupt. Zeitungen und Fernsehen haben deutlich darauf hingewiesen, dass mit Geigerzählern ausgerüstete Soldaten Lastwagen und Eisenbahnwaggons kontrollieren. Jeder Terrorist mit einem Fernseher weiß, dass wir nach Atomwaffen suchen.« »Es ließ sich nicht geheim halten, dass wir Geigerzähler verwenden«, sagte Jake sanft und gleichzeitig mit einem Hauch Ärger in der Stimme. »Derzeit denken wir an die Möglichkeit, Detektorattrappen zu bauen und sie den Medien zu zeigen. Wir könnten sie später durch echte ersetzen, sobald wir sie bekommen.« »Hmm«, machte Lanham und sah zu Emerick, dem FBIMann. Emerick überlegte, bevor er sprach. »Wenn es irgendwo in den Vereinigten Staaten zu einem Angriff kommt, wird die Presse zweifellos auf die Entscheidung hinweisen, nur jene beiden Städte mit Corrigan-Detektoren zu schützen. Wenn der Angriff eine der beiden Städte trotz unserer Schutzmaßnahmen trifft, steht Grafton wie ein Unfähiger da. Wenn es woanders zu einem Angriff kommt, hält man den Präsidenten für unfähig.« »Meine Güte, das klingt so, als säßen wir in jedem Fall in der Scheiße«, polterte General Alt. »Bei Kopf gewinnen die Terroristen, und bei Zahl verlieren wir. Warum sind wir heute Abend überhaupt hier zusammengekommen?« Emerick richtete einen kühlen Blick auf Alt. »Ich habe nur darauf hingewiesen, wie die Sache aussieht. Es ist verdammt wichtig, was die Öffentlichkeit von der Kompetenz der Regierung hält, und das wissen Sie.« 253
»Die öffentliche Meinung ist mir völlig schnuppe«, erwiderte Alt. »Unsere Aufgabe besteht darin, Terrorangriffe zu verhindern. Damit ist Grafton beauftragt, und bei Gott, er arbeitet hart daran.« Butch Lanham räusperte sich, bis er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte. »Ich danke Mr. Emerick für seinen Hinweis. Wenn man von der Regierung glaubt, dass sie einige Bürger schützt und andere im Stich lässt, so setzt sie ihr Regierungsmandat aufs Spiel.« »Es scheint mir eine militärische Entscheidung zu sein, über den Einsatzort der Strahlungsdetektoren zu befinden«, sagte General Alt. »Admiral Stalnaker?« »Ja.« »General Cahn?« »Natürlich ist es eine militärische Entscheidung. Kein Kommandeur verfügt über den Luxus, jeden Quadratzentimeter des Heimatlands zu schützen. Risiken müssen abgewogen, Möglichkeiten eingeschätzt und dann Entscheidungen getroffen werden.« »Und diese Bemerkung zielt in welche Richtung?«, fragte Lanham, der sich begriffsstutzig gab. Alt sah ihm in die Augen. »Der Präsident hat Admiral Grafton eine militärische Aufgabe zugewiesen. In der natürlichen Ordnung der Dinge muss er militärische Entscheidungen treffen – alle militärischen Kommandeure müssen das. Das Ermessen und die Autorität, jene Entscheidungen zu treffen, ergeben sich aus dem Job. Wäre das nicht der Fall, müsste der Präsident ihn entlassen und die Entscheidungen selbst treffen. Oder er müsste jemand anders berufen und ihm entsprechende Befugnisse erteilen. Himmel, er hätte Sie damit beauftragen können, Butch, aber das hat er nicht.« Lanham nahm den Köder nicht an. »Dass Grafton zu seiner Entscheidung befugt war, steht hier nicht zur Debatte, General 254
Alt. Die Frage lautet schlicht und einfach: Entspricht die von Grafton getroffene Entscheidung den besten Interessen der Vereinigten Staaten? Mit anderen Worten: Ist seine Entscheidung richtig?« »Er hat die Lage beurteilt und entsprechend gehandelt«, entgegnete Alt. »Ob wir damit einverstanden sind oder nicht, ob wir an seiner Stelle die gleiche Entscheidung getroffen hätten – darum geht es hier nicht. Der Präsident hat einen militärischen Kommandeur ernannt. Das ist eine Tatsache. Dort sitzt er.« Er deutete auf Grafton, ohne den Blick von Lanham abzuwenden. »Sie, DeGarmo und Emerick scheinen ihn kritisieren zu wollen. Bitten Sie den Präsidenten, ihn zu entlassen und durch Sie zu ersetzen.« Butch Lanham klopfte einige Male mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Der Präsident hat in meiner Anwesenheit nie darauf hingewiesen, dass Grafton vollkommen nach eigenem Ermessen handeln kann. Wenn Sie glauben, dass der Präsident militärische Entscheidungen – von wem auch immer sie getroffen wurden – nicht verwerfen kann, so irren Sie sich.« »Oh, dazu ist er natürlich berechtigt«, sagte Alt. »Ich glaube aber, dass er in diesem Fall besser darauf verzichten sollte. Ich habe Grafton für diese Aufgabe empfohlen, ebenso Stuffy, und ich bleibe bei meiner Empfehlung. Grafton hat aus vernünftigen, vertretbaren Gründen eine militärische Entscheidung getroffen, und wir sollten ihn unterstützen.« »Wir haben unsere Verantwortung nicht an Grafton delegiert, und der Präsident ebenso wenig«, sagte DeGarmo mit Nachdruck. Einige Minuten lang flogen hitzige Worte hin und her. Schließlich wurde es still. Lanham seufzte schwer und kratzte sich am Kopf. Jake fragte sich, wie viel Autorität der Präsident Lanham übertragen hatte. Kurz darauf fand er es heraus. Sal Molina sprach zum ersten Mal. »Der Präsident vertraut 255
Jake Grafton. Er hat den besten Offizier beauftragt, den er finden konnte, und er wird ihn voll und ganz unterstützen.« Molina stand auf, nahm sein Notizbuch, in dem er gekritzelt hatte, und steckte es in die Innentasche seiner Jacke, als er zur Tür ging. Damit war die Besprechung beendet. Jake sprach einige Minuten mit Alt, Stalnaker und Cahn, während die Zivilisten gingen. »Sie haben nicht gewonnen«, teilte ihm Alt mit. »So funktionieren die Dinge im Innern des Beltway nicht. DeGarmo und Emerick haben Sie aus einem bestimmten Grund aufs Korn genommen. Es ist nun offiziell bekannt, dass sie der Ansicht sind, Sie hätten Mist gebaut. Wenn sich die Sache in die falsche Richtung entwickeln sollte, muss der Präsident ihnen früher oder später Beachtung schenken.« Jake wusste, dass Alt Recht hatte. »Ich werde mir auch weiterhin alle Mühe geben, General. Mehr kann ich nicht versprechen.« »Das wissen wir«, sagte Stalnaker knapp. »Deshalb haben wir uns für Sie eingesetzt. Enttäuschen Sie uns nicht – halten Sie uns auf dem Laufenden. Keine Überraschungen, in Ordnung?« »Ja, Sir.« »Ich weiß nicht, wer im Weißen Haus Rückgrat hat. Lanham nicht, so viel steht fest. Vielleicht der Oberboss, vielleicht Molina. Wer auch immer: Möglicherweise kneifen sie, wenn’s ernst wird. Mumm ist in der Politik nicht gefragt.« Auf dem Weg nach draußen wies Jake Alt auf die Fehlfunktion des neuen Corrigan-Detektors hin. Er erklärte das Problem. »Nach den Anzeigen zu urteilen, müsste sich eine Atombombe unter einem Golfplatz verbergen. Falscher Alarm. Wäre es der Air Force möglich, einen nuklearen Sprengkopf nach Andrews zu fliegen, damit wir das Ding noch einmal kalibrieren können?« 256
»Ich kümmere mich darum.« Die schwarze Stretch-Limousine rollte langsam um den Dupont Circle. Genau um Mitternacht wandte sich ein Zuschauer von den Schachspielen ab und überquerte den Circle auf einem Fußgängerüberweg. Als der Wagen das nächste Mal an der Ampel hielt, stieg der Mann in den Fond. »Guten Abend«, sagte Karl Glück. Der neue Passagier vergewisserte sich, dass das Fenster zwischen Chauffeur und Fond geschlossen war. »Ich habe heute Nacht Corrigan erwartet.« »Er besucht einen Empfang.« »Ist bestimmt nett.« »Keine Ahnung«, sagte Glück gereizt. Er schwieg und saß mit den Händen im Schoß da, während der Chauffeur ums Lincoln Memorial fuhr und dann nach Süden am Fluss entlang. Schließlich hielt die Limousine auf dem Parkplatz des Jefferson Memorial, und der Chauffeur öffnete die Tür für Glück. Der Mann vom Dupont Circle öffnete seine Tür selbst und stieg aus. Als sie am Teich standen, fragte Glück: »Wie hat der Apparat funktioniert?« »Den Erwartungen gemäß, bis auf einen falschen Alarm. Niemand hat mit Perfektion gerechnet. Heute Nachmittag hat Grafton dem Weißen Haus einen erfolgreichen Test gemeldet. Während wir miteinander sprechen, schüttelt ihm der Präsident vermutlich die Hand und dankt ihm dafür, dass er die westliche Zivilisation vor den Mächten des Bösen beschützt.« Glück war ein adretter Mann in den Fünfzigern, hatte kurzes eisengraues Haar und eine kantige Kieferpartie. Er richtete einen nachdenklichen Blick auf den anderen Mann und fragte: »Wissen sie, wo die Waffen sind?« 257
»Noch nicht. Sie setzen ihre Hoffnung auf die Ortungsgeräte.« »Sie sollten besser mit Ermittlungen in Hinsicht auf die Terroristen beginnen. Die Clowns haben wahrscheinlich eine Spur hinterlassen, der selbst ein Blinder folgen könnte.« »Wer weiß? Komplexe Systeme entdecken komplexe Netzwerke. Aber Kriminelle, die nicht wissen, was ein Telefon ist, belasten sich nicht durch ein Telefonat.« »Halten sie Ausschau?« »Der Elefant rührt sich.« »Gibt es etwas, das ich weitergeben soll?« »Ja. Unsere Taktik in Hinsicht auf Tommy Carmellini hat nicht funktioniert. Vielleicht hätte ich mich selbst darum kümmern sollen. Die beiden Männer, die den Versuch unternommen haben, sind inzwischen aktiv geworden.« »Carmellini? Den habe ich ganz vergessen. Warum wollten Sie Einfluss auf ihn nehmen?« »Er gehört zu Graftons innerem Kreis, ich nicht.« »Wird Carmellini eliminiert?« »Ja.« »Was ist Ihr nächster Schritt? Wie wollen Sie hineingelangen?« »Ich verzichte auf einen solchen Versuch. Ich glaube, es ist zu gefährlich. Wir müssen uns mit den Informationen begnügen, die ich beschaffen kann, ohne zu wissen, was hinter der Tür vor sich geht.« »Sonst noch etwas für Corrigan?« »Heute Nacht nicht.« Sie kehrten zur Limousine zurück und stiegen ein. Thayer Michael Corrigan genoss den Abend. Die First Lady 258
hatte ihn und seine Frau zu einem Empfang im Ballsaal des HayAdams-Hotels eingeladen – es ging darum, Geld zu sammeln, um das Weiße Haus neu zu möblieren, nachdem der Steuerzahler für Wiederaufbau und Instandsetzung aufgekommen war. Eine vom entführten U-Boot USS America abgefeuerte Rakete hatte vor einem Jahr den zentralen Bereich des Weißen Hauses zerstört. Der Kongress hätte auch die Neuausstattung finanziert, aber der Präsident legte Wert darauf, dass die Privatwirtschaft einen großen Beitrag leistete. Zusammen mit der First Lady nahm er an entsprechenden Veranstaltungen teil, und natürlich kamen die Topindustriellen des Landes zu solchen Empfängen, um sechs- oder siebenstellige Beträge zu spenden, die sie von den Steuern absetzen konnten. Und um mit den Politikern zu reden. Wichtige Kongress-Repräsentanten leisteten dem Präsidenten und seiner Frau an diesem Abend Gesellschaft, als sie Hände schüttelten und mit den Leitern der wichtigsten amerikanischen Unternehmen plauderten. Geld wurde nicht erwähnt. Auf einem kleinen Tisch an der Tür lagen Pfandkarten, aber damit hatte es sich auch schon. Wer wissen wollte, wie die gespendeten Summen verwendet wurden, konnte auf der Karte anmerken, dass er oder sie einen Anruf der Fondsverwaltung während der Geschäftsstunden zu schätzen wusste. Die Leute, die »in« waren, erfuhren die Ehre eines persönlichen Gesprächs mit der First Lady, die gern über Farbmuster und Möbel sprach. Während Lauren Corrigan mit drei anderen Frauen in der Nähe der First Lady blieb, mischte sich T.M. unter die Macher. Das Wichtige bei diesen Empfängen war: Die anderen sollten sehen, dass man dazugehörte. Man sage wenig, höre zu und sei freundlich, um »einer von uns« zu sein. Er ging umher, sprach mit den richtigen Leuten, grüßte Personen, die er seit einer Weile nicht mehr gesehen hatte, und stellte sich anderen vor, die er nicht kannte, auf eine subtile Weise, die jene Leute in die 259
Gruppe aufnahm, zu der er gehörte. Es war eine Kunst, und er hatte jahrelang daran gearbeitet, sie zu erlernen. Eigentlich ging es gar nicht um Möbel, Teppiche und dergleichen. Nein. Es ging vielmehr um Zugang zu Macht. Alle Anwesenden wussten das, und alle spürten ein Kribbeln bei der Vorstellung, genau im Zentrum der Welt zu stehen. Thayer Michael Corrigan empfand mehr als nur ein Kribbeln. Sein ganzes Leben war eine Reise zu diesem Ort gewesen. Er trank trockenen Chardonnay und sprach mit zwei Senatoren und dem Aufsichtsratsvorsitzenden eines der größten Unternehmen der Erde, als es zu einer angenehmen Überraschung kam: Der Präsident erschien neben ihm, ergriff seinen Arm, richtete einige Worte an die Gruppe und zog ihn sanft fort, um allein mit ihm zu reden. »Mir sind gute Dinge zu Ohren gekommen«, sagte der Präsident so leise, dass Corrigan sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Aber wir brauchen mehr Detektoren, und zwar so schnell wie möglich.« »Ich tue, was ich kann, Mr. President.« »Normalerweise würde ich bei einem solchen Empfang nicht darüber reden, aber die Sache ist dringend. Sehr dringend. Es geht hier um unser Land, T.M.« »Ich verstehe, Sir.« »Ja, ich wusste, dass Sie verstehen würden.« Der Präsident klopfte ihm zweimal auf den Arm und ging fort. Ein Kellner kam mit Whisky vorbei, und Thayer Michael bediente sich. Er probierte die bernsteinfarbene Flüssigkeit. O ja! Schmeckte großartig und wärmte von innen. Als er das erste Glas geleert hatte, wandte er sich an den nächsten Kellner und nahm ein zweites. Jaaa, dies ist der richtige Ort, der Gipfel des Olymp. Hier steht man weit über all den kleinen Leuten, die sich abrackern, 260
um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Man sieht die Dummheiten und Torheiten, das Gestern und Morgen. Man sieht, wie sich die Galaxis dreht. Zeus auf diesem Berg und Gott im Himmel hatten es nicht besser, das steht fest! Wie zufrieden kann ein Mensch sein? Tommy Carmellini roch die eigenen Exkremente. Sein Darm hatte sich entleert, ohne dass er etwas davon merkte. Die Sonne war aufgegangen; Licht fiel in den Hangar. Kein direkter Sonnenschein, nur ein wenig Licht. Seine Füße waren heiß, fast schmerzhaft heiß, aber er konnte nichts daran ändern. Vermutlich verbrannte ihm der Kalk im Zement die Haut. Er versuchte, den Blick auf etwas zu richten. Konnte er besser sehen? Er wollte es glauben, denn wenn er besser sah, so bedeutete es, dass die Wirkung der Droge nachließ. Dann konnte er sich bald wieder bewegen und würde die beiden verdammten Mistkerle umbringen, sie mit seinen eigenen Händen erwürgen. Er würde warten, bis sie zurückkehrten, und ihnen dann das Genick brechen. Der Zorn strömte wie heiße Lava durch ihn. Immer wieder stellte er sich vor, was er mit Arch Foster und Norv Lalouette machen würde. Sie einfach nur zu töten … Nein, das war zu leicht für sie. Sie sollten langsam sterben, während er ihnen in die Augen sah. Er versuchte, die Finger zu bewegen, denn er brauchte sie, um die beiden Hurensöhne zu erwürgen. Das war sein Ziel, und er arbeitete daran, mit seiner ganzen Entschlossenheit. Doch die Finger rührten sich nicht, und die Decke des Hangars blieb leicht verschwommen. Lippen und Mund ließen sich ebenso wenig bewegen wie der Rest des Körpers. Aber er 261
musste sich bewegen, denn wenn Foster und Lalouette an diesem Abend kamen … Wenn seine Bemühungen erfolglos blieben, würde er einfach verschwinden, so wie Richard Doyle … und allein Gott wusste, wie viele andere. Himmel, seine Mutter würde sieben Jahre warten müssen, bis sie das Geld der Lebensversicherung kassieren konnte. So lange dauerte es doch, bis eine vermisste Person für tot erklärt wurde, oder? Seltsam, dass er daran dachte. Jämmerlich. Foster und Lalouette machen sogar meiner Mutter Ärger, verdammt!, dachte er. Während Carmellini weiter versuchte, die Finger zu krümmen, hörte er Flugzeuge, Autos und Leute, die ihren Angelegenheiten nachgingen. Während er auf dem Tisch lag und starb. Ohne Nahrung und Wasser wurde er allmählich schwächer. Wenn Foster und Lalouette ihm eine weitere Injektion gaben, sobald die Wirkung der ersten nachließ, blieb er gelähmt, bis er schließlich verdurstete. Sein Herz würde aufhören zu schlagen, wenn das Blut zu dick wurde. Aber so viel Zeit blieb ihm gar nicht. Heute Abend würden Arch und Norv zurückkehren, um ihn an Bord eines Flugzeugs zu bringen und über dem Meer in die Tiefe stürzen zu lassen. Foster hatte Recht: Vermutlich starb er beim Aufprall aufs Wasser. Die beiden Betonklötze würden ihn bis zum Grund sinken lassen, wo niemand seine Leiche entdecken konnte. Er trachtete erneut danach, Finger und Zunge zu bewegen. Vergeblich. Die Droge hielt ihn fest in ihrem tödlichen Griff. Am Sonntagmorgen fragte Toad Jake: »Wie ist es gestern Abend gelaufen, Admiral?« Grafton hatte die Besprechung am vergangenen Abend nicht erwähnt, aber Toad wusste natürlich davon. 262
»Ich habe noch meinen Job.« »Weshalb die ganze Aufregung?« Jake berichtete von dem Treffen. »Leute, die an Ihren Beratungen teilnehmen, kehren anschließend ins Büro zurück und erzählen DeGarmo und Emerick davon?« »Natürlich. Sie arbeiten für sie.« »Jetzt arbeiten sie für Sie. Schmeißen Sie die Mistkerle raus und engagieren Sie neue Leute.« »Die würden sich ebenso verhalten«, sagte Jake. »So ist das Leben, Toad. Man kann arbeiten, solange die Vorgesetzten einem vertrauen. Wenn sie dieses Vertrauen verlieren – ob man selbst daran schuld ist oder andere Leute –, muss man seinen Platz räumen und ihm dem nächsten Burschen überlassen. Dann hat man ausgedient.« »Stimmt«, meinte Toad. »Mit der Ehe ist es ähnlich.« »Mag sein.« »Jene Typen, die alles weitertragen … Vertrauen Sie ihnen noch?« »Sie haben sich so verhalten, wie ich es von ihnen erwartete. Das ist alles.« »Ihnen ist sicher klar, dass man Sie kreuzigt, wenn es irgendwo in Amerika zu einer Atomexplosion kommt, ob groß oder klein«, sagte Toad. »Das war mir schon klar, als der Präsident noch erklärte, worum es geht.« »Wenn Sie die Frage gestatten, Admiral: Warum zum Teufel haben Sie sich dann darauf eingelassen?« »Jemand musste die Aufgabe übernehmen.« »Glauben Sie, Lanham, DeGarmo oder Emerick sind scharf auf Ihren Posten?« 263
»Sie möchten, dass ich so vorgehe, wie sie es wollen, damit sie die Anerkennung einheimsen können. Aber wenn die Dinge schief gehen, möchten sie nicht in die Schusslinie geraten. Es sind Beamte, und sie treiben ihr übliches Spiel.« Nach einem Moment fragte Jake: »Was hat Bennett in der vergangenen Nacht herausgefunden?« »Er hat die ganze Nacht im Lieferwagen verbracht, Admiral. Konnte nicht den kleinsten Defekt bei seinem Apparat entdecken.« Jake wies darauf hin, dass er General Alt um einen Atomsprengkopf gebeten hatte, um den Corrigan-Detektor zu kalibrieren. »Bitte kümmern Sie sich darum, Toad. Rufen Sie in seinem Büro an. Wenn mit dem Detektor etwas nicht stimmt, müssen wir ihn in Ordnung bringen. Und wenn es sich um einen Konstruktionsfehler handelt, möchte ich sofort davon erfahren.« Das wäre eine echte Katastrophe gewesen, dachte Toad, behielt diesen Gedanken aber für sich. »Aye aye, Sir«, sagte er, kehrte in sein Büro zurück und benutzte dort das abhörsichere Telefon. Als Callie am Sonntag das Geschirr vom Mittagessen abräumte, läutete das Telefon. »Hallo.« »Hier spricht der Sicherheitsmann in der Eingangshalle, Mrs. Grafton. Jemand möchte zu Ihnen, eine gewisse Anna Modin.« Callie suchte in ihrem Gedächtnis. Modin? »Sie meint, ein gemeinsamer Freund hätte sie geschickt, ein Mr. Janas Ilin.« Callie brauchte einige Sekunden, um das zu verarbeiten. Dann traf sie eine Entscheidung. »Schicken Sie sie hoch.« 264
Callie legte auf. Sie war allein zu Hause. Jake arbeitete in Langley, und Amy war bei Freunden zum Essen. Kurze Zeit später klingelte es an der Tür, und sie machte auf. Die im Flur stehende Frau war um die dreißig und hatte langes schwarzes Haar. Sie trug ein Kleid, das ein ganzes Stück bis über die Knie reichte, und stabile Schuhe mit flachen Absätzen. Eine große Handtasche hing an der einen Schulter. Gepäck hatte sie nicht. Die Strümpfe waren an mehreren Stellen zerrissen, die Hände zerkratzt. Ein großer blauer Fleck zeigte sich an einem Arm. »Mrs. Grafton, ich bin Anna Modin. Ihr Freund Janas Ilin hat mich zu Ihrem Mann geschickt.« Die Linguistin Callie Grafton erkannte den russischen Akzent sofort, obgleich er nicht sehr deutlich ausgeprägt war. »Bitte kommen Sie herein«, antwortete sie auf Russisch. Modin lächelte. »Er hat mir gesagt, dass Sie Russisch sprechen.« »Ein bisschen.« Callie schloss die Tür hinter der Besucherin. »Bitte sagen Sie mir: Wenn Mr. Ilin Russe ist, wieso hat er dann einen ungarischen Vornamen?« Modin wandte sich ihr zu. »Seine Mutter war Ungarin«, erwiderte sie schlicht und begegnete Callies Blick. Callie nickte. So hatte es Ilin ihr im letzten Jahr erklärt. »Wohnen Sie in Washington?« »Nein, ich komme vom Dulles Airport und habe dem Taxifahrer Ihre Adresse genannt.« »Oh, meine Güte! Sind Sie hungrig? Oder möchten Sie was trinken?« »Während des Flugs habe ich ein wenig geschlafen, aber ich bin ziemlich müde und schmutzig. Etwas zu trinken wäre nicht schlecht.« »Kommen Sie mit in die Küche.« Callie ging voraus und füg265
te hinzu: »Mein Mann ist nicht da.« »Ilin hat mich gebeten, so schnell wie möglich mit ihm Kontakt aufzunehmen.« Callie gab Modin einen Softdrink mit Eis und ging dann ins Schlafzimmer, um zu telefonieren. Als sich Jake meldete, sagte sie: »Hier ist eine Frau, die behauptet, Janas Ilin hätte sie geschickt. Sie kommt vom Dulles Airport und möchte dich so schnell wie möglich sprechen.« »Hm«, machte Grafton. »Wusstest du von ihr?« »Nein.« »Was soll ich ihr sagen?« »Sorg dafür, dass sie es bequem hat. Ich bin in einer Stunde bei euch.« Zwar sprach Anna Modin mit einem leichten Akzent, aber ihr Englisch schien perfekt zu sein. »Sind Sie zum ersten Mal in Amerika?«, fragte Callie. »Nein. Als ich für eine Bank in der Schweiz gearbeitet habe, bin ich mehrmals geschäftlich in New York gewesen.« »Arbeiten Sie für Ilin?« »Er ist ein Freund«, sagte Modin, und Callie hielt das für eine ausweichende Antwort. »Gehören Sie zum russischen Geheimdienst?«, hakte sie nach. »Nein«, sagte Modin mit Nachdruck und fügte hinzu: »Janas Ilin ist ein Freund.« Callie schürzte nachdenklich die Lippen. Es lag bei Jake und den Geheimdienstprofis, über die Wahrheit dieser Bemerkung zu entscheiden. »Erzählen Sie mir von sich«, sagte sie und wechselte das Thema. »Wo sind Sie geboren und zur Schule gegangen?« 266
Als Jake nach Hause kam, setzte er sich zu den beiden Frauen ins Wohnzimmer. Sie tranken Softdrinks. »Janas Ilin hat mich gebeten, Ihnen dies zu geben«, sagte Anna Modin und reichte dem Admiral die CD, die sie von Ilin bekommen hatte. »Was enthält sie?« »Aufzeichnungen von Transaktionen der Walney’s Bank in Kairo.« Sie holte eine zweite CD aus ihrer Handtasche und klopfte mit dem Fingernagel darauf. »Vielleicht wäre es besser, alles von Anfang an zu erzählen.« »Ja, bitte«, sagte Jake und legte die CD, die Modin ihm gegeben hatte, auf den Couchtisch. Anna Modin sprach fast eine Stunde lang. Sie erzählte, wie Ilin sie vor Jahren angeworben hatte. Sie berichtete von ihrer Arbeit für Schweizer Banken, vom Umzug nach Kairo, von Ilins Nachricht über Bomben, Abdul Abn Saad, Nooreem Habib, vom Killer in der Finsternis. Sie erzählte alles und erwähnte auch Ilins Hinweis in Bezug auf die Waffen. »Sie befanden sich an Bord eines griechischen Frachters, der Olympic Voyager, der Karatschi vor sechzehn Tagen verlassen hat.« Jakes Gesicht zeigte Entsetzen. »Vor sechzehn Tagen? Und das sagen Sie mir jetzt?« »Als Ilin davon erfuhr, bat er mich, Ihnen die Nachricht zu bringen. Ich bin so schnell wie möglich hierher gekommen.« Jake Grafton konnte nicht mehr still sitzen. Er stand auf, ging zum Fenster und sah nach draußen. Sechzehn Tage! Jetzt durfte keine Zeit mehr vergeudet werden. Er wandte sich vom Fenster ab, ging zum Couchtisch und nahm die CD. Anna reichte ihm die zweite Scheibe. »Für diese CD hat Nooreem Habib ihr Leben gelassen?« »Ja. Sie meinte, darauf sind die Namen der Personen gespeichert, die den Terroristen Geld gegeben haben, einschließlich 267
des Datums und der Beträge.« Jake steckte beide CDs ein. »Heute Nachmittag würde ich das Gespräch mit Ihnen gern fortsetzen. Bleiben Sie zum Abendessen?« »Wenn Sie möchten. Aber zuerst habe ich eine Frage.« »Ich höre.« »Wer sind Sie? Ilin nannte mir Ihren Namen und Ihre Adresse, aber er hat mir nie gesagt, was Sie machen, für wen Sie arbeiten.« »Ich bin nur jemand, der seinem Land dient, wie jeder Soldat, Matrose, Polizist, Feuerwehrmann und Beamte, dem Sie begegnen.« »Nur ein Jemand«, wiederholte Anna Modin. »Ich sorge dafür, dass sie sich ausruhen kann«, sagte Callie zu ihrem Mann, der sie auf dem Weg zur Tür küsste. Sechzehn Tage, dachte Jake. Ein mit zehn Knoten fahrendes Schiff – die meisten fuhren schneller – legte jeden Tag 240 Seemeilen zurück. Sechzehn Tage, 3840 Seemeilen. Bei fünfzehn Knoten waren es 5760, bei zwanzig sogar 7680. »Erzählen Sie mir von Ihrer Freundin Nooreem Habib, die ums Leben kam«, sagte Callie. »Sie war keine Freundin. Wie ich war sie mit Janas Ilin befreundet, und sie hat die CDs gebrannt. Abdul Abn Saad hätte sie schließlich entlarvt.« Anna verlor allmählich die Fassung und rieb sich die Augen. »Haben Sie Wodka oder Whisky?« Callie inspizierte das Spirituosenregal in der Küche und schenkte Modin einen Bourbon mit Eis ein. Sie nahm das Glas dankbar entgegen und nippte stumm daran. Sie war ruhiger, als sie um einen zweiten Whiskey bat. Als sie einen Schluck trank, sagte Callie: »Die Freundschaft mit Janas Ilin scheint gefährlich zu sein.« Modin dachte darüber nach. »Er hat Jake Grafton als seinen 268
Freund bezeichnet.« Callie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie gelangte zu dem Schluss, dass sie ebenfalls einen Drink brauchte. Als sie aus der Küche zurückkehrte, versuchte sie, das Thema zu wechseln. »Sie sind also zum ersten Mal in Washington?« »Ja.« Modin nickte und blinzelte, als müsste sie ihre Gedanken ordnen. »Sie sind bestimmt erschöpft. Wie wär’s mit einem Nickerchen und einem Bad?« »Ich habe keine anderen Sachen. Meine Reisetasche lag im Taxi am Friedhof, und ich glaube, der Fahrer hat sich aus dem Staub gemacht.« Modin rieb sich erneut die Augen und stellte das leere Glas auf den Tisch. »Danke für Ihre Gastfreundschaft. Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen. Ich habe Geld. Die Nachricht ist überbracht. Nachdem ich mit Ihrem Mann gesprochen habe, nehme ich mir ein Zimmer in einem Hotel.« »Während wir warten, sollten Sie ein heißes Bad nehmen und ein wenig schlafen. Ich wasche unterdessen Ihre Sachen.« Sie zeigte Anna Modin Seife und Handtücher, schloss dann die Schlafzimmertür. Bei den Waffen, wusste Callie, handelte es sich um die Atomsprengköpfe, die Jake suchte. Sechzehn Tage … Nachdem sie Anna Modins Kleidung in die Waschmaschine gegeben hatte, trat sie auf den Balkon und überprüfte ganz automatisch die in Töpfen wachsenden Veilchen. Mit verschränkten Armen stand sie in der Sonne und sah zur Stadt, aber in Gedanken war sie ganz woanders. Jake Grafton verbrachte vier Stunden des Sonntagnachmittags im Pentagon und sprach mit Leuten in Bundesbehörden, die wie er zu beschäftigt waren, um sich den Tag freizunehmen. Der Offizier von der Küstenwache, Captain Joe Zogby, lieferte die 269
ersten konkreten Informationen. »Die Olympic Voyager ist ein griechisches Schiff. Die Reederei, der es gehört, hat ihren Sitz in Athen. Sie hat bestätigt, dass der Frachter Karatschi vor sechzehn Tagen verlassen hat. In der letzten Woche hätte er den Suezkanal hinter sich bringen sollen, und derzeit müsste er nach Marseille unterwegs sein. Geschätzte Ankunftszeit: Mittwochabend Ortszeit.« »Stellen Sie fest, ob wir einen Kampfverband im Mittelmeer haben«, wandte sich Jake an Toad. »Übermitteln Sie einen Einsatzbefehl: Suche nach dem Schiff. Lassen Sie es überfliegen und Fotos anfertigen. Anschließend soll es rund um die Uhr beobachtet werden, bis eine Durchsuchung möglich ist.« Toad flitzte aus dem Büro. »Es ist Nacht in Athen«, fuhr Captain Zogby fort. »Das Außenministerium will jemanden von der Botschaft zur Reederei schicken, um eine Liste der Besatzungsmitglieder und das Ladungsverzeichnis zu besorgen.« »Das State Department soll die französischen Behörden bitten, das Schiff abzufangen und zu durchsuchen«, sagte Jake. »Vielleicht können wir es lange genug festhalten, um ein Team mit Geigerzählern hinüberzuschicken.« »Ich habe bereits mit den zuständigen Stellen gesprochen, Sir«, sagte Captain Zogby. »Man arbeitet daran.« »Gut.« »Das ist noch nicht alles. Bei der Fahrt über den Indischen Ozean meldete die Olympic Voyager den Verlust von vier Containern.« »Eine Meldung an die Reederei?« »Ja, Sir. Und die Reederei gab die Meldung an die Versicherung weiter, Lloyds, die dem globalen Marine-Sicherheitssystem Bericht erstattete. Das Hauptquartier der Küstenwache hat mir einen Teil der täglichen Meldungen ausgedruckt.« Zogby öffne270
te seine Aktentasche, holte einen mehrseitigen Computerausdruck hervor und reichte ihn dem Admiral. Die interessanten Einträge waren rot markiert. Jake sah von der Liste auf. »Kommt es oft zu solchen Verlusten?« »Man schätzt, dass pro Jahr etwa zehntausend Container auf See verloren gehen. Andererseits: Mehr als hundert Millionen Container sind jährlich über die Meere unterwegs. Auf Containerschiffen werden manchmal bis zu sechs aufeinander gestapelt. Ein so großer Stapel kann achtzig Tonnen wiegen. Normalerweise werden nur die externen Stapel auf beiden Seiten des Wetterdecks mit stählernen Spannvorrichtungen gesichert. Bei schwerem Seegang, wenn das Schiff schlingert, können die unteren Container zerquetscht werden, und dann lockert sich das ganze System. Manchmal werden die Spannvorrichtungen beim Beladen auch nicht richtig befestigt. Oder sie versagen einfach. Wenn die äußeren Stapel über Bord gehen, folgen ihnen gelegentlich auch die inneren.« »Warum bekommt die Küstenwache einen Bericht?« »Wir inspizieren jedes Schiff, das einen amerikanischen Hafen anläuft und Frachtverlust auf See gemeldet hat. Wir untersuchen die übrig gebliebenen Container und beschlagnahmen die beschädigten. Aber in vielen anderen Ländern finden solche Kontrollen nicht statt. Das Schlimmste ist: Verloren gegangene Container sinken nicht immer. Manchmal schwimmen sie auf oder dicht unter dem Wasser, wie kleine stählerne Eisberge, und werden von Wind und Strömung irgendwohin getrieben. Die NIMA, die National Imagery and Mapping Agency, versucht, den Kurs von verlorenen Containern mithilfe von Satellitendaten zu verfolgen, aber das ist sehr schwer.« »Werden in Ägypten Schiffe kontrolliert, die einen Frachtverlust melden?« »Ich weiß es nicht, Sir. Ich bezweifle es. Die Versicherungs271
gesellschaften und Reedereien gehen davon aus, dass solche Verluste unvermeidlich sind. Man berücksichtigt sie von vorneherein in der Kostenrechnung.« Eine Stunde später begann die NIMA auf Jakes Anfrage hin damit, in ihren Datenbanken nach Informationen zu suchen, die mit den verschwundenen Containern der Olympic Voyager in Zusammenhang standen. Die Verlustmeldung nannte auch Datum, Zeit und Position, und deshalb war die Aufgabe nicht so hoffnungslos, wie man meinen konnte. Jake telefonierte auch mit dem Hauptquartier der Küstenwache. An jenem Abend flogen mit Geigerzählern ausgestattete Beamte der Küstenwache nach Athen, Marseille und Kairo, um die Docks auf Strahlung zu untersuchen. Er war zuversichtlich. Endlich gab es einen Ansatzpunkt. Vielleicht ergab sich nichts, aber wenigstens konnten sie etwas unternehmen. Er fand die Passivität unerträglich. T. M. Corrigans Mann in Kairo war ein Ägypter, der sich Omar Kalif nannte. Er zeichnete sich durch all die Loyalität und Vertrauenswürdigkeit aus, die man mit Geld kaufen konnte. Ehrlich war er nicht, aber das scherte Corrigan kaum – er selbst war ebenfalls nicht ehrlich. Omar hatte bei zahlreichen Projekten für Corrigan gearbeitet und dabei immer sehr gute Arbeit geleistet, und deshalb war er für diese Sache ausgewählt worden. Diesmal hatte man ihm so viel Geld geboten, dass sich Omar nach diesem Projekt in den Ruhestand zurückziehen konnte. Er beabsichtigte, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, hatte bereits eine Anzahlung auf ein Haus in Argentinien geleistet. Omar Kalif wohnte in einem neuen Hochhaus in einem der besseren Viertel von Kairo. Von seinen Fenstern im neunten Stock blickte er über die weiten Slums der Stadt, über den Nil und an einem klaren Tag bis hin zu den Pyramiden. Er zahlte 272
das Äquivalent von 2000 US-Dollar für die Miete und hielt das für günstig. Das Problem in Ägypten – und im größten Teil der Dritten Welt – bestand darin, dass es viele sehr arme Menschen gab, einige enorm reiche und sehr wenige dazwischen. Fast überall in der arabischen Welt fehlte die Mittelschicht, abgesehen von den wenigen kleinen Ländern, die das Ölgeld in der Hoffnung verteilt hatten, sozialen Frieden für die Reichen zu erkaufen. Omar war in den Slums von Kairo geboren und aufgewachsen; die Reise in den neunten Stock hatte ein ganzes Leben in Anspruch genommen. Diesen Abend stand er am Fenster und dachte an Argentinien, als es an der Tür klingelte. Er sah auf die Uhr. Er erwartete niemanden, und die Sicherheitsleute in der Eingangshalle hatten nicht angerufen. Vermutlich seine Frau – sie war einkaufen gegangen und hatte wahrscheinlich den Schlüssel vergessen. Omar ging zur Tür und öffnete. Zwei Männer standen mit gezückten Pistolen im Flur. Er starrte auf die Waffen und merkte erst nach einigen Sekunden, dass Abdul Abn Saad hinter den Bewaffneten stand. Bevor Omar reagieren konnte, stießen die Männer die Tür ganz auf, traten ein und trieben ihn in die Mitte des Raums zurück. Hinter ihnen kam Abdul Abn Saad herein, schloss die Tür und schob die Riegel vor. Einer der Bewaffneten stieß Omar in einen Sessel, während der andere das Apartment durchsuchte. Fast eine Minute lang wurde kein Wort gesprochen, bis der Mann zurückkehrte. »Es ist sonst niemand da«, berichtete er. Saad nahm Omar Kalif gegenüber Platz. »Ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen, dass Sie vielleicht zu viel wissen?«, fragte er. Omar erbleichte. »Was?« »Sie haben viele Erfahrungen in allen Bereichen außerhalb der Legalität gesammelt«, sagte Abdul Abn Saad glatt. 273
»Deshalb habe ich mich gefragt, ob Ihnen klar ist: Wenn wir Sie nicht töten, lässt Corrigan Sie vermutlich umbringen. Immerhin sind Sie die einzige Verbindung zwischen uns.« Omar Kalif begriff, dass er in ernsten Schwierigkeiten steckte, den schlimmsten seines Lebens. »Mr. Saad, ich habe nie jemandem von unserer Beziehung erzählt. Warum bei Allah sollte ich? Etwas zu verraten … Damit hätte ich mein eigenes Todesurteil unterschrieben. Das wissen wir beide.« Saad stand auf, ging langsam umher und berührte einige Kunstobjekte, während die Spannung stieg. Erst jetzt stellte Omar fest, dass Saad Handschuhe trug, ebenso der eine Bewaffnete in seinem Blickfeld. »Jemand hat uns verraten«, sagte Saad langsam. »Aufzeichnungen der Bank wurden kopiert und die Kopien gestohlen. Warum jetzt?, fragte ich mich. Warum nicht vor sechs Monaten oder einem Jahr? Und die Antwort, die mir darauf eingefallen ist, lautet: Jemand untersucht die Geldspur zwischen Amerika und dem Schwert des Islam. Jemand weiß zu viel. Sie sind nicht die einzige Quelle für dieses Wissen, aber die wahrscheinlichste.« Ornar Kalif versuchte zu sprechen, aber es hatte ihm die Sprache verschlagen. Sein Blick klebte an Saad, der sich schließlich zu ihm umdrehte. »Sie waren der Mittelsmann. Sie sind der einzige lebende Mensch, der über die Personen an beiden Enden der Transaktion aussagen kann.« »Abdul Abn Saad, ich schwöre beim Barte des Propheten …« »Jemand hat uns verraten. Waren Sie es?« Omar versuchte, die Sache zu klären. »Ich schwöre beim Barte …« »Der Angriff auf unsere Computeraufzeichnungen ist eine ernste Angelegenheit. Leben sind in Gefahr – die ganze Bewegung gerät dadurch in Gefahr. Ich muss den Verräter identifizieren. Waren Sie es? Oder Corrigan? Oder jemand, der für ihn 274
arbeitet?« »Ich war es nicht«, stieß Omar hervor. »Das schwöre ich auf dem Grab meines Vaters. Es muss Corrigan sein! Ich habe ihm nie getraut.« »Corrigan war es nicht«, sagte Abdul Abn Saad kategorisch. »Mit Kopien von Aufzeichnungen könnte er nichts anfangen. Ihm wäre vielleicht daran gelegen, die Aufzeichnungen zu vernichten, aber ein solcher Versuch fand nicht statt. Ein Geheimdienst steckt hinter dieser Aktion. Die Frage ist, welcher. Und wo befindet sich die undichte Stelle?« »Bei Allah, haben Sie Erbarmen mit mir. Wenn ich Sie verraten hätte oder etwas darüber wüsste … Wäre ich dann noch hier, in meiner Wohnung? Würde ich auf Ihre Rache warten? Nein, natürlich nicht! Ich bin kein Narr! Ich habe nur meine Aufgabe erfüllt, mit Ihnen verhandelt, das Geld überwiesen und ein Schiff besorgt. Nicht mehr und nicht weniger.« Abdul Abn Saad blieb vor Omar Kalif stehen und sah ihm in die Augen. Schließlich seufzte er. »Ich glaube Ihnen«, sagte er. »Sie haben sich auf Allah berufen und Erbarmen erbeten, und deshalb sollen Sie es bekommen.« Er sah den Mann an, der hinter Omars Sessel stand, und nickte knapp. Der Bewaffnete schlug mit dem Pistolengriff zu, und Omar sank bewusstlos in sich zusammen. »Aus dem Fenster mit ihm«, sagte Abdul Abn Saad, drehte sich um und verließ den Raum. Im Flur kontrollierte er die Tür des Apartments und vergewisserte sich, dass sie sich hinter ihm geschlossen hatte. Auf dem Weg nach unten zur Eingangshalle zog er die Handschuhe aus und steckte sie ein. Er hatte das Hochhaus verlassen und ging draußen über den Bürgersteig, als Leute auf der Straße nach oben zeigten. »Es war ein Mann, offenbar Selbstmord … Von dort oben fiel er herunter und landete auf dem Vordach.« Das Vordach ragte über den Eingang des Gebäudes. 275
Abdul Abn Saad sah nicht einmal hin. Sein Chauffeur hielt die Tür der Limousine für ihn auf, und Saad stieg ein. Wenige Sekunden später verschwand der Wagen im dichten Verkehr von Kairo.
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13 Im Hangar war es schon seit einigen Stunden wieder dunkel, als Tommy Carmellini hörte, wie draußen ein Wagen vorfuhr. Das Brummen des Motors verstummte, Türen wurden geöffnet. Ein Schlüssel drehte sich im Vorhängeschloss. Die Hangartür öffnete sich. Das Licht ging an. »Er ist noch da.« »Hast du gedacht, er könnte verschwunden sein?« Archs Gesicht erschien über Carmellini. »Noch immer gelähmt, in Ordnung. Die Gesichtsmuskeln schlaff, sabbert vor sich hin, kann den Blick nicht ausrichten. He, Arschloch, sieh mich an. Sieh mich an!« Das konnte Carmellini natürlich nicht. Arch versetzte ihm drei oder vier Ohrfeigen, so heftig, dass es in seinen Ohren rauschte. Dann lachte er. »Tja, mein lieber Carmellini, ich hoffe, du hattest eine schlechte Zeit, während du hier gelegen und auf den Tod gewartet hast. Ich habe mir ein Baseballspiel angesehen. Es freut dich vielleicht zu hören, dass die Wizards gewonnen haben. Hab Bier getrunken, Leckeres gegessen und in der vergangenen Nacht sogar gebumst. Na, wie gefällt dir das? Und morgen geht mein Leben weiter. Ich fahre zur Arbeit, esse, trinke, vergnüge mich mit Frauen und genieße das Leben. Und du wirst tot sein!« Arch verlor schließlich das Interesse daran, ihn zu verspotten, und überprüfte die Härte des Betons. Carmellini spürte, wie Foster sein Bein hob, und er fühlte auch das Gewicht des Betons im Eimer – es zog an Muskeln und Sehnen. 277
Arch ließ das Bein los, und der Eimer knallte auf den Boden. »Du bist bereit zu sterben, Carmellini. Wir geleiten dich in den Tod. Ich hoffe, dir gefällt deine letzte Reise.« Damit ließ Foster ihn allein. Carmellini hörte, wie sich die Türen eines Flugzeugs öffneten und Schnappriegel klackten – vermutlich trafen Norv und Arch jetzt Vorbereitungen für den Flug. Die beiden Männer sprachen über Treibstoff und Öl, kontrollierten sogar den Reifendruck. Tommy versuchte erneut, sich zu bewegen, versuchte es so sehr, dass ihm Tränen aus den Augen rollten. Und dann kamen sie zu ihm. Arch nahm den Kopf und Norv die mit Beton beschwerten Füße. Lautes Schnaufen wies darauf hin, dass es ihnen schwer fiel, ihn zu tragen. Sie schleppten ihn durch den Hangar zur rechten Seite des Flugzeugs. Der Beton rieb wie Sandpapier; Haut löste sich. Carmellini spürte den Schmerz, aber er konnte nicht einmal stöhnen. Die beiden Männer schoben ihn durch die Öffnung in der Seite des Flugzeugs. Es schien eine einmotorige Maschine zu sein. Das nicht einfahrbare Fahrwerk erschien kurz in Carmellinis Blickfeld – vermutlich eine Cessna 206, oft von Fallschirmspringern verwendet. Auf dem unverkleideten Aluminiumboden blieb er liegen. Norv stieg ein, zog die Eimer mit dem Beton nach hinten und band Carmellini mit BungeeSeilen fest, um zu verhindern, dass er vorzeitig aus dem Flugzeug fiel – die große Öffnung in der Seite war ohne Tür. Arch und Norv überließen ihn sich selbst, öffneten die Hangartür und zogen das Flugzeug mit einem kleinen Schlepper auf den Taxiway. Tommy hörte, wie sie vorn einstiegen und den Motor starteten. Nach einigen Minuten kamen verzerrte Stimmen aus einem Lautsprecher, als die Maschine losrollte. Carmellinis Blick war auf eine Niete im Boden gerichtet. Sie war etwa zwanzig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, 278
aber er sah sie ganz deutlich. Er bemühte sich, die Augen zu bewegen. Als das Brummen des Motors lauter wurde und die Cessna auf der Startbahn beschleunigte, konnte er seine Umgebung allmählich wieder wahrnehmen. Vom Instrumentenpult kam nicht viel Licht, aber es reichte aus, Einzelheiten zu erkennen. Er konnte sehen! Er war imstande, die Augen zu bewegen und den Blick auf etwas zu richten! Seine Hände waren noch immer vor ihm gefesselt. Die Schnur saß nicht sehr stramm; es strömte weiterhin Blut in die Hände. Er zwang den Blick nach unten, auf die Hände. Sie blieben schemenhaft in der Dunkelheit. Er versuchte, die Finger zu krümmen, und diesmal bewegten sie sich. Er konnte sehen und die Finger bewegen. Jake wirkte erschöpft, als er um elf Uhr am Sonntagabend heimkehrte. Callie empfing ihn an der Tür. »Hat sich was ergeben?« »Wir arbeiten an dem Problem, wie es so schön heißt. Wenn ich das noch einmal höre, strecke ich die Faust durch die Telefonleitung und knalle sie dem Betreffenden ins Gesicht. Hast du gegessen?« »Wir haben gegessen, als Amy heimkam. Ich hab dir was beiseite gestellt.« »Was hältst du von Anna Modin?« »Ich glaube, sie hat heute Nachmittag die Wahrheit gesagt. Meiner Ansicht nach gehört sie nicht zum Geheimdienst. Sie bezeichnete Ilin als einen Freund von ihr und meinte, du wärst ebenfalls ein Freund von ihm. Ich schätze, das kaufe ich ihr ab. Andererseits: Vielleicht lügt sie. Heutzutage scheint die Welt voller guter Lügner zu sein.« Jake strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Na schön«, 279
sagte er. »Angeblich soll sie dir von Ilin ausrichten, dass die Ägypter versuchen könnten, sie umzubringen.« Das gab Jake zu denken. Er nahm im nächsten Sessel Platz. »Hat sie telefoniert, während sie hier war?« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann sie bestimmt nicht vor fanatischen Mördern beschützen. Das FBI will ohnehin mit ihr reden. Vielleicht wäre es möglich, dass sie Asyl oder so beantragt – ich weiß es nicht. Sie wird mit dem FBI sprechen müssen; jede zusätzliche Information über die beiden CDs kann uns helfen.« »Wie lange braucht des FBI für die Analyse der beiden Scheiben?« »Mindestens zwei Tage. Vor dem Gespräch mit ihr wollen die Leute vom Bureau erst feststellen, was es mit den gespeicherten Daten auf sich hat.« Jake fügte nicht hinzu, dass er Zelda vor der Weitergabe der beiden CDs gebeten hatte, Kopien anzufertigen. »Vielleicht kann Anna so lange bei uns bleiben. Ich möchte sie besser kennen lernen, und sie würde sich gern Washington ansehen. Ich dachte an eine Touristentour. Und sie könnte in Amys Zimmer schlafen. Amy schläft auf der Couch. Morgen gehen wir zusammen einkaufen und besorgen ihr Sachen. Sie braucht eine ganz neue Ausstattung.« Jake holte tief Luft und ließ den Atem langsam entweichen. »Lass mich etwas essen, und dann fahren wir los. Ich möchte mir die Stadt ebenfalls noch einmal ansehen.« Anna war nicht müde. Sie musste sich erst noch an den Wechsel der Zeitzonen gewöhnen, und das Nickerchen hatte sie erfrischt. Callie hatte ihr sportliche Kleidung geliehen, die recht gut passte. Sie und Amy saßen am Tisch, während Jake 280
aß. Sie sprachen über Washington. »Die Stadt ist nicht alt, so wie europäische Städte«, erklärte Amy. »1791 beauftragte unser erster Präsident George Washington den Franzosen Pierre L’Enfant, den Plan für die neue Bundeshauptstadt zu erstellen.« Callie holte eine Karte und zeigte Anna zusammen mit Amy das Muster der Stadt. Jake schaltete die Geschirrspülmaschine ein und fuhr die drei Frauen dann durch die Stadt. Sie überquerten den Potomac und hielten schließlich auf dem Parkplatz des Jefferson Memorial, das gerade restauriert wurde. Sie gingen an den Absperrungen entlang, betraten das Gebäude, sahen sich das JeffersonDenkmal an und lasen die Inschriften. Anschließend kehrten sie zum Wagen zurück und fuhren durch die wichtigsten Straßen. Sie kamen am Luft- und Raumfahrtmuseum vorbei, machten eine Runde ums Kapitol, fuhren über die Constitution Avenue an weiteren Museen vorbei, parkten und gingen zum Weißen Haus. Von dort aus ging die Fahrt noch einmal über die Constitution Avenue nach Westen, zum Fluss. Jake hielt an einer großen Statue von Albert Einstein, und sie wanderten zum Vietnam Memorial. Auf der Treppe des Lincoln Memorial eilte Amy ihnen voraus. »Dies ist mein Lieblingsort in Washington«, vertraute sie Anna Modin an, als sie vor dem sitzenden Präsident Lincoln standen. Als die Frauen nach draußen zurückkehrten, saß Jake auf der Treppe und blickte zum von Scheinwerfern angestrahlten weißen Obelisken des Washington Monument, der sich deutlich vor dem Hintergrund des dunklen Nachthimmels abzeichnete. Callie nahm neben ihm Platz und griff nach seiner Hand. Amy streckte den Arm aus und zeigte der Russin verschiedene Gebäude und Monumente. »Ich weiß, dass Sie müde sind«, sagte Anna Modin. »Danke für diese Tour heute Abend.« 281
»Ich habe mir selbst noch einmal alles ansehen wollen«, erwiderte Jake. »Die nukleare Gefahr, die Drohung, Millionen von Menschen zu töten oder die Zivilisation zu vernichten …«, sagte Callie. »Jack Yocke schrieb heute in der Zeitung: Selbst wenn die Terroristen keine Atombombe zünden – sie zerstören unsere Unschuld.« »Sie gießen Säure auf das Vertrauen, das die Zivilisation zusammenhält«, brummte Jake. »Und das wissen die Verantwortlichen ganz genau. Sie wollen die Zivilisation nicht, zumindest nicht in ihrer derzeitigen Form. Sie wollen das traditionelle Dorfleben. Dabei übersehen sie die Tatsache, dass der traditionelle arabisch-muslimische Lebensstil nicht all die Menschen auf der Erde ernähren kann. Entweder wissen sie es nicht, oder es ist ihnen gleich.« Nach einer Weile standen sie auf, klopften sich Staub von der Kleidung und gingen zu Amy und Anna, die vor der Treppe standen. Auf dem Weg zum Wagen hielt sich Jake neben Anna Modin. Er wurde langsamer, damit der Abstand zu Amy und Callie wuchs. »Erzählen Sie mir noch einmal von Nooreem Habib und dem Mann, der sie tötete.« Anna wiederholte die Geschichte. Jake hatte den Wagen auf der anderen Seite der Constitution Avenue geparkt, neben dem Denkmal von Albert Einstein. Es herrschte nur wenig Verkehr, was Amy und Callie zum Anlass nahmen, rasch die Straße zu überqueren. Jake blieb auf dem Bürgersteig stehen und hörte der Russin zu. Sie ließ nichts aus, erwähnte auch Freddy Bailey und das amerikanische Touristenvisum. Jake beobachtete Anna, während sie sprach, lauschte ihrem Tonfall und achtete darauf, wo sie Pausen einlegte und auf der Suche nach dem richtigen englischen Wort zögerte. Sie schilderte die Ereignisse ein wenig anders als beim ersten Mal, und 282
das war in Ordnung. Jake gelangte zu dem Schluss, dass sie die Wahrheit sagte. »Die Ägypter könnten hier nach Ihnen suchen«, sagte er. »Ja«, entgegnete Anna schlicht. »Ilin hielt das für wahrscheinlich.« »Besorgt Sie das?« »Natürlich. Ich möchte nicht sterben.« Die Ampel sprang um, und sie überquerten die Straße. Callie und Amy saßen bereits im Wagen. Jake ging zum Denkmal und nahm auf einer schmiedeeisernen Bank Platz. Anna setzte sich neben ihn. »Ich möchte, dass Sie mit dem FBI reden«, sagte er. »Man wird Ihnen viele Fragen stellen, über die beiden CDs, Saad und seine Bank, darüber, wie er den Terrorismus finanziert …« »Diese Fragen werde ich beantworten«, erwiderte Anna schlicht. »Man wird Sie auch nach Ilin fragen, dem SVR und ihre Arbeit für ihn.« »Ich arbeite für Ilin, nicht für den SVR.« Die Skepsis war Jake deutlich anzusehen. »Solche Fragen werde ich nicht beantworten.« »Sie haben mit mir darüber gesprochen.« »Ilin vertraut Ihnen. Dem FBI oder der amerikanischen Regierung vertraut er nicht. Der SVR hat Ihren Regierungsapparat infiltriert und überall Spione. Ilin darf nicht in Gefahr geraten.« »Mir gegenüber sind Sie offen gewesen«, sagte Jake. »Ich bin nicht Superman. Ich muss meinen Vorgesetzten mitteilen, was ich weiß, sodass wir uns schützen und Ihre Informationen verwenden können.« »Ich vertraue Ilin, und er vertraut Ihnen.« Anna Modin gab nicht nach. »Was Sie tun und sagen, ist Ihre Angelegenheit, 283
aber ich werde niemandem von Dingen erzählen, die Janas Ilin verraten. Er hat viele Feinde. Einige von ihnen kenne ich, andere nicht.« »Woher wollen Sie wissen, dass er auf der Seite der Engel steht?« »Er ist ein guter Mann und versucht, das Richtige zu tun. So viel weiß ich.« »Woher wissen Sie es?« Modin gestikulierte verärgert. »Ich weiß es einfach!« »Aber es besteht das Risiko, dass Sie sich irren«, beharrte Jake. »KGB und SVR haben fast hundert Jahre lang Menschen auf grausame Weise benutzt. Behaupten Sie nur nicht, Sie hätten nie daran gedacht.« »Ich habe daran gedacht«, räumte die Russin ein. »Manche Menschen glauben an Gott. Sie können seine Existenz nicht beweisen, aber trotzdem glauben sie an ihn. Ich glaube an Ilin. Ich kann nichts beweisen, aber ich glaube dennoch.« Sie überlegte kurz. »Es gibt Menschen, die auf dieser Welt irgendetwas brauchen, das das Leben lebenswert macht. Ich gehöre zu Ihnen. Ich glaube, dass es auf diesem Planeten mindestens einen guten Menschen gibt. Er heißt Janas Ilin.« Amy und Callie saßen im Wagen und beobachteten Jake und Anna. Das Gespräch hörten sie nicht, aber sie sahen, wie Anna hartnäckig den Kopf schüttelte. »Wer ist sie, wirklich, meine ich?«, fragte Amy. »Ich weiß nur, was sie mir gesagt hat«, murmelte Callie. »Worum geht es eigentlich?« »Wir sind im Krieg, Amy, und dein Vater kämpft darum, dass wir ihn gewinnen.«
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Jake war gerade heimgekehrt, als jemand von der NIMA anrief. »Wir haben nichts gefunden, Admiral. Als die Container verloren gingen, gab es keine Satelliten über dem betreffenden Gebiet. Einen Tag später flog einer über die Region hinweg, doch in den von ihm übermittelten Daten deutet nichts auf Container hin.« »Nun, ich habe ohnehin nicht damit gerechnet, dass Sie fündig werden«, erwiderte Jake. »Vermutlich war angesichts des Unwetters gar keine visuelle Erfassung des Ozeans möglich.« »Oh, es gab kein Unwetter. Wir hatten nur keinen Satelliten über dem Gebiet.« »Kein Unwetter?« »Nein, Sir. Für diese Jahreszeit war es während der vergangenen beiden Wochen erstaunlich ruhig auf dem Indischen Ozean.« Das Brummen des Flugzeugmotors übertönte für Tommy Carmellini alle anderen Geräusche. Gelegentlich wackelte die Cessna, wenn sie während des Flugs durch die Nacht in leichte Turbulenzen geriet. Immer wieder krümmte Tommy die Finger und versuchte ein Bein zu krümmen oder eine Schulter zu bewegen. Der durch die Öffnung in der Seite wehende Wind war kühl und willkommen. Er strich ihm übers Gesicht und trocknete den Schweiß. Er durfte sich auf keinen Fall etwas anmerken lassen. Er lebte nur deshalb noch, weil Arch Foster ein Sadist war. Wenn er oder Norv einen Blick über die Schulter warfen und sahen, dass er sich bewegte, so würden sie ihn sofort erschießen. Carmellini schluckte. Zum ersten Mal seit mehr als dreißig Stunden schluckte er. Die Muskeln in seinem Gesicht bewegten sich. Er tastete mit der Zunge über die Zähne. 285
Die Cessna flog und flog. Tommy Carmellini lag so reglos wie eine Leiche. Sein Moment würde kommen – er fühlte, wie Kraft in die Muskeln zurückkehrte. Er versuchte, entspannt zu liegen, sich nicht zu verkrampfen. Das Warten war schrecklich. Jede einzelne Minute schien sich auf die Länge einer Stunde zu dehnen. Er war so sehr darauf konzentriert, die beiden Männer zu töten, dass er nicht einen Gedanken ans Danach vergeudete. Nicht einen einzigen. Warten … lauschen … entspannt bleiben. Er lag noch immer bewegungslos da, als eine Lampe angingNorv schwang ein Bein über die Rückenlehne des Pilotensessels. Er trat auf Carmellini, fand dann eine freie Stelle für seinen Fuß und kletterte ganz über den Sessel hinweg. Er ging in die Hocke, griff nach Tommys Kinn und drehte den Kopf, damit er das Gesicht sehen konnte. Mit eiserner Selbstbeherrschung blickte Carmellini ins Leere und sorgte dafür, dass sein Gesicht schlaff wirkte. Norv löste die Bungee-Seile, die Carmellini und die Eimer mit dem Beton gesichert hatten, band sie nacheinander los. Er schob einen Eimer in Richtung Öffnung, streckte dann die Hände nach dem zweiten aus. Wenn die Eimer fielen, würde Carmellini ihnen folgen. Während Norv noch zog und schob, krümmte Tommy Carmellini das rechte Bein, hob den Betoneimer und trat damit nach Norv. Lalouette versuchte sich festzuhalten. Carmellini sah noch die Mischung aus Verblüffung und Entsetzen in seinem Gesicht, dann wurde Norv vom Sog nach draußen gerissen. Tommy Carmellini zog die Beine an und stemmte sich hoch. Das Flugzeug schaukelte. Carmellini sah das Weiße in Archs Augen, als Foster beobachtete, wie der vermeintlich Gelähmte 286
aufstand. Er versuchte, die Cessna zu steuern und gleichzeitig eine Pistole aus dem Halfter hinterm Gürtel zu ziehen. Die Sicherheitsgurte behinderten ihn dabei. Carmellini sah Furcht in seinem Gesicht, und das ließ ihn frohlocken! Er riss Arch das Headset vom Kopf und griff dann nach seinem Hals, um ihn zu erwürgen. Foster wand sich zur Seite, was Carmellini daran hinderte, die Hände um seinen Hals zu schließen. Stattdessen nahm er sich den Kopf vor. Foster ließ die Cessna nach rechts kippen – auf der Seite befand sich die offene Tür. Ob es sich um eine bewusste Entscheidung handelte oder einen glücklichen Zufall, der Effekt war der gleiche: Die Betoneimer an Carmellinis Füßen – und Carmellini –, rutschten der gähnenden Dunkelheit entgegen. Tommy wollte Archs Kopf auf keinen Fall loslassen. Mit der ganzen Kraft seines Oberkörpers widersetzte er sich dem Zug der Schwerkraft und brachte die Füße wieder unter sich. Arch begann zu heulen, und dieses Geräusch verschmolz mit dem Knurren, das aus Carmellinis Kehle kam. Foster ließ die Kontrollen los, um mit beiden Händen gegen den Schraubstock anzukämpfen, der sich um seinen Kopf geschlossen hatte. Dadurch kehrte die Cessna in eine horizontale Fluglage zurück, und Carmellini konnte besser zupacken. Zwar waren die Handgelenke aneinander gebunden, aber die Finger kamen stählernen Klauen gleich, die sich um Fosters Kopf schlossen. Die linke Hand befand sich am Hinterkopf, die rechte über den Augen. Carmellini bohrte zwei Finger in Arch Fosters rechtes Auge. Arch kreischte voller Schmerz und Grauen, versuchte verzweifelt, Carmellinis Hände von seinem Kopf zu lösen. Er wand sich hin und her, stieß dabei mit den Knien ans Steuer. Die Cessna tanzte. Nach all den Jahren des Kletterns waren Carmellinis Finger 287
wie Stahlstäbe. Er bohrte sie tiefer in Fosters rechtes Auge. Der Augapfel kam heraus und baumelte an der Wange, vom Sehnerv festgehalten. Arch Foster schrie wie ein Irrer, als das Flugzeug abrutschte und über eine Tragfläche kippte. Die menschliche Augenhöhle besteht aus Knochen. Tommy Carmellini rammte die beiden Finger noch tiefer in Fosters Augenhöhle, drückte mit aller Kraft zu. Knochen gaben nach, und die Finger bohrten sich in Archs Gehirn. Carmellini schob sie so weit hinein wie es ging – Foster hörte abrupt auf zu schreien und erschlaffte. Tommy Carmellini schüttelte die Leiche so wie ein Hund eine Ratte. Die Cessna kippte nach links. Die unkontrollierten Bewegungen des Flugzeugs holten Carmellini aus seiner Raserei. Er stieß Archs Leiche nach rechts, ergriff das Steuer und sah zum ersten Mal nach draußen. Nichts zeigte sich im finsteren Universum außerhalb der Maschine, weder Himmel noch Meer oder Land – überhaupt nichts. Der Kreiselkompass befand sich direkt vor ihm und wies darauf hin, dass Nase und linke Tragfläche nach unten zeigten. Carmellini konzentrierte sich auf den Kompass, hob die Tragfläche ganz langsam, um sie nicht zu sehr zu belasten, und zog das Steuer zurück. In welcher Höhe flog er? Er hielt nach dem Höhenmesser Ausschau, und Panik quoll in ihm empor, als er ihn nicht finden konnte. Dann entdeckte er das Instrument und stellte fest: Er war etwa sechshundert Meter hoch und verlor noch immer an Höhe. Irgendwie brachte er die Nase nach oben, ließ dann das Steuer los und schob den Gashebel ganz nach vorn. Dann griff er erneut nach dem Steuer, sah auf den Geschwindigkeitsmesser und vergewisserte sich, dass die Cessna schnell 288
genug flog. Immer wieder kontrollierte er die Fluglage mit einem Blick auf den Kreiselkompass. Schließlich begriff er, dass er die Maschine unter Kontrolle hatte. Er sah aus dem Fenster, suchte in der Dunkelheit, bemerkte Lichter an der Küste und änderte behutsam den Kurs. Mit Rita Moravia hatte Carmellini sechs Flugstunden absolviert, und sie waren mit einer kleineren Cessna geflogen als dieser. Diese Flüge hatten immer am Tag stattgefunden, und er erinnerte sich an die Aufforderung seiner Fluglehrerin, nach draußen zu sehen. Carmellini blickte erneut auf den Kreiselkompass und fand diese Art des Fliegens desorientierend. Mit reiner Willenskraft hielt er das Flugzeug horizontal. Er zwang sich auch, den Höhenmesser zu kontrollieren und gelegentlich durch die Windschutzscheibe zu sehen, um festzustellen, ob die Lichter der Stadt noch immer direkt voraus waren. Anschließend kehrte sein Blick zum Kreiselkompass zurück. Mit gefesselten Händen konnte er jeweils nur eine Sache erledigen. Er musste mit ihnen das Steuer halten, ohne Seitenruder oder Trimmungsrad erreichen zu können. Aber er lebte! Er lebte! Himmel, ja, er war am Leben! Die Lichter zeigten sich noch immer nur als mattes Glühen am Horizont. Wie weit draußen über dem Meer war er? Inzwischen flog er in einer Höhe von dreihundert Metern. Er sollte höher gehen, um besser sehen zu können. Vorsichtig zog er das Steuer zu sich heran und vergewisserte sich mit einem Blick auf den Höhenmesser, dass er tatsächlich aufstieg. Dann sah er rasch auf den Geschwindigkeitsmesser; er durfte nicht zu langsam werden. Bei neunhundert Metern glaubte er, hoch genug zu sein. Langsam, ganz langsam näherte sich das Flugzeug der Küstenstadt. Carmellini konnte einzelne Straßen und Gebäude erkennen, die Lichter einer Strandpromenade. Welche Stadt war 289
es? Er wusste es nicht, und es spielte keine Rolle. Ein blinkendes Licht auf der rechten Seite weckte seine Aufmerksamkeit. Er drehte das Flugzeug in die entsprechende Richtung. Ja, ein Flughafen! Kurz darauf sah er die Lichter der Start- und Landebahnen. Erleichterung durchströmte ihn. Der Wind. Aus welcher Richtung kam der Wind? Carmellini konnte den Windmesser nicht finden und gab es schließlich auf. Er ließ das Steuer kurz los und zog den Gashebel ein wenig nach vorn. Sofort veränderte sich das Brummen des Motors. Er flog in einem weiten Bogen, ging dabei tiefer und versuchte, sich auf den Landeanflug vorzubereiten. Er wählte die Bahn, die ihm am längsten erschien. Wenn er das Steuer losließ, um Gas wegzunehmen, neigte sich die Nase abrupt nach unten. Dann musste er schnell wieder nach dem Steuer greifen und es zurückziehen. Das Problem bestand darin, dass die Trimmung auf Reisegeschwindigkeit eingestellt war, und er konnte nicht gleichzeitig das Trimmungsrad drehen und das Steuer halten. Wenn andere Flugzeuge unterwegs waren, so sah er sie nicht. Carmellini flog noch immer recht hoch, als er den Anfang der Piste erreichte. Erneut ließ er das Steuer los und zog den Gashebel ganz zurück, in die Leerlaufstellung. So schnell wie möglich ergriff er das Steuer wieder, zog es zu sich heran und setzte den kontrollierten Sinkflug fort. Verdammter Mist, das Ende der Landebahn kam viel zu schnell näher! Er drückte die Nase nach unten, fiel der Bahn entgegen und zog das Steuer im letzten Augenblick zurück. Der Bodeneffekt sorgte dafür, dass die Maschine dicht über der Piste flog, ohne 290
aufzusetzen. Die Lichter am Ende der Landebahn rasten ihm entgegen. Die Räder berührten den Boden. Er konnte die Bremse nicht erreichen. Er konnte nicht lenken. Wie schaltet man den Motor aus? Der rote Knopf! Das Gas-Luft-Gemisch! Carmellini ließ das Steuer los, griff nach dem roten Knopf und zog ihn ganz heraus. Das Brummen des Motors erstarb, als die Cessna an den Lichtern vorbeisauste, die das Ende der Landebahn kennzeichneten. Carmellini hielt sich an der Rückenlehne des Sitzes fest und bereitete sich auf das Unvermeidliche vor, das nicht lange auf sich warten ließ. Ein Rad stieß gegen etwas, und die Nase drehte nach rechts. Die Maschine kippte nach links, das Fahrwerk auf der linken Seite gab nach und die Tragfläche schlug auf den Boden. Funken stoben. Die Cessna drehte sich weiter und wurde allmählich langsamer. Metall zerriss mit einem wie gequält klingenden Kreischen. Dann stieß die linke Tragfläche an etwas Massives, und der Aufprall löste sie fast ganz vom Rumpf. Das Flugzeug ruckte nach links, und Tommy Carmellini verlor den Halt. Er stieß mit dem Kopf an die rechte Seite des Cockpits und wurde bewusstlos. Durch die Tür des Helikopters sah Jake Grafton das Wrack der Cessna im Scheinwerferlicht der Feuerwehrwagen. Die Reste der Maschine lagen zwischen den Pfosten der Markierungslampen. Die linke Tragfläche war fast ganz abgerissen, das Heck zertrümmert. Etwa dreißig Meter vom Wrack entfernt landete der Hubschrauber auf dem Gras. Als sich die Rotorblätter langsamer 291
drehten, stiegen Jake und der FBI-Agent Harry Estep aus und gingen rasch zum Krankenwagen. Tommy Carmellini saß auf einer Bahre, in eine Decke gehüllt, und trank Wasser aus einer Flasche. In der Nähe lag eine Leiche unter einem Tuch. »Zip Vance meinte, Sie würden an diesem Wochenende eine Bank ausrauben«, sagte Jake. »Was zum Teufel machen Sie hier?« »Habe mich ein wenig mit Kollegen von der Agency vergnügt.« Carmellini deutete auf die Leiche. »Arch Foster. Norv Lalouette ist irgendwo dort draußen …« Er zeigte mit dem Daumen nach Osten. »… und schläft bei den Fischen.« Er hob ein Bein. Blut zeigte sich an mehreren Stellen. Der Kalk im Beton hatte an den Füßen und bis hinauf zu den Waden die oberste Hautschicht gelöst. »Die Mistkerle haben mir Betonschuhe verpasst. Die Feuerwehrleute haben die Dinger aufgeschlagen. Sehen Sie die Eimer dort?« Jake blickte zu den Eimern und Betonbrocken. »Wer sind die Burschen dort bei Polizei und Feuerwehr?« »Polizisten, die dienstfrei haben, nehme ich an. Und Beamte in Zivil. Ich schätze, heute Abend sind alle Cops des östlichen Maryland hier. Ein verunglücktes Flugzeug, eine Leiche im Cockpit, der einzige Überlebende mit Betongaloschen an den Füßen … Der Polizeichef kam höchstpersönlich, um zu sehen, ob ich ohne Anwalt aussagen würde. Er und einige andere hohe Tiere. Ich habe gesagt, ich würde ihnen nicht einmal meinen Namen nennen, bevor ich mit Ihnen gesprochen habe. Und ich habe ihnen erklärt, wie sie Sie erreichen können.« »Hier bin ich.« Jake wandte sich an Harry. »Vielleicht sollten Sie besser mit ihnen reden.« Harry nickte und ging zu den Polizisten. »Die beiden Scheißkerle wollten mich lebend ins Meer werfen«, sagte Tommy. Er schien großen Wert darauf zu legen, 292
dass Jake alles verstand. »Ich habe Norv aus der Tür getreten und Arch getötet. Dann bin ich hierher geflogen. Die Landung hat nicht so gut geklappt.« »Das sieht man.« »Sie hatten mir mit einem Plastikriemen die Hände gefesselt. Ich dachte wirklich, es wäre das Ende.« Jake Grafton beugte sich vor, betrachtete Carmellinis Füße aus der Nähe und richtete sich wieder auf. »Wie haben Sie Foster getötet?« »Hab ihm zwei Finger in die rechte Augenhöhle gebohrt, bis ins Gehirn.« Tommy Carmellini begann zu zittern. Er zog die Decke enger um sich, doch das Zittern dauerte an. Seine Zähne klapperten. Er erzählte Jake vom Einbruch in Archs Haus am Freitagabend, vom Geld und der Entführung am Samstagmorgen. »Sie injizierten mir etwas, das mich lähmte. Es war ein langes Wochenende, das sage ich Ihnen.« »Klingt ganz nach einem Wochenende in der Hölle, Schiffskamerad«, erwiderte Jake und legte Carmellini die Hand auf den Arm. »Ich hatte verdammt Schiss, Mann«, gab Carmellini zu und biss sich so fest auf die Lippe, dass Blut zum Vorschein kam. »Als die Lähmung nachließ … Da wollte ich nur noch eins: die beiden Mistkerle mit bloßen Händen umbringen. Nicht ein Mal habe ich an den Rückflug oder die Landung gedacht. Das war mir völlig gleich. Ich wollte sie nur töten.« Er hob die Hand zum Gesicht und atmete mehrmals tief durch. Im blitzenden Schein der Blaulichter war zu sehen, wie es hinter Carmellinis Hand arbeitete. Allmählich ließ das Zittern nach, und Jake staunte – eine so eiserne Selbstbeherrschung sah er jetzt zum ersten Mal. Als Tommy Carmellini die Hand sinken ließ, wirkte er gefasst. 293
»Woher hat Arch hundertfünfzigtausend in bar? Hat er das verraten?« »Nein. Wenn Sie meine Meinung hören wollen … Ich glaube, er und Norv haben mehrmals Leute aufs Meer hinausgeflogen. Es war alles Routine. Bestimmt haben sie auch Richard Doyle über dem Atlantik abgeworfen.« »Wir werden das Flugzeug von den forensischen Spezialisten des FBI untersuchen lassen. Vielleicht finden sie irgendwelche Spuren von Doyle.« »Und der Hangar. Ich weiß nicht, wo er ist, irgendwo in der Nähe von Washington, schätze ich. Der Flug von dort bis übers Meer dauerte etwa eine Stunde.« »Sind Sie verletzt?« »Bin zerkratzt und zerschunden und habe die Hose voll, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Beton hat mir die Füße verbrannt … Mann, bin ich froh, dass ich die verdammten Scheißkerle umgebracht habe!« »Harry und ich reden mit der hiesigen Polizei. Vielleicht können wir zusammen mit dem Hubschrauber nach Washington zurückfliegen.« »Wir dürfen keine Zeit verlieren, Sir. Ein Fernsehtrupp war hier, aber die Polizisten dort drüben schickten die Leute fort, als sie von mir hörten, dass ich zur CIA gehöre. Ich weiß nicht, was gesendet worden ist. Wir sollten das FBI veranlassen, einige Agenten zu Lalouettes und Fosters Häusern zu schicken, bevor die Sache bekannt wird. Hausdurchsuchungsbefehle können wir später beschaffen. Das Gleiche gilt für ihre Büros und Autos, der ganze Kram.« »Wir kümmern uns darum«, versicherte Jake. »Wie fühlen Sie sich jetzt, Tommy? Sind Sie so weit in Ordnung?« »Ja.« »He, Mann, Sie leben. Sie haben alles überstanden.« 294
»Erinnern Sie sich an Hongkong, als wir auf dem Schiff nach Callie suchten?« »Ja.« »Erinnern Sie sich daran, dass Sie die Mistkerle erwischen wollten, ungeachtet aller Gefahren? So ähnlich ging es mir.« »Ich verstehe.« »Ich musste mit jemandem reden, dem ich vertraue.« Jake Grafton antwortete nicht, und Carmellini beließ es dabei. Nach einer Weile sagte Jake: »Ich bringe Sie zum Helikopter.« Er half Tommy auf die Beine. Seine Füße waren so wund, dass er wie ein Greis wankte und schwankte, und so dauerte es eine Weile, bis sie den Hubschrauber erreichten. Als Carmellini darin Platz genommen hatte, ging Jake zu Harry Estep und sprach mit dem Polizeichef.
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14 Captain Joe Zogby wartete am Montagmorgen auf Jake, als dieser in Langley eintraf, nach nur drei Stunden Schlaf. Zogby wies darauf hin, dass niemand die aktuelle Position der Olympic Voyager kannte. Die Reederei hatte vergeblich versucht, sie per Funk zu erreichen. »Man glaubt, dass ihr Funkgerät ausgefallen ist. Beim letzten Kontakt befand sich der Frachter im Roten Meer.« »Inzwischen sollte er im Mittelmeer sein, und die Reederei hat keine Nachricht von ihm?« »Nein, Sir.« »Oh, oh.« »Ja, Sir.« »Rufen Sie die NIMA an. Ich möchte, dass das Schiff gefunden und rund um die Uhr überwacht wird. Jetzt sofort! Leiten Sie alles in die Wege! Und jemand aus der Botschaft in Athen soll unverzüglich die Büros der Reederei aufsuchen! Wir brauchen eine Liste der Besatzungsmitglieder; man soll sie uns faxen. Wir müssen alles über die Voyager erfahren, was auch die Reederei weiß – alles –, Bilder, Wartungsunterlagen, wie viel Treibstoff und Bohnen heute Morgen an Bord waren.« Zogby sah auf die Uhr. »Es ist Abend in Athen, Admiral.« »Holen Sie jemanden vom Esstisch. Schalten Sie die griechische Regierung ein. Sorgen Sie dafür, dass die US-Botschaft den einen oder anderen Minister anruft. Es ist mir völlig schnuppe, womit die Leute in unserer Botschaft gerade beschäftigt sind.« Jake Grafton sank in seinen Sessel und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Schluss mit dem normalen Betrieb!« Bamm. »Es wird Zeit, dass sie ihre Ärsche in Bewegung setzen!« Bamm. 296
Am Telefon blinkte eine Kontrolllampe. »Harry Estep wartet auf Leitung eins, Admiral«, sagte Gil Pascal. Jake nahm ab. »Was haben Sie für mich?« »Wir haben den Hangar gefunden, in dem Carmellini festgehalten wurde – Fosters Wagen stand in der Nähe. Der Richter unterschreibt gerade Durchsuchungsbefehle für die Autos und Häuser der beiden Männer. Innerhalb von einer Stunde machen wir uns auf den Weg. Wir haben bereits Leute vor Ort, die alles überwachen. Die Büros nehmen wir uns vor, sobald uns der CIA-Sicherheitsdienst Zugangscodes und SafeKombinationen genannt hat.« »Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Von Pascal erfuhr Jake, dass die Air Force am kommenden Nachmittag einen Atomsprengkopf zur Andrews AFB außerhalb von Washington fliegen wollte, damit Harley Bennett den Corrigan-Detektor testen und kalibrieren konnte. »Wie geht’s Carmellini?« Der Hubschrauber hatte ihn früh am Morgen beim Bethesda Naval Hospital abgesetzt. »Ich weiß es nicht, Sir.« Jake holte sein Handy hervor und wählte. Es klingelte dreimal, und dann hörte er Tommy Carmellinis Stimme. »Hallo?« »Was machen die Füße?« »Sind wund wie der Teufel.« »Was sagen die Ärzte?« »Ich soll eine Woche das Bett hüten, aber das kommt natürlich nicht infrage. Morgen Nachmittag mache ich mich auf den Weg zu Ihnen.« »Und wie geht’s sonst, Schiffskamerad?« »Gut, Admiral. Ich fühle mich besser als gestern Abend. Die Sonne scheint durchs Fenster, die Krankenschwester ist 297
hübsch, und die beiden Mistkerle sind tot. Es fühlt sich gut an.« »Warten Sie, bis Sie gehen können, bevor Sie das Krankenhaus verlassen. Ich möchte nicht, dass Sie hier herumkriechen.« »Die Krankenschwester lächelt mich gerade an. Sie hat viel Mitgefühl. Offenbar versteht sie posttraumatischen Stress. Wenn sie mir noch einen Bagel aus der Cafeteria holt und ein wenig meine Hand hält, erhole ich mich blitzschnell. Ich gebe Ihnen Bescheid.« Zip Vance und Zelda Hudson arbeiteten in der SCIE. Sie waren von Computermonitoren umgeben und so konzentriert, dass sie nicht bemerkten, wie Jake und Toad hereinkamen. Jake beobachtete sie eine Zeit lang. Zelda schien ein Programm zu schreiben, und einer der CIA-Techniker zeigte Zip, wie man die Kreditkarten-Transaktionsdaten einer Bank richtig durchsuchte. Die Daten scrollten so schnell über den Schirm, dass man sie nicht lesen konnte, und dann verharrte das Bild. Zip sah sich eine bestimmte Stelle an, notierte etwas und drückte eine Taste, woraufhin der Text wieder mit hoher Geschwindigkeit scrollte. Einige Minuten ging es so weiter, und die ganze Zeit über sprach Zip mit dem Techniker. Dann schloss er die Datei. »Ah«, sagte Zelda, als sie die beiden Neuankömmlinge sah. »Ich wollte Sie anrufen. Wir sammeln Informationen über die drei Männer, deren Namen Sie uns genannt haben. Bisher ist noch nichts Ungewöhnliches darunter.« »Hier sind noch zwei Namen.« Jake reichte ihr ein Blatt Papier, auf dem alles stand, was Gil im Personalbüro über Foster und Lalouette erfahren hatte. »Zipper hat die Telefonate des Post-Reporters Jack Yocke überwacht. Über ein Gespräch möchte er mit Ihnen reden.« Vance sah auf und gab Jake einen Zettel. »Dieser Typ rief 298
Yocke an und nannte zweimal Ihren Namen. Ich habe das Gespräch aufgezeichnet.« Jake nickte. Es dauerte einige Minuten, das Band zurückzuspulen und die richtige Stelle zu finden. Jake setzte einen Kopfhörer auf, wartete und versuchte, geduldiger zu wirken als er war. Schließlich drückte Zip die richtigen Tasten, und Jake hörte eine Stimme. »Yocke.« »Wie geht es Ihnen, Jack?« Die Stimme eines Mannes, kultiviert, vielleicht mit einem leichten New-England-Akzent. »Gut, Sir, und Ihnen?« »Ebenfalls. Ich hab was für Sie, das Sie vielleicht als Deep Background verwenden können.« »Gut.« »Samstagabend hat im alten Executive Office Building eine Besprechung stattgefunden, bei der es um Jake Grafton und seine Gruppe ging. Viele Leute stehen ihm und seiner Arbeit skeptisch gegenüber. Er war ebenfalls da.« »Ich verstehe«, sagte Yocke und zog die Worte in die Länge. Jake glaubte fast zu sehen, wie sich der Reporter Notizen machte, während er zuhörte. »Könnten Sie etwas genauer werden?« »Er ist von dieser Sache überfordert. Hat keine Ahnung, auf was er sich eingelassen hat. Um ganz ehrlich zu sein: Wir fürchten, dass er inkompetent ist.« »Mhm.« »Sie erinnern sich an die Objekte, die ich Ihnen genannt habe – ich glaube, er ist nicht näher daran, sie zu finden, als vor seiner Ernennung.« »Danke für diese Information«, sagte Jack Yocke herzlich. »Ich hoffe, Sie fühlen sich besser.« »Wie meinen Sie das?« 299
»Amigo, ich brauche etwas, das ich in der verdammten Zeitung bringen kann«, sagte Yocke. »Ich muss jeden Tag einen Artikel abliefern. Diese Beichtvater-Angelegenheit gehört natürlich zum Job. Ich hoffe, es ist Ihnen gelungen, Ihre Seele zu erleichtern, aber irgendwann müssen Sie mit dieser Art der geistigen Wichserei aufhören und mir etwas geben, das ich gebrauchen kann, zum Beispiel etwas aus einer anonymen Quelle oder aus gut unterrichteten Regierungskreisen. Ein Stückchen, ein Krümel, irgendetwas!« »Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt.« »Na schön. Sie müssen es wissen. Aber wenn der richtige Zeitpunkt kommt – und das ist hoffentlich bald der Fall –, brauche ich was Konkretes. Keinen Kram für die Klatschspalte. Ich benötige solide Substantive und Verben, aus denen ich ein ordentliches Wer, Was, Wo, Wann und Warum machen kann.« »Ich wollte Sie nur auf dem Laufenden halten.« »Das weiß ich zu schätzen.« »Vielleicht ging es mir wirklich darum, mit jemandem darüber zu reden. Diese Angelegenheit besorgt mich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Grafton ist ein Federgewicht mit schweren Freunden. Ich mache mir wirklich Sorgen.« »Ja.« »Bis bald.« »In Ordnung.« Die Verbindung wurde unterbrochen. Jake reichte Zip den Kopfhörer. »Ich habe die Nummer des Handys, von dem der Anruf kam, Admiral, falls Sie die Stimme nicht erkannt haben. Ich kann die Daten der Telefongesellschaft einsehen, Ihnen Namen und Adresse besorgen.« »Ich kenne die Stimme.« »Die Objekte, die ich Ihnen genannt habe …« Jake glaubte zu wissen, was damit gemeint war. 300
Na gut. Butch Lanham kämpfte also mit harten Bandagen. Das wusste er bereits. Er wandte sich an Zelda. »Wie läuft es?« »Die Computerexperten von NSA und CIA sind sehr, sehr gut. Ich koordiniere nur alles und versuche, nicht im Weg zu sein.« »An welcher Software arbeiten Sie da?« »Mit diesem Programm können wir auf die Überwachungskameras der Polizei zurückgreifen. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, das ich zusammengestellt habe.« Jakes Terminkalender war bis zum Überquellen voll, aber er sah Zeldas Enthusiasmus und beschloss, einige Minuten für sie zu erübrigen. Er wusste, dass früher oder später eins der hohen Tiere – vermutlich Lanham, der mit allen Mitteln versuchte, Graftons Boot zu torpedieren – davon erfahren würde, dass Zelda und Zip zu Jakes Gruppe gehörten. Wenn das geschah – es ließ sich nicht vermeiden –, musste er schweres Geschütz auffahren, um ihre Präsenz zu verteidigen, oder sie ins Gefängnis zurückschicken. Er blieb stehen, hörte das Leben in Zeldas Stimme und beobachtete, wie ihre Finger über die Tasten flogen. Bilder huschten über die Monitore. »Es ist ein Film«, teilte sie Jake mit. »Los geht’s.« Eine Straße in Washington war zu sehen, offenbar in einem der ärmeren Viertel. Die Kamera zoomte auf einige junge Männer an einer Straßenecke. Ein Wagen hielt an, einer der jungen Männer ging hinüber, nahm Geld entgegen und reichte etwas ins Auto. Als der Wagen fortfuhr, zeigte eine Nahaufnahme das Nummernschild. Kurze Zeit später hielt ein zweiter Wagen, und der Vorgang wiederholte sich. Als der Film zu Ende war, stand Zelda auf und trat Jake Grafton gegenüber. »Drogendealer bei ihrem Geschäft. Die Leute im Wagen sind ihre Kunden. Mithilfe der Kennzeichen könnte man ganz leicht Namen und Adressen der Fahrzeughalter herausfinden und eine Liste der Personen zusammenstellen, die Rausch301
gift nehmen.« »Mhm.« »Mit etwas mehr Arbeit lässt sich der Wagen identifizieren, der die Ware bringt.« Zeldas intensiver Blick hielt Jake fest. Zum ersten Mal fühlte er ihre Kraft, das Feuer in ihr, ihr Charisma und ihren wachen, brillanten Verstand. Er sah kurz zu Zip, richtete den Blick dann wieder auf die junge Frau. »Ich habe ein Programm geschrieben, das den Computer veranlasst, in Videodaten nach von uns identifizierten Nummernschildern zu suchen. Mit diesem Tool können wir ganze Drogenringe entdecken – Großhändler, einzelne Dealer, Kunden – und genug Beweismaterial sammeln, um alles auffliegen zu lassen. Wir könnten einen digitalen Film über einen bestimmten Rauschgiftring drehen.« Jake sah erneut zu Zip, der ihn beobachtete. »Unsere Aufgabe betrifft die nationale Sicherheit«, sagte er. »Nicht die Einhaltung des Gesetzes.« »Ich weiß. Ich schlage nicht vor, dass wir eine Minute vergeuden, die dafür verwendet werden könnte, unsere primäre Mission voranzubringen. Ich möchte einen Film zusammenstellen, wenn ich nicht mit anderen Dingen beschäftigt bin, hier und dort ein paar Minuten. Selbst wenn der Staatsanwalt nichts damit anfangen kann – ein solcher Film würde die Möglichkeiten des Systems zeigen.« Und Zeldas Möglichkeiten, dachte Jake. »In Ordnung«, sagte er und ging zur Tür. Mitternacht im Oasis. Naguib hatte nie den Song »Midnight at the Oasis« gehört – er wusste nicht einmal, dass es ihn gab –, und deshalb entging ihm die Ironie, die im Namen des Bierlokals Ausdruck fand. Es befand sich zweihundert Meter und fünf Parkplätze südlich von Smoot’s Motel, das er vor zehn Minuten heimlich verlassen hatte. 302
Er blickte sich im Lokal um und sah die Frau allein in einer Nische. Sie saß mit dem Gesicht zur Tür und lächelte, als er näher kam. Naguib setzte sich zu ihr in die Nische. »Ich kann nicht lange bleiben«, sagte er. »Bestimmt erwacht Mohammed bald, und dann sucht er nach mir.« »Bestimmt sucht er im Bierlokal in der Nähe des Motels, Schatz. Hierher kommt er nicht.« Die Hand der Frau strich über seinen Oberschenkel, und sie presste ihm eine feste Brust an den Arm. »Freust du dich nicht, mich zu sehen?« »Natürlich freue ich mich.« »Ich habe hier gewartet und gehofft, dass du kommst.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und küsste die Frau. Sie öffnete die Lippen. Als er sich schließlich von ihr löste und nach Luft schnappte, sagte sie: »Oh, Schatz! Du machst mich so heiß! Wenn wir in dieser Hinsicht doch nur etwas tun könnten.« Während Naguib diese Bemerkung noch verdaute, fuhr die Frau fort: »Mein Mann ist so ein Schwein. Ich bin hinausgeschlichen, um dich zu sehen. Ich glaube, er ist misstrauisch geworden. Und dabei haben wir uns doch nur geküsst.« Naguib konnte sich beim besten Willen nicht an ihren Namen erinnern. Irgendetwas mit einem S. Sophie? Susan? SueSoundso. Mit einem Mann. Sie stützte den Kopf an seine Schulter, während er einen Schluck von ihrem Bier trank. »Auch ich habe nur wenig Zeit«, sagte sie. »Du weißt, was ich meine, nicht wahr? Ein Mann wie du, mit einem Job und Freunden und so. Du weißt sicher, wie es ist?« »Natürlich«, sagte Naguib und war sich deutlich der Hand an seinem Oberschenkel und ihrer Bewegungen bewusst. »Zwischen uns beiden könnte was laufen, Schatz, wenn wir 303
mehr Zeit hätten. Einige Samstage und einige Nächte, wir könnten Freunde fürs Leben sein, wir beide. Hast du jemals daran gedacht, Schatz?« Nein, das hatte er nicht, nicht fürs Leben. Aber er verzichtete auf diese Antwort. »Klar«, sagte er. »Aber einfach nur rein ins Bett und weg genügt mir nicht, Schatz. Ich halte nichts von schnellen Nummern. Nein, ich suche nach mehr. Larry ist so ein Schwein.« Larry musste ihr Mann sein, dachte Naguib, als ihre Hand an seinem Oberschenkel nach oben kroch. »Du bist kein Amerikaner, und das macht natürlich alles komplizierter. Du kehrst doch nicht bald nach Pakistan zurück, oder?« »Saudi-Arabien«, sagte Naguib und war viel zu fasziniert, um zu lügen. »Ich kehre nie zurück.« »Das freut mich, Schatz. Du bist doch nicht verheiratet oder lebst mit jemandem, oder?« »Nein«, erwiderte er. »Aber der Mann, der das letzte Mal kam … Wer ist er?« »Nur ein Freund, mit dem ich ein Zimmer teile. Um Geld zu sparen. Das ist alles.« »Dein Englisch ist hervorragend, Schatz. Leicht zu verstehen. Bestimmt bist du schon lange in den Staaten, oder?« Fünf Minuten später sagte die Frau: »Einige der Mädchen sind wegen uns besorgt. Ich mag dunkle, ausländische Männer, sie sind so süß. Ich weiß natürlich, dass du mit diesen Dingen nichts zu tun hast, aber mit dem Terrorismus und so, da muss man vorsichtig sein.« Naguibs Blick huschte hin und her, und es zuckte in seinen Wangen. Er schluckte mehrmals. Bingo, dachte Suzanne. 304
Eine halbe Stunde später sah Naguib erschrocken auf die Uhr. Er war schon viel länger hier, als er beabsichtigt hatte. »Es wird Zeit für mich, Suzanne. Ich muss noch ein wenig schlafen und morgen zur Arbeit.« »Oh, Schatz«, sagte die Blonde und gab ihm einen Kuss, der fast sein Herz zum Stillstand gebracht hätte. »Ich wünschte, wir beide …« Sie sprach nicht weiter, und ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Naguib trat in die Nacht. Auf dem zweiten Parkplatz blieb er stehen und sah sich um. Dies alles gab er auf, diesen Ort, die Frauen – ein süßes, kostbares Leben. Er warf es weg für ein großartiges Jenseits. Er schickte sich an, Millionen zur Ehre Allahs umzubringen. Auf das Wort heiliger Männer hin, die in Saudi-Arabien, Kairo, Teheran, Kabul und Bagdad geiferten, die Pracht des Paradieses predigten, obwohl sie es selbst nicht eilig hatten, dorthin zu gelangen. In einigen Wochen würde er tot sein, zusammen mit Millionen von anderen Menschen. Suzanne würde sich jemand anders suchen müssen, um zu bekommen, was sie wollte. Die heiligen Männer würden voller Ekstase predigen … Und dies ließ er zurück. Dies! Die Aufregung, wenn eine Frau in der Nähe war, das herrliche Prickeln, wenn ihre Hand die Leistengegend berührte, das Gefühl ihrer Brust, die warme Sinnlichkeit ihres Kusses, die gleitende Perfektion ihrer Zunge an der seinen. Leben. Wenn sich eine Frau an ihn drückte und er die Hände an ihrem Körper hatte, fühlte er den Pulsschlag des Lebens. Dann spürte er, wie das Leben ihn und die Frau durchströmte. Wie dumm war er doch gewesen zu planen, ein solches Leben einfach zu vergeuden. Das sah er jetzt ganz deutlich. Mohammed wartete vor dem Motel auf ihn. Im matten Licht sah Naguib den Zorn in seinem Gesicht. Es war ihm gleich. »Ich will kein Märtyrer sein«, sagte er. 305
»Wo bist du gewesen?« »Ich will kein Märtyrer sein. Ich möchte eine Frau finden, die mich liebt und die ich lieben kann.« Naguib war realistisch genug, um zu begreifen, dass Suzanne nicht die Frau sein mochte, die er sich fürs Leben wünschte. Aber er glaubte, dass die richtige für ihn alles besser machen würde. »Ich möchte einen Job, eine Frau und Kinder. Mindestens zwei, denke ich.« Mohammed versetzte ihm einen unerwarteten Rückhandschlag auf den Mund. Naguib verlor das Gleichgewicht und fiel. »Ich hoffe für dich, dass du deine Brüder nicht verraten hast. Wenn das doch der Fall sein sollte, schneide ich dir die Kehle durch. Die entscheidende Stunde rückt näher, und du sprichst von Verrat. Was bist du für ein Mann?« »Ein Mann, der leben möchte«, brachte Naguib hervor, stand auf und taumelte. Als sein Kopf halbwegs klar geworden war, rammte er Mohammed die rechte Faust ans Kinn. Mohammed wankte zurück, und Naguib schlug erneut zu, erst mit der Linken und dann mit der Rechten. Er legte seine ganze Kraft in den letzten Schlag. Als Mohammed wieder zu sich kam, spürte er die kalte Härte der zermahlenen Muscheln. Er kam auf die Knie, sah sich nach Naguib um und rechnete mit einem weiteren Angriff. Dann stand er auf, torkelte und bemerkte, dass jemand in der Nähe stand und ihn ansah. »Wer sind Sie?« »Fred Smoot. Ich bin der Inhaber des Motels, Bürschchen. Halten Sie jetzt still und lassen Sie mich feststellen, wie schwer Sie verletzt sind.« Naguib war nirgends zu sehen. »Haben Sie gesehen, wer mich niedergeschlagen hat?«, fragte Mohammed. Er suchte nach einer Möglichkeit, die Benachrichtigung der Polizei zu vermeiden. »Ja«, sagte Fred und sah sich das Blut an, das aus Mohammeds aufgeplatzter Augenbraue strömte. Verletzungen an die306
ser Stelle bluteten immer besonders stark. »Einer der Typen, mit dem Sie das Zimmer teilen. Der große. Hat eine verdammt gute Rechte. An Ihrer Stelle würde ich ihm erst einmal aus dem Weg gehen.« »Schon gut«, erwiderte Mohammed und schenkte dem Blut keine Beachtung. Er wollte nur sicher sein, dass Fred nicht die Polizei verständigte. »Seine Linke ist auch nicht übel.« Fred beendete die Untersuchung. »Die Platzwunde muss gereinigt werden. Das kann meine alte Dame erledigen, und anschließend genügen zwei Pflaster, um alles zusammenzuhalten. Dann muss es nicht genäht werden.« Er seufzte. »Ich mag einen guten Kampf. Damals, in meiner Jugend, war ich immer bereit, wenn jemand Action wollte. Eine kleine Balgerei bringt einen in Schwung, und es tut gut, Dampf abzulassen, aber ich will hier nicht noch mehr von diesem Blödsinn, verstanden? So was nervt die Touristen.« Mohammed strich sich einige Muschelsplitter aus dem Haar, folgte Fred zum Büro und dachte daran, dass er Naguib verloren hatte und was getan werden musste. Am Dienstag um elf Uhr rief Harry Estep Jake Grafton an. »Die CDs von Anna Modin sind Gold wert.« »Was ist auf ihnen gespeichert?« »Transaktionsdaten. Die Walney’s Bank in Kairo ist an der Finanzierung von Terroristen beteiligt. Eine der Gruppen, die von ihr Geld bekommen hat, ist das Schwert des Islam.« »Wo sind die Bomben?« »Darüber geben die CDs keine Auskunft.« »Kam ein Teil des Geldes nach Amerika?« »Das weiß ich noch nicht. Aber interessant ist, dass ein großer Batzen von hier stammt.« »Was?« 307
»Ja. Offenbar gelangte es über acht oder zehn Konten zur Walney’s Bank, in einem Betrag. Das Geld wurde hin und her geschoben, um zu verhindern, dass jemand den Weg zurückverfolgt. Diese Informationen müssen wir mit den Aufzeichnungen anderer Banken vergleichen. Wir glauben, eine Spur gefunden zu haben.« »Sind die Daten gut genug, um als Beweismaterial vor Gericht anerkannt zu werden?« »Nein. Irgendwann einmal mag das der Fall sein, aber derzeit noch nicht. Das Problem ist: Banken sind die besten Geldwaschmaschinen überhaupt. Sie machen Geld zu einer Ware: Es kommt durch ein Fenster herein und geht durch ein anderes hinaus. Und Dollars sehen alle gleich aus. Eine Überweisung könnte ein Darlehen sein, eine Zahlung für einen Scheck oder eine Entschädigung, was auch immer. Wenn die Leute in der Bank einfach Dinge erfinden und falsche Daten aufzeichnen … Sie können sich die Möglichkeiten vorstellen. Wie dem auch sei, es läuft auf Folgendes hinaus: Ein großer Betrag, etwa zwei Millionen Dollar, ging über Walney’s Bank an Leute, die wir für schmutzig halten. Wir glauben, das Geld kam von hier, aus den Vereinigten Staaten, aber es ist noch viel Arbeit nötig, um Einzelheiten herauszufinden.« »Mhm.« »Die CDs sind ein großes Stück des Puzzles. Wir haben noch nicht alle Stücke und werden auch nie alle bekommen, aber mit diesen Teilen können wir einen allgemeinen Eindruck vom Puzzle gewinnen.« »Was hat sich bei der Durchsuchung von Fosters und Lalouettes Sachen ergeben?« »Foster hatte hundertfünfzigtausend in bar im Keller, genau an der Stelle, die Carmellini nannte. Abgesehen davon wurde nichts Erwähnenswertes gefunden.« »Modin glaubte, dass der Bankdirektor in Kairo Killer schi308
cken könnte, um sie zu töten. Ich glaube, dass tatsächlich eine solche Gefahr besteht. Was können wir tun, um Anna Modin zu schützen?« »Soll ich diesen Punkt auf meine Liste zu erledigender Dinge setzen?« »Ja«, erwiderte Jake schlicht. »Ich habe heute Morgen mit ihr gesprochen. Sie nannte Namen in Kairo, wollte aber keine Frage über Ilin oder den SVR beantworten.« »Sie behauptet, nicht für den SVR zu arbeiten. Und sie versucht, Ilin zu schützen.« »Wundervoll.« Jake zögerte, bevor er die nächste Frage stellte. Er glaubte die Antwort zu kennen, wollte aber die Meinung eines Profis hören. »Sagt Anna Modin Ihrer Ansicht nach die Wahrheit?« Harry Estep hörte den Ernst in diesen Worten und dachte sorgfältig nach, bevor er antwortete. »Sie hält es für die Wahrheit, glaube ich. Sie lässt uns den Teil des Bildes sehen, den Ilin ihr gezeigt hat. Ich schätze, mehr kann man sich bei diesem Spiel nicht erhoffen.« »Wir müssen sie ins Zeugenschutzprogramm aufnehmen oder auf andere Weise schützen. Sie kam mit einem russischen Pass hierher und fuhr vom Flughafen mit einem Taxi zu mir nach Hause. Wenn wirklich Killer hinter ihr her sind, ist sie leicht zu finden.« »Mal sehen, was ich tun kann. Vielleicht sollten Sie ganz oben Druck ausüben.« »Lässt sich machen.« »Sie hat uns die CDs und Namen gegeben. Warum sollten die Leute in Kairo einen Mord riskieren?« »Woher soll ich das wissen? Wie ich hörte, sind die Burschen besonders rachsüchtig. Warum fragen Sie mich?« 309
»Weil Sie sonst alles wissen, Admiral. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie herausgefunden haben, warum der Himmel blau ist und männliche Hunde Hydranten mögen. Darüber habe ich mich immer gewundert.« Callie Grafton und Anna Modin hatten am Dienstag ein spätes Mittagessen in einem von Callies Lieblingsrestaurants in Georgetown, nicht weit von der Universität entfernt. Callie bestand darauf, Russisch zu sprechen, und Anna arbeitete an ihrem Englisch, und so lächelten sie oft, während sie sich gegenseitig korrigierten. Callie stellte fest, dass sich Anna immer mehr entspannte. Am Morgen auf dem Weg zum Parkhaus, vor der Fahrt zum Hoover Building an der Pennsylvania Avenue, war sie sehr angespannt gewesen. Bevor sie den Lift verließen, hatte Anna Callie zurückgehalten, sich vorgebeugt und einen Blick nach rechts und links geworfen. Sie erinnerte Callie an ein gejagtes Tier, das immer wieder innehielt und sich umsah. Im Wagen schnallte sich Anna nicht an. Sie wollte die Möglichkeit haben, jederzeit hinauszuspringen. »Dies ist Amerika«, sagte Callie. »Auf dem Weg zum Essen begegnet man normalerweise keinen Mördern.« »Diese Leute sind sehr gefährlich«, erwiderte Modin sachlich. »Sie haben viel Geld und sind von Hass erfüllt. Sie töten leichthin, als wäre es nicht weiter wichtig.« Callie fragte nicht nach den Gesprächen beim FBI, und von sich aus erzählte Anna nicht davon. Sie unterhielten sich über Callies Arbeit – sie lehrte Sprachen an der Universität –, und nach dem Essen nahm Callie Anna in ihr Büro mit. Das Frühlingssemester war voll im Gange; überall herrschte rege Betriebsamkeit. Callie hatte am Morgen angerufen und sich einen Tag freigenommen, und deshalb sprach sie kurz mit dem Abteilungsleiter. Während sie bei ihm war, unterhielt sich Anna 310
mit zwei Dozenten auf Russisch. Callie hatte sie nur als Anna vorgestellt, ohne den Nachnamen zu nennen. Als sie das Gebäude verließen, verharrte Anna erneut in der Tür und hielt aufmerksam Ausschau. »Wie lange, glauben Sie, wird man Jagd auf Sie machen?«, fragte Callie auf dem Weg zum Wagen. Vielleicht war die Paranoia ansteckend – Callie stellte Annas Situationsbewertung nicht mehr infrage. »Bis sie mich töten oder selbst sterben. Und selbst wenn sie den Tod finden – vielleicht treten andere an ihre Stelle.« »Geben sie nicht nach einer Weile auf?« »Nein, nie.« Anna ballte eine Hand zur Faust. »Ihr Gott ist genauso rachsüchtig, glauben sie.« »Und Sie waren bereit, solche Leute für Ilin auszuspionieren?« »Jemand muss gegen sie kämpfen«, sagte Modin schlicht. »Ich habe nicht Ilins Mut – niemand, den ich kenne, ist so mutig wie er –, aber ich gehe in die Richtung, die er mir zeigt. Er ist ein großer Mann.« »Lieben Sie ihn?« Die Frage überraschte Modin. »Nein«, sagte sie. »Wir lieben uns nicht.« Nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu: »Ich glaube, wir sind Soldaten.« Sie sah Callie an und schien sich zu fragen, ob sie verstand. »Ein Mann muss etwas haben, für das es zu kämpfen lohnt, etwas, das größer ist als er selbst.« »Offenbar gilt das auch für einige Frauen«, erwiderte Callie. Sie fuhren zum U.S. Naval Hospital in Bethesda. »Wir besuchen einen Freund, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Einverstanden. Ein Liebhaber?« Daraufhin war Callie verlegen. »Nein. Ein Freund. Er arbeitet manchmal für meinen Mann.« 311
»Ist er krank?« »Seine Füße sind wund. Sehr wund. Zwei Männer wollten ihn umbringen und steckten seine Füße in Beton.« »Hier in Amerika, wo es keine Mörder gibt? Schockierend!« »Ja, nicht wahr?«, pflichtete ihr Callie bei. Sie fanden Tommy Carmellini in einem von zwei Betten eines Doppelzimmers im zweiten Stock. Das andere Bett war leer. Als Callie ihn sah, zappte er mit der Fernbedienung durch die Fernsehkanäle und wirkte verdrossen. Sein Gesicht erhellte sich, als sie den Raum betraten. »Mrs. Grafton! Donnerwetter! Bin ich froh, Sie zu sehen! Nehmen Sie Platz. Setzen Sie sich aufs leere Bett.« »Ich möchte Ihnen Anna vorstellen. Sie ist bei uns zu Gast.« »Freut mich sehr.« Carmellini streckte die Hand aus. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich nicht aufstehe. Man hat mir die Hose weggenommen, damit ich nicht verdufte.« »Ah, die üblichen Demütigungen«, kommentierte Callie. »Verdufte?«, wiederholte Anna. »Damit er nicht wegläuft«, erklärte Callie. »So was sollte verboten sein«, sagte Carmellini mit Nachdruck. »Bitte setzen Sie sich!« »Wie geht’s Ihren Füßen?« »Sind wund.« Tommy zog das Laken beiseite und zeigte einen verbundenen Fuß. »Hat Ihr Mann Ihnen die Hintergründe geschildert?« »Ja.« »Es war ein verdammt langes Wochenende, das kann ich Ihnen sagen. Ich dachte, es wäre mein letztes.« Anna Modin sah sich in dem hellen, freundlichen Zimmer um und staunte über den Unterschied zu den russischen Krankenhäusern, an die sie sich erinnerte. Dann wandte sie ihre Auf312
merksamkeit Tommy Carmellini zu, einem Mann mit breiten Schultern und einem markanten, attraktiven Gesicht, das oft zu lächeln schien. Die muskulösen Arme, breiten Handgelenke und dicken Adern eines Gewichthebers deuteten klar darauf hin, dass er sein Leben nicht nur an einem Schreibtisch verbrachte. »Mrs. Grafton erzählte mir, dass jemand versucht hat, Sie umzubringen«, sagte sie zu dem Patienten. Sein Lächeln wurde noch breiter. »Kaum zu glauben, nicht wahr? Eine persönliche Angelegenheit, glaube ich. Jetzt nicht mehr der Rede wert. Woher kommt Ihr Akzent?« »Ich bin Russin.« »Ah, ein Spion im Haus der Liebe. Wie wär’s morgen mit einem gemeinsamen Abendessen?« »Können Sie dann wieder gehen?« »Ich klaue mir Krücken und verschwinde von hier. Ich rufe Sie bei den Graftons an.« Als die Frauen zehn Minuten später gingen, lächelte Anna Modin zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Amerika. »Er ist sehr nett«, sagte sie zu Callie, als sie das Krankenhaus verließen. »Sie haben bereits eine Verabredung«, erwiderte Callie. »Die Dinge entwickeln sich gut.« »Eine Verabredung«, sagte Anna und fand Gefallen an der Vorstellung. Als die beiden Frauen wieder im Wagen saßen und unterwegs waren, sagte Anna: »Mein Leben ist so leer. Männer sind an mir interessiert gewesen, aber ich habe sie immer abgewiesen. Einer in Kairo hat sein Leben für mich riskiert. Und dann die junge Frau in Kairo, Nooreem Habib … Ich habe sie aufgefordert, alles stehen und liegen zu lassen und zu fliehen, aber stattdessen nahm sie sich die Zeit, von ihrer Familie Abschied 313
zu nehmen. Kurze Zeit später wurde sie erschossen.« Anna Modin schüttelte den Kopf. »Sie haben so viel Geld, dass sie sich überall Spione leisten können, selbst hier. Amerika ist voll von islamischen Immigranten und illegalen Einwanderern.« Callie konzentrierte sich aufs Fahren und schwieg. »Nooreem Habib hatte ein Leben und verlor es«, dachte Anna laut nach. »Ich habe keins und bin noch lebendig.« Nach einigen Sekunden fügte sie hinzu: »Bis sie mich finden.« Jake und Gil Pascal verbrachten den Dienstagnachmittag bei einer Besprechung mit hochrangigen Angehörigen der Delta Force. Sie hörten sich Einsatzpläne und Szenarien für den Fall an, dass man eine scharfe Atomwaffe auf amerikanischem Boden entdeckte. Alle Möglichkeiten waren riskant, und wenn etwas schief ging, drohten entsetzliche Konsequenzen. Die ganze Sache war ein einziger Albtraum. Gegen fünf Uhr kam ein Mitarbeiter und erlöste Jake mit dem Hinweis darauf, dass Toad am Telefon wartete. »Mit dem Corrigan-Detektor ist alles in Ordnung, Chef. Ich bin hier draußen auf der Andrews Air Force Base, zusammen mit Harley Bennett und Sonny Tran. Neben uns steht eine B-52 mit einer Atomwaffe im Bombenschacht. Der Detektor piept und zirpt so aufgeregt wie beim ersten Mal.« »Wie erklärt Bennett den Alarm beim Golfplatz?« »Er hat keine Erklärung dafür und meint, dort müsse etwas sein.« »Unter einem Golfplatz vergraben?« »Ja.« »Kehren Sie dorthin zurück und nehmen Sie eine neue Untersuchung vor. Rufen Sie mich dann wieder an.« 314
»Aye aye, Sir.« »Sie zeichnen doch alle Ortungsdaten auf, nicht wahr?« »Ja, Sir.« »Gut.« Jake legte auf, stand in seinem Büro und starrte an die Wand. Über die Jahre hinweg hatte er immer wieder erlebt, dass Techniker bei neuen Systemen mit großen und kleinen Fehlern rangen. Andererseits … Was, wenn wirklich etwas neben dem Fluss vergraben lag? Während der letzten drei Wochen konnte dort nichts vergraben worden sein. Er hatte das Gelände selbst überprüft. Zugegeben, man füllte immer wieder Löcher auf, legte Grassoden aus und pflanzte Bäume. Aber wenn so etwas während der letzten drei Wochen geschehen wäre, so hätten sich Spuren gezeigt. Das Gelände hatte unberührt gewirkt, der Boden kompakt, die Pflanzen fest verwurzelt … Was zum Teufel ging hier vor? Da Jake das Problem nicht lösen konnte, schob er es beiseite und kehrte zu Colonel Kiechel von der Delta Force zurück. Um halb sieben an jenem Abend saß er wieder an seinem Schreibtisch und ging die Papiere durch, die sich im Lauf des Tages angesammelt hatten, als das Telefon klingelte. Toad war am anderen Ende der Leitung. »Harley hat die Sensoren ausgelegt, Chef. Wir sind bei Hains Point im East Potomac Park, an der gleichen Stelle wie beim letzten Mal, und der Corrigan-Detektor ist völlig außer sich.« »Geben Sie mir Bennett.« Nach einigen Sekunden hörte Jake: »Hier ist Harley Bennett.« »Was halten Sie davon?« »Verdammt, Admiral, ich weiß es nicht. Ich habe zwei Empfehlungen. Erstens: Wir sollten einige Techniker der Fabrik hierher holen und von ihnen überprüfen lassen, ob ich alles 315
richtig gemacht und nichts übersehen habe. Vielleicht gibt es innere Interferenzen oder etwas, das die Sensoren stört und einen falschen Alarm auslöst. Die Spezialisten können das sicher herausfinden.« »Ich habe Sie für einen Spezialisten gehalten.« Harley Bennett klang müde. »Ich bin nur ein arbeitender Techniker, Admiral. Den Jungs, die den Detektor entwickelten, kann ich nicht das Wasser reichen. Wer mich mit ihnen vergleicht, macht sich was vor.« »Rufen Sie sie an. Jetzt sofort. Sie sollen hierher fliegen. Wie lautet Ihre zweite Empfehlung?« »Graben Sie ein Loch.« »Sind Sie sicher, dass der Detektor richtig funktioniert?« »Das bin ich, aber wie ich schon sagte …« »Lassen Sie mich noch einmal mit Toad reden …« Als er Tarkington wieder an der Strippe hatte, sagte Jake: »Ich habe Bennett aufgefordert, die Spezialisten von Boston herfliegen zu lassen, damit sie sich den Detektor ansehen. Sorgen Sie dafür, dass das noch heute Abend geschieht.« »Sie hören die Uhr ticken, wie?« »Ja. Wenn die Jungs heute Abend keine Defekte an dem Detektor finden können, brechen Sie morgen früh mit dem Lieferwagen auf und suchen beide Seiten des Potomac ab. Fahren Sie durch die Innenstadt von Washington, vorbei am Kapitol, Weißen Haus, dem Pentagon und so weiter. Nehmen Sie sich Andrews, Fort Meade, die NSA und alle anderen wichtigen Ziele vor. Fertigen Sie eine Karte an und verzeichnen Sie darin jeden Muckser des Apparats. Wenn eine Nadel zittert, will ich davon erfahren.« »Ja, Sir. Wie viel Zeit haben wir für dieses Projekt?« »So viel Sie brauchen. Aber morgen Abend möchte ich die Karte auf meinem Schreibtisch haben, ob Sie fertig sind oder 316
nicht.« »Wir bringen den Detektor in einer Garage von Langley unter, und ich hole die Spezialisten aus Boston am Flughafen ab.« »Danke, Toad. Übrigens: Ist Sonny in Hörweite?« »Nein.« »Behalten Sie ihn im Auge. Er könnte schmutzig sein.« Um zehn Uhr an jenem Abend nahmen sich drei Spezialisten von Corrigan Engineering den Detektor in einer Garage von Langley vor. Jake kam vom Büro, um mit den Leuten zu reden. Einer von ihnen rauchte Pfeife. »Dr. LaFontain«, sagte Bennett. »Admiral Grafton.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hand. LaFontain spielte mit seiner Pfeife, als er beobachtete, wie seine beiden Kollegen unter dem Bedienungsfeld hantierten. Er schwieg. »Wie lange dauert dies?«, fragte Jake, als er das Schweigen satt hatte. LaFontain wirkte überrascht. Offenbar hatte er gar nicht an den Faktor Zeit gedacht. Er zuckte mit den Schultern und paffte. »Ich erwarte Sie morgen früh in meinem Büro«, sagte Jake zu Bennett. »Äh, Admiral, irgendwann brauche ich ein paar Stunden Schlaf.« »Wenn wir diese Sache vermasseln, werden viele Menschen für immer schlafen. Um acht morgen früh. Seien Sie pünktlich.« Wenn ein uniformierter Marineoffizier mit Sternen das Naval Hospital in Bethesda betritt, so bleibt er auch um elf Uhr abends nicht anonym. Es gelang Jake, seine Eskorte – zwei Krankenschwestern und ein Arzt – vor der Tür von Carmellinis 317
Zimmer loszuwerden. Tommy schlief. Er hatte einen Katheter am linken Handgelenk, doch er war nicht mit einem Tropf verbunden. Jake berührte Carmellini am Arm. »Hallo, Schiffskamerad.« Tommy zog den Arm so zurück, als hätte ihn eine Wespe gestochen. Er riss die Augen auf – und entspannte sich, als er sah, wer neben dem Bett stand. »Hallo, Admiral«, sagte er und sah auf die Uhr. »Wie geht es Ihnen?« »Gut, Sir, gut. Himmel, ich habe Sie nicht erwartet. Nehmen Sie Platz. Ziehen Sie sich einen Stuhl von dort drüben heran. Ihre Frau war heute Nachmittag hier, und ich weiß ihren Besuch sehr zu schätzen. Sie brachte Ihren Gast mit.« »Ja.« Jake nahm einen Stuhl und setzte sich. »Tut mir Leid, dass es so spät geworden ist, aber ich konnte nicht eher.« »Verstehe.« »Ich möchte die ganze Geschichte hören, jedes Wort und jede Geste, alles.« Als die Limousine um Mitternacht den Dupont Circle erreichte, wartete der Schachspieler an der Ecke. Er öffnete die Tür zum Fond und setzte sich neben Karl Glück. »Mr. Corrigan möchte wissen, wie der Apparat funktioniert«, sagte Glück ohne einen Gruß. Der Schachspieler richtete einen seltsamen Blick auf ihn und holte dann ein kleines elektronisches Gerät aus der Tasche. Er hielt es über Glücks Kleidung, bewegte es im Innern des Wagens von einer Seite zur anderen und behielt dabei die Anzeige im Auge. Als er mit dem Gerät alles überprüft hatte, schaltete er es aus und ließ es wieder in der Tasche verschwinden. »Heute Nachmittag hat er wie vorgesehen gearbeitet. Die Air Force brachte eine Atombombe, für die Kalibrierung des De318
tektors.« »Warum? Ich dachte, er wäre bereits kalibriert.« »Er zeigt die Präsenz eines bei Hains Point vergrabenen nuklearen Sprengkopfs an, nicht weit vom Reagan National Airport entfernt.« »Die Waffen sind noch nicht hier«, sagte Glück. »Das scheint der Detektor nicht zu wissen. Alles deutet auf die Existenz einer Atombombe unter dem Golfplatz von Hains Point hin. Entweder das, oder der Apparat gibt falschen Alarm, aus Gründen, die für Harley Bennett unerklärlich bleiben.« »Was zum Teufel hat das zu bedeuten?« »Ich hoffte, diese Frage könnten Sie mir beantworten.« »Sind Sie sicher, dass der Detektor richtig funktioniert?« »Nein, das bin ich nicht. Bennett schwört, dass mit dem Apparat alles in Ordnung ist, und ich verstehe nicht genug davon, um seine Worte in Zweifel zu ziehen.« »Hat Bennett mit der Fabrik gesprochen?« »Mehrmals heute.« Glück war verwirrt. »Im Boden, sagen Sie?« »Wo sind die russischen Sprengköpfe?« »Wir glauben, dass sie in Port Said wie geplant umgeladen wurden. Leider haben wir von Dutch Vandervelt keine Bestätigung dafür bekommen. Er hat sich nicht gemeldet. Und von unserem Mann in Kairo haben wir ebenfalls nichts gehört.« Der Schachspieler sah aus dem Fenster und beobachtete, wie die Stadt vorbeiglitt. »Wann wird das Schiff in Marseille erwartet?« »Morgen, glaube ich.« »Schwimmt es noch?« Glück riss die Augen auf. »Warum sollte das nicht der Fall sein?« 319
»Ich habe an Faruk Al-Zuair und seine halsabschneiderischen Freunde gedacht. Vielleicht halten sie an dem alten Grundsatz fest, dass Tote nichts verraten.« »Das ganze Schiff und die Crew? Ich kann es nicht glauben. Nein, unmöglich. Bestimmt ist nur das Funkgerät ausgefallen.« »Und was ist mit Ihrem Mann in Kairo? War er jemals unzuverlässig?« »Nein.« »Vielleicht wurde er verhaftet. Vielleicht packt er in diesem Augenblick beim FBI aus, nennt Namen, Orte und Datum. Ich persönlich glaube, Loyalität ist eine überbewertete Tugend. Heutzutage bekommt man davon genau so viel, wie man sich kauft, und der Preis dafür ist verdammt hoch.« Glück schwieg. Der Passagier musterte ihn. »Morgen, wenn das Schiff vor Anker geht, wissen wir Bescheid, nicht wahr?«, fragte er im Plauderton. Glück wechselte das Thema. »Was geschieht sonst noch bei Grafton?« »Keine Ahnung. Ich gehöre nicht zum inneren Kreis seiner Gruppe, darauf habe ich bereits hingewiesen. Deshalb brauchte ich Carmellini. Übrigens, ich habe gehört, wie Tarkington heute mit ihm telefoniert hat.« Glücks Kinnlade klappte nach unten. »Was ist denn jetzt los? Er sollte tot sein!« »Dem Telefongespräch konnte ich entnehmen, dass Carmellini sehr lebendig ist und in einem Krankenhaus liegt.« »Und wo sind Foster und Lalouette?« »Warum finden Sie es nicht heraus?« »Vielleicht ist Carmellini doch tot, und man spielt Ihnen etwas vor.« 320
»Vielleicht.« »Wenn das der Fall ist, so wird Corrigan …« »Wenn man mir etwas vorspielt, gehen Sie und Corrigan für den Rest Ihres Lebens ins Gefängnis. Denken Sie darüber nach.« Glück drehte sich halb um und sah aus dem Rückfenster der Limousine. »Wenn sie Ihnen oder mir folgen, so sehen wir sie nicht«, sagte der Schachspieler. »Wenn Carmellini lebt, sind Foster und Lalouette entweder verhaftet oder tot. Vermutlich hat er sie umgebracht. Und zweifellos hat er mit den Behörden gesprochen und ihnen alles über die beiden Unfähigen erzählt. Wenn sie verhaftet wurden, haben sie vielleicht ausgepackt. Selbst wenn sie tot sind: Ein versuchter Kontakt könnte die Aufmerksamkeit der Ermittler auf Sie richten.« Glück lehnte sich zurück und schürzte die Lippen. »Die Schlinge zieht sich zu, wie? Wir spielen ein verdammt gefährliches Spiel … um Geld.« Er zuckte mit den Schultern. »Eine Menge Geld, zugegeben, ein kleines Vermögen für jeden von uns. Und alles damit Corrigan gut aussieht und auch politisch Karriere machen kann. Nun, Glück, ich habe Neuigkeiten für Sie. Wir werden uns jeden einzelnen verdammten Cent verdienen müssen. Und Corrigans Strahlungsdetektor funktioniert nicht richtig. Sagen Sie dem Hurensohn, dass ich Sie darauf hingewiesen habe.« Glück schaltete die Wechselsprechanlage ein und wies den Fahrer an, zum Dupont Circle zurückzukehren. Dort sagte der Schachspieler: »Wir sehen uns morgen Abend. Erzählen Sie mir dann vom Schiff und dem beschädigten Funkgerät. Hoffen wir, dass die Lumpenköpfe ihre Pläne nicht ändern. Wir müssen die Waffen finden, wenn sie eintreffen – bevor sie explodieren. Wenn einer der Sprengköpfe irgendwo auf diesem Planeten bumm macht, gibt es keinen Galgen, der 321
für Sie und Corrigan hoch genug wäre.« Glücks Gesicht wirkte steinern. »Und ihr Narren habt dies für einfach gehalten. Ha!« Glück winkte verärgert ab. »Die klugen Pläne von Mäusen und Menschen …«, fügte Sonny hinzu und rieb es Glück richtig unter die Nase. Die Wahrheit lautete: Er hasste Glück und Corrigan und all die anderen bequemen Mistkerle mit ihrem Geld und ihren gerissenen Plänen, das System zu ihrem Vorteil zu nutzen. Wie sehr er sie hasste! Am liebsten hätte er sie alle erwürgt und beobachtet, wie sie starben, während sich seine Hände um ihren blütenweißen Hals schlossen. Sonny schluckte und setzte die Maske wieder auf. »Wenn ich nicht beim Circle bin, hat mich Grafton auf irgendeine sinnlose Suche geschickt. Oder das FBI hat mich verhaftet.« Er stieg aus, ging halb um den Circle herum und dann auf dem Bürgersteig der neunzehnten Straße nach Norden. Nach zwei Blocks blieb er vor einem Café stehen – das natürlich geschlossen war – und blickte ins Schaufenster. Ein Mann näherte sich ihm, und sie gingen zusammen weiter. »Niemand hat dir Beachtung geschenkt, Sonny«, sagte der zweite Mann. »Woher willst du das wissen? Man sieht sie nicht.« »Du überschätzt den Feind.« »Es könnte ein fataler Fehler sein, ihn zu unterschätzen. Man macht ihn nur einmal.« Sie erreichten den nächsten Block und näherten sich einer schwarzen Limousine. Mit der Fernbedienung entriegelte der Schachspieler die Türen, nahm am Steuer Platz, startete den Motor und fuhr los. »Glück hat nichts von Vandervelt gehört«, teilte Sonny Tran dem Passagier mit. 322
»Welche Möglichkeiten gibt es?« »Er wurde verhaftet. Das ist die erste. Die zweite: Er hat seinen Job nicht erledigt, und deshalb haben die Lumpenköpfe ihn umgebracht. Die dritte: Die Lumpenköpfe haben ihn umgebracht, nachdem er seinen Job erledigt hat, damit sie ihm kein Geld mehr geben müssen und er nichts ausplaudern kann.« »Wir brauchen ihn nicht.« »Stimmt. Aber wir kommen nicht weiter, wenn er seine Aufgabe nicht erfüllt hat – er sollte dafür sorgen, dass die Sprengköpfe scharf gemacht und in Port Said umgeladen werden. Wenn das nicht geschehen ist, werden die Waffen nicht dort eintreffen, wo sie eintreffen sollen, und dann sitzen wir beide voll in der Scheiße.« »Nicht wenn du Glück und Corrigan umlegst, bevor sie reden.« »Ja«, bestätigte Sonny Tran. »Welche der drei Möglichkeiten trifft zu?« »Woher soll ich das wissen? Wir müssen abwarten, wie sich die Dinge weiterentwickeln.« »Na schön.« »Hier ein Lacher: Man schickt mich mit dem CorriganDetektor herum, auf der Suche nach Bomben.« »Die Regierung weiß davon?« »Ja. Der Hinweis stammt von einem russischen Geheimdienstoffizier. Die Sache wurde früher bekannt, als ich dachte, aber wir haben nichts zu befürchten.« »Die Leute, für die du arbeitest … Vielleicht wissen sie von Vandervelt und was mit ihm los ist.« »Ich komme nicht nahe genug heran. Der Bursche, der den Laden schmeißt, heißt Grafton. Er lässt mich mit seiner rechten Hand zusammenarbeiten, einem gewissen Toad Tarkington. Ich bin nicht in seinem Büro tätig, sondern mit Tarkington und 323
dem Corrigan-Detektor unterwegs, auf der Suche nach Bomben.« »Warum bist du nicht drüben bei der CIA? Und wer ist dieser Grafton?« »Ein Marineoffizier, jemand, den das Pentagon einschaltet, wenn die Dinge schwierig werden. Ich weiß nicht, ob er mir misstraut und mich einfach nicht mag.« »Wahrscheinlich hat der Mistkerl was gegen Vietnamesen.« »Vielleicht. Das FBI hat mich mit dem Lügendetektor vernommen. Anschließend wies man mich der Gruppe zu.« »Man hat dich nicht zum ersten Mal mit dem Lügendetektor befragt, und es lief immer alles glatt.« »Ja. Ich hoffe nur, dass ich nicht auf Graftons schwarzer Liste stehe – nicht ausgerechnet jetzt.« »Er ist nur ein Bürohengst«, sagte der Beifahrer abfällig. »Schiebt Papiere hin und her. Wir werden gewinnen!« Sonny Tran dachte an Dutch Vandervelt. Das ganze Schiff! Was den Mann in Kairo betraf … Er war tot oder wünschte sich, tot zu sein. Keine Nachricht vom Schiff … Das bedeutete mit ziemlicher Sicherheit, dass Vandervelt tot war. Wenn die Terroristen Vandervelt umgebracht hatten, damit er nichts ausplauderte, so lebte Corrigans Mann in Kairo mit geborgter Zeit. Diese Typen fackelten nicht lange. Leb wohl, Dutch! Nicht zum ersten Mal dachte er daran, dass Glück und Corrigan recht sauer sein würden, wenn sie argwöhnten, dass man falsches Spiel mit ihnen getrieben hatte. Wenn die Terroristen wie Giftschlangen waren, so ließen sich Corrigan und Glück mit in die Enge getriebenen Ratten vergleichen. »Sei nicht so verdammt trübsinnig«, sagte der Mann neben Tran. »Die Dinge sind nie perfekt. Aber diesmal läuft alles so, wie wir es wollen. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich frei.« 324
»Ja«, sagte Sonny. Neben ihm lachte sein Bruder Nguyen Duc Tran. »Der Untergang des amerikanischen Imperiums«, gluckste er. »Es wird verdammt viel Spaß machen.« »Wenn wir am Leben bleiben und alles beobachten können.« »Oh, wir werden den großen Knall sehen, glaub mir. Und das genügt.« Als Nguyen wieder ernst wurde, wechselte Sonny das Thema. »Erzähl mir von Kansas.« »Es ging alles gut. Zweihundert Riesen in bar, um das Abenteuer zu finanzieren, und ein Sack voller Waffen.« »Könnte die Polizei herausfinden, dass du dahinter steckst?« »Ich glaube nicht. Hab sie alle erschossen und mich dabei prächtig amüsiert. Die Polizei wird glauben, dass ich der Welt einen Gefallen getan habe – ein paar Ratten weniger.« Er lachte. »Wir beide werden viele von ihnen töten.«
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15 Am Dienstagmorgen trug Jake Grafton zivile Kleidung und nahm die Metro zur Station L’Enfant Plaza. Dort verließ er die U-Bahn, und eine Rolltreppe brachte ihn hinauf ins große Einkaufszentrum. Nach kurzer Suche fand er die Konditorei und trat ein. An einem kleinen Tisch vor der Rückwand saß Sal Molina, mit dem Rücken zur Tür. Er trug Jeans und Sweatshirt und las Zeitung, während er einen Bagel aß und Kaffee trank. Jake stand an, besorgte sich etwas zu essen und ging dann zu Molina. Niemand schien ihnen Beachtung zu schenken. »Guten Morgen«, sagte Molina. »Morgen, Sir«, erwiderte Jake Grafton und kontrollierte seinen Bagel, um sich zu vergewissern, dass der Koch den Käse weggelassen hatte. »Um ganz offen zu sein, Admiral: Sie haben in dieser Stadt mehr Feinde als jeder andere Seemann, den ich kenne.« »Bei der Navy lernt man, wie man andere nass macht.« »Erzählen Sie mir von der Frau, die plötzlich vor Ihrer Tür stand.« Jake sah sich um – niemand lauschte. Er erstattete Bericht und schloss: »Harry Estep glaubt ebenso wie ich, dass sie die Wahrheit sagte. Und Harry meint, die CDs sind Gold wert.« Molina hatte während der Schilderungen keine Fragen gestellt. »Gestern Abend hat mich Emerick angerufen.« Damit meinte er den Direktor des FBI. »Die kleine Ratte beschwerte sich darüber, dass Sie die Russin ins Zeugenschutzprogramm aufnehmen wollen.« »Wahrscheinlich wird sie umgebracht, wenn wir das nicht machen«, sagte Jake. »Er wies darauf hin, dass sie illegal ins Land gekommen ist, 326
mit einem falschen Touristenvisum, das ihr ein Exfreund besorgt hat.« »Wahrscheinlich hält er sie auch noch für eine russische Spionin.« »Er äußerte einen solchen Verdacht. Und DeGarmo ebenfalls, als ich mit ihm sprach.« Jake biss vom Bagel ab und kaute nachdenklich. »Einer von ihnen wird dies an die Presse durchsickern lassen«, sagte Molina. »Oder an einen ihrer Freunde beim Präsidenten.« Grafton fing Molinas Blick ein. »Ihr Problem«, sagte er gerade laut genug, damit Molina ihn hörte. »Wenn Sie einen Rat möchten: Hauen Sie die Burschen in die Pfanne, bevor sie etwas gegen Sie unternehmen. Warten Sie nicht.« »Mhm.« »Und wenn Sie schon einmal dabei sind: Werfen Sie einen kühlen Blick auf Ihren alten Kumpel Butch Lanham. Er sammelt Mut, um bei einem Reporter auszupacken.« »Woher wissen Sie das?« »Die Antwort darauf würde Ihnen nicht gefallen. Was ist mit dem Burschen los?« Sal Molina schnitt eine Grimasse. »Er möchte direkten Zugang zum Präsidenten. Ein derartiger Zugang bedeutet Macht in Washington. Er möchte meinen Kopf auf einem silbernen Tablett.« »Netter Kerl.« Molina wechselte das Thema. »DeGarmo klagte auch über einen CIA-Typen, der Ihrer Gruppe zugewiesen ist und Sonntagabend ein Abenteuer in der Luft hatte.« »Tommy Carmellini. Zwei Kollegen von der Agency versuchten, ihn umzubringen.« Jake nippte an seinem Kaffee. 327
»Sie verpassten ihm Betonschuhe und wollten ihn lebend ins Meer werfen. So was würde Lanham gerne mit uns beiden anstellen. Carmellini hat sie beide erledigt.« »Und der Grund?« »Die beiden Männer wollten Informationen über die Vorgänge in meinem Büro. Zugang. Das vermuten wir jedenfalls.« »DeGarmo meckerte auch, dass Sie und dieser … Carmellini weder ihm noch dem FBI etwas über die Erpressung sagen wollen.« »Stimmt.« »Sind Sie bereit, mir Auskunft zu geben?« »Wollen Sie wirklich Bescheid wissen?« »Ich denke schon.« »Die beiden Typen glaubten, Carmellini wegen eines alten Mords festnageln zu können.« Molina schürzte die Lippen. Er hatte eine gute Pokermiene, konnte seine Überraschung jedoch nicht ganz verbergen. An eine derartige Möglichkeit hatte er offenbar nicht gedacht. »Steckt er wirklich dahinter?«, fragte Molina nach einigen Sekunden. »Ich habe ihn nicht darauf angesprochen«, erwiderte Jake. »Was glauben Sie?« Der Admiral zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich war er’s.« »Und Sie wollten diesen Burschen in Ihrem Team?« »Sie umgeben sich mit Leuten, die für die Aufgabe geeignet sind, die erledigt werden muss«, erklärte Jake. »Ich ebenfalls. Erstklassige Lebensläufe, Beziehungen und Ivy-LeagueAbschlüsse sind mir gleich. Carmellini ist ein guter Dieb und ein hervorragender Einbrecher; er weiß, wie man Dinge hinkriegt.« Er drehte die Hand. »Vertrauenswürdige Leute mit 328
Grips und Mumm sind heutzutage selten.« Molina wollte die Sache nicht ruhen lassen. »Wen hat er umgelegt? Eine Freundin, die eigene Mutter, den Jungen von nebenan?« »Jemanden, dem er vor einigen Jahren in Kuba begegnete.« »Sie scheinen deshalb nicht sehr besorgt zu sein.« »Ich bin sicher, er hatte einen guten Grund. Sie könnten mehr herausfinden, wenn Sie wollen, aber ich rate Ihnen davon ab. Und verzichten Sie darauf, Fragen zu stellen, deren Antworten Sie nicht mögen.« Sal Molina schob den Rest seines Frühstücks von sich und verzog das Gesicht. »Bekommen Sie jetzt keine kalten Füße«, setzte Jake nach. »Sie haben mir gestattet, Zelda aus dem Gefängnis zu holen.« »Vertrauen Sie ihr?« »Eigentlich nicht. Aber Beamte, die an die Vorschriften und ihre berufliche Laufbahn denken, kriegen diese Sache nicht hin. Aber Zelda kann es schaffen. Ich muss ihr von den Dingen erzählen, nach denen wir Ausschau halten. Bei der Suche nach der Nadel im Heuhaufen kann sie mir nur helfen, wenn sie weiß, wie die Nadel aussieht.« »Leistet sie Ihnen gute Dienste?« »Ja. Sie hat uns Zugang zu den Ermittlungsdateien des FBI verschafft. Ich sehe alles, was auch Emerick sieht.« Molina erstarrte und sah Jake mit offenem Mund an. Er war sprachlos, vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben. »Der Präsident hat Emerick und DeGarmo zur Kooperation aufgefordert, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie tatsächlich kooperieren«, sagte Jake. »Bürokraten schützen ihre Reisschüsseln. Es liegt vermutlich am Überlebensinstinkt.« Molina schnaubte. 329
»Jetzt zu den schlechten Nachrichten«, fuhr Jake fort. »Emerick sieht nicht viel. Die Computersysteme des FBI sind hoffnungslos veraltet. Dort drüben gibt es vierunddreißig verschiedene Datenbanken, und die meisten von ihnen können nicht untereinander kommunizieren. Die Suche nach Informationen in ihnen ist schwer und in manchen Fällen auch nutzlos, weil einige Außenbüros sechs Monate hinter dem aktuellen Stand herhinken. Wie ich hörte, führen viele Agenten Akten aus Papier.« »Ist Zelda bereits in die CIA-Computer eingedrungen?« »Nicht dass ich wüsste. Ich habe sie aufgefordert, die Finger davon zu lassen.« »Hält sie sich an Ihre Anweisungen?« »Das ist die Frage.« Molina trank einen Schluck Kaffee und stellte fest, dass er kalt geworden war. Erneut verzog er das Gesicht. »Was hat Emerick in der Hand?« »Die vielversprechendsten Spuren gibt es in Florida. Die Antiterrorismus-Taskforce beobachtet dort siebzehn Gruppen mutmaßlicher Terroristen. Emericks rechte Hand Hob Tulik kümmert sich dort unten persönlich um alles und erstattet täglich Bericht. Sie hoffen, dass zwei, drei oder vier der Gruppen sie zu den Bomben führen.« »Was meinen Sie?« »Ich hoffe bei Gott, dass sie Recht haben.« Sal Molina sah sich langsam im Raum um und beobachtete alle Einzelheiten. Schließlich kehrte sein Blick zu Jake Graftons Gesicht zurück. Die grauen Augen darin hatten die Farbe des Nordatlantiks im Winter. »Finden Sie die verdammten Sprengköpfe«, sagte Molina. »Es ist mir gleich, was dazu nötig ist.« »In Ordnung.« 330
»Was hat es mit dem Ding auf sich, das unter dem Golfplatz vergraben liegt?« »Wir wissen noch nicht, was es ist. Eine Bombe wäre eine Möglichkeit.« »Wollen Sie das Etwas ausgraben?« »Nicht sofort. Wer auch immer es dort versteckt hat – vermutlich behält er es im Auge.« »Was soll ich dem Präsidenten sagen?« »Was Sie für angemessen halten. Er vertraut Ihrem Ermessen und Urteilsvermögen. Machen Sie Gebrauch davon.« »Grips und Mumm, wie?« Molina holte ein Päckchen Rolaids hervor und schob sich zwei in den Mund. »Jetzt wird mir klar, wie Sie zu Ihrem Ruf gekommen sind«, sagte er kauend. »Zu welchem Ruf?« »Sie gelten als härtester Arschtreter in Uniform.« Jake lachte abfällig. »Sagen Sie das nicht meiner Frau. Die hält mich noch immer für einen netten Kerl.« »Sie haben sie getäuscht. Herzlichen Glückwunsch. Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Sal Molina stand auf, klemmte sich die Zeitung unter den Arm und ging zur Tür. Jake holte sich noch einen Kaffee. Zwei Stunden später beim Präsidenten sagte Molina: »Jake Grafton ist der richtige Bursche für diesen Job. Er könnte der gefährlichste lebende Mensch sein. Emerick und De-Garmo ahnen nicht, mit wem sie es zu tun haben.« »Kann er die Bomben finden?«, fragte der Präsident. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Sal Molina nachdenklich. »Vielleicht stehen wir alle am Abgrund und erleben die letzten Tage der westlichen Zivilisation.«
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Thayer Michael Corrigan und Karl Glück machten sich Sorgen. Sie wussten nicht, wohin die Olympic Voyager verschwunden war. Es gab keine Nachricht von Dutch Vandervelt oder Omar Kalif in Kairo. Die Dinge liefen ganz offensichtlich nicht wie geplant. Die Frage lautete: Lag es an den Zufällen des Lebens, oder gab es einen unbekannten Faktor, der die Ausführung des großen Plans behinderte? Normalerweise verwendete Glück verschlüsselte E-Mails, um mit Kalif zu kommunizieren, aber Omar antwortete nicht. Schließlich schickte Glück einen Mann von der Anwaltskanzlei, mit der Corrigan Engineering in Kairo zusammenarbeitete. Kurz darauf bekam er schlechte Nachrichten zu hören. Omar Kalif war am vergangenen Sonntag vom Balkon seines Apartments im neunten Stock gesprungen – offenbar Selbstmord. Gerüchten zufolge gab es keinen Abschiedsbrief. Corrigan starrte Glück groß an, als er davon erfuhr. »Erst Vandervelt und jetzt Kalif. Man könnte glauben, die Terroristen wussten, dass wir den Behörden dabei helfen wollten, die Bomben zu finden.« »Das können sie unmöglich wissen«, erwiderte Glück. »Vandervelt hatte keine Ahnung davon, und Kalif ebenso wenig.« »Vielleicht verdächtigen sie uns nicht«, überlegte Corrigan laut. »Ich halte es für wahrscheinlicher, dass sie vorsichtshalber alle töten, die sie verraten könnten.« Sicher, er hatte das Geld für die Bomben zur Verfügung gestellt, aber das brachte ihm in den Augen der Terroristen nichts ein. Soweit es sie betraf, bekam er etwas für sein Geld, wenn ein Sprengkopf explodierte. Selbst wenn er und alle seine Freunde dadurch ums Leben kamen. Wenn die Vernichtung des Feindes nicht das eigene Leben wert war, so hasste man nicht genug. Und der Hass der Terroristen war groß genug. Sie konnten nicht wissen, dass Corrigan gar nichts an der 332
Explosion eines Sprengkopfs lag. Vorbeugender Mord. Der nächste Schritt für die Terroristen musste darin bestehen, auch ihn und Glück umzubringen und damit die letzten Verbindungen zu trennen. Corrigan hatte diese Taktik nie angewandt. Er zog es vor, seine Probleme mit Geld oder gelegentlich mit Erpressung zu lösen. Geld wirkte Wunder, wusste er, denn er lebte an einem Ort, in einer Zeit und unter Menschen, wo Geld sehr wichtig war. Den islamischen Terroristen bedeutete Geld nichts, aber er hatte trotzdem geglaubt, sie dazu bringen zu können, die von ihm gewünschte Rolle zu spielen. Schon zu Anfang war ihm klar gewesen, dass er nie zuvor ein so gefährliches Spiel gespielt hatte. Er verdankte seine Erfolge dem Umstand, immer auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, und er wollte auch diesmal einen Erfolg erzielen. Er setzte sich aufs Fitness-Fahrrad und trat in die Pedale, während er über alles nachdachte. Faruk Al-Zuair und Abdul Abn Saad waren verdammt gefährliche Männer, keine habgierigen Farmer aus Georgia. Corrigan kannte einen Killer, der sie eliminieren konnte. Er hatte nicht beabsichtigt, diese Maßnahme so früh zu ergreifen, aber mit jedem verstreichenden Tag nahm das Risiko zu. Warum warten? Die Bomben waren unterwegs; die Terroristen hatten ihren Job erledigt. »Es wird Zeit für die Russen«, sagte er zu Glück. »Das glaube ich auch.« »Nachdem sie mit den Lumpenköpfen fertig sind, sollen sie Sonny Tran beseitigen. Er hat dann seine Schuldigkeit getan.« »Ja, Sir.« »Schalten Sie auf dem Weg nach draußen den Fernseher ein; ich möchte mir den CNBC-Ticker ansehen. Und schicken Sie meine Sekretärin herein. Sie soll mit einem Block und dem Wall Street Journal kommen.« 333
Glück kam der Aufforderung nach. Als Jake Grafton sein Büro im Keller von Langley erreichte, benutzte er das abhörsichere Telefon und rief General Alt an. Der Sekretär verband ihn sofort mit dem Vorsitzenden der Generalstabschefs, und Jake erklärte das Problem. »Entweder ist etwas bei Hains Point vergraben, oder der Corrigan-Detektor funktioniert nicht richtig. Wir müssen so bald wie möglich herausfinden, welche der beiden Möglichkeiten zutrifft.« »Was halten Sie für wahrscheinlicher?« »Wir haben den Detektor heute noch einmal mithilfe einer Atombombe kalibriert. Er scheint einwandfrei zu funktionieren.« »Woraus sich die Frage ergibt: Was liegt unter dem Golfplatz?« »Ich weiß es nicht, General. Ich bin sehr besorgt, wenn ich daran denke, was dort liegen könnte.« »Das Zentrum von Washington«, murmelte Alt. »Meine Güte, ich wohne auf der anderen Seite des Bootskanals, in Fort McNair.« »Der Sitz der amerikanischen Regierung ist nur etwa zweieinhalb Kilometer von diesem Ort entfernt«, sagte Jake. »Wir reden hier von Kapitol, Pentagon, dem Weißen Haus, Finanzministerium, Federal Reserve, dem Obersten Gerichtshof, FBI …« »Graben Sie ein Loch.« »Das war auch mein erster Gedanke, Sir. Dann hatte ich einen anderen. Wenn dort eine Atombombe liegt … Derjenige, der sie dort vergraben hat, behält sie bestimmt im Auge, vielleicht mithilfe eines Satelliten.« »Wir errichten ein Zelt«, sagte Alt. »Ein großes. Das größte, 334
das wir auftreiben können. Am nächsten Abend setzen wir zwei Löffelbagger ein und lassen die Erde von Lastern abtransportieren. Wir arbeiten nachts, unter dem Zelt. Und wir setzen bewaffnete Wächter ein, die Neugierige so weit wie möglich fern halten.« »Das Personal des Golfplatzes wird erfahren, dass etwas vor sich geht«, gab Jake zu bedenken. »Wenn dort das vergraben ist, was wir glauben, hält jemand Ausschau. Wenn wir zu graben beginnen, dauert es nicht lange, bis die falschen Leute davon erfahren. Ich würde lieber einige Vorbereitungen treffen und so vorgehen, dass ein Beobachter nicht feststellen kann, was wir machen.« »Wissen Sie, Grafton, bisher ist mir nicht klar gewesen, was für ein hinterlistiger Kerl Sie sind.« »Das ist heute Morgen schon das zweite Kompliment, das ich erhalte, Sir. Ein sauberes Leben und tägliches Beten zahlen sich aus.« Alt seufzte hörbar. »Na schön. Gehen Sie so vor, wie Sie es für richtig halten.« »Ich brauche die Hilfe Ihrer Adjutanten, um diese Sache durchzubringen.« »In Ordnung«, sagte Alt. Toad Tarkington und Gil Pascal kamen herein, als Jake auflegte. »Wir haben ein Patrouillenprogramm für unseren Corrigan-Detektor in Washington zusammengestellt, Admiral«, sagte Captain Pascal und reichte Jake das Dokument. Der Admiral blätterte darin – zehn Seiten, stellte er fest – und reichte es über den Schreibtisch zurück. »Noch nicht«, sagte er und sah Toad an. »Sie, Sonny und Harley Bennett nehmen den Lieferwagen und machen einen Abstecher nach New York. Fahren Sie an den Flüssen entlang. Fahren Sie durch die wichtigsten Straßen von Manhattan und 335
Brooklyn, erstellen Sie eine Karte.« »Warum die Flüsse, Sir?« »Wenn ich Amerika mit einer Atomwaffe angreifen wollte, würde ich sie mit einem Schiff oder einem Boot herbringen. Es braucht nicht einmal anzudocken. Es würde genügen, die Bombe im Hafen zu zünden.« »Glauben Sie, es ist bereits ein Sprengkopf hier?« »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, gestand Grafton. »Das heiße Ding unter dem Golfplatz gibt mir zu denken. Es kam völlig unerwartet.« »Wann sollen wir losfahren, Sir?«, fragte Toad. »Sofort. Kaufen Sie sich in New York eine Zahnbürste und Unterwäsche. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« »Ich bin unterwegs«, sagte Toad und verließ das Büro. »Die NIMA kann die Olympic Voyager nicht finden.« Pascal reichte Jake einen entsprechenden Bericht. »Dort glaubt man nicht, dass sie im Mittelmeer ist.« »Oh, sie ist da«, erwiderte Jake. »Auf dem Meeresgrund.« Später am Morgen verbrachte er eine halbe Stunde mit dem FBI-Agenten Harry Estep und zwei seiner Kollegen. Es gab keine offiziellen Aufzeichnungen, aus denen hervorging, dass die Olympic Voyager im Hafen von Port Said vor Anker gegangen war, aber einige Informanten meinten, sie wäre dort gewesen. Wenn Fracht aus- oder umgeladen worden war, so hatte das keine schriftlichen Spuren hinterlassen. »Tausende von Containern … Das heißt, zehntausende von Containern passieren diese Docks jede Woche«, sagte Harry Estep. »Wir suchen die Schiffe, die in der vergangenen Woche den Hafen angelaufen haben, aber wir können nicht sicher sein, ob es wirklich alle sind. Die Hafenverwaltung scheint kooperativ zu sein, prüft die Aufzeichnungen, gibt Auskunft …« Ihm ging der Dampf aus. 336
»Irgendeine Möglichkeit von Bestechung?«, fragte Jake ruhig. »Es ist die Dritte Welt. Dort halten alle Beamten die Hand auf!« »Was ist, wenn die Waffen umgeladen wurden?« »Sie kennen die Antwort ebenso gut wie ich. Sie könnten überallhin geschickt werden, von Hafen zu Hafen, von Schiff zu Schiff, bis sie ihr vorgesehenes Ziel erreichen.« »Angenommen, sie sollen hierher gebracht werden. Wie fangen wir sie ab?« »Indem wir jedes Schiff durchsuchen, jeden Container. Das ist die einzige Möglichkeit.« »Lässt sich das machen?« »Nein. Es sind zu viele Schiffe und zu viele Container.« »Was ist, wenn wir die Schiffe draußen auf dem Meer anhalten und mit Geigerzählern an Bord gehen?« »Das könnte funktionieren«, räumte Harry Estep ein. »Wenn wir alle Boote und Schiffe einsetzen, über die Küstenwache und Navy verfügen, außerdem auch noch alle Flugzeuge, die fliegen können. Und wenn wir außerdem bereit sind, die Kosten zu tragen und die Verzögerungen hinzunehmen … Ja, es wäre möglich.« Jake schickte seine Leute hinaus, trat vor die große Karte, die an einer Wand des Büros hing, und maß die Entfernungen mit den Fingern ab. »Hier sind die FBI-Berichte über die Zellen in Florida«, sagte Zelda. Sie fügte kein »Sir« hinzu, und Jake Grafton scherte sich nicht darum. Die junge Frau legte die Unterlagen auf den Schreibtisch. »Bitte schließen Sie die Tür und nehmen Sie Platz.« Jakes 337
Telefon hatte eine lange Schnur, damit er telefonieren konnte, während er im Büro umherging. Dadurch verhedderte sich die Schnur oft, und das war auch diesmal der Fall. Er nahm den Hörer ab und versuchte, den Knoten zu lösen, als sich Zelda setzte. Sie hatte weitere Akten im Arm und legte sie auf den Schoß. Jake sah sie an, brachte die Schnur in Ordnung und legte den Hörer wieder auf. Er nahm sich Zeit, den Bericht zu lesen. »Was halten Sie davon?«, fragte er schließlich. »Wenn es Terroristenzellen sind, so warten sie darauf, dass etwas geschieht. Um welches Ereignis es sich handelt, weiß ich nicht. Jedenfalls unternehmen sie nichts.« »Ich glaube, Sie haben Recht.« Jake gab Zelda den Bericht zurück und deutete auf die anderen Akten. »Was haben Sie sonst noch?« »Nicht viel«, sagte sie und reichte ihm die Akten. Die erste betraf Arch Foster. Der Aktendeckel enthielt eine Liste der von ihm geführten Telefongespräche, seine Kontoauszüge, die Kreditkarten-Aufzeichnungen des letzten Jahres und sogar Kopien der Stromrechnungen für Fosters Haus. Die Raten für seinen Wagen hatte er immer pünktlich bezahlt. Drei abonnierte Zeitschriften, er war Mitglied eines gemeinnützigen Vereins … hatte sich vor sechs Monaten bei der Polizei über eine zu laute Party weiter unten an der Straße beschwert. Norv Lalouettes Akte war sogar noch dicker. Er hatte oft im Internet gesurft und offenbar Gefallen daran gefunden, Pornosites zu besuchen. Buchbestellungen bei Amazon.com, OnlineGeldanlagen … nichts Großes, nur gelegentlich HundertDollar-Anteile. Das Anlagekonto belief sich auf 27745 Dollar. Die drei anderen Akten betrafen Butch Lanham, Coke Twilley und Sonny Tran, jene drei Männer, denen bekannt gewesen war, dass Janas Ilin Richard Doyle als Spion bezeichnet hatte. Und die beim Erkennungstest mit dem Lügendetektor aufgefal338
len waren. Jake blätterte in den Akten, doch ihm fiel nichts Besonderes auf. »Ich muss mich eingehender damit befassen«, sagte er. »Gibt es die Möglichkeit, den Telefongesprächen dieser Leute Namen und Adressen zuzuordnen?« »Ja. Es arbeitet jemand daran.« »Sagen Sie mir, was Sie denken. Mit den Instrumenten, die wir haben – wie können wir mehr über diese Personen herausfinden?« »Es würde helfen, wenn ich wüsste, wonach genau ich suchen soll.« Zeldas Haar war gewaschen und gekämmt. Sie trug hübsche Kleidung, und ihr Gesicht zeigte wieder eine gesunde Farbe. Jake hatte sie nie entspannter gesehen, doch es blieb eine gewisse Bitterkeit. »Wie kommen Sie und Zip zurecht?« Zelda zuckte mit den Schultern. »Carmellini meint, Zip liebt Sie.« »Ich glaube, das geht Sie nichts an. Und Carmellini ebenso wenig.« »Das stimmt vermutlich«, sagte Jake. »Sie verhalten sich wie jemand, der versucht, sich auf etwas vorzubereiten. Warum spucken Sie es nicht einfach aus? Wir werden schon irgendwie damit fertig.« Jake nickte. »Die Sache sieht so aus: Ich bin nicht sicher, ob ich mich auf Sie verlassen kann, aber ich brauche Ihre Hilfe.« »Ihr Problem.« Jake legte die Akten aufeinander und rückte sie zurecht. »Wir suchen vier Atomsprengköpfe.« Er nannte Einzelheiten und erklärte, was er wusste. Zelda stellte keine Fragen, hörte nur zu. »Wir müssen anders an das Problem herangehen. Ich 339
möchte, dass Sie sich irgendetwas Neues einfallen lassen. Wenn diese Waffen nach Amerika kommen, so werden sie hier von jemandem in Empfang genommen. Vielleicht von den Zellen, die die Taskforce überwacht, vielleicht von anderen, die bisher unentdeckt geblieben sind. Wie dem auch sei: Die Empfänger der Sprengköpfe haben Pläne. Sie telefonieren, geben Geld aus, sprechen mit Komplizen, reisen. Ihre Aufgabe besteht darin, sie zu finden. Nicht alle – einer genügt. Eine Person, die an dieser Sache beteiligt ist. Geben Sie mir einen Hinweis, eine Spur, einen klitzekleinen Anhaltspunkt. Verhaftung und Anklageerhebung sind mir schnuppe; das überlassen wir dem FBI und der Justiz. Ich will die Bomben finden.« »Arch und Norv? Hatten sie damit zu tun?« »Eine solche Möglichkeit besteht.« Zelda hatte von Carmellinis Abenteuer am Wochenende gehört, wusste aber nichts von der Erpressung. Dieses Detail behielt Jake für sich. »Vermutlich wollten sie von Carmellini Informationen über die Vorgänge in diesem Büro. Es gibt noch andere Möglichkeiten, und eine von ihnen lautet: Vielleicht waren Arch und Norv an einem russischen Spionagering beteiligt. Wir nehmen inzwischen an, dass Richard Doyle umgebracht wurde, und Foster und Lalouette sind die wahrscheinlichsten Kandidaten für den Mord. Das FBI lässt ihr Flugzeug von forensischen Spezialisten untersuchen.« »Was ist mit Lanham, Twilley und Tran?« »Sie wussten, dass Ilin Doyle preisgab.« »Ich muss darüber nachdenken«, sagte Zelda leise. »Denken Sie gründlich darüber nach. Wenn in Washington eine Atombombe explodiert, sind Sie tot. Wenn sie irgendwo in den Vereinigten Staaten hochgeht, wird sich dieses Land vollkommen und unwiderruflich verändern. Dann dauert es vielleicht nicht lange, bis wir uns alle wünschen, tot zu sein.« »Dann geht alles den Bach runter«, kommentierte Zelda 340
schnodderig. »Ich habe verstanden, Admiral.« Sie stand auf. »Sonst noch etwas?« »Nun …« Jake zögerte und schob die Akten hin und her. Schließlich traf er eine Entscheidung, sah auf und begegnete Zeldas Blick. »Corrigan Engineering hat einen raffinierten neuen Strahlungsdetektor entwickelt, gerade rechtzeitig, damit wir nach Terroristen mit Atombomben suchen können.« Zelda schnaubte leise. »Ist es nicht großartig, dass die amerikanische Industrie immer genau zur richtigen Zeit das liefert, was wir brauchen? Wir wünschten uns Telefone, und da kam Bell. Autos, und Henry Ford erschien. Flugzeuge, und die Gebrüder Wright lieferten sie rechtzeitig für den Ersten Weltkrieg. Wir könnten den ganzen Tag über Bill Gates oder Saint Bill reden, wie er sich gern nennen lässt. Wir haben wirklich Glück, nicht wahr?« »Überprüfen Sie Corrigan.« »Sie sind ein misstrauischer Mistkerl.« Jake strahlte. »Meine Güte, das dritte Kompliment in dieser Woche. Finden Sie die Leute, Zelda.« »Ich heiße Sarah Houston«, brummte sie und verließ das Büro. Die Regierung weiß von den Bomben. Nguyen Duc Tran dachte darüber nach, als er mit dem neunachsigen Sattelschlepper über die Interstate nach Süden fuhr. Das Radio ließ er ausgeschaltet – die meisten Sender brachten Countrymusic, und die hasste Nguyen. Country war zu schmalzig, zu süß, zu dumm … zu amerikanisch. Er hatte einige CDs mit klassischer Musik und Jazz dabei, aber derzeit war er nicht in der richtigen Stimmung. Er fuhr mit knapp hundert, ließ sich vom gleichmäßigen Brummen des Motors und dem endlosen, geraden Highway beruhigen. 341
Und die Regierung lässt Sonny nach den verdammten Dingern suchen! Wenn das kein Lacher war! Nguyen Duc Tran hasste Amerika. Er lebte in den Vereinigten Staaten, seit er fünf Jahre alt war, und er sprach nur Englisch, aber er hasste das Land, die Menschen und ihre elenden, dekadenten Werte. Sein Bruder und er waren in Texas aufgewachsen. In Vietnam hatten ihre Eltern Ansehen genossen – ihr Vater war Berufssoldat gewesen, Offizier im Heer –, doch nach der Flucht aus Saigon vor dem Fall der Stadt im Jahr 1975 landeten sie in Texas, und dort hatte der Vater nur eine Anstellung als Hausmeister finden können. Nguyens Mutter arbeitete als Putzfrau. Sonny und Nguyen wuchsen als vietnamesische Nigger auf, verachtet und spöttisch als Vietcong bezeichnet. Kommunisten. Cong Tran hatten sie ihn in der Schule genannt. »Ihr Südvietnamesen habt den verdammten Krieg verloren, habt euch von den verdammten Ho-Chi-Minh-Typen in den Arsch treten lassen. Selbst die US-Army konnte euch nicht retten. Deshalb seid ihr hierher gekommen und nehmt anständigen Amerikanern die Arbeit weg, weil ihr in eurem eigenen kleinen Scheißland nicht über die Runden kommt. Warum kehrt ihr nicht zurück? Dadurch könntet ihr den IQ von Texas und Vietnam heben.« So etwas hatte Nguyen oft zu hören bekommen, damals, als er zu klein gewesen war, um sich zu wehren. Sonny war ein guter Schüler gewesen, und er hatte Stipendien kalifornischer Universitäten bekommen. Nguyen kam in der Schule nicht so gut zurecht. Schon nach einem Jahr verließ er das Juniorencollege und arbeitete als Lastwagenfahrer. Wenn er Arbeit fand. »Glaubst du, kräftig genug zu sein, um diesen verdammten Laster zu fahren, Junge? Mann, du wiegst ja nicht mal siebzig Kilo. Das liegt am verdammten Reis und all den Fischköpfen.« 342
Schließlich hatte er genug Karate gelernt, um mit den schlimmsten dickbäuchigen Drecksäcken fertig zu werden. Eigentlich war gar nicht viel nötig. Ein Schlag an die Kehle, ein Ellenbogen in die Wampe oder ein gut gezielter Tritt zwischen die Beine, und schon gingen sie zu Boden. Und dann zappelten sie wie gestrandete Wale. Sonny hasste sie ebenfalls. Oh, er hatte sich sein ganzes Leben lang an die Spielregeln gehalten, aber er verabscheute die Amerikaner ebenso sehr wie Nguyen. Vielleicht sogar noch mehr. Er hasste dieses Volk, sein Geld, seine kulturelle Überlegenheit und die achtlose Art, mit der es auf das Leben aller anderen Bewohner der Erde Einfluss nahm, davon überzeugt, dass es Amerikaner immer besser wussten. Die Amerikaner wussten, was für alle richtig war. Sie gaben unterentwickelten Völkern Geld, Waffen und tonnenweise guten Rat … und wenn die Dinge schwierig wurden, zogen sie sich zurück, überließen es ihren Freunden, alles zu verlieren und zu sterben. Und es kümmerte sie nicht. Es war ihnen vollkommen egal. Der Zauber der Straße befreite Nguyen von seiner düsteren Stimmung. Und natürlich der Gedanke an die Waffen. Sonny und er würden dafür sorgen, dass die Mistkerle für alles bezahlten. O ja, sie würden bezahlen! Die Lumpenköpfe hatten ihnen gezeigt, wie das ging. Man musste den Feind so sehr hassen, dass man bereit war, das eigene Leben zu opfern. Wenn man diese Bereitschaft mitbrachte, war alles leicht. Seine Gedanken kehrten zu Dutch Vandervelt zurück. Hatten die verdammten Lumpenköpfe herausgefunden, dass man ein falsches Spiel mit ihnen trieb? Wenn ja, würde Nguyens Bombe nicht dort eintreffen, wo er sie erwartete. Er dachte darüber nach. Und fragte sich, was er in einem solchen Fall unternehmen sollte. 343
Man muss diesen Kampf mit harten Bandagen führen. Wer glaubt, Nguyen Duc Tran an Rücksichtslosigkeit zu übertreffen, hat sich gründlich geirrt. Nachdem der Arzt eine antiseptische, anästhesierende Creme auf die Füße gestrichen und sie verbunden hatte, streifte Tommy Carmellini behutsam zwei zu große Turnschuhe über und steuerte seinen Rollstuhl zur vorderen Tür des Naval Hospital in Bethesda. Regen fiel aus einem schiefergrauen Himmel. Ein Taxi wartete. Die Krankenschwester beobachtete, wie Carmellini die ersten vorsichtigen Schritte tat. Ja, wenn er langsam ging … Er nahm im Fond des Taxis Platz und winkte der Krankenschwester zum Abschied zu. Dreißig Minuten später erreichte er das Apartmenthaus mit seiner Wohnung. Der rote Mercedes stand noch immer auf dem Parkplatz. Zum Glück hatte das FBI die Schlüssel und seine Brieftasche gefunden und ihm zurückgegeben. Die Pistole blieb unerwähnt, und er fragte auch nicht nach ihr. Im größten Teil der Vereinigten Staaten wäre sie kein Problem gewesen, aber im Columbia-Distrikt war der Besitz einer solchen Waffe verboten. Gauner, Drogenhändler und Straßenbanden scherten sich natürlich nicht um dieses Gesetz. Aber vielleicht fühlten sich die Kommunalpolitiker sicherer in dem Wissen, dass die meisten Wähler unbewaffnet waren. Carmellini stand im Regen, als er den Kofferraum öffnete und hineinsah. Ja, die Winchester lag noch dort. Vielleicht hatte das FBI seinen Wagen nicht durchsucht. Das Apartment hingegen hatten die Bundespolizisten gründlich unter die Lupe genommen, dabei zwölf Wanzen gefunden und sie entfernt. Estep war ziemlich sicher, dass sie alle entdeckt hatten, aber man konnte nie wissen. Es war stickig in der Wohnung, und Carmellini öffnete mehrere Fenster. Anschließend sank er in seinen Lieblingssessel, 344
nahm die Fernbedienung und suchte nach einer Sportsendung. Nichts. Er schaltete den Fernseher wieder aus. Die Füße schmerzten noch immer. Er legte sie auf den Couchtisch, damit sie nicht anschwollen, saß zurückgelehnt da, lauschte den durch die Fenster kommenden Geräuschen der Stadt und genoss die kühle, feuchte Luft. Wie die meisten Menschen hielt er nur selten inne, um den Moment auszukosten und sich dem erhabenen sinnlichen Vergnügen hinzugeben, am Leben zu sein. Er begriff plötzlich, wie nahe er daran gewesen war, das Leben zu verlieren. Er sah in dem Notizbuch nach, das neben dem Telefon lag, und wählte die Nummer der Graftons. »Mrs. Grafton, hier ist Tommy Carmellini … Es geht mir gut, danke. Kann ich Ihren Gast Anna sprechen?« Die Stimme der Russin hatte einen wundervollen Klang, fast so als gäben ihr all die Sprachen, die sie beherrschte, einen einzigartigen persönlichen Akzent. Carmellini glaubte, eine besondere Wärme zu hören, als Anna fragte, wie es ihm ging. Ob es bei der Verabredung zum Abendessen blieb? Er kannte ein gutes Restaurant, sagte er. Anna war einverstanden. Sie einigten sich auf die Zeit, und dann beendete er das Gespräch. Er stellte das Telefon neben den Sessel und streckte sich. Der Sessel war wirklich sehr bequem, und seine Füße lagen genau in der richtigen Höhe auf dem Tisch. Während leichter Wind die Gardinen bewegte und ihm über die Wange strich, drifteten seine Gedanken dahin. Er dachte an seine Eltern, an die Tage seiner Kindheit. Mit dem leisen Klopfen des Regens an die Fensterscheibe schlief er ein. Ein Geräusch aus dem Flur vor seinem Apartment weckte ihn. Oder vielleicht von draußen. Ein Geräusch, das nicht hierher gehörte. Mit geschlossenen Augen lag er da und lauschte aufmerksam. Regentropfen, die ans Fenster schlugen. Sonst nichts. 345
Carmellini öffnete die Augen und sah sich um, ohne den Kopf zu bewegen. Er beobachtete alles in seinem Blickfeld: die Objekte im vertrauten Zimmer, die tanzenden Gardinen, Regennässe an der Scheibe und auf dem Fensterbrett. Arch Foster und Norv Lalouette hatten ihn umbringen wollen, weil er nicht bereit gewesen war, sich für irgendeine Sache rekrutieren zu lassen. Dabei ging es um etwas, von dem niemand sonst erfahren sollte. Derzeit gab es in Carmellinis Büro keine auch nur lauwarme Angelegenheit, was bedeutete: Vermutlich war es ihre Absicht gewesen, Jake Grafton auszuspionieren. Oder kam noch etwas anderes infrage? Hatte er die richtigen Schlüsse gezogen? Er wusste nichts Kompromittierendes über jemanden. Zumindest nicht über irgendeine lebende Person. Und selbst wenn jemand so etwas vermutete: Er hatte zwei Tage Zeit gehabt, beim FBI, der Polizei von Maryland und allen Leuten auf Gottes grüner Erde auszupacken, die man anrufen oder denen man Briefe schreiben konnte. Für Archs und Norvs Freunde bestand die Schadenskontrolle sicher nicht darin, ihn zum Schweigen zu bringen, oder? »Ihr seid alles Arschlöcher«, sagte er laut zu jedem, der eventuell zuhörte. »Arch und Norv waren Arschlöcher, und ihr seid es ebenfalls.« Verärgert darüber, in einer solchen Stimmung zu sein, stand er auf und ging vorsichtig ins Bad, um sich zu waschen und zu rasieren. Die Verbände an den Füßen würden noch bis zum nächsten Tag halten, und außerdem wollte er an diesem Abend ohnehin nicht an ihnen herumspielen. Eine Stunde später stand er an der Tür seines Apartments und lauschte erneut. Er blickte durchs Guckloch, öffnete dann die Tür und trat in den Flur. Unten blieb er im Eingang des Apartmenthauses stehen und sah über den Parkplatz. Es blieb noch etwa eine Stunde, bis es 346
dunkel wurde. Es regnete nicht mehr, aber die Wolken hingen tief, und Wind war aufgekommen. Niemand in Sicht. Während Carmellini noch Ausschau hielt, rollte ein Wagen auf den Parkplatz und hielt. Ein sportlicher Mann Ende zwanzig oder Anfang dreißig stieg aus und ging in Richtung Eingangshalle. Carmellini beobachtete den Mann und versuchte, ihn einzuordnen. Plötzlicher Ärger erfüllte ihn. »Verdammter Mist!«, brummte er, stieß die Tür auf und schritt so selbstbewusst hinaus, wie es seine wunden Füße zuließen. Er schenkte dem Mann, der das Gebäude betrat, keine Beachtung, warf ihm nicht einmal einen Blick zu.
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16 Tommy Carmellini und Anna Modin besuchten ein Fischrestaurant am nördlichen Ufer des Inner Harbor von Baltimore. Tommy wollte unter vielen Menschen sein, Musik hören und ein gutes Essen in der Gesellschaft einer schönen Frau genießen. Anna Modin war zweifellos qualifiziert. Sie mochte nicht unbedingt ein Covergirl sein, aber sie hatte Ausstrahlung. Das Restaurant war ein separates Gebäude mit einem geschmackvollen Garten, der es vom Wasser trennte. Bäume wuchsen dort, und es gab Sitzbänke und Wege. Am Hafendamm lagen einige prächtige Segelschiffe, und am westlichen Rand des Damms gab es ein Motorbooten vorbehaltenes Becken. Es war ein ungemütlicher, windiger Abend, mit niedrigen, schnell über den Himmel ziehenden Wolken. Trotzdem betraten Tommy Carmellini und Anna Modin nicht sofort das Restaurant, sondern wanderten zuerst über den Weg auf dem Hafendamm und sahen sich die Boote an, die auf dem Wasser schaukelten und an den Tauen zerrten. Sie beobachteten ein Taxiboot, das vom Komplex des Inner Harbor kam, ein Dock ansteuerte und dort fröstelnde Passagiere aussteigen ließ. Eine andere Gruppe betrat das Boot, das kurze Zeit später wieder ablegte und mit dem Wind nach Osten fuhr, zu den Lokalen und Restaurants bei Sewell’s Point. Es wurde dunkler, und die Lichter der Stadt gingen an. Carmellini deutete über den Hafen zum Federal Hill und der gerade noch sichtbaren Landzunge mit Fort McHenry. Er sprach über den Krieg von 1812, während Anna den Mantel enger um sich zog und der Wind mit ihrem Haar spielte. Seine Welt fühlte sich wieder normal an. Er dachte nicht einmal mehr an seine wunden Füße. Nachdem er die würzige Seeluft einige Male tief eingeatmet hatte, führte er Anna ins 348
Foyer des Restaurants und bat um einen Tisch. Sie hatten Glück: Der Oberkellner geleitete sie zu einem kleinen Tisch am Fenster, mit Blick auf den Hafen und die Segelschiffe. Es gab nicht viele freie Plätze. Die gedämpften Gespräche, lachende Stimmen, gut gekleidete Gäste, gedämpfte klassische Musik – Tommy Carmellini fühlte sich prächtig! Bei einem Glas Wein gelangte er zu dem Schluss, dass Anna Modin die interessanteste Person war, die er seit vielen Jahren kennen gelernt hatte. Sie war ruhig und selbstsicher, obwohl sie sich in einem fremden Land befand, umgeben von Menschen, die nicht ihre Muttersprache sprachen. Sie sah sich neugierig um, richtete ihre Aufmerksamkeit dann auf Carmellini. Nach der Bestellung bemerkte Tommy, dass sie gelegentlich den Blick über die anderen Gäste und die Spaziergänger auf dem Hafendamm schweifen ließ, der sich etwa dreißig Meter entfernt hinter den Bäumen und Sträuchern erstreckte. Anna erzählte, dass sie im internationalen Bankwesen gearbeitet hatte, und eine Zeit lang unterhielten sie sich darüber. Anschließend sprachen sie über Orte, die sie beide kannten, über Filme, Musik und Kunst. Carmellinis jüngstes Abenteuer fand keine Erwähnung, ebenso wenig der Grund dafür, warum Anna nach Amerika gekommen war. Carmellini wusste, dass er darüber im Büro Klarheit gewinnen konnte, falls Jake Grafton bereit war, ihm Auskunft zu geben. Schließlich sprachen sie über die Graftons, über Jake, Callie und Amy. Anna mochte sie, und Carmellini ebenfalls, und so erzählte Tommy den ihm bekannten Teil der Familiengeschichte, wozu auch das Abenteuer in Hongkong gehörte. Das Essen war köstlich: Königslachs aus Alaska und Heilbutt aus dem Atlantik. Sie ließen sich Zeit bei der Mahlzeit, tranken mehr Wein, sahen sich die Desserts auf dem Wagen an, den der Kellner zum Tisch rollte, und wählten sorgfältig aus. Als kurze Zeit später der Nachtisch serviert wurde, probierten sie gegenseitig ihre Spezialitäten. Kaffee bildete den Abschluss. 349
Dann bemerkte Carmellini, dass Anna erneut die anderen Gäste beobachtete und zu den Lichtern jenseits der großen, dunklen Fenster sah. Sie wirkte besorgt. »Werden Sie verfolgt?«, fragte er. »Ja.« »Ehemann oder Freund?« »Nein.« »Möchten Sie mir davon erzählen?« Sie musterte ihn. »Wer sind Sie?« »Nur ein Beamter.« »Den man umbringen wollte.« »Manchmal wird das Leben kompliziert.« »Für welche Behörde arbeiten Sie?« »Derzeit arbeite ich für Jake Grafton«, sagte Carmellini und fragte sich, ob Anna den subtilen Aspekt dieser Antwort bemerken würde. Wer für die CIA arbeitete, hängte das normalerweise nicht an die große Glocke, da alle beruflichen Dinge der Geheimhaltung unterlagen. »Hat er Sie gebeten, heute Abend mit mir auszugehen?« »Nein«, sagte Carmellini. »Das ist mir ganz allein eingefallen.« »Würde uns Jake Grafton beschatten lassen?« »Ist uns jemand gefolgt?« »Ich bin mir nicht sicher. Es befand sich ein Wagen hinter uns, als wir nach Baltimore fuhren.« »Warum haben Sie das nicht sofort erwähnt?« »Ich dachte, es wäre vielleicht Ihre Polizei.« »Unsere Polizei?« »Um mich zu schützen.« 350
»Ich verstehe.« Carmellini verstand es nicht, aber wenn Grafton glaubte, dass Anna Schutz brauchte, so konnte er ihr zweifellos Schutz gewähren. Aber dann hätte er mir sicher vorher Bescheid gegeben, dachte Carmellini. Immerhin schuf sein jüngstes Abenteuer einen zusätzlichen Gefahrenfaktor. Diesen Punkt hatte Grafton bestimmt nicht übersehen. Oder gab es etwas, über das er nicht Bescheid wusste? Eigentlich, so fand Carmellini, wusste er nur sehr wenig. Er dachte über die Situation nach, als der Kellner Kaffee nachschenkte. Was er wusste, hätte nicht einmal seine Kaffeetasse gefüllt. Als der Kellner wieder außer Hörweite war, fragte er Anna: »Gibt es hier jemanden, von dem Sie glauben, dass er uns beluchst?« »Beluchst?« »Gibt es jemanden, der uns beobachtet?« »Mehrere Paare kommen infrage.« »Was ist mit einzelnen Männern? Oder Männerpaaren?« »Nein.« Zum ersten Mal dachte Carmellini daran, wie schutzlos sie an diesem Fenstertisch waren. Wenn jemand Anna umbringen wollte, so war er vermutlich draußen und beobachtete sie durchs Glas. Er fluchte lautlos, legte seine Kreditkarte auf den Tisch und zog dann sein Handy aus der Tasche. Er hatte ein flaues Gefühl in der Magengrube, und plötzlich war ihm kalt. »Der Kellner bringt gleich die Rechnung«, sagte er mit mehr Zuversicht, als er empfand. Was war er doch für ein verdammter Narr gewesen! Ein normaler Abend! »Er braucht einige Momente mit der Kreditkarte, ich unterschreibe die Quittung, und dann gehen wir. Sagen Sie mir, ob sich jemand von den Leuten, die Sie verdächtigen, ebenfalls für den Aufbruch bereit 351
macht.« Carmellini blickte durchs Fenster neben dem Tisch, sah zu den Schatten und dunklen Bereichen des Gartens und den gerade noch sichtbaren Masten der Segelschiffe, während er mit dem Handy hantierte. Er konnte natürlich Jake Grafton anrufen. Aber was sollte er sagen? Ich fürchte mich – schicken Sie uns jemanden zu Hilfe? Reiß dich zusammen, Carmellini! Um Himmels willen, warum habe ich Grafton nicht um eine Waffe gebeten? Der Kellner kam und präsentierte die Rechnung. Carmellini warf nicht einmal einen Blick darauf, nickte nur und spielte noch immer mit dem Handy. »Bitte, Sir«, sagte der Kellner leise. »Wir bitten unsere Gäste, keine Telefone im Restaurant zu benutzen. Sie stören die anderen Tischgäste.« »Erledigen Sie das mit der Kreditkarte«, erwiderte Carmellini scharf und schob dem Mann das Stück Plastik entgegen. Als der Kellner gegangen war, fragte er Anna: »Wer hat es auf Sie abgesehen?« »Ich bin in Ägypten gewesen. Dort hat man versucht, mich umzubringen.« Sie wollte mehr davon erzählen, doch etwas hinderte sie daran. Ärger stieg in Carmellini hoch. Warum wies sie erst jetzt darauf hin? Er hatte den Tisch am Fenster ohne irgendwelche Bedenken akzeptiert. Der Geschäftsführer kam, lächelte und legte die Hand auf die Rückenlehne von Carmellinis Sessel. »War alles in Ordnung?« »Bestens.« »Wir würden uns freuen, Sie bald erneut als Gast bei uns begrüßen zu dürfen.« »Klar.« 352
Der Kellner brachte Rechnung und Kreditkartenquittung, beides geschmackvoll in einer ledernen Mappe. Carmellini beugte sich vor, um festzustellen, wie viel Trinkgeld angemessen war. Anna Modin griff nach ihrer Handtasche auf dem leeren Stuhl rechts von ihr. Den Riemen hatte sie über die Rückenlehne geschlungen. »Lassen Sie mich Ihnen helfen«, sagte der Kellner und trat hinter sie. Als er sich zum Stuhl mit der Handtasche vorbeugte, hörte Carmellini einen Knall und das Splittern von Glas. Er hob den Blick. Der Kellner starrte fassungslos auf sein Hemd … auf den schnell größer werdenden Blutfleck. Carmellini sah zum Fenster und bemerkte ein kleines Loch im Glas. Als der Kellner zu Boden fiel, nahm Carmellini Annas Hand und zog sie vom Stuhl. »Weg von hier!«, zischte er, lief zur Tür und zerrte Anna hinter sich her, während um sie herum mehrere Gäste zu schreien begannen. Einige Personen sprangen auf und versuchten zu fliehen. Carmellini rannte eine Frau über den Haufen, stieß einen Mann beiseite und zog die ganze Zeit über mit eisernem Griff Anna Modin hinter sich her. Vielleicht warteten die Killer draußen! Dieser Gedanke ging ihm durch den Kopf und wetteiferte mit dem überwältigenden Drang, aus diesem Fensterpalast zu entkommen. Der Fluchtinstinkt setzte sich durch. Carmellini lief durch den Flur in Richtung Foyer, die Hand noch immer fest um Annas Handgelenk geschlossen. »Meine Tasche«, sagte sie. »Zum Teufel damit!«, donnerte Tommy Carmellini, pflügte durch die Leute, die auf einen Tisch warteten, und platzte hinaus in die Nacht. »Können Sie laufen?« »Ja«, erwiderte Modin, und daraufhin ließ er sie los. Er 353
stürmte zum Parkplatz, wich dabei immer wieder nach rechts und links aus. Auf die wunden Füße achtete er überhaupt nicht; er spürte keinen Schmerz. Als er sich seinem Wagen näherte, ließ er den Blick hin und her huschen. Niemand befand sich in der Nähe. Das Gewehr im Kofferraum … er wollte es in seiner Hand. Das wünschte er sich mehr als alles andere. Es konnten nicht mehr als ein oder zwei sein, dachte er, als er die Autoschlüssel hervorholte. Er drückte den Knopf der Fernbedienung, und die verdammten Lichter blinkten! Als Baujahr 1987 war der Wagen nicht serienmäßig damit ausgestattet gewesen; er hatte diese Art der Zentralverriegelung beim Kauf des Mercedes vor zwei Jahren einbauen lassen. Verdammter Mist! Er rammte den Schlüssel ins Schlüsselloch, und die Klappe des Kofferraums schwang nach oben. Wenigstens war er den Killern noch immer etwas voraus. »Nach unten, nach unten«, zischte er, und Anna ging in die Hocke. Er nahm das Gewehr und tastete nach der Munitionsschachtel. Seit jenem Tag in West Virginia hatte er nicht mehr mit der Winchester geschossen. Das verdammte Ding war nicht einmal geladen. Er riss die Schachtel auf, holte einige Patronen heraus und steckte sie in die Jackentasche. Dann nahm er vier weitere in die Hand und schob sie nacheinander in die Ladeöffnung der Waffe – eins, zwei, drei, vier –, hielt dabei nach verdächtigen Personen Ausschau. »In den Wagen!« Anna kam der Aufforderung sofort nach. Carmellini lud durch. Damit war die Winchester schussbereit. Das Licht im Wagen ging an. 354
Er huschte um den Mercedes herum, öffnete die Fahrertür und setzte sich ans Steuer. Das Licht im Innern ging aus, als er die Tür schloss. Carmellini schob den Schlüssel ins Zündschloss. Das Gewehr behinderte ihn, war zu lang. Erst jetzt bemerkte er, dass der Hahn gespannt war und die Waffe keine Sicherung hatte. Er nahm sich Zeit, den Hahn zu lösen, drehte dann den Schlüssel. Der Motor sprang an. Er legte den Rückwärtsgang ein und sah nach hinten. Ein Wagen raste die Straße herunter und bremste abrupt – Carmellini hörte, wie die Reifen quietschten. »Runter!«, rief er, schob den Wählhebel des automatischen Getriebes in die Parkposition und sprang nach draußen. Er schwang die Winchester in dem Moment herum, als die Limousine zum Stehen kam und der Mann am Steuer mit einer Waffe durchs offene Seitenfenster zielte. Tommy Carmellini hatte das Gewehr bereits gehoben. Er zielte auf eine Stelle kurz vor dem Griff der Fahrertür und drückte ab. Aus einer Entfernung von knapp fünf Metern konnte er das Ziel kaum verfehlen. Die Winchester donnerte und der Kolben stieß gegen Carmellinis Schulter. Er lud nach, zielte und schoss erneut, so schnell er konnte. Nach dem dritten Schuss geriet der Wagen in Bewegung und rollte langsam fort. Carmellini zielte sorgfältig auf die schattenhafte Gestalt des Beifahrers und schoss durch die Heckscheibe der Limousine, die krachend zersprang. Der Wagen rollte weiter und stieß gegen ein geparktes Fahrzeug. Tommy schob eine weitere Patrone in die Ladeöffnung und betätigte den Hebel, um die leere Hülse auszuwerfen und die Waffe neu zu laden. Er ging um die Limousine herum, schoss erneut auf den Beifahrer. Noch eine Patrone in die Ladeöff355
nung, erneut nachladen. Der Fahrer lag zur Seite geneigt, auf dem Schoß des Beifahrers. Carmellini schoss noch einmal auf den zweiten Mann im Wagen, lud nach, schob das Gewehr durchs Seitenfenster auf der Fahrerseite und drückte ab. Der Kopf des Fahrers platzte auseinander. Halb taub von den Gewehrschüssen schob Tommy Carmellini eine weitere Patrone in die Winchester und sah sich wachsam auf dem Parkplatz um. Plötzlich begriff er, dass er einen Schrei hörte, einen andauernden Schrei, der vor einigen Sekunden begonnen hatte. Mit gehobenem Gewehr wandte er sich in die entsprechende Richtung. Eine Frau stand wie erstarrt, die Augen weit aufgerissen, eine Hand vor dem Mund, während ein Begleiter an ihrem Arm zog. Carmellini sah erneut in die Limousine. Die großkalibrigen Geschosse hatten sich verheerend ausgewirkt. Das Innere des Wagens war ein einziges Durcheinander aus Blut und verspritzter Gehirnmasse. Tommy Carmellini griff durchs Seitenfenster, drehte den Zündschlüssel und schaltete damit den Motor aus. In der Stille kehrte er zu Anna zurück. Sie saß noch immer tief geduckt und sah furchtsam zu ihm auf. Er öffnete die Beifahrertür des Mercedes. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Es droht keine Gefahr mehr. Warten wir auf die Polizei.« Seine Hände zitterten, und sein Puls raste. Das Handy fiel ihm ein, und er tastete in der Tasche danach. Er hatte es auf dem Tisch im Restaurant zurückgelassen, zusammen mit seiner Kreditkarte und Annas Handtasche. Kurz vor Mitternacht zog der Maat den Gashebel des Kabinen356
kreuzers in die Leerlaufstellung. Das Boot war etwa hundert Meter von Hains Point entfernt, und sein Bug deutete stromaufwärts. Mit einem Feldstecher beobachtete Jake Grafton den Hafendamm. Wie erwartet war niemand zu sehen. Er hörte das ferne Brummen von zwei Helikoptern des Heeres, dicht unter den Wolken. Seit Einbruch der Dunkelheit kontrollierten sie den Golfplatz mit infraroten Sensoren, und bisher hatten sie nichts entdeckt. Hinter Jake benutzte Gil Pascal ein mobiles Funkgerät und sprach mit den Piloten. Er hörte ihre blechern klingende Antwort: »Nichts, Dog Leader. Alles sauber.« Jake berührte den Maat an der Schulter und deutete in eine bestimmte Richtung. Der Mann nickte und betätigte den Gashebel. Trotz der rauen Brise brachte er das Boot geschickt zum Damm. Ein Matrose sprang vom Bug auf den Hafendamm, und ein anderer warf ihm ein Seil zu. Während der Kabinenkreuzer vertäut wurde, gingen zwei Marines mit Nachtsichtbrillen an Land. Sie sollten als Wächter fungieren. Mithilfe der Matrosen luden vier Techniker der Army mehrere Kisten mit Ausrüstungsmaterial aus. Sie stellten ihre Geräte an der Stelle auf, die Jake ihnen zeigte. Ja, genau dort. Er sah die Reifenspuren des Lieferwagens. Auch er hatte eine Nachtsichtbrille, aber er hielt sie in der Hand. Auf dem Hafendamm leuchteten Lampen an hohen Aluminiummasten, in einem Abstand von etwa dreißig Metern – es gab zu viel Licht für die Brillen. Selbst ohne die Lampen hätte das von den Wolken reflektierte Licht der Stadt für ein diffuses Zwielicht gereicht. Der Regen am späten Nachmittag hatte den Boden durchnässt. Jake beobachtet die arbeitenden Techniker. Ihre Ausrüstung bestand aus einem so genannten UWB, einem Ultrawide Bandwith Radar, das man normalerweise verwendete, um nach Rissen in Betonbrücken zu suchen, weil es Materie quasi 357
durchleuchten konnte. Es dauerte nicht lange, bis die Techniker ein Bild bekamen. Jake bückte sich und betrachtete es durch seine Lesebrille. Auch Gil Pascal beugte sich vor. »Was halten Sie davon?«, fragte Jake den ranghöchsten Offizier, einen Major mit Südstaatenakzent. »Es liegt etwas dort unten, Sir, so viel steht fest, aber ich weiß nicht was. Aus diesem Winkel lässt sich nicht viel erkennen.« »Sieht nach Felsen aus«, sagte Jake. »In dieser Aufschüttung gibt es bestimmt viel Felsgestein, Sir. Großes und kleines und alle Größen dazwischen. Wir müssen nach etwas Ausschau halten, das nicht wie ein Felsen aussieht.« Sie bewegten den Transceiver mehrmals, auf der Suche nach dem besten Winkel. Der Bildschirm zeigte nur helle und dunkle Flecken. Der Major ließ das Videosignal von einem Computer verarbeiten, in der Hoffnung, das Bild zu verbessern. Eine schattenhafte Linie erschien auf dem Schirm. Sie kam und ging, als der Major bestimmte Werte erhöhte und andere verringerte. »Was hat es mit der Linie auf sich?«, fragte Jake. »Eine Art Draht«, vermutete der Major. Er und Jake wandte sich von den Geräten ab und untersuchten den Boden. Der Major zeigte ihm die Stelle, unter der sich der Draht befinden musste. »Offenbar führt der Draht zu dem Laternenmast dort drüben«, sagte Gil Pascal. »Das scheint der Fall zu sein, ja.« »Folgen Sie ihm. Ich möchte genau wissen, wo er endet.« »Ja, Sir.« 358
Mit dem UWB-Radar stellten die Techniker fest, dass ein unterirdisches Kabel die Straßenlaternen miteinander verband. Hinzu kam der Draht, der zu einem der Masten führte. »Es sollte noch einen anderen Draht geben, eine Antenne«, wandte sich Jake an den Major. »Versuchen Sie, ihn zu finden.« Gil Pascal entdeckte ihn. »Einige der Bäume haben offenbar Drähte in ihren Zweigen.« Jake ging zu ihm. »Sehen Sie, hier reicht ein Draht am Stamm empor. Ich habe ihn zunächst für einen Blitzableiter gehalten.« »Ist er das nicht?« Jake setzte die Nachtsichtbrille auf und betrachtete den Draht am Baumstamm. »Er könnte eine Antenne sein. Sehen Sie, wie er schleifenförmig durch die Bäume führt? Er ist offenbar schon vor Jahren hier angebracht worden.« Jake Grafton drehte sich zu Gil um und klopfte ihm auf die Schulter. »Der Corrigan-Detektor funktioniert. Endlich kommen wir weiter.« Pascal sah ihn ungläubig an. »Hier ist eine Atombombe vergraben?« »Darauf können Sie Ihren letzten Dollar wetten«, sagte Jake und ging fort, um die Techniker aufzufordern, ihre Sachen einzupacken. Sein Handy klingelte, und er nahm den Anruf entgegen. »Grafton.« »Tommy Carmellini, Admiral. Ich bin im Polizeipräsidium von Baltimore, zusammen mit Anna Modin. Zwei Typen haben heute Abend versucht, sie umzubringen.« »Baltimore? Was zum Teufel machen Sie mit ihr in Baltimore?« »Ich habe sie zum Essen eingeladen, und sie war einverstanden. Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass die Lumpenköpfe 359
hinter ihr her sind?« »Ich wusste nicht, dass Sie mit ihr ausgehen.« Seit Jake an diesem Morgen seine Wohnung verlassen hatte, um Sal Molina in der Konditorei an der L’Enfant Plaza zu treffen, war er nicht mehr zu Hause gewesen. Und er hatte auch keine Zeit gefunden, mit seiner Frau zu telefonieren. »Ist alles in Ordnung mit ihr?« »Ja. Ich habe die beiden Burschen auf dem Parkplatz des Restaurants erschossen. Das ist inzwischen schon vier Stunden her. Seitdem versucht die Polizei, mich auszufragen. Alle Cops von Baltimore scheinen sich hier versammelt zu haben. Offenbar glauben sie, dass die Sache irgendwas mit Drogen zu tun hat. Man erlaubte mir schließlich ein Telefonat, und ich habe Sie angerufen.« »Sagen Sie nichts.« »Das habe ich inzwischen gut drauf.« »Ich komme so schnell wie möglich.« Jake unterbrach die Verbindung und ging zu Gil Pascal. »Einer der Hubschrauber soll landen und mich an Bord nehmen. Zwei Männer haben heute Abend versucht, Anna Modin in Baltimore umzubringen.« »Ist sie verletzt?« »Offenbar nicht. Carmellini führte sie zum Essen aus und hat die beiden Typen auf dem Parkplatz des Restaurants erschossen. Räumen Sie hier alles zusammen und bringen Sie die Sachen fort.« Jake holte erneut sein Handy hervor und rief Harry Estep an. Carmellini hatte Recht, soweit es die hohen Tiere der Polizei von Baltimore betraf: Sie waren alle im Präsidium, als Jake Grafton eintraf. Immer wieder kamen sie ins Wartezimmer, wo ein uniformierter Beamter ihn untergebracht hatte, stellten sich 360
vor, fütterten ihn mit kleinen Informationshappen und versuchten, einen Eindruck von ihm zu gewinnen, während er ungeduldig wartete. Jake nutzte die Gelegenheit, noch einmal von seinem Handy Gebrauch zu machen und Callie anzurufen. Er brachte ihr die Nachricht vom Mordanschlag so sanft wie möglich bei. »Tommy sagte mir, dass sie beide in Ordnung sind. Ich bin im Polizeipräsidium von Baltimore und warte darauf, mit ihnen zu reden.« »Mein Gott!« »Sie sind unverletzt«, sagte Jake. »Von einem der Polizisten habe ich gehört, dass jemand mit einem Gewehr ins Restaurant schoss und einen Kellner tötete, der neben Anna stand.« Callie nahm die Neuigkeit recht gefasst entgegen, fand Jake. Nachdem er ihr alles gesagt hatte, was er wusste, versprach er, so bald wie möglich heimzukehren. Um drei Uhr nachts führte man ihn in ein Konferenzzimmer voller hochrangiger Polizeiangehöriger. Harry Estep war da und stellte ihn einem FBI-Repräsentanten aus Washington vor. Der Polizeichef war ein Schwarzer namens Carroll. »Es freut Sie sicher zu hören, dass Carmellini und Modin sich unkooperativ verhalten haben. Sie haben sich identifiziert und es abgelehnt, ohne Anwalt auszusagen.« Stille folgte diesen Worten. Der Polizeichef seufzte. »Wir lassen sie frei. Es sieht nach Notwehr aus. Wir werden ermitteln, mit allen Zeugen sprechen, die wir finden können, und die Akte der Staatsanwaltschaft übergeben. Wenn es bei Notwehr bleibt, wird man wohl auf eine Anklage verzichten.« »In Ordnung.« »Wir behalten Carmellinis Gewehr, bis unsere Ermittlungen abgeschlossen sind. Er hat von den beiden Burschen kaum et361
was übrig gelassen. Wir wissen nicht, wer sie sind. Die Unbekannten haben mit einem Gewehr ins Restaurant geschossen, offenbar mit der Absicht, Modin oder Carmellini zu töten. Stattdessen erwischte es den Kellner. Eine neue Waffe, keine sichtbaren Zeichen von Abnutzung, mit ihren Fingerabdrücken darauf. Wir haben sie draußen gefunden, unter einem Baum.« »Klingt nach echten Profis.« »Zwei armselige Amateure. Fingerabdrücke am Gewehr, das Ziel verfehlt … Dann fuhren sie zu Carmellini, und er schickte sie zur Hölle. Sie sollten sich den Wagen ansehen.« »Nein, danke. Wer waren die beiden Männer?« »Männer aus dem Mittleren Osten, Mitte zwanzig. Sie hatten Brieftaschen und Ausweise bei sich, vielleicht gefälscht. Wir arbeiten daran. Wir nehmen die Fingerabdrücke, reden mit den INS und dem FBI. Vielleicht wissen wir morgen mehr.« »Ich möchte Carmellinis und Modins Namen aus den Zeitungen heraushalten.« »Das lässt sich machen«, sagte Carroll. »Aber die Reporter werden den Rest bringen. Die Fernsehteams sind draußen. Ich schlage vor, Sie und Ihre Leute nehmen den Kellerausgang. Wir geben Ihnen etwas, das sie sich über den Kopf halten können.« »Gut.« Carroll drehte seinen Stift hin und her, sah den FBIRepräsentanten an und sagte: »Ich will ganz offen sein. Der tote Kellner, ein gewisser John Wilson Newhouse, hinterlässt Frau und Kind. Wir können froh sein, dass nur ein Unschuldiger ums Leben kam.« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Behalten Sie Ihre verdammten Probleme in Washington. Hier in Baltimore wollen wir nichts damit zu tun bekommen.« »Wir sind im Krieg«, erwiderte Jake Grafton scharf. 362
»Oder haben Sie das noch nicht bemerkt?« »Ich weise Sie nur darauf hin, dass wir hier schon genug Probleme mit Drogenhändlern, Straßenbanden und anderen Scheißtypen haben. Wir brauchen keine Killer – ob Profis oder Amateure –, die hier bei uns herumlaufen und Unschuldige töten.« »Sagen Sie das den Terroristen«, sagte Grafton und ging zur Tür. Carroll war noch nicht fertig. »Ihr Mann Carmellini hat es echt in sich. Die Polizei von Maryland hat mir mitgeteilt, dass er am vergangenen Sonntagabend jemanden mit bloßen Händen getötet hat. Der Mann ist eine wandelnde Bombe. Zweiundsiebzig Stunden später schickt er diese beiden Burschen ins Jenseits, bevor sie Gelegenheit bekommen, einen Schuss abzugeben. Oh, sie hielten Pistolen in den Händen, aber es hätten auch Polizisten in Zivil sein können, durch einen Anruf vom Restaurant verständigt.« »Was möchten Sie von mir hören? Hätte er ihnen Gelegenheit geben sollen, zuerst auf ihn zu schießen?« »Es wäre besser gewesen, wenn er bis zum Eintreffen der Polizei im Restaurant gewartet hätte. Das hätte jede normale Person getan.« Jake schwieg. »Ihre Leute kehren nach Washington zurück, und damit ist für sie der Fall erledigt«, fuhr der Polizeichef fort. »Ich muss mit Newhouses Frau reden und ihr mitteilen, dass sie Witwe ist.« Carroll beugte sich zu Jake vor, bis nur noch wenige Zentimeter sein Gesicht von dem des Admirals trennten. »Wir wollen Ihren verdammten Krieg nicht. Das ist nicht fair, ich weiß. Das Leben ist nur selten fair. Oh, ich weiß, alle winken mit der verdammten Fahne und wollen den Terroristen eins draufgeben. Aber sie möchten, dass man den Terroristen woanders eins draufgibt. Und von jetzt an sollte es besser woanders ge363
schehen. Halten Sie Carmellini und Ihre anderen verdammten Gotteskrieger-Killer von meiner Stadt fern! Kapiert!« Er deutete auf die FBI-Agenten. »Das gilt auch für euch Arschlöcher!« Jake verließ den Raum. »Mann, der Typ war echt sauer«, sagte Harry Estep auf dem Weg zum Keller. »Ich weiß, wie er sich fühlt«, brummte Jake. Er wusste es tatsächlich. Habgier und Dummheit gewöhnlicher Verbrecher verstand er – diese Eigenschaften gehörten zur menschlichen Natur. Der irrationale, unlogische Hass, der die Terroristen antrieb, kam direkt aus der Hölle. So etwas war erschreckend – und entsetzlich. Anna Modin saß stumm in der Mitte des Fonds. So früh am Morgen herrschte wenig Verkehr auf der Autobahn. In allen Einzelheiten schilderte Tommy Carmellini Jake Grafton und den beiden FBI-Agenten die Ereignisse des Abends und beantwortete ihre Fragen. Harry Estep telefonierte immer wieder mit seinem Handy. Carmellini saß neben Anna Modin, an der Tür. Sie spürte die Wärme seines Körpers, die Festigkeit seines Oberarms an ihrer Schulter. In der Dunkelheit im Innern des Wagens tastete Anna nach Tommys Hand und drückte sie. So saßen sie da und hielten sich an den Händen, ohne dass es jemand sah. »Sind Sie sicher, dass man es nicht auf Sie abgesehen hatte, Tommy?«, fragte Jake Grafton, drehte sich halb auf dem Beifahrersitz um und sah zurück. »Gewissheit gibt es nicht. Aber ich bin ziemlich sicher.« Estep schaltete sich in das Gespräch ein. Er meinte, seine Vorgesetzten wollten, dass Carmellini und Modin einige Tage beim FBI in Quantico verbrachten. Grafton war damit einver364
standen und Carmellini ebenfalls, nachdem er einen Blick mit Anna gewechselt hatte. »Ich möchte eine Pistole«, sagte Carmellini. »Harry?«, fragte Grafton. »Das lässt sich machen, denke ich.« »Etwas in der Art einer alten Browning Hi-Power, neun Millimeter. Kein Plastikkram. Und ein Schulterhalfter.« »Wir werden uns alle Mühe geben.« »Wann?« »Ich muss mit einigen Leuten telefonieren.« Aus der Morgendämmerung wurde Tag, als sie sich für ihre Zimmer in der FBI-Niederlassung von Quantico eingetragen hatten. Als der Portier sie zu ihren Räumen führte, gingen Modin und Carmellini Seite an Seite, hielten sich noch immer an den Händen. Tommy dankte dem Mann, der fortging, nachdem er die Tür von Annas Zimmer aufgeschlossen und ihnen die Schlüssel gegeben hatte. Anna zog ihn mit sich in ihr Zimmer. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, nahm Carmellini Anna in die Arme und drückte sie an sich. »Was für eine erste Verabredung«, sagte er. Anna schmiegte sich an ihn und hörte das Klopfen seines Herzens, langsam wie das Ticken einer alten Uhr. »Warum wollten dich die Männer umbringen?«, fragte Tommy Carmellini die junge Russin. Sie waren im gleichen Bett erwacht, gegen Mittag, hatten sich erneut geliebt und dann zwei Tassen Kaffee geholt, dabei Pulverkaffee aus einem Schrank in der kleinen Küchenecke verwendet. Anna saß nun auf dem Bett, das Laken um sich geschlungen, und trank einen Schluck. Tommy hatte auf dem einzigen Stuhl im Schlafzimmer Platz genommen, mit einem Handtuch um die Taille. 365
Normalerweise hielt Carmellini nichts von Pulverkaffee, aber am Mittag nach einer solchen Nacht schmeckte er gar nicht so schlecht. »Rache, nehme ich an«, sagte Anna. »Eine andere Frau namens Nooreem Habib kopierte die Computerdateien der Walney’s Bank für Janas Ilin auf CDs. Ich war ihr Kurier.« Sie erzählte davon, dass die Bank Terroristen finanzierte, berichtete auch von Janas Ilin und allem anderen. Sie ließ nichts aus. »Ilin wollte, dass Jake Grafton die CDs bekommt, und deshalb habe ich sie ihm gebracht.« Dann schwieg sie, ein wenig schockiert von dem, was sie gerade getan hatte. Informationen mit Personen zu teilen, die nicht unbedingt Bescheid wissen mussten – das lief auf russisches Roulette hinaus. Menschen hatten die scheußliche Angewohnheit, zu reden und anderen interessante Dinge mitzuteilen. Es gab viele Gründe dafür, nicht zuletzt das Bestreben, jemanden um des eigenen Vorteils willen zu verkaufen. Jedes russische Kind lernte das in der Grundschule. Anna wusste es genau und hatte doch alles erzählt. Carmellini trank seine Tasse halb aus und wollte den Rest nicht mehr. Er stellte die Tasse auf den Nachttisch. »Die Burschen gestern Abend waren keine besonders guten Killer«, sagte er. »Fast gut genug«, meinte Anna. Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht sind sie jetzt im Paradies in den Armen von Jungfrauen und genießen den Beginn einer Ewigkeit sexueller Wonnen. Wird ihnen so etwas nicht versprochen?« »Das habe ich gehört.« »Ein klarer Fall von sexueller Unterdrückung. Man sollte allen heiligen Kriegern gratis den Playboy geben und sie darauf hinweisen, dass man solche Wonnen auch hier erleben kann, 366
im Diesseits – man braucht deshalb nicht zum Märtyrer zu werden. Aber die Typen von gestern Abend wollten davon nichts wissen. Ich habe ihnen einen Gefallen damit getan, sie ins Jenseits zu schicken. Was Norv und Arch betrifft … Ich hoffe, sie schaufeln Kohle in der heißesten Ecke der Hölle.« »Waren das die beiden Männer, die versucht haben, dich in dem Flugzeug zu töten?« »Ja. Eine gefährliche Welt, nicht wahr?« »Wer bist du, Tommy Carmellini?« Er hob und senkte die Schultern. »Ein Dieb. Bin in die Dienste der CIA getreten, um zu vermeiden, wegen Einbruchs angeklagt zu werden. Jemand anders und ich, wir stahlen Diamanten. Er wurde mit den Klunkern erwischt und hat mich verpfiffen. Derzeit hat mich die Agency an Jake Grafton ausgeliehen.« Er vertraute nur selten jemandem die Wahrheit über sich an. Gewiss keinen Frauen. Aber er spürte, dass Anna Modin etwas Besonderes war. Bei ihr kam nur die Wahrheit infrage. Sie stellte ihm einige persönliche Fragen, und so erzählte er ihr die Geschichte seines Lebens. Es steckte nicht viel dahinter – er war nur jemand, der sich ein wenig von allen anderen unterschied, und er war klug genug gewesen, sich nicht schnappen zu lassen … meistens zumindest. Schließlich schwieg Carmellini, und in der Stille lauschten sie den gedämpften Straßengeräuschen, die durchs Fenster kamen. »Was hältst du davon, wenn wir ausgehen und was essen?«, fragte Carmellini. »Später«, sagte Anna, strich das Laken beiseite und breitete die Arme aus. Nachher lag sie mit dem Kopf an seiner Schulter, und ihr Haar strich ihm über die Wange. »Was hast du jetzt vor?«, 367
fragte er. »Ich weiß es nicht. Solange die Männer in Kairo nicht tot sind …« Anna sprach nicht weiter. »Wann weißt du, dass keine Gefahr mehr droht?« »Wenn ich von Janas Ilin eine entsprechende Nachricht erhalte.« »Das FBI wird dir einen neuen Namen geben und dich verstecken. Vielleicht arbeitest du bald als Sekretärin für einen Zahnarzt in Peoria oder sitzt an der Kasse irgendeines Supermarkts.« »Ilin wird mich finden«, sagte Anna schlicht. »Wenn er mich braucht.« »Und dann?« »Dann beauftragt er mich mit irgendeiner Sache, die erledigt werden muss.«
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17 Die Tage vergingen schnell, und der Frühling brachte der Region von Washington mehr Regen und warmes Wetter. Die Kirschblüten kamen und gingen, Menschenmengen bestaunten die Touristenattraktionen, die Bäume bekamen Blätter, und das Gras wuchs schnell. Der Anblick und das Geräusch von Rasenmähern bildeten einen wesentlichen Bestandteil der Washingtoner Szene. Jake Grafton sah davon nur wenig. Er schien nur noch nach Hause zu kommen, um zu schlafen. Das Frühstück bestand aus einem Sandwich oder einem Burrito in einem Fastfood-Lokal auf dem Weg zum Büro oder einem Sandwich am Schreibtisch. Manchmal ging er in die CIA-Cafeteria, um dann das Essen hinunterzuschlingen und loszulaufen, wenn sein Handy klingelte oder der Pager ihn rief. Toad Tarkington rief aus New York an, von einem Büro der Antiterrorismus-Taskforce aus. »Sie werden es nicht glauben, Chef, aber wir haben noch eines der verdammten Dinger gefunden.« »Wo?« »Unter einem neuen Apartmenthaus im Geschäftsviertel von Manhattan.« Er gab Jake die Adresse. »In dem Bereich gibt es nicht viele neue Gebäude, doch das alte an dieser Stelle wurde vor zehn Jahren von der Stadt für abbruchreif erklärt, als der Eigentümer nicht für die Instandsetzung nach einem Brand aufkommen wollte. Eine Baufirma kaufte die Liegenschaft und errichtete ein neues Gebäude, höher als das alte. Mit einer viergeschossigen Tiefgarage. Wir sind ganz unten gewesen, und kein Zweifel: Es gibt eine heiße Stelle unter dem Haus.« »Die gleichen Hinweise wie bei Hains Point?« 369
»Ja. Harley ist ziemlich sicher. Er kann endlos über verschiedene Strahlungsarten erzählen, welche Partikel in der Lage sind, Boden zu durchdringen und welche nicht, und so weiter und so fort. Um alles zusammenzufassen: Für mich sieht’s genauso aus wie bei Hains Point.« »Wann wurde das Gebäude errichtet?« »Ich habe mit dem Hausmeister gesprochen, auf die ruhige, harmlose Art, um ihn nicht zu alarmieren. Hab ihm gesagt, wir kämen von einer unabhängigen Firma, die nach Faulschlammgas sucht. Ich glaube, das hat er mir abgenommen. Er meinte, die Stadt erteilte die Wohnerlaubnis vor sechs Jahren. Das Haus füllte sich schnell, obgleich die Apartments recht teuer sind. Sie wissen ja, wie es mit dem Wohnraum in der Stadt ist.« Jake spielte mit der Telefonschnur, während Toad sprach. Das verdammte Ding hatte sich schon wieder verheddert. »Wie lange brauchen Sie für die wichtigsten Straßen der Stadt, die Flussufer und beide Seiten des Hafens?« »Eine Woche, um es gründlich zu machen, denke ich.« »Machen Sie es gründlich.« »Ja, Sir.« Jake gab diese Informationen an General Alt und Sal Molina weiter, die, wie er wusste, sie ihrerseits an den Präsidenten und den Nationalen Sicherheitsrat weitergeben würden. »Was sollen wir in dieser Hinsicht unternehmen, Admiral?«, fragte Molina, als Jake seinen Bericht beendet hatte. »Ich empfehle, derzeit gar nichts zu tun. Was auch immer dort unten liegt: Es befindet sich schon seit sechs Jahren an dieser Stelle. Einige weitere Wochen oder Monate machen sicher keinen großen Unterschied.« »Ich reiche Ihre Empfehlung weiter. Natürlich herrscht im Nationalen Sicherheitsrat helle Aufregung über die Entdeckung 370
der ersten heißen Stelle. Jeder hat eine andere Meinung. Wir versuchen, den Kreis der Personen, die Bescheid wissen, möglichst klein zu halten, aber Sie wissen ja, wie das mit diesen Dingen ist. Wenn wir auf Atombomben sitzen, sickert früher oder später etwas nach draußen. Und wenn das geschieht, ist der Teufel los!« »Wenn Sie mir diese Frage gestatten, Sir: Wie kommen Sie und Butch Lanham zurecht?« Sal Molina seufzte. »Er ist die Personifizierung des Washington-Typs, ein gebildeter Idiot, amoralisch und völlig skrupellos. Er geht mit einem feuchten Finger durchs Leben, den er die ganze Zeit gehoben hat, um immer zu wissen, aus welcher Richtung der Wind weht. Sein einziger Gott ist Ehrgeiz. Kann gut reden.« »Verstehe.« »Was jetzt?« »Ich dachte daran, den Lieferwagen nach Boston zu schicken. Liegt ja an der gleichen Straße. Für New York brauchen wir aber noch eine Woche.« »Auch darüber wird im Rat diskutiert. Lanham will alles übernehmen und die Fäden in die Hand bekommen.« »Ich hätte nichts dagegen, ihm die Sache zu überlassen. Ich bekomme nur wenig Schlaf und habe mir den Magen ruiniert.« »Wem sagen Sie das. Aber derzeit geht der Präsident nicht auf Lanhams Gequassel ein. Er meinte, Sie hätten das erste Ding gefunden, und er will abwarten, was Sie sonst noch entdecken. Andererseits: Im Lauf der Zeit könnte sich seine Haltung ändern.« Wie das Wetter, dachte Jake. »Mhm.« »Bis später.« Captain Joe Zogby von der Küstenwache veranstaltete eine 371
Multimediapräsentation für Jake und Gil Pascal. Bei den Bildern handelte es sich um Radaraufnahmen des Mittelmeers, angefertigt in den Stunden nach dem mutmaßlichen Auslaufen der Olympic Voyager aus Port Said. Im Grunde genommen zeigten sie einen verschwindenden Punkt. Er bewegte sich, verharrte und verschwand. »Gesunken«, sagte Zogby. »Wir können nicht feststellen, ob der Punkt wirklich die Olympic Voyager war, aber wie Sie sehen, ist das Schiff schnell gesunken. Seitdem hat man es nicht mehr gesehen und auch nichts von ihm gehört.« »Jemand hat den Frachter versenkt«, sagte Jake bitter. »Was bedeutet, dass sich die Waffen nicht mehr an Bord befanden«, fügte Pascal hinzu. »Gibt es die Möglichkeit, eine Liste der Schiffe in Port Said zu bekommen, die in der Woche nach der Ankunft der Olympic Voyager ausgelaufen sind?«, fragte Jake. »Namen und Ziele?« »Das FBI arbeitet daran, Sir«, erwiderte Zogby. »Es hat in Ägypten eine Menge Geld verteilt, wir haben Kontakt mit der ägyptischen Regierung aufgenommen, und wir kennen die Namen einiger Schiffe. Aber wenn man uns eine Liste gibt, auf der auch nur ein Schiff fehlt …« Jake blickte zu Boden und wandte sich dann an Gil. »Wann wird der nächste Corrigan-Detektor geliefert?« »An diesem Wochenende, wenn alles wie geplant läuft. Montag oder Dienstag, wenn sich Schwierigkeiten ergeben.« »Die Zeit wird knapp«, murmelte Jake. Die Delta Force verstärkte den Zoll an der ganzen Ostküste. Mit allen konventionellen Geigerzählern, die gekauft, geliehen oder irgendwie besorgt werden konnten, halfen die Soldaten den Zollbeamten dabei, alle Schiffe zu kontrollieren, bevor sie in die Häfen einliefen. Es war ein gewaltiges Aufgebot. Jake und zwei Flaggoffiziere vom Pentagon trafen sich täglich, be372
sprachen Einsätze, sahen sich den Prozentsatz kontrollierter Schiffe an und erörterten Möglichkeiten, noch mehr Geigerzähler zu beschaffen. Im Großen und Ganzen ging es bei den Treffen darum, Probleme zu lösen und politische Entscheidungen zu treffen. Jeden Tag musste Jake mehrere Stunden dafür aufwenden. Noch mehr Zeit verbrachte er damit, das von Zelda Hudson gelieferte Material zu sichten. Die Zellen in Florida blieben passiv. Es konnte einen zur Raserei bringen: Je mehr Jake über die Zellen las, desto sicherer wurde er, dass einige von ihnen oder sie alle auf die Ankunft der Bomben warteten. Navy, Küstenwache und Zoll setzten Geigerzähler und Hunde ein, um alle Schiffe zu überprüfen, die nach Florida kamen. Sie fanden viele Drogen und illegale Einwanderer, aber nicht einen atomaren Sprengkopf. Es war nicht möglich, alle Schiffe zu kontrollieren, die Amerika oder auch nur die Ostküste erreichten. Jake fragte sich, ob er wegen der mutmaßlichen Zellen so sehr auf Florida fixiert war. Stellten die Zellen vielleicht ein Ablenkungsmanöver dar? Himmel, waren die kleinen Gruppen von Männern aus dem Mittleren Osten überhaupt Zellen? Doyles Tod oder Verschwinden – wie passte das ins Bild? War jenes Ereignis Teil dieses Puzzles, oder hatte es gar nichts damit zu tun? Die in den Städten vergrabenen Bomben – wer steckte dahinter? Je mehr Druck Jake ausübte, desto mehr Informationen erhielt er von Zeldas Leuten. Doch die Daten kamen in Form von Ausdrucken, blieben ohne Struktur. »Mit all dem Papier bringen wir nur Bäume um«, klagte Jake, als er in einer dicken Akte über Coke Twilley blätterte. »Hieraus werde ich einfach nicht schlau. Vielleicht befindet sich ein Goldklumpen hier drin, aber wie soll man ihn in all dem ande373
ren Zeug finden?« »Wir brauchen Leute für die Analyse der Daten«, sagte Zelda. »Schicken Sie mir einige Spezialisten, die wirklich etwas von dieser Sache verstehen.« »Falsche Antwort«, knurrte Jake. »Ich kann nicht noch mehr Leute holen. Es liegt bei Ihnen, dieses Durcheinander zu entwirren. Bringen Sie die Dinge in Zusammenhang, die unvereinbar zu sein scheinen. Schaffen Sie ein Bild und finden Sie die Fakten, die nicht hineinpassen.« »Ich stecke bis zum Hals in dieser Scheiße, Admiral. Der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden.« »Fangen Sie nicht an zu fluchen, verdammt!«, donnerte Jake. »Das Fluchen übernehme ich hier. Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Um Himmels willen, was ist nötig, um Sie endlich wachzurütteln?« Zelda blieb unbeeindruckt. Es gab keinen Mann auf der Welt, der sie einschüchtern konnte. »Mit den Nachforschungen in Hinsicht auf die fünf Männer verlieren wir nur Zeit. Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas finden können.« »Darüber entscheide ich«, zischte Jake. Wenn er zornig war, lief die Kugelnarbe an seiner Schläfe rot an. Derzeit glühte sie regelrecht. »Einer dieser Typen hat Dreck am Stecken.« Er nahm Twilleys Akte und knallte sie vor Zelda auf den Schreibtisch. »Dieses ganze Gefasel kann mich nicht umstimmen. Machen Sie sich wieder an die Arbeit und finden Sie den schuldigen Hurensohn.« Auf dem Weg aus dem Büro kam Zelda am Schreibtisch einer Sekretärin vorbei. »Ich habe ihn durch die geschlossene Tür schreien gehört«, sagte die Frau und sah zur Tür des Admirals. Sie schien zu befürchten, dass er herausstürmte und Feuer spie. »Was ist denn nur los?« »Er hat so richtig die Fetzen fliegen lassen«, erwiderte Zelda und ging weiter. Sie wollte keine Zeit damit vergeuden, eine 374
verängstigte Beamtin zu trösten. Leider hatte Grafton Recht. Es musste irgendeine Möglichkeit gefunden werden, den Goldklumpen in all dem Unrat zu finden. Vorausgesetzt es gab überhaupt einen. Tommy Carmellini war seit zwei Tagen in Quantico, als er endlich eine Pistole bekam, eine Browning Hi-Power mit Schulterhalfter und zehn Neun-Millimeter-Patronen. Der FBIAgent, der ihm die Waffe in Anna Modins Zimmer brachte, forderte ihn auf, eine Quittung zu unterschreiben. »Wir haben die Knarre einem Drogenhändler abgenommen, der letzte Woche in Washington verhaftet wurde«, sagte er. »Sie ist im Computer nicht als heiß verzeichnet. Bisher konnten wir ihren Weg nicht zurückverfolgen.« »Ein Mann in dieser Branche braucht eine gute Waffe«, meinte Carmellini, als er das leere Magazin in seine Hand rutschen ließ, den Schieber beiseite zog und in die Ladekammer sah. »Könnte der Bursche sie zurückhaben wollen?« »Nur wenn er dem Knast entgeht, was sehr unwahrscheinlich ist«, erwiderte der FBI-Mann. Carmellini überprüfte die Sicherung – die alten Automatikwaffen hatten eine, die sich mit dem Daumen betätigen ließ und den Hahn in der gespannten Position blockierte. Er versuchte, den Abzug zu betätigen, löste die Sicherung, drückte den Abzug … Der Hahn fiel mit einem zufrieden stellenden Klacken. »Nicht übel«, sagte er. »Hoffen wir, dass der Bursche verurteilt wird.« Mit der unterschriebenen Quittung in der Tasche ging der Agent. Carmellini untersuchte jede einzelne Patrone und gab sie nacheinander ins Magazin, das er dann in den Griff der Waffe schob. Mit beiden Händen ließ er den Hahn auf die Si375
cherheitskerbe sinken und drückte mit dem Daumen, um ganz sicher zu sein. Der Pistole fehlte eine Sicherung am Griff, und es war ihm ein wenig unangenehm, sie mit gezogenem, gesperrtem Hahn im Halfter zu tragen. Er musste daran denken, den Hahn vor dem ersten Schuss nach hinten zu ziehen und die Sicherung dadurch zu lösen. Eine Pistole machte Anna und ihn nicht kugelsicher, aber er konnte Angreifer in erhebliche Schwierigkeiten bringen. Wenn er sie rechtzeitig sah. Zuvor hatte Carmellini mit Harry Estep gesprochen. Dem FBI war es nicht gelungen, die beiden Toten zu identifizieren. Nach dem Gespräch mit Harry rief er Jake Grafton an. Er kam nicht zu ihm durch, aber eine Stunde nach Erhalt der Pistole rief der Admiral zurück. »Ich komme mir hier in Quantico völlig überflüssig vor.« »Wie geht’s Anna?« »Gut. Meine Füße sind in Ordnung, und das gilt auch für den Rest von mir.« »Ihre Aufgabe besteht darin, Anna zu beschützen«, sagte Jake. »Ihr braucht nicht in Quantico zu bleiben, aber ich möchte, dass Sie rund um die Uhr bei ihr oder in ihrer Hörweite sind. In einigen Wochen bringt das FBI sie beim Zeugenschutzprogramm unter. Die Dokumente gehen von Schreibtisch zu Schreibtisch. Bis dahin sind Sie ihr Rettungsring.« »In Ordnung, Chef.« Tarkington nannte den Admiral »Chef«, und Carmellini hatte seine Angewohnheit übernommen. »Und benutzen Sie Ihr Handy, um Zelda zu helfen. Einige Sondergruppen der CIA sind damit beschäftigt, Kabelverbindungen mit externen Datenbanken und was weiß ich herzustellen, aber wir brauchen Ihre unabhängigen Freunde für spezielle Einsätze.« Die CIA-Teams arbeiteten offiziell für das FBI; auf diese Weise umgingen sie das Verbot, im Landesinnern tätig zu 376
werden. »Meinen Sie Scout und Earlene?« »Ja. Koordinieren Sie alles per Telefon. Leiten Sie die Dinge in die Wege. Schauen Sie bei Scout und Earlene vorbei, wenn es nötig ist. Bringen Sie Anna auf keinen Fall nach Langley, zum Hoover Building oder zu meiner Wohnung. Vielleicht gibt es Beobachter.« Carmellini konnte Anna gar nicht in die Gebäude der CIA und des FBI bringen, aber er verstand, was Grafton meinte: Sie sollte nicht im Wagen auf dem Parkplatz bleiben, während er die Büros betrat. »Vor einer Weile habe ich mit Harry gesprochen«, sagte Tommy. »Er meinte, die beiden Baltimore-Typen könnten nicht identifiziert werden.« »John Doe eins und zwei. Sie benutzen römische Zahlen.« »Heute Morgen habe ich einen Blick in die Zeitung geworfen. Offenbar stecke ich in Baltimore ganz schön in Schwierigkeiten.« Die erste Bemerkung war gewissermaßen ein Warmup für diese unausgesprochene Frage gewesen. Carmellini presste sich den Telefonhörer ans Ohr. »Die mit diesem Fall beauftragte Staatsanwältin ist jung und ehrgeizig«, sagte Jake Grafton. »Es geht ihr gegen den Strich, dass Sie nachgeladen und mehrmals auf die Burschen geschossen haben. Der erste Schuss tötete beide. Sie spricht von unangemessener Gewaltanwendung und nannte es ›grotesk‹.« »Hm.« »Sie fügte hinzu, Sie wären außer Kontrolle geraten.« »Oh.« »Wie viel mehr von diesem Kram wollen Sie?« »Das reicht, schätze ich.« »Wenn wir schon mal dabei sind, können Sie sich genauso gut darin suhlen. Die Staatsanwältin bezeichnete Sie als wildes Tier, das von der Bundesregierung Gelegenheit erhalten hat, 377
die Leichen seiner Opfer zu zerfetzen und zu verstümmeln.« »Meine Güte.« »Ihrer Meinung nach hat es etwas mit Rassismus zu tun. Sie haben immer wieder auf die Toten geschossen, weil sie keine Weißen waren.« »Ich habe immer wieder auf sie geschossen, weil ich verdammt sicher sein wollte, dass sie tot sind.« »Darauf habe ich die Staatsanwältin hingewiesen. Sie hat es mir nicht abgenommen.« »Und weil sie den Kellner erschossen und mir einen verdammten Schrecken eingejagt hatten und ich echt sauer auf sie war. Sagen Sie der blöden Staatsanwältin, dass ich sie gern umgelegt habe.« »Ich rufe sie sofort nach diesem Gespräch an. Rassenpolitik wird in Baltimore sehr ernst genommen. Sie kommt groß raus in der Presse und rührt die Trommel für Waffenkontrolle und so. Die Wahrheit ist: Die beiden Burschen waren bewaffnete Killer, die gerade einen unschuldigen Bürger von Baltimore – übrigens einen Schwarzen – bei dem Versuch erschossen hatten, Anna zu erwischen. Die Staatsanwältin kommt von ihrem hohen Ross herunter, wenn sie merkt, dass niemand vor dem blutigen Fetzen salutiert, den sie am Fahnenmast aufgezogen hat.« »Welche Strafe gibt es in Maryland für die Verstümmelung von zwei Leichen?« »Wir versuchen noch, es herauszufinden. Die Höchststrafe scheint sich pro Leiche auf tausend Dollar sowie zehn Tage Knast oder Kastration zu belaufen. Die Kastration wird natürlich nur einmal vorgenommen.« »Ein echter Trost.« »Bleiben Sie in der Nähe«, sagte Jake Grafton. »Für den Fall, dass ich Sie hier brauche.« 378
Nach dem Telefonat vergaß Tommy Carmellini die Staatsanwältin in Baltimore. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die keine Gedanken an Dinge vergeudeten, die sie nicht ändern konnten. Es war eine Gabe oder ein Fluch – es kam darauf an, wie man den positiven Effekten von Schuldgefühlen gegenüberstand. Wie auch immer: Carmellini hatte all die Jahre ohne die Bürde der Sorge leben können, die andere Übeltäter so sehr belastete. Es bedeutete nicht, dass er kein Gewissen hatte – er hatte sehr wohl eines –, aber er dachte nicht über sein Karma oder das Schicksal des Universums nach. Er hatte es einmal Toad Tarkington erklärt: »Wenn sich Probleme ergeben, so löst man sie. Wenn nicht, setzt man seinen Weg fort.« Nach dem Gespräch mit Jake Grafton rief Tommy Carmellini Scout an und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Offenbar waren Scout und Earlene unterwegs und erledigten irgendetwas Ruchloses für die CIA. Carmellini stand in der Tür des Badezimmers und beobachtete, wie sich Anna Modin völlig nackt das Haar bürstete. Bei dem Anblick kribbelte es ihn bis in die Zehenspitzen. Er berechnete den aktuellen Stand seiner Finanzen – Bankkonto, Kreditkartenspielraum und die Zeit bis zur nächsten Gehaltsüberweisung – und traf eine schnelle Entscheidung. »Was hältst du davon, wenn wir für einige Tage zur Homestead fahren? Um diese Zeit des Jahres soll es dort sehr schön sein.« »Die Homestead? Was ist das?« »Ein Erholungsort in den Bergen. Westlich von hier, nicht weit entfernt … vier oder fünf Stunden mit dem Wagen. Golf, Thermalquellen, köstliches Essen, große Betten, in denen sich hervorragend schmusen lässt …« »Ich habe nicht viele Sachen.« FBI-Agenten hatten ihr Kleidung von den Graftons gebracht und in Carmellinis Wohnung einen Koffer gepackt. 379
Einer war so freundlich gewesen, den roten Mercedes aus Baltimore zu holen. Tommy Carmellini hatte eine willige Frau, einen Wagen, eine Pistole und Geld. Was brauchte man mehr in Amerika? »Wir kommen schon klar«, sagte er tapfer. »Möchtest du Sex, bevor wir aufbrechen, oder willst du ihn für später aufsparen?« »Man sollte nie was auf später verschieben«, erwiderte er. »Das Leben ist zu kurz.« Am Montagnachmittag suchte Jake Grafton auf Zeldas Bitte hin den Keller auf. Sie hatte ein aufgezeichnetes Telefongespräch für ihn, reichte ihm wortlos einen Kopfhörer und betätigte Tasten, während er ihn aufsetzte. Wenige Sekunden später hörte er Stimmen. »… Freund im Weißen Haus.« Butch Lanhams Stimme. »Wie laufen die Dinge dort drüben?« Jake Grafton erkannte auch die zweite Stimme: Jack Yocke. »Es gibt da einige neue Entwicklungen, über die ich Sie unterrichten möchte.« »Ach, tatsächlich?« »Natürlich nicht am Telefon. Können wir uns treffen?« Sie sprachen darüber und einigten sich auf ein kleines Restaurant, das Yocke kannte. Jake hatte nie davon gehört. Als die beiden Männer ihr Telefongespräch beendeten, nahm Jake den Kopfhörer ab. »Wann haben Sie das aufgezeichnet?« »Vor einer Stunde.« »Kann ich ein Band davon haben?« Zelda nickte, und wieder klickten Tasten unter ihren Fingern. Drei Minuten später reichte sie ihm eine Kassette. »Was haben Sie damit vor?«, fragte sie. 380
»Ich weiß es nicht«, antwortete Jake wahrheitsgemäß. »Der Präsident hält sicher nicht viel von einem Nationalen Sicherheitsberater, der etwas durchsickern lässt – es sei denn, er macht das in seinem Auftrag. Und was will er an die Presse weitergeben? Informationen über Afghanistan, den Mittleren Osten, unsere Handelsbeziehungen mit Niederslobowien? Oder über vergrabene Atomwaffen in Washington und New York?« Jake hielt die Kassette in der Hand und steckte sie dann ein. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. »Sonntag vor einer Woche habe ich Ihnen und dem FBI zwei CDs gegeben, mit Dateien der Walney’s Bank in Kairo, Ägypten. Die Leute vom FBI meinen, aus den Daten geht hervor, wer den Terrorismus finanziert, wie das Geld hin und her geschoben wird und schließlich die Terroristen erreicht.« Zelda nickte. Ihre Augen waren groß und aufmerksam. »Der Bankdirektor heißt Abdul Abn Saad. Er ist eine Säule der ägyptischen Gesellschaft und insgeheim ein militanter Islamist. Ich möchte, dass Sie ihn ein ganzes Stück reicher machen, als er es schon ist.« »Erklären Sie das.« Jake Grafton stand auf und streckte sich. Er ging ein wenig umher, gab seine Wanderung jedoch schon bald auf, denn überall saßen Leute; außerdem standen Computer, Monitore, Server, Netzteile und andere Geräte herum, viele von ihnen durch Kabel miteinander verbunden. Er vergewisserte sich, dass niemand in Hörweite war, kehrte dann zu Zelda zurück, stützte sich auf ihren Schreibtisch und sah auf sie hinab. »Im Nationalen Sicherheitsrat ist man uneins. Ägypten gilt als wichtiger Verbündeter. Saad hat sehr einflussreiche Freunde an hohen Stellen in Kairo und in der arabischen Welt. Und unsere Leute wollen keine ausländischen Banken manipulieren, weil sie von folgender Annahme ausgehen: Wenn wir keine auslän381
dischen Banken manipulieren, lässt das Ausland unsere in Ruhe. Im Zeitalter des Terrorismus macht eine solche Einstellung keinen Sinn, aber sie existiert trotzdem. Wir stoßen also auf ein Terrain vor, das die Behörden nicht zu betreten wagen. Verschaffen Sie sich Zugang zu den Computern der Walney’s Bank. Unterschlagen Sie jede Menge Geld und geben Sie es Abdul Abn Saad. Verwischen Sie Ihre Spuren so, dass es nach einer Insider-Sache aussieht.« »Sie wollen ihn reicher machen?« »Ja. Irgendwann kommt jemand dahinter, und dann steckt Mr. Saad bis zum Hals in Schwierigkeiten. Wenn seine Bank außerdem Konkurs macht – das wäre das Sahnehäubchen.« Zelda blickte auf die Tastatur, hob die eine Hand und strich sich damit das Haar aus den Augen. Dann sah sie zu Grafton auf. »Bisher habe ich das Geld anderer Leute in Ruhe gelassen. Mir Dateien anzusehen, die ich eigentlich gar nicht sehen sollte, ist eine Sache, Geld eine ganz andere. Dies könnte mich ins Gefängnis zurückbringen.« »Ich habe Sie darum gebeten. Ich übernehme die Verantwortung. Sie führen nur Ihre Anweisungen aus.« »Das nützt mir herzlich wenig, wenn es nichts Schriftliches gibt, keinen konkreten Beweis. Sie fallen einem Herzinfarkt zum Opfer oder bekommen kalte Füße, und dann hänge ich in der Luft und bin erledigt. Nun, wahrscheinlich kehre ich ohnehin ins Gefängnis zurück, wenn dies vorbei ist. Stimmt’s, Admiral?« »Ich bestimme nicht, was im Universum geschieht, Zelda. Wenn die Leute im Weißen Haus wollen, dass Sie wieder in den Knast kommen, so finden Sie sich hinter Gittern wieder. So war es von Anfang an.« Sie blickte auf ihre Hände hinab und legte sie in den Schoß. »Sie bringen mich in eine unmögliche Situation«, sagte sie. 382
»Scheißdreck!«, sagte Jake Grafton. »Feilschen Sie nicht mit mir! Ich fordere Sie auf, etwas für Ihr Land zu tun. Wenn Sie es richtig machen, wissen nur Sie und ich davon. Es gibt keine Medaillen, kein Geld, keine Feiern, keine Begnadigung, nichts von diesem Happyend-Blödsinn. Einmal in Ihrem Leben müssen Sie ein großes Risiko eingehen, ohne dass etwas für Sie herausspringt. Es gibt einen Namen für Leute, die sich auf so etwas einlassen. Man nennt sie Patrioten.« Er klopfte auf den Computermonitor und ging zur Tür. Als er gegangen war, starrte Zelda auf den Monitor. Naguib ging jeden Abend aus, um sich mit der Blondine im Oasis zu treffen. Ali, Yussuf und Mohammed wussten davon; er machte kein Geheimnis daraus. Während sie vor dem Fernseher saßen oder duschten, nickte er nur und ging. Wenn einer von ihnen oder sie alle auf dem Parkplatz standen, konnten sie ihm nachsehen, wie er zweihundert Meter weit über die Parkplätze zur Oasis-Bar wanderte. Mohammed wusste nicht, was er machen sollte. Wenn er Naguib tötete, bekamen es Ali und Yussuf vielleicht mit der Angst zu tun und ließen ihn im Stich. Andererseits, wenn Naguib nichts mehr mit der Sache zu tun haben wollte, so wäre es dumm von Mohammed gewesen, ihn zur Teilnahme zu zwingen. Vielleicht gab er sein ganzes Wissen einer getarnten amerikanischen Polizistin preis. Ja, Mohammed wusste, dass die amerikanische Polizei Frauen einsetzte, um Verbrecher in die Falle zu locken. Als Naguib an diesem Abend gegangen war, wandte sich Mohammed an seine Gefährten. »Und wenn Naguibs Frau eine amerikanische Spionin ist?« Sie dachten darüber nach. »Wir sind Krieger des Dschihad«, sagte Mohammed. 383
»Wir sind mit einer heiligen Mission beauftragt. Naguib hat sich freiwillig dafür gemeldet, so wie wir drei. Wir kannten die Mission. Wir wussten, was sie von uns verlangt, worauf es ankommt. Wir schworen beim Barte des Propheten, alles Notwendige zu tun, um den glorreichen Schlag zu führen. Und jetzt trinkt Naguib des Nachts Bier und spricht mit dieser Frau.« »Naguib ist ein guter Mann«, sagte Yussuf beherzt. »Er ist schwach, ja, wie alle Männer, und wenn die Hure ihm ihren Körper anbietet, so nimmt er ihn. Aber er wird nie Allah verraten. Und auch uns nicht.« »FBI-Agenten sind sehr schlau«, sagte Ali nachdenklich. Er sah Mohammed und Yussuf an und versuchte, in ihren Gesichtern zu lesen. Mohammed war ebenfalls schlau, aber Yussuf nicht. Und Naguib ebenso wenig. »Er weiß nicht, wann und wo die Waffen eintreffen«, sagte Yussuf. »Das weiß nur Mohammed.« »Er kennt uns«, erwiderte Ali. »Er kennt unsere Namen, unseren Hintergrund. Er weiß, wer uns geschickt hat, woher wir unser Geld bekommen und was wir vorhaben.« Und so ging es weiter, während Mohammed stumm zuhörte und nichts sagte. Es lief auf Folgendes hinaus: Yussuf wollte Naguib aus der Gruppe ausstoßen und darauf vertrauen, dass er nichts verriet. Ali sah die Gefahren darin, brachte es aber nicht über sich zu sagen, was getan werden sollte. Schließlich beendeten die beiden Männer ihr Streitgespräch und wandten sich an Mohammed. »Er darf keine Gelegenheit erhalten, unsere Mission zu gefährden«, sagte Mohammed langsam. »Sie ist größer und wichtiger als wir.« Die Gesichter seiner beiden Gefährten waren steinern. »Wir werden als Märtyrer sterben, für die Ehre Allahs. Wir werden die Ungläubigen töten wie noch nie zuvor in der Ge384
schichte der Welt. Die ganze Erde wird erbeben, wenn sie Allahs Namen hört und unsere Entschlossenheit sieht. Alle Menschen werden zum Islam übertreten, wie es der Prophet wünschte. Und für diesen großen Dienst werden wir mit dem Paradies belohnt.« Ja, das verstanden sie. Die Mission war phantastisch, über alle Maßen ruhmvoll, ein Dienst für den Propheten, der die Welt für immer verändern würde. »Wir müssen Naguib töten«, sagte Mohammed. »Wir dürfen nicht riskieren, dass er uns verrät, unsere heilige Mission gefährdet.« »Allah sieht alles«, erklärte Yussuf mit schlichtem Glauben. »Wenn Allah möchte, dass wir erfolgreich sind, so werden wir erfolgreich sein. Naguib zu töten … Es wäre die Ermordung eines Gläubigen, und so etwas verbietet der heilige Koran. Willst du Allah mit dem Blut eines Gläubigen an den Händen um Hilfe bitten?« »Manchmal müssen die Gläubigen sterben. Sie starben, als sie die beiden Türme in New York zerstörten. Wir drei werden sterben, wenn die Waffe explodiert. Naguib hat sein Leben bereits dem Dschihad verschrieben. Jetzt muss er sein Leben geben, um uns zu schützen.« Die Logik war unwiderlegbar. Weitere zwanzig Minuten lang sprachen sie über das Problem, und dann waren Ali und Yussuf überzeugt. Sie gingen zum Wagen und beobachteten, wie Mohammed den Kofferraum mit dem Schlüssel öffnete. Vier Pistolen und Munition waren unter dem Reserverad versteckt. Mit geladenen Pistolen in den Taschen warteten sie in der Dunkelheit außerhalb des Motels auf Naguib. Niemand schien sie zu beobachten. Der letzte Wagen war vor Stunden gekommen, und im Büro brannte kein Licht mehr. Gelegentlich rollte ein Fahrzeug auf dem Highway vorbei. Nur zwei Autos standen noch auf dem Parkplatz vor dem Bierlokal nebenan, als 385
Naguib herangeschlendert kam. Er roch nach Bier und summte leise vor sich hin. »In den Wagen«, sagte Mohammed. »Ich bin müde und möchte schlafen.« »Dinge geschehen«, sagte Mohammed. »Es ist so weit.« Yussuf und Ali stiegen hinten ein, und Mohammed setzte sich ans Steuer. Es blieb Naguib keine andere Wahl, als auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Er war halb betrunken. Während der Fahrt summte er weiter vor sich hin und dachte an Suzanne. Schließlich drang das Schweigen der anderen durch seinen Bierdunst. Normalerweise waren sie sehr redselig; nur untereinander konnten sie ganz offen über alles miteinander sprechen. »Wohin fahren wir?«, fragte Naguib. »Du wirst es sehen.« »Ist die Waffe eingetroffen?« »Bald«, sagte Mohammed. »Sehr bald. Wir müssen bereit sein.« »Ja«, erwiderte Naguib schläfrig. »Ja.« Mohammed bog von der asphaltierten Landstraße ab und fuhr über einen unbefestigten Weg neben einem tiefen Entwässerungsgraben. Weg und Graben führten schnurgerade durch die Dunkelheit. Im Rückspiegel sah Mohammed, wie die Lichter des Highways und der Häuser kleiner wurden. Weit von der Landstraße entfernt hielt er an. »Dies ist der Ort, glaube ich.« Er blickte auf das kleine Schild, das die Scheinwerfer erhellten, sah nach rechts und links in die Finsternis, als hielte er nach etwas Ausschau. »Ja, es ist der richtige Ort«, sagte er, schaltete Licht und Motor aus und öffnete die Tür. 386
Alle stiegen aus. »Was gibt es hier?«, fragte Naguib und sah sich um, ohne irgendetwas in der Finsternis zu erkennen. Er fühlte, wie ihm etwas an die Seite gepresst wurde, und dann schoss Ali. Es gab keinen Schmerz, nur einen betäubenden Schock. Den gedämpften Knall hörte er nicht einmal. »Nein!«, rief Naguib und versuchte, Ali fortzustoßen, der noch dreimal abdrückte, so schnell er konnte. Yussuf schoss einmal. Als Naguib auf dem Boden lag, schaltete Mohammed eine kleine Taschenlampe ein. Der Mann lebte noch, und so hielt Mohammed ihm die Pistole an den Kopf und schoss. »Nehmt alles aus seinen Taschen«, wies er Ali und Yussuf an. »Dann kann er nicht identifiziert werden, wenn man ihn findet.« Es war abscheulich, aber sie kamen der Aufforderung nach. »Leb wohl, Naguib«, sagte Mohammed und schob die Leiche über den Rand des Weges in den Graben. Sie mussten nach unten gehen und nachhelfen, damit der Leichnam ins Wasser rutschte, und dabei wurden sie alle schmutzig. Zufrieden kehrte Mohammed mit seinen beiden Begleitern zum Wagen zurück. Sie stiegen ein und fuhren fort. Ein illegal eingewanderter mexikanischer Landarbeiter fand Naguibs Leiche am nächsten Tag. Er sah die Reifenspuren auf dem Weg und vermutete, dass in der vergangenen Nacht jemand hierher gekommen war. Als er den Traktor anhielt, um zu pinkeln und etwas zu essen, ging er zu der Stelle mit den Spuren. Er wollte sehen, ob die Leute vielleicht etwas zurückgelassen hatten, zum Beispiel einen Rest Whisky in der Flasche. Und da entdeckte er die Leiche im Graben. 387
Spät am Nachmittag sah FBI-Agentin Suzanne Ostrowski den Leichnam. Polizisten hatten ihn aus dem Graben geholt; er lag am Rand des Weges. Ja, es war Naguib. Der große Bursche. So sanft und naiv, so vertrauensvoll … Sie hatten ihn also umgebracht und wie Abfall in einem Bewässerungsgraben zurückgelassen. Suzanne war nicht empfindlich, aber diesmal spürte sie tiefe Trauer. Gleichzeitig wuchs ihre Entschlossenheit. Wenn sie Naguib umbrachten, einen ihrer eigenen Leute, so würden sie andere mit der gleichen Skrupellosigkeit ermorden. Tommy Carmellini war verliebt. Er wünschte sich einen solchen Zustand nicht, und er hatte gewiss nicht darauf hingearbeitet. Doch nach zwei Tagen in der Homestead zweifelte er nicht mehr daran, sich verliebt zu haben. Das geschah zum ersten Mal, und es fühlte sich wundervoll an. Anna Modin war die Frau. Leider konnte er nicht sicher sein, dass sie ihn ebenfalls liebte. Oh, sie wirkte glücklich, war eine Göttin im Bett, spielte gern mit seinem Brusthaar und küsste ihn, wenn sie glaubte, dass niemand zusah. Eine herrliche Sache. Aber liebte sie ihn? Sie entspannten sich im Pool, dessen Wasser aus den Thermalquellen kam. Sie gingen spazieren, spielten Golf … Anna hatte noch nie zuvor Golf gespielt und war eine grässliche Anfängerin. Es fiel ihr schwer, den Schläger richtig zu schwingen, und sie schlug den Ball kreuz und quer. Und sie lachte. Oh, wie sie lachte, wenn der Ball in die falsche Richtung flog. Mit schwingenden Hüften ging sie hinüber, lächelte, schlug den Ball erneut und lachte die ganze Zeit über. Sie verbrachten viel Zeit im Bett. Die Vögel zwitscherten, grauweiße Wolken zogen über den 388
blauen Himmel, und überall blühte es. Liebte sie ihn? Diese Frage stellte sich Tommy Carmellini immer wieder. Und wenn das der Fall war? Sie hatte gesagt, dass sie wieder aufbrechen würde, wenn sie einen neuen Auftrag von Janas Ilin bekam. Würde sie es sich anders überlegen? Konnte sie es sich anders überlegen? Die Abende waren wundervoll. Ein gutes Essen, Wein, in den Schaukelstühlen auf der alten Veranda sitzen und den Sonnenuntergang beobachten … Sie sprachen über den Tag, lachten noch mehr und küssten sich. Und wenn sie gelogen hatte?, fragte sich Carmellini. Wenn sie doch eine Agentin war und für den SVR arbeitete? Himmel, seine Vorgesetzten bei der CIA würden völlig aus dem Häuschen geraten. Jake Grafton wäre außer sich. Und Tommy Carmellini würde sich von einem Augenblick zum anderen als Zivilist auf der Straße wiederfinden. Leider kannte er sich im zivilen Leben nur mit zwei Dingen aus, und die hießen Jura und Einbruch, beides gleichermaßen verrufen. Er dachte darüber nach und suchte nach einer Möglichkeit, das eine mit dem anderen zu verbinden. Bei ihrer Ankunft in der Homestead hatte sich Carmellini umgesehen und festgestellt, dass dunkelhäutige islamische Mörder an einem solchen Ort ebenso auffielen wie Nackte in der Kirche. Er hörte auf, sich Sorgen zu machen, blieb aber vorbereitet, trug die Pistole unter der Sport- oder Windjacke. Wenn sie auf dem Golfplatz waren, lag sie in der Golftasche. Am Pool ruhte sie neben dem Stuhl in einem kleinen Rucksack, den er in einem Geschenkartikelladen gekauft hatte. Manchmal trug er den Rucksack an einem Riemen über der Schulter. Wenn er auf der Veranda saß, Annas Hand hielt und den Sonnenuntergang beobachtete,, stand der Rucksack neben seinem Stuhl. 389
Am ersten Tag hatte er sich viermal bei Jake Grafton gemeldet, am zweiten dreimal. Er stellte fest, dass Scout und Earlene alle Dinge erledigten, um die Zelda sie bat, und so meldete er sich nur noch einmal pro Tag. Manchmal hinterließ er nur eine Nachricht für Grafton, um ihn wissen zu lassen, dass er angerufen hatte. Er mochte Annas Augen. Ihm gefielen die kleinen Falten, die sich in ihren Augenwinkeln bildeten, wenn sie lachte, und sie lachte oft. Sie schien ihn faszinierend zu finden, und das gefiel ihm ebenfalls, aber liebte sie ihn? War es wirklich Liebe? Oder genoss sie einfach nur einen entspannenden Urlaub mit zusätzlicher Sexbeilage? Wie jeder Liebende seit Anbeginn der Zeit dachte er über diese Dinge nach. Sie gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er hing an jedem Lächeln, an jeder Berührung, an jedem Kuss; er versuchte, in jedem Blick, in jeder Bewegung und jedem Wort Bedeutung zu erkennen. Und wenn Anna nicht sprach … Selbst ihr Schweigen schien eine Botschaft zu verkünden. Als er es nicht mehr aushielt, am Abend des vierten Tages, wartete er, bis der Likör nach dem Essen serviert wurde, packte dann den Stier bei den Hörnern. »Ich liebe dich«, sagte er, hielt Annas Hand und sah ihr in die Augen. »Ich liebe dich ebenfalls«, erwiderte sie … und Tommy Carmellini fühlte sich so leicht, dass er sich an den Armlehnen festhalten musste, um nicht emporzuschweben. Mit beiden Händen nahm sie seine Hand, drehte und betrachtete sie, strich mit dem Finger über die Lebenslinie in der Handfläche. Nie zuvor hatte er etwas so Exquisites gefühlt. »Ich hätte nicht gedacht, dass es dazu kommt«, fuhr sie mit ihrem wundervollen Akzent fort, den er so gern hörte. »Oh, ich habe versucht, mich zu verlieben. Ich glaube, das macht jede Frau. Wir alle wünschen uns jemanden, den wir 390
lieben und der uns liebt. Vielleicht liegt das in der menschlichen Natur. Aber für mich, bisher …« Sie sah ihm wieder in die Augen, und ihre Hände drückten zu. »Ich wünschte, jeder Mensch auf der Welt könnte dieses Gefühl wenigstens ein Mal erleben.« Anna ließ Tommys Hand los, stand auf, trat um den Tisch herum, beugte sich vor und gab ihm einen sanften, zärtlichen Kuss. Dann setzte sie sich wieder. Ihre Augen glänzten. Die Leute am Nebentisch applaudierten höflich, und Tommy Carmellini nickte und lächelte ihnen zu. Anna Modins Blick verweilte auf ihm. Er wollte noch etwas sagen, entschied sich dann aber dagegen. Eine Stimme flüsterte ihm zu: Geh kein Risiko ein. Genieße diesen Augenblick. Halt ihn in Ehren. Präg dir jede Nuance davon ein, damit du ihn für immer in deinem Herzen behalten kannst. Und so nahm er Annas Hand, schloss die Finger darum und sah ihr in die glänzenden Augen.
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18 Der zweite Corrigan-Detektor traf am Mittwochmorgen in Washington ein, Tage zu spät. Er befand sich in einem unscheinbaren weißen Lieferwagen, wie auch der erste. Jake brachte ihn sofort auf die Straße. Er nahm selbst an der Fahrt teil, um einen direkten Eindruck davon zu gewinnen, welche Probleme sich ergaben und mit welchen Ergebnissen man rechnen durfte. Am ersten Abend schickte er den Fahrer nach Hains Point, und der zweite Detektor stellte ebenfalls eine heiße Stelle unter dem Golfplatz fest. Am nächsten Tag kehrte Jake früh heim – um sieben Uhr abends – und traf auf Jack Yocke, der Amy und Callie besuchte. Auf Jakes Vorschlag hin hatte Callie den Reporter zum Abendessen eingeladen. Diesmal war er nicht mit seiner Freundin gekommen, stellte Jake fest, und er fragte Callie danach, als sie in der Küche allein waren. »Hast du ihm gesagt, dass er allein kommen soll?« »Nein«, erwiderte Callie. »Ich habe ihn zum Essen eingeladen und hinzugefügt, er könnte seine Anwältin mitbringen, wenn er möchte. Aber er kam allein.« Das Essen war lecker: Hackbraten, Kartoffelbrei und Erbsen, Jakes Lieblingsspeise. Er lobte Callies Kochkünste dreimal, bevor er seinen zweiten Teller leerte. Amy plauderte mit Yocke – sie mochte ihn, und er ließ sich nicht von ihrer Jugend einschüchtern, und so lief alles gut. Nach dem Essen bat Amy ihre Mutter um Hilfe bei einer Übersetzung. Jake und der Reporter räumten den Tisch ab. Allein in der Küche mit der summenden Geschirrspülmaschine fragte Jack Yocke: »Ich würde gern wissen, was Sie in letzter Zeit so treiben. Niemand scheint bereit zu sein, mir 392
irgendeinen Hinweis darauf zu geben.« Jake Grafton lächelte. »Es ist geheim.« »Komisch, Ihr Name fiel bei einem Gespräch, das ich mit einer Quelle aus dem Weißen Haus geführt habe. Die Person befindet sich ziemlich weit oben und hat vielleicht etwas mehr gesagt, als sie sollte. Sie deutete an, womit Sie beschäftigt sind.« »Muss schön sein, solche Quellen zu haben. Können einem Journalisten vermutlich zu einer steilen Karriere verhelfen. Vielleicht bringen sie ihm sogar die Nominierung für den Pulitzerpreis ein.« »Die Quelle sprach von Machtmissbrauch.« »Zum Beispiel?« »Illegale Durchsuchungen, illegales Mithören von Telefongesprächen, illegale Überwachung, Verletzung der Persönlichkeitsrechte und Verstoß gegen die von der Regierung bestimmten Regeln in Bezug auf die Verwendung persönlicher Informationen. Was in der Art.« »Schwere Vorwürfe«, murmelte Jake und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Er hielt die Kanne bereit, und Yocke nahm eine Tasse aus dem Schrank. Jake füllte sie. Sie holten sich Milch aus dem Kühlschrank. »Eine solche Geschichte müsste sehr sorgfältig überprüft werden, bevor ich sie bringen kann. Die Fakten müssten aus mindestens zwei einwandfreien Quellen stammen, vielleicht sogar aus drei oder vier, wenn der Chefredakteur darauf besteht.« »Ein derartiger Skandal brächte die Administration sicher in große Verlegenheit.« »Und ob. Wenn die Leute ganz oben davon wissen. Wenn nicht, gibt es irgendwo Spitzbuben, denen das Handwerk gelegt werden muss. Wenn tatsächlich solche Aktivitäten stattfin393
den … Der Skandal würde zweifellos berufliche Laufbahnen beenden und vielleicht zu Gerichtsverfahren führen. Die Öffentlichkeit nimmt solche Dinge sehr ernst.« »Wenn Leute andere Leute in den Schmutz ziehen, so fragen sie sich bestimmt nach dem Motiv.« »Natürlich. Es gibt eine Million Gründe dafür, warum Menschen Dinge ausplaudern, und die meisten sind harmlos. Andererseits: Wenn die Presse darauf warten würde, dass Heilige ihre Seele entblößen, so stünde kaum etwas in den Zeitungen. Die Polizei ist auf Personen angewiesen, die andere verpfeifen. Und wir ebenfalls.« »Da haben Sie vermutlich Recht.« »Die Neuigkeiten sind dort, wo man sie findet.« »Hat Lanham schon einmal aus dem Nähkästchen geplaudert?« Yocke trank einen weiteren Schluck Kaffee, während die Geschirrspülmaschine sang, und er überlegte, wie er auf diese Frage reagieren sollte. »Und wenn meine Antwort ›ja‹ lauten würde?« »Wir machen einen kleinen Ausflug; nehmen Sie Ihren Kaffee mit. Ihr Wagen steht unten an der Straße, nicht wahr?« »Ja. Wohin fahren wir?« »Wir sehen uns die Republik an.« Jake gab Callie Bescheid, und Yocke bedankte sich bei ihr für das Essen. Callie, klug wie immer, fragte nicht, wohin sie wollten und wann Jake zurückkehren würde. Als Yocke losgefahren war, holte Jake eine Kassette hervor und inspizierte das Armaturenbrett. »Möchten Sie das abspielen?«, fragte Yocke. »Ja. Bitte übernehmen Sie’s.« Er gab die Kassette dem Reporter und schnallte sich an. Yocke schob das Ding in den Re394
corder und drückte eine Taste. Sie warteten an einer Ampel, als Lanhams Stimme aus dem Lautsprecher kam, dann Yockes. Die Ampel sprang um, und der Reporter gab Gas. Still hörte er sich die Aufzeichnung an. Als das Gespräch zu Ende war, lief das Band weiter. Jake drückte die Eject-Taste, nahm die Kassette und steckte sie ein. »Woher haben Sie das?«, fragte der Reporter. Jake schaute nur nachdenklich ins Leere. Er trank den Kaffee aus und stellte die Tasse zwischen seinen Füßen auf den Boden, damit sie nicht fortrollte. »Ist mein Telefon angezapft?« »Nein.« »Lanhams?« »Es ist ein wenig komplizierter. Man hat mir erklärt, dass jede menschliche Stimme unterschiedlich ist – fast wie Fingerabdrücke –, und ein Computer kann darauf programmiert werden, eine bestimmte Stimme in all den Gesprächen zu identifizieren, die durch eine Telefonzentrale laufen. Wenn er sie erkennt, beginnt die Aufzeichnung.« »Ich verstehe.« »Zehntausende, hunderttausende von Telefongesprächen finden statt, und Computer suchen in ihnen nach Stimmen, Wörtern, bestimmten Ausdrücken, was auch immer. Wird ein Computer fündig – bingo. Für einen Menschen wäre so etwas unmöglich, aber Computer sind schnell genug, um hunderte von Telefongesprächen gleichzeitig zu kontrollieren. Leider beginnt die Aufzeichnung erst nach der Identifizierung der Stimme. Ich nehme an, Sie haben den Anruf bekommen, und der Computer erkannte Ihre Stimme nicht. Doch dann identifizierte er Lanhams und zeichnete das Gespräch auf.« »Warum Lanham?« Jake schüttelte nur den Kopf. 395
»Was haben Sie mit der Kassette vor?« Grafton hob und senkte die Schultern. »Ich habe sie einfach.« »Wollen Sie sie dem Weißen Haus schicken?« »Ich weiß, was Sie denken. Wie ich hörte, kann es der Präsident nicht ausstehen, wenn irgendetwas durchsickert. Hält die verantwortliche Person für verräterisch und so. Für Lanham wäre dies ganz und gar nicht gut, aber nein, etwas in der Art habe ich nicht vor. Ich werde die Kassette in die Schublade meines Schreibtischs legen und abschließen.« »Das klingt wie eine Drohung, Admiral.« »Vielleicht sollte ich etwas deutlicher werden. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass geheime Dinge, die Lanham mit Ihnen besprochen hat, in die Zeitung kommen, lasse ich mir das mit der Kassette noch einmal durch den Kopf gehen.« »Sie sind doch nicht der Klempner der Administration.« »Klempner?« »Jemand, der nach undichten Stellen sucht.« »Ich suche nach einem Verräter.« »Sind Leute, die etwas durchsickern lassen, Verräter?« »Ich schätze, sie könnten es sein, aber hier ist das nicht der Fall. Lassen Sie die Finger davon, Jack. Kommen Sie Lanham nicht zu nahe. Ich weiß nicht, was im Weißen Haus vor sich geht, und ich möchte nicht darin verwickelt werden. Ich bin ein Seemann mit geheimem Auftrag. Wenn der Präsident und Sal Molina nicht mit Lanham fertig werden können, so sind sie überfordert und für ihren Job ungeeignet.« Yocke schnaubte. »Lanham ist nicht ganz dicht. Der arme Kerl glaubte, diesen Mist unter Kontrolle zu haben.« Jake Grafton zuckte mit den Schultern. »Sie wissen also, dass Lanham Informationen weitergibt. Sagt er die Wahrheit? Machtmissbrauch ist ein schwerer Vor396
wurf.« »Fahren wir zum Lincoln Memorial«, sagte Jake. »Das ist mein Lieblingsort in Washington. Ich würde ihn gern besuchen.« Yocke sah auf die Uhr und bog an der nächsten Kreuzung links ab, was sie in die richtige Richtung brachte. Um zehn Uhr abends fiel es ihnen nicht schwer, einen Parkplatz zu finden. Der Reporter schloss den Wagen ab, und dann gingen sie zu Fuß zum Memorial. Eine Zeit lang wanderten sie umher, dann fand Jake vorn an der Treppe eine freie Stelle abseits der Touristen und nahm Platz. Vor ihnen ragte der weiße, von Scheinwerfern angestrahlte Obelisk des Washington Monument in den schwarzen Himmel. »Als Lincoln Präsident war, drohte die Nation auseinander zu brechen«, sagte Jake. »Verschiedene Personen wiesen in gutem Glauben darauf hin, dass nach der Verfassung der Präsident nicht gegen das Gesetz verstoßen durfte. Niemand steht über dem Gesetz. Man argumentierte, der Präsident und die Regierung müssten selbst dann dem Gesetz gehorchen, wenn die Republik fiele. Lincoln sah die Sache aus einem anderen Blickwinkel. Er meinte, die rechtmäßig gewählte Regierung wäre berechtigt, alle Maßnahmen zu ergreifen, um sich zu schützen. Er brachte Leute ohne Anklage oder Gerichtsverfahren ins Gefängnis. Er setzte die gerichtliche Anordnung von Haftprüfungsterminen aus, damit die betreffenden Personen nicht in die Freiheit zurückkehren konnten. Er schloss Zeitungen, erklärte Blockaden amerikanischer Häfen, nahm Staaten ohne die verfassungsmäßigen Prüfungsverfahren in die Union auf … Darüber wissen Sie natürlich Bescheid.« »Ich erinnere mich an den Geschichtsunterricht«, erwiderte Yocke trocken. »Einige Leute bezeichneten ihn als Diktator. König Lincoln.« 397
»Und er rettete die Union.« »Er rettete die verfassungsmäßige Regierung, dieses System aus Kontrolle und Balance. Er zwang das amerikanische Volk, seine Probleme im Kapitol zu lösen, nicht auf dem Schlachtfeld. Oh, ich weiß, viele Leute, die wir in den Kongress wählen, sind Arschlöcher erster Güte. Heilige gehen nicht in die Politik. Die Politiker argumentieren, schwadronieren und schließen Kompromisse – genau darin besteht ihre Aufgabe. Manchen Dingen weichen sie aus, und nichts wird auf Dauer gelöst. Anschließend gehen sie heim und stellen sich dem Urteil der Wähler. Das ist unser System, und es ist ein verdammt gutes. Es ist das System, von dem Lincoln meinte, es müsste um jeden Preis geschützt werden. Ich garantiere Ihnen: Wenn Lincoln sich damals ans Gesetz gehalten und den Auseinanderfall der Republik zugelassen hätte, wären wir alle heute viel schlechter dran.« »Wir befinden uns nicht in einem Bürgerkrieg.« »Wir sind im Krieg gegen Leute, die Amerika vernichten möchten. Die beste Möglichkeit besteht darin, die Regierung anzugreifen und sie daran zu hindern, die Bürger des Landes zu schützen. Und jede Regierung, die ihre Bürger nicht beschützen kann, verliert ihre Legitimität. Unsere Feinde greifen nicht mit einer konventionellen Streitmacht an, weil sie keine haben. Aber es ist trotzdem ein Krieg, ein Krieg bis auf den letzten Mann, ein Krieg bis aufs Messer.« »Wenn die Regierung zu einer Diktatur wird, um sich zu schützen, so ist sie nicht mehr die Regierung, die sich die meisten Amerikaner wünschen«, wandte Yocke ein. »Genau. Das war Lincolns Dilemma, und wir stehen vor dem gleichen Problem.« »Wenn Sie die Regierung für berechtigt halten, alle notwendigen Maßnahmen hinter dem Schleier der Geheimhaltung zu ergreifen, so irren Sie sich. Lincoln handelte ganz offen. Das ist 398
der Unterschied. Niemand gab dem Präsidenten, Ihnen oder sonst jemandem ein Mandat, das Gesetz zu brechen.« Jake Grafton dachte nach, bevor er antwortete. »Als junger Mann habe ich geschworen, die Verfassung der Vereinigten Staaten gegen alle Feinde zu verteidigen, äußere und innere, und den Befehlen meiner Vorgesetzten zu gehorchen. Genau das mache ich. Nicht mehr und nicht weniger.« Er deutete in Richtung Kapitol. »Wenn wir diesen Krieg verlieren, wird das Gebäude dort drüben zu einer Ruine, wie das Forum in Rom oder der Parthenon in Athen.« »Vielleicht folgt dann ein besseres System.« »Unsinn. Jede von der Regierung getroffene Entscheidung erfordert ein Ausbalancieren gegensätzlicher Interessen. Stadträte, Bezirksverwaltungen, gesetzgebende Körperschaften, der Kongress – überall finden solche Balanceakte statt. Steuern, Budgets, Schulen, Straßen, Wohlfahrt, Sozialhilfe, Strafrecht, die Umwelt – überall müssen unterschiedliche Interessen ausgeglichen und Kompromisse geschlossen werden. Die Menschheit hat alle erdenklichen Methoden für das Treffen solcher Entscheidungen ausprobiert: Stammeshäuptlinge, Kriegsherrn, Könige, Diktatoren, Oligarchien … Unser System heißt Demokratie, und bisher hat man nichts Besseres entdeckt. Die Demokratie ist ineffizient und führt immer wieder zu einem Durcheinander, aber ohne sie steht uns ein neues dunkles Zeitalter bevor. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber die Leute im Kapitol sind die einzigen Menschen auf diesem Planeten, denen ich meine Freiheit anvertraue, im Rahmen der Verfassung der Vereinigten Staaten. Ich möchte, dass sie dort Politik treiben, was bedeutet, dass sie sich gegenseitig unter Druck setzen, die Wähler und sich selbst belügen und die verschiedenen Schattierungen von Grau messen. Ich möchte, dass der Präsident der Vereinigten Staaten versucht, alles unter einen Hut zu bringen. 399
Ich möchte, dass ihn das Oberste Gericht dabei beobachtet. Ich möchte, dass die Presse alle im Auge behält. Ich möchte das für mich, meine Tochter, ihre Kinder und alle zukünftigen Amerikaner.« Yocke wirkte skeptisch. »Die Geschichte zeigt uns ziemlich schlechte Beispiele für Leute, die versucht haben, die Welt zu retten. Es besteht die Gefahr, dass Sie zerstören, was Sie zu bewahren versuchen.« Jake seufzte. »Ich weiß nicht, warum ich hier sitze und mit einem Mann der Worte diskutiere. Sie haben Recht, absolut Recht. Was ich Ihnen verspreche, ist dies: Was die Regierung derzeit unternimmt, wird eines Tages ans Licht kommen. Jedes Geheimnis wird letztendlich enthüllt. Wenn jener Tag kommt, werden die Bürger der Republik darüber befinden, ob die Gefahr die eingesetzten Mittel rechtfertigte, ob Macht missbraucht und das Gesetz entstellt wurde. Wir müssen Vertrauen zu unseren gewählten Repräsentanten haben und geduldig warten.« »Für einen Mann der Tat reden Sie verdammt raffiniert«, sagte Jack Yocke. »Ich hoffe bei Gott, dass Sie wissen, was Sie tun.« »Das hoffe ich ebenfalls, Jack.« An jenem Abend, nachdem Yocke den Admiral zu Hause abgesetzt hatte, kam es für Jake und Callie zu einem privaten Moment. Davon gab es in diesem Frühjahr nur sehr wenige. »Was geht vor, Jake?« »Jemand hat Yocke etwas gesagt, und ich möchte nicht, dass er diese Information in der Zeitung veröffentlicht.« »Hat er sich bereit erklärt, auf deine Wünsche einzugehen?« »Nicht direkt. Aber ich glaube, er wird kooperieren.« Jake seufzte und strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich bin völlig erledigt. Ich glaube, ich haue mich jetzt in die 400
Falle.« »In letzter Zeit bekommst du nicht viel Schlaf.« »Die Zeit wird knapp, Callie. Und ich weiß nicht, was ich dagegen unternehmen soll. Wir alle brauchen eine Atempause, aber wir können uns keine leisten.« Am Morgen des sechsten Tages in der Homestead beschloss Tommy Carmellini, sich der finanziellen Realität zu stellen. Er rief Jake Grafton an, und der Admiral nahm beim ersten Klingeln ab. »Wie weit ist das FBI mit der neuen Identität für Anna?« »Man arbeitet daran, wurde mir mitgeteilt«, erwiderte Grafton. »Ist bei Ihnen alles in Ordnung?« »Bisher habe ich niemanden erschossen.« Carmellini erklärte die Sache mit dem Geld. »Wir zahlen Ihnen den üblichen Reisetagessatz«, sagte Jake. »Fahren Sie weder zu sich nach Hause noch zu mir – die Wohnungen könnten überwacht werden. Sie könnten in meinem Haus am Strand unterkommen, aber dort ergibt sich das gleiche Problem.« »Mhm. Was unternehmen wir in Hinsicht auf den Mistkerl in Ägypten?« »Wir arbeiten daran. Es dauert eine Weile, bis die Frucht reift.« »Toll.« »Bleiben Sie in Kontakt.« Beim Empfang bat Carmellini um die Rechnung, rechnete schnell und schluckte. Es wurde Zeit, den Ort zu wechseln. Anna und er packten ihre Sachen, legten sie in den Kofferraum des Mercedes und fuhren nach Virginia Beach. Sie sprachen viel miteinander. Während der Fahrt berichtete 401
Anna von ihrer Kindheit in Russland, von ihren Eltern und den Geschichten, die sie über Stalin und den großen Schrecken erzählt hatten. Sie schilderte ihre Schulzeit und die Arbeit in der Schweiz und in Kairo. Tommy Carmellini sagte Anna die Wahrheit über sich. Sie war die erste und einzige Frau, der er jemals seine Vorliebe eingestanden hatte, verbotene Orte aufzusuchen. Er beschrieb die prickelnde Aufregung, Einbrüche zu planen, zu stehlen und das Diebesgut an Hehler zu verkaufen. Ganz offen sagte er, was er von seinem derzeitigen Job, Jake Grafton und den anderen Leuten hielt, die sein Leben bestimmten. Er erzählte Anna alles, ließ nur die geheimen Dinge unerwähnt. Von diesen Themen hielt er sich fern, und wenn das nicht möglich war, wählte er vage Formulierungen. Anna schien das zu verstehen. An jenem Abend mieteten sie ein kleines Apartment am nördlichen Ende des Strands. Die Saison hatte noch nicht begonnen – der Frühlingswind war noch sehr frisch und das Wasser kalt –, und deshalb war der Preis in Ordnung und der Strand relativ leer. Tommy Carmellini und Anna Modin schlenderten über den Strand, fühlten den kalten Wind im Haar und den Sand zwischen den Zehen und beobachteten, wie Möwen nach Nahrung suchten. Dann und wann begegneten sie jemandem, der mit einem Hund joggte. Am Horizont sah Carmellini Schiffe, auf dem Weg von und zur Chesapeake Bay, deren Mündung sich nur einige Kilometer weiter nördlich befand. Der Anblick der Schiffe erinnerte Carmellini an die Atomwaffen, und der Gedanke daran ließ ihn schaudern. Er fragte sich, ob Grafton sie inzwischen gefunden hatte. Das war natürlich etwas, über das sie nicht am Telefon sprechen konnten, und außerdem brauchte Carmellini nicht darüber Bescheid zu wissen. Arbeitete Anna für den SVR? 402
Sie stritt es ab. Sagte sie die Wahrheit? Als er stehen blieb, schmiegte sie sich an ihn, den einen Arm um seine Taille geschlungen, und legte ihm den Kopf an die Brust. Er roch das Salz in ihrem Haar, fühlte Strähnen an den Wangen und die sinnliche Wärme und Festigkeit ihres Körpers. Ob SVR oder nicht, er liebte sie. Er hatte sie jetzt, aber für wie lange? Verärgert versuchte er, diesen Gedanken zu vertreiben. Er hatte immer für den Moment gelebt und es abgelehnt, darüber nachzudenken, was der nächste Tag bringen würde. Jetzt begann er plötzlich damit, sich um die Zukunft zu sorgen. Das stellt die Liebe mit einem an, dachte er. Sie ist heimtückisch. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis ich an Heirat denke, an ein kleines Haus auf einem briefmarkengroßen Grundstück in einer Wohngegend von Virginia, an Möbel auf Kredit, Urlaubspläne, sonntägliche Ausflüge aufs Land … morgens zur Arbeit in die Stadt, abends zurück, die übliche Routine … Lieber Himmel! Führte das Leben schließlich dorthin? Zum Stopand-go-Verkehr auf der ewigen Reise zum und vom Büro? Passierte so etwas, wenn man sich ganz ehrlich und wahrhaft bis über beide Ohren verliebte? »Ich liebe dich«, flüsterte er Anna ins Ohr. »Ich liebe dich auch, Tommy Carmellini«, erwiderte sie und schlang den Arm fester um ihn. Wenn man es genau nahm … Die Vorstellung, mit Anna Modin in einem Reihenhaus in irgendeinem Vorort zu wohnen, erschien ihm gar nicht so schlecht. Am Tisch saßen ein Wissenschaftler von den Sandia National Laboratories in San Diego, drei Elektroingenieure, zwei Physiker und ein Vizepräsident von Baltimore Electric, der Philosophie studiert hatte – genug Intelligenz, um ein neues Manhattan403
Projekt zu beginnen, fand Jake. Dieser hehren Gruppe leisteten Gesellschaft: Jake Grafton, Hauptfach Geschichte, und Sal Molina, politischer Taktierer und Profi-Insider. Die Spezialisten galten als uneingeschränkt vertrauenswürdig und hatten die CIA oft bei technischen und wissenschaftlichen Angelegenheiten beraten. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie nichts von dem verlauten ließen, das sie hier erfuhren. Trotzdem: Jake Grafton hielt das Geheimnis für zu heiß. Früher oder später würde etwas herauskommen. Jemand würde reden. Vielleicht Butch Lanham, vielleicht jemand von Corrigan Engineering … Die Zeit wurde knapp. Jake spürte, wie sie ihm zwischen den Fingern zerrann, und mit jedem verstreichenden Tag wuchs seine Gereiztheit. Wenn er zu schlafen versuchte, suchten ihn Albträume heim, in denen er gejagt wurde und nicht entkommen konnte – die Monstren befanden sich direkt hinter ihm. Er versuchte, die Ungeheuer zu vergessen und sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Nach einer Stunde sagte der Vizepräsident und Doktor der Philosophie: »Also schön. Wir unterbrechen die Antennenverbindungen und elektrischen Kabel der Waffen. Dann können sie bis zum Jüngsten Tag dort liegen bleiben.« Keine besonders gute Wortwahl. Darauf wiesen die Gesichter aller Anwesenden hin. »Ist das sicher?«, fragte Sal Molina einmal mehr. Sicherheit war sein Mantra. Er wollte von all diesen Personen mit Blut unterschriebene Gelübde, dass die Bomben nicht explodierten, wenn die Stromversorgung unterbrochen wurde. »Natürlich ist es sicher«, entgegnete einer der Spezialisten. »Das haben wir doch schon alles durchgekaut. Unterbrechungen der Stromversorgung sind selten, aber unvermeidlich. Wenn alles so präpariert ist, dass ein Spannungsverlust zur Explosion führt, wären die Dinger längst hochgegangen.« 404
»Und wenn die Waffen mit Batterien ausgestattet sind, die die Stromversorgung bei einem Netzausfall übernehmen? Sie könnten die Spannung eine Zeit lang halten und eine Explosion auslösen, bevor sich ihre Ladung ganz erschöpft. Ist das möglich?« Die Waffenleute hielten nicht viel von diesem Szenario. Es gab viele verschiedene Ursachen, die einen Netzausfall bewirken konnten, und es nützte niemandem etwas, wenn die Stadt einige Tage später ausgelöscht wurde. Der Mann des Präsidenten fühlte sich ganz offensichtlich nicht wohl in seiner Haut. Auch er sieht, wie der Sand der Zeit durchs Glas rinnt, dachte Jake. Er beobachtete, wie Molina ganz bewusst versuchte, an seiner legendären kühlen Ruhe festzuhalten. Als er glaubte, sich wieder unter Kontrolle zu haben, sah er Jake an. »Was meinen Sie, Admiral?« »Ich bin dafür. Wir trennen die Kabel- und Antennenverbindungen und graben die Dinger aus, wenn die EPA damit einverstanden ist.« Die Wissenschaftler reagierten mit höflichem Lachen auf diesen Versuch von Humor. Sal Molina erklärte die Beratung für beendet. Als die Spezialisten hinausgingen, blieb er am Tisch sitzen und bedeutete Jake, ebenfalls zu bleiben. Als die beiden Männer allein waren, kam Jake Molina zuvor und sagte: »Tarkington hat mich vor zwei Stunden aus Boston angerufen. Auch dort gibt es eine Bombe, in der Aufschüttung für den neuen Hafentunnel, der dort durch die Stadt gegraben wird. Sie ist mit einem nahen Bürogebäude verbunden.« »Um Himmels willen! Wie zum Teufel konnte man so etwas direkt vor unserer Nase anstellen?« »Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, alle Baufirmen zu überprüfen. Wir lassen das FBI auf sie los, wenn wir glauben, alle Bomben gefunden und unschädlich gemacht zu haben.« 405
Molina musterte Grafton ernst. »Wo sind die CorriganDetektoren? Bisher habe ich nur Versprechungen gehört.« »Corrigan liegt weit hinter dem Zeitplan zurück. Wir haben genau zwei Detektoren. Und nach dem, was mir zu Ohren gekommen ist, können wir froh sein, sie zu haben. Corrigan wollte die Apparate woanders herstellen lassen. Das hat nicht geklappt, und jetzt lässt er die Dinger von Hand anfertigen. Ich weiß nicht, was er dem Präsidenten erzählt …« »Hat alles schöngeredet«, brummte Molina verärgert. »Corrigans Techniker haben mir mitgeteilt, dass sie sich alle Mühe geben. Wir bekommen die Detektoren, sobald sie fertig sind. Nicht eher.« Molina schnaubte. »Keine Detektoren! Vergrabene Bomben! Der Präsident fragt bestimmt, auf wie vielen von den Dingern wir herumlaufen. Was schätzen Sie?« Jake schüttelte den Kopf. »Ich will lieber nicht schätzen.« »Sieht ganz danach aus, als hätten wir uns mit Star Wars selbst überlistet, wie?« »Ja«, sagte Jake Grafton. »Danach sieht es aus.« Als Harley Bennett die Atombombe in der Aufschüttung für den neuen Hafentunnel in Boston fand, gelangte Sonny Tran zu dem Schluss, dass er im Dunkeln tappte. Die vier vom Schwert des Islam gekauften russischen Bomben sollten die Vereinigten Staaten in zwei Tagen an Bord von Schiffen erreichen … aber es gab nukleare Sprengköpfe in jeder großen Ostküstenstadt, die das Team bisher besucht hatte, in Washington, New York und Boston. Vielleicht gab es solche Bomben auch in Philadelphia, Chicago, San Francisco und Los Angeles, möglicherweise auch in Miami, Atlanta und Seattle. Welche Städte kamen noch infrage? St. Louis, Kansas City, Dallas, Houston … 406
Hatte Corrigan von den vergrabenen Bomben gewusst, als er der Regierung seine Detektoren verkaufte? Wenn er von ihrer Existenz wusste, wieso hatte er dann den Bombenkauf durch das Schwert des Islam finanziert? Oder war die Entdeckung der vergrabenen Sprengköpfe reines Glück von der Art, die Corrigan zum beliebtesten Industriellen in Amerika machen und den Kongress veranlassen würde, ihn mit einer Medaille auszuzeichnen? Sonny glaubte, dass seine Informationen nicht ausreichten, um die Situation richtig zu beurteilen, und deshalb gab er es auf. Wichtig war die Bombe, die Nguyen in Florida stehlen wollte. Sonny bedauerte, nicht zu wissen, was das FBI über die auf die Bomben wartenden Zellen herausgefunden hatte. Darüber wussten nur die Personen Bescheid, die zu Graftons innerem Kreis gehörten, und bisher war es ihm nicht gelungen, sich Zugang zu verschaffen. Er saß hier, in einem Lieferwagen, der durch Boston fuhr. Alles hing von Nguyen ab. Wenn er erfolgreich war, hatten sie eine Chance. Wenn nicht … Sonny atmete tief durch und dachte erneut an die Situation. Sein Pager meldete sich. Er nahm ihn vom Gürtel und sah auf die Anzeige. Karl Glück. Nguyen Duc Tran saß in der letzten Nische im hinteren Teil eines Lokals und beobachtete die Tür, als Red Citrix hereinkam. Nur fünf andere Personen waren zugegen, drei drahtige Männer in schmutzigen Jeans und T-Shirts und zwei ebenso ungepflegt wirkende Frauen. Sie tranken Bier an der Theke, rauchten und sprachen gelegentlich, während der Fernseher hinter der Theke ein Basketballspiel zeigte. Red schenkte den anderen Gästen keine Beachtung, nickte dem Barkeeper zu, betrat Nguyens Nische und nahm Platz. 407
»Hallo«, sagte Red. »Hallo.« »Was darf’s sein?«, rief der Barkeeper. »Ein Bud«, sagte Red laut. Sein dünnes Haar war weiß, die Haut rötlich und gefleckt. Die Hände zitterten ein wenig, als wäre er vor nicht allzu langer Zeit schwer krank gewesen. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie wirklich hier aufkreuzen«, sagte Red leise zu Nguyen. »He, ich habe alles geplant. Es gibt Geld zu verdienen.« »Die verdammte Bundespolizei dreht jeden Stein auf der Suche nach Terroristen um. Mann, ich schaue jeden Abend unter dem Bett nach, um festzustellen, ob vielleicht ein FBI-Bursche drunterliegt. Viele Jungs haben beschlossen, Urlaub zu nehmen, bis sich die Dinge abkühlen.« »Es gibt Geld zu verdienen«, wiederholte Nguyen Duc Tran und zündete sich eine Zigarette an. Red Citrix arbeitete für einen Spediteur. Er war der Mann mit den Frachtlisten, der Container durch den Zoll brachte, den Importzoll bezahlte und die Stahlbehälter auf die Reise schickte. Nguyen hatte bereits zweimal mit ihm Geschäfte gemacht und Citrix jedes Mal zehntausend Dollar dafür bezahlt, einen bestimmten Container umzuleiten. Darin befanden sich in Europa produzierte Waren, die Nguyen an einen Hehler verscherbelte, aber er ließ Citrix in dem Glauben, dass die Container Rauschgift enthielten. Ein Dieb war nichts Besonderes, aber Dealer galten in Südflorida als sehr gefährliche Leute. Ihnen in die Quere zu kommen, konnte sich sehr schädlich auf die Gesundheit auswirken. »Ich will Ihnen nicht ins Geschäft reinreden«, sagte Red Citrix. »Aber da ich Sie mag, möchte ich Ihnen eine freundliche Warnung geben. Es gibt einige schwere Jungs, die verdammt sauer sein werden, wenn sie herausfinden, dass Sie in 408
ihrem Revier Geschäfte machen.« »Wie sollten sie das herausfinden?« »Keine Ahnung.« Red Citrix schwieg, als der Barkeeper sein Bier brachte und dann wieder zur Theke ging. »Wir sind Geschäftsleute«, sagte Nguyen leichthin und stieß den Rauch seiner Zigarette aus. »Wir hatten bereits geschäftlich miteinander zu tun, und wahrscheinlich wird das in Zukunft erneut der Fall sein. Meine Mitarbeiter kennen die Vereinbarung.« Er zuckte mit den Schultern. »Es hat Leute gegeben, die versucht haben, uns Schwierigkeiten zu machen. He, Mann, Sie wissen, wie das ist: Wenn man sein Geschäft nicht schützt, hat man keins.« Nguyen war sicher, dass Red ihn sofort verraten würde, wenn ihm das etwas einbrachte und er keine Konsequenzen zu befürchten brauchte. Er wollte sicherstellen, dass der Bursche gar nicht erst auf einen solchen Gedanken kam. »Ich will niemanden in Schwierigkeiten bringen«, sagte Red mit Nachdruck und trank einen Schluck Bier. »Deshalb lebe ich noch. Dies ist ein verdammt gefährlicher Ort, vergessen Sie das nicht.« »Auf dem Boden steht eine Sporttasche. Das Geld ist darin.« »In Ordnung.« »Nehmen Sie die Tasche, gehen Sie damit auf die Toilette und zählen Sie das Geld. Ich möchte, dass Sie so glücklich sind wie ein Schwein im Schlamm, wenn ich dieses Lokal verlasse.« Red trank noch einen Schluck, nahm die Tasche und ging auf die Toilette. Vier Minuten später kehrte er zurück und lächelte. Er stellte die Tasche auf den Boden, nahm einen großen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Es ist alles da«, sagte er und lächelte erneut. »Viel Geld«, sagte Nguyen mit ausdruckslosem Gesicht. 409
»Beschreiben Sie mir die Situation im Hafen.« Red Citrix stützte die Arme auf den Tisch. »Es wimmelt von FBI-Agenten. Sind mit Geigerzählern ausgerüstet und nehmen dauernd irgendwelche verdammten Messungen vor. Es werden sogar Schiffe durchsucht, bevor sie in den Hafen einlaufen. Im Hafen wird jedes Schiff noch vor dem Anlegen kontrolliert. Überall treiben sich Beamte vom Zoll und von der Küstenwache herum.« Er sprach fünf Minuten lang, nannte Einzelheiten und wies darauf, was durchsucht wurde und was nicht. Nguyen hörte aufmerksam zu. Als Citrix schließlich schwieg, legte Nguyen einen Arm auf den Tisch und sagte: »Ich dachte, man benutzt Geigerzähler, um Uran und dergleichen zu finden.« »Ja. Wir glauben, sie suchen nach Bomben. Die Burschen geben natürlich nichts zu, aber die Geigerzähler bieten einen deutlichen Hinweis. Sie suchen nicht nach Rauschgift, haben nicht einmal die auf Dope abgerichteten Hunde dabei – ich kenne jeden Einzelnen dieser Köter. Dies sind neue Hunde, Bombenschnüffler, denke ich. Solange ihr Jungs nichts hinausposaunt, dürften sich keine Probleme für euch ergeben.« »Das hoffe ich«, sagte Nguyen mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. »Wir beide haben eine Abmachung. Dies ist ein Geschäft.« »Sie wiederholen sich«, brummte Red und sah durch den Rauch seiner Zigarette zu dem Mann auf der anderen Seite des Tisches. »Wie ich schon sagte, es wimmelt im Hafen von FBIAgenten. Hinzu kommen Zoll, Küstenwache und sogar Soldaten von der Army. Sie alle suchen nach Bomben und Waffen und so. Dies ist eine schlechte Zeit. Vielleicht wird Ihr Container geöffnet. Ich habe null Einfluss darauf. Wenn sie ihn öffnen, ist die Sache hinüber. Mir kann man nichts anhängen, und Ihnen ebenfalls nicht. Wir sind sauber. Das Leben geht weiter. Morgen ist ein neuer Tag. Behalten Sie Ihre Moneten, wenn 410
Sie damit nicht leben können.« »Versuchen Sie nicht, mich reinzulegen.« »He, Mann, ich bin ehrlich. Deshalb machen die Leute Geschäfte mit mir. Seit fast zehn Jahren helfe ich gewissen Typen dabei, Sachen ins Land zu schaffen. Gelegentlich öffnet der Zoll einen Container – es ist Ihr Risiko, nicht meins. Ich tue das, wofür Sie mich bezahlen. Ich werde in sechs Monaten noch hier sein, und nächstes Jahr, und übernächstes Jahr. Ich gehe nicht weg, weil ich gar nicht wüsste, wohin ich gehen sollte.« Nguyen holte einen Umschlag hervor und schob ihn über den Tisch. Auf dem Blatt Papier darin standen die Nummer des Containers, Spediteur, Konsignatar und die Adresse, wohin der Container geliefert werden sollte. Er hatte die Zahlen und Worte aus einer Zeitung ausgeschnitten und dabei Handschuhe getragen. Red Citrix öffnete den Umschlag, nahm das Blatt Papier heraus und betrachtete es. »Was befindet sich in dem Container?« »Büromöbel.« »Für Corrigan Engineering?« »Ja.« »In Ordnung«, sagte Red und steckte das Blatt ein. Den Umschlag gab er Nguyen zurück. »Wir müssen über uns reden«, sagte Tommy Carmellini zu Anna Modin, als sie Hand in Hand im Regen über einen leeren Strand wanderten. Ein rauer, nicht zu kalter Wind zerrte an ihren Hosenbeinen und den Windjacken, während die Wolken schnell über den Himmel zogen, auf dem Weg hinaus übers Meer. Selbst die Möwen hatten es an diesem Tag schwer. Wenn sie nicht im nassen Sand nach Nahrung pickten, hatten sie ihren Kopf dem Wind zugewandt. Sie hatten die Windjacken am Morgen in einem Strandladen 411
gekauft und probierten sie jetzt aus. Anna rückte ihre Kapuze zurecht, damit sie Tommy sehen konnte und trotzdem vor den Regentropfen geschützt blieb. Eine feuchte Haarsträhne zeigte sich an der Wange. »Die Spionageangelegenheit besorgt dich, nicht wahr?« »Ach, das ist keine große Sache«, sagte er. Nach einem Blick in ihr Gesicht gab er zu: »Ja, sie besorgt mich ein wenig.« »Das dachte ich mir. Du denkst: Sie hat gesagt, dass sie nicht für den SVR arbeitet, aber ist das die Wahrheit oder gelogen? Und es gibt keine Möglichkeit für dich, sicher zu sein. Vollkommen sicher, meine ich. Stimmt’s?« »Ja.« »Du musst Vertrauen haben. Wenn es dir wichtig ist.« »Um ganz ehrlich zu sein: Es ist mir wichtig.« »Warum?« »Es ist eben so.« »Kannst du den Grund dafür erklären?« Carmellini dachte nach, während sie weitergingen. »Die Liebe zählt zu den bedeutenden Dingen im Leben, und es gibt noch andere. Ich bin Amerikaner. Es ist nicht cool, so etwas zu sagen, aber ich liebe mein Land. Ich habe nicht immer jedes Komma und jeden Punkt im Gesetzbuch beachtet, aber mir liegt etwas an diesen Leuten. Weiß, schwarz, braun, gelb, welche Hautfarbe auch immer, dies ist mein Volk. Wir sitzen alle im selben Boot.« »Es gibt also Dinge in deinem Leben, die wichtiger sind als Liebe?« »Ebenso wichtig«, sagte Carmellini. »Ich glaube, das ist fair ausgedrückt. Wenn du eine Spionin wärst, die Geheimnisse stiehlt oder amerikanische Bürger korrumpiert … Es würde eine Rolle für mich spielen.« Anna schlang ihm den Arm um die Taille und passte ihre 412
Schritte den seinen an. »Ich fühle ebenso wie du«, sagte sie. »Ich bin Russin. Ich arbeite nicht für den SVR – ich bin nie für ihn tätig gewesen –, sondern mit und für einen Mann, der gegen das Böse kämpft. Und davon gibt es jede Menge auf der Welt. Du kennst bereits seinen Namen, der ein wohl gehütetes Geheimnis ist: Janas Ilin. Ilin gehört zum SVR und bekleidet einen hohen Rang, aber er nimmt nicht die Interessen dieser Organisation wahr, was praktisch auf kriminelle Verschwörung hinausläuft. Der Vorgänger des SVR, der KGB, hatte vor allem die Aufgabe, die kommunistische Partei an der Macht zu halten. Der entsprechende Apparat existiert nach wie vor in Russland, mit vielen der gleichen Personen, und wie immer fungiert er als starker rechter Arm der herrschenden Oligarchie. Die Aristokraten haben der kommunistischen Ideologie angeblich abgeschworen. Kein Unsinn mehr über Helden der Arbeit und sozialistische Persönlichkeiten. Ansonsten hat sich nur wenig geändert. Immer haben Könige, Diktatoren und kleine Oligarchien über Russland geherrscht, so lange wie es die Geschichtsschreibung gibt. Immer hat es eine Geheimpolizei gegeben, um die Massen zu kontrollieren und zu manipulieren, um die organisierte Opposition durcheinander zu bringen und zu zerstören, die Gesellschafts- und Machtstruktur zu erhalten. Ilin hat kein Budget, keine technischen Spielereien, keine Chefs. Er ist nur seinem eigenen Gewissen verpflichtet. Ich bin seine Armee. Ich, Anna Modin. Wahrscheinlich gibt es noch andere – ich kenne sie nicht, und ich möchte auch nichts von ihnen wissen. Namen, die ich nicht weiß, kann ich auch nicht verraten, nicht einmal unabsichtlich. Ich habe nur einen anderen von Ilins Soldaten kennen gelernt, Nooreem Habib, und sie wurde umgebracht. Sie opferte ihr Leben im Kampf gegen das Böse. Verstehst du?« »Ja.« »Ich dachte mir, dass du es verstehen würdest. Das ist einer 413
der Gründe, warum ich dich liebe. Du bist der erste Mann, den ich kenne, der solche Dinge versteht. Die meisten Männer wollen den Körper einer Frau für Sex und ihr Ansehen, um das eigene zu verbessern. Sie möchten, dass man ihnen applaudiert, während sie Macht ausüben und damit Geld sammeln. So ist es in Russland, Europa und Ägypten. Ist es hier ebenso?« »Das glauben viele Frauen«, räumte Carmellini ein. Modin nickte. »Du hast zwar gestohlen, aber Geld ist kein Gott, dem du dienst.« »Nein, ich glaube nicht«, murmelte Tommy Carmellini. »Zumindest habe ich nicht viel davon.« »Und du hast auch keine Macht.« Er schüttelte den Kopf, obgleich Anna das gar nicht sehen konnte, weil sie auf den Sand hinabblickte. »Sex macht dir Spaß, aber praktisch jede Frau käme dafür infrage, und du scheinst keinen Harem zu haben.« Carmellini räusperte sich. Um der Wahrheit willen hätte er vielleicht darauf hinweisen sollen, dass ein- oder zweimal Bumsen pro Woche auf seiner Prioritätenliste ziemlich weit oben stand. Im Lauf der Jahre war er mit vielen Frauen ins Bett gegangen; er mochte weibliche Gesellschaft. Die schlichte Wahrheit lautete: Ihm gefielen Frauen. Ihm gefiel alles an ihnen, nicht zuletzt ihr Körper. Er wollte entsprechende Worte an Anna richten, aber sie sprach weiter. »Du scheinst eine gute Vorstellung von dir selbst zu haben«, fuhr sie fort. »Du bist weder pragmatisch noch ein Aufschneider. Du hörst zu, im Gegensatz zu vielen anderen Männern, und du zeigst echtes Interesse an anderen Menschen. Ich mag dich sehr, Tommy Carmellini. Und ich liebe dich. Das ist ein Unterschied, wie du weißt.« Er wollte das Gespräch nicht in diese Richtung fortsetzen. Nach einigen Schritten blieb er stehen und wandte sich Anna 414
zu. »Sind das alles Hinweise darauf, warum du mich nicht heiraten willst?« »Ich habe gehofft, dass du nicht fragst. Dann müsste ich nicht nein sagen.« Sie hatte Tränen in den Augen, und da begriff Carmellini, dass sie die Wahrheit sagte – sie war keine Spionin. Er küsste sie sanft auf die Lippen, beide Augen und die Nasenspitze, schlang ihr dann den Arm um die Schultern und führte sie weiter, während der Regen gegen ihre nackten Beine und Füße prasselte. Ihre Füße hinterließen kleine Mulden im harten Sand.
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19 Die Evening Star der Star Transport Corporation wurde fünfzig Seemeilen vor Floridas Küste von einem Hubschrauber der Küstenwache abgefangen. Sie war ein großes, modernes Containerschiff mit einer Wasserverdrängung von sechzigtausend Tonnen. Der Helikopter schwebte über dem Schiff, und Seilwinden brachten vier Inspektoren aufs Deck. Die Ausrüstung folgte, und anschließend flog der Hubschrauber zur Küste, um aufzutanken, während die Gruppe das Schiff inspizierte. Mit Geigerzählern an Schulterriemen überprüften die Inspektoren alle Containergruppen. Sie suchten die Frachträume auf, den Maschinenraum, die Quartiere der Besatzungsmitglieder, Kombüse und Toiletten, die Büros, Bug und Heck – sie kontrollierten alles. Crewmitglieder und Offiziere halfen ihnen dabei, öffneten und schlossen Luken, schalteten Licht ein und aus, holten Ladungsverzeichnisse und andere Unterlagen, beantworteten Fragen. Der Leiter des Inspektorenteams blieb per Funk in Kontakt mit dem Hauptquartier der Küstenwache und dem Piloten des Hubschraubers, solange er in Reichweite war. Er benutzte ein mobiles Funkgerät und ein Satellitentelefon. Kein Geigerzähler maß mehr als die normale Hintergrundstrahlung. Das Team hatte keinen Container geöffnet; einige von ihnen steckten so tief in den Stapeln, dass die Inspektoren nicht an sie herankamen. Beim Entladen in Port Everglades sollte jeder einzelne Container überprüft werden. Zwei Stunden nachdem die Inspektoren an Bord gekommen waren, holte die Seilwinde sie in den Hubschrauber zurück, der sie zu einem anderen, fünf Seemeilen entfernten Schiff flog. Die Evening Star beschleunigte auf fünfzehn Knoten und setzte die Fahrt nach Port Everglades fort. 416
Die Sonne war hinter den Horizont gesunken, als die Evening Star unweit der Hafeneinfahrt vor Anker ging. Am nächsten Morgen kam eine andere Inspektorengruppe an Bord. Vierundzwanzig Stunden später legte das Schiff an einem Pier an, und riesige Kräne begannen damit, die Fracht zu entladen. Weitere Inspektoren waren zugegen und richteten Geigerzähler auf jeden Container. Die Frachtbehälter wurden sortiert und für die Zollkontrolle aufeinander gestapelt. Bei dieser Gelegenheit sah Red Citrix zum ersten Mal den Container, dessen Nummer Nguyen Duc Tran ihm gegeben hatte. Zu seinen Unterlagen gehörte ein mit mehrfachen Kopien ausgestattetes Ladungsverzeichnis, das er vorbereitet hatte. Es gab Auskunft über Verschiffer, die Fracht im Container, Konsignatar und den Bestimmungsort. Das Verzeichnis sah genauso aus wie die anderen von Computern erstellten Listen. Ein Soldat in Kampfanzug führte einen Bombenhund zum Container, ging langsam um den Behälter herum und kontrollierte ihn mit einem Geigerzähler. Ein Zollbeamter sah sich das Ladungsverzeichnis an, überprüfte die Nummer auf dem Container und schrieb aufs Formular: »Zollfrei«. »In Ordnung«, sagte er, nahm eine Kopie und gab die anderen Red zurück. So einfach war es. Red wusste nicht, dass der Container eine der vier Bomben enthielt, die General Petrow an Faruk Al-Zuair verkauft hatte. Die ursprüngliche Ladeliste, die inzwischen nicht mehr existierte, hätte dafür gesorgt, dass der Container zum Zitrusfrüchtelager geliefert worden wäre, in dem Mohammed Mohammed und seine Freunde arbeiteten. Die Krieger vom Schwert des Islam hatten nicht mit der Möglichkeit gerechnet, dass einer der Sprengköpfe gestohlen 417
werden könnte. Sie hielten es für wahrscheinlich, dass die Amerikaner einen oder mehrere Container überprüfen und dabei die Bomben entdecken könnten. Deshalb kamen die Sprengköpfe durch vier verschiedene Häfen ins Land und waren zu vier verschiedenen Empfängern unterwegs. Red Citrix war nicht die einzige Person in Port Everglades, die auf den angeblich mit Büromöbeln gefüllten Container der Evening Star achtete. Mahfuz Saleh verbrachte seine Arbeitstage damit, Daten in den Computer einzugeben und die ContainerDatenbanken auf dem neuesten Stand zu halten. Seit Wochen wartete er auf diesen bestimmten Container. Als er die Nummer sah, nahm er einen Zettel und überprüfte sie Ziffer für Ziffer. Plötzlich waren seine Hände feucht. Schuldbewusst sah er sich nach eventuellen Beobachtern um. Offenbar gab es keine. Er machte eine Pause, um auf die Toilette zu gehen. Er wusste nicht, was sich im Container befand oder warum er etwas Besonderes darstellte. Er wusste nur, dass der Behälter wichtig war. Immer wieder hatte er darüber nachgedacht, was er enthielt, und Waffen erschienen ihm am wahrscheinlichsten, vermutlich Gewehre, Munition und vielleicht auch Plastiksprengstoff. Mahfuz Saleh wollte nicht zu einem Märtyrer werden. Ihm gefiel das Leben und auch Amerika – er verdiente gutes Geld und schickte viel davon nach Hause, Geld, das die Familie dringend brauchte –, doch die Bande der Religion waren stark in ihm verankert. Vor einem Jahr war ein Mann in seiner Moschee an ihn herangetreten und hatte um seine Hilfe gebeten. Er war bereit gewesen und hatte Geld für einen Computer und Verschlüsselungssoftware bekommen, für die RSP-Software, deren Verbreitung die amerikanische Regierung seit Jahren zu verhindern versuchte. Das gelang ihr natürlich nicht, und so stand dieses mächtige Verschlüsselungstool im Namen der Pri418
vatsphäre Drogenkriminellen, Terroristen und Diktatoren der Dritten Welt zur Verfügung. Von Zeit zu Zeit empfing Saleh codierte Mitteilungen. Normalerweise benutzte er öffentliche Telefone, um die Nachrichten an die Gruppen weiterzugeben, für die sie bestimmt waren. Vor einigen Wochen hatte eine dieser Mitteilungen die Nummer des Containers und außerdem eine Telefonnummer enthalten, die er anrufen sollte, wenn der Frachtbehälter eintraf. »Prägen Sie sich Container- und Telefonnummer ein und löschen Sie die Mitteilung. Rufen Sie die Nummer von einem öffentlichen Fernsprecher aus an, wenn der Container eintrifft. Wischen Sie anschließend Ihre Fingerabdrücke von dem Telefon ab, damit niemand beweisen kann, dass Sie das Telefon benutzt haben.« Mahfuz Saleh hatte sich nicht genau an die Anweisungen gehalten. Er hatte den Zettel mit der Container- und Telefonnummer nicht vernichtet, weil er wusste, dass er die Nummern vergessen konnte und damit vor Allah und den heiligen Kriegern Schande über sich gebracht hätte. Er beabsichtigte auch nicht, ein öffentliches Telefon zu benutzen. In der letzten Woche hatte die Telefongesellschaft den letzten öffentlichen Fernsprecher entfernt, den an der Tankstelle einen Block von Salehs Büro entfernt. Inzwischen benutzten so viele Leute Handys, dass bei einem öffentlichen Anschluss die Einnahmen nicht mehr die Wartungskosten deckten. Als er durch den Flur zur Toilette ging, tastete Mahfuz Saleh nervös nach dem Handy in seiner Tasche. Die Toilette war leer. Er betrat die Kabine, holte den Zettel hervor, schaltete das Handy ein und wartete, bis die Verbindung mit dem Netz hergestellt war. Als das kleine Symbol auf dem Display Bereitschaft anzeigte, wählte er sorgfältig die Nummer, kontrollierte dabei Ziffer für Ziffer. Schließlich betätigte er die Sendetaste und hob das kleine Te419
lefon ans Ohr. Es klingelte einmal, zweimal, dreimal, viermal – was sollte er machen, wenn niemand antwortete? –, fünfmal, sechsmal … »Ja.« Dieses eine Wort auf Arabisch. »Er ist da«, sagte Mahfuz Saleh. »Allahu Akbar!«, proklamierte die Stimme, und dann wurde die Verbindung unterbrochen. Mohammed Mohammed stand mit dem Handy in der Hand da und war für einen Augenblick überwältigt. Der Container war eingetroffen! Der große Augenblick rückte näher! Er schob das Handy in die Tasche und machte sich auf die Suche nach Ali und Yussuf. Nach Naguibs Tod hatte sich Yussuf um den frei gewordenen Job im Lager beworben und ihn glücklicherweise bekommen. Patsy Smoot hatte gefragt, was aus dem großen Mann geworden war, und Mohammed hatte geantwortet, dass er bei anderen Freunden wohnte. Es waren keine Polizisten gekommen, um Mohammed, Ali oder Yussuf Fragen in Hinsicht auf Naguibs Tod zu stellen. Mohammed wusste nicht einmal, ob man die Leiche gefunden hatte. Nach dem Mord war er mehrere Tage sehr nervös gewesen, aber Naguib hatte sterben müssen, das wussten sie alle. Sogar Naguib selbst, redete sich Mohammed ein. Yussuf meinte, Allah schützte sie vor den Behörden. Mohammed fühlte Allahs Macht und begriff, dass es wahr sein musste. Noch drei Stunden bis Feierabend. Mohammed hielt es für zu gefährlich, früher zu gehen. Immer wieder sah er auf die Uhr, während er Kisten aufeinander stapelte und daran dachte, was nun bevorstand.
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Das FBI hätte den Anruf von Mahfuz Saleh bei Mohammed Mohammed eigentlich abhören müssen, denn es hatte die Genehmigung erhalten, Mohammeds Handynummer zu überwachen. Unglücklicherweise hatten die für die Überwachung von Handys und angezapften Festnetztelefonen zuständigen Agenten der Taskforce so viel zu tun, dass sie Mohammeds Nummer erst noch eingeben mussten. Es geschah etwas. Einige der siebzehn mutmaßlichen Zellen zeigten Anzeichen von Aktivität. Seltsame Telefongespräche zwischen zwei von ihnen waren mitgeschnitten worden. Beide Zellen hatten ihre Pensionen verlassen und waren auf dem Highway unterwegs. Ein Anruf aus Baltimore veranlasste eine weitere Zelle, mit einem zwei Jahre alten Blumenlieferwagen über die Interstate nach Norden zu fahren. Nach den ersten Telefonaten riefen zwei Zellen Mitglieder von anderen Zellen an. Es dauerte nicht lange, bis neun der mutmaßlichen siebzehn Zellen in Bewegung waren. Hob Tulik setzte sich mit FBI-Direktor Myron Emerick in Washington in Verbindung und erstattete ihm Bericht. Beide Männer spürten, dass die Wartezeit vorüber war. »Drei Anrufe«, sagte Emerick. »Von Baltimore, Boston und Savannah«, erwiderte Tulik. »Nichts von Florida?« »Noch nicht.« »Und kein Wort vom Zoll«, sagte Emerick mit hämischer Freude. »Trotz der Corrigan-Detektoren und Geigerzähler und der Mobilisierung von Army und Navy – sie haben die verdammten Bomben noch nicht gefunden!« »Offenbar nicht, Sir.« »Bleiben Sie unbedingt am Ball, Hob. Es ist so weit! Nehmen Sie so viele Leute, wie Sie brauchen. Alles andere im Land 421
kann warten. Die Zellen werden uns zu den Sprengköpfen führen.« »Ja, Sir«, erwiderte Tulik. »Denken Sie daran, worüber wir gesprochen haben. Der Zugriff erfolgt, wenn die Leute vor Ort sicher sind, dass die Waffe präsent ist. Es muss alles sehr schnell gehen – die Terroristen dürfen auf keinen Fall Gelegenheit erhalten, eine der Bomben zu zünden.« »Ich habe alle Büros an der Ostküste in Kenntnis gesetzt«, versicherte Hob Tulik seinem Chef und beendete das Gespräch. Einige Sekunden stand er da, starrte aufs Telefon und dachte besorgt daran, dass es nur drei Telefonate gegeben hatte. Wenn es vier Bomben gab – wieso dann nicht auch vier Anrufe? Existierten Zellen, von denen das FBI nichts wusste? Oder war eine der Bomben woandershin unterwegs? Nach Europa vielleicht? Oder Los Angeles, San Francisco? Nun, es war Emericks Aufgabe, an die Westküste, Europa und nicht entdeckte Zellen zu denken. Er nahm das Telefon, rief FBI-Büros in anderen Städten an und wies darauf hin, was geschah und welche Maßnahmen es zu ergreifen galt. Innerhalb kurzer Zeit wurde Tulik von Anfragen nach Manpower überschwemmt, und an dieser Stelle machte er einen schweren Fehler. Da acht der mutmaßlichen Zellen keine Anrufe bekommen hatten und ihre normale Routine fortzusetzen schienen, rief er die sie überwachenden Agenten ab und gab ihnen neue Aufträge. Immerhin hatte nie jemand behauptet, dass jede dieser Gruppen aus Terroristen bestand. Wenn er genauer darüber nachgedacht hätte, wäre er vielleicht bereit gewesen, einen Agenten bei Zelle elf zu lassen, deren Mitglieder in dem Verdacht standen, einen ihrer eigenen Leute umgebracht zu haben. Aber er dachte an Atomwaffen, war sehr beschäftigt und vergaß die Sache. Weder Tulik noch Emerick riefen Jake Grafton an. Das FBI 422
konnte allein mit dieser Sache fertig werden, herzlichen Dank. Als Mohammed Mohammed und seine Gefährten ihre Arbeit im Zitrusfrüchtelager um Mitternacht beendeten, fuhren sie zu einem persönlichen Depot, das Mohammed unter einem anderen Namen gemietet hatte. Dort rüsteten sie sich mit drei 9mm-Maschinenpistolen, zweitausend Schuss Munition, Feldstechern und Nachtsichtbrillen aus. Das Depot enthielt noch eine vierte Maschinenpistole – Naguibs –, aber die ließen sie dort zurück. Anschließend fuhren sie zum Verladeterminal von Port Everglades und parkten am Zaun. Sie blieben im Wagen sitzen: vor ihnen tausende von aufeinander gestapelten Containern, riesige Lagerhallen sowie die Aufbauten und Kräne der Containerschiffe. Der Anblick war imposant. Der Fluss des Welthandels strömte nach Port Everglades. Diese Container enthielten Schätze, die weit über die wildesten Träume amerikanischer Ureinwohner und spanischer Forscher vor einigen Jahrhunderten hinausgingen. Die drei Araber blieben unbeeindruckt. Ihr Interesse galt Menschen. Wurde der Container mit der Waffe überwacht? Wusste der amerikanische Zoll oder das FBI von seinem Inhalt? Mohammed wusste natürlich nicht, welcher Container der richtige war, und deshalb beobachtete er alles durch den Feldstecher, die ganze Szene. Natürlich war ihm klar, dass eventuelle Überwacher sich verborgen halten würden und nicht auffallen wollten, aber er glaubte trotzdem, etwas entdecken zu können. Vielleicht ein Flugzeug oder einen Lieferwagen mit Antennen. Er hielt vergeblich nach solchen Fahrzeugen Ausschau und öffnete sogar die Fahrertür, um mit dem Feldstecher zum Himmel emporzusehen. Er bemerkte einen Passagierjet, der schnell außer Sichtweite geriet. 423
»Keine Wächter«, sagte er laut und überließ den Feldstecher Ali. Zwar schien alles in Ordnung zu sein, aber das bedeutete nicht, dass das FBI den Container nicht doch überwachte. Das wusste Mohammed sehr wohl. Er wusste auch, dass ihn nach amerikanischem Recht der Staatsanwalt erst mit dem Frachtbehälter in Verbindung bringen konnte, wenn er sich ihm näherte. Während der letzten sechs Wochen hatte er des Nachts in Smoot’s Motel oft an diesen Moment gedacht. Er musste eine Stelle erreichen, von der aus er die Container sehen konnte, wenn sie das Speditionsdepot verließen. Wenn das FBI von dem Behälter wusste, würde er vermutlich Agenten bemerken. In dem Fall konnte er zu Smoot’s Motel zurückfahren und auf eine andere Bombe warten, die in drei oder sechs Monaten oder in einem Jahr eintreffen würde, wann auch immer. Mohammed hatte sich diesen Bereich schon einmal angesehen und wusste daher, von welchem Ort aus er das eingezäunte Gelände am besten im Blick hatte. Er startete den Motor, fuhr dorthin und parkte. Erneut beobachtete er alles sorgfältig durch den Feldstecher und überließ ihn dann Ali. »Halte nach FBI-Agenten Ausschau. Sie werden schwer zu entdecken sein, aber wenn sie von der Bombe wissen, dürften sich viele von ihnen in der Nähe befinden. Und auch Polizei.« Eine Zugmaschine kam vom Hof, auf dem Aufleger ein Container. Der Fahrer missachtete das Stoppschild, bog nach rechts ab und beschleunigte. Eine Lokomotivpfeife erklang, lang, kurz, dann wieder lang. Durch den Zaun sahen die Araber einen Zug mit Containern, der sich in Bewegung setzte. »Wie lange warten wir hier?«, fragte Yussuf. »So lange wie nötig«, erwiderte Mohammed knapp. 424
Die Worte hatten seinen Mund gerade verlassen, als ein anderer Laster herandonnerte und durchs Tor rollte. Mohammed schien einen Ort gewählt zu haben, an dem reger Betrieb herrschte. Nguyen Duc Tran hatte das gleiche Problem wie Mohammed Mohammed – auch er musste wissen, ob der Container von der Bundespolizei überwacht wurde. Im Gegensatz zu Mohammed beabsichtigte er nicht, vor dem Port-Everglades-Tor zu warten, wo ihn alle sehen konnten und es nur eine Frage der Zeit war, bis jemand misstrauisch wurde und das FBI verständigte. Er wartete an dem Ort, zu dem Red den Container bringen lassen würde: an der Baustelle eines neuen Golfplatzes in Jupiter, Florida. Er war früher am Nachmittag gekommen, bevor die Bauarbeiter für diesen Tag Schluss machten. Mit den Corrigan-Papieren und der Zugmaschine fiel er nicht auf. Er sagte dem Bauleiter sogar die Wahrheit: Er wartete auf die Lieferung eines Containers, der zu einer Corrigan-Niederlassung gebracht werden sollte. »Ich weiß nicht, warum man beschlossen hat, das Ding hierher zu schicken, aber so hat man es mir mitgeteilt.« Der Bauleiter nickte nur. Nguyen ging fort, um sich eine schattige Stelle zu suchen. Er stammte aus Texas, war an schwüle Hitze und Mücken gewöhnt. Als die Bauarbeiter gegangen waren, holte er sich etwas zu essen und kehrte dann zurück. Der Container wurde natürlich während der Arbeitszeit geliefert, wenn jemand da war, der den Empfang quittierte. Doch wenn Polizei und FBI von seinem Inhalt erfahren hatten, so würden sie den Bereich sicher schon vor der Lieferung überwachen. Wenn das der Fall war, musste Nguyen auf den Sprengkopf verzichten, würde sich einfach in die Zugmaschine setzen und wegfahren. Das Verrückte an der Sache war: Nguyen wusste nicht ein425
mal, ob sich der Container überhaupt im Land befand. Er wollte sich nicht noch einmal mit Red treffen, und auf keinen Fall wollte er, dass Red ihn anrief. Wenn die Bombe im Land war und das FBI nichts von ihr wusste, würde ein lokaler Spediteur sie früher oder später liefern. Am Abend breitete Nguyen eine Decke unter einem großen Bagger aus und legte sich hinter die Räder. Von dort aus sah er etwa zweihundert Meter entfernt die beiden Wohnwagen, die den Ingenieuren und Vorarbeitern als Büros dienten. Er vermutete, dass der Lastwagenfahrer den Container dort absetzen würde. Eine Lampe an einem Mast vor dem neueren Wohnwagen leuchtete den Ort gut aus. Nguyen beobachtete den Bereich durch seinen Feldstecher. Neben ihm lag ein Gewehr auf der Decke, ein Remington Modell 700, Kaliber 308, das Zielfernrohr mit vierfacher Vergrößerung. Mit einem Nachtsichtfernrohr, das er übers Internet bei einem Sportartikelanbieter bestellt hatte, suchte er die nicht von der einzelnen Lampe erhellten Stellen ab. Nichts. Die Zeit verging langsam. Nguyen schlief ein wenig, trank Wasser aus einer Flasche, hielt immer wieder mit dem Nachtsichtfernrohr und dem Feldstecher Ausschau, schlief erneut. Zweimal kroch er unter dem Bagger hervor und pinkelte. Das Warten war schwer. Sein ganzes Leben lang hatte er auf eine Gelegenheit gehofft, den amerikanischen Mistkerlen ordentlich in die Eier zu treten, und jetzt war es endlich so weit. Die Aufregung ließ ihn zittern. Er dachte an die Burschen, die er im Lauf der Jahre kennen gelernt hatte, an die verdammten Hurensöhne, die ihn schikaniert und verspottet hatten, als er aufgewachsen war, an die Lehrer, deren Verachtung er mit Verachtung beantwortet hatte. Die Rache wird überschätzt, hatte einmal jemand gesagt. Wer auch immer jener Narr gewesen war, er schien nicht viel von 426
ihr getrunken zu haben, dachte Nguyen. Mit jemandem abzurechnen, zählt zu den erregendsten Dingen im Leben. Rache ist die einzige reine Emotion, fand er, unbeeinträchtigt von allen anderen. Ihre Reinheit macht sie süß. Nun, vielleicht ist sie nicht ganz rein. Hass gehört immer zu dem Wunsch nach Rache. Und Gott weiß, dachte Nguyen, wie sehr ich diese Mistkerle hasse. Ich hasse alles, wofür sie stehen. Ich hasse ihr scheinheiliges Predigen der Menschenrechte, ihr heuchlerisches Mitleid mit den armen Nichtweißen und ihren Kreuzzug mit dem Ziel, die Erde in einen Wildpark zu verwandeln, in dem Müßiggänger spazieren gehen können. Amerikaner sind die perfekten Arschlöcher: Je besser man sie kennt, desto weniger gefallen sie einem. Sonny Tran war müde. Um zwei Uhr in der Nacht fuhr er immer noch den Lieferwagen mit dem ersten Corrigan-Detektor durch die Straßen von Boston. Toad Tarkington und Harley Bennett saßen hinten, trugen Kopfhörer und beobachteten die Instrumente. Die Straßen waren schmal und von geparkten Wagen gesäumt, überall gab es Hügel, alte Backsteinhäuser drängten sich an den Bürgersteigen zusammen – die Stadt Boston sah so alt aus, wie sie war. Sonnys Gelegenheit ergab sich ganz plötzlich und unerwartet. Er wurde vor einer roten Ampel langsamer, als er hörte, wie von links ein Laster den Hügel herunterkam – dort zeigte die Ampel grünes Licht. Und dann sah er ihn, einen großen Müllwagen. Der Fahrer hatte den Fuß von der Bremse genommen und ließ ihn rollen. Sonny zögerte einen Sekundenbruchteil und trat dann aufs Gas. Der Lieferwagen schoss auf die Kreuzung. Für einen Augenblick glaubte Sonny, Geschwindigkeit und Distanz falsch eingeschätzt zu haben – er befürchtete, dass der Laster gegen die Fahrertür prallte. 427
Aber nein, der Lieferwagen war gerade schnell genug, um diesem Schicksal zu entgehen. Der Aufprall fand einen knappen Meter hinter der Fahrertür statt, ein mächtiger Stoß, der Sonny das Steuer aus den Händen riss und den Lieferwagen ins Schleudern brachte. Unterdessen setzte der Laster seinen Weg über die Kreuzung fort und neigte sich dabei zur Seite. Reifen quietschten und Metall kreischte, während das Bewegungsmoment den Lastwagen ganz über die Kreuzung trug, bevor er auf die Seite kippte. Er stieß gegen mehrere geparkte Fahrzeuge, blieb dann liegen. Benommen von der Kollision und der langen Schleuderpartie stellte Sonny fest, dass jedes Stück Glas im Lieferwagen zerbrochen war. Überall lagen Splitter. Er löste den Sicherheitsgurt, schob sich mühsam bis zur rechten Tür und versuchte, sie zu öffnen. Sie klemmte. Ganz vorsichtig, um sich nicht zu schneiden, kletterte er durch das Loch, wo einst das Fenster der Beifahrertür gewesen war. Als er draußen auf dem Asphalt stand, sah er, dass der Fahrer des Lasters lebte, obgleich sein Gesicht blutverschmiert war. Eine Sekunde später fühlte er etwas im eigenen Gesicht, tastete danach und berührte Blut. Er hörte ein Stöhnen, das aus dem hinteren Teil des Lieferwagens kam. Die Tür war aufgesprungen, und er sah ins halb zermalmte Innere. Jemand war zwischen einem der Sitze und dem Boden eingeklemmt. Toad Tarkington. Toad stöhnte erneut. Sonny nahm Toads Arm und versuchte, ihn aus den Trümmern zu ziehen. Er zog, schob und fluchte, schaffte es schließlich, den Stöhnenden aus dem Lieferwagen zu holen und auf die Straße zu legen. Nur am Rande wurde er sich bewusst, dass auf dem Bürgersteig jemand das Geschehen beobachtete und mit einem Handy telefonierte. Toad war halb ohnmächtig. Seine Augen blickten ins Leere, aber er atmete und hatte einen guten Puls. 428
Sonny kehrte in den Lieferwagen zurück und sah nach Harley Bennett. Der Techniker war tot, von geborstenen Metallteilen halb zerquetscht und durchbohrt. Sonny bekam einen Arm zu fassen und tastete vergeblich nach dem Puls. Daraufhin wandte er sich wieder Toad zu. Er versuchte, es ihm einigermaßen bequem zu machen, als ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht kam. Wenig später traf ein Feuerwehrwagen mit heulender Sirene ein. Karl Glück machte sich Sorgen. Er hatte versucht, mit Sonny Tran Kontakt aufzunehmen, ohne bisher etwas von ihm zu hören. Die Bomben sollten inzwischen im Land sein. Immer wieder sah er sich die Nachrichtensendungen im Fernsehen an und wartete auf die Mitteilung, dass die Sprengköpfe gefunden und die Kamikaze-Terroristen verhaftet worden waren. Doch auch dazu kam es nicht. Er wartete vor dem Fernseher in der Bibliothek von Corrigans Villa, als der Industrielle um drei Uhr morgens heimkehrte. Er hatte einen Empfang im Weißen Haus besucht und war mit seinem Privatjet nach Boston zurückgeflogen. Das Dienstmädchen sagte ihm, dass Glück wartete, und so schickte er seine Frau zu Bett und betrat die Bibliothek. »Gehen Sie nie schlafen?«, fragte Corrigan, als er den Raum durchquerte und die Tür seines privaten Büros öffnete. »Kommen Sie. Genehmigen wir uns einen Drink.« Corrigan ging zur Bar in der einen Ecke des Büros. Glück wartete stumm, während Corrigan Cognac einschenkte, und nahm ein Glas entgegen. Geduldig trank er einen Schluck. »Der Präsident meinte, dass sie sich allmählich an die Sprengköpfe heranarbeiten. Das FBI hat die Terroristen identifiziert. Noch in der Nacht oder morgen könnte es zu Verhaftungen kommen. Beziehungsweise heute. Öffentliche 429
Verlautbarungen innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach den Verhaftungen.« Glück spürte, wie das Gewicht der Welt von seinen Schultern wich. Er sank in den nächsten Sessel und trank einen großen Schluck Cognac. Corrigan öffnete eine Schublade und nahm eine Zigarre. Er bot Glück keine an, schnitt das Ende ab und zündete sie mit einem silbernen Zigarrenanzünder an. »Der Präsident möchte, dass wir der Regierung tausend Detektoren verkaufen«, sagte er und sah durch den Rauch zu Glück. »Die Europäer und Japaner kaufen vermutlich weitere tausend. Wir bauen eine Fabrik, um sie zu produzieren. Nachdem wir sie geliefert haben, nehmen wir Verbesserungen vor, verkaufen Ersatzteile und schließen Wartungsverträge ab. Wir reden hier über viel Geld: zwei Milliarden Dollar, schätze ich, im Verlauf der nächsten fünf Jahre. Und mindestens die Hälfte davon wird reiner Profit sein. Natürlich habe ich mich einverstanden erklärt. Und der Präsident wies erneut auf die Möglichkeit hin, mich zum Botschafter in London zu machen.« Glück hob sein Glas in wortloser Anerkennung und trank erneut einen Schluck. An dieser Stelle wurde ihm klar, dass er Thayer Michael Corrigan hasste. »Er erwägt die Möglichkeit, nach der Sicherstellung der Bomben einen weltweiten Krieg gegen die islamischen Fanatiker zu verkünden«, fuhr Corrigan nachdenklich fort. »Man lösche die Mistkerle aus, wo auch immer man sie finden kann. Wenn das Land von den Bomben erfährt, werden der Kongress und die Öffentlichkeit entsprechende Forderungen stellen.« Karl Glück leerte sein Glas, stand auf, ging zur Bar, und bediente sich selbst. Corrigan paffte langsam und schien in Gedanken versunken zu sein. »›Wer sein eigenes Haus in Verruf bringt, wird Wind erben‹«, murmelte Glück. 430
»Wie bitte?«, fragte Corrigan. »Nichts«, sagte Karl Glück. »Nur so ein Gedanke.« Die Wahrheit lautete: Er hatte immer gewusst, dass Corrigan ein Mistkerl war. Aber er hatte die Möglichkeit gesehen, mit geringem Risiko viel Geld zu verdienen, und deshalb war er zu seinem Vertrauten geworden. Seine Hände waren ebenso schmutzig wie die Corrigans, und diese Erkenntnis machte ihn nicht glücklicher. Na schön, die große Sache neigte sich ihrem Ende entgegen, und er war dreifacher Millionär. Zeit, angeln zu gehen und nicht mehr daran zu denken, dass die Welt den Corrigans gehörte. »Gute Nacht«, sagte Karl Glück und ließ das leere Glas an der Bar zurück. Corrigan sah ihm durch den Tabakrauch nach. US-Botschafter in London! Er hatte es weit gebracht, bei Gott, und er war klug genug zu begreifen, wie viel Glück er gehabt hatte. Von Anfang an hatte er sich nach oben gekämpft und war dabei erhebliche Risiken eingegangen. Das Glück begleitete ihn auch deshalb, weil er immer wieder nachhalf. Zugegeben, er hatte Dinge getan, von denen er nicht in der Zeitung lesen und über die er nicht einmal nachdenken wollte. Aber ging es nicht allen so? So spielte man das Spiel in Amerika. All die großen Häuser auf dem Cape, in Hampton, Newport … neues Geld, altes Geld. Und die Menschen machten alle das Gleiche: Sie benutzten ihren Verstand, um das System zu ihrem Vorteil auszunutzen und reich zu werden. Und sie ließen ihren Reichtum von Anwälten verteidigen. Diese dummen Fanatiker machen mich steinreich, dachte Corrigan nicht zum ersten Mal. Er fand die Ironie herrlich. Der einzige Mensch, der ihn ins Gefängnis bringen konnte, war Karl Glück. Er dachte darüber nach. Glück verlor nicht viele Worte und 431
war viel zu intelligent, um eventuellen Gewissensbissen nachzugeben und sich oder andere zu belasten. Er mochte Geld und das gute Leben, das man damit kaufen konnte. Aber wenn viele Jahre im Gefängnis in Aussicht standen … Wenn ihm die Staatsanwaltschaft Straffreiheit für seine Zusammenarbeit anbot, so würde er auspacken und alles sagen, was er wusste, daran zweifelte Corrigan nicht. Karl Glück würde sich auf einen solchen Handel einlassen. Die meisten Menschen wären dazu bereit. Karl Glück war ein Risikofaktor. Corrigan nahm einen Zug von der Zigarre und atmete langsam aus, genoss den Geschmack und den Duft des Rauchs. Er erinnerte sich an den Empfang im Weißen Haus, an den Präsidenten, die schönen Frauen und die Lichter von Washington … Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er stand ganz oben. Er stellte sich London wundervoll vor. Begegnungen mit der Königin, dem Premierminister, Diners in der Botschaft … Er beschloss, dem Russen Glücks Namen zu nennen. Warum ein Risiko eingehen? Das Krankenhaus in Boston rief Jake Grafton zu Hause an. Das Klingeln des Telefons weckte ihn. Er schlief noch halb, als er abnahm und den Hörer ans Ohr hob. »Grafton.« »Hier ist das Memorial Hospital in Boston, Sir. Einer unserer Patienten, ein Mr. Tran, hat uns gebeten, Sie anzurufen.« Plötzlich war Jake wach. »Sonny Tran?« »Ich suche das Aufnahmeformular … Der Vorname lautet Khanh – ich hoffe, ich spreche das richtig aus. Es kam zu einem Verkehrsunfall. Er und Mr. Tarkington wurden hierher gebracht. Es befand sich noch jemand im Wagen, ein Mr. Bennett, glaube ich. Er traf tot bei uns ein.« »Kann ich mit Tran oder Tarkington sprechen?« 432
»Sie befinden sich beide in der Notaufnahme. Mr. Tarkington ist bewusstlos.« »Bitte richten Sie Tran aus, dass er mich so schnell wie möglich anrufen soll.« Inzwischen war auch Callie hellwach. Jake legte auf und schaltete das Licht ein. »In Boston kam es zu einem Verkehrsunfall«, sagte er. »Toad ist bewusstlos. Einer der anderen Männer, die mit ihm zusammen waren, kam ums Leben, ein gewisser Bennett.« »Was hast du jetzt vor?« »Ich fliege nach Boston. Ruf Rita an …« Rita Moravia war Toads Frau. »… und frag sie, ob sie mitkommen möchte. Ich versuche unterdessen, mehr herauszufinden.« Während Callie mit dem Handy telefonierte, benutzte Jake das Festnetztelefon und setzte sich mit seinem Stabschef Gil Pascal in Verbindung. Für Mohammed Mohammed war die Nacht lang und ermüdend gewesen. Er war wach geblieben, um die Nummern aller Container zu überprüfen, die Port Everglades verließen. Ali und Yussuf gingen gelegentlich einen Block weit zu McDonald’s, um Kaffee oder Softdrinks zu holen, aber Mohammed blieb im Wagen. Es war noch dunkel an jenem Freitagmorgen, als der Container, auf den er wartete, durchs Tor kam. Am Stoppschild wurde der Fahrer langsamer, hielt aber nicht an und bog nach links ab. Der Laster brummte an dem Mietwagen vorbei, in dem Mohammed Mohammed am Steuer saß. Yussuf schlief auf dem Beifahrersitz, Ali im Fond. Der richtige Container! Die Nummer an der Seite stimmte! Niemand folgte dem Laster. Das war offensichtlich. Und der Fahrer saß allein im Führerhaus. 433
Aber warum war er nach links abgebogen? Der Container sollte im Lager abgeliefert werden; der Fahrer hätte nach rechts abbiegen müssen. Der Lastwagen wurde immer kleiner im Rückspiegel, und Mohammed traf eine rasche Entscheidung. Er beschloss, ihm zu folgen, anstatt beim Zitrusfrüchtelager auf die Ankunft des Containers zu warten. Er drehte den Zündschlüssel, und der Motor sprang sofort an. Mohammed gab Gas, drehte und folgte dem Laster. Ali und Yussuf erwachten, als die Reifen quietschten und der Wagen schneller wurde. »Ist er das?«, fragte Yussuf und deutete zum Laster etwa hundert Meter vor ihnen. »Ja, und der Fahrer fährt in die falsche Richtung.«
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20 Der Morgen dämmerte, aber die Sonne war noch nicht aufgegangen, als die Zugmaschine mit dem Container aus Port Everglades vor dem Wohnwagenbüro der Golfplatz-Baustelle hielt. Der Fahrer stieg aus, streckte sich und sah beiläufig zum anderen geparkten Sattelschlepper, zu den Bulldozern, Löffelbaggern und Rohrbündeln. Er ging zum Büro, versuchte die Tür zu öffnen, sah auf die Uhr und blickte sich erneut um. Nguyen Duc Tran beobachtete ihn mit dem Feldstecher. Der Mann trug ein verblasstes Harley-T-Shirt, abgetragene Jeans und Cowboystiefel. Der Fahrer pinkelte, setzte sich dann auf die Holztreppe vor dem Wohnwagen und zündete sich eine Zigarette an. Nguyen ließ den Feldstecher sinken und spähte vorsichtig hinter den großen schwarzen Reifen des Baggers hervor, unter dem er lag. Er hielt nach anderen Personen Ausschau, nach Wagen oder Flugzeugen. Und er sah, wie die Limousine mit Mohammed Mohammed und seinen beiden Gefährten auf der Straße anhielt, nicht weit von der Einfahrt der Baustelle entfernt. Mit einem Finger betätigte Nguyen den Schärferegler des Feldstechers. Drei Männer im Wagen. Weder FBI noch Polizei – sie wären vor der Ankunft des Containers zur Stelle gewesen; sicher hätten sie von seinem Bestimmungsort gewusst. Vielleicht Bauarbeiter, die ein wenig zu früh kamen. Oder arabische Terroristen. Auch Mohammed Mohammed benutzte einen Feldstecher. Nguyen Duc Tran unter dem Bagger bemerkte er nicht, aber den Fahrer sah er ganz deutlich: Er rauchte und sah gelegentlich auf die Uhr. Mohammeds Aufmerksamkeit kehrte zum 435
Container zurück. Mit der maximalen Vergrößerung des Feldstechers konnte er die Nummer an der Seite des Behälters erkennen. Er las sie, wiederholte Ziffer für Ziffer. Ja, es war der richtige Container. Mohammed ließ den Feldstecher sinken und fragte sich, was er tun sollte. Er holte sein Handy hervor, klappte es auf und zögerte unschlüssig. Dort war die Waffe, auf die er gewartet hatte, und sie befand sich nicht dort, wo sie eigentlich sein sollte. Er hatte die Containernummer weder vergessen noch durcheinander gebracht. Es war der richtige Container. Vielleicht gab es irgendeinen Fehler in den Zustellungspapieren. Oder jemand versuchte, die Bombe zu stehlen. Mohammed sah aufs Handy hinab und wählte eine Nummer, die er sich eingeprägt hatte. Nach dem dritten Klingeln antwortete die Stimme eines Mannes. »Akram, hier ist Mohammed. Allahu Akbar!« Mohammeds Telefon wurde nicht vom FBI überwacht, wohl aber Akrams – er leitete die Zelle, der das FBI die Nummer vierzehn gegeben hatte. Leider war der Mann, der die Gespräche mithörte, damit beschäftigt, die Kommunikation zwischen Polizei und den FBI-Agenten zu organisieren, die jene Zellen überwachten, die Tulik für wichtig hielt. Mohammeds Anruf wurde automatisch aufgezeichnet, um dann abgehört zu werden, wenn der zuständige Techniker Zeit dafür erübrigen konnte. Derzeit hatte er viel zu tun, und er sollte bald noch mehr zu tun bekommen. Der Fahrer hatte das Warten satt, startete den Motor der Zugmaschine und traf Vorbereitungen dafür, den Aufleger mit dem Container abzukoppeln. 436
Nguyen achtete nicht nur auf den Fahrer und den Wagen am Straßenrand, sondern sah immer wieder in alle Richtungen. Der obere Rand der Sonne spähte über den Horizont und tauchte die Szene in goldenes Licht, aber das bemerkte Nguyen nicht. Der Fahrer ließ die Zugmaschine ein kleines Stück nach vorne rollen, fort vom Aufleger, ging nach hinten, löste die Bremskabel und elektrischen Verbindungen, holte ein Klemmbrett aus dem Führerhaus, setzte sich dann wieder auf die Treppe vor dem Wohnwagen und zündete sich eine weitere Zigarette an. Dort stand der Container. Nguyen brauchte bloß hinzugehen, die Empfangsbescheinigung zu unterschreiben, den Aufleger anzuhängen und loszufahren. Der Mann auf der Treppe würde ihn nur unterschreiben lassen, wenn er den Schlüssel für den Wohnwagen hatte, und das war nicht der Fall. Natürlich konnte er den Fahrer einfach erschießen und die Leiche in den Container legen, aber die drei Personen im Wagen auf der Straße würden ihn dabei beobachten. Außerdem würde bald eine Suche nach dem vermissten Fahrer beginnen. Und wenn die drei Männer im Wagen wirklich Terroristen waren, so gefiel es ihnen sicher nicht, wenn er versuchte, mit der Bombe zu verschwinden. So sehr es Nguyen auch danach drängte, aktiv zu werden, er musste warten. Mohammed Mohammed fühlte die Last jeder einzelnen verstreichenden Sekunde. Dort wartete die Waffe, falsch geliefert oder gestohlen. Wenn er mit seinen beiden Begleitern dorthin fuhr und den Fahrer erschoss, so konnten sie den Aufleger wieder mit der Zugmaschine verbinden und den Container wegbringen. Mohammed konnte einen Laster fahren – der Plan hatte vorgesehen, dass er den Lastwagen mit der Bombe nach New York fuhr. Und wenn dies eine Falle war? Vielleicht lagen schwer be437
waffnete und gepanzerte FBI-Agenten im Wohnwagen oder im Innern des Containers auf der Lauer. Erneut sah er sich mit dem Feldstecher um und hielt nach Personen oder verdächtigen Dingen Ausschau. Er blickte noch einmal auf die Uhr. Zwölf Minuten seit dem Telefongespräch. Akram sollte bald mit drei weiteren Männern eintreffen, alle bewaffnet. Mit sieben Kämpfern sollte es ihnen möglich sein, die Waffe in ihre Hand zu bekommen. Wenn Polizisten oder FBI-Agenten im Verborgenen warteten, so würden sie sie einfach töten. »Wir sollten nicht warten«, sagte Yussuf und schien Mohammeds Gedanken zu lesen. »Die Bauarbeiter treffen bald ein, und sie werden die Polizei rufen. Wir können nicht alle töten.« Mohammed fühlte sich hin und her gerissen. Würde Akram die Baustelle vor den Arbeitern erreichen? Sollte er auf ihn warten oder jetzt sofort losschlagen? Während er noch darüber nachdachte, bemerkte er einen Lichtreflex bei einem der weit hinten stehenden Bagger. Er hob den Feldstecher und hielt ihn so ruhig wie möglich, als er eine hohe Vergrößerungsstufe wählte. Neben einem der großen Räder zeigten sich Kopf und Schultern eines liegenden Mannes, der ebenfalls durch einen Feldstecher blickte. Das Sonnenlicht spiegelte sich in einer der Linsen. Sie lagen also auf der Lauer! Myron A. Emerick war in seinem Element. Er saß im Kommandosessel der FBI-Einsatzzentrale im Washingtoner Hoover Building und hörte sich die eintreffenden Berichte von FBIAgenten, SWAT-Einheiten der Polizei und Beobachtungshubschraubern an. Ein großer Bildschirm zeigte die Aufnahmen eines hoch fliegenden Helikopters. 438
Die Beamten in der Zentrale überwachten neun Zellen mutmaßlicher Terroristen in Südflorida – sie alle waren in Autos und Lieferwagen nach Norden unterwegs. Zweihundert FBIAgenten und Polizisten waren bereits im Einsatz, und es würden bald noch mehr werden. Die Überwachung war so locker wie möglich; die Verdächtigen sollten nicht merken, dass ihnen jemand folgte. Eines der Probleme bei der Zusammenarbeit mit der örtlichen Polizei bestand darin, dass diese dem Lokalfernsehen einen Tipp geben könnte. An diesem Morgen war das noch nicht geschehen, aber es konnte dazu kommen. Dieses Risiko musste Emerick eingehen. Ihm blieb keine andere Wahl, als sich von den Terroristen zu den Bomben führen zu lassen. Alle anderen Möglichkeiten kosteten viel mehr Zeit. Wenn die Terroristen merkten, dass man ihnen auf der Spur war, würden sie die Flucht ergreifen oder an Ort und Stelle verharren; dann ließen sich die Sprengköpfe nur mit einer groß angelegten Suche finden, wenn überhaupt. Hob Tulik war in Florida und leitete die Dinge von den Büros der Antiterrorismus-Taskforce aus. Manchmal hörte Emerick seine Stimme aus den Lautsprechern des Kommunikationsnetzes. Emericks Stellvertreter Robert Pobowski stand beim Koordinator und machte eine gelegentliche Bemerkung. Emerick streckte die Beine und stand dann auf. Wenn die Spannung wuchs, fiel es ihm schwer, sitzen zu bleiben. Während er umherging, dachte er an die drei Telefonanrufe, die die Verdächtigen in Bewegung gesetzt hatten. Wenn es vier Waffen gab, warum dann nicht auch vier Anrufe? Gab es Zellen, von denen das FBI nichts wusste? Das schien die wahrscheinlichste Antwort zu sein. Vermutlich hatte eine unbekannte Zelle den vierten Anruf erhalten und war derzeit unterwegs, um eine Atombombe in Empfang zu nehmen. Aber wo? 439
Emerick blickte auf die Karte. Wie sollte er den Knoten durchschlagen und die vierte Zelle finden? Wenn sie die anderen Waffen fanden und feststellten, warum man sie nicht bei den Zollkontrollen und Hafeninspektionen entdeckt hatte … Vielleicht ergab sich daraus ein Hinweis. Jeder wünschte sich eine Wunderwaffe, aber manchmal existierte keine. Gute, solide Polizeiarbeit hatte sie in die Nähe dieser drei Bomben geführt, und mit dem gleichen Mittel würden sie auch die vierte finden. Wenn in einigen Minuten der Präsident anrief, wollte Emerick ihn darauf hinweisen. Solide, kompetente, gründliche Polizeiarbeit funktionierte jedes Mal. Es gab keinen Ersatz dafür. Weder jetzt noch sonst irgendwann. »Zehn Minuten, Inschallah«, teilte Akram Mohammed übers Handy mit. »Wenn du dort bist, wo wir glauben, sind wir in zehn Minuten da. Wenn du woanders bist, könnte es länger dauern. Warum wurde die Waffe dorthin gebracht?« Mohammed klappte das Handy zu und unterbrach damit die Verbindung. Der Narr! Wenn das FBI mithörte, gab er alles preis! Nun, vielleicht trafen Akram und seine Leute in zehn Minuten ein, vielleicht auch nicht. Inschallah! »Wir sollten den Fahrer erschießen und uns die Waffe nehmen«, sagte Ali. »Ich sehe nur einen Mann unter dem Bagger.« »Du siehst nur einen«, erwiderte Yussuf. »Aber wie viele sind es insgesamt? Weißt du das?« »Allahu Akbar!«, rief Ali. »Wir müssen Allah vertrauen und gegen die Kafirn kämpfen! Allah ist mit uns! Dort befindet sich die Waffe!« Er deutete auf den Container. Mohammed brachte es einfach nicht fertig, eine Entscheidung zu treffen. Er war bereit, für einen mächtigen Schlag ge440
gen die Amerikaner sein Leben zu geben, aber er wollte nicht auf eine dumme Weise sterben. Er streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus, um den Motor zu starten, als gerade ein Pick-up an der geparkten Limousine vorbeifuhr und auf die unbefestigte Straße bog, die zur Baustelle führte. Der Fahrer parkte neben dem Bürowohnwagen und stieg aus. Er war etwa sechzig, fast kahl, mit einem dicken Bauch, der weit über den Gürtel hing. Mohammed sah durch den Feldstecher. Der Fahrer des Lasters deutete auf den Container und hob einige Papiere hoch. Der Mann aus dem Pick-up nahm sie entgegen, legte sie auf die Motorhaube, blätterte und unterschrieb mit einem Kugelschreiber, den ihm der andere Mann reichte. Nach einem Händedruck schritt der Lastwagenfahrer zu seiner Zugmaschine. Ein zweiter Pick-up rollte auf den Platz, und ein Mann stieg aus, mit einem Kaffeebecher aus Styropor in der Hand. Als der Lastwagenführer ins Führerhaus der Zugmaschine kletterte, trafen zwei weitere Fahrzeuge ein. »Sie beginnen jetzt mit ihrer täglichen Arbeit«, wandte sich Mohammed an Ali und Yussuf. »Wir lassen ihnen fünfzehn Minuten Zeit. Dann schnappen wir uns die Zugmaschine dort und verbinden sie mit dem Aufleger, auf dem der Container liegt.« Ein enormes Risiko, und wahrscheinlich mussten sie einige dieser Leute erschießen, aber sie brauchten die Waffe. Den Mann unter dem Bagger würden sie ebenfalls töten. Sie beobachteten, wie noch mehr Fahrzeuge kamen, und zählten die Personen, als sie plötzlich merkten, dass die andere Zugmaschine in Bewegung geriet und sich dem Aufleger näherte. Ali sah es als Erster. Er machte Mohammed darauf aufmerksam, der erneut durch den Feldstecher sah. Der Fahrer sah immer wieder in die Spiegel und setzte geschickt zurück. Offenbar ein Profi. 441
Woher kam er? »Wenn der Aufleger mit der Zugmaschine verbunden ist, werden wir aktiv. Yussuf, du erschießt den Fahrer. Ali, achte auf alle, die bewaffnet sein könnten, vor allem auf den Mann unter dem Bagger dort drüben …« Mohammed hatte ihn aus den Augen verloren. »Ich klettere ins Führerhaus. Yussuf begleitet mich. Du folgst mit dem Wagen, Ali.« Sie überprüften ihre Waffen und vergewisserten sich, dass sie geladen und gesichert waren. »Allahu Akbar«, flüsterte Yussuf. »Wo bleibt Akram?«, fragte Ali. Mohammed beobachtete den Fahrer. Er schien alle Verbindungen zwischen Aufleger und Zugmaschine hergestellt zu haben, wischte sich die Hände an den Jeans ab, ging noch ein letztes Mal um den Aufleger herum und überprüfte alles … »Es geht los.« Mohammed startete den Motor und ließ den Wagen um die Ecke rollen, über die unbefestigte Straße, die zur Baustelle führte. Einige Leute drehten sich um. Er bremste vor dem Wohnwagen. Yussuf öffnete die Tür und sprang hinaus, die Uzi in der Hand. Der Mann neben dem Sattelschlepper schoss zweimal auf Yussuf, bevor der mit seiner Maschinenpistole zielen konnte. Er brach zusammen. Mohammed Mohammed legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Der Motor heulte auf, und die Räder drehten durch, wirbelten Erde und Steine fort. Ein Schuss ließ die Windschutzscheibe splittern. Ali beugte sich aus dem Fenster und schoss, als der Wagen wendete. Mohammed legte den Vorwärtsgang ein und trat erneut aufs Gas. Als er die Straße erreichte, bog er rechts ab und trat auf die Bremse. Zusammen mit Ali verließ er den Wagen, die Maschi442
nenpistole in der Hand. Er lief über die Straße und ging gegenüber der Zufahrt in Position. Der Sattelschlepper rollte bereits in Richtung Straße und wurde schneller; er beschleunigte in jedem Gang bis zur maximalen Drehzahl. Ali trat in die Mitte der unbefestigten Straße, hob die Maschinenpistole an die Schulter und zielte sorgfältig. Nguyen Duc Tran wollte nicht herausfinden, ob die Windschutzscheibe kugelsicher war. Mit der linken Hand hielt er Miguel Tejadas Glock aus dem Fenster und schoss in Richtung Ali. Er versuchte gar nicht, ihn zu treffen, wollte ihn nur ablenken. Ali schenkte den Kugeln, die ihn umschwirrten, keine Beachtung. Gerade wurde ihm klar, dass er den Laster nicht stoppen konnte, indem er den Fahrer erschoss. Von Unschlüssigkeit wie gelähmt erstarrte er für einige kritische Sekunden. Er versuchte, zur Seite zu springen, als ihn die vordere Stoßstange des großen Fahrzeugs erfasste und knapp zwei Meter zurückschleuderte. Dann rollte der Sattelschlepper über ihn hinweg. Nguyen Tran drehte das Lenkrad und steuerte den Laster auf die Straße, ohne Gas wegzunehmen. Er fühlte keinen Ruck, als die rechten Hinterräder Ali zermalmten und auf der Stelle töteten. Mohammed schoss nicht. Auch er begriff, dass der Laster verunglücken würde, wenn er den Fahrer tötete, und das nützte ihm nichts. Als er dem Sattelschlepper nachblickte, der den Container mit der Atombombe forttrug, kam neben ihm ein Blumenlieferwagen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Akram saß am Steuer. Mohammed hastete zur anderen Seite und sprang durch die 443
offene Beifahrertür. »Folge dem Laster!«, rief er. »Jemand stiehlt die Waffe!« »Was ist mit deinen Männern?«, fragte Akram. »Sie sind bereits im Paradies. Folge dem Lastwagen!« In der Andrews Air Force Base wartete ein hohen Militärs und Regierungsangehörigen vorbehaltener Jet auf Jake Grafton. Im Terminal begegnete er Toad Tarkingtons Frau Rita Moravia. Sie gingen zusammen an Bord, und Jake berichtete Rita, was er über den Unfall erfahren hatte. Viel war es nicht. »Toad saß hinten, als es zu der Kollision kam. Sein Begleiter Harley Bennett kam ums Leben. Der Fahrer war Sonny Tran. Er rief mich vom Krankenhaus an.« Er fügte hinzu, was Sonny über Toads Zustand gesagt hatte. Rita nahm es mit Fassung. Sie war Offizierin der Marine, hatte Notfälle erlebt und viele Beerdigungen und Gedenkgottesdienste besucht. Doch wenn es um den Ehemann ging, den Vater ihres Sohnes, so konnte man wohl kaum von Routine sprechen. Als der Jet die vorgesehene Flughöhe erreicht hatte, versuchte Rita, Konversation zu machen. Nachdem sie darüber gesprochen hatten, wie es Callie und Amy erging, erkundigte sich Jake nach Ritas Leben. »Callie und ich sehen Sie nicht oft«, sagte er. »Was stellen Sie in letzter Zeit an?« »Wir treffen Vorbereitungen für die New Yorker Flottenwoche, die letzte Woche im Mai. Die Stimmung im Land ist ziemlich schlecht, und deshalb will die Administration eine große Sache daraus machen. Und die New Yorker brauchen das.« Rita fuhr fort und wies darauf hin, wie viele Flugzeugträger und Kriegsschiffe da sein würden. »Die Kanadier, Briten, Franzosen und Deutschen schicken Geschwader, die Israelis einen Zerstörer. Es werden auch mehrere Schiffe aus 444
Südamerika und sogar zwei aus Japan erwartet.« Rita nutzte die Gelegenheit, nicht mehr über die Verletzungen ihres Mannes spekulieren zu müssen. Sie sprach voller Enthusiasmus, und Jake hörte zu. Die Flottenwoche hatte er ganz vergessen. Er hatte einige Artikel in den Zeitungen überflogen und gehört, wie die Leute im Pentagon darüber sprachen, diesen Dingen jedoch kaum Beachtung geschenkt. Er war ganz von der Suche nach den Bomben in Anspruch genommen. »Wie sieht es mit der Sicherheit aus?«, fragte er. »Es werden strenge Maßnahmen ergriffen, denn die Flottenwoche ist ein offensichtliches Ziel für Terrorangriffe.« Sie erklärte, wie die vor Anker liegenden Kriegsschiffe geschützt werden sollten. »Niemand möchte, dass sich ein Zwischenfall in der Art der USS Cole wiederholt, erst recht nicht im Hafen von New York.« Jake Grafton blickte ernst aus dem Fenster des kleinen Flugzeugs. Auf dem Logan Airport wartete ein Helikopter und flog sie zum Krankenhaus – offenbar hatte Gil Pascal per Telefon alles organisiert. Sonny Tran stand neben der Landefläche, als der Hubschrauber aufsetzte. Er wirkte recht mitgenommen und hatte einen Verband am Kopf. »Zehn Stiche«, sagte er. »Einige Glassplitter mussten entfernt werden. Ich hatte verdammtes Glück.« Er führte Jake und Rita durch die Flure, erzählte dabei vom Unfall und Toads Verfassung. »Er hat vier gequetschte Rippen und eine leichte Gehirnerschütterung. Einige Schnittwunden, etwa zwanzig Stiche. Er wird sich vollständig erholen, meinte der Arzt.« »Was ist mit dem Lieferwagen und dem Corrigan-Detektor?« »Totalschaden. Der Apparat ist nur noch Schrott.« 445
Jake blieb außerhalb der Intensivstation stehen, um mit dem Arzt zu sprechen, während Rita zu ihrem Mann ging. Der Doktor wiederholte Sonnys Schilderungen. Sonny blieb im Flur, als Jake die Intensivstation betrat. Rita beugte sich übers Bett und küsste Toad, der mit einem Tropf und einem Herzmonitor verbunden war. Sie richtete sich auf, als Jake näher kam, hielt aber nach wie vor die Hand ihres Mannes. Toad war bei Bewusstsein. Das Gesicht war angeschwollen, und über dem rechten Auge zeigte sich eine Naht. Der Monitor zeigte normalen Puls und Blutdruck an. »Hallo, Chef«, sagte Toad. »Das Schicksal hat ausgeholt und dem alten Toad einen ordentlichen Schlag versetzt.« »Das habe ich gehört. Wie geht’s, Schiffskamerad?« »Fühle mich wie durch die Mangel gedreht. Bin eben erst wach geworden, gerade rechtzeitig, um einen Kuss von der großartigsten Frau auf dem Planeten zu bekommen.« Jake beugte sich übers Bett, so nahe wie möglich an Toad heran. »Erzählen Sie mir von dem Unfall.« »Ich erinnere mich nicht an viel. Wir saßen hinten, Harley und ich, und beobachteten die Anzeigen des Detektors, als es plötzlich drunter und drüber ging. Ich verlor das Bewusstsein. Irgendwann muss ich wieder zu mir gekommen sein, denn ich habe gehört, dass jemand gesagt hat, wir wären mit einem Müllwagen zusammengestoßen.« »Mhm.« »Komisch. Ich weiß noch, dass Sonny unmittelbar vor der Kollision Gas gab. Vielleicht versuchte er, den Zusammenstoß zu vermeiden. Ich fiel vom Stuhl und lag auf dem Boden, als die Seitenwand des Lieferwagens auf uns herabkam. Harley blieb auf seinem Stuhl.« »Mhm.« »Wie geht es ihm?« 446
»Harley?« »Ja.« »Er ist tot. Hat man Ihnen das nicht gesagt?« »Vielleicht. Ich habe mehrmals das Bewusstsein verloren. Ich erinnere mich nicht daran.« »Harley ist tot. Sonny wurde am Kopf verletzt.« »Lieber Himmel!« »Es war ein Unfall. Denken Sie nur daran, sich zu erholen. Ich brauche Sie so bald wie möglich im Büro.« Als Jake in den Flur zurückkehrte, war Sonny noch da. Er saß neben der Schwesternstation, den Kopf auf beide Hände gestützt. »Es tut mir Leid, Admiral. Ich fühle mich schrecklich wegen des Unfalls. Dass Bennett so sterben musste … Der Müllwagen kam den Hügel herabgedonnert, und ich konnte nichts tun.« »Toad meinte, Sie hätten plötzlich Gas gegeben.« »Ja. Ich habe versucht, die Kreuzung zu überqueren und dem Müllwagen auszuweichen, aber …« Sonny zuckte mit den Schultern. »Verstehe.« »Eine verdammt üble Sache. Könnte ich einige Tage freihaben? Ich fürchte, für eine Weile bin ich nicht in der Lage, mich auf die Arbeit zu konzentrieren.« »Natürlich. Ein wenig Entspannung wird Ihnen gut tun.« »Ich muss das alles verarbeiten.« »Sie haben hart gearbeitet«, sagte Jake. »Nehmen Sie sich zwei Wochen. Melden Sie sich gelegentlich und lassen Sie mich wissen, wie es Ihnen geht.« »In Ordnung.« Sonny schüttelte ihm die Hand und ging fort. Jake sah ihm nach. Er hatte keinen Grund, Sonny Tran verhaften zu lassen, und das wäre die einzige Möglichkeit gewe447
sen, ihn aufzuhalten. Wenn er von seinem Handy oder der Kreditkarte Gebrauch machte, so hinterließ er Spuren, denen Zelda folgen konnte. Das musste genügen. Er überlegte, ob er sich eine Kopie des Polizeiberichts über den Unfall beschaffen sollte, verschob das dann auf später. Tatsache war, dass ihm nur noch ein Corrigan-Detektor zur Verfügung stand, und noch immer mussten vier Atombomben gefunden werden. Und die Flottenwoche stand bevor! Wie zum Teufel hatte er das vergessen können? Er holte sein Handy hervor und rief Gil Pascal an. Die Schwester am Tisch beugte sich vor und flüsterte laut: »Sir, würden Sie bitte ins Wartezimmer für Besucher gehen? Die Signale des Handys stören unsere Geräte.« »Ja, natürlich«, sagte Jake. Die Schwester deutete in die entsprechende Richtung, und er ging los. Mohammed Mohammed und Akram berieten sich. Sie saßen im Lieferwagen und folgten dem Laster mit der Bombe in einem Abstand von hundert Metern. Das Ganze fand auf einem zweispurigen Highway statt, der nach Norden führte. Sie sprachen über ihre Möglichkeiten. Wenn sie neben den Laster fuhren und den Fahrer erschossen, verunglückte der Lastwagen. Konnten Akram, Mohammed und die drei anderen Männer die Bombe in den Lieferwagen umladen, bevor die Polizei eintraf? Und wenn die Bombe beschädigt wurde? »Wenn er auf solchen Straßen bleibt, muss er irgendwann an einer Ampel halten«, sagte Akram. »Wenn das geschieht, fahren wir neben das Führerhaus und erschießen ihn. Anschließend setzt du dich ans Steuer und fährst.« »Auf einem Interstate-Highway müsste er irgendwann an einer Kontrollstation halten«, dachte Mohammed laut nach. »Ich 448
weiß nicht, wohin er fährt, aber wenn das Ziel weit entfernt ist, muss er früher oder später auch tanken.« Akram nahm diesen Hinweis zum Anlass, einen Blick auf die Tankuhr des Lieferwagens zu werfen. Halb voll. »Vermutlich geht uns der Treibstoff eher aus als ihm«, sagte er betrübt. »Wenn wir halten, fährt er weiter und entkommt uns.« Keine der Möglichkeiten wirkte sonderlich attraktiv. Die drei Männer hinten hatten ihre eigenen Meinungen, und es kam zu einer lebhaften Diskussion, während sie Kilometer um Kilometer zurücklegten. Angesichts der vielen Ungewissheiten einigte man sich darauf, zunächst zu warten. Irgendetwas würde geschehen. Der Laster würde aus dem einen oder anderen Grund anhalten. Allahu Akbar! Im Führerhaus des Lastwagens sah Nguyen Duc Tran immer wieder in die Rückspiegel. Der Blumenlieferwagen folgte dem Sattelschlepper und wahrte einen Abstand von hundert Metern. Woher er gekommen war, wusste Nguyen nicht, aber er vergeudete keine Zeit damit, über sein Pech nachzudenken. Zweifellos stellte die Polizei Nachforschungen in Hinsicht auf die Schießerei bei der Baustelle an. Zum Glück hatte er alle Kopien der Lieferpapiere mitgenommen. Jemand konnte die Kennzeichen der Zugmaschine oder des Auflegers notiert haben, aber das bezweifelte er. Die Bauarbeiter waren in Deckung gegangen, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Vermutlich waren sie davon überzeugt gewesen, dass es bei der Schießerei um eine Drogenangelegenheit ging. Nguyen hoffte, dass sie fest daran glaubten. Bestimmt wussten sie, dass Leute, die in Südflorida Drogenhändlern in die Quere kamen, eine geringe Lebenserwartung hatten. Vermutlich boten sie der Polizei nicht von sich aus Informationen an. Erneut sah er in den Rückspiegel. Während der Fahrt schob er ein neues Magazin in die Glock und legte sich die Pistole auf 449
den Schoß. Dann griff er hinter den Sitz und holte die Uzi hervor. Er hatte zwei Magazine mit Klebeband verbunden: Wenn das erste leer geschossen war, brauchte er es nur herauszuziehen und umzudrehen, konnte die Maschinenpistole dann sofort wieder nutzen. Er legte die Uzi auf den Beifahrersitz. Er hatte eine Flasche mit Trinkwasser, der Tank war voll, und auf diesen Nebenstraßen konnte er die Kontrollstationen meiden. Wenn die Lumpenköpfe darauf warteten, dass er anhielt, so brauchten sie viel Geduld. Nguyen dachte daran, was sie tun konnten. Sie wollten den Container intakt – das schränkte ihre Möglichkeiten ein. Nach einer halben Stunde trafen Akram und Mohammed eine Entscheidung. Anschließend nahm Mohammed sein Handy und telefonierte mehrmals. Wenn es gelang, Leute vor den Sattelschlepper zu bringen, so konnten sie ihm auflauern und die Reifen der Zugmaschine zerschießen. Das mochte gefährlich sein, aber ein Risiko ließ sich nicht vermeiden. Wenn der Laster stand, konnte der Aufleger mit einer anderen Zugmaschine verbunden und weggefahren werden. Die anderen Leute mussten schnell handeln, denn die gestohlene Atombombe war mit etwa neunzig Stundenkilometern nach Norden unterwegs. Fahah Saqib, zweiundzwanzig Jahre alt, glaubte an den Dschihad gegen die Kafirn, die Ungläubigen. Er war in einem kleinen Dorf am Rand der Wüste aufgewachsen, als Angehöriger eines Stammes, der noch die Zeichen der Wüste trug. Er wusste nicht genau, was die amerikanischen Ungläubigen dem Islam angetan hatten, aber sein ganzes Leben lang hatten ungebildete bärtige Heilige, die nie sehr weit von ihren Dörfern fort gewesen waren, die Ungläubigen als Feinde dargestellt. Saqib sah keinen Grund, daran zu zweifeln. Er nahm es als eine Tatsache 450
des Lebens, vergleichbar mit der Wüste und Allahs Präsenz. Auch während der vergangenen sechs Monate in Amerika hatte er nicht daran gezweifelt, obwohl es für ihn zu einem schlimmen Kulturschock gekommen war. Er wusste nichts über dieses Land, beherrschte die Sprache nicht, verabscheute das Essen und die Musik. Die Frauen entsetzten ihn. Sie waren überall, an öffentlichen Orten ebenso wie in privaten Läden. Man konnte ihnen nirgends entkommen. Sie stellten ihre Reize zur Schau, trugen Kleidung, die zu viel Haut zeigte, bemalten ihre Gesichter und Fingernägel und versuchten, Männer zur Sünde zu verleiten. Es waren Huren der schlimmsten Art. Und Saqib war gezwungen, mit ihnen zusammen zu essen, neben ihnen zu sitzen und zu beobachten, wie sie Männer in Versuchung führten, die sie gar nicht kannten. Sie trachteten sogar danach, ihn in Versuchung zu führen … Fahah Saqib glaubte, die Welt des Teufels zu besuchen, in der das Böse herrschte, in der man die Größe Allahs und die Worte des Propheten verhöhnte. Er hatte Kinder und Mädchen gesehen, die mit dem Finger auf ihn zeigten und kicherten. Er fühlte ihre Erheiterung, ihre Verachtung. Und er hasste sie. Kafirn! An diesem Morgen saß er hinten in einem Lieferwagen, der zu einem unbekannten Ziel unterwegs war – der Anführer hatte es ihm nicht genannt, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, von sich aus danach zu fragen. Währen der Fahrt dachte er an die Waffe. Er wusste nur, was er darüber gehört hatte. Angeblich handelte es sich um eine Superbombe, die eine ganze Stadt auslöschen und alle ihre Bewohner töten konnte. Ihm war nicht bekannt, wie sie funktionierte. Die Kafirn hatten sie hergestellt, aber offenbar fehlte ihnen der Mut, davon Gebrauch zu machen. Die Männer vom Schwert des Islam würden der Welt zeigen, dass sie den Mut und die Macht hatten, dachte Fahah Saqib. Den überlebenden Kafirn würden der Zorn des Dschihad und 451
die Macht des Islam vor Augen geführt. Wende dich Allah zu oder stirb – so lautete die Botschaft des Propheten an die Ungläubigen. Als an diesem Freitagmorgen die Sonne aufging, unterrichtete der Anführer Saeed seine Männer. Die Bombe würde am Morgen bei einem Wal-Mart-Supermarkt am Stadtrand von Atlanta eintreffen. Dort sollte sie in Empfang genommen werden. Wenn sie eintraf, würden die Männer im Lieferwagen den Container umgeben und alle, Polizisten ebenso wie Lagerarbeiter, daran hindern, sich ihm zu nähern. Zu diesem Zweck würden sie Waffen bekommen. Während sie die Bombe verteidigten, würde Mohammed Salaah, der Anführer im anderen Wagen, einen Teil des Containerinhalts ausladen, um an die Waffe zu gelangen. Anschließend würde er die Bombe mit einigen Autobatterien verbinden und den Kondensator auslösen. Einige Sekunden später würde die Waffe explodieren und einen großen Teil von Atlanta zerstören. Natürlich würden sie dabei alle sterben – ein bedauerliches, aber notwendiges Opfer – und auf direktem Wege ins Paradies gelangen. Fahah Saqib war bereit. Er hatte so gut wie möglich gelebt und war bereit für ewige Wonnen. Allahu Akbar! In der Nähe von Atlanta hielt der Lieferwagen einige Minuten lang. Salaah ging zu einem anderen Fahrzeug und kehrte kurze Zeit später zurück. Waffen wurden verteilt. Fahah Saqib erhielt eine Maschinenpistole und mehrere Magazine Munition. Mit der Waffe in der Hand fühlte er sich wie ein Krieger, ein Krieger Allahs, und die Gefühle überwältigten ihn fast. Er drehte den Kopf zur Seite, damit die anderen seine Tränen nicht sahen. Dann ging die Fahrt weiter, und die Männer saßen mit ihren Waffen auf dem Schoß da. Der Wal-Mart-Parkplatz war praktisch leer, als sie ihn erreichten. Mehrere Fahrzeuge waren beim Angestellteneingang ge452
parkt, und hier und dort standen einige aufgegebene oder defekte Autos. Wie abgesprochen ging Fahah Saqib hinter dem Wal-Mart in Position, in der Nähe eines großen Abfallcontainers. Er streckte sich neben dem Behälter im Gras und den darin verstreuten Abfällen aus und legte das Reservemagazin in Griffweite auf den Boden. Dann lud er die Waffe und sicherte sie. Während der Nacht hatte es geregnet. Der Asphalt war nass, und es gab Pfützen. Der Geruch des Mülls im Abfallcontainer hing schwer in der feuchten Luft. Fahah Saqib hatte an diesem Morgen nichts gegessen, und der Gestank sorgte dafür, dass er keinen Appetit bekam. Im Paradies würde es jede Menge Leckeres zu essen geben. Als er genauer darüber nachdachte, fragte er sich, ob das stimmte. Wahrscheinlich ja, denn Allah wusste, dass Menschen gern aßen. Die Minuten vergingen langsam. Fahah Saqib sah mehrmals auf die Uhr. Es waren keine anderen Leute in Sicht. Einige Male glaubte er, Flugzeuge zu hören, und einmal einen Hubschrauber, weit entfernt. Er sah nicht zu ihnen auf. »Drei der Zellen sind in Atlanta«, teilte Hob Tulik seinem Vorgesetzten Myron Emerick über eine verschlüsselte Verbindung mit. Emerick befand sich in der Einsatzzentrale des FBI im Washingtoner Hoover Building und überwachte von dort aus die Situation. Tulik hielt sich noch immer in Florida auf. »Sie befinden sich auf einem Wal-Mart-Parkplatz, bis an die Zähne bewaffnet. Offenbar warten sie auf etwas, vielleicht auf das Eintreffen einer Bombe.« »Ist sie schon da?« »Ich glaube nicht. Zwei ihrer Lieferwagen stehen in der Mitte des Parkplatzes, vor dem Lager. Um das Gebäude herum und am Rand des Parkplatzes sind Männer in Position gegangen. Es 453
hat kein Versuch stattgefunden, das Gebäude zu betreten oder die anderen geparkten Fahrzeuge zu öffnen. Alles deutet darauf hin, dass sie warten. Es sind insgesamt zwölf Verdächtige, neun in Position und drei bei den Wagen.« »Alle bewaffnet?« »Ja, Sir. So hat es den Anschein.« »Wenn die Bombe vor Ort ist, möchte ich, dass Sie Ihre Männer sofort in den Einsatz schicken.« »Ich glaube nicht, dass sie da ist.« »Warum nicht sofort aktiv werden, die Männer verhaften und dann auf die Bombe warten?« »Sir, ich habe keine Hinweise darauf, worauf diese Männer warten.« »Na schön«, sagte Emerick. Manchmal musste man sich auf sein Gefühl verlassen, weil es sonst nichts anderes gab. Sein Verstand sagte ihm, dass Tulik Recht hatte, doch das Gefühl teilte ihm mit, dass die Verdächtigen in Atlanta auf eine Atombombe warteten. Er rief das Weiße Haus an, bekam Sal Molina an den Apparat und beschrieb die aktuelle Situation. »Wo sind die anderen Bomben?«, fragte Molina. »Wir sind nicht sicher. Derzeit müssen wir die Terroristen wohl oder übel frei herumlaufen lassen. Natürlich werden sie überwacht. Wir erledigen sie, wenn sie in Schussweite einer Bombe kommen.« »Geben Sie mir sofort Bescheid. Der Präsident hat mich gebeten, ihn auf dem Laufenden zu halten.« »In Ordnung«, sagte Myron Emerick und legte auf. Er betrachtete die große, von einem Computer erzeugte Karte an der gegenüberliegenden Wand und fragte sich laut: »Wo zum Teufel sind die anderen Bomben?« Einige Minuten vor acht an jenem Morgen rollte eine Zug454
maschine auf den Wal-Mart-Parkplatz und zog einen Aufleger mit einem Container hinter sich her. Der Mann am Steuer fuhr mit recht hoher Geschwindigkeit über den Parkplatz und wurde erst langsamer, als er abbiegen und durch den schmalen Bereich neben dem Gebäude fahren musste. Fahah Saqib hörte den Laster kommen und schloss die Hände fester um seine Waffe. Der Fahrer kam in Sicht. Der Auspuff seiner Zugmaschine pustete Dieselqualm nach oben, als der Mann am Steuer geschickt an die Laderampe zurücksetzte. Er ließ den Motor im Leerlauf, als er ausstieg und das Gebäude betrat, auf der Suche nach jemandem, der für seine Fracht unterschrieb. In diesem Augenblick kamen zwei Zellenmitglieder um die Ecke, kletterten ins Führerhaus, fuhren den Laster langsam ums Gebäude und stellten ihn neben dem Lieferwagen in der Mitte des Parkplatzes ab. Fahah Saqib beobachtete, wie der Sattelschlepper hinter dem Gebäude verschwand, mit Saleem und einem anderen Mann im Führerhaus. Er wartete an Ort und Stelle. Nach fünfzehn Sekunden kam der ursprüngliche Fahrer nach draußen, stellte fest, dass sein Laster fehlte, und lief ihm hinterher. Fahah Saqib stand auf und schoss mit der Maschinenpistole aus der Hüfte heraus. Natürlich verfehlte er den Mann. Er schoss erneut, so weit über den Kopf des Mannes hinweg, dass er nicht einmal sah, wo die Kugeln einschlugen. Der Fahrer drehte sich um, lief zur Laderampe zurück und rannte um sein Leben. Saqib gab zwei weitere Feuerstöße ab, und einer von ihnen ließ auf dem Beton der Laderampe Funken sprühen. Der Fahrer warf sich mit erstaunlicher Agilität auf die Rampe, kam sofort wieder auf die Beine und sprang zur Tür. Als er im Innern des Gebäudes verschwunden war, ließ Saqib seine Waffe sinken und zog nachdenklich das Magazin heraus. Er überprüfte es und schob dann das Ersatzmagazin hinein. Nur 455
einmal in seinem Leben hatte er mit einer Maschinenpistole geschossen, vor etwa einem Jahr. Er lehnte sich an den Abfallcontainer und beobachtete die Laderampe, als ein Scharfschütze des FBI aus einer Entfernung von dreihundert Metern auf ihn schoss. Saqib hörte den Schuss gar nicht. Die Kugel durchbohrte beide Lungen und das Herz. Er brach zusammen und fragte sich verwundert, was geschehen war. Zehn Sekunden später hörte sein Herz auf zu schlagen. Zwei Helikopter sausten übers Dach hinweg und näherten sich dem Hauptparkplatz. In weniger als dreißig Sekunden waren fünf Zellenmitglieder tot und vier weitere verletzt. Die anderen warfen ihre Waffen weg. Einer ergriff die Flucht. Die Ortspolizei verhaftete ihn knapp einen Kilometer entfernt, im hohen Gras eines unbebauten Grundstücks. Der für den Einsatz zuständige FBI-Agent George Ekimow öffnete den Container. Er enthielt leichte Büromöbel, billigen Kram aus weichem Holz. Seine Männer begannen mit dem Entladen. Einer von ihnen benutzte einen Scheinwerfer und eine Videokamera, zeichnete alles auf. Auf halbem Wege durch die Ladung stießen die Männer auf Knautschsessel. Die ersten schienen ganz normal zu sein, doch dann fanden sie einen, der so schwer war, dass ihn zwei Männer nicht heben konnten. Vier waren nötig, um das Ding aus dem Container zu holen. Mit einem Messer schnitt Ekimow den Kunstlederbezug auf, griff hinein und holte Kügelchen hervor. Sie bestanden aus weichem Metall, von Luftblasen durchsetzt, um sie zu vergrößern. Mit dem Messer kratzte er an einem. Blei. Weitere Knautschsessel wurden aus dem Container geholt, und zum Vorschein kam ein großer Haufen aus Leinensäcken, die mit ziemlich viel Klebeband in Position gehalten wurden. Mit dem Messer schnitt Ekimow einen Beutel los und unter456
suchte ihn im Licht des Scheinwerfers. Der Beutel enthielt fünfundzwanzig Pfund Vogelschrot aus Blei. Nach der Entfernung aller Schrotbeutel war der nukleare Sprengkopf ganz deutlich zu sehen – die Terroristen hatten ihn an den Boden des Containers genietet. Er war kleiner, als Ekimow gedacht hatte. Zwischen der Bombe und dem Containerboden lag eine zentimeterdicke Bleiplatte. Jeder der etwa vier Dutzend Zünder, die hochexplosiven Sprengstoff enthielten, war mit einem schwarzen Kasten verbunden – ein Wirrwarr aus gelben Kabeln. Ekimow vermutete, dass der Kasten ein komplexer Kondensator war, der allen Zündern gleichzeitig elektrische Impulse übermitteln konnte. Eine Batterie oder eine andere externe Stromquelle schien es nicht zu geben, doch der Einsatzleiter bemerkte Drähte, die aus dem schwarzen Kasten herausführten, der vermutlich als zentrale Verbindungsstelle fungierte. Er bekam die Meldung, dass einer der Lieferwagen zwölf Autobatterien enthielt. »Vielleicht wollten sie das Ding hier hochgehen lassen«, sagte der Agent. »Vielleicht«, räumte Ekimow ein. »Beginnen Sie damit, die Überlebenden zu vernehmen. Wo sind die anderen Bomben? Finden Sie jemanden, der Englisch spricht, und holen Sie alles aus ihm heraus.« »Sollen die Leute auf ihre Rechte hingewiesen werden?« »Nein. Dies ist ein Krieg. Es sind feindliche Soldaten, bis jemand in Washington etwas anderes bestimmt. Wo sind die verdammten Bomben? Finden Sie es heraus, verdammt!« »Ja, Sir.« Während der Mann mit der Videokamera um die Bombe herumging und von allen Seiten Aufnahmen anfertigte, stellte Ekimow eine sichere Verbindung mit Hob Tulik her. Nach dem Gespräch mit ihm rief er das Kampfmittelbeseitigungsteam an, das sich in der Naval Air Station Jacksonville bereithielt. Wäh457
rend des Telefonats hörte er ein Grollen in der Ferne. Ein Gewitter. Lieber Himmel! Ein Blitz konnte die verdammte Bombe zur Explosion bringen. »Beeilen Sie sich«, teilte er dem Teamchef der Kampfmittelbeseitigung mit. Das lokale Fernsehen berichtete schon bald über die Schießerei auf dem Parkplatz am Stadtrand von Atlanta. Ein Verkehrsüberwachungshubschrauber machte Aufnahmen, als die FBIAgenten den Container entluden. Keiner der Beamten ließ das Wort »nuklear« fallen, und mehrere gaben zu verstehen, dass es um Drogen ging, und so lautete schließlich die Geschichte: Das FBI und die örtliche Polizei hatten einen Container voller Drogen sichergestellt. Es dauerte nicht lange, bis das Video des Hubschraubers überall im Land gesendet wurde. Jake Grafton befand sich im VIP-Terminal des Bostoner Flughafens, als Gil Pascal ihn anrief und von den Ereignissen in Atlanta berichtete. Wie es der Zufall wollte, war der Fernseher im Aufenthaltsraum der Piloten auf MSNBC eingestellt, und der Sender brachte gerade das Hubschraubervideo. Der Container wirkte unheimlich. Der Kommentator faselte zwar etwas von Drogen, aber Jake wusste es besser. Sein Handy klingelte erneut. Diesmal war es Harry Estep vom FBI, und er hatte Neuigkeiten. Dem FBI war es gelungen, eine Atombombe sicherzustellen – sie befand sich in dem Container, den das Fernsehen zeigte. »Das Ding ruhte auf einer Bleiplatte und war umgeben von Säcken mit Vogelschrot und Knautschsesseln voller Bleikugeln. So kam es ins Land.« Jake Grafton brummte. Er hatte etwas in der Art vermutet, aber warum extra darauf hinweisen? 458
»Emerick glaubt, dass alle vier Bomben im Land sind, und er hofft, sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zu finden.« »Ich bete zu Gott, dass es ihm gelingt«, sagte Jake mit Nachdruck. »Wir überwachen einige Gruppen, die unterwegs sind und es offenbar eilig haben. Vielleicht führen sie uns zu den anderen Bomben. Ich gebe Ihnen Bescheid.« »Klar.« »Ich rufe Sie an, sobald ich etwas erfahre«, versicherte Estep. »In Ordnung«, sagte Jake und klappte das Handy zu. Flottenwoche, dachte er, während er sich das Video des Hubschraubers ansah, der über dem Wal-Mart-Parkplatz kreiste. Wenn im New Yorker Hafen eine Atombombe hochging, inmitten hunderter von Kriegsschiffen, so würde die Öffentlichkeit glauben, dass es sich um die zufällige Explosion einer amerikanischen Atombombe an Bord eines Schiffes der US-Navy handelte. Es würde niemand am Leben bleiben, um eine andere Geschichte zu erzählen. Die Explosion im New Yorker Hafen und der anschließende radioaktive und politische Fallout würden der amerikanischen Wirtschaft einen verheerenden Schlag versetzen. Man würde die Schiffe der amerikanischen Marine aus den meisten Häfen der Welt verbannen, vermutlich auch aus denen in Kalifornien und im Pugetsound. Amerika wäre nicht mehr in der Lage, seine Interessen weltweit wahrzunehmen und als globaler Verteidiger der liberalen Zivilisation aufzutreten. Eine Bombe … und die Ära der Pax Americana endete in einer pilzförmigen Wolke.
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21 Der zweispurige Highway führte nach Norden durch Zentralflorida, durch Wälder aus Zwergkiefern, Sümpfe und vorbei an gelegentlichen Wohnwagen auf Lichtungen mit roter Erde. Der Maihimmel war klar und blau. Bankette aus zermahlenen Muscheln säumten den Asphalt. Nguyen Duc Tran fuhr mit etwa neunzig Stundenkilometern. Der Lieferwagen folgte dem Sattelschlepper nach wie vor, in einem Abstand von hundert Metern. Beim ersten Ort, den er erreichte, gab es eine Umgehungsstraße, und Nguyen nahm sie. Eine Ampel zeigte rotes Licht, und er wurde langsamer. Als er nur noch mit sechzig fuhr, sprang die Ampel auf Grün um, und daraufhin gab er wieder Gas. Beim nächsten Mal hatte er vielleicht nicht so viel Glück. Wenn die Araber im Lieferwagen entschieden, auf die Reifen des Lasters zu schießen, so hatten sie ihn. Daran hinderte sie vermutlich nur die Befürchtung, dass es zu einem Unfall kam, der vielleicht die Bombe beschädigte. Es waren zu allem entschlossene Männer, die vor nichts zurückschreckten. Früher oder später würden sie sich zu einer solchen Aktion durchringen. Vielleicht benachrichtigten sie mit ihren Handys andere Terroristen, die irgendwo vor ihm in Position gingen. Nguyen begann damit, nach Straßen Ausschau zu halten, die rechts und links in die Sümpfe führten. Akram und Mohammed Mohammed sprachen über die beste Vorgehensweise. Wenn der Laster verunglückte, drohte eine Beschädigung der Bombe – wenn das geschah, war ihre Mission gescheitert. Aber sie scheiterte auch, wenn es ihnen nicht gelang, den Sattelschlepper anzuhalten. Vielleicht sollten sie 460
warten, bis der Laster weiter im Norden anhielt, um zu tanken. Glücklicherweise war die Straße sehr gerade, ein Asphaltband, das durchs Hinterland reichte. Einer der Männer hinten benutzte sein Handy und sprach mit dem Anführer der dritten Zelle, die ihrer Gruppe zugewiesen war. Leider verließ sie gerade erst Broward County, zwei Stunden hinter ihnen. Sie konnte nicht rechtzeitig zu ihnen aufschließen. Akram und Mohammed begriffen, dass sie eine Entscheidung treffen und dabei ein Risiko eingehen mussten. »Wir zerschießen die Reifen«, einigten sie sich. »Wenn die hinteren Reifen platzen, muss der Sattelschlepper langsamer werden und anhalten. Dann töten wir den Fahrer und verstauen die Bombe im Lieferwagen.« Sie brauchten nur eine Stelle an der Straße, wo es keine Zeugen gab, die die Polizei verständigen konnten. Keine oder nur wenige Zeugen. Während sie eine Straßenkarte zu Rate zogen, hörten sie eine Sirene. Sie war erst leise, wurde dann aber lauter. Ein Streifenwagen erschien im Rückspiegel. Mit hundertdreißig oder hundertvierzig raste er heran und überholte sie mit blinkendem Blaulicht. Auf dem Beifahrersitz überprüfte Mohammed seine Maschinenpistole. Wenn die Polizisten den Lieferwagen anhalten wollten, würde er sie erschießen. Aber der Streifenwagen wurde nicht langsamer. Er blieb auf der linken Fahrspur, jagte auch am Sattelschlepper vorbei, wechselte dann nach rechts und setzte die Fahrt mit hoher Geschwindigkeit zum Horizont fort. Akram und Mohammed wussten nichts davon, aber die Polizisten des Streifenwagens waren von der AntiterrorismusTaskforce beauftragt worden, auf einem Interstate-Highway bei der Staatsgrenze zwischen Florida und Georgia eine Straßen461
sperre zu errichten. Die Anweisung für die Einrichtung von Straßensperren kam aus Washington. Da nicht einmal die Polizei genug Leute hatte, um jede Straße abzusperren, konzentrierte man sich auf die Interstates. Nguyen Tran rechnete mit Straßensperren auf den wichtigsten Highways, und deshalb beabsichtigte er nicht, eine solche Straße zu benutzen. Er sah dem Streifenwagen nach, bis er außer Sicht geriet, blickte dann in den Rückspiegel, der ihm den Lieferwagen mit den Arabern zeigte. Noch immer da. Und die Zeit wurde knapp. Er griff nach hinten, zog ein Remington-Gewehr aus der Halterung und legte es sich so auf den Schoß, dass der Lauf zur Fahrertür zeigte. Weiter vorn und links sah er eine unbefestigte Straße, die im rechten Winkel abzweigte und in den Sumpf führte. Sie musste genügen. Er trat auf die Kupplung, schaltete herunter und benutzte den Motor, um den Sattelschlepper abzubremsen. Er durfte bei der Abzweigung nicht zu langsam werden, denn sonst verließen die Terroristen ihren Wagen und schossen, bevor er irgendetwas unternehmen konnte. Das Timing musste perfekt sein. Die Geschwindigkeit des Sattelschleppers war noch immer recht hoch, als er fest auf die Bremse trat, wodurch der Aufleger ein wenig ausbrach. Kurz darauf nahm er den Fuß von der Bremse, gab Gas und riss das Steuer nach links. Die Zugmaschine wandte sich in die entsprechende Richtung, der Aufleger schwang herum und die Räder auf der linken Seite verloren den Bodenkontakt … In einer Wolke aus aufgewirbeltem Staub und kleinen Steinen brachte der Sattelschlepper die Abzweigung hinter sich. Nguyen drehte das Lenkrad und setzte die Fahrt über die unbefestigte Straße fort, das Gaspedal noch immer bis zum Anschlag durchgedrückt. Der Aufleger 462
stabilisierte sich, und der Laster donnerte über die schmale Straße, während sich von beiden Seiten dichte Vegetation heranschob. Als der Sattelschlepper langsamer wurde, lehnte sich Mohammed mit der Maschinenpistole aus dem Seitenfenster. Dies war der richtige Zeitpunkt, um auf die hinteren Räder zu schießen! Akram bremste zu schnell, und die Entfernung wurde nicht gering genug, bevor der Laster auf die Seitenstraße bog. Mohammed befürchtete, dass der Aufleger umkippte. Mit den linken Reifen in der Luft nahm er die Neunzig-Grad-Kurve, und Rauch stieg von den rechten Reifen auf. Das Abbiegen des Sattelschleppers kam so überraschend, dass Akram ausweichen musste. Er war schon ein ganzes Stück an dem Laster vorbei, als er auf die Bremse trat. »Zurück«, drängte Mohammed. »Folgen wir ihm. Dies ist unsere Chance.« Akram legte den Rückwärtsgang ein und setzte mit quietschenden Reifen zurück. Dann schaltete er das automatische Getriebe wieder auf vorwärts, gab Gas und drehte das Steuer. Sie hatten nicht viel Zeit verloren, aber die Entfernung zum Laster war auf mehrere hundert Meter gewachsen. Der Sattelschlepper beschleunigte noch immer und fuhr tiefer in den Kiefernwald hinein. Nguyen wusste, dass der Lieferwagen auf dieser Straße schneller fahren konnte als der Sattelschlepper. Ihm blieb nur wenig Zeit. Jetzt oder nie. Er trat gleichzeitig auf Kupplung und Bremse. Der große Laster geriet ins Rutschen, und Nguyen drehte das Lenkrad hin und her, um ihn auf der schmalen Straße zu halten. Kleine Steine flogen nach rechts und links, und in einer dichten Staubwolke kam der Sattel-Schlepper zum Stehen. Noch immer trennten ihn etwa hundert Meter vom Lieferwagen. Nguyen 463
drehte den Zündschlüssel und zog ihn ab. Mit dem RemingtonGewehr und der Uzi sprang er nach draußen. Auf der Straße zögerte er, ließ das Remington fallen, hob die Uzi und zielte sorgfältig auf den herankommenden Lieferwagen. Als die Entfernung auf etwa vierzig Meter geschrumpft war, eröffnete er das Feuer. Akram hatte gerade angehalten und den Wählhebel der Automatik in die Parkstellung geschoben, als es 9-mm-Kugeln hagelte. Sie bohrten sich in den Kühler und schlugen durch die Windschutzscheibe, die sich in eine undurchsichtige, von zahlreichen Rissen durchzogene Masse verwandelte. Der Kugelhagel schuf weitere Löcher darin, und Glassplitter flogen umher. Akram bekam eine Kugel in den Kopf und war sofort tot. Mohammed wurde am Hals getroffen und ebenfalls außer Gefecht gesetzt. Die Männer hinten schafften es, die Tür zu öffnen und nach draußen zu gelangen. Einer von ihnen wurde zwischen den Rippen getroffen, als er die Straße zu verlassen versuchte, dann zweimal an den Beinen und einmal am Arm. Er sank zu Boden und rührte sich nicht mehr. Inzwischen hatte Nguyen sein ganzes Magazin verschossen, dreißig Schuss, in drei Feuerstößen mit jeweils zehn Schuss. Er trat nach rechts, um besser sehen zu können, zog das Magazin aus der Waffe, drehte es und schob das damit verbundene Ersatzmagazin in die Uzi. Einer der Araber versuchte, ins Gebüsch zu entkommen. Ein anderer kam auf die Beine und feuerte mit seiner Maschinenpistole aus der Hüfte heraus auf Nguyen. Er hätte zielen sollen. Nguyen gab einen gezielten Feuerstoß auf den Schützen ab. Fünf Kugeln trafen den Mann und warfen ihn nach hinten. Nguyen leerte die Uzi auf den Lieferwagen und die beiden Gestalten, die daneben lagen. Dann ließ er die Waffe fallen, nahm das Remington-Gewehr und warf sich nach rechts, ins 464
hüfthohe Gebüsch. Er kroch fort von der Zugmaschine und der Straße. Mohmad Adeel versteckte sich hinter einem Baum und lauschte der Stille. Die Schießerei hatte aufgehört. Gerade hatten sie noch im Lieferwagen gesessen und darüber gesprochen, wie sie den Sattelschlepper anhalten sollten, und im nächsten Augenblick regnete es plötzlich Kugeln. Mohmad hatte gesehen, wie Akrams Kopf nach hinten ruckte, als ihn die Kugel traf, und er zweifelte nicht daran, dass er tot war. Er erinnerte sich an das Blut, das aus Mohammeds Hals geströmt war, und vor dem inneren Auge beobachtete er noch einmal, wie Alaeddin zusammenbrach. Was aus Omar geworden war, wusste er nicht. Vermutlich lebten sie beide nicht mehr. Mohmad Adeels Hände zitterten heftig. Als er sich an den Baum presste, fühlte er plötzlich Nässe in der Hose und begriff, dass er die Kontrolle über seine Blase verloren hatte. Der Kafir war irgendwo dort draußen mit seiner Waffe. Mohmad Adeels Pflicht bestand darin, ihn zu töten, um Akram, Mohammed, Omar und Alaeddin zu rächen. Vorsichtig spähte Mohmad Adeel hinter dem nicht sehr dicken Baumstamm hervor. Er sah den Container und den größten Teil des Sattelschleppers. Auf der anderen Seite stand der Lieferwagen, und neben ihm lagen Omar und Alaeddin, voller Blut. Dies hätte nicht passieren dürfen. Sie waren heilige Krieger des Dschihad. Allah sollte sie schützen. Er schob diesen Gedanken als unwürdig beiseite. Wo befand sich der Ungläubige? Vermutlich in der Nähe der Zugmaschine. Sicher wollte er ins Führerhaus zurückkehren und wegfahren, mit dem nuklearen Sprengkopf, der dem Schwert des Islam gehörte. 465
So leise wie möglich näherte sich Mohmad Adeel dem Sattelschlepper. Er blieb im Gebüsch, bewegte sich ganz langsam. Wenn er eine Stelle erreichte, von der aus sich die Zugmaschine beobachten ließ, konnte er den Ungläubigen töten, wenn er ins Führerhaus zu klettern versuchte. Auf einer Höhe mit der Zugmaschine duckte er sich, um unter den Laster zu sehen. Ausgezeichnet, dachte er. Ich schieße ihm in die Beine und töte ihn, wenn er fällt. Er schob sich ein wenig zur Seite, ging hinter einem Busch in Position, hob die Waffe an die Schulter und entsicherte sie. Nguyen saß im Gebüsch und horchte. Er hörte nur das Summen von Insekten und weit oben einen Jet. Das Geräusch des Flugzeugs wurde immer leiser und verschwand; nur die Insekten blieben. Eines landete in Nguyens Gesicht. Vorsichtig hob er die Hand und zerquetschte es. Er wusste nicht, ob es überlebende Araber gab. Er glaubte, jemanden gesehen zu haben, der auf der anderen Seite der Straße vom Lieferwagen fortlief, aber ganz sicher war er nicht. Rückstoß und Lärm der Waffe, die Konzentration auf den Mann, der auf ihn schoss … Vielleicht hatte er sich geirrt. Und selbst wenn jemand geflohen war … Vielleicht hatte ihn eine der Kugeln erwischt. Möglicherweise lag er irgendwo tot oder sterbend zwischen den Sträuchern. Die Zugmaschine wirkte sehr verlockend. Wenn er es ins Führerhaus schaffte, konnte er wegfahren und die arabischen Hurensöhne hier verrotten lassen. Wenn ich einer von ihnen wäre, dachte Nguyen, würde ich hoffen, dass mein Feind ins Führerhaus zu klettern versucht. Er hielt das Remington-Gewehr in beiden Händen, setzte sich wieder in Bewegung und blieb dabei so tief wie möglich geduckt. Er wollte vor die Zugmaschine gelangen, um auch die andere Straßenseite zu sehen. 466
Von seinem Versteck hinter dem Busch sah Mohmad Adeel nur die Zugmaschine. Die Vegetation zu beiden Seiten war recht dicht. Wenn er den Kopf ein wenig hob, konnte er den zerschossenen Lieferwagen weiter hinten auf der Straße sehen. Moskitos landeten in seinem Gesicht und am Hals, fielen regelrecht über ihn her. An Fliegen war er gewöhnt, nicht aber an Moskitos. Er versuchte, sie zu verscheuchen. Zeit verging. Er dachte an Akram, Omar und Alaeddin, an die Männer, mit denen er Monate zusammengelebt hatte. Am Morgen noch waren sie so lebendig gewesen, und jetzt waren sie tot. Eine schreckliche Sache, wenn man genauer darüber nachdachte, der Triumph des Bösen. Er wusste, warum es das Böse in der Welt gab: um den Glauben und die Kraft der Männer des Islam auf die Probe zu stellen. Aber es gab so viele Feinde, so viel Böses … Wo steckte der verdammte Kafir? Er schlug nach den Moskitos. Welch ein grässlicher Ort! Was sollte er machen, nachdem er den Mann erschossen hatte? Er wusste nicht, wie man einen Lastwagen fuhr. Er würde das Handy benutzen, beschloss er, den Anführer einer anderen Zelle der Gruppe anrufen und ihm seinen Aufenthaltsort mitteilen. Mit der Hilfe anderer heiliger Krieger konnten sie die Bombe in einen Lieferwagen umladen. Ja, so würde er vorgehen. Mohmad Adeel schlug erneut nach Moskitos und sah unter die Zugmaschine, als eine Kugel aus dem Remington-Gewehr ihn von den Beinen riss. Zuerst verstand er nicht, was geschehen war. Er versuchte aufzustehen und nach seiner Waffe zu greifen, starrte dann auf die rote Flüssigkeit, die aus seiner Seite strömte. Die zweite 467
Kugel tötete ihn auf der Stelle. Fünf Minuten später schlich sich Nguyen Duc Tran an den letzten Araber heran. Ein Blick auf Mohmad genügte. Der Mund stand offen, und die Augen starrten ins Nichts. Nguyen setzte den Weg parallel zur Straße fort und näherte sich dem Lieferwagen. Vielleicht gab es dort einen weiteren Mann, und wenn das der Fall war, und wenn jener Mann Nguyen zuerst sah, so bekam er Gelegenheit zum ersten Schuss. Als er eine Stelle erreichte, von der aus er die rechte Seite des Lieferwagens sehen konnte, zählte er vier Leichen. Fünf mit Mohmad. Das war richtig. Er hatte fünf Männer im Lieferwagen gesehen. Nguyen trat zum Wagen und hielt das Gewehr bereit. Die Araber waren tot, kein Zweifel. Er blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Sollte er die Leichen ins Gebüsch ziehen und den Lieferwagen von der Straße schieben? Er konnte den Wagen nicht verstecken, nur dafür sorgen, dass er nicht mehr mitten auf der Straße stand. Wofür auch immer er sich entschied, er musste rasch handeln. Früher oder später würde jemand anders über die Straße kommen, und dann musste er weg sein. Nach drei tiefen Zügen schnippte er die Zigarette fort. Er legte das Gewehr auf den Boden und griff nach den Füßen der nächsten Leiche. Nachdem er sie ins Gebüsch gezogen hatte, nahm er sich die zweite vor und legte sie neben die erste. Es dauerte etwas länger, die beiden Toten aus dem Wagen zu holen. Sie waren sofort tot gewesen und hatten deshalb nicht allzu viel Blut verloren. Den Fahrer zog er auf der linken Seite zwischen die Sträucher, den Beifahrer auf der rechten. Anschließend schob er den Schalthebel des automatischen Getriebes in 468
die neutrale Stellung, drehte das Lenkrad nach links und trat vor den Wagen. Zahlreiche Einschusslöcher zeigten sich dort, und von der Windschutzscheibe waren nur einige wenige Fragmente übrig geblieben. Ausgelaufenes Kühlwasser bildete eine Pfütze auf der Straße. Die Reifen waren noch intakt. Nguyen schob, und der Lieferwagen rollte los. Das leichte Gefälle am Straßenrand half. Es gelang ihm, den Wagen ganz zur Seite zu schieben, bevor das Gebüsch ihn stoppte. Das reichte. Mit dem Hemd wischte er seine Fingerabdrücke am Steuer und an der Vorderseite des Wagens ab, trocknete dann die Stirn. Die auf der Straße liegenden Waffen trat er ins Gebüsch. Nguyen hob das Gewehr auf und ging dorthin, wo seine Maschinenpistole lag. Er legte beide Waffen ins Führerhaus der Zugmaschine, zündete sich eine weitere Zigarette an, zog einen Lappen hinter dem Fahrersitz hervor und wischte sich damit Hände und Gesicht ab. Er prüfte sein Erscheinungsbild im Rückspiegel und vergewisserte sich, dass kein Blut am Hemd klebte. Zufrieden nahm er am Steuer Platz. Der Dieselmotor sprang sofort an und spuckte Rauch aus den verchromten Auspuffrohren. Nguyen ließ den Motor einige Sekunden laufen, legte dann den ersten Gang ein und fuhr los. Das Gerücht, nach dem der Container auf dem Wal-MartParkplatz am Stadtrand von Atlanta einen nuklearen Sprengsatz und keine Drogen enthielt, breitete sich schnell aus. Ein Polizist rief seine Frau mit dem Handy an. Sie telefonierte mit ihrer besten Freundin, und die sprach mit ihrem Mann, einem Reporter, der für einen Fernsehsender in Atlanta arbeitete. Nach wenigen Minuten war das Gerücht auf Sendung. Eine Stunde später musste das Weiße Haus zugeben, dass es der Wahrheit entsprach. Um Mittag wurde der Handel an der New Yorker Börse und 469
der NASDAQ ausgesetzt. In Washington schickten nervöse Kabinettsmitglieder nicht unbedingt erforderliche Angestellte und Beamte am frühen Nachmittag nach Hause. Der Präsident beschloss, vom Oval Office aus eine Fernsehansprache an die Nation zu halten, und die Networks erklärten sich bereit, sie zu senden. Der Pressesprecher des Weißen Hauses trat vor die nationalen Medien, um Fragen über die vom FBI verhaftete Terroristengruppe zu beantworten, doch die Fragen betrafen fast ausschließlich den nuklearen Sprengkopf. Die erste lautete: »Ist es eine gestohlene amerikanische Atombombe?« »Nein«, sagte der Sprecher. Er fügte keine Einzelheiten hinzu und lehnte es ab, weitere Fragen in Hinsicht auf den Ursprung der Bombe zu beantworten, woraufhin überall im Lande Spekulationen begannen. Tommy Carmellini und Anna Modin betraten ein Café in Virginia Beach für ein spätes Mittagessen und stellten fest, dass alle vor dem Fernseher standen. Sie blickten über ihre Schultern hinweg. Nach zehn Minuten führte Tommy Anna zu einem Tisch. »Ich muss nach Washington zurück«, sagte er. »Jetzt geht’s drunter und drüber. Der Urlaub ist zu Ende. Vielleicht werde ich gebraucht.« Modin nickte. Über die vier russischen Sprengköpfe hatte sie nicht mit Carmellini gesprochen, wohl aber mit Jake Grafton, und sie wusste, dass Carmellini für ihn arbeitete. Sie aßen schweigend, jeder von ihnen in Gedanken versunken. Als sie zum Motel zurückkehrten, um zu packen, erzählte Anna von General Petrow und Faruk Al-Zuair. »Woher weißt du das alles?«, fragte Carmellini. »Ich war dabei, als Petrow die Sprengköpfe verkaufte und 470
Zuair sie entgegennahm. Ich habe Janas Ilin davon erzählt. Er kam nach Amerika und gab diese Information an Jake Grafton weiter.« Carmellini nickte. Er hatte sich gefragt, wie es gelaufen war, sich aber dagegen entschieden, Grafton oder Tarkington darauf anzusprechen. Natürlich gaben sie eine solche Information nicht von sich aus preis, denn sie konnte Ilin das Leben kosten, wenn sie bekannt wurde. Carmellini hatte nicht unbedingt Bescheid wissen müssen. »Du solltest mir diese Dinge nicht anvertrauen«, sagte er. Anna griff nach seiner Hand. »Es ist schön, jemanden zu haben, dem ich alles sagen kann. Manchmal wird die Bürde sehr schwer.« Er legte ihr den Arm um die Schultern, drehte sie um und küsste sie. An jenem Abend war das Kabinettzimmer im Weißen Haus voll. Jake Grafton fand einen Platz an der Wand. Kabinettsmitglieder saßen am Tisch, hinter ihnen die Leiter verschiedener Agencys und hier und dort dazwischen wichtige Angehörige beider Häuser des Kongresses. Alle sprachen leise und ernst miteinander. Noch eine Stunde bis zur Fernsehansprache des Präsidenten. Jake wusste, dass er die vom FBI angefertigten Videoaufnahmen der Bombe zeigen wollte. Der Fotograf des Weißen Hauses machte einige Schnappschüsse vom Präsidenten, als der hereinkam, und Jake schaffte es, sich aus den Aufnahmen herauszuhalten. Auf dem Weg zum Tisch blieb der Präsident stehen und sprach mit einigen wichtigen Kongressmitgliedern. Er wirkte müde. Jake bemerkte, dass Myron Emerick es fertig brachte, mit dem Justizminister zu reden, als der Fotograf die Kamera auf die Leute am Tisch richtete. 471
Als der Fotograf den Raum verließ, kam der Präsident zur Sache. »Wie in der Zwischenzeit bekannt wurde, hat das FBI heute Morgen in Atlanta den nuklearen Sprengkörper einer Gruppe islamischer Terroristen beschlagnahmt. So sehr man im Fernsehen auch spekuliert, es handelt sich nicht um einen amerikanischen Sprengsatz. Wir glauben, die Terroristen haben vier davon.« Das Oberhaupt der Senatsmehrheit – der Mann gehörte nicht zur Partei des Präsidenten – fragte: »Warum haben wir nicht früher davon erfahren? Vier von Terroristen ins Land geschmuggelte Atombomben? Woher zum Teufel wissen wir das?« »Ich werde hier keine Geheimdienstinformationen preisgeben«, erwiderte der Präsident scharf. »Ich habe von nuklearen Bedrohungen gehört. Auch von biologischen und chemischen. Alles sehr theoretisch. Niemand hat mir gesagt, dass vier verdammte Atombomben an Wal-Mart geliefert werden sollten. Meine Güte, was ist hier eigentlich los?« Der Präsident sah keinen Grund, sich zu entschuldigen. »Diese Administration hat Sie so gut informiert, wie es die Interessen der nationalen Sicherheit zuließen. Die Aufsichtskomitees der Geheimdienste bekamen detailliertere Informationen.« »Man hat uns nicht genug mitgeteilt, Sir«, sagte der Senator hitzig. »Bei weitem nicht genug.« Von da an ging es mit der Besprechung bergab. Der Präsident befand sich im Zentrum eines Feuersturms, eines unvermeidlichen, wie Jake Grafton wusste. Ganz gleich, welche Entscheidungen der Präsident traf und welche nicht: Die Kritiker würden in jedem Fall über ihn herfallen. Selbst für das ganze Geld der Wallstreet hätte Jake nicht mit ihm getauscht. 472
»Wir haben viel über die so genannten Corrigan-Detektoren gehört«, sagte ein Kongressmitglied laut. »Man hat uns aufgefordert, Geld zu bewilligen, um hunderte davon zu kaufen. Was hat es mit ihnen auf sich, und warum haben sie nicht funktioniert?« Nach einigen erregten Wortwechseln verlangte der Präsident Ruhe. »Wir versuchen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln, die Bomben zu finden und die Terroristen zu verhaften«, sagte er. »Aber wir können nicht das ganze Land stilllegen und die Wirtschaft anhalten, während wir sie jagen. Wenn wir eine solche Entscheidung träfen, hätten die Terroristen gewonnen. Genau darauf wollen sie hinaus. Unsere Lebensweise steht auf dem Spiel. Dies ist ein Krieg, den wir auf keinen Fall verlieren dürfen.« »Wenn eine der Bomben explodiert, haben wir ihn verloren«, erwiderte ein Kongressabgeordneter. »Das wissen wir alle«, sagte der Präsident. »Wir verlieren ihn auch, wenn die Öffentlichkeit in Panik gerät …« »Ich habe Neuigkeiten für Sie«, warf ein anderes Kongressmitglied zornig ein. »Die Öffentlichkeit ist bereits in Panik geraten.« Der Mann vollführte eine Geste, die dem ganzen Land galt. »Dort draußen gibt es über zweihundertfünfzig Millionen Menschen, die Angst haben. Sie erwachen an einem Donnerstagmorgen im Mai und beginnen mit einem ganz normalen Tag, doch als die Sonne untergeht, laufen sie plötzlich Gefahr, Opfer eines Atomkriegs zu werden. Sie möchten wissen, was verdammt noch mal geschehen ist.« Bevor der Präsident antworten konnte, rief ein dritter Kongressabgeordneter seinem Kollegen zu: »In der vergangenen Woche haben Sie im Fernsehen gesagt, die Administration wäre zu sehr auf den Terrorismus konzentriert und vernachlässige die Wirtschaft.« Der Präsident wahrte eisige Ruhe. »Genug! Wir geben uns al473
le Mühe, die Ökonomie unseres Landes in Gang zu halten und die Bomben zu finden. Einen Sprengkopf haben wir. Wir werden auch die anderen entdecken. Jemand hier muss der Vernunft und dem Durchhaltevermögen des amerikanischen Volkes vertrauen. Ich habe dieses Vertrauen! Die Amerikaner haben den Bürgerkrieg, zwei Weltkriege, Depressionen, Rezessionen und den elften September überstanden. Sie werden auch mit dieser Krise fertig.« Das war’s. Die Kabinettsmitglieder blieben, aber alle anderen wurden aufgefordert, den Raum zu verlassen. Sal Molina wartete draußen auf Jake Grafton und führte ihn durch den Flur in sein Büro. Bevor er die Tür schließen konnte, gesellte sich ihnen der Präsident hinzu. »Ich höre«, sagte der Präsident. »Wahrscheinlich sind alle vier Sprengköpfe im Land«, sagte Jake und begegnete dem Blick des Präsidenten. »Das FBI hat siebzehn mutmaßliche Terroristenzellen in Südflorida überwacht; in der vergangenen Nacht setzten sie sich in Bewegung. Zwei der Zellen trafen sich auf dem Parkplatz in Atlanta, und kurze Zeit später kam ein Lastwagen mit einem Container für das Wal-Mart-Lager. Die Bombe befand sich in dem Container, von Blei umgeben – deshalb haben wir sie nicht mit den Geigerzählern gefunden. Ich hoffe und bete, dass der CorriganDetektor besser funktioniert.« »Der Detektor? Ich dachte, wir hätten zwei.« »Einer wurde gestern Nacht bei einem Unfall in Boston zerstört. Wir haben einen einsatzfähigen Detektor, und er befindet sich in Washington. Diese Stadt ist meiner Ansicht nach das wahrscheinlichste Ziel.« »Emerick glaubt, dass ihn einige der Gruppen zu den anderen Bomben führen«, sagte der Präsident. »Das hat er mir versprochen.« »Ich hoffe, dass er Recht behält, aber ich bezweifle es. Ich 474
glaube, die Terroristen wussten, dass das FBI jene Gruppen eventuell überwacht, und deshalb werden sie geopfert – sie sollen uns ablenken.« Der Präsident rieb sich das Gesicht. Seit ihn Jake das letzte Mal gesehen hatte, schien er um zehn Jahre gealtert zu sein. »Ich bin Corrigan fast in den Arsch gekrochen, um mehr Detektoren zu bekommen. Ich habe ihm die Heiligsprechung garantiert, und wenn ich jetzt zehn Detektoren hätte, würde ich den Papst anrufen.« »Seine Techniker konstruieren die Apparate per Hand und haben Probleme dabei. Die Detektoren sind sehr komplex. Corrigan war nie in der Lage, sie selbst zu produzieren.« »Verdammter Mist!«, fluchte der Präsident der Vereinigten Staaten und sank in Sal Molinas Sessel. Jake setzte sich auf die Schreibtischkante und ließ die Beine baumeln. Molina nahm hinter dem Schreibtisch Platz. »Die CDs, die Anna Modin von der Bank in Ägypten mitbrachte, führten uns zu der Annahme, dass das Geld, mit dem das Schwert des Islam die vier Sprengköpfe kaufte, aus den Vereinigten Staaten kam«, fuhr Jake fort. »Es ist eine sehr dünne Spur, und vor Gericht ließe sich damit nichts anfangen. Soweit ich weiß, hat das FBI bisher nichts unternommen, um dieser Spur zu folgen.« Der Präsident brummte. »Es besteht die Möglichkeit, dass der Zaster von Corrigan kam.« Diese Worte wirkten auf den Präsidenten und Molina. Sie sahen Jake verblüfft an. »T.M.?«, fragte der Präsident. »Warum sollte er eine Stadt in die Luft jagen wollen?« »Darum ging es ihm nicht. Er wollte der Regierung tausend Corrigan-Detektoren verkaufen und amerikanischer Botschafter in Großbritannien werden – o ja, ich kenne die Gerüchte. Geld, 475
Prestige, Macht, Position. Er steht ganz groß da, und deshalb ist er mein Hauptverdächtiger.« »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass er ein misstrauischer Mistkerl ist«, wandte sich Molina an den Präsidenten. »Sie irren sich«, sagte der Präsident zu Grafton. »Hoffen wir, dass ich mich nicht irre. Wenn ich Recht habe, bin ich einer Bombe auf der Spur. Wenn nicht …« Der Präsident war vollkommen verwirrt. »Eben haben Sie gesagt, es ginge Corrigan gar nicht darum, eine Stadt auszulöschen.« »Ich glaube, das war nie seine Absicht. Aber er scheint nicht an die Möglichkeit gedacht zu haben, dass jemand falsches Spiel mit ihm treibt. Sein Mann Nummer zwei ist ein gewisser Karl Glück. Er fährt gern in Corrigans Limousine durch Washington und Boston und trifft sich mit einem CIA-Typen namens Sonny Tran. Tran arbeitet für mich und könnte hinter dem Verschwinden eines anderen CIA-Agenten namens Richard Doyle stecken.« »Haben Sie irgendwelche Beweise dafür?« »Für die Treffen, ja. Zelda Hudson hat Videoaufnahmen, die Corrigans Wagen in Washington zeigen. In zwei Fällen ist Sonny Tran zu sehen, wie er einsteigt. Ein Bild zeigt ihn beim Aussteigen.« Jake erklärte die Sache mit den Polizeikameras an Kreuzungen und wie er die in Polizeipräsidien eintreffenden Videosignale anzapfte. »Gestern Nacht saß Sonny Tran am Steuer des Lieferwagens, in dem der zweite Corrigan-Detektor unterwegs war. Es kam zu einem Zusammenstoß mit einem Müllwagen, und dabei wurde der Apparat zerstört. Dass er zu jener Gruppe gehörte, war mein Fehler – ich wollte ihn von Washington fern halten.« Jake hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Wir überwachen Trans und Karl Glücks Handys, haben einen Peilsender an Corrigans Wagen, untersuchen den Hintergrund der beiden Männer und suchen nach Spuren, die uns weiterbringen.« 476
Der Präsident sah auf die Uhr, richtete den Blick dann auf Grafton. »Was ist mit den vergrabenen Bomben? Wer ist für sie verantwortlich?« »Das können wir erst dann mit Gewissheit sagen, wenn wir eine ausgraben und sie uns genauer ansehen. Ich vermute, die Russen vergruben diese Bomben, als sie begriffen, dass es mit Star Wars weiterging. In der russischen Regierung gibt es Leute, die nicht auf nukleare Abschreckung verzichten wollen.« »Geheime Waffen schrecken vor nichts ab, wenn der Feind keine Ahnung von ihnen hat.« »Aber die Russen wissen, dass sie sie haben, und deshalb sind die Waffen politische Trümpfe in der Hand von Moskau.« Der Präsident wusste um die Machtpolitik in der Hauptstadt eines großen Landes und akzeptierte diese Situationsbewertung. »Wer hat Ilin zu uns geschickt?«, fragte er. »Niemand in Moskau. Ilin kam aus eigenem Antrieb. Wenn Sie heute Nacht im Bett über ein Rätsel nachdenken wollen, so fragen Sie sich, ob Ilin von den vergrabenen Waffen wusste. Hat er dafür gesorgt, dass Petrow dem Schwert des Islam vier Sprengköpfe verkaufte, damit wir gezwungen sind, nach Atombomben zu suchen und dabei die vergrabenen russischen finden? Oder ist das nur ein Zufall?« »Lieber Himmel, wer ist der verdammte Bursche?« Jake Grafton atmete tief durch, bevor er antwortete. »Jemand, der uns einen Gefallen getan hat. Vorausgesetzt, wir finden die Sprengköpfe der Terroristen, bevor einer von ihnen hochgeht.« Der Präsident stand auf, rückte Hose und Krawatte zurecht. »Ich muss zur Nation sprechen. Finden Sie die gottverdammten Bomben!« »Aye aye, Sir.« Der Präsident streckte die Hand nach dem Türknauf aus und zögerte. »Selbst wenn die Bomben explodieren, das amerikani477
sche Volk wird überleben. Der Fortbestand unserer Republik ist nicht gefährdet. Die Terroristen glauben, sie in Gefahr bringen zu können, aber da irren sie sich. Es ist der Fortbestand ihrer Lebensweise, die hier auf dem Spiel steht. Wenn in amerikanischen Städten Atombomben explodieren, beginnt der dritte Weltkrieg, und selbst alle Worte der Welt können ihn nicht verhindern. Der Krieg findet nicht hier statt, sondern dort drüben. Nach Pearl Harbor und dem elften September war die Öffentlichkeit empört, aber das ist nichts im Vergleich mit dem, was passieren wird, wenn sich Washington in eine pilzförmige Wolke verwandelt. Dann wählt das amerikanische Volk irgendeinen unversöhnlichen Mistkerl, der einen heiligen Krieg gegen den Islam führt. Ganze Völker könnten sterben.« Damit öffnete der Präsident die Tür und ging nach draußen.
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22 Eine bestürzte Nation sah am Donnerstagabend den Präsidenten der Vereinigten Staaten im Fernsehen und hörte seine Ansprache. Diese wurde auch im Radio übertragen, und Dr. Hamid Salami Mabruk, der sich inzwischen wieder im Land befand, lauschte den Worten, als er mit seinem Pick-up nach den Vorlesungen an der Universität in Richtung Washington unterwegs war. Bei der Planung dieser Mission hatte er seine Kollegen darauf hingewiesen, dass die amerikanische Polizei die Zellen in Florida vermutlich überwachen würde, und die jüngsten Ereignisse gaben ihm Recht. Eine der beiden den Zellen zugewiesenen Bomben war vom FBI gefunden worden. Mabruk rechnete damit, dass man bald auch die zweite entdecken würde. Jetzt hing es allein von ihm ab, ob die Mission mit einem Erfolg oder einem Fehlschlag enden würde. Auch diese Entwicklung hatte er für wahrscheinlich gehalten. Er wusste, dass an diesem Abend viel Arbeit auf ihn wartete. Die Bombe war zum Washington Convention Center mitten in der Stadt gebracht worden. Nach wochenlanger Suche hatte er sich aus zwei Gründen für das Convention Center entschieden. Erstens: Es befand sich mitten in der Innenstadt, zwischen dem Weißen Haus und dem Kapitol, in der Nähe des Hoover Building und des Finanzamts … Die Explosion des Sprengkopfs würde das Herz der amerikanischen Regierung vernichten. Von den Gebäuden, die nicht dem Erdboden gleichgemacht wurden, wie zum Beispiel das Pentagon, würden nur Gerippe übrig bleiben. Zweitens: Abends und nachts hielten sich nur wenige Personen im Convention Center auf. Er hatte seinem Kontaktmann vom Schwert des Islam eine verschlüsselte E-Mail geschickt und ihm den Ort genannt, da479
mit der Container dorthin geliefert wurde. Heute war Donnerstag; morgen und übers Wochenende fanden die Vorbereitungen für eine Messe statt. Ein perfekter Vorwand. Mabruk führte alle notwendigen Papiere bei sich. Er war William Haddad, Hersteller von Elektrotechnik aus Philadelphia und Aussteller auf der Messe. An diesem Abend wollte er seinen Stand aufbauen. Das Sicherheitspersonal hatte er bereits kennen gelernt und Zwanzig-Dollar-Noten verteilt; die Leute erwarteten ihn. Langsam fuhr er am Convention Center vorbei, hielt nach Streifenwagen und Zivilfahrzeugen der Polizei Ausschau. Als er nichts Verdächtiges bemerkte, drehte er um, kehrte zurück und parkte auf der anderen Straßenseite, dem Verladeplatz gegenüber, der sich hinter einem Maschendrahtzaun mit Stacheldraht befand. Und dort stand der Container auf einem Aufleger. Die Zugmaschine, die ihn gebracht hatte, war längst fort. Zwei weitere Container standen in der Nähe. Mit einem Feldstecher beobachtete Mabruk Straßen und Dächer. Er sah niemanden und vermutete, dass die Bombe sichergestellt worden wäre, wenn die Polizei von ihr gewusst hätte. Aber es war auch möglich, dass sie den Container im Auge behielt und darauf wartete, dass sich jemand an der Bombe zu schaffen machte. Vielleicht lagen Bewaffnete im Container selbst auf der Lauer. Es war ein Risiko, das er nicht vermeiden konnte. Er wollte nicht den ganzen Abend damit verbringen, alles zu beobachten. Die Bombe musste scharf gemacht und mit einem Zeitzünder versehen werden. Mabruk würde auf dem Weg zum zweiten Sprengkörper in New York sein, wenn dieser explodierte. Er wollte sich auch nicht mehr in New York befinden, wenn die dortige Bombe hochging. Im Gegensatz zu den Soldaten des Dschihad beabsichtigte Dr. Hamid Salami Mabruk nicht, in 480
absehbarer Zeit ins Paradies zu gelangen. Er hatte vor, den Ungläubigen in den kommenden Jahren noch viel mehr Schaden zuzufügen. Er hoffte zu erleben, wie sich die ganze muslimische Welt unter Allahs Banner vereinte. Wenn Mabruk die an Jake Grafton und Sal Molina gerichteten Worte des amerikanischen Präsidenten gehört hätte, wäre er bereit gewesen, dieser Einschätzung der Folgen eines nuklearen Angriffs auf Amerika zuzustimmen. Er glaubte ebenfalls, dass die Explosionen den dritten Weltkrieg auslösten. Bin Laden und Dr. Zawahiri hatten Recht: Nichts Geringeres als ein Weltbrand war nötig, um die großen Massen der Muslime weltweit zu bewegen, ihre Apathie aufzugeben und sich für eine Seite zu entscheiden. Die Explosionen würden die Verwundbarkeit der Ungläubigen beweisen, und der Zorn der nichtmuslimischen Welt würde sie zwingen, sich zu verteidigen. An die Möglichkeit, dass die Muslime den großen Krieg verlieren könnten, dachte Mabruk nicht. Allah war mit ihnen. Wenn sich die wahren Gläubigen im Dschihad zusammenschlossen, würden die Mächte des Teufels beim letzten Kampf zwischen Gut und Böse unterliegen. Das wusste er in den Tiefen seiner Seele. Es stand sogar in der Bibel der Christen. Er schloss seinen Wagen ab und ging zum Ausstellereingang des Convention Center. Die dortige Wächterin, eine Schwarze mit einem Funkgerät am Gürtel, sah sich seine Papiere an und suchte dann seinen Namen in einer Liste. »Ja, Sie haben die Genehmigung, Ihren Stand schon jetzt aufzubauen«, sagte sie. »Hier steht Ihr Name.« »Ich habe einige Werkzeuge in meinem Wagen. Wie kann ich ihn hierher holen?« »Ich öffne das Tor am Verladeplatz. Können Sie Ihre Sachen von dort hereinbringen?« »Ja. Vielen Dank.« »Zehn Minuten. Ich lasse mich hier von jemandem vertreten.« 481
Die Wächterin sprach ins Funkgerät. Mabruk kehrte zu seinem Pick-up zurück, fuhr zum Tor, stellte dort den Motor ab und wartete. Es waren einige Leute auf der Straße, aber nur sehr wenige. Eine Zeit lang heulte eine Sirene in der Ferne, schien aber nicht näher zu kommen. Er hörte mehrere Jets, die vermutlich über den Fluss zum Reagan National Airport flogen. Hamid Mabruk saß stumm da, lauschte und wartete. Die Anspannung war enorm, aber der Lohn stand kurz bevor. Er betete, während er am Steuer saß. Die Wächterin erschien nach elf langen Minuten, entriegelte das Vorhängeschloss und öffnete das Tor. Mabruk fuhr zum Verladeplatz, und hinter ihm schloss die Schwarze das Tor wieder. »Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte Hamid Mabruk herzlich. »Gern geschehen. Fragen Sie einfach, wenn Sie was brauchen.« Die Wächterin ging durch den großen Verladebereich davon, und ihre Schritte waren seltsam leise. Schließlich verschwand sie hinter einer Ecke. Mabruk war allein. Die Ladetür war nicht verriegelt. Er betätigte den Schalter daneben, und brummend glitt die Tür nach oben. Mabruk trat auf die Laderampe und öffnete die Tür des Containers. Er enthielt Kisten mit elektrotechnischen Geräten. Hamid Mabruk erlaubte sich ein dünnes Lächeln – der Container sah genauso aus wie an Bord der Olympic Voyager. Jetzt stand er vor einer Wahl. Zwei Kabel lagen verborgen hinter der untersten Kiste auf der rechten Seite. Wenn er diese Kiste beiseite schob, bekam er Zugang. Er brauchte nur die Autobatterien herzubringen und sie sowohl mit den Kabeln als auch mit einem Zeitzünder zu verbinden – dann würde die Bombe zum vorgesehenen Zeitpunkt explodieren. Die Vorbereitungen sollten nicht länger als eine halbe Stunde dauern. Er konnte den Timer so einstellen, dass die Bombe in drei 482
Stunden hochging. Zeit genug für ihn, die Stadt zu verlassen. Oder er konnte den Sprengkopf mit einem Gabelstapler entladen – es standen drei unweit der Tür. Mabruk dachte daran, die Bombe im Convention Center zu verstecken, hinter einem Kistenstapel, und den Timer so einzustellen, dass sie am nächsten Tag explodierte, wenn die Innenstadt von Washington voller Menschen war. Dann hatte die Explosion die maximale dramatische Wirkung, und bestimmt gab es außerhalb der Stadt Kameras, die alles aufzeichneten – die Bilder der Katastrophe würden um die ganze Welt gehen. Solche Aufnahmen gab es nicht, wenn die Bombe in der Nacht explodierte. Außerdem: Wenn er den Sprengkopf an einem anderen Ort unterbrachte, war er geschützt, falls der Container durchsucht wurde. Mabruk kehrte ins große Lager zurück und sah sich nach einer geeigneten Stelle um. Es ist natürlich ein Risiko, dachte er. Aber ich glaube, das Glück ist auf meiner Seite. Als Jake Grafton an jenem Abend heimkehrte, saßen Tommy Carmellini und Anna Modin auf der Couch und sahen mit Callie fern. »Ich dachte, Sie wollten Anna abseits des Rampenlichts halten, bis das FBI eine neue Identität für sie vorbereitet hat«, sagte Jake zu Carmellini, als sie in die Küche gingen, um Kaffee zu kochen. »Ja, aber als ich heute die Nachrichten sah, hielt ich es für besser, zurückzukehren und zu sehen, ob ich irgendwie helfen kann. Ich fühle mich nutzlos, wenn ich tagelang am Strand spazieren gehe. Und ich habe fünf Pfund zugenommen.« »Sie gehen noch richtig auseinander. Freut mich, dass Sie zurück sind. Hat Callie Ihnen von Toads Unfall gestern Nacht in Boston erzählt?« Carmellini nickte, und Jake fuhr fort: »Wir haben nur noch einen Corrigan-Detektor, und zwar hier in Washington. Mir bleibt gerade genug Zeit für eine Tasse Kaffee. 483
In einer halben Stunde holt man mich ab.« »Was dagegen, wenn ich mitkomme? Ich habe den Detektor noch nicht in Aktion gesehen.« »Hat Sie jemand beobachtet, als Sie dieses Gebäude betraten?« »Nein. Alle Menschen in Nordamerika sehen sich die Fernsehnachrichten an, selbst die Terroristen.« »Anna sollte hier sicher sein«, sagte Jake, als der erste Kaffee durchlief. »Kommen Sie beide gut zurecht?« »O ja«, sagte Tommy Carmellini. »Hat sie keinen Anstoß an Ihren grässlichen Angewohnheiten genommen?« »Sie hat sich nicht beschwert.« »Wundervoll. Ansonsten wäre noch zu erwähnen, dass Zip Vance eine neue Freundin hat. Er geht mit einer der Sekretärinnen aus.« »Was hält Zelda davon?« »Ich glaube, sie hat es noch gar nicht bemerkt. Sie ist sehr beschäftigt.« »Er musste sein Leben fortsetzen.« »Gilt das nicht für uns alle?« Jake zog die Kanne aus der Kaffeemaschine und stellte eine Tasse an ihren Platz. Als sie voll war, reichte er sie Carmellini und nahm eine zweite Tasse für sich selbst. »Milch ist im Kühlschrank.« »In Ordnung.« »Wollen Sie und Anna heiraten, oder geht sie nach Europa oder Russland oder so, wenn dies vorbei ist?« Tommy trank einen Schluck Kaffee. »Sie geht weg«, sagte er und begegnete Jakes Blick. »Hm.« Jake brachte den Frauen Kaffee und setzte sich zu ihnen. Callie fragte, wie es am Nachmittag im Weißen Haus gewesen war, 484
doch darüber wollte Jake nicht reden. Als er zum dritten Mal auf die Uhr sah, lächelte sie und meinte, er solle sich besser bereitmachen. Sie begleitete ihn ins Schlafzimmer, wo er seine Uniform gegen Jeans, Sweatshirt und Turnschuhe tauschte. »Anna bleibt heute Nacht hier, und Tommy begleitet mich«, sagte Jake. »Ich erwarte keine Zwischenfälle. Schließ die Tür ab. Wähl neun eins eins, wenn etwas verdächtig klingt oder aussieht, und gib mir anschließend per Handy Bescheid.« Er nahm einen alten Revolver aus der Schublade mit den Socken, lud ihn und steckte ihn in die Gesäßtasche. Im Wohnzimmer zog Carmellini die Windjacke aus und nahm das Schulterhalfter ab. »Leg dieses Ding in deine Handtasche und halt es ständig bereit.« Er erklärte Anna, wie die Pistole funktionierte. »Den Hahn zurückziehen, zielen und abdrücken. Dann macht’s bumm.« Anna drückte die Pistole mit beiden Händen an sich. »Diese beiden Wochen mit dir waren die schönsten meines Lebens«, sagte sie. Er umarmte sie fest. »Ja.« »So ist das also mit unserem Leben?« »Ich bin nicht in einer göttlichen Mission unterwegs. Ich gehe nirgendwohin. Wenn du bleiben möchtest, so bleib. Wenn du heiraten möchtest, so heiraten wir.« Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. So standen sie da, als die Graftons aus dem Schlafzimmer kamen. »Küssen Sie sie und kommen Sie mit«, sagte Jake, als er an ihnen vorbeiging. Carmellini gehorchte dem Befehl. Hoss Baker war Obermaat der Marine im Ruhestand. Er war bettelarm aufgewachsen, auf einer heruntergekommenen gepachteten Farm in Mississippi, und er hatte sich freiwillig für den Dienst in der Marine verpflichtet, um all dem zu entkom485
men. Anschließend kehrte er nie zurück. Zuletzt war er in Washington stationiert gewesen, und dort blieb er nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst. In der Stadt gab es eine große schwarze Gemeinschaft, und er bekam einen Job beim Convention Center. Seine Frau und er lebten sich schnell ein. In Washington war immer etwas los. Messen kamen und gingen, die Wizards spielten im MCI Center, es gab Musik, Kunst, politisches Theater … Im Großen und Ganzen war es eine gute Stadt. Ganz anders als Mississippi, dachte er und lachte leise. Baker blickte durch sein kleines Büro. An diesem Abend war er ernster als sonst, und er spürte vage Besorgnis. Wahrscheinlich lag es an den Nachrichten im Fernsehen, über den gefundenen Atomsprengkopf, und an der späteren Ansprache des Präsidenten. Er hatte sie vor Arbeitsbeginn gehört. Amerika hatte natürlich seine Probleme – jeder Schwarze wusste, dass dieses Land alles andere als perfekt war –, aber dass es dort draußen Menschen gab, die alles zerstören wollten, das Gute ebenso wie das Schlechte … Wie absurd. An diesem Abend schien der kleine, hell erleuchtete Raum eine sichere Zuflucht zu sein. Der Schreibtisch bestand aus Eichenholz, ein Geschenk seines Sohnes, der als Anwalt in Washington arbeitete. Ihm gefielen die glatte Festigkeit des Holzes, die Maserungen darin, die Kraft, die es verkörperte. An den Wänden hingen Fotos, die ihn mit Berühmtheiten und Politikern zeigten, denen er bei seiner Arbeit im Convention Center begegnet war. Eine Aufnahme zeigte einen Admiral, der ihn mit der Ehrenmedaille der Marine auszeichnete. Damals war er jünger gewesen und schlanker. Er stand auf, rückte Hose und Pistolengurt zurecht. Und dann tat er etwas, das er nur selten machte. Er holte die Pistole aus dem Halfter und zog das Magazin aus dem Griff. Er nahm die Patrone aus dem Lauf und legte die Pistole auf den Tisch. Nachdem er alle Patronen aus dem Magazin genommen hatte, füllte 486
er es wieder, langsam und sorgfältig. Er schob das Magazin in den Griff, lud eine Patrone in den Lauf, sicherte die Waffe, steckte sie ins Halfter und befestigte die Schlaufe darüber. Dann verließ Hoss Baker sein Büro. Er schritt durch den Flur und überprüfte die Türen, ging dann die Treppe zum Hauptbereich hinunter. Zwei Personen reinigten dort den Boden. Er schlenderte durch die Messehalle und begegnete drei kleinen Gruppen, die Stände für die nächste Messe aufbauten, während eine weitere damit beschäftigt war, einen Stand in seine Einzelteile zu zerlegen. Ein Mann arbeitete an dem Kühlschrank einer Snackbar-Küche. In einem Schaltraum tauschte ein Elektriker ein defektes Teil aus. Hoss kannte ihn – der Mann hatte vier Jahre bei der Air Force gedient – und plauderte einige Minuten mit ihm. Mabel Jones war die Wächterin am Ausstellereingang. Hoss hatte sie vor zwei Jahren eingestellt. Als junge Frau war sie mit dem Bus von Georgia nach Norden gefahren, auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie hatte zwei Söhne; der eine war in der Army, der andere saß wegen einer Drogensache im Gefängnis. Ihr Mann, den sie nie geheiratet hatte, war vor einigen Jahren an Diabetes gestorben. »Wer ist heute Nacht hier, Mabel?« »Ich habe die Liste«, sagte sie. »Im Grunde genommen ist es ziemlich ruhig.« Baker sah aufs Klemmbrett. »Was ist mit diesem HaddadBurschen? Ich habe ihn nicht gesehen.« »Drüben im Verladebereich. Hab ihn vor einer Stunde hereingelassen. Joe hat mich vertreten.« Joe war der externe Wächter. »Ich sehe dort mal nach dem Rechten. Hier alles in Ordnung?« »Klar. Was machen Sie heute hier? Ich dachte, dies wäre Ihr freier Tag.« »Hab den ganzen Mist im Fernsehen gesehen und konnte 487
nicht zu Hause bleiben. Musste irgendetwas tun.« Hoss hörte den Gabelstapler, bevor er ihn sah: das Piepen beim Zurücksetzen. Die im Innern des Gebäudes verwendeten Exemplare waren mit Elektromotoren ausgestattet und sehr leise, solange sie nicht rückwärts fuhren. Das Geräusch kam aus einem Lagerraum. Hoss Baker ging in die entsprechende Richtung. Die Tür des Lagers stand offen, und der Gabelstapler trug etwas. Was zum Teufel ging hier vor? Die Tür hätte abgeschlossen sein sollen. Und wer fuhr den Gabelstapler? Er trat näher, als der Mann am Steuer den Kopf drehte, um den Gabelstapler aus dem Lager zu steuern. Mit verschränkten Armen stand Hoss da. Der Fahrer hielt, stieg aus und näherte sich. Ein Mann aus dem Mittleren Osten, gut vierzig. »Was machen Sie hier?«, fragte Hoss nicht besonders aggressiv. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen«, sagte der Mann und deutete zum Eingang. »Die Tür war offen, und ich musste meine Sachen irgendwo unterbringen, bevor ich den Stand aufbauen kann.« Hoss ging zur offenen Tür, und der Mann folgte ihm. »Eigentlich dürfen Sie das Ding nicht fahren«, sagte er und zeigte auf den Gabelstapler. »Wegen der Haftung. Und der Raum hätte abgeschlossen sein müssen. Hier gibt es Limonade und Schokoriegel. Die Leute klauen …« Er unterbrach sich, als er den Sprengkopf auf seiner Palette sah. Klein, rund, mit Kabeln, die von den Zünderkontakten ausgingen. Am Nachmittag hatte Hoss Baker die FBI-Aufnahmen von Atlanta gesehen; er erkannte die Bombe sofort. Er wollte sich umdrehen und seine Pistole ziehen, als ihn eine Kugel aus einer 22er mit Schalldämpfer traf. Er sank auf den Betonboden, zuckte und atmete schwer. 488
Hamid Salami Mabruk trat an Hoss Baker heran und schoss ihm noch einmal in den Kopf. Die zweite Kugel tötete ihn. Dann schob Mabruk die Pistole hinter den Gürtel, ergriff Hoss an den Füßen und zog ihn hinter eine Palette mit Kartons voller Softdrinks. Baker war ziemlich schwer, und Mabruk keuchte, als die Leiche schließlich hinter der Palette lag. So ein Pech. Das mit der Explosion am Tag kam jetzt nicht mehr infrage. Er beschloss, die Batterien zu holen, den Zünder vorzubereiten und sich eine Stunde Zeit zu geben, um die Stadt zu verlassen. Mist! Mabruk sprang auf den Gabelstapler und steuerte ihn zur Außentür. Dort stand ein Stapel leerer Paletten, und er schob die Gabel unter eine von ihnen. Er würde alle Batterien auf einmal ins Lager bringen; dadurch sparte er Zeit. Das Vorhängeschloss an der Außentür hatte er aufgeschnitten. Zum Glück befand sich ein anderes im Pick-up. Selbst wenn die Wächter nach dem Mann suchten, den er erschossen hatte: Sie würden erst dann versuchen, das Schloss zu knacken, wenn sie überall im Gebäude nachgesehen hatten. Und bis es so weit war, explodierte die Bombe. Die Schrotbeutel mussten im Container bleiben, und Mabruk entschied, auch die Tür des Containers mit einem Vorhängeschloss zu sichern. Der Sprengkopf würde explodieren, bevor jemand Gelegenheit bekam, es aufzuschneiden. Inschallah! Der Techniker, der die Kontrollen des Corrigan-Detektors hinten im Lieferwagen bediente, hatte Ringe in den Ohren, und oben am Hals zeichneten sich Tätowierungen unter dem Hemd ab. Jake Grafton versuchte, nicht zu starren. Er hatte sich noch nicht an die neue Art und Weise gewöhnt, mit der die Jugend ihre Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Konventionen demonstrierte. 489
Tommy Carmellini plauderte, als der Lieferwagen durch die Innenstadt von Washington rollte und Jake und der Techniker die Anzeigen des Detektors beobachteten. Nach der Fahrt ums Kapitol bogen sie auf die Constitution Avenue. »Sie arbeitet nicht für den SVR, da bin ich sicher. Eine großartige Person. Wissen Sie, ich habe mein ganzes Leben lang nach der richtigen Frau gesucht, und jetzt, da ich sie gefunden habe, hat sie andere Verpflichtungen. Solche Streiche spielt einem das Leben.« »Wie werden Sie damit fertig?«, fragte Jake über die Schulter hinweg und behielt auch weiterhin die Anzeigen im Auge. Der Techniker blieb auf seine Arbeit konzentriert und ignorierte Carmellinis Liebesprobleme. »Es ist ein verdammter Mist. Wenigstens ist sie nicht mit einem anderen Typen verheiratet, in Russland oder sonst wo. Trotzdem, eine ärgerliche Sache. Mann, ich hätte nie gedacht, dass Liebe auch wehtun kann. Sicher, ich bin mit vielen Frauen ins Bett gestiegen, aber sie haben mir nichts weiter bedeutet. O ja, einige von ihnen waren sehr nett, aber als die netten herausfanden, dass ich ein Dieb bin, wollten sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Es wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, mich Mama und Papa vorzustellen. Anna schert sich nicht darum. Sie liebt mich so, wie ich bin …« Carmellini schwieg, dachte an Anna und daran, wie sie ihn beim Abschied im Apartment der Graftons umarmt hatte. Vielleicht ging sie doch nicht weg. Er zog diese Möglichkeit in Erwägung. »Möchten Sie auch das Pentagon überprüfen?«, fragte der Fahrer. »Nein. Fahren Sie über die Pennsylvania Avenue, von dort aus nach Norden, dann nach Osten und Westen. Einmal ganz ums Weiße Haus herum.« Der Fahrer bestätigte. »Die Staatsanwältin in Baltimore hat beschlossen, keine An490
klage zu erheben«, wandte sich Jake an Carmellini, um die Stille zu beenden. Carmellini brummte. Ihm lag nichts daran, über dieses Thema zu reden, das für ihn längst abgeschlossen war. Es gab wichtigere Dinge für ihn. »He!«, sagte der Techniker plötzlich. »Wir haben hier etwas Heißes.« Jake sah auf die Anzeigen. »Es wird heißer … Wirklich heiß. Lieber Himmel!« Jake stand auf und trat zwei Schritte nach vorn, um aus dem Fenster zu sehen. Der Lieferwagen rollte gerade am Convention Center vorbei. »Jetzt wird’s schwächer«, sagte der Techniker. Er hieß LeRoy. »Wir entfernen uns davon.« »Um das Gebäude herum«, wies Jake den Fahrer an. »Fahren Sie ums Convention Center.« Der Mann am Steuer bog nach links ab. Jake kehrte zum Detektor zurück. Nach zwei Fahrten ums Gebäude wischte sich LeRoy Schweiß von der Stirn. »Das Ding ist da drin, ganz klar.« Jake ging wieder nach vorn, als der Fahrer den Wagen erneut ums Gebäude lenkte. Er bemerkte Container am Verladeplatz und sah, dass das Tor im Maschendrahtzaun einen Spaltbreit offen stand. »Halten Sie hier an«, sagte er, ging nach hinten und stieg aus. Das Vorhängeschloss des Tors war mit einem Bolzenschneider aufgeschnitten worden. Die Reste des Schlosses lagen auf dem Boden. Er öffnete das Tor weit genug, um hindurchzutreten, näherte sich den Containern und inspizierte sie. Nun, durchaus möglich, dachte er. Er kletterte auf die Laderampe. Alle drei Container waren mit Vorhängeschlössern versehen. 491
Jake kehrte zum Lieferwagen zurück und sprach mit dem Fahrer. »Ich öffne das Tor, Sie fahren zu den Containern. LeRoy soll sie auf Strahlung untersuchen.« Die Sache dauerte drei oder vier Minuten. »In dem Container dort befand sich etwas Radioaktives, aber er ist nicht heiß. Was auch immer der Detektor entdeckt hat, es befindet sich im Gebäude.« »Tommy, Sie und der Fahrer helfen LeRoy beim Auslegen der Sensorkabel. Ich gehe zum Eingang auf der anderen Seite – er ist offen, glaube ich – und suche jemanden, der diese Tür aufschließt. Anschließend legen wir die Sensorkabel bis ins Gebäude.« »In Ordnung.« Als er ums Gebäude ging, holte Jake Grafton sein Handy hervor und rief Zelda an, die sich im Büro befand. Beim dritten Klingelton nahm sie ab. »Grafton. Ich bin in der Innenstadt beim Convention Center, an der Verladestation. Der CorriganDetektor hat hier etwas Heißes entdeckt. Sehen Sie sich die Videodaten der Verkehrsüberwachungskameras an. Suchen Sie nach einem Fahrzeug, das vor kurzer Zeit hier gewesen ist. Es könnte noch immer in der Nähe sein.« »Soll ich die Polizei oder das FBI anrufen?«, fragte Zelda. »Noch nicht. Versuchen Sie, etwas herauszufinden. Rufen Sie mich anschließend an. Sie erreichen mich auf meinem Handy.« Die Wächterin richtete einen kühlen Blick auf ihn, als er eintrat. »Kann ich Ihnen helfen?« »Mein Name ist Grafton.« Jake zeigte seinen CIA-Ausweis. »Wir überprüfen diesen Bereich auf Radioaktivität, und unser Detektor zeigt hier etwas an. Ich möchte mir Ihren Verladeplatz ansehen.« »Ich muss meinem Vorgesetzten Bescheid geben«, sagte die Wächterin. »Er ist heute Abend hier. Ich habe ihn vor einer 492
Weile gesehen.« »Benachrichtigen Sie ihn.« Die Wächterin hob ihr Funkgerät. »Hoss, hier ist Mabel. Wo sind Sie?« Keine Antwort. Sie versuchte es erneut. »Jemand baut dort drüben seinen Stand auf«, sagte die Wächterin zu Jake. »Mein Vorgesetzter ging zu ihm, um nach dem Rechten zu sehen.« Mabel Jones sah auf die Uhr. »Das war vor über einer halben Stunde«, fügte sie nachdenklich hinzu. Sie war nun besorgt. »Radioaktivität, meinen Sie?« »Ja. Gehen wir und suchen wir Ihren Vorgesetzten. Wie lautet sein Name?« »Hoss Baker. Ich suche ihn. Sie bleiben hier.« Die Wächterin ging fort. Jake ließ sie drei Meter weit kommen und folgte ihr dann. Sie schien es nicht zu bemerken und ging recht schnell. Am Verladebereich blieb sie stehen und sah sich um. Wenn es sie überraschte, dass Jake hinter ihr stand, so ließ sie es sich nicht anmerken. »Ich sehe ihn nicht«, sagte sie. »Und den Aussteller Haddad ebenso wenig. Hoss ist zu ihm gegangen.« »Wussten Sie, dass jemand das Vorhängeschloss des Tors im Zaun aufgeschnitten hat?« »Nein«, erwiderte Mabel und runzelte die Stirn. »Joe hält draußen Wache, und er hat nichts gesagt.« »Vielleicht ist es gerade erst passiert. War jemand dort draußen?« »Der Aussteller Haddad hat dort geparkt, aber ich habe das Tor hinter ihm abgesperrt.« »Er ist nicht mehr da. Suchen Sie Ihren Vorgesetzten und ge493
ben Sie mir Bescheid, wenn Sie ihn gefunden haben. Öffnen Sie vorher diese Tür für mich.« Jake deutete auf das Rolltor an der Stelle, wo draußen der Lieferwagen stand. Mabels Besorgnis wuchs. Der Mann an ihrer Seite war in eine Aura der Autorität gehüllt und schien zu erwarten, dass sie seinen Wünschen nachkam. Dennoch zögerte sie und wusste nicht, was sie tun sollte, als er sein Handy hervorholte und Tasten drückte. »Ich bin’s noch einmal, Zelda. Rufen Sie das FBI und das Bombenräumkommando an. Sie sollen zum Convention Center kommen und keine Zeit verlieren. Rufen Sie Gil Pascal zu Hause an und lassen Sie sich von ihm im Büro helfen.« Dieser Anruf veranlasste Mabel, eine Entscheidung zu treffen. Sie ging zu den Schaltern an der Wand und betätigte einen, woraufhin das Rolltor langsam nach oben glitt. Anschließend machte sie sich auf die Suche nach Hoss Baker. Nach dem Auslegen der Kabel dauerte die Suche nicht lange. Fünf Minuten später stand Jake vor der mit einem Vorhängeschloss gesicherten Tür des Lagerraums. Tommy Carmellini bückte sich, hob etwas vom Boden auf und zeigte es Jake. »Eine Patronenhülse, Kaliber zweiundzwanzig.« Jake betrachtete den kleinen Messingzylinder, schnupperte daran und roch noch Pulverreste. »Ich brauche einen Bolzenschneider«, sagte er. »Im Lieferwagen müsste einer liegen. Schnell.« Mabel Jones kehrte mit zwei Polizisten zurück, als Jake das Vorhängeschloss aufschnitt. Carmellini zeigte den Polizeibeamten die Patronenhülse, als Mabel sagte: »Ich kann meinen Vorgesetzten Mr. Baker nirgends finden.« Jake öffnete die Tür und leuchtete mit einer Taschenlampe ins Lager. Als er den Sprengkopf sah, sagte er zu LeRoy: »Da ist er, bei Gott.« 494
Er fand den Lichtschalter neben der Tür und betätigte ihn. Batterien auf einer Palette, ein Timer, der Sprengkopf von Kabeln umgeben … Jake sah ihn sich aus der Nähe an, als er hörte, wie Mabel rief: »O mein Gott, sie haben Hoss umgebracht!« Einer der Polizisten trat neben Jake und sah auf die Bombe hinab. »Wie das Ding, das sie in Atlanta fanden, nicht wahr?« »Ja«, bestätigte Jake und sah auf den Timer. Noch siebzehn Minuten. Und die Zeit verstrich, eine Sekunde nach der anderen. »Benutzen Sie Ihr Funkgerät. Das Bombenräumkommando soll so schnell wie möglich hierher kommen.« Der Polizist sprach mit dem Einsatzleiter. Jake drehte sich um und blickte zu dem Mann auf dem Boden. Der zweite Polizist fühlte seinen Puls. »Ist er tot?« »Ja.« »Wir können nichts für ihn tun. Lassen Sie die Leiche liegen. Sie und Ihr Partner, gehen Sie mit Mabel zur Ausstellertür. FBI und Bombenräumkommando sind hierher unterwegs. Wenn Sie sie per Funk erreichen können, so teilen Sie ihnen mit, dass sie direkt zum Verladeplatz kommen sollen. Wenn sie beim Ausstellereingang eintreffen, bringen Sie sie sofort hierher. Los!« Die beiden Beamten machten sich auf den Weg. Tommy Carmellini und der Techniker beugten sich über den tickenden Timer. »Nicht mehr viel Zeit, Chef.« »LeRoy, was passiert, wenn ich mit dem Bolzenschneider die Kabel durchtrenne, die vom Timer zu dem Kasten dort führen?«, fragte Jake und zeigte darauf. Der Techniker blickte auf die Anordnung hinab. »Ich schätze, das ist eine Art Kondensator. Wenn Sie die Kabel durchtrennen, müsste das Ding funktionsunfähig sein.« »Und wenn der Kondensator bereits eine Ladung gespeichert hat?« 495
»Dann könnte die verdammte Bombe hochgehen.« »Und wenn wir das Kabel zwischen Kondensator und Zünderanschlüssen durchschneiden?« »Die Stelle ist vielleicht besser geeignet.« »Noch vierzehn Minuten, Chef«, sagte Tommy Carmellini. Jake nahm die Bolzenschere und sah sich die Kabel an. Seine Hände waren schweißfeucht. »Helfen Sie mir dabei, Tommy.« Jake setzte den Bolzenschneider am ersten Kabel an, und Carmellini stellte seine Kraft zur Verfügung. Davon hatte er jede Menge. Die beiden Schneiden durchtrennten das Kabel wie einen Gartenschlauch. »Das nächste.« Als beide Kabel durchschnitten waren, ließ Take Carmellini die vom Timer ausgehenden Kabel durchtrennen. Anschließend kamen die Batterieleitungen an die Reihe. Gemeinsam trugen die drei Männer die Palette mit den Batterien vom Sprengkopf fort, nur um ganz sicher zu gehen. Der Corrigan-Techniker wischte sich erneut Schweiß von der Stirn und brummte einen Fluch. Jake hörte Sirenen, die schnell lauter wurden. Sein Handy klingelte. Er holte es aus der Hosentasche und klappte es auf. »Ja?« »Hier ist Zelda. Wir haben eine Aufnahme des Fahrzeugs, das am Verladeplatz des Convention Center geparkt war, ein Pick-up mit einer Abdeckung über der Ladefläche. Das Kennzeichen ist bekannt.« »Wir haben hier eine Bombe gefunden. Versuchen Sie festzustellen, wohin der Pick-up gefahren ist. Und jemand soll Nachforschungen in Hinsicht auf das Kennzeichen anstellen. Ich möchte einen Namen und eine Adresse. Der Fahrer des Wagens ist vermutlich der Mann, der die Bombe scharf gemacht hat.« 496
Jake und LeRoy saßen auf der Laderampe und ließen die Beine über den Rand baumeln, als das Bombenräumkommando eintraf. Beide Männer rauchten Zigaretten. Jake hatte seit zwanzig Jahren nicht mehr geraucht, den von LeRoy angebotenen Krebsstängel aber gern entgegengenommen. »Dort drin«, teilte Jake dem Sergeant des Räumkommandos mit und zeigte mit dem Daumen über die Schulter. Carmellini kam aus dem Gebäude und setzte sich neben Jake. »Das Ding wäre hochgegangen, wenn wir beschlossen hätten, auf der anderen Seite des Flusses zum Pentagon zu fahren.« »Ja.« »Gibt es weitere Sprengkörper in Washington?« Das war die Frage. Jake dachte darüber nach. Er hatte genau einen Corrigan-Detektor, und zwar hier. Zwei der vier Bomben waren gefunden. Erneut holte er sein Handy hervor und rief Zelda an. »Nun?« »Der Pick-up ist nach Norden gefahren. Wir haben gesehen, wie er von der New York Avenue auf den BaltimoreWashington-Parkway eingebogen ist, in Richtung Norden.« »In Ordnung.« »Die schlechte Nachricht für ihn ist: Auf der Zufahrt vom Parkway zum Beltway kam es zu einem Unfall. Es hat sich ein langer Stau gebildet.« »Willkommen in der Stadt.« »Das Kennzeichen des Pick-up stammt aus Pennsylvania. Zugelassen ist der Wagen auf einen gewissen Hamid S. Mabruk.« Zelda nannte die Adresse, ein Haus in einem Wohngebiet außerhalb von Philadelphia. »Rufen Sie Harry Estep an. Das FBI soll das Haus abriegeln. In der Zwischenzeit kann Harry einen Haftbefehl besorgen. Wegen Mordes. Der Bursche hat hier im Convention Center 497
einen Wächter erschossen. Er ist bewaffnet und gefährlich. Geben Sie alle Ihre Informationen weiter.« Jake unterbrach die Verbindung und überlegte. Entweder hatte Mabruk mehr als nur eine Bombe in Washington scharf gemacht, oder er war auf dem Weg, um andere vorzubereiten. Vielleicht traf sowohl das eine als auch das andere zu. Um auf Nummer Sicher zu gehen, mussten sie annehmen, dass beide Möglichkeiten stimmten. Als Jake diese Entscheidung getroffen hatte, wurde klar, was es zu unternehmen galt. Carmellini und LeRoy sollten in Washington nach weiteren Bomben suchen. Gleichzeitig sollte Mabruk verfolgt – nicht verhaftet – werden, um zu sehen, ob er zu einem anderen Sprengkörper unterwegs war. Jake rief erneut Zelda an. Gil Pascal nahm ab. »Ich war ohnehin zum Büro unterwegs. Konnte nicht schlafen.« »Ich möchte, dass Mabruk gefunden und verfolgt wird«, sagte Jake. »Reden Sie mit Harry. Geben Sie ihm meine Handynummer. Und ich brauche einen Hubschrauber. Leiten Sie alles in die Wege.« Er wandte sich an Carmellini und LeRoy. »Carmellini übernimmt. Durchsuchen Sie die Stadt vom einen Ende bis zum anderen. LeRoy, Sie kennen die heiße Stelle bei Hains Point. Benachrichtigen Sie Gil Pascal, wenn Sie etwas finden. Rufen Sie mich bei Tagesanbruch an, wenn Sie nichts entdecken.« »Aye aye, Sir«, sagte Tommy. Er gehörte nicht zum Militär, aber die Antwort erschien ihm angemessen. »Fahren Sie los«, sagte Jake Grafton.
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23 Als er die Bremslichter der Fahrzeuge weiter vorn sah, regte sich Sorge in Hamid Salami Mabruk. Er hatte den Sprengkopf scharf gemacht, den Lagerraum abgeschlossen und das Convention Center verlassen, ohne jemandem zu begegnen. Das Vorhängeschloss an der Tür im Zaun hatte er aufschneiden müssen, um den Pick-up aus dem Verladebereich zu fahren, aber Nachforschungen in Hinsicht auf das Schloss würden erst nach Stunden zum Lager führen, und bis dahin war es längst zu spät. Die Wagen vor ihm stoppten, krochen ein wenig nach vorn, hielten erneut an. Mabruk sah auf die Uhr. Zehn Minuten … Die Bombe würde in zehn Minuten explodieren. Wenn er es über den Beltway hinweg schaffte, sollte er außer Gefahr sein – dann befand er sich nicht mehr im Zweihundert-Kilotonnen-Explosionsbereich. Andererseits: Um der Strahlung ganz zu entkommen, hätte er hunderte von Kilometern entfernt sein müssen. Noch etwa zehn Kilometer trennten ihn vom Beltway. Mabruk lenkte den Pick-up auf die Fahrbahn ganz rechts. Ein Laster hinter ihm hupte, aber er scherte sich nicht darum. Sollte er auf der Standspur an all den Wagen vorbeifahren? Noch neun Minuten! Die Fahrzeuge setzten sich wieder in Bewegung. Fünf Stundenkilometer, zehn … Und erneut leuchteten die Bremslichter auf. Alles kam zum Stehen. Acht Minuten. Hier befand er sich am Rand des Explosionsbereichs. Die Druckwelle würde schrecklich sein, Autofenster zerschmettern, Glassplitter und Trümmer umherfliegen lassen. Wenige Se499
kunden später kam die Hitze. Sie würde den Lack von den Autos lösen und Fleisch von den Knochen brennen … Wenn der Feuerball den gesamten Sauerstoff in seiner Umgebung verbraucht hatte, strömte Luft von allen Seiten heran, wodurch ein Orkan entstand. Bei einer Explosion von dieser Größenordnung musste mit Windgeschwindigkeiten zwischen dreihundertfünfzig und vierhundertfünfzig Stundenkilometern gerechnet werden. Diese Winde würden die meisten Schäden verursachen. Von der Druckwelle beeinträchtigte und eventuell durch die Hitze in Brand geratene Gebäude würden dem gewaltigen Orkan zum Opfer fallen. Die Luft würde sich in eine halbfeste Masse verwandeln, voller Glassplitter, Erde, Steine, Metall und allen anderen Dingen, die der Sturm mitreißen konnte. Der Orkan würde wie ein gewaltiges Sandstrahlgebläse wirken, alles in seinem Weg zerfetzen und Fleisch von Knochen reißen. Die Strahlung … In dieser Entfernung mochte die bei der Explosion freigesetzte Strahlung tödlich wirken. Welche Rolle spielte es also, was danach kam? Sieben Minuten. Er hätte die Waffe im Innern des Containers scharf machen sollen. Das wäre sicherer und die logische Vorgehensweise gewesen. Die Bombe an einem anderen Ort unterbringen und den Timer so einstellen zu wollen, dass sie zum perfekten Zeitpunkt explodierte … Es lief auf Überheblichkeit hinaus. Das wusste Mabruk jetzt. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er schaltete das Autoradio ein, drückte Knöpfe und stellte fest, dass Sender in Philadelphia voreingestellt waren. Daraufhin drehte er den Frequenzregler und suchte nach einem Sender, der über den Verkehr informierte. War es weiter vorn zu einem Unfall gekommen? Oder gab es dort eine Straßensperre der Polizei? Hielten Soldaten Lastwagen an, um in ihnen nach nuklearen Sprengköpfen zu suchen? Musik, Werbung … Gerede, Gerede, Gerede. Jemand sprach 500
am Telefon über Terrorismus … noch mehr Werbung. Ein Prediger, der vom Höllenfeuer schwafelte … Gleich wirst du das Höllenfeuer selbst erleben. Mabruk schaltete das Radio aus. Sechs Minuten. Warum hatte er diese Route aus der Stadt gewählt? Von allen Möglichkeiten, Washington zu verlassen, warum ausgerechnet diese? Seine Hände zitterten. Er sah erneut auf die Uhr. Der Sekundenzeiger bewegte sich gnadenlos. Fünf Minuten. Mabruk drehte das Steuer, fuhr auf den Standstreifen und beschleunigte vorsichtig. Jemand scherte nach rechts aus, um ihm den Weg zu versperren. Er lenkte den Wagen über die Kante hinweg ins Gras, fuhr an dem Hindernis vorbei und kehrte anschließend auf den Asphalt zurück. Seine Geschwindigkeit betrug fast dreißig Stundenkilometer. Jeder Kilometer zwischen ihm und der Bombe erhöhte seine Überlebenschance. Jede Fahrzeuglänge war ein Sieg. Weiter vorn sah er eine Überführung. Nichts Ungewöhnliches, doch als er sich ihr näherte, rollte ein neunachsiger Sattelschlepper nach rechts und versperrte die Hälfte des Standstreifens. Die Strebepfeiler auf der rechten Seite ließen keinen Platz. Mabruk hielt an und hupte zornig. Der Sattelschlepper rührte sich nicht von der Stelle. Vier Minuten. Endlich setzte sich der große Laster in Bewegung, blieb aber halb auf dem Standstreifen. Der rechte Seitenstreifen war zu steil, um den Sattelschlepper zu passieren. Mabruk drückte immer wieder auf die Hupe und fluchte hingebungsvoll. 501
Drei Minuten. Weitere hundert Meter zurückgelegt. Zwei Minuten. Der verdammte Kafir-Mistkerl … Mabruk spielte mit dem Gedanken, auszusteigen, zum Führerhaus des Sattelschleppers zu laufen und den Fahrer zu erschießen. Dann wäre er wenigstens als Erster gestorben. Eine Minute. Der große Laster blieb erneut stehen. Hamid Salami Mabruk starrte auf den Sekundenzeiger seiner Uhr. Wie gelähmt saß er da und beobachtete, wie der kleine schwarze Zeiger ums Zifferblatt wanderte. Im letzten Moment dachte Mabruk daran, dass die Druckwelle die Fensterscheiben seines Wagens zertrümmern würde. Er beugte sich zum Beifahrersitz hinunter. Und wartete. Wartete … Er hob die Hand und blickte wie gebannt auf die Uhr. Der Sekundenzeiger setzte seinen Weg fort. Eine weitere Minute verging. Die Bombe explodierte nicht! Oh, sie wird explodieren, ganz bestimmt! Der Timer arbeitet nicht genau. Er ist nie kalibriert worden und kein Präzisionsinstrument. Die Bombe wird jeden Augenblick explodieren. Aber es kam nicht zu der erwarteten Explosion. Eine weitere Minute verstrich quälend langsam. Hamid Salami Mabruk setzte sich auf. Der Sattelschlepper vor ihm kroch weiter, und er reagierte ganz automatisch, folgte ihm. Die Bombe war nicht explodiert! 502
Genau um Mitternacht bog die Stretch-Limousine auf den Parkplatz der Nackten Eule, eines Nachtklubs in Waltham, Massachusetts, und rollte langsam an den geparkten Wagen vorbei. Am Ende des Parkplatzes wendete der Chauffeur und lenkte das lange Fahrzeug zum Eingang des Nachtklubs. Ein Mann trat nach draußen, ging um die Limousine herum und öffnete die rechte hintere Tür. Es blieb dunkel im Innern des Wagens; das einzige Licht stammte von der großen Leuchtschrift über dem Eingang zur Nackten Eule. Kaum war die Tür zu, setzte sich die Limousine wieder in Bewegung. Sonny Tran nahm Karl Glück gegenüber Platz, der nickte und etwas brummte. Der Chauffeur bog auf die Straße und beschleunigte. Sonny öffnete seine Aktentasche, als Glück sagte: »Ich nehme an, Sie haben die Nachrichten gesehen.« Sonny nickte. Die Aktentasche enthielt das Ortungsgerät. Er holte es nicht daraus hervor, schaltete es nur ein. Im dunklen Innern konnte er das Gerät nur benutzen, weil die Anzeigen beleuchtet waren. »Eine Bombe gefunden, drei noch immer irgendwo dort draußen.« In Wirklichkeit waren bereits zwei entdeckt, aber die Sicherstellung des zweiten Sprengkörpers war noch nicht bekannt gegeben worden. Sonny blieb auf das Gerät konzentriert und drehte den Knopf, der die Frequenzen veränderte. »Um ganz ehrlich zu sein …«, sagte Glück, damit die Stille nicht zu drückend wurde. »Mich beunruhigt die Vorstellung, dass die anderen drei Bomben nicht gefunden werden, bevor die Terroristen Gelegenheit erhalten, sie hochgehen zu lassen.« Eine Nadel schlug aus, und Sonny Tran erlebte einen jähen Adrenalinschub. Er stellte die Frequenz genauer ein. Die Nadel 503
zitterte hin und her, tanzte von der Nullmarke bis zum Anschlag, alle zwei Sekunden. Ein Peilsender! Irgendwo im oder am Wagen befand sich ein Peilsender. Sonny Tran überprüfte alle Frequenzen, die das Gerät empfangen konnte – das Signal wurde nur auf dieser einen Frequenz gesendet. Er schaltete den Apparat aus, lehnte sich zurück und sah Karl Glück an, der noch immer redete. »… Corrigan fühlt sich verdammt gut. Er verdient einen Haufen Geld, der Präsident will ihn zum Botschafter in Großbritannien ernennen, und wenn eine Bombe explodiert, haben die armen Opfer eben Pech gehabt. Er wird in der Kirche eine Scheck für den Unterstützungsfonds in den Klingelbeutel stecken. Der Mann hat das Gewissen eines Hamsters.« So sehr Sonny auch überlegte: Ihm fiel kein Grund dafür ein, warum Glück oder Corrigan daran gelegen sein sollte, dieses Fahrzeug mit einem Peilsender auszustatten. Also kam nur das FBI infrage. Sie sind Corrigan auf der Spur. Und Glück hat sie zu ihm geführt. Sonny legte die Aktentasche auf den Sitz neben ihm und setzte sich dann zu Karl Glück. Sie sahen beide nach vorn. Eine Gardine verwehrte den Blick ins Fahrerabteil und hinderte den Chauffeur daran, in den Fond zu sehen. »Neulich sprach Corrigan davon, auf die Dienste eines ihm bekannten Russen zurückzugreifen und die Araber zu töten, die die Waffen hierher gebracht haben«, fuhr Glück im Plauderton fort. »Er will vermeiden, dass sie auspacken, wenn man sie fasst.« Karl Glück drehte den Kopf und sah Sonny an. »Es würde mich nicht überraschen, wenn er dem Iwan noch etwas mehr Geld dafür zahlt, Sie und mich aus dem Weg zu räumen. Vielleicht nicht. Aber vielleicht doch. Nehmen Sie dies als Warnung.« »Danke.« 504
»Sie sind heute Abend sehr gesprächig.« Sonny zuckte mit den Schultern. Er stützte das Kinn auf die rechte Hand, sah aus dem Fenster und versuchte, entspannt zu wirken, während seine Gedanken rasten. Offenbar verfolgte die Bundespolizei den Wagen aus der Ferne. Vielleicht hatte sie ihn beim Einsteigen fotografiert, vielleicht auch nicht. Grafton! Verdammter Mistkerl! Natürlich saß er nicht zum ersten Mal in dieser Limousine, und wenn das FBI den Wagen auf Fingerabdrücke überprüft hatte, war er bereits festgenagelt. Der Chauffeur wusch den Wagen vermutlich täglich. Es war ein Risiko, aber er konnte die Türgriffe und Sitze abwischen. Das musste genügen. Glück sprach nach wie vor. »… die Araber brachten unseren Mann in Kairo um und ließen es wie einen Selbstmord aussehen. Sie warfen ihn aus dem Fenster seines Apartments. Die Olympic Voyager ist mit ihrer ganzen Crew verschwunden, darunter auch Vandervelt. Die Burschen scheinen wirklich darauf aus zu sein, alle zu töten, die mit der Sache zu tun haben.« Sonny Tran nahm seine Aktentasche, legte sie sich auf den Schoß und öffnete sie. Mit der rechten Hand holte er das Messer daraus hervor und stieß es bis zum Heft in Glücks Brust. Der Mann erzitterte kurz und erschlaffte. Sonny schloss die Aktentasche und legte sie auf den Boden. Er ließ das Messer in Glücks Brust, bis kein Zweifel mehr an seinem Tod bestand. Am linken Handgelenk tastete er nach dem Puls. Nichts. Erst dann zog er das Messer heraus, was erhebliche Mühe machte. Er rückte Glücks Krawatte und Anzugjacke zurecht, damit man die Wunde nicht sofort sah. Die Limousine fuhr durch ein Industriegebiet. Auch das musste genügen. Er beugte sich über den Toten und schaltete die Wechselsprechanlage ein. »Mr. Glück hat das Bewusstsein verloren. Vielleicht ein Herzanfall. Bitte halten Sie an und helfen Sie 505
mir.« »Natürlich, Sir.« Als der Wagen anhielt, stieg Sonny auf der rechten Seite aus, ging hinten um die Limousine herum und hielt das Messer in Höhe des Oberschenkels. Keine Fußgänger. Ein Laster kam vorbei und fuhr in die andere Richtung. Der Chauffeur öffnet Glücks Tür und beugte sich hinein. Sonny rammte ihm das Messer in den Rücken, direkt ins Herz. Er schob den Chauffeur ins Wageninnere, hob die Beine hinein und schloss die Tür. Der Motor lief noch. Sonny setzte sich ans Steuer und fuhr los. Sollte er versuchen, den Sender zu finden? Selbst wenn er ihn fand und vom Wagen entfernte – wie viel zusätzliche Zeit gewann er dadurch? Nicht genug, dachte er. Mit dem Fingerknöchel öffnete er das Handschuhfach. Ja, es enthielt Lappen – Chauffeure reinigten ihre Limousinen immer, wenn sie irgendwo warten mussten. Während Sonny fuhr, verwendete er einen der Lappen aus dem Handschuhfach, wischte damit den Schalthebel und das lederne Lenkrad ab. Er parkte den langen Wagen in der obersten Etage eines Parkhauses am Innenstadtbahnhof. So spät in der Nacht war niemand zugegen. Sonny nahm die Schlüssel und steckte sie ein. So schnell wie möglich wischte er alle Türgriffe ab, innen und außen. Das Messer steckte noch im Rücken des Chauffeurs. Er wischte den Griff ab und ließ es dort stecken. Schließlich griff er nach seiner Aktentasche, betätigte mit der Fernbedienung die Zentralverriegelung der Tür und ging fort. Den Lappen um die Hand gewickelt, um keine Fingerabdrü506
cke zu hinterlassen, probierte er die Türen der anderen geparkten Wagen aus und fand eine ältere Limousine, die nicht abgeschlossen war. Er stieg ein, suchte unter der Fußmatte, im Glashalter und im Handschuhfach nach einem Reserveschlüssel. Nichts dergleichen. Er brauchte zehn Minuten, um den Wagen kurzzuschließen. Der Motor sprang an; die Tankuhr zeigte an, dass der Tank zu drei Vierteln voll war. Der Parkschein befand sich über der Sonnenblende. Sonny hatte einen Parkschein bei der Einfahrt aus dem Automaten gezogen, aber wenn er den benutzte, brauchte er keine Gebühren zu bezahlen, weil er weniger als dreißig Minuten im Parkhaus gewesen war. Und dadurch bekam der Parkwächter unten in seiner Kabine einen Grund, sich an ihn zu erinnern. Er präsentierte das Ticket aus der Limousine und bezahlte vierzig Dollar. Der Parkwächter sah ihn, das ließ sich nicht vermeiden. Eine Videokamera erfasste das hintere Kennzeichen des Wagens, als er an der Kabine hielt. Keine Kamera war auf den Fahrer gerichtet. Draußen auf der Straße gab Sonny Tran Gas. Hamid Salami Mabruk fuhr nach Nordosten in Richtung Wilmington, blieb etwa fünfzehn Stundenkilometer unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und dachte darüber nach, warum die Bombe nicht explodiert war. Er hatte weitere dreißig Minuten gebraucht, um über die Überführung zu gelangen. Da die Beltway-Ausfahrt gesperrt war, musste er die Fahrt nach Nordosten über den Baltimore-Washington-Parkway fortsetzen, und dort schienen alle Überführungen repariert zu werden. Immer wieder sank die Geschwindigkeit auf dreißig, wenn nur noch ein Fahrstreifen zur Verfügung stand. Gelegentlich kam es zu Stopand-go-Verkehr, wenn Fahrer freie Strecken nutzten, um so weit wie möglich nach vorn zu gelangen, und sich dann wieder in die 507
lange Kolonne einreihen mussten. Schließlich war Mabruk auf eine Ost-West-Straße abgebogen, die ihn zur I-95 brachte. Kurze Zeit später fand er sich am Harbor Tunnel in Baltimore in einem anderen Stau wieder. Um zwei Uhr morgens. Er klopfte verärgert aufs Lenkrad. Er konnte New York unmöglich vor Tagesanbruch erreichen, um die zweite Bombe scharf zu machen. Tagsüber ließ sich das nicht bewerkstelligen, was bedeutete, dass er sie frühestens am nächsten Abend vorbereiten konnte. Und der Präsident hatte davon gesprochen, dass das Militär bei der Suche mitwirkte. Bis zum Abend des nächsten Tages wurde der Sprengkopf vielleicht entdeckt. Warum war die Bombe im Convention Center nicht explodiert? An den Batterien konnte es kaum liegen – sie waren neu, und er hatte sie mehrmals getestet. Der Timer kam ebenfalls nicht infrage; auch seine Funktionstüchtigkeit war mehrmals überprüft worden. Vielleicht ein Defekt des Kondensators. Ja, das musste der Grund sein, der Kondensator. Er hatte ihn vor Wochen auf dem Roten Meer mit dem Sprengkopf verbunden; in der salzigen Luft waren vermutlich die Kontakte korrodiert. Er verwarf die Möglichkeit, dass man die Bombe rechtzeitig gefunden und entschärft hatte. Nein, unmöglich. Das Sicherheitspersonal würde erst dann mit der Suche nach dem fehlenden Wächter beginnen, wenn er als vermisst galt, und bis dahin dauerte es eine ganze Weile. Selbst wenn jemand den Lagerraum aufschloss und sowohl die Leiche als auch den Sprengkopf entdeckte – die Wächter im Convention Center würden bestimmt nicht versuchen, die Bombe zu entschärfen. Sie hätten das Bombenräumkommando der Polizei verständigt, und das wäre erst nach einer ganzen Weile eingetroffen. Nein, das Problem musste beim Kondensator liegen. Wo konnte er sich einen anderen beschaffen? Mabruk musste einen Ersatzkondensator im Zündmechanismus der New Yorker 508
Bombe installieren, wenn er sie scharf machte. Es durfte auf keinen Fall zu einem neuerlichen Fehlschlag kommen. Das klingelnde Telefon weckte Myron Emerick, Direktor des FBI. Der stellvertretende Direktor Robert Pobowski war am Apparat und verkündete die Nachricht: Grafton hatte einen Sprengkopf im Washingtoner Convention Center gefunden. Das passte Emerick ganz und gar nicht. Er achtete nicht auf seine halb wache Frau und fluchte. Pobowski setzte seinen Bericht fort. Der Mann, der die Bombe scharf gemacht hatte, war auf der I-95 nach Nordosten unterwegs. »Entweder fährt er nach Hause, oder er hat vor, eine andere Bombe scharf zu machen. Grafton möchte sein Haus überwachen lassen und fliegt derzeit mit einem Hubschrauber des Pentagon nach New York City.« Pobowski nannte Emerick Mabruks Namen und Adresse. »Will Grafton, dass wir den Burschen verfolgen?«, fragte Emerick. »Nein. Grafton glaubt, dass seine technischen Spezialisten Mabruk mit den Verkehrsüberwachungskameras im Auge behalten können, wenn er nach New York fährt. Er möchte, dass wir Mabruk in Ruhe lassen, damit dieser ihn zu einer anderen Bombe führt.« »Der verdammte Hurensohn!«, brummte Emerick. Er meinte nicht etwa Mabruk, sondern Grafton. »Er sorgt dafür, dass wir so dumm dastehen wie Dorfpolizisten. Und er kommandiert uns herum, damit er den Ruhm ganz für sich haben kann.« »Ja, Sir.« »Gestern habe ich einen Anruf von einem Freund im Weißen Haus bekommen. Es ist kaum zu glauben: Grafton hat sich Zugang zu unseren Computern verschafft. Seine Leute haben alles über die mutmaßlichen Zellen in Florida gelesen. Er weiß über 509
sie ebenso viel wie wir.« Pobowski schwieg. Er kannte sich mit den politischen Winkelzügen in Washington aus. Alle gehörten zum Team, doch Beförderungen und Budgetdollars gingen an jene, die Resultate erzielten, nicht an Statisten. Er glaubte ebenso wie Emerick, dass die Zukunft des FBI auf dem Spiel stand. Sie durften nicht zulassen, dass Grafton ihnen die ganze Show stahl. »Das erklärt eine Menge«, sagte Pobowski vorsichtig. »Und ob«, knurrte Emerick. »Von jetzt an benutzen wir keine Computerdateien mehr, sondern Akten aus Papier. Ich will nicht, dass Grafton und sein Klub uns die Ergebnisse unserer Arbeit stehlen.« »Es gibt noch eine andere Entwicklung in Boston«, fuhr Pobowski fort. »Grafton hat uns aufgefordert, Corrigans Limousine mit einem Peilsender auszustatten – Corrigan sollte nichts davon erfahren, aus offensichtlichen Gründen. Vor einer Stunde wurde der Wagen in der obersten Etage des Parkhause am Bostoner Bahnhof abgestellt. Niemand scheint in der Nähe zu sein. Die Fenster sind dunkel, aber unser Mann hat mit einer Taschenlampe hineingeleuchtet. Er fand zwei Leichen.« »Nichts davon kommt in die Computer«, betonte Emerick. »Wir versuchen, dies für uns zu behalten und etwas daraus zu machen. Sagen Sie Harry Estep, dass er von sich aus keine FBIInformationen an Grafton weitergeben soll. Wenn er gefragt wird, muss er natürlich Auskunft geben, aber damit hat es sich.« »Ich verstehe, Sir.« Emerick legte auf, drehte sich auf die Seite und suchte nach einer bequemen Position. Er fand keine. Eine zweite Atombombe, in Washington, um Himmels willen. Und Grafton hatte sie gefunden! Das passte gewissen Leuten im Kongress gut in den Kram, Personen, die die Bundespolizei neu organisieren und alles von einem Kabinettssekretär leiten lassen wollten. Verdammt! 510
Emerick stand auf und ging nach unten in die Küche, um Kaffee zu kochen. Als das Wasser durchgelaufen war, nippte er an der Tasse und dachte über die Situation nach. Er konnte es sich nicht leisten, für Grafton die zweite Geige zu spielen. Er griff nach dem Telefon und rief Pobowski an. »Verhaften Sie den Verdächtigen, wenn er nach Hause zurückkehrt. Verhören Sie ihn auf der Stelle. Wenn er weiß, wo sich andere Bomben befinden, so holen Sie die Informationen aus ihm heraus.« »Und wenn er einen Anwalt will?« In den fünfziger und sechziger Jahren hatte das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten mit Hinweis auf die Verfassung Regeln erlassen, die es zu beachten galt, wenn jemand verhaftet wurde. Doch Emerick wusste, dass sich dieses Regelwerk nicht für die Ära des Terrorismus eignete. Er wollte nicht, dass New York oder Philadelphia von atomarem Feuer vernichtet wurden, weil Mabruk von seinem Recht zu schweigen Gebrauch machen wollte. Zur Hölle mit den Anwälten! »Der Versuch, eine amerikanische Stadt mit einer Atombombe zu zerstören, ist kein Verbrechen, sondern eine kriegerische Handlung. Dieser Mann muss, ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, als feindlicher Soldat betrachtet werden – er hat kein Recht auf einen Anwalt. Ergreifen Sie alle notwendigen Maßnahmen, Bob.« »Ja, Sir.« Es war vier Uhr morgens, als Nguyen Tran seinen Sattelschlepper auf den Hof eines alten Tabaklagers im ländlichen South Carolina fuhr. Ein Anhänger stand bereits an der Laderampe, die nur zwei Anhängern Platz bot. Nguyen legte den Rückwärtsgang ein und setzte geschickt zurück. Mit einem Schlüssel an seinem Bund öffnete er das Vorhän511
geschloss. Das Innere des Lagers war schmutzig, und Fliegendreck klebte an den hohen Fenstern. Eine Fensterscheibe fehlte, und überall lag Kot von Vögeln. Nguyen leuchtete mit seiner Taschenlampe und vergewisserte sich, dass sich niemand in dem Gebäude aufhielt. Anschließend drehte er mit einer Handkurbel das Rolltor der Laderampe hoch. Die Räder quietschten. Oben fühlte sich ein Vogel in seinem Nest gestört, zeterte und flog fort. Nguyen öffnete die Tür des Containers und begann mit dem Auspacken. Die Möbel stellte er beiseite. Als er zu den Knautschsesseln mit den Bleikugeln kam, ging er in die eine Ecke des Lagers und startete den Motor des Gabelstaplers, der dort stand. Nachdem er warm gelaufen war, lud er damit die Sessel aus, einen nach dem anderen. Er schnitt das Klebeband durch, das die Beutel mit Vogelschrot an Ort und Stelle hielt, trug die einzelnen Beutel aus dem Container und stapelte sie an der Tür auf. Als er den Sprengkopf erreichte, inspizierte er ihn aufmerksam im Licht der Taschenlampe. Er holte einen Steckschlüsselsatz aus dem Führerhaus der Zugmaschine und löste damit die Bolzen, die die Palette mit dem Sprengkopf am Boden des Containers fixierten. Schließlich öffnete er die Tür des zweiten Anhängers und nahm dann wieder an den Kontrollen des Gabelstaplers Platz. Drei Minuten später befand sich die Bombe im anderen Anhänger. Nguyen sicherte sie dort nicht mit Bolzen, sondern mit Frachtriemen, und umgab sie mit den Vogelschrotbeuteln. Er verwendete zwei Rollen Klebeband, um dafür zu sorgen, dass die Beutel nicht verrutschten. Als alles erledigt war, trug er die Möbel hinein, um den Platz zwischen Sprengkopf und Hängertür zu füllen. Den leeren Container stellte er unter den Bäumen hinterm Lager ab, wo er zumindest teilweise vor Blicken geschützt war. 512
Dann löste er die Zugmaschine vom Aufleger, der den Container transportiert hatte, und fuhr sie vor den Anhänger mit der Bombe. Er stellte die Verbindungen für die Druckluftbremsen und elektrischen Systeme her, wischte sich die Hände an einem Lappen aus dem Werkzeugkasten der Zugmaschine ab und verstaute sowohl Werkzeuge als auch Taschenlampe. Nguyen sah noch einmal ins Lager, ließ das Rolltor herab und schloss das Vorhängeschloss am Eingang ab. Im Osten wurde der Himmel hell, als er den Hof verließ und auf dem zweispurigen Asphaltband nach Norden fuhr. Die Straßen der Bronx waren still um fünf Uhr morgens, als Sonny Tran den gestohlenen Wagen unter einer Hochbahn parkte und die Zünddrähte auseinander riss. Er stieg aus, trat hinter die Limousine und schraubte das Kennzeichen mit einem Schraubenzieher ab, den er einige Stunden zuvor an einer Interstate-Tankstelle gekauft hatte. Niemand war in diesem Viertel ausgebrannter Häuser und ruinierter Leben zu sehen. Um diese Zeit waren selbst die Crackdealer an den Straßenecken im Bett. Mit dem Lappen des Chauffeurs wischte Sonny seine Fingerabdrücke von Lenkrad, Schalthebel und Türgriffen. Besondere Vorsicht ließ er beim Bereich des Zündschlosses walten, und er zog auch die Drähte durch den Lappen. Als er alle Dinge, die mit seinen Händen in Kontakt geraten waren, abgewischt hatte, stieg er aus und ließ den Wagen offen zurück. Mit etwas Glück war die Limousine bis morgen um diese Zeit ausgeplündert. Die Aktentasche in der einen Hand ging Sonny Tran drei Blocks weit, bis er die Treppe erreichte, die zur U-BahnStation führte. Mit dem Lappen wischte er das Kennzeichen ab und warf es in einen Mülleimer auf dem Bahnsteig. Er brauchte nur fünf Minuten auf den nächsten Zug zu warten. 513
Hamid Salami Mabruk wohnte in einem ruhigen Viertel, nur zehn Gehminuten von der Universität entfernt, an der er lehrte. Ihm gehörte ein typischer älterer Bungalow mit getrennter Garage hinten auf dem Grundstück. Große Ahornbäume spendeten Schatten und berührten das Dach des Hauses. Ein hundertachtzig Zentimeter hoher Bretterzaun begrenzte das Grundstück auf beiden Seiten, gab Mabruk und seinen Nachbarn die Illusion von Privatsphäre. Um halb sechs morgens fuhr Mabruk über den Weg, der zur Garage führte, und mit der Fernbedienung öffnete er das Garagentor. Er lenkte den Pick-up durch die schmale Öffnung, stellte den Motor ab und machte erneut von der Fernbedienung Gebrauch, um das Garagentor wieder zu schließen. Mit den Händen am Lenkrad saß er da und versuchte nachzudenken. Was für eine Nacht lag hinter ihm! Die Bombe war nicht explodiert, und auf dem Heimweg war er von einem Stau in den anderen geraten. Eine Fahrt, die normalerweise zweieinhalb Stunden in Anspruch nahm, hatte sechs gedauert. Der kommende Abend! Er würde schlafen und dann nach New York fahren, um den dortigen Sprengkopf scharf zu machen. Am Nachmittag würde er sich einen neuen Kondensator besorgen, nur für den Fall. Die Bombe würde New York vernichten und damit die Geschichte der Menschheit ändern. Er sammelte Kraft und stieg aus. Die Garage war nicht groß; er musste die Wagentür schließen, um die Tür zu erreichen, die zum Hinterhof führte. Sie war natürlich abgeschlossen – Nachbarskinder und Drogensüchtige sollten keinen Zugang haben. Mabruk hob den Schlüsselbund, suchte nach dem richtigen Schlüssel und schloss auf. Drei Männer standen draußen, mit gezogenen Pistolen. »Keine Bewegung! FBI – Sie sind verhaftet!« 514
Mabruk trat zurück und warf die Tür zu. Ohne nachzudenken holte er die 22er Automatik hinter dem Gürtel hervor. Sie war noch immer mit dem Schalldämpfer versehen. Er beschloss, mit dem Pick-up zurückzusetzen und zu fliehen. Noch während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, hörte er einen Wagen, der über den Weg donnerte, vor der Garage bremste und die Zufahrt blockierte. Jemand klopfte an die Tür. »Sie sind umzingelt, Mabruk. Öffnen Sie die Tür und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!« Er schoss durch die Tür. Es ertönte kein Knall, nur ein leises Pochen, und hinter der Tür stöhnte jemand. Er saß in der Falle! Wütend schoss er noch zweimal durch die Tür, hielt sich dann die Mündung des Schalldämpfers dicht über dem rechten Ohr an den Kopf und drückte ab.
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24 Jake Grafton stand auf dem Met-Life-Gebäude in New York City, als die Sonne im Osten durch die Wolken brach. Er stand an einem Geländer, das Handy in der rechten Hand. Ein kühler Frühlingswind zerrte an seiner leichten Jacke und den Jeans, ließ ihn ein wenig frösteln. In der Nacht hatte es geregnet, und die Luft war noch immer kalt. Der Sonnenaufgang war spektakulär. Jake blickte nach Süden. In der Ferne sah er den Hafen und die Brücken nach Brooklyn und zur Freiheitsstatue. Hinter ihm landeten und starteten die Hubschrauber des Pendelverkehrs. Der Helikopter, mit dem er gekommen war, stand auf dem Landeplatz, der am weitesten vom Passagierterminal entfernt war. An diesem Ort erfuhr er von Gil Pascal, dass Hamid Mabruk nach Hause gefahren war. Und hier hörte er auch davon, dass Mabruk bei einem Versuch des FBI, ihn festzunehmen, einen Selbstmordversuch unternommen hatte. »Man hat ihn schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht«, berichtete Pascal. »Vor etwa dreißig Minuten hat er sich mit einer Zweiundzwanziger in den Kopf geschossen. Das hat mir Harry Estep von der FBI-Einsatzzentrale über die andere Leitung mitgeteilt.« Jake rief Harry an. »Ich habe das FBI aufgefordert, Mabruk nur im Auge zu behalten, ihn aber nicht zu verhaften.« »Ich möchte nicht respektlos klingen, Admiral«, erwiderte Harry Estep, »aber das FBI nimmt keine Befehle von Ihnen entgegen.« Jake dachte kurz nach. »Ich nehme an, jemand im Hoover Building gab grünes Licht für die Verhaftung.« »Ja, Sir.« 516
»Jemand ziemlich weit oben.« »Davon können Sie ausgehen.« »Vermutlich Emerick.« »Das kann ich nicht bestätigen. Aber ich zweifle nicht daran, dass die Anweisung, Mabruk zu verhaften, von oben kam.« »Wundervoll. Ich hoffe, Emerick weiß, wo die anderen beiden Bomben sind und schnappt sie sich heute Morgen. Das würde uns Probleme mit Magengeschwüren ersparen.« Er klappte das Handy zu und unterbrach damit die Verbindung. Die letzte Bemerkung hätte er sich sparen sollen, aber er war verdammt sauer! Die Straßen sahen aus wie dunkle Schluchten. Viele Hektar Fensterglas reflektierten das Licht der aufgehenden Sonne und drängten die Düsternis immer mehr zurück. Während Jake Ausschau hielt, kam ein weiterer Hubschrauber und landete in einem Durcheinander aus Lärm und verdrängter Luft. Grafton hielt sich am Geländer fest, bis der plötzliche Sturm nachließ. New York! Als es wieder still geworden war, rief er mit seinem Handy Sal Molina an. Die Nummer kannte er inzwischen auswendig. »Grafton hier.« »Gute Arbeit gestern Abend. Was ist mit den beiden anderen?« »Deshalb rufe ich an. Das FBI hat gerade die Verhaftung des Burschen vermasselt, der die Bombe gestern Abend scharf gemacht hat. Es gelang ihm, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Er lebt noch, aber selbst wenn er am Leben bleibt: Er wird uns nichts sagen.« »Verstehe«, erwiderte Molina. Er klang so müde und enttäuscht, wie sich Jake fühlte. 517
»Unser Corrigan-Detektor ist in Washington unterwegs. Bisher hat sich nichts Neues ergeben. Ich würde das Ding gern nach New York bringen. Ich habe das Gefühl, dass die beiden anderen Bomben hier eingesetzt werden sollen.« »Irgendwelche konkreten Hinweise?« »Nein. Nur so eine Ahnung. Atlanta, Washington … Bestimmt steht auch New York auf der Liste. Nur der CorriganDetektor kann die Sprengköpfe finden, wenn sie von Blei umgeben sind.« »Das Weiße Haus gibt die Nachricht über die Bombe heraus, die Sie gestern Abend gefunden haben. Der Sprengkopf in Atlanta hat beim Kongress und in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen gesorgt, aber warten Sie mal ab, was heute passiert. Ich spreche mit dem Präsidenten, vermute jedoch, dass er den Corrigan-Detektor in Washington behalten möchte. Diese Stadt ist der Sitz unserer Regierung. Ein Angriff auf New York wäre verheerend, aber hier wäre er katastrophal.« »Ja, Sir«, sagte Jake Grafton. Er hatte sein Leben als Erwachsener damit verbracht, Befehle auszuführen, auch wenn sie ihm nicht gefielen. »Könnten Sie Zeit dafür erübrigen, später am Vormittag zur Presse zu sprechen?« »Nur wenn ich den direkten Befehl erhalte, dass ich dafür Zeit erübrigen soll.« Hinter ihm startete das Triebwerk eines Hubschraubers. Jake hielt sich das Ohr zu, um Molinas Antwort zu hören. Es klang nach »Ich rufe Sie später an«, aber vielleicht war es auch etwas ganz anderes. Jake klappte das Handy zu und hielt sich erneut am Geländer fest. Als der Helikopter fortgeflogen war, rief er noch einmal Gil Pascal an. »Was ist beim FBI los?« »Zelda hat nicht viel Glück. Es werden keine aktualisierten 518
Daten über die Terrorzellen in die Computer gegeben. Die Nachrichtenagenturen haben eine interessante Meldung gebracht, bei der es um eine Schießerei auf einer GolfplatzBaustelle in Südflorida geht. Einige Araber waren daran beteiligt. Zwei von ihnen sind tot. Einer wurde von einer Zugmaschine überfahren, die einen Aufleger mit einem Container von der Baustelle holte. Offenbar war der Container gerade von einem lokalen Spediteur geliefert worden. Der zweite Araber wurde vom Fahrer erschossen. Anschließend setzte der Sattelschlepper die Fahrt fort.« »Na so was.« »Das alles geschah kurz nach Sonnenaufgang gestern Morgen. Die Polizei versucht, mithilfe der INS mehr über die Toten herauszufinden. Vermutlich redet sie auch mit dem FBI. Natürlich hat sich niemand das Kennzeichen des Lasters gemerkt. Die Zeugen können sich nicht einmal auf die Marke der Zugmaschine einigen.« »Hm.« »Gestern Nachmittag kam es in Nordflorida, westlich von Jacksonville, zu einer weiteren Schießerei, an der Araber beteiligt waren. In einem Kiefernwald, wie ich hörte, auf einer unbefestigten Straße abseits des Highways. Fünf tote Araber. Keine Verdächtigen. Auch in diesem Fall übermittelt die Polizei den INS per E-Mail Einzelheiten über die Toten.« »Was hält Zelda davon?« »Sie glaubt, die Toten könnten Mitglieder der Terrorzellen gewesen sein, die das FBI überwachte. Ich wollte Harry Estep anrufen und ihn danach fragen, hielt es aber für besser, zunächst Sie zu informieren.« »Rufen Sie Harry nicht an. Ich glaube, er befolgt die Befehle aus der FBI-Einsatzzentrale.« »Ich schätze, er ist ziemlich beschäftigt«, sagte Gil. »Die Bostoner Polizei hat zwei Leichen: Corrigans rechte Hand, ein 519
gewisser Karl Glück, und sein Chauffeur. Beide gegen Mitternacht erstochen.« »In Boston?« »Ja. Sie lagen im Wagen, im Parkhaus am Bahnhof.« »Was macht Carmellini?« »Er hat sich vor einer Stunde gemeldet. Alles ruhig. Er möchte, dass jemand ihn, LeRoy und den Fahrer ablöst, damit sie ein paar Stunden schlafen können. Ich versuche, das zu organisieren.« »Der Corrigan-Detektor ist Gold wert«, sagte Jake. »Ich möchte, dass ihm von nun an stets ein neutraler Wagen mit bewaffneten Wächtern folgt. Keine Unfälle mehr.« »Ich kümmere mich darum, Admiral.« »Wo ist Sonny Tran?« »In New Jersey. Eine Sicherheitskamera hat ihn erfasst, als er bei Tagesanbruch in der Bronx die U-Bahn nahm. An der Penn Station stieg er um und fuhr nach Newark. Dort haben wir ihn verloren.« »Sein Handy?« »Kein Signal. Es scheint ausgeschaltet zu sein.« »Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Jimmy Doolin hatte seinen Job als Lastwagenfahrer seit drei Wochen und würde ihn bald wieder verlieren, wenn er nicht aufpasste. Er war mit dieser Ladung spät dran – sie hätte schon gestern geliefert werden sollen. Gestern! Ha! Er hatte den Sattelschlepper mit dem Container geparkt, damit Luellen und er den Vertrag für die Eigentumswohnung unterschreiben konnten. Als er zum Laster zurückkehrte, kam es zu einem Unfall mit Blechschaden, und die Unfallgegnerin, eine alte Dame, wusste nicht einmal, in wel520
chem Bundesstaat sie wohnte. Die ganze Sache brachte ihm eine Anzeige ein … O Mann! Er musste verdammt schnell sprechen, um das alles seinem Chef zu erklären. Der Zigarren qualmende Dicke würde ihn vermutlich auf der Stelle entlassen. Und wenn er seinen Job verlor, fielen die Verkäufer der Eigentumswohnung über ihn her wie Fliegen über Scheiße. Sie ließen ihn bestimmt nicht aus dem Vertrag heraus. Und Luellen … Was würde sie sagen? Der Regen in der vergangenen Nacht hatte die Straßen schlüpfrig werden lassen, und es herrschte bereits dichter Verkehr. Jimmy Doolin war in Gedanken ganz woanders, als er in der Bronx auf die Abzweigung der Schnellstraße bog. Sie führte steiler als erwartet nach unten, und die Ampel an ihrem Ende zeigte rotes Licht. Jimmy trat auf die Bremse. Der Anhänger scherte aus, und auf der glatten Fahrbahn rutschte die Zugmaschine an der roten Ampel vorbei. Der Container auf dem Ausleger kippte nach rechts und wickelte sich um einen stählernen Strommasten. Seine Wände platzten wie eine reife Melone auf, und der Inhalt verteilte sich auf der Straße. Eines der Objekte, die aus dem Container kamen, war ein von Blei umgebener nuklearer Sprengkopf. Das Klebeband, das die Beutel mit Vogelschrot zusammenhielt, zerriss an mehreren Stellen. Beutel lösten sich von der Bombe, die mit all dem Blei ziemlich schwer war, von einem geparkten Wagen abprallte und wie eine zu groß geratene Boccia-Kugel über die Straße rollte. Jimmy Doolin hatte den Sicherheitsgurt angelegt und wurde nicht verletzt. Er stellte den Motor ab, stieg aus und fluchte laut. Der Container war ruiniert, sein Inhalt überall verstreut. Jimmy holte sein Handy hervor und wählte 911, um die Polizei zu verständigen. Dann rief er Luellen an, um ihr die schlechte
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Nachricht beizubringen. Die Eigentumswohnung konnten sie vergessen. Der für die in New York nach atomaren Sprengköpfen suchenden Soldaten zuständige Offizier war Brigadegeneral Tom Zehner. Der Hubschrauber mit Jake Grafton landete fünfzig Meter vor Zehners mobilem Befehlsstand in Battery Park. Jake stieg aus, ging über den Rasen, zeigte dem uniformierten Wächter an der improvisierten Absperrung, die Neugierige auf Distanz hielt, seinen Pentagon-Ausweis und durfte passieren. Zehner war mittelgroß und in eine Aura unerschütterlicher Ruhe gehüllt. Er erkannte Jake Grafton, obwohl er Jeans und eine leichte Jacke trug. Drei weitere Offiziere befanden sich im Befehlsstand. Nach der Begrüßung kamen sie sofort zur Sache. »Welche Anweisungen haben Sie erteilt?«, fragte Jake den Brigadegeneral. »Kontrolle der in die Stadt kommenden Container. Wir verwenden Geigerzähler, und jeder dritte Container wird geöffnet.« »Sie untersuchen nicht jeden Sattelschlepper und Lastwagen?« »Nein, Sir. Das ist unmöglich. Mir stehen dreitausend Mann zur Verfügung. Die Polizei hilft bei der Regelung des Verkehrs, aber meine Leute nehmen die Kontrollen vor. Der gesamte Verkehr von Long Island, Manhattan und Staten Island muss durch Tunnel und über Brücken, wenn er keine Fähren benutzt. Wir kontrollieren alles. Ich habe den Fährverkehr bis zum östlichen Ende von Long Island eingestellt. Die Leute dort meckern, aber es sind trotzdem keine Fähren mehr unterwegs.« Zehner trat zur Karte an der Wand. »Die Bronx habe ich aufgegeben – mir fehlen die Leute dafür. Wir halten den Verkehr an, wenn er Manhattan erreicht.« Zehner sah Grafton in die Augen. »Derzeit beträgt die Wartezeit an den Kontrollpunkten 522
drei Stunden. Wir drehen der Stadt fast die Luft ab. Eine Überprüfung aller Fahrzeuge würde bedeuten, dass der Verkehr praktisch zum Stillstand käme. Die Stadt wäre isoliert, und ihre Bewohner müssten hungern, wenn es einige Tage so weiterginge.« »Eisenbahnen?« Zehner zeigte es auf der Karte. »Flughäfen?« »Nein, Sir. Dort gibt es bereits Sicherheitsvorkehrungen.« Jake setzte sich auf die Kante eines Schreibtischs. Auf den meisten Stühlen lagen Büroutensilien. »Wie lange sind Sie dabei?« »Seit zwei Tagen, Sir.« »Der Sprengkopf, den das FBI in Atlanta fand, war von Blei umgeben. Eine solche Abschirmung genügt, um gewöhnliche Geigerzähler wirkungslos zu machen.« Zehner hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Und wenn sich eine Bombe bereits in der Stadt befindet?«, fragte Jake. »Ich habe eine begrenzte Anzahl von Soldaten, Admiral. Sie müssen essen und schlafen. Jeden in die Stadt fahrenden Lastwagen anzuhalten und zu entladen … Es liefe darauf hinaus, Straßensperren zu errichten und die Stadt völlig abzuriegeln.« »Wie würden Sie mehr Leute einsetzen, wenn Sie welche bekämen?« Zehn Minuten später klingelte Jakes Handy. Sal Molina rief ihn an. »Der Präsident möchte, dass Sie hier an einer weiteren Besprechung teilnehmen.« »Ja, Sir«, sagte Jake. »Ich bin unterwegs.« Er wandte sich an einen Major, der an der Wand stand. »Sagen Sie dem Hubschrauberpiloten, er soll das Triebwerk warm laufen lassen. Ich bin in drei Minuten draußen.« 523
Ranghohe Offiziere des Militärs und die Leiter der Bundesbehörden nahmen an der Besprechung im Weißen Haus teil. Butch Lanham, der Nationale Sicherheitsberater, führte den Vorsitz. Sal Molina saß in einer Ecke und reinigte seine Fingernägel. Emerick gestand streitlustig ein, dass der Befehl, Mabruk zu verhaften, von ihm stammte. Er betonte, dass die Terrorzellen aus Florida das FBI vielleicht noch zu den anderen Bomben führten, obwohl die Wahrscheinlichkeit dafür mit jeder verstreichenden Stunde geringer wurde. Die Politiker im Kongress kritisierten mit immer lauteren Stimmen den Umstand, dass Soldaten den Verkehr von und nach New York so stark behinderten. Auch dieser Punkt verdiente Beachtung. Alle wollten mehr Corrigan-Detektoren, die jedoch nach wie vor fehlten. Corrigan Engineering gab sich alle Mühe, aber der nächste funktionstüchtige Detektor konnte erst in zwei Wochen geliefert werden. Sie sprachen über den Einsatz von weiteren Truppen, um alle Sattelschlepper zu kontrollieren, auch über die Entscheidung der Küstenwache, Fahrten von Vergnügungsdampfern an der Ostküste zu verbieten, als jemand hereinkam und meldete, dass bei einem Verkehrsunfall in der Bronx ein weiterer Sprengkopf gefunden worden war. Ein erleichtertes Seufzen ging durch den Raum. »Damit sind es drei«, sagte Molina. »Eine Explosion wäre mehr als genug«, erwiderte General Alt scharf. Jake wusste, was Molina empfand. Auch er fühlte profunde Erleichterung – ein schweres Gewicht schien von seinen Schultern zu weichen. Eine Bombe zu finden, war eine Herkulesarbeit. Zwei … Unmöglich. Nach der Besprechung hielt Alt Jake zurück. Sal Molina er524
schien an seiner Seite. »Gute Arbeit gestern Abend«, sagte der Vorsitzende der Stabschefs. »Danke, Sir.« »Wo ist der letzte Sprengkopf?« »Das weiß allein Gott im Himmel. Falls jemand wetten möchte: Ich wette ein Monatsgehalt, dass er in New York ist, oder auf dem Weg dorthin.« »Diese Leute hier haben keine Ahnung«, sagte Alt mürrisch. »Wie wollen Sie den Sprengkopf finden?« »Wir können nicht das ganze Land durchsuchen«, meinte Molina, während Jake über seine Antwort nachdachte. »Atlanta hat mich überrascht. Die Bombe könnte überall sein. Chicago, Los Angeles, San Francisco, Dallas …« »Haben Sie einen Plan?«, wandte sich Alt scharf an Jake. Seine Stimmung war ziemlich mies. »Ich mache weiter wie bisher, General. Mit anderen Worten: Ich suche die Bösewichter und versuche, ihnen zuvorzukommen. Und ich hoffe, dass es nicht noch einmal so knapp wird. Gestern Abend hatten wir unverschämt viel Glück. Siebzehn Minuten später und wir würden dieses Gespräch in der Hölle führen.« »Es ist noch immer ein Sprengkopf dort draußen«, sagte Alt mit Nachdruck. Jake sprach langsam, ertastete sich seinen Weg. »Als die Bomben ins Land kamen, haben wir sie nicht gefunden, weil sie mit Blei abgeschirmt waren. Jetzt sind sie hier. Ich schlage vor, wir hören damit auf, Schiffe zu kontrollieren. Setzen wir diese Leute für Kontrollen im Land ein.« »Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass es jetzt keinen Sinn mehr hat, Schiffe zu überprüfen«, sagte Molina. »Ich rede mit dem Präsidenten darüber, unsere Truppen neu zu formieren.« »Wir müssen damit aufhören, nach New York fahrende Last525
wagen zu kontrollieren«, fuhr Jake fort. »Damit kappen wir den Lebensnerv der Stadt. Wir überprüfen sie in New York, an Kontrollstellen, die wir überall einrichten. Wir müssen alle Leute, die wir bekommen können, für die Suche in Washington, New York und den anderen Großstädten im Land einsetzen.« »Sie suchen nach der Nadel im Heuhaufen. Auf diese Weise werden Sie den Sprengkopf nicht finden.« »Vielleicht nicht, aber wir zeigen der Öffentlichkeit, dass wir danach Ausschau halten, und das zeigen wir auch den Terroristen. Welche Pläne sie auch immer für die letzte Bombe hatten: Sie müssen sie überdenken.« Jake gestikulierte. »Wir müssen dafür sorgen, dass sie sich so verhalten, wie wir es wollen, und wir müssen bereit sein, wenn sie entsprechend reagieren.« Alt sah sich um. Nur sie drei befanden sich noch im Raum. »Was halten Sie für das Wahrscheinlichste?« »Flottenwoche. Wenn ich ein Terrorist wäre, würde ich versuchen, die Atombombe im Hafen von New York explodieren zu lassen, während der Flottenwoche, die in acht Tagen beginnt. Schiffe aus den Flotten vieler Staaten werden erwartet. Wenn es während der Flottenwoche im Hafen zu einer nuklearen Explosion kommt, wird die Hälfe der Welt vermuten, dass eine amerikanische Waffe explodiert ist. Die andere Hälfte wird von einem Terroranschlag ausgehen. Wie auch immer: Die Terroristen hätten in beiden Fällen gewonnen.« Jake strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Wenn ich ein Terrorist wäre und eine Atombombe hätte, würde ich auf diese Weise vorgehen.« Es klang lahm, und das war es auch. »Wir könnten die Flottenwoche absagen«, schlug Molina vor. Alt sah Grafton schief an. »Glauben Sie, dass das Glück noch immer auf Ihrer Seite ist?« »Dies könnte unsere einzige Chance ein, General.« »General Alt?«, fragte Molina den Vorsitzenden. 526
»Sagen Sie die Flottenwoche nicht ab.« »Ich werde mit Ihnen beiden nie Poker spielen«, sagte Molina. »Sie wären fähig, Haus und Hof zu setzen, ohne ein Paar in der Hand zu haben.« Jake Grafton war so müde, dass seine Augen brannten, doch er musste noch etwas erledigen, bevor er nach Hause fahren konnte. Als er sein Büro in Langley erreichte, rief er Gil und Zelda zu sich und schloss die Tür. Er kramte in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch, während sie von dem Sprengkopf berichteten, den man am Morgen in New York gefunden hatte, und anschließend weitere Details in Hinsicht auf die beiden Leichen in der Limousine in Boston nannten. Jake zog einen Aktendeckel unter den anderen hervor, öffnete ihn und suchte darin nach einem bestimmten Abschnitt. »Aha! Das dachte ich mir doch.« Mit einem Wink forderte er Zelda und Gil auf, hinter den Schreibtisch zu treten. Sie lasen über seine Schulter hinweg. »Sonny Tran hat einen Bruder, Nguyen Duc Tran. In jungen Jahren mit dem Gesetz in Konflikt geraten, Schlägereien, Alkohol, hat mit sechzehn die Schule verlassen. Man hat bei ihm eine passiv-aggressive Persönlichkeit diagnostiziert. Ist jetzt Fernfahrer.« Zelda wich einen Schritt zurück. »Der Zwischenfall gestern bei der Golfplatz-Baustelle … Dabei könnte ein Sprengkopf gestohlen worden sein. Habe ich Ihnen gesagt, dass der Golfplatz von Corrigan Engineering angelegt wird? Und der Container war für CE bestimmt.« Jake Grafton lächelte. Es war das erste Lächeln seit Wochen, und es fühlte sich gut an. »Ich glaube, ich sehe ein Licht am Ende des Tunnels. Es ist ziemlich klein, aber wenigstens tappen wir nicht mehr völlig im Dunkeln.« Er schloss den Aktendeckel und legte ihn zu den anderen auf 527
dem Schreibtisch. »Zu niemandem ein Wort davon«, sagte Jake. »Ich will den vierten Sprengkopf, keine Verdächtigen im Gefängnis.« Zelda und Gil nickten. »Corrigan«, sagte er zu Zelda. »Handy, Telefongespräche übers Festnetz, E-Mails, wozu auch immer Sie sich Zugang verschaffen können.« Sie nickte erneut. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden … Ich bin seit fast dreißig Stunden auf den Beinen und möchte zu Hause ein wenig an der Matratze horchen. Wir sehen uns heute Abend, bevor Sie nach Hause gehen.« Jake Grafton verließ sein Büro und summte leise vor sich hin. Der Lieferwagen mit dem Corrigan-Detektor setzte Tommy Carmellini vor dem Apartmenthaus ab, in dem die Graftons wohnten. Er nahm den Lift nach oben und klopfte an die Tür. Callie öffnete. »Kommen Sie herein, Tommy«, sagte sie und zog die Tür weit auf. Er sah sich nach Anna um. »Jake ist noch nicht zurückgekehrt«, sagte Callie. »Anna ging vor einer Stunde in Begleitung von zwei US-Marshalls. Das FBI nimmt sie ins Zeugenschutzprogramm.« »Kommt sie wieder?« »Ich glaube nicht.« »Hat sie eine Telefonnummer oder so hinterlassen?« »Nein, nur das hier.« Callie reichte Tommy einen Umschlag und ging dann in die Küche, damit Carmellini ungestört lesen konnte. Tommy setzte sich auf die Couch und öffnete den Umschlag. Im Innern fand er einen Zettel, einmal gefaltet. Anna hatte mit 528
Tinte geschrieben. »Tommy, eines Tages kehre ich zurück. Ich liebe dich, Anna.« Das war alles. Carmellini zerknüllte den Zettel in der Hand. Wie gelähmt saß er da, atmete langsam ein und aus, lauschte dem Pochen seines Herzens. Nach einer Weile öffnete er die Hand, starrte auf die kleine Papierkugel und glättete den Zettel vorsichtig. Erneut las er die Worte, faltete den Zettel und steckte ihn in seine Brieftasche, hinter den Führerschein. Callie Grafton kam aus der Küche, brachte Carmellinis Schulterhalfter und Pistole sowie zwei Gläser Wasser. Tommy nahm ein Glas entgegen und trank einen Schluck. Callie setzte sich. »Jake hat vor einiger Zeit angerufen«, sagte sie. »Er meinte, Sie beide hätten gestern Abend den Sprengkopf im Convention Center gefunden.« »Ja«, bestätigte Carmellini. »Es war eine lange Nacht.« »In den Nachrichten hieß es, dass man einen weiteren Sprengkopf heute Morgen bei einem Verkehrsunfall in der Bronx gefunden hat.« »Davon habe ich gehört, ja. Gute Neuigkeiten.« Carmellini trank das Glas aus und legte das Schulterhalfter an. »Danke für das Wasser.« »Besuchen Sie uns mal wieder, Tommy.« »Ja«, sagte er. »Mache ich.« Jake hatte gute Laune, als er nach Hause kam, eine halbe Stunde nachdem Carmellini gegangen war. Er küsste seine Frau, umarmte sie und sagte dann: »Ich habe Hunger.« »Wir haben Hühnchen übrig.« »Gut. Wie wär’s mit einem Hühnchen-Sandwich?« Während Jake aß, erzählte Callie von Annas Abreise und Carmellinis Besuch. »Er liebt sie, Jake.« »Gibt einem den Glauben an die Menschheit wieder, nicht 529
wahr?«, erwiderte Jake mit vollem Mund. »Wir stehen kurz vor dem Armageddon, aber noch immer verlieben sich Menschen ineinander. Vielleicht überlebt die Spezies doch noch.« »Es gibt also noch einen Sprengkopf dort draußen.« »Ja.« »Wo ist er?« »Ich glaube, er wurde gestohlen. Das ist gut und schlecht. Die Terroristenzellen in Florida bestanden aus Selbstmordkommandos – sie hätten die Bomben schon nach kurzer Zeit hochgehen lassen. Mabruk wollte nicht in der Explosion sterben. Er hat den Timer so eingestellt, dass ihm genug Zeit blieb, die Stadt zu verlassen. Glück für uns, möchte ich hinzufügen. Wir fanden das Ding siebzehn Minuten vor der geplanten Explosion.« Jake schnaubte. »Vielleicht sollte ich heute ein Lotterielos kaufen. Derzeit scheine ich enorm viel Glück zu haben.« Er trank Milch und sagte dann: »Wer auch immer hinter dem Diebstahl steckt, er hat etwas mit der Bombe vor. Ich glaube nicht, dass diese Leute sie sofort zünden.« »Wie kann jemand eine Atombombe stehlen? Woher hat der Dieb überhaupt von ihr gewusst?« »Die Diebe kannten den Plan. Jemand, der über alles Bescheid wusste, hat sie eingeweiht.« »Und wer sind die Diebe?« »Ich habe da eine Idee, aber um ganz ehrlich zu sein, Callie: Das Beweismaterial ist so dünn, dass man eine Zeitung hindurchlesen kann. Trotzdem …« Jake nahm einen weiteren Bissen, kaute langsam und genüsslich, schluckte dann. »Das Geld für den Kauf der vier Sprengköpfe stammt vermutlich von Corrigan. Er wollte die arabischen Terroristen hintergehen und dafür sorgen, dass wir die Waffen finden. Aber die Terroristen drehten den Spieß um und hintergingen ihn. Jemand in der Organisation der Terroristen wusste, wohin die 530
Bomben gebracht werden sollten, und diese Person gab die Informationen weiter. Ich tippe auf jemanden, der am Transport der Sprengköpfe beteiligt war. Es kommen alle infrage, die Bescheid wussten, und eigentlich spielt die Identität des Informanten auch gar keine Rolle. Wichtig ist: Die Diebe erfuhren, wohin die Sprengköpfe geliefert werden sollten. Vielleicht ließen sie eine Bombe zu einem von ihnen ausgewählten Ort bringen. Oder sie warteten an einem von den Terroristen bestimmten Ort. Fest steht: Wir haben sieben tote Terroristen und eine fehlende Nuklearwaffe.« Jake aß den Rest des Sandwichs und stand auf. »Jetzt fühle ich mich besser.« »Toad kehrt heute heim«, sagte Callie. »Rita hat von Boston angerufen.« »Ich hätte Toad und Bennett nicht mit dem Arschloch fahren lassen sollen«, brummte Jake. »Das war ein großer Fehler.« Callie wollte ihn fragen, wie er das meinte, aber Jake war bereits zur Dusche unterwegs. Fünfzehn Minuten später sank er ins Bett. Die Nachricht, dass Karl Glück ermordet worden war, bestürzte Thayer Michael Corrigan. Er hatte sich gerade die aktuellen Nachrichten über die Entdeckung der Sprengköpfe im Fernsehen angesehen, als die Polizei gekommen war, um ihn von Glücks Tod zu unterrichten und Fragen zu stellen. Ihn beunruhigte nicht so sehr der Umstand, dass Karl Glück ermordet worden war, sondern vielmehr seine eigene Unkenntnis. Nach der Befragung durch die Polizei saß er da und fragte sich, was zum Teufel hier vor sich ging. Er musste sich eingestehen, nicht die geringste Ahnung zu haben. Wer hatte Karl Glück auf dem Gewissen? Gewöhnliche Diebe kamen nicht infrage. Von der Polizei wusste Corrigan, dass sowohl Glück als auch sein Chauffeur ihre Brieftaschen bei 531
sich gehabt hatten. Eine Prostituierte? Corrigan glaubte nicht, dass sich Glück auf so etwas einließ, und wenn doch, hätte er sicher nicht seinen Chauffeur als Zeugen dabeigehabt. Und auch in diesem Fall hätte man erwarten können, dass die Brieftaschen fehlten. Sonny Tran? Eine Möglichkeit. Oder arabische Terroristen? Entweder das eine oder das andere. Ein Messer. Keine Pistole, sondern ein Messer. Corrigan dachte auch darüber nach. Er hatte nie jemanden getötet, aber wenn es nötig gewesen wäre, jemanden umzubringen, hätte er eine Pistole benutzt. Oder vielleicht Gift. Ein Messer war zu persönlich, zu schmutzig. Man musste ganz nahe an das Opfer heran und brauchte viel Kraft. Die Polizei hatte gesagt, dass Karl Glück mit einem Stich ins Herz getötet worden war, und das Messer hatte bis zum Heft im Rücken des Chauffeurs gesteckt. Jemanden mit einem Messer zu ermorden, hatte etwas … extrem Brutales … Wollte der Killer auch ihn umbringen? Um diese Frage ging es, nicht wahr? Von einem Mörder verfolgt zu werden, das war eine Sache. Aber jemand, der so nahe herankam, dass er einem ein Messer ins Herz stieß und dann zusah, wie man starb … Vor einem solchen Mann musste man sich fürchten. Draußen schien die Sonne, und es war angenehm warm im Raum. Trotzdem fröstelte Corrigan. Er zog die Schreibtischschublade auf, nahm die darin liegende Automatik und betrachtete sie. Rostflecken zeigten sich an mehreren Stellen. Seit Jahren hatte er sie nicht mehr in der Hand gehalten. Er vergewisserte sich, dass sie geladen und gesichert war, steckte sie dann in die Jackentasche. Ihr Gewicht zog an der maßgeschneiderten Jacke, und Corrigan kam sich wie ein Narr vor. 532
Mit einer solchen Waffe konnte er wohl kaum einen selbstmörderischen Killer aufhalten, der glaubte, in Gottes Auftrag zu handeln. Lieber Himmel, diese Leute verwendeten Maschinenpistolen und Autobomben. Und Messer. Corrigan nahm vor dem Computer Platz und schaltete ihn ein. Während das Ding hochfuhr, öffnete er den Safe und holte ein kleines Adressbuch aus ihm hervor. Er hatte einen Code benutzt und brauchte mehrere Minuten, um die gewünschte Computeradresse und den öffentlichen Schlüssel zu decodieren. Es dauerte zehn Minuten, die E-Mail zu schreiben, und er korrigierte sie mehrmals, bis er mit ihr zufrieden war. Dann verschlüsselte er sie mit der RPS-Software und klickte auf den Sende-Button. Zelda Hudson hatte Corrigans verschlüsselte E-Mail wenige Minuten nach dem Versenden. Leider konnte sie sie nicht decodieren – ihr fehlte sowohl Corrigans öffentlicher Schlüssel als auch der private des Empfängers. Sie druckte die Mail aus und legte sie auf Jake Graftons Schreibtisch. Er fand sie dort, als er am Nachmittag sein Büro betrat, nahm sie und suchte das im Keller gelegene Computerzentrum der Technik-Spezialisten aus. »Was ist das?«, fragte er Zelda. »Das hat Corrigan jemandem geschickt.« »Können Sie die Nachricht entschlüsseln?« »Nein.« »NSA?« Damit meinte Jake die National Security Agency, die Kryptographen der Regierung. »Nein. Es ist ein RPS-Code. Es gibt keine mir bekannte Methode, ihn ohne die beiden Schlüssel zu decodieren.« »Wundervoll«, kommentierte Jake und kehrte in sein Büro zurück. Toad Tarkington und Rita Moravia warteten dort auf ihn. Sie 533
waren gerade aus Boston gekommen. »Sie sehen aus, als wären Sie von einem Müllwagen überfahren worden«, sagte Jake. »Das soll komisch sein«, wandte sich Toad an Rita, die nicht lächelte. »Entschuldigung«, sagte Jake. »Schlechter Witz. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Toad. Ich hätte Sie und Bennett nicht von Sonny Tran chauffieren lassen sollen. Vermutlich hat er den Unfall absichtlich verursacht.« Er reichte Toad den Polizeibericht. »Der Fahrer des Müllwagens sagte aus, dass der Lieferwagen plötzlich schneller wurde, um vor ihn zu gelangen. Er konnte ihm nicht ausweichen. Wegen der Widersprüche zwischen den beiden Aussagen verzichtete die Polizei auf eine Anzeige.« »Glauben Sie, Sonny Tran wollte den Corrigan-Detektor zerstören?« »Er ist nur noch Schrott. Und Sonny ist verschwunden. Er fuhr nicht nach Hause und nimmt keine Anrufe auf seinem Handy entgegen. Von Zelda weiß ich, dass er es ausgeschaltet lässt. Sie kann seinen Aufenthaltsort nicht mithilfe der Handysignale feststellen.« »Meine Güte«, sagte Rita. »Wenn Absicht hinter dem Unfall steckt, muss man Sonny Tran eins lassen: Er war verdammt mutig. Er hätte ebenfalls getötet werden können.« »Sonny Tran ist ein abgebrühter Bursche«, bestätigte Jake. »Ich … Nun, ich habe Mist gebaut, und dafür entschuldige ich mich.« Toad winkte ab. »Schon gut, CAG. Wir alle geben unser Bestes.« Jake sah Rita an. »Ich brauche Ihre Hilfe. Ich möchte alles über die Flottenwoche in New York wissen. Morgen früh rufe ich Ihren Vorgesetzten an und lasse Sie hierher versetzen.« 534
Eine Stunde später, als Toad und Rita auf dem Weg nach Hause waren, sagte Rita: »Er schien etwas optimistischer zu sein als bei unseren letzten Begegnungen.« Toad pflichtete ihr bei. »Das mit dem Müllwagen war der erste Scherz, den er seit einem Monat versucht hat. Ich glaube, er hat eine Spur gefunden.« »Hoffentlich«, sagte Rita mit Nachdruck. Am Nachmittag des folgenden Tages empfing Zelda eine verschlüsselte E-Mail für Corrigan. Sie kam aus Frankreich. Sie druckte die Mitteilung aus und betrachtete sie, als ihr Computer durch ein akustisches Signal darauf hinwies, dass eine Nachricht für sie selbst eingetroffen war. Jemand hatte ihr eine EMail zur CIA geschickt! Sarah Houston, so lautete die Adresse. Wer in aller Welt …? Sie öffnete die E-Mail und stellte fest, dass sie von der gleichen Person in Frankreich stammte, die Corrigan eine codierte Mitteilung geschickt hatte. Zelda starrte darauf und begriff plötzlich, was sie sah: einen Codierungsschlüssel. Sogar zwei. Fünfzehn Minuten später hatte sie Corrigans E-Mails entschlüsselt. Sie druckte sie aus und trug sie nach oben zu Jake Graftons Büro. Der Admiral war in einer Besprechung mit Rita Moravia. Die Sekretärin nahm die E-Mails entgegen und brachte sie Jake. Sechzig Sekunden später stand Grafton im Vorzimmer. »Wie haben Sie das geschafft?« »Jemand hat uns die Schlüssel geschickt.« Zelda reichte ihm die E-Mail, die sie aus Frankreich bekommen hatte. Jake nahm auf einem Stuhl Platz, blickte auf die Schlüssel und las dann die decodierten Nachrichten. »Ich danke Ihnen, Zelda. Ihr Land dankt Ihnen.« Jake stand ruckartig auf, gab ihr einen Kuss auf die Wange, kehrte mit den 535
ausgedruckten E-Mails in sein Büro zurück und schloss die Tür hinter sich. Zelda Hudson rieb sich die Wange und stand vor der verblüfften Sekretärin. »Aber ich habe doch gar nichts getan«, sagte sie und ging fort, um sich eine Limonade zu holen. Am Nachmittag bog der Sattelschlepper auf den Hof eines kleinen Lagers in Newark. Nguyen Duc Tran fuhr rückwärts an eine Laderampe heran, stellte den Motor ab, stieg aus und streckte sich. Er sah sich um, ging dann die Treppe zur Laderampe hoch und trat durch die große offene Tür. Sein Bruder Sonny saß an einem Schreibtisch an der Seitenwand. Außer ihm war niemand zugegen. Nguyen zog sich einen Klappstuhl heran und nahm Platz. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm einen Zug und lächelte. »Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst«, sagte Sonny. »Ich hatte ein kleines Abenteuer. Die Araber wollten sich nicht einfach so von ihrem Spielzeug trennen.« »In den Zeitungen standen Berichte über tote Araber hier und da in Florida.« »Es hat Spaß gemacht«, sagte Nguyen überschwänglich. »Ich habe mich prächtig vergnügt.« Er deutete mit dem Daumen zum Sattelschlepper an der Laderampe und lachte. »Ich glaube, du bist ein Nihilist«, erwiderte Sonny nachdenklich. »Und du nicht?« Nguyen hob die Hand mit der Zigarette zu einer ausladenden Geste. »Diese Mistkerle zu erledigen … Es war perfekt, einfach perfekt! Ich fühle mich großartig.« »Wir werden diese Sache nicht überleben«, sagte Sonny und musterte seinen Bruder. »Wir alle müssen sterben. Wenn es vorbei ist, gibt es nichts 536
mehr, überhaupt nichts. Kein Paradies und keine Hölle. Man bekommt nur das, was man sich selbst schenkt, bevor man abtritt.« Nguyen ließ die halb gerauchte Zigarette fallen und trat sie aus. »Möchtest du dir den Sprengkopf ansehen? Ein beeindruckendes Ding.« »Gleich. Es hat keine Eile. Ein Hubschrauber wird die Bombe am Montag zum Einsatzort fliegen.« »Ich habe mich gefragt, wie du sie an den Soldaten vorbeibringen willst. Im Radio habe ich gehört, dass alle in die Stadt fahrenden Laster überprüft werden.« »Wir verwenden einen Helikopter und fliegen über sie hinweg.« Nguyen Duc Tran lachte rau. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und lachte aus vollem Hals. Und auch Sonny Tran konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Ja, es war wirklich wundervoll, diese korrupte, verdorbene Gesellschaft und die Mistkerle, die sie geschaffen hatten, zu vernichten. Um Mitternacht brach Jake Grafton mit einem Executive Jet der Andrews Air Force Base auf. Er war der einzige Passagier. Er saß auf der linken Seite an einem Fenster und kippte die Rückenlehne, kaum hatte der Pilot das Fahrwerk eingefahren. Die Maschine flog nach Süden und gewann in einer weiten Linkskurve an Höhe. Bald zeigten sich die Lichter von Washington am Horizont. Jake sah den Verkehr auf dem Beltway, das Washington Monument, das Kapitol … Ein Meer aus Lichtern mit Millionen von Menschen. Er drehte sich von einer Seite auf die andere und suchte nach einer bequemen Position, als die Lichter von Baltimore an der linken Tragfläche vorbeistrichen. Eine Wolkendecke lag über dem Ozean und hinderte ihn daran, New York etwa hundert537
fünfzig Kilometer im Nordwesten zu sehen. Boston glitt kurze Zeit später unter der Nase des Flugzeugs hinweg. Jake schlief ein, als der Jet über den Nordatlantik flog. Paris war so wie immer: eine zauberhafte Stadt voller Jugend und Träume, an diesem Tag unter einem klaren Maihimmel. Jake Grafton trug Jeans, Turnschuhe und eine alte Windjacke, als er auf einer Bank vor Notre-Dame saß. Oben beobachteten die Wasserspeier wie seit Jahrhunderten das Treiben der Menschen. Er hatte einen Beutel Vogelfutter für die Tauben gekauft und verstreute es sparsam, bis er der Sache schließlich überdrüssig wurde und den Beutel ganz leerte. Die Tauben versammelten sich zu seinen Füßen und pickten hungrig. Natürlich war er früh dran. Er würde bei seiner eigenen Beerdigung zu früh kommen, hatte ihm Callie immer wieder gesagt, wenn er sie zur Eile drängte. Vielleicht lag es am Dienst in der Marine. Über viele Jahre hinweg war er immer vor der festgesetzten Zeit zur Stelle gewesen, nur für den Fall. Er sah, wie die Limousine am Straßenrand hielt und Thayer Michael Corrigan ausstieg. Der Wagen fuhr wieder los und verschwand im Verkehr. Corrigan trug einen dunklen Anzug, sah sich um und hielt vergeblich nach der Person Ausschau, mit der er sich treffen wollte. Er setzte sich auf eine Bank auf der anderen Seite des Platzes, mit Blick zur Straße und einem kleinen Baum hinter ihm. Jake beobachtete sein Profil. Corrigan schenkte den Tauben, Touristen und Liebespaaren keine Beachtung, sah auf die Uhr und schlug die Beine übereinander. Der amerikanische Industrielle wartete seit fünf Minuten, als Janas Ilin über die Brücke kam, die über die Seine zum linken Ufer führte. Jake Grafton sah ihn zuerst. Ilin blickte in seine Richtung, ohne sich irgendetwas anmerken zu lassen. Er ging zu der Bank, auf der Corrigan saß, und nahm neben ihm Platz. 538
Nachdem sie einige Momente miteinander gesprochen hatten, stand Jake auf und ging in ihre Richtung. Hinter Corrigan und Ilin stand eine leere Bank, im rechten Winkel zu der ihren, und dort setzte er sich. »Ich brauche Ihre Hilfe«, hörte er Corrigan sagen. »Wir hatten schon mehrfach geschäftlich miteinander zu tun, und ich weiß, dass Sie vertrauenswürdig und sehr diskret sind.« »Wie kann ich zu Diensten sein?«, fragte Ilin in fast perfektem Englisch. »Es gibt einige Männer in Kairo, die eliminiert werden müssen. Ich bin natürlich bereit, dafür zu bezahlen, eine angemessene Summe und Spesen. Die Sache muss bald erledigt werden. Sie haben einen meiner Kollegen umgebracht, und ich fürchte, dass sie auch versuchen könnten, mich zu ermorden.« »Was haben sie Ihnen angetan?« »Wir hatten eine geschäftliche Vereinbarung. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Wir leben in schweren Zeiten.« »Ja«, sagte Ilin. »Natürlich muss ich mehr wissen. Namen, Adressen, falls Sie sie haben. Und es wird eine Weile dauern. Diese Dinge lassen sich nicht über Nacht arrangieren.« »Ich verstehe, aber die Zeit drängt. Wie ich schon sagte, sie haben meinen Kollegen umgebracht, vorgestern Abend in Boston.« Grafton nahm zur Kenntnis, dass Corrigan vergaß, den Chauffeur zu erwähnen. So unwichtige Leute wie Chauffeure interessierten ihn nicht. »Diese Männer scheinen sehr entschlossen und Ihnen einige Schritte voraus zu sein«, meinte Ilin. »Vielleicht ist es bereits zu spät für Gegenmaßnahmen. Ich schlage vor, Sie ziehen sich auf eine abgelegene Insel zurück, nehmen einige gute Männer als Leibwächter in Ihre Dienste und bleiben dort. Führen Sie ein ruhiges Leben; vielleicht findet man Sie nicht. Und selbst wenn Ihre Gegner Sie entdecken: Sie wären rechtzeitig gewarnt und imstande, sich zu verteidigen. Das können Sie sich mit 539
Ihrem Geld kaufen. Den meisten anderen Menschen steht eine solche Möglichkeit nicht zur Verfügung.« »Das ist doch lächerlich«, sagte Corrigan abfällig. »Ich habe Sie für einen Mann von Welt gehalten, der Dinge erledigen kann.« »Ich kann Dinge erledigen, ja, aber keine Wunder wirken.« »Um Himmels willen, Sie sind in der Lage, auf die Ressourcen des SVR zurückzugreifen. Sie …« »Da sind Sie falsch informiert, Mr. Corrigan. Ich bin als privater Bürger hier und spreche nur für mich selbst.« Corrigan verstand nicht. »Vielleicht sollten wir über das Geld reden. Ich bin bereit, einen großen Betrag zu zahlen. Einen sehr großen Betrag. Es sind insgesamt drei: Abdul Abn Saad, Direktor der Walney’s Bank in Kairo, jemand namens Ashruf und ein gewisser Hoq – er steht mit ihnen in irgendeiner Beziehung.« »Ich kenne diese Männer. Sie sind mir aus beruflichen Gründen bekannt, wenn Sie verstehen – Regierungen teilen Informationen. Es handelt sich um islamische Extremisten, Gotteskrieger … Terroristen. Es wird nicht leicht sein, sie aus dem Weg zu räumen.« »Natürlich nicht. Deshalb wende ich mich an Sie. Nennen Sie einen Preis.« »Nicht so hastig. Ich habe mich keineswegs bereit erklärt. Diese Sache wäre sehr teuer. Personen müssten beauftragt, ausgerüstet und an den richtigen Stellen platziert werden. Man müsste Tarnidentitäten vorbereiten, Bestechungsgelder zahlen … Befinden sich die Männer in Ägypten?« »Saad ja, und Hoq ebenfalls. Ich weiß nicht, wo sich Ashruf aufhält.« Ilin seufzte schwer. »Eine schwierige, aufwändige und sehr riskante Angelegenheit, gelinde gesagt. Mindestens eine Million amerikanische Dollar für jeden von ihnen.« 540
»Abgemacht. Die Hälfte im Voraus, der Rest nach getaner Arbeit.« »Für die Spesen. Das Honorar beträgt eine weitere Million pro Kopf, wenn ich den Auftrag übernehme.« Corrigan nickte mehrmals. »In Ordnung. Die Hälfte im Voraus, der Rest nach Erledigung.« »Woher soll ich wissen, dass Sie noch zahlen können, wenn der Job erledigt ist? Die Amerikaner stellen doch Ermittlungen in Hinsicht auf jene Männer an, oder?« »Nicht nur die Amerikaner.« »Dann verstehen Sie sicher mein Problem. Wenn einer der Ermittler auf eine Verbindung zwischen Ihnen und den Männern stößt, so werden Sie vielleicht … verhaftet. Vor Gericht gestellt. Gezwungen, sich zu verteidigen. Ihnen dürfte klar sein, Mr. Corrigan, wie schwer es für mich wäre, das restliche Geld zu kassieren, wenn Sie irgendwo im Gefängnis säßen und sich weigerten, den Rest zu zahlen, nachdem ich meinen Verpflichtungen nachgekommen bin.« »Man wird mich nicht verhaften. Polizei und Geheimdienst wissen nichts. Ich genieße einen makellosen Ruf.« »Zu schade, dass ein solcher Ruf nicht kugelsicher ist, oder? Übrigens: Kennen Sie den Namen des Mannes, den der amerikanische Präsident gewissermaßen ad hoc beauftragt hat, die nuklearen Sprengköpfe zu finden, die das Schwert des Islam in Russland gekauft und in die Vereinigten Staaten gebracht hat? Er weiß vielleicht, dass die von Ihnen genannten Männer jener Terroristengruppe angehören.« »Ich … Nein, vielleicht habe ich den Namen einmal gehört, aber …« »Grafton. Er ist Konteradmiral bei der Navy der Vereinigten Staaten. Zwei Sterne. Sein Rang entspricht dem eines Generalmajors bei der Army oder der Air Force. Manchmal trägt er 541
Uniform, manchmal nicht.« »Ja, ich habe den Namen gehört. Bin dem Mann aber nie begegnet.« Corrigan hatte vergessen, dass er Jake im Weißen Haus gesehen hatte. »Nun, ich möchte Sie ihm vorstellen.« Ilin drehte sich halb um und hob die Hand. »Thayer Michael Corrigan, Konteradmiral Jacob Lee Grafton.« Corrigan drehte langsam den Kopf und sah in die kalten grauen Augen von Jake Grafton. Dann richtete er den Blick auf Ilin und sagte bitter: »Ich habe Sie für einen Ehrenmann gehalten.« Bevor Ilin antworten konnte, stand Corrigan auf und ging fort. Er verschwand in der Menge, die über die Brücke zum linken Seine-Ufer strömte. Jake stand auf, trat näher und setzte sich neben Ilin. »Danke für die Einladung zu Ihrem kleinen Treffen. Ich bekomme nicht oft Gelegenheit, in der Nähe eines Milliardärs zu sitzen.« »Sie sind selten. Haben Sie genug gehört?« »Um Corrigan zu ruinieren? Ich denke schon. Zweifellos glaubt er, dass ich alles aufgezeichnet habe.« »Ja.« »Bei uns geistert noch immer ein verdammter nuklearer Sprengkopf durchs Land. Haben Sie irgendeine Ahnung, wo ich ihn finden könnte?« »Nein. Aber ich vertraue darauf, dass Sie ihn rechtzeitig entdecken.« Grafton schnaubte. »Sie brauchen keine Blumen zu schicken, wenn Sie einen großen Knall aus Amerika hören.« »Wie viele vergrabene Bomben haben Sie gefunden?« »Bisher drei. Wie viele sind es?« 542
»Ich weiß es nicht. Die Leiter des SVR sind fleißig und mögen keine halben Sachen.« »Sie hätte mich darauf hinweisen können.« »Nein, das konnte ich nicht. Dann hätte man eine undichte Stelle vermutet. Corrigan bot den perfekten Vorwand – das Geld, die Terroristen und die von Petrow verkauften Sprengköpfe sind echt. Moskau verdächtigt mich nicht und wird auch keinen Verdacht schöpfen.« »Ich danke Ihnen erst, wenn wir den letzten Sprengkopf gefunden haben.« »Das verstehe ich.« »In einigen Wochen beginnen wir damit, die vergrabenen Bomben auszugraben. Besteht die Gefahr, dass irgendein Narr in Moskau sie hochgehen lässt, wenn wir damit anfangen?« »Ich glaube nicht. Es waren Trümpfe im politischen Kampf innerhalb des Kreml. Die Ultranationalisten trösteten sich mit ihnen. Die Verantwortlichen wurden in hohe Positionen befördert. Sie wissen ja, wie das ist.« »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten«, sagte Jake. »Im Gegensatz zu Corrigan kann ich nichts dafür bezahlen.« Er erklärte Ilin, worum es ging. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, erwiderte der Russe. Jake nickte. »Danke für die E-Mails. Da Sie jetzt unsere Adresse haben … Schicken Sie uns eine Weihnachtskarte.« Jake Grafton streckte die Hand aus. Janas Ilin schüttelte sie, stand auf und ging fort. Die Tauben wichen ihm aus.
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25 Am Montagmorgen blickte Sonny Tran zur Freiheitsstatue empor. Ein Gerüst umgab den Sockel und die Statue selbst. »Können Sie das alles in den nächsten fünf Tagen abbauen?«, fragte Sonny. Der Mann, an den er diese Frage richtete, hieß Hoyt Wilson; er war der Chefingenieur des Renovierungsprojekts. »O ja«, sagte Hoyt. »Aber um ganz offen zu sein, Ihr Apparat bereitet mir echt Kopfzerbrechen. Wir haben auch so schon genug zu tun, und wenn es zu Verzögerungen kommt, wird man mich zur Verantwortung ziehen.« Er meinte die durch den Beginn der Flottenwoche gesetzte Frist: Bis zum Samstag, dem ersten Tag der Flottenwoche, musste das Renovierungsprojekt beendet und das Gerüst abgebaut sein. »Die Techniker des Park Service haben viel Arbeit in dieses Projekt gesteckt«, fuhr Hoyt fort. »Sie haben die Beleuchtung überprüft und alle Mängel beseitigt. Bei der Eröffnungsfeier der Flottenwoche, am Samstagabend, wird das System zum ersten Mal eingeschaltet. Mit dem Feuerwerk und den erleuchteten Schiffen dürfte der Anblick sehr spektakulär sein.« »Ja«, sagte Sonny. »Trotzdem, dies sind schwere Zeiten, und Kanzel hat Vorrang vor irgendwelchen Lightshows und Feuerwerken.« Kanzel war ein geheimes Projekt. Hoyt Wilson wusste davon, ebenso einige der Arbeiter, die bei der Installation von Kanzel helfen sollten. Aber worum es konkret ging, blieb ihm verborgen. Jetzt fragte er danach. »Unter uns, Gudarian: Was hat es mit dem Ding auf sich, das ihr dort oben unterbringen wollt?« Sonnys Dienstmarke gab seinen Namen mit Harold P. Gudarian an (»nach dem Vietnamkrieg wurde ich adoptiert …«); angeblich 544
war er ein Beamter des Verteidigungsministeriums. »Mann, ich will nicht im Knast enden«, erwiderte der falsche Gudarian glatt. »Und Sie wollen das vermutlich ebenso wenig.« Wilson nickte knapp und biss sich auf die Lippe. »Vergessen Sie, dass ich gefragt habe.« Sonny blickte sich um und sagte dann leise: »Warum, glauben Sie, hat Corrigan Engineering diesen Job bekommen? Das Unternehmen war nicht der billigste Bewerber.« Tatsächlich war Corrigan Engineering der billigste Bewerber, aber Sonny bezweifelte, dass Wilson das wusste. Corrigan hatte die Ausschreibung für dieses Projekt vor drei Jahren gewonnen. Es war reiner Zufall, dass die Strahlenforschung des Unternehmens zur Entwicklung eines Detektors führte und gleichzeitig das Zeitalter des Terrorismus begann. Doch diesen Zufall konnte Sonny Tran für sich nutzen. Wilson sah ihn groß an, als Sonny hinzufügte: »Ich nehme an, Sie haben von den Strahlungsdetektoren der Firma gehört?« »Oh!« Hoyt Wilson ging ein Licht auf, und seine Augenbrauen kletterten zum Haaransatz empor. Er wusste von den Sprengköpfen, die man in Atlanta, Washington und der Bronx gefunden hatte. »Sie haben es nicht von mir, Amigo. Offiziell ist Kanzel ein System, das vor Anker liegende Schiffe kontrolliert. Die technischen Einzelheiten sind geheim.« »Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen – kein Wort mehr davon«, sagte Wilson abrupt. »Der Hubschrauber wird Ihren Apparat auf dem Balkon absetzen. Sie wissen ja, dass er nicht ins Innere passt – da oben geht’s ziemlich eng zu. Ich möchte, dass Sie oben sind, wenn der Helikopter das Ding bringt. Es sollten sich keine Problem ergeben. Wenn der Apparat abgesetzt ist, beginnen wir mit dem Abbau des Gerüsts.« »Wenn Kanzel dort oben ist, werde ich die Statue abriegeln 545
und die Türen mit Schlössern versehen. Ich werde während der Flottenwoche oben sein. Bis nach der Flottenwoche wollen wir keine unbefugten Personen in der Statue.« »Das könnte ein Problem werden«, sagte Wilson und runzelte die Stirn. »Eine Fernsehcrew möchte vom Inneren der Krone aus filmen, wenn das Fackellicht angeht. Der Park Service erteilte die Genehmigung dafür.« »Mal sehen, wie wir das regeln. Sagen Sie nichts ab. Ich komme auf Sie zurück. Glauben Sie mir, meine Vorgesetzten im Verteidigungsministerium haben die notwendige Autorität, Entscheidungen des Park Service im Interesse der nationalen Sicherheit rückgängig zu machen.« »Ich verstehe.« »Einer meiner Kollegen wird später kommen. Ich lasse ihn herein.« »Klar.« Sie betraten die Statue durch den Besuchereingang, eine Öffnung im sternförmigen, aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stammenden Fort Wood, das einst den Hafen von New York bewacht hatte. Die Architekten, die das Granit-Fort damals entworfen hatten, wären ziemlich überrascht gewesen zu erfahren, dass es einen perfekten Unterbau für den Koloss abgab. Über dem alten Fort erstreckte sich der Unterteil des Sockels, und dann kam der Sockel selbst, auf dem die 225 Tonnen schwere Statue stand. Unterteil und Sockel bestanden aus gegossenem Beton und waren mit Granit verschalt. Als Wilson und Tran den Lift zur Aussichtsetage nahmen, sagte der Chefingenieur: »Wir hätten Ihr Spielzeug mit dem Kran nach oben schaffen können, wenn es rechtzeitig eingetroffen wäre.« »Mit dem Hubschrauber geht es schneller«, erwiderte Tran. »Hinzu kommt der Sicherheitsaspekt. Je weniger Personen den Apparat sehen, desto besser. Und es dürfen keine Fotos ge546
schossen werden. Wir schirmen den Apparat ab, damit all die Flugzeuge und Hubschrauber in der nächsten Woche kein Sicherheitsproblem darstellen.« »Geben Sie mir Bescheid, wenn ich helfen kann«, sagte Wilson. Als der Lift die Aussichtsetage erreichte, betraten sie die Beobachtungsplattform beziehungsweise den Balkon. Hier befanden sie sich etwa auf halber Höhe der mit Unterteil und Sockel gut hundert Meter hohen Statue. Von der Plattform aus nahmen sie einen kleinen Aufzug, der an der Seite des Gerüsts emporführte. Der Aufzug hatte weder Seitenwände noch ein Geländer, gar nichts. Jeder Passagier legte zu Beginn der Fahrt nach oben einen Sicherheitsharnisch an und befestigte einen Karabinerhaken an einem Metallstück, um nicht herunterzufallen. Sonny Tran hielt sich voller Unbehagen fest, als der Lift den Chefingenieur und ihn nach oben trug. Der Wind zerrte an seinem Helm. Er wollte die Augen schließen, als es immer weiter nach oben ging und die Insel unten immer mehr schrumpfte. Schließlich hielt er es nicht länger aus, kniff die Augen zu und öffnete sie erst, als der Aufzug anhielt. Sie befanden sich jetzt in Höhe des Kinns. Wilson trat so unbekümmert aus dem Aufzug, als wären sie im fünften Stock eines Kaufhauses, und forderte Sonny mit einem Wink auf, ihm zu folgen. Er brachte eine kurze Leiter hinter sich, die zum rechten Ohr der Statue führte, und von dort aus reichte eine längere Leiter über den Arm zum Fackelbalkon. Sonny nahm seinen ganzen Mut zusammen und folgte dem Chefingenieur. Er sah nicht nach unten und konzentrierte sich auf Wilsons Schuhe vor seinem Gesicht, als der Wind an seiner Kleidung und dem Helm zerrte – die Böen schienen in der Lage zu sein, ihn jederzeit von der Leiter zu wehen und in die Tiefe stürzen zu lassen. Sonny biss die Zähne zusammen, hielt den Blick auf Wilsons Schuhe gerichtet und brachte eine Sprosse nach der anderen hinter sich. 547
Er erschrak, als er sah, wie wenig Platz der Fackelbalkon bot. Der Durchmesser betrug nicht einmal drei Meter. Ein Teil des Geländers war entfernt worden, damit man von der Leiter aus Zugang hatte. »Hoffentlich mache ich mir nicht in die Hose«, sagte Sonny zu Hoyt Wilson, als er den Karabinerhaken am Metall des Geländers befestigte. Wilson hielt sich nicht mit einem Sicherungsseil auf. Zweifellos war er so oft hier oben gewesen, dass ihn die großartige Aussicht überhaupt nicht mehr beeindruckte. Der Ingenieur sah ungeduldig auf die Uhr und holte dann zwei Blaupausen hervor. Er ließ sie gefaltet, damit der Wind sie nicht fortblies, wies Sonny auf die Befestigungspunkte und elektrischen Anschlüsse hin. Tran versuchte, der Höhe und dem Wind keine Beachtung zu schenken, sich auf das zu konzentrieren, was Wilson sagte. Die leichten Bewegungen der Fackel aufgrund des Windes halfen nicht gerade. Zwei Arbeiter kamen mit dem Aufzug nach oben. Einer kletterte die Leiter zur Fackel hoch und sicherte sich am Gerüst. Der andere wartete, bis der Aufzug Sonnys Werkzeuge brachte, kletterte dann nach oben, die Werkzeugtasche in einer Hand. Die Höhe und der böige Wind machten ihm überhaupt nichts aus. Er kehrte nach unten zurück, holte auch Sonnys Matchbeutel und trug ihn ebenfalls zum Balkon. Sonny Tran wandte sich vom Panorama ab und sah sich die Beleuchtung an. Das neue Fackellicht war kleiner als das alte, aber der Behälter mit dem Sprengkopf musste trotzdem auf den Balkon gesetzt werden. Die Bombe allein hätte drinnen Platz gefunden, wenn sie aus dem nur der Tarnung dienenden Behälter entfernt worden wäre. Aber das ließ sich nicht bewerkstelligen – Nguyen und er hatten eine Winde benutzt, um sie in dem Kasten unterzubringen. »Es erstaunt mich, dass der Park Service der Installation von 548
Kanzel hier draußen zustimmte«, sagte Wilson. »Der Park Service wurde nicht gefragt«, erwiderte Sonny scharf. »Wenn jemand meckert, so raten Sie ihm, einen Blick auf Ground Zero zu werfen.« Der Hubschrauber war zehn Minuten zu spät dran. Sonny begann sich an diesem kleinen Ort so weit oben besser zu fühlen, als er den Helikopter sah: Er kam aus Nordwesten, die Last hing an einem Drahtseil unter ihm. Wenige Sekunden später hörte er ihn auch. Ja! Er vergaß die Höhe – er hatte seinen Sprengkopf. Am Samstagabend, wenn der Hafen voller grauer Kriegsschiffe und Würdenträger war, würden Nguyen und er Amerika einen Schlag versetzen, von dem sich dieses Land nie erholen würde. Wir werden den Lauf der Geschichte verändern. Zwei entschlossene Männer. Nur zwei. Lärm und Abwind des über der Fackel schwebenden Hubschraubers waren enorm; Sonny konnte kaum mehr denken und atmen. Wilson und die Arbeiter schienen kein Problem zu haben, aber Sonny hielt sich krampfhaft an einem Stück Eisen fest. Der Sprengkopf mit den Batterien und dem Kondensator im Behälter wurde auf den Balkon herabgelassen. In weniger als dreißig Sekunden lösten die Arbeiter die Drahtseile. Als der Helikopter fortflog, ließ der Lärm nach. Sonny wandte sich dem Behälter zu und legte die Hand darauf. Ja! Commander Rita Moravia brachte eine große Luftaufnahme vom New Yorker Hafen mit, als sie sich an jenem Morgen in Jakes Büro zum Dienst meldete. Toad half ihr, es in einem anderen Büro, nicht weit von dem Graftons entfernt mit Klebeband an der Wand zu befestigen – nur dort gab es genug freien 549
Wandplatz. Das Bild zeigte auch Fahrrinnen und Ankerplätze der Kriegsschiffe. Als Jake das Zimmer betrat, war die ganze Wand bedeckt. Rita deutete auf die Darstellungen. »Wir haben dieses Bild benutzt, um Ankerplätze zuzuweisen und Routen festzulegen, für die gewöhnlichen Touristenboote ebenso wie für VIPTouren und Müllschiffe, alles … Die Leute von der Flottenwoche haben ein zweites Exemplar, und deshalb habe ich mir dies geschnappt.« »Genau das brauchen wir«, sagte Jake und klopfte auf das Bild. »Kennen Sie Zelda?« »Nein, Sir. Aber Toad hat mir viel von ihr erzählt.« »Heute ist Ihr Glückstag: Sie werden einem verworrenen Genie in Fleisch und Blut begegnen, der berühmten Zelda Hudson. Aber zuerst … Helfen Sie mir, Stühle und anderen Kram in dieses Zimmer zu bringen. Ich ziehe um. Die Morgenbesprechung findet hier statt.« Als Zelda eintrat, grüßte sie Rita, nickte allen zu und nahm Platz. Rita Moravia begann, indem sie den Zeitplan der Flottenwoche erläuterte. Die Eröffnungsfeier am Abend des ersten Tages weckte Jakes Aufmerksamkeit. Der Präsident würde dabei zugegen sein, zehn andere Staatschefs, sechs Premierminister, fünf Vizepräsidenten und die Hälfte aller Botschafter bei den Vereinten Nationen, die Repräsentanten jener Länder, die Amerika in dieser Woche mochten. Hinzu kamen wichtige Kongressabgeordnete, die Kongressdelegationen aus New York und New Jersey – Jakes Finger glitt über die Gästeliste –, Berühmtheiten, Sänger, Sportstars, der Bürgermeister von New York, Admiräle von überall … Die Liste war zwei Seiten lang. Selbst Thayer Michael Corrigans Name stand darauf. »Meine Güte«, brummte Jake. »Die Flottenwoche wird seit einem Jahr vorbereitet«, erklärte 550
Rita. »Dabei steht die Navy im Rampenlicht. Es ist unsere Chance, neue Freunde zu gewinnen, und die brauchen wir dringend, wenn der Kampf ums Budget entbrennt.« »Es müsste klappen, wenn jeder an einer kurzen Bootsfahrt teilnehmen und sich ein tolles Feuerwerk ansehen kann«, sagte Jake. »Wo findet die Eröffnungsfeier statt?« »An Bord der USS Ronald Reagan.« Die Reagan war der neueste Flugzeugträger der Navy, gerade in Dienst gestellt. »Der CNO möchte mit ihr angeben, bevor sie Kap Hoorn passiert und zur Westküste fährt.« »Wo wird sie vor Anker gehen?«, fragte Jake. Rita deutete mit einem Zeigestock auf die Karte. »Hier vor Liberty Island. Heute wird damit begonnen, das Gerüst abzubauen. Die Freiheitsstatue wird den Hintergrund bilden – nach der Renovierung sieht sie besonders gut aus. Der Präsident wird das neue Fackellicht mit einem kleinen Funkgerät einschalten. Es ist doppelt so hell wie das alte. Die Leute vom Fernsehen möchten die Freiheitsstatue allein im Hintergrund und nicht vor der Manhattan-Skyline. Die Zuschauer sollen nicht die leere Stelle dort sehen, wo die Türme des World Trade Center standen.« Weitere fünf Minuten lang sprach Rita über die Logistik der großen Veranstaltung, und dann setzte sie sich. Jake ließ seinen Blick über die Gesichter der Anwesenden schweifen. »Wie Sie wissen, hat das Schwert des Islam in Russland vier Atomsprengköpfe gekauft und sie hierher gebracht. Drei von ihnen haben wir gefunden. Das sind die Fakten. Nun zur Theorie: Ich glaube, Sonny Tran und sein Bruder Nguyen haben die vierte Bombe in Florida gestohlen, um sie irgendwo explodieren zu lassen. New York, Flottenwoche …« Er nahm das Programm und sah auf die Liste der Gäste, die an der Eröffnungsfeier teilnehmen würden. »Vielleicht der richtige Ort und die richtige Zeit. Eines steht fest: So viele hohe Tie551
re auf einem Haufen wären ein verlockendes Ziel für Terroristen.« Er legte eine Pause ein und blickte erneut von Gesicht zu Gesicht. »Ich möchte, dass Sie diese Theorie bestätigen oder widerlegen, je eher desto besser.« Alle nickten. Niemand fragte, wie Jake zu seiner Theorie gekommen war. Sie nickten nur – dies war das Militär. »Lassen Sie uns jetzt darüber reden, wie wir vorgehen«, sagte Jake. Spät am Nachmittag fuhr Nguyen Duc Tran mit einem der Arbeitsboote von Manhattan nach Liberty Island. Er führte Beglaubigungsschreiben von Corrigan Engineering bei sich; in dieser Hinsicht gab es keine Probleme. Mit einem Rucksack auf dem Rücken und einer Werkzeugtasche in der Hand ging er los und beobachtete, wie Arbeiter Gerüstteile auf eine Plattform luden, die am Kran hing. Als die Plattform voll war, ließ der Kranführer sie zum Boden hinab. Unten löste eine andere Gruppe von Arbeitern die Plattform und befestigte eine leere am Kranhaken, die daraufhin nach oben gehoben wurde, um weitere Gerüstteile aufzunehmen. Nguyen hielt seinen Helm fest, als er den Kopf nach hinten neigte und zur Statue emporsah. Er fühlte sich so gut, dass er am liebsten laut gelacht hätte. He, all ihr reichen amerikanischen Scheißkerle. Sonny und ich treten euch ordentlich in den Arsch, so fest, dass ihr euch in der Hölle wiederfindet! Er betrat das Gebäude durch den Touristeneingang. Nach einem Blick auf seine Dienstmarke ließ der Wächter ihn den Lift betreten, der ihn zur Balkonetage brachte. Die Tür zu der weiter nach oben führenden Treppe war geschlossen und verriegelt. Niemand war da, nicht einmal ein Inspektor des Park Service. Nguyen nahm ein Funkgerät aus dem Rucksack, schaltete es 552
ein und überprüfte die Frequenz. »Sonny?« Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam. »Ja.« »Ich bin an der Tür.« Die Minuten zogen sich in die Länge. Nguyen nutzte die Zeit, um sich die Ausgangstür anzusehen. Er wusste, dass es zwei Treppen gab, eine nach oben und die andere nach unten. Die Tür zu der nach unten führenden Treppe war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Nguyen fügte ein zweites Vorhängeschloss hinzu, kehrte dann zu der Tür zurück, hinter der die Treppe nach oben führte. Acht Minuten nach dem Funkkontakt öffnete sich die Tür. Auf der anderen Seite stand Sonny, lächelte und trat zu Nguyen. Mit einem elektrischen Bohrer aus Nguyens Werkzeugtasche statteten sie die Tür mit einem Vorleger und einem Vorhängeschloss aus. Sie brachten auch eine Alarmvorrichtung an, die ausgelöst wurde, wenn jemand die Tür öffnete. Anschließend wiederholten sie diesen Vorgang bei der Ausgangstür. Dann gingen sie die Treppe hoch, Sonny voran. Er trug die Werkzeugtasche und Nguyen seinen Rucksack. Es war ein langer Weg nach oben. Die neuen Stahlträger waren frisch lackiert. Selbst die Treppe hatte einen neuen Anstrich und einen Gleitschutz bekommen. Sie hörten die von den Arbeitern verursachten Geräusche, die draußen, auf der anderen Seite der dünnen Kupferhaut, das Gerüst abbauten. Sie vernahmen sogar ihre Stimmen, ohne einzelne Worte zu verstehen. Als Sonny die Tür zur Leiter im Innern des Statuenarms erreichte, öffnete er sie vorsichtig. Normalerweise, so wusste er, war diese Tür mit einem Vorhängeschloss gesichert, um Touristen daran zu hindern, zur Fackel hochzuklettern. Derzeit gab es natürlich keine Touristen. Sonny und Nguyen 553
brachten ein Vorhängeschloss an der Innenseite an und installierten eine weitere Alarmvorrichtung. Der Alarm würde so laut sein, dass sie ihn in der Fackel hören konnten. Sie rechneten nicht damit, den Alarm weiter unten zu hören, wenn dort die Türen geöffnet wurden. Diese Alarmvorrichtungen dienten nicht zur Warnung, sondern vor allem dazu, eventuellen Eindringlingen einen Schrecken einzujagen. Der Arm bot nur wenig Platz. Sonny und Nguyen mussten zweimal klettern, um Werkzeugtasche und Rucksack zur Fackel zu bringen. Sie betraten die Fackel dort, wo Lady Liberty sie in der Hand hielt, unter dem Balkon, der die Flamme umgab. Sonny sah Nguyen an und grinste. »Was meinst du?« »Ich glaube, wir werden den verdammten Hurensöhnen eine hübsche Überraschung bescheren.« »Du hättest hier sein sollen, als sie das Ding brachten. Was für ein Trip! Anschließend begannen sie sofort damit, das Gerüst abzubauen.« Nguyen kletterte die Leiter an der Halterung des neuen Lichts hoch. Die runde Fresnel-Linse befand sich im Innern der Fackelflamme. Von der Leiter trat er vorsichtig auf den Balkon. Dort war die Bombe, im Innern des Aluminiumkastens, in dem Sonny und er sie untergebracht hatten. Ein Dutzend Schiffe war in Sicht. Sie verließen den Hafen oder fuhren gerade ein; einige lagen vor Anker und warteten auf eine Anlegestelle am Hudson oder East River. An diesem Morgen war der Himmel bedeckt, und die Sichtweite betrug etwa zehn Kilometer. Links von der Statue ragten die Wolkenkratzer von Manhattan auf. Die Küstenlinien von Brooklyn und Staten Island waren weiter entfernt. Rechts zeichneten sich im Dunst die Umrisse der Verrazano Bridge über den Narrows ab. Sonny trat zu seinem Bruder auf die Plattform. »Wir sind ziemlich hoch, nicht wahr?«, sagte Nguyen. 554
»Hundert Meter«, erwiderte Sonny. »Du hättest mal mit dem externen Aufzug und dann über die Leiter nach oben kommen sollen! Ich hätte dabei fast eine nasse Hose gekriegt.« Er hielt sich mit beiden Händen an der Brüstung fest und blickte auf die Arbeiter am Gerüst hinab. Inzwischen machte ihm die Höhe nicht mehr so viel aus wie vorher. »Hast du das Ding mit den Batterien verbunden?«, fragte Nguyen. »Noch nicht. Ich habe aber eine Verbindung mit der normalen Stromversorgung hergestellt, nur für den Fall. Wir schließen jetzt die Batterien an und testen den Kondensator. Anschließend verbinden wir den Kondensator mit den Zündern.« »Glaubst du, jemand könnte vor der Eröffnungsfeier etwas herausfinden?« Sonny lächelte. »Es spielt keine Rolle. Wir können die Bombe jederzeit hochgehen lassen: morgen, übermorgen, nächste Woche. Und wenn sie explodiert, verwandelt sich der größte Teil von New York in ein qualmendes radioaktives Loch. Wir haben es geschafft, Nguyen! Wir haben gewonnen!« Mit einem Schraubenzieher öffnete er die Zugangsklappe des Behälters. Gelegentlich kicherte er. »Schachmatt«, brummte Sonny. »Schachmatt.« Und er lachte laut und schrill. Natürlich war es Zelda, die als Erste konkrete Resultate erzielte. Als Jake am Dienstag zur Arbeit kam, wartete sie bereits auf ihn. »Schlafen Sie jemals?«, fragte er. »Ich kann nicht. Nguyen Duc Tran hat einen texanischen Lastwagen-Führerschein und besitzt eine in Texas zugelassene Zugmaschine.« Zelda reichte Jake Ausdrucke der Informationen vom Kraftfahramt in Texas. »Letztes Jahr hat er in vierunddreißig 555
Bundesstaaten Mautgebühren für seine Zugmaschine bezahlt. In diesem Jahr sind es bisher zweiundzwanzig. Manchmal bezahlt er an Tankstellen mit seiner Kreditkarte.« Sie gab Jake einen Ausdruck mit den Daten der Kreditkartengesellschaft. »Damit lässt sich rekonstruieren, wo er unterwegs gewesen ist«, fuhr Zelda fort. »Es bleiben natürlich Lücken, weil er nur einmal am Tag tankt und manchmal in bar bezahlt. Oft fährt er als unabhängiger Spediteur für Corrigan Engineering. Corrigan hat ihm eine ID-Karte ausgestellt, die ihn befugt, CorriganBaustellen zu betreten.« Sie reichte Jake auch einen Ausdruck mit den Corrigan-Daten über Nguyen Tran. Die Unterlagen enthielten sogar ein Foto. »Braucht ein Lastwagenfahrer eine ID-Karte?«, fragte Jake. »Ich dachte, Fahrer haben nur Zutritt, wenn sie irgendwelche Papiere bringen.« »Das ist normalerweise der Fall. Die ID-Karte bedeutet also, dass etwas mit Corrigan läuft. Die Tran-Brüder haben Zutritt. Ich habe mir Corrigans Foto-Datenbank angesehen und dies gefunden.« Zelda gab Jake ein Blatt mit einem Bild, das einen anderen Vietnamesen zeigte, einen gewissen Harold P. Gudarian. »Sonny Tran«, brummte Jake und legte das Blatt auf den wachsenden Stapel. »Wie Sie wissen, hat Corrigan Engineering Projekte in aller Welt. Hier ist eine Liste der derzeitigen Projekte im Großraum New York.« Jake sah sie sich an. Es waren nur vier Projekte. Zwei von ihnen betrafen Erweiterungen der Kanalisation auf Long Island. Eine Brücke in Hoboken … Und die Renovierung der Freiheitsstatue. »Herr im Himmel!«, hauchte Jake. Zelda war noch nicht fertig. »Die Projektleiter von Corrigan Engineering melden ihre Fortschritte jeden Morgen per E-Mail an die Firmenzentrale. Hier sind Ausdrucke der täglichen Be556
richte in Bezug auf die Freiheitsstatue während der vergangenen drei Monate.« Es war ein ziemlich dicker Stapel Papier. Als Jake darin blätterte, sagte Zelda: »Der Bericht von gestern liegt ganz oben.« Jake nahm ihn und las, dass »Kanzel« geliefert worden war und der Abbau des Gerüsts begonnen hatte. Es stand noch mehr in dem Bericht, viel mehr, über Toiletteninspektion, elektrische Probleme und Säuberung, aber das Wort »Hubschrauber« sprang Jake sofort ins Auge. »Ein Hubschrauber?« »Er könnte eine Bombe über alle Kontrollstellen hinwegfliegen.« »Ja.« Jake strich sich durchs Haar und zupfte an seiner Nase. »Kanzel«, sagte er und lauschte dem Klang des Wortes. »Was auch immer das sein mag. Gute Arbeit, Zelda. Ist Gil schon da?« »Ich habe ihn eben bei der Kaffeekanne gesehen.« »Bitte schicken Sie ihn herein.« Gil brachte die Morgenzeitung mit, als er hereinkam. Jake stand an der Wand und betrachtete die Aufnahme des New Yorker Hafens. »Haben Sie das hier gesehen, Admiral?« Gil hob die Zeitung. Thayer Michael Corrigan hatte es auf die untere Hälfte der Titelseite geschafft. Er war am Nachmittag des vergangenen Tages gestorben, angeblich ein Herzanfall. Eine Bedienstete hatte ihn in seinem Büro gefunden. Industriekapitän, prominenter Philanthrop, Freund des Präsidenten und so weiter. »Na so was«, brummte Jake und sah sich die anderen Schlagzeilen an. »Ich habe gerade mit Harry Estep telefoniert«, fuhr Gil fort. »Er meinte, die Polizei habe auf dem Schreibtisch neben Corrigans Leiche eine leere Packung Schlaftabletten gefunden. Die 557
Ehefrau will nichts von Selbstmord wissen. Sie hat bereits von einem befreundeten Arzt den Totenschein ausstellen lassen, und darin ist von einem Herzanfall die Rede. Harry glaubt, der Staatsanwalt wird die Beerdigung genehmigen, ohne eine Untersuchung einzuleiten oder die Autopsie anzuordnen.« »Auf der unteren Hälfte der Titelseite«, murmelte Jake. »Das hätte ihm nicht gefallen. Und er verpasst die Flottenwoche.« Er warf die Zeitung in den nicht geheimen Papierkorb, wandte sich wieder der Luftaufnahme zu und deutete auf Liberty Island. »Hier, vielleicht«, sagte er. »Glauben Sie, die Bombe ist schon da?« »Das ist das Problem – sie könnte tatsächlich schon da sein. Wenn wir dort mit Geigerzählern oder einem CorriganDetektor aufkreuzen, lassen die Tran-Brüder das Ding vielleicht hochgehen.« Jake sah auf die Uhr. Die Zeit wurde immer knapper. Er ging ins Hauptbüro. Tommy Carmellini, Toad Tarkington und Rita Moravia waren dort. Tommy trug Freizeitkleidung, bereit für einen weiteren Tag im Lieferwagen mit dem CorriganDetektor. Toad und Rita trugen khakifarbene Uniformen. Jake wandte sich an Rita. »Fahren Sie nach Hause und ziehen Sie Jeans und feste Schuhe an, was aus Leder. Gil, besorgen Sie Rita einen Helikopter. Tommy, beschaffen Sie ihr einen Geigerzähler und einen Rucksack. Ich möchte, dass sie heute Mittag auf Liberty Island ist.« Er klatschte in die Hände. »Also los, Leute. Bewegung!« Um Viertel vor zwölf an jenem Morgen ging Rita Moravia in Manhattan an Bord des Bootes, das Arbeiter von und nach Liberty Island brachte. Sie trug Jeans, Wanderstiefel aus Leder und einen Helm. An ihrem Hals hing eine ID-Karte des National Park Service, und ihr Rucksack enthielt einen Geigerzähler. Jake Grafton telefonierte per Handy mit ihr, als er zum Pentagon fuhr, um dort einen Hubschrauber zu nehmen. 558
»Wenn sie den Sprengkopf mit einem Helikopter transportiert haben, ist er nicht mehr von Blei abgeschirmt. Der Geigerzähler sollte die Strahlung messen. Überprüfen Sie die ganze Insel.« Rita hatte auch ein Klemmbrett. Sie würde auf der Insel umherwandern, sich Notizen machen und versuchen, wie eine Regierungsinspektorin auszusehen, die ihre Beobachtungen in ein Formular eintrug. Während der Nacht hatten die ersten ausländischen Kriegsschiffe den New Yorker Hafen erreicht, zwei Zerstörer aus Italien. Sie waren nebeneinander vor Anker gegangen. Rita sah, wie ein bis zu den Schandeckeln mit weiß gekleideten Matrosen besetztes Beiboot von der Seite eines der beiden Schiffe ablegte. Drei Möwen folgten dem Boot mit den Arbeitern, beäugten die Passagiere und versuchten festzustellen, ob eine Fütterung in Aussicht stand. Offenbar nicht. Trotzdem begleiteten sie das Boot bis nach Liberty Island. Auf halbem Wege zur Insel drehte sich Rita um und sah nach Manhattan zurück, blickte dann in Richtung Brooklyn, Staten Island … Millionen von Menschen lebten und arbeiteten in einem Umkreis von fünfzehn Kilometern um die Insel. Kopf, Arm, und Fackel der Freiheitsstatue waren bereits ohne Gerüst, das nur noch ein wenig über die Taille hinausreichte. Als sich das Boot näherte, ließ der große Baukran gerade eine weitere Plattform mit Gerüstteilen auf den Boden hinab. Weit oben sah Rita die mit dem Abbau beschäftigten Arbeiter. Das Boot legte an, und Rita stand Schlange, wartete geduldig darauf, dass sie aussteigen konnte. Abseits des Stroms aus Arbeitern und Journalisten, die heute ebenfalls mitgekommen waren, blieb Rita stehen und nahm den Rucksack ab. Sie öffnete ihn, um Zugang zum Geigerzähler zu erhalten, und setzte den Kopfhörer auf. 559
Sie überprüfte die Einstellungen des Geräts und machte sich dann auf den Weg zur alten Festung. Wenn sich die TranBrüder mit Atomwaffen auskannten, würden sie versuchen, die Bombe weit nach oben zu bringen, damit die Explosion eine möglichst große destruktive Wirkung entfaltete. Das bedeutete: Es kamen vor allem die Statue und der Baukran infrage. Als Rita um das alte Fort herumging, regte sich der Geigerzähler. Sie trat ein und nahm die Treppe zum Sockel. Auf der unteren Aussichtsetage, die eigentlich das Dach der alten Festung war, heulte es im Kopfhörer. Die Bombe war hier! Rita wanderte umher und stellte fest, dass der Ton umso lauter wurde, je näher sie dem Sockel kam. Zum Rand des Forts hin ließ die Intensität nach. Einmal mehr ging Rita um die Statue herum, trat näher an sie heran und entfernte sich wieder, bis sie ganz sicher war. Die Strahlung schien aus der Statue zu kommen, nicht vom Baukran neben dem sternenförmigen Fort. Der Hauptturm des Krans reichte weit empor, und sein Arm streckte sich der Statue entgegen. Drahtseile reichten vom Ende des Krans zu der Plattform hinab, die Arbeiter mit Gerüstteilen beluden. Die Bombe konnte sich auf dem Arm des Krans befinden, aber das bezweifelte Rita. Der größte Teil der Insel lag hinter der Statue, die nach Osten blickte. Rita verließ das Fort, sah sich noch einmal draußen um und kehrte dann in die Festungsanlage zurück. Sie nahm den Lift zur oberen Aussichtsetage und sah sich die Tür an, die zur Treppe nach oben führte. Sie versuchte nicht, sie zu öffnen. Die Tür, hinter der eine Treppe nach unten reichte, war gleich mit zwei Vorhängeschlössern gesichert. Rita trat auf den Aussichtsbalkon. Das Signal im Kopfhörer wurde lauter, so laut, dass sie die Lautstärke herunterdrehen musste. Ganz klar, die Bombe befand sich über ihr. Wieder im Innern nahm sie den Lift nach unten und verließ 560
das Gebäude. Sie ging nach Westen über die Insel, vorbei an den Bauwagen, Sandhaufen und Gerüstteilen, vorbei auch an geschlossenen Verkaufsständen, öffentlichen Toiletten und dem Museum. Als Rita so weit wie möglich von der Statue entfernt war, nahm sie den Kopfhörer ab und holte ihr Handy hervor. Sie wählte Jake Graftons private Nummer in Langley. Er nahm nach dem zweiten Klingelton ab. »Grafton.« »Sie ist hier, Admiral, wie Sie dachten. Die Bombe befindet sich in der Statue.« Nach dem Telefongespräch mit Rita Moravia stand Jake wie hypnotisiert vor der Luftaufnahme an der Wand. Er seufzte, griff nach dem Telefon und rief Sal Molina im Weißen Haus an. »Jake Grafton. Wir müssen so schnell wie möglich miteinander reden.« »Heute Abend?« »Wie wär’s in einer halben Stunde?« »Ich habe eine Besprechung.« »Verschieben Sie sie.« »Na schön. Kommen Sie ins Weiße Haus.« »In Ordnung.« Die U-Bahn war voll. Jake Grafton stand und beobachtete die anderen Fahrgäste. Viele Touristen, die sich Washington vor der schwülen Sommerhitze ansehen wollten. Zappelnde Kinder. Erwachsene plauderten miteinander oder starrten auf die vorbeihuschenden Tunnelwände. Sal Molina wartete an der Sicherheitsstation auf ihn. »Wir haben die Bombe gefunden«, sagte Jake, kaum dass er den Metalldetektor hinter sich gebracht hatte. »Wo?« »Im New Yorker Hafen, in der Freiheitsstatue.« 561
Molina blieb stehen und sah Grafton groß an. »Sind Sie sicher?« »Sie ist da.« »Steckt Corrigan dahinter?« »Nein.« »Wir sollten besser zum Präsidenten gehen. Er hat gerade mit dem Senat zu tun.« Molina ging voraus. Der Präsident verließ die Senatoren und hörte sich Jakes Bericht an. »Mein Gott«, sagte er, als Jake eine Pause einlegte und nach Luft schnappte. »Wir leben im Zeitalter der Irren.« Einige Sekunden lang saß er schweigend da und versuchte, alles zu verarbeiten. »Es wäre unverantwortlich von uns, die Flottenwoche nicht abzusagen«, sagte er. »Vielleicht sollten wir damit beginnen, New York City zu evakuieren.« »Weder das eine noch das andere kommt infrage«, erwiderte Jake. Offenbar hatte der Präsident die Situation nicht ganz verstanden, wofür er sich selbst die Schuld gab – er hätte sie besser erklären sollen. »Die beiden Wahnsinnigen haben die Bombe in der Statue. Es ist ganz einfach, sie mit Batterien und einem Kondensator zu verbinden. Wir müssen davon ausgehen, dass der Sprengkopf inzwischen scharf gemacht ist. Die TranBrüder haben ihn noch nicht explodieren lassen, was bedeutet, dass sie auf etwas warten. Ich vermute, sie warten auf die Eröffnungsfeier der Flottenwoche. Sie warten darauf, dass noch mehr Kriegsschiffe eintreffen, um sie zu vernichten. Und sie warten darauf, dass Sie kommen, damit Sie zusammen mit allen anderen sterben.« »Und wenn sie entdeckt werden oder die Flottenwoche abgesagt wird, lassen Sie das Ding einfach hochgehen«, sagte der 562
Präsident bitter. »Das ist die Situation.« Jakes Handy klingelte. Er holte es ohne eine Entschuldigung hervor und klappte es auf. »Ja?« »Rita. Sonnys Bruder Nguyen hat gerade die Männertoilette verlassen und holt sich am Imbissstand etwas zu essen.« Zum Glück hatten beide Männer Rita nie gesehen, aber sie kannte ihre Fotos. »Sonny muss ebenfalls da sein«, sagte Jake. »Vielleicht kommt er herunter, wenn Nguyen nach oben geht. Keiner von ihnen darf merken, dass Sie sie beobachten.« »In Ordnung«, sagte Rita Moravia und unterbrach die Verbindung. Sie hatten sich also nicht in der Statue verkrochen. Das war auch gar nicht nötig. Ein Mann genügte, um die Bombe zu zünden. »Sie treffen noch immer alle Entscheidungen bei dieser Sache«, betonte der Präsident, als Jake sein Handy einsteckte. »Die Tran-Brüder sind vollkommen verrückt, und uns bleibt kaum mehr Zeit«, sagte Jake. »Ich begebe mich so schnell wie möglich nach New York. Wir brauchen die Hilfe des FBI und der Küstenwache. Die beiden Männer dürfen auf keinen Fall merken, dass wir von ihnen wissen. Auf der Insel muss alles wie üblich ablaufen, bis wir aktiv werden.«
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26 Am späten Dienstagnachmittag setzte das Küstenwachboot Whidbey Island seinen Buganker etwa anderthalb Kilometer östlich von Liberty Island. Anschließend ließ es am Heck einen zweiten Anker hinab, zog die Ketten an und war zwischen den beiden Ankern vertäut. Mit Bug- und Heckanker würde das Boot nicht herumschwingen, wenn sich die Gezeiten änderten. Von der geschlossenen Brücke aus beobachtete Jake Grafton die Freiheitsstatue durch einen Feldstecher. Jemand befand sich auf dem Balkon der Fackel. Ein Mann. Vermutlich war auch der Sprengkopf dort. Das FBI hatte vor einigen Minuten Hoyt Wilson in seinem Büro auf Long Island vernommen und Jake angerufen. Aus Wilsons Aussage ging hervor, dass der Hubschrauber einen Behälter gebracht hatte, »Kanzel«, der sich auf dem Balkon befand, da er für das Innere der Fackel zu groß war. »Wir mussten dem Burschen damit drohen, ihn als unentbehrlichen Zeugen zu verhaften«, sagte der FBI-Agent am Telefon. »Schließlich gab er nach und meinte, Gudarian hätte ihm anvertraut, dass es sich bei dem Kanzel-Apparat um einen Corrigan-Strahlungsdetektor handelt. Vermutlich fürchtet er, ins Gefängnis gesteckt zu werden, weil er über vertrauliche Informationen verfügt.« »Behalten Sie ihn dort«, hatte Jake gesagt. »Ich möchte mit ihm reden.« Das Ding muss sich noch immer auf dem Balkon befinden, dachte Jake. Er ließ den Feldstecher sinken und rieb sich die Augen. Die Statue befand sich vor dem Küstenwachboot, etwa zwanzig Grad links von der Mittschiffslinie. Neben Jake verwendete 564
ein Besatzungsmitglied einen speziellen Laser, um die genaue Entfernung festzustellen. »Neunhundertvierzig Meter, Admiral.« »Gut.« Der Kapitän des Küstenwachboots hatte den Rang eines Lieutenants und hieß Schuyler Coleridge. Nach dem Setzen der Anker schickte er alle anderen von der Brücke, um dort mit Grafton allein zu sein. »Glauben Sie, es schaffen zu können, falls es notwendig wird?« Coleridge sah durch den Feldstecher, beobachtete den Bereich hinter der Statue und wandte sich dann der Karte des Hafens zu. »Wir sind hier in einer guten Schussposition. Aber wenn wir nicht treffen, gehen die Geschosse in New Jersey nieder.« »Deshalb sind Sie hier. Sie haben eine FünfundzwanzigMillimeter-Kanone. Wenn wir Fünf- oder Acht-Zoll-Kanonen verwenden, würden wir Raffinerien in die Luft jagen. Und wir hätten keine Garantie, dass die Kontaktzünder der Geschosse beim Flug durch die Fackel reagieren.« »Ja, Sir.« Lieutenant Coleridge konnte nicht älter als achtundzwanzig sein. Er ist etwa in Amys Alter, dachte Jake. Ausgerechnet sein Schiff. Armer Kerl. »Ich glaube, dies ist der beste Winkel«, sagte Jake und konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe. »Ja«, bestätigte Coleridge und hob erneut den Feldstecher. »Der Sprengkopf befindet sich wahrscheinlich auf dem Fackelbalkon«, fuhr Jake fort. »Vom Renovierungsleiter wissen wir, dass der Behälter für das Innere der Fackel zu groß war, und der Sprengkopf dürfte zu schwer sein, um von zwei Männern bewegt zu werden, selbst wenn sie ihn aus dem Kasten herausnähmen.« »Ich sehe zwei Männer auf dem Balkon.« 565
Jake hielt Ausschau und sah sie ebenfalls. »Wir versuchen, die genaue Position der Bombe in der Statue festzustellen«, sagte Jake. »Ich gebe Ihnen die Information per Funk durch. Ich möchte, dass Ihre Bushmaster die ganze Zeit über bemannt und einsatzbereit ist. Richten Sie sie erst auf das Ziel, wenn Sie eine entsprechende Anweisung von mir bekommen. Wenn die Burschen dort oben eine auf sie gerichtete Waffe sehen, riechen sie den Braten.« Bei der Bushmaster handelte es sich um eine 25-mmChaingun, die bis zu vierhundert Schuss pro Minute abfeuerte. Ein Magazin enthielt hundertfünfzig Schuss. Coleridge ließ den Feldstecher sinken und sah Jake in die Augen. »Wenn ich Ihnen den Feuerbefehl gebe, werden Sie sofort auf die Fackel schießen, dicht oberhalb von Libertys Fingern«, sagte der Admiral. »Ich möchte, dass Sie die Fackel von der Statue herunterholen.« »Sir, die Kanone wird elektro-optisch ausgerichtet und ist nicht stabilisiert. Bei den ersten Geschossen, die den Lauf verlassen, kann ich keine Treffer garantieren.« »Haben Sie einen guten Schützen?« Coleridge lächelte. »Mein Kanonier ist ein wahrer Künstler.« »In Ordnung. Schießen Sie, bis ich Sie auffordere, das Feuer einzustellen, oder bis Ihnen die Munition ausgeht. Die Außenhaut besteht aus Kupferplatten; die Geschosse durchschlagen sie. Im Innern befindet sich ein Stahlgerüst, und das müssen wir gewissermaßen durchsägen. Der Kanonier muss sein Feuer von einer Seite zur anderen streichen lassen. Ich hoffe nur, dass hundertfünfzig Schuss genügen. Halten Sie ein zweites Magazin bereit.« »Wenn der Sprengkopf scharf gemacht wurde, könnte es beim Aufschlag auf den Boden zur Explosion kommen«, wandte der 566
Lieutenant ein. »Oder wenn eines der Fünfundzwanzig-Millimeter-Geschosse den elektrischen Zündmechanismus trifft.« Grafton nickte. »Das wäre tatsächlich möglich. Aber ich garantiere Ihnen: Wenn die Bombe scharf ist und einer der beiden Irren den Knopf drückt, wird es zu einer nuklearen Explosion kommen. Wenn das geschieht, sehen wir uns im Jenseits wieder.« »Ja, Sir.« »Das wahrscheinlichere Ergebnis ist eine konventionelle Explosion. Ein Teil des hochexplosiven Sprengstoffs in der Bombe könnte hochgehen und Plutonium auf der Insel und im Hafen verteilen, wenn ein Geschoss den Sprengkopf trifft oder er auf den Boden fällt. Wenn das passiert, haben wir es mit einem ziemlichen Durcheinander zu tun. Aber das ist mir immer noch lieber als eine Atomexplosion.« Schuyler Coleridge atmete tief durch. »Sie sind meine letzte Karte, Mr. Coleridge. Ich werde Ihnen den Feuerbefehl nur dann geben, wenn alle anderen Mittel versagen.« »Erlauben Sie mir, der Crew zu sagen, worauf sie schießt, Sir?« »Nein. Diese Angelegenheit ist streng geheim. Sie können Ihren Ersten Offizier und den Kanonier informieren, sonst niemanden.« »Aye aye, Sir.« »Übrigens: Landurlaub ist gestrichen. Machen Sie das Boot kampfbereit. Keine Besucher. Weder Post noch E-Mails oder Telefongespräche.« »Ich habe bereits entsprechende Anweisungen erteilt.« Jake und der Lieutenant vereinbarten die Funkfrequenzen, und der Admiral verwendete sein Funkgerät, um mit dem Funker des Küstenwachboots zu sprechen. Schließlich schüttelte er 567
Coleridge die Hand. »Waidmannsheil.« Fünfzehn Minuten später kam eine Barkasse der Küstenwache längsseits, und Jake ging von Bord. Die Barkasse legte an der Steuerbordseite an, damit eventuelle mit Feldstechern ausgerüstete Beobachter auf Liberty Island nicht sahen, wer das Boot verließ. Die Barkasse brachte Jake zum Battery Park, und dort ging er zum Dock, das Corrigan Engineering für Firmenboote nutzte. Er zeigte eine Dienstmarke des Park Service und betrat das Gelände. Er sah niemanden, den er kannte, und das erleichterte ihn. Aber eigentlich hatte er auch gar nicht damit gerechnet, hier ein bekanntes Gesicht zu sehen. Zuvor hatte er sein Handy benutzt und mit Rita telefoniert. An diesem Abend befanden sich beide Tran-Brüder in der Statue. Nach Nguyens Rückkehr in die Statue war Sonny heruntergekommen und wie zuvor sein Bruder auf die Toilette gegangen, um sich dann am Imbissstand etwas zu essen zu holen, kurz bevor der Stand schloss. Nach der Mahlzeit war er ebenfalls in die Statue zurückgekehrt. Ein FBI-Agent in Arbeitskleidung und mit Helm erwartete Jake auf der Insel. Er hielt einen zweiten Helm in der Hand und reichte ihn Jake, der ihn aufsetzte. Der Agent führte Grafton zum Verwaltungsgebäude und nach oben in den ersten Stock. Ein Mann in schmutziger Jeans und T-Shirt saß auf der Treppe, mit einem Rucksack zwischen den Knien. Er gehörte ebenfalls zum FBI, und der Rucksack enthielt eine Waffe. Der Mann sah Jake an und lächelte, als der Admiral vorbeiging. Sonny und Nguyen hatten den Kondensator am vergangenen Abend überprüft – er funktionierte perfekt. Jede der Autobatterien gab zwölf Volt ab. Die beiden Brüder strafften alle Verbindungen und kontrollierten die Zünder. Sonny fügte der 568
Anordnung zwei Zündschalter hinzu, jeder von ihnen imstande, die Bombe hochgehen zu lassen. Den einen legte er auf den Kasten mit dem Sprengkopf, den anderen dorthin, wo die Hand der Statue die Fackel hielt. Er überprüfte beide Schalter, bevor er den Kondensator endgültig mit den Zündern verband. An diesem Nachmittag kontrollierte er noch einmal alles und setzte sich anschließend zu Nguyen auf den Balkon. Von dort aus beobachteten sie die Umgebung mit Feldstechern. Sonny hielt den Kopf unterhalb der oberen Brüstungsstange und sah durch die Lücken. »Beide Schalter funktionieren«, teilte Sonny seinem Bruder mit und deutete auf den, den er auf den Kasten gelegt hatte. »Entweder dieser hier oder der andere am Loch.« Er lachte. In letzter Zeit lachte er oft. Es war alles so komisch – Schachmatt! Die Scheißkerle wussten nicht einmal, was ihnen blühte. Vielleicht sollte er sie irgendwie darauf hinweisen. Wie ließe sich das bewerkstelligen? Er fragte Nguyen danach. »Warum es ihnen sagen?«, höhnte sein Bruder. »Sie halten sich für so ungeheuer toll, mit all ihrem Geld und ihrer Macht. Wenn dieses Ding explodiert, wird ihnen klar, wie sehr sie sich geirrt haben. Dann lernen sie, dass das Leben eine gefährliche Reise ist und einen nicht immer zu dem Ort bringt, den man erreichen möchte.« »Was nicht an einem selbst liegt«, fügte Sonny hinzu. »Ja«, sagte Nguyen. Er hätte gern etwas zu trinken gehabt. Ein Bier oder Whisky. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte genüsslich, während er beobachtete, wie der Kran weitere Gerüstteile aus Aluminium zum Boden hinabließ. Er blickte durch den Feldstecher zum Küstenwachboot. Jemand schrubbte das Deck, und ein anderer Matrose spritzte das Oberwerk mit einem Schlauch ab. Zwei Männer hantierten an der Kanone am vorderen Teil der Aufbauten. Sie hatten die 569
Abdeckung abgenommen und arbeiteten an irgendwelchen Teilen. Woran genau, konnte Nguyen nicht erkennen. Er ließ den Feldstecher sinken und die Gedanken treiben. Es war also vorbei. Sie standen kurz vor dem Ende des Weges. »Wenn wir ihnen sagen, dass wir sie zur Hölle schicken …«, brummte Sonny. »Dann wissen sie, dass keine Bombe an Bord eines Schiffes der Navy explodiert ist.« Nguyen antwortete nicht. Er dachte daran, wie er die Lumpenköpfe in Florida umgelegt hatte und die kleinen Mistkerle gestorben waren. Welch ein Spaß! Erinnerungsbilder erschienen vor seinem inneren Auge, und er genoss sie alle. Als er die Zigarette bis zum Filter geraucht hatte, zündete er damit eine zweite an und warf den Stummel über die Brüstung. »Lass das«, brummte Sonny. »Jemand könnte aufmerksam werden und hochkommen.« »Und wenn schon. Wir töten sie alle. Vielleicht sollten wir einige von ihnen erschießen.« Nguyen holte seine Pistole aus der Werkzeugtasche und legte sie neben sich auf den Boden. »Noch nicht.« Sonny deutete zur Ronald Reagan, die von zwei Schleppern an ihren vorgesehenen Platz gezogen wurde. Der Flugzeugträger befand sich drei- oder vierhundert Meter weiter östlich als das Küstenwachboot, das früher vor Anker gegangen war. »Wenn sich die hohen Tiere an Bord befinden und die Fernsehbilder überall auf der Welt zu sehen sind – dann lassen wir es krachen.« Nguyen nickte. Zu schade, dass er nicht sehen konnte, wie über New York eine pilzförmige Wolke entstand. Der Untergang des amerikanischen Imperiums! Und Sonny und er waren diejenigen, die es über den Klippenrand schoben. Er fühlte sich verdammt gut. Kein Wunder, dass sich Timothy McVeigh nicht entschuldigt 570
hatte. Zur Hölle mit ihnen allen. Er wandte sich an seinen Bruder. »Mann, der ganzen Welt den Stinkefinger zu zeigen – das ist doch was.« Er hob den Finger. Sonny Tran lachte und lachte. Hoyt Wilson kaute an einem Fingernagel, als Jake Grafton den Raum betrat. Zwei FBI-Agenten saßen bei ihm, ein Mann und eine Frau, und ein Kassettenrekorder stand auf dem Schreibtisch. »Mr. Wilson ist sehr kooperativ gewesen«, sagte einer der beiden Agenten. »Wundervoll«, erwiderte Jake. Er nahm hinter dem Schreibtisch Platz, öffnete die unterste Schublade und stützte die Füße darauf. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen«, sagte er zu Wilson. »Es ist nicht mein Büro.« »Der Mann, der sich Gudarian nannte … Hat er erwähnt, die Nacht auf der Insel verbringen zu wollen?« »Ja. Er sprach davon, zusammen mit einem Kollegen die ganze Flottenwoche in der Statue zu verbringen.« »Haben Sie seinen Kollegen gesehen?« »Nein. Jeder wäre imstande gewesen, mit den richtigen Ausweispapieren an Bord eines Arbeitsboots zur Insel zu gelangen. Er meinte, er wollte alles absperren, damit keine Unbefugten die Statue betreten.« »Wann haben Sie gestern Abend die Insel verlassen?« »Gegen sechs, mit einem der Boote. Nachdem wir auseinander gegangen sind, habe ich Gudarian nicht mehr gesehen.« »Sind Sie ihm heute begegnet?« »Nein.« 571
Der Mann war sichtlich nervös. Wenn Sonny Tran zu ihm gekommen wäre, um ein wenig mit ihm zu plaudern … Wilson hätte wohl kaum den Eindruck erwecken können, dass alles in bester Ordnung war. Jake bat einen der Agenten, Rita Moravia zu holen. »Gibt es einen Wächter bei der Statue?« »Wir hatten einen – einen Aushilfspolizisten. Ich wollte vermeiden, dass Leute während der Arbeitszeit die Statue betraten. Später habe ich ihn fortgeschickt. Vielleicht war das falsch, wenn man an Kanzel denkt und so, aber ich dachte …« »Welche Arbeiten müssen im Innern der Statue noch zu Ende gebracht werden?«, fragte Jake. »Es ist alles fertig. Es muss nur noch gründlich sauber gemacht werden. Das erledigt man am besten dann, wenn der ganze Baukram fortgebracht worden ist.« Jake hörte zu, als Wilson von den Renovierungsarbeiten erzählte und stolz darauf hinwies, dass sie den Budgetplan eingehalten hatten. »Hat Gudarian davon gesprochen, dass er noch jemanden erwartet?« »Nein. Ich habe ihm von den Fernsehleuten erzählt, die die Genehmigung bekommen haben, während der Eröffnungsfeier am Samstag von der Krone aus zu filmen. Er meinte, wir müssten die Erlaubnis vielleicht widerrufen. Er würde mir Bescheid geben, versprach er.« »Verstehe.« »Ich möchte betonen, dass ich dies alles für eine legale Sache gehalten habe, für ein vom Verteidigungsministerium abgesegnetes Projekt. Gudarian zeigte mir einen Ausweis vom Ministerium. Ich dachte, es wäre alles in bester Ordnung. Ich möchte nicht in Schwierigkeiten geraten, weil …« Rita kam herein, und Jake stellte sie Wilson vor. »Das ist Ihre 572
neue Assistentin. Sie wird in Ihrem Büro sitzen, für den Fall, dass Gudarian noch einmal mit Ihnen reden möchte. Sie verlassen die Insel und fahren nach Hause. Bleiben Sie dort.« »Aber das Gerüst, die Aufräumarbeiten … der Auftrag! Wir müssen einen Vertrag erfüllen!« »Ich übernehme die volle Verantwortung. Glauben Sie mir, die Leute in Boston haben genug damit zu tun, Corrigan zu beerdigen. Von ihnen werden Sie nichts hören.« »Wer ist Gudarian überhaupt?« Jake stand auf, trat hinter dem Schreibtisch hervor und legte Wilson die Hand auf die Schulter. »Fahren Sie nach Hause und bleiben Sie dort. Sehen Sie sich eine Sportsendung im Fernsehen an. Wenn jemand anruft, sagen Sie, Sie hätten Fieber. Kein Wort an die Presse. Kein Wort an die Nachbarn.« »Ich bin für diese Arbeiten zuständig«, sagte Wilson und schüttelte Jakes Hand ab. Graftons Tonfall veränderte sich. »Sie stecken mitten in einer geheimen Sache, bei der es um die nationale Sicherheit geht. Wenn Sie mit Personen darüber sprechen, die nicht für unbedenklich erklärt worden sind, werden Sie verhaftet und vor Gericht gestellt. Haben Sie verstanden?« »Wer zum Teufel sind Sie?« »Auch das brauchen Sie nicht zu wissen. Wofür entscheiden Sie sich – zu Hause sitzen und den Mund halten, oder Haft als unentbehrlicher Zeuge, ohne Kaution?« »He«, sagte Hoyt Wilson. »Übertreiben Sie’s nicht. Ich habe gegen keine Gesetze verstoßen und alle Ihre Fragen beantwortet. Ich fahre heim. Und ich halte die Klappe.« Jake wandte sich an Rita Moravia. »Machen Sie eine Tour und lassen Sie sich mit ihm sehen. Schicken Sie die Gerüstarbeiter und den Kranführer nach Hause. Morgen früh zur üblichen Zeit sollen sie auf die Insel zurückkehren.« 573
»Ja, Sir«, sagte Rita, nahm Wilsons Arm und führte ihn hinaus. Harry Estep, Tommy Carmellini und Toad Tarkington erreichten Liberty Island nach Einbruch der Nacht. Zusammen mit Rita Moravia und einem halben Dutzend FBI-Agenten trafen sie sich in einem kleinen Konferenzzimmer im Verwaltungsgebäude des National Park Service. Durch das Fenster war der rückwärtige Teil der von Scheinwerfern angestrahlten Freiheitsstatue zu sehen. Das FBI hatte Pizza, Sandwiches und Schlafsäcke für seine Leute bringen lassen. Als Jake Estep sah, sagte er: »Danke dafür, dass Sie Anna Modin ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen haben.« »Tut mir Leid, dass es so lange dauert. Bis nächste Woche haben wir alles vorbereitet.« »Nächste Woche?« »Ja. Sie wohnt bei Ihnen, nicht wahr?« Jake merkte, dass Carmellini neben ihm stand und Estep anstarrte, als hätte er ein Gespenst gesehen. »Reden wir nächste Woche darüber«, sagte Jake. Tommy Carmellini nahm in einer Ecke Platz und blickte zu Boden. Während sie Pizza aßen, erklärte Jake die Situation. »Auf dem Fackelbalkon liegt ein scharfer atomarer Sprengkopf. Zwei Irre bewachen das Ding. Vermutlich wollen sie die Bombe am Samstagabend bei der Eröffnungsfeier der Flottenwoche zünden. Aber wenn sie in Panik geraten, könnten sie das Ding sofort hochgehen lassen. Je länger wir warten, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie unsere Präsenz bemerken und den Knopf drücken. Ich schlage vor, dass wir morgen früh zuschlagen.« Stille folgte diesen Worten. Sie endete, als Harry Estep fragte, ob jemand eine Evakuierung der Bewohner des an den Ha574
fen grenzenden Bereichs in Erwägung gezogen hatte. »Wenn diese Kriminellen die Bombe zünden, werden acht bis zehn Millionen Menschen getötet, verstümmelt oder von Strahlung vergiftet.« »Wie lange dauert eine Evakuierung?«, erwiderte Jake. »Können wir verhindern, dass in Radio und Fernsehen darüber berichtet wird? Ich weiß nicht, ob Sonny und Nguyen ein Radio oder einen tragbaren Fernseher da oben haben. Es könnte durchaus der Fall sein. Vielleicht nähmen sie den Beginn der Evakuierung zum Anlass, die Bombe zu zünden.« »Ich will ganz offen sein, Admiral. Wurde die Entscheidung, morgen früh zuzuschlagen, im Weißen Haus getroffen?« Bevor Jake antworten konnte, trat Toad Tarkington in den Ring. »Ich weiß nicht, wie Sie die Sachen beim FBI regeln, aber wenn in der Navy der Vereinigten Staaten ein Admiral sagt, dass wir kämpfen, so wird gekämpft.« Er wollte noch etwas hinzufügen, aber ein Blick von Grafton brachte ihn zum Schweigen. Jake war die Ruhe selbst. »Sie haben die Anweisung erhalten, mit uns zusammenzuarbeiten, Harry. Wenn die Sache morgen schief geht, sind wir alle tot, und dann spielt es keine Rolle, wer Weihwasser auf den großen Plan getröpfelt hat und wer nicht.« Estep ließ sich nicht einschüchtern. »Wenn wir die Dinge von allen Seiten beleuchten, erhöhen wir unsere Erfolgschancen.« »Dies ist ein militärischer Einsatz und keine Polizeiaktion«, sagte Grafton scharf. »Ich habe das Kommando. Wie alle anderen in diesem Zimmer gehorche ich den Befehlen meiner Vorgesetzten. Wenn Sie aus irgendeinem Grund nicht imstande sind, Ihre beruflichen Pflichten zu erfüllen, so sagen Sie das jetzt, damit ich jemand anders holen kann.« Estep gab auf. »Ich ziehe meinen Einwand zurück.« »Gut«, sagte der Admiral kühl. »Es gibt mehrere unbekannte Faktoren, die unser Problem komplizierter machen. Wir wissen 575
nicht, ob der Zünder des Sprengkopfs per Funk ausgelöst werden kann. Wir wissen auch nicht, ob es versteckte Sprengladungen auf den Treppen und im Arm gibt. Ich gehe in jedem Fall davon aus, dass die Bombe mit einer Vorwarnung von zehn bis fünfzehn Sekunden gezündet werden kann. Ein Küstenwachboot liegt neunhundertvierzig Meter vor der Statue vor Anker. Wenn es zum Schlimmsten kommt, werde ich dem Kapitän befehlen, die Fackel der Statue mit seiner Bordkanone abzuschießen. Die Risiken sind offensichtlich.« Bedrückte Stille herrschte nach diesen Worten. »Ich schlage vor, einen Scharfschützen des FBI auf dem Kran zu postieren. Das Problem ist die Position des Krans, im Norden. Es ist keine optimale Position, aber daran können wir nichts ändern. Trotzdem, ein Scharfschütze hätte ein gutes Schussfeld auf den nördlichen Bereich des Balkons. Die Entfernung ist nicht zu groß.« Jake hatte zweifellos die Aufmerksamkeit der übrigen Anwesenden. Seine Zuhörer schienen kaum mehr zu atmen. »Die vom Fackelinnern auf den Balkon führende Tür befindet sich im Westen, an der hinteren Seite der Fackel. Ich habe vor, vier Scharfschützen auf die Westseite anzusetzen, vom Dach des Verwaltungsgebäudes aus oder in Bäumen versteckt. Von dort aus ist die Entfernung größer als für den Mann auf dem Kran, aber wenn wir vier einsetzen, erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen Treffer.« »Derzeit haben wir hier in New York nicht so viele Scharfschützen«, sagte Estep. »Wir setzen Schützen von der Reagan ein«, erwiderte Jake sofort. »Wenn wir die beiden Männer erledigt haben, brauchen wir jemanden, der die Bombe so schnell wie möglich entschärfen kann«, fuhr er fort. »Ein angemessen ausgerüsteter Mann auf der Krone oder am Arm könnte die Fackel erreichen, ohne ir576
gendwelche Sprengladungen auf den Treppen auszulösen.« »Wie wäre es mit einem Hubschrauber?«, fragte Estep. »Gestern Abend kamen die beiden Burschen nacheinander herunter, gingen auf die Toilette und besorgten sich etwas zu essen«, sagte Jake nachdenklich. »Vielleicht haben sie einen Timer programmiert, der die Bombe zündet, wenn sie nicht innerhalb einer gewissen Zeit zurückkehren. Die nächsten Plätze für einen Hubschrauber wären Battery Park oder die Reagan. Ein Helikopter braucht eine Weile, hierher zu fliegen, über der Statue zu schweben und jemanden herunterzulassen. Vielleicht haben wir nicht so viel Zeit.« »Kein besonders großartiger Plan«, kommentierte Estep missmutig. »Ich habe an die Möglichkeit gedacht, die Fackel von der Acht-Zoll-Kanone eines Kreuzers abschießen zu lassen. Das Geschoss würde wahrscheinlich nicht explodieren, aber die Fackel vermutlich von Libertys Arm reißen. Das Problem ist: Der Sprengkopf ist zweifellos scharf. Ich fürchte, eine solche Aktion liefe darauf hinaus, dass wir den Zündknopf selbst drücken.« In der folgenden Stille glitt Jakes Blick zu Carmellini. »Sind Sie bereit, an der Statue emporzuklettern? Es gibt keine Seile, und wir können keine Löcher für Sicherungshaken bohren. Sie könnten abstürzen. Wenn die beiden Männer oben Sie zu früh sehen, gebe ich den Scharfschützen und dem Küstenwachboot die Anweisung, das Feuer zu eröffnen. Aber dabei könnte es auch Sie erwischen. Sind Sie trotzdem bereit, es zu versuchen?« Carmellini holte tief Luft und ließ den Atem langsam entweichen, bevor er nickte. Jake sah von Gesicht zu Gesicht. »Was auch immer wir unternehmen: Es muss geschehen, bevor morgen früh die Gerüstarbeiter auf der Insel eintreffen. Wir brauchen kein Publikum, 577
das gafft und mit den Fingern auf uns zeigt. Und wir können es uns auch nicht leisten, die hiesige Routine zu verändern und die Tran-Brüder dadurch misstrauisch zu machen. Wir müssen schnell handeln, und mit aller Entschlossenheit.« »Eigentlich haben Sie gar keinen Plan«, sagte Estep. »Wenn Sie bessere Ideen vorlegen können, so tun Sie sich bitte keinen Zwang an.« »Eine Möglichkeit wäre, darauf zu warten, dass die beiden Männer einen Fehler machen.« »Die Zeit arbeitet gegen uns. In jeder Minute, die wir hier auf der Insel verbringen und die Tran-Brüder beobachten, kann etwas schief gehen.« Es gab keine weiteren Einwände. Eine Stunde lang besprachen sie die Details. Nach dem Treffen wandte sich Carmellini an Jake. »Wer waren die Typen, die Anna abgeholt haben?« »Killer oder Ilins Leute. Wir finden es nächste Woche heraus. Entweder ist sie bereits tot, oder sie lebt.« Jake ging hinaus. Es gab viel zu tun, und er hatte keine Zeit, über Anna Modin nachzudenken. Der Fachmann für Kampfmittelbeseitigung war ein ArmyOffizier, und als Jake ihn nach seiner Erfahrung fragte, wies er darauf hin, seit fünfundzwanzig Jahren mit Sprengstoffen zu arbeiten. Auf dem Namensschild an seiner Uniform stand »Dillingham«. »Ich habe mir den Sprengkopf angesehen, den Sie in Washington gefunden haben, Admiral. Es sollte mir keine Mühe bereiten, die hiesige Bombe zu entschärfen.« »Kann man das Ding so programmieren, dass es hochgeht, wenn jemand versucht, es zu entschärfen?« »Ja und nein, Sir. Wenn die Leitungen zu den Zündern 578
stromabwärts der Kondensatoren durchtrennt werden, kann der Sprengkopf nicht explodieren. Natürlich wäre eine Schleife mit einem Sensor denkbar, der den Zünder auslöst, wenn die Spannung fällt, wie zum Beispiel beim Durchschneiden einer Leitung. Aber in dem Fall müsste man eine der Leitungen kappen, die mit der Schleife verbunden sind.« »Können Sie bei der Inspektion feststellen, ob etwas in der Art existiert?« »Ja, Sir. Wenn ich genug Zeit habe.« »Sie deuten an, dass es vielleicht einen Timer gibt.« »So wie bei dem Sprengkörper in Washington.« »Hm«, brummte Jake und kaute auf der Unterlippe. Es war eine verdammt riskante Sache, das wusste er. »Sie lassen sich zunächst nicht sehen und sind niemandem im Weg, Mr. Dillingham. Bis wir Ihre Hilfe benötigen. Und wenn wir Sie brauchen, dann brauchen wir Sie dringend.« Während der Nacht kam ein Besucher, Sal Molina. Er fand Jake im Konferenzzimmer, wo die Besprechung stattgefunden hatte – dort waren Techniker damit beschäftigt, Kommunikationsgeräte zu installieren. Sie blickten aus dem Fenster zur Statue, als Jake Molina Bericht erstattete, der gelegentlich brummte und keine Vorschläge machte. Als er alles von Jake gehört hatte, betrat er ein privates Büro, schloss die Tür und rief den Präsidenten an. Als die Dunkelheit der Nacht langsam dem Licht eines neuen Tages wich, zeigten sich niedrige graue Wolken, die schnell über den Himmel zogen. Die Wellen im New Yorker Hafen trugen weiße Schaumkronen. Drei weitere Kriegsschiffe waren während der Nacht vor Anker gegangen. Fähren verkehrten auf ihren üblichen Routen, Flugzeuge flogen von und nach Newark und zum 579
JFK, Rauchfahnen stiegen von den Raffinerien in Bayonne und Jersey City auf. Der Tag versprach Wärme und Regen. Jake Grafton sah zur Fackel der Statue hinauf, die sich weit über den Baumwipfeln zeigte. Was mochte den beiden Männern dort oben an diesem Morgen durch den Kopf gehen? Er dachte nicht lange darüber nach. Schon vor einer ganzen Weile war er zu dem Schluss gelangt, dass es sich um zwei verrückte, von Hass verblendete Killer handelte. Er hoffte nur, dass sie nicht während der nächsten Stunden den Knopf drückten. Er kehrte ins Verwaltungsgebäude zurück. Das FBI hatte im Konferenzzimmer des ersten Stocks einen Befehlsstand eingerichtet. Ein Techniker mit Kopfhörern saß da und blätterte in der Morgenzeitung, die in der Nacht jemand aus Manhattan mitgebracht hatte. Er schüttelte den Kopf, als er Jake sah, der trotzdem nach dem zweiten Kopfhörer griff und sich auf die Schreibtischkante setzte. Nichts. Der Techniker blätterte weiterhin in der Zeitung und las bestimmte Artikel. Er hieß Salmeron. Das Kabel des Kopfhörers war gerade lang genug, um es Jake zu gestatten, die Kaffeekanne und den Karton mit den Doughnuts zu erreichen. Er bediente sich und ging dann wieder zum Schreibtisch. »Sieht nach Regen aus.« Nicht Sonnys Stimme. Es musste Nguyen sein. »Ja. Der Wind hat mich wach gehalten.« »Ich hab auf dem stählernen Boden nicht schlafen können«, sagte Nguyen. »Und weil sich dieser verdammte Arm bewegt. Es grenzt an ein Wunder, dass er noch nicht abgefallen ist.« Sonny brummte etwas. Jake presste sich den Kopfhörer an die Ohren und versuchte, Worte zu verstehen. Nein, unmöglich. Er hörte nur Brummen und Rauschen. Salmeron und er hörten das, was drei auf die Fackel gerichte580
te Parabolmikrofone empfingen. Jedes von ihnen empfing einige Geräusche, und ein Computer setzte sie in Echtzeit zusammen. Eines der Mikrofone befand sich unter den Bäumen nordwestlich der Statue, ein anderes vor ihr im Osten und das dritte im Süden, neben Libertys rechter Hand. Die Parabolantennen der Mikrofone im Osten und Süden waren von der Fackel aus zu sehen, wenn die Männer Ausschau gehalten hätten. Bisher hatten sie nichts gemerkt, aber Jake wusste, dass sie nicht zu lange mit den Mikrofonen lauschen durften. »Die Techniker sollen die Parabolmikrofone fortschaffen«, wies er Salmeron an. »Ich möchte nicht, dass sie entdeckt werden.« Er sah auf die Uhr. Zwei Minuten nach sechs. Gegen sieben Uhr dreißig würden die Arbeiter eintreffen. Auf dem Schreibtisch stand eine kleine Nachbildung der Freiheitsstatue. Jake nahm sie, drehte sie hin und her und stellte sie in der Nähe ab. Mit seinem Funkgerät stellte er eine Verbindung zur Whidbey Island her. »Seid ihr Jungs heute Morgen bereit?« »Bestätigung.« »Das Ziel ist der untere Teil der Fackel, über den Fingern. Das Objekt befindet sich auf dem Balkon, Südseite.« »Roger.« »Wiederholen Sie.« »Unterer Teil der Fackel.« »Ende.« Der am nächsten Schreibtisch sitzende FBI-Agent überwachte ein taktisches Kommunikationsnetz. »Ist mit dem Scharfschützen alles in Ordnung?«, fragte Jake ihn. »Ja, Sir. Er meldete eben, dass er beide Männer gesehen hat. Einer ist auf dem Balkon und der andere im Innern. Er kann den Kopf des Mannes auf dem Balkon erkennen.« 581
»Wie groß ist die Entfernung?« »Siebenundsechzig Meter. Wie der Schuss auf einen Fisch im Glas.« Der Scharfschütze war noch während der Dunkelheit auf den Kran geklettert. Er befand sich jetzt in der Kabine des Kranführers und beobachtete die Fackel. Seine Position war etwa sechs Meter über dem Ende der siebenundsechzig Meter entfernten Fackel; er sah also ein wenig nach unten. Er saß auf dem Boden der Kabine und blickte durch eins der unteren Fenster. Der Scharfschütze hieß Brendan McDonald. Jake hatte mit ihm gesprochen, bevor er nach oben geklettert war. »Haben Sie schon einmal jemanden damit erschossen?«, hatte Jake gefragt und auf das Gewehr gedeutet, eine Waffe mit Zielfernrohr, Kaliber 308. »Nein, Sir. Bisher war das nie nötig.« »Wenn Sie schießen müssen, kommt es darauf an, dass Ihr Ziel möglichst sofort tot ist. Ich weiß nicht, wo sich der Zündauslöser der Bombe befindet, vielleicht an der Bombe selbst, vielleicht woanders. Der erste Schuss sollte Ihr Ziel töten.« »Ja, Sir.« McDonald dachte an das Gespräch, als er ganz oben in der Kabine des Krans saß. Er erinnerte sich an den Weg nach oben im Dunkeln, mit dem Gewehr, einem Funkgerät und einem Rucksack, der Wasser, Kekse und eine leere Flasche fürs Hineinpinkeln enthielt, außerdem auch noch Munition, einen Laser-Entfernungsmesser und einen Feldstecher. Der Kran befand sich nicht genau im Norden der Statue, sondern ein wenig auf der östlichen Seite. McDonald sah auf den Balkon, doch der südliche Bereich mit der Bombe blieb ihm verborgen. Daran ließ sich nichts ändern. Der Kran war stationär und konnte nicht bewegt werden. 582
Entsetzen hatte ihn auf dem Weg nach oben begleitet. Wenigstens war es dunkel gewesen, was ihn davor bewahrte, den Boden zu sehen. Jetzt am Tag konnte McDonald kaum glauben, dass er es geschafft hatte. Er versuchte, nicht an die Höhe zu denken und sich auf sein Problem zu konzentrieren, das aus einer schlechten Schussposition bestand. Er befand sich im Inneren der Kabine, sollte aber besser auf ihr sein. Die Kabine war etwa einen Meter achtzig lang und einen Meter zwanzig breit. McDonald konnte seinen Sicherheitsharnisch mit Karabinerhaken an Stangen befestigen. Es bestand also nicht die Gefahr, dass er abstürzte. Trotzdem war das Risiko ziemlich groß. Wenn er rutschte und am Kran baumelte, würden ihn die Tran-Brüder sehen. Trotzdem, er musste sich in eine Position bringen, von der aus er mit dem ersten Schuss töten konnte, wie es Grafton wollte. Andernfalls saß er hier nutzlos herum, bis die Show vorüber war oder die Welt endete. Brendan McDonald war in Cleveland aufgewachsen und in Michigan zur Schule gegangen. Seit Jahren arbeitete er für das New Yorker FBI-Büro. Er hatte Dutzende von Freunden in New York, hunderte von Bekannten, eine Freundin und eine Exfrau. An diese Menschen dachte er, als er seine Ausrüstung nahm, sich das Gewehr auf den Rücken schlang, einen Karabinerhaken am Ende der drei Meter langen Sicherheitsleine an einem Stahlteil im Inneren der Kabine und den anderen an seinem Sicherheitsharnisch befestigte. Der Ohrhörer und das Kehlkopfmikrofon, das ihm Kontakt mit dem taktischen Kom-Netz ermöglichte, waren mit Klebeband festgeklebt. McDonald überprüfte das Seil und versuchte festzustellen, ob es von irgendetwas durchtrennt werden konnte, wenn er fiel. Er zog kurz daran – es schien alles in Ordnung zu sein. Noch immer niemand in Sicht auf dem Fackelbalkon. 583
Hinten führte eine Leiter nach oben. Es blieb McDonald nichts anders übrig, als die Kabine zu verlassen. Er versuchte, nicht nach unten zu sehen. Lieber Himmel … Brendan McDonald griff nach der Leiter, trat nach draußen und zwang seinen Körper, sich zu bewegen. Die Arbeiter hatten das Gerüst so weit abgebaut, dass es nur noch bis zum Aussichtsbalkon oben auf dem Sockel reichte. Tommy Carmellini kletterte aufs Gerüst und betrachtete den kleinen Haufen an Ausrüstungsmaterial, das er zusammen mit zwei FBI-Agenten hierher gebracht hatte. Er befand sich auf der nördlichen Seite der Statue, an einer Stelle, die man vom Fackelbalkon aus nicht einsehen konnte. Diese Seite der Statue musste er erklimmen. Er sah nach oben und suchte nach dem besten Weg. Er musste unter Libertys Kinn auf die andere Seite klettern, den rechten Arm erreichen und von dort aus den Weg in Richtung Fackel fortsetzen. Wenn er sich unter ihr befand, würde er durch die Regenwasseröffnungen im Boden schießen oder versuchen, auf den Balkon zu gelangen. Die Außenhaut der Statue bestand aus dünnen Kupferplatten, an einen Rahmen genietet, der früher aus Eisen bestanden hatte. Inzwischen war er durch Stahl ersetzt worden. Carmellini trug einen Sicherheitsharnisch und ein Seil über der Schulter, aber dies war Freeclimbing – wenn er abstürzte, war er tot. Er musste leise klettern, was die Verwendung von Saugnäpfen erforderlich machte. Das FBI hatte einen großen Teil der Nacht damit verbracht, die Dinge zu beschaffen, die Carmellini brauchte. Er vermutete, dass sie aus einschlägigen Sportgeschäften in New York stammten, fragte aber nicht danach. Dieser Grafton! Atomwaffen, Terroristen, und er war Joe 584
Cool. Von Toad wusste er: Als der Admiral jung gewesen war, hatten ihn die Kameraden seines Geschwaders »Cool Hand« genannt, nach dem Mann, den Paul Newman in jenem Film gespielt hatte. Grafton hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als er hörte, dass Anna nicht von FBI-Agenten abgeholt worden war. Nun, jemand hatte sie abgeholt. Carmellini dachte daran, als er die Ausrüstung überprüfte, die Riemen des Rucksacks stramm zog und sich vergewisserte, dass die Schnürsenkel der Kletterschuhe richtig verschnürt waren. Grafton hatte natürlich Recht: Entweder lebte Anna noch, oder sie war tot. So sah die Realität aus. Und es gab nichts auf Gottes grüner Erde, das Carmellini daran ändern konnte. Als die Morgenbrise im grauen Licht an ihm zerrte, brachte er den ersten Saugnapf an, pumpte mit dem Griff, um die Luft herauszupressen, und belastete ihn dann mit seinem Gewicht. Er hielt. Carmellini setzte einen zweiten Saugnapf in Hüfthöhe an, doch der hielt nicht, und so musste er den Vorgang wiederholen. Er stieg auf den ersten und setzte den dritten in Schulterhöhe. Dann trat er auf den zweiten und löste das Siegel des ersten Saugnapfs mit einem Bindfaden. Er zog ihn hoch, streckte sich und setzte ihn weiter oben an die Statue. Lady Liberty war knapp fünfzig Meter hoch. Wenn er alle dreißig Sekunden einen Saugnapf sechzig Zentimeter über dem letzten anbrachte, brauchte er fünfzehn Minuten, um nach oben zu gelangen. Bei einer Minute pro Saugnapf verlängerte sich die Zeit auf dreißig Minuten. Carmellini hielt fünfundvierzig Minuten bis eine Stunde für wahrscheinlicher – das Klettern war sehr anstrengend –, und diese Schätzung hatte er Grafton genannt. Während er kletterte, achtete er darauf, nicht an Anna zu denken. Nur nicht daran! Zum Glück war Tommy Carmellini immer schwindelfrei gewesen. Er sah nicht nach unten, aber selbst wenn das der Fall gewesen wäre – die Höhe machte ihm 585
nichts aus. Er hielt das Klettern für einen großartigen Sport und eine gute Übung für Einbrüche. Rita Moravia befand sich in der oberen Aussichtsetage des Sockels und hielt ein Stethoskop, das aus der Erste-HilfeAusrüstung der Bauarbeiter stammte, an die Tür, hinter der eine Treppe nach oben führte. Sie lauschte aufmerksam. Toad Tarkington stand mit einer Maschinenpistole in der Nähe. Vor dem kurzen Lauf der Waffe steckte ein wurstdicker Schalldämpfer, und sie hatte keine Zielvorrichtung. Toad trug sie an einem Schulterriemen. Rita trat nach draußen auf den Balkon und sah nach oben, um festzustellen, welche Fortschritte Carmellini erzielte. Das Gerüst versperrte ihr den Blick. Sie kehrte zur Tür zurück, hielt erneut das Stethoskop daran und horchte. Toad nahm den Lift zur untersten Etage des Sockels. Als er seine gewünschte Position erreichte, setzte er sich durch das taktische Kom-Netz mit Jake Grafton in Verbindung. »Toad in Position.« »Rita in Position.« »Tommy ist auf halbem Weg nach oben. Er braucht noch mindestens weitere fünfzehn Minuten.« »McDonald bereit.« Die Stimme des Scharfschützen war verzerrt und nur schwer zu verstehen. »Estep bereit.« Harry Estep und eine Gruppe schwer bewaffneter FBI-Agenten warteten in einem Bauwagen unweit des Haupteingangs der Statue. Sie trugen schusssichere Kleidung und waren mit Maschinenpistolen sowie Sprengladungen ausgestattet. Falls notwendig würden sie die Türen aufsprengen und sich einen Weg nach oben zur Fackel kämpfen. Im Verwaltungsgebäude schloss Jake die Augen und konzentrierte sich auf die Situation. Er ging davon aus, dass der 586
Sprengkopf scharf war, die Tran-Brüder in Funkkontakt miteinander standen und auf der Treppe vermutlich eine Alarmvorrichtung installiert hatten. Die Tür oben, die zur Fackel führte, war vermutlich ebenfalls abgeschlossen und mit einer Alarmvorrichtung versehen. Die sicherste Möglichkeit bestand darin zu warten, bis einer der beiden Männer nach unten kam. Früher oder später würde das der Fall sein, aber wann? Was passierte, wenn Sonny oder Nguyen den Scharfschützen oder Tommy sahen, der an der Statue hochkletterte? Und wenn sie die Bombe hochgehen ließen, ohne dass es vorher zu irgendwelchen Zwischenfällen kam? Wenn ein Geschoss von der Whidbey Island die Bombe explodieren ließ? Jake konnte nicht still stehen oder sitzen, ging hinter Salmeron und dem Funker auf und ab. Sal Molina saß in einer Ecke und trank Kaffee. Jake fragte sich, wie er es fertig brachte, das Zeug im Magen zu behalten. Nguyen hatte die Nacht auf dem Balkon verbracht, mit einer Decke unter und einer über sich. Er hatte recht gut geschlafen, auf der Ostseite der Fackel, vor dem Wind geschützt. Jetzt saß er auf den Decken und hantierte an seiner Glock. Er nahm das Magazin heraus, entfernte die Patrone aus dem Lauf und schoss mit der leeren Pistole, während er sich daran erinnerte, wie er die Drogenhändler in Kansas und die Araber in Florida erledigt hatte. Es gefiel ihm, Menschen zu töten. Das wurde ihm recht spät in seinem Leben klar, dachte er und lachte leise. Er beugte sich vor und sah nach rechts. Sonny hatte eine Decke über die Bombe gelegt. Nguyen schob das Magazin in die Glock zurück, lud eine Patrone in den Lauf und sicherte die Waffe. 587
»Ich muss pinkeln!«, rief er Sonny zu, der zusammengerollt an der Lichtanlage lag. »Trink eine unserer Flaschen aus und pinkel hinein. Deshalb haben wir sie mitgebracht.« »Ich möchte mir die Beine vertreten. Ich hab’s satt, hier oben zu sitzen.« »Leg dich hin.« »Sonny …« »Und wenn du doch gehen willst, lass die verdammte Pistole hier. Du scheinst darauf zu brennen, jemanden zu erschießen.« »Ja«, bestätigte Nguyen. »Pinkel in die Flasche und nimm dann den Feldstecher. Kriech auf dem Balkon herum und sieh in alle Richtungen. Bleib wachsam.« »In Ordnung.« Nguyen griff nach dem Rucksack und holte eine Maschinenpistole hervor. Er legte sie sich auf den Schoß und zündete eine Zigarette an. Eine Tasse Kaffee wäre jetzt nicht schlecht gewesen. Zum fünfzehnten Mal wischte Maat Joe Shack Tau und Sprühwasser von der Bushmaster. Er trug einen sound-powered Kopfhörer und hörte dem Skipper auf der Brücke zu. Der Alte – Coleridge – hatte ihm gerade erneut die Entfernung genannt, neunhundertvierzig Meter. Ein nuklearer Sprengkopf! Herr im Himmel! Wer zum Teufel hätte das gedacht? Joe Shack, der sich bereithielt, mit einer Fünfundzwanzig-Millimeter-Kanone auf eine Atombombe zu schießen! Er war nervös. Vor Tagesanbruch hatte er versucht, etwas zu essen, und sich anschließend prompt übergeben. Die Fackel dicht über den Fingern abschießen, hatte der Alte gesagt. Sie von der Statue sägen. 588
Eine steife Brise wehte, und das Küstenwachboot zog an den Ankerketten. Der doppelte Anker vertäute es gut, aber trotzdem bewegte es sich ein wenig, und das besorgte Shack. Eine nicht stabilisierte Waffe bedeutete, dass nicht alle Geschosse dorthin flogen, wohin der Kanonier sie fliegen lassen wollte. Die neuen Bushmasters waren natürlich stabilisiert, aber der verdammte Kongress hatte der verdammten Küstenwache nicht das Geld für neue Lafetten bewilligt. Geringe Priorität, hieß es. Niemand scherte sich um das Problem, wenn sie das Feuer auf Drogenkuriere und Piraten eröffnen mussten, die Boote der Küstenwache unter Beschuss nahmen. Shack verdrängte die Gedanken an Geld und das, was er nicht hatte, sah wieder zur Statue. Meine Güte! Mit dem sauberen Ende eines Lappens wischte er Feuchtigkeit von den Linsen des optischen Visiers. Das Ding durfte nicht beschlagen sein, wenn es ernst wurde. Wenn die Bombe hochging … Dann verwandelten sich er und alle anderen auf diesem Kahn in radioaktive Asche, kein Zweifel. Ebenso wie alle Menschen im Hafen. Er dachte daran, als er eine Bewegung an der Statue bemerkte. Etwas kroch an ihr empor. Shack hatte gute junge Augen, aber fast ein Kilometer bei diesen Lichtverhältnissen … »Skipper, Kanonier. Was ist das an der nördlichen Seite der Statue?« Der Skipper hatte einen Feldstecher. »Ein Mann. Er klettert nach oben.« »Lieber Himmel …« »Bleiben Sie ganz ruhig, Shack. Sie können es schaffen, wenn es sein muss.« »Ja, Sir.« »Der Admiral gibt uns nur dann den Schießbefehl, wenn ihm keine andere Wahl bleibt. Wenn die Anweisung kommt, geben 589
Sie einfach Ihr Bestes.« Mann, der Käpt’n hatte echt Mumm in den Knochen! Stand dort oben auf der Brücke und beobachtete, wie der gute alte Joe Shack Big Apple in eine leblose radioaktive Wüste verwandelte. Er rieb energisch den Lauf der Kanone ab, als ihm der erste Regentropfen ins Gesicht fiel. Der Einsatzoffizier der Reagan, Captain BoBo Joachim, hatte vier Marinesoldaten mitgebracht. Er ließ sie außer Sicht hinter dem Verwaltungsgebäude zurück, als er sich am frühen Morgen meldete. Anschließend positionierte er sie so, dass jeder von ihnen freies Schussfeld auf die Fackel hatte. Für jeden von ihnen betrug die Entfernung dreihundert Meter. Der steile Winkel ermöglichte es, die Gewehre abzustützen, in diesem Fall auf einer zusammengerollten Marinedecke. Über jedem Mann lag ein Tarnnetz oder eine Decke aus Sackleinen, um die Silhouette zu verbergen und die Schützen mit der Umgebung yerschmelzen zu lassen. Zwei der vier Marinesoldaten waren ausgebildete Scharfschützen, und Joachim hatten ihnen die beiden mit Zielfernrohren ausgestatteten Scharfschützengewehre aus der Waffenkammer des Schiffes gegeben. Die beiden anderen, erfahrene Schützen, benutzten gewöhnliche M-16 mit Dioptern. Alle vier Soldaten trugen Kopfhörer, die sie mit dem taktischen Kom-Netz verbanden – sie konnten empfangen, aber nicht senden. Wenn Admiral Grafton den Feuerbefehl gab, so würden sie seine Worte hören. Als BoBo Joachim von seinen Leuten zurückkehrte, trat er neben Grafton ans Fenster und richtete seinen Feldstecher auf die Fackel. Seine Aufgabe bestand darin, dem Admiral Carmellinis Position und die der Tran-Brüder zu nennen. Er beobachtete, wie Tommy Carmellini auf die Tafel in der linken Hand der Statue gelangte, und er wies Grafton darauf 590
hin. Tommy Carmellini legte dort eine Pause ein, wo die Tafel und Libertys Arm eine kleine flache Stelle bildeten, als ihn die ersten Regentropfen trafen. Oh, oh. Regen machte das Kupfer so glatt wie Rotz. »Tommy«, flüsterte er. »Ich bin auf der Tafel.« Er durfte keine Zeit verlieren. Vermutlich kam er schneller voran, wenn er beim Rest des Weges auf die Saugnäpfe verzichtete und sich allein auf Hände und Füße verließ. Er sah nach oben, suchte in den Falten von Lady Libertys Kleid nach Haltepunkten. Dann streckte er sich und setzte den Aufstieg fort. Der Wind zerrte an ihm, und weitere Regentropfen fielen auf Wangen und Hände. Er fand einen guten Halt für die linke Hand und zog sich hoch. Jake Grafton nahm die kleine Statue und betrachtete die Tafel. Ihre Aufschrift in römischen Ziffern lautete: »4. Juli 1776«. »Es regnet«, hörte er Rita sagen. »Bisher nur einige Tropfen.« Jake sah auf die Uhr: 6.25. Die Regentropfen machten Brendan McDonald auf der Kabine des Krans nichts aus. Er lag unter einer Tarndecke, und die hielt den Regen von ihm fern. Es hatte ihm ziemliche Mühe bereitet, die Decke im heftigen Wind zu sichern, aber jetzt bestand nicht mehr die Gefahr, dass sie von einer Bö fortgerissen wurde. Es grenzte an ein Wunder, dass er beim Aufstieg auf die Kabine des Kranführers und beim Ringen mit der Decke nicht abgestürzt war. Jetzt lag er unter der Tarndecke, und ihr größter Vorteil bestand darin, dass sie eine ähnliche Funktion erfüllte wie die 591
Scheuklappen eines Pferds. Sie schränkte sein Blickfeld auf das ein, was er durchs Zielfernrohr des Gewehrs sah, zwang ihn, sich allein darauf zu konzentrieren. Die beiden Männer auf dem Fackelbalkon hatten ihn nicht gesehen, als er auf die Kabine geklettert war, und auch in diesem Fall konnte er von Glück sagen. Bei dieser geringen Entfernung hätten sie ihn erschießen können. Oder sie hätten sich vielleicht dazu hinreißen lassen, die Bombe zu zünden. Die Fackel befand sich etwa sechs Meter tiefer. McDonald blickte durchs Zielfernrohr und sah die Beine und den Schoß eines Mannes auf dem Balkon. Eine Maschinenpistole lag darauf, und der Bursche rauchte eine Zigarette. Er hält die Waffe so andächtig wie einen Rosenkranz, dachte McDonald. Der andere Mann war nicht in Sicht. Er berichtete Jake Grafton von dem Mann auf dem Balkon und empfing eine Bestätigung. Seine Eltern hatten ihn zu einem Buchhalter machen wollen – diesen Beruf übten sie beide aus. Mehr als hundert Meter über dem Boden, in der Nähe einer Atombombe, die jeden Augenblick explodieren konnte, bedauerte Brendan McDonald, nicht auf seine Eltern gehört zu haben. Tommy Carmellini hatte das Gefühl, einen Alpengipfel zu erklimmen, einen verdammt steilen und schlüpfrigen. Er passierte Libertys Kinn und erreichte die rechte Schulter. Dort stand er, mit dem Rücken zum Hals der Statue, sah auf und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er war müde. Die beiden Wochen des bequemen Lebens ohne Training forderten ihren Tribut. Er befand sich jetzt etwa neun Meter unter der Fackel. Drei Meter Gewand lagen vor ihm, und danach kamen die glatten Platten des Arms, der die Fackel nach oben hielt. Carmellini rückte seine Ausrüstung zurecht, trank eine kleine Plastik592
flasche Wasser aus und verstaute sie wieder im Rucksack. »Tommy, ich bin bereit für den Arm«, sprach er ins Kehlkopfmikrofon. »Ein Mann auf dem Balkon, Tommy, Ostseite, er sitzt«, klang Jake Graftons Stimme aus dem Ohrhörer. »Weiter.« Carmellini kletterte nach oben. Als er das Ende des Gewands erreichte, nahm er die Saugnäpfe und platzierte die ersten beiden. Das Kupfer war feucht, und er musste die Näpfe so fest wie möglich ansetzen, damit sie hielten. Der Wind wehte ihm Nieselregen ins Gesicht. Unabsichtlich blickte er nach unten. Lieber Himmel, was für eine Höhe! Carmellini legte eine Pause ein und nahm das zusammengerollte Seil von der Schulter. Er hielt es am einen Ende fest und warf es mit der rechten Hand um den Arm, in der Hoffnung, dass es auf der linken Seite herunterkam. Es klappte nicht. Er holte das Seil ein und versuchte es erneut. Diesmal hatte er Erfolg. Er verband die Haken am Ende des Seils mit dem Karabinerring seines Sicherheitsharnischs. Nur für den Fall. Dann kletterte er mithilfe der Saugnäpfe weiter nach oben. Sonny Tran saß in dem kleinen Bereich über der Leiter in der Fackel und hörte, wie das Seil sechs Meter weiter unten gegen den Arm schlug. Das Geräusch hallte im Innern des Arms wider. Einen Moment später hörte er es erneut. Er lauschte aufmerksam. Etwas befand sich dort unten. »Nguyen, siehst du was?«, rief er. »Nein.« »Setz deinen Hintern in Bewegung und halt Ausschau.« 593
Nguyen setzte sich auf und nahm den Feldstecher. Er sah über die Brüstung, blickte zur Reagan und zum Küstenwachboot, auch zum Boden. Ihm fiel nichts auf. Geduckt ging er zur Nordseite des Balkons und beobachtete von dort aus. Er sah zum Kran. Niemand befand sich in der Kabine. Was für eine Arbeit: jeden Morgen am Kran emporklettern, den ganzen Tag so weit oben in der kleinen Kabine sitzen und abends wieder hinunter. Wenn der Kran umstürzte, war der Kranführer tot. Nguyen ging zur westlichen Seite des Balkons, blieb direkt vor der offenen Tür stehen. Er beobachtete die Verwaltungsgebäude, das Dock – es war gerade ein Boot eingetroffen, und Leute stiegen aus. Er kontrollierte die Stapel mit Baumaterial, die Wege und Gebäude. Anschließend schritt er zur Südseite und verharrte neben der Bombe. Er klopfte auf ihren Kasten und blickte durch den Feldstecher zur südlichen Seite der Insel. »Scheint alles in Ordnung zu sein«, teilte er seinem Bruder hinter der Tür mit. »Ich habe etwas gehört. Ich stelle den Timer auf fünfzehn Minuten ein und gehe dann nach unten, um dort nach dem Rechten zu sehen. Merk dir die Uhrzeit.« Nguyen sah auf die Uhr. Es war 6.47 Uhr. »In Ordnung«, sagte er. »Ich schalte das Funkgerät ein.« Sonny programmierte den Timer und kletterte die Leiter im Innern des Arms hinunter. Den Kopf ganz dicht am Arm hörte Tommy Carmellini die von Sonny verursachten Geräusche. Er hatte keine freie Hand. Der Ohrhörer für das taktische Kom-Netz steckte im linken Ohr, und deshalb drehte er den Kopf und presste das rechte Ohr ans Kupfer. Er hörte jemanden im Arm, was bedeutete, dass ihn der 594
Betreffende ebenfalls hören konnte. Carmellini erstarrte. Am Ende der Leiter erreichte Sonny die Tür, die Touristen den Zugang zum Arm verwehrte. Am vergangenen Abend hatten Nguyen und er an der Innenseite ein Vorhängeschloss angebracht. Er öffnete es, schob die Tür dann vorsichtig auf. Niemand zu sehen. Sonny blickte sich um, die Pistole schussbereit in der Hand. Himmel, er hatte etwas gehört! Vielleicht ein Vogel, der gegen den Arm geprallt war. Oder eine Materialspannung in einer Kupferplatte. Er hob das Funkgerät. »Alles in Ordnung. Ich gehe nach unten und sehe mich dort um. Bleib wachsam.« »Ja.« Ein die zivilen Funkfrequenzen überwachender Scanner empfing die Worte. Jake Grafton hörte sie und erkannte Sonnys Stimme. Er schaltete das Mikrofon des taktischen Kom-Netzes ein. »Rita und Toad, Sonny kommt herunter. Scharfschützen, halten Sie sich bereit.« Sal Molina saß mit geradem Rücken auf seinem Stuhl. Seine Augen waren geschlossen, aber er hörte zu. Jake wusste, dass er sich die Leute vorstellte, und das, was jetzt geschah. Jake Grafton nahm die kleine Statue, drehte sie hin und her, betastete sie mit den Fingern. Sonny Tran brachte langsam eine Stufe nach der anderen hinter sich und hielt immer wieder inne, um zu lauschen. Was auch immer der Grund für das Geräusch gewesen war, es wiederholte sich nicht. 595
Nach unten, die endlose Treppe hinab. Sonny ging langsam und lautlos, die Pistole in der Hand. Selbst wenn sie ihn bekamen – den Sieg errangen sie dadurch nicht. Nguyen würde den Schuss hören, die Bombe zünden und all diese verdammten Mistkerle zur Hölle schicken. Carmellini blieb reglos, bis er Jakes Stimme im linken Ohr hörte. Der Nieselregen dauerte an. Das an der Seite des Statuenarms herabströmende Wasser hatte ihn durchnässt. Er setzte den Weg nach oben fort, hielt sein Gewicht mit dem linken Arm, löste mit dem rechten einen Saugnapf und setzte ihn weiter oben an. Er wurde müde und bereute es inzwischen, sich auf diese Sache eingelassen zu haben. Er war außer Form und zu alt für solche Mätzchen, das wusste er ganz genau. Mit der rechten Hand zog er sich hoch, und mit der linken löste er den Saugnapf. Er hatte ihn gerade abgenommen, als der rechte Saugnapf rutschte. Er versuchte, sich mit beiden Händen daran festzuhalten, aber der Saugnapf löste sich ganz vom nassen Kupfer. Carmellini fiel vom Statuenarm und stürzte in die Tiefe. Brendan McDonald sah Carmellini fallen. »Tommy ist abgestürzt und hängt am Ende der Sicherheitsleine.« Jake Grafton hörte die Worte. »Wo ist der Mann auf dem Balkon?«, fragte er übers Kom-Netz. »Beobachten Sie ihn!« Carmellini hing an der Sicherheitsleine, neben der Achselhöhle des rechten Statuenarms, gut einen Meter unterhalb des Arms. In beiden Händen hielt er einen Saugnapf. Sein Herz hämmerte, die Brust hob und senkte sich … Zehn 596
Sekunden lang sammelte er Kraft, verstaute dann die Saugnäpfe und zog sich am Seil zum Arm empor. Er mobilisierte seine letzten Kraftreserven, kämpfte gegen das von der Statue tropfende Wasser an, befestigte mit der rechten Hand einen Saugnapf und zog sich nach oben. Eine halbe Minute lang lauschte Sonny an der Tür am Ende der Treppe, bevor er sie öffnete und aufdrückte. Niemand in Sicht. Er schob die Pistole unter der Windjacke hinter den Hosenbund und trat in den Bereich vor den Kartenschaltern. Zufrieden drückte er die Taste für den Lift. Seltsam, dass er unten war. Er hatte die Liftkabine hier zurückgelassen, als er nach oben gegangen war. Vielleicht hatte ein Wächter diesen Bereich kontrolliert, um anschließend nach unten zurückzukehren. Das war eine mögliche Erklärung. Oder der Lift fuhr nach einer gewissen Zeit von ganz allein nach unten. Die Tür öffnete sich, und Sonny trat ein, drückte den Knopf fürs Erdgeschoss. Die Tür schloss sich, und die Liftkabine glitt nach unten. Sonny presste sich an die linke Kabinenwand, als sich die Tür wieder öffnete. Argwöhnisch hielt er Ausschau – der verdammte Ort war so leer wie ein Pharaonengrab. Er trat aus der Kabine und um die Ecke. Toad Tarkington stand dort, mit einer schussbereiten Maschinenpistole. Sonny erkannte ihn, und im gleichen Augenblick drückte Toad ab. Die mit einem Schalldämpfer ausgestattete Maschinenpistole summte laut und spuckte ein Geschoss nach dem anderen, als Toad den Abzug gedrückt hielt. Die Kugeln wanderten durch Sonnys Brust und Hals nach oben, warfen seinen Kopf zurück und rissen ihn von den Beinen. 597
Sonny war tot, als er auf den Boden prallte. »Sonny ist erledigt«, meldete Toad übers taktische KornNetz. »Gehen Sie nach oben«, wies Jake Grafton ihn an. »Nguyen ist gesund und munter, und Tommy hängt an seiner Sicherheitsleine.« Toad nahm sich die Zeit, Sonnys Taschen zu durchsuchen. Er fand das Funkgerät und steckte es ein. Eine Fernbedienung für die Zündung der Bombe fehlte, stellte er fest. Er nahm den Lift nach oben und traf Rita an der Tür. Sie hatte ebenfalls eine Maschinenpistole und auf dem Aussichtsbalkon gewartet, für den Fall, dass Sonny zuerst dorthin ging. Gemeinsam gingen sie die Treppe hoch. Als Tommy Carmellini auf den Arm kletterte, verursachte er Geräusche, über die selbst der Wind nicht hinwegtäuschen konnte. Nguyen Tran hörte sie. Geduckt eilte er zur Nordseite der Statue, blickte dort nach unten und sah Carmellini. Nguyen wusste nicht, um wen es sich handelte – er war Carmellini nie zuvor begegnet –, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass ihr Vorhaben in Gefahr war. Nguyen und Sonny hatten schon vor Monaten besprochen, was sie unternehmen würden, wenn ihnen die Behörden auf die Schliche kamen. Sie würden die Bombe zünden und gewinnen! Nguyen schaltete das Funkgerät ein. »Sonny? Sonny?« Keine Antwort. Zum Teufel, warum nicht? Er richtete sich auf, die Glock in beiden Händen, beugte sich über die Brüstung und zielte auf Tommy Carmellini. »He, Arschloch!«, rief er. »Sieh hoch zu mir! Sieh nur, was ich hier für dich habe!« 598
Brendan McDonald beobachtete alles. Ihm blieb nicht einmal Zeit genug für eine Meldung übers Kom-Netz. Er brachte das Fadenkreuz des Zielfernrohrs auf Nguyen Trans Brust und drückte ab. Die Kugel stieß Nguyen gegen die Fackel. Er blickte auf seine Brust, sah den größer werdenden roten Fleck und war zu verblüfft, um zu bemerken, dass er die Pistole fallen gelassen hatte. Man hat auf mich geschossen, dachte er. Er begriff nicht, dass die Kugel seine rechte Lunge – den ganzen Körper – durchschlagen hatte. Der Sprengkopf fiel ihm ein. Er musste den Knopf erreichen und ihn drücken! Nguyen taumelte nach Westen über den Balkon, in Richtung der Bombe. Dort befand sich der Knopf; er brauchte ihn nur zu drücken. Jake Grafton blickte durch einen Feldstecher. Er sah Nguyen, der sich mit der einen Hand an der Brüstung abstützte und mit der anderen an der Fackel. Mit grimmiger Entschlossenheit setzte er einen Fuß vor den anderen. »Scharfschützen, erschießen Sie ihn! Jetzt sofort!« Die vier Marinegewehre knallten wie eine Waffe. Die Menschen, die gerade das Arbeitsboot verließen oder am Imbissstand Kaffee und Doughnuts kauften, hörten das Geräusch und sahen erstaunt auf. Drei Kugeln trafen Nguyen Tran und schleuderten ihn gegen die Fackel. Wie durch ein Wunder blieb er auf den Beinen, wankte weiter und versuchte noch immer, die Bombe zu erreichen. Dann taumelte er zur Seite, gegen die Brüstung. Nguyen versteifte die Beine, um nicht zu Boden zu sinken, fing sich eine 599
weitere Kugel von Brendan McDonald ein und kippte über die Brüstung. Jake sah ihn fallen und ließ den Feldstecher sinken. »Kommen Sie!«, donnerte er, und die Aufforderung galt Sal Molina. »Kommen Sie!« Er lief los, verließ den Raum, nahm drei Stufen auf einmal und sprintete aus dem Gebäude. Harry Estep, zwei von seinen Leuten und Dillingham, der Fachmann für Kampfmittelbeseitigung, folgten Toad und Rita die Treppe hoch. Sie liefen nicht, denn immerhin war es möglich, dass die Tran-Brüder Fallen mit Sprengladungen vorbereitet hatten. Sonny und Nguyen hatten die ganze Nacht Zeit gehabt. Wie paranoid waren sie gewesen? Mit einer Taschenlampe leuchtete Toad die zur Fackel führende Leiter ab, bevor er nach oben kletterte. Rita blieb dicht hinter ihm, und ihr folgte Dillingham. Der Timer befand sich am oberen Ende der Leiter. Es handelte sich um eine mechanische Vorrichtung mit einem Zifferblatt, das zur Einstellung der Zeit diente. Es blieb weniger als eine Minute. Toad wischte sich die Finger ab und starrte auf den Timer. Daneben lag ein einfacher Schalter, wie man ihn für einen Dollar kaufen konnte. Er atmete schwer vom Klettern, und seine Rippen schmerzten. Erneut wischte er sich die Hände an der Hose ab. Der Bombenexperte befand sich ein ganzes Stück hinter ihm, und es gab nur dann genug Platz für ihn, wenn Toad bis ganz nach oben zum Balkon weiterkletterte. Er musste eine Entscheidung treffen. Er drehte das Zifferblatt bis zum Anschlag und ließ es dann los. Jetzt hatten sie dreißig Minuten. »Dies sind Timer und Auslöser«, sagte er zu Rita, bevor er den Weg nach oben fortsetzte. 600
Blut zeigte sich auf den Stahlplatten des Balkons. Toad schenkte den roten Flecken keine Beachtung und blickte über die Brüstung. Carmellini kletterte an Libertys Daumen hoch. »Hallo, Schiffskamerad«, sagte Toad. »Werfen Sie mir ein Seil zu.« »Ich habe keins, das ich Ihnen zuwerfen könnte«, zischte Carmellini und setzte den nächsten Saugnapf. Jake Grafton kletterte die Leiter im Statuenarm hoch und fand niemanden dort, wo die Fackel begann. Er setzte den Weg nach oben zum Fackelbalkon fort. Dillingham hatte die Zugangsplatte des Kastens, in dem sich die Bombe befand, entfernt und leuchtete mit einer Taschenlampe hinein, als Jake eintraf. Er hantierte mit einer Drahtschere in der Öffnung, wandte sich dann Grafton zu. »Es besteht keine Gefahr mehr, Admiral.« Als Jake zusammen mit Toad und Rita dem erschöpften Tommy Carmellini über die Brüstung half, hörte er, wie Harry Estep per Handy meldete: »Wir haben es geschafft, Mr. Emerick. Die Bombe ist entschärft.« Carmellini sank auf den Boden des Balkons und schnappte nach Luft. »Danke, Tommy«, sagte Jake und bückte sich. »Durch Sie haben wir die Möglichkeit erhalten, Nguyen außer Gefecht zu setzen.« »Das nächste Mal … möchte ich … einen Schreibtischjob«, brachte Carmellini zwischen keuchenden Atemzügen hervor. »Versprechen Sie … mir das!« Rita lachte schallend, und Toad stimmte mit ein. An Bord der Whidbey Island teilte Lieutenant Coleridge dem Kanonier Joe Shack mit: »Hören Sie auf damit, die verdammte Kanone zu putzen. Decken Sie sie ab.« Dann griff er nach dem 601
Mikrofon für die Lautsprecheranlage, die seine Stimme in jede Kabine an Bord des kleinen Schiffes übertrug. »Landurlaub für das dienstfreie Personal. Wenn Sie sich New York im Regen ansehen wollen, haben Sie jetzt Gelegenheit dazu. Bootsmann, lassen Sie die Barkasse zu Wasser.« Joe Shack ließ den Putzlappen fallen und lief zur Reling. Als sich sein Magen beruhigt hatte, blickte er zur Freiheitsstatue. Er nahm Haltung an und salutierte. Lady Liberty erwiderte den Gruß nicht, stand einfach nur da, die Fackel dem grauen Himmel entgegengereckt. Shack machte sich daran, die Kanone abzudecken. Eine halbe Stunde später saßen Grafton, Carmellini und die Tarkingtons mit dem Rücken zur Fackel, als Jakes Handy klingelte. Er holte es hervor und klappte es auf. Callie rief aus Washington an. »Wo bist du?«, fragte sie. »Ich sitze auf dem Balkon der Freiheitsstatue und beobachte die Wolken über Manhattan. Es ist ein wundervoller Tag mit Nieselregen. Mal ist das Empire State Building zu sehen, mal nicht.« »Emerick ist im Fernsehen. Er hat gerade bekannt gegeben, dass das FBI einen Sprengkopf in der Statue gefunden hat. Weißt du etwas davon?« Jake begann zu lachen und konnte nicht mehr aufhören. Er gab sein Handy Rita, die Callie zuhörte, etwas sagte und dann ebenfalls lachte. Als er das kleine Telefon zurückbekam, teilte er seiner Frau mit: »Heute Abend erzähle ich dir alles. Ich denke, heute Nachmittag nehme ich mit Carmellini und den Tarkingtons den Zug. Könntest du uns an der Union Station abholen? Ich rufe dich später an und sage dir, wann genau wir zurückkehren. 602
Bring Amy mit. Wir gehen irgendwo essen.« »Ich liebe dich, Jake.« »Ich liebe dich ebenfalls, Callie.«
603
27 In den Wochen nach der Flottenwoche zog Jake Graftons Computerteam mitsamt seiner Ausrüstung zur AntiterrorismusTaskforce um. Seine Arbeit hatte begonnen, Früchte zu tragen. Das Durcheinander aus Geldüberweisungen in der ganzen Welt wurde entwirrt und die Identität der Personen und Regierungen festgestellt, die den Terrorismus finanzierten. Man entdeckte Terrorzellen in Amerika und Europa, und sie wurden zum Gegenstand gewöhnlicher polizeilicher Ermittlungen. Tommy Carmellini kehrte zu seiner regulären Arbeit in Langley zurück und stellte fest, dass sich während seiner Abwesenheit viele Papiere auf dem Schreibtisch angesammelt hatten. Rita Moravia gesellte sich wieder der Gruppe hinzu, die die Flottenwoche organisierte und ebenso wie alle anderen versuchte, die Beinahe-Katastrophe zu verarbeiten. Gil Pascal nahm einen Pentagonjob an, und Toad Tarkington wurde zum Stab der Atlantikflotte versetzt, weil Jake wie angekündigt den Ruhestand beantragte und den Urlaub nahm, der ihm noch zustand. Nach einer Wirbelwindromanze heiratete Zip Vance eine der Sekretärinnen und bekam einen festen Posten beim technischen Stab der CIA. Bevor er ging, schüttelte er Jake die Hand und murmelte etwas über Zelda, das Jake nicht verstand. Zelda Hudsons Zukunft war ungewiss. Sie blieb bei den Resten ihrer Computer im Keller und beendete ihr eigenes Projekt, das sie »Ein Tag im Leben eines Drogenhändlers« nannte. Die Bilder zeigten einen Drogenhändler in den Straßen von Washington; sie stammten von Verkehrsüberwachungskameras, Videokameras von Geschäften und anderen Kameras an Telefonzellen, in Supermärkten und öffentlichen Gebäuden. Der aus diesen Aufnahmen zusammengestellte Film war zweiund604
zwanzig Minuten lang. Jake schickte das Band ans Justizministerium, wo es offenbar Entsetzen bewirkte. Drei Tage später rief ein stellvertretender Staatsanwalt Jake an und verlangte, dass er persönlich das Band vernichtete und die entsprechenden Computerdateien löschte. »Unerhört!«, ereiferte sich der Staatsanwalt. »Nie zuvor in meinem beruflichen Leben habe ich eine so eklatante Verletzung der Freiheitsrechte eines amerikanischen Bürgers gesehen.« »Was halten Sie davon, dass der Bursche in der Hauptstadt unseres Landes herumfährt und Gift verkauft?« »Dass Sie dieses Band angefertigt haben, stellt einen direkten Verstoß gegen das Gesetz dar, das der CIA verbietet, Amerikaner auszuspionieren«, sagte der Staatsanwalt. »Ich habe daran gedacht, Kopien an CNN und CNBC zu schicken«, erwiderte Jake leichthin. »Glauben Sie, man würde die Bilder senden?« »Ich werde meine Vorgesetzten von dieser Sache in Kenntnis setzen und empfehlen, dass man Sie vor ein Kriegsgericht stellt.« »Dann sollten Sie das Band, das ich Ihnen geschickt habe, besser behalten«, sagte Jake. »Sie brauchen es als Beweis.« Drei Tage später bestellte Sal Molina ihn ins Weiße Haus. Der Präsident war nicht in der Stadt, und deshalb vermittelte das Weiße Haus nicht wie sonst das Gefühl, der Mittelpunkt des Universums zu sein. Jake fand Molina in seinem kleinen Büro nur einige Meter vom Oval Office des Präsidenten entfernt. »Sie quittieren also den Dienst«, sagte Molina amüsiert. »Ja. Ich werde Zivilist und im geschäftlichen Amerika reich. Suche mir irgendeinen Buchhaltungsjob mit Aktienoption.« »Klar. Es dürfte Ihnen nicht schwer fallen, einen Platz in der Amerika AG zu finden. Übrigens, gestern hat mich ein stellver605
tretender Staatsanwalt angerufen. Er will Ihren Kopf auf einem silbernen Tablett. Verlangte ein Kriegsgerichtsverfahren gegen Sie. Was hat das alles zu bedeuten?« Jake erzählte Molina von dem Videoband und beschrieb, auf welche Weise Zelda Hudson die Aufnahmen zusammengestellt hatte und woher sie stammten. »Sie haben das natürlich zugelassen.« »Natürlich.« Molina nahm eine geheime Akte von seinem Schreibtisch und reichte sie Jake. »Seite drei.« Bei dem Dokument handelte es sich um den täglichen Sicherheitsbericht für die höheren Führungskräfte im Weißen Haus und beim Nationalen Sicherheitsrat. Jake fand einen markierten Absatz. Am vergangenen Abend, Kairo-Zeit, war ein Bankdirektor namens Abdul Abn Saad mit einer Autobombe getötet worden. »Saad, seine Frau und der Chauffeur – bumm!«, sagte Molina, als Jake die Akte zurückgab. »Wissen Sie etwas darüber?« »Vielleicht habe ich einige zusätzliche Informationen für Sie«, räumte Jake ein. »Ich habe Zelda gebeten, die Bank auszuplündern und Geld von den Konten des Schwert des Islam auf einige Konten zu verschieben, die Saad in der Schweiz hatte. Sie versicherte mir, die Spuren gut verwischt zu haben.« Molina lächelte. »Ohne Sie wird es hier langweiliger sein.« Jake lächelte. »Was machen wir mit Zelda?« »Ich schlage vor, Sie schicken sie zur National Security Agency. Dort rauft man sich die Haare bei dem Versuch, die Schlüssel zu decodieren, die Softwareläden überall auf der Welt verkaufen. Zelda ist ein echtes Genie. Vielleicht kann sie helfen.« Molina dachte darüber nach und seufzte. »Ich spreche mit 606
dem Präsidenten darüber.« Sie plauderten noch einige Minuten, und dann verabschiedete sich Jake und ging. Molina hielt Wort. Am Montag nach dem Besuch im Weißen Haus kam Zelda in Jakes Büro – sie hatte eine Stelle bei der NSA bekommen. »Danke, Admiral, für alles. Sie haben zweimal mein Leben gerettet.« Ein Lächeln, ein Händedruck, und sie war fort. Jake öffnete die unterste Schreibtischschublade, stützte die Füße darauf und las in einer Ausgabe von Trade-A-Plane, als jemand an die Tür klopfte. »Ja?« Tommy Carmellini kam herein und nahm Platz. »Sie quittieren den Dienst, wie ich hörte.« »Stimmt. In zehn Tagen beginnt mein noch ausstehender Urlaub.« »Was haben Sie jetzt vor?« Jake hielt die Ausgabe von Trade-A-Plane hoch. »Ich kaufe mir eine Cessna 170 und fliege mit Callie. Denke schon seit Jahren daran. Wir sehen uns die ganzen Lower Forty-Eights an, bevor der Schnee kommt.« »Und danach?« »Ich weiß nicht. Vielleicht wiederholen wir die Tour im nächsten Sommer. Und im übernächsten noch einmal. Vielleicht gehe ich sogar angeln.« Carmellini nickte und holte eine Postkarte aus der Jackentasche. »Ich habe etwas bekommen, das Sie vielleicht interessiert, Admiral. Lag gestern im Briefkasten meines Apartments.« Das Bild zeigte ein Boot auf der Seine. »Sie haben Ilin in Paris getroffen, nicht wahr?«, fragte Carmellini. »Ja.« 607
Jake drehte die Postkarte. Sie trug eine französische Briefmarke mit einem unleserlichen Stempel. Die Mitteilung war auf Englisch. »Ich kehre eines Tages zurück. In Liebe, Anna.« »Ist das ihre Handschrift?«, fragte Jake, als er die Postkarte zurückgab. »Ich denke schon.« »Das Leben scheint für Sie doch noch nicht vorbei zu sein.« Carmellini stand auf und streckte sich. Ein Schmunzeln kroch über sein Gesicht und wurde zu einem offenen Lächeln. Jake Grafton stieß die untere Schublade zu, griff nach seiner Mütze und der Trade-A-Plane-Ausgabe und sagte: »Nehmen wir uns verdientermaßen einen Tag frei. Es gibt da ein Flugzeug in Frederick, das ich unbedingt fliegen soll. Der Eigentümer hält mich für einen sehr interessierten Kunden. Also los.« Als Jake das Büro mit Carmellini verließ, rief er: »Tarkington! Licht aus und abschließen! Wir gehen fliegen.«
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Epilog Bitterkalter Wind fegte Schnee über die weite, öde Steppe Zentralasiens. Es war trockener Schnee; bei einer Temperatur von zehn Grad unter null sammelte er sich auf dem kahlen Boden und gelegentlichen Ansammlungen von verkrustetem Altschnee an, rund zwei Zentimeter pro Stunde. Die kleinen Flocken jagten horizontal durch das Scheinwerferlicht des Lastwagens und reduzierten die Sichtweite auf wenige Meter. Der Fahrer hielt das Steuer aus Stahl in beiden behandschuhten Händen, da der Wind gegen die Seite des Fahrzeugs drückte. »Ich glaube, es ist nicht mehr weit«, sagte er zu dem Mann auf dem Beifahrersitz, Faruk Al-Zuair, der seinen dicken Mantel enger um sich zog. Die Heizung des Lasters konnte die Luft im Führerhaus nicht über den Gefrierpunkt hinaus erwärmen. Eiskalte Luft kam durch die schlecht schließenden Türen und durch Löcher im rostigen Boden. »Folgt uns der Lieferwagen noch?«, fragte Zuair den Fahrer. »Er ist hinter uns.« Beide Männer waren erleichtert, als sie Licht in der schneeigen Dunkelheit weiter vorn bemerkten. Es stammte von einer Glühlampe hoch oben an einem Masten neben einem Tor. Zu beiden Seiten des Tors reichte ein hoher Drahtzaun durch die Nacht. Der Fahrer bog von der Straße ab und hielt neben dem Wachschuppen, vor der Absperrung. Faruk Al-Zuair nahm seinen Mut zusammen und öffnete die Tür. Der eisige Wind war brutal. Er eilte um den Laster herum und riss die Tür des Wachschuppens auf. Die Soldaten darin drängten sich vor einem Heizgerät zusammen. Mehrere saßen mit dem Rücken dazu. »Ich bin Ashruf«, sagte Zuair auf Russisch. »Ich möchte zu 609
General Petrow.« Zwei Soldaten gingen nach draußen, um den Laster zu kontrollieren, und ein dritter telefonierte. Als er den Hörer auf die Gabel legte, nickte er den anderen Russen zu, die daraufhin nach draußen gingen, um das Tor zu öffnen. Zuair kehrte in den Lastwagen zurück. Die Kontrolle nahm zwei weitere Minuten in Anspruch. Dann öffnete sich das Tor, und die Soldaten winkten Laster und Lieferwagen hindurch. Der Wind schien noch heftiger zu werden, als die beiden Fahrzeuge den Wachschuppen hinter sich zurückließen. Sie schaukelten durch die gefrorenen Furchen der Straße und rutschten gelegentlich, als sie eine niedrige Brücke überquerten und sich einem beleuchteten Lager näherten – es war das einzige Licht in einem schwarzen Universum. Am Lager erwartete sie ein weiteres Tor. Ein bewaffneter Wächter winkte sie hindurch. Sie kamen an zwei Panzern vorbei und hielten vor einem gut beleuchteten einstöckigen Gebäude. Zuair betrat es. General Petrow und zwei Offiziere befanden sich dort, außerdem die langhaarige Frau, die Zuair auch bei seinem ersten Besuch gesehen hatte. Sie trug eine Pelzmütze und einen Pelzmantel, der ihr bis zu den Füßen reichte. »Wir wollen vier Sprengköpfe, Petrow.« Er sah sich um. »Wo ist das Musterexemplar?« »Die Waffen sind noch im Magazin. Hat man Ihnen den Preis genannt? Vier Millionen amerikanische Dollar?« »Wir haben drei Millionen mitgebracht. Wir bezahlen keine vier.« »Für das Geld bekommen Sie drei Sprengköpfe. Ihre Freunde in Saudi-Arabien sind reich und können es sich leisten, für das große Risiko zu bezahlen, das wir eingehen.« 610
Zuair blieb stur. »Dann habe ich den weiten Weg umsonst zurückgelegt.« Sie feilschten, während sich die Frau eine Zigarette anzündete und gelangweilt wirkte. Schließlich gab Petrow nach. »Diesmal gebe ich Ihnen vier Sprengköpfe für drei Millionen. Aber wenn Sie noch einmal kommen … Der Preis beträgt eine Million pro Stück. Keinen Cent weniger. Man braucht Geld, um dieses Spiel zu spielen.« Der Araber ging zur Tür und winkte den Männern im Lieferwagen hinter dem Laster zu. Fünf von ihnen brachten dunkelgrüne Matchbeutel. Sie blieben im Zimmer, während einer der Offiziere die Beutel auf den Tisch leerte. Die Frau holte ihre Ausrüstung hervor und begann damit, beliebig ausgewählte Banknoten zu überprüfen, während die Offiziere die Bündel zählten. Als sie damit fertig waren, zählten sie die Geldscheine einzelner Bündel und ordneten sie zu Stapeln an. »Es ist echtes Geld«, sagte Anna Modin nach einer zehnminütigen Inspektion. Nachdem er leise mit den Offizieren gesprochen hatte, die ihre Zahlen verglichen, verkündete Petrow: »Wir sind zufrieden. Drei Millionen.« Er ging nach draußen in den Schnee und stieg in einen Lastwagen voller Soldaten. Der Laster setzte sich in Bewegung, und Zuair und seine Freunde folgten ihm mit ihren eigenen Fahrzeugen. Das Schneetreiben und der Wind hatten nicht nachgelassen. Ganz im Gegenteil, es schien sogar noch schlimmer geworden zu sein. Die kleine Karawane kam an zwanzig Magazinen vorbei und hielt schließlich vor einem. Als Zuair ausstieg, gingen Scheinwerfer auf dem Dach des Magazins und auf der anderen Seite an. Das plötzliche Licht blendete ihn. 611
Er hörte das Rattern einer Maschinenpistole und hörte, wie etwas die Tür des Lasters traf. Dann riss ihn etwas von den Beinen, und er fiel auf den gefrorenen Boden. Jemand schrie … Er hörte jemanden schreien. Zuair griff in die Manteltasche und versuchte, seine Pistole hervorzuholen, als sich der ersten Maschinenpistole weitere hinzugesellten. Er lag auf der Seite, und die Waffe befand sich unter ihm. Er versuchte herumzurollen, fühlte aber die Beine nicht mehr. Dann traf ihn etwas am Arm, und er verlor auch darin das Gefühl. Die Schießerei dauerte an. Immer wieder ratterten lange Feuerstöße der Maschinenpistolen. Zuair wusste nicht, wie viel Zeit verstrich, aber schließlich wurde es still. Er lag noch immer auf der Seite und spürte, wie die Wärme des eigenen Blutes seine Kleidung durchdrang, als ein Fuß ihn anstieß. General Petrow stand dort, mit einer Pistole in der Hand. Er lächelte auf Faruk Al-Zuair hinab und zielte auf seinen Kopf. Der Russe ging in die Hocke, hielt die Pistole an Zuairs Stirn, griff in dessen Manteltasche und holte die Waffe des Arabers hervor. Dann richtete er sich wieder auf. »Legt sie alle in den Laster und fahrt ihn dann ins Magazin!«, rief Petrow. »Den Lieferwagen ebenfalls.« Grobe Hände packten Zuair, hoben ihn hoch und trugen ihn zum Lastwagen. Die hintere Tür war geöffnet, und die Soldaten – vier von ihnen hielten ihn – warfen ihn auf die leere Ladefläche. Der Aufprall auf dem harten Boden war so heftig, dass Zuair stöhnte. Weitere Körper wurden auf die Ladefläche des Lasters geworfen, und ein Stöhnen wies darauf hin, dass wenigstens einer der Männer noch lebte. Schließlich wurde die Tür geschlossen. Kurz darauf startete der Motor, und der Laster fuhr los. 612
Als er stehen blieb und der Motor abgestellt wurde, versuchte Zuair, den unversehrt gebliebenen Arm zu bewegen. Jemand lag auf seinen verletzten Beinen, und der von den Kugeln bewirkte Schock ließ nach. Faruk Al-Zuair kämpfte gegen intensiven Schmerz an, und es gelang ihm, den Kopf zu heben. In der Dunkelheit konnte er nichts erkennen. Dann hörte er, wie sich die feuerfeste Stahltür des Magazins schloss. Er wurde immer schwächer. Sein Kopf sank zurück, und reglos lag er da. In der Finsternis hörte er das Stöhnen des anderen Mannes, der noch lebte, doch nach einer Weile wich es Stille. Kälte. Das Blut aus seinen Wunden hatte die Kleidung durchdrungen, und nun breitete sich eisige Kälte in ihm aus. Zuair versuchte zu kriechen, aber ihm fehlte die Kraft. Von ungläubigen Russen umgebracht! Er verfluchte sie, und unmittelbar darauf raubte ihm der Blutverlust das Bewusstsein. Etwas später in jener Nacht hörte sein Herz auf zu schlagen. General Petrow kehrte zum Lager zurück und betrat das einstöckige Gebäude. Das Geld lag noch immer auf dem Tisch. Anna Modin saß dort, wo er sie zurückgelassen hatte, aber ein anderer Mann war zugegen, groß und schlank, gekleidet in einen blauen Anzug unter einem offenen Mantel. Entspannt stand er auf der anderen Seite des Raums. Petrow wandte sich dem Fremden zu. »Wer sind Sie?«, fragte er. Der Mann hob die Hand. Sie hielt eine Pistole, ausgestattet mit einem großen Schalldämpfer. Die Waffe war unter dem Mantel verborgen gewesen. »Das spielt keine Rolle«, erwiderte der Fremde. Petrow sah zu Anna Modin, die eine Zigarette anzündete. Ih613
re Blicke begegneten sich, als sie das Feuerzeug sinken ließ. »Wo sind meine Männer?«, fragte der General mit hohl klingender Stimme. »Ihnen wurde plötzlich klar, dass sie lieber woanders sein wollten«, sagte der Fremde. »Sind die Araber tot?« »Ja.« »Was haben Sie mit Laster und Lieferwagen gemacht?« Petrow befeuchtete sich die Lippen. »Sie sind zusammen mit den Leichen in einem leeren Magazin.« »Warum haben Sie die Männer getötet?« »Das Risiko war zu groß. Irgendwann hätte jemand geredet, und die Stimmen wären bis nach Moskau gedrungen. Früher oder später ist das immer der Fall, nicht wahr?« Petrow zuckte mit den Schultern, warf sich zur Seite und griff nach der Pistole in seinem Gürtelhalfter. Janas Ilins erste Kugel verfehlte Petrow, nicht aber die zweite. Und auch nicht die dritte. Als sich der General nicht mehr rührte, trat Ilin zu ihm. Petrows Blick folgte ihm. »Warum?«, fragte er. »Ein amerikanischer Marineoffizier hat mich um einen Gefallen gebeten. Er wünschte sich dies.« Ilin richtete die Pistole auf Petrows Stirn und drückte noch einmal ab. Die Kugel riss den Kopf des Generals zurück, und sein Blick brach. »Was machen wir mit dem Geld?«, fragte Anna Modin. »Jemand muss für den Krieg gegen den Terrorismus bezahlen«, sagte Ilin. »Warum nicht die Terroristen?«
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Danksagung Entwickelt und geschrieben wurde diese Geschichte nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington. Die Kamikaze-Aktionen jener religiösen Fanatiker zeigten einmal mehr die Verwundbarkeit der Zivilisation und Ökonomie, die die sechs Milliarden Menschen auf unserem kleinen Planeten ernährt, kleidet und unterbringt. Der Lektor des Autors bei St. Martin’s Press, der unerschütterliche Charles Spicer, und die Frau des Autors, Deborah Buell Coonts, spielten bei der Entwicklung des Plots eine wesentliche Rolle. Gilbert »Gil« Pascal half mit zahlreichen technischen Hinweisen und regte eine Verzweigung des Hauptplots an. Ross Statham gab wertvolle Tipps zur Welt der Computer und des Internets. Tom und Kay Harper halfen mit Beschreibungen von Kairo. Dr. Matt Cooper lieferte wichtige Informationen über die Wirkung der Droge Ketamin. Der Autor steht tief in ihrer Schuld. Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Wie üblich ist allein der Autor für Story, Personen, Handlung und Dialoge verantwortlich.
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