Empirische Forschung und Soziale Arbeit: Ein Studienbuch

Gertrud Oelerich · Hans-Uwe Otto (Hrsg.) Empirische Forschung und Soziale Arbeit Gertrud Oelerich Hans-Uwe Otto (Hrsg...

Author: Gertrud Oelerich | Hans-Uwe Otto

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Gertrud Oelerich · Hans-Uwe Otto (Hrsg.) Empirische Forschung und Soziale Arbeit

Gertrud Oelerich Hans-Uwe Otto (Hrsg.)

Empirische Forschung und Soziale Arbeit Ein Studienbuch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17204-0

Inhalt

Gertrud Oelerich/Hans-Uwe Otto Empirische Forschung und Soziale Arbeit – Einführung .................................................................9

I. Empirische Studien Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner Netzwerkforschung mit Kindern. Eine empirische Studie zu Unterstützungsbezügen in Familie, Pflegefamilie und Heim .................................................................................................... 25 Heinz Messmer/Sarah Hitzler Interaktion und Kommunikation in der Sozialen Arbeit. Fallstudien zum Hilfeplangespräch .................................................................................................... 51 Sandra Landhäußer/Holger Ziegler Zur Empirie sozialräumlich orientierter Sozialer Arbeit – Soziales Kapital messen ................... 65 Christoph Beckmann/Katja Maar/Mark Schrödter Vom Professional Commitment zur Corporate Identity? Möglichkeiten der Kombination statistischer, rekonstruktiver und inhaltsanalytischer Forschungszugänge am Beispiel der Managerialisierung der sozialpädagogischen Familienhilfe ...................................................... 77 Ellen Bareis/Claus Reis Frühförderprogramme in Kindertgagesstätten – eine organisationssoziologische Studie.......... 97 Werner Thole/Peter Cloos/Stefan Köngeter/Burkhard Müller Ethnographie der Performativität pädagogischen Handelns. Zu den Möglichkeiten, die Konstitutionsbedingungen sozialpädagogischer Handlungsfelder zu erkunden ................. 115 Andreas Hanses/Petra Richter Die soziale Konstruktion von Krankheit. Analysen biographischer Selbstthematisierungen an Brustkrebs erkrankter Frauen und ihre Relevanz für eine Neubestimmung professioneller Praxis ................................................... 137 Uwe Flick/Gundula Röhnsch „(...) da bin ich eigentlich der Außenseiter, und das ist das Schlimmste.“ Krankheitserleben und -verhalten von chronisch kranken obdachlosen Jugendlichen ............ 151 Alexandra Klein Sexuelle Verwahrlosung oder Moralpanik? Sexuelle Erfahrungen und Beziehungswerte junger Frauen und Männer................................................................................................................ 165

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Inhalt

Nina Thieme Hin-Sichten professioneller Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe. Zur Bestimmung der Kategorie Adressat ......................................................................................... 179 Veronika Magyar-Haas Leibliche Abgrenzung und Positionierung im sozialpädagogischen Raum. Eine videoanalytische Rekonstruktion ............................................................................................ 193 Susann Fegter Die Macht der Bilder – Photographien und Diskursanalyse ........................................................ 207 Kirsten Fuchs-Rechlin/Ana Moya/Matthias Schilling Empirische Forschung auf der Basis der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik zur frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung ................................................................ 221

II. Forschungsessays Stefanie Albus/Heinz-Günter Micheel/Andreas Polutta Der Wirkungsdiskurs in der Sozialen Arbeit und seine Implikationen für die empirische Sozialforschung .................................................................................................. 243 Andreas Walther Konstruktionen von Hilfebedarf im internationalen Vergleich. Lebenslaufregimes als Bezugsrahmen für vergleichende sozialpädagogische Forschung ........ 253

III. Methodische Beiträge Uwe Flick Das Episodische Interview ............................................................................................................... 273 Nina Thieme Repertory Grid Methodik.................................................................................................................. 281 Nadine Lauer Das Paarinterview als Erhebungsinstrument in der sozialpädagogischen (Familien-)Forschung ......................................................................... 293 Anja Tervooren Teilnehmende Beobachtung in medizinischen Vorsorgeuntersuchungen. Frühe Kindheit und generationale Ordnung .................................................................................. 301 Sarah Hitzler/Heinz Messmer Konversationsanalyse......................................................................................................................... 307

Inhalt

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Fabian Kessl Diskursanalytische Vorgehensweisen .............................................................................................. 313 Uwe Flick Triangulation ....................................................................................................................................... 323 Sandra Landhäußer/Holger Ziegler Hauptkomponentenanalyse............................................................................................................... 329 Autorinnen und Autoren ................................................................................................................ 335

Empirische Forschung und Soziale Arbeit – Einführung Gertrud Oelerich/Hans-Uwe Otto Die zunehmende sozialwissenschaftliche Fundierung Sozialer Arbeit hat sich in den vergangenen Jahren auch in Form einer zunehmenden Profilierung im Bereich der empirischen Forschung gezeigt. Unserer Beobachtung nach hat die empirische Forschung in der Sozialen Arbeit inzwischen eine erstaunliche Intensität und Breite gewonnen. Diese Intensivierung fördert die notwendige Wissenschaftsbasierung einer professionalisierten Sozialen Arbeit und ermöglicht, in ihrem sozialwissenschaftlich orientierten Anspruch viele zuvor eher tradierte denn systematisch begründete Vorgehensweisen entweder empirisch zu fundieren oder zu überwinden. Diese Feststellung kann und soll jedoch nicht darüber hinwegsehen, dass die Forschungssituation in der Sozialen Arbeit insgesamt betrachtet auch weiterhin erheblichen Ausbaubedarf signalisiert. Gestützt wird die zunehmend forschende Entwicklung der Sozialen Arbeit mittlerweile durch die Einrichtung von Graduiertenkollegs und Forschungsinstituten, durch eine Vielzahl und Vielfalt an Forschungsprojekten in der Sozialen Arbeit, die fortwährend anwachsende Anzahl an Veröffentlichungen zu empirischen Fragestellungen, die inzwischen selbstverständlich gewordene Etablierung forschungsmethodischer Anteile in den einschlägigen Studiengängen, die fast schon obligatorische Forderung nach eigener empirischer Forschungsleistung als Voraussetzung für die Berufung als ProfessorIn in der Sozialpädagogik/Sozialen Arbeit und nicht zuletzt die zunehmend selbstverständliche Integration empirischer Forschungsmethoden in die Praxis der Sozialen Arbeit, bspw. in Form von Evaluationen, Qualitätsuntersuchungen oder Diagnoseverfahren. All diese Entwicklungen zeigen, dass sich empirische Forschung in der Sozialpädagogik/Sozialen Arbeit in den vergangenen Jahren entfalten, Anerkennung verschaffen und etablieren konnte. Sie hat ihre nachholende Phase hinter sich gelassen und befindet sich in einem Prozess disziplinärer wie professioneller Normalisierung – hinsichtlich ihres quantitativen Umfangs, ihrer Qualität und unbestritten auch hinsichtlich der noch zu überwindenden Defizite. Konsequenter Weise trägt ein Tagungsband der sozialpädagogischen Fachgesellschaft aus dem Jahr 2005 (Sektion Sozialpädagogik der DGfE, vgl. Schweppe/Thole 2005) den Titel „Sozialpädagogik als forschende Disziplin“. Der Titel wird dort als Feststellung formuliert, ohne relativierende Frageform und ohne einschränkende Untertitelung, untermauert anhand von Einschätzungen eines größeren Teils der dort versammelten Beiträge. Dies hindert die HerausgeberInnen allerdings nicht daran, eine erst in Ansätzen vorliegende „innerdisziplinäre, aufeinander bezogene Kommunikation und Verständigung“ zu diagnostizieren, ebenso wie das Fehlen einer kohärenten gesamtdisziplinären Vorstellung über Forschungsaufgaben in der Sozialpädagogik (ebd., S. 8). Demgegenüber fällt ihre Gesamteinschätzung zur Lage der quantitativen wie qualitativen Forschung in der Sozialpädagogik zum Zeitpunkt Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts weniger skeptisch aus als noch bei ihren Kollegen (Rauschenbach/Thole 1998, S. 24) wenige Jahre zuvor. Mittlerweile liegen einige Veröffentlichungen als Überblicke bzw. Reflexionen über die Forschungssituation in der Sozialen Arbeit vor.1 Der dort geführte Diskurs beinhaltet häufig 1

Bock/Miethe 2010; Hornstein 1984, 1998; Jakob/von Wensierski 1998; Lüders 1998; Lüders/ Rauschenbach 2001; Otto/Oelerich/Micheel 2003; Rauschenbach/Thole 1998; Schefold 2002; Schweppe G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Überlegungen zur Existenz sowie zur Legitimität „genuin“ sozialpädagogischer Forschung, konkretisiert in Bezug auf einen spezifisch sozialpädagogischen Gegenstandsbereich und spezifisch sozialpädagogische Forschungsfragestellungen, eine eigenständige sozialpädagogische Forschungskultur sowie zur Frage nach explizit sozialpädagogischen Forschungsmethoden und Forschungsmethodologie. Bezogen auf den zuletzt genannten Aspekt, die Frage nach einer spezifisch sozialpädagogischen Forschungsmethodik, finden sich zwischenzeitlich jedoch kaum mehr kontroverse Positionen. Es überwiegt vielmehr die Einschätzung, dass die eingesetzten Forschungsmethoden, den allgemeinen Standards sozialwissenschaftlicher Forschung folgend, dem jeweiligen Forschungsgegenstand und der Forschungsfragestellung zu entsprechen haben und nicht einer – wie auch immer gearteten – disziplinären Herkunft.2 Die Tatsache, dass mit Blick auf Besonderheiten sozialpädagogischer Themenstellungen bestimmte Forschungsmethoden häufiger eingesetzt werden als andere, bleibt davon freilich unberührt. Wenig kontrovers gestaltet sich auch die Debatte um die Frage nach einer verbindlichen sozialpädagogischen Forschungskultur. Hier wird fast uni sono ihr weitgehendes Fehlen festgestellt (vgl. bspw. Rauschenbach/Thole 1998; Schweppe/Thole 2005, s.o.), was allerdings im Hinblick auf die ausgesprochene Unterschiedlichkeit der Interessen, Strömungen oder Kontexte in der Sozialen Arbeit einerseits und die Verschiedenartigkeit der entsprechenden Studiengänge, Hochschulzuordnungen und Forschungszusammenhänge andererseits kaum verwundern kann. Uneindeutiger gestaltet sich demgegenüber im Fachdiskurs die Einschätzung der Spezifika, die eine Forschungsfragestellung zu einer ausdrücklich sozialpädagogischen werden lässt. Hier dauert die Diskussion weiter an. Ob der vorgeschlagene Rekurs auf den „sozialpädagogischen Blick“ (z.B. Rauschenbach/Thole 1998, S. 19) als innerdisziplinärem Bezugspunkt für Forschung in der Sozialen Arbeit die angezielte Kohärenz schaffen kann, bleibt bis heute vage. Ein anderer Vorschlag zur Bestimmung des „sozialpädagogischen Forschungsfeldes“ setzt an dem Gegenstandsbereich der Forschung an. Er systematisiert die Gegenstandsbestimmung anhand von drei zentralen Eckpunkten, nämlich Institution, Profession und AdressatInnen Sozialer Arbeit (Lüders 1998, S. 120; Lüders/Rauschenbach 2002, S. 564). Diese Eckpunkte nehmen einen Vorschlag zur Strukturierung wesentlicher, konstitutiver Dimensionen sozialpädagogischer Theoriebildung auf, der zu Beginn der 1980er Jahre von Hans Thiersch und Thomas Rauschenbach in der ersten Fassung des Handbuchs Sozialarbeit/Sozialpädagogik (Eyferth/Otto/Thiersch 1984) vorgelegt wurde (Thiersch/Rauschenbach 1984, S. 1000). Bei der mancherorts vorgelegten Übertragung auf den Bereich der empirischen Forschung handelt es sich jedoch letztlich nur um eine Teilanalogie, denn die im Theoriediskurs vorgeschlagene Dimensionierung umfasste neben den drei mit Blick auf den Forschungszusammenhang genannten Dimensionen zwei weitere: die ‘gesellschaftliche Funktion’ und den ‘Wissenschaftscharakter’ von Sozialarbeit/Sozialpädagogik (ebd.). Soll die mit den drei angesprochenen Eckpunkten vorgeschlagene Systematisierung von Forschung in der Sozialen Arbeit mehr sein als eine Heuristik der bestehenden Forschungslandschaft, wäre sie trotz der 2003; Schweppe/Thole 2005; Thole 1999. Darüber hinaus wurden mittlerweile eine Reihe weiterer Veröffentlichungen zur empirischen Forschung in der Sozialen Arbeit vorgelegt, die sich z.T. auf einzelne Handlungsfelder Sozialer Arbeit konzentrieren, z.T. auf Praxisforschungsprojekte (bspw. Heiner 1988; Maykus 2009; Schrapper 2004) oder sich spezifischen methodischen Herangehensweisen verpflichten (bspw. Miethe u.a. 2007; Bock/Miethe 2010), auf deren Vielzahl hier – ohne jeden Versuch eines Anspruchs auf Vollständigkeit – nur verwiesen werden kann. 2 Vgl. Hornstein 1998, S. 71; Lüders 1998, S. 128; Lüders/Rauschenbach 2002, S. 566; Winkler 2005, S. 18.

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damit verbundenen forschungspraktischen Herausforderungen entsprechend zu erweitern. In der Konsequenz ginge es vermehrt darum, empirisch untermauerte Analysen zur gesellschaftlichen Funktion von Sozialer Arbeit zu realisieren. Trotz aller Kontroversen ist die grundsätzliche Notwendigkeit empirischer Forschung in der Sozialen Arbeit jedoch unumstritten, ebenso die Notwendigkeit ihres intensivierten Ausbaus. Neben den theoretischen Analysen ist empirische Forschung einer der konstitutiven, unhintergehbaren Bestandteile der Sozialwissenschaften und Werkzeug systematischer Theoriebildung, Beobachtung, Reflexion wie Weiterentwicklung jeder sozialwissenschaftlichen Disziplin wie Profession. Dies gilt selbstredend auch für die Soziale Arbeit und zwar sowohl mit Blick auf feldunspezifische, allgemeine Aspekte als auch mit Blick auf die spezifischen Aspekte einzelner Handlungsfelder. Vertritt man den Anspruch einer reflexiven, kritischen Sozialen Arbeit, dann besteht nicht nur aus der Perspektive einer aufgeklärten Sozialwissenschaft sondern auch aus der Perspektive einer aufgeklärten Praxis die Notwendigkeit einer entsprechenden empirischen Forschung. Das trifft auch für die Positionierung in der zunehmenden kontroversen Diskussion über Forderungen nach einer angemessenen Evidenzbasierung im Handeln der Sozialen Arbeit zu. Damit Evaluationen und Wirkungsforschungen nicht einem linearen, reduzierten Verständnis von Wirkung und Effektivität wie deren Messung erliegen, welches weder der komplexen Realität von Angeboten und Maßnahmen Sozialer Arbeit gerecht werden kann noch der Unterschiedlichkeit der Einschätzung von Angeboten aus den verschiedenen Perspektiven der beteiligten Akteure, sind elaborierte empirische Untersuchungen zur Rekonstruktion und Analyse dessen, was in der Sozialen Arbeit unter welchen Voraussetzungen geschieht, mit welchen Interessen verbunden ist und unter welchen Perspektiven von wem wie bewertet wird, unerlässlich. Mit dem hier vorgelegten Band knüpfen wir der Intention wie der Struktur nach an unsere Veröffentlichung aus dem Jahr 2003 an (Otto/Oelerich/Micheel 2003). Am Beginn der 2000er Jahre hatten wir die Situation der empirischen Forschung in der Sozialen Arbeit als eine ‘take off Phase’ beschrieben, betrachtet mit einer Mischung aus Zuversicht und Skepsis. Beide Seiten der Einschätzung sind bis heute geblieben, wobei der in der Zwischenzeit zu beobachtende Ausbau sozialpädagogischer Forschung die skeptische Seite etwas verringert hat (s.o.). Wir sehen jedoch weiterhin deutlichen Ausbaubedarf und möchten mit diesem Band einen Beitrag zur weiteren Normalisierung und offensiven Weiterentwicklung empirischer Forschung in der Sozialen Arbeit leisten. Der gemeinsame Fokus der hier versammelten Texte liegt zum ersten in dem Bezug zur empirischen Forschung und zum zweiten in der Sozialen Arbeit, unabhängig davon, ob es bei den Beiträgen thematisch um die Vorstellung einzelner Studien und Forschungsmethoden geht oder um die Reflexion über empirische Forschung. Dabei repräsentieren die Beiträge eine beachtliche inhaltliche wie forschungsmethodische Breite. Im Hinblick auf die untersuchten Handlungsfelder Sozialer Arbeit reicht das Spektrum von den Bereichen der Kindertagesstätten, der Jugendarbeit, der Obdachlosenarbeit bis zu gesundheitlichen Hilfen, wobei ein gewisser Schwerpunkt bei der Jugendhilfe liegt. Ziel dieser Veröffentlichung war es jedoch nicht, Soziale Arbeit in ihrer gesamten Differenziertheit abzubilden. Vielmehr sollte aus der Vielfalt der Handlungsfelder eine exemplarische Auswahl vorgenommen werden. Dabei war ein Kriterium, Forschungsarbeiten zusammenzutragen, die unterschiedliche Akteure und deren spezifische Zugänge zur Sozialen Arbeit fokussieren, also Thematiken aus bzw. zur Sichtweise der AdressatInnen einerseits und der Professionellen andererseits, zum professionellen Handeln wie zu organisatorischen Themen. Hier hat sich eine Schwerpunktsetzung auf die Sichtweise

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der AdressatInnen ergeben. Wenngleich sich die Forschung in letzter Zeit in stärkerem Maße als zuvor adressaten- bzw. nutzerbezogenen Thematiken zugewendet hat, so gibt es unserer Einschätzung nach bis heute zu wenig gehaltvolle Untersuchungen, die explizit die Perspektive der AdressatInnen bzw. NutzerInnen auf die Soziale Arbeit und deren Angebote in einer empirisch gesicherten Form herausarbeiten. Darüber hinaus repräsentieren die Beiträge explizit eine ausgesprochene Breite methodischer Herangehensweisen. Es wurden einige Studien versammelt, die einem qualitativen Vorgehen folgen, andere einem quantitativen oder einer Kombination von beidem. Von ihrer Anzahl her sind in diesem Band qualitative Studien stärker vertreten als quantitative, was tendenziell dem Stand der empirischen Forschung in der Sozialen Arbeit entspricht. Ohne eine einseitige Bewertung vornehmen zu wollen, halten wir einen verstärkten Ausbau gehaltvoller quantitativer Studien in diesem Feld und damit die verstärkte Erarbeitung von Ergebnissen, die generalisierbare Aussagen über Soziale Arbeit in fundierter Weise ermöglichen, Aussagen zu deren quantitativer Verteilung wie zu tiefergehenden Analysen systematischer Zusammenhänge in Zukunft für dringend erforderlich. Jenseits der Zuordnung zum qualitativen bzw. quantitativen Forschungsparadigma spiegeln die Beiträge eine methodische Vielfalt wider, die von häufig eingesetzten Verfahren wie bspw. der klassischen Fragebogen- bzw. Interviewerhebung bis hin zu aktuell weniger üblichen Vorgehensweisen wie der Repetory-Grid-Methodik oder der Konversationsanalyse reichen. Mit dieser inhaltlichen wie methodischen Vielfalt nimmt diese Veröffentlichung im Rahmen der vorliegenden Forschungsliteratur in der Sozialen Arbeit einen besonderen Platz ein und erfüllt gerade deshalb einen innovativen und inspirierenden Charakter für die zukünftige Entwicklung dieses Forschungsfeldes. Es ist und bleibt wichtig, gelungene Beispiele über die anregende Anwendung von Methoden, über gelungene Entwicklungen von Forschungsfragen und über überzeugende Auswertungsverfahren verfügbar zu machen. Die unterschiedlichen Entstehungskontexte der Beiträge und die dabei deutlich werdenden Förderungsstrukturen, z.B. DFG-finanzierte Forschungen, Unterstützung über andere Drittmittelgeber (Stiftungen, Ministerien etc.), Dissertationen/Promotionsstipendien etc. verweisen schließlich noch einmal nachdrücklich auf die zunehmende Vielfalt dieses Forschungsfeldes. Der Band gliedert sich in drei Teile: Ein erster Teil stellt Studien aus dem engeren wie weiteren Kontext Sozialer Arbeit vor, im Konkreten deren Forschungsfragestellung, Forschungskonzeption, methodische Vorgehensweisen sowie einzelne Ergebnisse. Hierbei heben einige Beiträge ihre Befunde in den Vordergrund, andere ihre methodischen Vorgehensweisen. Die Beiträge im zweiten Abschnitt des Bandes beziehen sich nicht auf einzelne Forschungsprojekte, sondern beschäftigen sich als Forschungsessays mit Aspekten von übergreifender Relevanz für die empirische Forschung in der Sozialen Arbeit. Der dritte Abschnitt widmet sich schließlich forschungsmethodischen Fragen. Gestaltet als Supplemente werden hier Verfahrensweisen der Datenerhebung wie der Datenauswertung behandelt. Das Besondere daran ist, dass sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – im unmittelbaren Bezug zu denjenigen Forschungsprojekten erläutert werden, die im ersten Abschnitt ausführlich vorgestellt wurden. Diese Anbindung an eine konkrete Studie erhöht dabei die Anschaulichkeit abstrakter methodischer Vorgehensweisen erheblich. Mit der Aufteilung in die drei genannten Kapitel verlässt der Band bewusst das klassische Muster von Sammelbänden zu Forschungsprojekten eines Handlungsfeldes. Mit den forschungstheoretischen Reflexionen wird der Blick über einzelne Studien hinweg auf grundlegende forschungspolitische und methodologische Fragestellungen geöffnet, die im For-

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schungsalltag nicht selten, wenn überhaupt, nur randständige Aufmerksamkeit erfahren. Mit dem forschungsmethodischen Schwerpunkt nimmt der Band bewusst Elemente eines allgemeinen Forschungshandbuches auf, will jedoch die vorgetragenen Methoden mit Rückgriff auf ausführlicher behandelte Studien wesentlich stärker veranschaulichen und damit besser zugänglich machen, als es üblicher Weise in diesen Handbüchern möglich ist. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die einzelnen Beiträge gegeben werden: Im ersten Beitrag von Julia Günther, Frank Nestmann und Jillian Werner geht es um soziale Netzwerke von Kindern. Diese sind für sie als Sozialisationsinstanzen ebenso von Bedeutung wie als „Begleitschutz und Stresspuffer“, und dies gerade in Bezug auf die vielfältigen spannungs-und konfliktgeladenen Übergänge, die Kindheit und Jugendphase für die Einzelnen bereit halten. Dies gilt generell für alle Kinder, für Kinder in öffentlicher Erziehung jedoch in inbesonderem Maße (S. 25). Ziel der Untersuchung ist es, eine Analyse sozialer Netzwerke von Kindern vorzunehmen, und zwar von Kindern, die im Rahmen stationärer erzieherischer Hilfen in Heimen bzw. Pflegefamilien aufwachsen, im Vergleich zu Kindern, die in ihren Herkunftsfamilien leben. Die qualitativ angelegte Untersuchung orientiert sich an einem Theoriemodell sozialer Beziehungen, das „neben strukturellen Netzwerkparametern die eher funktionalen und prozessual-interaktiven Dimensionen von sozialer Unterstützung, Regulation bzw. Kontrolle sowie sozialer Konflikte als signifikante und voneinander getrennt operationalisierbare Beziehungsaspekte postuliert“ (S. 28). Auf dieser Grundlage sollen Ressourcen wie Belastungen der untersuchten sechs- bis zwölfjährigen Kinder in ihren sozialen Netzwerken erfasst werden. Entsprechend den unterschiedlichen theoretischen Facetten der Fragestellung nutzt die Studie auch unterschiedliche Datenerhebungsmethoden: Die Erstellung von Karten der sozialen Netzwerke sowie strukturierte Befragungen der Kinder, Vignetten mit zu vervollständigenden Geschichten, von denen nur die Anfänge mitgeteilt sind, sowie Aktenanalysen der entsprechenden Jugendamtsakten. Sieht man einmal von der Aktenanalyse ab, dann nimmt die Studie eine eindeutige Positionierung vor: Sie konzentriert sich auf die Erfassung der subjektiven Sicht der befragten Kinder und konfrontiert diese erst im zweiten Schritt mit den professionellen bzw. institutionellen Perspektiven, wie sie in den Amtsakten repräsentiert sind. Die z.T. eklatanten Diskrepanzen, die sich in den Untersuchungsergebnissen zwischen den beiden Sichtweisen zeigen, plädieren überdeutlich für die Notwendigkeit, zur Bearbeitung von Fragestellungen, wie der hier verfolgten, die Sicht der Kinder an prominenter Stelle mit einzubeziehen (S. 45). Hier wird eine Studie vorgestellt, die nicht nur theoretisch und methodisch anspruchsvoll ist, sondern auch ausgesprochen interessante Einblicke in die Lebenswelten von Kindern in öffentlicher Erziehung/Jugendhilfe ermöglicht. Heinz Messmer und Sarah Hitzler beziehen sich in ihrem Beitrag auf das Hilfeplangespräch als einem der zentralen Schlüsselprozesse im Verlauf einer ‘Hilfe zur Erziehung’. Sie zielen mit ihrer Studie darauf ab, „die dem Hilfeplangespräch innewohnenden Rationalitäten institutionellen Handelns systematisch“ zu beschreiben und freizulegen (S. 52). Mit ihrem qualitativen Vorgehen und dem Einsatz der Konversationsanalyse als Datenerhebungsmethode stellen sie ihre Forschungsfragen in einer vergleichweise offenen Form: „Was ist ein Hilfeplangespräch? Was geschieht darin tatsächlich“ und welche Ablauf- und Entscheidungsprozesse vollziehen sich hierbei? (ebd.) Als Datengrundlage dienen ihnen auf Tonträger aufgezeichnete Hilfeplangespräche, ergänzt durch Interviews mit den fallführenden SozialarbeiterInnen und deren Leitungskräften sowie einer Aktenanalyse zu den jeweiligen Fällen.

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Vor dem Hintergrund elaborierter Ausführungen zum methodischen Vorgehen (s. auch den Beitrag vom Hitzler/Messmer zur Konversationsanalyse im dritten Abschnitt dieses Bandes) stellt der Text zentrale Ergebnisse der Studie vor. Trotz der Einzigartigkeit jedes einzelnen Hilfeplangesprächs beschreiben die AutorInnen eindrücklich, dass immer wieder ähnliche Formen von Prozessen der Klientifizierung, von Mechanismen der Entscheidungsfindung oder vergleichbare Muster des Lavierens zwischen inkompatiblen Handlungsanforderungen sichtbar werden (S. 61). Sich der Frage nach der Generalisierbarkeit der Ergebnisse gesprächsanalytischer Forschung stellend macht der Beitrag deutlich, dass trotz aller Besonderheit der einzelnen Interaktionen mithilfe des konversationsanalytischen Vorgehens grundlegende Praxisroutinen der Sozialen Arbeit sichtbar und analysierbar gemacht werden können. Die „Sozialkapitalstudie“ (S. 66) von Sandra Landhäußer und Holger Ziegler schließt an die Diskussionen zur Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit an. Aus dem umfangreichen Spektrum der der Studie zugrunde gelegten Fragestellungen fokussiert dieser Beitrag die quantitative Sozialkapitalanalyse. Sie richtet ihr Augenmerk zum einen auf die Verteilung von kollektivem Sozialkapital auf der lokalen Ebene im Putnamschen Sinne sowie zum anderen auf jenes individuelle Sozialkapital, das auf Ressourcen und Netzwerke der Einzelnen im Bourdieuschen Sinne verweist. Vor dem Hintergrund einer Skizzierung der theoretischen Grundlagen von Putnam und Bourdieu arbeitet die Untersuchung empirisch fundierte Informationen über den Umfang und die Verteilung der genannten Sozialkapitalformen bei „sozial Marginalisierten“ eines „benachteiligten Stadtteils“ heraus und unterlegt damit die bislang schwerpunktmäßig theoretisch geführte Sozialraumdebatte mit empirisch gehaltvollen Informationen. Methodische Grundlage ist eine repräsentative Befragung von ca. 500 BewohnerInnen einer mittelgroßen westdeutschen Großstadt. Anhand einer explorativen Hauptkomponentenanalyse, deren Vorgehen detailliert im dritten Abschnitt dieses Bandes erläutert wird, und einer sich daran anschließenden Clusteranalyse wird eine Gruppierung der Befragten hinsichtlich der Verteilung der von ihnen beschriebenen Sozialkapitalien vorgenommen. Es zeigt sich z.B., dass es der wesentlichen Zielgruppe Sozialer Arbeit keinesfalls, wie häufig unterstellt, per se an Sozialkapital mangelt, bestenfalls an speziellen Formen von Sozialkapital (S. 73). Einfache Reaktionsweisen, in sogenannten Sozialen Brennpunkten vornehmlich Soziales Kapital der Bevölkerung aktivieren zu wollen, scheinen infolgedessen als unangemessen. Will Soziale Arbeit sozialraumorientiert ansetzen, dann ist, so ein Fazit der Studie, ein deutlich differenzierteres Vorgehen gefordert. Im Fokus der Untersuchung von Christof Beckmann, Katja Maar und Mark Schrödter steht das professionelle Handeln in modernen Dienstleistungsorganisationen Sozialer Arbeit. Es geht um den „Zusammenhang zwischen Professions- und Organisationsbindung“ von MitarbeiterInnen (S. 89) und um die Frage, „welche Haltung professionelle Sozialpädagogen in unterschiedlichen organisatorischen Kontexten zu ihrer Einrichtung und zu ihrer Profession einnehmen“ (S. 80). Vor dem Hintergrund institutioneller und organisationeller Modernisierungsprozesse untersuchen die AutorInnen diesen Zusammenhang in Abhängigkeit von unterschiedlichen, mehr oder weniger manageriell bzw. bürokratisch geprägten Einrichtungstypen. Sie greifen hierbei auf „eine Kombination von „quantitativem“ Survey und „qualitativer“ Inhaltsanalyse“ zurück (S. 89). Mittels einer Clusteranalyse lässt sich eine Typologie der beobachteten Einrichtungen als bürokratische, kollegiale oder managerielle Organisation rekonstruieren. Zwei ergänzende qualitative Fallstudien (Gruppendiskussionen) untersuchen die Art und Weise, wie sich die Organisations- und Professionsbindungen darstellen. Die Ergebnisse können Sand in die managerielle Betriebsamkeit von Organisationen Sozialer Arbeit streuen. Denn es deutet sich an, dass für die alltägliche, professionelle Arbeit in Organisationen weniger die

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Qualitätssemantik bestimmend ist als vielmehr „der Konsens in drängenden Fragen über die Maßstäbe der eigenen Arbeit, der durch den Professionshabitus erzeugt wird“ (S. 91). Eben diese Verständigung scheint „Profiorganisationen“ gegenüber „Maschinenorganisationen“ auszuzeichnen und weniger das manageriell abgesicherte Qualitätsprocedere. Der Beitrag von Ellen Bareis und Claus Reis stellt ebenfalls die organisationelle Seite der Sozialen Arbeit in den Mittelpunkt. Unter einer organisationsbezogenen Perspektive wird der Prozess der Implementierung von Frühförderprogammen in Kindertagesstätten in den Blick genommen und die Frage gestellt, was die organisatorischen Voraussetzungen einer erfolgreichen Implementation pädagogischer Programme, hier in Kindertagesstätten, sind. Wie schaffen es Organisationen wie die hier beobachteten Kindertagesstätten und die darin Beschäftigten, in ihrem Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsalltag die unterschiedlichen Ansprüche der beteiligten Akteure in Einklang zu bringen? (S. 98) Vor dem Hintergrund ihres organisationssoziologischen Theorierahmens, verbunden mit Überlegungen zur Strukturierung personenbezogener Dienstleistungen, werden Kindertagesstätten einerseits mittels Befragungen des Personals sowie andererseits anhand von Interaktionsbeobachtungen untersucht. Im Mittelpunkt stehen dabei die Implementations- und Umsetzungsbemühungen der Erzieherinnen bei der Durchführung von zwei Frühförderprogrammen (zum Spracherwerb und Zahlenverständnis). Trotz gleicher bzw. weitgehend ähnlicher Grundbedingungen der untersuchten Organisationen zeigen sich deutliche Unterschiede bei der Implementierung wie Realisierung der Programme, ebenso wie eine Umsetzung anhand unterschiedlicher Formate, die von den AutorInnen als Labor, Schule und soziale Gruppe charakterisiert werden. Die Unterschiedlichkeit, mit der sich die Realisierung identischer und zudem recht schematischer Bildungsprogramme im beruflichen Alltag von Organisationen der Jugendhilfe vollzieht, kann verblüffen und ermöglicht einen empirisch gestärkten Blick auf die Eigenständigkeit organisationeller Entwicklungen. Die Studie von Werner Thole, Peter Cloos, Stefan Köngeter und Burkhard Müller macht unmittelbar das pädagogische Handeln zum Gegenstand empirischer Aufklärung (S. 115). Es geht den Autoren um die Rekonstruktion vorfindbarer Praktiken, Deutungen und räumlicher Bedingungen in der Kinder- und Jugendarbeit, wozu ein sich explizit ethnographisch verstehendes Forschungsprogramm eingesetzt wird. Dieses methodische Vorgehen ermöglicht eine Analyse des Geschehens anhand von teilnehmender Beobachtung,3 von Gesprächsprotokollen, Protokollen von Interaktionssequenzen sowie nachträglichen Befragungen von Beteiligten. Die Skizzierung des Verlaufs der Studie beschreibt den Weg von der vielfältigen Materialgewinnung über die gewählte Methodik zur Rekonstruktion der erhobenen Praktiken, Rahmungen, Regeln etc. bis hin zur Frage, wie mit der Herausforderung der Generalisierung des Gefundenen umgegangen werden kann. Die exemplarisch vorgetragenen Ergebnisse verleihen der Kinder- und Jugendarbeit als pädagogischem Ort Plastizität, illustriert anhand von Regeln professionellen Handelns, die auf anschauliche Weise aus dem Material rekonstruiert werden. Der Beitrag verweist mit seinen Ergebnissen wie seinen methodologischen Reflexionen auf die empirischen Möglichkeiten ethnografischer Forschung, insbesondere mit Blick auf in situ-Forschung zur Rekonstruktion pädagogischer Handlungsvollzüge, aber auch auf die fortwährende performative Herstellung des Handlungsfeldes selbst. Vor dem Hintergrund der vorgetragenen Ergebnisse werden schließlich theoretische Überlegungen zu den bildungsspezifi3

Zum methodischen Verfahren der teilnehmenden Beobachtung vgl. den Beitrag von Anja Tervooren im dritten Abschnitt dieses Bandes.

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schen Besonderheiten der Kinder- und Jugendarbeit – nicht zuletzt in Abgrenzung zur Schule – zur Diskussion angestellt. Der Beitrag von Petra Richter und Andreas Hanses thematisiert einen bislang eher randständigen Bereich Sozialer Arbeit, nämlich Soziale Arbeit im Gesundheitswesen. Er tut dies jedoch anhand einer grundlegenden, auch für weitere Bereiche relevanten Fragestellung, nämlich die soziale und biographische Konstruiertheit von Problemlagen und die Herstellungspraxis professioneller Bezugnahmen, hier am Beispiel von Krankheit (S. 138). Grundlage ihrer Arbeit sind die Ergebnisse einer qualitativen Studie zum Thema Brustkrebserkrankungen. Die biografischen Interviews rekonstruieren unterschiedliche Haltungen zur eigenen Erkrankung, zum Gesundheitssystem sowie zu den machtvollen Deutungen der Ärzte. Im Mittelpunkt stehen die mit ungleicher Macht ausgestattete Arzt-Patient-Interaktion, die empirische Rekonstruktion unterschiedlicher Wissensordnungen und die Relationierung zwischen ihnen. Eben dies bildet auch die Klammer zur Sozialen Arbeit: „Biographie ist somit nicht als alleiniger Verweis auf das Eigene, Erstpersönliche, das Subjektive zu sehen, sondern immer auch als die Hervorbringung eines sozialen Akteurs, der das Eigene vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wissens produziert“ (S. 148). Als Fazit der Studie deutet sich an: „Klassische Konzepte expertokratischer Perspektiven auf professionelles Handeln“ scheinen selbst in der Medizin nicht wirklich produktiv zu halten zu sein (S. 149). Mit der Thematisierung von Gesundheit und Krankheit befasst sich auch der Beitrag von Uwe Flick und Gundula Röhnsch. Sie untersuchen in ihrer qualitativen Studie die Situation von obdachlosen chronisch kranken Straßenjugendlichen im Hinblick auf deren gesundheitliche Situation. Es geht um die Frage, was diese Jugendlichen unter Gesundheit verstehen und welches Gesundheitsverhalten sie zeigen. Als Grundlage dienen Informationen aus 24 Interviews mit obdachlosen kranken Jugendlichen, ergänzt um Informationen aus systematischen Beobachtungen der jugendlichen Obdachlosenszene. Die so gewonnenen Einblicke in die Lebenswelt, die Perspektiven und Umgangsweisen der betroffenen Jugendlichen mit ihren gesundheitlichen Problemen werden um die Sichtweisen von Professionellen, die im Kontakt zu diesen Jugendlichen stehen (Ärzte wie Sozialarbeiter), erweitert. Methodisch setzt die Datenerhebung mit drei unterschiedlichen Verfahren an: Zur Befragung der Jugendlichen wird das episodische Leitfaden-Interview genutzt, dessen Vorgehensweise als Supplement im dritten Teil dieses Bandes näher erläutert wird. Weiterhin werden eine Beobachtungsstudie sowie schließlich leitfadengestützte Experteninterviews zur Befragung der Professionellen eingesetzt. Die Studie trianguliert die verschiedenen Perspektiven auf die Lebenssituation und -weise der Jugendlichen, ein Vorgehen, das ebenfalls als Supplement im letzten Abschnitt dieses Bandes näher erläutert wird. Anhand des gewonnenen Datenmaterials kann eine Gruppierung der Jugendlichen entlang von Gemeinsamkeiten wie Unterschieden der einzelnen Fälle vorgenommen werden, welche wiederum fallübergreifende Deutungs- und Handlungsmuster der Jugendlichen analysierbar werden lassen (S. 154). Die bislang wenig beachtete Untersuchungsthematik (obdachlose Straßenjugendliche und soziale Verarbeitung chronischer Erkrankungen im Jugendalter) einerseits wie die explizite forschungsmethodische Orientierung an einer Triangulation andererseits stellen hohe Anforderungen an eine Studie und einen empirisch begründeten Zugang zu dieser komplexen Thematik. Die quantitative Untersuchung von Alexandra Klein will ebenfalls jugendliche Sichtweisen auf deren Alltag rekonstruieren. Sie untersucht das Sexualverhalten und sexuelle Wertvorstellungen von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen und bezieht sich in kritischer Weise auf einen öffentlichen Diskurs, der von sexueller Verwahrlosung junger Menschen heute ausgeht.

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Die empirisch erhobenen Aussagen zu sexuellen Beziehungserfahrungen, Beziehungswerten und Beziehungspraxen werden in den Zusammenhang mit der ungleichen Verteilung von Verwirklichungsmöglichkeiten gestellt. Die repräsentativ angelegte telefonische Befragung zeigt, dass im Mittelpunkt der sexuellen Einstellungen der jungen Menschen der Wunsch nach sexueller Treue steht und dass somit auch im „21. Jahrhundert die sexuell monogame Beziehung das übergreifende Beziehungsideal junger Männer und Frauen“ ist (S. 176). Öffentlich geführte Reden von sexueller Verwahrlosung der Jugend lassen sich damit als „moral panic“ entlarven. Nicht zuletzt mit Blick auf die Soziale Arbeit wird hier offensichtlich, dass „sexuelle Handlungs- und Daseinsmöglichkeiten im Kontext ungleicher materieller und symbolischer Begrenzungen sowohl empirisch als auch theoretisch zu analysieren“ sind (S. 177). Will sich Soziale Arbeit, beispielsweise im Zusammenhang der Debatten um die „neue Unterschicht“, nicht unkritisch an dieser moralischen Panikmache beteiligen, sind die Ergebnisse dieser Studie höchst aufschlussreich. Die Forschungsarbeit, die dem Beitrag von Nina Thieme zugrunde liegt, richtet ihren Blick ebenfalls auf die Adressaten der Sozialen Arbeit, allerdings vermittelt über die Sichtweise der Professionellen. Es geht um die empirische Erfassung von „Hin-Sichten“ auf die Adressaten, die die Autorin als Praxen der Zuschreibung versteht, als „Sprechen-Über“ und als machtvollen Modus der Bestimmung des Adressaten in den Interaktionen der Sozialen Arbeit. Ihr Vorgehen der empirischen Analyse setzt, anders als es vielleicht zu erwarten wäre, nicht als in situForschung an, sondern mit dem ausgefeilten kategorisierenden Datenerhebungsinstrument des Repetory-Grid-Verfahrens. Hierbei handelt es sich um ein systematisierendes Interviewverfahren, in dem den InterviewpartnerInnen – hier den Professionellen der Sozialen Arbeit – der Gesprächsgegenstand – nämlich die Kategorie Adressat – als Bestandteile einer Diskriminationsaufgabe vorgelegt wird, bei der die Gruppierung von Adressaten anhand von Gemeinsamkeiten und Unterschieden vorzunehmen ist (S. 185). Weitergehende Ausführungen zu diesem ebenso interessanten wie wenig genutzten Datenehebungsverfahren finden sich ebenfalls als Supplement im dritten Teil dieses Bandes. Als eines der zentralen Ergebnisse stellt sich heraus, dass die Professionellen die Adressaten als „defizitäre Wesen“ betrachten (S. 189), und dies notwendigerweise, weil ansonsten Hilfegewährung, ein zentraler Fokus Sozialer Arbeit, nicht gerechtfertigt zu sein scheint.4 Auch wenn sich dieses Ergebnis letztlich mit dem ‘Alltagsverstand’ in der Sozialen Arbeit deckt, kann die Studie, insbesondere aufgrund der systematisierenden empirischen Rekonstruktion, einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Professionsforschung liefern. Die Studie von Veronika Magyar-Haas fokussiert, ebenso wie weitere Beiträge in diesem Band (z.B. Günther/Nestmann/Werner; Hanses/Richter; Flick/Röhnsch oder Klein), konsequent die Seite der AdressatInnen oder NutzerInnen von Angeboten Sozialer Arbeit – hier von Angeboten der Jugendarbeit. Die Forschungsfrage lautet: Wie positionieren sich Jugendliche in einem sozialpädagogisch arrangierten Setting körperlich-leiblich? Wie schaffen sie in sozialen Situationen ihre ‘plastischen’ Grenzen in der Abgrenzung selbst und in der Aushandlung mit anderen? (S. 196) Von besonderer Bedeutung ist hierbei, wie und mit welchen Mitteln Nähe und Distanz sowie Zuwendung und Abwendung inszeniert und performiert werden. Als Datenerhebungsmethode setzt die Autorin die Videografie ein, die zum methodischen Ausgangspunkt der Datengenerierung wie deren Auswertung wird. Sie greift damit auf eine interessante allerdings bislang wenig genutzte empirische Vorgehensweise zurück und kann aufzei4

Vgl. hierzu auch die Untersuchung von Heinz Messmer und Sarah Hitzler in diesem Band.

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gen, wie sich diese für spezifische Fragestellungen der Sozialen Arbeit produktiv nutzbar machen lässt. Der Artikel von Susann Fegter ist, ähnlich dem von Veronika Magyar-Haas, weniger die Präsentation eines abgeschlossenen Forschungsprojekts als vielmehr die Entfaltung von Überlegungen mit dem Ziel, „diskursanalytische Perspektiven auf Photographien und deren Einbezug in entsprechende Untersuchungen zur Herstellung sozialpädagogischen Wissens in öffentlichen Diskursen“ (S. 217) zu entfalten. Beiden Beiträgen ist zudem gemeinsam, dass sie auf visuelle Daten rekurrieren. Susann Fegter verweist zunächst auf die Anschlussfähigkeit von Photographien für diskursanalytische Forschung,5 um vor diesem Hintergrund Ansätze zur Analyse von Photographien vorzunehmen. Als Beispiel dient ihr eine Zusammenstellung einer Reihe von Photographien von Jungen, die von einer Zeitschrift als Aufmacher für einen Artikel über „die Krise der Jungen“ genutzt wurde. Wie die einzelnen Photos in einem Gesamtdiskurs eingesetzt werden, wie das Bild von „den Jungen“ gezeichnet wird und welche methodischen Herangehensweisen die Diskursanalyse hierzu bereitstellt, veranschaulicht diese Arbeit in innovativer Weise. Im Mittelpunkt des Beitrags von Kirsten Fuchs-Rechlin, Ana Moya und Matthias Schilling steht der Datenkorpus der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik, der der Forschung in der Sozialen Arbeit/Jugendhilfe seit geraumer Zeit in verbesserter Form zur Verfügung steht. Üblicherweise – nicht selten aus Unkenntnis über die Tatsache bereits vorliegender Daten – arbeiten empirische Forschungsprojekte im Feld Sozialer Arbeit mit Datensätzen, die eigens zum Zweck der jeweiligen Studie erhoben wurden. Vorliegende Daten wie z.B. die der statistischen Landesämter werden dagegen häufig lediglich als Rahmendaten oder als ergänzende Daten verwendet. Die AutorInnen schlagen demgegenüber vor, die Informationen der amtlichen Statistik – hier am Beispiel der Kindertagesbetreuung – als eigenständige Datengrundlage wissenschaftlicher Forschung zu nutzen. Sie geben zunächst einen Überblick über die Informationsbasis, die die entsprechenden amtlichen Statistiken liefern können, um dann anhand zweier exemplarischer Forschungsfragestellungen zu demonstrieren, welche Möglichkeiten für bivariate wie multivariate Analyseverfahren mit diesen Daten tatsächlich gegeben sind. Der Beitrag wirbt mit Nachdruck für die Nutzung des sekundäranalytischen Potenzials amtlicher Statistiken in der empirischen Forschung der Sozialen Arbeit. Die beiden Forschungsessays, die den zweiten Abschnitt dieses Bandes bilden, wollen jenseits der Präsentation einzelner Studien oder methodischer Verfahrensweisen Reflexionen über verallgemeinerbare Fragestellungen empirischer Forschung in der Sozialen Arbeit anregen und beschäftigen sich mit relevanten Querschnittsthemen. Um ein solches Thema handelt es sich zweifelsohne bei der Frage nach den Wirkungen, der Effektivität und der Effizienz Sozialer Arbeit, die in den vergangenen Jahren immer offensiver auf die Agenda empirischer Forschung wie Praxis Sozialer Arbeit gesetzt wurde. Stefanie Albus, Heinz-Günter Micheel und Andreas Polutta fragen in ihrem Forschungsessay danach, welche Forschungszugänge Soziale Arbeit in der Wirkungsfrage benötigt und wie die Ergebnisse sinnvoll und professionell genutzt werden können. Die AutorInnen geben zunächst einen kritischen Überblick über die verschiedenen Facetten des Wirkungsdiskurses in der Sozialen Arbeit, um dann feststellen zu können, welche ambivalenten Konsequenzen sich in den Auswirkungen der Wirkungsforschung für Wissenschaft, Profession und Gesellschaft ergeben können. Dies beziehen sie jedoch nicht auf die Generierung von Wissen über Wirkungen an sich, 5

Zu diskursanalytischen Vorgehensweisen vgl. den Beitrag von Fabian Kessl im Supplement dieses Bandes.

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also nicht auf das, was empirisch getan wird, sondern vielmehr auf das, was nicht getan wird. Dabei geht es u.a. darum, dass die „Frage der Normativität sozialpädagogischer Forschung und Praxis“ häufig nicht oder nicht offensiv genug gestellt wird (S. 250). Diese normative Perspektive einzunehmen und darüber „Bewertungsprozesse mit unterschiedlichen Akteuren anzustoßen, sind zentrale Haltungen und Anliegen einer notwendigen kritischen Wirkungsdebatte“ (ebd.). Es gehe nicht um die vielfach vorgenommene simplifizierende Untersuchung einzelner Programme – so die kritische Beurteilung eines größeren Teils der vorliegenden Wirkungsstudien – sondern um „methodologisch und methodisch adäquate Forschungsdesigns“, um das Zurverfügungstellen von Wissen zur „Unterstützung von Professionalisierungebestrebungen und Entscheidungsspielräumen“ der Praktiker sowie um die „Rückbindung der Forschungsinhalte an fachtheoretische Auseinandersetzungen über Ziele, Werte und Aufgaben Sozialer Arbeit“ (ebd.). Damit wird keine geringe aber eine notwendige Anforderung gestellt, wenn der Anspruch auf reflektierte, kritische Forschung aufrecht erhalten werden soll. Das zweite Forschungsessay von Andreas Walther rückt eine Frage in den Vordergrund, von der man vorschnell annehmen könnte, sie sei bereits ausreichend beantwortet, nämlich die Frage nach der Begründung internationaler Vergleichsstudien in der Sozialen Arbeit. Walther verdeutlicht hingegen, dass hier noch manches ungeklärt ist. Er zeigt drei wesentliche Desiderata auf: Die Klärung der Funktion vergleichender Forschung, die Bestimmung des Gegenstands sozialpädagogischer Vergleichsforschung sowie die Entwicklung eines Modells, anhand dessen Unterschiede wie Gemeinsamkeiten verschiedener Figurationen Sozialer Arbeit in unterschiedlichen Ländern überhaupt erst sinnvoll analysierbar werden können. Er wählt als Analysemodell ein Verständnis von Sozialer Arbeit als ‘Hilfe bei der Bewältigung des Lebenslaufs’ (Böhnisch) und damit eine Vorstellung von Lebenslaufregimes, die er am Beispiel von Übergangsprozessen bei Jugendlichen aus dem Bildungssystem in Arbeit ausführt. Unter der Überschrift: „Wozu Vergleich, was vergleichen und wie die Befunde erklären?“ (S. 254) führt er vier denkbare Funktionen empirischer sozialpädagogischer Vergleichsforschung an, die von ‘reiner’ Beschreibung des Fremden bis zur Übertragung erfolgreicher Praxisansätze aus dem Ursprungs- in andere Kontexte reichen. Als Vorschlag dessen, was – mit Blick auf das zweite Desiderat – Gegenstand sozialpädagogischer Vergleichsforschung, also das tertium comperationis eigentlich sein soll, schlägt er die ‘Organisierung des Lebenslaufs‘ vor (Schefold) und als Schlüssel für den Vergleich in der Sozialpädagogik die Untersuchung, „wie sich gesellschaftliche Normalitätsannahmen und Normalisierungsweisen in jeweils unterschiedlichen Konstruktionen von Hilfebedarf niederschlagen, aus denen sich wiederum unterschiedliche Zugänge zu sowie Formen und Ziele von Hilfe ableiten lassen“ (S. 256). Fundiert auf einer breiten Grundlage an Erfahrung und Wissen über vergleichende Forschung füllt Walther – zum dritten – sein analytisches Gerüst mit Überlegungen, die ein Bild der notwendigen Komplexität solcher Vergleichsperspektiven bei dennoch guten Realisierungsmöglichkeiten empirischer Vergleichsforschung aufscheinen lassen. Er erweckt damit die zunächst vielleicht als etwas ‘trocken’ anmutende internationale Vergleichsarbeit zu analytischem wie erfahrungsreichem ‘Leben’. Das Reflexionspotential von Vergleichsstudien zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass mit jeder neuen Perspektive auf Soziale Arbeit, die vermittels des „Wissens über andere“ entsteht, zugleich eine kritische Reflexion der eigenen Perspektive angestoßen wird. Dieses Forschungsessay motiviert förmlich, häufiger als bislang (international) vergleichende Studien in der Sozialen Arbeit durchzuführen. Die acht im dritten Abschnitt dieses Bandes zusammengestellten methodischen Beiträge konzentrieren sich auf die Darstellung, Erläuterung und Analyse methodischer Vorgehensweisen

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bzw. Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung. Die vorgenommene Zusammenstellung berücksichtigt solche Verfahren, die im Forschungskontext Sozialer Arbeit bislang eher weniger bekannt sind wie bspw. das Paarinterview oder die Repetory Grid Methodik, ebenso aber auch häufiger eingesetzte Verfahren wie etwa die teilnehmende Beobachtung oder die Hauptkomponentenanalyse. Alle methodischen Beiträge entfalten ausführlich das jeweils vorzustellende Verfahren und erläutern es im Rückgriff auf exemplarische Studien. Hierbei beziehen sie sich größtenteils unmittelbar auf die im ersten Teil dieses Bandes vorgestellten Studien, in den wenigen übrigen Beiträgen werden die dargestellten Verfahren anhand exemplarisch vorgestellter Untersuchungen aus dem weiteren Kontext Sozialer Arbeit erläutert. Die Beiträge zeigen die empirischen Möglichkeiten und Grenzen der methodischen Vorgehensweise auf und diskutieren die theoretischen wie methodologischen Grundlagen. Wenngleich sich die hier versammelten Aufsätze auf übergreifende forschungsmethodische Ausführungen konzentrieren, so bleiben sie dennoch sämtlich im engen Bezug zur Sozialen Arbeit. Bei drei der vorgestellten Verfahren handelt es sich um Methoden der Befragung. So zielt das episodische Interview im ersten Beitrag dieses Abschnittes darauf, sowohl semantisches als auch episodisches, also situativ-gestütztes Wissen von InterviewpartnerInnen zu erfassen. Erläutert wird es von Uwe Flick unmittelbar in Ergänzung zu seiner oben zusammen mit Gundula Röhnsch präsentierten Studie zum Gesundheitsverhalten von Straßenjugendlichen. Das zweite hier aufgezeigte Interviewverfahren, die Repetory Grid Methodik, wird von Nina Thieme mit Bezug auf ihre hier ebenfalls veröffentlichte Studie ausgeführt. Dabei geht es um die Herausarbeitung persönlicher Konstrukte – in diesem Kontext um Adressatenkonstrukte aus der Sicht von Professionellen. Die Repetory Grid Methodik ermöglicht eine Verbindung zwischen einem quantitativen Vorgehen bei der Erfassung der Konstrukte mit einem qualitativen Vorgehen zu deren narrativer Fundierung. Das Paarinterview, die dritte hier aufgenommene Interviewvariante, wird von Nadine Lauer am Beispiel einer Studie zur Sozialpädagogischen Familienhilfe erörtert. Es betont den Zugang zu kollektiven Konstruktionsleistungen von Paaren resp. von Familien bzw. Gruppen und die Möglichkeiten, über die erweiterte Gesprächssituation im Paarinterview den damit entstehenden performativen Raum für die Forschung in der Sozialen Arbeit zu nutzen. Anja Tervooren setzt sich mit den Möglichkeiten der teilnehmenden Beobachtung auseinander, einem zwar klassischen Verfahren der Datenerhebung, auf das sich jedoch, zumindest in einer elaborierten Weise, das Interesse der empirischen Forschung zu Fragestellungen im engeren wie weiteren Kreis Sozialer Arbeit nach wie vor eher selten richtet. Sie stellt das Vorgehen der teilnehmenden Beobachtung in den Kontext ethnografischer Forschung, veranschaulicht es anhand der Diagnostik bei medizinischen Vorsorgeuntersuchungen von Kindern und lässt damit die Möglichkeiten eines kulturanalytischen Zugangs zu sozialen Praktiken nachhaltig deutlich werden. In gewisser Weise schließt hier der Beitrag von Sarah Hitzler und Heinz Messmer zur Konversationsanalyse an. Ihnen geht es ebenfalls um die Erfassung sozialer Praktiken und um die Beobachtung von Situationen, was sie in Anknüpfung an ihre Studie zu Hilfeplangesprächen in der Jugendhilfe ausführen (s.o.). Im Gegensatz zu klassischen Beobachtungsverfahren konzentriert sich die Analyse hier jedoch auf die systematische Rekonstruktion des Gesprächs, und zwar mit dem Grundanliegen, „soziale Ordnung in ihrer Produktion im Miteinander von Individuen zu beschreiben“ (S. 307). Eine Rekonstruktion Sozialer Praktiken steht, neben einem textanalytischen Fokus, auch im Zentrum der Ausführungen von Fabian Kessl zu diskursanalytischen Vorgehensweisen. Auf

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der Grundlage von drei skizzierten Studien zeigt er die Vielfalt diskursanalytischen Vorgehens, ebenso die analytischen Spielräume wie Begrenzungen, die damit verfügbar werden. In unmittelbarer Bezugnahme auf die von ihm und Gundula Röhnsch oben vorgestellte Studie zum Gesundheitsverhalten von Straßenjugendlichen stellt der Beitrag von Uwe Flick verschiedene Herangehensweisen bei der Kombination unterschiedlicher methodischer Zugänge zu einem komplexen Forschungsgegenstand, der Triangulation, dar. Anhand einer kritischen Reflexion der Optionen, die sich in der Triangulation eröffnen, plädiert er aus forschungspraktischen wie aus ethischen Gründen für ein methodologisches wie methodisches Vorgehen, das sich immer der jeweils verfolgten Fragestellungen anzupassen hat. Der abschließende Beitrag von Sandra Landhäußer und Holger Ziegler zur Hauptkomponentenanalyse beschäftigt sich mit einer Auswertungsmethode für quantitative Datensätze und verfolgt das Ziel, eine Strukturierung von Einzelvariablen vorzunehmen. Schritt für Schritt erläutern sie das Vorgehen anhand eines konkreten Beispiels aus ihrer oben vorgestellten Studie zur Analyse von Sozialem Kapital. Mit ihren detaillierten Ausführungen lassen sie das quantitative Auswertungsverfahren nachvollziehbar werden, welches zwar häufig eingesetzt wird aber für die AnwenderInnen nicht selten lediglich eine beliebige Operation eines Statistikprogramms bleibt, ohne konkret nachzuvollziehen, was hierbei eigentlich mit Blick auf die Aufbereitung und Auswertung der erhobenen Daten geschieht. Ihr Beitrag geht einen Schritt weiter und veranschaulicht, wie anhand der Hauptkomponentenanalyse aus den erhobenen Daten die darin ggf. enthaltenen Muster und Regelmäßigkeiten herausgearbeitet werden können. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren ausdrücklich und herzlich für ihr hohes Engagement, ihre ausgesprochen inspirierenden Beiträge und nicht zuletzt für ihr Verständnis, dass es bei dem doch recht komplexen Produktionsprozess eines solchen vielfältigen Bandes leider zu nicht unerheblichen zeitlichen Verzögerungen gekommen ist. Wir sind aber der festen Überzeugung, dass sich die Mühe für alle Beteiligten am Ende gelohnt haben wird. Den LeserInnen wünschen wir eben jene vielfältigen Anregungen und forschungspraktischen Einsichten, für die die Beiträge in ihrem jeweiligen Diskurskontext stehen wollen. Literatur Bock, Karin; Miethe, Ingrid (Hrsg.) (2010): Handbuch Qualitative Methoden in der Sozialen Arbeit. Opladen und Farmington Hills, Barbara Budrich Cloos, Peter; Thole, Werner (2005): Qualitativ-rekonstruktive Forschung im Kontext der Sozialpädagogik. Anmerkungen zu einigen Fragen und Problemen der sozialpädagogischen Forschungskultur. In: Thole, Werner; Schweppe, Cornelia (Hrsg.): Sozialpädagogik als forschende Disziplin. Theorie, Methode, Empirie. Weinheim und München, Juventa, S. 71 – 96 Eyferth, Hanns; Otto, Hans-Uwe; Thiersch, Hans (Hrsg.) (1984): Handbuch zur Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied und Darmstadt, Luchterhand Heiner, Maja (Hrsg.) (1988): Praxisforschung in der sozialen Arbeit. Freiburg i.Br., Lambertus Hornsten, Walter (1984): Forschung/Forschungspolitik, In: Eyferth, Hanns; Otto, Hans-Uwe; Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch zur Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied und Darmstadt, Luchterhand, S. 371 – 388 Jakob, Giesela; Wensierski, Hans-Jürgen von (Hrsg.) (1997): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Methoden sozialpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. Weinheim und München, Juventa

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Lüders, Christian (1998): Sozialpädagogische Forschung – was ist das? Eine Annäherung aus der Perspektive qualitativer Sozialforschung. In: Rauschenbach, Thomas; Thole, Werner (Hrsg.): Sozialpädagogische Forschung. Gegenstand und Funktionen, Bereiche und Methoden. Weinheim und München, Juventa, S. 113 – 132 Lüders, Christian; Rauschenbach, Thomas (2001): Forschung: sozialpädagogische. In: Otto, Hans-Uwe; Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied, Luchterhand, 2. völlig überarbeitete Auflage, S. 562 – 575 Maykus, Stephan (Hrsg.) (2009): Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe. Theorie, Beispiele und Entwicklungsoptionen eines Forschungsfeldes. Wiesbaden, VS Verlag Miethe, Ingrid; Fischer, Wolfram; Giebeler, Cornelia; Goblirsch, Martina; Riemann, Gerhard (Hrsg.) (2007): Rekonstruktion und Intervention. Interdisziplinäre Beiträge zur rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung. Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit, Band 4. Opladen und Farmington Hills, Barbara Budrich Otto, Hans-Uwe; Oelerich, Gertrud; Micheel, Heinz-Günter (Hrsg.) (2003): Empirische Forschung und Soziale Arbeit. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. München, Luchterhand Thiersch, Hans; Rauschenbach, Thomas (1984): Sozialpädagogik/Sozialarbeit: Theorie und Entwicklung. In: Eyferth, Hanns; Otto, Hans-Uwe; Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch zur Sozialarbeit /Sozialpädagogik. Neuwied und Darmstadt, Luchterhand, S. 984 – 1016 Rauschenbach, Thomas; Thole, Werner (1998): Sozialpädagogik – ein Fach ohne Forschungskultur? In: Dies. (Hrsg.): Sozialpädagogische Forschung. Gegenstand und Funktionen, Bereiche und Methoden. Weinheim und München, Juventa, S. 9 – 28 Schefold, Werner (2002): Sozialpädagogische Forschung. Stand und Perspektiven. In: Thole, Werner (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Opladen, Leske und Budrich, S. 875 – 896 Schrapper, Christian (Hrsg.) (2004): Sozialpädagogische Forschungspraxis. Positionen, Projekte, Perspektiven. Weinheim und München, Juventa Schweppe, Cornelia (Hrsg.) (2003): Qualitative Forschung in der Sozialpädagogik. Opladen, Leske und Budrich Schweppe, Cornelia; Thole, Werner (2005): Sozialpädagogik als forschende Disziplin – Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Sozialpädagogik als forschende Disziplin. Theorie, Methode, Empirie. Weinheim und München, Juventa, S. 7 – 14 Schweppe, Cornelia; Thole, Werner (Hrsg.) (2005): Sozialpädagogik als forschende Disziplin. Theorie, Methode, Empirie. Weinheim und München, Juventa Thole, Werner (1999): Die Sozialpädagogik und ihre Forschung. Sinn und Kontur einer empirisch informierten Theorie der Sozialpädagogik. In: neue praxis, 29.Jg., H.3, S. 224 – 245

I. Empirische Studien

Netzwerkforschung mit Kindern. Eine empirische Studie zu Unterstützungsbezügen in Familie, Pflegefamilie und Heim Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner Die Netzwerk- und Unterstützungsforschung – einer der größten sozialwissenschaftlichen Forschungsbereiche der letzten 30 Jahre – hat sich erst relativ spät in seiner Entwicklung auch den Netzwerken und Unterstützungsbeziehungen von Kindern und Jugendlichen zugewandt. Die entwicklungspsychologische und sozialpädagogische Kindheits- und Jugendforschung andererseits hat auch erst spät die potenzielle Bedeutung sozialer Netzwerke für Entwicklung, Sozialisation und Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen erkannt. Lange standen hier die Mutter-Kind-Beziehung einerseits (in der frühen Kindheitsforschung) und die Gleichaltrigenbeziehung (Peers; in der späten Kindheits- und Jugendforschung) ganz im Mittelpunkt des Interesses, kaum eingebunden in eine komplexere Sicht auf die gesamten Beziehungssysteme der untersuchten Populationen. Erst in den 80er/90er Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen einflussreichere Sammelpublikationen, die soziale Netzwerke und soziale Unterstützung im Kindes- und Jugendalter in ihren viel fassettigen Dimensionen und Effekten zum Thema machten (Belle 1989, Nestmann & Hurrelmann 1994). Diese langjährige empirische (aber auch theoretische und anwendungsbezogene) Zurückhaltung bleibt verwunderlich. Zum einen scheinen soziale Netzwerke als sich im Lebenslauf und in der Personen-Umwelt-Interaktion verändernde und doch auch beständige soziale Einbindungen, die das Leben und Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen vielfältig und nachhaltig beeinflussen. Die Personen verändern sich in und mit ihren Netzwerken und viele entwicklungspsychologische und (sozial-)pädagogische Phänomene sind vor diesem sozialen Beziehungshintergrund analysierbar und rekonstruierbar. Objektive Strukturen und subjektive Interpretationen sozialer Netzwerke sowie die in ihnen ablaufenden Interventionen und Interaktionen liefern neue Erklärungsmöglichkeiten für die Entwicklung persönlichen Denkens, Fühlens und Handelns. Soziale Netzwerke sind zentrale Sozialisationsinstanzen – generell und insbesondere hinsichtlich der Entwicklung sozialer Kompetenzen, sozialer Beziehungen und Interaktionen sowie sozialer Verantwortung (Salzinger, Antrobus & Hammer 1988; Gödde, Walper & Engfer 1996; von Aken, Asendorf & Wilpers 1996). In sozialen Netzwerken entwickeln Kinder und Jugendliche Selbstbild und Selbstwert, persönliche Identität und Autonomie im Spannungsfeld von Integration und Bindung, sozialer Regulation und sozialer Kontrolle andererseits. Soziale Netzwerke und deren soziale Unterstützungsleistungen sind Begleitschutz und Stresspuffer im Leben und gerade in spannungs- und konfliktreichen Lebensübergängen, die Kindheit und Jugendalter reichlich bereithalten (Nestmann & Hurrelmann 1994; Svedham 1994). Gerade dort, wo individuelle Bewältigungskompetenzen, persönliche Erfahrungen der Problembearbeitung und -lösung noch wenig entwickelt, unausgereifter als im Erwachsenenalter sind, liegt es nahe, entsprechende Schutzfunktionen im Netzwerk zu recherchieren (und wo nötig zu implementieren). Sicher haben auch veränderte und rasch wechselnde Beziehungsverhältnisse im Leben vieler Kinder und Jugendlichen heute und die darin liegenden erhöhten Verarbeitungs- und Handlungsanforderungen, die Belastungs- und Konfliktpotenziale, die Risiken und Gefahren der Entwicklungs- und Gesundheitsbeeinträchtigung dazu geführt, dass sich der Blick der Kindheits- und Jugendforschung sozialen Netzwerken und sozialer Unterstützung verstärkt zuwendet. Zunehmend offene und oft G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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nicht vorhersehbare sowie nicht selbst beeinflussbare Beziehungsveränderungen (z.B. durch Trennung und Scheidung der Eltern, durch Leben in allein erziehenden Familien oder durch Familien mit wechselnden erwachsenen Partnern und Geschwistern), horizontale (Orts-) und vertikale (Status-)Veränderungen in Familien, aber auch das Aufwachsen in verschiedenen Formen öffentlicher Erziehung tragen dazu bei, dass komplexere soziale Netzwerke und ihr potenziell entwicklungsflankierender Begleitschutz zum Gegenstand von Kindheits- und Jugendforschung werden. Für die Erforschung und Gestaltung der Sozialisations- und Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen, denen erzieherische Hilfen gewährt werden – vor allem, wenn diese in stationärer Form erfolgen und mit einem Lebensortwechsel verbunden sind –, stellen diese Konzepte eine einzigartige methodisch-theoretische Basis dar, da nicht nur alle (formellen und informellen) sozialen Beziehungen eines Kindes/Jugendlichen unabhängig von Kontaktort und -häufigkeit sowie der Aktualität oder Latenz der Beziehungen erfasst und analysiert werden können, sondern auch deren Zusammenwirken auf das Kind/den Jugendlichen in Form von Kooperation oder Konflikten, Unvereinbarkeiten in Normen und Erwartungen etc. Es können gleichzeitig soziale Ressourcen erschlossen und Defizite bzw. Unterstützungsbedürfnisse aufgedeckt werden, was den professionellen Helferinnen und Helfern neue Handlungsziele eröffnen und bei Nutzung entsprechender Ressourcen auch wesentliche Entlastungen schaffen könnte (Drees 1998). Es konnten positive Zusammenhänge festgestellt werden zwischen der Beschaffenheit und Funktion sozialer Netzwerke (v. a. der Unterstützungsfunktion) und: der Sprachentwicklung von Kindern (Salzinger & Hampson 1988), ihrem Schulerfolg (Cochran & Bø 1989; Cochran & Riley 1990; Dubow & Tisak 1989), ihrer sozialen Kompetenz (Gödde, Walper & Engfer 1996; Vondra & Garbarino 1988), wie auch der kognitiven und motorischen Kompetenz (Gödde, Walper & Engfer 1996), der sozio-emotionalen Entwicklung (Bryant 1985), und dem Selbstkonzept (van Aken & Asendorpf 1997; van Aken, Asendorpf & Wilpers 1996; Blyth & Traeger 1988). Mehrfach nachgewiesen wurden außerdem Zusammenhänge zwischen Merkmalen des sozialen Netzwerks/der sozialen Unterstützung und dem Sozialverhalten bzw. Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen (Cochran & Bø 1989; Dodge, Pettit & Bates 1994; Dubow & Tisak 1989; Gödde & Engfer 1994; Gödde, Walper & Engfer 1996; Kashani et al. 1994; Svedhem 1994; Vondra & Garbarino 1988) sowie der Anzahl selbst berichteter krimineller Aktivitäten (Cochran & Bø 1989). In Bezug auf Kinder, die nicht von Fremdunterbringung betroffen sind, hat die Netzwerk- und Unterstützungsforschung bisher eine ganze Reihe aufschlussreicher Befunde erbracht. Studien mit Kindern und Jugendlichen, die bei ihren Eltern leben, kommen z.B. übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Mütter für Heranwachsende die wichtigste Unterstützungsressource darstellen. Sie stellen im Vergleich zu anderen Netzwerkmitgliedern die größte Bandbreite an Unterstützungsformen bereit (Roos et al. 1995), werden von den Kindern am häufigsten als wichtige und wichtigste Beziehungspartnerinnen angegeben (Roos, Lehmkuhl & Kral 1989; Zinnecker & Strzoda 1996) oder hinsichtlich des Ausmaßes an Unterstützung am höchsten von ihnen bewertet (van Aken, Asendorpf & Wilpers 1996). Insgesamt sind Mütter die am häufigsten genannten Ansprechpersonen bei Problemen (Belle & Longfellow 1984; Furman 1989; Freitag 1995; Meeus 1989).

Netzwerkforschung mit Kindern

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Väter werden in den meisten Untersuchungen ebenfalls als wesentliche Unterstützungsquellen identifiziert, stehen aber in der Regel deutlich hinter den Müttern zurück (van Aken & Asendorpf 1997; van Aken, Asendorpf & Wilpers 1996; Roos, Lehmkuhl & Kral 1989; Zinnecker & Strzoda 1996), mitunter sogar noch hinter den Freunden (Freitag 1995; Frey & Röthlisberger 1994; Meeus 1989; Zelkowitz 1989). Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass niedrige Unterstützung durch die Mutter durch keine andere Unterstützungsquelle als den Vater signifikant kompensiert werden konnte und umgekehrt niedrige Unterstützung durch den Vater nur durch hohe Unterstützung durch die Mutter ausgleichbar war. Obwohl sich die Bedeutung einzelner Unterstützungsquellen mit dem Alter der Kinder verändert und auch mit deren Geschlecht variiert, bleiben Eltern, vor allem aber Mütter, über die ganze Kindheit und das Jugendalter hinweg konstant wichtige Unterstützungspersonen (Belle & Longfellow 1984; Hunter 1985; Hunter & Youniss 1982; Furman 1989; Freitag 1995). Als bedeutsame Unterstützerinnen und Unterstützer gelten jungen Menschen außerdem Freunde. Wie Zelkowitz (1989) zeigen konnte, sehen bereits vier- bis fünfjährige Kindergartenkinder in ihren Freundinnen oder Freunden eine wichtige Unterstützungsquelle. Mit zunehmendem Alter scheint ihre Bedeutung weiter zu steigen und andere Unterstützungsquellen wie z.B. Eltern „einzuholen“ oder in Teilbereichen sogar zu „überholen“ (Belle & Longfellow 1984; Hunter 1985; Hunter & Youniss 1982; Furman 1989; Freitag 1995). Auch weitere Netzwerkmitglieder wie Geschwister, Großeltern, Verwandte oder Klassenkameraden konnten als Unterstützungspersonen identifiziert werden, jedoch meist nachrangig nach Eltern und Freunden oder in eher spezifischer Form bzw. in spezifischen Bereichen. Bezogen auf Kinder, die Fremderziehung in Anspruch nehmen, existierte hingegen kaum empirisch gesichertes Wissen. Zielgruppen bisheriger Netzwerk- und Unterstützungsstudien waren fast ausschließlich Kinder und Jugendliche, die bei ihren Eltern bzw. bei wenigstens einem Elternteil leben. Sieht man von einigen wenigen Untersuchungen mit Klientinnen und Klienten kinder- und jugendpsychiatrischer Einrichtungen ab, standen „fremd untergebrachte“ Kinder und Jugendliche bisher so gut wie nie im Mittelpunkt des Interesses. Die wenigen Netzwerk- und Unterstützungsstudien zu aktuell oder ehemals in Heimen lebenden Jugendlichen zeigen hinsichtlich der Bedeutung verschiedener Beziehungsrollen, dass Eltern und wiederum in erster Linie Mütter auch von diesen Jugendlichen als wichtige und unterstützende Personen wahrgenommen werden (Buysse 1999; Buysse & Laird 1992; Colten 1992; Jansma & van de Vorde 1992; Kolip 1993; Smit & Laird 1992). Doch obwohl Mütter in den beiden Studien, die das gesamte Netzwerk der Jugendlichen erfasst haben, mit größter Häufigkeit als wichtige Netzwerkmitglieder genannt wurden (Buysse 1999; Buysse & Laird 1992), erreichten sie insgesamt nicht die höchsten Unterstützungsbewertungen, sondern wurden i.d.R. von der Liebesbeziehung der Jugendlichen, z. T. aber auch von den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ‚überboten’. Mehr als 60% der aktuell und 34% der ehemals in Heimen lebenden Jugendlichen zählten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zu ihren wichtigsten Beziehungspartnerinnen und Beziehungspartnern. Ein zentraler Mangel der genannten wie der Mehrzahl empirischer Netzwerk- und Unterstützungsstudien überhaupt besteht aber darin, dass im Rahmen rein quantitativer Erhebungsverfahren (Skalen zu wahrgenommener Unterstützung) in korrelativen Mittelwertsvergleichen keine qualitativen Profile und personenspezifischen Verteilungsmuster von Unterstützungsrollen innerhalb der Netzwerke rekonstruiert werden konnten (s. Nestmann 1991).

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Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner

Zudem erscheint es als eine wesentliche Aufgabe, nicht nur nach den Unterstützungsressourcen des Netzwerks von Kindern zu fragen, sondern auch nach den Dimensionen sozialer Regulation und Kontrolle sowie nach den Belastungen durch soziale Konflikte (Kolip 1993; von Aken, Asendorff & Wilpers 1996). Was in all diesen Untersuchungen nicht berücksichtigt wurde, ist, wie die Kinder selbst ihre Beziehungssituation innerhalb der Familie im Hinblick auf Unterstützung und Belastungen erleben und wie die Kinder ihre außerfamilialen Beziehungen charakterisieren. Es fehlen eine zusammenfassende Analyse der Ressourcen und Belastungen des gesamten Netzwerks und das Verteilungsmuster dieser Funktionen in den spezifischen Netzwerksektoren der Kinder und Jugendlichen. Zielsetzung der Untersuchung „Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung von Kindern in Heimerziehung“ Hauptziel der als vergleichende qualitative Untersuchung konzipierten Studie ist die erstmalige Analyse der sozialen Netzwerke von Kindern, die stationäre erzieherische Hilfe in einem Heim oder in einer Pflegefamilie in Anspruch nehmen im Vergleich zu Kindern, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen. Im Vordergrund steht dabei neben der Erfassung struktureller Netzwerkdimensionen die vergleichende Analyse qualitativer Netzwerkcharakteristika, in dem die sozialen Unterstützungsleistungen, sozial kontrollierende und regulierende Effekte aber auch Belastungen und Konflikte, die von für das Kind signifikanten Personen ausgehen, erhoben werden. Die Studie bezieht sich in ihrer Empirie hier auf ein von House, Umberson & Landis (1988) vorgeschlagenes Theoriemodell sozialer Beziehungen, das neben strukturellen Netzwerkparametern die eher funktionalen und prozessual-interaktiven Dimensionen von sozialer Unterstützung, Regulation bzw. Kontrolle sowie sozialer Konflikte als signifikante und voneinander getrennt operationalisierbare Beziehungsaspekte postuliert. Ein zentrales Forschungsanliegen ist die Erfassung von Ressourcen, aber auch Belastungen, die Heim- und Pflegekinder in ihren gesamten sozialen Netzwerken erfahren. Damit soll ein Beitrag zur Klärung der sozialen Situation von Kindern geleistet werden, deren familiäre Situation erzieherische Hilfe als stationäre Unterbringung außerhalb ihres Elternhauses notwendig macht. Die Studie geht über die bisher im Kontext von Heimerziehungsforschung und Forschung zum Pflegekinderwesen geleisteten Analysen hinaus, da sie sich nicht nur auf einzelne Beziehungskontexte wie Familie oder Pflegefamilie, sondern auf das Gesamtsystem der für das Kind signifikanten Personen, sein soziales Netzwerk, bezieht und gleichzeitig die einzelnen Unterstützungsleistungen, sozial regulierenden Effekte wie auch Belastungen detailliert erhebt. Um die ermittelten strukturellen Netzwerkmerkmale und die erhobenen Ressourcen und Belastungen der in Heimen und Pflegefamilien fremdplatzierten Kinder in Relation stellen zu können zur sozialen Situation von Kindern, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, wird das Forschungsvorhaben als vergleichende Untersuchung angelegt. Erstmals wendet sich die Untersuchung mit der Analyse sozialer Netzwerke sechs- bis zwölfjähriger Kinder dabei auch einer Altersgruppe zu, die von der Jugendhilfeforschung bislang nur wenig beachtet wurde (BMFSJ 1998). In drei Untersuchungsgruppen von Kindern im Grundschulalter werden die persönlichen sozialen Netzwerke der Kinder in wichtigen Struktur- und Qualitätsdimensionen vergleichend analysiert:

29

Netzwerkforschung mit Kindern

1. 2. 3.

Kinder, die seit mindestens einem Jahr Heimunterbringung als Hilfe zur Erziehung außerhalb des Elternhauses ohne Unterbrechung in ein und demselben Heim in Anspruch nehmen; Kinder, die stationäre erzieherische Hilfe seit mindestens einem Jahr in ein und derselben Pflegefamilie in Anspruch nehmen; Kinder, die in ihren Herkunftsfamilien leben oder bei mindestens einem leiblichen Elternteil aufwachsen und keine erzieherischen Hilfen erhalten.

Untersuchungsdesign und methodisches Vorgehen Gesamtstichprobe 60 Kinder im Alter von 6-12 Jahren

Untersuchungsgruppe I

Untersuchungsgruppe II

Untersuchungsgruppe III

20 Kinder,

20 Kinder,

20 Kinder,

die seit mindestens einem Jahr

die seit mindestens einem Jahr in einer

die bei mindestens einem ihrer

Heimerziehung

Pflegefamilie

Eltern leben und voraussichtlich

ohne Unterbrechung und in ein

Leben (ohne Unterbrechung und in

keinerlei Form von

und

ein und derselben Familie als Hilfe zur

Hilfe zur Erziehung

erstmalige Hilfe zur Erziehung, die

Erziehung

in Anspruch nehmen

außerhalb

Elternhauses)

demselben des

Heim

als

Elternhauses

außerhalb

des

(Kontrollgruppe)

stattfindet, in Anspruch nehmen

10

10

10

10

10

10

Jungen

Mädchen

Jungen

Mädchen

Jungen

Mädchen

Querschnittserhebung der aktuellen persönlichen sozialen Netzwerke der Kinder mittels teilstandardisierter Interviews

mit 6 Kindern

mit 6 Kindern

mit 6 Kindern

davon

davon

davon

Einzelfallstudien: Standardisierte Fallvignetten

Standardisierte Fallvignetten

Standardisierte Fallvignetten

Aktenanalysen

Aktenanalysen

Aktenanalysen

30

Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner

Die Kinder sind zwischen 6,3 und 12,7 Jahren alt. Das Durchschnittsalter der Kinder liegt bei 10,1 Jahren. Der Studie liegen (abgesehen von den Aktenanalysen) ausschließlich Kindinformationen zu Grunde. Die untersuchten Kinder werden nicht, wie in der Netzwerk- und selbst in der Kindheitsforschung bislang vorwiegend als zentraler ‚Forschungsgegenstand’ betrachtet, der über Erwachsenenaussagen zu rekonstruieren ist, sondern vielmehr als aktiv handelnde Subjekte im Forschungsvorhaben begriffen. Somit gelingt es, ihre persönlichen Sichtweisen und Perspektiven auf die infrage stehenden sozialen Beziehungsdimensionen ihres Lebens zu erforschen und die kindliche Lebenswelt sowie das soziale Umfeld der Heranwachsenden in ihrer Wahrnehmung und in ihrem Verständnis zu analysieren. Für das vorliegende Forschungsprojekt werden qualitative Verfahren der Netzwerk- und Supportforschung konstruiert und eingesetzt (s.a. Wehner & Werner 2008; Stiehler & Werner 2008). Der Einsatz qualitativer Verfahren erscheint notwendig, da diese (im Gegensatz zu standardisierten Befragungen) ein auf den jeweils unterschiedlichen Entwicklungsstatus der Kinder abgestimmteres Vorgehen erlauben. Zudem kann durch ihren Einsatz der Verzerrung von Antworten im Sinne einer „sozialen und personalen Wünschbarkeit“ besser entgegengewirkt werden (Kränzl-Nagl & Wilk 2000), was besonders dann angezeigt scheint, wenn Lebensbereiche erhoben werden, die für Kinder einen hohen Wert besitzen und emotional stark belegt sind (ebd., S. 68) und worunter sicher auch Bereiche wie „Familie“, aber ebenso „Pflegefamilie“ und „Heim“ fallen. Die Struktur- und Qualitätsdimensionen der kindlichen Netzwerke werden mit Hilfe teilstrukturierter Interviews erfasst, die Visualisierungstechniken mit Hilfe von Moderationskarten und Spielfiguren einschlossen. Konzeptionelle Grundlagen für den Interviewleitfaden und die Visualisierungstechniken bildet der „Soziale Beziehungstest für Kinder“ (SOBEKI), einem in der bzw. für die klinische Diagnostik entwickelten Skulpturverfahren für sechs- bis zwölfjährige Kinder, das der Erfassung sozialer Beziehungsstrukturen sowie Netzwerkfunktionen mittels eines strukturierten Interviews zu spezifischen Netzwerkfunktionsbereichen sowie der Anzahl, Häufigkeit und Intensität von Sozialkontakten dient (s. a. Roos, Lehmkuhl, Berger & Lenz 1995; Berger 1996). Die Network Map nach Svedham (1994), ein standardisiertes Verfahren für 11- bis 13jährige, ermöglicht die Analyse sozialer Beziehungsstrukturen von Kindern insbesondere hinsichtlich der vorhandenen Netzwerksektoren, der Netzwerkdichte, der Verbundenheit der einzelnen Netzwerkmitglieder bzw. -sektoren sowie der generationalen Zugehörigkeit der Beziehungspersonen mittels einer graphischen Darstellung und Verwendung spezifischer Symbole. Die Interviews gliedern sich in drei einzelne Erhebungsverfahren: 1. Erstellen einer Netzwerkkarte: Die visuelle Darstellung sozialer Beziehungen der interviewten Kinder mit einer Netzwerkkarte, auf der mit Hilfe von Moderationskarten alle für das Kind signifikanten Lebensräume (Familie, Heim, Schule, Nachbarschaft etc.) erhoben werden sowie zusätzlichen Holzfiguren, die einzelne Personen symbolisieren, ermöglicht die Erfassung quantitativ-struktureller Netzwerkdaten. Dazu gehören beispielsweise die Größe der kindlichen Netzwerke, ihre Zusammensetzung im Hinblick auf bestimmte Rollenkategorien wie Verwandte, Freunde, Nachbarn usw. sowie Verknüpfungen zwischen einzelnen Netzwerkmitgliedern und –sektoren. Anhand der auf der Netzwerkkarte abgebildeten sozialen Beziehungen und Netzwerksektoren ist es zudem möglich, die kindlichen Sozialbeziehungen primären und sekundären Kontakten (Wirth 1974) zuzuordnen und somit das Verhältnis

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Netzwerkforschung mit Kindern

primärer, traditioneller und nicht freiwilliger Bezüge gegenüber sekundären, eher freiwilligen und selbst gewählten Beziehungskontexten zu ermitteln. 2. Interview zu qualitativ-funktionalen Aspekten der Kindernetzwerke: Die zweite Phase des Interviews, die das eigentliche Kernstück der Untersuchung bildet, besteht in der Befragung der Kinder zu funktionalen Merkmalen ihrer sozialen Netzwerke. Die anhand eines teilstrukturierten Leitfadens durchgeführten Interviews beinhaltet insgesamt 27 Fragen zu a) unterstützenden Funktionen der sozialen Beziehungen, die in Anlehnung an ein support-Modell von House (1981) die vier Unterstützungsformen instrumentelle, emotionale, interpretative und informative Hilfe sowie zusätzlich Begleitung und Geselligkeit umfassen, b) zu kontrollierend-regulativen Dimensionen und c) zu belastenden und konflikthaften Aspekten der kindlichen Beziehungssysteme. Tabelle 1:

Beispielitems des Interviews zu qualitativ-funktionalen Netzwerkaspekten

Funktionsbereich Soziale Unterstützung (instrumentell)

Soziale Regulation/soziale Kontrolle

Sozialer Konflikt/Belastung

Beispiel-Item Manchen Kindern hilft jemand bei den Hausaufgaben, manchen Kindern hilft niemand. Hilft dir jemand bei den Hausaufgaben? Wer hilft dir dabei? Manchen Kindern wird oft etwas verboten, anderen Kindern wird ganz selten etwas verboten. Verbietet dir jemand etwas? Wer tut das? Was wird dir verboten? Manche Kinder haben oft Streit mit anderen. Andere Kinder haben keinen Streit. Streitest du dich mit jemandem? Mit wem streitest du dich? (Mit welchen Kindern? Mit welchen Erwachsenen?)

3. Verortung der Netzwerkmitglieder auf dem Beziehungsbrett: Durch die Platzierung erfasster Netzwerkangehöriger (symbolisiert durch Spielfiguren) auf dem Beziehungsbrett gelingt es, die emotionale Nähe bzw. Distanz der Kinder zu den Mitgliedern ihrer sozialen Beziehungssysteme abzubilden (zur ausführlichen Darstellung der Erhebungsmethoden s. Wehner & Werner 2008). Die Auswertung der Interviews erfolgt inhaltsanalytisch in Anlehnung an das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse von Mayring (1991, 1993). Zusätzlich dazu werden quantitative Netzwerkmerkmale unter Verwendung des Programmpaketes SPSS deskriptiven und interferenzstatistischen Analysen unterzogen und die Ergebnisse mit denen der qualitativen Analysen in Beziehung gesetzt, um Zusammenhänge zwischen quantitativ-strukturellen und qualitativfunktionalen Netzwerkcharakteristika beschreiben zu können. Auswertungen erfolgten sowohl gruppenübergreifend als auch getrennt nach den einzelnen Untersuchungsgruppen und dem Geschlecht der Kinder. Im Rahmen von Einzelfallstudien werden Fallvignetten (Werner et al. 2006) konstruiert und erhoben. Jungen und Mädchen werden über Skizzen und Geschichten alltagsnaher, bewältigungs- und unterstützungsträchtiger Anforderungs-, Belastungs- und Konfliktsituationen zur

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Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner

Identifikation mit einem abgebildeten oder beschriebenen (männlichen oder weiblichen) Protagonisten zu einer Projektion eigener Be- und Verarbeitungstendenzen angeregt. Es handelt sich insofern um ein kontextualisiertes sozialwissenschaftliches Erhebungsverfahren, das zudem eng an der kindlichen Lebens- und Erfahrungswelt orientiert ist. Über den Einsatz von verbalisierten Vignetten (Geschichtenanfänge) und visualisierten Vignetten (Bildergeschichten) werden die subjektiven Bewältigungsperspektiven und die subjektiven Hilfeverständnisse von 6-12jährigen Kindern erhoben. An der Vignettenuntersuchung nehmen 18 der zuvor an der Hauptuntersuchung beteiligten Kinder (je Untersuchungsgruppe drei Mädchen und drei Jungen) teil. Die Untersuchungsdurchführung gliedert sich entsprechend der beiden Vignettenformen (Geschichtenanfänge/Bildvervollständigung) in zwei Abschnitte. Im Rahmen der Einzelfallstudien werden auch Aktenanalysen durchgeführt. Hier soll primär die subjektive Netzwerkwahrnehmung der ausgewählten Kinder einer subjektiven Sicht professioneller Jugendamtsmitarbeiter/innen auf deren informelle und formelle soziale Beziehungen sowie objektiven Kennzeichen der Lebens- und Beziehungssituation der Kinder gegenübergestellt werden. Mit Hilfe der Aktenanalyse sollen zudem Verlaufsdaten über die Entwicklung der Beziehungssituation der Kinder gewonnen werden (s. Stiehler 2008). Ergebnisse und Interpretationen der Netzwerk- und Supportanalyse Netzwerkstruktur Hinsichtlich der Netzwerkgröße zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Heimkindern, Pflegekindern und nicht fremdplatzierten Kindern. Im Durchschnitt haben die Pflegekinder die größten sozialen Beziehungssysteme. Sie zählen durchschnittlich 40,7 Personen zu ihrem sozialen Netzwerk. Heimkinder, die im Durchschnitt 37,2 Netzwerkangehörige nennen, liegen auf einem mittleren Rangplatz. Die in ihren Herkunftsfamilien lebenden Kinder weisen mit nur 35,2 Netzwerkmitgliedern die kleinsten sozialen Beziehungssysteme auf. Während sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen der stationären Unterbringung in einem Heim oder einer Pflegefamilie beziehungsweise dem Aufwachsen in der Herkunftsfamilie und der Netzwerkgröße feststellen lässt, zeigen die Untersuchungsergebnisse einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Netzwerkgröße und dem Geschlecht der Kinder. Über alle drei Untersuchungsgruppen hinweg zählen die Mädchen im Durchschnitt deutlich mehr Personen auf, die zu ihrem sozialen Netzwerk gehören, als die Jungen. Ein Wert von .007 zeigt einen hoch signifikanten Unterschied zwischen Mädchen und Jungen hinsichtlich der Größe ihrer sozialen Netzwerke. Tabelle 2:

Gruppenmittelwerte zur Anzahl der Netzwerkmitglieder in Abhängigkeit vom Geschlecht der Kinder

N Mittelwert Standardabweichung

männlich 30 32.53 (10.34)

Zwischen den Gruppen

F 7.704

weiblich 30 42.87 (17.58) Signifikanz .007**

gesamt 60 37.7 (15.22)

33

Netzwerkforschung mit Kindern

Die größten sozialen Beziehungssysteme haben die in Pflegefamilien lebenden Mädchen. Sie zählen im Durchschnitt 48,5 Personen zu ihrem sozialen Netzwerk, gefolgt von den nicht fremdplatzierten Mädchen, die 41 Netzwerkmitglieder haben. Heimbewohnerinnen nennen mit durchschnittlich 39,1 Personen von den weiblichen Befragten die wenigsten Netzwerkangehörigen. Bei den Jungen finden sich die größten Netzwerke mit durchschnittlich 35,3 Mitgliedern bei den Heimkindern gefolgt von den Pflegejungen, die 32,9 Personen zu ihrem Netzwerk zählen. Nicht fremdplatzierte Jungen haben die wenigsten sozialen Beziehungen. Sie nennen nur 29,4 bekannte Personen. Geschlechtsspezifische Unterschiede in den sozialen Netzwerken sind in der Vergangenheit vielfach vor allem für Erwachsene, aber auch für Kinder nachgewiesen worden (z.B. Belle 1989). Danach zeigen sich bereits bei jungen Kindern geschlechtsspezifische Unterschiede in den sozialen Netzwerkbeziehungen. Betrachtet man die Geschlechterdifferenzen hinsichtlich der Netzwerkgröße innerhalb der einzelnen Untersuchungsgruppen, lässt sich feststellen, dass diese in den einzelnen Untersuchungsgruppen sehr unterschiedlich ausfallen. Am stärksten von Geschlechterdifferenzen geprägt sind die Netzwerke der Pflegekinder. Im Durchschnitt zählen Mädchen in Pflegefamilien 15,6 Personen mehr zu ihrem sozialen Netzwerk als die Jungen dieser Gruppe. Auffällige Geschlechterunterschiede bestehen diesbezüglich auch in der Kontrollgruppe der nicht fremdplatzierten Kinder. Hier zählen die Mädchen durchschnittlich 11,6 Netzwerkmitglieder mehr auf als die Jungen. Deutlich geringere Differenzen zeigen sich bei den Heimkindern. Mädchen in Heimunterbringung zählen nur 3,8 Personen mehr zu ihrem sozialen Netzwerk als die in Heimen lebenden Jungen. Die sozialen Netzwerke der Kinder aller drei Untersuchungsgruppen sind von einer deutlichen Geschlechterhomogenität geprägt. Statistisch hoch signifikante Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen bestehen hinsichtlich der Anzahl weiblicher Netzwerkmitglieder. In den sozialen Beziehungssystemen der Mädchen finden sich nahezu doppelt so viele weibliche wie männliche Personen. Zudem zählen die Mädchen fast doppelt so viel Mädchen und Frauen zu ihrem Netzwerk wie die Jungen. Tabelle 3:

Gruppenmittelwerte zur Anzahl weiblicher Netzwerkmitglieder in Abhängigkeit vom Geschlecht der Kinder

N Mittelwert Standardabweichung

männlich 30 13.50 (5.55)

Zwischen den Gruppen

F 36.587

weiblich 30 26.6 (10.48)

gesamt 60 20.05 (10.6)

Signifikanz .000**

Die Jungen zählen ebenfalls mehr Personen des gleichen Geschlechts auf. Jedoch erscheinen ihre Netzwerke weniger geschlechtshomogen als die der Mädchen, und der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen hinsichtlich der Anzahl von männlichen Netzwerkmitgliedern bleibt nicht signifikant. Unter Berücksichtigung der Zugehörigkeit der Kinder zu einer der drei Untersuchungsgruppen fällt auf, dass die geschlechtshomogene Zusammensetzung kindlicher Netzwerke wie

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Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner

auch die diesbezüglichen Differenzen zwischen Jungen und Mädchen in den einzelnen Gruppen unterschiedlich ausgeprägt sind. Bei den in ihren Herkunftsfamilien lebenden Kindern haben durchschnittlich 62% der Netzwerkangehörigen das gleiche Geschlecht wie das befragte Kind, wobei der Wert der Jungen geringfügig unter dem der Mädchen liegt. In den Netzwerken der männlichen als auch der weiblichen Pflegekinder findet sich ein durchschnittlicher Anteil gleichgeschlechtlicher Personen von 59%. Völlig anders erscheinen dagegen die Beziehungssysteme der Heimkinder. Die sozialen Netzwerke der in Heimen lebenden Mädchen weisen mit 66% den höchsten Anteil gleichgeschlechtlicher Personen auf. Dagegen lässt sich bei den Jungen in Heimunterbringung eine nahezu ausgewogene Zusammensetzung ihres sozialen Netzes feststellen, da sie im Durchschnitt nur 51% männliche Netzwerkangehörige aufzählen. Die auffälligen strukturellen Unterschiede in den kindlichen Netzwerken sind vor allem auf den geringen Anteil von männlichen Erwachsenen im sozialen Umfeld der Heimkinder zurückzuführen. Männer sind in den Beziehungssystemen der Heimkinder deutlich unterrepräsentiert, was sich bei den Mädchen, bei denen nur 10% der Netzwerkmitglieder Männer sind, noch deutlicher zeigt als bei den Jungen (12%). Ein Grund für die geringe Präsenz männlicher Erwachsener in den sozialen Beziehungssystemen der Heimkinder ist, dass überwiegend Frauen in Institutionen der stationären Jugendhilfe arbeiten und Männer hier deutlich unterrepräsentiert sind. Im Hinblick auf das Alter der Kontaktpersonen ist sowohl bei den Jungen als auch bei den Mädchen aller drei Untersuchungsgruppen ein recht ausgewogenes Verhältnis von Erwachsenen und Kindern zu beobachten. Durchschnittlich haben alle Kinder geringfügig mehr Beziehungen zu gleichaltrigen oder altersähnlichen als zu erwachsenen Personen. Dabei fällt auf, dass insbesondere gleichgeschlechtliche Peers eine zentrale Bedeutung in den kindlichen Netzwerken haben. In der Regel haben Mädchen die meisten sozialen Beziehungen zu anderen Mädchen, während Jungen die meisten Kontakte zu anderen Jungen haben. Somit bilden Kinder gleichen Geschlechts die anteilig größte Gruppe an Netzwerkmitgliedern in den sozialen Beziehungssystemen der Mädchen und Jungen aller drei Untersuchungsgruppen. Diese Ergebnisse entsprechen denen zahlreicher anderer Studien. So fanden beispielsweise Krappmann & Oswald (1995) bei zehn- bis zwölfjährigen Kindern vorwiegend gleichgeschlechtliche Freundschaften und Gruppen und weniger geschlechterübergreifende enge Beziehungen. Auch Maccoby (2000) arbeitet heraus, dass Kinder im Grundschulalter fast ausschließlich Angehörige des eigenen Geschlechts als Freunde wählen und bevorzugt mit gleichgeschlechtlichen Peers interagieren. Nicht nur hinsichtlich des Gesamtumfanges der kindlichen Netzwerke, sondern auch bezüglich der Verteilung der Personen auf die einzelnen Netzwerksektoren zeigen sich Differenzen zwischen den stationär untergebrachten Kindern und denen in Herkunftsfamilien. Bei nicht fremdplatzierten Kindern dominieren neben familiären und verwandtschaftlichen Bindungen soziale Beziehungen, die dem schulischen Sektor zugeordnet werden können. Ähnlich verhält es sich bei den Pflegekindern. Auch für sie ist die Schule der zentrale Ort bei der Rekrutierung von Netzwerkmitgliedern. Generell spielt die Schule für Jungen und Mädchen aller drei Untersuchungsgruppen eine zentrale Rolle für die Entstehung sozialer Beziehungen, insbesondere zu Gleichaltrigen. Dementsprechend zeigen sich hier keine Gruppen- und Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Anzahl schulischer Kontakte. Hoch signifikante Gruppenunterschiede lassen sich hingegen für die Anzahl verwandtschaftlicher Kontakte nachweisen. Die meisten Beziehungen zu Verwandten, etwa Großeltern,

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Netzwerkforschung mit Kindern

Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, haben nicht fremdplatzierte Familienkinder. Heimkinder zählen die wenigsten Verwandten auf. Tabelle 4:

Gruppenmittelwerte zur Anzahl verwandtschaftlicher Beziehungen in Abhängigkeit von der Unterbringungsform

N Mittelwert Standardabweichung

Heimkinder 20 3.60 (2.98)

Zwischen den Gruppen

F 10.183

Pflegekinder 20 5.35 (5.04)

Familienkinder 20 9.95 (5.40)

gesamt 60 6.30 (5.26)

Signifikanz .000**

Festzuhalten ist andererseits, dass in den Beziehungssystemen der Pflegekinder sehr häufig zwei nebeneinander existierende Verwandtschaftsnetzwerke zu finden sind (s.a. Günther 2008). So berichten Pflegekinder oft über Kontakte zu leiblichen Verwandten, insbesondere zu Großeltern, und sind darüber hinaus aber auch meist sehr gut in das Verwandtschafts- und Bekanntschaftsnetzwerk der neuen Pflegefamilie integriert, was ein Grund dafür sein könnte, dass Pflegekinder die umfangreichsten sozialen Netzwerke haben. Betrachtet man die Netzwerke der Heimkinder, fällt auf, dass hier soziale Beziehungen zu Mitbewohnern und HeimerzieherInnen neben schulischen Kontakten eindeutig dominieren. Während für Pflege- und nicht fremdplatzierte Kinder weiterhin die Nachbarschaft und der Freizeitbereich, wie beispielsweise Sportvereine, zentrale Anknüpfungspunkte für soziale Beziehungen darstellen, haben die befragten Heimkinder keine Nachbarschaftsbeziehungen und nur sehr selten Kontakte im Freizeitbereich. Die diesbezüglichen Gruppenunterschiede sind sehr signifikant. Auffällig ist die fehlende Integration der Heimkinder in das nachbarschaftliche Umfeld. Pflegekinder zählen die meisten nachbarschaftlichen Kontakte1 auf. Tabelle 5:

1

Gruppenmittelwerte zur Anzahl nachbarschaftlicher Beziehungen in Abhängigkeit von der Unterbringungsform

N Mittelwert Standardabweichung

Heimkinder 20 0.05 (0.22)

Zwischen den Gruppen

F 6.654

Pflegekinder 20 3.95 (5.30)

Familienkinder 20 2.90 (2.94)

gesamt 60 2.30 (3.82)

Signifikanz .003**

Nachbarschaft bezieht sich bei den Pflegekindern auf die der Pflegefamilie, nicht der Herkunftsfamilie. Nachbarschaftsbeziehungen von Heimkindern umfassen Kontakte, die im räumlichen Umfeld des Heimes bestehen.

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Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner

Dabei bestehen tendenzielle Differenzen zwischen Mädchen und Jungen bezüglich ihrer nachbarschaftlichen Integration. Ohne Berücksichtigung der Untersuchungsgruppenzugehörigkeit zählen die Mädchen mit durchschnittlich 3,2 Personen mehr als doppelt so viel Nachbarn zu ihrem sozialen Netzwerk wie die Jungen, die im Durchschnitt nur 1,4 Nachbarschaftskontakte nennen. Dabei zeigen sich, wie bereits bei den verwandtschaftlichen Bindungen, diese Unterschiede nur in den Gruppen der Kinder, die bei ihren Eltern und in Pflegefamilien leben. In der Gruppe der Pflegekinder erreichen die Geschlechterunterschiede bezüglich der Anzahl von Nachbarschaftsbeziehungen ein signifikantes Niveau (.034). Mit 6,4 Personen zählen die in Pflegefamilien aufwachsenden Mädchen signifikant mehr Nachbarn zu ihrem sozialen Netzwerk als die Jungen, die durchschnittlich nur 1,5 nachbarliche Beziehungen haben. Ähnliche Befunde ergeben sich bei der Betrachtung der sozialen Netzwerkbezüge, die im Freizeitsektor bestehen. Darunter fallen etwa Beziehungen zu Kindern und Erwachsenen, die über gemeinsame außerschulische Aktivitäten z. B. in Vereinen, Verbänden oder Kirchen entstanden sind. Auch hier besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen einer stationären Unterbringung und der Anzahl von sozialen Beziehungen im Freizeitbereich. Heimkinder haben nur eine sehr geringe Anzahl an Freizeitbekanntschaften, etwa zu Vereinskameraden. Kinder in Herkunftsfamilien haben die meisten sozialen Kontakte im Freizeitsektor, jedoch nur geringfügig mehr als die in Pflegefamilien lebenden. Tabelle 6:

Gruppenmittelwerte zur Anzahl von Freizeitbekanntschaften in Abhängigkeit von der Unterbringungsform

N Mittelwert Standardabweichung

Heimkinder 20 1.00 (1.72)

Zwischen den Gruppen

F 4.995

Pflegekinder 20 2.90 (3.93)

Familienkinder 20 4.40 (4.06)

gesamt 60 2.77 (3.63)

Signifikanz .010**

Geschlechterdifferenzen sind hier wesentlich schwächer ausgeprägt als bei den verwandtschaftlichen und insbesondere nachbarschaftlichen Beziehungen. Somit zeigt sich deutlich, dass bei den Heimkindern institutionelle Netzwerksektoren und -beziehungen gegenüber freiwillig geschaffenen dominieren, wobei auffällt, dass professionelle Mitarbeiter der Jugendhilfe, abgesehen von den im Heim beschäftigten, sowohl in den Netzwerken der Heim- als auch der Pflegekinder keine Rolle spielen. Freunde sind zentrale Personen in den sozialen Netzwerken von Kindern und Jugendlichen. Analysiert man die Angaben der untersuchten Kinder dahingehend, wie viele Freunde unterschiedlicher Sektoren diese zu ihrem Netzwerk zählen, zeigt sich, dass Kinder in Fremdunterbringung, insbesondere in Heimen lebende, etwas weniger Freunde haben als Kinder in Herkunftsfamilien. Diese bezeichnen im Durchschnitt 7,0 Personen als Freunde und haben somit zwar kleinere Netzwerke, aber mehr Freundschaften als die Pflegekinder, die 6,6 Freunde aufzählen. Heimkinder haben trotz größerer sozialer Bezugssysteme mit nur 4,9 Gleichaltrigen weniger Freunde als die bei ihren Eltern lebenden Kinder. Die Gruppenunterschiede bezogen auf die Anzahl der Kinderfreundschaften sind statistisch jedoch nicht signifikant. Ungeachtet der Zugehörigkeit zu einer der drei Untersuchungsgruppen haben Mädchen mit durchschnittlich 7,1 Personen etwas mehr Freunde als die Jungen, die 5,2 Freunde aufzäh-

Netzwerkforschung mit Kindern

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len. Der Effekt des Geschlechts auf die Anzahl der Freundschaftsbeziehungen wird in der vorliegenden Untersuchung statistisch jedoch nicht signifikant. Zu Gleichaltrigen- und Freundschaftsbeziehungen von Kindern, die stationäre erzieherische Hilfe in Anspruch nehmen, s.a. Günther 2008. Nähe und Distanz von Netzwerkmitgliedern Durch den Einsatz des Beziehungskreises kann festgestellt werden, dass alle Kinder unabhängig von Geschlecht und Gruppenzugehörigkeit sich den meisten Personen ihres sozialen Netzwerkes sehr verbunden fühlen. In der Regel haben sie mehr als 50% ihrer Netzwerkmitglieder ‚sehr lieb’. Pflegekinder zählen mehr Personen auf, die sie sehr lieb oder lieb haben als Heimkinder und Kinder in Herkunftsfamilien. In allen drei Untersuchungsgruppen nennen die Mädchen mehr Personen, denen sie sich sehr verbunden fühlen und die sie lieb haben als die Jungen. Auffällig ist, dass Mädchen in Heimunterbringung kaum erwachsene männliche Netzwerkmitglieder haben, zu denen eine intensive Bindung besteht. Mädchen in Pflegefamilien nennen auffallend viele Erwachsene, die sie sehr lieb haben. Fragt man danach, wer die Personen sind, die Kinder sehr lieb haben, lässt sich feststellen, dass Kinder in Herkunftsfamilien immer die Eltern und Kinder in Pflegefamilien in der Regel immer beide Pflegeeltern oder mindestens ein Pflegeelternteil aufzählen. Auffallend ist der Befund, dass sich mehr als 50% der Pflegekinder ihren leiblichen Eltern stark verbunden fühlen und diese sehr gern haben, auch wenn sie in alltäglichen Interaktionsund Hilfeprozessen keine Rolle spielen. Offenbar besitzt die Beziehung zu leiblichen Elternteilen trotz des Aufenthaltes in einer Pflegefamilie einen hohen emotionalen Wert für die Pflegekinder (s.a. Günther 2008). Heimkinder zählen vorwiegend Erzieherinnen und Erzieher auf, die sie sehr gern haben. Kinder fühlen sich den Personen, die eine Vielzahl von Funktionen erfüllen, nicht unbedingt verbundener als denjenigen, die nur wenig oder gar nicht funktional sind. Das Unterstützungs- und Regulationspotential der Netzwerkmitglieder korreliert somit nicht generell mit der emotionalen Nähe beziehungsweise Distanz in der Beziehung. Auch umgekehrt sind für die Kinder Beziehungen zu Netzwerkangehörigen, von denen Belastungen ausgehen, nicht zwangsläufig distanziert oder feindselig. So gehen beispielsweise von Eltern oder Geschwistern oft zahlreiche Belastungen aus; trotzdem fühlen sich die Kinder ihnen mehr verbunden als vielen anderen Personen, mit denen es nicht zu belastenden Interaktionen kommt. Gruppenunterschiede bestehen auch hinsichtlich der Häufigkeit, mit der die Kinder Personen aufzählen, die sie nicht mögen und zu denen kein positiver Kontakt existiert. Heimkinder geben diesbezüglich sowohl häufiger als auch mehr Netzwerkmitglieder an als die bei ihren Eltern lebenden Kinder der Vergleichsgruppe. Insbesondere die in Heimen lebenden Jungen nennen eine auffallend hohe Zahl von Personen, zu denen offenbar Beziehungen negativer Qualität bestehen, die von den Kindern als problematisch und belastend erlebt werden. Pflegekinder zählen am seltensten ungemochte Personen auf und nennen – obwohl sie die größten Netzwerke haben – die geringste Anzahl von Netzwerkangehörigen, denen sie sich nicht verbunden fühlen. Während in den Gruppen der nicht fremdplatzierten und der in Pflegefamilien lebenden Kinder die Mädchen mehr Personen aufzählen, zu denen ein distanziertes Verhältnis besteht, liegt bei den Heimkindern ein umgekehrtes Verhältnis vor.

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Julia Günther/Frank Nestmann/Jillian Werner

Qualitativ-funktionale Netzwerkdimensionen Die Befunde zur sozial unterstützenden Qualität der kindlichen Netzwerke, zu Funktionen sozialer Regulation und Kontrolle sowie zu belastenden und konflikthaften Dimensionen ihrer Beziehungssysteme machen deutlich, dass Heim-, Pflege- und nicht fremdplatzierte Kinder unterschiedlich viel soziale Unterstützung erhalten. Dabei erstaunt vor allem, dass Kinder in Pflegefamilien, die die größten sozialen Netzwerke haben, sich subjektiv am wenigsten sozial unterstützt fühlen. Auffallend ist, dass die nicht in stationärer Unterbringung aufwachsenden Kinder mit den kleinsten Beziehungssystemen angeben, die meiste soziale Unterstützung zu erhalten. Differenzen zeigen sich auch zwischen Mädchen und Jungen hinsichtlich der Gesamtmenge sozialer Unterstützung. Jungen erhalten danach weniger Hilfeleistung als Mädchen, was auch ihren kleineren Netzwerken entspricht. Tabelle 7:

männlich weiblich gesamt

Menge sozialer Unterstützung in Abhängigkeit vom Geschlecht der Kinder und der Unterbringungsform (Standardabweichungen in Klammern) Heimkinder 52.8 (21.85) 59.2 (16.3) 56 (19.04)

Pflegekinder 53.4 (29.68) 57.7 (31.58) 55.5 (29.91)

Familienkinder 70.2 (39.34) 70.7 (25.79) 70.45 (32.38)

gesamt 58.8 (31.13) 62.53 (25.17) 60.67 (28.13)

Unter Berücksichtigung der Netzwerkgröße zeigt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Untersuchungsgruppenzugehörigkeit und der Menge der Unterstützungsleistungen. Zudem korreliert die Netzwerkgröße signifikant mit der Anzahl der erhaltenen sozialen Unterstützungen. Der Einfluss des Geschlechts der Kinder auf die Gesamtsumme erhaltener Unterstützungen ist statistisch nicht signifikant. Tabelle 8:

Tests der Zwischensubjekteffekte mit Kovariate „Netzwerkgröße“

Netzwerk Geschlecht Gruppe Geschlecht * Gruppe

F 16.798 .804 3.610 .467

Signifikanz .000** .374 .034** .630

Partielles Eta-Quadrat .241 .015 .120 .017

Interessanterweise zeigt sich nicht nur eine signifikante Interaktion von Netzwerkgröße und Unterstützungsmenge; es lassen sich auch signifikante Unterschiede zwischen den Untersuchungsgruppen hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen der Anzahl an Netzwerkmitgliedern und der Menge sozialer Unterstützung nachweisen. Am stärksten zeigt sich die Beeinflussung der Unterstützung durch die Netzwerkgröße in der Gruppe der Pflegekinder (Beta=0,651). Die Heimkindergruppe liegt in der Mitte (Beta=0,489). Der geringste aber trotzdem signifikante (Beta=0,303) Effekt der Netzwerkpersonenmitglieder auf die Gesamtsumme sozialer Unterstützung lässt sich in der Gruppe der nicht fremdplatzierten Kinder feststellen.

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Die Unterschiede zwischen Heim-, Pflege- und nicht stationär untergebrachten Kindern hinsichtlich der von ihnen wahrgenommenen sozialen Unterstützung können dabei nicht ausschließlich darauf zurückgeführt werden, dass die fremdplatzierten Kinder viel weniger unterstützende Personen in ihren sozialen Netzwerken haben als die Kinder in Herkunftsfamilien. Ein Mittelwertvergleich macht deutlich, dass Heim- und Pflegekinder mit durchschnittlich 20,7 beziehungsweise 21,6 Netzwerkangehörigen, die in irgendeiner Form soziale Unterstützung leisten, nur geringfügig weniger Unterstützer haben als die nicht fremdplatzierten Kinder, bei denen 23,7 Personen sozial unterstützende Funktionen erfüllen. Die Ergebnisse deuten vielmehr darauf hin, dass die Netzwerke der Kinder in Herkunftsfamilien einen höheren Anteil von multiplexen sozialen Beziehungen aufweisen und ein größerer Teil der Netzwerkmitglieder mehrere Hilfefunktionen erfüllt. Jungen zählen etwas weniger Netzwerkangehörige auf, die sie sozial unterstützen, als Mädchen. Unter Berücksichtigung der einzelnen Netzwerksektoren zeigt sich aber ein erstaunlicher Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. Nur im schulischen Kontext haben die Jungen signifikant weniger Personen (Mitschüler und Lehrer), die sie sozial unterstützen, als die Mädchen (p=.030). Zentrale Personen, die den Hauptteil sozialer Unterstützung leisten, sind in den Netzwerken der nicht fremdplatzierten Kinder die Eltern, wobei Mütter durchschnittlich höhere Unterstützungswerte aufweisen als Väter. Pflegeeltern übernehmen den Großteil sozialer Unterstützung für die bei ihnen lebenden Pflegekinder. Auch hier werden Pflegeväter im Durchschnitt als etwas weniger unterstützend charakterisiert als Pflegemütter. Diese Befunde stimmen überein mit denen von Holler et al. (1990), wonach von den Eltern Mütter stärker als unterstützende Personen wahrgenommen werden als Väter. Auch Frey & Röthlisberger (1994) fanden bei einer Längsschnittstudie mit Schülerinnen und Schülern 7. und 9. Klassen heraus, dass Väter insbesondere für Mädchen eine geringere Bedeutung für soziale Unterstützung haben und teilweise von Mädchen überhaupt nicht unterstützend wahrgenommen werden. Für die Heimkinder übernehmen Erzieherinnen zentrale Unterstützungsfunktionen. Tendenziell leisten Eltern und Pflegeeltern jedoch mehr soziale Unterstützung als HeimerzieherInnen. In den Gruppen der Kinder in Herkunfts- sowie in Pflegefamilien lässt sich dabei beobachten, dass die Mütter von den Kindern unterstützender wahrgenommen werden als die Väter. Dieser Befund bestätigt auch Ergebnisse anderer Studien. Freitag (1995) kommt nach einer Längsschnittstudie mit Heranwachsenden 7. und 9. Schulklassen zu dem Schluss, dass für Jungen bei persönlichen Problemen die Mutter Hauptansprechpartnerin vor dem Vater ist. Auch Mädchen finden Unterstützung bei Problemen häufiger bei der Mutter und noch eher bei Geschwistern als beim Vater. Geschlechtsspezifische Differenzen finden sich auch auf der Empfängerseite sozialer Unterstützung. Mädchen in Pflege- und insbesondere in Herkunftsfamilien erhalten nach eigener Auskunft mehr Unterstützung sowohl von (Pflege-)Müttern als auch von (Pflege-)Vätern als Jungen. Im Hinblick auf die Unterstützung durch Mütter bzw. Pflegemütter werden diese geschlechtsspezifischen Differenzen signifikant: Mädchen in Ursprungs- und in Pflegefamilien nehmen signifikant mehr mütterlichen Support wahr als die Jungen (p=.021). Im Heim hingegen leisten nach Angaben der Kinder ErzieherInnen im Durchschnitt für die Jungen geringfügig mehr Hilfe als für die Mädchen. Da die Ergebnisse deutlich machen, dass a) nicht alle HeimerzieherInnen gleich stark unterstützen, teilweise nur geringe Unterstützungswerte zeigen oder von den Heimkindern gar

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nicht unterstützend wahrgenommen werden und b) die verschiedenen HeimerziehrInnen zum Teil gleiche Hilfefunktionen erfüllen, ist davon auszugehen, dass fehlende Unterstützung durch Eltern nicht vollständig durch Heimmitarbeiter kompensiert werden kann. Zudem bestehen auch signifikante Unterschiede zwischen den Heimkindern und den anderen Untersuchungsgruppen im Hinblick auf Hilfeleistungen, die von anderen Teilbereichen der sozialen Netzwerke ausgehen. Heimkinder haben signifikant weniger unterstützende Verwandte als Pflege- und insbesondere als nicht fremdplatzierte Kinder (p=.001). Betrachtet man die verschiedenen Unterstützungsdimensionen, fällt auf, dass es insbesondere Gruppenunterschiede im Bereich emotionaler Unterstützung gibt. Heimkinder nennen deutlich weniger Personen, die sie als emotional unterstützend erleben, als die in Pflegefamilien lebenden und insbesondere die nicht fremdplatzierten Kinder. Emotionaler Rückhalt und Geborgenheit, die z. B. darin bestehen, dass Personen existieren, deren Anwesenheit und Zuwendung sich das Kind sicher sein kann, die seine Probleme und Traurigkeit bemerken und in problematischen Situationen Zuhörer und Ansprechpartner sind, erscheinen bei Heimkindern weniger gewährleistet als bei Pflegekindern und Kindern in Herkunftsfamilien. Geringe emotionale Unterstützung und Geborgenheit zeigt sich bei den in Heimen lebenden Jungen noch stärker als bei den Mädchen. So äußern mehr als die Hälfte der Heimbewohner, niemanden zu haben, mit dem sie über Belastungen und Probleme sprechen können. Heimkinder zählen zudem auch weniger Personen auf, von denen sie ‚lieb gehabt’ werden, als Pflege- und nicht fremdplatzierte Kinder. Mädchen in Heimen aber auch in Pflegefamilien nennen weniger Netzwerkangehörige, auf die sie sich verlassen können, als Kinder, die in ihren Herkunftsfamilien leben. Während bei den nicht fremdplatzierten Kindern vor allem Mütter und Väter zentrale Quellen emotionaler Hilfe und Geborgenheit sind, erleben Heimkinder diese häufig durch Peers, durch die im Heim lebenden Geschwister und durch weibliches Heimpersonal. Pflegeeltern aber auch gleichgeschlechtliche Freunde sind für die Pflegekinder zentrale Ressourcen emotionaler Unterstützung und Geborgenheit. Andere Unterstützungsdimensionen, beispielsweise instrumenteller Support, Hilfe im schulischen Bereich, Geselligkeit sowie Anerkennung und Lob scheinen bei Jungen und Mädchen aller drei Untersuchungsgruppen gleichermaßen gewährleistet. Im Bereich der sozialen Unterstützung zeigen sich spezifische Zuständigkeitsprofile der unterschiedlichen Netzwerkmitglieder für verschiedene Supportfunktionen. Unterstützungsfunktionen Erwachsener liegen vorwiegend im Bereich instrumenteller und schulischer Unterstützung, der Vermittlung von Anerkennung und Lob. Kinder erfüllen insbesondere Geselligkeitsfunktionen, unterstützen bei Schwierigkeiten mit Dritten und ermöglichen reziprokes Hilfeverhalten. Im Bereich sozialer Regulations- und Kontrollfunktionen lassen sich signifikante Unterschiede zwischen den Untersuchungsgruppen nachweisen. So wird deutlich, dass Heimkinder trotz ihrer kleineren Netzwerke mehr als doppelt soviel Kontrolle und Regulation wahrnehmen wie die Pflegekinder, die hier die geringsten Werte zeigen. Kinder in Herkunftsfamilien erleben trotz kleinerer Beziehungssysteme geringfügig mehr Regulation und Kontrolle als die Pflegekinder. Kinder in Heimunterbringung erhalten insbesondere mehr Verbote als Kinder in Pflegeund Herkunftsfamilien. Sie erleben mehr regulierende Eingriffe, die sich auf einen geregelten Tagesablauf beziehen, nehmen dagegen aber weniger Anleitung und Führung wahr als die nicht fremdplatzierten und die in Pflegefamilien aufwachsenden Kinder.

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Mädchen zeigen geringfügig höhere Werte als Jungen hinsichtlich sozialer Regulation und Kontrolle. Ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Geschlecht des Kindes und der von ihm wahrgenommenen sozialen Kontrolle besteht jedoch nicht. Im Gegensatz zur sozialen Unterstützung, die sich als signifikant abhängig von der Anzahl sozialer Beziehungen erwies, besteht kein Zusammenhang zwischen der Netzwerkgröße und dem Ausmaß wahrgenommener sozialer Regulation und Kontrolle. Tabelle 9:

Tests der Zwischensubjekteffekte – abhängige Variable: Menge der Regulationen

Netzwerk Geschlecht Gruppe Geschlecht * Gruppe

F 1.608 .019 16.241 1.332

Signifikanz .210 .891 .000** .273

Partielles Eta-Quadrat .029 .000 .380 .048

Generell erweist sich der Bereich sozialer Regulations- und Kontrollfunktionen als Domäne von Erwachsenen und insbesondere von Frauen. Eltern und Pflegeeltern sind zentrale Instanzen für Regulationen und Kontrolle. Bei den Heimkindern übernehmen Erzieherinnen und Erzieher diese Funktionen. Vergleicht man die Angaben der Kinder zu erlebten sozialen Belastungen und Konflikten, zeigen sich signifikante Zusammenhänge sowohl zwischen der Untersuchungsgruppenzugehörigkeit als auch zwischen dem Geschlecht und dem Ausmaß wahrgenommener Belastungen und Konflikte. Im Gegensatz zur formulierten Hypothese fühlen sich Heimkinder durch ihr Netzwerk nicht stärker belastet als Kinder, die bei ihren Eltern leben. Interessant ist der gegenteilige Befund, dass gerade die nicht fremdplatzierten Kinder mit den kleinsten sozialen Beziehungssystemen sehr viel mehr Belastungen aufzählen als die Pflege- und insbesondere die Heimkinder. Familienkinder zählen mehr als die anderthalbfache Anzahl von Belastungen auf als die Heimkinder. Mädchen fühlen sich durch ihre sozialen Beziehungen erheblich stärker belastet als Jungen. Die Netzwerkgröße hat keinen signifikanten Einfluss auf die Gesamtmenge sozialer Belastungen und Konflikte im Gegensatz zu erhaltenen Hilfeleistungen, die signifikant mit der Anzahl der sozialen Beziehungen der Kinder korrelieren. Das Geschlecht des Kindes sowie seine Zugehörigkeit zu einer der drei Untersuchungsgruppen haben einen signifikanten Einfluss auf das Gesamtausmaß wahrgenommener Belastungen. Tabelle 10:

Tests der Zwischensubjekteffekte – abhängige Variable: Menge der Belastungen

Geschlecht Gruppe Geschlecht * Gruppe

F 4.182 3.304 .742

Signifikanz .046** .044** .481

Partielles Eta-Quadrat .072 .109 .027

Kinder ohne erzieherische Hilfe zählen trotz ihrer kleineren Beziehungssysteme etwas weniger Personen auf, von denen Belastungen ausgehen, als die Pflege- und insbesondere als die Heimkinder. Belastungen gehen von unterschiedlichen Netzwerkmitgliedern aus. Kinder in

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Herkunfts- und Pflegefamilien fühlen sich am häufigsten durch Mitschüler belastet. Heimkinder haben belastete Beziehungen am häufigsten zu Mitbewohnern und Heimmitarbeitern. Einzelne Belastungsdimensionen treten in den Untersuchungsgruppen unterschiedlich häufig auf. Heimkinder erhalten mehr Bestrafungen als andere Kinder. Nicht fremdplatzierte und Pflegekinder fühlen sich dagegen deutlich häufiger durch Normkonflikte belastet. Belastungen erleben Kinder aller Gruppen vor allem in Form von Streit mit anderen Kindern oder indem sie von diesen geärgert werden. Belastungen durch Erwachsene erfahren Kinder vorwiegend als Schimpfen oder Bestrafung. Angst und Gewalt spielen für alle befragten Kinder als Belastungsdimensionen nahezu keine Rolle. Die Vignettenuntersuchung2 In den Sozialwissenschaften dienen Vignetten dazu, über prägnante Geschichtenanfänge oder visuelle Abbildungen eine stimulierende Aufforderungssituation herzustellen, die die befragten Personen zu Beurteilungen oder zu weiterführenden Handlungsentwürfen anregt. Sie erzeugen über Identifikations- und Projektionsprozesse mit den Protagonisten der Geschichten und Skizzen eine soziale Wirklichkeit, in der die situativen Realitätserzeugungen der Kinder rekonstruiert werden. Ziel der Vignettenuntersuchung ist es aufzuzeigen, wie der subjektive Handlungssinn in imaginierten Situationen (Vignettendarstellungen) hervorgebracht wird, d.h. Prozesse nachzuvollziehen, in denen die Akteure (Kinder) ihre soziale Wirklichkeit herstellen. Theoretische Zugänge zur Entwicklung des Erhebungsverfahrens ergeben sich u. a. aus sozialkonstruktivistischen (Rauchfleisch 1989; Fisseni 1990) und kognitionspsychologischen Ansätzen (Skripttheorie in Anlehnung an Abelson 1976) sowie aus tiefenpsychologischen Konzepten (Scripts nach Simon & Gagnon 1973) der Projektion, die insbesondere in der traditionellen Persönlichkeitsdiagnostik eine Rolle spielen. Der inhaltlichen Gestaltung der Vignettensituationen liegt ein Modell von Unterstützungsdimensionen (emotionale, instrumentelle, informative und interpretative) nach House (1981) zu Grunde. Zu jeder Unterstützungsdimension werden ein verbalisierter Geschichtenanfang und zwei visualisierte Bildgeschichten entwickelt. Eine zusätzlich konstruierte visuelle Vignette soll Aufschluss über die Veröffentlichungsbereitschaft der Kinder geben. Mit dem Einsatz der Fallvignetten werden die subjektiven Bewältigungsperspektiven und die subjektiven Hilfeverständnisse der 6- bis 12jährigen Kinder erhoben. 18 der zuvor an der Hauptuntersuchung beteiligten Kinder (je Untersuchungsgruppe 3 Jungen und 3 Mädchen) nehmen an der Vignetten-Erhebung teil. Die verbalisierten Vignetten (Geschichtenanfänge) bilden eine alltagsnahe Problemsituation ab, die jeweils eine dieser Unterstützungsformen notwendig machen könnte. Aufgabe der Kinder ist es, ihre Form der Bewältigung darzustellen und diese zu bewerten. Aus der Beschreibung ihrer Bewältigungsstrategien wird auch deutlich, inwieweit sie davon ausgehen, dass sie die jeweilige Unterstützungsform benötigen oder nicht. 2

S. a. Stiehler & Werner 2008.

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Beispiel: Geschichtenanfang „Freunde“ (interpretativ) „Martin spielt jeden Tag mit seinen 2 besten Freunden. Als er heute zum Spielplatz kommt, möchten die beiden nicht mehr mit ihm spielen. Martin weiß nicht warum. Er …“ „Melanie spielt jeden Tag mit ihren 2 besten Freundinnen. Als sie heute zum Spielplatz kommt, möchten die beiden nicht mehr mit ihr spielen. Melanie weiß nicht warum. Sie …“ Die visuellen Vignetten (Bildgeschichten) stellen, in Anlehnung an den Picture- FrustrationTest (PFT) von Rosenzweig (1957), situativ jeweils eine der Unterstützungsdimensionen dar und werden von den Kindern dahingehend bewertet, ob sie diese Unterstützung (emotional, instrumentell, informativ, interpretativ) subjektiv als Hilfe wahrnehmen und interpretieren oder nicht. Auf diese Weise soll das Hilfeverständnis der Kinder erschlossen werden. Beispiel: Bildgeschichte „Teddy“ (emotional)

Als Auswertungsverfahren wird eigens ein vignettenspezifisches Kategoriensystem entwickelt, das den Fragestellungen, den methodischen Zielsetzungen sowie dem qualitativen Potential der

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Vignettentechnik entsprechen soll. Dazu wird eine Kombination aus kategoriengenerierender und theoriegeleiteter Auswertung zur Bildung der Auswertungskategorien gewählt. Die verbalisierten Vignetten zur Erhebung der Bewältigungsstrategien von Kindern in Heim, Pflege und Familie erbringen u.a. folgende Ergebnisse: Die Kinder bewältigen in der Regel problemlöseorientiert und aktiv. Diejenigen Kinder, die im Heim leben, bewältigen vorgegebene Problemsituationen am häufigsten aktiv. Die Jungen bewältigen häufiger aktiv als die Mädchen. Die Kinder suchen in der Mehrzahl der Konstellationen Unterstützung. Heimkinder fragen am häufigsten Unterstützung nach und begründen ihre Unterstützungssuche am häufigsten damit, dass sie ihre eigenen Interessen durchsetzen möchten. Familienkinder geben diese Begründung am seltensten an. Als Unterstützungsperson wird am häufigsten, vor allem von den Heimkindern, die Mutter angegeben. Insgesamt ist eine positive Bewertung der eigenen Bewältigungsstrategie durch die Kinder festzustellen. Die Heimkinder schätzen ihre Bewältigungsstrategien selten und die Familienkinder nie negativ ein. Die visualisierten Vignetten zur Erhebung des Hilfeverständnisses führen u. a. zu folgenden Erkenntnissen: Generell überwiegt die Annahme der angebotenen Unterstützung. Dabei nehmen die Familienkinder mit Abstand am häufigsten und die Pflegekinder am seltensten Hilfe an. Jungen und Mädchen unterscheiden sich diesbezüglich nur geringfügig. Fast alle Hilfen werden von den Kindern als „angeboten“ charakterisiert. Insgesamt bewerten die Kinder die in den Bildvignetten dargestellten Hilfen überwiegend positiv. Familienkinder schätzen die Hilfen am häufigsten, Pflegekinder am seltensten positiv ein. Hinsichtlich des Hilfeverständnisses können keine Geschlechterunterschiede festgestellt werden. Die Aktenanalyse Die Aktenanalyse ist eine empirische Methode zur Untersuchung von sozialpädagogischen Einzellfallakten und zur Gewinnung von empirischem Datenmaterial. Im Rahmen der Aktenanalysen soll der subjektiven Netzwerkwahrnehmung der ausgewählten Kinder eine subjektive Sicht professioneller JugendamtsmitarbeiterInnen auf deren informelle und formelle soziale Beziehungen sowie auf objektive Kennzeichen der Lebensund Beziehungssituation gegenübergestellt werden. Mit Hilfe der Aktenanalyse sollen zudem Verlaufsdaten über die Entwicklung der Beziehungssituation der Kinder gewonnen werden. Sozialpädagogische Einzelfallakten werden in Jugendämtern von Sachbearbeiterinnen geführt, um Prozesse und Begründungen zur Entscheidung der Hilfegewährung im Amt festzuhalten und diese gleichzeitig überprüfbar und nachvollziehbar zu machen (vgl. Baur, Finkel, Hamberger & Kühn 1998). Jugendamtsakten können als „Schnittstelle“ zwischen den AdressatInnen der Hilfe, den betreuenden Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, der Institution und der rechtlichen und sozialpolitischen Legitimation der Arbeit gesehen werden. Die zentra-

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len Prinzipien administrativer Aktenführung sind Schriftlichkeit, Objektivität und Vollständigkeit. Jugendamtsakten sind entscheidungsrelevante fach- und fallspezifische Dokumente im Jugendamtshandeln und enthalten u. a. Diagnosen, Einschätzungen, Begründungen, Hilfepläne und Informationen über Jugendhilfeverläufe. Anhand der kontinuierlich stattfindenden Hilfeplangespräche und deren Dokumentation sollten sozialpädagogische Jugendamtsakten Auskunft über spezifische Ereignisse im Lebenslauf des Kindes sowie über individuelle Entwicklungs- und Hilfeverläufe geben. Mittels (Längsschnitt- oder Verlaufs-)Analysen von Jugendamtsakten werden für die aus den Untersuchungsgruppen I und II ausgewählten Kinder Informationen zur Netzwerkentwicklung ermittelt. Es wird herausgearbeitet, welche Veränderungen es in den informellen sozialen Beziehungen der Kinder in der Vergangenheit gegeben hat (z. B. Trennung der Eltern, Heimeinweisung eines Geschwisterkindes) und welche formellen Hilfen sowie damit verbundenen Beziehungswechsel bisher stattfanden. Zweites Analysekriterium ist die professionelle Sicht der JugendamtsmitarbeiterInnen auf die formellen und informellen sozialen Beziehungen und die Beziehungsqualitäten der Kinder. Es wird angestrebt, aus dem Datenfundus Informationen über den Verlauf und die Entwicklung des sozialen Netzwerkes der Kinder unter Beachtung folgender Aspekte zu gewinnen: a. Veränderungen in den formellen und informellen sozialen Beziehungen des Kindes, Gewinnung von Verlaufsdaten/Informationen zu Netzwerkentwicklungen der Klientel, b. Erhebung bereits stattgefundener bzw. stattfindender formeller Hilfen sowie Analyse damit verbundener Beziehungs- und Ortswechsel, c. die professionelle Sicht der Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter auf die formellen und informellen sozialen Beziehungen sowie d. die professionelle Sicht der Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter auf das Beziehungsverhalten der Kinder. Zur Analyse der Jugendamtsakten wird ein Auswertungsraster entwickelt, worin spezifische Ereignisse im Lebens- und Hilfeverlauf der Klienten in Abhängigkeit von der Zeit dokumentiert werden können. Entsprechend dienen die einzelnen Lebensjahre der Kinder als Untergliederungseinheiten im Auswertungsraster, weil sich der Hilfebeginn, der Hilfeverlauf sowie das Hilfeende und die damit verbundenen Veränderungen im Netzwerk meist individuell und zeitlich verschieden einstellen. Die Kinder, deren Jugendamtsakten im Rahmen des Projektes analysiert werden, sind zum Erhebungszeitraum im Alter von 8 bis 13 Jahren. Die insgesamt 14 Aktenanalysen werden zu gleichen Anteilen bei Mädchen und Jungen durchgeführt. Von den 7 Mädchen, deren Akten untersucht wurden, leben 3 im Heim und 4 in Pflegefamilien. Gleiches gilt für die ausgewählte Jungenpopulation. Eine querschnittliche Betrachtung der aktendokumentierten Verläufe zeigt insbesondere Netzwerke und Verlaufsdaten der Kinder als äußerst inhomogen ein hohes Maß an instabilen Beziehungen zur Herkunftsfamilie eine hohe Anzahl von Beziehungsabbrüchen und -zugängen (vor allem zu professionellen HelferInnen) insgesamt einen verbreiteten Ortswechsel aufgrund neuer institutioneller Einbindung und/oder eine geringe Sesshaftigkeit der Herkunftsfamilie

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einen schwierigen Einstieg in die Schulbildung, meist begleitet durch einen Wechsel in einen niedrigeren Schultyp, was den Beziehungsabbruch zu Mitschülern beinhaltet.

Trotz der aufwendigen Analyse der Sicht der professionellen HelferInnen wird insgesamt deutlich, dass die Akten nur wenige Beziehungs- und Netzwerkaspekte enthalten und den Personen, die über Helfer und Kernfamilie hinausgehen, nur eine geringe Berücksichtigung schenken. Zum anderen stellt sich heraus, dass jedes Jugendamt eine andere Aktenführung praktiziert, was erhebliche Unterschiede u. a. bei der Soziogrammerstellung und den Hilfeplanformularen bzw. -inhalten zur Folge hat. Aufgrund der unterschiedlichen Datenqualität war die Vergleichbarkeit der zur Verfügung stehenden Daten sehr eingeschränkt. Durch die Kombination der einzelfallbezogenen Auswertung der Aktenanalyse mit den Angaben der Kinder zu inhaltlichen und personellen Funktionen sozialer Unterstützung, Regulation und Belastung ist es zudem möglich, folgende Zusammenhänge zu rekonstruieren: Ältere Geschwister, die mit in Heimunterbringung leben, werden mit zahlreichen umsorgend/beschützenden „mütterlichen“ Funktionen (z. B. der Vermittlung von Anerkennung und Lob, instrumentellen Hilfen, der Übernahme einer „Beschützerrolle“) konfrontiert. Steht eine zentrale Person zur Verfügung (wie die ältere Schwester im Heim oder die Einzelbetreuerin), wird diese meist auch durch die Heimkinder mit Funktionen der Sicherung umfassender Geborgenheit assoziiert. Im Hilfeplan in den Vordergrund gestellte Netzwerkpersonen und als wichtig erachtete Rollenträger finden seitens der Kinder oft keine weitere Erwähnung. Durch die befragten Kinder wird ausgewählten (meist gleichaltrigen) Netzwerkpersonen eine große aktuelle Bedeutung zugeschrieben. Von den JugendamtsmitarbeiterInnen werden diese Personen und ihre Funktionshäufigkeit nicht wahrgenommen bzw. sie finden keine Erwähnung in den Akten. Eine ausführliche Darstellung der Studie „Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung von Kindern in Heimerziehung“ einschließlich ihrer Erhebungsmethoden und einer ausführlichen Ergebnispräsentation auch zu den einzelnen Untersuchungsgruppen sowie daraus resultierende Folgerungen für Forschungsvorhaben mit Kindern und die sozialpädagogische Praxis der Heimerziehung bzw. Fremdplatzierung enthält das Buch „Kindernetzwerke. Soziale Beziehungen und soziale Unterstützung in Familie, Pflegefamilie und Heim“ (Nestmann et al. 2008). Literatur Abelson, R.P. (1976). Script processing in attitude formation and decision making. In: J.S. Carroll, J.W. Payne (Eds.), Cognition and social behaviour. Hillsdale: Lawrence Erlbaum, 33-67 Aken, M.A.G. van, Asendorpf, J.B. & Wilpers, S. (1996). Das soziale Unterstützungsnetzwerk von Kindern: Strukturelle Merkmale, Grad der Unterstützung, Konflikt und Beziehungen zum Selbstwertgefühl. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 43 (2), 114-126 Baur, D., Finkel, M., Hamberger, M. & Kühn, A.D. (1998). Leistungen und Grenzen von Heimerziehung: Ergebnisse einer Evaluationsstudie stationärer und teilstationärer Erziehungshilfen (Forschungsprojekt Jule; Projektleitung Hans Thiersch). Herausgegeben vom Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Stuttgart: Kohlhammer Belle, D. (1989). Gender differences in children’s social networks and supports. In: D. Belle (Ed.). Children’s social networks and supports. New York: Wiley, 173-188

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Interaktion und Kommunikation in der Sozialen Arbeit. Fallstudien zum Hilfeplangespräch Heinz Messmer/Sarah Hitzler Einleitung Hilfeplanung wird im Fachdiskurs der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe als ein Schlüsselprozess für die Qualitätsentwicklung im Kinder- und Jugendhilferecht angesehen und seit bald zwanzig Jahren intensiv diskutiert. Sie ist der Versuch, unter komplexen und prinzipiell kontingenten Hilfeverläufen im zeitlichen Vorgriff eine Entscheidung über die erwartbar beste Handlungsoption vorzubereiten und gedanklich zu strukturieren (Merchel 1999, 75). An die Stelle obrigkeitsstaatlicher Reaktionen und expertokratischer Diagnoseverfahren sollen multilateral strukturierte Verfahrensentscheidungen treten, bei denen sich Fachkräfte und Entscheidungsbetroffene gemeinsam über ihre individuellen Problemdefinitionen verständigen können und hinsichtlich Art und Umfang von Hilfen zu angemessenen Entscheidungen finden. Obwohl über die konzeptionellen und normativen Verfahrensvoraussetzungen der Hilfeplanung ein breites fachliches Einvernehmen besteht, klaffen Anspruch und Wirklichkeit der Hilfeplanung weit auseinander. Im Kern verweisen die bisherigen Studien auf ein hohes, von allen Beteiligten anerkanntes Kooperationsideal, das jedoch durch unklare Rollendefinitionen, übergangene oder verzerrt dargestellte Vereinbarungsinhalte sowie durch kollektive Meidung besonders belastender Themen unterlaufen oder außer Kraft gesetzt wird (Modellprogramm 2003; Messmer 2004). Vor allem aber liegen die konkreten Praxisabläufe der Hilfeplanung empirisch im Dunkeln. Auch nach Jahren intensiver Diskussion sind empirisch fundierte Aussagen „deutlich zu selten“ (Pies/Schrapper 2003, 86). Die bisherigen Untersuchungen zu diesem Thema leiden zudem an der Schwäche, dass sie lediglich auf indirektem Wege (ex post facto) Rückschlüsse auf die tatsächlichen Verfahrensabläufe der Hilfeplanung ziehen. Generell werden die praktisch realisierten Handlungsvollzüge in der Sozialen Arbeit empirisch nur langsam erschlossen (vgl. beispielsweise Petko 2004; Wigger 2007). Infolgedessen stehen die zentralen Problemstellungen des professionellen Handlungssystems und seine Strukturlogiken weithin noch unverbunden nebeneinander (Schütze 2000; Dewe/Otto 2005). An diesem Defizit setzt auch die vorliegende Studie an. Die nachfolgenden Ausführungen entstammen einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt mit dem Titel „Reflexive Hilfeplanung als kommunikativer Aushandlungs- und Entscheidungsprozess“, das im Zeitraum zwischen Dezember 2004 und Juni 2008 an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld durchgeführt wurde. Zielsetzung dieses Forschungsvorhabens war, ein Kernelement der Ressourcensteuerung in der Kinder- und Jugendhilfe empirisch detailliert zu rekonstruieren. Konversationsanalyse als Methode Der methodologische Schwerpunkt der vorliegenden Studie liegt in den Grundannahmen der Ethnomethodologie begründet (vgl. dazu den Beitrag Konversationsanalyse im Supplement des G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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vorliegenden Bandes). Diese zeichnet sich durch eine methodische Haltung aus, welche die soziale Wirklichkeit als eine situierte, das heißt kontextgebunden und interaktiv konstituierte Ordnung betrachtet. Die Konversationsanalyse, die unserer Forschung methodisch zugrunde lag, greift diese Grundhaltung auf. Dabei setzt sie an Kommunikation als dem zentralen Medium einer sozial produzierten Wirklichkeit an. In diesem Verständnis dient eine Kommunikation nicht nur der Übertragung von Information; vielmehr produziert sie diejenige Situation, die dem Informationsaustausch zugrunde liegt, indem die Teilnehmenden gemeinschaftlich diejenigen Ordnungsprinzipien generieren, von denen sie annehmen, dass sie für die vorliegende Situation wesentlich sind. Auch für institutionelle Kontexte ist Kommunikation konstitutiv. Diese wären ohne die Vermittlungsleistung von Sprache kaum denkbar, was für Gerichte oder Arztpraxen ebenso gilt wie für die Einrichtungen der Sozialen Arbeit: Ob Fachkräfte Aktennotizen lesen oder verfassen, andere Institutionen kontaktieren, sich kollegial beraten oder mit ihren Klienten befassen – immer ist Kommunikation mit im Spiel. Jedoch wird die zentrale Rolle von Sprache im praktischen Alltag der Professionellen nur selten bewusst reflektiert (vgl. Juhila/Pösö 1999, 276). Wie selbstverständlich fließt Sprache in die täglichen Arbeitsabläufe ein, sodass ihr wirklichkeitsproduzierender Charakter zumeist unbemerkt bleibt. Aus konversationsanalytischer Sicht ist Sprache jedoch dasjenige Instrument, das Soziale Arbeit als faktische Wirklichkeit erst hervorbringt. Soziale Arbeit ist wesentlich sprachlich fundiert. Und die Art und Weise, wie Sprache eingesetzt wird, hat unmittelbar Einfluss darauf, was in der Sozialen Arbeit als objektiv ‚wirklich’ erscheint. Aus diesem Blickwinkel betrachtet lässt sich über die genaue Analyse von Kommunikation einiges über die Faktizität der Sozialen Arbeit selbst in Erfahrung bringen. Sich damit zu befassen heißt, die Bausteine ihrer Wirklichkeitskonstruktionen zu ergründen (Hall/Slembrouck/Sarangi 2006). Die Analyse regelmäßig wiederkehrender Aktivitäten ist demgemäß gut geeignet, um die Strukturlogiken institutioneller Praxis unter ihren Herstellungsgesichtspunkten zu begreifen. Diese lassen sich anschließend auf den institutionellen Kontext zurück beziehen, der diese Handlungen strukturiert und ermöglichen dadurch Aussagen, die weit über die Ausgangsaktivitäten hinausweisen. Untersuchungsdesign In der Anlage unserer Untersuchungen wurde von vornherein ein klarer Schwerpunkt auf die durch die Form des Gesprächs sichtbar werdenden Strukturen gelegt. Das Untersuchungsinteresse bezog sich insofern nicht auf die spezifische Bearbeitung einzelner Fälle; vielmehr sollten die dem Hilfeplangespräch innewohnenden Rationalitäten institutionellen Handelns systematisch beschrieben und freigelegt werden. Entsprechend war auch die der Untersuchung zugrunde liegende Forschungsfrage ex ante vergleichsweise offen gestellt: Was ist ein Hilfeplangespräch? Was geschieht darin tatsächlich? Welche empirisch nachweisbaren Ablaufprozesse sind mit welchen Funktionslogiken der Hilfeplanung wie verknüpft? Und welche weiterführenden Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen? Im Vordergrund dieser Untersuchung standen somit sehr grundlegende und daher über das einzelne Gespräch hinausgehende Fragen. Wertende oder urteilende Aussagen in Bezug auf das fachliche Handeln waren dagegen nicht von Belang. Es ging uns nicht darum herauszufinden, ob ein bestimmtes Gespräch gut oder schlecht verlaufen war oder ob sich die einzelnen Fachkräfte in einer Situation angemessen oder unangemessenen verhielten; ebenso wenig woll-

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ten wir die Auswirkungen von spezifischen Hilfeplangesprächen auf einzelne Hilfeverläufe eruieren. Stattdessen wollten wir durch unsere Untersuchung Aufschluss darüber gewinnen, was sich über den Eigensinn institutionellen Handelns im Rahmen von Hilfeplangesprächen allgemein aussagen lässt. Datenerhebung Der Kern unseres Datenkorpus wird durch vierzehn Hilfeplangespräche gebildet, die wir in vier verschiedenen Institutionen erhoben, zwei Jugendämtern und zwei stationären Kinderund Jugendhilfeeinrichtungen in NRW. Die Gespräche wurden in drei typischen Hilfephasen erhoben: erstens der Falleingangsphase, also das erste Hilfeplangespräch nach der Unterbringung in einer Einrichtung; zweitens der Fortschreibungsphase, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Hilfe bereits etabliert, ihr Ende aber noch nicht absehbar ist; drittens schließlich der Fallabschlussphase, in der die Beendigung der Hilfe zum entscheidenden Thema wird (im Allgemeinen das letzte oder vorletzte Hilfeplangespräch einer Hilfe). Alle vierzehn Gespräche entstammten verschiedenen Hilfeverläufen. Auf diese Weise erreichten wir mit einem recht kleinen Sample eine vergleichsweise hohe Datenvariabilität. Alle Hilfeplangespräche unseres Korpus wurden von einem/r MitarbeiterIn des Projekts beobachtet und aufgezeichnet. Neben der Tonaufzeichnung der Gespräche wurden diese auch im Hinblick auf allgemeine Eindrücke bzw. auf Auffälligkeiten protokolliert. Zusätzlich zu den Gesprächsdaten erhoben wir zu jedem Hilfeplangespräch die zugehörige Fallgeschichte, indem wir die Fallakten exzerpierten. Zwar waren wir an Schriftdokumenten analytisch nur randständig interessiert, sie halfen uns jedoch, die Hintergründe der zu analysierenden Gespräche besser zu verstehen und einzuordnen. Einen ähnlichen Zweck verfolgten wir mit den Interviews, die wir entweder vor oder nach den Gesprächen mit der jeweils fallzuständigen Fachkraft führten. Durch deren Einschätzung, inwieweit das jeweilige Gespräch eher typisch oder eher außergewöhnlich für ein Hilfeplangespräch war, ließ sich die Gefahr, Ausnahmefälle wie Standardfälle zu behandeln, begrenzen Im Rahmen der Erschließung des Feldes wurden außerdem ausführliche Experteninterviews mit den Leitungspersonen der jeweiligen Einrichtungen geführt. Diese vermittelten uns hilfreiche Einblicke in die organisatorischen Besonderheiten der jeweils agierenden Institution. Zudem boten diese Interviews erste grundlegende Einsichten in die Schwierigkeiten, Probleme und Vorzüge des Hilfeplangesprächs aus Sicht von Leitungsexperten. Datenaufbereitung Die Aufzeichnungen der Hilfeplangespräche wurden in Anlehnung an das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem GAT (Selting et al. 1998) vollständig transkribiert und anonymisiert. Da für gesprächsanalytische Verfahren eine genaue und fehlerfreie Transkription von ausschlaggebender Bedeutung ist, wurden die Transkripte mit Bezug auf die Audioaufnahme mehrfach gegengelesen.1 Dennoch wirft die Arbeit an Transkripten, so detailliert sie sein mögen, immer auch Probleme einer interpretativ gefärbten Sichtweise auf. Dies lässt sich an der unscheinbaren Frage von anonymisierten Sprecherbezeichnungen illustrieren. Denn mit jeder Sprechersigle, mit der etwas über die Person ausgesagt wird, ist immer auch eine Relevantsetzung der so 1

In der Konversationsanalyse wird bei der Transkription auf eine möglichst umfassende und realitätsgetreue Abbildung aller Phänomene im aufgezeichneten Gespräch geachtet, um vorschnelle Interpretationen zu vermeiden (vgl. dazu näher die Ausführungen im Supplement). Im Anhang zu diesem Beitrag findet sich eine verkürzte Übersicht über die in den Beispielen verwendeten Transkriptionskonventionen.

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eingebrachten Information enthalten. Die Zuschreibung einer Äußerung auf eine ‚Mutter’ legt beispielsweise nahe, dass möglicherweise Geschlecht, Alter und sozialer Status für das Verständnis dieser Äußerung wesentlich sind. Wird die Äußerung hingegen der Person ‚A’ zugeschrieben, müssen sich solche Relevantsetzungen aus der Form und dem Inhalt des Gesagten selbst erst erschließen. In der klassischen Konversationsanalyse werden Sprechersiglen daher oft in möglichst neutralen Formen gebraucht (Schegloff 1992). Aus Orientierungs- und Lesbarkeitsgründen haben wir in der vorliegenden Untersuchung dagegen statusanzeigende Sprechersiglen bevorzugt: So ist beispielsweise über alle Transkripte hinweg den Jugendamtsfachkräften die Sigle JA zugeteilt. Aufgrund der empirisch deutlich unterschiedlich geprägten Kommunikationskulturen (zumindest zwischen Professionellen und Klienten) erschien uns die Gefahr einer punktuell gefärbten Analyse verhältnismäßig gering. Die einheitliche Anonymisierung einer nicht geringen Anzahl an Beteiligten hat dagegen den Vorteil, dass in der Darstellung nicht jede/r GesprächsteilnehmerIn detailliert beschrieben werden muss, um die Analyse verständlich zu machen. Solche Entscheidungen müssen im Prozess der Datenaufbereitung jedoch reflektiert und im Prozess der Datenanalyse im Bewusstsein behalten werden: Wenn einzelne Dimensionen der Gesprächsdaten bereits interpretiert worden sind, besteht prinzipiell die Gefahr einer unreflektierten Überinterpretation. Auch die Experten- und Fachkräfteinterviews wurden transkribiert, jedoch war der Detaillierungsgrad hier deutlich geringer. Die Aktenexzerpte und Beobachtungsprotokolle der Gespräche wurden zu Fall- und Gesprächsprofilen verdichtet, die einen schnellen Ein- und Überblick auf die Besonderheiten der einzelnen Fälle und Gespräche erlaubten. Datenauswertung Die konversationsanalytische Auswertung ist grundsätzlich datengeleitet. Das bedeutet, dass die kategoriale Relevanz der Analyse in den Gesprächsdaten selbst angelegt sein muss. Hierzu werden zunächst die Gesprächsaufzeichnungen und -transkripte im Hinblick auf auffällige Phänomene untersucht. Jede konversationsanalytische Auswertung beginnt mit einem Entdeckungsmoment, das zum ursprünglichen Forschungsinteresse in Beziehung gesetzt wird. So wird eine Forscherin, die an interkultureller Kommunikation interessiert ist, im gleichen Gespräch vermutlich auf andere Phänomene aufmerksam als ein Forscher, der sich für Probleme kooperativer Aufgabenbewältigung interessiert. Unsere eigenen Suchbewegungen wurden zunächst durch die allgemeine Frage geleitet, ob und wie das Hilfeplangespräch das leistet, was ihm programmatisch von außen zugedacht wird. Daraus ergaben sich zunächst eine Reihe grundsätzlicher Fragen: Beispielsweise, wie ein Hilfeplangespräch zum Hilfeplangespräch wird, welche Rolle die einzelnen Teilnehmer dabei spielen, wie Entscheidungen getroffen werden oder wie in diesem Zusammenspiel das gesetzlich vorgeschriebene Partizipationspostulat berücksichtigt wird. Zum Teil waren die ersten Suchbewegungen unserer Datenanalyse auch durch die Ergebnisse anderer Studien inspiriert. Die konversationsanalytische Auswertung großer Gesprächskorpora (in unserem Fall: 14 voll transkribierte Gespräche mit einem Umfang von insgesamt mehr als eintausend Seiten) bereitet in methodischer Hinsicht Probleme (vgl. auch Meier 1997, 48 f.), da diese Methodik ursprünglich für die Analyse kürzerer Gesprächsausschnitte bzw. zur Beschreibung mikroskopischer Ordnungselemente konzipiert worden ist. Vor diesem Hintergrund lag unsere eigene Herangehensweise in einer wechselnden Abfolge von weiten und engen Suchbewegungen. Anfänglich haben wir uns mit dem gesamten Gesprächsmaterial zunächst ungerichtet auseinandergesetzt, das wir mehrfach ohne ein spezifisch definiertes Erkenntnisinteresse lasen bzw. hörten, um mit den Daten vertraut zu werden und erste Auffälligkeiten zu notieren. Als

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ein zentraler analytischer Fokus kristallisierte sich jedoch schon bald die Beziehung zwischen Klienten und Professionellen heraus. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass in den vorliegenden Gesprächsdaten ein zunächst willkürlich erscheinender Wechsel der Adressierung auffällig war. Wenn die Fachkräfte im Gespräch sich auf die anwesenden Klienten bezogen, sprachen sie entweder mit ihnen (in der zweiten Person) oder über sie (in der dritten Person), wobei diese Anredeformen einander häufig sogar im selben Redezug ablösten, wie beispielsweise im folgenden Bericht einer Heimleiterin über die 14jährige Janet: [1] Janet 270-7 HL: .hhh auch die Dinge mh:= Æ =weshalb sie in der ANderen Einrichtung aufgefallen ist, also äh SCHNELL (.) Kontakte zu Jungs aufzunehmen, (--) war hier zunächst AUCH? Æ und dann hast du ähm auch mal ne Beziehung zu einem Jungen gehabt, die dann schnell zu Ende war, und da warst du sehr traurig drüber, und und hast dann (--) WEICHspüler getrunken,

Diese Beobachtung brachte uns schließlich dazu, das Phänomen wechselnder Adressierungen über das gesamte Datenkorpus hinweg zu verfolgen und in seinen Auswirkungen genauer zu analysieren. An diesem Punkt wurde somit eine zunächst unspezifische Suchbewegung methodisch spezifiziert, um ein singuläres Phänomen selektiv weiterverfolgen zu können. Nach einer vergleichenden Analyse dieser Auffälligkeit (In welchen Gesprächskontexten tritt sie auf? Welche Effekte zeigen sich an den unmittelbar nachfolgenden Interaktionen? Welches Interaktionsproblem wird damit gelöst?), flankiert durch das Sichten und Auswerten vergleichbarer Analysen,2 wurde die Suchbewegung schließlich wieder erweitert, um verwandte Phänomene in die Analyse mit einbeziehen zu können. Angestrebt wurde ein gewisser analytischer Sättigungsgrad, der empirisch soweit belastbar ist, dass sich daraus ‚generative Prinzipien’ ableiten ließen: Wenn die Analyse in der Lage ist, das Auftreten verwandter Phänomene im gleichen Kontext bzw. das Auftreten von gleichen Phänomenen in verwandten Kontexten vorherzusagen, so ist sie hinreichend verdichtet (Bergmann 1988, 42; ten Have 1999, 154 f.). Die intensive Beschäftigung mit einzelnen Phänomenen im Zuge der Engführung der Analyse birgt allerdings auch eine gewisse Gefahr. Durch die beliebige Verlangsamung und Detaillierungsmöglichkeit von Phänomenen, die sonst flüchtig, unwiederbringlich und oft auch unbemerkt an uns vorübergehen, entsteht nicht selten ein „Detaillierungssog“ (Bergmann 1985, 316), in dem sich die Analyse leicht verlieren kann: Wie bei einer Zwiebel zeigt sich in Gesprächsdaten unter jeder freigelegten bzw. sichtbar gemachten Schicht eine weitere, feinere Ebene mit einer Fülle neuer Elemente, die das ursprünglich anvisierte Phänomen wiederum unterteilen, relativieren oder im Hinblick auf seine Funktion im Gespräch analytisch höher auflösen kann. Wer sich auf der Suche nach den ursächlichen Strukturen komplexer Gesprächsabläufe auf immer weitere Tiefenschichten einlässt, verliert mitunter schnell die ursprünglichen Zielsetzungen aus den Augen. Entsprechend sind reflektierte bzw. pragmatische Selbstbegrenzungen unabdingbar. Vor den hier nur beispielhaft skizzierten Verfahren einer konversationsanalytischen Forschung wollen wir nun (in notwendigerweise stark verkürzter Form) ausgewählte Befunde 2

So stießen wir etwa auf die Untersuchung von Meike Schwabe, der die Bedeutung dieses Äußerungsformats in medizinischen Gesprächskontexten ebenfalls aufgefallen war (Schwabe 2004, 82 ff.).

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unserer Analysen zum Hilfeplangespräch präsentieren. Diese betreffen zum einen Fragen der klientelen Identität, zum anderen Anmerkungen zu den Entscheidungsprozessen in einer heterogen zusammengesetzten Gruppenstruktur, die wiederum weiterführende Hinweise auf die interaktiven Dilemmata in der Sozialen Arbeit vermitteln. Ergebnisse Die soziale Produktion von Klienten Aus ethnomethodologischer Perspektive werden im Rahmen der Interaktion nicht nur soziale Situationen, sondern gleichzeitig auch die für die Situation relevanten Identitäten konstituiert. Um ein Hilfeplangespräch führen zu können, müssen die Anwesenden hinsichtlich Status und Rolle hinlänglich unterscheidbar und füreinander in ihrer Verschiedenheit wahrnehmbar sein. Grundlegend dafür ist die Rollenbeziehung zwischen Klientel und Professionellen. Wie in institutionellen Gesprächskontexten überhaupt zeichnet sich diese Rollenbeziehung auch hier durch den Umstand aus, dass die eine Seite ein Problem hat, für das die andere Seite über die erforderlichen Ressourcen zu seiner Abhilfe verfügt. Eine in diesem Sinne komplementäre Rollenbeziehung ließ sich auch in den Hilfeplangesprächen erwarten. Vor diesem Hintergrund haben wir uns gefragt, wie und durch wen die für diese Rollenbeziehung notwendigen Identitäten hergestellt bzw. sichtbar gemacht werden: Welche institutionellen Zwecksetzungen werden damit erfüllt? Welche Interaktionsprobleme dadurch gelöst? Die interaktionsförmige Sichtbarmachung dieser Rollenbeziehung haben wir als Prozesse der Klientifizierung interpretiert. Begrifflich ist damit ein Vorgang bezeichnet, der sich auf die interaktive Herstellung erwartbarer institutioneller Rollenidentitäten bezieht. In unserer Studie haben wir vier Varianten der Klientifizierung im Rahmen von Hilfeplangesprächen unterschieden (vgl. ausführlich Messmer/Hitzler 2007). Die erste und offensichtlichste Variante der Klientenproduktion findet sich in der sozialen Adressierung, in der Tatsache also, dass Klienten anders bezeichnet und mit anderen Attributen versehen werden als Professionelle. Dies lässt sich vor allem in den Einleitungsphasen von Hilfeplangesprächen beobachten, wenn beispielsweise eine Fachkraft die bisherige Fallgeschichte zusammenfassend darstellt, wie im Gespräch ‚Janine’: [2] Janine 76-82 JA:

ja vorausgeschickt war ja das Hilfeplangespräch bei uns im Amt? (1.0) ne?= =wo auch ähm: .hhh ähm – (---) die Mutter, (--) Janine; als auch Fachkräfte vom Dienst, teilgenommen haben-

An dieser kurzen Sequenz lässt sich die Form sozialer Adressierung gut illustrieren. So werden die beiden anwesenden Klientinnen (Janine; die Mutter) in ihrer lebensweltlichen Beziehung zueinander beschrieben, während bei den Professionellen ihre institutionelle Zugehörigkeit im Vordergrund steht (bei uns im Amt; Fachkräfte vom Dienst). Zusätzlich fällt auf, dass sich die professionellen Identitäten häufig als Gruppenidentitäten präsentieren, was etwa durch die zweite Person Plural sprachlich zum Ausdruck gebracht wird (bei uns im Amt). Professionelle nehmen im Gespräch somit bevorzugt Stellvertreterrollen ein, die grundsätzlich austauschbar sind und

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auch von anderen Fachkräften als den hier Anwesenden ausgefüllt werden könnten. Klienten werden demgegenüber vorzugsweise über ihre individuellen Rollenbezüge identifiziert. Dies unterstreicht mithin ihre Nicht-Austauschbarkeit in Bezug auf den Fortbestand der professionellen Beziehung. Eine zweite Variante der Klientenproduktion geschieht in Form der Objektivierung bzw. der Verdinglichung von Klienten, die über das bereits weiter oben angedeutete Format des ‚Reden mit/Reden über’ umgesetzt wird. Indem Professionelle über anwesende Klienten sprechen, behandeln sie diese interaktiv wie Abwesende. Gleichzeitig erscheinen sie primär als das Thema, weniger hingegen als Adressat der betreffenden Äußerung. Auf diesem Wege können die Professionellen indirekt auch deren Partizipationsstatus kontrollieren: Werden Klienten lediglich als Thema einer Äußerung adressiert (Reden über), bleiben sie im Allgemeinen still und kommentieren das Gesagte nicht. Werden sie dagegen im Gespräch direkt adressiert (Reden mit), so werden sie dadurch zu Gesprächspartnern in der Interaktion und reagieren entsprechend öfter auf die an sie gerichteten Redebeiträge. Auch dieser Sachverhalt lässt sich anhand des oben bereits zitierten Gesprächsausschnitts aus dem Gespräch ‚Janet’ gut illustrieren: [3] Janet 270-80 HL: .hhh auch die Dinge mh:= =weshalb sie in der ANderen Einrichtung aufgefallen ist, also äh SCHNELL (.) Kontakte zu Jungs aufzunehmen, (--) war hier zunächst AUCH? Æ und dann hast du ähm auch mal ne Beziehung zu einem Jungen gehabt, die dann schnell zu Ende war, und da warst du sehr traurig drüber, und und hast dann (--) WEICHspüler getrunken, (lacht auf)) < ‘hm ‘hm:.> KJ:Æ HL: naja. KJ:Æ s(t)immt gar nicht.

Der hier gezeigte Ausschnitt stammt aus einem längerem, durch die Heimleiterin vorgetragenen Entwicklungsbericht, den sie vorher ausschließlich im Modus des ‚Redens über’ gehalten hat. Dabei behält sie unangefochten das alleinige Rederecht, bis sie vom ‚Reden über’ in den Modus des ‚Redens mit’ transferiert. Damit ändert sich gleichzeitig Janets Gesprächsstatus in bedeutsamer Weise: Als Adressatin der Kommunikation ist sie ihrerseits nun befugt, ihre Haltung zu den Inhalten des Berichts bzw. auch anders lautende Sachverhaltsversionen zum Ausdruck zu bringen. Eine dritte Form der Klientifizierung ist mit dem Begriff der sozialen Kategorisierung umschrieben. Damit eine Person zum Klient werden kann, muss ein Problem bestehen, das sie aus eigener Kraft nicht bereinigen kann. Wo ein solches Problem nicht besteht, gibt es weder für eine Hilfe, noch für ein Hilfeplangespräch eine Berechtigung. Weil für alle Beteiligten das zu lösende Problem ersichtlich sein muss, ist im Hilfeplangespräch die kommunikative Etablierung des Hilfebedarfs ein unverzichtbarer Bestandteil des Entscheidungsverfahrens. Dies geschieht über die Feststellung eines Defizits, das auf die Differenz zwischen gesellschaftlichem Soll- und Ist-Zustand aufmerksam macht. Im Gespräch ‚Janine’ beispielsweise wird die Vierzehnjährige durch Hinweise darauf als Klientin kenntlich gemacht, dass sie sich durch mehrfache ‚Außerhäusigkeit’ selbst in Gefahr bringt, ein frühreifes Interesse am anderen Geschlecht demonstriert und sich dem Einfluss ihrer überforderten Mutter entzieht.

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Die letzte von uns identifizierte Form der Klientifizierung vollzieht sich schließlich im Rahmen der institutionellen Passung. Dieses Muster dient der logisch nachvollziehbaren Verknüpfung der Identität des Klienten, des ermittelten Hilfebedarfs und der verfügbaren Ressourcen der Institution. Im Gespräch ‚Janine’ suggeriert der Begriff der ‚Außerhäusigkeit’ Selbstgefährdung und Schutzbedarf, da die Jugendliche weder selbst in der Lage ist, sich eigenverantwortlich zu verhalten, noch ihre Mutter als Autoritätsperson anerkennt. Heimunterbringung ist darauf die institutionell passende Antwort. Auf dem Wege der Passung wird die Klientin als eine legitime Adressatin institutioneller Hilfen konstruiert, deren Probleme durch die Mittel der Sozialen Arbeit bearbeitet werden können. Gemäß den vorliegenden Analysen ist Klientenproduktion ein Kernbestandteil professioneller Aktivitäten: Wo Klient und Professionelle einander begegnen, werden zwangsläufig auch die der Interaktion zugehörigen Identitäten (re-)produziert. Wann immer in institutionellen Kontexten lebensweltliche Problemlagen definiert, bewertet und im Hinblick auf ihre institutionelle Bearbeitbarkeit eingeschätzt werden, differenziert sich dabei ein komplementäres Rollengefüge aus, das mit dieser Funktionsbestimmung korrespondiert. In diesem Sinne sind Klienten das Produkt eines institutionellen Strukturarrangements, das sich in den Interpretationen des Hilfeplangesprächs lokal reproduziert. Entscheidungsfindung im Hilfeplangespräch Ein zweiter Themenkomplex, mit dem wir uns analytisch ausführlicher beschäftigt haben, hatte die Untersuchung von Entscheidungsfindungsprozessen zum Ziel. Ausgangspunkt war hier die Beobachtung, dass Entscheidungsabläufe im Hilfeplangespräch merkwürdig unsichtbar bleiben, obwohl sie ihrem Anspruch nach transparent gestaltet sein sollten und in den daraus resultierenden Hilfeplanprotokollen durchaus klare Formulierungen zu finden sind, was Gegenstand und Ergebnis der Entscheidungen war. Ausgehend von dieser Beobachtung haben wir nachzuzeichnen versucht, welchen Prämissen die Teilnehmer im Hilfeplangespräch folgen (Hitzler/Messmer, 2010). Entscheidungsfindung hat zum Ziel, alternative Lösungen für eine Problemstellung zu entwickeln und die bestmögliche Alternative auszuwählen. Vor dem Hintergrund heterogener und teilweise auch widersprüchlicher Entscheidungskriterien haben die Fachkräfte im Hilfeplangespräch Entscheidungsfindungsstrategien entwickelt, deren Zweck darin besteht, die Entscheidungskomplexität in der jeweiligen Interaktion auf ein bearbeitbares Maß zu reduzieren, das die zeitlichen und kognitiven Ressourcen der Beteiligten nicht überfordert. In diesem Zusammenhang ist die Etablierung von Entscheidungsrelevanz von zentraler Bedeutung. Schon die Art und Weise, wie ein Thema in das Gespräch eingeführt wird, ist maßgeblich für seine weitere Bearbeitung. Generell gilt, dass Entscheidungsrelevanz dann entsteht, wenn die Entwicklung des Kindes negativ dargestellt wird oder Bedürfnisse zur Sprache kommen, auf die im Zuge der Hilfeplanung bislang noch nicht reagiert worden ist. Dagegen wird Entscheidungsrelevanz vermindert, wenn die Entwicklungen eines Kindes positiv dargestellt oder Sachverhalte als unbedeutend eingeschätzt werden. Ob ein Thema als entscheidungsrelevant eingestuft wird, ist diesem selbst nicht intrinsisch. Entscheidungsrelevanz hängt vielmehr davon ab, in welcher Gesprächsphase das Thema eingebracht, mit welchen Formulierungen es zum Ausdruck gebracht wird und welche expliziten oder impliziten Bewertungen es dadurch erfährt. Für den Fall, dass Entscheidungsrelevanz etabliert und daraufhin ein Entscheidungsfindungsprozess eingeleitet wird, zeigen unsere Daten im Weiteren, dass Professionelle Zugang zu einer Anzahl Praktiken haben, die an der Oberfläche Klienten in den Entscheidungsprozess mit einbeziehen, während sie in der Entscheidung selbst unberücksichtigt bleiben (vgl. Hofste-

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de et al. 2001 mit zum Teil ähnlichen Ergebnissen). Ferner werden Klienten oftmals im Unklaren darüber gelassen, an welchem Punkt des Entscheidungsfindungsprozesses sich das Gespräch gerade befindet, was ihre Beteiligungsmöglichkeiten entsprechend erschwert. Mitunter werden auch diejenigen Themen, die bei Klienten vermutlich auf Widerspruch stoßen, von den Professionellen aber als zentral eingeschätzt werden, von diesen bereits im Vorfeld erörtert und im Hilfeplangespräch lediglich als ein Entscheidungsprozess reinszeniert. Mit dem folgenden Beispiel wollen wir diese letztere Strategie kurz illustrieren. Hier haben die Professionellen vor dem eigentlichen Hilfeplangespräch ein kurzes Treffen arrangiert. Dabei haben sie sich darauf geeinigt, dass die Besuchskontakte der (geschiedenen) Eltern eingeschränkt werden sollen, da die im Heim untergebrachten Geschwisterkinder Mark und Ivonne nach Einschätzung ihrer Bezugsbetreuerinnen unter den um Sympathie konkurrierenden Elternbesuchen leiden. Im anschließenden Hilfeplangespräch wird die zuvor erreichte Einigung vom Erziehungsleiter der Einrichtung in Form eines ,Vorschlags’ thematisiert, den die Fachkraft des Jugendamtes in dieser Form aufgreift und durch ihre ausdrückliche Zustimmung ratifiziert: [4] Geschwister 3344-9 JA:

Besuchskontakte zuKÜNftig würd ich an der Stelle halt auch erstmal: ä:hm::- (--) ja ne, also: e:ntsprechend dem Vorschlag von Herrn Hermann dann halt auch ä::hm: ne, (1.0) EINschränken in der Form-

In den von uns untersuchten Hilfeplangesprächen bestätigt sich die durch explizite Verbalisierung transparent gemachte Entscheidungsfindung eher als Ausnahme denn als Regel, während implizite oder undurchsichtige Entscheidungsprozesse das Hilfeplangespräch strukturell dominieren. Solche Ausnahmen finden sich vorzugsweise im Hinblick auf diejenigen Themen, die als wenig relevant oder als nicht konfliktträchtig eingeschätzt werden oder für deren Umsetzung die Kooperation der Klientin zwingend notwendig ist (vgl. Hall et al. 1999 sowie Hall/Slembrouck/Sarangi 2006 mit ähnlichen Befunden). Interaktive Dilemmata und Paradoxien Die hier skizzierten Ergebnisse bilden lediglich einen Ausschnitt aus den Befunden, die im Zuge unserer Beschäftigung mit den Gesprächen unseres Korpus entstanden sind. In vergleichbarer Form ließen sich noch zahlreiche andere Phänomene aus der unmittelbaren Interaktion zwischen Klienten und Fachkräften im Hilfeplangespräch herausdestillieren. Auffällig ist beispielsweise das Phänomen, dass die klare Benennung von Hilfe auslösenden Problemen den Fachkräften im Hilfeplangespräch wiederkehrend Schwierigkeiten bereitet. Durchgängig in unseren Daten zeigt sich eine auffällige Zurückhaltung der Professionellen in der Zuschreibung eindeutiger Problemeigenschaften auf die anwesende Klientel. Die weiter oben schon angesprochene ‚Außerhäusigkeit’ in Janines Verhalten ist beispielsweise lediglich ein Euphemismus für die tatsächliche Einschätzung der Professionellen, wonach Janine in die Straßenprostitution abgleiten könnte. Die Vermeidung eindeutiger, möglicherweise aber stigmatisierender Begrifflichkeiten lässt sich zum einen mit dem Bestreben erklären, dass die moralische Integrität der Klientin geschützt werden soll; zum anderen ist man bemüht, die Arbeitsbeziehung dadurch nicht zu gefährden. Wenn es darum geht, den Hilfebedarf über die Feststellung

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negativer Verhaltensauffälligkeiten für Dritte plausibel, präzise und nachvollziehbar zu begründen, geraten fachliche und moralische Zuschreibungen mithin in Konflikt. Ein anderes Beispiel, das wir hier ebenfalls nur kursorisch anführen können, betrifft die für das Programm der Hilfeplanung nicht unwesentliche Frage der Partizipation. Teilhabe im Kontext professioneller Hilfeentscheidungen ist als eigenständiger Wert zu begreifen, weil sie die Anerkennung der Bedürfnisse und Interessen jener Personen zum Ausdruck bringt, auf die die Entscheidungen zielen. Deswegen stellt sie hohe Anforderungen an ihre praktische Umsetzbarkeit. Es entsteht das Dilemma zwischen notwendiger Empathie und dem fachlich begründeten Wissen darüber, was im Hinblick auf die festgestellte Problemstellung die ‚richtige’ Vorgehensweise ist (so auch Pluto 2007). Professionelle müssen im Hilfeplangespräch als Experten agieren, gleichzeitig aber auch in einer nichthierarchischen und beteiligungsorientierten Beziehung interagieren. Die Spannung zwischen dem normativ gesetzten Partizipationspostulat und den handlungspraktischen Möglichkeiten seiner Realisierung lässt sich an kommunikativen Doppelstrategien der Professionellen – wie schon mit Blick auf die Definitions- und Entscheidungsfindungsprozesse im Hilfeplangespräch angedeutet – gut illustrieren. Vor diesem Hintergrund spiegeln unsere Daten ein Bild divergenter Spannungsfelder zwischen verschiedenen, im Programm der Hilfeplanung selbst angelegten Anforderungen wider, denen die Fachkräfte mit widersprüchlichen, ambivalenten oder kompromissbehafteten Kommunikationsstrategien entgegenzutreten versuchen. Generalisierbarkeit gesprächsanalytischer Forschung Die Beweiskraft jeder Forschung steht und fällt mit der Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse. Forschungsmethoden, die einen qualitativen Zugang wählen, stehen dabei häufig im Verdacht, Einzelfälle ungerechtfertigt zu Regelfällen zu erklären und beliebige Ergebnisse zu produzieren. Wie die qualitative Forschung überhaupt muss also auch die Konversationsanalyse das Thema der Generalisierung anders bearbeiten als Forschung, die auf die Aussagekraft großer Zahlen zurückgreifen kann. Generalisierung ist der Versuch, in einem eingeschränkten Untersuchungsfeld bestätigte Annahmen auf eine größere Einheit zu übertragen, die außerhalb der Reichweite der verfügbaren Daten liegt (Wolff 2000). Aus Sicht der Konversationsanalyse ist eine solche Übertragbarkeit unzulässig, da ihr streng genommen nur solche Annahmen als bestätigt gelten, die sich in den empirischen Daten schlüssig widerspiegeln. Der Dreh- und Angelpunkt, an dem in der Konversationsanalyse Generalisierung dennoch ansetzen kann, ist durch ihr Grundsatzinteresse an den basalen Prinzipien sozialer Ordnung begründet. Ihr Interesse an den systematisch, regelhaft und methodisch (re)produzierten Sinnstrukturen sozialer Interaktion führt direkt zu den elementaren Mechanismen, die für den Aufbau intrinsischer Ordnungsstrukturen und Prozesslogiken sozialer Aktivitäten maßgeblich sind (Pomerantz 1990). Wenn wir davon ausgehen, dass die strukturellen Realisierungsbedingungen unseres Samples (wie beispielsweise das Partizipationspostulat oder die Forderung nach Entscheidungstransparenz) für die Hilfeplanung allgemein gelten, so ist auch die umgekehrte Annahme plausibel, dass die von uns isolierten Muster in ähnlicher Weise auch in anderen Gesprächen dieser Art zu finden sein werden. Diese Annahme lässt sich durch die Beobachtung stützen, dass die Hilfeplangespräche in unserem Korpus durch ein hohes Maß an Diversität gekennzeichnet sind. Tatsächlich erweckte jedes Gespräch zunächst den Eindruck, dass es für ein begrenztes, in sich abgeschlossenes und einzigartiges Universum der Sinnproduktion steht. Jedes Hilfeplangespräch repräsentiert eine

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individuell einmalige Fallgeschichte, die sich zu einer einzigartigen Verfahrensgeschichte auskondensiert und in der sich Themen, Beteiligte, Formalitätsgrad oder Gesprächsklima etc. auf jeweils höchst spezifische Weise verknüpfen. Trotz aller Einzigartigkeiten sind wir dennoch immer wieder auf dieselben Formen der Klientifizierung, dieselben Mechanismen der Entscheidungsfindung bzw. auf vergleichbare Muster des Lavierens zwischen inkompatiblen Handlungsanforderungen gestoßen. Ähnlich gelagerte Anforderungen und Probleme unter gleichen Bedingungen rufen scheinbar ähnlich gelagerte Bearbeitungsstrategien hervor. John Heritage (1997) hat für derartige Routinisierungen im professionellen Handeln den Begriff des ‚Windkanaleffektes’ (wind tunnel effect) geprägt. Dieser Begriff impliziert, dass die wiederholte Auseinandersetzung mit gleichartigen Herausforderungen Professionelle dazu bringt, ihre Handlungsstrategien so zu gestalten, dass diese in den entsprechenden Interaktionssituationen den geringsten Widerstand produzieren. Da Fachkräfte in Hilfeplangesprächen hinsichtlich ihrer strukturellen Einbettung regelmäßig weitgehend ähnlichen Voraussetzungen unterliegen, ist es wahrscheinlich, dass auch ihre Interaktionstrategien gleichförmig ausgeprägt sind. Obwohl im Feld der Sozialen Arbeit aus dem deutschen Sprachraum erst wenige konversationsanalytische Studien vorliegen und wir daher nur annehmen können, dass unsere Ergebnisse in verwandten Situationen ähnlich reproduzierbar sind, so können wir dennoch auf eine Reihe vergleichbarer Studien im internationalen Kontext verweisen. Ungeachtet der jeweils spezifischen Rahmenbedingungen – unterschiedliche Länder, unterschiedliche Wohlfahrtsprogramme, verschiedene Settings – lassen sich über diese Unterschiede hinweg erstaunliche Analogien in den Ergebnissen konstatieren (für einen umfassenden Überblick vgl. Hall et al. 2006; Hitzler/Messmer 2008). Unabhängig von den jeweiligen nationalen, kulturellen, politischen und institutionellen Kontexten scheinen die aus unseren Fallanalysen extrahierten Themenstellungen generell von Bedeutung zu sein. Während Kontexte variieren, Ziele sich ändern oder wohlfahrtspolitische Programme fortwährenden Reformprozessen unterliegen, weisen die Herstellungsbedingungen sozialarbeiterischer Interaktionen demgegenüber eine bemerkenswerte Beständigkeit auf. Insofern ist die Frage der Generalisierbarkeit nicht nur wissenschaftlich, sondern darüber hinaus auch unmittelbar handlungspraktisch bedeutsam. Denn in dem Maße, wie diese Strukturlogiken bei der Konzeption oder Beurteilung von Programmen in ihren interaktiven Auswirkungen unreflektiert und unberücksichtigt bleiben, wächst die Gefahr, dass an den Realisierungsbedingungen der Praxis vorbeigeplant wird. Zur richtigen Einschätzung von Implementierungsvoraussetzungen neuer Programme gehört mithin auch ein Verständnis und Mitdenken der Effekte, die eine solche Interaktionssituation immer mit sich bringt. Schluss Konversationsanalytische Forschung in der Sozialen Arbeit macht grundlegende Praxisroutinen sichtbar, indem sie die gängigen und vordergründig unscheinbaren Selbstverständlichkeiten im Handeln von Fachkräften analysiert. In diesem Sinne reflektiert sie nicht zuletzt auch die Wurzeln des fachlichen Tuns. Insofern bieten unsere Analysen möglicherweise Ansatzpunkte für eine Diskussion, die über das unmittelbare Thema der Hilfeplanung weit hinausführt. Die hier angedeuteten Befunde, dass sich Professionelle in der Durchführung von Hilfeplangesprächen quer durch diverse Spannungsfelder bewegen, die möglicherweise Ausdruck einer Programmüberlast sind, werfen grundsätzlichere Fragen nach dem Umgang der Sozialen Arbeit mit ihren immanenten Strukturwidersprüchen auf (so auch Schütze 1996; 2000). Fragen

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nach der Klientenbeteiligung bzw. dem Zusammenspiel von fachlicher und lebensweltlicher Expertise nehmen in der aktuellen Debatte professionellen Handelns einen zentralen Stellenwert ein. Dieser mangelt es jedoch noch in grundlegenden Hinsichten an empirisch validen Beschreibungen darüber, was die treibenden Kräfte institutioneller Praxis tatsächlich sind. Vor diesem Hintergrund gibt die Konversationsanalyse der Forschung ein methodologisch feinmaschiges Instrument an die Hand, das die vielfach verdeckten, auf den ersten Blick unscheinbaren, gleichwohl aber wirkmächtigen Eigenlogiken in der Praxis Sozialer Arbeit aufdecken kann, welche die Aktivitäten von Fachkräften auf interaktiver Ebene in bedeutsamer Weise bestimmen. Der language turn in der Sozialen Arbeit ist insofern gleichbedeutend mit einem Schritt zurück zu deren tatsächlicher Praxis, der die normativen Prämissen fachlichen Handelns mit ihren Realisierungsbedingungen in grundsätzlicher Weise konfrontiert. Transkriptionskonventionen und Sprechersiglen Sprechersiglen KJ: Kind/Jugendliche JA: Vertreterin des Jugendamts HL: Heimleiterin Transkriptionskonventionen in Anlehnung an GAT Tonhöhenbewegung ? hoch steigend , mittel steigend gleichbleibend ; mittel fallend . tief fallend Sonstige Konventionen akZENT Hauptakzent ( ) unverständliche Passage vermuteter Wortlaut (solche) ((hustet)) para- und außersprachliche Handlungen u. Ereignisse < gut> sprachbegleitende para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse (mit Reichweite) <<erstaunt> ach> interpretierende Kommentare (mit Reichweite) weil [ich Überlappungen und Simultansprechen [sonst gehts schneller, unmittelbarer Anschluss = (.) Mikropause (-), (--), (---) kurze, mittlere, längere Pausen von ca. 0.25-0.75 Sek. (2.0) geschätzte Pause, bei 1 Sek. Dauer und länger :, ::, ::: Dehnung, Längung .h, .hh, .hhh Einatmen h, hh, hhh Ausatmen

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Heinz Messmer/Sarah Hitzler

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Zur Empirie sozialräumlich orientierter Sozialer Arbeit – Soziales Kapital messen Sandra Landhäußer/Holger Ziegler Der folgende Beitrag nimmt die sozialräumliche Orientierung und den damit verbundenen Relevanzgewinn der Kategorie des Sozialen Kapitals in den Blick. Es werden zwei Formen von Sozialkapital nachgezeichnet, Möglichkeiten ihrer empirischen Operationalisierung und Messung vorgeschlagen und die Relevanz und Implikationen dieser Kategorien für die Soziale Arbeit diskutiert. Auf dieser Basis endet der Beitrag mit einer kritischen Perspektive auf die gegenwärtige sozialräumliche Orientierung in der Sozialen Arbeit. Soziale Arbeit und die Konjunktur einer sozialräumlichen Orientierung Professionelle Soziale Arbeit ist durch eine lange Tradition der kontroversen Selbstvergewisserung über ein angemessenes methodisches Vorgehen geprägt. Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich eine Einteilung der grundlegenden Handlungsmethoden Sozialer Arbeit in Einzelfallhilfe, soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit durchgesetzt, wobei der Einzelfallhilfe die tendenziell größte Bedeutung zukam. Diese Einteilung basiert im Wesentlichen auf dem Ausmaß, in dem sich Soziale Arbeit auf Individuen oder auf Kollektive als ihre wesentliche Zielgruppe richtet. Gleichwohl ist diese klassische Unterteilung unter anderem aufgrund ihrer mangelnden Trennschärfe kritisiert worden: Denn schließlich fänden sich kaum professionelle Formen der Einzelfallhilfe in der Sozialen Arbeit, welche die sozialen Kontexte, in die ihre AdressatInnen eingebunden sind, nicht mitberücksichtigen (vgl. Galuske 1998) und auch gruppenbezogene Vorgehensweisen zielen typischerweise auf eine Verbesserung der Situation der einzelnen Beteiligten1 (vgl. Vinter 1970). Weitgehend unabhängig von ihrer Handlungsmethode im Einzelnen gehe es der Sozialen Arbeit grundlegend um die Vermittlung im spannungsreichen und widersprüchlichen Verhältnis von gesellschaftlichen Ansprüchen und individuellen Interessen und damit immer um gesellschaftlich verortete AkteurInnen. Nichtsdestoweniger lassen sich gegenwärtig programmatische Entwicklungen feststellen, die die unterschiedlichen Linien individualisierender und gemeinschaftsbezogener Interventionen in die Lebensführungen wieder schärfer konturieren. So zeigt sich einerseits eine Renaissance individualistischer, behavioural ausgerichteter Trainingsmaßnahmen in der Sozialen Arbeit, bei denen von der Frage nach sozialen Verortungen und Kontextuierungen weitgehend abstrahiert wird. Andererseits finden sich insbesondere unter dem – im einzelnen sehr heterogene Ideen, Konzepte und Ansätze umfassenden – Label einer sozialräumlichen Orientierung zunehmend Vorgehensweisen, die Sozialräume und die in ihnen lebenden BewohnerInnen – als lokale Kollektive – ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rücken (dazu: Kessl/Otto 2007). Teilweise anknüpfend an Traditionen der methodenübergreifenden Gemeinwesenarbeit dienen dabei insbeson1

Auch gemeinwesenorientierte Methoden werden von ihren VertreterInnen als Ansätze charakterisiert, die vor allem den Willen und die Rechte der Betroffenen in den Vordergrund stellen (vgl. Hinte 2002), wenngleich diese häufig als Gesamtheit der BewohnerInnen eines Stadtteils in den Blick genommen werden. G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Sandra Landhäußer/Holger Ziegler

dere „überschaubare soziale Beziehungen in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft […] als wesentliche Ressource und als Gradmesser des sozialen Zusammenhalts“ (Bartelheimer/Schmitt 2002: 2). Diese gelte es entsprechend – zum individuellen und kollektiven Nutzen – zu aktivieren. Zeitgleich mit dieser Konjunktur an sozialräumlichen Vorgehensweisen gewinnt die zunächst im internationalen Entwicklungsdiskurs und in politikwissenschaftlichen Debatten um die Potentiale der so genannten ‚Zivilgesellschaft’ etablierte Kategorie des sozialen Kapitals an Bedeutung. Soziales Kapital wird dabei sowohl als Ressource von einzelnen AkteurInnen als auch als Qualitätsmerkmal und kollektives Gut beschrieben, das Gemeinschaften, Stadtteile oder gar ganze Nationen ‚besitzen’ können (vgl. Landhäußer/Ziegler 2006). Mit der Kategorie des sozialen Kapitals sollen vor allem die Vorteile in den Blick genommen werden, die sich für Individuen und Gemeinschaften durch die Einbettung und Vernetzung von individuellen AkteurInnen in Gemeinschaften ergeben. Entsprechend entwickelt sich diese Kategorie zunehmend zu dem analytischen Instrument des Lokalen und Kleinräumigen (vgl. Karstedt 2004). „Die Ressourcen sozialen Raums“, so schreiben etwa einschlägige Protagonisten einer Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit, bestünden gerade auch „als soziales Kapital der Menschen. Denn was diese in ihrem Sozialraum stark macht ist mehr als kulturelles, ökonomisches und infrastrukturelles Kapital. Zum Beispiel Menschen zu kennen, die Planungshilfen, Beratung oder Bestärkung darstellen, in Netzwerke eingebunden und in Normensysteme integriert zu sein und so Orientierung in Entscheidungssituationen zu erfahren, bis hin zu der Erfahrung ein gefragter Nachbar zu sein […]“ (Budde/Früchtel 2006: 35). Als sozialwissenschaftliche Kategorie findet sich ein in diesem Verständnis verwendeter Begriff des sozialen Kapitals zwar vereinzelt bereits Mitte des 20. Jahrhunderts. Eine breite Diskussion um das Konzept setzt vor allem seit den 1990er Jahren ein. Die komplexe Sozialkapitaldebatte lässt sich grob in zwei breite Stränge unterteilen, die häufig mit den Namen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu und des amerikanischen Politikwissenschaftlers Robert D. Putnam verbunden werden. Diese beiden Stränge werden im Folgenden überblicksartig vorgestellt. Sie bilden die theoretische Grundlage für eine Sozialkapitalstudie, die anschließend skizziert wird und aus der ausgewählte Ergebnisse zum Ausmaß und zur Verteilung von sozialem Kapital in einem untersuchten Stadtteil vorgestellt werden. Die hieraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für eine sozialräumlich orientierte Vorgehensweise der Sozialen Arbeit machen auf eine zentrale Blindstelle in der Sozialraumorientierungsdebatte aufmerksam. Kontroverse Bestimmungen sozialen Kapitals: Pierre Bourdieu und Robert D. Putnam Eine insbesondere in ungleichheitstheoretischen Analysen wichtige Bestimmung sozialen Kapitals findet sich bei Pierre Bourdieu. In einem viel beachteten Aufsatz konzeptualisiert er Sozialkapital als „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von […] Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983: 190f.). Soziales Kapital ist demnach überindividuell eingebunden, wird aber individuell ‚verwertet’.2 Über wie viel Sozialkapital einE AkteurIn verfügt hängt aus dieser Perspektive zum einen – quantitativ – davon ab, wie ausge2

So stellt etwa die Bekanntschaft mit einer Person, die bei einem Umzug helfen oder die einen Tipp bezüglich der eigenen Einkommensteuererklärung geben kann, soziales Kapital dar.

Zur Empirie sozialräumlich orientierter Sozialer Arbeit

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dehnt das Netz der tatsächlich für die Interessen der AkteurInnen mobilisierbaren Beziehungen ist und zum anderen – qualitativ – vom ökonomischen, ‚kulturellen’ und ‚symbolischen’ Kapital der Personen, die über soziales Kapital erreich- und mobilisierbar sind. Sofern Beziehungen nicht aktual oder potentiell verwertbar sind, stellen sie aus dieser Perspektive kein soziales Kapital dar. In der eher normativen Bestimmung von Robert D. Putnam steht zwar auch der Nutzen von sozialen Netzwerken im Vordergrund, dieser Nutzen ergibt sich jedoch nicht ausschließlich aus dem wechselseitigen (Aner-)Kennen, wie bei Bourdieu. Neben dem Vorteil, den soziales Kapital für Angehörige im Netzwerk hat, ergeben sich ebenfalls (positive) Auswirkungen für unbeteiligte Personen: Wenn eine starke, nachbarschaftliche Solidarität im Stadtteil die Zahl an Einbrüchen sinken lässt, so ist das Eigentum auch geschützt, wenn man gerade nicht im Stadtteil anwesend ist oder wenn man (noch) nicht Teil der lokalen Netzwerke ist, weil man z.B. erst neu in den Stadtteil gezogen ist. Genauer bestimmt wird soziales Kapital nach Putnam durch „eine ‚knappe und kleinliche’ Definition: Soziale Netzwerke und die damit zusammenhängenden Normen von Reziprozität und Vertrauenswürdigkeit“ (Putnam 2007: 137, Übers. d. Verf.). Es repräsentiert vor allem eine Möglichkeit zur Lösung von Problemen des kollektiven Handelns durch soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen, Gemeinschaft und Vertrauen und bezeichnet „Charakteristika des sozialen Lebens – Netzwerke, Normen, Vertrauen – das die TeilnehmerInnen dazu befähigt, effektiver zusammen zu arbeiten und gemeinsame Ziele zu verfolgen. […] Soziales Kapital […] bezieht sich auf soziale Verbindungen und die Existenz von Normen und Vertrauen und es kann die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft erhöhen indem es koordiniertes Handeln erleichtert” (Putnam 1995: 664f., Übers. d. Verf.). Je besser eine Gesellschaft oder Gemeinschaft mit solchem sozialen Kapital ausgestattet sei, umso besser könne sie Probleme in unterschiedlichen Bereichen lösen. Soziales Kapital, schreibt Putnam (2000: 290) entsprechend, mache „klüger, gesünder, sicherer, reicher und besser fähig eine gerechte und stabile Demokratie zu lenken“ (Übers. d. Verf.). Anhand dieser theoretischen Bestimmung sozialen Kapitals lassen sich zwei wesentliche Aspekte ausmachen: die Vermittlung von Ressourcen für die Akteure durch ihre Einbettungen in Gemeinschaften und Netzwerke sowie die Erhöhung der kollektiven Problemlösungsfähigkeit und Zielerreichung von (lokalen) Communities durch eine Etablierung vertrauensvoller solidarischer Arrangements. Beide spielen im – unverkennbar durch die Ideen des Kommunitarismus geprägten – Diskurs um eine sozialräumliche Orientierung in der Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle. Diese zwei Formen von Sozialkapital stehen auch im Mittelpunkt dieses Beitrags. Es schließen sich drei Fragen an, die auf der Basis von Ergebnissen eines durch die DFG geförderten Forschungsprojekts diskutiert werden können: Erstens, ob sich bei den ‚sozial Marginalisierten’ eines so genannten benachteiligten Stadtteils ein Mangel an diesen Sozialkapitalformen findet. Häufig beziehen sich sozialräumliche Strategien auf so genannte ‚benachteiligte’ Stadtteile, so dass es gerechtfertigt ist zu fragen, ob diese Stadtteile bzw. seine BewohnerInnen tatsächlich ein geringeres Ausmaß an sozialem Kapital aufweisen. Hieran ist – zweitens – die Überlegung gekoppelt, ob die empirische Differenzierung der beiden Sozialkapitalvarianten eine Auswirkung auf die Sozialraumdebatte hat, d.h. ob die Stadtteile bzw. BewohnerInnen mit wenig Bourdieu’schem Sozialkapital auch diejenigen sind, die wenig Putnam’sches aufweisen. Drittens stellt sich nach einer genaueren Betrachtung der Verteilung von Sozialkapital im Stadtteil die Frage, inwiefern ein solcher Mangel sozialräumlich basierte bzw. community-orientierte Ansätze nahe legt. Eine Orientierung auf einen kollektiv geteilten, sozialen Raum unterstellt zwangsläufig eine kollektiv geteilte Ausstattung von sozialem Kapital. Ob diese Unterstellung empirisch untermauert werden kann, wird

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Sandra Landhäußer/Holger Ziegler

sich im Folgenden zeigen. Die Studie richtet sich entsprechend auf ein wesentliches Desiderat im Kontext einer sozialpädagogischen Sozialraumorientierung. Denn diese lebt nach wie vor primär von der – mehr oder weniger – überzeugenden Plausibilität ihrer eher axiomatisch gesetzten Annahmen. Demgegenüber sind jedoch bislang „weder die Mechanismen, vermittels derer benachteiligte Quartiere benachteiligend wirken, noch die von ihnen [den Fachkräften der Sozialen Arbeit, S.L./H.Z.] zu mobilisierenden Ressourcen […] präzise und erfahrungsorientiert beschrieben“ worden (Bartelheimer 2001: 213). Fragestellung und Aufbau der Studie Die Daten dieses Beitrags wurden im Kontext des Forschungsprojekts „Räumlichkeit und soziales Kapital in der Sozialen Arbeit – Zur Governance des sozialen Raums“3 erhoben. Dieses Projekt richtete sich auf die Rekonstruktion, Analyse und empirische Prüfung der Raumperspektiven und Raummodelle, die innerhalb einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit in den Mittelpunkt professionellen Handelns rücken.4 Dabei wurden drei Konstitutionsebenen von Sozialräumlichkeit systematisch unterschieden: Die der politischen und fachlichen Sozialraumprogramme, die der VertreterInnen Sozialer Arbeit und die der BewohnerInnen. Die Untersuchung des Zusammenlebens der BewohnerInnen erfolgte in einer Analyse der Verteilung und des Gebrauchs verschiedener Formen ihres sozialen Kapitals auf der Basis eines Sozialkapital-Surveys.5 Unsere Diskussion in diesem Beitrag fokussiert auf diese quantitative Sozialkapitalanalyse. Sie fand in einem Wohngebiet statt, das als ‚sozialer Brennpunkt’ bezeichnet wird und die typischen Merkmale aufweist, die für solche Gebiete als kennzeichnend gelten (vgl. Landhäußer 2008b). Laut Einwohnermeldeamt wohnten im ausgewählten Gebiet – einem statistischen Bezirk einer mittelgroßen westdeutschen Großstadt – zum Befragungszeitpunkt 5269 Personen. Ohne Personen unter 14 und über 75 Jahren, die aus methodischen Gründen in der Befragung nicht berücksichtigt werden sollten, blieb eine Grundgesamtheit von N=3973 BewohnerInnen. Auf der Grundlage von Daten aus dem Einwohnermelderegister wurde eine personenbezogene Zufallsstichprobe gezogen. Auf dieser Basis wurden zunächst 350 sowie in einer Nacherhebung 141 weitere Interviews realisiert. Für die Analyse liegen insgesamt somit n=491 beantwortete Fragebögen vor. Die Datenerhebung fand in Form von Telefoninterviews mittels CATI (d.h. ‚computer assisted telephone interviewing’) statt. Auf der Basis von Beobachtungen und Analysen vor Ort hat es sich als sinnvoll erwiesen, den statistischen Bezirk geographisch anhand von Straßenzügen in zwei Teilgebiete zu differenzieren. Das Gebiet 1 stellt das eigentliche ‚sozial benachteiligte Gebiet’ dar, das Gebiet 2 entspricht sozialstatistisch etwa dem Durchschnitt der Gesamtstadt. Diese Unterschiede zeigen sich auch in der von uns befragten Stichprobe der BewohnerInnen. 3

In diesem Forschungsprojekt waren beide VerfasserInnen unter der Leitung von Hans-Uwe Otto, zusammen mit Birte Klingler und Diana Sahrai für drei Jahre beschäftigt. Es wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und wurde zwischen dem 1.12.2003 und dem 30.11.2006 durchgeführt. 4 Diesbezüglich waren insbesondere geographisch, administrativ und sozialstrukturell vermittelte Praxisund Deutungsweisen, die Sozialräume konstituieren, Gegenstand der Untersuchung. 5 Auf dieser empirischen Grundlage ging es um eine multidimensionale Analyse der sozialräumlichen Orientierung in der Sozialen Arbeit, die systematisch die verschiedenen Ebenen sozialräumlicher Konstitutionsprozesse einbezieht.

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Zur Empirie sozialräumlich orientierter Sozialer Arbeit

Staatsangehörigkeit zu Hause gesprochene Sprache Muttersprache Alter

erreichter/angestrebter Bildungsabschluss6

Gesamt

Deutsch andere deutsch andere deutsch andere 14-25 Jahre 26-40 Jahre 41-65 Jahre 66-75 Jahre Niedrig Mittel Hoch

Gültige Prozente (Häufigkeit) ‘sozial ‘nichtbenachteiligtes benachteiligtes Gebiet’ Gebiet’ 79,2% (225) 89,3% (183) 20,8% (59) 10,7% (22) 53,5% (152) 82,9% (170) 46,5% (132) 17,1% (35) 44,1% (126) 78,0% (160) 55,9% (160) 22,0% (45) 33,5% (95)) 14,7% (30) 21,8% (62) 25,5% (52) 36,3% (103) 44,4% (90) 8,5% (24) 15,7% (32) 41,2% (115) 33,2% (67) 24,0% (67) 29,7% (60) 34,8% (97) 37,1% (75) 100% (279-286) 100% (202-205)

Die Befragung der BewohnerInnen zielte insbesondere auf die Frage, wie diese ‚ihre Sozialräume’ gestalten. Auf dieser Grundlange erfolgte u.a. eine Analyse ihrer Verfügung über soziales Kapital. In dieser ging es insbesondere darum, die verfügbaren Macht- und Handlungsressourcen der AkteurInnen unter Berücksichtigung ihrer sozialen und räumlichen Positionierung und Vernetzung empirisch zu erfassen. Auf der Grundlage einer analytischen Rekonstruktion gängiger Bestimmungen von sozialem Kapital wurden folgende Kernelemente dieses Konzeptes identifiziert und in die Fragebogenkonstruktion einbezogen: Vertrauen, Assoziabilität, Zugehörigkeit, (lokale) Einbettung und (lokale) Solidarität, Werte und Normen, (kollektive) Aktionen, (ehrenamtliches) Engagement, Netzwerke und Ressourcen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich vornehmlich mit einem ganz bestimmten Aspekt dieser Sozialkapitalanalyse, und zwar der Verteilung von kollektivem Sozialkapital auf der lokalen Ebene im Putnam’schen Sinne und jenem individuellem Sozialkapital, das auf die Ressourcen verweist, welche die Befragten über Netzwerke – gleich ob lokaler oder über-lokaler Natur – mobilisieren können. Lokales und individuelles Sozialkapital messen – eine Typisierung Zur Analyse dieser Verteilung wurden erstens Variablen herangezogen, mit denen sich kollektives Sozialkapital übertragen auf den lokalen Zusammenhang im Stadtteil messen lässt. Mittels einer explorativen Hauptkomponentenanalyse konnten als ‚lokales Kapital’ acht Einzelvariablen zusammengefasst werden, die auf lokale Solidarität, die Abwesenheit von Konflikt und die persönliche Einbindung in den Stadtteil verweisen. Im Rekurs auf die Formulierung von individuellem Sozialkapital in der Tradition von Pierre Bourdieu wurde darüber hinaus eine Komponente gebildet, die ressourcenstarke, statushohe Kontakte vereinigt, so etwa jemanden persönlich zu kennen, der netto mehr als 3000 Euro im Monat verdient, auf Ämtern und Behör6 In der Kategorie ‚niedrig’ wurden die Antwortmöglichkeiten ‚kein Schulabschluss’ sowie ‚Volks/Hauptschulabschluss’ zusammengefasst. In der Einteilung ‚mittel’ befinden sich Befragte mit mittlerer Reife. In der Kategorie ‚hoch’ wurden die Antwortmöglichkeiten ‚(Fach-)Abitur’ sowie ‚(Fach-)Hochschulabschluss’ zusammengefasst.

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Sandra Landhäußer/Holger Ziegler

den arbeitet, in einer Partei aktiv ist, viel über gesetzliche Vorschriften weiß und/oder Arbeitgeber ist. Auf eine andere Ressource, nämlich Alltagshilfe, verweist eine dritte Hauptkomponente, die das persönliche Bekanntsein mit Menschen beinhaltet, die im Alltag anfallende Unterstützungsleistungen geben können. Hierzu gehört etwa die Bekanntschaft mit Menschen, die ein Kind babysitten könnten, die den Einkauf erledigen, wenn man krank ist, denen man die Hausschlüssel gibt, wenn man weg fährt und/oder bei denen man u.U. für eine Woche wohnen könnte. Abbildung 1:

Ergebnis der Hauptkomponentenanalyse

lokales Kapital

ressourcenstarke Zugänge

Alltagshilfe

Zustimmung zur Aussage …

Persönliches Bekanntsein mit Menschen, die …

Persönliches Bekanntsein mit Menschen, …

(-)7 Die Menschen hier kommen schlecht miteinander aus.

…netto mehr als 3000 Euro im Monat verdienen?

…die Ihren Einkauf erledigen können, wenn Sie krank sind?

Die Menschen hier halten zusammen.

…in Ämtern oder Behörden arbeiten?

…denen Sie Ihre Hausschlüssel geben, wenn Sie weg fahren?

Die Menschen hier helfen sich gegenseitig.

…in einer Partei aktiv sind?

…die Ihr Kind babysitten können?

Man kann den Menschen in der Nachbarschaft vertrauen.

…viel über gesetzliche Vorschriften und Verordnungen wissen?

…bei denen Sie unter Umständen für eine Woche wohnen können?

(-) Die Menschen hier haben keine gemeinsamen Werte.

…Arbeitgeber sind?

Ich lebe gerne in [Ort]. (-) Die Menschen hier haben keinen Respekt vor Gesetz und Ordnung. Ich fühle mich in [Ort] ‚zu Hause’.

Basierend auf diesen drei Dimensionen einer Hauptkomponentenanalyse wurden die Befragten mittels einer Clusteranalyse8 in fünf Gruppen typisiert. Diese Cluster lassen sich wie folgt beschreiben: Cluster 1 (138): Viel lokales Alltagskapital Die 138 Personen, die diesem Cluster zugeordnet wurden, gehören in eine der beiden Gruppen, die am meisten „lokales Kapital“ aufweisen. Sie sind sehr stark in den Stadtteil eingebunden und berichten von einem hohen Ausmaß an Solidarität zwischen den BewohnerInnen des Stadtteils. Außerdem weisen sie ein überdurchschnittliches Maß an potentieller, alltäglicher 7

Mit dem Minuszeichen wird ausgedrückt, dass diese drei Items revers zu den anderen vier formuliert sind. Vier Aussagen enthalten eine positive Formulierung, die drei übrigen (-) eine negative. 8 Methodisch wurde dabei zunächst eine Clusteranalyse nach dem Ward-Verfahren gerechnet und darauf aufbauend eine iterative, K-means Analyse gewählt (zur methodischen Vorgehensweise vgl. das Supplement zur Hauptkomponentenanalyse in diesem Band).

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Unterstützung auf, d.h. sie besitzen ein Netzwerk an Personen, die Hilfestellung im Alltag geben können. Sehr deutlich unterdurchschnittlich ausgestattet ist diese Gruppe hingegen mit Kontakten zu statushohen, ressourcenstarken Personen, d.h. solchen, die über ein hohes ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen. Mit Blick auf die Befragten in diesem Cluster fällt zunächst ein überproportional hoher Anteil an Frauen (64% vs. 52%9) sowie an Befragten mit minderjährigen Kindern (39% vs. 28%) auf. In soziodemographischer Hinsicht findet sich ein vergleichsweise hoher Anteil an Befragten mit niedriger sozialer Lage (41% vs. 35%). Ihre Mutter- (57% vs. 42%) und zu Hause gesprochene Sprache (49% vs. 34%) ist häufig eine andere als die deutsche Sprache. Dies verweist auf eine große Zahl an Menschen mit Migrationshintergrund. Im Stadtteil wohnen sie der Tendenz nach erst seit einer kurzen Zeit. Gleichzeitig gehören die Befragten in diesem Cluster am seltensten einer Gruppe, Vereinigung oder Assoziation an und wenn doch, dann sind sie eher wenig aktiv am Vereinsleben beteiligt. Auch ihre politische Beteiligung ist vergleichsweise gering. Cluster 2 (76): Viel lokales, wenig individuelles Sozialkapital Die 76 Personen dieses Clusters zeichnen sich – vergleichbar mit dem zuvor beschriebenen Cluster – durch ein hohes lokales Kapital aus, wobei insbesondere die lokalen Solidaritätspotentiale sehr hoch eingeschätzt werden. Dieses lokale Kapital geht noch deutlicher als bei Cluster 1 mit wenig individuellem Sozialkapital einher. Dies gilt sowohl mit Blick auf statushohe, ressourcenstarke Kontakte als auch mit Blick auf ihren Zugang zu Alltagshilfe. Diese Gruppe erhält also verhältnismäßig wenig alltägliche Unterstützung aus ihrem Netzwerk und ist selten mit Personen bekannt, die über ein hohes Maß an ökonomischem und kulturellem Kapital verfügen. Im Gegensatz zu Cluster 1 finden sich in dieser Gruppe vor allem Männer (59% vs. 48%). Auch Befragte, die älter als 40 Jahre sind, sind überrepräsentiert (63% vs. 51%). Die Befragten in Cluster 2 wohnen überdurchschnittlich häufig im so genannten sozialen Brennpunkt (67% vs. 58%). Befragte mit niedriger sozialer Lage sind – im Vergleich zu allen anderen Gruppen – in diesem Cluster am häufigsten vertreten (55% vs. 35%) und auch insgesamt haben die Befragten in diesem Cluster den niedrigsten sozioökonomischen Status. Cluster 3 (131): Viel gesamtes Sozialkapital Diese aus 131 Personen bestehende Gruppe zeichnet sich insgesamt durch ein hohes Sozialkapital aus. Hierzu gehört vor allem der deutliche Zugang zu Personen mit ökonomischem und kulturellem Kapital. Bezüglich lokalem Kapital und Alltagshilfe liegen sie leicht über dem Mittelwert. Insofern stellen sie die einzige Gruppe dar, die in allen drei Kategorien positive Werte zu verzeichnen hat, so dass für sie die Bezeichnung „viel gesamtes Sozialkapital“ gewählt wurde. Die Menschen in diesem Cluster – ebenfalls überdurchschnittlich häufig Männer (61% vs. 48%) – weisen überproportional häufig eine hohe soziale Lage auf (54% vs. 32%), haben nur selten Migrationshintergrund (zu Hause gesprochene Sprache: 89% vs. 66%, Muttersprache: 82% vs. 58%), wohnen vergleichsweise lange Zeit im Stadtteil (über 10 Jahre: 55% vs. 42%) und dabei typischerweise im ‚nicht-benachteiligten’ Teil des untersuchten Gebiets (72% vs. 42%). Gleichzeitig handelt es sich hierbei um die Befragten, die am meisten von allen einer Gruppe, Vereinigung oder Assoziation angehören, sich am häufigsten beteiligt haben, um im Stadtteil etwas zu verändern und auch die größte politische Beteiligung zeigen, sei es durch die 9

Im Text vermerkte Prozentzahlen sind auf ganze Zahlen gerundet. Die Referenzgröße stellt jeweils die Prozentzahl aller Befragten dar.

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Teilnahme an Wahlen oder die Wahrnehmung anderer Formen von Einflussnahme. Damit geht einher, dass diese Befragten das höchste Maß an generalisiertem Vertrauen besitzen, mit ihrem Leben zufrieden sind und im Vergleich am häufigsten berichten, im Alltag viel Einfluss auf Entscheidungen zu haben, die das eigene Leben betreffen. Die Befragten in diesem Cluster haben also eine gute Ausstattung an sozialem Kapital im Sinne Putnams wie im Sinne Bourdieus. Cluster 4 (124): Wenig lokales Sozialkapital Diese Gruppe mit 124 zugehörigen Personen besitzt relativ geringes lokales Sozialkapital. Mit Blick auf ihre Kontakte zu ressourcenstarken AkteurInnen liegen sie nur leicht unter dem Mittelwert aller Cluster. Über Alltagshilfe, die sie durch ihr Netzwerk erhalten, verfügen sie leicht über dem Durchschnitt. In Cluster 4 finden sich überproportional häufig Frauen (62% vs. 52%), Menschen, die tendenziell eher seit kurzer Zeit im Stadtteil und im ‚armen’ Gebiet wohnen (79% vs. 58%) sowie Befragte jüngeren Alters (14-25jährige: 37% vs. 26%). Cluster 5 (22): Wenig lokales Sozialkapital und wenig Alltagshilfe Die Befragten in diesem Cluster stellen eine zweite Gruppe dar, die sich durch ein geringes lokales Kapital auszeichnet. Ihre schwache lokale Einbindung geht mit einem extrem unterdurchschnittlichen Maß an Alltagshilfe einher. Während insgesamt fast alle Befragten über ein recht hohes Ausmaß an Alltagshilfe verfügen, weisen die Befragten in Cluster 5 hier nicht nur relativ, sondern auch in absoluten Zahlen sehr stark unterdurchschnittliche Werte auf. Sie stellen damit eine klare Ausnahme dar. Hierzu passt auch das Ergebnis, dass ihre Anzahl relativ klein ist.10 Da ihr lediglich 22 Personen angehören, sind statistische Ausführungen über diese Gruppe in ihrem Aussagewert beschränkt. Nichtsdestoweniger lässt sich sagen, dass die Befragten in Cluster 5 tendenziell folgende sozialstrukturellen Merkmale aufweisen: Sie haben relativ häufig eine andere als die deutsche Muttersprache (55% vs. 42%), sie sind tendenziell eher älter (66-75jährige: 23% vs. 12%) und haben selten minderjährige Kinder (86% vs. 72%). Auch wenn sie überproportional häufig im so genannten benachteiligten Gebiet (77% vs. 58%) wohnen, gehören sie ökonomisch und mit Blick auf ihren eigenen Bildungsabschluss keinesfalls zu den besonders benachteiligten Gruppen. Innerhalb des so genannten ‚benachteiligten Gebiets’ stellen die Befragten in Cluster 5 eine sozioökonomisch eher begünstigte Gruppe dar. Wie auch mit Blick auf ihr verhältnismäßig geringes lokales Sozialkapital erwartbar ist, berichten vor allem die Befragten in Cluster 4 und Cluster 5 in hohem Maße von Problemen im Zusammenleben zwischen den BewohnerInnen ihres Stadtteils und davon, dass der Ruf ihrer Nachbarschaft insgesamt als schlecht gelte. Aber auch unabhängig von stadtteilbezogenen Fragen weisen die Befragten in diesen beiden Clustern ein eher niedriges Maß an jenem generalisierten Vertrauen auf, das für viele TheoretikerInnen einen Kernaspekt sozialen Kapitals darstellt (vgl. Hartmann/Offe 2001, Warren 1999). Zugleich berichten sie – im Vergleich zu den anderen drei Clustern – eher von geringen Einflussmöglichkeiten auf die Sachverhalte ihres Alltagslebens. Gleichzeitig ist jedoch bemerkenswert, dass die Befragten in diesen beiden Gruppen – nach den überdurchschnittlich stark sozial und ökonomisch privilegierten Befrag10 Wenn man insgesamt von sozial isolierten bzw. von Menschen mit wenig Sozialkapital sprechen möchte, würde dies vor allem auf diese Gruppe zutreffen. Allerdings geben auch von dieser Gruppe mehr als zwei Drittel an sich eher nicht oder überhaupt nicht einsam zu fühlen. Gar keine Zeit mit Freunden verbringen auch von den Befragten in diesem Cluster nur zwei Personen und diese sind (ironischerweise) in Vereinen aktiv und treffen sich durchaus regelmäßig mit anderen Vereinskollegen.

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ten, die sich in Cluster 3 finden – die zweithöchste politische Beteiligung aufweisen. Eindeutig am wenigsten politisch beteiligen sich indes die Befragten in Cluster 1 und 2, die deutlich überdurchschnittlich mit lokalem sozialem Kapital ‚gesegnet’ sind. Wie sich auch durch regressionsanalytische Berechnungen zeigen lässt, finden sich keine systematischen Beziehungen zwischen lokaler Einbindung und politischer Beteiligung, wohl aber zwischen dem Zugang zu ressourcenstarken AkteurInnen und politischer Beteiligung: Zumindest das lokale soziale Kapital ist also eher nicht als jener Treibstoff zu betrachten, der die Demokratie funktionieren lässt („making democracy work“ Putnam 199311). Mittels regressionsanalytischer Berechnungen lässt sich auch zeigen, dass sozialstrukturelle Variablen wie soziale Lage, Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund sowie die Frage, in welchem Wohngebiet man lebt, eine systematische Auswirkung sowohl auf das Ausmaß an Verfügung über die verschiedenen Sozialkapitalarten haben, als auch auf die Wahrscheinlichkeit zu einem bestimmten Cluster zugeordnet zu werden. Die Verteilung sozialen Kapitals wird demnach von zwei wesentlichen Faktorenbündeln beeinflusst: Es finden sich auf der einen Seite Einflussfaktoren auf der individuellen Ebene, wie z.B. die sozialstrukturelle Verortung der Befragten. Auf der anderen Seite verweist aber der Einfluss des Wohngebiets auf Auswirkungen, die unter anderem auf das Zusammenleben von BewohnerInnen eines lokalen ‚Sozialraums’ verweisen und in diesem Sinne auf einer kollektiven Ebene zu verorten sind. Fassen wir zunächst noch einmal zusammen: Grundlage der Clusteranalyse waren die drei Dimensionen ‚lokales Kapital‘, ‚Zugang zu ressourcenstarken bzw. statushohen AkteurInnen‘ sowie ‚Alltagshilfe’. Bei der Clusterbildung wurde bezüglich der inhaltlichen Trennschärfe und Interpretierbarkeit einer Fünf-Clusterlösung der Vorzug gegeben. Was lässt sich aber nun aus den inhaltlichen Ergebnissen für eine sozialräumlich orientierte Soziale Arbeit schlussfolgern? Diskussion der Ergebnisse Ein wichtiges Ergebnis ist, dass es der wesentlichen Zielgruppe der ‚konventionellen’ Sozialen Arbeit keinesfalls per se an Sozialkapital, sondern bestenfalls an spezifischen Sozialkapitalformen mangelt (dazu: Otto/Ziegler 2004). So ist es auffällig, dass beide Gruppen, in denen AkteurInnen mit niedriger sozialer Lage am meisten vertreten sind (Cluster 1 und 2), jeweils überproportional viel lokales soziales Kapital aufweisen. Diese Ergebnisse legen gleichsam nahe, dass gerade diese ‚sozial benachteiligten’ Gruppen wohl eher keine Problemlagen aufweisen, deren Ursache oder Lösung in einem messbaren Maße mit einer Schaffung oder Aktivierung von lokalem Sozialkapital zu tun haben. Woran es den Befragten in diesen Clustern fehlt, ist eher das individuelle Sozialkapital, wie es insbesondere von jenen SozialkapitalanalytikerInnen betont wird, die eher in der ungleichheitstheoretischen Tradition Pierre Bourdieus stehen. Die Gruppe mit der niedrigsten sozialen Lage, Cluster 2, hat insgesamt eine deutlich unterdurchschnittliche Ausstattung an individuellem Sozialkapital, den Befragten in Cluster 1 fehlt es vor allem an Zugängen zu ressourcenstarken AkteurInnen. Über das individuelle Sozialkapital ‚Alltagshilfe’ verfügen sie demgegenüber in einem überproportional hohen Maße. Sofern soziale Ungleichheit im Sinne des Problems niedriger sozialer Lagen ein Bezugspunkt für die Soziale Arbeit ist, wäre das zu aktivierende Sozialkapital in Bezug auf diese beiden Gruppen eher das individuelle als das kollektive, sozialraumbezogene Sozialkapital. Ein Mangel besteht 11 Putnam selbst hat dies auch weniger den lokalen Communities als vielmehr dem Vereinswesen zugeschrieben, wofür empirisch etwas mehr spricht.

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dabei vor allem auch im Zugang zu ressourcenstarken und symbolisch durchsetzungsfähigen Akteurinnen, der häufig als wesentliche Ressource für sozialen Aufstieg dient. Dieser Zugang ist – auch mit Blick auf so genannte soziale Brennpunke – weitgehend unabhängig von der lokalen Verortung und den Zugehörigkeitsgefühlen zu lokalen Gemeinschaften, sondern vor allem über die eigene sozialstrukturelle Lage der einzelnen AkteurInnen vermittelt. Die Unabhängigkeit von kollektivem und individuellem Sozialkapital (vgl. Landhäußer/Micheel 2005) findet sich nicht nur mit Blick auf sozialstrukturell benachteiligte Gruppen. So gehören die Befragten in den beiden Clustern 4 und 5, die sich durch wenig kollektives Sozialkapital auszeichnen, eher nicht zu den Befragten mit der niedrigsten sozialen Lage. Ihr Zugang zu individuellem Sozialkapital korrespondiert – mit Ausnahme des bereits diskutierten deutlichen Mangels an Alltagshilfe der 22 Befragten in Cluster 5 – mit ihrer eigenen sozialstrukturellen Verortung. Sofern Soziale Arbeit eine geringere lokale Einbindung bzw. die niedrige Solidarität in der Nachbarschaft als ein wesentliches sozialpädagogisches Problem in den Blick nimmt, würden vor allem die Befragten in den Clustern 4 und 5 zu ihren AdressatInnen zählen. Dies ist eine durchaus begründbare Ausrichtung, die sich auch mit Blick auf individuelle AdressatInnen u.a. damit rechtfertigen ließe, dass eine Wahrnehmung von Konflikten und mangelnder Solidarität in der Nachbarschaft empirisch negativ mit der Lebensqualität zusammenhängt, wenn auch nicht unbedingt mit der ‚objektiven’, wohl aber mit der ‚subjektiven’. John Helliwell und Robert D. Putnam (2005) zeigen beispielsweise auf, in welch engem Verhältnis Wohlempfinden mit Sozialkapital zu sehen ist. Beeinflussende soziale Faktoren des Wohlbefindens sind neben der Einbindung in die Community auch andere Aspekte des Sozialkapitals, etwa der Familienstatus, Freundeskreise, Mitgliedschaft in Vereinen und Assoziationen, zivilgesellschaftliches Engagement sowie das Ausmaß an Vertrauen. So ist die subjektive Lebensqualität umso besser, je eher man in einer festen Beziehung und noch besser, wenn man verheiratet ist, da sich negative Effekte für geschiedene oder verwitwete Menschen zeigen, je häufiger man sich mit Nachbarn und Freunden trifft und sich zivilgesellschaftlich engagiert sowie je stärker man Vertrauen in andere Menschen hat. Das vergleichsweise niedrige generalisierte Vertrauen der Cluster 4 und 5 in Verbindung mit dem geringen lokalen Sozialkapital passt zu dem Ergebnis, dass die Befragten in diesen Clustern in der Tat das geringste Maß an subjektiver Zufriedenheit mit ihrem Leben insgesamt aufweisen. Es stützt prima facie auch die These, dass sich das subjektive Wohlergehen dieser Befragten durch eine Aktivierung lokalen Sozialkapitals erhöhen könnte. Angesichts der Tatsache, dass insbesondere zwischen dem hohen Maß an ressourcenstarken Zugängen und der hohen sozialen Lage ein direkter Zusammenhang besteht (vgl. Landhäußer 2008a), wundert es nicht, dass auch die Wahrscheinlichkeit zu Cluster 3 zu gehören, in einem hohen Maß mit der eigenen sozialen Lage korrespondiert. Kennzeichnend für die Befragten dieser Gruppe ist ihr insgesamt deutlich überdurchschnittlich hohes Sozialkapital. Das bei dieser Gruppe im Vergleich zu allen anderen Merkmalen am stärksten ausgeprägte Merkmal sind ihre mannigfachen Kontakte zu (anderen) statushohen, ressourcenstarken bzw. einflussreichen Personen.12 Weniger für die sozialstrukturell benachteiligten AkteurInnen als vielmehr für die eher besser gestellten Befragten ist die Wahrscheinlichkeit zu einem sowohl individual- als auch kollektivsozialkapitalreichen Cluster deutlich ‚ortsabhängig’. So gehören im ‚durchschnittlichen’ Gebiet 63% der Befragten aus dem sozialstrukturell oberen Drittel der Befragten zum indivi12 In Bezug auf das Cluster 3, das mit beiden Sozialkapitalsorten vergleichsweise gut ausgestattet ist, besteht weder aus einer ‚konventionellen’ noch aus einer ‚sozialräumlichen’ Perspektive sozialpädagogischer Handlungsbedarf.

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dual- und kollektivsozialkapitalreichen Cluster 3, im ‚benachteiligten Gebiet’ jedoch lediglich 31%. Zum individualsozialkapitalreichen aber kollektivsozialkapitalarmen Cluster 4 gehören im ‚benachteiligten Gebiet’ hingegen 36% des sozialstrukturell oberen Drittels der Befragten, im ‚durchschnittlichen Gebiet’ aber lediglich 6%. Es scheint, als würde das Maß an lokalem Sozialkapital der sozio-ökonomisch besser gestellten Befragten tendenziell mit wachsender (räumlicher) Nähe zu sozial fern- und d.h. unten-stehenden Personen sinken. Wenn es in so genannten ‚sozialen Brennpunkten’ darum gehen sollte, ‚lokales Sozialkapital’ zu aktivieren, dann wären weniger die sozial Benachteiligten, sondern eher die relativ Privilegierten die wesentliche Zielgruppe, die es zu aktivieren gelte. Konsequenzen für die Soziale Arbeit Unabhängig von solchen eher ungleichheits- und schließungstheoretisch als ‚sozialraumorientiert’ zu adressierenden Fragen lässt sich auf Basis der Dimensionenbildung mit Hilfe von Hauptkomponentenanalysen sowie mit Blick auf Variationen im Sozialkapital der fünf Cluster verdeutlichen, dass zwischen den drei unterschiedenen Komponenten sozialen Kapitals notwendigerweise zu differenzieren ist. Je nachdem, welcher Mangel an Sozialkapital in den Vordergrund gerückt wird, geraten auch unterschiedliche Gruppen in den Mittelpunkt. Von daher könnte es Sozialer Arbeit um folgende Ziele gehen: Erstens kann die Aktivierung und Stärkung der lokalen Einbindung anvisiert werden. Zweitens könnte sie – und damit scheint sie aber ganz andere Gruppen im Stadtteil anzusprechen – von einer niedrigen sozialen Lage ausgehend, ein geringes Sozialkapital im Sinne des Zugangs zu statushohen, ressourcenstarken Personen als Ausdruck sozialer Ungleichheit in den Mittelpunkt rücken. Als dritter Anknüpfungspunkt bietet sich – damit spricht sie insgesamt zwar eine geringere, aber dennoch nicht zu vernachlässigende Zahl an – ein geringes Ausmaß an Unterstützung in alltäglichen Aufgaben an. Hierbei wäre Kompensation oder Abbau das Ziel. Letztendlich wird jedoch an der vorliegenden Clusteranalyse deutlich, dass Soziale Arbeit damit jeweils unterschiedliche AdressatInnen anspricht und die drei unterschiedlichen Strategien nicht untereinander subsumierbar sind. In jedem Fall handelt es sich aber bei der Aktivierung von kollektivem und individuellem Sozialkapital um unterschiedliche Strategien. Das eine Mal geht es darum, Kontakte zu Personen herzustellen, die bestimmte Ressourcen darstellen können. Diese Ressourcen könnten alternativ zur lebensweltlichen Vernetzung auch Professionelle der Sozialen Arbeit im Sinne von ‚linking social capital’ bieten. Dabei stehen die Charakteristika der AkteurInnen, mit denen vernetzt werden soll, im Vordergrund und die dadurch akquirierbaren Ressourcen finden Berücksichtigung. Im Falle der Aktivierung von lokalem Sozialkapital liegt der Fokus hingegen auf dem Wohngebiet, in dem Menschen leben. Der Bezugspunkt für die Aktivierung von Zusammenhalt ergibt sich dabei aus der Nachbarschaft, das heißt durch die Menschen, mit denen man im gleichen Stadtteil wohnt. Vor diesem Hintergrund wird (erneut) deutlich, dass die Aktivierung individuellen und lokalen Sozialkapitals unterschiedliche AkteurInnen in einem Sozialraum anspricht. Von daher ist Soziale Arbeit dazu aufgefordert, eine bewusste Auseinandersetzung mit diesen Alternativen zu führen und auf der Basis empirischer Ergebnisse und theoretischer Grundlegungen eine reflektierte Entscheidung über ihre Ausrichtung zu treffen.

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Vom Professional Commitment zur Corporate Identity? Möglichkeiten der Kombination statistischer, rekonstruktiver und inhaltsanalytischer Forschungszugänge am Beispiel der Managerialisierung der sozialpädagogischen Familienhilfe Christof Beckmann/Katja Maar/Mark Schrödter Einleitung Die sozialpädagogische Welt ist im Wandel begriffen. Der Begriff des „Managerialismus“, der zu Beginn der 1990er Jahre in die Debatte eingeführt worden war, um die vielfältigen Prozesse des Umbaus sozialstaatlicher Erbringungskontexte Sozialer Arbeit zu beschreiben, hat sich inzwischen in sehr unterschiedliche Diskussionsstränge aufgefächert. Zu nennen sind hier die Diskurse zur Qualität Sozialer Arbeit und zum Management derselben, die öffentlich gestellten Fragen nach ihren Wirkungen und danach, was diese ausmachen und wie man sie effektiver hervorrufen kann, sowie die neuere Diskussion um standardisierte Formen der Diagnostik und Fallbearbeitung. In all jenen Diskussionen gehen die Befürworter dieser Techniken davon aus, dass es möglich ist, durch die besondere Gestaltung organisationaler Programmatiken und Rahmenbedingungen die Erbringung personenbezogener sozialer Dienstleistungen effektiver, steuer- und kontrollierbarer und damit auch transparenter und billiger zu machen. Während in den 1970er und 80er Jahren der Fokus der Debatte auf der Erhöhung der Binnenrationalität Sozialer Arbeit durch Professionalisierung lag, der sich die Rahmenbedingungen anzupassen hätten (vgl. Flösser/Otto 1992), geht es nun um eine Modernisierung der Sozialen Arbeit „from the outside“: Dem Handeln der professionellen Sozialpädagogen traut man nun nicht mehr so recht über den Weg. Es soll durch organisationale Maßnahmen so eingerahmt werden, dass vereinbarungs- und vertragsgemäß gearbeitet, d.h. den Prinzipien der „Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit“ (vgl. § 78b SGB VIII) gefolgt wird.1 Diese Modernisierung ist dabei eingebettet in eine sowohl rhetorische als auch praktische Delegitimierung professionellen Handelns insgesamt, in der über den Zweifel an der Leistungsfähigkeit professionellen Handelns auch dessen Legitimation, dessen Status und seine Handlungsspielräume in Frage gestellt werden (vgl. z.B. Freidson 2001). Im Rahmen dieser Delegitimierung kommt es schließlich zu praktischen Überformungsprozessen professionellen Handelns durch divergierende Handlungslogiken – durch im Kern managerielle Steuerungsmechanismen, respektive konsumeristische Formen der Steuerung von Angebot und Nachfrage – denen sich die Professionellen zu unterwerfen haben (zur Differenzierung vgl. Freidson 2001; zum Zusammenhang vgl. Harris 2003). Für die Soziale Arbeit lassen sich diese Prozesse auf zwei unterschiedlichen Ebenen untersuchen: Erstens auf der Ebene der konkreten Handlungsbedingungen, d.h. auf der Ebene der Koordination und Kontrolle des Handelns (vgl. dazu ausführlich Beckmann et. al. 2009; 2007a; 2007b). Hier haben Studien gezeigt, dass – trotz der teils unkritischen Übernahme ökonomischer und managerialistischer Semantiken bei einigen Fach- und Führungskräften Sozialer 1

„Gemein ist den einzelnen Ansätzen die Auffassung, durch eine Veränderung organisatorischer Rahmenbedingungen […] eine veränderte sozialpädagogische Praxis herbeizuführen, zumindest aber in weitreichender Weise begünstigen zu können“ (Markert 2003, S. 209). G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Arbeit (vgl. Thole/Cloos 2000) – „[d]ie Einführung betriebswirtschaftlich orientierter Steuerungsinstrumente gegenwärtig noch nicht so weit fortgeschritten [ist], dass damit eine tatsächliche inhaltliche Steuerung der Berufsvollzüge möglich wäre“ (Dahme/Wohlfahrt 2003, S.47). Allerdings zeichnen sich auf der Ebene der Arbeitsteilung Tendenzen ab, die im Sinne einer „technischen Proletarisierung“ (Derber 1983) Sozialer Arbeit zu interpretieren sind (vgl. z.B. Beckmann et. al. 2007b; Messmer 2007; Dahme 2008). Eine zweite Ebene – die im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen soll – ist, um mit Derber zu sprechen, diejenige der „ideologischen Proletarisierung“: Es geht bei dieser Frage um die Haltung, die die Professionellen zu ihrer Organisation einnehmen und in ihrer Praxis umsetzen sollen. Organisationsbindung vs. Professionsbindung in der Sozialen Arbeit: Von der „Amtsloyalität“ zum „professional commitment“ zur „corporate identity“? Dieser Topos, die Frage nach der Haltung der Professionellen im Beruf, hat in der Professions- und Organisationssoziologie eine recht lange Tradition. Ausgehend von der Weberschen Bürokratietheorie hatte Alvin Gouldner anhand von empirischen Studien in den 1950er Jahren die These aufgestellt, dass Professionelle sich von Bürokraten auch im Hinblick auf die Bindung an eine spezielle „peer-group“ unterscheiden, denen sie sich zugehörig fühlen.2 Während Bürokratien eine „Amtsloyalität“ (Weber) einfordern, Bürokraten sich also an die „lokale“ Organisation binden, nehmen Professionelle eine „kosmopolitische“ Haltung ein: Sie sind der Profession und ihren ethischen Normen verpflichtet, die sie im Zuge ihrer meist akademischen Ausbildung internalisieren und durch die Zugehörigkeit zu Berufsverbänden, dem Lesen von Fachpublikationen, dem Besuch von Fachtagungen und Konferenzen aktualisieren. Über die Bindung an die Organisation hinaus verschreibt sich der Professionelle auch Bezugsgruppen und -werten außerhalb der Organisation (vgl. Gouldner 1957, S.288ff.; Blau/Heydebrand/ Stauffer 1968, S.99ff.). Dies führt dazu, dass ihm in bürokratischen Kontexten von Seiten der hierarchisch Höhergestellten strukturell misstraut wird (vgl. Gouldner 1954, S.225; Mintzberg 1992, S.258ff.). Die Bindung an die Profession ist ein Moment dessen, was Blau und Scott als das „grundlegende Unterscheidungsmerkmal“ („basic distinguishing feature“, 1970, S.62) zwischen Bürokratien und professionellen Organisationen hervorheben. Die Form der kollegialen Kontrolle der Arbeit unterscheidet sich maßgeblich von dem hierarchischen Aufbau von Bürokratien. Kollegiale Kontrolle ist aber nur in einem Kontext möglich, den Parsons als eine „company of equals“ bezeichnet hat, bei der die Gleichheit von der gemeinsamen Bindung an die Professionsethik herrührt, die eine Gemeinsamkeit der Maßstäbe in der Beurteilung der eigenen Tätigkeit und der anderer garantiert. Die Soziale Arbeit in Deutschland hat diese Perspektive des „schroffen Gegensatzes“ (Merten/Olk 1996, S.580, vgl. auch Schütze 1996, S.222ff.) von Profession und bürokratischer Organisation während ihrer disziplinären Konstitutionsphase im wesentlichen reflexiv nachvollzogen. Die Einbindung in die administrativen Kontexte der Sozialverwaltung galt hier als ein wesentliches Professionalisierungshindernis Sozialer Arbeit. Hier ging es aber vor allem um 2

Blau und Scott (1970) können die Ergebnisse von Gouldner in ihrer eigenen Untersuchung verifizieren und kommen zu dem Schluss: „Professionals tend to be cosmopolitans and not locals“ (ebd., S.69). Umgekehrt gilt dasselbe: “When a given organization curtails opportunities for professional development, the locals who express strong loyalty to the organization do so at the expense of a weakened affiliation with their profession” (ebd., S.71).

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die Ebene, die oben als Koordination und Kontrolle der Handlungsvollzüge gekennzeichnet worden war: Demnach würden in diesen bürokratisch überformten Handlungssettings von Sozialpädagogen staatliche Ordnungsinteressen dominieren (vgl. z.B. Dippoldsmann 1982, S.171ff.; Böhnisch/Lösch 1973; Hollstein 1973), Sozialarbeiter würden hier als „sanfte Kontrolleure“ Herrschaftsinteressen durchsetzen (vgl. Cremer-Schäfer/Peters 1975) und die Adressaten klientifizieren (vgl. Knieschewski 1978; Kasakos 1980; Jungblut 1983). Diese Diskussion fand mit der – vor dem Hintergrund weitreichender Reformen in eben diesen Kontexten durchgeführten – Studie von Otto (1991) gewissermaßen seinen Abschluss, in der gezeigt wird, wie Soziale Arbeit „pragmatische Arrangements“ (ebd., S.112) mit den bürokratischen Grundstrukturen eingeht, in denen „eine gewisse Kompatibilität zwischen Bürokratie und Profession“ (ebd., S.98; vgl. auch Flösser/Otto 1992, S.10ff.; Olk 1986, S.123) hergestellt wird. Eine solche konzeptuelle Gegenüberstellung der Bindung des Professionellen an die Organisation respektive an die Profession, wie sie Gouldner vorgenommen hat, macht allerdings nur Sinn für diejenigen Professionellen, die sich in bürokratischen Organisationen bewegen. Letztere fordert eine „Amtsloyalität“ (Weber) von den Mitarbeitern. In kollegialen Organisationsformen (vgl. dazu Klatetzki 2005; Lazega 2005; Waters 1989), in denen die Bindung an die „kosmopolitische“ Professionsethik mit der lokalen „Ideologie“ der Einrichtung korrespondiert, ist ein solcher Gegensatz nicht zwingend notwendig, eine Bindung an die Profession schließt also hier eine Bindung an die Organisation durchaus nicht aus. Wie sich diese beiden Aspekte zueinander verhalten, ist also stark abhängig von dem jeweiligen Organisationstypus. In den Diskussionen um den „Managerialismus“ wird in jüngerer Zeit davon ausgegangen, dass sich die gewandelten Kooperationsstrukturen zwischen Kostenträgern und sozialen Dienstleistungsorganisationen auch auf das „Innenleben“ der leistungserbringenden Einrichtungen auswirken. Im Sinne isomorphischer Prozesse führen diese Veränderungen in der Organisationsumwelt, so die These, auch zu einer veränderten internen Steuerung der leistungserbringenden Einrichtungen, durch die die professionelle Handlungslogik überformt zu werden droht. Managerialistische Organisationen lassen sich dabei eher als hybride Organisationen beschreiben, die sich nicht eindeutig in die Kategorien der Weberschen Herrschaftssoziologie einordnen lassen. Obwohl es eine Reihe von Übereinstimmungen gibt – vor allem im Hinblick auf die interne Arbeitsteilung – können managerielle Organisationen nicht ausschließlich als Bürokratien verstanden werden. Bürokratien sind strukturell auf überschau- und kontrollierbare Außenbeziehungen angewiesen. Wo dies nicht der Fall ist, können die sehr drastisch ausfallenden organisationalen Maßnahmen zur Reduktion von Umweltkomplexität dysfunktionale Wirkungen zeitigen. Die Beherrschung oder doch zumindest die Vermittlung ständig reproduzierter, weil außerhalb der Reichweite der Organisation liegender Quellen von Ungewissheit, ist hier eine der wesentlichen Aufgaben des Managements. So ist z.B. für die Organisation unklar, wie viele Klienten zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Problemlagen Dienstleistungen nachfragen. Aus diesem Grund muss die Gleichsetzung von Management als Bürokratie (so etwa Freidson 2001) korrigiert werden: Management ist rationale, bürokratische Herrschaft, bei der die durch den „Kosmos gesetzter Regeln“ (Weber 1972, S.125) nicht geregelten, ungewissen Bereiche durch Charisma substituiert werden. Eine solche Unterscheidung macht sich auch im Bereich der von den Mitarbeitern geforderten Haltung bemerkbar: In bürokratischen Organisationen basiert die „Amtsloyalität“ gegenüber der Behörde auf utilitaristischen Nützlichkeitserwägungen, in der sich die Mitarbeiter an die Organisation binden, weil es ihnen einen Nutzen verschafft (Prestige, Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit, etc.). In managerialistischen Organisationen wird dagegen die Loyalität der Mitarbeiter gegenüber der Organisation durch

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charismatische Gefolgschaftsbildung ergänzt. Hier wird also zusätzlich eine emotionale Bindung der Mitarbeiter an die Organisation in Form einer „corporate identity“ gefordert, in der gerade von utilitaristischen Überlegungen abgesehen werden soll (vgl. dazu Beckmann/Otto/Schrödter 2009): „[D]ie Seele der Beschäftigten muss Teil des Unternehmens werden“ (Lazzarato 1998, S.41), „doch niemals anders als zum Zweck, sie mit den Produktionszielen in Übereinstimmung zu bringen“ (ebd., S.44; vgl. auch Türk/Lemke/Bruch 2002, S.218f.).3 Eine solche, auf strategische Interessen beruhende „corporate identity“ steht im Widerspruch zu der Idee einer kollegialen Organisation, deren Entscheidungsfindung – idealtypisch gesprochen – auf einem dialogischen Verfahren beruht, deren Arbeitsteilung auf Kompetenz, Erfahrung und kollegialer Kontrolle aufbaut und dessen Zusammenhang sich über die bewusste Zustimmung zu ethischen Prinzipien und geteilten Handlungs- und Bewertungsmaßstäben herstellt (siehe Tabelle 1). Tabelle 1:

Idealtypen bürokratischer, kollegialer und managerieller Organisation

Organisationstyp Haltung organisationale Herrschaftsform

Bürokratische Organisation Amtsloyalität Rationale Herrschaft

Kollegiale Organisation

Managerielle Organisation

Professional Commitment

Corporate Identity Hybride Mischung rationaler und charismatischer Herrschaftsformen

Autorität auf Basis von Expertise und Erfahrung

Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der Frage empirisch nachgegangen werden, welche Haltung professionelle Sozialpädagogen in unterschiedlichen organisatorischen Kontexten zu ihrer Einrichtung und zu ihrer Profession einnehmen, indem die relevanten Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zur Dienstleistungsqualität in der Sozialen Arbeit dargestellt werden. Ein empirischer Zugang zur Professions- und Organisationsbindung in der Sozialen Arbeit Die Frage nach der Organisations- und Professionsbindung wurde bislang in der sozialpädagogischen Forschung eher als Sekundärphänomen betrachtet (vgl. z.B. Böhnisch/Lösch 1973), als Anpassungsleistung und Assimilation der Sozialpädagogen an die administrativen Gegebenheiten, unter denen sich die Bindung an die Professionsethik kaum entwickeln konnte. Auf internationaler Ebene findet sich dagegen eine Reihe von Beiträgen, in denen verschiedene Umgangsformen professioneller Sozialpädagogen mit den administrativen Kontexten (vgl. z.B. Pollitt u.a. 1991; Clarke/Newman 1997, S.76ff.; Harris 2003, S.60f.; Clarke 2004, S.121) beschrieben werden und die im Wesentlichen ebenfalls der oben skizzierten „Überformungsthese“ zuzurechnen sind. Allerdings bewegen sich diese Studien zum großen Teil auf der Ebene theoretischer Konzeptualisierungen und sind selten empirisch fundiert. Das Verhältnis zwischen den Haltungen der Fachkräfte und der Organisation, in der sie tätig sind, wird allerdings in der deutschsprachigen organisationskulturellen Forschung sehr wohl implizit betrachtet: Es 3

Aus einer kritischen Perspektive beschreibt Clarke (2004) “the tendency to shift what were occupational/professional identities to ones that are organization centred. The organization […] seeks to become the point of identification, loyalty and commitment, with externally orientated professionalism being treated as suspect and as a special interest that distracts from the organization as a common purpose.”

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geht hier um die Frage der mehr oder weniger gelingenden Einsozialisation in die Berufsrolle (vgl. z.B. Thole/Küster-Schapfl 1997) oder darum, wie im Rahmen kollegialer Interaktionen wenn auch nicht Professionalität, so doch zumindest fachlich erfolgreiches Handeln hergestellt werden kann (vgl. Klatetzki 1993). Die organisationskulturelle Perspektive umfasst dabei sowohl die Form der organisationalen Arbeitsteilung – der Koordination und Kontrolle der Tätigkeiten – als auch die Haltung – die Einsozialisation (oder deren Scheitern) in die Berufsethik und deren normative Grundlagen – und untersucht deren wechselseitige Herausbildung. Es soll nun der Frage nachgegangen werden, ob in Einrichtungen, in denen restringierende Arbeitsbedingungen vorherrschen, die oftmals mit der Einführung managerialistischer Steuerungsmethoden entstehen, seitens der Organisation verstärkt Maßnahmen der ideologischen Vereinnahmung der Fachkräfte vonnöten sind, um die Arbeitsmotivation und die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter zu erhalten bzw. zu fördern. Diese These ist in der kritischen Literatur zum Managerialismus vor allem in Großbritannien weit verbreitet (vgl. insb. Clarke 2004; Harris 2003), wurde aber für die deutsche Situation bislang empirisch noch nicht untersucht. Dabei wird auf die – vor allem in der englischsprachigen Literatur – weit verbreitete Diskussion und Forschung zum „organizational commitment“,4 bzw. dem „professional commitment“ als „Sonderform“ des „career/occupational commitments“ eingegangen (zur Differenzierung vgl. Mueller/Wallace/Price 1992, S.214ff.).5 In der Organisationssoziologie und -psychologie wird die Bindung an die Organisation als wichtiger Faktor für Performance, Leistungsfähigkeit und Outcome der Einrichtung angesehen.6 Die vorliegenden Forschungsergebnisse zeigen, so Meyer und Allen (1997, S.38), dass Mitarbeiter, die sich an die Organisation gebunden fühlen, „wertvoller“ („more valuable“) seien, als solche, die nur eine schwache Bindung an die Organisation haben. Da nun die Wahrnehmung der Mitarbeiter „wichtiger ist als die Realität“ und „Mitarbeiter so auf Arbeitsbedingungen reagieren, wie sie sie wahrnehmen“ (ebd., S.88),7 ist es eine der wichtigen Aufgaben des Managements, die Wahrnehmung der Mitarbeiter systematisch zu beeinflussen (vgl. ebd., S.66). Dabei wird die These der inversen Beziehung zwischen Organisations- und Professionsbindung, die zwischen beiden eine Art Nullsummenspiel postuliert (vgl. Gouldner 1954; Knapp 1962; Blau/Scott 1970, 1973; für die Soziale Arbeit: Mannheim 2000)8 mittlerweile in Zweifel gezogen: Andere Forscher sehen in dieser Gegenüberstel4

Das Konzept des „organizational commitment“ wird im Rahmen der Forschungen zum „work commitment“ verwandt und ist vergleichsweise solide theoretisch begründet und hat sich in zahlreichen Studien empirisch bewährt (vgl. Morrow 1983). 5 “Common to all of these is the critical notion of being committed to one’s career or occupation rather than to the organization in which one is employed” (Mueller/Wallace/Price 1992, S.215). 6 Vergleiche in diesem Zusammenhang die Übersichten über den Forschungsstand von Mathieu/Zajac (1990), Meyer/Allen (1997, S.25ff.), Felfe (2008) sowie Camilleri (2007), Madsen (2005). Auch in der internationalen Forschung zur Sozialen Arbeit wird dem Konzept der Organisationsbindung zunehmend mehr Beachtung zuteil, wie eine ganze Reihe von Studien seit den 1990er Jahren belegen (vgl. z.B. Baker 2006; Freund 2005; Glisson 1988; McDonald 1995; Styskal 1980; Freund 2005; Kats 1986; Giffords 2003; Landsman 2008). 7 „Another important consideration in attempting to foster commitment through HRM (Human Ressource Management; Anm. d.V.) practices is that perception is more important than reality. Employees will react to conditions as they perceive them” (Meyer/Allen 1997, S.88). 8 Wobei konfliktförmige Verhältnisse nicht unbedingt ausschließlich auf die Beziehung der Bindung an Organisation, resp. Profession zutreffen muss, sondern als eine Form widersprüchlicher Bindungen an unterschiedliche Bezugsgruppen innerhalb einer Organisation und deren Umwelten gefasst werden kann (vgl. Reichers 1985): „Perhaps the most significant question that the present approach to commitment

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lung eine Simplifizierung des Verhältnisses zwischen Professionellen in Organisationen; „Konflikt“ sei nur eine Form der Beziehung des Professionellen zu seiner Organisation, die aber nicht notwendig sei (vgl. Gunz/Gunz 1994). Diese Position geht davon aus, dass beide Orientierungen unter bestimmten Umständen – etwa in Abhängigkeit des Professionalisierungsgrades des Berufs, der Beschäftigungsform, den wahrgenommenen Karrieremöglichkeiten oder der Position der Professionellen in der organisationalen Berufshierarchie – durchaus miteinander vereinbar sind (vgl. etwa Wallace 1993, 1995a/b; vgl. auch für die Soziale Arbeit: Kats 1986). Forschungsdesign Dem Zusammenhang von Profession- und Organisationsbindung soll auf Basis der Daten eines Forschungsprojekts zur Dienstleistungsqualität in der Sozialen Arbeit nachgegangen werden.9 Ziel des Forschungsprojekt war es, Dienstleistungsqualität anhand eines exemplarischen Arbeitsfeldes, der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) zu erheben und in Bezug zu organisationalen Kontextbedingungen zu setzen. Dafür wurden verschiedene Konstrukte gebildet, wie der Grad der Formalisierung der Arbeitsbedingungen, der Grad der Implementierung von Qualitätssicherungsmaßnahmen, der Grad der Professionalität der Fachkräfte, die Zufriedenheit der Nutzer und ihre Möglichkeiten zur Partizipation an organisationalen Entscheidungsprozessen etc. Diese Konstrukte wurden operationalisiert und in Form einer standardisierten Befragung der Fachkräfte und der Nutzer der Familienhilfe erhoben. Es wurden Einrichtungen untersucht, die in Nordrhein-Westfalen Leistungen nach § 31 SGB VIII (SPFH) anbieten. Da die Anbieter der Familienhilfe in NRW nicht zentral erfasst werden, ist die Grundgesamtheit nicht bekannt (N = 370, Schätzung Statisches Bundesamt). Daher wurden im „Schneeballverfahren“ alle Jugendämter in NRW (N=173) elektronisch und postalisch angeschrieben. Gleichzeitig wurden Familienhilfe-Einrichtungen durch Internetrecherchen, durch persönliche Kontaktaufnahme mit den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege, den Landesjugendämtern von NRW sowie mit allen Großstadtjugendämtern in NRW ausfindig gemacht und die Kontaktpersonen jeweils um weitere Kontaktadressen gebeten. Auf diesem Weg konnten insgesamt 102 Einrichtungen gefunden werden, die die erforderlichen Kriterien (Einrichtungsgröße, geringer Flexibilisierungsgrad etc.) für die Auswahlstichprobe erfüllen (vgl. Beckmann/Schrödter 2006). Aus dieser Population wurde eine zweifach geschichtete Zufallstichprobe (öffentlicher/freier Träger und Existenz eines formalen QMSystems ja/nein) gezogen. Die so ausgewählten Einrichtungen wurden schriftlich und darauf folgend fernmündlich kontaktiert. Sämtliche Interviews wurden telefonisch durchgeführt. Im Erhebungszeitraum von Herbst 2005 bis Mai 2006 konnten insgesamt 30 Leitungskräfte, 261 Fachkräfte und 435 Familien in 30 Einrichtungen befragt werden. Datengrundlage für die hier vorgelegte Untersuchung stellen also zum einen die Antworten von 30 Leitungskräften und 261 Fachkräften aus 30 Einrichtungen der SPFH in NRW dar. Zum anderen wurden in ausraises deals with the potential for conflict that may exist among commitments. To the extent that organizations pursue to conflicting goals of multiple constituencies, individuals who are committed to these constituencies may suffer from conflicts over the direction that their energies and loyalties should take. That is, commitment to one group may imply the necessary abandonment of other identifications with other groups.” (ebd. S.473; vgl. auch Golden-Biddle/Rao 1997; Zaccaro/Dobbins 1989) 9 Es handelt sich um das DFG-Projekt „Dienstleistungsqualität in der Sozialen Arbeit“ unter Leitung von Hans-Uwe Otto und Andreas Schaarschuch.

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gewählten Einrichtungen Gruppeninterviews mit den Fachkräften und Experteninterviews mit der Leitung geführt.10 Instrumente zur Messung der Bindung der Mitarbeiter an die Profession sind relativ selten (zur Übersicht vgl. UGME 2004; Swailes 2003, S.139ff.). In der Studie wurde auf die weit verbreitete Professionalization Scale von Hall (1961; vgl. auch Snizek 1972, 1985) in der Version von Swailes (2003) zurückgegriffen (Beispielitem: „Ich bin dieser Profession zu sehr verbunden, um sie aufzugeben.“). Zur Messung der Bindung der Mitarbeiter an die Organisation wird auf die ebenfalls weit verbreitete „Organizational Commitment Scale“ (OCQ) von Porter u.a. (1974, 1975) in der Übersetzung von Maier (2002) zurückgegriffen.11 Porter und Mitarbeiter definieren „organizational commitment“ dabei als die „relative strength of an individual’s identification with and involvement in a particular organization“ (Mowday/Steers/Porter 1979, S. 226), die OCQ fokussiert also vor allem die Einstellungen und Haltungen der Mitarbeiter zu der Organisation (z.B. „Freunden gegenüber lobe ich diese Einrichtung als besonders guten Arbeitgeber“) und damit weniger andere Formen der Bindung an die Organisation.12 Zum statistischen Zusammenhang von Professions- und Organisationsbindung Nimmt man Häufigkeitsauszählungen über die Organisations- und Professionsbindung der Fachkräfte vor (siehe Tabelle 2), so zeigt sich, dass in den untersuchten Einrichtungen sowohl die mittlere Bindung an die Profession als auch die Bindung an die Organisation relativ hoch ausgeprägt ist. Sie liegt bei 3,18 resp. 3,09 von 4 möglichen Punkten.13 Dies ist auch im Hinblick auf Vergleichsstudien hoch (vgl. z.B. Giffords 2003), in denen in der Regel niedrigere Werte gemessen werden. Die Mittelwerte von Professions- und Organisationsbindung sind gleichermaßen hoch, eine Korrelation zwischen den Konstrukten besteht nicht. Empirisch schließen sich also Professions- und Organisationsbindung nicht aus. Würden sie sich ausschließen, hätte sich eine negative Korrelation ergeben müssen. Die Ausgangshypothese einer inversen Beziehung zwischen Professions- und Organisationsbindung konnte also nicht verifiziert werden. Denkbar ist allerdings, dass die Ausprägung des Verhältnisses von Professions- und Organisationsbindung vom Organisationstyp abhängt. Die Vertreter der These einer inversen Beziehung zwischen Organisations- und Professionsbindung gehen in der Regel von einer bürokratischen Organisation aus, in der diese als Beschränkung, als Restriktion der Handlungsmöglichkeiten wirkt. In der bisherigen Forschung zur Bindung an die Organisation, resp. die Profession wird nur selten explizit die Organisationsform empirisch in die Untersuchung mit einbezogen. Die wenigen relevanten Studien (vgl. z.B. Wallace 1995a, b) legen aber nahe, dass in einer professionellen Organisationsform („autonomous professional organizations“, nach Scott 1965), in denen die Professionellen über Ermessensspielräume verfügen und in denen Karrierechancen auf der 10 Darüber hinaus wurden Gruppeninterviews mit Familien dieser ausgewählten Einrichtungen durchgeführt, die nicht Gegenstand dieses Beitrags sind. 11 „This measure, because of its popularity and continued use, has in a sense become ‘the’ approach to organizational commitment.“ (Reichers 1985, S.467; vgl. auch Felfe 2008, S.75; Mowday/Steers/Porter 1979; Mathieu 1991; Commeiras 2001; in gewinnorientierten Organisationen: Bartol 1979; Chang 2007; Randall 1988; im Bereich öffentlicher Dienstleistungen: Welsch/LaVan 1981; in der Sozialen Arbeit: Giffords 2003; Mannheim 2000) 12 Zu den verschiedenen Formen und Foci der Bindung an die Organisation vgl. die Differenzierungen in Allen/Meyer (1990), Mueller/Wallace/Price (1992), Meyer/Allen (1997). 13 Die Standardabweichung bei der Professionsbindung beträgt 0,23327, bei der Organisationsbindung 0,19238.

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Basis von professionellen Maßstäben vergeben werden, beide Formen des „commitments“ hoch ausgeprägt sein können. Dies scheint das hier vorliegende Projekt zu bestätigen. Zur Professionsbindung in Abhängigkeit von einzelnen Organisationstypen Um diese These zu prüfen, inwieweit die Professionsbindung von Organisationstyp abhängt, wurden mittels einer Kombination aus Faktoren- und Clusteranalyse (vgl. Micheel 2003) verschiedene Organisationstypen differenziert, die sowohl statistisch trennscharf (zwei Dimensionen mit p<.001, ETA jeweils .84) als auch theoretisch gut interpretierbar sind (vgl. dazu ausführlich Beckmann u.a. 2007a). Auch wenn die beiden Hauptfaktoren, über die die Clusteranalyse durchgeführt worden ist, leicht variiert werden, kann dieses Ergebnis weitgehend repliziert werden: Die Einrichtungen bleiben relativ stabil in „ihren“ Clustern. Abbildung 1:

Graphische Darstellung der Cluster

Clus

Konsens in Qualitätsfragen

Clu 1,0

ster

Organisationstyp

ter 3

1 Atomisierte Profiorganisation

2

2 Maschinenbürokratie 3 Kollegiale Profiorganisation

0,0

Clu

ste

r1

-1,0

-2,0

-3,0 -2,0

-1,0

0,0

1,0

2,0

Ermächtigende Formalisierung Die beiden Faktoren, über die die Clusteranalyse durchgeführt worden ist, geben auf der horizontalen Achse das Maß an „professionsfördernden“ Arbeitsbedingungen wieder (Beispielitem aus dem sogenannten Job Diagnostic Survey, vgl. Schmidt/Kleinbeck 1999; van Dick u.a. 2001: „Meine Arbeit ist sehr abwechslungsreich“ oder „Ich betrachte meinen Beruf als eine ganzheitliche Arbeit“) und auf der vertikalen Achse das Maß an Übereinstimmung der Fachkräfte über wichtige Qualitätsmaßstäbe des Handelns (Beispielitem in Anlehnung an NIST 2004: „Inwieweit besteht in Ihrer familienunterstützenden Teil-Institution Konsens über die je unterschiedlichen Ansprüche und Erwartungen, die diese Ziel- und Interessengruppen und Kunden an Ihre Dienstleistungen stellen?“) (Siehe Abbildung 1). Sind die professionsfördern-

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den Arbeitsbedingungen sowie der Konsens über die Maßstäbe des Handelns hoch ausgeprägt, so kann in Anlehnung an Mintzberg (1979, 1992) von einer „kollegialen Profi-Organisation“ gesprochen werden (Cluster 3). Ist das Maß an ermächtigenden Arbeitsbedingungen niedrig, sowie die Übereinstimmung in Qualitätsfragen eher unterdurchschnittlich, so kann von einer Maschinenbürokratie gesprochen werden (Cluster 2). Das Cluster 1 – charakterisiert durch ermächtigende Arbeitsbedingungen bei geringem Konsens über Fragen der Qualität des fachlichen Handelns – kann schließlich als „atomisierte Profi-Organisation“ bezeichnet werden, in der die Fachkräfte sich trotz der professionsfördernden Arbeitsbedingungen nicht auf einen gemeinsamen Qualitätskonsens einigen konnten, also nicht in einen kollegialen Dialog eingetreten sind. Eine bivariate Korrelation zwischen der mittleren Professionsbindung im Verhältnis zu den einzelnen Clustern zeigt, dass in den kollegialen Profi-Organisationen die Professionsbindung am höchsten ausgeprägt ist (mean=3,26), in den Maschinenbürokratien am niedrigsten (mean=2,99; Korrelation: r=.235, p=.07).14 Es zeigt sich also, dass die Bindung an die Profession tendenziell mit kollegialen, ermächtigenden Arbeitsbedingungen korrespondiert. Maschinenbürokratien weisen hingegen eine tendenziell schwächere Professionsbindung der Mitarbeiter auf. Inwieweit sich die Bindung an die Organisation und die Bindung an die Profession widersprechen, wie dies von Gouldner, Scott und Blau behauptet worden ist, ist also abhängig von dem jeweiligen Organisationstypus. Unklar ist nun, wie sich dies sinnlogisch vermittelt: Welches sind auf der subjektiven Ebene der Akteure die „Mechanismen“, über die sich die Professionsbindung im Hinblick auf die verschiedenen Organisationstypen durchsetzt? Ist es der Druck, der durch den Sozialmarkt entsteht, der auch vor dem Hintergrund der Sinnhorizonte der Akteure eine Abnahme der Professionsbindung und damit auf der ideellen Ebene eine Deprofessionalisierung provoziert? Dies ließ sich im Rahmen des quantitativen Surveys nicht vollständig klären. Aufschlussreich sind hier die Aussagen, die von den Fachkräften und Leitungen im Rahmen der qualitativen Forschungsphase gemacht worden sind und die im Folgenden dargestellt werden sollen. Zu den subjektiven Deutungen der Fachkräfte in ausgewählten Einrichtungen Auf Basis der Clusteranalyse wurden aus den Clustern „Maschinenbürokratie“ und „kollegiale Profi-Organisation“ exemplarisch zwei Einrichtungen ausgewählt, um die Unterschiede in den Haltungen der Mitarbeiter auch qualitativ zu rekonstruieren (Member Check). Aufgrund der geringen Datenbasis wird hier selbstverständlich kein Anspruch auf Repräsentativität oder gar Allgemeingültigkeit gestellt. Vielmehr geht es darum, die anhand der quantitativen Datenerhebung und -auswertung gewonnen Erkenntnisse zu spezifizieren bzw. Tendenzen der professionellen Orientierungen und Deutungen in den jeweiligen Einrichtungstypen exemplarisch zu rekonstruieren. Bei der Auswertung des qualitativen Datenmaterials hat sich gezeigt, dass die Einrichtungen hinsichtlich des Umgangs mit Qualitätsfragen kontrastieren. In der Maschinenbürokratie wird seit mehreren Jahren der Einsatz eines formalen Qualitätsmangementsystems forciert, der Konsens in Qualitätsfragen ist aber niedrig. In der kollegialen Profiorganisation spielt der 14 Die These wurde anhand „benachbarter“ Konstrukte zur professionellen Haltung überprüft. So repliziert sich das Ergebnis beispielsweise anhand des Konstruktes „Idealismus in helfenden Berufen“ (vgl. Enzmann/Kleiber 1989), in der die Einrichtungen des Clusters „kollegiale Profi-Organisation“ einen mittleren Professionsidealismus von 2,87, diejenigen der Maschinenbürokratie lediglich 2,54 (p=.001) aufwiesen.

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Einsatz eines Qualitätsmanagementsystems dagegen keine Rolle, der Konsens in Qualitätsfragen ist aber hoch. Um zu untersuchen, welche Rolle die Kollegialität in diesem Zusammenhang spielt, wurden mit den Teams der Familienhelfer Gruppendiskussionen und – getrennt davon – ein Experteninterview mit der Leitungsperson der Einrichtung durchgeführt. Die Annahme dabei war, dass sich in Gruppendiskussionen genau die Diskursivität reproduziert, die auch schon im professionellen Arbeitsalltag bestimmend ist. Inhaltsanalytisch lässt sich nun zeigen, dass sich diese methodologische Annahme bestätigt. Die Mitarbeiter in der kollegialen Profiorganisation beginnen auf die Frageimpulse der Interviewer unmittelbar mit einem Fachdiskurs über Professionalität, Qualität und organisationale Arbeitsbedingungen. In der Maschinenbürokratie dagegen kommt ein inhaltlich gehaltvoller Austausch auch auf direktes Nachfragen hin kaum zustande. Die kollegiale Profiorganisation zeichnet sich durch eine starke Professionsbindung aus. Das Professionsverständnis ist dabei aus der Perspektive der Fachkräfte betrachtet primär durch kollegialen Austausch bzw. Diskurs gekennzeichnet. Die folgende Interviewpassage aus der Gruppendiskussion mit den Fachkräften der kollegialen Profiorganisation verdeutlicht dieses Professionsverständnis. Bezogen auf die Frage nach dem Qualitätsmanagement bzw. nach Instrumenten der Qualitätssicherung in der Einrichtung antwortet ein Teilnehmer der Gruppendiskussion: T: Wir sind immer wieder auch dabei zu gucken wo ist hier die gemeinsame Linie und wo ist da sozusagen das professionelle Handeln? Wodurch wird das bestimmt professionell. Auch dass man dann auch genau guckt, äh, wissenangeleitet zu handeln, aber ähmmm immer wieder auch ne Offenheit äh für den Anderen zu bewahren. Also das ist ja das, was wir tagtäglich erleben. Man kann ja auch mit nem festen Plan in diese Familie rein gehen, was man selber meint, was für die richtig ist oder wo man hin will. Man muss das immer wieder aktualisieren und angleichen an, an das, was man tatsächlich vorfindet. Also das ist denk ich, auch ein Qualitätsmerkmal. Also äh ... ... ähm das, das aber auch, dass man professionell handelt und keine Erfolge sichtbar sind. Also Erfolge, die jetzt vom Jugendamt äh vielleicht äh so messbar sind. (Kollegiale Profiorganisation, Fachkräfte, Position 343-351) Die Interviewpassage zeigt, dass das Professionsverständnis wesentlich geprägt ist durch Offenheit, Flexibilität und kollegialen Austausch. Im weiteren Verlauf der Gruppendiskussion wird deutlich, dass kontinuierliche professionelle Weiterentwicklung und Weiterbildung ebenfalls ein Bestandteil des hier beschriebenen Professionsverständnisses ist. Konträr dazu scheint in der Maschinenbürokratie kein klares Professionsverständnis und analog dazu keine ausgeprägte Professionsbindung vorhanden zu sein. Vielmehr wird die Frage der Interviewerin nach dem zugrunde liegenden Professionsverständnis lapidar und scheinbar „inhaltsleer“ mit den Worten „Wir sind alle super“ abgetan. I1: Also was mich eigentlich abschließend noch interessieren würde, das wären so allgemeine Fragen. Und zwar würde mich interessieren, was Sie überhaupt für ein Verständnis Ihrer Profession haben, wie sie sich selber in Ihrer Arbeit sehen. T1: Ganz kurz. (alle lachen und reden durcheinander) T2: Wir sind, wir sind alle super. T1: Ja.

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T2: Ich denke, das fasst es zusammen, oder? (Maschinenbürokratie, Fachkräfte, Position 393-398) Anders als bei der kollegialen Profiorganisation findet in der Gruppendiskussion mit den Fachkräften der Maschinenbürokratie kein Austausch über das zugrunde liegende Professionsverständnis statt. Vielmehr lässt sich hier nur eine Stellungnahme einer einzelnen Fachkraft analysieren, die auf ein auf Flexibilität und Offenheit dem individuellen „Fall“ gegenüber basierendes, professionelles Selbstverständnis schließen lässt. E: Also ich finde es an manchen Stellen schon schwierig, ähm Qualität oder die Arbeit, die Qualität der Arbeit mit Menschen (...) irgendwie in standardisierte Raster zu packen und daran ne qualitative hochwertige Arbeit oder auch nicht irgendwie abzuleiten, weil ähm es ja in den meisten Fällen doch sehr individuell und total komplex und sehr im Einzelfall äh ja, dasteht, was ist jetzt ein Erfolg oder was ist mit der Familie äh eher ähm ja, ein Misserfolg. Wer interpretiert das, wer äh aus wessen Sicht (lacht) wie, also das ist schon schwierig, da so ein Raster für zu finden. Und deshalb äh finde ich diese Bögen, die wir ausfüllen müssen da oder mussten fürs Jugendamt, auch eher nervig, weil das ner Situation eigentlich kaum gerecht wird (...) ne? Das wird was in Zahlen gepresst oder in Skalen, was eigentlich mit der Situation jetzt wenig zu tun hat. Das ist ähm also an manchen Stellen find ich es nervig, wenn ich das Gefühl habe, hier soll was in Zahlen oder Darstellungen ähm gepackt werden, was so nicht geht, ja? Auf der anderen Seite ähm glaube ich auch, dass es nur mit der Intuition des Einzelnen oder mit äh ja, mit so nem Gefühl irgendwie auch nicht auch nicht so ähm einheitlich qualitativ wertvoll klappt. Da finde ich aber ähm, der Ansatz äh den Ansatz äh, den finde ich da ganz wichtig, mit dem Jugendamt wirklich ganz konkrete äh Ziele der Hilfe zu formulieren und mit den Familien, weil man anhand der Erreichung derer (...) oder Veränderungen derer gucken kann, ne, „Haben wir das so hingekriegt, was wir uns da vorgenommen haben oder mussten wir die verändern, musste die Hilfe verändert werden oder sind jetzt alle zufriedener als vorher“. (Maschinenbürokratie, Fachkräfte, Position 65-71) Hier artikuliert sich ansatzweise eine professionelle Arbeitshaltung, die in einem Spannungsverhältnis zu den maschinenbürokratischen Anforderungen steht. Allerdings kann die Fachkraft diesen Anforderungen keine substantielle Alternative entgegensetzen, weil sie keinen Rückhalt in einem professionellen Diskurs hat. Das einzige, was sie der Maschinenbürokratie entgegenzusetzen hat, ist die „Intuition des Einzelnen“, nicht aber ein professionelles Selbstverständnis, welches sich in einem kollegialen Diskurs beständig aktualisiert. Sowohl bei der kollegialen Profiorganisation als auch bei der Maschinenbürokratie kann eine deutliche Bindung an die jeweilige Organisation rekonstruiert werden. Die Organisationsbindungen weisen dabei jedoch unterschiedliche Ausformungen auf. Die Fachkräfte der kollegialen Profiorganisation bewerten die Einbindung in eine Organisation als durchweg positiv. Aus ihrer Perspektive betrachtet bedeutet die organisationelle Einbindung Rückhalt und Handlungssicherheit, welche insbesondere auf dem Vorhandensein einer als kompetent wahrgenommenen Einrichtungsleitung sowie auf einer einheitlichen Außenwirkung basieren. Das eigene professionelle Selbst- und Handlungsverständnis wird durch die Einrichtungsleitung gebündelt und schließlich von dieser nach Außen transportiert bzw. repräsentiert. T: Ähm ich wollte noch einen Punkt, der ist uns allen absolut geläufig und selbstverständlich, aber den einfach noch mal genannt zu haben, was Qualität ist, dass wir eine Leitung haben. Dass wir ein Dienst

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sind, der ne Leitung hat. Und der als Leitung auch ganz viel bündelt, ne? Also Anfragen werden gebündelt und auch Inhalte von hier werden auch nach Außen transportiert. Und das, dass wir das haben, dass wir da diese eine Schaltstelle haben und auch diese Kooperation zu den Jugendämtern. Ähm da können wir ja nicht alle hier in dem großen Plenum hin marschieren, das geht ja gar nicht. Das finde ich unheimlich entlastend, dass wir diese Person haben. Ich finde nicht alles ok („lacht“), wies läuft. Das äh ja, das könnte man sicherlich ähm auch noch einiges anders angehen. Aber dass wir das haben und dass äh dass da so Arbeit auch so gemeinsam also äh als Einheit transportiert wird, ich glaube, das wird nach Außen auch gut verkauft. […] Ich glaube, ich kann manchmal leichter arbeiten, weil ich einen Briefkopf habe, weil der für etwas steht. Für ein Haus, für eine Chefin, ja, für eine Gesamteinrichtung. Mh, finde ich auch [...] sehr wertvoll. (Kollegiale Profiorganisation, Fachkräfte, Position 733-750) Für die Fachkräfte der kollegialen Profiorganisation schließt dabei die Organisationsbindung eine ausgeprägte Professionsbindung nicht aus. Vielmehr wird die Organisation als stabilisierend und entlastend in Hinblick auf die Erbringung einer professionell ausgerichteten Sozialen Arbeit wahrgenommen. Die eigenen professionellen Handlungsspielräume werden durch die Einbindung in die Organisation aus der Perspektive der Fachkräfte betrachtet nicht eingeschränkt. In der Gruppendiskussion mit den Fachkräften der Maschinenbürokratie lässt sich ebenfalls eine ausgeprägte Organisationsbindung rekonstruieren. Diese manifestiert sich jedoch eher im Sinne einer marktwirtschaftlich orientierten Loyalität mit der eigenen Einrichtung. Dabei geht es darum, die eigene Position auf dem Quasimarkt der Sozialen Arbeit zu stärken. Eine solche Umgangsweise wird auch in anderen Untersuchungen zum Wandel der Organisationen sozialer Arbeit festgestellt (vgl. Dahme 2008). Diese Form der Organisationsbindung schließt dabei eine Orientierung an der Profession im Sinne eines kollegialen einrichtungsübergreifenden (fachlichen) Diskurses bzw. Austausches aus. Die folgende Interviewsequenz zeigt, dass die Loyalität mit der eigenen Einrichtung einen professionellen Austausch mit externen KollegInnen beispielsweise über Qualitätsstandards verhindert. An Stelle des für die kollegiale Profiorganisation kennzeichnenden professionellen Diskurses bzw. Austausches tritt bei den Fachkräften der Maschinenbürokratie ein starkes Konkurrenzdenken. T: Wir tauschen ja nicht Standards aus oder so. Wir wollens ja nicht übertreiben. I1: Nein T: Nein nein. Wir sagen jetzt nicht „Wir haben hier einen tollen Bogen und Ihr könnt den auch haben“ oder so, weil da hängt ja auch persönliche Entwicklung I1: Klar. T: und alles mit drin. Und unsere Träger haben ja kein Interesse daran, dann dieses Know How weiterzugeben. Da müssen wir unseren Markt auch positionieren. (Maschinenbürokratie, Fachkräfte, Position 266-270) Konträr dazu sieht die Leiterin der kollegialen Profiorganisation die Entwicklung von Qualitätsstandards als gemeinschaftliches Projekt, welches gleichberechtigt zusammen mit den anderen vor Ort ansässigen Anbietern bearbeitet wird. Die Entwicklung von Qualitätsstandards ist vor diesem Hintergrund nicht durch Konkurrenzdenken sondern vielmehr durch kollegialen Austausch geprägt und entspricht so dem dargestellten Professionsverständnis der kollegialen Profiorganisation.

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L: Genau. Hm. Das, das klappt wirklich gut. Ne? Und das ist natürlich dann äh von Vorteil, dass man nicht in so ner Vorreiterrolle ist. Dass man sagt „Wir haben schon alles jetzt“, ne? Was so das Qualitätsmanagement anbelangt. Ne? Und das ist der Vorteil, dass wir eben auch, sag ich mal, relativ wenig haben. Die anderen eben auch und man so peu à peu in dieser Diskussion haben kann. I1: Aber da, eben auch gemeint damit, also jetzt nicht nur Ihre Einrichtung, oder W (Einrichtung), L: Hm. I1: sondern auch ähm L: X (Einrichtung) und äh Y (Einrichtung), Z (Einrichtung). (Kollegiale Profiorganisation, Leitung, Position 89-93) Zusammenfassend lässt sich auf Basis des qualitativen Datenmaterials herausstellen, dass sich Professions- und Organisationsbindung nicht gegenseitig ausschließen. Allerdings nimmt die Organisationsbindung bei den hier zugrunde liegenden Einrichtungstypen unterschiedliche Ausformungen an. Während die Organisationsbindung der Fachkräfte der Maschinenbürokratie ausgehend von dem hier zugrunde liegenden Datenmaterial tendenziell eher zu Konkurrenzverhalten und damit zur Abgrenzung von anderen Anbietern führt, stellt die Einbindung in eine Organisation bei der kollegialen Profiorganisation eher einen entlastenden Rahmen zur Erbringung professioneller Sozialer Arbeit dar. In diesem Zusammenhang hat Nauerth (2003a; 2003b) darauf hingewiesen, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen auf Seiten der Einrichtungen immer dieselben Veränderungsprozesse induzieren, sondern dass diese im Hinblick auf das Interesse der Organisationen und der Machtspiele der einzelnen Akteure angeeignet werden (vgl. auch Schnurr 1998; Schmidt/Kühl 2004). Aus dieser Perspektive können auch – bei sehr ähnlichen Ausgangslagen – die unterschiedlichen Umgangsweisen mit Änderungen der Organisationsumwelten wie sie hier beschrieben worden sind interpretiert werden, die sich dann in unterschiedlichen Haltungen der Fachkräfte und Leitungspersonen niederschlagen. Zum Potential des Methodenmixes für die empirische Forschung in der Sozialen Arbeit In der hier vorgestellten Studie wurde die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Professions- und Organisationsbindung in Form einer Kombination von „quantitativem“ Survey und „qualitativer“ Inhaltsanalyse verfolgt. Es wurde zunächst aufgezeigt, dass der Zusammenhang zwischen Professions- und Organisationsbindung in Abhängigkeit vom Einrichtungstypus gesehen werden muss. Mithilfe von Clusteranalysen konnte eine Typologie von Einrichtungen konstruiert werden, die nicht nur mit gängigen Organisationstheorien im Einklang steht, sondern auch nachweist, dass – im Gegensatz zur Maschinenbürokratie – insbesondere in kollegialen Profiorganisationen die Professionsbindung mit der Organisationsbindung vereinbar ist. Dann konnte gezeigt werden, dass sich diese Ergebnisse im so genannten „Membercheck“, den Fallstudien in ausgewählten Einrichtungen, widerspiegeln. Im „inszenierten Fachdiskurs“ der Gruppendiskussion lässt sich darüber hinaus inhaltsanalytisch das Verhältnis von Professionsbindung und Organisationsbindung weiter aufklären: Die Organisationsbindung nimmt nämlich in den beiden Einrichtungstypen einen anderen Stellenwert ein. In der Maschinenbürokratie wird die Umwelt der Organisation als Wettbewerbsumgebung wahrgenommen. Die Organisationsbindung wird hier zu einem Wettbewerbsfaktor, zur Corporate Identity. In der Kollegialen Profiorganisation dagegen wird in der Umwelt der Organisation nach mögli-

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chen Kooperationspartnern gesucht. Die Organisationsbindung wird hier zu einem Mittel der Koordination. Inhaltsanalytisch konnte aber letztlich das Paradox nicht aufgehellt werden, warum in der Maschinenbürokratie zwar seit mehreren Jahren ein formales Qualitätsmangementsystem forciert wird, der Konsens in Qualitätsfragen aber niedrig ist, während in der kollegialen Profiorganisation der Konsens hoch ist, obwohl es dort gar kein Qualitätsmanagementsystem gibt. Daher sind einige Passagen einer extensiven Fallrekonstruktion unterzogen worden, deren ausführliche Darstellung einer späteren Publikation vorbehalten sein muss. Fallrekonstruktiv zeichnet sich ab, dass in der kollegialen Profiorganisation der Konsens über Qualitätsfragen nur oberflächlich durch die Qualitätssemantik hergestellt wird. Es ist vielmehr der professionelle Habitus, mit dem die Mitarbeiter wie selbstverständlich in den fachlichen Diskurs eintreten und einen Konsens über die wesentlichen Fragen ihrer Arbeit herstellen. Bei der Einrichtung vom Typ der Maschinenbürokratie lässt sich dies so nicht beobachten. Ironischerweise wird der „Qualitätsdiskurs“ in diesem Einrichtungstyp immer dann geführt, wenn es um die Außendarstellung geht. Und da hier ein ausgebildeter Professionshabitus fehlt, steht man der Verwendung der Qualitätssemantik eher unkritisch gegenüber. Die Erkenntnismöglichkeiten des quantitativen Surveys, der Inhaltsanalyse und der Fallrekonstruktion, wie sie sich in der hier vorliegenden Studie darstellen, sind also ineinander verzahnt (siehe Tabelle 3). Tabelle 2:

Methodologische Besonderheiten von Quantitativem Survey, Inhaltsanalyse und Fallrekonstruktion

Das Forschungsinteresse hinsichtlich des Verhältnisses von Professions- und Organisationsbindung lässt sich zum einen durch die Suche nach Regelmäßigkeiten und zum anderen durch die Suche nach generativen Prinzipien verfolgen. Regelmäßigkeiten werden im „quantitativen“ Survey untersucht, während generative Prinzipien in „qualitativen“ Fallstudien untersucht werden. Im Survey werden Professions- und Organisationsbindung über die Einstellungen der Fachkräfte abbildbar, die sich in dem Antwortverhalten der standardisierten Befragung widerspiegeln. Die Antworten sind als Merkmalsausprägungen der Fragebogenitems u.a. für Korrelations-, Faktoren- und Clusteranalysen zugänglich. Dies ermöglicht die Konstruktion von Organisationstypen. Es konnte gezeigt werden, dass die Gleichzeitigkeit von Organisationsund Professionsbindung insbesondere in der kollegialen Profiorganisation besteht. Der Grund für dieses Phänomen wird durch Fallanalysen aufgeklärt: Es wird nach dem „generativen Me-

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chanismus“ (Maxwell 2004) gesucht, der zu erklären vermag, wie das Verhältnis von Organisations- und Professionsbindung vom Organisationstyp abhängt. Inhaltsanalytisch wird der Fachdiskurs untersucht, wie er sich beispielsweise in Gruppendiskussionen reproduziert. So können Begründungsmuster zu „Wettbewerb“ und „Kollegialität“ analysiert werden. Es wurde herausgearbeitet, dass die Professionsbindung im Zusammenhang mit der von den Fachkräften wahrgenommenen Wettbewerbsumgebung steht. In der Maschinenbürokratie wird die externe Wettbewerbsumgebung als gegeben akzeptiert und eine Kooperation mit anderen Einrichtungen kaum versucht, während in der Profiorganisation der Wettbewerbsumgebung durch Versuche der Kooperation mit anderen Einrichtungen geradezu entgegengetreten wird. Fallrekonstruktionen haben den professionellen Habitus zum Gegenstand, wie er sich in Forschungsinterviews niederschlägt, wenn Fachkräfte über ihre Arbeit reflektieren. Der habitualisierte Umgang mit Wettbewerbsdruck wird als Fall definiert (Fallkonstitution). Die Rekonstruktion zeigt dann, dass in der Maschinenbürokratie der Qualitätsdiskurs als Wettbewerbsvorteil verhandelt wird, während in der kollegialen Profiorganisation die Qualitätssemantik oberflächlich „mitläuft“. Dominant und bestimmend für die alltägliche Arbeit scheint weniger die Qualitätssemantik zu sein als der Konsens in drängenden Fragen über die Maßstäbe der eigenen Arbeit, der durch den Professionshabitus erzeugt wird. In der Studie „Dienstleistungsqualität in der Sozialen Arbeit“ hat sich also der Methodenmix bewährt. Die spezifischen Erkenntnismöglichkeiten der verschiedenen methodischen Zugänge konnten zur Klärung der Forschungsfrage miteinander verzahnt werden. Literatur Allen, N. J./Meyer, J. P. (1990): 'The measurement and antecedents of affective, continuance and normative commitment'. In: Journal of Occupational Psychology, 63, 1-18. Baker, L. et.al. (2006): The impact of work-family conflict on social work and human service worker job satisfaction and organizational commitment: an exploratory study. In: Administration in Social Work, 30(3), 55-74. Bar-Hayim, A./Berman, G. S. (1992): The Dimensions of Organizational Commitment. In: Journal of Organizational Behavior, 13(4), 379-387. Bateman, T. S./Strasser, S. (1984): A Longitudinal Analysis of the Antecedents of Organizational Commitment. In: The Academy of Management Journal, 27(1), 95-112. Beckmann, C./Otto, H.-U./Schaarschuch, A./Schrödter, M. (2007a): Quality Management and Formalization in Social Service Organisations – A Survey on Home-Based Family Intervention Service. In: Social Work and Society/5, online: http://www.socwork.net/2007/1/researchnotes/beckmann_et_al. Beckmann, C./Otto, H.-U./Schaarschuch, A./Schrödter, M. (2007b): Qualitätsmanagement und Professionalisierung in der Sozialen Arbeit. Ergebnisse einer Studie zu organisationalen Bedingungen ermächtigender Formalisierung. In: Zeitschrift für Sozialreform, Jg. 53, H.3, S.275-295. Beckmann, C./Otto, H.-U./Schrödter, M. (2009): Management der Profession: Zwischen Herrschaft und Koordination. In: Grunwald, K. (Hg.): Vom Sozialmanagement zum Management des Sozialen. Baltmannsweiler, Schneider/Hohengehren. Beckmann, C./Schrödter, M. (2006): Dienstleistungsqualität in der Sozialen Arbeit: Vorstellung und erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes aus der Sozialpädagogischen Familienhilfe. In: FröhlichGildhoff, K./Engel, E.-M./Rönnau, M./Kraus, G. (Hg.): Forschung und Praxis in den ambulanten Hilfen zur Erziehung. Freiburg, S.101-117. Blau, P. M./Heydebrand, W. V./Stauffer, R. E. (1968): Wechselbeziehungen zwischen strukturellen Merkmalen der Bürokratie. In: Mayntz, R. (Hg.): Bürokratische Organisation. Köln, S.94-116. Blau, P. M./Scott, W. R. (1970): Formal organizations. A comparative approach. San Francisco.

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Frühförderprogramme in Kindertagesstätten – eine organisationsoziologische Studie Ellen Bareis/Claus Reis In den letzten Jahren fand – verstärkt durch die OECD-PISA-Studien1 wie durch die mediale und politische Debatte um die Frage der „gesellschaftlichen Integration“ von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – eine intensive Diskussion um Ziele, Inhalte und Gestaltung der öffentlichen Tageseinrichtungen für Kinder statt. Kindertagesstätten wurden lange hauptsächlich in ihrer Eigenschaft als Sozialisations- und Erziehungseinrichtungen wahrgenommen, die Kindern zusätzliche Erfahrungshintergründe öffnen und zugleich Eltern den Alltag erleichtern können. Mittlerweile treten mit Betreuung und Bildung verstärkt zwei weitere Dimensionen in den Vordergrund. Als Betreuungseinrichtungen gewinnen Kindertagesstätten arbeitsmarkt- und familienpolitisch an Gewicht, da sich die Beschäftigungszeiten von Berufstätigen und damit auch die Erwartungen an Kinderbetreuungszeiten ausweiten und flexibilisieren. In Hinblick auf eine verstärkte gesellschaftliche Erwerbserwartung wie auch die Zugänglichkeit von Qualifikations- und Erwerbstätigkeitsmöglichkeiten ist (nach wie vor insbesondere für Frauen als „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“) die Bereitstellung einer angemessenen Kinderbetreuung ein zentraler Faktor (Stichwort: „längere und flexiblere Öffnungszeiten“). In den medialen und politischen Debatten um die OECD-PISA-Studien schlug sich dagegen die zunehmende Bedeutung von Kindertageseinrichtungen als eigenständige, nicht mehr nur mit direktem Blick auf die Einschulung verstandene Stätten der frühen Bildung nieder. Auch die Diskussionen der gesellschaftlichen Partizipation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und aus armen bzw. „bildungsfernen“ Haushalten2 sind ein Indiz für eine zunehmende Wahrnehmung von Kindertagesstätten in ihrer Funktion als Bildungseinrichtungen.3 Grundsätzliche strukturelle Veränderungen der gesellschaftlichen Realitäten – insbesondere die wachsende Bedeutung von wissensbasierten Tätigkeiten im beruflichen Alltag – lassen auch aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive darauf schließen, dass „Bildung“ (in einer eher engen und funktionalen Variante) zu einer maßgeblichen Größe gesellschaftlicher Partizipation (und Exklusion) avanciert (Stichwort: „Lebenslanges Lernen“). Vor diesem Hintergrund ist die Dynamik zu sehen, die die öffentliche Diskussion um „mehr“ Kinderbetreuung und „gute“ Kinderbetreuung derzeit annimmt. Michael-Sebastian Honig fasst die unterschiedlichen gesellschaftlichen Ansprüche, mit denen Kinderbetreuungseinrichtungen konfrontiert sind, folgendermaßen zusammen: „Was ist ein guter Kindergarten? Ist es einer, der den Kindern zur Entfaltung ihrer individuellen Möglichkeiten verhilft und sie auf eine erfolgreiche Schullaufbahn vorbereitet? Ist es einer, der 1

OECD-PISA ist ein internationaler Schülerleistungsvergleich (Programme for International Student Assessment PISA) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), in dessen Rahmen in den Jahren 2000, 2003 und 2006 in einer Vielzahl von Ländern eine Erhebung in der Kohorte der 15-Jährigen durchgeführt wurde. 2 Die ersten PISA-Studien zeigten, dass Deutschland zu den Ländern gehört, „in denen die engste Koppelung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb nachweisbar ist“ (Baumert et al. 2001: 402). Vgl. außerdem zu Kindheit und Armut: Klocke/Hurrelmann 2001; Butterwege et al. 2003, 2005. Für eine Diskussion der aktuellen Instrumente für die Sozialberichterstattung über Kinder: Betz 2008. 3 Vgl. OECD 2004 und Konsortium Bildungsberichterstattung 2006. G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Ellen Bareis/Claus Reis

ihren Sinn für Fairness und Respekt stärkt? Ist es einer, der zu gerechten Lebensverhältnissen beiträgt, indem er Minderheiten integriert? Ist es einer, der Familien unterstützt, indem er Müttern und Vätern ermöglicht, Erwerbsarbeit und Familienleben miteinander zu verbinden? Ist es einer, der das Humanvermögen unserer Gesellschaft mehrt oder einer, der zu einer Kultur des Aufwachsens in dieser Gesellschaft beiträgt?“ (Honig 2004: 13) Die organisationssoziologische Perspektive, die wir im Folgenden am Beispiel einer Studie zu Frühförderprogrammen in Kindertagesstätten (Kita) vorstellen, stellt diese Fragen ins Zentrum. Es ist also nicht die Absicht dieses Beitrags, die in der Multifunktionalität von Kitas aufscheinenden Ansprüche gegeneinander abzuwägen oder gar zu priorisieren. Und auch eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit den möglichen Inhalten zentraler Begriffe wie „Betreuung“, „Bildung“ und „Erziehung“ wird dieser Beitrag nicht bieten. Stattdessen gehen wir der Frage nach, was die organisatorischen Voraussetzungen einer erfolgreichen Implementation pädagogischer Programme in Kindertagesstätten sind. Die Beantwortung dieser Frage setzt die Klärung eines ihr vorgelagerten Problems voraus: Wie schaffen es Organisationen wie Kitas und die darin Beschäftigten, also Leiterinnen und Erzieherinnen,4 in ihrem Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsalltag die o.g. unterschiedlichen Ansprüche in Einklang zu bringen, also miteinander zu vermitteln? Erst die Kenntnis dieses Vermittlungsprozesses gibt Auskunft darüber, wie neue Programme und neue Anforderungen in der „Praxis“ umgesetzt, implementiert werden können. Hier gilt, was Honig zur „Multifunktionalität“, bezogen auf den Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsauftrag gesagt hat: „Jede einzelne Funktion kann nur unter Berücksichtigung der übrigen Funktionen erfüllt werden. Es ist nicht möglich, eine Aufgabe von Kindergärten herauszugreifen, von den anderen zu trennen und für die wichtigste zu erklären, ohne dass damit Auswirkungen für die übrigen Funktionen gesetzt würden“ (Honig 2003: 113). Es stellt sich also die Frage, wie und ob die beschriebene Multifunktionalität der Einrichtungen und die derzeit im Bereich der sprachlichen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Frühförderung entwickelten Programme5 innerhalb der Einrichtungen in Einklang zu bringen sind. Die organisationssoziologische Perspektive und der alltägliche Leistungsprozess Aus organisationssoziologischer Forschungsperspektive lassen sich die einzelnen, über einen Träger verbundenen und gesteuerten Kindertagesstätten jeweils als „Organisation“ und zwar als „Dienstleistungsorganisation“ begreifen. Soziale, personenbezogene Dienstleistungen wie die der Kinderbetreuung teilen, sofern sie in Einrichtungen stattfinden (und nicht beispielsweise in der privaten Tagespflege), die Besonderheiten einer „street level bureaucracy“ (Lipsky 1980): Diese sind durch die alltäglichen Interaktionen zwischen den Mitarbeiterinnen und der Klientel wie zwischen den Mitarbeiterinnen geprägt. Sie lassen sich kaum von außen beobachten, dokumentieren und standardisieren, sondern basieren auf den Beobachtungen und Dokumentationen der Mitarbeiterinnen selbst. Das Handeln der Mitarbeiterinnen ist bedeutend für die Umsetzung von (meist divergierenden) Zielen und Interessen, die aus dem politischen Bereich, 4

Da die in der Kinderbetreuung Beschäftigten überwiegend Frauen sind, verwenden wir im Folgenden die weibliche Form. Die Leiter und Erzieher mögen es uns nachsehen. 5 Einen Überblick über die Programm- und Konzeptlandschaft der vorschulischen Sprachförderung und -bildung in Tageseinrichtungen für Kinder in der Bundesrepublik bieten Jampert et al. 2005. Ein Überblick über weitere Bildungs- und Förderkonzepte findet sich bei Fthenakis/Oberhuemer 2004 und Hansel 2004.

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den Eltern, anderen Organisationen (wie Schule, Jugendamt etc. aber auch gesellschaftlichen Interessenvertretungen) an die Einrichtung herangetragen werden. Daher lohnt es sich, zunächst den „alltäglichen Leistungsprozess“ näher zu betrachten, der von den Erzieherinnen realisiert wird und den der amerikanische Organisationssoziologe Hasenfeld mit dem Begriff der „service technology“, also etwa „Dienstleistungstechnologie“ zu fassen versucht. Diese Technologie kann definiert werden als ein „Set von institutionalisierten Interaktionen, die darauf abzielen, die physischen, psychologischen, sozialen und kulturellen Eigenschaften von Personen zu verändern“ (Hasenfeld 1983: 111; Übersetzung CR). Damit wird hervorgehoben, dass es in jeder Dienstleistungsorganisation, und als solche sind auch Kitas zu sehen, weitgehend standardisierte und häufig „unhinterfragte“ Abläufe gibt, die das individuelle Handeln der Beteiligten „anleiten“, z.B. Programme, aber auch Rituale, Spiele etc. Diese Abläufe werden realisiert von Erzieherinnen, die nur begrenzt auf organisationsinterne Vorgaben zurückgreifen (können), sondern zur Realisierung ein im Laufe der beruflichen Arbeit erworbenes „pädagogisches Professionswissen“ (Fried 2003) einsetzen. Dieses muss man sich als eine Wissensbasis vorstellen, die in unterschiedlichen Situationen und Fallkonstellationen eingesetzt wird und „die sich ebenso aus bewusst gelernten Fakten, Theorien, Regeln usw. konstituiert wie aus erfahrungsvermittelten Einsichten, Weisheiten, Konzepten usw., wobei all das durch persönlichkeitsspezifische Einstellungen, Haltungen usw. oder (...) durch ein ‚professionelles Selbst‘ in berufsrelevantes Wissen transformiert wird“ (Fried 2003: 80). Personenbezogene Dienstleistungen basieren somit auf wissenschaftlichem Wissen, vor allem aber auf subjektiv gewonnenen Erfahrungen und einer geübten „Praxis” – diese ist nicht weniger „wert“ als wissenschaftliches Wissen, vielmehr kommt die Wissenschaft erst durch diese subjektiv eingefärbte Praxis zum Kind. Denn die Besonderheit personenbezogener Dienstleistungen besteht darin, dass standardisierte „Technologien“, seien es Regeln oder Programme, meist nicht zureichend sind, um das individuelle Handeln anzuleiten. Das durch den Alltag in der Organisation geprägte „professionelle Selbst“ erbringt eine Transformationsleistung und stützt sich dabei auf z. T. in langjähriger Arbeit gewonnene „praktische Orientierungen“, die die erwähnten „Dienstleistungstechnologien“ ergänzen und deren Bedeutung Hasenfeld folgendermaßen beschreibt: „Sie reduzieren die Ungewissheit, bieten konsistente, „bewährte“ Handlungsabläufe an und verschaffen Handlungsrationalität und -begründung im Hinblick auf den Umgang mit Klienten“ (ebd.: 119). Bedeutsam werden diese „praktischen Orientierungen“ angesichts eines für personenbezogene Dienstleistungen typischen situativen Handlungsdruckes: Es muss „praktische Lösungen“ für alle auftretenden Probleme geben, auch wenn diese nicht vorhersehbar waren. Die Qualität der Dienstleistung zeigt sich an ihrer Flexibilität in diesen „Ausnahmezuständen“. Die Studie Vor diesem Hintergrund beschäftigen uns in der organisationssoziologischen Studie zu Programmen der frühkindlichen Bildung insbesondere folgende Fragestellungen: Wie laufen die Implementierungsprozesse innerhalb der Kinderbetreuungseinrichtungen ab? Welche Routinen werden dabei wie verändert und wie sind jeweils die Einschätzungen von Seiten des Personals dazu? Welche Anforderungen stellen sich an die Erzieherinnen aber auch die Leitung der Kindertagesstätte? Wie schlagen sich die alltägliche Umsetzung der Programme in den Interaktionen zwischen Erzieherinnen/Erziehern und Kindern nieder und welche Effekte sind damit verbunden?

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Die Studie selbst ist in verschiedene Forschungs- und Erhebungsphasen unterteilt, die insgesamt 25 Kitas eines gemeinsamen Trägers mit unterschiedlicher „Erhebungstiefe“ einschließen. Wir beziehen uns in diesem Beitrag jedoch ausschließlich auf die Pilotstudie, da die Haupterhebung noch nicht abgeschlossen ist. In der Darstellung legen wir den Schwerpunkt auf die Forschungsperspektive und -vorgehensweise und orientieren uns weniger an den Ansprüchen der Berichterstattung von Ergebnissen. Im Zentrum der Pilotstudie standen zwei Frühförderprogramme, von denen eines im Bereich des Spracherwerbs, das andere im Bereich des Zahlenverständnisses und der naturwissenschaftlichen Elementarpädagogik angesiedelt ist. Drei Kindertagesstätten desselben Trägers – dem kommunalen Eigenbetrieb einer hessischen Großstadt mit einem sehr hohen Anteil an Migrationshaushalten – bildeten die Standorte für diese Erhebung. Die Datenerhebung der Pilotstudie fand auf zwei Ebenen statt. Dies war notwendig, da zum einen die innerorganisatorischen Rahmenbedingungen der Einrichtungen und die Abläufe zwischen Kita-Leitung und Erzieherinnen untersucht werden müssen, wie zum anderen die Interaktionen zwischen Kindern und Erzieherinnen in der „Anwendung“ der Frühförderungsprogramme für die Fragestellung relevant sind6. In einem ersten Schritt wurden Expertinneninterviews mit der Leitung und jeweils drei Erzieherinnen in der Einrichtung durchgeführt. Auf dieser Basis wurden so genannte Standortbeschreibungen erstellt, die einen Überblick über die organisationalen Grundbedingungen der einzelnen Kitas (räumliche Situation, Zusammensetzung des Teams, pädagogische Tradition der Einrichtung, alltägliche Abläufe und Bildungs- und Erziehungsverständnis) ermöglichten. Die zweite Erhebungsstufe bestand in ausführlichen Beobachtungen im Alltag der Kindertagesstätte. Diese Beobachtungen waren in sofern fokussiert, als der Beobachtungsplan um bestimmte institutionelle Settings herum entworfen wurde. Im Zentrum standen dabei die beiden Programme zur frühkindlichen Bildung (hier Sprache und Zahlenverständnis) und die jeweils in der Einrichtung etablierte „Gruppensituation“ (Bezugsgruppenzeit, Gruppenzeit oder Gruppenbesprechung). Die Beobachtungen beschränkten sich aber nicht auf diese Phasen sondern umfassten den kompletten Tagesablauf, um die Übergänge zwischen diesen unterschiedlichen Settings, die Einbettung in die Alltagsstrukturen bzw. die Brüche darin wahrnehmen und der Analyse zugänglich machen zu können. Die Beobachtungen waren insofern nicht fokussiert, als sie nach dem Prinzip der Aufmerksamkeit und nicht entlang von Beobachtungsbögen erfolgte. Im Zentrum standen primär die Interaktionen zwischen Erzieherinnen und Kindern, sekundär alle weiteren Interaktionen wie die zwischen Kolleginnen, zwischen Kindern, mit Eltern, der Leitung usw. Die Form der Beobachtung mit ihrem Fokus auf die Erzieherin-Kinder-Interaktionen unterscheidet sich also signifikant von den in der Kita-Forschung und der Kita-Arbeit regelmäßig angewandten Formen der Kindbeobachtung (vgl. exemplarisch Steudel 2008). Es handelt sich auch nicht um eine klassische ethnografische Vorgehensweise, da weder Verstehensprozesse noch die Kita als Lebenswelt im Fokus stehen (für einen aktuellen Überblick zur Ethnografie in den Erziehungswissenschaften vgl. Hünersdorf/Maeder/Müller 2008). Die Fokussierung auf das Interaktionsgeschehen gründet aus der Perspektive der organisationssoziologischen Perspektive auf einer inhaltlichen Notwendigkeit. Diese ergab sich bereits in der Untersuchung und Theoretisierung der „street level bureaucracy“ (s.o.). Den meis6

Die Erhebung des organisationalen Umfelds der einzelnen Einrichtungen inklusive der Betriebsleitung und der Abläufe zwischen Kita-Leitung und Betriebsleitung, die eine dritte Erhebungsebene und einen wichtigen Teil der organisationssoziologischen Perspektive darstellt, erfolgte erst in der erweiterten Studie, kann also in diesem Beitrag noch nicht berücksichtigt werden.

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ten neueren Konzepten und Programmen der frühkindlichen Bildung ist gemeinsam, dass an Stelle herkömmlicher Konzepte der Wissensvermittlung darauf fokussiert wird, das „Lernen zu lernen“ und die Co-Konstruktion im Bildungsprozess (Oberhuemer 2004) ernst zu nehmen. Organisationssoziologisch ausgedrückt geht es mit der Betrachtung der Interaktionsprozesse darum, die Ko-Produktion von Dienstleistungen (Schaarschuch 1999) im Bildungsbereich in den Blick zu bekommen. An beide Erhebungsphasen schlossen jeweils Rückmeldungen in den Einrichtungen an. Diese Gespräche dienten einerseits der Transparenz des Forschungsprozesses, andererseits stellten sie auch eine eigenständige Methode der Datenerhebung dar, da sie als Korrektur oder Ergänzung in das Datenmaterial eingingen.7 Die anschließende Auswertung erfolgte einerseits entlang der Programme/Settings im Interaktionsprozess ihrer Durchführung. Andererseits erfolgte die Auswertung entlang der Einrichtungen selbst, die sich entsprechend ihres jeweiligen Mix von „Dienstleistungstechnologien“ und des dem Handeln des pädagogischen Personals zugrunde liegenden „pädagogischen Professionswissens“ (s.o.) einschließlich der alltags- und erfahrungsorientierten Grundannahmen („Alltagstheorien“) unterscheiden ließen. Drei Kitas und ihre Weise der Einbettung eines „Programms“ Bereits in der Standortanalyse erwies sich, dass trotz des gemeinsamen Trägers (der kommunale Eigenbetrieb) alle drei Einrichtungen sehr eigene Strukturen herausgebildet haben und demzufolge auch sehr unterschiedlich mit dem jeweiligen Bildungsprogramm umgehen. Am markantesten zeigt sich dies beim Sprachförderprogramm, da dies zum Untersuchungszeitpunkt bereits in allen Kindertagesstätten des Trägers eingeführt war. Das konkrete Programm (im Weiteren: „das Sprachprogramm“) ist für Kinder mit sprachlichen Entwicklungsverzögerungen und Kindern, die nicht mit Deutsch als Familiensprache aufwachsen, entwickelt und erprobt. Das Programm orientiert sich an neueren Einsichten zur sprachlichen wie kognitiven Entwicklung von Kindern und ist nicht nur inhaltlich sondern auch im Ablauf entlang dieser Forschungserkenntnisse ausgerichtet: Es setzt auf kognitive Prozesse der Regelerkennung, die Kinder im Zuge der Sprachentwicklung unter „normalen“ Bedingungen selbsttätig vollziehen, bildet diese Bedingungen künstlich nach und geht erst zum nächsten Schritt über, wenn alle Kinder in der Lerngruppe die Regel „erkennen“ und „automatisieren“ können. Gearbeitet wird in kleinen Gruppen mit 6-8 Kindern und in Einheiten, die auf 10-15 Minuten täglich ausgelegt sind. Da es auf relativ abstrakte Aneignungsprozesse der Kinder setzt, die dem allgemeinen Verständnis des pädagogischen Personals in Kindertagesstätten nicht unmittelbar zugänglich sind, ist es für dieses sehr ungewohnt. Infrastrukturelle Bedingungen sind außerdem ein ruhiger Raum mit Tisch und Stühlen. Da das Sprachprogramm täglich und in festen Kleingruppen durchgeführt wird, muss es notwendig Teil der alltäglichen Routinen in der Kindertagesstätte werden. Zunächst stört es 7

Die beiden Aspekte Transparenz und Korrektur/Ergänzung gründen sich nicht nur auf Überlegungen der Reziprozität von Forschungsprozessen. Kindertagesstätten haben seit den 1960er Jahren häufig Projekte und Programme aus der Praxis heraus entwickelt. Diese fanden mehr oder weniger einen Weg in die institutionalisierte Praxis der Gesamtorganisation, seltener in die Erziehungswissenschaften. Erst mit der Qualitätsdebatte, der Verabschiedung des Tagesbetreuungsausbaugesetzes (TAG) im Jahr 2005 und der aktuellen Konjunktur, Kindertagesstätten zunehmend in ihren Bildungsaspekten wahrzunehmen, verschiebt sich dieses Verhältnis. Die „Rückmelderunden“ beruhen auch auf dem methodologischen Anspruch, diesem Wechselverhältnis Rechnung zu tragen.

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aber viele Routinen in den bestehenden Abläufen. Das heißt die Implementierung ist ein relativ langfristiger Prozess oder, wie es eine Kita-Leiterin ausdrückte, „ein weiter Weg“. Jede Organisation muss in diesem Prozess eigene Wege finden, das Sprachprogramm in die etablierten Strukturen zu integrieren und diese gegebenenfalls auch umzustrukturieren. Die Expertinneninterviews und daraus rekonstruierten Standortbeschreibungen geben Auskunft über die Struktur der einzelnen Kitas und die Weise, wie diese das Sprachprogramm in ihren Alltag zu integrieren versuchen. Von Seiten der Betriebsleitung stellt der Zugang zu Sprachförderung mittels des ausgewählten Programms eine verbindliche Anforderung an die Kitas dar. Welche Prozesse diese jeweils durchlaufen, um diesem Dienstleistungsanspruch gerecht zu werden, ist allerdings nicht vorgegeben. Es hat sich in der Auswertung der Interviews gezeigt, dass aus einer organisationalen Sicht insbesondere vier Kriterien relevant dafür sind, welche Wege die Kitas im Einzelnen einschlagen: Das „Alter“ der Einrichtung (und – damit verbunden – die bauliche Struktur aber auch das durchschnittliche Dienstalter des pädagogischen Personals, die Wechselquoten in der Belegschaft, organisatorische Transformationsprozesse); die „Betriebskultur“ (die pädagogische „Tradition“ und das Verständnis von Bildung in der jeweiligen Kindertagesstätte); die „Alltagsstruktur“, also die Strukturierung des Erbringungsalltags der Dienstleistung, insbesondere der Unterschied zwischen Gruppenkonzept, teiloffenem und offenem Konzept und das „Einzugsgebiet“ (Innenstadt/Stadtteil; Zusammensetzung und Einflussnahme der Elternschaft). In welcher Struktur und mit welchem Gewicht die drei Standorte der Pilotstudie das Sprachprogramm jeweils umgesetzt haben, ist in der folgenden Tabelle kursorisch zusammengefasst. Tabelle 1:

Die Standortbeschreibungen im Überblick. Alle Angaben in der Tabelle beziehen sich auf den Erhebungszeitpunkt.

„Alter“ der Einrichtung (bauliche Struktur, Team etc.)

„Betriebskultur“ (pädagogische Tradition, Bildungsverständnis)

Konzeptionelle Alltagsstruktur (Gruppenkonzept, teiloffenes oder offenes Konzept)

Nachbarschaft, Einzugsbereich

Kita A

Kita B

Kita C

Gut ein Jahr eröffnet; als Institution für das Quartier konzipiert; das Raumangebot ist nach Themen und Bereichen strukturiert; das Team neu und entsprechend der Gesamtkonzeption zusammengesetzt Bildungsplanorientiert; Förderung der Selbsterschließungskompetenzen; eher Programme und Schwerpunkte als Projekte; (noch) keine Ausflüge Offenes Konzept mit Bezugsgruppenzeiten, Themen- bzw. Funktionsräumen; die Kinder ordnen sich täglich eine halbe Stunde verbindlich einem Themenraum zu Neue Einrichtung, noch nicht verankert: Kinder kommen großteils erst mit

Neubau aus 1972; sehr früh bereits Hort-Kita, sehr unterschiedlich lange Beschäftigungsdauer; hohe Fluktuation im Team

Eröffnet 1997; die Hälfte des Teams ist seit Eröffnung dort beschäftigt; hohe Kontinuität; kleines Außengelände

Lernen durch Weltaneignung; viele Ausflüge; sehr viele unterschiedliche Bildungsangebote in Projektform

gemeinsam erlebbare pädagogische Kontinuität; Lernen durch Weltaneignung; viele Ausflüge; Anknüpfen an die Lebenswelt der Kinder Starkes Gruppenkonzept; die Räume sind Gruppen zugeordnet und multifunktional ausgestattet

Zu Beginn geschlossene Gruppen; seit 1999 struktureller „Umbauprozess“ zu einem teiloffenen Konzept; Gruppenräume sind auch Themenräume Ca. 70% Kinder aus bildungsnahen Haushalten, teils mit generativem

Hohe Fluktuation bei den Kindern; 90% aus Migrationshaushalten

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Implementierungsprozess Sprachprogramm

4 oder 5 Jahren; 98% Kinder aus Migrationshaushalten Keine „Reibungsverluste“ bei der Implementierung; alle Mitarbeiterinnen sind geschult; das Sprachprogramm hat einen festen Platz in Teambesprechungen; viel Investition in Besprechungszeit; es gibt einen eigenen Sprachprojekt-Raum, in dem das Material beisammen liegt

Bezug zur Einrichtung; derzeit ca. 30% Kinder aus Migrationshaushalten Beachtliche Implementierungsschwierigkeiten; nur einige Mitarbeiterinnen sind geschult; daraus folgen interne Kommunikationsschwierigkeiten; die Kleingruppen des Sprachprojekts finden in unterschiedlichen Räumen statt; die Kinder müssen jeweils im Haus zusammengesucht und das Material in die jeweiligen Räume gebracht werden; die Möblierung ist oft unpassend (z. B. zu groß, wenn es sich um einen Hort-Raum oder ein Besprechungszimmer handelt); Probleme mit jenen Eltern, die auf andere Bildungsprogramme wie Mathematik, Musik und Englisch Wert legen

Schwierig das Sprachprojekt im Alltag zu integrieren, da es quer zu den Ausflügen liegt und innerhalb der festen Gruppenstruktur organisiert werden muss; diese Anstrengung nehmen die Mitarbeiterinnen aber gerne auf sich, weil/wenn sie wissen, dass es „funktioniert“. Es herrscht jedoch das Gefühl vor, dass damit andere Bemühungen entwertet werden.

Über den Erfolg der Implementation von „Plänen“ und „Programmen“ entscheiden jedoch weniger konkret benennbare und quantifizierbare Bedingungen sondern vielmehr das komplexe Zusammenspiel zwischen den Erzieherinnen und der Leitung. Dabei ist grundsätzlich jede einzelne Kita als eigenständige Organisation mit eigener Kultur und eigener Organisationspraxis zu betrachten. Für die Implementation ist zu beachten, auf welche Weise in der jeweiligen Kita im pädagogischen Alltag die unterschiedlichen Ansprüche miteinander vermittelt und welche organisationsinternen Arrangements hierzu getroffen werden. Mit der organisationssoziologischen Perspektive konnten wir hier in einem ersten Schritt die Unterschiede der einzelnen Kitas, die zugleich dem selben Träger angehören und somit im selben organisationalen Umfeld, unter ähnlichen finanziellen (wenn auch nicht räumlichen!) Rahmenbedingungen arbeiten, extrahieren und benennen. Es lassen sich damit erste Annahmen über Zusammenhänge zwischen den vier Kriterien und der strukturellen Umsetzung des Bildungsprogramms ableiten, die in der erweiterten Untersuchung (alle 25 Standorte des Trägers) überprüft und ausdifferenziert werden können. Beobachtung und Sequenzanalyse – Die Interaktion als Zentrum des Dienstleistungsprozesses Damit sind allerdings noch keine Erkenntnisse verbunden, wie die Programme der Frühbildung in der konkreten Interaktion zwischen Erzieherinnen und Kindern umgesetzt werden und wie die Erzieherinnen diese konkret in ihre täglichen Abläufe integrieren. Es sind auch noch kaum Aussagen darüber zu machen, wie die Förderprogramme organisational „wirken“, also in welcher Art und Weise sich diese im Kita-Alltag „realisieren“ und ob sie als Angebot und Res-

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source bei den Kindern ankommen. Hierzu haben wir, wie oben bereits ausgeführt, in einem zweiten Schritt Beobachtungen in den Einrichtungen durchgeführt und diese mittels einer Sequenzanalyse ausgewertet. In dieser Phase der Studie kam auch das zweite Frühförderprogramm zur Geltung, das in das Untersuchungsdesign integriert war. Es handelt sich um ein Programm, das die Förderung des Zahlen- und Mengenverständnisses (numeracy) von vorschulischen Kindern fokussiert. Das Programm (im Folgenden: „numeracy-Programm“) basiert auf einem „ganzheitlichen“ Ansatz, bei dem durch den Einsatz von unterschiedlichen Materialien, Medien und Ebenen die Aneignung von mathematischem Wissen im Bereich der „kleinen Zahlen“ (1-10) durch die Kinder befördert werden soll. Es besteht aus 10 Einheiten, die einmal wöchentlich durchgeführt werden und jeweils 60-90 Minuten dauern, die Gruppe besteht aus 12 Kindern. Das Arbeitsmaterial (zu Mengen, Größen, Gewichten und Zahlen) wird von der Erzieherin vorbereitend in einem großen Raum aufgebaut und erhält die Ordnung eines „Zahlenhauses“. Anschließend werden die Kinder in diesem Raum versammelt und nehmen verschiedene Rollen ein (hier: eine Zahl, der Fehlerteufel, der Hausmeister etc.). Sie zählen, rechnen, vergleichen Größen und Gewichte und hören Geschichten zu einzelnen Zahlen. Der Ablauf folgt einem Handbuch mit festen Einheiten. Infrastrukturelle Bedingungen sind ein großer Raum (der Turn- bzw. Bewegungsraum) und mit Vorbereitungen und Aufräumen/Dokumentation ein zeitlicher Aufwand der Erzieherin von bis zu 2,5 Stunden. Der Beobachtungszyklus wurde, verteilt auf die Durchführungsphase des numeracy – Programms, in vier Zeitpunkte unterteilt. In der Kita C, in der das Programm nicht implementiert wurde, lagen die Beobachtungszeitpunkte parallel zu den anderen beiden Einrichtungen. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Organisationsstruktur und -kultur wurden in den drei Kindertagesstätten auch drei verschiedene Zeitschienen und „Logiken“ der Beobachtungsorganisation gewählt. In der Kita B wurden zeitgleich zwei Gruppen zur Förderung des Zahlenverständnisses eingeführt, so dass hier zwei parallele Beobachtungszyklen möglich waren. In der Kita A war das Programm auf den Nachmittag gelegt, der Beobachtungszeitraum an diesem einen Tag entsprechend ausgedehnt. Die Beobachtungspläne wurden so erstellt, dass von jeweils zwei Erzieherinnen der „Alltagsrhythmus“ mit seinen Wechseln zwischen verschiedenen situativen Settings und ihrem Handeln darin ersichtlich wurde. Diese Erzieherinnen stellten also den „Fokus“ dar und die Beobachtung folgte ihnen durch den Tag8. Für die Pilotstudie lagen die Schwerpunkte auf dem numeracy – Programm, dem Sprachprogramm und einem Setting ohne festes Programm im Rahmen der Kerngruppen oder Bezugsgruppen. Die Auswertung der Beobachtungsprotokolle erfolgte in mehreren Schritten: Transkription, erste Interpretation der Beobachtungen, Schematisierung entlang des Beobachtungsverlaufs, Typisierung/Codierung von Interaktionen, erste Interpretation der Beobachtungsschemata, Auswertung der Interaktionsfolgen (Sequenzen) in den drei Kernsettings der Beobachtung (numeracy, Sprache, (Bezugs-) Gruppenzeit) und schließlich Bestimmung von Standardsequenzen und deren vergleichende Analyse. Eingeflossen sind in diesen Auswertungsprozess zwei sehr unterschiedliche Zugänge. Auf der interpretierenden Ebene ging es um das Herausarbeiten der „Arbeitsbündnisse“ (Steinert) und der impliziten Vorstellungen und Wissensbestände wie dem pädagogischen Selbstverständnis und den „Alltagstheorien“ (Schütze) der Erzieherinnen, aber auch den „Arbeitsmythen“ (mit R. Barthes) innerhalb der Einrichtung. Diese Auswertungsebene kam besonders zur Geltung in den Übergängen zwischen verschiedenen Settings, in „Zwickmühlen“, also in Situationen, in 8

In Kita C, die das Förderprogramm nicht implementierte, diente nur eine Erzieherin als Beobachtungsfokus.

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denen Erzieherinnen Präferenzentscheidungen treffen müssen und in den Gesprächen darüber während der Beobachtungsphasen. Ein solcher interpretativer Auswertungszugang ist aus der lebensweltlich orientierten wie aus der ethnografischen Perspektive gut bekannt und auch in der pädagogischen Forschung häufig aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Auf der Ebene der Sequenzauswertung standen zunächst die Typisierung der beobachteten Interaktionen und die Analyse des Ablaufs von Sequenzen in den verschiedenen situativen Settings im Vordergrund. Anschließend war die Charakterisierung als unterschiedliche „Formate“ in Hinblick auf deren Ablauf möglich. Wir werden uns im Folgenden auf diesen zweiten Auswertungszugang beschränken, da er etwas ungewöhnlich ist und spezifisch auf eine organisationssoziologische Perspektive abhebt, also die Interaktionen in der Dienstleistungserbringung in den Mittelpunkt stellt. Soziale Dienstleistungen sind, wie oben bereits ausgeführt, mit einer Vielzahl unterschiedlicher Ansprüche verbunden. Dies gilt auch für Kindertagesstätten als multifunktionale Einrichtungen. Diese Ansprüche kommen in der Praxis von Dienstleistungen zur Geltung. Deren nähere Betrachtung zeigt, dass sie meist aus einer Reihe miteinander verknüpfter Handlungen bestehen, die jeweils eine eigene „Handlungslogik“ aufweisen und die teilweise unterschiedliche gesellschaftliche Ansprüche „bedienen“. Diese Handlungslogik sieht beispielsweise im Falle des Ausfüllens eines Antrags anders aus als im Falle persönlicher Beratung, auch wenn beide Handlungen Bestandteile des Leistungsprozesses eines Sozialamtes sind. Im Zuge verschiedener Forschungsarbeiten konnten wir im Institut für Stadt- und Regionalentwicklung der Fachhochschule Frankfurt am Main eine Reihe dieser eigen-sinnigen Handlungssequenzen im Verwaltungsalltag identifizieren und daraufhin untersuchen, unter welchen Umständen und mit welchen Konsequenzen sie kombiniert werden können. Wir haben diese Handlungssequenzen „Standardsequenzen“ genannt, da sie – bei aller Varianz in der individuellen Umsetzung durch Sachbearbeiter(innen) – einen gewissen standardisierten, erwartbaren Ablauf haben. Im Rahmen der Pilotstudie haben wir versucht, solche „Standardsequenzen“ auch im Alltag der Kindertagestätte zu identifizieren. Damit sollte erkennbar werden, welche unterschiedlichen Funktionen diese Handlungssequenzen für die Erfüllung der unterschiedlichen Aufträge haben, mit denen Kindertagesstätten konfrontiert sind und wie diese Funktionen im Arbeitsalltag so verknüpft werden, dass möglichst wenig „Brüche“ auftreten. Zunächst erfolgte eine rein schematische Typisierung der beobachteten Interaktionen und die Analyse des Ablaufs von Sequenzen innerhalb der drei situativen Settings, die im Fokus der Beobachtung standen.

106 Tabelle 2:

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Typisierung von Interaktionen

Formal

Kommunikativ

Gruppe

Klärung von Organisatorischem und Abläufen Zusammensuchen e. Gruppe f. Projektarbeit

Gespräch Beobachterin/Erzieherin

Projektarbeit reihum

Situative Definitionsmacht Entscheidung Kind

Einzelperformance

Entscheidung Erzieherin

Herstellung einer Situation/Begrüßungen

Gespräch Kinder

Beenden einer Situation/Verabschiedungen Vorbereitung/ Nachbereitung durch Erzieherin Klärung einer Situation Zurechtweisung/ Herstellen von „Ruhe“

Gespräch Erzieherinnen

Gespräch Kind/ Beobachterin Interaktionen Kinder/Beobachterin

Gruppenperformance (z.B. gemeinsames Singen) Geschenk reihum Gruppeninteraktion (v.a. Gespräche in der Gruppe) Interaktionen in Kleingruppen pädagogische bzw. angeleitete Interaktionen in Kleingruppen Einzelspiel/Freispiel

„Störung“ im Ablauf „Störung“ Kind/Kinder (die Markierung als „Störung“ verweist auf eine Situation, die bearbeitet werden muss) „Nebenschauplätze“ (Interaktionen oder Handlungen, die nebenbei ablaufen, ohne dass ihnen große Aufmerksamkeit gewidmet wird) Geschichte

Eine Interaktionssequenz setzt sich aus mehreren solcher Interaktionen zusammen. Diese sind meist verschiedenen Feldern (formal, kommunikativ, Gruppe, Situationsentscheidung) zuzuordnen. Als Sequenzen können diese gefasst werden, wenn es sich um „typische“ Abläufe handelt. Diese können auch als Wiederholungen bzw. „Mehrteiler“ von Interaktionen auftauchen wie z.B.: Herstellung einer Situation/Begrüßungen/Herstellung einer Situation/Begrüßungen/Herstellung einer Situation/Begrüßungen. Eine solche Interaktionssequenz deutet beispielsweise darauf hin, dass es für die Erzieherin aufwändig ist, in einer Situation einen bestimmten, angestrebten Rahmen herzustellen, innerhalb dessen ein anvisierter Ablauf oder eine Interaktionsordnung wie „Einzelbeschäftigung“, „Kleingruppenarbeit“, „Gruppenkommunikation“ etc. möglich werden. Welche Interaktionsordnung in einer Situation angestrebt wird, wechselt im Tagesablauf einer Kindertagesstätte häufiger als etwa in der Schule, in der die Herstellung des Rahmens „Unterrichtssituation“ (definiert durch: sitzen, zuhören, sich melden und aufgerufen werden, bevor man spricht) dominiert. Diese häufigen Wechsel der Interaktionssituationen gründen zum Teil auf dem Alter und Entwicklungsstand der Kinder in Kitas. Sie erklären sich aber auch aus den mehrdimensionalen Ansprüchen an und Funktionen von Kitas: Steht das einzel-

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ne Kind und dessen Entwicklungsmöglichkeiten im Vordergrund? Die Entwicklung von sozialen Kompetenzen? Die Vermittlung von Wissensbeständen, die Förderung von Aneignungsmöglichkeiten von Wissensbeständen oder die Wahrnehmung und „Wertschätzung“ der Lebensumwelt der einzelnen Kinder? Geht es um die Gewährleistung einer sozialen Situation, in der es überhaupt möglich ist 80-120 Kinder in einer Einrichtung zu betreuen? Oder steht die Einübung von Praktiken im Mittelpunkt, die für den folgenden Schulbesuch relevant sind? Um zu erfassen, um welche Ansprüche und Funktionen es jeweils in einer bestimmten Situation im Kita-Ablauf (aus der Sicht der Erzieherinnen und der Kita-Leitung) geht, haben wir in der Auswertung den Begriff des „Formats“ eingeführt. Ein Format definiert sich formal über eine herzustellende bzw. anvisierte Situation (Kleingruppe, Gruppe, offen; Funktionsraum, Gruppenraum, offener Raum), funktional über die Definition des angestrebten Handlungsraums (lernen, aneignen, ermöglichen, disziplinieren), inhaltlich über die Bestimmung von Zielgruppen (Kinder mit bestimmten Interessen, Vorschulkinder, Kinder, deren Familiensprache nicht deutsch ist, Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, Mädchen/Jungen etc.) und für die täglichen Abläufe über den Zeitumfang (ganztägiger Ausflug, zehnminütiges, tägliches Sprachförderprogramm; Förderprojekt, das auf zehn Einheiten, einmal wöchentlich, zeitlich ungebunden die Beförderung sozialer Bindungen, täglicher „Stuhlkreis“ etc.). In der Sequenzauswertung lässt sich aufzeigen, was über die (von Erzieherin, Leitung oder Programmentwicklern und pädagogischen Grundkonzepten) formulierten Funktionen und inhaltlichen Bestimmungen hinaus einzelne „Formate“ in ihrer interaktiven Erbringung auszeichnet oder voneinander unterscheidet. In Hinblick auf die Implementierung von Programmen der Frühförderung in den Alltag von Kindertagesstätten lassen sich drei Formate sehr deutlich von einander abgrenzen. Wir haben sie als Format „Labor“, Format „Schule“ und Format „soziale Gruppe“ charakterisiert. Dem Format „Labor“ war in der Umsetzung innerhalb der Einrichtung eindeutig das Sprachprogramm zuzuordnen. Es lässt sich aus der Perspektive der Interaktionsbeobachtungen in die sehr unterschiedlichen pädagogischen Konzepte der jeweiligen Organisation Kindertagesstätte relativ leicht einfügen, da es trotz der Anforderung der täglichen Erbringung sehr „kleinteilig“ ist: die Vorbereitungs-, Durchführungs- und Nachbereitungszeiten sind sehr kurz. Dieser Befund widerspricht auf den ersten Blick der Analyse aus dem ersten, standortanalytischen Teil der Untersuchung, in dem deutlich wurde, dass die Umsetzung des Sprachprogramms sehr unterschiedlich verläuft und für verschiedene Kitas aufgrund der Raumstruktur aber auch der jeweiligen pädagogischen Schwerpunktsetzungen auch unterschiedlich „kompliziert“ ist. Daraus ergeben sich zwar Differenzen in der „Erbringungsform“ und die Implementation des Programms erfordert einen längeren Prozess im Team und einige Umstellungen in der Alltagsstruktur der Kita. In allen Kitas zeigte sich aber, dass das Sprachprogramm ohne „heimlichen Lehrplan“ auskommt und sehr wenige Momente der Störung oder der Disziplinierung produzierte. So wurde zum Beispiel nie jemand vor die Tür geschickt, es gab kaum Aufforderungen zu mehr Ruhe, den anderen zuzuhören etc. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Einheiten sehr kurz angesetzt sind, dass die Gruppen sehr klein sind und dass sich die „Geschwindigkeit“ des Programms streng am Kind orientiert, also daran, wann alle Kinder in der kleinen Gruppe eine Regel erkannt haben. Was sich in der Interaktion mit den Kindern kaum zeigte und sich auch nicht in der Sequenzanalyse spiegelt, ist die Unsicherheit über den Ablauf. Diese erfahren besonders Erzieherinnen, die neu mit dem Sprachprogramm arbeiten und die diese dann im Gespräch mit der Forscherin formulierten: „Wie erkenne ich, dass eine Regel erkannt ist?“ „Wie kann ich den

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Rhythmus klatschen, wenn ich selbst kein Gefühl dafür habe?“ Das Programm ist sehr abstrakt angelegt und hat keinen Lehrplan, so bleibt es den Erzieherinnen lange „äußerlich“. Die Erzieherinnen fühlen sich daher leicht als „Umsetzungsmaschinen“. Kamen äußere Bedingungen erschwerend hinzu (ungeeignete Räume, zu große Möbel, großer Altersunterschied in der Kleingruppe), wurde das Programm dann „einfach irgendwie durchgeführt“. Die dafür vorgesehenen zehn Minuten Zeit sind ja auch schnell vorbei. Daraus lässt sich ableiten, dass der Abstraktionsgrad des Sprachprogramms (also gerade das Format „Labor“) die Möglichkeit erfordert, über längere Zeit Erfahrungen damit zu sammeln, so dass auch die Erzieherinnen „automatisieren“ und die „Regeln erkennen“ können. Die eigene Weise des Lernens wie die Unsicherheiten hinsichtlich Grammatik und Rhythmus der Erziehrinnen muss in Weiterbildungs- und Reflexionsmöglichkeiten einen Platz finden. Die Lehr-Lern-Situation in der Kita könnte mit dem Sprachprogramm aber durchaus einen neuen Rahmen finden, da auch die Erzieherinnen die Sprache (die sie zum größten Teil „automatisch“ gelernt haben) als gemeinsam zu entdeckendes „Geheimnis“ oder als „Gesetzmäßigkeit“ mit den Kindern bearbeiten. Die Erziehenden wären dann weder „Lehrende“ noch „Sorgende“, sondern böten einen „Rahmen“ zum kognitiven Lernen. Dieser Rahmen bedarf der Routinisierung, weil er sich sonst quer zum Kita-Alltag stellt. Soziales Lernen und Care findet explizit im Format „Soziale Gruppe“ statt. In festen Bezugsgruppen von 20-25 Kindern werden in den Kitas Geburtstage gefeiert, über Urlaube, Wochenenden, Bilder oder das eigene Befinden gesprochen, Lieder gesungen, Themen bearbeitet (z.B. Laternenfest, Ritterburg), gemeinsame Entscheidungen getroffen (auch abgestimmt) und Aufgaben verteilt. In den drei untersuchten Kitas fand dies in drei unterschiedlichen Settings statt: in der Kita C als „Gruppenbesprechung“ (1/2 Std. zum Ende der Vormittagszeit), in der Kita A als „Bezugsgruppenzeit“ (jeweils 1/2 Std. zu Beginn und zu Ende der Vormittagszeit) und in der Kita B als „Gruppenzeit“ (1 Std. am Ende der Vormittagszeit). Als „Format“ ist der Gruppenbezug in allen drei Kitas fest verankert und wird sehr selbstverständlich „begangen“, wobei in der Kita B, die eine ganze Stunde Gruppenzeit am Stück hat, der Einstieg oft sehr lange (15-20 Minuten) gedauert hat. Die verschiedenen Vormittagsangebote „schwappten“ dort in die Zeit nach 11 Uhr hinein, so dass es zu Verzögerungen und Störungen kam, bis die Gruppe sich konstituiert hatte. Bei der „sozialen Gruppe“ handelt es sich um ein Format, in dem die Kinder viel Entscheidungseinfluss haben und viel ausgehandelt wird. Formal spielen in den Interaktionssequenzen Geschichten, Gruppenperfomances und Gruppeninteraktionen hier die größte Rolle, inhaltlich kommen im Format „soziale Gruppe“ auch Hierarchien und Konflikte, Zu- und Abneigungen am deutlichsten zum Tragen – aber auch zur Aushandlung. Es ist sicherlich befremdend, das numeracy-Programm dem Format „Schule“ zuzuschlagen, weil das Programm selbst in seiner inhaltlichen Bestimmung ganzheitlich und somit gar nicht schulisch angelegt ist. Aber es gibt im numeracy-Programm sowohl einen starken curriculären Bezug wie, das zeigen die Interaktionssequenzen sehr deutlich, einen „heimlichen Lehrplan“. Der curriculäre Bezug des Schulformats zeichnet sich dadurch aus, dass es kaum Variationsspielräume gibt, da der zeitliche Ablauf und das Curriculum vorgegeben sind (Entsprechung in der Schule: Unterrichtsstunden). Eine Überprüfung, ob einzelne Kinder eine Regel oder Logik im Bereich von Mengen/Zahlen/geometrischen Formen/Klang „gelernt“ (im Sinne von sich angeeignet) haben, findet nicht statt. Die Stunde ist nach Ablauf des vorgesehenen Programms abgeschlossen – und eine Woche später kommt die nächste. Es bleibt auch unklar bzw. dem „Gespür“ der Erzieherin überlassen, inwieweit die Kinder den Geschichten und Vorgängen in der „Zahlenschule“ (ein Begriff, den das Programm selbst verwendet und der von den Erzie-

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herinnen gern aufgegriffen wird) sprachlich folgen können. Diese Frage ist in Anbetracht der großen Zahl von Kindern aus Migrationshaushalten in den untersuchten Kitas äußerst relevant. Das Zahlen- und Mengenverständnis wird anhand (standardisierter) Sätze und (insbesondere die zweite Hälfte der „Stunde“) über Geschichten und Lieder vermittelt, die einen Zugang über die (deutsche) Sprache nicht befördern sondern voraussetzen.9 Die Analyse der Interaktionssequenzen zeigt, dass diese in extremer Dichte kodiert sind und ständig wechseln. Ein großer Teil der Zeit wird (ganz wie in der „richtigen“ Schule) damit verbracht, Ruhe herzustellen. („Wir sprechen nur, wenn wir dran sind“, „wir hören zu“, „wir bleiben ruhig sitzen“ etc.) Das Schulformat hat viel mit „Wissen“ und mit Verhalten/Disziplin zu tun. Die „sekundären Anpassungsleistungen“ sind wichtiger als die kognitiven Prozesse des „Lernen lernen“. Die Vorbereitung auf Schule, die Einübung von Verhaltenseigenschaften, die für den Schulbesuch wichtig sind, scheinen zentraler als das Zahlen- und Mengenverständnis. Nicht nur die Durchführung (länger als eine Stunde) sondern auch die Vorbereitungsund Nachbereitungszeit ist für die Erzieherinnen sehr umfangreich, da viel Material im Einsatz ist, das geholt, aufgebaut, sortiert, wieder weggeräumt werden muss. Der für jede „Stunde“ neue Lehrplan bedarf eigentlich einer Vorbereitung wie auf Schulunterricht, was im KitaAblauf und den Dienstplänen jedoch kaum unterzubringen ist. Zudem ist das permanente Herstellen von „Ruhe“ für die Erzieherinnen sehr anstrengend: Sie sprechen im Verlauf der Stunde immer lauter, während die Kinder immer unruhiger werden. In der Darstellung der Interaktionssequenzen schlägt sich dies in der zunehmenden Kodierungen von Abläufen als „Nebenschauplätze“ oder „Störung Kind/Kinder“ nieder. Erschwerend kommt hinzu, dass das Programm im Turnraum stattfinden muss, den die Kinder mit Bewegung und nicht mit Stillsitzen verbinden. In zwei Gruppen wurden deshalb „Pausen“ (auch wie in der Schule) eingeführt, in denen die Kinder nach einer halben Stunde etwas zu essen und trinken bekamen und kurz über die Matten toben durften. Für das Vormittagsprogramm einer Kita ist das numeracy-Programm eigentlich zu lang, da die Erzieherinnen vormittags mit so vielen Unvorsehbarkeiten des Kita-Alltags zu tun haben, dass es extrem anstrengend ist (und häufig unmöglich war), alles „unter einen Hut“ zu bringen. Im Nachmittagsprogramm zeigte sich das Programm als weniger sperrig, weil es isoliert vom Restprogramm durchzuführen ist. Das Angebot existiert dann aber nur für die Ganztagskinder. Den oben angeführten Differenzierungen von personenbezogenen sozialen Dienstleistungen entlang ihrer Funktion (care/sustainig; processing; changing) und dem dreifachen gesellschaftlichen Auftrag, Betreuung, Bildung und Erziehung, lassen sich die drei Formate Labor, Schule und soziale Gruppe nicht 1:1 zuordnen. Die Formate sind alle multifunktional. Es lassen sich aber deutliche Schwerpunkte auf bestimmte Funktionen ausmachen. Das Laborformat ist hauptsächlich als people processing technology einzuordnen (es stehen weder soziales noch kulturelles Lernen im Zentrum). Das Schulformat ist in Hinblick auf Wissensvermittlung ebenfalls dem 9

Dies bedeutet nicht unbedingt, dass Kinder mit weniger Deutschkenntnissen mehr Schwierigkeiten damit haben, sich ein mathematisches Verständnis anzueignen, sondern es gibt darin auch noch einen anderen Aspekt: Zu beobachten war einerseits sehr wohl, dass Kinder den Erklärungen und Geschichten nicht folgen konnten. Bedeutsamer ist aber gerade im Schulformat, dass Kinder nicht in der Lage sind, kommunikativ mit den Anforderungen der Situation umzugehen. So gab es einige, die ein sehr ausgeprägtes Zahlenverständnis hatten und sich genau deshalb während der 90 Minuten oft langweilten. Sie standen dann auf, liefen herum, störten, auch weil dies aufgrund fehlender Deutschkenntnisse wenig wahrnehm- und nicht kommunizierbar war. Damit gewinnt der heimliche Lehrplan „Disziplin“ (z.B. ruhig sitzen bleiben trotz Langeweile) in der Interaktion die Oberhand.

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Funktionsfeld Bildung zuzuordnen, zielt aber – wie auch die „Bezugsgruppen“ – stark auf kulturelles Wissen und auf die Veränderung von Verhaltensweisen als Vorbereitung auf weitere gesellschaftliche Institutionen, ist also am ehesten als people changing technology zu verstehen. Betreuung bildet – ganz unabhängig von den Formaten – den unhintergehbaren Gesamtrahmen von Kindertagesstätten. Das Format „soziale Gruppe“ bietet über die Funktion der reinen Betreuung wie des changing hinaus den zeitlich-räumlichen Ort in der Kita, der care/sustaining in einem erweiterten Sinn zu realisieren sucht. Dabei steht nicht die materielle Versorgung im Mittelpunkt (Dienstleistungen und Rahmenbedingungen wie Mittagessen, feste Betreuungszeiten, sichere, betreute Lebensräume für Kinder), sondern es ist ein Format, das „Fürsorge“ ins Zentrum stellt: Es ist angelegt, Räume zu schaffen um Erfahrungen nicht nur zu machen, sondern sie mit anderen zu besprechen und Defizite/gesellschaftliche Benachteiligung nicht durch „Schule“ oder „Schulung“ auszugleichen sondern durch die hergestellten sozialen Kontakte zu bearbeiten. Das Format hat aber auch deutliche Grenzen, da Fähigkeiten und Kompetenzen, die nicht nur gesellschaftlich sondern auch individuell vermittelt sind und Kindern in der Entwicklung weniger kollektiv sondern sehr unterschiedlich zugänglich werden (oder nicht), hier oft nur kursorisch berührt werden können.10 Diese Differenzen zwischen Formaten, Funktionen und gesellschaftlichen Aufträgen lassen sich entsprechend nicht direkt den Interaktionsabläufen innerhalb der Formate zuordnen. Sie schlagen sich aber relativ deutlich in der jeweiligen Kita-Kultur nieder und damit auch in der jeweiligen Umsetzung eines Formats/Programms/Projekts innerhalb einer spezifischen Kindertagesstätte. Dies soll im abschließenden Teil in einem kurzen Überblick deutlich werden. Drei Kita-Kulturen im Umgang mit Programmen der frühkindlichen Bildung Interaktionsabläufe bestimmen sich durch sehr verschiedene Einflüsse. Grob unterscheiden lassen sich Erziehungseinstellungen und Interaktionssituation. Die Erziehungseinstellungen umfassen die pädagogische „Haltung“ der einzelnen Erzieherin und die pädagogische „Haltung“ der Einrichtung. Die Interaktionssituation ist bestimmt durch die Verortung im Arbeitsprozess der Erzieherin, die Verortung im Tagesablauf der Einrichtung, die „Formatvorgaben“ durch das Programm und die räumliche Situation. Welche Konturen zeigen sich in den Interaktionsabläufen innerhalb der Formate, wenn diese wieder auf die lokalen Betriebsstrukturen der drei (sehr unterschiedlichen) Kitas rückbezogen werden? Dafür konnten die codierten Interaktionen im Vergleich zwischen den Einrichtungen erste Hinweise bieten. Diese erfassten bedeutsame Unterschiede in den Erbringungsformen von sozialen Dienstleistungen bezüglich eigentlich gleicher Programme/Formate: Wie lang ist der Vorlauf bis zur „Herstellung einer Situation“ also dem eigentlichen Beginn eines anvisierten Formats? Wie viele Phasen des ruhigen Kommunizierens (soziale Gruppe) oder Arbeitens (Kon-Lab) gibt es, wie viele Störungen 10 Im Rahmen der Pilotstudie ist diese Grenze im Rahmen der Standortanalysen deutlich bestimmbar im (vor der Untersuchung liegenden) Moment, in dem Erzieherinnen der Kita C erkannten, dass allein ein kulturelles und sprachliches „Bad“ für die Kinder nicht ausreicht, um sich zentrale funktionale Kompetenzen anzueignen und die Betriebsleitung baten, geeignete Sprachförderprogramme zu suchen. Die hergebrachten Mechanismen der Akkulturation, Assimilation und Integration sind disfunktional, wenn es darum geht, dass viele Kinder aus vielen unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Kontexten in einer Einrichtung zusammen kommen, deren sprachlich-kultureller Hintergrund umgekehrt fest definiert ist.

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und wie viele Notwendigkeiten, Situationen zu klären, finden sich in den Abläufen, bevor am „eigentlichen“ Programm/Projekt weitergearbeitet werden kann? In der Studie legten wir Wert darauf, diese Fragen nicht qualitativ zu gewichten. „Störungen“ und „Klärungen“ können auch Indizien für kommunikative Prozesse sein. Störungs- und stressfreie Situationen sind keinesfalls als Idealfall der Interaktion in personenbezogenen sozialen Dienstleistungen zu sehen. In den vorliegenden Ergebnissen stehen die als „Störung“, „Nebenschauplatz“ und „Klärung“ kodierten Situationen aber eher für „Stress“ für die Erzieherinnen und/oder für die jeweiligen Kinder. Dies hat meist damit zu tun, dass Erwartung, Funktion und Form der Erbringung einer Dienstleistung auseinander klaffen. Die Unterschiede im Umgang mit den Frühförderprogrammen entsprechend der jeweiligen „Betriebskultur“ werden wir abschließend kurz darstellen und diskutieren. In der Kita C wechseln sich die Interaktionsformate in allen codierten Interaktionsbögen permanent ab. Es ist immer „Platz“ für alles, aber zugleich kriegt nichts richtige Kontur. Dies zeigt sich u.a. in der Häufigkeit von beobachteten Interaktionen, die in der Auswertung als „Nebenschauplätze“ codiert wurden. Es ist die Kita, die am stärksten „soziales Lernen“ befördert, da sich hier die Kinder innerhalb der Gruppe (hier: in festen Gruppen) umeinander kümmern. Ethnographisch ist dies dadurch wahrzunehmen, dass „die Neue“ (die Forscherin) sofort wahr- und in Anspruch genommen wird.11 Es geht in der Kita C eher um „care“ als um „Bildung“, wobei care Aufmerksamkeit, emotionale Sorge und kulturelle „Inklusion“ meint. Die Entwicklungen der Kinder erhalten viel Aufmerksamkeit, die jener in Familien sehr ähnlich ist (exemplarisch für die sprachliche Entwicklung: „Oh, sie hat jetzt den ersten vollständigen Satz gesprochen“). Das soziale Lernen, die Erziehung, das „Lernen durch Erfahrungen“ (auch durch Exkursionen) machen den Hauptteil der „pädagogischen Haltung“ von Einrichtung wie Erzieherinnen aus. Einige „Arbeitsmythen“ zeigen aber auch an, dass (angenommene) Sorge-Defizite in den Familien kompensiert werden sollen (Themen sind: Essen, Kommunikation, Bewegung, Ausflüge/neue Erfahrungskontexte wie Bibliothek, Wald etc.). Die Kita B weist in den Interaktionsabläufen und besonders in den Übergängen zwischen den Formaten dagegen die meisten Brüche auf. Von den drei Kitas repräsentiert sie etwas wie den „Normalfall“ innerhalb der Struktur der ausgesuchten Großstadt, weil ihre ursprüngliche Konzeption als Modell-Reform-Kita der 1970er Jahre in einem strukturell kleinbürgerlichen Quartier durch die Realität einer migrantischen Gesellschaft eingeholt, aber (noch) nicht überholt wird. Die Brüche entstehen aus einer Überforderung des Kita-Alltags durch eine solche Vielzahl von Angeboten und Programmen, dass diese sich sofort in die Quere kommen, wenn es irgendwo zu einer Verschiebung kommt. Die Kita B hat es mit zwei sehr verschiedenen „Schichten“ zu tun: Das Gros der Eltern bilden Haushalte, die ihren Kindern (Lern-)Erfahrungen in Englisch, Musik, Naturwissenschaft etc. zugänglich machen wollen. Der kleinere Teil der Eltern erwartet von der Einrichtung vor allem, dass die Kinder gut aufgehoben sind und dass sie Deutsch lernen. Diese unterschiedlichen Ansprüche und Interessen prallen im KitaAlltag aufeinander. Die Erzieherinnen sind klar erkennbar überlastet, weil der Anspruch besteht, beide Interessen aufzugreifen. Aber die Ressourcen dafür stehen nicht zur Verfügung. Das übergeordnete Konzept des „sozialen Lernens“ schlägt sich in der Durchführung des Sprachprogramms nieder. In den Experteninterviews erklärte Absicht war beispielsweise, die 11 Die Forscherin wurde in der Kita C von den Kindern am stärksten sozial integriert. Ständig sammelten sich Kinder um sie, fragten, was sie da tut, was sie da schreibt, warum sie da ist etc. Die Kinder schrieben ihre Namen in ihr Feldnotizbuch, malten ein Bild für sie, führten Spiele und Kleidung vor, wollten neben ihr sitzen oder involvierten sie in Kontroversen.

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Sprachgruppen nach dem Entwicklungsstand der Kinder einzuteilen. Bei den Interaktionsbeobachtungen konnte aber ein anderes Prinzip vorgefunden werden: Die Kinder der Kleingruppen waren auf sehr unterschiedlichem Stand und die älteren bzw. sprachlich fitten langweilten sich und störten zum Teil. Im Nachgespräch erklärte die Erzieherin, sie hätten sich in der Kita ein Konzept ausgedacht, nach dem in jeder Gruppe ein älteres Kind ist, weil jüngere Kinder von Älteren gut lernten. Das „pädagogische Professionswissen“ (s.o.) und die Struktur und Funktionsweise des Sprachprogramms prallen hier deutlich aufeinander. Obwohl das Programm auf gänzlich anderen Annahmen basiert, werden die hergebrachten Vorstellungen der Erzieherinnen zum ausschlaggebenden Moment in der konkreten Ausgestaltung, was zugleich den „Erfolg“ des Programms, dass dieses also bei den Kindern als Ressource ankommt, in Frage stellt. Die Kita A ist „in sich“ ein Laborformat und hat dadurch etwas Kohärentes. Das Konzept der gesamten Organisation ist durchdacht und abgestimmt, die Zielgruppe und die Ziele eindeutig. Die Leiterin begreift dementsprechend die Kindertagesstätte viel weniger als Einrichtung sondern als „System“. Die Vorstellung ist, dass die Kinder alle Kompetenzen, die sie für das weitere Leben brauchen, erwerben werden, wenn sie nur alle aufeinander abgestimmten Bausteine im System Kita A durchlaufen. Dies „beißt“ sich jedoch mit dem realen Alltagsleben der Kinder: Viele Kinder seien nur halbtags angemeldet, weil die Eltern sich nicht in der Lage sehen, vom Alg 2-Satz die 61 Euro Mittagessensgeld im Monat abzuzweigen. Außerdem meldeten sie die Kinder häufig erst mit vier oder fünf Jahren in der Kita an. Diese Zeit reicht aber insbesondere nicht für die sprachliche Förderung. Die Leiterin sagt: „Wir brauchen die Kinder eher in unserem System, um etwas erreichen zu können“. Sie hofft, dass mit der Etablierung der Einrichtung im Stadtviertel die Bereitschaft der Eltern zunimmt, die Kinder früher und länger in der Kita zu lassen. Eine große Differenz zur Kita B ist die geringere „Macht der Eltern“: Die gesellschaftliche Funktion der Einrichtung wird weitgehend von den Erzieherinnen, der Kita-Leitung und den EKO definiert. Komplizierte Kompromissstrukturen können so vermieden werden, was die Übergänge zwischen den Formaten relativ bruchlos macht. Die Reibungspunkte und Brüche können also sehr vielfältig sein. Präferiert eine Kita die Kultur der Sorge, können die Mitarbeiterinnen dennoch jene Kompetenzen und Fähigkeiten erkennen, die sich nicht (allein) über eine gute Beziehungsarbeit vermitteln. Fallen die Elterninteressen, etwa wegen eines sehr heterogenen Einzugsgebiets, weit auseinander, müssen die Präferenzen und Entscheidungen der Kita für ihren jeweiligen Tagesablauf und die Schwerpunktsetzungen gut vertreten und vermittelt werden. Sind die Besuchszeiten der Kinder in der Kita sehr kurz (nur vormittags oder nur im letzten Jahr), bleibt kaum genug Zeit und Raum, um die Alltagsstruktur und das Angebot zu vermitteln. Standardlösungen lassen sich aus der organisationssoziologischen Perspektive daher nicht anbieten – doch eine genauere Fokussierung der einzelnen Einrichtungen auf die komplexen Vermittlungsprozesse zwischen Ansprüchen, Erwartungen, Praktiken, Erfahrungen und Programmen innerhalb ihrer alltäglichen Arbeit.

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Ethnographie der Performativität pädagogischen Handelns Zu den Möglichkeiten, die Konstitutionsbedingungen sozialpädagogischer Handlungsfelder zu erkunden Werner Thole/Peter Cloos/Stefan Köngeter/Burkhard Müller

Forschungen zu sozialpädagogischen Handlungsfeldern und insbesondere auch zur Kinderund Jugendarbeit – jenseits von methodisch als nicht ausreichend operationalisierten und kontrollierten Praxisbeschreibungen – setzten sich bislang nur partiell mit den hilfeorientierten und pädagogischen Prozessen und mit den diese gestaltenden PädagogInnen und AdressatInnen selbst auseinander. Diese Forschungslücke korrespondiert mit der Beobachtung, dass der disziplinäre Diskurs über Aufgaben und Gestaltungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit und somit auch von Kinder- und Jugendarbeit vorzugsweise normativ geführt wird, also vor allem das »Sollen«, kaum jedoch die Bedingungen des »Könnens« diskutiert und reflektiert werden. Dieses Forschungsdefizit aufgreifend suchte das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt »Konstitutionsbedingungen und Dynamik (Performanz) sozialpädagogischen Handelns in der Kinder- und Jugendarbeit« zu zeigen, wie Sozialpädagogik der Kinderund Jugendarbeit sich als institutionelles Feld im Zusammenwirken der beteiligten AkteurInnen konstituiert (Cloos/Köngeter/Müller/Thole 2007). Die Rekonstruktion vorfindbarer Praktiken, Deutungen und räumlicher Bedingungen stand dabei im Zentrum des Forschungsinteresses. Mit der Schwerpunktsetzung auf ethnographische Erhebungsstrategien sollte dem Umstand entsprochen werden, dass dieses sozialpädagogische Arbeitsfeld nicht allein über die Analyse von Sprechhandlungen, sondern insbesondere auch durch die Rekonstruktion der immanent eingelagerten »schweigenden Dimension des Sozialen« (Hirschauer 2002, S. 40) aufzuschließen ist. Dadurch wird forschungsmethodisch ausbuchstabiert unmittelbar das pädagogische Handeln zum Gegenstand der empirischen Aufklärungen und nicht, wie in dem überwiegenden Teil der empirischen Untersuchungen zu Handlungsfeldern Sozialer Arbeit (vgl. hierzu Cloos/Thole 2005), nur mittelbar über die Narrationen der jeweils beteiligten Akteure und Akteurinnen. Das bislang gängige und favorisierte, schwerpunktmäßig biographisch angelegte Design professionsbezogener Studien wird damit um eine ethnographische Perspektive erweitert. Der Beitrag konzentriert sich auf eine Skizze der im Verlauf des Projektes entwickelten Form des Umgangs mit den empirisch erhobenen Materialien (1) und versucht daran anschließend beispielhaft zu illustrieren, welche validen Befunde mit Hilfe der hier favorisierten rekonstruktiven Methode der Materialaufschließung zu erzielen sind (2). Im Kern geht es uns darum, plausibel zu illustrieren, dass das entwickelte Forschungsdesign die empirisch rekonstruktive, dichte Beschreibung der feldkonstitutiven Regeln und Strukturmerkmale, der spezifischen Interaktionsrahmungen des Feldes und der dort vorzufindenden professionellen Anforderungen und Handlungsparadoxien, also eine qualitativ-rekonstruktive Aufhellung der performativen Herstellung dieses pädagogischen Handlungsfeldes und seiner Konstitutionsbedingungen ermöglicht. Abschließend werden zentrale Erkenntnisse der Studie nochmals aufgegriffen und bezüglich ihrer Relevanz für die zukünftige empirische Aufhellung dieses nonformalen, pädagogischen Sozialisationsfeldes und die weitere theoretische Kodierung der Kinder- und Jugendarbeit geprüft und diskutiert (3). G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Ethnographie als Forschungsstrategie Kompetenz der Ethnographie als Forschungsmethode Die Ethnographie nimmt mittlerweile eine immer bedeutendere Stellung innerhalb sozialwissenschaftlicher und erziehungswissenschaftlicher Forschung ein. Dies lässt sich auch dadurch erklären, dass »Forschung angesichts des Aufbrechens der traditionellen Forschungskonzepte und des Verlustes der einheitsstiftenden Methoden ihre Voraussetzungen und Ingredienzien neu ausloten muss« (Lüders 1996, S. 27; vgl. Cloos/Thole 2006). Die Hinwendung zur Ethnographie gehört zu den Suchbewegungen qualitativer Forschung, angemessene Methoden und Theorien zur Erforschung veränderter gesellschaftlicher Bedingungen zu finden. Mit wachsender Akzeptanz qualitativer Verfahren wurde die Ethnographie auch zunehmend methodologisch abgesichert. Im Gegensatz zum deutschen Sprachraum, in dem qualitative Interviews im Zentrum der qualitativen Forschungslandschaft stehen, zeigt sich das ethnographische Forschungsprogramm insbesondere im angelsächsischen Sprachraum als vorherrschend, was sich auch in zahlreichen Publikationen und Handbüchern dokumentiert (vgl. Knoblauch 2000; Clarke 2002 sowie beispielhaft: Atkinson u. a. 2001; Denzin/Lincoln 2002; Denzin 1997). Dieses scheint jedoch durch einen »turn to Biographical Methods« allmählich aufgeweicht zu werden (vgl. hierzu Chamberlayne/Bornat/Wengraf 2000). Durch die Teilnahme am Geschehen kann Ethnographie »unter Reflexion des vorgängigen eigenen alltäglichen Verstehens, natürliche ‚settings’ (…) beschreiben, um Alltagserklärungen und Alltags-Handeln verstehen zu können« (Honer 1994, S. 87). Hier kann die Perspektive der zu Untersuchenden angeeignet werden, auch wenn das »aufgrund der prinzipiellen Unzulänglichkeit des fremden Bewusstseins (der ForscherInnen gegenüber den zu Erforschenden) eben bestenfalls ‚typisch’ gelingen kann« (Hitzler/Honer 1988, S. 501). Ethnographische Forschungsstrategien haben somit auch den Vorteil, Interpretationen einer sozialen Praxis durch die TeilnehmerInnen des Feldes nah am Geschehen zu erfassen. Im Gegensatz zu qualitativem Interview und quantitativer Erhebung können hier im Sinne einer talking ethnography, entlang der praktischen Erfordernisse, situativen Settings und der routinisierten und habitualisierten Praktiken, Interpretationen der Teilnehmenden erhoben werden, die das konkrete Handeln erläutern, begründen oder reflektieren und als routinisierte Praxis ohne ethnographische Fragen nicht thematisch geworden wären. Die Wahl der Ethnographie als zentrale Forschungsstrategie des Projektes stellte die forschungslogisch notwendige Anpassung an den Forschungsgegenstand dar, da es unter Rückgriff auf sie möglich wird, soziale Praktiken und ihre Performativität empirisch in den Blick zu bekommen (vgl. Reckwitz 2000). Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Teilnehmenden Beobachtung unter Hinzuziehung von ethnographischen Interviews mit Professionellen, Kindern und Jugendlichen sowie der Erhebung von registrierenden Daten zu Interaktionen zwischen Professionellen, Kindern und Jugendlichen und von Teamsitzungen.1 Mit der Schwerpunktsetzung auf die ethnographischen Beobachtungen wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die »schweigende Dimension des Sozialen« (Hirschauer 2002, S. 40) am besten durch die Anwesenheit von Teilnehmenden BeobachterInnen eingefangen werden kann. Diese Forschungsperspektive erweist sich insbesondere für die Kinder- und 1 Die Erhebung von narrativen Interviews und auch Gruppendiskussionen mit Kindern und jüngeren Jugendlichen erwies sich als schwierig. Relativ rasch zeigte sich, dass vieles, was angefragt wurde, der jeweiligen Altersstufe und den habituellen Dispositionen entsprechend nur sehr knapp und wenig narrativ von den Heranwachsenden beantwortet wurde (vgl. u. a. Heinzel 2000).

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Jugendarbeit als fruchtbar, weil hier stärker als in anderen pädagogischen Settings das Vorsprachliche Bedeutung erlangt, also das inkorporierte Wissen der TeilnehmerInnen in Form von habitualisierten Handlungs- und Kommunikationsmustern oder das Stumme, das sich nicht mitteilen kann, z. B. der Raum, die Kleidung, die Sitzordnung. Der ethnographische Zugriff ermöglicht es nicht nur – wie in dem überwiegenden Teil der empirischen Untersuchungen im Feld Sozialer Arbeit (vgl. hierzu Cloos/Thole 2005) – die subjektiven Deutungen des Handelns, sondern auch das Handeln ebenso wie das Erhandelte sowie jenes Stumme selbst in den Blick zu nehmen, also auch die sozialen Praktiken der Kinder und Jugendlichen zum Gegenstand von Forschung werden zu lassen, die sich in Performance-Momenten und einer situationsbezogenen, spezifischen Körperlichkeit dokumentieren (vgl. auch Deppermann/Schmidt 2003), die kaum über Interviews abfragbar sind. Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997, S. 23 f.) verweisen explizit auf diesen Aspekt und betonen, dass »synchrone Beobachtungen gegenüber Interviews den Vorzug« haben, »eben nicht nur die Selbstbeschreibungen, (…) die Interpretationen, Meinungen und kognitiven Wissensbestände der Teilnehmer zu erheben, sondern die präreflexiven ‚Selbstformulierungen’ ihrer Praxis«. Ethnographische Forschungsstrategien sind demzufolge darauf spezialisiert, offene und komplexe soziale Alltagssituationen, in denen Individuen durch kulturelle Praxen gemeinsame Wirklichkeiten erzeugen, durch Befremdung (vgl. Amann/Hirschauer 1997), Beobachtung, (Co-)Präsenz im Feld und Befragung der FeldteilnehmerInnen zu erfassen. Ihr Vorteil ist die Alltagsnähe, die ganzheitliche Erfassung, die große Flexibilität im Feld wie auch die Berücksichtigung von VorSprachlichkeit und Vor-Reflexivität sozialer Wirklichkeit im Erhebungsverfahren. Jenseits einer »romantischen« Hermeneutik, die sich vorwiegend für das »Verstehen« subjektiv gemeinten Sinns interessiert, »sichert die in situ-Anwesenheit einer Ethnographie gerade nicht vorrangig die Möglichkeit, die Welt der anderen mit ihren Augen zu sehen, sondern diese Weltsichten als ihre gelebte Praxis zu erkennen« (Amann/Hirschauer 1997, S. 24). Somit geraten nicht nur die Deutungen, sondern auch die Handlungspraxen selber und das in ihnen inkorporierte Wissen in den Blick. Insbesondere in den ethnographisch erhobenen Feldprotokollen zeigt sich, dass hierin die jeweiligen Perspektiven und Handlungsmuster der FeldteilnehmerInnen – Professionelle, Kinder und Jugendliche, aber auch der teilnehmenden BeobachterInnen – als performative Praxis aufgehoben und darin sowohl in ihrem Eigensinn als auch in ihrer gegenseitigen Beeinflussung rekonstruierbar sind. Das nachfolgend vorgestellte und diskutierte methodische Design schließt an qualitativrekonstruktive Methodologien an (vgl. u. a. Hitzler/Honer 1997; Flick 2002; Bohnsack 2003). Es stellt eine innovative Variante der ethnographischen Methodentriangulation dar, die insgesamt einen Beitrag zur Qualifizierung der Forschung im Kontext von Sozialpädagogik und Erziehungswissenschaft leisten kann. Das bisher schwerpunktmäßig biographisch angelegte Design professionsbezogener Studien wird so um eine ethnographische Perspektive erweitert. Die Ethnographie wird als zirkulärer Prozess vorgestellt, in dem Phasen des Eintauchens ins Feld einerseits und der reflektierten Distanzierung andererseits methodisch kontrolliert abwechselten und jeweils neue Fokussierungen und Perspektivenerweiterungen zur Folge hatten. Dies war insbesondere auch notwendig zur Überprüfung der bis dahin gewählten Methodentriangulation. Wenn Ethnographie als eine »flexible, methodenplurale kontextbezogene Strategie« (Lüders 2000, S. 389) aufgefasst wird und diese nicht die Teilnehmende Beobachtung als alleinige Erhebungsmethode zum Ausgangspunkt der Dateninterpretation nimmt, stößt man auf methodologisch kaum geklärte Fragen nach der Angemessenheit der Triangulation. Die neuere Debatte um Triangulation betrachtet diese nicht als eine »Strategie der Validierung«, sondern als eine Möglichkeit »zu einer Verbreiterung der Erkenntnismöglichkeit über einen

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Forschungsgegenstand« (Flick 1992, S. 23) beziehungsweise als »Strategie, Erkenntnisse durch die Gewinnung weiterer Erkenntnisse« zu gewinnen (Flick 2000, S. 311). Unter Berücksichtigung der Annahme, dass theoretische Modelle, die jeweiligen Datenerhebungsverfahren und methodologischen Prämissen jeweils den »Gegenstand, der mit ihr erforscht bzw. abgebildet werden soll, auf spezifische Weise konstituieren« (Flick 1992, S. 17), zielt Triangulation darauf ab, »als Ergebnis kein einheitliches, sondern eher ein kaleidoskopartiges Bild zu erhalten« (Köckeis-Stangl 1982, S. 363).2 Die weiteren Ausführungen folgen der Forschungspraxis und dem Design der Rekonstruktion in dem schon genannten Projekt »Konstitutionsbedingungen und Dynamik (Performanz) sozialpädagogischen Handelns in der Kinder- und Jugendarbeit« (Cloos/ Köngeter/Müller/Thole 2007). Materialgewinnung – die Forschungsmethoden: Teilnehmende Beobachtungen, Interviews, ethnographische Gespräche und Interaktionsprotokolle Bei den Feldteilnahmen galt es zum Einen, die schwierigen Balancen der Feldforschung in der Mehrfachrolle des Pädagogen und Forschers distanzierend zu reflektieren (vgl. Thole/ Cloos/Küster 2004; Cloos 2008). Zum Anderen ging es darum, im wechselseitigen Prozess von Einsozialisation ins und Distanzierung vom Feld ein in vielen Aspekten bekanntes Feld zu befremden (vgl. Amann/Hirschauer 1997). Bei der gesamten Datenerhebung wurde darauf geachtet, dass sich Phasen der Feldteilnahme mit Phasen abwechselten, in denen intensive Rekonstruktionsarbeit, eine Überprüfung der Erhebungsmethoden und auf Basis der so gewonnenen Ergebnisse neue Fragen und Blickwinkel generiert werden konnten. Ergebnis des zirkulären Forschungsprozesses war dann eine allmähliche Fokussierung bei jeder neuen Feldphase auf Basis der Erkenntnisse der vorausgegangenen Feldaufenthalte. Am Anfang der Beobachtungen wurden zunächst intensive Phasen der Teilnehmenden Beobachtung durchgeführt. Dabei war es das Ziel, mit gleichschwebender Aufmerksamkeit das Geschehen in den Kinder- und Jugendhäusern in ihrer bei den BeobachterInnen eintretenden irritierenden Fremdheit festzuhalten und möglichst umfassend in den Blick zu bekommen. Diese intensiven Beobachtungsphasen wurden zumeist mit der Zeit durch Phasen ‚am Schreibtisch’ unterbrochen, in denen die Beobachtungen einer ersten Reflexion unterzogen wurden. Die Protokolle der Teilnehmenden Beobachtungen wurden, insbesondere in der Anfangsphase, gegenseitig gelesen, um einen Austausch zu initiieren und eine Kontrolle zu gewährleisten. Hierüber konnten die jeweiligen Blickwinkel, der Schreib- und Protokollstil abgeglichen, blinde Flecken entdeckt und erste Rekonstruktionen angeschlossen werden. Auf Basis dieser Reflexionen wurde der zunächst möglichst offene Beobachterblick zunehmend fokussiert, wurde vereinbart, spezifische Situationen – wie die Begrüßungen zwischen JugendarbeiterInnen und Jugendlichen – oder einzelne Personen genauer in den Blick zu nehmen und wurde nach noch offenen Fragen gesucht. Eine dieser offenen Fragen bestand z. B. in der Bedeutung genderbezogener Performativität der Kinder- und Jugendarbeit. Hier wurde eine wichtige Nachjustierung vorgenommen, indem gezielt Beobachterinnen eingesetzt wurden. Diese haben zu bestimmten Angebotsformen, mädchenspezifischen Nischen und 2

Den ungelösten Fragen ethnographischer Triangulation wurde bei der Datenauswertung – den Gütekriterien der Qualitativen Sozialforschung folgend (vgl. Bohnsack 2005; Steinke 2000; Thole 2003) – zumindest mit dem Prinzip begegnet, dass die teilweise zeitlich parallel erhobenen Materialsorten mit unterschiedlichen Erhebungsverfahren und je spezifischen Relevanzhorizonten getrennt voneinander ausgewertet und erst in einer anschließenden theoretischen Generalisierung zusammengeführt wurden. Vgl. auch den Beitrag von Flick zur Triangulation im vorliegenden Band.

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Deutungsmustern Zugang erhalten, die den männlichen Beobachtern bis dahin verschlossen blieben. Analog dazu wurde dann auch in den sequenzanalytischen Interpretationen auf eine geschlechterheterogene Zusammensetzung der Interpretationsgruppen geachtet. Das erwies sich auch für die Rekonstruktion der scheinbar geschlechtsunspezifischen Angebote, wie z. B. die des so genannten offenen Bereichs, als besonders wichtig. In der zweiten Erhebungsphase wurden infolge solcher Reflexionen die Feldaufenthalte zu einem großen Teil zu zweit durchgeführt. Das hatte den enormen Vorteil, sich im Vorfeld absprechen zu können, welche Schwerpunkte an den jeweiligen Beobachtungstagen gelegt werden und dennoch gleichzeitig auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren zu können. Schließlich ergab sich daraus auch eine neue Form der Protokollierung, da im Anschluss das Protokoll nicht alleine aufgezeichnet wurde, sondern eine quasi-natürliche Gesprächssituation erzeugt wurde und dem Mitbeobachter bzw. der Mitbeobachterin die Ereignisse des Tages erzählt werden konnten. Von den jeweils ein- bis zehnstündigen Teilnehmenden Beobachtungen wurden zeitnah zum Geschehen Protokolle zunächst auf Tonband gesprochen, anschließend transkribiert, sprachlich leicht überarbeitet und zeitlich sortiert. Einige Protokolle wurden zusätzlich, wenn Aufnahmen vorhanden waren, durch Transkripte von Interaktionsprotokollen aufgefüllt. Bei der Erhebung der Daten wurde der Erhebungskontext (der Interviews) dokumentiert und insbesondere bei den Teilnehmenden Beobachtungen darauf geachtet, dass die Perspektive der ProtokollantInnen, ihre Irritationen, Gefühle, Abwehrhaltungen und insbesondere ihr Prozess der Einsozialisation in das jeweilige Feld innerhalb der Protokolle festgehalten wurde, dies auch, um anstehenden, das Material verdichtenden Diskussionen zusätzliche Möglichkeiten der begründeten Generalisierung zu verschaffen. Neben den Teilnehmenden Beobachtungen an insgesamt etwas mehr als 100 Feldtagen bestand eine produktive methodische Erweiterung des ethnographischen Zugangs in der (digitalen) Aufzeichnung von Gesprächen, Angeboten, Beratungen usw. Dies erwies sich besonders hilfreich für die Erfassung der besonderen sprachlichen Performativität des Geschehens. Da während der Feldteilnahmen innerhalb kurzer Zeit das jeweils untersuchte Feld möglichst umfassend in den Blick zu bekommen war, ermöglichten diese Aufzeichnungen weitere Fokussierungen auf einzelne Aspekte, die insbesondere mikroanalytisch zu erfassen und zu rekonstruieren waren (vgl. Bergmann 1985). Dadurch wird erstens bei Schlüsselszenen die Wörtlichkeit der Protokollierung gewährleistet und zweitens wird durch die Kombination aus Beobachtung und Registrierung zumindest ansatzweise die Verknüpfung von sprachlicher und körperlicher Performativität erfasst, die für die Kinder- und Jugendarbeit besonders bedeutsam ist. Interaktionsprotokolle wurden auch – wenn möglich – bei Teamsitzungen und Nachbesprechungen angefertigt. Die Aufzeichnungen wurden transkribiert und z. T. dazu genutzt, die Protokolle Teilnehmender Beobachtung weiter zu verdichten, oder auch als eigenständige Materialien ausgewertet. Im Sinne einer talking ethnography lag ein weiterer Schwerpunkt auf reflektierenden bzw. ethnographischen Gesprächen mit den MitarbeiterInnen, die dazu dienten, Kommentierungen, Reflexionen und die Beigabe von Zusatzinformationen zum beobachteten Geschehen anzuregen (vgl. auch Kaufmann 1999). Diese Gespräche bezogen sich auf das im Feld Erlebte, banden offene Fragen ein und fokussierten auf Themen, die im Rahmen der Beobachtung nicht umfangreich geklärt werden konnten. Diese Gespräche mit den MitarbeiterInnen wurden protokolliert und – soweit möglich – digital aufgezeichnet. In diesen Gesprächssituationen, die von den PädagogInnen auch zur Reflexion relevant erscheinender Ereignisse und Fälle genutzt wurden, wurde die performative Herstellung der Kinder- und Jugendarbeit noch einmal im

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Rahmen der deutenden Perspektive der PädagogInnen sichtbar. Die Teilnehmenden Beobachtungen wurden im Weiteren durch die gezielte Sammlung weiterer Materialien, die für die Forschungsfrage besonders relevant erschienen, wie Konzepte, Homepages, Werbung für spezifische Angebote etc.3 ergänzt. Analog dazu wurden narrativ angelegte und leitfadengestützte Interviews mit den PädagogInnen geführt, um auch diese über ihre langfristigen Beziehungen mit Kindern, Jugendlichen und Cliquen zu befragen. Da die Erhebungsphasen des Forschungsprojektes relativ kurz waren und langfristige, über Jahre dauernde Prozesse nicht teilnehmend beobachtet werden konnten, ist die Erhebung der langfristigen Handlungsbögen zwischen Jugendlichen und PädagogInnen im Rahmen von Interviews und ethnographischen Gesprächen der einzige Weg, die langfristige Entstehung und Aufschichtung von Arbeitsbeziehungen zu rekonstruieren. Schließlich wurden Interviews mit den AdressatInnen der Einrichtungen durchgeführt. In diesen Leitfadeninterviews wurden insbesondere Narrationen generierende Fragen gestellt, die sich auf die jeweilige Geschichte mit der Einrichtung und den Beziehungen mit den PädagogInnen und den anderen BesucherInnen konzentrierten. Die Leitfadenfragen erfassten aber auch die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen in der Familie und im Stadtteil. Die Kinder und Jugendlichen wurden einzeln, auf Wunsch auch in Gruppen bis zu vier TeilnehmerInnen befragt. Dabei ging es jedoch nicht darum ein Gruppendiskussionsverfahren in Gang zu bringen. Vielmehr wurde der Leitfaden Stück für Stück jeweils einzeln und in Phasen auch gemeinsam beantwortet. Die Leitfäden der Interviews mit Kindern, Jugendlichen und Professionellen waren nach dem Trichterprinzip strukturiert, d. h. das Interview begann zunächst mit der narrativsten und offensten Frage und fokussierte dann sukzessive spezifische Themen, wobei jeder Thementeil des Interviews erneut trichterförmig angelegt war. Methodik der Rekonstruktion Auf Basis der hier genannten Erhebungsmethoden konnte eine große Fülle an Material erhoben werden.4 Im Kontrast zur gängigen Ethnographie, wo die erhobenen Materialien und Feldprotokollierungen phänomenologisch zu dichten Beschreibungen verknüpft werden (vgl. u. a. Amann/Hirschauer 1997; Lüders 2000), provozierte die Suche nach den feldkonstitutiven Regeln und Strukturmerkmalen, den spezifischen Interaktionsrahmungen sowie den vorzufindenden professionellen Anforderungen und Handlungsparadoxien einen doppelt angelegten, rekonstruktiven Prozess der Materialanalyse. Zum Einen wurden Teile der erhobenen Interviews und Szenen aus den Protokollen Teilnehmender Beobachtungen dicht am jeweiligen Forschungsinteresse einer extensiven Sequenzanalyse mit dem Ziel einer möglichst validen Rekonstruktion unterzogen, die es erlaubte, erste Modelle, Kategorien und Konzepte zu entwickeln. Die vorliegenden Protokollausschnitte und Interviews wurden Wort für Wort und Sequenz für Sequenz interpretiert. Dabei wurde insbesondere auf das Methodenarsenal der Narrationsanalyse (vgl. u. a. Schütze 1983) als auch auf das der Strukturalen Hermeneutik zurückgegriffen 3

Darüber hinaus wurden die Einrichtungen fotografiert beziehungsweise videografiert. Dokument- und Bildanalysen wurden nur in spezifischen Fällen vorgenommen, wenn es im Falle der Rekonstruktion von Szenen notwendig wurde, auch Fotografien des spezifischen Ortes zum präzisen Verständnis hinzuzuziehen. 4 Im Zentrum der Erhebungen standen Protokolle Teilnehmender Beobachtungen von mehr als hundert Tagen. In 23 Interviews wurden 21 JugendarbeiterInnen und in 38 Interviews 68 Kinder und Jugendliche interviewt. Zusätzlich wurden 33 Szenen registrierend und 38 Teamsitzungen respektive Besprechungen protokollierend aufgezeichnet.

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(vgl. Oevermann 1981; Wernet 2000). Das im Forschungsprozess entwickelte Verfahren der sequenzanalytischen Auswertung von Beobachtungsprotokollen stellt eine innovative Bereicherung der in den forschungsmethodologischen Diskussionen vorgestellten Rekonstruktionsverfahren dar, auch weil in der Literatur bislang kaum Beschreibungen vorzufinden sind, welche Schritte bei der Auswertung erfolgen. Hier steht man vor dem besonderen Problem, dass in der Regel kein registrierender Zugriff auf den Gegenstand (die Interaktionen innerhalb der Kinder- und Jugendhäuser) möglich ist, sondern nur auf die rekonstruierenden Protokolle der BeobachterInnen zurückgegriffen werden kann. Dennoch zeigen die Protokolle, dass sie – ähnlich wie in Erzählungen – bestimmte Darstellungszwänge aufweisen. Diese intensive Form der Auswertung scheint nach den vorliegenden Erfahrungen gerade auch für Protokolle Teilnehmender Beobachtungen unabdingbar, da eine vorwiegend inhaltsanalytische und kategorial orientierte Interpretation die Konstruktionsleistung der ProtokollantInnen unterschlagen würde. Erst eine Wortfür-Wort und Zeile-für-Zeile Interpretation eröffnet die Möglichkeit, die alltäglichen Interpretationsleistungen der BeobachterInnen (vgl. Mannheim 1964; Mohn 2002) nutzbar und überprüfbar zu machen. Bereits bei der Protokollierung werden erste Interpretationen vorgenommen. Um diese vorschnelle Konstruktionsleistung der BeobachterInnen der Rekonstruktion zuführen zu können und zu kontrollieren, geht es darum, diese Doppelbödigkeit der Protokolle sichtbar zu machen – also sowohl die Konstruktionsleistung als auch das Konstruierte, das Zeichen wie auch das Bezeichnete. Unterschieden wird daher in den Rekonstruktionen zwischen zweierlei Prozessstrukturen: (1) die Protokollstruktur und (2) die Interaktionsstruktur, die das Projekt zu rekonstruieren hatte. Beide sind ineinander verwoben. Eine sequenzanalytische Rekonstruktion ermöglicht es aber, Schritt für Schritt aus dem Protokoll für beide Strukturebenen Hypothesen zu formulieren. Im Verlauf einer sequenzanalytischen Rekonstruktion lassen sich dann die Hypothesen in Bezug auf die Prozessstruktur des Feldes schrittweise trennen von den Prozessstrukturen des Protokolls. Denn gleichzeitig werden die Rekonstruktionsleistungen der BeobachterInnen – die Stereotypien, die Annahmen, die perspektivischen Verzerrungen der Beobachtungen – systematisch herausgearbeitet und dann von den Prozessstrukturen des Feldes unterscheidbar. Zum Anderen wurden im Sinne des aus der Grounded Theory bekannten permanenten Vergleichs (vgl. Strauss 1994) die rekonstruierten Fälle, Situationen und Szenen mit weiteren Daten minimal und maximal kontrastiert. Die vergleichende Analyse zielte nicht überwiegend auf »Überprüfung und Validierung von Daten und Fakten« (Lamnek 1995, S. 114 f.), sondern auf die Entwicklung und Überprüfung eigener theoretischer Kategorien und Hypothesen und damit letztlich auf die Theoriegenese durch die »Suche nach Ähnlichkeiten und Unterschieden« (Böhm 2000, S. 476). Insbesondere die sequenzanalytische Rekonstruktion von Protokollen Teilnehmender Beobachtung scheint vor dem Hintergrund der jetzt vorliegenden Erfahrungen eine Bereicherung ethnographischer Forschungspraxis darzustellen.

Die mit Hilfe der unterschiedlichen Erhebungsverfahren erhobenen Daten wurden voneinander getrennt ausgewertet und erst nach extensiver Rekonstruktion trianguliert. Zur Einhaltung der Gütekriterien wurde darauf geachtet, dass die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der einzelnen Rekonstruktionen der ForscherInnengruppe gewährleistet wurde. In diesem Sinne wurden von Rekonstruktionssitzungen ausführliche Protokolle erstellt und auch die kleinschrittigen Sequenzanalysen Stück für Stück dokumentiert. Einher damit ging die ständige

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Überprüfung der Erhebungsmethoden. Dies bedeutete beispielsweise auch, dass die Interviewfragen Anlass für extensive Rekonstruktionen wurden, dass Leitfäden verändert wurden oder dass ergänzende Erhebungsverfahren, wie die Erhebung von registrierenden Daten, hinzugezogen wurden. Generalisierung – Anmerkungen zum Verhältnis von Rekonstruktion und Reflexivität Die theoretische Rahmung qualitativ-rekonstruktiver Forschungsprojekte ist ein diffiziles Unterfangen. Den anerkannten methodologischen Prämissen folgend haben empirische Studien zu belegen, dass sie fernab einer subsumtionslogischen Logik ihre Ergebnisse gewinnen. Paradox formuliert sind sie genau dann dem Verdacht ausgesetzt, bereits vorliegende, theoretische Verdichtungen lediglich empirisch zu illustrieren, wenn sie ihre theoretischen Bezugspunkte und leitenden Hypothesen umfassend vor den eigentlichen Rekonstruktionen entfalten. Der Verzicht auf die Formulierung von theoretisch geleiteten Hypothesen und Bezugspunkten und die »Suspendierung dieses Vorwissens zugunsten einer größtmöglichen Offenheit« (Meinefeld 2000, S. 266) wird deshalb heute weitgehend als Strategie zur Profilierung qualitativ-rekonstruktiver Verfahren in Konkurrenz zu quantitativen Forschungsprogrammen angesehen. Die Reflexion des eigenen Forschungsprozesses zeigt aber in der Regel, dass auch in rekonstruktiven Untersuchungen mehr oder weniger stark explizierbares und expliziertes Vorwissen einfließt, insbesondere auch dann, wenn das zu untersuchende Feld bereits Gegenstand empirischer Untersuchungen und theoretischer Vergewisserungen ist. Da Ethnographie jedoch in der Regel einen umfassenden – zuweilen mit Totalitätsansprüchen versehenen (vgl. zur Kritik Wolff 1986) – Blick auf ihre Forschungsfelder einnimmt, dabei potentiell das Zusammenspiel von Lebenswelten, Organisationen und Milieus, sozialen Rahmen, Sprache und Körperlichkeit, Ritualen, Symbolen und Artefakten, Regeln, Normen und Rollen untersucht (vgl. Flick 2004), können sich ethnographische Forschungsprojekte nicht immer auch auf einen durch und durch konsistenten theoretischen Rahmen beziehen. Mitunter wird hier sogar von einem Gebot gesprochen, nicht nur Methoden, sondern auch Theorien zu triangulieren (vgl. Marotzki 1998, S. 52). Auf diese Weise animiert das empirische Material – auch im vorliegenden Projekt – geradezu ein Aufeinanderbeziehen von vorher schon gewussten Theorien, denn »Forschung kann die Realitäten (…) nur dann an die Oberfläche bringen (…), wenn sie sich auf eine Vorabkenntnis der Realitäten stützt« (Bourdieu 1997, S. 793). Anfänglich noch fragmentarische, theoretische Tönungen erlangen so zunehmend Dichte und Erkenntnisrelevanz (vgl. auch Strauss 1994). Drittens gewinnen eher gegenstandsbezogene empirische Kategorien und Begriffe – wie beispielsweise der Begriff des working consensus – eine empirische Relevanz für die theoretische Verdichtung der Ergebnisse, ohne dass sie jedoch eins zu eins übernommen und eingepasst werden können. Sie müssen vielmehr ihre empirische Relevanz und spezifische Kontur erst am empirischen Material beweisen. Viertens sind hiervon Begriffe und theoretische Kategorien zu unterscheiden, die erst im Laufe der empirischen Arbeit entdeckt werden und nicht auf bereits vorhandenes Wissen zurückgreifen. Im Zuge der empirischen Arbeit haben sie sich sukzessive verdichtet und wurden stets am empirischen Material neu geprüft. Das theoretisch oder empirisch begründete Vorwissen – und dies ist entscheidend – hat seine Bedeutung jedoch nicht allein am Anfang des Forschungsprozesses bei der Hypothesenbildung oder der ersten theoretischen Rahmung der Studien. Vielmehr fließt es zu jeder Zeit in den Forschungsprozess ein und kann auf diesen Einfluss nehmen. Dies kann nicht verhindert, sondern muss offen gelegt werden. In dem hier skizzierten methodologischen Design illustriert sich das Bemühen, mit den angesprochenen Problemen reflexiv umzugehen. Angeschlossen wird an Einwände und Über-

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legungen von Pierre Bourdieu (1993, 1997) gegenüber der Ethnographie. Die von P. Bourdieu notierten Grenzen einer phänomenologischen, narzisstischen Reflexivität der Ethnographie können unter Rückgriff auf eine rekonstruktive und damit ausgewiesene Aufschließung des Materials abgefedert werden. Damit wird an das von ihm entwickelte Programm einer reflexiven Soziologie angeknüpft, die über die bloße Beschreibung hinausgeht und die Fragen nach den Bedingungen und Konstruktionsprinzipien der sozialen Wirklichkeit auf die Tagesordnung setzt. »Sobald wir die gesellschaftliche Umwelt beobachten, ist unsere Wahrnehmung dieser Welt vom Bias beeinträchtigt, der an dem Umstand gebunden ist, dass wir, um sie studieren, beschreiben und von ihr sprechen zu können, mehr oder weniger vollständig von ihr abstrahieren müssen« (Bourdieu 1993, S. 370). Eingeklagt wird hier ein nicht nur nachvollziehender, sondern ein rekonstruierender Blick auf die sozialen Prozesse der Wirklichkeit. Im Forschungsprozess ist und kann dieser reflexiven Praxis einerseits durch eine sensible Praxis der Materialerhebung und der Beobachtung im Feld, anderseits durch die hermeneutischrekonstruktive Auswertungspraxis entsprochen werden. Zugleich hat aber auch »eine wirklich reflexive Soziologie (…) ständig auf der Hut zu sein vor einem Epistemozentrismus, diesem Ethnozentrismus der Gelehrten, der darin besteht, alles zu ignorieren, was den spezifischen Unterschied zwischen Theorie und Praxis ausmacht, und in die Beschreibung und Analyse der Praktiken die Vorstellung zu projizieren, die der Analytiker davon haben kann, weil er außerhalb des Gegenstandes steht, den er von weitem und von oben betrachtet« (Bourdieu 1993, S. 370). Damit wird keineswegs geraten, vorliegende Wissensbestände der Theorie und Praxis zu ignorieren, sondern angeregt, diese mit den beobachteten Wirklichkeiten abzugleichen, um zu einem Verständnis von dieser zu gelangen. Mit dem ausgewiesenen Bezug zur reflexiven Soziologie wird die Erkenntnis gewonnen, dass eine Beobachtung der Wirklichkeit immer über vorliegende Erfahrungs-, Wissens- und Theoriehorizonte geformt wird. Es gilt aber, sich dieser Vorbestände stets auch zu vergewissern und sie auszuweisen, um soziale Wirklichkeiten eben über sie nicht zuordnend zu sortieren und damit von ihrem sozialen Kern entkoppelt zu analysieren. Generalisierungen und monografische Verdichtungen haben sich den damit verbundenen Problemen ganz praktisch zu stellen – mit welchem Erfolg letztendlich, darüber entscheiden auch die RezipientInnen. Die Kinder- und Jugendarbeit als pädagogischer Ort Kinder- und Jugendarbeit erzeugt bei oberflächlicher Betrachtung zuweilen den Eindruck, als sei sie gar kein von alltäglichen Freizeitbeschäftigungen von Kindern und Jugendlichen abgegrenzter Ort, sondern übergangslos darin eingebettet. Die Tätigkeit der Pädagoginnen und Pädagogen erscheint hier als schlichte Beteiligung an jenen Freizeitbeschäftigungen, keineswegs jedoch orientiert an den Prämissen professionellen Handelns. Derartige Beschreibungen übersehen die doppelte Strukturiertheit von selbst gestalteten und zugleich institutionell geformten Orten, ignorieren, dass Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit kommen, die schon durch Erwachsene besetzt sind, deren institutionelle Macht sich nicht zuletzt in der »Schlüsselgewalt« der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter symbolisiert. Mit dem Eintritt in die jeweilige Jugendfreizeiteinrichtung wird gleichwohl eine nur gering markierte, räumliche Grenze überschritten, sowohl zur durch Erwachsene geprägten Umwelt als auch zu anderen jugendkulturellen Orten. Der räumliche Grenzübergang verweist immer zugleich auch auf einen sozialen Übergang und damit auf die Frage sozialer Differenz – insbe-

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sondere dann sichtbar, wenn Kindern und Jugendlichen, die das erste Mal eine Einrichtung aufsuchen, noch unklar ist, was sie erwartet. Grenzen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen verweisen auf das Ensemble von sozialen, zeitlichen und räumlichen Klammerungen, innerhalb dieser andere konstitutive Regeln vorherrschen als außerhalb. Diese, so legt das Material der Studie nahe, stellen in noch markanterer Weise als im schulischen Feld (vgl. Wagner-Willi 2001, S. 228) wesentliche Aspekte in der pädagogischen Arbeit der Kinder- und Jugendarbeit dar. Insbesondere in der so genannten »offenen« Kinder- und Jugendarbeit kommt dem Übergang eine besondere Bedeutung zu, da das Angebot eines Jugendtreffs, Jugendhauses oder -zentrums häufig bereits architektonisch-territorial auf die konzeptionellen Überlegungen hinweist, einen sozialen Ort zu konstituieren, der pädagogisch relevante Differenzerfahrungen zur sonstigen Umwelt ermöglichen soll. Der augenfälligste Übergang ist der von draußen nach drinnen – der Eintritt. Aber auch innerhalb des Jugendhauses gibt es mehr oder weniger charakteristisch markierte Übertritte und Übergänge, die deutlich machen: »Jetzt passiert etwas anderes« und »Hier gelten andere Regeln«. Die Struktur des Übergangs in die Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit unterscheidet sich dabei erheblich von anderen pädagogischen Kontexten. Zwar sind auch in der Schule beim Übergang von der Pause zum Unterricht »Unstrukturiertheiten« zu notieren, »in der die bestehenden Strukturen der Peer-group-Beziehungen nicht mehr vollständig aufrechterhalten werden können und das Regelwerk des Unterrichts noch keine primäre Geltung hat« (Wagner-Willi 2001, S. 245). Jedoch gibt es in der Schule durchaus institutionelle Arrangements, die die Liminalität strukturieren. Die soziale Position des Lehrpersonals enthält die unhinterfragte Autorität, auch die Phasen der offenen, außerunterrichtlichen Bereiche in der Schule zu strukturieren und zu kontrollieren – und zugleich vom »eigentlichen« pädagogischen Ort, dem Unterricht abzugrenzen. In der Kinder- und Jugendarbeit sind die Liminalitätsbereiche durch Unsichtbarkeit, Beiläufigkeit oder Nonchalance gekennzeichnet. Diese liminalen Bereiche erweisen sich jedoch als zentral für das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit. Das professionelle Engagement der pädagogischen MitarbeiterInnen lässt sich in diesem Kontext dabei weder nach dem Modell des Dienstleistungsexperten (vgl. Goffmann 1974), noch nach dem Modell des LehrerInnenhandelns5 beschreiben. Es verlangt vielmehr die Bewältigung paradoxer Regeln auf der Ebene der Berufsrolle selbst. Die Sparsamkeitsregel Jörg Stöhr (P) erzählte, dass es ganz oft so sei, dass die Jugendlichen erst anfangen, ihn zum Beispiel auszufragen und dann wüsste er meistens schon, dass sie irgendwas von ihm wollten. Sie stellten Fragen, die sie ihn schon hundert mal gefragt hätten: »Bist du verheiratet?« Irgendwann würde herauskommen, dass sie irgendwas von ihm wollten, dass er mit ihnen eine Bewerbung schreibt usw. Sie würden dann am Anfang immer so»drumherum« reden. (…) Er würde dann meistens fragen: »Was wollt ihr denn?« Dann würden sie auch damit herausrücken.G,T10:634 Die Jugendlichen evozieren mit einer Anfrage nach Hilfe oder Unterstützung in der Arena der Kinder- und Jugendarbeit einen Rahmenwechsel und stellen damit die potentiell symmetrischen Beziehungen der Arena zur Disposition. Die Arena als Aufführungsort und Zuschauer5

Es lässt sich somit auch nicht nach dem idealtypischen Modell Ulrich Oevermanns (vgl. 1999, S. 112 ff. und 146 ff.) als formales, spezifisch sachbezogenes (Unterrichtsstoff) und komplementär (Lehrer-Schüler) strukturiertes Rollenhandeln beschreiben, das gleichzeitig – um als »Arbeitsbündnis« gelingen zu können – die Verarbeitung nicht rollenförmig strukturierter (und zum Teil unbewusster) Beziehungen im Modus der »Abstinenz« erfordert.

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raum, mit ihrem schnellen Wechsel von dezentrierter und zentrierter Interaktion, als Austragungsort für Wettkämpfe und Spiele sowie als Ort der Herstellung von Zugehörigkeit und Gemeinschaft ist sowohl ein sozialer Ort, an dem die Differenzen zwischen Professionellen und AdressatInnen egalisiert werden, als auch ein Ort an dem modulierend die komplementäre Beziehung gemeinsam mit Jugendlichen performativ hergestellt wird. Der sozialpädagogischen Arena als Aufführungsort und Zuschauerraum kommt dabei, unter der Bedingung von Diskontinuität der Teilnahme, für die Ermöglichung solcher besonderen Arten von Zugehörigkeit gleichfalls eine besondere Relevanz zu. Anfragen wie in dem Protokollausschnitt beschrieben geschehen unter der Beobachtung anderer Jugendlicher. Der Wechsel von einer dezentrierten Interaktion zur zentrierten Interaktion findet nicht ritualisiert statt. Stattdessen erfolgt ein sanfter transformierter »Übergang von einer Sphäre in die andere« (Goffman 1977, S. 431). Liminalität (vgl. Wulf 2001a; Wagner-Willi 2001, 2005) ist daher eine zentrale Herausforderung. PädagogInnen entwickeln dazu performative Praktiken, bei denen sie sparsam mit ihrer institutionalisierten Macht umgehen. Auch die Jugendlichen entwickeln ihrerseits Strategien und Praktiken, die auf die Deutungskompetenz der MitarbeiterInnen bauen, die erahnen, was sie »eigentlich« wollen. Innerhalb des Rahmensystems der sozialpädagogischen Arena realisiert sich der Wechsel häufig also weder routiniert noch stereotypisch. Der Rahmenwechsel wird kaum durch räumliche und zeitliche Klammern wie Warte- und Behandlungszimmer, Terminvereinbarungen, das psychoanalytische Coucharrangement oder andere Beratungssettings begleitet (vgl. Willems 1997, S. 355 ff.), so dass hier von einer mächtigen Erwartungsstruktur nicht die Rede sein kann. Kinder- und Jugendarbeit als so genanntes niedrigschwelliges Angebot behält sich in der Weise vor, dass stetig neu ausgehandelt werden muss, welcher Rahmen nun vorliegt. So wird vermieden, dass mit der Etablierung eines Beratungs- oder ähnlichen Angebotes nicht Potentiale der Gefährdung der Autonomie der Lebenspraxis verbunden sind (vgl. Parsons 1964; Oevermann 1999). Diese Situationskomplexität erfordert einen sparsamen und vorsichtigen Umgang mit Rahmenwechseln und Transformationen. Die Aushandlung an der Grenze zwischen Profanem und Sakralem – und dies zeigt die Protokollszene deutlich – erweist sich zusammengefasst als eine prekäre Angelegenheit mit den Folgeproblemen der performativen Herstellung einer asymmetrischen Arbeitsbeziehung. Folgt man diesen Ergebnissen, dann lautet die Sparsamkeitsregel: Gehe unter den Bedingungen von Öffentlichkeit in der sozialpädagogischen Arena der Kinder- und Jugendarbeit – wann immer es die jeweilige Situation erlaubt – sparsam mit der Transformation von alltäglichen Kommunikationen in Rahmen um, die die Asymmetrie der Arbeitsbeziehungen allzu sichtbar werden lassen. Durch die Sparsamkeitsregel wird das Problem der Übergänge von der Symmetrie gemeinsamer Zugehörigkeit in der sozialpädagogischen Arena hin zur Asymmetrie pädagogischer Arbeitsbeziehungen kommunizierbar. Die Mitmachregel In der Kinder- und Jugendarbeit als Aufführungs- und Inszenierungsort stellt sich für die PädagogInnnen tagtäglich die Frage und Aufgabe, wie sie sich selbst innerhalb der Arena positionieren, wie sie das Geschehen steuern oder eben auch laufen lassen, wie sie das Handeln der Jugendlichen aufnehmen, transformieren und wie sie sich davon abgrenzen, also »sich auf die Lebensbedingungen ‚hautnah’ einlassen zu können, sie tendenziell auch selbst zu mögen und sich mimetisch (…) ihnen anzunähern, ohne sich jedoch darin zu verlieren, sondern ein spielerisches Verhältnis zu wahren« (Küster 2003, S. 132). Einen Eindruck von der Bedeutung dieser Phänomene vermittelt der Protokollausschnitt »Björns Hüftschwung«:

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Auch Björn (P) lässt sich vor allem gegen später, als einige der Jugendlichen sehr aufgekratzt sind, immer wieder von der Stimmung der Jugendlichen anstecken. So beobachte ich zum Beispiel wie er in ganz kurzen Momenten wie die Jugendlichen auch, spontan zur Musik, die gerade läuft, auf der Stelle tanzt oder einen Hüftschwung zur Musik andeutet. Dies geschieht einmal, als er mit anderen Jugendlichen am Tischkicker steht, ein anderes Mal, als er gerade durch den Raum geht. Ich kann aber keine Reaktion darauf von den Jugendlichen erkennen.C,T5:532 Der Protokollausschnitt dokumentiert ein Phänomen, das der Kulturanthropologe Ben Rampton (vgl. Rampton 1995) als »Crossing« fasst. Verstanden wird darunter eine soziale Praxis, in der ein Akteur oder eine Akteurin einen Code in einem Gruppenkontext verwendet, der er offensichtlich nicht zugehörig ist. Die Übernahme der »Coolness« der Jugendlichen ist eine Form der Mimesis, eine Annäherung, die aber nicht darauf abzielt zu kopieren. Es geht also nicht um eine Mimikry oder Anbiederung (vgl. Wulf 2001b), sonst müsste Björn diese Performance auf Dauer darbieten und die coole Haltung habitualisieren. Vielmehr wird im Spiel des Crossing nicht nur Nähe, sondern zugleich auch Distanz hergestellt, die aber doch noch etwas vom Urbild der Coolness übrig lässt und so dem Pädagogen bzw. der Pädagogin ermöglicht, das Gefühl, das sich mit der Haltung und der Handlung verbindet, nachzuempfinden, ohne sich mit dem dahinter stehenden jugendlichen Habitus zu identifizieren. Die Befolgung der Mitmachregel wird insbesondere bei Spielen und Wettkämpfen deutlich, die als konstitutives Merkmal der Arena der Kinder- und Jugendarbeit zu identifizieren sind. Im Sinne Erving Goffmans (1977) kann diese Vorgehensweise als »gut gemeinte Täuschung« angesehen werden, da die MitspielerInnen im Unklaren darüber gelassen werden müssen, ob das Mitmachen ernst gemeint oder vorgetäuscht ist. PädagogInnen in der Kinder- und Jugendarbeit folgen damit implizit der Aufforderung: Tu so, als würdest du bei den Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen mitmachen. Die Mitmachregel besteht aus drei Komponenten: Erstens: Mach bei den Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen mit. Zweitens: Verhalte dich dabei so, als wärest du TeilnehmerIn unter anderen. Drittens: Stelle glaubhaft dar, dass du als ein Anderer teilnimmst. Die Sichtbarkeitsregel Empirisch dokumentiert die Kinder- und Jugendarbeit einen hohen Grad an Informalität. Diese entsteht aber nicht von selbst und verweist im Kern auf die pädagogische Inszenierungspraxis der Herstellung von »Sichtbarkeit«. In dieser Sichtbarkeitspraxis verbindet sich die scheinbar widersprüchliche Einheit von Nonchalance und Alltäglichkeit auf der einen Seite mit der Institutionalisierung eines professionellen Handelns auf der anderen Seite. Die PädagogInnen in der Kinder- und Jugendarbeit haben regelmäßig Stellung zu den Äußerungen, Bewertungen und Handlungen der Kinder und Jugendlichen zu beziehen und sich als erwachsene Person mit bestimmten Werthaltungen und Normvorstellungen erkennbar zu zeigen. Die Jugendlichen fordern situationsbezogen die PädagogInnen – und nicht nur sie, sondern auch andere Erwachsene – immer wieder in der alltäglichen Konversation heraus, Stellung zu beziehen und zu handeln. Verhalten sich die PädagogInnen neutral, werden sie unglaubwürdig; markieren sie zu stark die Differenz zu den Jugendlichen, würden sie sich als unnahbar und damit auch als wenig vertrauenswürdig erweisen. Intervenieren sie dagegen konsequent gemäß ihrer eigenen Werthaltungen und versuchen diese bei den Jugendlichen durchzusetzen, so würde dies die auf prinzipieller Freiwilligkeit basierende Arbeitsbeziehung gefährden, vor allem dann, wenn sie dafür – und nicht nur zur Verteidigung der Funktionsfähigkeit ihrer Einrich-

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tung – institutionelle Sanktionsmacht einsetzen. Die Regel der Sichtbar- und Erkennbarkeit ist ein Ausweg aus diesem Dilemma, da sie einerseits die Alltäglichkeit und Reziprozität der Kommunikation weiterführt, aber die Jugendlichen zugleich mit einem klaren, autonomen, erwachsenen Gegenüber konfrontiert, das nicht immer besser weiß, was für sie gut ist, aber etwas sichtbar macht, für oder gegen das sie sich entscheiden können und so ihnen ein »sich bilden am anderen« (vgl. Schröder 2004) ermöglicht. In diesem Sinne kann die Sichtbarkeitsregel wie folgt gefasst werden: Mache dich und deine Einstellungen gegenüber den Jugendlichen erkennbar, aber lasse gleichzeitig zu, dass die Jugendlichen ihre Einstellungen – auch die unerwünschten, aggressiven und negativen – sichtbar werden lassen, ohne dass dadurch die wechselseitigen Anerkennungsverhältnisse in Frage gestellt werden. Der Zentrale Handlungstypus »Andere | Anderer unter Gleichen« Die hier empirisch rekonstruierten Regeln professionellen Handelns in der Kinder- und Jugendarbeit können als zentrale Bearbeitungen von paradoxalen Handlungsanforderungen gesehen werden, die sich auch in den unter anderem von Fritz Schütze (2000) beschriebenen Kernproblemen und Paradoxien wieder finden. Durch die Sparsamkeitsregel wird beispielsweise einerseits das pädagogische Grunddilemma und die Paradoxie »geduldiges Zuwarten versus sofortige Intervention« bearbeitet, wobei es hier eher darum geht, darauf zu warten, wann angesichts vielfältiger Interventionsmöglichkeiten der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Die Mitmachregel und die Sichtbarkeitsregel lassen sich ankoppeln an »die Gefahr der Ausblendung der eigenen Gestaltungs- und Bedingungsanteile an der Fall- und Projektproblematik« angesichts der »Notwendigkeiten der Unbefangenheit des professionellen Handelns« (Schütze 2000, S. 79). Grundlegender jedoch verweisen die Regeln auf die im professionellen Habitus nicht aufzuhebende Gleichzeitigkeit von »Rollenhandeln und Handeln als ganze Person, von Elementen einer spezifischen und einer diffusen Sozialbeziehung« (Oevermann 1999, S. 106). Allerdings legen unsere Rekonstruktionen nahe, diesen Befund nicht schablonenhaft auf das Handeln in der Kinder- und Jugendarbeit zu übertragen. Vielmehr kristallisierte sich im Laufe der empirischen Rekonstruktionen heraus, dass in der Kinder- und Jugendarbeit ein spezifischer Typus der Ausbalancierung zwischen diffusem und spezifischem Handeln hervortritt, der sich über die oben beschriebenen professionellen Regeln verdeutlichen lässt und empirisch als Handlungstypus der »Anderen unter Gleichen« zeigt. Dieser Handlungstypus kontrastiert zu differenten Typen der Ausbalancierung des Verhältnisses von diffusen und spezifischen Sozialbeziehungen, von Nähe und Distanz und von Zugehörigkeit oder Abgrenzung von jugendkulturellen Stilen unter anderem im Typus der »Ersten unter Gleichen«. Damit ist eine zentrale Handlungsparadoxie benannt, die sich auch in den Konzeptionalisierungen von Kinder- und Jugendarbeit in Form der Beschreibung von Handlungsmaximen manifestiert, beispielsweise wenn die Kinder- und Jugendarbeit dadurch gekennzeichnet wird, dass sie einerseits alltagsorientiert die Interaktionspraxen von Jugendlichen anerkennen soll und andererseits dazu dient, zu den »problematischen Alltagspraxen und -deutungen Alternativen anzubieten« (Thole 2000, S. 261; vgl. auch Böhnisch 1992, S. 245 ff.). Hier zeigt sich auch das Spannungsverhältnis von diffuser Mit-TeilnehmerInnenrolle und spezifischer Rollenbeziehung plastisch.

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Die sozialpädagogische Arena als Ort non-formaler Bildung – Exkurs Die Kinder- und Jugendarbeit präsentiert Heranwachsenden mehr als nur ein räumliches, mit pädagogischem Personal ausgestattetes Feld. Eingelagert in die Modalitäten der performativen Herstellung der sozialpädagogischen Arena sind neben unterschiedlichen unterstützungs-, beratungs- und hilfeorientierten pädagogischen Szenen solche, die im Kern den Charakter der Kinder- und Jugendarbeit als Feld der Initiierung von non-formalen Bildungsprozessen ausweisen. In den Prozess der alltäglichen Konstituierung der Kinder- und Jugendarbeit als ein pädagogisches Handlungsfeld eingewoben sind vielfältige Bildungsanlässe, die von den pädagogischen Professionellen bewusst initiiert sein können und sich in den vorgehaltenen Angeboten dokumentieren, die aber auch situativ, quasi als Nebenfolge des pädagogischen Alltags, entstehen können (vgl. Sturzenhecker 2004; Müller/Schmidt/Schulz 2005). Zuweilen gelingt es den PädagogInnen, diese Möglichkeiten zu identifizieren und bildungsorientiert aufzuladen, zuweilen bleiben die situativ entstehenden Möglichkeiten jedoch auch unentdeckt oder aber werden aufgrund der Prominenz anderer Vorhaben nicht aufgegriffen. Gerade jedoch in den ausgelassenen Bildungsmöglichkeiten illustriert die Kinder- und Jugendarbeit ihre strukturell vorgehaltene, optionale Qualität als Feld der non-formalen Bildung. Zwischendurch war dann auch die Situation, dass der Brockhaus ins Spiel kam. Da war der Jörg Stöhr (P) auch noch in der Küche. Und zwar war die Frage, wie hoch denn ein Basketballkorb sein müsste und die Jugendlichen hatten gesagt, als der Korb aufgestellt war: »Ja der ist viel zu hoch«. Jörg Stöhr: »Nee, das habe ich richtig ausgemessen!« Und dann haben wir den ja noch bisschen runtergekloppt, so auf 3,15 Meter. Keiner war sich sicher, ob ein Basketballkorb 3,05 oder 3,15 Meter hoch sein muss. Dann meinte Jörg Stöhr: »Komm, wir haben doch hier ein Lexikon, gucken wir doch mal nach. Gib mir mal das Lexikon!« Eine Praktikantin reichte mir das dann, ich reichte es an Jörg Stöhr weiter! Und dann haben Sie nachgeguckt und dann hat Jörg Stöhr gesagt: »Nö, steht nichts drin!« Der pakistanische Jugendliche sagte: »Ja, gib doch mal her, zeig doch mal! »Nö, das steht da: Baseball!« Sagte Jörg Stöhr: »Nee, hier habe ich doch geguckt!« (…) Der Junge blätterte dann im Brockhaus rum und machte Sprüche: »Hier, ist das Dein Bruder?« Und er sagte dann immer Bastard, irgendwas mit Hitler. Dann war die Frage, ob Hitler auch einen Bruder gehabt hat. Sie haben im Lexikon nachgelesen, ob das drinsteht und der pakistanische Jugendliche hat das immer vorgelesen, also ein relativ großes Stück über Adolf Hitler. Er las vor, Hitler wäre 1998 geboren worden und da wurde gelacht und festgestellt, dass es 1898 gewesen wäre. Er hat dann die Abkürzungen gelesen, also zum Beispiel dt. für deutsch und DR für Deutsches Reich und andere Abkürzungen, und wurde dann von den Praktikantinnen verbessert. Und dann hat er keine Lust gehabt weiter zu lesen und dann hat er noch weiter im Brockhaus nachgeschlagen, irgendwelche Sachen rumgeblättert.G,T2:296 Anlass für diese »Bildungssituation« sind die beim Aufbau des Basketballkorbes zu Tage getretenen unterschiedlichen Meinungen, wie hoch ein Basketballkorb angebracht sein muss. Während der Pädagoge Jörg Stöhr zunächst davon ausgeht, dass der Korb auf einer Höhe von 3,15 Metern angebracht sein muss, scheint er sich auch nicht mehr sicher zu sein, ob das von ihm genannte Maß richtig ist. Den Jugendlichen jedoch ist der Korb zu hoch. Dies meinen sie eher intuitiv, als das sie tatsächlich das richtige Maß kennen. Anlass dieser nach Aufklärung über Wissen verlangenden Situation ist ein handlungspraktisches Problem (vgl. Gudjons 1997). Das zur Lösung des Problems vorhandene Wissen des Pädagogen ist nicht nur unsicher, sondern steht auch im Kontrast zu den Erfahrungen der Jugendlichen. Irritierend ist allerdings, dass der Pädagoge im Sinne einer erfahrungsbezogenen, handlungsorientierten Didaktik nicht

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die Jugendlichen animiert, das Wissensdefizit aufzuhellen, sondern selbst im Lexikon nachschaut. Damit lässt er einen selbstorganisierbaren Bildungsanlass zwar nicht ungenutzt, operationalisiert ihn allerdings auch nicht optimal und unterschreitet einen andernorts kommunizierten Anspruch, denn das Nachschlagen im Lexikon markiert nicht nur die Differenz zwischen Handlungsaufforderung – »komm, wir haben doch hier ein Lexikon, gucken wir doch mal nach« – und Handlungsaktion, sondern positioniert ihn auch als »Erster unter Gleichen« und keineswegs als »Anderer unter Gleichen«. Was bleibt, ist lediglich die Illustration der Möglichkeiten von Wissensaneignung. Der Fortgang der Situation präzisiert den ersten Verdacht, dass hier im Kern eine zu Initiierung von Bildungsanlässen sich anbietende Kommunikation ungenutzt bleibt. Der Moment, als der pakistanische Jugendliche aus Versehen unter Baseball anstelle von Basketball nachschlägt, könnte erneut handlungsorientiert zur Initiierung einer Bildungsgelegenheit genutzt werden. Jörg Stöhr jedoch verweist darauf, dass er schon nachgeschaut habe und dass es keiner erneuten Überprüfung bedarf. Auch verzichtet er darauf, den Jugendlichen andere Möglichkeiten der Recherche, beispielsweise im Internet, anzubieten. Das Lexikon wird als Ausgangspunkt des Neckens anderer Jugendlicher und MitarbeiterInnen benutzt. Schnelle Themenwechsel sind angedeutet und damit findet hier möglicherweise das statt, was Karin Bock (2004) als die chaotischen Momente in Bildungsprozessen bezeichnet. Zumindest wird hier plötzlich das Interesse an der Person Adolf Hitlers geweckt. Bemerkenswert ist, dass der Jugendliche einen ganzen Abschnitt über Adolf Hitler aus dem Lexikon laut vorliest. Erneut kann der Jugendliche durch die inszenierte Lesung in der Arena Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das Lachen und Verbessern kann wiederum als eine Form des Zurückfrotzelns betrachtet werden, zumindest jedoch werden hierdurch performativ soziale Positionen im Raum der sozialpädagogischen Arena durch die älteren Jugendlichen markiert, auf die der pakistanische Jugendliche schlussendlich durch Beendigung seiner Lesung reagiert. Die MitarbeiterInnen reagieren jedoch nicht und lassen so die gegebene Chance zur Initiierung von Bildungsprozessen ungenutzt. Sie erkennen die Situation nicht als Gelegenheit, auf der Ebene non-formalen Lernens die Jugendlichen in einen Bildungsprozess – in einen Erfahrungsprozess des »Findens von Wissen«, also der Konfrontation mit Quellenwissen, und des »Zurecht-findens«, der Auseinandersetzung mit Orientierungswissen (vgl. Bonß 2003, S. 23) – einzubinden. Das pädagogische Handeln und die Initiierung eines Bildungsprozesses misslingen nicht nur, wie im schulischen Unterricht zuweilen zu beobachten (vgl. Wernet 2003) oder realisiert sich auf vorher nicht intendierten Ebenen (vgl. Heinzel 2006). Die Bildungsmöglichkeit von Situationen wie die hier vorgestellte werden von den pädagogischen Professionellen jedoch nicht durchgehend und immer als solche auch identifiziert. Gerade jedoch in dieser »verpassten Chance« dokumentiert sich das bildungsoffene Kontinuum der Kinder- und Jugendarbeit. Ertrag – Sozialpädagogik der Kinder- und Jugendarbeit Kinder- und Jugendarbeit als spezifischer pädagogischer Handlungsort mit einem ebenso charakteristischen Handlungstypus erfordert von den pädagogischen MitarbeiterInnen ein aktives Engagement als »Andere unter Gleichen« und eine Teilnahme in dieser Rolle an den alltäglichen Kommunikationen der Jugendlichen. Die PädagogInnen sind herausgefordert, diese Rolle nicht nur passiv auszufüllen, sondern sie durch Modulationen des Geschehens ständig auf Basis eines situativ zu findenden »Working Consensus« zwischen PädagogInnen und Heranwachsenden zu rahmen und hierbei auch auszuhandeln, was als nächstes geschieht. Neben

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dieser modulierenden Formung der Interaktionsprozesse dokumentiert der pädagogische Alltag der Kinder- und Jugendarbeit exklusive Formen der Bewältigung von »Übergängen«. Das vorgestellte pädagogische Szenario konstituiert die Eigenständigkeit der Kinder- und Jugendarbeit und den Kontrast zu anderen pädagogischen Institutionen und Handlungsfeldern, der sich schon explizit in den Modalitäten des Eintritts dokumentiert. Die Rahmenbedingungen pädagogischen Handelns in schulischen Feldern und die dort anzutreffenden Regularien der Herstellung von Zugehörigkeit sind strukturell klar und institutionell geformt. Zugehörigkeit – der Übergang vom vor-schulischen, familialen Alltag und den Gleichaltrigenkontexten zum »schulischen Alltag« – wird nicht nur über gesellschaftlich und rechtlich abgesicherte Kodifikationen, sondern auch durch die Gestalt der pädagogischen Handlungsstrukturen ermöglicht und gesteuert. Schule gliedert sich – jahrgangsweise und an den Leistungen der SchülerInnen orientiert – in Klassen und in Schultypen. Hier strukturieren geregelte Zeittakte den Schulalltag; das pädagogische Personal sortiert sich in unterschiedliche hierarchische Stufen und in der Regel über eine Wissens- und Generationendifferenz von den SchülerInnen, normative Regelwerke rahmen die sozialen Modalitäten und der Erwerb von Bildung verwirklicht sich über didaktisierte Lehr-Lern-Prozesse leistungsbezogen und selektiv. Hierüber wird eine sozialkulturelle Realität erzeugt, die die Formen der Zugehörigkeit nicht nur formal herstellt, sondern auch die Transformation von den Kinder- und Jugendlichenidentitäten in die des SchülerInnendaseins und von der des Nur-Erwachsenen in die der LehrerInnen steuert (vgl. Fürstenau u. a. 1972; Merkens 2006; Fend 1980). Schon über den Eintritt in die Schullaufbahn wird dieser Prozess des Übergangs und damit verbunden die hier gemeinte »Rollentransformation« formal angeregt. Auf eine entsprechende oder auch nur vergleichbare Rahmung ihres institutionellen Settings kann die Kinder- und Jugendarbeit nicht zurückgreifen. Über den Eintritt – von »draußen« nach »drinnen« – in eine der Einrichtungen dieses sozialpädagogischen Handlungsfeldes wird eine analoge Rollentransformation wie beim Übergang in die Schule nicht automatisch angestoßen und ein Wechsel in die Rolle des »Kinder- oder Jugendhausmitgliedes« initiiert. Kinder und Jugendliche müssen ihre Identität mit dem Eintritt in die Projekte der Kinder- und Jugendarbeit nicht abstreifen oder sie mit »neuen« Rollen kombinieren. Sie sind sogar aufgefordert, diese in einem besonderen Raum ins Spiel zu bringen. Die Übergänge sind analog zu sehen zu dem Übergang vom Profanen zum Sakralen, wie ihn Herbert Willems (vgl. 1997, S. 358) in Anschluss an Erving Goffman für therapeutische Settings beschreibt. Die Beiläufigkeit des Übergangs macht es möglich, die institutionelle »Klammer«, die den institutionellen Rahmen der Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit sicherlich auch kennzeichnet, »unsichtbar« werden zu lassen. Die Gestaltung des Übergangs ist damit, wie gezeigt, keineswegs weniger komplex oder anspruchsvoll. Schon die Herstellung von Zugehörigkeit und nicht erst die von Gemeinsamkeit erfordert von den Kindern und Jugendlichen in diesem sozialpädagogischen Handlungsfeld ein aktives, kommunikatives Engagement. Von den PädagogInnen erfordert dies eine Sensibilität für die differenten Formen und Prozeduren der Konstitution dieses »Sich-Einfindens« und die sich erst darüber herstellenden Modalitäten der Suche nach Gemeinsamkeit und der diesbezüglich erforderlichen Transformationen. Die Phänomene des Übergangs – die Herstellung von Zugehörigkeit und Gemeinschaft – stellen in der Kinderund Jugendarbeit damit keineswegs nur Epiphänomene dar, die von einem »eigentlichen« Kerngeschäft zu unterscheiden wären. Vielmehr ist die Gestaltung jener Phänomene selbst, wie es am Beispiel der Herstellung von »Zugehörigkeit« gezeigt werden kann, wesentlicher Bestandteil dessen, was Kinder- und Jugendarbeit in seiner Heterogenität performativ konstituiert.

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Die in der sozialpädagogischen Arena zu beobachtenden Prozesse zeigen sich dabei keineswegs als chaotisch und anarchisch, sondern gestalten sich nach relativ klaren, wenn auch reflexiv häufig nicht rückgekoppelten und somit unthematisiert bleibenden »konstitutiven« Regeln, von denen drei – die Mitmach-, Sichtbarkeits- und Sparsamkeitsregel – identifiziert und vorgestellt wurden. In der Kinder- und Jugendarbeit verdichten sich die Bewältigungen der professionellen Herausforderung in einem pädagogischen Engagement des Handelns als »Anderer unter Gleichen«. Diese Figur beschreibt – erstens – die Differenz zu anderen sozialpädagogischen und sozial-therapeutischen Handlungsfeldern, in denen zwar die diffusen Beziehungsanteile nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können, jedoch Mitmachen, Sparsamkeit und Erkennbarkeit in der oben beschriebenen Form eine geringere Rolle zu spielen scheinen. Darüber hinaus skizziert diese Handlungsfigur – zweitens – den Unterschied zu anderen pädagogischen, insbesondere schulpädagogischen Handlungsfeldern sowie – drittens – zu anderen professionellen Milieus wie beispielsweise der Medizin oder der Jurisprudenz. Die zu beobachtende pädagogische Nonchalance stellt die professionelle pädagogische Antwort auf die komplexen Bewältigungsaufgaben dar. Die Sozialpädagogik der Kinder- und Jugendarbeit hat über sparsames Mitmachen und kontinuierliche Präsenz, aber keineswegs getragen von einer aufdringlich autoritären Bevormundung der Heranwachsenden durch die Professionellen, sichtbar zu sein. Die hierzu erforderliche pädagogische Nonchalance votiert keineswegs für eine Validierung der Annahme – wie auf den ersten Blick zu vermuten –, hier ein sozialpädagogisches Handlungsfeld ohne innere Strukturiertheit vorliegen zu haben – im Gegenteil: Die hier als pädagogische Nonchalance herausgestellte Haltung stellt einen eminent wichtigen Handlungsmodus der Kinder- und Jugendarbeit dar, der sich auch in dem inhaltlichen Profil, und vielleicht gerade in der geschilderten »verpassten Bildungsgelegenheit« (vgl. Müller/Schmidt/Schulz 2005), illustriert. Gerade hier dokumentiert sich plastisch der in den Alltag eingelagerte Charakter der Kinder- und Jugendarbeit als Feld non-formaler Bildung. Die Bedeutung informeller Kontexte für die Aneignung von kulturellem Kapital zeigt sich hier deutlich. Die Relevanz der Verschränkung von Netzwerken der Gleichaltrigen mit solchen der non-formalen Bildung für die Herausbildung von Präferenzen für bestimmte Lebensstile und Freizeitpräferenzen sowie für erfolgreiche schulische Bildungskarrieren wird immer noch deutlich unterschätzt (vgl. Zinnecker 1987; Büchner/Brake 2006; Stecher 2005) und nur über wenige Befunde empirisch ausgewiesen, so etwa in der Studie von Gerhard Kluchert (2006) zum Zusammenhang von Schule, Familie und sozialer Ungleichheit in der bildungsexpansiven Phase der Weimarer Republik. Die Kinder- und Jugendarbeit präsentiert hiermit keineswegs vergleichbare, aber immerhin Lern- und Erfahrungsfelder, die schulische Szenarien nicht vorhalten können. Schule setzt Transformationen voraus, die die Entstehung von Lernsituationen, wie sie sich in non-formalen Bildungsräumen ergeben, nicht ermöglichen. Kinder- und Jugendarbeit konstituiert eine »sozialpädagogische Arena«, die in dezidierter Abgrenzung zu einem verdinglichten Raumbegriff als ein Handlungsraum zu verstehen ist, der performativ hergestellt, also »erhandelt« wird. Die Kinder- und Jugendarbeit kann somit als pädagogischer Ort vorgestellt werden, an dem sich die pädagogischen Intentionen – im Kontrast zur Schule – quasi versteckt auf der Hinterbühne lokalisieren: Spielen sich in den schulischen Bildungswelten die sozialen Platzierungskämpfe, Rivalitäten und Beziehungsauseinandersetzungen im Rücken des eigentlichen Lern-Lehr-Szenarios ab, so finden in den Einrichtungen und Projekten der Kinder- und Jugendarbeit diese quasi auf der Hauptbühne ihren Platz. Im Schatten dieses Alltagsszenarios und erst über dieses möglich wie darin eingewoben realisieren sich die Beratungs- und Hilfeleistungen sowie die non-formalen Bildungsanlässe – also quasi auf der Hinterbühne – der Kinder- und Jugendarbeit.

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Werner Thole/Peter Cloos/Stefan Köngeter/Burkhard Müller

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Die soziale Konstruktion von Krankheit Analysen biographischer Selbstthematisierungen an Brustkrebs erkrankter Frauen und ihre Relevanz für eine Neubestimmung professioneller Praxis Andreas Hanses/Petra Richter Soziale Arbeit und Gesundheitsforschung – einleitende Bemerkungen Die Themen Krankheit und Gesundheit nehmen im Kontext der Sozialen Arbeit eine zwiespältige Stellung ein. Einerseits ist die Gesundheitsfürsorge ein historisch wichtiger Baustein in der Entstehung Sozialer Arbeit, der Sozial-Dienst im Krankenhaus kann mittlerweile als institutionalisierter Baustein (sozialpädagogischer) professioneller Praxis in der gesundheitlichen Sicherung bewertet werden und im Kontext der Gesundheitsförderung hat die Soziale Arbeit oftmals als konzeptionelle „ahnungslose Leihmutter“ (Franzkowiak/Wenzl 2001, S. 720) für die Gesundheitswissenschaften fungiert. Trotz dieser hier nur exemplarisch zu markierenden Verweise sozialpädagogischer Bedeutsamkeit im Kontext des Gesundheitsfeldes darf diese andererseits nicht darüber hinweg täuschen, dass die Themen Gesundheit und Krankheit in der professionellen Selbstverortung und den disziplinären Diskursen keinen bedeutsamen Raum einnehmen. Das Feld der Gesundheit ist so stark durch den „klinischen Blick“ bestimmt, dass eine wissenschaftliche (Selbst-)Positionierung und produktive Einmischung durch Soziale Arbeit in das „medizinische“ Feld nur schwer möglich erscheint. Inhaltlich wäre eine wissenschaftliche Einmischung erforderlich, denn die Herausforderungen im Gesundheitsbereich sind von einer auf den kranken Körper spezialisierten Medizin allein nicht mehr zu lösen (vgl. Hanses 2007a). Eine neue Perspektive ergibt sich in jenem Moment, in dem mit einer ergänzenden theoretischen Perspektive auf das Thema Gesundheit und Krankheit geblickt wird, die die Trennung von biomedizinischer Diktion und sozialen Dimensionen in ein neues Beziehungsverhältnis stellen kann. An dieser Stelle sollen einleitend drei zentrale Perspektiven herausgestellt werden, die allerdings nur thesenhaft skizziert werden können (vgl. Hanses 2007a). Gesundheit und Krankheit sind soziale Konstruktionen: Die uns so vertraute Realität des objektiv Wirklichen vom kranken Körper erweist sich bei einer historischen Analyse weniger als ontologische Gegebenheit, sondern als gesellschaftliche Konstruktion von Krankheit und Körper. Insbesondere Michel Foucault (1976) hat in seiner Analyse des „klinischen Blicks“ herausarbeiten können, dass der Körper Produkt institutioneller Praxen (im entstehenden Spital) und diskursiver Wissensordnungen ist. Mit der ontologischen Betrachtung des Körpers wird vergessen gemacht, dass die Wissenschaft selbst Produzent dieser vermeintlichen Ordnung ist. Der sozialen Konstruiertheit von Gesundheit und Krankheit nachzuspüren, eröffnet wichtige Einsichten in die gesellschaftlichen Betrachtungen, Bewertungen und diskursive Formung des Körpers und seinen (Dys-)Funktionen. Professionelle Hilfe ist in erster Linie soziale Praxis: Mit dieser These soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass Diagnose, Behandlungen und Therapien sich nicht aus einem wissenschaftlichen Wissen von Krankheit und Gesundheit zwangsläufig ergeben, sondern zentral als soziale Herstellungspraxis in den professionellen Interaktionen zu beschreiben sind. Das, was als Krankheit und sinnvolle Therapie diagnostiziert, ausG. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Andreas Hanses/Petra Richter

gehandelt, besprochen und in professionelles Handeln umgesetzt wird, ist den sozialen Rahmen, den institutionalisierten Praxen, den Routinen, den Wissensordnungen und ihren Abstimmungen geschuldet (vgl. u.a. Berger/Luckmann 1999, Goffmann 1994, 1996). Damit ist eine heuristische Perspektive dafür entwickelt, dass Gesundheit und Krankheit sowie deren professionelle Bearbeitung nicht nur durch eine biologische „Wahrheit“ gesetzt, sondern wesentlich aktiver sozialer Herstellungsprozess ist. Krankheit und Gesundheit sind biographische Konstruktionen. Diese Aussage schließt an Überlegungen des Konzepts der „Biographik“ von Viktor von Weizsäcker (1956) sowie vor allem an die biographischen Analysen zu unterschiedlichen Erkrankungen und Gesundungsprozessen (vgl. u.a. Hanses 1996, 2005, 2007a, Hanses/Richter 2009) an. Zentrale Aussage ist, dass Krankheiten zwar durch die Medizin in ihrer biologischen „Realität“ explizit beschrieben werden, aus der Perspektive des erkrankten Subjekts das „Kranksein“ allerdings sofort durch die biographischen Erfahrungsaufschichtungen, Sinnorientierungen und Deutungszuweisungen durchdrungen ist. Dieser durch eine „Aneignung“ des Erkrankten gekennzeichnete Zugriff auf die Krankheit hat entscheidende Konsequenzen für die Bewältigung oder Chronifizierung von Erkrankungsverläufen oder auf mögliche Prozesse der Gesundung oder des Gelingens bzw. Scheiterns professioneller Hilfen. Krankheit als biographische Konstruktion zu begreifen impliziert eine konsequente Einführung des Subjekts in die Betrachtung des Themenfeldes Gesundheit. Pointiert formuliert sind Krankheit und Gesundheit ohne die Einbeziehung der Aneignungsleistung durch die betreffenden BiographInnen in ihren Verläufen und Dynamiken nicht zu verstehen. Die hier vorgestellten Thesen zur sozialen und biographischen Konstruiertheit von Gesundheit und Krankheit und der sozialen Herstellungspraxis von „Hilfe“ machen deutlich, dass ein Dualismus zwischen einer Körper- und einer Sozial-Profession so einfach nicht zu halten ist. Gesundheit und Krankheit sind immer Teil gesellschaftlicher Praxen und sind somit in ihrer medizinischen wie sozialen Problematik als Herstellungspraxen und Konstruktionsleistungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure zu verstehen. Diesen Sachverhalt auszugrenzen bedeutet, einen blinden Fleck gegenüber der (sozialen) Komplexität von Gesundheit und Krankheit und ihrer professionellen Bearbeitung zu erzeugen. Dieser Beitrag will am Beispiel des Themas der Brustkrebserkrankungen aufzeigen, welche soziale und biographische Konstruiertheit und welche Herstellungspraxen professioneller Bezugnahmen vorliegen. Die folgenden Erörterungen basieren dabei zentral auf einer biographieanalytischen Untersuchung mit an Brustkrebs erkrankten Frauen (2). In aller gebotenen Kürze werden zentrale Ergebnisse aus den biographischen Interviews mit den an Brustkrebs erkrankten Frauen präsentiert (3). Ein Schwerpunkt der Darstellung wird sich dabei insbesondere auf jene Gruppe von Frauen beziehen, die sich nur bedingt an den Wissensordnungen der Medizin orientiert haben, sondern deren Problembearbeitungen gerade durch Abgrenzungsstrategien und biographischen Eigensinn gekennzeichnet waren und von hier aus eine besondere „Provokation“ für die Medizin wie für tradierte professionelle Konzepte darstellen (4). Abschließend werden die empirischen Ergebnisse vor dem Hintergrund der Erörterung von Wissensordnungen in professioneller Praxis diskutiert (5).

Die soziale Konstruktion von Krankheit

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Brustkrebs – aktuelle medizinische Diskussionen und Relevanz eines biographischen Forschungsansatzes Das Thema Brustkrebs ist in den letzten Jahren Gegenstand vieler (fach)öffentlicher und massenmedialer Thematisierungen. Die Schlagzeile „Eine von zehn Frauen erkrankt in ihrem Leben an Brustkrebs“ (BKF 2003, S. 28) wurde im Zusammenhang mit der Einführung des Brustkrebs-Screenings vielfach zitiert. Wesentliche Differenzierungen wurden und werden leider nicht gleichermaßen zur Sprache gebracht.1 Im Rahmen der Diskussionen über die Einführung eines Mammographie-Screenings für Frauen zwischen 50 und 70 Jahren als Regelleistung der Gesetzlichen Krankenversicherungen haben sich kontroverse Debatten ergeben. Nachdem die Modellprojekte abgeschlossen wurden, ist das Screening bundesweit im Versorgungskatalog der Krankenkassen implementiert. Ziel des Screenings ist die Früherkennung von kleinen Tumoren durch eine radiologische Untersuchung. Frühzeitig erkannte und behandelte Tumore können die Sterblichkeitsrate bei Brustkrebs um 30 % senken, argumentieren die BefürworterInnen des Screenings. Doch es gibt auch Gegenpositionen, die sich u. a. auf die Folgen falsch-positiver Befunde oder die Kommunikation des zu Grunde liegenden statistischen Materials beziehen.2 Auch im Kontext der Einführung von Disease-Management-Programmen (DMP’s) wurde die Erkrankung Brustkrebs aufgegriffen. DMP’s sind strukturierte und qualitätsgesicherte Behandlungsprogramme für verschiedene chronische Erkrankungen, u. a. Brustkrebs. Ziele des DMP Brustkrebs sind u. a. Begleitung, Aufklärung, Verbesserung der Lebensqualität und der operativen Standards (vgl. IKK 2006; BKK 2006; KVB 2007). Bei der Lektüre des Qualitätsberichts wird allerdings deutlich, dass lediglich die Versorgung auf medizinisch-somatischer Ebene im Qualitätsbericht evaluiert wird. Die Verbesserung der psychosozialen Versorgung wird dagegen nicht untersucht. Die gleiche Feststellung ergibt sich aus dem Qualitätsbericht des DMP Brustkrebs des Landes Niedersachsen (vgl. KVN 2005). Die bereits im Antrag für das hier vorgestellte Forschungsprojekt artikulierte Sorge, dass bei der Formulierung von DMP’s die psychosoziale Versorgung zwar postuliert, aber bei der Umsetzung/Evaluation eine bestenfalls als untergeordnet zu bezeichnende Rolle spielen wird (vgl. Hanses/Keil 2002), hat sich leider als berechtigt heraus gestellt. Mittlerweile werden DMP’s in der ärztlichen Profession als Fehlentwicklung aus politischer, wirtschaftlicher und medizinisch-wissenschaftlicher Sicht kritisch diskutiert (vgl. Hörstel et al. 2004). In den verschiedenen kontroversen Debatten wurde auch offensichtlich, dass es bis dahin keine radikal subjektorientierte Forschung zu Brustkrebserkrankungen gab. Diese kurz skizzierten aktuellen gesundheitswissenschaftlichen sowie gesundheitspolitischen Diskussionen bilden den Ausgangspunkt des Forschungsprojekts ‚Biographische Konstruktionen von Brust1

Zum Beispiel, dass bei 100 000 Frauen im Alter zwischen 35 – 39 Jahren 353 Brustkrebsdiagnosen gestellt werden und in der Altersgruppe der 50 – 59jährigen 2526 Befunde auf 100 000 Frauen zu verzeichnen sind (vgl. BKF 2003). Die wichtige Information, dass die Erkrankungsrate bei älteren Frauen zunimmt, wird oft nicht preisgegeben. Das Durchschnittsalter brustkrebskranker Frauen liegt bei 63 Jahren. 2 Es gibt viele weitere Argumentationen für und wider das Brustkrebsscreening; an dieser Stelle werden nur wenige plakative Argumente aufgeführt, um einen Einblick in die Kontroverse zu gewähren. Zur Kontroverse über Nutzen und Risiken der Brustkrebsfrüherkennung durch Mammographie-Screening vgl. z. B. Koppelin/Müller/Keil/Hauffe 2001; Gigerenzer 2005.

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krebs’.3 Im Mittelpunkt der Studie stehen biographische Analysen narrativer Interviews mit an Brustkrebs erkrankten Frauen. Neben der Analyse biographischer Gestaltungen von Krankheit werden Erfahrungen, die betroffene Frauen mit professionellen Unterstützungssystemen gemacht haben, sowie deren institutionelle Rahmung untersucht. Zentrale Forschungsschwerpunkte der Studie sind (1) die subjektorientierte Krankheitsbewältigung bzw. Krankheitsverarbeitung und damit individuelle Elemente oder Merkmale, die diesen Prozess strukturieren. (2) Ein weiterer Schwerpunkt der Studie liegt auf den Erzählungen der Frauen über Interaktionen mit Professionellen im Zusammenhang mit den Brustkrebserkrankungen. Aus dieser Perspektive können Erkenntnisse über die Art und die Folgen des Zugriffs auf bzw. durch professionelle Systeme im Gesundheitswesen formuliert werden. Formen des biographischen Umgangs mit professioneller Hilfe im Krankenhaus Vom Forschungsteam wurden in den Interviews mit Brustkrebspatientinnen Auskünfte über die Lebensgeschichte sowie im Rahmen der krankheitsbezogenen Erzählungen (mehr oder weniger explizite) Aussagen über Erfahrungen mit oder Einschätzungen über psychosoziale Begleitung im Gesundheitswesen erwartet. Überraschend war, dass der Aspekt ‚psychosoziale Begleitung’ kaum in den Interviews von den Frauen aufgegriffen wurde. Beobachtet werden konnte vielmehr, dass die Erzählerinnen über ihre Haltungen bezüglich der Interaktionen mit Ärztinnen und Ärzten Auskunft erteilten. Diese verschiedenen Haltungen korrespondieren mit den jeweiligen biographischen Wissensbeständen und können darüber erklärt werden. Bei der Analyse der erhobenen biographisch-narrativen Interviews mit Brustkrebspatientinnen4 kristallisierten sich vier für die Studie relevante Haltungen der Frauen heraus: Passung, Eigen-Setzung, Umdeutung und Überformung. Das Phänomen ‚Eigen-Setzung’ ist für diesen Aufsatz besonders bedeutsam. In diesen Erzählungen wird in besonderem Maße biographischer Eigensinn offensichtlich, der zu unterschiedlichen Abgrenzungsstrategien von der Medizin führt. Die Eigen-Setzungen ermöglichen den Protagonistinnen auf ganz unterschiedliche Weise, sich der Macht medizinischer Wissensordnungen zu entziehen, was eine besondere Herausforderung für die professionelle Praxis in sich birgt. Für eine ‚Neubestimmung professioneller Praxis’ bietet insbesondere die Betrachtung dieses Phänomens wichtige Hinweise. Um einen Einblick in die Gesamt-Ergebnisstruktur der Studie zu gewähren, werden die unterschiedlichen Phänomene im Folgenden kurz skizziert; Ausdrucksformen von EigenSetzungen werden in einem eigenen Abschnitt ausführlicher vorgestellt. Die Biographien, die das Phänomen ‚Passung’ repräsentieren, erscheinen in den Erzählungen der Frauen als Abfolge von nicht gewordenen Möglichkeiten und der Zurücknahme eigener Wünsche. Das Leben wird erzählt als Geschichte der Versagung, in der die Krebsdiagnose als weiteres Element dieser biographischen Erfahrungs- und Deutungsstruktur erscheint. Diagnose und Behandlung werden nicht als Krisengeschichte vorgetragen. Brustkrebs ist eine Erfahrung, die im Zusammenhang mit den biographischen Erfahrungsaufschichtungen der Erzählerinnen ein Kontinuum dieser Erfahrungen darstellt. Im Behandlungsprozess bzw. im medizinischen System erscheinen die Frauen als unkomplizierte Patientinnen mit hoher sog. 3

Laufzeit: 2003 bis 2006 an der Universität Bremen, Fachbereich 11: Human- und Gesundheitswissenschaften/IBL – Institut für angewandte Biographie- und Lebensweltforschung (Leitung: Prof. Dr. Andreas Hanses, Prof. Dr. Annelie Keil, wissenschaftliche Mitarbeiterin: Petra Richter) 4 Auf Forschungsansatz und -weg wird in diesem Aufsatz nicht eingegangen. Methodologische sowie methodische Prämissen des Projekts sind in Hanses/Richter 2008 und Richter/Hanses 2008 dargestellt.

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Compliance. Sie nehmen Behandlungsvorschläge an und fügen sich reibungslos in die institutionellen Strukturen. Dass es sich bei diesem Ausdruck von Passung um eine Fortschreibung deautonomisierender biographischer Erfahrungsaufschichtung handelt mit möglicherweise erheblichen Folgen, bleibt den Beteiligten verborgen. In den Lebensgeschichten, die unter dem Phänomen ‚Umdeutung’ zusammengefasst sind, wird die biographische Kontinuität durch die Brustkrebserkrankung unterbrochen; die Brustkrebserkrankung initiiert Veränderungen im Sinne von Umdeutungen. Diese nehmen in den jeweiligen Lebensgeschichten unterschiedliche Gestalt an. Für eine Frau stellt die Brustkrebserkrankung z. B. den Ausgangspunkt eines emanzipatorischen Prozesses dar. Eine andere Frau entwickelt vor dem Hintergrund der Brustkrebsdiagnose einen neuen Lebensentwurf, der vor allem eine veränderte Haltung gegenüber Beziehungen zu Männern impliziert. Der Umdeutungsprozess einer weiteren Interviewpartnerin betrifft die Unvereinbarkeit zwischen biographischer Konstruktion und schulmedizinischer Behandlungsbedürftigkeit. In einem langen (Aneignungs-)Prozess lernt die Protagonistin, Hilfe aus dem Medizinsystem annehmen zu können. Die biographischen Erzählungen, die zum Phänomen ‚Überformung’ gehören, sind dadurch gekennzeichnet, dass eigene Optionen der Lebensgestaltung und Lebensführung der Protagonistinnen hinter dem prozessualen, professionell gesteuerten Geschehen einer Brustkrebsbehandlung zurück treten. Der Ausdruck von Überformung ist in den jeweiligen Erzählungen wiederum unterschiedlich. Individuelle Handlungsoptionen und persönliche Konzepte der Frauen werden im Prozess der Brustkrebsbehandlung immer stärker eingeschränkt. Aus den lebensgeschichtlichen Thematisierungen geht hervor, dass Verunsicherung, zunehmende Fremdbestimmtheit sowie eine Destabilisierung der Lebenssituationen der betroffenen Frauen Folgen sein können. Für diesen Aufsatz ist das Phänomen ‚Eigen-Setzung’ besonders aufschlussreich und wird in seinen Dimensionierungen entlang zweier Fallvorstellungen eingeführt. Eigen-Setzungen als Ausdruck von Aneignungsprozessen und Selbst-Sorge an Brustkrebs erkrankter Frauen Erste Fallgeschichte Frau Köhler: Abgrenzung als Ausdruck von Eigen-Setzung Frau Köhler wurde 1928 geboren, zum Interviewzeitpunkt ist sie 75 Jahre alt. 1978 wurde bei Frau Köhler eine Brustkrebserkrankung diagnostiziert, 2003 wurde diese Diagnose ein weiteres Mal gestellt. Frau Köhler gestaltet ihre autobiographische Erzählung als ausführliche, lebhafte Schilderung ihrer Lebensgeschichte, in die eingebettet über die Brustkrebserkrankungen erzählt wird. Frau Köhler präsentiert sich in jeder Lebensphase und -lage als reflektierte, entscheidungsfreudige und kompetente Person mit eigenen Plänen, Zielen und Vorstellungen. Sie schildert Situationen im Zusammenhang mit Diagnose und Behandlung ihrer ersten Brustkrebserkrankung wie folgt. Erste Brustkrebserkrankung Ja, ich hab, ich war in B.-Stadt und hab mir meine linke Brust amputieren lassen, den Knoten hab ich ja selber entdeckt im Urlaub, und zwar beim Lesen. (…) Die Ärztin sagte auch: „Frau Köhler, das muss aber sofort operiert werden.“ Und dann habe ich gesagt: „Ist in Ordnung. Ich hab meine Tasche schon

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dabei.“ Und da hat sie gesagt: „Was, das habe ich aber auch noch nicht erlebt. Ehrlich?“ „Ja“, habe ich gesagt, „ich bleib gleich da.“ Der, der Arzt, der operieren sollte, hat gesagt: „Äh, das schneiden wir einfach raus.“ Und da hab ich gesagt: „Nee, das schneiden wir nicht raus. Man weiß ja gar nicht, ob das Ding Füße hat. Das, das, das geht doch nicht. Also ich möchte lieber, dass da richtig alles wegkommt. Da bin ich sicher, dass das gut wird.“ Und das haben die dann auch gemacht. Und dann hat die mir natürlich nach der OP gesagt: „Ja und jetzt Bestrahlung und Chemotherapie“. Hab ich gesagt: „Keine Bestrahlung, keine Chemotherapie.“ Und dann hat sie gesagt: „Aber wieso denn? Das, das muss sein, Sie wissen ja gar nicht, was Sie damit auf sich nehmen.“ Und dann hab ich gesagt: Ich möchte gar nichts machen. „Aber Sie wissen gar nicht, ob Sie dann in einem Jahr noch leben.“ Und dann hab ich gesagt, „und wenn ich dieses eine Jahr noch wirklich leb, und ich kann mit meinem Ton noch was machen, da hab ich gesagt: „Dann will ich lieber noch ein Jahr und das aber gut und glücklich.“ Und dann hat der Chefarzt mich daraufhin noch mal angesprochen und dann hat er gesagt: „Ich habe gehört, Sie wollen keine Bestrahlung und keine Chemotherapie.“ Da hab ich gesagt: „Nee, können Sie das verstehen?“ Sagte er: „Ja, machen Sie mal so weiter.“5 (441-489) Frau Köhler geht auf bestimmte Behandlungsvorschläge der Ärztinnen und Ärzte ein, andere lehnt sie entschieden ab. Grundlage des Entscheidungsprozesses sind für Frau Köhler die Fragen nach Heilung und Lebensqualität. Erzählerisch stellt Frau Köhler einen autonomen Entscheidungsprozess dar, sie nimmt eine Abgrenzungshaltung gegenüber den Behandlungsvorschlägen ein. Brustkrebs wird ein Teil des Lebens, übernimmt aber nicht ausschließlich die Gestaltungsfunktion. Frau Köhler übernimmt die Wissensordnungen der Medizin nicht stillschweigend, sondern setzt eigene Konzepte dagegen. Die Erkrankung sieht sie als einen Teil von sich an – in ihrer Formulierung „Man weiß ja gar nicht, ob das Ding Füße hat“ scheint auf, dass Frau Köhler sich eine eigene Vorstellung ihres Tumors gebildet hat und sie vor diesem Hintergrund ein Behandlungsverfahren anstrebt, von dem sie sich Heilung verspricht. Grundlage des Entscheidungsprozesses ist für Frau Köhler die eigene bildhafte Vorstellung des Tumors sowie – prospektiv – die Frage nach der Lebensqualität. Sie stellt sich vor, dass der Tumor möglicherweise ‚Füße’ hat, und geht davon aus, dass eine weiträumige Entfernung des Tumors die sicherste Behandlungsmöglichkeit darstellt. Des Weiteren wägt sie weitere Behandlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund ab, wie weitgehend diese ihre Tätigkeit als Töpferin beeinträchtigen würden. Diese Interviewpassage kann als Erzählung über eine Aneignungsleistung im Kontext der Brustkrebserkrankung ausgelegt werden. Frau Köhler verfolgt auf dieser Grundlage ihr persönliches Konzept des Behandlungsprozesses, das auf eigenen Deutungsmustern basiert. Handlungs- und Entscheidungsautonomie – biographisch fest verankert – bleiben gewahrt. An späterer Stelle des Interviews erzählt Frau Köhler von ihrer zweiten Brustkrebserkrankung. Zweite Brustkrebserkrankung Am nächsten Morgen hab ich gesagt: „So und kann ich jetzt den Chefarzt sprechen? Ich möchte gern wissen, was, was damit los ist.“ Und da haben die gesagt: „Nee, also nur die Stationsärztin ist da und der Stationsarzt.“ „Nein“, habe ich gesagt, „ich möchte bitte den Chefarzt sprechen.“ Das hab ich dann auch zustande gebracht innerhalb von zwei Stunden und bin dann auch im Nachthemd und im Schlafanzug gerufen worden, im Nachthemd und im Bademantel, Entschuldigung ((lacht kurz)) und da haben da so vier, fünf Ärzte gestanden und vorne mittendrin der Chefarzt Dr. I. und da hab ich mein Anliegen 5

Die Hervorhebungen markieren Transkriptionsnotationen, es handelt sich um besonders betonte Worte.

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vorgetragen, also ich möchte mit ihm darüber sprechen, was er machen will und er hat das untersuchen lassen von einem anderen Arzt, von einem jüngeren und da hat er gesagt: „Ja, wir werden das rausnehmen und Lymphknoten auch“ und dann habe ich gesagt: „Wieso Lymphknoten?“ Und da hat er gesagt: „Vorsichtshalber.“ Da hab ich gesagt: „Nee, das machen wir nicht.“ Und da hat er gesagt: „Warum nicht?“ Und dann hab ich ihm das gesagt, in B.-Stadt haben wir darüber gesprochen. Die haben auch gedacht, Lymphknoten rausnehmen und ich hab gesagt: „Nein, die brauch ich noch. Ich mach Tonarbeiten. Dann kriege ich einen kranken Arm, einen dicken, und dann kann ich nichts mehr machen. Ich brauch meine Lymphknoten.“ Und die haben das akzeptiert. „Ja, aber bei mir ist das nicht so. Ich operiere das raus – den Knoten und die Lymphknoten.“ Da hab ich gesagt: „Aber das können Sie doch mit mir nicht machen, wenn ich das nicht will.“ Da hat er gesagt: „Das ist mein Prinzip.“ Und dann hab ich gesagt: „Dann machen Sie mit Ihrem Prinzip, was Sie wollen, denn gehe ich wieder nach Haus.“ (698-732) Frau Köhler fordert eine Chefarztkonsultation, gleichwohl sie nicht privat versichert ist. Als diese organisiert ist, wird sie im Bademantel zur Untersuchung gerufen. Mehrere Ärzte sind anwesend, der Chefarzt delegiert die Untersuchung der Brust von Frau Köhler an einen jüngeren Kollegen. Interaktionsanalytisch handelt es sich hier um symbolisierte Hierarchie, sowohl zwischen den Ärzten als auch zwischen den Ärzten und Frau Köhler. Frau Köhler stellt ihre Vorstellung der Behandlung vor, erhält aber eine Absage. Das Prinzip des Chefarztes beruht auf einem anderen Vorgehen. In dem von Frau Köhler erzählten Dialog spielt der Chefarzt seine Macht aus, indem er daran festhält, auf seine Weise zu operieren. Dieses Vorhaben wird nicht fachlich begründet, sondern über die Machtposition argumentiert. Auf den Einwand von Frau Köhler, sie könne doch nicht gegen ihren Willen auf eine bestimmte Weise operiert werden, reagiert der Mediziner wiederum mit einer Machtpose („Das ist mein Prinzip“). Frau Köhler entschließt sich, die Klinik zu verlassen. Frau Köhler beruft sich auf ihren Umgang mit der ersten Brustkrebsdiagnose. Auch damals hatte sie einen eigenen Entwurf einer für sie geeigneten Therapie vorgehalten, der teilweise im Kontrast zu den Vorschlägen der Medizin stand. Da sie viele Jahre beschwerdefrei überlebt hatte, liegt es für Frau Köhler nahe, auf diese biographischen Erfahrungen zu rekurrieren. Diesmal wird in der zunächst aufgesuchten Klinik ihre Vorstellung von Behandlung des Brustkrebses kategorisch abgelehnt. Sie muss den Eingriff in einem anderen Krankenhaus durchführen lassen. Frau Köhler nimmt diesen Umstand in Kauf, sie unterwirft sich nicht der medizinischen (in diesem Fall als eminenzbasiert dargestellten) Expertise und lässt sich davon nicht verunsichern. Frau Köhler entwirft sich in ihrer Erzählung als handlungsmächtige, autonom gestaltende Frau. Diese Eigenschaften bewahrt sie im Verlauf der beiden Brustkrebserkrankungen. Im Medizinsystem führt ihre Haltung zu Irritationen, der die Professionellen in der Schilderung von Frau Köhler im Kontext der zweiten Brustkrebserkrankung mit Dominanz begegnen. Von Versuchen gegenseitiger Annäherungen an die jeweiligen Positionen von Frau Köhler und den Ärzten wird nichts erzählt. Die ‚Störung’ wird mit Machtdemonstration beantwortet. Zweite Fallgeschichte Frau Balzer: Befremdung als Ausdruck von Eigen-Setzung Frau Balzer wurde 1929 geboren, zum Zeitpunkt des Interviews ist sie 74 Jahre alt. Die Brustkrebsdiagnose wurde 1984 im Rahmen einer Krebsfrüherkennungsuntersuchung gestellt.

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Frau Balzer beginnt ihre biographische Erzählung, indem sie das Thema ihrer ersten Ehe aufgreift. Sie berichtet über verschiedene Erwerbsarbeitstätigkeiten. Als sie von ihrer Arbeitsstelle im öffentlichen Dienst erzählt, wird die Geschichte der Brustkrebsdiagnose eingewoben. Diagnose Brustkrebs Da sagte ich morgens früh zu meinen beiden Chefs, kurz nach acht, „jetzt geh ich mal schnell und fahre mal schnell zur Vorsorge und denn koch ich gleich Kaffee“. … . Na ja. Ich war, ich war als junge Frau schon ein paar Mal an der Brust operiert, an beiden Seiten. Aber jedes Mal waren es gutartige, Gott, was weiß ich, nicht? Und so ging ich hin zu dieser Vorsorgeuntersuchung und der sagt zu mir, aus heiterem Himmel, der Arzt hier ist bekannt hier, ein widerlicher Mensch, „Sie haben Krebs an beiden Seiten“. „Nein, nein“, sagte ich, „also, Sie sehen die Narben“. Ich sag: „Da die Narben und da die Narben“. „Reden Sie nicht“ hat der gesagt, „Sie haben Krebs an beiden Seiten“. … Ja, und denn zum Hausarzt. Na, der sagte natürlich: „Ja, sofort krank, sie sind ja sofort krank“. Mir fehlte ja nichts, mir fehlte kein – ich hatte keinen Schmerz und nichts. Nur war ich sofort krank. (54-916 – Zitat gekürzt) Frau Balzer eröffnet ihre Krankheitsgeschichte im Berufsalltag, in einer alltäglichen Situation. Die ‚Vorsorgeuntersuchung’7 wird beiläufig, nebenbei erledigt, es ist ein Routine-Geschehen. Betont wird diese Situationsbeschreibung durch die Ankündigung Frau Balzers, im Anschluss an den Arztbesuch Kaffee kochen zu wollen. Die Erzählerin erwartet keine weiteren Unterbrechungen ihres Arbeitsalltags. Als junge Frau wurde Frau Balzer bereits an den Brüsten operiert. Worum es sich genau handelte, formuliert oder weiß sie nicht; die Unterscheidung zwischen gut- oder bösartig ist die entscheidende Kategorie für sie in diesem Moment und nicht die exakte Diagnose. Frau Balzer geht zu einem Arzt, von dem sie sagt, er sei ein widerlicher Mensch. Dies könnte Ausdruck davon sein, wie wenig sie damit gerechnet hat, dass eine Diagnose gestellt wird – zur ‚Vorsorge’ begnügt sie sich mit einem ‚Techniker’, bei Krankheit reicht dies nicht aus. Es folgt in der Erzählung ein eindrucksvoller Dialog, indem sich die Beteiligten wechselseitig die Kompetenz aberkennen: Frau Balzer spricht dem Arzt das Sehen ab, der Arzt spricht Frau Balzer das Reden ab. Die Diskrepanz zwischen Befund und Befinden, zwischen Diagnose und leiblichem Erleben ist offenkundig: „Mir fehlte ja nichts, mir fehlte kein – ich hatte keinen Schmerz und nichts. Nur war ich sofort krank“. Krankheit wird festgestellt, ohne dass es einen entsprechenden gespürten ‚Befund’ gibt. Die Brustkrebserkrankung muss ‚verschrieben’ werden, beruht allein auf externer Definition. Diagnose- und Behandlungsprozess erscheinen als Befremdung. Unmittelbare Konsequenz ist die Krankschreibung, der (häufig gut gemeinte) Ausschluss aus dem Arbeitsprozess8. Frau Balzer erzählt im weiteren Verlauf ihrer biographischen Erzählung mit lebendiger Empörung von den Zuständen im Krankenhaus, in das sie von ihrem Hausarzt eingewiesen wird. Ob Frau Balzer selbst von den Situationen, die sie schildert, betroffen war, wird nicht 6

Diese Ziffern beziehen sich auf die Zeilennummerierung des Interviewzitates im Transkript. Die sprachliche Indifferenz zwischen Vorsorge und Früherkennung ist (leider) weit verbreitet und folgenreich. Der Begriff der Vorsorge suggeriert, dass eine Untersuchung das Entstehen von Krebs vermeiden kann. Früherkennung hingegen hat nicht das Ziel, die Erkrankung an Krebs zu verhindern, sondern einen bestehenden Tumor so früh wie möglich zu entdecken. Diese Verwechslung führt u. a. dazu, dass Menschen, die stets zur ‚Vorsorge’ gegangen sind, möglicherweise sehr überrascht sind, wenn eine Krebserkrankung ‚trotzdem’ diagnostiziert wird. Es gibt weitere Folgen, z. B. im Bereich der Sekundärprävention, die an dieser Stelle nicht ausgeführt werden können (vgl. z. B. Babitsch 2005). 8 Die Auslegung der Interview-Sequenzen könnte weit elaborierter erfolgen. Im Kontext dieses Aufsatzes wird die Analyse themenzentriert sowie zusammenfassend vorgestellt. 7

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ersichtlich, was mit ihr passiert, bleibt gänzlich unerwähnt. An einer späteren Stelle im Interview erzählt Frau Balzer, dass sie mit einem Gaze-Verband auf dem Krankenhausflur gesessen hat. Nur darüber wird bekannt, dass sie operiert wurde. Nach der Operation kehrt Frau Balzer nach Hause zurück. Sie erörtert keine medizinischen Details, wie die Nachbehandlung aussieht oder dergleichen, sondern thematisiert ihre Brustkrebserkrankung weiterhin konsequent auf der sozialen Ebene, medizinische Inhalte werden nicht formuliert. Definition von Kranksein Und denn (...) Na ja, und denn kam ich hier nach Hause, ja, und denn schlug alles so über mir zusammen. Krank war ich, arbeiten konnt ich nicht, mein Lebensgefährte war weg, meine Schwester war krank, mein Vater jaulte – mit über 80. (240-246) Die Brustkrebserkrankung führt dazu, dass Frau Balzer sich nicht mehr um alle(s) kümmern kann, in ihrem schwierigen Sozialgefüge kann sie ihre Funktionen nicht mehr aufrechterhalten. Brustkrebs ist für Frau Balzer vielmehr eine soziale als eine medizinische Diagnose und wird im biographischen Interview als ein soziales Phänomen geschildert. Frau Balzer hat das medizinische Konzept der Diagnose in ihrer Erzählung nicht aufgegriffen, ihre Geschichte ist eine Sozialgeschichte des Krebses. Es gibt für sie bedeutungsvolle soziale Rahmen und es gibt auf der anderen Seite die medizinische Welt, die nicht erzählrelevant geworden ist. Zugespitzt könnten diese Welten als Parallelwelten bezeichnet werden, zwischen denen es funktionale Synchronisationsprozesse gibt (z. B. die Operation). Diese parallelen Welten berühren sich aber nicht weiter. Die Eigen-Setzung von Frau Balzer findet Ausdruck in ihrer besonderen Weise der Autonomieerhaltung: Sie bleibt dem medizinischen System fremd. Die Brustkrebserkrankung wird für sie auf der sozialen Ebene wirksam und konsequent in sozialen Rahmungen thematisiert. Unabhängig vom medizinischen ExpertInnensystem unter Wahrung eigener Definitionsmacht stellt sie auch ihre Gesundung fest: „Und dass ich da 84 denn plötzlich den Krebs hatte, da kann ich so im Nachhinein sagen, das musste ja kommen. Aber nach fünf Jahren hab ich so für mich gesagt, ich bin jetzt gesund“. (583/584) In den beiden vorgestellten Lebensgeschichten, die das Phänomen Eigen-Setzung beschreiben, bestehen Abgrenzungshaltungen (die in sehr unterschiedlicher Gestalt auftreten können) von an Brustkrebs erkrankten Frauen im Diagnose- und Behandlungsprozess. Die Autonomie der Lebensführung bleibt gewahrt. In den autobiographischen Stegreiferzählungen erzählen die Frauen von Aneignungs- und Abgrenzungsprozessen, in denen sie sich selbst auf ganz unterschiedliche Weise positionieren (und im Ergebnis durchaus auch die von der Medizin vorgeschlagenen Maßnahmen ganz oder partiell ergreifen). Die Form der Eigen-Setzungen kann sehr unterschiedlich gestaltet sein. In der Erzählung von Frau Köhler illustrieren Erzählpassagen deutlich, dass Frau Köhler biographisch konstant Entscheidungs- und Handlungsautonomie bewahren kann, auch in unterschiedlichen Krankheitsphasen und fortgeschrittenem Lebensalter. Dabei geht es ihr nicht um Machtspiele, sondern um die konsequente Umsetzung dessen, was sie als heilende Interventionen ansieht. Diese Konzepte von Heilung bilden sich auf der Grundlage starker innerer Bilder und der Einbeziehung der Frage nach der Lebensqualität. Frau Balzers Eigen-Setzung scheint in Form von Befremdung und der Ausbildung von ‚Parallel-Welten’ auf. Sie deutet Erkrankungsprozesse

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durchweg auf der sozialen Ebene. Die Berührung mit dem Medizinsystem ist flüchtig und fragmentarisch. In beiden vorgestellten Lebensgeschichten wird deutlich, dass Abgrenzungshaltungen gegenüber dem medizinischen System nicht zu einer Verschlechterung gesundheitlicher Situationen und Lebenslagen der Frauen geführt haben. Vielmehr wurden durch die Formen der Autonomieerhaltung wichtige Gestaltungsräume eröffnet, die Aneignungsleistungen im Kontext von Krankheits- und Gesundungsprozessen möglich gemacht haben. Frau Köhler bleibt Akteurin im Kontext ihrer Brustkrebserkrankung, indem sie aktiv eigene Heilungsmuster generiert und konsequent dafür sorgt, dass diese umgesetzt werden. Frau Balzer bleibt dem Medizinsystem fremd. Ihre Rezeption der Brustkrebserkrankung vollzieht sie in sozialen Bereichen. Frau Balzers Geschichte kann als Sozialgeschichte einer Krebserkrankung verstanden werden. Dadurch wird es ihr u. a. möglich, sich selbst als geheilt zu erklären. In allen Lebensgeschichten, die zum Phänomen Eigen-Setzung gehören, wird Distanz zu institutionalisierten Wissenssystemen und Ablaufmustern geschaffen und damit eröffnen sich die Frauen notwendige Handlungsräume. In Institutionen führt das Phänomen ‚Eigen-Setzung’ oft zu Irritationen. Eigen-Setzung ist aber, wie in den Lebensgeschichten gezeigt wurde, nicht in erster Linie Ausdruck von Störungen (der Beziehungen, der institutionellen Abläufe), sondern Ausdruck von Aneignung vor dem Hintergrund biographischer Erfahrungsaufschichtungen und biographischen Wissens und damit außerordentlich bedeutsam für Gesundungsprozesse. Die soziale Konstruktion von Krankheit: professionelle Praxis als Aushandlungen von Wissensordnungen Die biographischen Beschreibungen der an Brustkrebs erkrankten Frauen weisen in ihren inhaltlichen Aussagen und Herausforderungen weit über das Themenfeld der Brustkrebsbehandlung hinaus. Sie markieren – wenn auch zentral aus der Perspektive biographischer Selbstthematisierungen – eindrücklich die Bedeutung der interaktiven Herstellungspraxis einer „gemeinsamen“ Wirklichkeitskonstruktion von Krankheit in der Arzt-Patientin-Beziehung. Hier geht es keineswegs nur um eine Informationsübermittlung ärztlichen Fach-Wissens an die (potentiellen) Patientinnen, auch nicht um eine aus ärztlicher Perspektive notwendige Entwicklung einer Compliance oder um die Abstimmung eines „evidenzbasierten“ Therapievorschlags. Die Situation der Arzt-Patientin-Interaktion kann viel komplexer als grundständige Aushandlung von Wissensordnungen betrachtet werden. Nicht einzelne Informationsübermittlungen stehen zur Disposition, sondern grundständige Konstruktionen über die „Wirklichkeit“ von Krankheit müssen verhandelt werden. Einfacher formuliert: Die mit einer Krebsdiagnose konfrontierte Frau muss zur Patientin gemacht werden bzw. sie sollte selbst diese Haltung und die in ihr liegende Rationalität übernehmen. Vordergründig geht es aus der ärztlichen Perspektive durchaus um ein ernst gemeintes sinnvolles Hilfsangebot und aus den Blickwinkeln der Frauen liegen (existenzielle) Verunsicherungen vor und damit ein Bedürfnis nach professioneller Expertise und Hilfe. Dennoch zeigt sich in allen Interviews, dass dieser Interaktionsprozess sich keineswegs einfach oder gar selbstredend ergibt. Zu sehr betrachten beide Parteien, die Professionellen wie die erkrankten Frauen, die Situation aus einer je ganz eigenen Wirklichkeitskonstruktion. Aus der Sicht der Medizin gibt es – so machen es die Selbstbeschreibungen der Frauen indirekt deutlich – die Konstruktion des richtigen (evidenzbasierten) Wissens, die Vorstellung vom Notfall, der sofortiger Intervention bedarf und der selbstredenden Einsicht der

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Frauen in die Notwendigkeit der Verfahren (Compliance). Aus der Sicht der Frauen zeigt sich die aktuelle gesundheitliche Situation nicht als losgelöste Krise, sondern wird sofort vor dem Hintergrund eigener biographischer Erfahrungen, ihres Selbst- und Weltbezugs gedeutet, bewertet und evaluiert. Die in diesem Beitrag vorgestellte Gruppe von Frauen orientiert sich gegenüber Krankheit und medizinischer Praxis in einer Weise, die als „Konstruktion des eigenen Spiels“ umschrieben werden könnte. Ein Sachverhalt, der sich gerade in dem Bemühen, eine Passung der Wissensordnungen herzustellen, als außerordentlich provokativ darstellt und deshalb weiter betrachtet werden kann. Erst einmal gilt es allerdings festzuhalten, dass es sich bei der professionellen Begegnung zwischen Ärzten und den an Brustkrebs erkrankten Frauen um eine soziale Herstellungspraxis einer Krankheitswirklichkeit handelt, in der Wissensordnungen als implizite Konstruktionen von Krankheit wirksam auf einander abgestimmt werden (müssen). Dieser Sachverhalt verbleibt allerdings den beteiligten AkteurInnen als implizite Dimensionen sozialer Praxis verborgen. Er darf nicht benannt werden, weil er die soziale Situation des professionellen Arrangements gefährden würde. Die eigentliche Evidenz in der ärztlichen Praxis liegt nicht in dem medizinischen Wissen, sondern in der „Schweigsamkeit des Sozialen“, in der Verborgenheit der differenten Konstruktionen von Krankheit und der hintergründigen Passung der Wissensordnungen. Die Wirksamkeit dieser Praxen wird allerdings deutlich: Es wird eine (neue) soziale Ordnung generiert. Dabei ist explizit hervorzuheben, dass die Abstimmung der Wissensordnungen nicht als gleichberechtigte Aushandlung zu verstehen ist, sondern einer Machtdifferenz unterliegt: In aller Regel geht es bei der Passung der Wissensordnungen insbesondere um die Anpassung der Sinnorientierungen der Patientinnen an die Wissenssysteme der Experten. Damit entsteht eine aus der medizinischen Perspektive bisher nicht wahrgenommene problematische Situation für die erkrankten Frauen. Die Diagnose, die Macht ärztlichen Wissens und die normative Kraft der gebotenen Selbstsorge verstärken die Erfahrung, keinen freien Verfügungsraum für lebensgeschichtliche Belange zu haben. Die vermeintlich gute Absicht der Medizin, über ein evidenzbasiertes Wissen eine optimale Therapie zu ermöglichen, führt hintergründig zu Formen der Deautonomisierung der Frauen. Einzelne Entscheidungen über bestimmte Teilbereiche des operativen Vorgehens lösen die grundlegenden Widersprüche nicht auf. Verbleibt somit der mögliche Verlust von Autonomie in der professionellen medizinischen Situation ein nicht abzuwendendes (psychosoziales) Restrisiko für die erforderte Compliance an die evidenzbasierten therapeutischen Vorgaben? Die in diesem Beitrag vorgestellten Interviews können z.T. als (provokative) Herausforderungen angesehen werden und dies in einem doppelten Sinne: für die konkrete medizinische Behandlung an Brustkrebs erkrankter Frauen sowie für theoretische Überlegungen zur Strukturiertheit professioneller Praxis. Bedeutsam an den Interviews ist, dass sie gerade der hintergründigen Aufforderung zu einer Passung der Wissensordnungen nicht folgen. Die hier vorgestellten biographischen Selbstthematisierungen verweisen auf eine eigene Konstruktion von Krankheit. Die biographischen Erfahrungen und Sinnorientierungen werden zur wesentlichen Quelle von Bedeutungszuweisungen über die eigene Lebenssituation. Diese Bezugnahme auf die eigenen biographischen Wissensformen ist für die Frauen so „evident“, dass die Macht des medizinischen Wissens diese nicht (beliebig) überformen kann. Hervorzuheben ist, dass es sich bei diesen Frauen nicht um Personen aus bildungsstarken und ökonomisch gut situierten Lebensmilieus handelt, denen über die Aneignung von (Fach-)Wissen eine gewisse habituelle Wehrhaftigkeit zu unterstellen wäre. Es handelt sich auch nicht um biographische Selbstentwürfe, die durch Abgrenzungs- oder Abwehrstrategien gegenüber einer (Schul-)Medizin struk-

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turiert sind. Sowohl die lebensgeschichtliche Erzählung von Frau Balzer wie von Frau Köhler sind durch (relative) Einlassungen auf die medizinischen Behandlungsvorschläge gekennzeichnet. Das Eigensinnige liegt nicht so sehr in ihren Handlungen, sondern in der Aufrechterhaltung ihrer Konstruktionsleistung von Welt und Krankheit und damit ein „autonomer“ Rückbezug auf eine eigene „Wissensordnung“. Dabei kann das Besondere in der Geschichte von Frau Köhler in der Klarheit des Wissens darüber, was sie „will“ und z.T. in Kontrast zur Medizin für therapeutisch „richtig findet“, gesehen werden. In der biographischen Selbstthematisierung von Frau Balzer findet sich keine Abgrenzung zum Behandlungsverlauf, aber ihre Sinnorientierung bezieht sich weniger auf die Konstruktion „Patientin“, sondern auf andere Themen ( z. B. Arbeit, soziales Eingebundensein, notwendige Unterstützung anderer Menschen). Diese kleinen Differenzen in den Wissensordnungen, also die je eigenen Konstruktionen von „Welt“, eröffnen für die beiden Frauen bedeutsame Freiräume gegenüber der Medizin. Die „Kontrastierungen“ der medizinischen Wissensordnungen sind nicht als Verweigerung einer Compliance zu werten, die etwa den medizinischen Erfolg in Frage stellt. Vielmehr zeigt sich, dass diese Autonomie in den beiden dargestellten Fallgeschichten zu einer besseren Krankheitsbewältigung und auch zu einer Verbesserung der gesundheitlichen Situationen beigetragen hat. Auf einer wissenstheoretischen Ebene lässt sich in Anlehnung an die Ausführungen Michel Foucaults zu den „unterdrückten Wissensarten“ (vgl. Foucault 1978; Kögler 2004; Hanses 2007b) vor allem der Begriff des „lokalen Wissens“ nutzbar machen. Der „klinische Blick“ (Foucault 1976) als eine durch die historische Entwicklung der Institutionalisierung der Medizin entstandene diskursive Ausrichtung auf den kranken Körper kann ebenfalls als Wahrnehmungsorientierung und Wirklichkeitsgenerator der heutigen wissenschaftlichen und professionellen Praxis der Medizin beschrieben werden. Das Wissen, über das die beiden hier vorgestellten Frauen „verfügen“, besitzt nicht deshalb das Potenzial des Eigensinns, weil es sich um biographisches Wissen handelt. Die Biographie als soziale „Wissensform“ über die eigene Identität, die sich erzähltheoretisch immer wieder in der biographischen Gesamtformung (vgl. Schütze 1984) als Konstruktion über die „Einheit“ und Kohärenz des eigenen Lebens aus der Gegenwartperspektive herstellt, ist immer Teil der eigenen „Anpassung“ an die Sozialwelt. Biographie ist somit nicht als alleiniger Verweis auf das Eigene, Erstpersönliche, das Subjektive zu sehen, sondern immer auch als die Hervorbringung eines sozialen Akteurs, der das Eigene vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wissens produziert. Deshalb (re-)produziert das biographische Erzählen auch die diskursiven, sozialen Ordnungen (vgl. Schäfer/Völter 2005). Die an Brustkrebs erkrankten Frauen beschreiben in ihren biographischen Erzählungen somit nicht nur ihre eigenen (dramatischen) Erfahrungen, sondern sie sind mit einem großen sozialem Wissen ausgestattet und sind kundig darüber, welche sozialen Erwartungsstrukturen erwartet werden und welche diskursiven Konstruktionen von Krankheit gültig sind. Angesichts dieser diskursiven Überformungen von Biographie erweist sich der oben eingeführte Begriff des „lokalen Wissens“ von Michel Foucault als eine analytische Ressource, um das Phänomen des Eigensinns verstehbar werden zu lassen. Ohne dass Foucault die Konzepte der „unterdrückten Wissensarten“ oder den Begriff des „lokalen Wissens“ theoretisch fundiert hat, soll mit ihnen aber gerade auf jene Teile des eigenen Wissens aufmerksam gemacht werden, die nicht durch raum- und zeitüberspannende diskursive Wissensformen geprägt sind. Das lokale Wissen kann biographietheoretisch als lebensgeschichtliches Wissen beschrieben werden, das sich nicht in den biographischen Gesamtformungen auflöst, es hat auch in der Biographie eine lokale, spontane, leibliche Qualität, die sich in Reflexivität nicht gänzlich auflöst, sondern als

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hintergründige „eigensinnige“ Ressource verbleibt (vgl. Hanses 2008b). In diesem könnte analytisch die professionelle Praxis der Interaktion zwischen Ärzten und erkrankten Frauen nicht nur als Passungsleistungen von Wissensordnungen beschrieben werden, sondern in den vorliegenden Fällen auch als Brechung diskursiven Wissens der Professionellen durch den Rückgriff der Frauen auf „ihr“ lokales und nicht diskursiv überformtes Wissen. Die vorausgegangenen Ausführungen mögen deutlich gemacht haben, dass Krankheit nicht eine Frage des „klinischen Blicks“ allein sein kann. Die Frage, was Krankheit zu sein hat, ist Teil grundlegender gesellschaftlicher, historischer und damit auch wissenschaftlicher Konstruktionen. Und dies wird – wenn auch nicht explizit reflexiv – dennoch hintergründig hartnäckig in den Interaktionen professioneller Begegnungen „verhandelt“ und versucht zu einer (gemeinsamen) Wirklichkeitskonstruktion zu formieren. Dabei müssen die biographischen Perspektiven auf die Wissensordnungen der institutionalisierten Wissensformationen abgestimmt werden, mit unterschiedlichen Erfolgen, wie das dargestellte Fallmaterial hat deutlich machen können. Die biographischen Konstruktionen von Krankheit haben dabei durchaus ihre je eigene Wirklichkeitskonstruktion und vor dem Hintergrund lokaler Wissensformen der Subjekte eine eigensinnige Wehrhaftigkeit. Die Studie macht deutlich, dass klassische Konzepte expertokratischer Perspektiven auf professionelles Handeln auch in der Medizin nicht wirklich produktiv zu halten sind. Zwischen wissenschaftlichem Wissen vom kranken Körper, über evidenzbasierte Sicherung wirksamer Maßnahmen und der Methodenkompetenz in Diagnostik und Verfahren der Behandlung bedarf es einer neuen Perspektive: eine „institutionelle Selbstreflexivität“ (vgl. Alheit/Hanses 2004) über professionelle Praxen und ihrer Macht durch die Wechselbeziehungen von Wissensordnungen (vgl. Hanses 2008a). Die professionelle Situation ist eben nicht die ‘Unschuld vom Lande’, sondern sozialer Herstellungsprozess. Dieses zu missachten führt nicht nur dazu, dass die gut gemeinte Hilfe zu einem Akt machtvollen Zugriffs auf die Autonomie des Subjekts führt, es konterkariert ggf. auch die eigenen therapeutischen Bemühungen. Compliance kann eben nur begrenzt als eine Metapher für sinnvolle Hilfe betrachtet werden. Es bedarf gleichzeitig der notwendigen Perspektive auf die Frage, wie eine zu große Anpassung an die professionellen Handlungsrationalitäten vermieden werden kann. Die lokalen Wissensformen wären wichtige Quelle für Kritik und Innovation an nichtreflexiven Praxen professionellen Handelns. Literatur Alheit, P./Hanses, A. (2004): Institution und Biographie: Zur Selbstreflexivität personenbezogener Dienstleistungen. In: Hanses, A. (Hrsg.): Biographie und Soziale Arbeit. Institutionelle und biographische Konstruktionen von Wirklichkeit. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 8-28. Babitsch, B. (2005): Soziale Ungleichheit, Geschlecht und Gesundheit. Reihe: Studien zur Gesundheits- und Pflegewissenschaft. Bern: Huber. Berger, P./Luckmann, T. (1999): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M.: Fischer. BKF – Bundeskoordination Frauengesundheit (2003): Frauen, Leben, Gesundheit, Zusammenhänge, Fakten, Tipps. Bremen: Druckerei Stahmann. BKK – Betriebskrankenkassen-Landesverband-Niedersachsen-Bremen (2006): Wegweiser durch strukturierte Handlungsprogramme. Münster: Lexis-Nexis. Foucault, M. (1976): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein. Foucault, M. (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve Verlag.

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„(…) da bin ich eigentlich der Außenseiter, und das ist das Schlimmste.“ Krankheitserleben und -verhalten von chronisch kranken obdachlosen Jugendlichen Uwe Flick/Gundula Röhnsch Einleitung In der sozialen Arbeit ist empirische Forschung häufig mit dem Ziel verbunden, die Lebenssituation sozial benachteiligter Gruppen besser zu verstehen, um daraus zielgruppen- und lebensweisenspezifische Angebote abzuleiten. Die Lebenssituation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ‚auf der Straße’ gilt in verschiedener Hinsicht als problematisch. So haben die Betroffenen in ihren Herkunftsfamilien emotionale Vernachlässigung oder physische und psychische Gewalt erfahren und verfügen meist nur über geringe Chancen auf eine schulische oder berufliche Ausbildung. Zugleich verweigern sie diese oft auch, lehnen herkömmliche Zukunftsentwürfe ab und erregen stattdessen mit einer provokant wirkenden Lebensgestaltung die allgemeine Aufmerksamkeit. Damit werden Straßenjugendliche zu einer besonderen Herausforderung für die Sozialarbeit, insbesondere im Bereich der Jugendhilfe. Dagegen bleiben gesundheitliche Aspekte ihrer Lebenslage, die davon geprägt ist, dass die Betroffenen Gesundheitsrisiken wissentlich eingehen, diesen aber auch ausgesetzt sind, in der öffentlichen Debatte eher unterbeleuchtet. Ausgehend von einer eigenen empirischen Studie, steht daher im Mittelpunkt des folgenden Beitrages die Frage, wie obdachlose Jugendliche, die chronisch krank sind, ihre Beeinträchtigung erleben und mit ihr umgehen. Chronische Krankheiten im Jugendalter Wie in anderen Altersabschnitten sind auch im Jugendalter chronische Krankheiten zunehmend verbreitet. Darunter werden Erkrankungen verstanden, die eine lang anhaltende Dauer – teils nach Monaten, teils nach Jahren berechnet – aufweisen, nicht heilbar und in ihrem Verlauf nicht vorhersehbar sind. Das Spektrum chronischer Krankheiten ist weit gefächert und umfasst eher leichte Beeinträchtigungen wie Allergien und Migräne, ebenso wie schwere Erkrankungen, etwa Diabetes oder Epilepsie (vgl. Hoepner-Stamos 1999, S. 25 f.). Unabhängig davon, dass sich chronische Krankheiten von ihrem Erscheinungsbild und ihren Folgen her sehr oft unterscheiden, haben sie einen erhöhten Bedarf an medizinischer, psychosozialer oder pflegerischer Betreuung gemein und führen dazu, dass der Betroffene in seiner Alltagsgestaltung und der Erfüllung sozialer Rollen eingeschränkt ist. Bestimmte Krankheitsdimensionen, wie die mit der Erkrankung verbundenen funktionellen Einschränkungen, die Fähigkeit zur Ausführung alltäglicher Aktivitäten, die Prognose der Krankheit oder deren Sichtbarkeit, sind es auch, die beeinflussen, wie chronische Erkrankungen erlebt werden – weniger das Krankheitsbild an sich (vgl. Warschburger/Petermann 2002, S. 486). Allgemein lassen sich chronische Krankheiten – deren Beginn, mehr noch aber deren Diagnose – als ein kritisches Lebensereignis verstehen, mit dem einerseits gewisse Dauerbelastungen zusammenhängen, die sich aus dem (unsicheren) Krankheitsverlauf oder aus Behandlungsmaßnahmen ergeben. So erschüttern chronische Erkrankungen, da sie mit Schmerzen und G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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sonstigen Bedrängnissen verbunden sind, den Glauben an die eigene Unverwundbarkeit, der insbesondere unter Jugendlichen verbreitet ist. Diese müssen sich zudem mit der ihnen im Alltag oft entgegengebrachten Vorstellung auseinandersetzen, dass ‚Jugend’ und ‚Gesundheit’ einund dasselbe ist, so dass sich der Einzelne in der Pflicht sieht, seine Krankheit vor Anderen zu erklären (vgl. Ohlbrecht 2006, S. 255). Ausgehend meist vom Zeitpunkt der Diagnose, bedeutet die Erkrankung auch einen radikalen Bruch in der Biographie, der häufig die physische, psychische und soziale Identität des Betroffenen in Frage stellt (vgl. Bury 1982; Corbin/Strauss 2004, S. 98). Die mit chronischen Krankheiten verbundenen oft unumkehrbaren Veränderungen vermitteln ein Bewusstsein von der Endlichkeit des Lebens und lassen den gewohnten Tagesablauf fraglich werden, da dieser bestimmten krankheitsspezifischen Anforderungen angepasst werden muss. So erweist es sich oft als erforderlich, Handlungsroutinen wie die eigene Lebensweise zu ändern und dabei auf lieb gewordene Alltäglichkeiten zu verzichten. Das erleben die Betroffenen häufig als einen Verlust von stützenden Ressourcen im Prozess der Krankheitsbewältigung (Schaeffer 2004, S. 23; vgl. Bury 1982, S. 169). Unter welchen Aspekten chronische Krankheiten vom Einzelnen als belastend erlebt werden und Bewältigungsreaktionen erfordern, ist insofern weniger von ‚objektiven’ Merkmalen der Beeinträchtigung abhängig als von der subjektiven Sicht auf das Krankheitsgeschehen. Allgemein ist davon auszugehen, dass sich Belastungen in Abhängigkeit vom Krankheitsverlauf sowie von der jeweiligen Lebensphase ändern. So kommt es im Fall von chronischen Krankheiten immer wieder zu akuten Zuspitzungen des Leidens, die neue Bewältigungsbemühungen erfordern (vgl. Kruse 1997, S. 273; Corbin/Strauss 2004, S. 92). Bewältigung ist hier nicht mit einer ‚Heilung’ oder einer kontinuierlichen Verbesserung der Beeinträchtigung gleichzusetzen, sondern als ein fortwährender Prozess der Auseinandersetzung zu verstehen, der auf das Belastungserleben zurückwirkt und es allenfalls vermag, einzelne belastende Aspekte zu beseitigen. Dabei hat der Einzelne eine im Vergleich zu Akutkrankheiten höhere Verantwortung für den Verlauf seines Leidens. Soll dessen weitere Chronifizierung vermieden und die Lebensqualität des Betroffenen möglichst lange erhalten werden, ist dessen aktive Mitarbeit am Behandlungsprozess erforderlich. Dazu sind insbesondere Jugendliche auf soziale Unterstützung durch Freunde, vor allem aber durch die Eltern angewiesen, die durch ihr Vorbildverhalten beeinflussen, ob sich ihr Kind krankengerecht verhält und dazu die Empfehlungen des Arztes umsetzt oder diesen wenigstens aufsucht (Blanz 1996, S. 135). Wie vorliegende Studien zeigen, ist ein solcher problembezogener Umgang mit chronischen Krankheiten unter Jugendlichen jedoch eher selten, vielmehr neigen diese dazu, ihre Erkrankung – auch durch den Konsum von Alkohol und Drogen – zu verdrängen oder sich aus ihrem sozialen Umfeld zurückzuziehen (vgl. Salewski 2004, S. 46; Lewis/Brown 2002). Chronische Erkrankung im Kontext Jugendobdachlosigkeit Eine solche Problematik trifft Jugendliche in allen Lebenslagen. Sie stellt sich jedoch insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene, die obdachlos sind. Aufgrund von Lebensweise und Lebensbedingungen sind diese sehr anfällig nicht nur für Akuterkrankungen, sondern auch für bestimmte chronische Krankheiten wie Hepatitis C oder Atemwegserkrankungen (vgl. Barry et al. 2002, S. 146 f.). Zugleich ist davon auszugehen, dass die Möglichkeiten, ‚auf der Straße’ mit solchen Beeinträchtigungen ‚angemessen’ umzugehen, sehr begrenzt sind. Obdachlose Jugendliche sind zudem nicht nur der Belastung durch krankheitsspezifische Anforderungen und deren Auswirkungen auf den Alltag ausgesetzt, sie müssen diese in Übereinstimmung bringen mit unterschiedlichen Belastungen, die aus dem Straßenleben selbst folgen.

„(…) da bin ich eigentlich der Außenseiter, und das ist das Schlimmste.“

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Zwar liegen im deutschen Sprachraum einige Studien zur Situation von Jugendlichen vor, die aufgrund z.B. von Obdachlosigkeit oder chronischer Krankheit in einer besonderen Lebenslage sind. Es finden sich jedoch bislang keine Studien, in denen die Themen ‚Jugendobdachlosigkeit’ und ‚chronische Erkrankung’ im Zusammenhang betrachtet werden. Zielsetzung der Studie und methodisches Herangehen Die hier beschriebene empirisch-qualitative Untersuchung wurde über einen Zeitraum von 30 Monaten von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert (FL245-10/1 und FL24510/2 – vgl. Flick/Röhnsch 2008). Sie gliedert sich in zwei Teile: In der ersten Studie wurde die Frage verfolgt, was Jugendliche, die auf der Straße leben, unter Gesundheit verstehen und welches Gesundheitsverhalten sie aufweisen. Zu dem Zweck wurden 24 obdachlose Jugendliche im Alter zwischen 14 und 20 Jahren zu ihren Gesundheitsvorstellungen und -verhaltensweisen interviewt. Zudem wurde die Szene der Jugendlichen an sich beobachtet, um Aussagen über den Umgang mit Gesundheit treffen zu können, wie er sich im Alltag auf der Straße vollzieht (vgl. Flick/Röhnsch 2006a, b, c). Im zweiten Teilprojekt – auf das im Weiteren Bezug genommen wird – verlagerte sich der Fokus auf die spezielle Situation von obdachlosen Jugendlichen, die chronisch krank sind. Ein wesentlicher Aspekt war dabei die Frage, wie Jugendliche ‚auf der Straße’ ihre chronische Erkrankung erleben und mit dieser umgehen und wie sich krankheitsspezifische Bedürfnisse und Anforderungen von ‚außen’, aus der Sicht von Professionellen im Sozial- und Gesundheitswesen, darstellen. In die Untersuchung einbezogen wurden 12 chronisch kranke Jugendliche und junge Erwachsene (je 6 junge Frauen und Männer) im Alter von 14-25 Jahren (vgl. Tab. 1). Tabelle 1: Sample nach Alter und Geschlecht Alter (in Jahren) 14 – 17 18 – 25

Geschlecht Männlich N=6 1 5 21,5

Weiblich N=6 3 3 16,8

Total N = 12 4 8 19,2

Die Mehrzahl unserer Untersuchungsteilnehmer ist als multimorbid anzusehen und leidet unter verschiedenen chronischen Krankheiten unterschiedlichen Schweregrades. Um Zugang zu obdachlosen Jugendlichen zu bekommen und diese befragen zu können, beteiligte sich die Interviewerin an aufsuchender Sozialarbeit ‚auf der Straße’ sowie in einer niedrigschwelligen Anlaufstelle für die Zielgruppe, in der im Weiteren auch die Interviews stattfanden. Speziell chronisch kranke Straßenjugendliche wurden über Hinweise der Sozialpädagogen angesprochen, die im Rahmen ihrer Arbeit vor Ort sind und wissen, welche der in der Szene aktuell angetroffenen Jugendlichen chronisch krank sind. Außerdem wurden die Jugendlichen direkt gefragt, ob sie unter bestimmten chronischen Krankheiten leiden. Insgesamt waren die Jugendlichen sehr bereit, an dem Interview teilzunehmen, das teils spontan zustande kam, teils für einen bestimmten Termin verabredet und oft auch eingehalten wurde. Auch die Fähigkeit oder Bereitschaft der Befragten, über ihre Krankheit zu reflektieren und dabei auch ‚heiklen’ Aspekten nicht auszuweichen, kann als hoch betrachtet werden.

154

Uwe Flick/Gundula Röhnsch

Bei der Befragung der Jugendlichen wurden episodische (Leitfaden)-Interviews (Flick 2008, Kap. 3)1 eingesetzt. Um diese auszuwerten, wurden zunächst alle Aussagen zu einem Bereich (z.B. ‚Krankheitserleben’) fallspezifisch thematisch kodiert (Flick 2007). Fallübergreifend wurden dann Vergleichsdimensionen bestimmt, anhand derer sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Interviews zeigen lassen (vgl. Kelle/Kluge 1999, S. 81). Entlang dieser Dimensionen und ihren Merkmalsausprägungen wurden die Fälle gruppiert und hinsichtlich bestimmter Merkmalskombinationen untersucht. Über Fallkontrastierungen wurden zunächst die Fälle innerhalb einer Gruppierung auf Ähnlichkeiten verglichen. Fallvergleiche zwischen den Gruppen sollten bestehende Unterschiede zwischen diesen verdeutlichen (a.a.O., S. 86 ff.). So entstehende Typen von Deutungs- und Handlungsmustern werden in ihren Sinnzusammenhängen analysiert und interpretiert. Dazu dienten abermals Fallvergleiche und -kontrastierungen innerhalb und zwischen den Gruppen (a.a.O., S. 92). Um Informationen einzuholen über die Rahmenbedingungen, vor denen sich Krankheitserleben und -bewältigung vollziehen, sprachen wir nicht nur mit den Jugendlichen selbst, sondern auch mit Ärzten und Sozialarbeitern, die die Betroffenen im Alltag versorgen. Wir wollten vor allem erfahren, ob solche Mitarbeiter sozialer und gesundheitlicher Einrichtungen chronisch kranke obdachlose Jugendliche als speziell belastet betrachten und wie sie Bewältigungsanforderungen und -vermögen der Betroffenen einschätzen. Mittels Experteninterviews befragten wir insgesamt zwölf dieser Professionellen: 7 Sozialarbeiter und 5 Ärzte. Anteilig verteilten sich die Experten auf die folgenden Einrichtungen und Institutionen: Obdachlosenarzt-Praxen Betreutes Wohnen für Straßenjugendliche, die sich mit Hepatitis C- oder HI-Viren infiziert haben aufsuchende Sozialarbeit/Betreutes Wohnen für Straßenjugendliche allgemein. Die Experteninterviews wurden ebenfalls als Leitfadeninterviews durchgeführt. Der Leitfaden sollte dabei sowohl verhindern, dass sich das Gespräch in Nebensächlichkeiten verliert, als auch die Interviews vergleichbar halten, indem er deren Gesprächsinhalt dimensionierte (vgl. Meuser/Nagel 2002). Damit werden in diesem Projekt verschiedene Perspektiven auf die Lebenssituation und -weise der Jugendlichen trianguliert: Beobachtung und Befragung der Jugendlichen mit der Befragung der Experten sind die drei eingesetzten empirischen Zugänge.2 Ergebnisse der Befragung der Jugendlichen Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse vorgestellt und anschließend unter Einbezug weiterer Fachliteratur diskutiert, die sich aus der Befragung der Jugendlichen ergaben. Im Weiteren werden die Ergebnisse der Experteninterviews dargelegt, bevor letztlich einige praktische Implikationen unserer Studie besprochen werden.

1

Zu dieser Form des Interviews vgl. den Beitrag des Autors im Supplement des vorliegenden Bandes Zum Ansatz der Triangulation vgl. den entsprechenden Beitrag des Autors im Supplement des vorliegenden Bandes

2

155

„(…) da bin ich eigentlich der Außenseiter, und das ist das Schlimmste.“

Wohnsituation der Befragten Bevor darauf eingegangen wird, wie chronisch kranke Straßenjugendliche ihre Beeinträchtigung erleben und mit ihr umgehen, zunächst zu einigen Charakteristika ihrer momentanen Wohnsituation, da diese über die Spielräume mitentscheidet, die dem Einzelnen für seinen Umgang mit der Erkrankung zur Verfügung stehen. Als – aktuelle bzw. kurzfristige – Wohnformen wurden zum Zeitpunkt der Befragung genannt (vgl. Tab. 2): Tabelle 2:

Aktuelle Wohnsituation obdachloser chronisch kranker Jugendlicher

Wohnform

Eigene Wohnung Unterkunft bei Freunden und Bekannten Betreutes Wohnen Unterkunft bei Bezugsperson

Jugendliche Männlich N=6 4 2 -

Weiblich N=6 1 2 2 1

Total N = 12 5 4 2 1

Wie sich zeigt, wird ‚die Straße’ – verstanden als Synonym für gut frequentierte innerstädtische Plätze, überdachte Fußgängerpassagen oder Parkanlagen – für unsere Befragten zu einem wesentlichen Aufenthaltsort vor allem tagsüber. Dass sie auch die Nacht auf der Straße verbringen, stellt für unsere Befragten – anders, als es für Straßenkinder und -jugendliche in Osteuropa oder in anderen armen Ländern oft der Fall ist – eher die Ausnahme dar. Die von uns Befragten verfügen teils sogar über eine eigene Wohnung, wenden sich aber tagsüber dennoch der Straße zu, um sich mit Freunden aus ‚der Szene’ zu treffen und gemeinsam Spaß und Abenteuer zu erleben oder dem Gelderwerb, dem sogen. Schnorren, nachzugehen. Andere unserer Jugendlichen kommen nachts bei Szenenangehörigen unter, die mittlerweile wieder über ein eigenes Quartier verfügen. Solche Unterkünfte sind jedoch oft in einem gesundheitsbedenklichen Zustand, auch mangelt es an einer grundlegenden materiellen Ausstattung, wenn Kochgelegenheiten oder Kühlschränke fehlen. Zudem weiß der Einzelne nie, bei wem genau er nachts unterkommt, schließlich ist die ‚Aufnahmekapazität’ von Szenenangehörigen nicht unerschöpflich und der Andrang auf solche Quartiere groß. Vor allem diese Befragten sind somit wiederholt von einer – kurzfristigen – akuten Obdachlosigkeit bedroht. Diese bewirkt oft, dass sich die chronische Krankheit zuspitzt, wobei zugleich die Möglichkeiten, krankheitsspezifische Bedürfnisse zu berücksichtigen, sehr eingeschränkt sind. „(…) da hat sich das sehr stark bemerkbar gemacht (…) vor allem, da ich auch nicht irgendwie wat machen konnte dagegen, ich konnte nicht zum Arzt, hatte kein Geld dafür, hab’ die ganze Zeit draußen geschlafen, obwohl ‘s geschneit oder geregnet hat.“ (Romy, 14 Jahre)3 Ein Teil unserer Befragten ist demgegenüber in Jugendhilfeeinrichtungen untergekommen – wobei solche Unterkünfte aufgrund des ihnen zugrunde liegenden sozialpädagogischen Betreuungsverhältnisses eher langfristig sind – oder kehrt zum Schlafen ins Elternhaus zurück.

3

Alle Namen unserer Interviewten wurden anonymisiert.

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Uwe Flick/Gundula Röhnsch

Muster von Krankheitserleben und Krankheitsumgang Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, unter welchen Aspekten unsere Untersuchungsteilnehmer ihre chronische Erkrankung als belastend erleben, wie sie sich mit dieser auseinandersetzen und auf welche sozialen Ressourcen sie dabei zurückgreifen können. Es lassen sich drei Deutungs- und Handlungsmuster finden, die sich im Hinblick auf ihre Problemorientierung voneinander unterscheiden. Sich der Krankheit Stellen Für dieses Muster ist es typisch, dass versucht wird, den Krankheitsverlauf durch aktives Handeln positiv zu beeinflussen. Alkohol ist zwar im Alltag von Bedeutung, dient aber nicht dazu, die Krankheit auszuhalten. Das Muster trifft auf einen Jugendlichen zu – den 23-Jährigen Erik, der seit mehreren Jahren unter Neurodermitis leidet. Die Diagnose ‚Neurodermitis’ erweckt zwar in diesem Befragten zunächst Ängste, zugleich jedoch ermöglicht sie es, sich mit der Beeinträchtigung auseinanderzusetzen. Dazu gehört der Austausch mit anderen Betroffenen. Dieser lässt die eigene Krankheit als vorhersehund als beeinflussbar erscheinen, auch, indem Medikamente genau nach ärztlicher Empfehlung eingenommen oder grundlegende Formen der persönlichen Hygiene berücksichtigt werden. Eine anhaltende Belastung stellt die Neurodermitis vor allem aufgrund ihrer sozialen Folgen dar. Während der Jugendliche davon ausgeht, dass er aufgrund seiner Hautrötungen meist im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit steht, sieht er sich zugleich von seinem sozialen Umfeld zum Außenseiter abgestempelt, dem aus dem Weg zu gehen und der an seiner Beeinträchtigung selbst Schuld ist. „(…) wenn man dann sich in die S-Bahn setzt neben einen (...) der guckt natürlich so ‚Was ist das denn, was hat der denn für Krankheiten? (...) Lass mal lieber so. Lass mal woanders hinsetzen.’“ (Erik, 23 Jahre) In den Augen dieses Jugendlichen verhält sich aber nur das ‚bürgerliche’ Umfeld vorurteilsvoll. Für die eigenen Szenenangehörigen hingegen scheinen Hautkrankheiten auf der Straße unvermeidlich zu sein. Der Einzelne erfährt somit von den Anderen kein besonderes Mitleid, jedoch auch keine Ablehnung. Eine gemeinsame Betroffenheit durch (Haut-) Erkrankungen hält nach Meinung dieses Befragten gar die Szene zusammen und grenzt sie von einer feindseligen Umwelt ab. „(…) vielleicht ‘n kleiner Zusammenhalt ist, weil wir eben die gleiche Krankheit haben. (…) ist eben besser so zum Reden, als wenn man mit irgendeinem in der U-Bahn darüber redet, der sich damit nicht auskennt.“ (Erik, 23 Jahre) Verbittern Dieses Muster ist dadurch gekennzeichnet, dass die Jugendlichen sehr stark unter ihrer Erkrankung leiden. Das Muster findet sich bei vier Befragten. Diese sind von Krankheiten und Behinderungen betroffen, die entweder per se als gravierend erscheinen oder einen relativ schweren Verlauf genommen haben (vgl. Tab. 3):

„(…) da bin ich eigentlich der Außenseiter, und das ist das Schlimmste.“

Tabelle 3:

157

Verbittern: Interviewpartner und Erkrankungen

Jugendlicher Daniel

Alter (in J.) 24

Felix Denise

22 16

Romy

14

Krankheit(en) Hepatitis C; Amputation des rechten und drohende Amputation des linken Unterschenkels Hepatitis C Tierhaarallergie; (unabgeklärte) Milchallergie; extreme Adipositas Chronische Bronchitis

Diese Befragten sehen sich im Besonderen damit konfrontiert, dass ihre Erkrankung endgültig, womöglich gar tödlich ist. Das Wissen, mit der Krankheit leben zu müssen, führt zu Hilflosigkeit, Resignation und auch zu Suizidversuchen. „Da war ich natürlich erst mal voll im Arsch, da war ich vollkommen unten. Aber was soll ick daran ändern? Geht ja nicht. Da kann ich gar nichts dran ändern.“ (Felix, 22 Jahre) Trauer empfinden die Betroffenen auch, weil ihnen viele Zukunftsentwürfe versagt bleiben. Alles, was bisher als selbstverständlich galt, wird durch die Krankheit in Frage gestellt. Daher erscheint es diesen Jugendlichen als sinnlos, auf die Beeinträchtigung noch Einfluss nehmen zu wollen. Dafür wird allein der Arzt in der Verantwortung gesehen. Um Symptome zu lindern und somit nicht an die Erkrankung ‚erinnert’ zu werden, erweist sich für die Befragten der Konsum von Alkohol und Drogen als funktional. Dieser bindet zugleich alle verfügbaren Ressourcen, die Betroffenen sind so damit beschäftigt, Geld für den Drogenkauf zu beschaffen, dass keine Zeit bleibt, krankheitsspezifischen Erfordernissen gerecht zu werden. Aufgrund der Krankheit fühlen sich die Befragten in dieser Gruppe von ihren (Szenen-) Freunden abgewiesen und herabgesetzt. Im Ergebnis der auch ‚szenenöffentlichen’ Herabwürdigungen betrachten die Befragten ihrerseits ihren Körper als abstoßend und verachtenswert. Eine solche negative Einstellung zur eigenen Person schlägt sich in einem sehr destruktiven Verhalten nieder, wie dem intensiven Konsum von Alkohol und Drogen oder einer kompensatorischen übermäßigen Nahrungsaufnahme. Abscheu dem eigenen Körper gegenüber wird außerdem durch unterschiedliches selbstverletzendes Verhalten ausgedrückt. „(…) mit Krankheit war’s zum Beispiel immer mit en paar Freunden so (…) dass die Leute ein bisschen Abstand genommen haben (…) da bin ich eigentlich der Außenseiter, und das ist das Schlimmste (…) hab’ ich auch manchmal angefangen, mich zu ritzen, weil ich dachte, die Leute mögen mich nicht mehr.“ (Romy, 14 Jahre) Während die Befragten in dieser Gruppe durch ihre Krankheit vergleichsweise stark belastet sind und daher besonders auf Unterstützung angewiesen wären, können sie auf diese nicht hoffen, da die Beziehungen innerhalb der Szene dafür zu unverbindlich sind. Teils kommt es gar zu einer direkten Verweigerung von Hilfe. Angesichts der Gefahr, dass das Eingeständnis von Krankheit und Schwäche unter den Bedingungen des Straßenlebens gnadenlos ausgenutzt werden könnte, ist es den Betroffenen oft auch von vornherein unmöglich, auf die eigene Hilfsbedürftigkeit hinzuweisen. Um nicht innerhalb der Straßenszene auf die unterste Stufe der sozialen Hierarchie abzurutschen, bleibt keine andere Wahl, als die eigene (ansteckende) Krankheit zu verschweigen, auch, wenn diese damit wahrscheinlich weiterverbreitet wird.

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„Darüber spricht man nicht (...) biste schnell weg vom Fenster, Hepatitis C ist ansteckend, nee. Wenn de da anschaffen gehst und na, das spricht sich halt schnell rum, ich mein’, da ist ein Konkurrenzkampf, jeder probiert dem andern eins auszuwischen, oder ‘en Kunden wegzunehmen, und da ist doch so was gerade ganz nützlich.“ (Daniel, 24 Jahre) Ignorieren Für dieses Muster ist es kennzeichnend, dass die Jugendlichen ihre Erkrankung und deren potentiellen Folgen ignorieren und nach Möglichkeit so leben, als sei ‚nichts geschehen’. Das Muster trifft auf sieben Befragte zu (vgl. Tab. 4): Tabelle 4:

Ignorieren: Interviewpartner und deren Erkrankungen

Jugendlicher Kai Viktor Yvonne Bianca

Alter (in J.) 25 21 18 18

Vivian Pia Bastian

18 17 14

Krankheit(en) Laktoseunverträglichkeit; Heuschnupfen Alkoholismus Anorexie; unabgeklärte Skelettprobleme Allergie gegen Farbstoffe und Wundpflaster, einhergehend mit starken Hautreizungen Neurodermitis; Herz-Kreislauf-Schwäche Asthma; Heuschnupfen; Adipositas Asthma

Diese Befragten leiden teils bereits so lange unter ihrer Krankheit, dass sie für sie zum Leben dazugehört. Liegt die Diagnose wiederum noch nicht lange zurück, löst diese oft Bestürzung aus, besonders, wenn eine Umstellung der bisherigen Lebensweise erforderlich ist. Da diese für die Befragten immer auch die Zugehörigkeit zu bestimmten Jugendkulturen regelt, wird die Diagnose zur Bedrohung der eigenen Identität. Verunsichernd ist die Krankheit auch aufgrund ihres unvorhersehbaren Verlaufs, durch den es ein ‚richtiges’ oder ‚falsches’ Gesundheitshandeln, das akute Beschwerden vermeiden könnte, nicht mehr zu geben scheint. Die Jugendlichen in dieser Gruppe leiden zudem darunter, dass sie ihrer Ansicht nach krankheitsbedingt nicht mehr dem Ideal eines gesunden und schönen Körpers entsprechen und nur noch über begrenzte körperliche Kräfte verfügen. Die Teilnahme an szenenüblichen Aktivitäten, die den Alltag strukturieren und den Zusammenhalt stärken, wird somit fraglich. „(…) da kotzt mich dit Asthma schon ziemlich an. Weil, dit gibt Tage, da hab’ ick richtig Bock, irgendjemand zusammenzulegen, weil das – in der Szene hat man ja irgendwie fast jeden Tach irgendwie Stress jehabt, und dann, also sobald wir angepöbelt wurden, haben wir dem auf ‘s Maul jehauen.“ (Bastian, 14 Jahre) Solange die Krankheit ‚nur’ mit den ohnehin gewohnten Symptomen verbunden ist, reiht sich für diese Befragten das ‚Schicksal’, dauerhaft beeinträchtigt zu sein, gleichwohl ein in das vieler Anderer und erscheint somit nur noch als relativ. Drohende Krankheitsfolgen gelten gegenüber alltäglichen Problemen als unerheblich und werden verniedlicht. Nur sehr eingeschränkt sind diese Befragten dazu bereit, größere Anstrengungen zu investieren und an der eigenen Therapie mitzuarbeiten, um die Erkrankung positiv zu beeinflussen. Daran sehen sich diese Befragten auch durch ihre aktuellen Lebensbedingungen abgehalten. So bewirkt das Fehlen einer festen Bleibe, dass sich die Jugendlichen, wenn die Erkrankung akut

„(…) da bin ich eigentlich der Außenseiter, und das ist das Schlimmste.“

159

wird, nicht zurückziehen können, so dass Symptome umso intensiver zu Tage treten. Um diese zu lindern, sind die Betroffenen häufig auf den Obdachlosenarzt angewiesen, dem oft die Funktion eines Notarztes zukommt, der ‚das Schlimmste’ verhindert. Für die Jugendlichen in dieser Gruppe erweist sich der Konsum von Alkohol und Drogen oft als funktional, um Krankheitssymptome zu lindern bzw. ihnen vorzubeugen oder um psychische Belastungen zu mildern, die aus der Erkrankung folgen. So trägt der Substanzgebrauch dazu bei, eine positivere Einstellung zu sich selbst zu entwickeln. „(…) wenn ich auf Drogen bin, kann ich meinen Körper besser akzeptieren. Wenn mir dann jemand sagt „Zieh dich nackt aus“, kann ich dat machen, ohne dass ich mich jetzt schäme.“ (Pia, 17 Jahre) Zwar verneinen es diese Befragten, aufgrund der Krankheit von den Angehörigen der eigenen Szene gemieden oder ausgelacht zu werden, was wesentlich dazu beiträgt, dass sie sich mit der Erkrankung abfinden. Als Quelle einer krankheitsbezogenen Unterstützung kommen Szenenmitglieder dennoch nur selten in Frage, indem sie z.B. zeitweise die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen übernehmen. Allgemein jedoch gehen die Jugendlichen in dieser Gruppe nicht davon aus, dass sich die Anderen in sie einfühlen können, so dass sie auch nicht dazu in der Lage zu sein scheinen, eine adäquate Unterstützung zu geben. Die Befragten wollen sich daher von Szenenangehörigen oft gar nicht helfen lassen, speziell dann nicht, wenn deren Lebenssituation im Vergleich zur eigenen Lage in einem schlechteren Licht erscheint. Von diesen Szenenangehörigen unterstützt zu werden, betrachten die Befragten als unvereinbar mit ihrem Selbstbild. „(…) die können mir meistens nicht zuhören, weil sie ihre eigenen Probleme haben (…) ich will auch gar nicht, dass ich anders behandelt werde (…) dieses Mitleid, das will ich nicht. Wozu? Ich sterb’ ja nicht dran.“ (Bianca, 18 Jahre) Krankheitserleben und -bewältigung aus Sicht der Jugendlichen – Zusammenfassung Unsere Untersuchungsteilnehmer – sowohl die männlichen als auch die weiblichen Jugendlichen – zeigen im Angesicht ihrer chronischen Krankheit meist ein wenig problembezogenes Verhalten (vgl. Tab. 5). Unter den Bedingungen des Straßenlebens erweist es sich als schwierig, krankheitsspezifische Bedürfnisse zu berücksichtigen, da kaum Möglichkeiten bestehen, um z.B. spezielle Diäten einzuhalten oder um sich zu schonen, wenn akute Symptome auftreten. Um diese zu lindern, ist für einen großen Teil der Befragten der Konsum von Alkohol und Drogen subjektiv von Nutzen. Für einen angemessenen Umgang mit der Erkrankung fehlen den Betroffenen oft auch die sozialen Ressourcen. Szenenangehörige scheinen zu stark mit sich selbst beschäftigt, um bei krankheitsspezifischen Problemen helfen zu können, oder legen es sogar darauf an, den Kranken in seiner Schwäche auszunutzen. Besonders, wenn die chronische Erkrankung für die Befragten mit gravierenden Folgen für die weitere Lebensgestaltung verbunden ist und wenn sie sich mit der daraus resultierenden Belastung allein gelassen fühlen, verbittern sie und verhalten sich sehr selbstdestruktiv.

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Tabelle 5:

Bewältigungsmuster von chronischen Krankheiten

Muster

Jugendliche Männlich N=6 1 2 3

Sich der Krankheit stellen Verbittern Ignorieren

Weiblich N=6 2 4

Total N = 12 1 4 7

Diskussion der Ergebnisse aus der Befragung der Jugendlichen Belastungen, die unsere Studienteilnehmer beklagen, ergeben sich einerseits aus bestimmten Krankheitsmerkmalen – aus unangenehmen Körperempfindungen wie starkem Juckreiz oder aus dem ungewissen Krankheitsverlauf. Wie auch in Untersuchungen festgestellt, die sich chronisch kranken Jugendlichen der Normalpopulation widmen, leiden die von uns Befragten andererseits unter Belastungen, die aus der (krankheitsbedingt blockierten) Lösung von jugendtypischen Entwicklungsaufgaben folgen (vgl. Salewski 2004, S. 34 ff.). So befürchten unsere Untersuchungsteilnehmer vor allem, vor den Gleichaltrigen als Außenseiter zu gelten, der Mitleid hervorruft oder Ablehnung verdient. In dem Kontext leiden unsere Jugendlichen auch darunter, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung bestimmten Szenenormen nicht genügen, indem sie z.B. in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind und daher in gewalttätigen Formen der Konfliktaustragung nicht mithalten können. Studien zum Bewältigungsverhalten von chronisch kranken Jugendlichen generell zeigen, dass die Betroffenen eher wenig lösungsorientiert handeln, ihre Erkrankung oft verleugnen oder depressiv werden (a.a.O., S. 43; Kollmar 2003, S. 292). Vergleichbares wird auch hier deutlich: Unsere Interviewpartner stellen ihre chronische Erkrankung überwiegend als (lästige) Selbstverständlichkeit dar, die gegenüber alltäglichen Widrigkeiten irrelevant und unter den Bedingungen des Straßenlebens kaum beeinflussbar ist. Somit scheint kein Grund zu bestehen, sich Gedanken zu machen, krankheitsbedingte Bedürfnisse zu berücksichtigen oder einem akuten Krankheitsschub vorzubeugen. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Jugendlichen die aus der Erkrankung folgenden Belastungen verleugnen und dass ihr relativ passives Bewältigungsverhalten vielmehr eine hohe Problembelastung ausdrückt. Da unsere Befragten meist keine regelmäßige ärztliche Behandlung erhalten und medikamentös schlecht eingestellt sind, kann das ‚Nicht wahrhaben wollen’ funktional dafür sein, Ängste vor der insgesamt wenig zufrieden stellenden, bedrückenden gesundheitlichen Situation abzuwehren (a.a.O., S. 297; vgl. Seiffge-Krenke/Nieder 2001, S. 214). Einige unserer Befragten resignieren angesichts von sehr schweren Erkrankungen und sehen kaum noch einen Sinn darin, auf ihr gesundheitliches Befinden Einfluss zu nehmen. Im Fall dieser Jugendlichen ist anzunehmen, dass sie sich auch angesichts von Alltagsbelastungen eher passiv verhalten, so dass eine Verfestigung des Straßenlebens droht. Eine solche ‚inkompetente’ Bewältigung von alltäglichen Widrigkeiten begünstigt wiederum ihrerseits ein wenig angemessenes Krankheitsverhalten (vgl. Hampel 2001, S. 224; Salewski 2004, S. 48). Um Symptome zu lindern, erweist sich für viele der von uns Befragten der Konsum von Alkohol und Drogen kurzfristig als sehr funktional, auch wenn die Betroffenen wissen, dass dadurch mittelfristig eine Verschlechterung der Erkrankung droht. Nur ausnahmsweise wird der Konsum reduziert, um diese zu vermeiden. Epidemiologische Studien, die sich chronisch kranken Jugendlichen der Normalbevölkerung widmen, verweisen zwar ebenfalls darauf, dass

„(…) da bin ich eigentlich der Außenseiter, und das ist das Schlimmste.“

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unter den Betroffenen riskantes Verhalten wie der Konsum von Tabak oder Alkohol verbreitet ist (vgl. Tercyak et al. 2006; Butterfield et al. 2004), der Substanzgebrauch wird jedoch dabei eher als ein jugendtypisches Risikoverhalten angesehen, weniger als Mittel zur Bewältigung krankheitsbedingter Belastungen. Der in der sozialen Bezugsgruppe unserer Untersuchungsteilnehmer, der Szene, ebenfalls weit verbreitete intensive Substanzgebrauch führt dazu, dass die Befragten nur in Ausnahmen eine auf die Krankheit bezogene soziale Unterstützung erhalten. Während der Alkohol- und Drogenkonsum die Szenenbeziehungen eigennützig und unverbindlich werden lässt, verfügen nur wenige Befragte über Bezugspersonen fern der Szene, mit deren Hilfe zu rechnen ist. Anders, als für chronisch kranke Jugendliche der Allgemeinbevölkerung diskutiert, suchen auch unsere weiblichen Befragten nicht verstärkt um Unterstützung nach (vgl. Lynch et al. 2007). Umgang mit chronischer Krankheit ‚auf der Straße’ – Sichtweisen der Experten Es ist anzunehmen, dass chronische Krankheiten von den Betroffenen anders erlebt werden, als sie sich ‚von Außen’, aus dem Blickwinkel von Professionellen, darstellen. Im Folgenden werden daher den bisher dargelegten subjektiven Sichtweisen der Betroffenen die Erfahrungen von Ärzten und Sozialarbeitern, die die Jugendlichen im Alltag begleiten, gegenübergestellt. Die von uns befragten Experten gehen ganz überwiegend davon aus, dass Jugendliche, die chronisch krank sind und auf der Straße leben, doppelt belastet sind: Zum einen durch die Krankheit, die die Betroffenen in der Alltagsgestaltung einschränkt, mithin das Überleben auf der Straße erschwert und die Verwundbarkeit für die Risiken dieser Lebenssituation erhöht. Zum anderen sind die Jugendlichen im Besonderen durch das Straßenleben belastet, das es erschwert, sich mit der Krankheit angemessen auseinanderzusetzen. Demzufolge ignorieren die Betroffenen die Erkrankung weitgehend und lassen krankheitsspezifische Anforderungen unberücksichtigt. Während den Jugendlichen die finanziellen Mittel für die Praxisgebühr oder für Zuzahlungen zu Medikamenten fehlen, ist es ‚auf der Straße’ ohnehin kaum möglich, diese zu festen Zeiten einzunehmen oder bestimmte Empfehlungen zum Umgang mit der Erkrankung einzuhalten. Dass den Jugendlichen die Bewältigung ihrer chronischen Krankheit meist ‚misslingt’, liegt nach Meinung der Experten zugleich auch an persönlichen Faktoren. So bewirkt die starke Anbindung der Jugendlichen an die Szene, dass deren Verhaltensnormen, die einem gesundheitsförderlichen Verhalten oft abträglich sind, als bindend erlebt werden. Vor allem der szeneninterne intensive Alkohol- und Drogenkonsum, aber auch die Ablehnung von meist schulmedizinischen Behandlungsmethoden, die von der Szene geteilt wird, bewirken, dass z.B. ärztliche Empfehlungen zum Umgang mit der Erkrankung nicht umgesetzt werden. Werden die Ansichten der Experten zum Krankheitsverhalten der Jugendlichen zu den Aussagen der Betroffenen in Bezug gesetzt, zeigt sich, dass es das Netzwerk der auf der Straße lebenden Gleichaltrigen sowohl aus Sicht der Ärzte und Sozialarbeiter als auch nach Meinung der Jugendlichen kaum vermag, eine auf die Krankheit bezogene Unterstützung zu geben. So befürchten insbesondere die Experten, dass Szenenangehörige die chronisch Kranken weiter ‚herunterziehen’, indem sie allenfalls Hilfen bieten können, die die Betroffenen nur noch stärker von ‚der Straße’ abhängig machen. Die Jugendlichen selbst verdeutlichen wiederum, dass sie ihre Erkrankung möglichst vor den Anderen verbergen müssen, um nicht von diesen in ihrer Schwäche ausgenutzt und als Szenenmitglied abgewertet zu werden.

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Praktische Implikationen für eine gesundheitsbezogene Sozialarbeit auf der Straße Gemäß den Ergebnissen unserer Studie erscheinen chronisch kranke Straßenjugendliche als eine vulnerable Gruppe. Damit werden Gruppen bezeichnet, die einem Zusammenspiel unterschiedlicher (physischer, psychischer, sozialer, ökonomischer) Belastungen ausgesetzt sind, was als ‚ungünstige Ausgangsvoraussetzung’ bewirkt, dass die Betroffenen auch im Umgang mit alltäglichen Herausforderungen schnell überfordert sind (vgl. Heiner 2007, S. 107). Hieraus erklärt sich ein in gesundheitlicher und sozialer Hinsicht hoher Versorgungsbedarf obdachloser Jugendlicher. Um diesen zu befriedigen, bedarf es komplexer Ansätze, die eine individuelle Beratung und Betreuung ebenso beinhalten wie strukturelle Maßnahmen zur Beseitigung von Armut und Unterversorgung. Demnach stellt es eine besondere Herausforderung dar, eine drohende Obdachlosigkeit der Jugendlichen oder jungen Erwachsenen abzuwenden, indem z.B. bei unzureichendem Einkommen der Betroffenen erreicht wird, dass die Mietkosten vom Jugend- oder Sozialamt übernommen werden. Leben die Jugendlichen bereits ‚auf der Straße’, sollten soziale und gesundheitliche Hilfen zunächst darauf hinauslaufen, durch die Unterbringung in angemessenem Wohnraum und die allgemeine Verbesserung der materiellen, sozialen und physischen Existenzgrundlagen das ‚bloße Überleben’ des Betroffenen zu sichern. Wie die Ergebnisse auch unserer Studie gezeigt haben, tragen dazu vor allem niedrigschwellige Versorgungsangebote bei, die den Jugendlichen zunächst eine gesunde, preiswerte Nahrung sowie Wasch-, Dusch- und Übernachtungsmöglichkeiten bieten, ohne im Gegenzug von ihnen eine sofortige Änderung ihrer persönlichen Lebensweise zu verlangen. Die Deckung der Grundbedürfnisse betrachten die von uns befragten Experten, aber auch die Jugendlichen selbst als eine Voraussetzung, um sich um gesundheitliche Belange zu kümmern und dazu auch regelmäßig zum Arzt zu gehen oder (teure) Medikamente einzunehmen. Maßnahmen der Überlebenssicherung sollten sich jedoch nicht auf soziale Hilfen beschränken, sondern müssten auch der hohen gesundheitlichen Belastung der Jugendlichen gerecht werden. In dem Kontext ist zu überlegen, inwieweit der Ansatz von ‚Medical Streetwork’, der als ein ‚gestuftes Behandlungsmodell’ für die Arbeit mit erwachsenen Obdachlosen entwickelt wurde und u.a. darin besteht, dass die Betroffenen auf der Straße oder in Einrichtungen des sozialen Hilfesystems eine gesundheitliche Basisversorgung erhalten (vgl. Trabert 2002, S. 85), auf die Arbeit mit Straßenjugendlichen und jungen Erwachsenen übertragen werden könnte. Gesundheitliche und soziale Hilfen für die Zielgruppe sollten insofern stärker als bisher miteinander verbunden werden. Es gilt, ‚Gesundheit’ auch als mögliches Aufgabenfeld der Sozialarbeit anzusehen und die Verantwortung dafür nicht allein in die Hand der Mediziner zu legen. Zu diskutieren wäre z.B., ob Sozialarbeiter bestimmte Maßnahmen der Patientenschulung, die eher mittelschichtorientiert sind und chronisch Kranke dafür befähigen wollen, Symptome sensibel wahrzunehmen, rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen und dazu auch professionelle – ärztliche – Hilfen zu beanspruchen (vgl. Hurrelmann 2000, S. 603), im Rahmen der aufsuchenden Arbeit auf der Straße anwenden könnten. Solche Ansätze der Patientenanleitung und -beratung, die die Betroffenen aktiv in den Behandlungsprozess einbeziehen, müssten gekoppelt werden an ein (sekundär)präventives Vorgehen im Bereich des Alkoholund Drogenkonsums, da dieser für Straßenjugendliche ein wesentliches Hindernis darstellt, mit ihrer chronischen Krankheit ‚angemessen’ umzugehen.

„(…) da bin ich eigentlich der Außenseiter, und das ist das Schlimmste.“

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Eine stärkere Integration von Gesundheit ins Spektrum der sozialen Arbeit würde allerdings voraussetzen, dass gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse und Handlungsmethoden als Studieninhalte verstärkt auch Eingang finden in die Ausbildung von Sozialarbeitern. Abschließende Bemerkungen Mit der hier beschriebenen Forschung wird ein empirischer Zugang zur Lebenswelt einer sozialen Gruppe skizziert, der verschiedene Perspektiven auf deren soziale und vor allem gesundheitliche Probleme einnimmt: Die Innenperspektive der Betroffenen wird um die sozialkommunikative Perspektive auf die Interaktionen und Handlungsweisen im Alltag auf der Straße ergänzt und den professionell-institutionellen Perspektiven verschiedener Berufsgruppen gegenüber gestellt. Damit soll ein umfassenderes Verständnis der besonderen Problemlage einschließlich möglicher Konsequenzen für die Gestaltung von angemessenen professionellen Umgangsweisen mit der Lebens- und Problemsituation dieser Zielgruppe entwickelt werden. Literatur Barry, P.J., Ensign, J. & Lippek, S.H. (2002). Embracing street culture: Fitting health care into the lives of street youth. Journal of Transcultural Nursing, 13, (2), 145-152. Blanz, B. (1996). Die Determinanten von Stoffwechseleinstellung und Compliance Jugendlicher mit Diabetes Mellitus. In: G. Lehmkuhl (Hrsg.): Chronisch kranke Kinder und ihre Familien. München: Quintessenz, S. 129-137. Bury, M. (1982). Chronic illness as biographical disruption. Sociology of Health and Illness, 4, (2), 167-182. Butterfield, R.M., Park, E.R., Puleo, E., Mertens, A., Gritz, E.R., Li, F.P. & Emmons, K. (2004). Multiple risk behaviors among smokers in the childhood cancer survivors study cohort. Psycho-oncology, 13, (9), 619-629. Corbin, J.M. & Strauss, A.L. (2004). Weiterleben lernen. Verlauf und Bewältigung chronischer Krankheit. Bern: Verlag Hans Huber. Flick, U. (2007). Qualitative Sozialforschung – Eine Einführung (erw. u. akt. Neuausgabe). Reinbek: Rowohlt. Flick, U. (2008). Triangulation – Eine Einführung (2. erw. u. akt. Aufl.). (Reihe Qualitative Sozialforschung). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft. Flick, U. & Röhnsch G. (2006a). „Ich vertrau’ der anderen Person eigentlich...“ – Armut und Obdachlosigkeit als Kontexte sexuellen Risiko- und Schutzverhaltens von Jugendlichen. Zeitschrift für die Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 26 (2), 171-187. Flick, U. & Röhnsch G. (2006b). „Lieber besoffen. Oder bekifft. Dann kann man’s wenigstens noch aushalten.“ – Alkohol- und Drogenkonsum obdachloser Jugendlicher. Diskurs – Kindheits- und Jugendforschung, 1 (2), 261-280. Flick, U. & Röhnsch G. (2006c). „...wenn man sich nich’ helfen lassen will...“ – Hilfesuchverhalten obdachloser Jugendlicher. Zeitschrift für Sozialpädagogik, 4 (4), 338-359. Flick, U. & Röhnsch, G. (2008). Gesundheit auf der Straße. Vorstellungen und Erfahrungsweisen obdachloser Jugendlicher. Weinheim: Juventa. Hampel, P. (2001). Streßverarbeitung bei Kindern und Jugendlichen mit atopischen Erkrankungen. Kindheit und Entwicklung, 10, (4), 216-225. Heiner, M. (2007). Soziale Arbeit als Beruf. Fälle – Felder – Fähigkeiten. München: Reinhardt Verlag. Hoepner-Stamos, F. (1999). Chronische Erkrankungen im Jugendalter. Psychosoziale Folgen schwerer und leichter Beeinträchtigungen. Weinheim: Juventa. Hurrelmann, K. (2000). Gesundheitsförderung – Neue Perspektiven für die Pflege. In: B. Rennen-Allhoff & D. Schaeffer (Hrsg.): Handbuch Pflegewissenschaften. Weinheim: Juventa, S. 591-607.

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Sexuelle Verwahrlosung oder Moralpanik? Sexuelle Erfahrungen und Beziehungswerte junger Frauen und Männer Alexandra Klein Sexuell aktive Jugendliche sind im Zuge der sexuellen Liberalisierung zu gesellschaftlicher Normalität geworden. Lustvolle sexuelle Erfahrungen werden ab dem Alter von etwa 16 Jahren für beide Geschlechter mit sexueller Kompetenz assoziiert und positiv bewertet. Nationale und internationale Studien zur Jugendsexualität aus den letzten zwanzig Jahren haben gezeigt, dass junge Frauen und Männer hinsichtlich ihrer Beziehungsvorstellungen und insbesondere, was die Bedeutung von Treue anbelangt, vergleichsweise wertkonservativ sind: Exklusive sexuelle Liebesbeziehungen haben sich als das Ideal jugendlicher Beziehungsvorstellungen etabliert. Gleichzeitig erlebt gegenwärtig eine vorwiegend medial geführte Debatte um Jugendsexualität Konjunktur, in der die sexuelle Verwahrlosung Jugendlicher proklamiert und die oben genannten Befunde für eine bestimmte Gruppe Jugendlicher in Abrede gestellt werden. Dabei wird argumentiert, dass gerade Mädchen und Jungen mit sehr frühen sexuellen Erfahrungen ein zunehmend instrumentelles Verhältnis zur Sexualität und zu ihren PartnerInnen entwickeln und eine egoistische Bedürfnisbefriedigung sexuelle Beziehungen, die auf Liebe und Treue basieren, abgelöst hätte. „Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist“, so etwa der Untertitel eines entsprechenden Artikels (Wüllenweber 2007). Kaum eine Zeitung oder ein Sender, der in den letzten Monaten nicht einen Beitrag zur vermeintlichen sexuellen Verwahrlosung brachte: „Früher, härter, unromantischer – Sex ohne Liebe?“1 Empirische Daten, die diese These unterstützen, liegen jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vor. Vielmehr rekurrieren die Protagonisten der Debatte auf die Darstellung von Einzelschicksalen, auf Alltagswissen sowie auf übergeordneter Ebene auf den Diskurs um die „neue Unterschicht“. Mittels Daten, die 2006 in Potsdam erhoben wurden, kann nun die These von der sexuellen Verwahrlosung mit empirischen Befunden konfrontiert werden. In einem DFGProjekt am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Potsdam wird der Frage nachgegangen, in welchem Zusammenhang Unterschiede in den sexuellen Erfahrungen im Jugendalter mit dem Erleben der Sexualität im frühen Erwachsenenalter stehen. Insbesondere interessieren uns die Zusammenhänge zwischen dem Zeitpunkt des „ersten Mals“ und als problematisch bzw. als positiv bewerteten sexualitäts- und beziehungsbezogenen Verhaltensweisen und Einstellungen. Somit geben die Daten darüber Auskunft, ob sich diejenigen, die ihre ersten sexuellen Erfahrung früher als der Durchschnitt gemacht haben, durch soziale Praktiken und Einstellungen charakterisieren lassen, die auf sexuelle Verwahrlosung deuten oder ob es sich bei dieser Bewertung um eine sexualitätsbezogene Neuauflage dessen handelt, was im Anschluss an Stanley Cohen (1987) als Moralpaniken bezeichnet werden kann.

1

So der Titel einer Ausgabe der ARD Talkshow „Menschen bei Maischberger“, moderiert von Alice Schwarzer. G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Frühe sexuelle Erfahrungen als soziales Problem In der gegenwärtigen Debatte um sexuelle Verwahrlosung wird den Sexualitäts- und Beziehungspraktiken unterschiedlicher Jugendlicher ein differierendes Maß an Nähe bzw. Distanz zu den gesellschaftlich anerkannten Formen jugendlicher Sexualität zugesprochen. Insbesondere die sexuellen Praktiken von Jugendlichen mit einem frühen Einstieg in sexuelle Interaktionen werden hierbei mit einer Vielzahl von Risikofaktoren assoziiert, die der Entwicklung einer partnerschaftlich-gleichberechtigten Sexualität entgegen zu stehen scheinen. Sexuelle Beziehungen im frühen Jugendalter werden in der Regel geschlechtsspezifisch mit den Gefahren (weiblicher) Ausbeutung, Abhängigkeit und Überrumpelung, (männlicher) Dominanz und Aggression sowie geschlechtsübergreifend mit nachlässiger Verhütung und der Gefahr von Teenagerschwangerschaften in Verbindung gebracht. Vor allem für den angelsächsischen Sprachraum liegt eine breite Palette an Studien vor, die den Zeitpunkt des ersten Mals sowohl im Kontext familiärer, bildungsbezogener und psychosozialer Probleme als auch im Einklang mit anderen als deviant klassifizierten Verhaltensweisen verorten (z.B. French/Dishion 2003, Pedersen et al. 2003, Valle et al. 2005, Wellings et al. 2001). In jüngster Zeit wird diese einseitige Ausrichtung jedoch zunehmend kritisiert. Es wird expliziert, dass „research on adolescent sexuality has often adapted a problem behavior lens, focusing on predictors used to explain behaviors such as delinquency and drug use“ (Giordano et al. 2007, 2) und so die damit verbundene Problem- und Risikoperspektive auf frühe sexuelle Erfahrungen immanent perpetuiert wird. Diese Kritik erweist sich insofern als weiterführend, als dass damit die Frage aufgeworfen wird, ob es die frühen sexuelle Erfahrungen als solche sind, die für die weitere Entwicklung der Jugendlichen als problematisch einzuschätzen sind, oder ob frühe sexuelle Erfahrungen nur ein spezifischer Ausdruck jugendlicher Problembewältigung und eingeschränkter Lebenschancen darstellen und damit vielmehr die ungleiche Verteilung von Verwirklichungsmöglichkeiten problematisiert werden sollte. Studien im Kontext des Devianzparadigmas beschränken sich weitgehend darauf zu zeigen, dass frühe sexuelle Erfahrungen mit einem erhöhten Risiko von Teenagerschwangerschaften einhergehen und damit zumindest implizit die These vom problematischen frühen Einstiegsalter unterstützen. Dem entgegen unterstreicht etwa die Untersuchung der Forschungsgruppe um Gunter Schmidt, dass diese Befunde auch der Anlage solcher Studien geschuldet sein können, da hierbei weitere erklärende Parameter nicht einbezogen werden. So zeigen die Hamburger Forschungen, dass weniger das Alter beim ersten Mal als vielmehr die Qualität sexueller Kommunikations- und Interaktionskompetenzen die Wahrscheinlichkeit unsicherer Verhütung und Schwangerschaften im Jugendalter beeinflussen (Schmidt et al. 2006b, 356). Mit Blick auf den in dieser Studie ebenfalls nachgewiesenen Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und der Wahrscheinlichkeit von Teenagerschwangerschaften gelangten die AutorInnen außerdem zu dem Ergebnis, dass auch bei Mädchen aus unteren sozialen Schichten eine Schwangerschaft vor dem 18. Lebensjahr ein sehr seltenes Ereignis ist. Stereotypisierende Schlussfolgerungen wie die proklamierte sexuelle Verwahrlosung sind damit empirisch nicht zu belegen. Wohl aber zeigt sich, dass die Prävention von Teenagerschwangerschaften voraussetzt, die sozialen Chancen und Perspektiven unterprivilegierter Mädchen (und Jungen) zu erhöhen (Schmidt et al. 2006b, Matthiesen 2008). Die Kritik an der verkürzten Thematisierung früher sexueller Erfahrungen verweist auf einen neueren Ansatz bei der Analyse sexueller Praxis, der als „sexual agency“ (Horne 2005, Impett/Tolman 2006, Lesch/Kruger 2004, Teitelman 2004) bzw. „sexuelle Handlungsfähigkeit“ (Klein et al. 2008) bezeichnet werden kann. Sexuelle Handlungsfähigkeit bezieht sich auf die unterschiedlichen Möglichkeiten und Begrenzungen, sexuelle Beziehungen gestalten, dabei

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die eigenen Vorstellungen realisieren und sich selbst als wirkmächtig erleben zu können. Der analytische Stellenwert einer solchen Perspektive – gerade auch für die Auseinandersetzung mit dem sexuellen Erleben von Jugendlichen, die ihr erstes Mal früher als die Mehrheit erleben – wird an den Befunden der ersten Studien deutlich. So kommt etwa Sharon Horne zu dem Ergebnis, dass „females who experience first sexual intercourse at an earlier age may be developmentally advanced in the arenas of sexual self-conceptions, and romantic and gendered domains, whilst reporting similar levels of self-esteem and happiness as their same aged peers” (Horne 2005, 244). Anschlussfähig an diese Befunde konnten auch wir in einer früheren Datenauswertung zeigen, dass zwischen dem Zeitpunkt des ersten Mals und jenen Kompetenzen, die man als sexuelle Handlungsfähigkeit bezeichnen kann, signifikante Zusammenhänge bestehen (vgl. Klein et al. 2008). Entgegen den Unterstellungen der Debatte um sexuelle Verwahrlosung zeigte sich, dass der Zeitpunkt des ersten Sex nicht mit anderen als problematisch bewerteten Verhaltensweisen und Einstellungen im jungen Erwachsenenalter korrespondiert. Obgleich es auch in unserer Studie eine Verbindung zwischen dem Bildungshintergrund und dem Alter beim ersten Mal gibt, fanden wir vor allem Zusammenhänge hinsichtlich jener gemeinhin als positiv konnotierten Aspekte. Männliche und weibliche FrühstarterInnen verfügen als junge Erwachsene über ein höheres Ausmaß an sexuellem Selbstbewusstsein, sexueller Bedürfnisartikulation und -befriedigung als Jugendliche, die später sexuell aktiv werden. Auch schätzten sie sich als kompetenter dahingehend ein, ihren Vorstellungen entsprechende Sexual- und BeziehungspartnerInnen finden zu können. Somit konnten wir mit unseren Daten zeigen, dass der Zeitpunkt des ersten Mals für die sexualitätsbezogene Entwicklung keineswegs mit Konsequenzen einhergeht, die den Terminus sexueller Verwahrlosung empirisch legitimieren könnten. Doch wie verhält es sich mit Blick auf die Beziehungsgestaltung und die Beziehungswerte junger Erwachsener? Bevor die Untersuchungsergebnisse hierzu vorgestellt werden, wird zunächst der bisherige Forschungstand zu Beziehungsvorstellungen und Beziehungspraxis von Jugendlichen und jungen Erwachsenen skizziert. Liebe und Sexualität: Das feste Band der Monogamie Das romantische Liebesideal, das Ende des 18. Jahrhunderts seinen Siegeszug als allgemein gültige Norm angetreten hat, schließt auch die sexuelle Praxis Jugendlicher ein. Eine Vielzahl empirischer Studien zeigt, dass die exklusive Bindung von sexuellen Erfahrungen an ein Liebesarrangement bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht nur den Status eines Ideals besitzt, sondern mehrheitlich versucht wird, seine Realisierung zu leben. „Liebe ist die Voraussetzung dafür, dass man miteinander schläft“ (Schmidt 1997, 131). Während in den 1970er Jahren im Zuge der gesellschaftspolitischen Transformationen die enge Bindung von Liebe, fester Partnerschaft und Sexualität hinterfragt wurde und sexuelle Exklusivität zumindest zeitweise an Relevanz verlor, belegen insbesondere die Zeitreihenuntersuchungen der Forschungsgruppe um Gunter Schmidt, dass die Bedeutung sexueller Treue seitdem kontinuierlich gestiegen ist. Für die 1990er Jahre stellen sie fest, dass Treue insgesamt positiver bewertet wird als 1970 und das Treueversprechen während der Beziehung einen hohen Stellenwert einnimmt (Schmidt et al. 1993, 29ff.). Die enge Verbindung von Liebe, festen Beziehungen und sexueller Treue kann jedoch den Blick auf die Tatsache verdecken, dass die Jugendphase lebensgeschichtlich jener Zeitraum ist, in dem die Wünsche und Vorstellungen im Bezug auf die Gestaltung der eigenen Sexualität erst erkundet und entwickelt werden. Das Jugendalter, verstanden als psychosoziales Moratori-

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um, in dem Erfahrungen des Experimentierens gegenüber Erfahrungen des Festgelegtseins priorisiert werden, kann prinzipiell für sich beanspruchen, dass diese Priorisierung auch den Bereich des Sexuellen einschließt. Empirisch jedoch zeigen sich dabei deutliche Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen. Das Eingehen flüchtiger sexueller Beziehungen ist für Mädchen problematischer geblieben als für Jungen (Dannenbeck/Stich 2002). Während die Mädchen zu bedenken geben, dass ihr Ruf unter diesem Verhalten gelitten hat oder leiden könnte, finden sich bei den Jungen solcherlei Vermutungen nicht. Gleichwohl ist es für Jungen die liebes- und beziehungsorientierte Sexualität, in der sie sich von der als traditionell-männlich klassifizierten Sexualität von Jungen aus unteren Schichten abgrenzen und als „kompetente Liebhaber mit Stil und Klasse“ inszenieren wollen (Hunze 2007, 211). Hinsichtlich der Bedeutung sexueller Treue innerhalb fester Paarbeziehungen konnten auch diese AutorInnen keine geschlechtstypischen Unterschiede finden. Die Dominanz des romantischen Liebesideals wird auch durch jene Untersuchungen untermauert, die sich dezidiert mit den sexuellen Erfahrungen beschäftigen, die Jugendliche außerhalb fester Beziehungen machen. Demnach finden auch sexuelle Interaktionen außerhalb fester Beziehungen in der Regel mit Personen statt, zu denen eine emotionale Bindung besteht und sind darüber hinaus nicht selten mit den Wünschen nach einer längerfristigen Beziehung assoziiert (Manning et al. 2006). Die sexuellen Erfahrungen und Wünsche Jugendlicher lassen sich folglich nur unzureichend anhand einer Unterscheidung zwischen instrumenteller Triebbefriedigung in flüchtigen sexuellen Beziehungen auf der einen Seite und monogamen sexuellen Liebesbeziehungen auf der anderen Seite beschreiben. Zudem zeigen Längsschnittstudien, dass sexuelle Beziehungen mit dem Übergang zum jungen Erwachsenenalter exklusiver, dauerhafter und intimer werden (Meier/Allen 2007). Flüchtige sexuelle Begegnungen stellen ebenso wie feste sexuelle Beziehungen typische Erfahrungsfelder Jugendlicher dar, in denen sie sich sukzessive einer Erwachsenen-Sexualität annähern. Einer Erwachsenen-Sexualität, die durch den Wettstreit zwischen den Idealen „Dauer“ und „Intensität“ gekennzeichnet ist und typischerweise solange besteht, wie „beide einen ‚emotionalen Wohlfahrtsgewinn’ haben“ (Schmidt et al. 2006a, 151). Obgleich die damit verbundenen Beziehungsformen nicht notwendigerweise monogam sein müssen, zeigt sich, dass eine serielle Monogamie, das Treueversprechen auf Zeit, die Beziehungswünsche (junger) Erwachsener ebenso dominiert wie deren Beziehungsrealitäten. Gleichzeitig bleibt das Erleben sexueller Untreue ein Bestandteil sexueller Erfahrungen und sexueller Beziehungen. Geschlechtsunterschiede bei „Seitensprüngen“ haben sich mittlerweile aufgelöst: Im Erwachsenenalter unterhalten Frauen ebenso häufig eine sexuelle Außenbeziehung wie Männer (Schmidt et al. 2006a, 135). Bei Jugendlichen berichteten 1990 jeder fünfte Junge und sechs Prozent der Mädchen darüber, in ihrer aktuellen Beziehung untreu zu sein (Schmidt et al. 1993). Zusammengenommen vollzieht sich Jugendsexualität überwiegend im Rahmen exklusiver Beziehungen. Sexuelle Erfahrungen außerhalb von bzw. parallel zu bestehenden Beziehungen werden von jungen Frauen und Männern unterschiedlich bewertet und verweisen auf geschlechtstypische Beschränkungen sexueller Praxis. Gemeinsam ist den Angehörigen beider Geschlechter, dass sie mit ihrer expliziten Liebesorientierung versuchen, die Übertragung bestehender stigmatisierender Zuschreibungen, sei es als „Schlampe“ oder als „Macho“, auf ihre eigene Person zu vermeiden (Hunze 2007). Sukzessive Monogamie (Dannenbeck/Stich 2002) beschreibt jenes geschlechtsübergreifende Phänomen, wonach das Experimentieren mit sexuellen Erfahrungen in unterschiedlichen sozialen Konstellationen (wenn überhaupt) als eine vorübergehende Praxis mit geringerer Legitimität erlebt wird.

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Forschungsfragen, Untersuchungsdesign, Stichprobe und Operationalisierungen Vor dem Hintergrund der ungleichen Legitimität, die verschiedenen sexuellen Erfahrungen Jugendlicher zugesprochen wird, werde ich nachfolgend die Frage beantworten, ob und in welchem Ausmaß sich die sexuellen Beziehungsrealitäten von jungen Erwachsenen unterscheiden, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erlebt haben. Jugendlichen, die mit ihren sexuellen Erfahrungen früher als der Durchschnitt begonnen haben, kann auf der Basis der bereits vorgestellten Debatten und empirischen Ergebnisse attestiert werden, dass sie sich mit den normativen Vorgaben hinsichtlich einer angemessenen Jugendsexualität in einem besonderen Maße auseinandersetzen müssen. Demgegenüber liegen empirisch fundierte Aussagen über die Zusammenhänge zwischen den sexuellen Beziehungserfahrungen, Beziehungswerten und Beziehungspraxen von jungen Erwachsenen, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erlebt haben bis dato noch nicht vor. Nachfolgend werden zunächst die jungen Erwachsenen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht haben, hinsichtlich demographischer Merkmale beschrieben. Daran anschließend folgt die Darstellung der Befunde zu den sexuellen Beziehungserfahrungen, Beziehungswerten und Beziehungspraxen, wobei die Frage beantwortet wird, ob und in welchem Ausmaß sich junge Männer und Frauen ebenso wie Angehörige der verschiedenen Bildungsgruppen und insbesondere Jugendliche, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht haben, diesbezüglich im jungen Erwachsenenalter unterscheiden. Durchführung der Befragung und Stichprobe Im Jahr 2006 haben 695 junge Potsdamerinnen und Potsdamer der Jahrgänge 1985 bis 1987 an einer standardisierten Erhebung teilgenommen, in der sie mittels computergestützter Telefoninterviews bzw. mittels eines internetbasierten Fragebogens interviewt wurden. Die 336 Männer (48%) und 359 Frauen (52%) verteilten sich relativ gleichmäßig auf die drei Jahrgänge. Mehr als 80 Prozent der Befragten gingen nicht mehr zu einer allgemein bildenden Schule. Hinsichtlich ihrer schulischen Bildung waren Frauen und Männer mit hoher formaler Bildung (erreichter bzw. angestrebter Abschluss: (Fach-)Abitur) überrepräsentiert und bildeten zwei Drittel der TeilnehmerInnen. Der Anteil der mittleren (erreichter bzw. angestrebter Abschluss: Realschulabschluss bzw. Mittlere Reife) und niedrigen Bildungsgruppen (maximal erreichter bzw. angestrebter Abschluss: erweiterter Hauptschulabschluss bzw. erweiterte Berufsbildungsreife) lag jeweils bei 13 bzw. 12 Prozent. Nahezu alle Befragten (98%) wurden in Deutschland geboren. Etwas mehr als zwei Drittel (70%) lebten noch bei mindestens einem Elternteil, je ein Drittel der verbleibenden Jugendlichen lebte entweder alleine, zusammen mit der Partnerin bzw. dem Partner oder in einer Wohngemeinschaft. 84 Prozent der Befragten haben „schon mal mit jemandem geschlafen“, 89 Prozent verfügten über Beziehungserfahrungen und 50 Prozent hatten zum Zeitpunkt der Erhebung eine feste Beziehung. Instrumente Alter beim ersten Mal: Für die Analyse des Zeitpunktes des ersten Mals bildeten wir drei Gruppen. „Normalstartende“ Jugendliche, die wie die gegenwärtige Mehrheit der deutschen Jugendlichen (vgl. BzgA 2006) ihren ersten Sex zwischen 15 und 17 Jahren erlebt haben, „frühstartende“ Jugendliche, die beim ersten Geschlechtsverkehr 14 Jahre und jünger waren sowie „spätstartende“ Jugendliche, die beim ersten Mal 18 Jahre und älter waren.

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Sexuelle Beziehungserfahrungen: Die sexuellen Beziehungserfahrungen der jungen Frauen und Männer erfassten wir, in dem wir die Anzahl der festen sexuellen Beziehungen ebenso wie die Anzahl der Sexualpartner/innen erfragten. Weiterhin sollten die jungen Erwachsenen darüber Auskunft geben, ob sie über sexuelle Erfahrungen außerhalb fester Beziehungen verfügen. Beziehungswerte: Um die Beziehungspräferenzen der jungen Frauen und Männern zu erfassen sowie die Werte zu ermitteln, die ihnen in ihren Beziehungen bedeutsam sind, sollten die Befragten zunächst vier verschiedene Beziehungsmodelle hinsichtlich ihrer subjektiven Attraktivität bewerten. Zur Auswahl standen dabei „eine sexuelle treue Beziehung mit einer/einem Partner/in“, „eine feste Beziehung und gelegentlich andere Sexualpartner/innen“, „keine feste Beziehung, nur gelegentliche Sexualpartner/innen“ sowie „eine Beziehung ohne Sex“ (vgl. Oswald/Pforr 1991, Schmidt et al. 2006). Außerdem sollten sie ihr favorisiertes Modell benennen. Anschließend bewerteten die jungen Frauen und Männer zwölf Beziehungswerte, so z.B. Vertrauen, Verständnis, sexuelle Treue, körperliche Attraktivität auf ihre subjektive Relevanz. Die Antwortoptionen umfassten bei der Frage nach den präferierten Beziehungsmodellen vier Möglichkeiten, von „sehr gut“ bis „sehr schlecht“. Bei den Beziehungswerten konnten sie ebenfalls zwischen vier Optionen wählen, von „sehr wichtig“ bis „sehr unwichtig“. Beziehungspraxen: Die Erfahrungen mit aktiver und passiver Untreue innerhalb fester Beziehungen gibt Aufschluss über einen Aspekt konkreter Beziehungspraxis. In diesem Zusammenhang fragten wir zum einen, ob die jungen Frauen und Männer schon einmal „fremdgegangen“ sind. Zum anderen interessierte, ob sie Erfahrungen mit untreuen Partnern oder Partnerinnen hatten. Somit kombinieren wir Daten, die Auskunft über die Einstellungen der Befragten geben, mit Daten, die auf der Handlungsebene angesiedelt sind und können damit zu einem umfassenderen Bild der sexuellen Beziehungsrealitäten junger Erwachsener beitragen. Ergebnisse Wer sind die Früh-, Normal- und SpätstarterInnen? Von den 695 Befragten haben bereits 85% mit „jemandem geschlafen“, wobei die Mehrheit von 61% ihr ‚erstes Mal’ mit 15-17 Jahren erlebt hat. 26 Prozent waren 18 Jahre und älter, und 13 Prozent haben ihr erstes Mal im Alter von 14 Jahren und jünger erlebt (MW: 16,37; SD: 1,782). Dies entspricht weitgehend den repräsentativen Daten der BZgA-Studie (2006) zur Jugendsexualität. Auch in unserer Erhebung gibt es keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Geschlechtszugehörigkeit und dem sexuellen Einstiegsalter. Signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen finden sich dagegen mit Blick auf die formale Bildung der Jugendlichen (vgl. Tab. 1). Während 41 Prozent der frühstartenden Frauen und Männer kein (Fach-) Abitur anstreben bzw. erreicht haben, sind dies bei den normal- und spätstartenden Befragten 23 Prozent bzw. 22 Prozent. Zugleich hat ein Viertel der FrühstarterInnen maximal eine erweiterte Berufsbildungsreife erreicht bzw. angestrebt, während dies bei den Normal- und SpätstarterInnen etwa jede/r zehnte junge Erwachsene ist.

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Tabelle 1:

Alter beim „ersten Mal“ und Schulbildung (N=584)

FrühstarterInnen (n=75) NormalstarterInnen (n=354) SpätstarterInnen (n=155) Gesamt

Schulbildung (erreicht/angestrebt) niedrig mittel 25% 16%

hoch 59%

11%

12%

77%

8%

14%

78%

12%

13%

75%

Chi-Quadrat: 17,39; p< ,01 Dieser Befund deckt sich ebenfalls mit den Ergebnissen der BZgA-Studie (2006), in der auch unter den geschlechtsverkehrerfahrenen Jugendlichen jene mit niedrigerer formaler Bildung häufiger zu den FrühstarterInnen gehören. In unseren Daten zeigt sich dieser Zusammenhang sowohl für junge Männer als auch für junge Frauen. Damit korrespondieren zwei weitere Zusammenhänge, nämlich die Finanzierung des Lebensunterhalts und die Selbsteinschätzung als Jugendliche bzw. als Erwachsene2: Je früher die Befragten mit ihren ersten sexuellen Erfahrungen beginnen, desto eher finanzieren sie ihren Lebensunterhalt zum Zeitpunkt der Befragung nicht durch ihre Eltern, sondern durch eigene Quellen (r = ,14; p< ,01). Und es sind ebenfalls die FrühstarterInnen, die sich im jungen Erwachsenenalter am häufigsten „eher als erwachsen“ betrachten (r = ,15; p< ,01). Somit lässt sich das Alter des ersten Mals im Rahmen bildungsspezifisch unterschiedlich lang andauernder Jugendphasen einordnen (vgl. Zinnecker 1986). Jugendliche aus den unteren (und z. T. auch mittleren) Bildungsgängen verlassen bereits mit 15 oder 16 Jahren die Schule, um unterschiedlichen Formen der Erwerbstätigkeit oder der beruflichen Qualifizierung nachzugehen, wogegen Gleichaltrige aus höheren Bildungsgängen noch mehrere Jahre von der eigenständigen Finanzierung ihres Lebensunterhalts befreit sind und das jugendliche Moratorium länger andauert. In dem Maße, wie auch noch im 21. Jahrhundert Jugendliche aus unteren sozialen Schichten früher erwachsen werden (müssen), geht offenbar auch die Tendenz einher, dass sexuelle Interaktionen früher vollzogen werden. Sexuelle Beziehungserfahrungen: Anzahl fester sexueller Beziehungen, Anzahl der SexualpartnerInnen und sexuelle Erfahrung außerhalb fester Beziehungen Von den 589 sexuell erfahrenen jungen Männern und Frauen verfügen 93 Prozent über Erfahrungen mit festen sexuellen Beziehungen. Während 67 Prozent dieser jungen Erwachsenen bislang maximal zwei feste Beziehungen hatten, verfügt etwa ein Viertel (27%) über Erfahrungen mit bis zu vier festen sexuellen Beziehungen. Sechs Prozent der jungen Erwachsenen können bereits auf Erfahrungen mit fünf Beziehungen und mehr zurückblicken. Junge Männer und Frauen mit höherer Bildung sowie SpätstarterInnen haben im jungen Erwachsenenalter häufiger eine geringere Anzahl von BeziehungspartnerInnen als Befragte aus kürzeren Bil2

Dabei wurden die TeilnehmerInnen folgendes gefragt: „Nun interessiert uns Deine Einschätzung zu Deiner Lebenssituation: Würdest Du Dich eher als ‚jugendlich’ oder eher als ‚erwachsen’ betrachten?“

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dungsgängen und jene, die zu einem früheren Zeitpunkt begannen, sexuelle Erfahrungen zu machen (vgl. Tab. 2). Tabelle 2:

Bivariate Korrelation (Pearsons r) zwischen der Anzahl der festen sexuellen Beziehungen und den Variablen Geschlecht, Bildung und Einstiegsalter (N=5413)

Anzahl der festen sexuellen Beziehungen

Geschlecht

Bildung: (Fach-)Abitur?

Alter beim „ersten Mal“

n.s.

-,17**

-,48**

** p < ,01 Kodierung: Geschlecht (1 = männlich; 2 = weiblich); Bildung (1 = kein (Fach-)Abitur; 2 = (Fach-)Abitur) Der Zusammenhang zwischen dem Alter beim ersten Mal und der Anzahl der festen sexuellen Beziehungen ist geschlechts- und bildungsübergreifend, d.h. er bleibt auch nach der Kontrolle der Variablen Geschlecht und Bildung bestehen. In der prozentualen Darstellung werden diese Gruppenunterschiede besonders anschaulich. Während von den Befragten, die bei ihrem ersten Mal 18 Jahre und älter waren, 94 Prozent über Erfahrungen mit maximal zwei festen Beziehungen verfügen, sind dies bei den „NormalstarterInnen“ 64 Prozent und bei den Frühstarter/innen 41 Prozent. Demgegenüber verfügt ein Viertel (24%) der Befragten, die ihr erstes Mal mit 14 Jahren oder früher erlebt haben, im jungen Erwachsenenalter über Erfahrungen mit fünf Beziehungen oder mehr. Ein Erfahrungsspektrum auf das „Normal- und „SpätstarterInnen“ kaum zurückblicken können (4% bzw. 2%). Frühe sexuelle Erfahrungen gehen dementsprechend mit einer höheren Anzahl von festen sexuellen Beziehungen einher. Die Zusammenhänge zwischen dem sexuellen Einstiegsalter und der Anzahl der Beziehungserfahrungen setzen sich bei der Anzahl der SexualpartnerInnen fort. Auch hier unterscheiden sich junge Männer und Frauen nicht voneinander. Gleichwohl bestehen signifikante Zusammenhänge mit dem Bildungshintergrund (r = -,17; p < ,01) und dem Einstiegsalter der Befragten (r = -,47; p < ,01). So verfügen Befragte aus kürzeren Bildungsgängen und Befragte, die früher beginnen sexuelle Erfahrungen zu machen, signifikant häufiger über eine größere Anzahl von SexualpartnerInnen als Befragte, die eine höhere Bildung haben und später sexuell aktiv werden. Auch hier bleibt der Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt der ersten sexuellen Erfahrungen und der Anzahl der Sexualpartner/innen nach der Kontrolle von Bildung und Geschlecht bestehen. Betrachtet man schließlich die sexuellen Erfahrungen außerhalb fester Beziehungen, so zeigt sich nur ein Zusammenhang mit dem Einstiegsalter der Befragten, nicht aber mit der Geschlechtszugehörigkeit oder ihrem Bildungshintergrund.4 Von den Befragten, die bereits mit 14 Jahren oder früher begonnen haben, sexuelle Erfahrungen zu machen, verfügen im jungen Erwachsenenalter 80 Prozent über sexuelle Erfahrungen außerhalb einer 3

Die reduzierte Fallzahl bei dieser Berechnung ergibt sich daraus, dass zur tabellarischen Darstellung der Zusammenhänge nur diejenigen Befragten berücksichtigt wurden, die bereits über Erfahrung mit Geschlechtsverkehr verfügen und Angaben zum Einstiegsalter, zur Geschlechtszugehörigkeit, zu ihrem Bildungshintergrund und zur Anzahl ihrer festen sexuellen Beziehungen gemacht haben. 4 Von den sexuell erfahrenen jungen Erwachsenen verfügen sowohl 60 Prozent der jungen Frauen als auch 60 Prozent der jungen Männer über sexuelle Erfahrungen außerhalb einer festen Beziehung.

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festen Beziehung. Demgegenüber sind es bei denjenigen, die ihr erstes Mal zwischen 15 und 17 Jahren erlebt haben, 63 Prozent und bei jenen, die zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre oder älter waren, noch 43 Prozent. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass junge Frauen und Männer, die bereits früh begonnen haben, sexuelle Erfahrungen zu machen, im jungen Erwachsenenalter sowohl über eine größere Anzahl an Beziehungs- und SexualpartnerInnen verfügen als auch häufiger sexuelle Erfahrungen außerhalb fester Beziehungen gemacht haben als diejenigen, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen zu einem späteren Zeitpunkt gesammelt haben. Beziehungswerte: Präferierte Beziehungsmodelle und Werte Analog zu den Befunden anderer Studien zeigt sich auch in unseren Daten eine klare Präferenz für eine sexuell monogame Beziehung. Die deutliche Mehrheit von 85 Prozent der befragten jungen Frauen und Männer bewertete eine „sexuell treue Beziehung“ als „sehr gut“, zusätzliche 13 Prozent als „eher gut“. Alle anderen Beziehungsmodelle schnitten im Urteil der Befragten sehr viel schlechter ab. „Eine feste Beziehung mit einem Partner/einer Partnerin und gelegentlich andere Sexualpartner/innen“ fanden 86 Prozent „eher schlecht“ oder „sehr schlecht“. Keine feste Beziehung, nur gelegentlich Sexualpartner/innen fanden nur jeweils ein Drittel der Befragten „sehr gut“ oder „eher gut“ (36%). Für eine Beziehung ohne Sex können sich nur sieben Prozent erwärmen. Während bei der Anzahl der sexuellen Beziehungen ebenso wenig Unterschiede zwischen den jungen Frauen und Männern festgestellt werden konnten wie bei der Anzahl ihrer SexualpartnerInnen und ihren sexuellen Erfahrungen außerhalb fester Beziehungen, zeigen sich dagegen bei der Bewertung der einzelnen Beziehungsmodelle schwach signifikante Zusammenhänge mit der Geschlechtszugehörigkeit. In der Gesamtgruppe aller Befragten bewerteten die jungen Frauen eine sexuell monogame Beziehung (r = -,08; p< ,05) und eine Beziehung ohne Sex (r= -,15; p< ,01) besser als die männlichen Befragten. Die beiden alternativen Modelle, in denen Sex nicht mit Treue verknüpft ist, wurden dagegen von den männlichen Befragten etwas besser bewertet (r = ,17; p< ,01 sowie r = ,16; p< ,01). Differenziert nach Bildung zeigte sich bei keinem der Beziehungsmodelle ein signifikanter Zusammenhang. Dementsprechend handelt es sich bei der deutlichen Präferenz für die sexuell monogame Beziehung um ein bildungsübergreifendes Phänomen. Dies gilt auch für das Alter beim ersten Mal. Jugendliche, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht haben, unterscheiden sich im jungen Erwachsenenalter zwar hinsichtlich ihrer sexuellen Beziehungserfahrungen, nicht jedoch hinsichtlich der Bewertung des monogamen Beziehungsmodells. Die deutliche Präferenz für die Realisierung einer monogamen Beziehung erweist sich demnach ebenso als ein Bildungshintergrund und Einstiegsalter übergreifender Effekt, wie die damit zusammenhängende Zurückhaltung gegenüber anderen Beziehungsmodellen. Eng mit der Bewertung von Beziehungsmodellen verknüpft ist die Frage nach Beziehungswerten. Vergleichbar mit den Befunden anderer Untersuchungen zeigt sich auch in unseren Daten, dass Werte wie Vertrauen, Verständnis und sexuelle Treue bei den Befragten eine herausragende Stellung einnehmen. Während es sich bei sexueller Treue und der Bewahrung der eigenen Freiheit um geschlechtsübergreifende Werte handelt, bestehen bei allen anderen Beziehungswerten signifikante Unterschiede zwischen den befragten Frauen und Männern. Diese lassen sich dahingehend interpretieren, dass junge Frauen auch im neuen Jahrtausend über „romantischere“ Beziehungswerte verfügen und es die jungen Männer sind, die der körperlichen Attraktivität und gutem Sex eine höhere Wichtigkeit beimessen (vgl. Tab. 3).

174 Tabelle 3:

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Beziehungswerte aller Befragten, differenziert nach Geschlecht in Prozent (N=6885)

Beziehungswerte Vertrauen gutes Verstehen gegenseitiger Respekt sexuelle Treue offene Kommunikation eigene Freiheit Zärtlichkeit Verliebtheit Guter Sex gemeinsame Ziele Attraktivität gemeinsame Hobbies

„sehr wichtig“ Männer Frauen 92 97 91 95 79 91 76 82 74 81 72 76 66 83 51 68 36 28 22 33 20 13 9 10

Sig.6 * * ** n.s. * n.s. ** ** ** ** ** n.s.

* p< ,05; ** p< ,01 Berücksichtigt man jedoch die sexuellen und beziehungsbezogenen Vorerfahrungen und Einstellungen der jungen Frauen und Männer, ergibt sich ein differenzierteres Bild, das nicht zuletzt auch die Geschlechtsunterschiede bei den Beziehungswerten relativiert. Bezieht man etwa nur jene Befragten in die Analyse ein, die das monogame Modell favorisieren (N=616), ergeben sich deutlich veränderte Befunde: Junge Frauen und Männer, die eine sexuell monogame Beziehung präferieren, unterscheiden sich hinsichtlich der Bedeutung von Vertrauen, Verständnis, offener Kommunikation und auch gutem Sex nicht mehr voneinander.7 Dementsprechend lässt sich festhalten, dass diese jungen Frauen und Männer nicht nur ihre Präferenz für das sexuell exklusive Beziehungsmodell teilen, sondern sich darüber hinaus auch im Hinblick auf die Bedeutung, die sie verschiedenen Beziehungswerten beimessen, ähneln. Das Phänomen der „männlichen Romantisierung der Sexualität“, das Gunter Schmidt (1993, 2004) auf der Basis seiner Daten herausgearbeitet hat, zeichnet sich dementsprechend auch in unseren Daten ab. Welche Unterschiede in den Beziehungswerten lassen sich nun mit Blick auf das Alter beim ersten Mal feststellen? Im Gegensatz zu den Unterschieden zwischen den männlichen und weiblichen Befragten bei den Beziehungswerten zeigt sich bei der Differenzierung nach dem sexuellen Einstiegsalter, dass die signifikanten Unterschiede beziehungspräferenzübergreifend sind. Jungen Erwachsenen mit frühen sexuellen Erfahrungen ist – unabhängig von ihrem präferierten Beziehungsmodell – guter Sex (r= ,13; p< ,01) und körperliche Attraktivität (r= 5

Die Anzahl aller Befragten beinhaltet in dieser Darstellung nur diejenigen Frauen und Männer, die sämtliche Werteitems beantwortet haben. 6 Die Angabe der Signifikanz basiert auf einer bivariaten Korrelation nach Pearsons und bezieht sich auf die Unterschiede in der gesamten Bewertungsskala, die von sehr wichtig bis vollkommen unwichtig reicht und nicht ausschließlich auf Unterschiede in der Bewertung als „sehr wichtig“. Diese Darstellungsform wurde zur besseren Übersichtlichkeit gewählt. 7 Signifikant bleibt dagegen die unterschiedliche Bedeutung gemeinsamer Ziele (r= -,20; p< ,01), Zärtlichkeit (r= -,19; p< ,01), gegenseitigen Respekts (r= -,17; p< ,01), Verliebtheit (r= -,17; p< ,01) und körperlicher Attraktivität (r= ,12; p< ,01).

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,12; p< ,01) in einer Beziehung etwas wichtiger als jenen, die mit ihren sexuellen Erfahrungen zu einem späteren Zeitpunkt begonnen haben. Diese Effekte bleiben auch dann bestehen, wenn sie auf Geschlecht und Bildungshintergrund kontrolliert werden. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass bei jenen jungen Erwachsenen, die das monogame Beziehungsmodell präferieren, es die Frühstartenden sind, denen eine offene Kommunikation wichtiger ist, als denen, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen zu einem späteren Zeitpunkt gemacht haben (r= ,10; p< ,05). Zusammenfassend lässt sich für die Beziehungswerte festhalten, dass es sich insbesondere bei sexueller Treue um einen Wert handelt, der sowohl geschlechts- und bildungsübergreifend hohe Relevanz besitzt und auch von den VertreterInnen aller sexueller Einstiegsgruppen gleichermaßen geteilt wird. Darüber hinaus bewerten junge Erwachsene mit frühen sexuellen Erfahrungen Geschlechts-, Bildungs- und Beziehungspräferenz übergreifend körperliche Attraktivität und eine befriedigende Sexualität als wichtiger als junge Erwachsene, die später mit Geschlechtsverkehr begonnen haben. Eine geringere Relevanz anderer Beziehungswerte, wie es etwa die Debatte um „sexuelle Verwahrlosung“ nahe legt, ist dagegen nicht festzustellen. Beziehungspraxis: Erfahrungen mit sexueller Untreue Unabhängig von Geschlecht, Bildung und Einstiegsalter messen junge Erwachsene sexueller Treue eine herausragende Bedeutung bei. Gleichwohl verfügte von den sexuell und zugleich beziehungserfahrenen jungen Frauen und Männern etwa ein Drittel über aktive und passive Erfahrungen mit sexueller Untreue, wobei sich deutliche Unterschiede zwischen den jungen Erwachsenen zeigen (vgl. Tab.4): Tabelle 4:

Erfahrungen mit aktiver und passiver Untreue differenziert nach Geschlecht, Bildung und Einstiegsalter in Prozent 8 (N=538) Aktive Untreueerfahrung Passive Untreueerfahrung

Geschlecht Frauen Männer sig. Bildung (Fach-)Abitur Kein (Fach-)Abitur sig. Einstiegsalter (gruppiert) 14 Jahre und jünger 15-17 Jahre 18 Jahre und älter sig.

35 25 *

36 33 n.s.

29 35 n.s.

30 47 **

45 33 14 **

57 36 18 **

** p< ,01; * p< ,05 8

Signifikanzangaben auf der Basis von Chi-Quadrat-Tests: Aktiven Untreueerfahrung und Geschlecht (Chi = 6,187; df = 1; p < ,05); Passive Untreueerfahrung und Bildung (Chi = 12,798; df = 1; p < ,01); Aktive Untreueerfahrung und Einstiegsalter (Chi = 24,393; df = 2; p < ,01); Passive Untreueerfahrung und Einstiegsalter (Chi = 32,057; df = 2; p < ,01)

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Junge Frauen sind im Vergleich mit jungen Männern signifikant häufiger untreu. Bei der Erfahrung mit untreuen PartnerInnen gibt es dagegen keinen Zusammenhang mit der Geschlechtszugehörigkeit. Befragte, die über eine geringere Bildung verfügen, machen signifikant häufiger als Befragte mit hoher Bildung Erfahrungen mit passiver Untreue. Im Hinblick auf die eigene Untreue unterscheiden sich die Bildungsgruppen dagegen nicht voneinander. Die deutlichsten Unterschiede finden sich bei den unterschiedlichen Einstiegsgruppen: Je früher die Befragten begonnen haben, sexuelle Erfahrungen zu machen, desto häufiger verfügen sie als junge Erwachsene über Erfahrungen mit aktiver und passiver Untreue. Diese Zusammenhänge bleiben sowohl unter Kontrolle der Bewertung der verschiedenen Beziehungsmodelle als auch unter Kontrolle des Stellenwerts sexueller Treue. Berücksichtigt man zusätzlich die Beziehungserfahrungen der jungen Erwachsenen, nivelliert sich der Zusammenhang zwischen dem Alter beim ersten Mal und der aktiven Untreue. Nur der Zusammenhang mit der Erfahrung mit untreuen Partner/innen bleibt in der Partialkorrelation auch unter der Kontrolle der Anzahl der Beziehungen bestehen (r= ,13; p< ,01). Junge Erwachsene, die zu einem früheren Zeitpunkt ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht haben, verfügen zwar über eine größere Anzahl sexueller Beziehungen, gehen in diesen jedoch nicht häufiger fremd als Frauen und Männer, die zu einem späteren Zeitpunkt sexuell aktiv wurden. Gleichwohl sind es die frühstartenden Jugendlichen, die sich im jungen Erwachsenenalter häufiger als ihre AltersgenossInnen mit der Untreue ihrer PartnerInnen auseinandersetzen müssen. Diskussion Die empirischen Analysen zeigen, dass auch im 21. Jahrhundert die sexuell monogame Beziehung das übergreifende Beziehungsideal junger Männer und Frauen darstellt. Obgleich sich hinsichtlich der Beziehungswerte ebenso wie bei der Bewertung ‚alternativer’ Beziehungsmodelle und auch in den Erfahrungen von aktiver und passiver Untreue zum Teil deutliche Unterschiede zwischen jungen Männern und jungen Frauen, ebenso wie zwischen den unterschiedlichen Bildungsgruppen und unterschiedlichen sexuellen Einstiegsgruppen finden, wird ebenfalls ersichtlich, dass diejenigen jungen Erwachsenen, die früher als der Durchschnitt ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen, keinesfalls als sexuell verwahrlost zu bezeichnen sind. Vielmehr zeichnen sich diese Jugendlichen im jungen Erwachsenenalter vor allem dadurch aus, dass sie aufgrund ihres früheren Beginns mit sexuellen Interaktionen als junge Erwachsene über ein größeres Spektrum an sexuellen (und Beziehungs-)Erfahrungen verfügen. Demgegenüber unterscheiden sich diese Jugendlichen im jungen Erwachsenenalter weder hinsichtlich ihrer Präferenz für eine sexuell monogame Beziehung noch hinsichtlich der Bedeutung, die sie sexueller Treue beimessen. Und schließlich zeichnen sich frühstartende Heranwachsende im jungen Erwachsenenalter auch nicht durch ein ‚lockereres’ Verhältnis im Umgang mit sexueller Treue aus. Wird die Anzahl ihrer Beziehungen berücksichtigt, erweist sich diese Gruppe als ebenso treu bzw. untreu, wie diejenigen, die später sexuell aktiv wurden. Insgesamt erscheinen auf der Basis dieser Befunde die Unterstellungen, die in der Debatte um „sexuelle Verwahrlosung“ formuliert werden und die auf jene Jugendlichen zielen, die früh sexuell aktiv werden, als eine sexualitätsbezogene Wiederauflage jener von Stanley Cohen (1987) als „Moral Panics“ bezeichneten Versuche der Etikettierung einer bestimmten Gruppe Jugendlicher, die weder ihren Erfahrungen noch ihren Einstellungen gerecht werden. Gleichzeitig zeigen die Befunde, dass frühstartende Jugendliche auch im jungen Erwachsenenalter häufiger über Erfahrungen mit untreuen PartnerInnen verfügen und es darüber hinaus die weiblichen Befragten sind, die häufiger ihre Ansprüche an sexuelle Treue nicht einlösen können. Die Erfahrung, dass die Realisierung des sexuell exklusiven romantischen

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Beziehungsideals nicht unbedingt einfach gelingt und sexuelle Erfahrungen, die diesem Ideal zuwiderlaufen, ebenso zur eigenen sexuellen Biographie gehören (können), kann sich auf übergeordneter Ebene als eine zentrale Einsicht der vorliegenden Analysen erweisen. Berücksichtigt man, dass die Kopplung von fester Beziehung und sexuellem Begehren für Jugendliche insofern in einem besonderen Maße verbindlich ist, da sie so stigmatisierende Zuschreibungen vermeiden wollen, wird ersichtlich, dass (sexual)pädagogische Herausforderungen möglicherweise gerade auch in der reflexiven Auseinandersetzung mit jenem Phänomen liegen können, das Marianne Pieper und Robin Bauer (2005) als „Mono-Normativität“ bezeichnen. Mit dem Begriff der Mono-Normativität wird darauf hingewiesen, „dass Beziehungsformen, die nicht der Monogamie-Norm entsprechen, als ‚Abweichung’ abgewertet bzw. ignoriert und verschwiegen werden“ (Pieper/Bauer 2005, 60). Die Erfahrungen, mit denen sich Jugendliche im Rahmen ihrer sexuellen Biographie auseinandersetzen müssen, bestehen auch darin, dass Ansprüche an sexuell exklusive Liebesbeziehungen nicht immer eingelöst werden können und gleichzeitig mit der Gefahr umgegangen werden muss, durch sexuelles Experimentieren in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen diskreditiert zu werden. Für sexualpädagogische Interventionen, die auf die Erweiterung der sexuellen Handlungsspielräume von Jungen und Mädchen gerichtet sind, bietet sich die Möglichkeit gerade diese Widersprüchlichkeiten aufzugreifen, um sich mit den gesellschaftlichen Konstruktionen legitimer (Jugend-)Sexualität auseinanderzusetzen, sie zu hinterfragen und Alternativen zu eröffnen. Darüber hinaus stellt sich für Soziale Arbeit die grundsätzliche Frage, wie sie sich zu der Thematisierung sexueller Lebensführung bzw. sexualitätsbezogener Lebensführungsproblematiken verhält und auf welche Formen des Wissens sie sich dabei bezieht. So könnte sie sich durchaus als Nutznießerin der beschriebenen Moralpaniken positionieren und die ihr historisch wohlvertraute Kategorie der „sexuellen Verwahrlosung“ im aktuellen Gewand der Debatte um die „neue Unterschicht“ wiederbeleben. Auf empirisch gesichertes Wissen kann sie sich dabei allerdings nicht berufen. Die Diskrepanzen zwischen empirischen Daten und den Unterstellungen in der Debatte um „sexuelle Verwahrlosung“ machen vielmehr deutlich, dass Jugendliche aus unteren sozialen Schichten nicht nur im Hinblick auf ihre gesamten Lebenschancen über quantitativ deutlich beschränktere Möglichkeiten der Selbstverwirklichung verfügen, sondern zudem mit der qualitativen Abwertungen ihrer Praktiken und Bewältigungsversuche konfrontiert sind. Somit wäre Soziale Arbeit sicher besser beraten, sexuelle Handlungs- und Daseinsmöglichkeiten im Kontext ungleicher materieller und symbolischer Begrenzungen sowohl empirisch als auch theoretisch zu analysieren. Auf dieser Basis können alternative Strategien entwickelt werden, die die gesellschaftlichen Konstruktionen legitimer Sexualität samt den Interdependenzen von Geschlecht und Klasse reflektier- und hinterfragbar machen und eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit fokussieren. Das Konzept der sexuellen Handlungsfähigkeit, das nach den unterschiedlichen Möglichkeiten und Begrenzungen fragt, sexuelle Beziehungen gestalten und die eigenen Vorstellungen realisieren zu können, kann hierfür eine sinnvolle Perspektive eröffnen. Anders als die pejorativen Unterstellungen in der Debatte um sexuelle Verwahrlosung bietet sich damit nämlich die Möglichkeit für theoretisch und empirisch fundierte Aussagen und Problematisierungen.

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Hin-Sichten professioneller Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe. Zur Bestimmung der Kategorie Adressat Nina Thieme Die Anwendung von Kategorien im Allgemeinen – die Praxis des Kategorisierens – als auch die Anwendung der Kategorie Adressat im Besonderen stellen für die Profession Sozialer Arbeit zentrale Praxen dar, die trotz ihrer Relevanz, so lässt sich zumindest für den deutschsprachigen Raum konstatieren, in der Diskussion disziplinärer Sozialer Arbeit eine eher marginale Berücksichtigung erfahren. Zu dem aufgezeigten Desiderat wird durch die dargestellte Studie dahingehend ein Beitrag geleistet, als dass analytisch und theoretisch fokussiert, aber auch empirisch fundiert untersucht wird, wie professionelle Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe die Kategorie Adressat bestimmen. Anschließend an die Explikation des Forschungsinteresses werden mit einem ‚Sprechen über Adressaten’ zusammenhängende erkenntnistheoretische Implikationen thematisiert, die es für die empirische Realisierung des Forschungsvorhabens zu reflektieren gilt. Die empirische Umsetzung erfolgt orientiert an der Repertory Grid Interview Methodik, einem strukturierenden Interviewverfahren, dessen Gegenstandsangemessenheit zur Untersuchung von HinSichten professioneller Akteure auf Adressatinnen diskutiert werden wird. Den Beitrag abschließend werden erste Ergebnisse der Studie dargestellt. Zum Forschungsinteresse Mit den Begriffen Adressat – oder Klientin, Nutzer, Kunde in der Terminologie anderer Diskurslinien – werden diejenigen bezeichnet, die adressiert werden durch Soziale Arbeit beziehungsweise diese „[...] wohlfahrtsproduzierende Form der Lebenslaufregulierung [...], die mittels kommunikativer Hilfen auf soziale Lebensführungsprobleme zielt, die ihrerseits nur vor dem Hintergrund spezifischer, (sozial)politisch hervorgebrachter Normalitätsmuster, Möglichkeitsstrukturen und Problematisierungsweisen verstanden werden können“ (Otto & Ziegler 2006: 107), in Anspruch nehmen. Rekurrierend auf Juhila, Pösö, Hall & Parton, die konstatieren, „[that] [t]he client is at the core of social work [...] [and] is considered if not the only, then at least an essential target of and motive for, social work” (2003: 11), lässt sich begründen, weshalb der Adressat1 zum (Teil-) Gegenstand sozialpädagogischer Forschung erhoben wird. Das Forschungsinteresse der in diesem Artikel dargestellten Studie2 richtet sich jedoch nicht auf die beispielsweise durch sozialpädagogische Adressatenforschung oder dienstleistungstheoretisch zu verortende Nutzerinnenforschung verfolgten Ziele der „Rekonstruktion von Erfahrungen, Hilfeverläufen auf Seiten der Adressaten“ (Schaarschuch & Oelerich 2005: 1 Der Begriff Adressat ist aufgrund seiner neutraleren Konnotation im Vergleich zu anderen Termini gewählt worden (vgl. Schaarschuch & Oelerich 2005: 16), trotz des durch den Begriff implizierten passiven Status des Adressierten. 2 Bei der dargestellten Studie handelt es sich um ein im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Jugendhilfe im Wandel“ an der Universität Bielefeld (12/2005 bis 11/2008) gefördertes Dissertationsprojekt.

G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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17) oder der „Rekonstruktion des Gebrauchswertes sozialer Dienstleistungen aus Sicht der Nutzer“ (ebd.), sondern in den (Forscherinnen-)Blick genommen werden Hin-Sichten3 professioneller Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe auf Adressatinnen, die es orientiert an der Repertory Grid Methodik (vgl. Kelly 1955) durch Interviews empirisch zu erfassen gilt. Zu diesem Zweck wurden sechs4 Interviews mit Professionellen aus den Feldern der ambulanten Hilfen zur Erziehung sowie der Kinder- und Jugendarbeit geführt. Die durch das gewählte Interviewverfahren vorgegebene Art und Weise, Adressatinnen ausschließlich einer kategorisierenden Logik folgend zu bestimmen, begrenzt einerseits den Möglichkeitsraum empirisch generierter, wissenschaftlicher Aussagen über ‚Hin-Sichten’ professioneller Akteure. Andererseits wird auf der Folie der Bewusstheit für diese Konstruktivität des eigenen Forscherinnen-Handelns der professionstheoretische Erkenntnisgewinn adressatenbezogener Kategorisierungen herausgearbeitet anhand der Fragestellungen, wie sich Kategorisierungsprozesse gestalten und wie in dem vorgegebenen Möglichkeitsraum von Kategorisierung Adressaten bestimmt werden. Hin-Sichten, sowohl im wissenschaftlich-inszenierten Kontext erzeugte, aber auch in der ›natürlichen‹5, alltagsweltlichen Interaktion Professioneller mit anderen Fachkräften, Adressaten etc. 3

An dieser Stelle sei ausdrücklich Prof. Dr. Paul Mecheril gedankt, der den Begriff Hin-Sichten im Rahmen der Bielefelder Forschungswerkstatt als mögliche Variante zur Benennung des Forschungsvorhabens eingeführt hat. Aufgrund einer fehlenden, expliziten Zugehörigkeit des Begriffs zu bestimmten Diskursen werden durch ihn konträr zu auf im Folgenden verwiesene Termini keine theoretischen Vorannahmen transportiert. Der Begriff Vorstellungen professioneller Akteure als ein mögliches Äquivalent zur Bezeichnung des Untersuchungsgegenstandes ist rekurrierend auf (sozial-)konstruktivistische Überlegungen zu verwerfen. Problematisch erscheint der Begriff deshalb, weil er eine originäre Erfahrbarkeit eines mentalen Zustandes des Anderen suggeriert, obwohl „keine noch so angestrengte Vergegenwärtigung dem [Forscher-]Ich das Relief der Erlebnisse und Erfahrungen des Anderen [also des Professionellen], »von seiner Seite her, wie sie von ihm erlebt werden«, originär geben und zugänglich machen kann“ (Därmann 2002: 30). Ähnliche Kritik lässt sich zur Terminologie des Persönlichen Konstruktes formulieren, die als Bezeichnung subjektiver Deutungsmuster im Kontext der durch Kelly begründeten Repertory Grid Methodik verwendet wird. Die empirisch erhobenen personal constructs können nicht als originär erfassbare persönliche Konstrukte der Professionellen verstanden werden, sondern als „[...] social artifacts, [as] products of historically situated interchanges among people“ (Gergen 1985: 5), als Produkte also, die im ForschungsSetting in der interaktiven Praxis zwischen Professionellem und Forscherin auf der Basis der durch die Methode vorgegebenen, wissenschaftlichen Wirklichkeitsvorstellung konstruiert werden. Auch durch die Termini Adressatenbild und Repräsentation, die mit machtvollen Diskursen verknüpft sind (vgl. zur bildwissenschaftlichen Perspektive Sachs-Hombach & Rehkämper 2004 und zur Repräsentation Därmann & Jamme 2002), wird die Annahme transportiert, dass es eine einzige, ›wahre‹ Wirklichkeit gäbe, die sich einer korrespondenztheoretischen Logik folgend unmittelbar erkennen ließe. 4 Geplant waren vier Interviews, in einer Einrichtung erklärten sich spontan zusätzlich zur vorgesehenen Interviewpartnerin zwei weitere Mitarbeiter zur Teilnahme bereit, so dass sechs Interviewprotokolle vorliegen, die jedoch aufgrund der – auch zeitlichen – Extensivität sequenzanalytischer Auswertung nicht alle analysiert werden. 5 Kritisch setzt sich Mensching mit der Unterscheidung natürlicher und quasi-natürlicher Daten auseinander. Das Konstrukt natürliche Daten vermittele den nicht zutreffenden Eindruck, „dass natürliche Daten sich dem Wissenschaftler und von ihm unbeeinflusst, als äußere Gegebenheiten förmlich aufdrängen [würden] [...]. Unabhängig davon, ob Erhebungssituationen zu Forschungszwecken initiiert [würden] oder als Alltagshandeln im Forschungsfeld zu beobachten [seien], [sei] die Erhebung selbst bereits ein interpretativer wissenschaftlicher Akt, in dem sich die selektive Aufmerksamkeit des standortgebundenen Wissenschaftlers [dokumentiere]“ (2003: Absatz 30).

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produzierte, sind als Praxen der Zuschreibung zu verstehen, durch die Auskunft über Adressatinnen gegeben wird und die in einem „Modell des Sprechen-Über“ (Mecheril 2003: 33) erfolgen, in einem als machtvoll zu bezeichnenden Modus. „»Sie beschreiben uns«, lässt Salman Rushdie in den Satanischen Versen (1989) eine Romanfigur sagen, »[...] sie haben die Macht der Beschreibung, und wir sind den Bildern unterworfen, die sie sich von uns machen«“ (ebd.). Zwar werden hegemoniale Zuschreibungspraxen durch Ex-post-facto-Erhebungen, wie kritisch anzumerken ist, nicht im Kontext „[...] [der] Wirklichkeit der Begegnungen und [in Bezug auf] ihre konstitutive Leistung für das zu beschreibende Setting [...]“ (Hitzler & Messmer 2008: 245) untersucht, dennoch können durch Interviews erfasste, sich auf Adressaten beziehende Deutungen, mit Hacking als interaktive Arten zu bezeichnen, für zukünftiges Handeln wirkmächtig sein, „[...] sobald sie den Personen oder ihren Mitmenschen bekannt sind und in den Institutionen zum Einsatz gebracht werden [und] die Art der Selbsterfahrung der einzelnen verändern und Personen sogar dazu bewegen können, ihre Gefühle und ihr Verhalten zum Teil aufgrund [solcher] Klassifikation zu entwickeln“ (2002: 164f.). Trotz des machtvollen Charakters der für Soziale Arbeit konstitutiven Zuschreibung des Status Adressat6 sowie damit zusammenhängender Attribute, sozialstrukturell flankiert durch eine Asymmetrie zwischen Vertreterinnen einer offiziellen und gesellschaftlich institutionalisierten Instanz, in der vorliegenden Studie repräsentiert durch die Kinder- und Jugendhilfe, und als Adressaten etikettierten Individuen, ist ein Desiderat an empirischer Forschung bezüglich der Thematik zumindest für den deutschsprachigen7 Raum zu konstatieren. Eine Ausnahme stellt die Studie von Heiner (2004) dar. Im Rahmen mehrerer Lehr- und Lernforschungsprojekte wurde auch empirisch anhand von Interviews mit 32 Fachkräften aus verschiedenen Praxisfeldern Sozialer Arbeit der Frage nachgegangen, „ob und wie sich eine Soziale Arbeit in der Praxis realisieren lässt, die es verdient, als »professionell« bezeichnet zu werden“ (47). Aus dem empirischen Material wurde eine zweidimensionale Typologie8 entwi6

Rekurrierend auf Widdicombe provozieren Prozesse personenbezogener Klassifizierung, beispielsweise die Zuschreibung der Kategorie Adressat, einen reduktionistischen Blick auf das gelabelte Individuum. “[T]he sense or purpose of his or her actions, beliefs, opinions and so on, may be understood solely by virtue of what is known commonly or expected about that category, and without consulting him or her. This may in turn provoke a sense of social injustice. Moreover, if it is assumed that the basis of a person’s actions lies in his or her collective identification, this may constitute a threat to individual integrity and the authenticity of his or her actions” (1998: 53). 7 Gesprächsanalytisch wird die soziale Produktion des Klienten von Messmer & Hitzler (vgl. u.a. 2007) im Rahmen des DFG-Projektes „Reflexive Hilfeplanung in der Jugendhilfe als kommunikativer Aushandlungs- und Entscheidungsprozess“ untersucht. Vgl. auch den Beitrag von Messmer und Hitzler in diesem Band. 8 Die von Heiner (vgl. 2004: 84), aber auch anderen Autorinnen (vgl. u.a. Honer 1993; Kluge 1999: 43) hervorgehobene Strukturierungsfunktion von Typologien dient der „Vereinfachung und damit einer besseren Übersichtlichkeit“ (1999: 44), wie Kluge betont. Einhergehend damit ist jedoch eine zumindest in dem Fall kritisch zu reflektierende, erhebliche Informationsreduktion, wenn Interviews aussortiert werden, weil „[sie] sich nicht in die Typologie einordnen [lassen]“ (Heiner 2004: 84). Des Weiteren ist diskussionswürdig, inwieweit die bei Heiner gebildeten Typen dem Anspruch „externer Heterogenität auf der Ebene der »Typologie«“ (Kluge 2000: Absatz 2) gerecht werden, zumindest in Bezug auf die Dimension der Einstellung der Fachkraft zum eigenen Angebot. Die diese Dimension bestimmenden, empirisch nachweisbaren Merkmale (‚Ineffektivität, aber Qualität des Angebotes’ und

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ckelt, mittels der entlang der Dimensionen ‚Einstellung der Fachkraft zum eigenen Angebot’ sowie ‚Einstellung der Fachkraft zur Klientel’ eine Ordnung und Strukturierung der Interviews erfolgte. Allerdings repräsentiert die letztgenannte Dimension nicht das genuine Forschungsinteresse der Untersuchung, sondern einen Teilbereich der empirisch fundierten Erforschung professioneller Selbstverständnisse. Durch das Sprechen über das Klientel wie in Heiners Studie oder aber über die Adressaten im Kontext der Untersuchung von Hin-Sichten professioneller Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe, wird unhinterfragt der Adressat als etwas Substanzielles, als Person identifiziert. Messmer & Hitzler pointieren wie folgt: „Ob in den klassischen Domänen des Rechts, der Medizin oder der Religion (oder auch der Sozialen Arbeit, Anm. N.T.) – immer sind damit (mit dem Begriff des Adressaten oder vergleichbaren Bezeichnungen, Anm. N.T.) Personen gemeint“ (2007: 41, Hervorheb. N.T.). Einer solchen Art und Weise des Sprechens über Adressaten liegt ein erkenntnistheoretischer Realismus zugrunde, der nach Von Kutschera „die normale Auffassung im Alltag wie in den Wissenschaften dar[stellt]“ (1998: 65). Als Adressaten bezeichnete Personen werden als Bestandteil einer bestehenden und substanziellen Welt verstanden, „auf die sich das Subjekt – seinem Selbstverständnis nach – [...] bezieht, indem es auf sie reagiert, sie abbildet [...]“ (Crone 2005: 25). Das Sein der als Adressat bezeichneten Person bestimmt die Beschreibung Adressat, die „dann adäquat, zutreffend, korrekt [ist], [...] [wenn] das Beschriebene mit dem unterstellten Realen, [sic!] in gewisser Weise »übereinstimmt«“ (Lenk 2000: 62). Um in der dargestellten Studie zumindest auf theoretischer Ebene diese Annahme eines erkenntnistheoretischen Realismus nicht unreflektiert zu reproduzieren, wird ein „separating words from persons“ (Gergen 2001: 21) erforderliches Denken als notwendig erachtet. Infolgedessen wird der Begriff Adressat begründet9 verstanden als „Kategorie, als Ergebnis einer Zuschreibung bestimmter Eigenschaften“ (Treibel 2004: 102, Hervorheb. im Original). Zumindest theoretisch eröffnet diese Lesart einen weiteren Zugang zu Erkenntnis und Wirklichkeit, der ein realistisches Denken in wesentlichen Punkten kontrastiert und sich als konstruktivistisch bezeichnen lässt.

‚Effektivität und Qualität des Angebotes’) sind zumindest partiell kongruent und kennzeichnen sich demzufolge nicht durch eine hohe Differenz, die auf der Ebene der Typologie für eine klare Abgrenzung notwendig wäre. 9 In Abgrenzung zu Bezeichnungen wie Begriff oder Terminus, nach Wendt als „[gedankliche Vertreter von materiellen oder immateriellen] Gegenständen, d.h. beliebigen Ausschnitten aus der wahrnehmbaren oder vorstellbaren Welt“ (1997: 23) definiert, erscheint Kategorie als ein für die sozialwissenschaftliche Analyse von Hin-Sichten professioneller Akteure gehaltvolleres, weil theoretisch anschlussfähigeres Konzept. Entsprechende, insbesondere professions- und machttheoretische Zugänge eröffnende Komponenten einer „conceptual logic embedded in category construction” (Yanow 2002: 11), die auch Starr (vgl. 1992: 166ff.) hervorhebt, sind “naming”, “grouping“, “domain definition“ und “ordering“. Auch Klassifikation als Alternative zu Kategorie wird dem vorwiegend durch skandinavische Autorinnen geführten Diskurs um language practices in Social Work folgend, in dem zumeist von categorizing work (vgl. Mäkitalo 2002) oder categorization/categorisation (vgl. u.a. Juhila 2004; Hall, Sarangi & Slembrouck 1999; Hall, Slembrouck & Sarangi 2006) die Rede ist, verworfen.

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Erkenntnistheoretische Implikationen „Categories are spectacles through which we routinely observe and classify the social world“ (Hall, Slembrouck & Sarangi 2006: 23). Wie mit derartigen Prozessen verbundene Erkenntnis von Wirklichkeit geschieht, erklären Theorien zur Genese von Kategorien. Rekurrierend auf Mäkitalo (vgl. 2002: 9f.) lassen sich Theorien zur Entstehung von Kategorien in realistische und konstruktivistische Ansätze10 differenzieren. Realistischem Denken zufolge können Kategorien „[be understood as] given to the individual by society“ (Douglas 1986: 10). Menschen kategorisieren die Welt so, wie die Welt sei. Objektive Realität wird einer Korrespondenzlogik folgend als abbildbar postuliert, die Realität bestimme die Kategorie. Konträr dazu werden mit konstruktivistischen Ansätzen Kategorien als Konstrukte verstanden, die nicht durch eine abbildbare Wirklichkeit bestimmt werden. Vielmehr wird angenommen, insbesondere betont durch Vertreterinnen sozialkonstruktivistischer Richtung11, „[that] people categorize the world the way they do because they have participated in social practices, institutional activities and other forms of symbolic action that presuppose or in some way make salient those categorizations“ (Mäkitalo 2002: 20). Entgegengesetzt zu dieser theoretisch durch den Kategorienbegriff eröffneten Möglichkeit, Adressat sowohl realistisch als auch (sozial-)konstruktivistisch zu denken, ergibt sich bei der empirischen Umsetzung der Forschungsfrage, wie professionelle Akteure die Kategorie Adressat bestimmen, die Schwierigkeit, dass sich die wissenschaftlich zu erfassenden Deutungen auf „[...] [die alltägliche, implizit der These eines Realismus folgenden] Wirklichkeit der Begegnungen“ (Hitzler & Messmer 2008: 245) mit Adressaten beziehen. Infolgedessen wurde es von der Forscherin abgelehnt, in den mit professionellen Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe geführten Interviews, die – wenn es um die wissenschaftliche Erfassung subjektiver Deutungen geht – das Verfahren der Wahl repräsentieren (s. u.), den Fokus auf die ›Kategorie Adressat‹ zu richten. Trotz einer damit verbundenen, theoretisch eröffneten Möglichkeit, sowohl eine realistische als auch eine (sozial-)konstruktivistische Lesart des Gesprächsgegenstands Adressat auf Seiten des Interviewten zuzulassen, wurde zum einen erwartet, dass Professionelle wie selbstverständlich einer dem Alltag inhärenten Logik realistischer Weltsicht folgen und über Adressaten als Personen sprechen. Zum anderen wurde die Gefahr gesehen, dass der Versuch, wissenschaftliche Vorannahmen zu reduzieren, indem nicht über Adressatinnen, sondern über die ›Kategorie Adressat‹ gesprochen wird, zu Irritationen bei den Interviewten hätte führen und den Interviewverlauf hätte beeinträchtigen können. Demzufolge wurde empirisch nicht untersucht, wie Professionelle die ›Kategorie Adressat‹ bestimmen, sondern der Fokus war auf ihre Hin-Sichten auf Adressatinnen gerichtet. Ein Interviewverfahren, das als angemessen für die Untersuchung erachtet wurde, ist die von George A. Kelly im Kontext seiner Psychology of personal constructs (1955) entwickelte Repertory Grid Methodik. 10 Nicht weiter ausgeführt werden an dieser Stelle unterschiedliche Richtungen innerhalb realistischer und konstruktivistischer Auffassungen von Welt, auf die Taylor & White hinweisen: „It is […] worthwhile noting that the two positions are not stable and unitary; beneath broad areas of agreement of approach there is much fragmentation […]” (2001: 41). 11 Warrens Argumentation folgend werden constructionism and constructivism nicht als konträre, sondern komplementäre, unterschiedliche Foki akzentuierende konstruktivistische Ansätze verstanden, “[which] [s]eparately [...] are limited in the depth of the insights they can offer“ (2004: 41).

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Zur Gegenstandsangemessenheit der Repertory Grid Methodik Trotz zu reflektierender Nachteile bietet ein an der Repertory Grid Methodik orientiertes Interviewverfahren, das auf die Erhebung persönlicher Konstrukte gerichtet ist, die sich als verbale Repräsentanzen auf Gegenstände beziehen (vgl. Scheer 1993: 24), entscheidende Vorteile für die empirische Fundierung des Forschungsinteresses, wie professionelle Akteure Adressatinnen bestimmen. Diese Vorteile gilt es im Folgenden zu erörtern. Einleitende Überlegung: Gibt es genuin (sozial-)pädagogische Forschungsmethoden? Verträte man die These, es gäbe genuin (sozial-)pädagogische, psychologische oder aber soziologische Forschungsmethoden, durch deren exklusive Besonderheit „Differenzielles“ (Mollenhauer 1998: 30) konstituiert würde, wäre eine Diskussion der Frage nach der Angemessenheit der im Kontext der Psychologie persönlicher Konstrukte entstandenen und ergo als genuin psychologisch zu klassifizierenden Repertory Grid Technique für sozialpädagogische Forschung überflüssig. Folgt man jedoch der Argumentation, dass es keine der Sozialpädagogik eigentümliche Forschungsmethode gebe, sondern „es nur Sinn [mache], von einer genuin sozialpädagogischen Forschung zu sprechen, wenn damit eine besondere, inhaltlich-disziplinäre, sozialpädagogisch begründete Forschungskonzeption bezeichnet [werde]“ (Lüders 1998: 114), wenn also Thole zufolge „möglicherweise auch von anderen Disziplinen zu beobachtende Fragestellungen über die Verknüpfung unterschiedlicher Aspekte, gesellschaftlicher Bereiche und Spektren um einen der Sozialpädagogik eigenen, typischen »sozialpädagogischen Blick« [angereichert werden], einen Blick, der zwischen »Feld- und Bildungsbezug«, zwischen Subjekt- und Strukturperspektive, zwischen institutionellen und personellen Aspekten seinen Horizont entwickelt“ (2003: 49f.), dann ist die Repertory Grid Methodik als eine methodologischmethodische Möglichkeit für sozialpädagogische Forschung thematisierungswürdig. Für den deutschsprachigen Raum immer noch als ‚Insider-Methodik’ zu markieren, kann die Repertory Grid Technique dann ein gegenstandsangemessenes Verfahren sozialpädagogischer Forschung darstellen, wenn – wie in der Analyse von Hin-Sichten professioneller Akteure auf Adressaten – der Fokus einer durch den ›sozialpädagogischen Blick‹ angereicherten empirischen Untersuchung auf subjektive Sichtweisen, auf die „Relevanzsysteme der Betroffenen [gerichtet]“ (Lamnek 2002: 165, Hervorheb. im Original) ist, zu denen es forschungsmethodisch einen Zugang zu eröffnen gilt. Wie können Hin-Sichten professioneller Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe auf Adressatinnen empirisch erfasst werden? „[I]f we genuinely want to hear, to understand an individual we must provide a way for her or him to speak in a genuine voice“ (Kvale 1996: 4). Der einfachste Weg, mit Kelly (vgl. 1955: 201) gesprochen, zur Realisierung des von Kvale formulierten Anspruchs sind Interviews, insbesondere Interviews qualitativer Art. Interviews kennzeichnen sich durch eine große Vielfalt unterschiedlicher Typen und Verfahren (vgl. Lamnek 2002: 172). Ein entscheidendes Kriterium der Distinktion ist, „in welchem Maß sie der Erzählperson das Recht zu einer monologischen Rede zugestehen“ (Helfferich 2005: 31). Während narrative Interviews weitgehend auf Unterbrechungen durch die Interviewerin zu verzichten versuchen, reduziert sich das alleinige Redemonopol des Interviewten bei stärker strukturierenden, dennoch Raum zur freien Artikulation lassenden qualitativen

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Verfahren, die wie narrative Interviews konträr zu standardisierten, quantitativen Vorgehensweisen keine Antwortkategorien vorgeben (vgl. Hopf 1991: 177). Für die Untersuchung von Hin-Sichten professioneller Akteure auf Adressatinnen ist eine Orientierung an der Repertory Grid Technique, die aufgrund der sie konstituierenden spezifischen Art und Weise der Element- und Konstrukterhebung (vgl. Supplement) den strukturierenden Interviewverfahren zuzuordnen ist, deshalb als sinnvoll zu beurteilen, da ein vorab bestimmter Gesprächsgegenstand, Adressaten, empirisch realisiert durch die Elemente, im Fokus des Forschungsinteresses steht.12 Im Vergleich zu weniger fokussierten Verfahren kommt im Repertory Grid Interview eine spezifische Befragungstechnik zur Anwendung, „die eine genaue Beschreibung der ursprünglichen Erfahrung erleichtern und dem Informanten helfen [soll], darüber zu berichten, wie er die Erfahrung ‚registriert’ hat“ (Merton & Kendall 1984: 187). Zur professsionstheoretischen Anschlussfähigkeit der Repertory Grid Methodik Die spezifische Befragungstechnik, die konstitutiv ist für an der Repertory Grid Methodik orientierte Interviews, lässt sich als kategorisierendes Vorgehen bezeichnen. Den Gesprächsgegenstand empirisch realisierende Elemente, im vorliegenden Fall durch den Professionellen bestimmte Adressaten, werden dem Interviewten „meist zu dreien [...] als Bestandteile einer Diskriminationsaufgabe vorgelegt [...]“ (Scheer 1993: 24), die darin besteht, Gruppierungen von Adressaten anhand von Gemeinsamkeiten und Unterschieden vorzunehmen. Diese theoretisch zu einer semantic categorization abzugrenzende und als propositional categorization (vgl. Edwards 1991: 519) zu bezeichnende Form des Kategorisierens umfasst analytisch zwei Modi (vgl. Starr 1992: 158): Kategorisierung kann einerseits die Zuordnung von ›Objekten‹ zu einer vorgegebenen, also benannten Kategorie, in einem bereits bestimmten Klassifikationssystem umfassen. Die interviewten professionellen Akteure ordnen der vorgegebenen Kategorie Adressat namentlich als Adressaten bezeichnete Personen zu (zuordnende Kategorisierung). Andererseits kann Kategorisierung eine Zusammenfassung von Objekten aufgrund ihrer Beziehung(en) oder Eigenschaften zu Gruppen bzw. Sets (vgl. ebd.) bezeichnen. Im Kontext des methodischen Vorgehens werden Adressaten durch die Professionellen ausgewählt und aufgrund von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu Gruppen zusammengefasst (zusammenfassende Kategorisierung). Analytisch notwendig für beide Formen der Kategorisierung ist der Prozess der Partikularisierung13 (vgl. Billig 1987: 118ff.), in dessen Rahmen Attribute oder Eigenschaften selektiert werden, die eine zuordnende oder zusammenfassende Kategorisierung ermöglichen. 12

Dem Anspruch narrativer Interviews, „[to] encourage and stimulate an interviewee [...] to tell a story about some significant event in their life and social context“ (Jovchelovitch & Bauer 2000: 59), kann und soll durch die Repertory Grid Technique nicht entsprochen werden. 13 „However, the problem of the selection of categories raises the possibility that particularization is closely related to categorization. This can be illustrated schematically. If one is faced with two stimuli, S1 and S2, where S1 possesses the attributes (a, b, c, d, e) and S2 possesses the attributes (e, f, g, h, i), one can classify the stimuli as being either similar or different, depending on whether ‘e-ness’ is selected as the criterion. This basic point has been demonstrated by Tversky (1977) and Tversky and Gati (1978) who have shown that judgements of similarity and of difference involve prior categorization, and that the same stimuli can be judged as similar or different depending on what dimension or ‘feature’ space is selected for the judgement. What this implies is that categorizing stimuli can depend on prior selection. If S1 and S2 are to be considered as similar, then the attribute ‘e’ must have been selected from all other possible attributes. It must be treated as ‘special’ and not be lumped together with the other attributes. As

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Genau diesen Kategorisierungsprozessen, die durch ein Repertory Grid Verfahren forciert werden und die unter der Perspektive als nachteilig beurteilt werden können, dass das methodische Vorgeben einer spezifischen Art und Weise der Bestimmung von Adressaten eine entscheidende Einflussnahme auf den Interviewten darstellt, ist andererseits ein für Soziale Arbeit relevantes professionstheoretisches (Erkenntnis-)Potential inhärent, das mit Hall, Selmbrouck & Sarangi folgendermaßen formuliert werden kann: „Theoretical notions of categorisation are widely discussed but are rarely applied to the study of social work“ (2006: 22). Die konstatierte Forschungslücke ist auch für den deutschsprachigen Raum festzustellen, trotz der Relevanz von Kategorien und Kategorisierungen für die Profession Sozialer Arbeit, die insbesondere durch Fritz Schütze als Vertreter eines interaktionistisch orientierten Professionsverständnisses markiert wird. Ihm zufolge sind Kategorien und Kategorisierungen Bestandteil des Verhältnisses von „[a]llgemeinen Typenkategorien und Situierung“ (vgl. 2000: 78), das nach Schütze als eine der von ihm empirisch generierten Paradoxien (vgl. 1992, 2000) bzw. als ein Bestimmungsmerkmal von Profession (vgl. 1996: 190) zu verstehen ist. Trotz der postulierten Wichtigkeit der Paradoxien professionellen Handelns bleibt Schützes Ansatz zumindest partiell unscharf. Zunächst ist festzustellen, dass die von ihm benannten Paradoxien (vgl. 2000: 78f.), verstehbar als „komplexe thematische Figurationen von Konstitutionsaktivitäten, die sich jeweils auf eine zentrale, gestalthaft erfassbare Problematik beziehen“ (ebd.: 70), analytisch mindestens zwei unterschiedliche Logiken aufweisen. Heiner folgend beruht die „Kennzeichnung [einiger] der aufgezählten Widersprüche als »paradox« [...] auf einem Denken in Polaritäten, bei dem die Pole durch eine einzige bestimmende Eigenschaft oder ein zentrales Prinzip charakterisiert sind. Diese dichotomisierende Analyse wird mit Hilfe eines binären Codes geführt, der für jede Einheit nur die Wahl zwischen A oder Nicht-A erlaubt [...]. Mischungen sind konzeptionell irrelevant“ (2004: 29). Zu den Paradoxien, auf die diese Entweder-oder-Logik zutrifft, gehören zumindest diejenigen, die sprachlich gekennzeichnet sind durch die Präposition ›versus‹, mittels derer eine oppositionelle Konjunktion beider, die jeweilige Paradoxie bestimmenden Konstitutionsaktivitäten professionellen Handelns manifestiert wird. Ein Beispiel dafür ist bei Schütze die Paradoxie „Geduldiges Zuwarten vs. sofortige Intervention“ (2000: 78), mit der auf das Entscheidungsdilemma zwischen einer zu frühzeitigen, unnötig den Adressaten entmündigenden Intervention und eines zu langen, risikobehafteten Zuwartens verwiesen wird.14 Erst seit den 1990er Jahren wurde Heiner zufolge „in dem Bemühen um ein empirisch fundiertes Professionsmodell deutlich, dass solche Polaritäten zwar zur Skizze theoretischer Alternativen geeignet sind, dass sie jedoch nur sehr begrenzt zur Reflexion von Praxisprozessen und zur Analyse empirischer Daten taugen“ (2004: 29). Konträr zu Paradoxien, denen eine dichotomisierende und simplifizierende Entweder-oderLogik inhärent ist, wird durch einer Sowohl-als-auch-Logik folgenden Paradoxien eine widersprüchliche und unaufhebbare Gleichzeitigkeit beider die Paradoxie bestimmenden Konstitutionsaktivitäten betont. such it must be particularized, and in this way the categorization of S1 and S2 involves particularization of the relevant dimension” (Billig 1985: 90f.). 14 Auch Gildemeister (vgl. 1983: 64ff.) rekurriert bei der Benennung von Paradoxien auf die Präposition ›versus‹.

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„Nach Martin Hartmann zeichnet sich eine Paradoxie gerade dadurch aus, dass bei ihr ein Ineinander von gegenläufigen Momenten gegeben ist (vgl. Hartmann 2002, 234), wobei diese Momente durch ein und denselben Prozess zustande gekommen sind und sich nicht als zwei voneinander getrennte Instanzen, als »A und non A« aufspalten lassen (vgl. ebd., 237). Das Spannungsverhältnis zwischen gegenläufigen und zugleich ineinander greifenden Momenten ist als nicht auflösbar und als Quelle einer ständigen Erneuerung und Entwicklung dieser Momente zu verstehen“ (Stojanow 2007: 113f.). Auch die Paradoxie „(allgemeine) Typenkategorien und Situierung“, in deren Zentrum die mit einer an der Repertory Grid Methodik orientierten Untersuchung von Hin-Sichten professioneller Akteure auf Adressatinnen einhergehende Kategorisierungsprozesse stehen, folgt einer Sowohl-als-auch-Logik, wie durch die Ausführungen Schützes impliziert wird: „Eigentlich wäre es notwendig, jeden Einzelfall je individuell auf das Sorgfältigste zu untersuchen. Stattdessen greift die professionelle Sozialarbeit unter den Bedingungen des hohen Arbeitsdrucks zu systematischen Routinevereinfachungsmitteln der Zuordnung“ (1996: 230). Weder ein ausschließlich auf Situierung noch ein ausschließlich auf allgemeine Typenkategorien gerichtetes Handeln erscheint möglich. Vielmehr greifen die Momente der Situierung und Kategorisierung unauflösbar ineinander, wobei Schütze jedoch durch die Betonung der Notwendigkeit der Untersuchung jedes Falls auf das Sorgfältigste eine hierarchiegenerierende Bewertung beider Konstitutionsaktivitäten erzeugt. Pointiert formuliert wird Situierung als ›gut‹, Kategorisierung als ›schlecht‹ konstruiert. Trotzdessen, so die Konklusion der Autorin, dass das bezüglich der Bestimmung von Adressaten untersuchte Phänomen der Kategorisierung einen zentralen Stellenwert im Professionsdiskurs Sozialer Arbeit repräsentiert15, fehlte bisher zumindest für den deutschsprachigen Raum eine analytische und empirische Auseinandersetzung mit der Thematik, zu der die dargestellte Studie durch eine Orientierung an der Repertory Grid Methodik auch einen empirisch fundierten Beitrag leisten kann. Erste Ergebnisse der Studie Im Folgenden werden erste Ergebnisse der Untersuchung von Hin-Sichten professioneller Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe auf Adressaten dargestellt. Die Re-Konstruktion16 des orientiert an der Repertory Grid Methodik erhobenen Materials erfolgte methodologisch begründet sequenzanalytisch (vgl. Supplement). 15 Vgl. dazu auch die Nennung der Paradoxie in Schützes Liste der Paradoxien an 1. Stelle (vgl. 1992: 147; 2000: 78), durch die – intendiert oder unintendiert – eine hierarchische Positionierung bezüglich der Wichtigkeit erfolgt. 16 Um die in aktuellen methodologischen Ansätzen gegenüber der von Alfred Schütz formulierten Idee der Rekonstruktion deutlicher hervorgehobene Betonung des konstruktiven Charakters wissenschaftlicher Re-Konstruktionen auch auf semiotischer Ebene sichtbar zu machen, schlägt Dausien, die Schützsche Lesart kritisch kommentierend, die Verwendung der Begriffe Re-Konstruktion oder KoKonstruktion vor (vgl. auch Mecheril 2003: 50): „In der Schütz’schen Fassung des Problems klingt noch eine idealisierte Gegenüberstellung zweier Konstruktionsebenen an, der alltagsweltlichen und der wissenschaftlichen, die trotz prinzipieller Strukturgleichheit in eine hierarchische und lineare Relation gesetzt werden (wissenschaftliche Konstruktionen sind »zweiten« Grades, d.h. »höher«, »wahrer«, aber auch: abgeleitet, untergeordnet, der Empirie angeschmiegt). [...] Es können unterschiedliche Varianten nebeneinander angenommen werden, ohne dass über die ‚richtige’ Deutung oder Gegenstandskonstruktion entschieden werden muss. [...] Die wissen-

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Die durch Schützes Ausführungen implizierte These, Kategorisierungen seien ›schlecht‹, kann empirisch begründet als undifferenziert demaskiert werden. In den Interviews zeigen sich unterschiedliche Modi von Kategorisierung. Neben einem nicht-reflexiven Modus, der sich dadurch kennzeichnet, dass die Professionellen die zur Bestimmung von Adressaten verwendeten Kategorien einem „Substanzdenken“ (Schweizer 2007: 288) folgend als quasi naturgegebene Phänomene formulieren, ohne die eigene Position des zuschreibenden Betrachters zu berücksichtigen, Kategorien demzufolge aus der Seins-Weise der Adressaten emergieren, lässt sich ein reflexiver Modus re-konstruieren. Dieser Modus kennzeichnet sich dadurch, dass im Sprechen über Adressaten, in der zuschreibenden Praxis der professionellen Akteure ein Bewusstsein für den eigenen subjektgebundenen Standpunkt hinsichtlich der Bestimmung von Adressaten deutlich wird. Der sich als ‚zuschreibender Anderer’ erkennende Professionelle legt fest, welches Bild von Adressaten konstruiert wird und welches nicht17, er setzt sich in ein reflexives Verhältnis zu den von ihm vorgenommenen Deutungen, ein Bewusstsein „um die Konstruktivität des [eigenen] Wissens“ (Diaz-Bone 2002: 230) zum Ausdruck bringend, welches zur Erosion von Selbstverständlichkeiten beitragen kann (vgl. ebd.).18 Es lässt sich folgern, dass Kategorisierung kein – wie durch Schützes Ausführungen impliziert – einheitlich ›schlechtes‹ Phänomen ist, sondern es für den Kontext von Profession eher angemessene und weniger angemessene Modi der Kategorisierung gibt, wie auch analog zu Broden & Mecheril zu konstatieren ist: „Angesichts der reduktiven [...] Machtwirkungen von [Kategorisierungen] spricht [...] vieles für die Angemessenheit von reflexiven Formen von [Kategorisierung]“ (2007: 21). Des Weiteren kann empirisch fundiert der Kritik Heiners an der Entweder-oder-Logik von Paradoxien professionellen Handelns, dass diese nur sehr begrenzt zur Analyse empirischer Daten tauge (vgl. 2004: 29), entsprochen werden. Kategorisierung und Situierung lassen sich als zwei ineinander greifende, unauflösbar verbundene Anforderungen re-konstruieren. Selbst der Versuch eines Professionellen, Individualität und Heterogenität durch die Betonung „der Verschiedenheit aller Kinder“ zu zentralen Topoi zu erheben und dadurch begründet das durch die Repertory Grid Methodik forcierte kategorisierende Vorgehen als unmöglich zu desavouieren, scheitert, da er sich entgegen seiner Argumentation der Kategorie Kinder bedient. Kategorisierung erweist sich als unhintergehbar, wie auch bereits Billig 1985 im Rahmen seiner Ausführungen zu „prejudice, categorization and particularization“ (79) konstatiert hat. Neben Ergebnissen, die sich auf die Praxis des Kategorisierens beziehen, lassen sich anhand des Materials auch Aussagen bezüglich der Bestimmung von Adressaten durch professionelle Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe generieren. schaftlichen Interpretationen sind Ko-Konstruktionen zu den [...] Konstruktionen, die in alltagsweltlichen Kontexten hervorgebracht werden“ (Dausien 2006: 200). 17 Vergessen werden darf nicht, dass „[d]ie Bedingungen des Erkennens (und damit auch der Kontext ›Interviewsituation‹, Anm. N.T.)“, um mit Knapp zu sprechen, „[...] selber dem Zusammenhang dessen an[gehören], was begriffen werden soll“ (2001: 21) und deshalb in Form einer ausführlichen Erörterung Bestandteil der Dissertation sein werden. 18 „[Diese] selbstreflexive Leistung des [...] Professionellen“ (Reh 2004: 364) wird insbesondere in handlungstheoretischen Konzeptionen von Profession als zentrale Komponente von Reflexivität thematisiert (vgl. ebd.), die ihrerseits wiederum im Verhältnis zu Wissen und Können wesentlich ist für Professionalität (vgl. Dewe, Ferchhoff, Scherr & Stüwe 2001: 11).

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Der von Messmer & Hitzler im Rahmen eines DFG-Projektes zur reflexiven Hilfeplanung in der Kinder- und Jugendhilfe konstatierte Befund, dass „[n]egative Kategorisierungen [...] den zentralen Aspekt der Klientenproduktion [bilden]“ (2007: 62), zeigt sich empirisch auch in der dargestellten Studie. Adressaten, die – vorgegeben durch das methodische Vorgehen – in den Interviews von den Professionellen durch Eigenschaften zu bestimmen sind, werden aufgrund von Auffälligkeiten, „die [dem Professionellen] im Kopf ‘rumspuken“ gewählt, oder als explizit positiv angekündigte Zuschreibungen werden in der Erläuterung negativ gewendet. Eine derartige Bestimmung der Adressaten als „defizitäre Wesen“ (ebd.: 68) in der Kinderund Jugendhilfe sowie in der Sozialen Arbeit allgemein, durch die letztendlich die Hilfegewährung gerechtfertigt wird (vgl. ebd.), wird abschließend mit den Worten eines interviewten Professionellen pointiert formuliert: „Ich glaub’, und der Punkt ist, dass ideale Adressaten unsere Arbeit nicht brauchen und unsere Zuwendung und die brauchen uns gar nicht. Wir beschäftigen uns eigentlich nur mit nicht-idealen Adressaten, die auffällig sind, die aus schwierigen Familien kommen, die nicht-angepasste, -ideale Verhaltensweisen haben, das ist halt unsere Arbeit.“

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Leibliche Abgrenzung und Positionierung im sozialpädagogischen Raum Eine videoanalytische Rekonstruktion Veronika Magyar-Haas Im Anschluss an die Darlegung des Zusammenhangs, der Relevanz und der Komplexität der Phänomene Abgrenzung und Positionierung veranschaulicht der Artikel die Erkenntnismöglichkeiten videoanalytischer Verfahren für sozialpädagogische Forschung anhand der kontrastierenden Interpretation von zwei Videosequenzen unter der Fragestellung, wie Jugendliche sich im Übergang zu zwei sozialpädagogisch arrangierten Settings körperlich-leiblich1 positionieren. Der Beitrag zeigt die räumlich-materiellen Bedingungen der Positionierung bzw. die damit einhergehenden Nähe-Distanz-Verhältnisse auf. Die Videoaufnahmen sind im Rahmen der Dissertation über das im Kontext der Sozialen Arbeit überwiegend vernachlässigte Phänomen der leiblichen Abgrenzung weiblicher Jugendlicher in einer offenen Mädcheneinrichtung entstanden. Der Begriff der leiblichen Abgrenzung und der Positionierung Das Phänomen der Abgrenzung enthält in mehreren theoretischen Diskursen unterschiedliche Relevanz. Wird in der soziologischen Perspektive (Bourdieu 1987; Elias 1991) der Terminus ‚Distinktion’ als ein Abgrenzungsprozess unterschiedlicher sozialer Gruppen und Kulturen untereinander bzw. gegenüber sozial schwächer Angesehenen konstatiert, kommt dem individuellen Abgrenzungsverhalten Jugendlicher in der Entwicklungspsychologie (Schneewind 1999) hinsichtlich der Identitätsentwicklung, Individuierung und Subjektivierung auch im Rahmen gendertheoretischer Ansätze (King 2002; Flaake 2001, 2002) besondere Bedeutung zu. Im angelsächsischen Bereich prägten hierfür Cooper und Grotevant (1983; 1998) den Terminus des „separateness“. Im sozialpädagogischen Diskurs erfährt das Abgrenzungsphänomen eher mangelnde Aufmerksamkeit. Wenn darauf Bezug genommen wird, dann primär im Anschluss an milieu- oder klassentheoretische Ansätze (Landhäußer/Kessl/Ziegler 2006; Klingler/ Landhäußer/Ziegler 2008). Die Notwendigkeit der Betrachtung der vor allem leiblichen Abgrenzung2 auf Basis einer anthropologischen Perspektive resultiert aus dem Verständnis der Sozialen Arbeit als ‚Gerechtigkeitsprofession’ (Schrödter 2007), welche in ihrem spezifischen, durch Handlungsparadoxien gekennzeichneten Kontext zwischen ‚blaming the clients’ (Abramovitz 1995; Blau/Abramovitz 2004; Handler/Hasenfeld 2007) oder ‚blaming the system’ sowie zwischen den Prozessen der 1

zu der Differenzierung zwischen den Begriffen „körperlich“ und „leiblich“, welche im folgenden Aufsatz beibehalten werden, vgl. Plessner 1928/2003: Kap. 7. Plessner unterscheidet hier analytisch zwischen „Leib sein“ und „Körper haben“, welche Differenzierbarkeit aus dem Wesensmerkmal der exzentrischen Positionalität des Menschen resultiert. Der Umgang mit dem eigenen Körper könne nicht nur rein instrumentell, manipulativ und funktionalistisch sein, denn derselbe Körper sei eben der Leib, der man ist, den man spürt und empfindet (Fischer 2003). Die Phänomenologie schließt an den Leibbegriff an. 2 im Folgenden wird bei dem Terminus ‚Abgrenzung‘ das leibliche Abgrenzungsverhalten fokussiert. Das verbale Abgrenzungsverhalten wird explizit gekennzeichnet. G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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De- und Resubjektivierung sowohl die soziale Gerechtigkeit, als auch das Recht auf personale, leibliche Integrität und Würde ernst nimmt und diese zuzusichern anstrebt. Um das Phänomen der Abgrenzung zu bestimmen, wird zunächst auf den Begriff der Grenze eingegangen. Dieser Terminus bildet die Kernkategorie Helmuth Plessners3 Philosophie des Organischen (Plessner [1928] 2003, Kap. 7), in der er Lebendiges als „grenzrealisierender Körper“ expliziert. Jedes ‚Wahrnehmungsding’ erscheine kraft seines ontologischen Doppelaspektes, einer Relation zwischen materieller Substanz als Quasi-‚Innerlichkeit’ und den unmittelbar wahrnehmbaren Eigenschaften. „Wenn Leben wirklich auf dem eigenartigen Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze, konkret gesprochen [...] auf einem […] ‚hauthaften’ Verhältnis der Masse eines Dinges zu seiner Form, der Materie zu Gestalt […] beruhen soll, so darf man wohl erwarten, dass sich dieses Verhältnis irgendwie an den lebendigen Körpern zeigt“ (Plessner [1928] 2003, S. 123). Die Differenz zu den ‚lebendigen Dingen’ ist demnach, dass diese den Doppelaspekt als Eigenschaft, als „realisierte Beziehung zwischen Innen und Außen, durch diese Grenze, die nicht nur ein Rand ist, an dem das Ding aufhört, sondern konstitutiv zu ihm als Ding gehört […]“ (Fischer 2000, S. 272), haben. Bei Plessner scheidet und verbindet die Grenze Innen und Außen, sie schließt sowohl Inneres gegen Äußeres ab als auch diese gegeneinander auf4, worin der verhältnishafte Charakter der Grenze als wesenhafte Eigenschaft begründet liegt. Das Kennzeichen der Intersubjektivität ist dem Plessnerschen Grenzbegriff nur implizit inhärent. Die bei Plessner aufgezeigte Durchlässigkeit der Grenze bedeutet für die Menschen eine grundsätzliche Drohung, ein nach Außen dringen können und die Sichtbarmachung all dessen, was im Innen, im Verborgenen, unsichtbar bleiben sollte. „Der sichtbare Widerwillen, das ganz offenkundige Zeigen des seelischen Gehaltes verrät immer zu viel und verrät deshalb die ganze Seele“ (Plessner [1924] 2003, S. 71). Der Anthropologe bestimmt den Menschen als exzentrisch positioniertes, offenes Wesen (Plessner [1928] 2003, Kap. 7), als Person, als Maskenhaftes5, als individuelles, privates und allgemeines, öffentliches Ich, mit dem Wesensmerkmal der „ontologischen Zweideutigkeit“ (Plessner [1924] 2003, S. 63). Aus diesem Charakteristikum resultieren nach Plessner die beiden Grundkräfte seelischen Lebens, der Drang nach Offenbarung, die „Geltungsbedürftigkeit“ und der Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit: „Wir wollen uns sehen und gesehen werden, wie wir sind, und wir wollen ebenso uns verhüllen und unbekannt bleiben, denn hinter jeder Bestimmtheit unseres Seins schlummern die unsagbaren Möglichkeiten des Andersseins“ (Plessner [1924] 2003, S. 63). Da die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Inneren sich der Kontrolle entzieht, braucht der zum Vorschein getretene seelische Gehalt eine Kompensation mittels Masken, Verstellungsmöglichkeiten, des Ziehens von künstlichen Grenzen, um dadurch die eigene Würde und Integrität zu wahren. Plessner expliziert in seiner Anthropologie nicht nur die räumlichphysischen Grenzen des Körpers als eine Art Projektor des Inneren, sondern der symbolisch chiffrierte menschliche Leib sei – wie Brumlik akzentuiert – selbst eine solche Grenze „und in seiner Grenzhaftigkeit Anlass zur Scham“ (Brumlik 2002, S. 76). Die so verstandene Grenze setzt qua Definition eine Zweiheit, die Differenz zwischen Selbst und Nichtselbst, Ich und den Anderen unerlässlich voraus, die zueinander in einem Verhältnis stehen. Dieses Verhältnis ist konstitutiv für die Expressivität und äußert sich an der menschlichen Grenze, im Ausdruck. 3

zu dem Begriff der Grenze bei Helmuth Plessner vgl. auch den Hegelschen idealistischen Grenzbegriff (Hegel 1994, S. 197f.) als „innere Bestimmtheit“, die etwas mit dem angrenzenden Medium zusammenschließt und scheidet 4 Mit dem Argument der Doppelaspektivität sowie der Definition der Grenze löst Plessner die Ausschließlichkeit des Cartesischen Dualismus auf. 5 vgl. dazu den lateinischen Begriff persona im Sinne von Maske

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Der Plessnersche Grenzbegriff bildet den Ausgangspunkt der Bestimmung des Phänomens der Abgrenzung, der anthropologische Zugang bedarf dennoch der phänomenologischen Erweiterung, welche das intersubjektive Verhältnis expliziter berücksichtigt. MerleauPonty fasst den Leib als Öffnung für die Anderen und für die Welt auf, die gegenseitige Einflussnahme im Tun, Handeln sowie im Ausdruck ermöglicht. „Diese Öffnung ist da, bevor ich mich bewusst zu ihr verhalte, und sie ist der Boden der Gemeinsamkeit mit dem Anderen“ (Merleau-Ponty 1966, S. 232). Der Phänomenologe Hermann Schmitz fokussiert bei der Vermittlung zwischen Ich und Welt das leibliche Spüren, welches einen zum Selbstbewusstsein erst noch sich entwickelnden Vorgang bezeichnet (Schmitz 1965). Er versteht die Formen menschlicher Wahrnehmung6 und Erkenntnis als dynamische Vorgänge einer ‚leiblichen Kommunikation’ und entwirft eine Philosophie, die den Menschen ‚vom Leibe her’ zu begreifen versucht (Schmitz 1985; 1992). Dementsprechend ist der grenzhafte Leib nicht an sich, sondern in seiner Verhältnishaftigkeit, in seinen Verhältnissen, in der Auseinandersetzung mit anderen in sozialen, intersubjektiven Situationen, aber auch mit räumlich-materiellen Gegenständen, erfassbar. Durch die Kategorie des Spürens, der soziale, intersubjektive sowie räumliche Aspekte anhaften, erfährt das Phänomen der Grenze eine weitere Dimension, welche neben der beidseitigen Durchlässigkeit in dem Außen-Innen-Verhältnis ihrer Plastizität expliziter Rechnung trägt. Um den Terminus Grenze in seiner Komplexität erfassen zu können, werden hier neben der körperlich-physischen Bestimmung zwei weitere Spezifizierungen vorgenommen: Einerseits werden im Anschluss an Schmitz die empfundenen, gespürten Grenzen des leibhaften Selbst, welche situativ, kontextspezifisch aus- und verhandelbar, dehn- sowie einengbar seien, andererseits die auf das Selbst soziokulturell (teilweise manifestiert im Rechtssystem) herangetragenen, vorgeformten, einverleibten Norm- und Wertvorstellungen, welche die Grenze des Verhaltens anderen gegenüber markieren, mitberücksichtigt. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie und mit welchen performativen Ausdrucksmitteln das körperlich-leibliche Abgrenzungsverhalten erfolgt, von welchen räumlichmateriellen Bedingungen das Verhalten zum leiblichen Abgrenzungsverhalten abhängt, sowie wie sich die intersubjektiven Verhältnisse von Nähe und Distanz auf Grund der Positionierung Dritter verändern. Da die Plessnersche Anthropologie sich diesen Fragen nicht zuwendet und die Phänomenologie die Frage nach der Kontextabhängigkeit der Legitimität und des Gelingens performativer Gestik nur bedingt annimmt, gilt es hier, die Kontextspezifizität des performativen Abgrenzungsverhaltens empirisch, mittels kontrastierender Untersuchung zu erfassen. Erkenntnisinteresse – Fragestellungen Aufgrund der Verhältnishaftigkeit und Kontextbezogenheit lässt sich Performativität nicht nur anthropologisch, sondern vor allem empirisch einfangen. Wird Soziale Arbeit als ‚Gerechtigkeitsprofession’ angesehen mit der Zielsetzung, Handlungsfähigkeit in grenzverletzenden, prekären Situationen, in denen die Grenzen des Selbst verletzt worden sind, (wieder)herzustellen, interessiert die Frage nach der Möglichkeit der Plausibilisierung und Einhaltung der Grenzen, sowie nach der Möglichkeit der aktiven Positionierung, der bewussten Abgrenzung 6

Im Gegensatz zu Schmitz konzipiert Plessner seine Anthropologie aus dem Objekthaften heraus, indem er „bei der Vergewisserung der Gegenständlichkeit des fernen Gegenstandes, wie er der Wahrnehmung gegenüber gegeben ist“ (Fischer 2000, S. 271) und nicht beim Leib als Wahrnehmender ansetzt, um ihn als Vermittler zwischen Innen und Außen zu bestimmen.

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der Person.7 Der Aufsatz geht empirisch der Frage nach, wie Jugendliche in einem sozialpädagogischen Kontext sich körperlich-leiblich positionieren, wie sie in den sozialen Situationen ihre ‚plastischen’ Grenzen in der Abgrenzung selbst ziehen und bilden, aushandeln, festlegen und einfordern. Wie und mit welchen Mitteln werden Nähe und Distanz sowie Zuwendung und Abwendung inszeniert und performiert? Zugang zur Fragestellung Da dieses Erkenntnisinteresse sich am geeignetsten ethnographisch erforschen lässt, wurden in einer offenen Mädcheneinrichtung einer Großstadt, welche für Mädchen im Alter von zehn bis sechszehn Jahren Mittagessen, Hausaufgabenhilfe, Freiraum sowie vielschichtige weitere Angebote bereit stellt, sechs Wochen lang eine teilnehmende Beobachtung durchgeführt, ethnographic field notes (Emerson/Fretz/Shaw 1995) angefertigt sowie Protokolle erstellt. Aus den Angeboten für die Jugendlichen wurden zwei Projekte ausgewählt, welche sowohl formalstrukturell, als auch hinsichtlich der (sozial)pädagogischen Zielsetzung und des Umgangs mit Körperlichkeit und Verbalität differierten und daher sich für eine kontrastierende Fokussierung eigneten. Während die zweiwöchentlich, in einem räumlich und konzeptionell formalstrukturierten Stuhlkreis stattfindende, ritualisierte Mädchenparlamentssitzung auf die Förderung der verbalen Stärke und der Aushandlungsfähigkeit der Mädchen setzte, konstituierte sich das eher informell-offene Tanzprojekt, welches in einem voluminösen, leeren, mit wandgroßem Spiegel versehenen Turnraum ebenfalls im Zwei-Wochen-Rhythmus durchgeführt wurde, aus der leiblichen Ausdrucksstärke der Jugendlichen. Um die oben formulierten Fragen nach den räumlich-materiellen Bedingungen der körperlich-leiblichen Positionierung in der explizierten Komplexität sozialer Situationen methodologisch und methodisch adäquat bearbeiten zu können, wurde eine weitere Aufzeichnungs- sowie Analysemethode angewendet. Diese vermag neben der verbalen beziehungsweise auditiven Dimension des Interagierens sowohl die körperlich-leibliche Ebene, als auch ikonische Szenerien, sowie die für den Interaktionskontext konstitutive Relevanz des Raumes zu erfassen. Diesem Anspruch wird die Methode der „fokussierten Ethnographie“ (Knoblauch 2001; 2004; Schnettler/Knoblauch 2007) gerecht, mit ihrer Ausrichtung auf die körperlich-räumlich-materielle Handlungspraxis. Methodologie und Methode der fokussierten Ethnographie Die von Hubert Knoblauch als „fokussierte Ethnographie“ bezeichnete Forschungsmethode erhebt im Gegensatz zu ‚klassischer’, ethnologischer Ethnographie nicht den holistischen Anspruch, „fremde“ Kulturen zu verstehen, vielmehr handelt es sich bei der videogestützten8 Fokussierung auf bestimmte Situationen und Szenen um Aspekte der „eigenen Kultur“. Indem 7

Diesen Fragen geht die Dissertation explizit nach. In diesem Aufsatz liegt der Schwerpunkt exemplarisch auf den situativen, kontextspezifischen Bedingungen der körperlich-leiblichen Positionierung bzw. der damit einhergehenden Veränderung des Nähe-Distanz-Verhältnisses. 8 Die Absicht, die Flüchtigkeit und Komplexität sozialer Situationen präziser und ‚realitätstreuer‘ als die teilnehmende Beobachtung imstande ist, einzufangen, festzuhalten und auf diese Art zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analyse mittels neu entstehender, interpretativer Forschungsansätze zu machen, fällt mit dem technisch-technologischen Fortschritt zusammen bzw. geht mit diesem einher (Knoblauch 2004, S. 125; Bergmann 1985, S. 304).

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Knoblauch betont, dass diese Methode „keineswegs auf einer methodisch erzeugten Befremdung des Feldes“ (Knoblauch 2001, S.133) beruht, unterschätzt er gerade eine wesentliche Stärke der Methode: sich vom Selbstverständlichen, vom allzu bekannt vorausgesetzten Alltag zu distanzieren, die „eigene Kultur“ (Hirschauer/Amann 1997) zu befremden. Insbesondere wenn Sequenzen der Videoaufnahmen im Rahmen einer Publikation in Textformat umgewandelt werden, zeigt sich die Entfremdung par excellence, da die Szenenbeschreibungen trotz der Fokussierung auf die Fragestellung und das Erkenntnisinteresse eine derartige vielschichtige Komplexität erzeugen, welche bei einer Beobachtung nicht derart wahrgenommen und festgehalten bzw. registriert und konserviert (Bergmann 1985, S. 305) werden kann. Daher liegt die Besonderheit bzw. der besondere Wert dieses Zuganges für sozialwissenschaftliche Forschung in der Kombination synchroner und diachroner Beobachtungsaspekte, welche aufgrund der Komplexität und Fülle des visuellen Materials zugleich eine erhebliche methodische Herausforderung9 darstellen. Wagner-Willi (dies. 2001, S. 121; 2004, S. 49ff.; 2005) greift diesen Aspekt mit den Begriffen der Sequenzialität, des zeitlich strukturierten Nacheinanders, sowie der Simultanität, des Nebeneinanders, der Überlappung von Redebeiträgen auf. Datenerhebung Da die Videoaufnahmen hier mit dem Anspruch, die Aufnahmesituation nicht zu beeinflussen, in einen ethnographischen Prozess integriert und nach einer Beobachtungs- und Angewöhnungsphase von sechs Wochen, nicht-experimentell erstellt wurden, kann hier analog zu den Differenzierungen Knoblauchs von „wissenschaftlich aufgezeichnete[n] natürliche[n] soziale[n] Situationen“ (Knoblauch 2004, S. 126) und nicht von konstruierten Daten gesprochen werden. Der von Knoblauch verwendete Begriff des ‚natürlichen’ täuscht, da die Aufzeichnung ja keineswegs eine einfache Abbildung des Aufgezeichneten darstellt. Während Knoblauch die Validität der Videodaten hervorhebt und konstatiert, dass „die audiovisuellen Daten anderen Beobachtern prinzipiell auf dieselbe Weise zugänglich [seien] wie denen, die sie erhoben haben“ (Knoblauch 2001, S. 131), lässt er außer Acht, dass diese Aussage höchstens auf Aufnahmen zutreffe, bei denen die Geräte im Vorfeld installiert wurden. Werden die Daten in situ aufgenommen, erzeugt die Aufnahmesituation eine den Blick der Forscherin/des Forschers und dadurch die Kamera lenkende Dynamik, welche die/der anwesende Forscher_in miterlebt und technisch nachvollzieht. Die Fokussierung auf die in der Szene als relevant erscheinende Aspekte ko-produziert einen Ausschnitt, der „anderen Beobachtern“ keineswegs „auf dieselbe Weise“ zugänglich ist. Da die Dynamik die Analyseperspektive mit zu leiten vermag, ist diese reflexiv einzuholen. Allerdings konstatiert Knoblauch drei Jahre später, dass „die Aufzeichnung keineswegs eine einfache Abbildung des Aufgezeichneten darstell[...]e. Das verhindert schon die Selektion, die Fokussierung der Aufzeichnung und die mögliche Reaktanz auf die Anwesenheit einer aufzeichnenden Person oder eines aufzeichnenden Gerätes“ (Knoblauch 2004, S. 130). Diese Abwehrreaktion konnte in der zitierten Forschung durch die Einbettung in einen ethnographischen Prozess minimiert werden. Analyse Bei der Analyse videographisch erstellter Daten haben sich „unterschiedliche analytische Spielarten der Video-Analyse herausgebildet“ (Knoblauch 2004, S. 128). Videos können einerseits als Bilderabfolge verstanden werden und dadurch bildanalytisch (Raab/Tänzler 2006) oder in 9

Der Bewältigung der methodischen Problematik der Analyse der Gleichzeitigkeit synchroner und diachroner Strukturen der Videodaten wendet sich der Wissenssoziologe Hubert Knoblauch zu und zählt sie zu den zentralen Aufgaben der Methodenentwicklung in diesem Bereich (Knoblauch 2004, S. 124).

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Bildbeschreibungen aufgelöst und dadurch mit einem textanalytischen Verfahren interpretiert werden (Knoblauch 2004, S. 128). Letzteres Vorgehen wird von Monika Wagner-Willi bevorzugt, die die Beschreibungen mit der dokumentarischen Methode analysiert. Die von Knoblauch explizierte Video-Interaktions-Analyse orientiert sich an der sequentiellen Vorgehensweise der Konversationsanalyse und grenzt sich durch die Bezugnahme auf Goffmans (1996; 1992) Kritik an dieser Methode sowie auf die Workplace Studies gleichzeitig von dieser ab. Die Sprachorientierung wird durch den Einbezug des Visuellen und umfassenderer sozialer Situationen abgeschwächt (Knoblauch 2000, S. 167; 2004, S. 129). Die Analyse basiert auf dem Visuellen und stellt eine Interpretation mit und weniger von Bildern (Knoblauch 2004, S. 131) dar, wie Knoblauch in Anlehnung an Bohnsack (2005) betont, auch wenn das Gesprochene häufig transkribiert wird. Die aufgezeichneten Sequenzen der Übergänge zur Mädchenparlamentssitzung sowie zum Tanzprojekt wurden ebenfalls mit der im deutschen Sprachraum von Knoblauch am stärksten vertretenen Methode der Video-Interaktions-Analyse, auf visuellen Daten basierend interpretiert. Bei dieser „detailed investigation of the interaction of people with each other and with the material environment“ (Suchman/Trigg 1991) besteht „das Grundprinzip der Interpretation [...] darin, den intrinsischen Zusammenhang der Interaktionen zu verstehen und dieses Verstehen zu rekonstruieren“ (Knoblauch 2004, S. 131). Im Anschluss an die Ethnomethodologie und an Goffman expliziert Knoblauch drei methodologische Prinzipien: die Methodizität, wonach die Analyse sich nicht auf das Was, sondern auf das schon eingangs als Kernfragestellung skizzierte Wie von Handlungen konzentriert, die Reflexivität, wonach beim Handeln angedeutet wird, wie dieses verstanden werden soll, sowie die Ordnung, welche in den intersubjektiven sozialen Handlungen produziert wird. (Knoblauch 2004, S. 132; 2005, S. 270f.) Weiterhin geht Knoblauch bei der Video-Interaktions-Analyse davon aus, „dass die Folgeäußerung oder Folgehandlung nicht nur eine Handlung ist, sondern auch eine Interpretation dessen darstellt, wie die vorgängige Handlung vom Interaktionspartner verstanden wurde“ (Knoblauch 2004, S. 133). Mittels der aus textinterpretativen Methoden schon bekannten Sequenzialität lässt sich im Rahmen videoanalytischer Verfahren nicht nur das herausarbeiten, was Knoblauch betont, und zwar in wie weit das Verhalten von jemandem für die Anderen als adäquat und angemessen erscheint, vielmehr lässt sich in der Interaktion auf Grund der expliziteren Beobachtbarkeit des körperlich-leiblichen Verhaltens und der Verbalität die Orientierungsweise der an der Situation Beteiligten aneinander und die Kontext- sowie Situationsspezifizität der Erwartungshaltungen und Normvorstellungen rekonstruieren. Vom Bild zum Text Die Grundlage der Analyse bildeten also die Videosequenzen, welche auf Grund der Nachvollziehbarkeit der Interpretation und der Darstellbarkeit hier in Textformat umgewandelt bzw. ‚übersetzt’ wurden. Eine ganz präzise Verschriftlichung mit dem größten Anspruch auf Vollständigkeit ist wie oben angedeutet illusorisch, entzieht sich der Ermöglichung und führt die Problematik der Selektivität der Wahrnehmung par excellence vor Augen. Die Transkription der Videodaten erfolgt hier präzise, dennoch selektiv, an der Fragestellung ausgerichtet. Dadurch stellt sich eine ähnliche Problematik, die der Methode der teilnehmenden Beobachtung innewohnt: der interpretative Weg vom Bild bzw. von beobachteter Szene zum Text. Die Interaktionen, welche bei den Videoaufnahmen sicht- und erfahrbar sind, werden beim Text erst durch die Interpretation hergestellt.

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Beschreibung und Interpretation10 zweier Szenen Im Folgenden werden die Übergänge11 zu zwei Arrangements kontrastiert, in welchen der Umgang mit Leiblichkeit und Verbalität – wie oben dargestellt – divergiert. Da in diesem Aufsatz die Frage nach den räumlich-materiellen Bedingungen der körperlich-leiblichen Positionierung und damit einhergehend die Frage nach den Aushandlungen (oder der Aushandlung) der Grenzen der Mädchen zueinander im Raum interessiert, werden hier exemplarisch die Vorbereitungsphasen einerseits der ritualisierten und formal strukturierten Mädchenparlamentssitzung, andererseits des Tanzprojektes fokussiert. Zwei Mitarbeiterinnen der offenen Einrichtung sowie zwei Mädchen stellen zur Vorbereitung der Mädchenparlamentssitzung einen Stuhlkreis auf, in welchen das in der Ecke des Raums stehende Sofa sowie zwei, links und rechts vom Sofa platzierte Sessel integriert sind. Über den Sofas an der Wand hängen Fotos von vielen Mädchen, ein großes Gemeinschaftsbild, die groß eingerahmte Hausordnung der Einrichtung in deutscher Sprache, die kleineren Äquivalente dieser in mehreren Sprachen sowie ein eingerahmtes Blatt mit der Unterschrift der die Hausordnung akzeptierenden Mädchen. Auf dem Sofa sitzen Haiba, eng neben ihr Nadra mit einer Tasche auf ihrem Schoß und auf der anderen Sofaseite Iva. Sie hält ein Kissen auf ihrem Schoß und lässt ihre Arme darauf ruhen. Auf dem zum Sofa gezogenen Sessel, neben Haiba, sitzt ihre Freundin12 Usha. Nadra blickt auf Radife, die in diese Szene eintritt und auf das Sofa zusteuert, grinst leicht und rückt näher an ihre Sitznachbarin. Usha und Haiba blicken kurz hoch und fangen an, ihre Armen gegenseitig zu streicheln und zu pieken. Sie lachen dabei und rufen ab und zu „Au!“. Iva bewegt sich nicht. Sie schaut weg von den anderen Mädchen, in die Richtung des zweiten Sessels. Als Radife Platz (ein)genommen hat, wendet sich Haiba mit ihrem ganzen Körper Usha zu. Durch das gegenseitige Kraulen und Zwicken der Arme wenden sie sich von den anderen ab. Radife blickt auf ihre Nachbarn: auf die spielenden Arme von Haiba und Usha, auf die Tasche von Nadra, blickt nach links und zieht unmittelbar und unvermittelt das Kissen unter Ivas Arm, von ihrem Schoß weg. Radife blickt Iva erst an, als das Kissen schon in ihrem Besitz ist. Iva lässt ihre Arme auf den Schoß fallen, schaut auf den Boden, und genauso unvermittelt, wie das Kissen ihr abhanden kam, wendet sie sich nach hinten, holt das hinter ihr liegende Kissen hervor, rückt mit ihrem Körper in die hintere Ecke des Sofas, legt das Kissen auf den Schoß, und schaut Radife an. Die Analyse geht der Frage nach, wie und mit welchen Mitteln sich die Platzierung des Körpers in der vorgegebenen Struktur in der Phase des Übergangs zu dem formal strukturierten Setting der Mädchenparlamentssitzung gestaltet bzw. wie die Mädchen mit den dargebotenen Positionierungsmöglichkeiten im Vorfeld der Ritualaufführung umgehen. Die Bilder der Vi10 Für die Unterstützung bei den Interpretationen danke ich herzlich der Forschungswerkstatt um Paul Mecheril sowie der Interpretationsgruppe an der Universität Bielefeld, insbesondere Melanie Kuhn, Claudia Machold, Susann Fegter, Kristina Kroll und Thomas Ley. 11 Während Victor Turner (1989) die „Übergänge“ zwischen sozialen Gruppen analysierte und diese in die Phasen Ablösungs-, Schwellen- sowie Angliederungsphase gliederte, stehen hier die Übergänge zwischen zwei sozialen Rollen bzw. Kontexten: Schülerin-‚Parlamentsmitglied‘ bzw. Schülerin-Tänzerin im Aufmerksamkeitsfokus. In Anlehnung an die Turnersche Struktur handele es sich hier nicht mehr um die liminale, vielmehr um die Angliederungsphase bzw. um die Frage, wie die Mädchen sich durch ihre Positionierung auf den Kontext und auf die neue Rolle einlassen bzw. dazu Abstand nehmen. 12 Um die Aushandlung von Grenzen mittels der Verhältnisse Nähe und Distanz expliziter erfassen zu können, wurden auf Basis der sechswöchigen Beobachtungsphase bzw. der Beobachtungsprotokolle die ‚Freundschaftsverhältnisse‘ der Mädchen erstellt. Dieses Kontextwissen fließt reflektiert in die Analyse des Videomaterials mit ein.

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deoaufnahmen scheinen horizontal mit einer öfters gebrochenen Linie durchgeschnitten und dadurch in zwei Bereiche geteilt. Der ikonographische obere Part mit Bildern gleichen Rahmens symbolisiert etwas Behagliches, Harmonisches, und auch wenn es nicht als Wohnzimmer anmutet, erinnert die Wand mit den kleinen, gedrängten Bildern an einen etwas anderen Aushandlungs- bzw. Differenzbearbeitungskontext: an die Wand eines Irish Pubs. Diese ordnungsgemäß hergerichtete, strukturierte „Wohnlichkeit“ scheint dennoch gestört und gespalten durch die groß eingerahmte Hausordnung und durch das Unterschriftenverzeichnis. Der ikonographischen Gedrängtheit der Wandgestaltung oben scheint die räumlich-physische Nähe bei den Mädchen Usha, Haiba und Nadra als ‚Kollektivkörper’ zu entsprechen. Durch diese Nähe, die nach Nadras Körperhaltung als Enge erscheint, entsteht auf dem Sofa eine Lücke, eine Distanz zu Iva, welche von Radife gefüllt wird. Obwohl die Legitimität des auf dem SofaSitzen-Könnens kollektiv, mittels Strategien der Einladung durch Blick, durch enger Aufrücken sowie durch das Ignorieren des Hinzukommens ausgehandelt wird und demnach Berührung und Enge toleriert werden, erscheint diese zugelassene ‚Sitzordnung’ primär funktionalistisch. Die Mädchen sitzen da, um einen vielleicht im Gegensatz zu Stühlen eher begehrten Platz zu haben und nicht, um soziale Nähe zu inszenieren. Zwischen Haiba und Usha, die die Grenzen der sie trennenden Armlehnen des Sofas sowie des Sessels überwinden, entsteht durch das spielerische Streicheln und Zwicken der Arme eine Sphäre der Vertrautheit und Nähe. Indem die beiden Mädchen eine ‚Einheit’ bilden, inszenieren sie zugleich Abgelöstheit von der Situation um sie herum. Durch die physische Nähe der Körper zueinander, ohne trennende Gegenstände – so die These – ist es allein nicht möglich, eine leiblich-soziale Nähe miteinander herzustellen. Diese Nähe scheint bei den Mädchen Nadra, Radife und Iva auf dem Sofa zuerst nicht vorhanden und wird auf anderen Wegen kompensiert bzw. hergestellt. Das Festhalten von Gegenständen und Vergegenständlichtem: der Tasche, des Kissens oder eben seiner selbst markiert eine Art Selbstbezüglichkeit als Reaktion auf die von Radife anvisierte spielendstreichelnde Leichtigkeit der beiden Mädchen Usha und Haiba. „Um den Panzer der Verdinglichung zu durchbrechen“ (Düttmann 2008, S. 78), wird die soziale Nähe auf dem Sofa durch leichte Provokation, durch Pieken der Anderen im übertragenen Sinne, durch Angrenzung an die Andere geschmiedet: durch die Wegnahme des auf dem Schoß und daher an einem eher geschützten, intimen Ort liegenden Kissens, denn „man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme“ (Nietzsche 1904, Nr. 5). Durch das Kissenergreifen bietet Radife über das physische Nebeneinander hinaus die Möglichkeit eines Nähe-Verhältnisses auf leiblich-sozialer Ebene. Diese Szene ist kompatibel mit Derridas Auslegung über Nietzsches Deutung des Nächsten, „dessen Nachbarschaft oder Nähe in Wahrheit den Drang nach Aneignung verrät, eine List des Eigenen“ (Düttmann 2008, S. 75). Diese Aneignung wird durch Iva unterbunden, indem sie das weggenommene Kissen unmittelbar, kommentarlos, ohne aufzublicken ersetzt. Dadurch wird einerseits das machtvoll inszenierte Kissenwegnehmen kommentarlos hingenommen, ge- ja fast erduldet und eine formale Anerkennungsstruktur präsentiert. Andererseits zieht Iva durch ihr Ignorieren von Radifes Besitzergreifen gleichzeitig eine neue Grenze, eine neue Distanz, indem sie sich wortlos und gestenarm das Ersatzkissen greift, statt auf Radife einzugehen. Um leiblich-soziale Nähe inszenieren zu können, scheint einerseits ein freundschaftliches Verhältnis, andererseits der Bezug von Gegenständen relevant. Da während der gesamten Szene zwischen Radife und den beiden Mädchen neben ihr nichts verbalisiert wird, wird die Relevanz der mit dem videoanalytischen Verfahren aufzeigbaren körperlich-leiblichen Ebene anhand der Irrelevanz des Verbalen in dieser Situation noch eindeutiger unterstrichen.

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Die Erzieherin legt die Musik-CDs in einen separaten, vom leeren, mit wandgroßem Spiegel ausgestatteten Tanz- bzw. Sportbereich abgetrennten Raum hin und ruft zu den Mädchen: „Wir müssen noch etwas besprechen, ja?“. Zwei der Mädchen setzen sich auf den Boden: Barkin mit dem Rücken zum Spiegel, beide Beine nach rechts gestreckt, links neben ihr ein wenig weiter weg vom Spiegel Ilkgül, in derselben Körperposition. Melda geht zu ihnen und setzt sich seitlich ebenfalls mit dem Rücken zum Spiegel in den Schneidersitz, rechts von Barkin, so dass die drei einen leichten Bogen bilden. Lela sitzt Melda gegenüber und ist daran, ihren linken Schuh zuzubinden. Die Erzieherin kommt zu den Mädchen, setzt sich zwischen Melda und Lale in den Schneidersitz und bildet die sich andeutende Kreisform mit. Haiba, die sich weiter weg von den Mädchen gesetzt hat, zieht ihren Körper mit ruckartigen Bewegungen näher an die Kreisform heran. Zwischen ihr und Lale öffnet sich ein offener Raum, der von Usha in Besitz genommen wird, indem sie zu den Mädchen hinläuft, kurz springt und sich rutschend in die Kreisform fallen lässt. Ihre Beine sind nach rechts gestreckt, dann kreuzt sie diese und setzt sich in den Schneidersitz. Melda rückt ein wenig nach hinten. Die Erzieherin schaut das Parkett an, klopft auf es und fragt: „Ich glaub der Boden ist neu, oder?“ „Nein! Nein“, sagen einige der Mädchen. „Wir waren lange nicht mehr hier, oder?“, meint Barkin. „Okay. So, Ihr Lieben“, sagt die Erzieherin. Usha schaut sich in dem Spiegel gegenüber an, kniet auf, zieht ihr T-Shirt weiter nach unten und streicht ihre langen Haare aus dem Gesicht. „Wir haben viel zu reden“, sagt Ilkgül und zeichnet mit den Fingern unterschiedliche Formen und Figuren auf den Boden. Haiba rutscht noch näher zwischen Ilkgül und Usha, sie streckt ihre Arme nach vorn und in derselben Körperposition zieht sie ihren Körper immer weiter nach vorn. „Genau, wir haben heute viel zu besprechen, wir haben schon seit langer Zeit kein Tanzprojekt mehr gemacht. Heute die Männer, die da waren, ja?“ Melda schaut um sich, auf den Boden, auf Lales rechten Sportschuh, welcher von ihr grad gebunden wird. Lela schaut in die Kamera, grinst und widmet sich weiterhin den Schuhen. Melda blickt ebenfalls kurz hoch und wieder weg. „Welche Männer?“, fragt inzwischen Haiba. „Die zwei, die vom Vorstand, ja?“, sagt die Erzieherin. „Der der alte der Herr so“, meint Ilkgül. „Ach ja, okay“. Die Erzieherin zieht ihr T-Shirt in Form, Melda neben ihr streckt ihren Rücken und zieht ihr T-Shirt nach unten. Die Analyse dieser Szene geht ebenfalls der Frage nach, wie und mit welchen Mitteln die Platzierung des Körpers erfolgt, zu dem formal-materiell-strukturierten Setting kontrastierend in einem leeren Raum, im Übergang zu dem eher informellen Tanzprojekt. Aus dieser Übergangsphase geht die pädagogische Rahmung des Projektes hervor. Diesen Rahmen initiiert die Tanzlehrerin, indem sie durch das Projekt einen Raum eröffnet, wo für die Gruppe relevante Themen besprochen werden können. Durch ihre Aussage, „Wir müssen noch etwas besprechen, ja?“ wird ein pädagogisches Arrangement angekündigt, worauf die Mädchen mit der kollektiven Formierung eines Kreises, einer pädagogisch ‚guten Gestalt’ reagieren. Die Konstitution des Kreises erfolgt nach der Einnahme eines eigenen Raumes dynamisch, in der gegenseitigen Orientierung und Anpassung aneinander. Die Mädchen schieben und verrücken ihren eigenen Körper leicht widerwillig, wie Haibas robbenartige Bewegungen ohne Haltungsänderung dies zeigen, nach vorne, nach hinten oder zur Seite, abhängig davon, wo die jeweils dazukommenden Mädchen Platz einnehmen. Als Usha den Kreis schließt, entsteht durch Meldas leicht nach hinten Rücken die exakte Kreisform. Die Mädchen nutzen den dargebotenen, voluminösen Raum größtmöglich und halten ohne formale Vorstrukturierung die pädagogische ‚Ordnung’ ein bzw. erhalten diese aufrecht. Da keine die Haltung formierenden bzw. normierenden Stühle, Sessel oder Sofa vorhanden sind, setzen sich die Anwesenden sowohl mit dem Boden als auch mit ihrem Körper und ihrer Körperhaltung intensiver auseinander. Sie setzen sich nicht nur auf den Boden, sondern stützen sich fest auf ihm ab: diejenigen, die ihre Beine nach rechts ausgestreckt haben, mit der linken Hand, die im Schneidersitz mal mit beiden Händen nach

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hinten. Die Körperposition ist nach der Kreisformierung stabil, die Mädchen wirken wie ‚geerdet’. Usha hüpft auf den Boden und lässt sich auf ihn fallen, Ilkgül zeichnet mit ihren Fingern darauf und die Erzieherin klopft auf ihn und nutzt diesen materiellen Gegenstand („Ich glaub der Boden ist neu, oder?“) als Auftakt, als Aufmerksamkeitsfokussierung und als direkte Kontaktaufnahme für die Besprechung. Die Platzierung des Körpers erfolgt nach mehreren Kriterien: erstens richtet sich die Positionierung nach einer idealen Kreisform, wo keiner aus diesem fällt und alle Teilnehmer_innen füreinander sichtbar sind. Zweitens positionieren sich die Mädchen zu dem Spiegel an der Wand. Wenden sich die ersten drei Raumeinnehmerinnen mit dem Rücken diesem zu, setzen sich Lale und Usha ihm gegenüber. Usha nutzt die durch den Spiegel gebotene Möglichkeit der Sichtbarkeit und Kontrollierbarkeit ihres körperlichen Aussehens bei den Vorbereitungen fürs Tanzen. Die Potentialität der Positionierung zur Videokamera ergibt sich aus den Blicken von Lale und Melda in das Ausnahmegerät und die Kommunikation mit diesem durch Lächeln bzw. durch Abwendung davon. Demnach ist zu konstatieren, dass die körperlichleiblichen Interaktionen und gegenseitigen Orientierungen nicht nur zwischen den Mädchen untereinander bzw. ihnen und der Erzieherin erfolgen, sondern mit dem zur Verfügung stehenden Raum und den Objekten ebenfalls, welche wie der Spiegel oder die Kamera Signale und Verhaltenssaufforderungen senden. Da all die aufgelisteten Kriterien die Potentialität des Anblickens vor Augen führen, könnte die Kreiskonstitution und die unterschiedlichen Vorbereitungsformen fürs Tanzen wie sich anschauen, die Haare machen, Schuhen zubinden, TShirts nach unten ziehen etc. als Auseinandersetzung mit der Situation des BeobachtetWerdens gedeutet werden. In der Situation erfolgt eine multiple Beobachtung: durch die Anwesenden, durch den Spiegel sowie durch die Kamera. Durch die Kreisform spitzt sich das den Blicken Ausgesetzt-Sein zu. Wird durch die pädagogisch ‚gute Gestalt’ die Intention verfolgt, dass die Teilnehmer_innen sich in die Augen schauen können, einander zugewandt sind, Hierarchisierungen und Gruppenbildungen unterlaufen werden etc., wird in der Reflexion über die Kreissituation meist ausgeblendet, dass die Teilnehmer_innen gleichzeitig mit ihrem gesamten Körper den Blicken der Anderen stets ausgesetzt sind und sich diesen nicht entziehen können. An dieser Stelle zeigt sich die von Levinas (1998) anerkennungstheoretisch dargelegte Paradoxie, denn einerseits sei der Andere (oder nach Sartre der Blick des Anderen) konstitutiv für das Selbst, für das Wissen um sich, andererseits sind es dieser Blick und der Andere, die einen zu beschämen und objektivieren vermögen. Die Möglichkeiten der Distanzierung und des Kompensationsverhaltens sind bei dieser potentiell schamhaften Situation ohne Gegenstände wie beispielsweise Kissen, Tasche, durch welche bestimmte Körperteile des AngeblicktWerdens entzogen werden können, eingeschränkt. Der Spiegel bietet einerseits die Möglichkeit des sich selber Anschauens, andererseits wird durch sein Vorhandensein sowie das der Kamera das Gefühl des Ausgesetzt-Seins den Blicken Anderer potenziert, indem durch den Spiegel und das Aufzeichnungsgerät weitere, latentere und vermittelte Beobachtungsmodi gegenwärtig sind, mit denen sich die Mädchen auseinandersetzen und sich nicht nur zueinander, sondern zu diesen Objekten ebenfalls verhalten. Zusammenführung der Erkenntnisse Im Rückbezug auf theoretische Ansätze zur Verhältnishaftigkeit des körperlichen Leibes der Personen zu den Anderen sowie auf Lucy Suchman (Suchman/Trigg 1991) und Hubert Knoblauch rekurrierend wurde im Rahmen der Untersuchung die körperlich-leibliche Interaktion

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der Mädchen miteinander unter dem Aspekt der Positionierung fokussiert. Der Schwerpunkt bei der Analyse der Videosequenzen lag auf dem Aspekt der Positionierung als situative Abgrenzung, als Aushandlung der Grenzen des Selbst im Sinne einer Reaktion auf das Zusammentreffen des Selbst mit dem jeweiligen Kontext. Einerseits zeigte sich durch die Analyse die Tragweite des Plessnerschen anthropologischen Ansatzes und des phänomenologischen Zugangs für die (sozial)pädagogische Forschung, andererseits konnten die beiden Perspektiven erweitert werden: durch die mittels des videoanalytischen Verfahrens, welches die Dynamik sozialer Situation mit einzufangen und die Starrheit rein textlicher Analysen zu überwinden vermag, ermöglichte Konzentration auf die kontextuellen Bezüge Raum und Zeit. Deutlich ging aus der Analyse die Relevanz der kontextspezifischen Interaktion der Jugendlichen nicht nur untereinander, sondern mit der materiellen Umwelt, mit den Gegenständen, hinsichtlich der Phänomene der Abgrenzung und Positionierung hervor. Die Aushandlung der Körperpositionierung, die mit Haltungsänderung, stillschweigender Hinnahme und ludischen Ab- und Angrenzungsprozessen einherging, erfolgt auf der körperlich-leiblichen Ebene in Auseinandersetzung mit der materiellen Welt. Abstinenz der fokussierten Ethnographie im Bereich der Sozialen Arbeit Obwohl die Videointeraktionsanalyse einen gangbaren Weg eröffnet, um das Ineinanderwirken von Körperlichkeit, Sprache, Materialität und Raum, also zentrale Aspekte des Performativen sozialer Wirklichkeit, in ihrer durch die Synchronizität und Diachronizität hervorgebrachte Mehrdimensionalität zu erfassen, findet die sogenannte „fokussierte Ethnographie“ sowie die Methode der Video-Interaktions-Analyse im sozialpädagogischen Kontext kaum Berücksichtigung. Die möglichen Gründe mangelnder Berücksichtigung könnten in den prekären Situationen sozialpädagogischer Praxis, in der Problematik der Beobachtung und Kontrolle, in dem stets situativ auszulotenden Verhältnis von Nähe und Distanz liegen, wo eine Methode, die eher konservierend, scheinbar objektivierend, beobachtend und undistanziert wirken vermag, nicht sonderlich erwünscht sein wird. Die Bedenken und die geäußerte Kritik reflektierend wird hier doch die These vertreten, dass das videoanalytische Verfahren für die explizierte Fragestellung und das Erkenntnisinteresse einen sinnvollen Zugang darstellt. Durch diese Methode wird die Möglichkeit geboten, die in der (sozial)pädagogischen Forschung vernachlässigte Thematik der Körperlichkeit/Leiblichkeit, die räumliche Anordnung und Gestaltung pädagogischer Settings empirisch expliziter zu berücksichtigen bzw. „unter die Lupe zu nehmen“. Weiterhin kann durch die Aufnahme des Aspektes der leiblichen Grenzziehung und Positionierung als für Aushandlungsprozesse konstitutives Merkmal der Fokus (sozial)pädagogischen Handelns über die diskursive Perspektive der Aushandlung hinaus erweitert werden. Literatur Abramovitz, Mimi: From the Tenement Class to the Dangerous Class to the Underclass: Blaming Women for Social Problems. In: Van Den Bergh, Nan (Ed.): Feminist Practice in the 21st Century. Washington D.C.: NASW Press, 1995, pp. 211-231 Bergmann, Jörg R.: Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit. Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie. In: Bonß, W./Hartmann, H. (Hg): Entzauberte Wissenschaft. Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung. Göttingen: Schwartz, 1985, S. 299-320

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Die Macht der Bilder – Photographien und Diskursanalyse Susann Fegter

Soziale Arbeit ist mit diskursiv hervorgebrachten Gegenständen befasst und selbst Bestandteil diskursiver Konstruktion von Wirklichkeit. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Sie hat sich mit der konstruktivistischen Wende als Perspektive auf Disziplin wie Profession etabliert und fordert seither in besonderer Weise zu einem reflexiven Umgang mit der eigenen Praxis und den eigenen Gegenständen auf (vgl. z.B. Widersprüche 108/2008). Die Diskursanalyse nach Foucault bietet eine spezifische Perspektive auf diese Zusammenhänge an: Wissen, Macht und Subjektivität werden im Konzept des Diskurses als untrennbar verwoben gedacht, soziale Praxen und Wissensbestände in ihren Kontexten untersucht (vgl. für die Erziehungswissenschaft: Wrana/Langer 2010, Koller/Lüders 2004). Die Etablierung der Diskursforschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften zeigt sich auch in der Sozialen Arbeit (vgl. Kessl in diesem Band). Die Hinwendung zum Visuellen – die zu den aktuellen Entwicklungen der Diskursforschung in den Kultur-, Sozial- und Sprachwissenschaften zählt (vgl. Fegter/Langer 2008) – ist jedoch im Kontext diskursanalytischer Forschungsvorhaben der Sozialen Arbeit bislang nicht aufgegriffen worden. Der Zusammenhang von Sagbarkeiten und Sichtbarkeiten besitzt jedoch auch für die Soziale Arbeit unmittelbare Relevanz, zum Beispiel, wenn in Mediendiskursen unter Einsatz von Bildern und Photographien sozialpädagogisches Wissen öffentlich erzeugt wird. Der folgende Artikel verfolgt vor diesem Hintergrund eine doppelte Zielsetzung. In einem ersten Schritt soll die grundsätzliche Relevanz und auch Anschlussfähigkeit von Photographien für diskursanalytische Forschungen herausgestellt werden. In diesem Zusammenhang steht die Frage im Vordergrund, inwiefern visuelle Daten überhaupt als diskursive Praktiken verstanden und als solche untersucht werden können. Im Weiteren wird dann auf Photographien als spezifische visuelle Daten fokussiert und nach deren besonderem diskursiven Potential gefragt, um mögliche Fragestellungen an Photographien aus diskurstheoretischer Perspektive hier anzuschließen. In einem zweiten Schritt stehen schließlich Fragen der konkreten (Diskurs-)Analyse von Photographien im Zentrum, die auf das mögliche methodische Instrumentarium sowie methodologische Implikationen eines entsprechenden Vorgehens zielen. Um diese Überlegungen insgesamt anschaulich zu machen, wird exemplarisch auf eine Photoserie Bezug genommen, die 2003 in der Zeitschrift GEO erschien.

G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Das Abbild zeigt die erste Doppelseite zum Artikel „Jungs – werden sie die Sorgenkinder unserer Gesellschaft?“ (GEO 3/2003) Er gehört zu einer Reihe von Artikeln, die in den überregionalen Zeitschriften Spiegel, ZEIT, Stern, TAZ etc. seit etwa 2000 zum Thema ‘Jungen’ erscheinen und mit den Veröffentlichungen der ersten PISA-Untersuchung in Verbindung gebracht werden (vgl. Schultheiß/Strobel-Eisele/Fuhr 2006). In deren Anschluss setzte auch in Deutschland eine Debatte um ‘Jungen als Bildungsverlierer’ ein, die im internationalen Diskurs in Großbritannien, den USA und Australien bereits einige Jahre zuvor um ‘underachieving boys’ gestartet war (vgl. Stamm 2008) und deren Differenzperspektive die Rezeption nationaler Kinder- und Jugend-Surveys in Deutschland prägt (kritisch dazu: Andresen 2008). Der GEOArtikel von 2003 nimmt reflexiv auf die Diskussion um Jungen als (Bildungs-)Verlierer Bezug. Er entfaltet im Textteil die Gegenüberstellung der öffentlichen Debatte über Jungen und diesen selbst: „Alles sorgt sich um die Jungen, aber kaum einer weiß, wie es ihnen wirklich geht“ (GEO 3/2003: 68). Er beginnt mit einer Doppelseite, auf der 14 Photographien mit Gesichtern von Jungen zu sehen sind. Die Photographien sind in drei Reihen à 5 Bilder angeordnet. In der mittleren Reihe blieb das ganz linke Photo ausgespart zugunsten eines Einführungstextes in den Artikel. Über der zweiten Reihe dominiert der Schriftzug JUNGS, der die dort platzierten Photographien in Teilen verdeckt. Als Betrachter blickt man in 14 Jungengesichter aller Altersgruppen. Sie wirken freundlich, sympathisch, vital. Wie ließen sich diese Photographien im Rahmen einer Diskursanalyse zur öffentlichen Diskussion um eine Krise der Jungen integrieren? Sind visuelle Daten überhaupt geeignet als diskursive Praktiken untersucht zu werden? Photographien als diskursive Praktik Visuelle Aussageereignisse – eine archäologische Perspektive Die angewandte Diskursforschung ist – ebenso wie die Sozialwissenschaften generell – sehr sprachorientiert. Visuelle Daten wie Bilder, Photographien, Tabellen, Kurvendiagramme etc. finden erst allmählich aber doch zunehmend Berücksichtigung (vgl. z.B. Maasen 2006, FQS 9/2008). Es stellt sich die grundsätzliche Frage, wie diese Sichtbarkeiten im Rahmen des Diskurskonzepts zu verorten sind, das Foucault in der „Archäologie des Wissens“ (Foucault 1981, im Folgenden AW abgekürzt) ausschließlich am Beispiel sprachlicher Äußerungen erläutert. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass auch Bilder und Photographien als diskursive Praxis verstanden und analysiert werden können, insofern Foucault sein Konzept der Aussage zwar anhand sprachlicher Beispiele erläutert, aber nicht an eine sprachliche Materialisierung bindet, sondern an „sinnlich erfassbare Elemente“ (AW: 146). Foucault entwickelt die Archäologie als Method(ologi)e der „Beschreibung“ (AW: 41f.) mit dem Ziel, Wissensordnungen in ihren historischen und sozialen Kontexten zu analysieren, ohne dabei auf die Begriffe der klassischen Ideengeschichte zurückgreifen zu müssen. Er geht davon aus, dass Begriffe, Konzepte und Ideen „nicht von allein da sind, dass sie stets die Wirkung einer Konstruktion sind, deren Regeln man erkennen [….] muss [….]“, um sie so „ihrer Quasievidenz zu entreißen“ (AW: 40). Die hier angesprochene ‘Konstruktion’, als deren Wirkung Begriffe, Konzepte und Ideen verstanden werden, ist der Diskurs. Er kann verstanden werden als strukturierte und strukturierende Praxis, die sich immer nur konkret in der einzelnen Äußerung vollzieht (vgl. Keller 2005: 183). Foucault selbst definiert Diskurs in der Archäologie über die Begriffe ‘Aussage’ und ‘diskursive Formation’. Die Aussage fungiert als kleinste Einheit des Diskurses, sie ist jedoch kein Element unter anderen, auch keine Struktur, sondern eine „Funktion“, die – wie Foucault

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schreibt – „den Zeichen eigen ist und von der ausgehend man dann durch die Analyse […] entscheiden kann, […] welche Art von Akt sich durch ihre Formulierung bewirkt findet“ (AW: 126). Dieses produktive Moment differenziert Foucault in vier Dimensionen aus: Versteht man z.B. eine Photographie als Aussage im Foucaultschen Sinne, bedeutet dies, (1) dass sie mit dem was sie zeigt und wie sie dieses zeigt einen Bezug auf ein Objektfeld herstellt, dessen Gegenstände „durch die Aussage selbst ins Spiel gebracht werden“ (AW: 133); (2) dass sie mit dem was sie zeigt und wie sie dieses zeigt in einem Verhältnis zu einem Äußerungsfeld steht an das sie anschließt; (3) dass sie mit dem was sie zeigt und wie sie dieses zeigt eine „Subjektposition“ schafft, die „jedes Individuum einnehmen kann und muss, um ihr Subjekt zu sein“ (AW: 139) und schließlich, (4) dass sie mit dem was sie zeigt und wie sie dieses zeigt in einem Anwendungsfeld steht und in dessen Operation und Strategien eingebunden ist (AW: 153). Aussagen haben nun als Funktion keine feste Form. Sie können an einem Textabschnitt, einer Rede, einer Serie von Buchstaben in einem Lehrbuch für Schreibmaschineschreiben untersucht werden (AW: 123ff). Sie sind somit nicht festgelegt in der Form, bedürfen jedoch einer materiellen Basis: Foucault spricht von „materiellen Trägern“ (AW: 148) der Aussagen sowie davon, dass Aussagen, in einem „sinnlich erfassbares Element inkorporiert sind“ (AW: 146). Zu den sinnlich erfassbaren Elementen können neben sprachlichen in jedem Fall auch visuelle Elemente wie Bilder und spezieller gefasst Photographien gerechnet werden. Foucault erläutert sein Konzept der Aussage somit in der Archäologie zwar anhand sprachlicher Äußerungen, man kann m.E. jedoch genereller von einer Bedeutungs- oder besser noch Darstellungspraxis sprechen, auf die Foucault mit dem Konzept der Aussage (und der diskursiven Formation) jenen veränderten Blick konzipiert, den er Archäologie nennt. Damit ist das archäologische Diskurskonzept in besonderer Weise anschlussfähig für Überlegungen und Untersuchungen zur Bedeutung des Visuellen wie sie gegenwärtig unter dem Stichwort des iconic oder pictorial turns disziplinübergreifend an Bedeutung gewinnen (vgl. Bachmann-Medick 2007, Mitchell 1997, Boehm 2001, Maar/Burda 2004, 2006). Denn „was uns der iconic turn (…) lehrt und wo er an die vielleicht wichtigste theoretische Einsicht der Moderne anschließt“ – schreibt der Kunsthistoriker Gottfried Boehm – „ist nicht die Sprach-, wohl aber die Darstellungsabhängigkeit allen Erkennens“ (zitiert n. Bachmann-Medick 2007: 351). Photographien als besondere diskursive Praktik Insofern das archäologische Konzept der Aussage also weniger an eine sprachliche Materialisierung als an ‘sinnlich erfassbare Elemente’ anschließt, können auch Photographien den diskursiven Praktiken zugerechnet und als solche untersucht werden. Was aber macht ihr besonderes diskursives Potential aus? Was unterscheidet sie (als bildliches Medium) von Sprache und was unterscheidet sie (als besondere Bildsorte) von z.B. einem Gemälde? Als Bildsorte kennzeichnen sich Photographien gegenüber Sprache u.a. durch eine Ähnlichkeit zum Abgebildeten.1 Insbesondere semiotische Ansätze haben diese Eigenschaft des Bildes als ikonisches Zeichen umfänglich diskutiert und relativiert: So kann die Ähnlichkeit nur sehr eingeschränkt gelten vor dem Hintergrund, dass Striche, Formen, Farben auf einer zweidimensionalen Fläche wenig gemein haben mit dem Objekt, für das sie stehen sollen oder verstanden werden. „Wenn das ikonische Zeichen mit etwas Eigenschaften gemeinsam hat, 1

Der Bildbegriff gilt insgesamt als nicht hinreichend geklärt und wird je nach Disziplin unterschiedlich fokussiert (für den erziehungswissenschaftlichen Diskurs: vgl. Mollenhauer 1983, 1997, Pilaczyk/Mietzner 2003, Wittpohl 2003).

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dann nicht mit dem Gegenstand, sondern mit dem Wahrnehmungsmodell des Gegenstandes“ (Eco 1991: 213). Wenn somit die Ähnlichkeit des photographisch Abgebildeten mit einer außerbildlichen Wirklichkeit nur eingeschränkt gelten kann, so wird sie in Bezug auf Photographien doch noch einmal spezifisch zugespitzt: Photographien gelten in besonderer Weise als Abbild, als Spiegelbild von Realität. „Fotos liefern Beweismaterial. (….) Etwas wovon wir gehört haben, scheint ‘bestätigt’ wenn man uns eine Fotografie davon zeigt“ (Sontag 1980:11). Diese Zuschreibung des Objektiven an Photographie mag mit dem im Zusammenhang stehen, was aus zeichentheoretischer Perspektive als indexikalische Eigenschaft der Photographie beschrieben wird und was ein Photo von einem Gemälde unterscheidet: Photographien verweisen auf etwas, das zum Zeitpunkt des Photographierens vor der Linse gewesen sein muss. Man kann ein Bild von etwas malen, das ausschließlich in der Vorstellung existiert, aber man kann nur etwas photographieren, das vor der Linse existiert (vgl. Boerkey 2004: 116). Dieses dokumentarische Moment macht Photographien zugleich zu einem Medium mit besonderer Präsenz: Augenblicke können weit zurück in der Vergangenheit liegen, Menschen bereits gestorben oder deutlich älter geworden sein, auf einer Photographie aber wirken sie noch nah, präsent und lebendig (vgl. Pilarczyk/Mietzner 2003). Wenn sich Photographien somit durch eine (eingeschränkte) Ähnlichkeit zum Abgebildeten sowie in Abgrenzung von anderen Bildsorten durch ihren notwendigen Bezug auf eine außerphotographische Wirklichkeit charakterisieren lassen, stellen phototheoretische Ansätze zugleich den wirklichkeitskonstruierenden Charakter der Photographie heraus und sprechen von einer eigenen (photographisch erzeugten) Wirklichkeit, dem photographischen Bild (vgl. Priem 2006, Pilarczyk/Mietzner 2005, Solomon-Godeau 2003, Snyder 2002). „Jedes Bild verkörpert eine bestimmte Art des Sehens, selbst ein photographisches Bild. Photos sind eben nicht, wie häufig angenommen, lediglich mechanische Aufzeichnungen. Schauen wir uns ein Photo genau an, könnte uns bewusst werden, dass der Photograph gerade diese Ansicht aus einer unendlich großen Anzahl von Möglichkeiten gewählt hat“ (Berger zit. n. Boerkey 2004: 128). Neben der gewählten Ansicht, dem Ausschnitt, sind es vor allem kompositorische Elemente, die dazu beitragen, dass die photographierte Situation immer schon transformiert und in eine neue Wirklichkeit überführt ist: Linienführung und Flächenformen, Groß- und Klein-Verhältnisse, Licht und Schatten, Schärfe, Unschärfe und Farben sind zu jenen Elementen zu rechnen, mit denen Bildräume erzeugt, Blicke gelenkt, Atmosphäre geschaffen sowie ein bestimmtes BlickVerhältnis vom Betrachter zum Bildgeschehen hergestellt werden, die als eigene Wirklichkeitskonstruktion verstanden werden können (vgl. Pilarczyk/Mietzner 2005). Eine diskursanalytische Perspektive auf Photographien schließt an diese konstruktivistischen Überlegungen an. Aus einer archäologischen Perspektive interessiert dann an einem Photo (zunächst) nicht, wer es aufgenommen hat, welche Intention die photographierende Person verfolgte, oder gar, wie sich die photographierte Situation „tatsächlich“ dargestellt hat, sondern allein: dass das Photo mit dem was es zeigt und wie es dieses zeigt, zu einem konkreten Zeitpunkt an einem konkreten Ort und in einem konkreten Kontext erscheint. In genau dieser konkreten Konstellation und Ereignishaftigkeit ist das entsprechende Photo (potentiell) Teil einer diskursiven Ordnung, die sich auch an anderen Stellen vollzieht und (machtvolles) Wissen in spezifischer Weise hervorbringt. Potentiell insofern, als dass erst die konkrete Diskursanalyse im Prozess herausarbeiten wird, ob sich das Photo- Dokument (oder mit Foucault gesprochen Monument) als Bestandteil jener diskursiven Formation erweist, die mit der Forschung rekonstruiert wird. Die analytische Perspektive richtete sich daher auch weniger auf das

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einzelne Photo, als auf die Identifizierung von Serien und deren regelhaftes Moment, um so die Kohärenz von Aussagefolgen aufdecken zu können. Doch auch das Besondere der Photographie gewinnt im Rahmen diskursanalytischer Überlegungen an Gewicht: Wenn Photographien nämlich nicht als Abbilder sondern als Konstrukteure von Wirklichkeit verstanden werden, so ist die Zuschreibung des Objektiven an Photographien aus diskursanalytischer Perspektive doch keineswegs irrelevant. Vielmehr stattet dies Photographien diskursstrategisch mit einem besonderen Potential aus. In einem kulturellen Kontext, der Photographien Realismus bescheinigt, sind Photographien als diskursive Praktik in besonderer Weise geeignet ihre bildlichen Aussagen mit Evidenz zu versehen oder – wie Sontag es ausdrückte – zu ‘beweisen’. Die Aussage, dass Jungen ‘in Wirklichkeit’ sehr sympathische, zugewandte Jungs sind, besitzt – zumindest in unserer Seh- und Sichtbarkeitskultur – größere Überzeugungskraft, wenn wir genau dies auf den Photographien ‘sehen’ können, als wenn es nur zu lesen ist. Denn: Man ‘sieht’ dort ja, dass es stimmt. Die Photographien ‘beweisen’ es. Die diskursanalytischen Fragen an Photographien erweitern sich damit und beziehen sich nicht nur darauf, was, wann, wie, wo, von wem in welchem Kontext sichtbar gemacht wird, sondern auch darauf, a.) was durch Photographien (die mit dem Anspruch einer realistischen Abbildung auftreten) in besonderer Weise evident gemacht (und dabei zugleich als Konstruktion verschleiert) wird, b.) welche Subjektpositionen (ggf.) durch ihre photographische Inszenierung bzw. Konstruktion in besonderer Weise ‘authentifiziert’ werden. Denn auch in dieser Hinsicht greift die Wirkungsweise der Photographie: sie stattet ihre Gegenstände und auch ihre bildimmanenten Subjekte mit dem Merkmal des Echten, des Realen, des ‘wirklich Wahren’ aus. Photographien in einer Diskursanalyse: methodische Überlegungen Nach diesen diskurstheoretischen Überlegungen stehen im Folgenden methodische und methodologische Fragen im Vordergrund. Wie kann ein diskursanalytischer Zugriff auf Photographien aussehen und welche Fragestellungen wirft dies zugleich auf? Foucault selbst hat das konkrete analytische Vorgehen der Archäologie als ‘Beschreibung’ bezeichnet: „Die Aussageanalyse kann sich niemals auf etwas anderes beziehen als […] auf Bedeutungselemente, die geschrieben oder artikuliert worden sind – und genauer auf jene Besonderheit, die sie existieren lässt […] Beschreibung der gesagten Dinge genauso wie sie gesagt worden sind“ (AW: 159). Übertragen auf Photographien bedeutet dies ‘Beschreibung der gezeigten Dinge genauso wie sie gezeigt werden’ und im Rahmen der Archäologie Beschreibung dessen, was gezeigt wird, wie es gezeigt wird, wo, wann und von wem. Wie aber kann man beschreiben, was eine Photographie zeigt, wie zeigen Photographien was sie zeigen? Welches methodische Instrumentarium steht hierbei zur Verfügung? Zur Analyse von Bildern und Photographien bieten sich verschiedene Methodologien an, die in ganz unterschiedlichen Theorietraditionen und Disziplinen verortet sind. Hierzu gehören zum einen semiotisch orientierte Ansätze wie von Eco, Barthes, Hall; zum anderen hermeneutisch orientierte Ansätze wie die kunstgeschichtlichen Verfahren von Panofsky und Imdahl, der seriell-ikonologische Ansatz der Erziehungswissenschaftlerinnen Pilarzyk/Mietzner oder auch soziologische Ansätze wie von Bohnsack oder Heinze-Prause/Heinze. Eine dritte Variante stellen Ansätze einer Verbindung strukturaler und hermeneutischer Verfahren bei der Bildanalyse dar (Müller-Dohm). Nicht zuletzt diese Ansätze einer Verbindung verweisen auf deut-

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liche Korrespondenzen in den verschiedenen Methodologien (vgl. auch Bohnsack 2003: 244). Diese bestehen z.B. in der Unterscheidung und auch inhaltlichen Spezifizierung verschiedener Sinnebenen im Bild: So kommt die Unterscheidung in eine denotative und konnotative Sinnebene beim ikonischen Zeichen der kunsthistorischen Unterscheidung in eine vorikonographische und eine ikonographische Sinnebene sehr nahe. Korrespondenzen bestehen auch auf der Analyseebene formal-kompositorischer Eigenschaften des Bildes, die in der Kunstgeschichte insbesondere von Imdahl ausgearbeitet worden sind und in semiotischer Perspektive als syntaktische Dimensionen des ikonischen Zeichens in den Blick genommen werden. Eine Orientierung an diesen Verfahren bietet sich auch für Diskursanalysen an, um Arbeitsschritte und analytische Begriffe zu gewinnen, mit denen sich die Bilder und Photographien methodisch kontrolliert beschreiben und dabei in Sprache übersetzen lassen. Eine Beschreibung eines Bildes in Anlehnung an kunsthistorische Verfahren2 kann dann folgende Arbeitsschritte umfassen: Erstens: Eine (interpretierende) Beschreibung auf vor-ikonographischer Ebene als Frage danach, als welche Gegenstände, Lebewesen oder Ereignisse die zweidimensionalen Konfigurationen aus Linien, Formen, Farben, Flächen identifiziert werden können (vgl. Panofsky 1975: 38). Zweitens: Eine (interpretierende) Beschreibung auf ikonographischer Ebene als Frage danach, für was die Gegenstände, Personen, Handlungen zugleich allegorisch stehen. Diese Frage richtete sich auf jene Bedeutungen, die nur auf der Basis kulturellen Wissens zusätzlich sichtbar bzw. sehbar sind. Analytisch ist es die Frage nach kulturell kodierten (und tradierten) Bildmotiven, die mit bestimmten Konzepten verbunden sind (vgl. Panofsky 1975: 39), die Frage nach den konnotativen Sinngehalten des Sichtbaren. Aus einer genealogischen Perspektive sind solche ikonographischen Aspekte aufschlussreich, insofern sie auf jene ‘disparaten Herkünfte’ (Foucault 1987) verweisen, an die Diskurse anschließen. Drittens: Eine (interpretierende) Beschreibung kompositorischer Aspekte als Frage danach, mit welchen formalen Kompositionsaspekten (Linienführung, Flächenformen, Schärfe/ Unschärfe etc.) die Bilder arbeiten und darüber Aufmerksamkeit lenken sowie Gegenstände im Bild zueinander und zum Betrachter in ein spezifisches Verhältnis setzen (vgl. Imdahl 1979). Bei Panofsky schließt sich als weiterer Schritt die Frage nach der ikonologischen Dimension eines Bildes an. Darunter zu verstehen ist die Frage danach, inwiefern sich im Kunstwerk die Geisteshaltung, der Habitus einer ganzen Epoche ausdrückt (vgl. Panofsky 1975: 40). Diese Fragestellung an das empirische Material lässt sich für eine Diskursanalyse nicht übertragen, denn zum Diskurskonzept gehört die Annahme, dass sich am einzelnen Diskursfragment gerade nicht (oder nicht notwenig) die Gesamtstruktur rekonstruieren lasse. „Die Archäologie ist nicht nach der souveränen Gestalt des Werkes geordnet. (….) Sie definiert Typen und Re2

Für eine Orientierung am kunsthistorischen Ansatz könnte man sich entscheiden, weil Foucault selbst sich 1967 in „Worte und Bilder“ begeistert über Erwin Panofsky äußert: „Für gelernte Historiker werden diese Konzepte und Methoden nicht mehr etwas sein, das man erst noch lernen muss, sondern die Grundlage bilden, von der aus man liest, entschlüsselt und erkennt.“ (Dits et ecrits Bd.1, 2001: 794). Was ihn begeistert ist der Ansatz einer historischen und kulturellen Kontextualisierung. Statt weiter in der Form eines Kunstwerkes nach dessen Wesen zu suchen, analysiere Panofksy das Kunstwerk als „komplexe Darstellungsfunktion, die sich mit unterschiedlichen Bedeutungen durch den gesamten formalen Aufbau des Bildes zieht“.

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geln, die individuelle Werke durchkreuzen, die mitunter sie völlig bestimmen und sie beherrschen, (…) mitunter aber nur einen Teil davon beherrschen“ (AW: 199). Das archäologische Erkenntnisinteresse richtet sich zusammenfassend somit darauf, ob und wenn ja wie die einzelnen Photoereignisse im Gesamtdiskurs funktionieren und die Analysehaltung entsprechend auf die Erfassung von Serien, d.h. wiederkehrende Muster der Photoereignisse, die deren Existenzbedingung beschreiben. Konkreter gefasst richtete sich der Analyseblick auf Regelhaftigkeiten in dem, was die Photographien zeigen und als wahr behaupten (Sachverhalte, Subjektpositionen) und wie sie dieses zeigen (durch bestimmte Motive, wiederkehrende Konnotationen, kompositorische Aspekte etc.). Auch die spezifische Verkoppelung photographischer Sichtbarkeiten mit sprachlichen Aussagen kann sich als kennzeichnend für den zu rekonstruierenden Diskurs erweisen. Zur Veranschaulichung werden diese Überlegungen im Folgenden auf die Doppelseite des GEO-Artikels bezogen. Die Beschreibungen stellen bereits verdichtete Zusammenfassungen dar. Vorikonographische Beschreibung und Interpretation Alle Photographien zeigen Gesichter, Köpfe frontal von vorne, Jungengesichter3 verschiedener Alterststufen von sehr jung (etwa ein bis zwei Jahre alt) bis hin zum jungen Erwachsenen von vielleicht siebzehn, achtzehn Jahren. Die Gesichter füllen jeweils fast das gesamte Photo aus, knapp unterhalb des Halses enden sie, man erkennt von der Kleidung jeweils noch die Kragen, den Ausschnitt bzw. Kapuzen. Alle Jungen schauen direkt in die Kamera (bis auf zwei, die den Blick mit einem Lächeln schräg zur Seite wenden). Man blickt in offene, dem Betrachter zugewandte Gesichter, die Mimik ist freundlich, etwa die Hälfte lacht offen. Die Jungen haben rosige Wangen, keine Wunden oder Verletzungen, ihre Kleidung ist sauber und heil. Neben diesen Gemeinsamkeiten fallen auch Unterschiede auf: Die Jungen unterscheiden sich in ihrem Alter, aber auch im Hinblick auf ihre Haarfarbe und -länge, in ihrer Kleidung und deren Farben sowie dem jeweiligen Bildhintergrund. Jeweils einer trägt im Unterschied zu allen anderen eine Brille, einer eine Zahnspange und einer einen Bart. Ikonographische Beschreibung und Interpretation Die Fokussierung auf das Gesicht, wie sie auch bei den Jungen-Photographien erfolgt, kann als Fokussierung auf die Individualität der Dargestellten verstanden werden. Das Gesicht steht in besonderer Weise für die Persönlichkeit, die Individualität eines Menschen, seine Subjektivität. Gerade die Gattung der Portraitsphotographie steht in dieser Tradition der Verkoppelung von Mimik, Ausdruck und Augen-Blick mit dem Wesenhaften einer Person. Physiognomische Diskurse antiker ‘Gesichtslesenkunst’, darwinistischer ‘Gemütsbewegungen’, kriminologischer Typenlehren u.a. haben die Vorstellung von der besonderen Aussagekraft des Gesichtes geprägt (vgl. Schmidt 2003, Löffler/Scholz 2004). Ein anderes ikonographisch zu fassendes Moment ist die Konnotation des zweiten Jungen von rechts in der unteren Reihe als ‘nicht-deutsch’, ‘türkisch-arabisch’, als ‘Junge – oder junger Mann – mit Migrationshintergrund’. Mit schwarzen Haaren, Bart und dunklen Augen steht er in einer Tradition der Darstellung eben dieser Bedeutungsgehalte. Man kann keine 3

Diese vorikonographische Beschreibung verdeutlicht bereits, dass die Grenzen zwischen diesem und dem nächsten Schritt fließend sind. Auch die Identifikation von Gegenständen und Lebewesen in den zweidimensionalen sichtbaren Formen aus Linien und Flächen ist eine kulturell basierte. Wenn ich zum Beispiel Jungengesichter erkenne, ist dies nur möglich im Rahmen einer entsprechenden Geschlechterkultur.

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Migrationsgeschichte sehen, dennoch haben vorangegangene Darstellungsweisen seine Sichtbarkeit mit jener Sagbarkeit verbunden. Das Konzept ‘Junge mit Migrationshintergrund’ oder ‘türkischer Junge’ existiert als konnotative Sinnebene nur zeit- und ortgebunden. Sie kann auch nur auf der Basis des Wissens um diese Kulturen der Darstellung und des Sehens erschlossen werden. Eine dritte Veranschaulichung dieser ikonographisch oder konnotativen Ebene richtet sich auf Abwesendes: Wir sehen keine Zeichen von Armut: Die Jungen sehen gut versorgt aus, sind ‘ordentlich’ angezogen (dafür stehen weiße Kragen, Polohemden, saubere Kleidung), ihre Haare sind geschnitten, sie haben gesunde Zähne, sind nicht zu dick. Die Bebilderung der öffentlichen Diskussion um die so genannte „Neue Unterschicht“ hat andere Bildsprachen entwickelt. Diese Jungen gehören nicht dazu, sie sind keine „Neue Unterschicht“-Jungen. Auch auf dieser Analyse-Ebene ist somit Abwesendes interessant, etwas das nicht gezeigt wird, in diesem Fall keine Zeichen von Armut. Beschreibung kompositorischer Aspekte Die Photographien sind alle gleich groß, rechteckig, fast quadratisch. Auch die Köpfe auf den Photographien sind in etwa gleich groß, als runde Form dominieren sie jedes Bild in ähnlicher Weise: Sie nehmen jeweils fast die gesamte Fläche ein und lenken den Blick zentral auf das Gesicht und damit – kulturell kodiert – auf die Individualität der Jungen. Verstärkt wird dies noch durch die Schärfe-Unschärfe-Relation zwischen Vorder- und Hintergrund, die Hintergründe wiederum sind zwar verschwommen und im Detail unwichtig, aber doch ebenfalls individuell: jedes Photo scheint an einem anderen Ort entstanden. Die Abgebildeten werden so auch kompositorisch als Angehörige einer Gruppe (JUNGS) und zugleich als individuelle Persönlichkeiten konstruiert. Die Fokussierung des Blicks im Vordergrund der Bilder (durch die dominante Kreisform des Kopfes und die Schärfe/Unschärfe-Relation) holt die Jungen zugleich nah an den Betrachter heran, ein Effekt, der wiederum durch die oben angeschnittenen Köpfe noch verstärkt wird. Die Jungen werden dem Betrachter so auf kompositorische Weise „nah gebracht“, der direkte Blick in die Kamera baut diesen Beziehungseffekt zum Betrachter noch aus. Eine zumindest einseitig sehr positive, freundliche Beziehung. Fasst man an dieser Stelle vorläufig zusammen, kann festgehalten werden, dass die Zusammenstellung der Photographien insgesamt einem Muster folgt, das Ähnlichkeit und Verschiedenheit zugleich betont. Insbesondere die gleichmäßige Darstellung aller Alterstufen erzeugt dabei einen Eindruck von Repräsentativität, so als seien Jungen in ihrer ganzen Bandbreite abgebildet. Tatsächlich aber bleiben auch einige außen vor. Wie oben erwähnt gehört zu einer diskursanalytischen Fragehaltung auch die Frage nach dem Nicht-Genannten, dem Nicht-Gezeigten, dem, was auch hätte gezeigt werden können, aber nicht gezeigt wird. So sehen wir z.B. keine Jungen mit dunkler Hautfarbe, auch keine Jungen mit sichtbarer Behinderung und keine Zeichen von Armut. Die Photographien der ersten Doppelseite folgen vielmehr als Aussageereignisse insgesamt dem Muster, eine wohlwollende Aufmerksamkeit auf vitale, freundliche, mehrheitlich weiße Mittelschicht-Jungen zu richten, deren Sichtbarkeit mit der ebenfalls wohlwollend konnotierten Sagbarkeit JUNGS verbunden wird. Von einem bestimmten Ort aus – der bildungsbürgerlich orientierten Zeitschrift GEO – wird so zu einem bestimmten Zeitpunkt im Debattenverlauf visuell ein positives JUNGS-Bild erzeugt, das Repräsentativität suggeriert, tatsächlich aber nur bestimmte Jungen sichtbar macht und mit seinen Ausschlüssen gesellschaftliche Dominanzverhältnisse reproduziert. Als strategische Einsätze einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Franck 1998) lenken die Photographien den Blick einerseits auf Jungen (die gegenüber den Mädchen im Krisendiskurs als vergessen und benach-

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teilig gelten), sie tun dies zugleich in einer Weise, die machtvolle Sicht- und Unsichtbarkeiten erzeugt, deren Konturen entlang der Linien class and race verlaufen. Im Gesamtzusammenhang des GEO-Artikels schließen die Photographien des Weiteren eine Leerstelle, die zuvor diskursiv erzeugt wird: So entfaltet der Text eine Gegenüberstellung von öffentlich geführten Diskussionen um Jungen auf der einen Seite und den Jungen selbst auf der anderen Seite. „Alle reden von den Jungen, aber kaum einer weiß wie es ihnen wirklich geht“ (GEO 3/2003: 68). Diese diskursiv erzeugte Leerstelle der ‘unbekannten Jungen’ schließen die Photographien im gleichen Zuge: Sie zeigen uns ‘wirkliche’ Jungs, die, über die sonst nur geredet wird. Als Photographien können sie den Eindruck erwecken, hier sprächen die JUNGS sozusagen selbst – qua Portraits – hier könnten wir sehen, „wie sie sind – und vermutlich schon immer waren“ (GEO 3/2003: 71). Und wir sehen: Ihnen geht es gut, sie sind ‘ganz normal’, freundlich und aufgeschlossen, „Jungs“ eben. Diese (!) Jungen zumindest. Eine sich hier andeutende visuell inszenierte Ausdifferenzierung unterschiedlich harmloser, unterschiedlich sympathischer (und sympathiewürdiger?) Jungen-Subjekte im öffentlichen Mediendiskurs gälte es, nun weiterführend zu untersuchen.4 Das erarbeitete Muster müsste in weiterführenden Analysen anderer Dokumente überprüft und ggf. modifiziert werden. Anstatt diesen Vorgang zu vertiefen, soll abschließend auf methodologische Implikationen verwiesen werden, die das skizzierte Vorgehen eines diskursanalytischen Einbezugs von Photographien betreffen und am Moment des Interpretativen ansetzen. Wenn Foucault auch explizit hervorgehoben hat, dass die Archäologie „keine interpretative Disziplin“ (AW: 198) sei, insofern sie das Gesagte und Gezeigte nicht als Dokumente eines anderen verborgenen Diskurses betrachte (als intentionaler Ausdruck eines schöpferischen Subjekts zum Beispiel), sondern „jene Diskurse selbst, als bestimmten Regeln gehorchende Praktiken“ (AW: 198) zu beschreiben sucht, so stellt die diskursanalytische Rekonstruktion dieser Regelhaftigkeiten doch insofern einen interpretativen Vorgang dar, als sie verstehend die sozialen Praxen beschreibt, die sie untersucht – und diese dabei wiederholt: Die damit verbundene Problematik der Reifizierung kann am Beispiel der interpretativen Beschreibung der Jungengesichter auf mindestens zwei Ebenen nachvollzogen werden: Erstens wiederholt die interpretative Beschreibung der Verschränkung einer bestimmten Sichtbarkeit mit einer kulturell codierten Bedeutung eben diese Verkoppelung (zum Beispiel die Koppelung eines bestimmten phänotypischen Erscheinungsbildes mit der Bedeutung ‘Junge mit Migrationshintergrund’). Als kompetentes Mitglied einer Diskurskultur kann diese Bildsprache rekonstruiert werden, wird dabei aber zugleich wiederholt. Indem zudem gerade die Differenz migrantisch/nicht-migrantisch besondere Aufmerksamkeit erfährt (und andere Differenzen vernachlässigt werden), wiederholt die Analyse die soziale Bedeutsammachung eben dieser Differenzkonstruktion. Ein Versuch, die darin angelegte Reifizierung in der Analyse einzuholen, kann in ihrer – deswegen hier vorgenommenen – Markierung gesehen werden. Durch sie würde sowohl die Konstruktion als solche aufgezeigt als auch die damit verbundene machtvolle Wiederholung. Auch diese Reflexion des machtvollen, konstruierenden Moments in der diskursanalytischen Rekonstruktion müsste weiter ausgeführt werden. Hier dienten Analyse, Interpretation und Reflexion der Veranschaulichung erster Überlegungen zu diskursanalytischen Perspektiven auf Photographien und deren Einbezug in entsprechende Untersuchungen zur Herstellung sozialpädagogischen Wissens in öffentlichen Diskursen. 4

Dies ist Thema meiner Dissertation.

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Empirische Forschung auf der Basis der amtlichen Kinderund Jugendhilfestatistik zur frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung Kirsten Fuchs-Rechlin/Ana Moya/Matthias Schilling Das Aufwachsen von Kindern ist in Deutschland in den letzten Jahren verstärkt zu einem politischen und öffentlichen Thema geworden. Inzwischen besteht kein wirklicher Dissens mehr in der wachsenden Bedeutung der öffentlichen und institutionellen Räume als familienergänzende Orte und Gelegenheiten der Bildung, Betreuung und Erziehung. Wesentliche Impulse mit Blick auf die ersten Lebensjahre kamen in jüngster Zeit aus zwei ganz unterschiedlichen Richtungen und Beweggründen: Auf der einen Seite wurde infolge einer ebenso intensiven wie aufgeregten Debatte im Anschluss an die für Deutschland wenig schmeichelhaften Ergebnisse der ersten PISA-Studie das Thema „Bildung von Anfang an“ (vgl. Fthenakis u.a. 2003; Schäfer 2003) als vermeintliche Lösung angesehen. Auf der anderen Seite war seit den frühen 1990er Jahren der Ruf nach einem Ausbau der Betreuung in Kindertageseinrichtungen nicht mehr verstummt. Auch wenn der 1992 nur widerwillig beschlossene Kindergartenrechtsanspruch zunächst für eine gewisse Beruhigung in dieser Hinsicht sorgte, wurde doch alsbald im Lichte einer Debatte um „work-life-balance“ deutlich, dass diese erste Ausbaustufe nur einen (kleineren) Teil des Problems fehlender Betreuungsangebote auffangen konnte. Mehr Bildung und mehr Betreuung sind mithin zu den beiden Eckwerten mit Blick auf die Gestaltung eines künftigen öffentlichen Angebots für Kinder in den ersten Lebensjahren geworden. Um diese Entwicklung empirisch genauer zu beobachten, wurde im Jahre 2006 eine neu konzipierte amtliche Statistik zu Kindern in Kindertageseinrichtungen ins Leben gerufen. Die Forschungsmöglichkeiten mit den vorhandenen Ergebnistabellen und Ergebnisdatensätzen sind erst in ersten Ansätzen ausgelotet worden. Der vorliegende Beitrag verfolgt daher das Ziel, die Forschungsmöglichkeiten der neuen Statistik aufzuzeigen, so dass auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diese Statistik nutzen können. Im ersten Abschnitt werden kurz die Vorgeschichte sowie die Erhebungsstruktur der Statistik der Tageseinrichtungen für Kinder dargestellt und erläutert. Im zweiten Abschnitt wird anhand von zwei Beispielen aufgezeigt, welche Analysemöglichkeiten in der Auswertung der vorhandenen Tabellen des Statistischen Bundesamtes liegen und welche zusätzlichen Kombinationsmöglichkeiten sich bei der Auswertung der Einzeldaten im Forschungsdatenzentrum der Statistischen Landesämter ergeben. Dabei konzentrieren wir uns auf bivariate Auswertungsverfahren. Schließlich werden im dritten Abschnitt Möglichkeiten multivariater Analyseverfahren vorgestellt. Exemplarisch wurden hierfür zwei Fragestellungen ausgewählt: Zum einen wird danach gefragt, wie sich Kinder mit Migrationshintergrund in Bezug auf individuelle, einrichtungsbezogene und regionale Merkmale charakterisieren lassen und zum anderen wovon der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in Kindertageseinrichtungen abhängt. Der lange Weg zur neuen Statistik der Kinderbetreuung Seit spätestens Mitte der 1990er Jahre ist die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik in nennenswertem Umfang Gegenstand der empirischen Forschung in der Sozialen Arbeit (vgl. G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

222

Kirsten Fuchs-Rechlin/Ana Moya/Matthias Schilling

Rauschenbach/Schilling 1997). Und dies in zweierlei Hinsicht: zum einen dient sie als Datenlieferant für Sekundäranalysen zur Gewinnung neuer Erkenntnisse über die Entwicklung der sozialen Arbeit (vgl. Lüders 1997; Rauschenbach/Schilling 2001, 2005) und zum anderen werden ihre Ergebnisse zur kritischen Analyse und Weiterentwicklung des Erhebungsinstrumentes der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik genutzt (vgl. Schilling 2002). Eine zentrale Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfestatistik, die bis zum Jahr 2006 aus insgesamt 11 eigenständigen Statistiken1 bestand, stellt die Überarbeitung und Erweiterung der Statistik zur Kinderbetreuung in Deutschland dar. Bis zum Jahre 2006 wurde nur alle vier Jahre eine Gesamterhebung aller Tageseinrichtungen für Kinder, der verfügbaren Plätze und der darin tätigen Personen durchgeführt, zuletzt am 31.12.2002. Diese Statistik wurde vielfach kritisiert, da die Periodizität zu lang war, keine Informationen zu den Kindern in den Tageseinrichtungen erhoben wurden und die Kindertagespflege vollkommen unberücksichtigt blieb (vgl. Beher 2001). Obwohl Konsens darüber bestand, dass die Überarbeitung und Erweiterung der Statistik dringend geboten war, dauerte der Prozess der gesetzlichen Verankerung der neuen Erhebungsmerkmale im Kinder- und Jugendhilfegesetz fast 10 Jahre. Dieser langwierige Prozess ist darauf zurückzuführen, dass zum einen der Erweiterungsbedarf in eine Zeit fiel, in der eine intensive Diskussion über die Kürzung der amtlichen Statistiken generell geführt wurde, und zum anderen Initiativen zur Änderung des SGB VIII Ende der 1990 Jahre immer mit der Gefahr von Leistungskürzungen verbunden waren (z.B. Einschränkung § 41 SGB VIII oder § 35a SGB VIII). Erst mit der intensiven Diskussion um den dringend notwendigen Ausbau der Angebote der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung für unter 3-Jährige in Westdeutschland und der gesetzlichen Verankerung des Ausbaus im Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) konnten die Überarbeitung und Erweiterung der amtlichen Statistik zur Kindertagesbetreuung umgesetzt werden.2 Durch die Reform der Statistik wurden die drei zentralen Kritikpunkte umgesetzt. Erstens wurde die vierjährige Periodizität auf eine jährliche Periodizität umgestellt. Die erste Erhebung fand am 15.03.2006 statt. Zweitens wurde die Erhebung von Merkmalen der Kinder in die Statistik aufgenommen und drittens wurde die Statistik um zwei eigenständige Erhebungen zu den Kindern in Kindertagespflege und den Kindertagespflegepersonen erweitert (vgl. Tabelle 1).3

1

Im Einzelnen sind dies: Beendete Beratungen, Betreuung einzelner junger Menschen, Sozialpädagogische Familienhilfe, Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses, vorläufige Schutzmaßnahmen, Adoptionen, Sorgerecht und Pflegschaften, Maßnahmen der Kinder- und Jugendarbeit, Einrichtungen und tätige Personen (ohne Kindertageseinrichtungen), Tageseinrichtungen für Kinder, Ausgaben und Einnahmen der Kinder- und Jugendhilfe. 2 Eine ausführliche Darstellung der Vorgeschichte der neuen Statistiken zur Kinderbetreuung ist aufgearbeitet worden von Kolvenbach/Taubmann (2006). 3 Aus Platzgründen können in diesem Beitrag keine Ergebnisse zu diesem neuen Teilbereich dargestellt werden. Daher kann nur auf die ausführliche Analyse von Riedel (2008a) verwiesen werden.

Empirische Forschung auf der Basis der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik

Tabelle 1:

223

Aufgliederung der amtlichen Statistiken zur Kindertagesbetreuung

Kindertagesbetreuung in Einrichtungen in mit öffentlichen Mitteln geförderter Kindertagespflege Teil III.1 Teil III.3,K Kinder und tätige Personen in Tageseinrichtungen Kinder in Kindertagespflege Teil III.3,P Kindertagespflegepersonen in Kindertagespflege

Die Erhebungsmerkmale zu den Einrichtungen wurden um das Merkmal der Rechtsform des Trägers ergänzt. Bei den Kindern wurde neben Alter, Geschlecht und täglicher Betreuungszeit auch der Migrationshintergrund als Erhebungsmerkmal aufgenommen. Zur Operationalisierung des Migrationshintergrundes wird nach der ausländischen Herkunft der Eltern/eines Elternteils gefragt. Darüber hinaus wird gefragt, ob deutsch oder nicht deutsch vorrangig in der Familie gesprochen wird. Zur Erfassung der Kinder mit Behinderungen wird auf Fördermaßnahmen gemäß SGB XII (6. Kapitel §§ 53, 53) in den Einrichtungen zurückgegriffen. Um bei den 6- und 7-jährigen Kindern unterscheiden zu können, ob sie einen Kindergarten oder einen Hort besuchen, wird das Merkmal Schulbesuch erhoben. Die folgende systematische Darstellung bildet zum einen alle Erhebungsmerkmale der Statistiken zur Kindertagesbetreuung ab und führt zum anderen die übereinstimmenden Merkmale der Einrichtungsstatistik und der Statistik der Kindertagespflege auf (vgl. Tabelle 2):

224

Kirsten Fuchs-Rechlin/Ana Moya/Matthias Schilling

Tabelle 2:

Statistiken zur Kindertagesbetreuung – Merkmale der Erhebungen Teil III.1 Einrichtungen Art des Trägers Rechtsform besondere Merkmale genehmigte Plätze Anzahl der Gruppen Anzahl der Kinder

Teil III.3 – – – – – – –

Kinder Geburtsmonat und -jahr Geschlecht Migrationshintergrund durchschnittlich vereinbarte Betreuungszeit je Tag erhöhter Förderbedarf nach SGB VIII/SGB XII Mittagsverpflegung – Schulbesuch – Erzieherische Hilfe nach SGB VIII – – Anzahl der Betreuungstage je Woche – Wochenendbetreuung – Umfang der öffentlichen Finanzierung/Förderung – gleichzeitig bestehende andere Betreuungsarrangements Tätige Personen Pädagogisches und Verwaltungspersonal: Kindertagespflegepersonen: Geschlecht Geburtsmonat und -jahr Stellung im Beruf – Arbeitsbereich – Beschäftigungsumfang – Berufsausbildungsabschluss fachpädagogischer Berufsausbildungsabschluss – abgeschlossener Qualifizierungskurs für Kindertagespflege – anderer Nachweis der Qualifikation – in tätigkeitsbegleitender Grundqualifizierung – Erste-Hilfe-Kurs für Säuglinge und Kleinkinder – Anzahl der betreuten Kinder – (überwiegender) Ort der Betreuung Hauswirtschaftliches und technisches Personal – Geschlecht – vertraglich vereinbarte Wochenstunden –

Quelle: Kolvenbach/Taubmann 2006, S. 170 Die Ergebnisse der Statistik werden in mehreren Ergebnistabellen vom Statistischen Bundesamt als Online-Publikation veröffentlicht (www.destatis.de Publikationen Publikationsservice Schnellsuche: Tageseinrichtungen bzw. Kindertagespflege). Entsprechende Veröffentlichungen gibt es bei den Statistischen Landesämtern. In einer gemeinsamen Publikation der statistischen Ämter des Bundes und der Länder werden auch die Quoten der Inanspruchnahme auf der Ebene der Kreise und Städte jährlich veröffentlicht. Die Ergebnistabellen stellen immer nur eine kleine Auswahl der Ergebnisse dar. Über die Forschungsdatenzentren4 können wissenschaftliche Einrichtungen inzwischen auch die Ein4

Auf der Internetseite der Forschungsdatenzentren der Länder sind alle Nutzungsmöglichkeiten und -bedingungen nachzulesen (www.forschungsdatenzentrum.de).

Empirische Forschung auf der Basis der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik

225

zeldaten nutzen. Hierzu ist allerdings pro Projekt ein Nutzungsantrag zu stellen. Mit den Einzeldaten kann dann das gesamte Analysespektrum bivariater und multivariater Verfahren angewendet werden. Ausgewählte Forschungsergebnisse auf der Grundlage bivariater Analysen Die Ergebnisse der ersten Erhebung vom 15.03.2006 standen ab Mai 2007 und die Ergebnisse vom 15.03.2007 ab Januar 2008 zur Verfügung. Bisher wurden die Ergebnisse 2006 in einer sehr umfangreichen und differenzierten Publikation des Deutschen Jugendinstitutes und der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik vorgestellt und die Erkenntnisse im Lichte des aktuellen Fachdiskurses kommentiert (DJI 2008). Darüber hinaus fanden die Ergebnisse 2006 und 2007 Berücksichtigung im nationalen Bildungsbericht 2008 und im Tagesbetreuungsausbaubericht 2006 und 2007 der Bundesregierung (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008; vgl. Deutscher Bundestag 2007 und 2008). Die Statistik zur Kindertagesbetreuung erfüllt einerseits den Informationsauftrag der amtlichen Statistik gegenüber der Öffentlichkeit im Sinne des Rechenschaftsberichtes über die Verwendung von öffentlichen Geldern. Anderseits ist die Statistik so angelegt, dass ein umfangreiches Datenmaterial für die wissenschaftliche Forschung zur Verfügung steht. Dabei sind mindestens drei unterschiedliche Forschungsperspektiven zu unterscheiden (vgl. Lüders 1997): (1) Die KJH-Statistik kann als Prüfinstanz für theoretische Behauptungen verwendet werden. (2) Die Ergebnisse der KJH-Statistik können als Instanz der Verortung der eigenen Forschungsergebnisse verwendet werden. (3) Unerwartete Ergebnisse der Jugendhilfestatistik können als Ausgangspunkt für eigene Forschungen und Forschungsfragestellungen verwendet werden. Im Folgenden werden einige ausgewählte Forschungsergebnisse vorgestellt. Dabei steht nicht die Vollständigkeit der Auswertungs- und Analysemöglichkeiten im Vordergrund. Vielmehr soll exemplarisch gezeigt werden, welche Forschungsfragen mit den neuen Erhebungsmerkmalen bearbeitet werden können und welche methodischen Besonderheiten es dabei zu berücksichtigen gilt. Altersjahre Eine der zentralen Erweiterungen der Statistik bestand darin, dass alle Kinder in den Tageseinrichtungen mit mehreren Merkmalen erfasst werden. Zu den grundlegenden Merkmalen gehören dabei der Geburtsmonat und das Geburtsjahr, aus denen das exakte Alter zum Stichtag der Erhebung errechnet werden kann. Dieses Datum hat in der aktuellen Fachdebatte über die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung deshalb eine so hohe Bedeutung, da die Inanspruchnahme der Bildungs-/Betreuungsangebote immer früher einsetzt und die Ausbauprogramme in Westdeutschland eine differenzierte Beobachtung des Alters der Kinder in den Betreuungsangeboten notwendig macht. In der öffentlichen Debatte wird bisher nur sehr undifferenziert über die unter 3-Jährigen gesprochen. Die Analysen lassen jedoch erkennen, dass die Tagesbetreuung von den unter 1-Jährigen, den 1-Jährigen und den 2-Jährigen sehr unterschiedlich in Anspruch genommen wird.

226

Kirsten Fuchs-Rechlin/Ana Moya/Matthias Schilling

Die Quote der Inanspruchnahme der unter 1-Jährigen ist auch in Ostdeutschland mit 6% sehr gering und drückt die generelle Tendenz aus, dass die Eltern die Betreuung ihrer Kinder im ersten Lebensjahr offensichtlich selbst übernehmen wollen. Und dies wird auch durch das am 1.1.2007 eingeführte Elterngeld zusätzlich unterstützt (vgl. Abbildung 1). Bei den 1Jährigen wird in Ostdeutschland bereits eine Quote von 40% erreicht, bei den 2-Jährigen liegt diese bei 73%. In Westdeutschland gibt es eine ähnliche jahrgangsspezifische Entwicklung, allerdings auf einem erheblich niedrigeren Niveau (1%, 5%, 17%). Der sprunghafte Anstieg der Quote bei den 2-Jährigen hängt u.a. damit zusammen, dass die Ausweitung der Angebote für 2-Jährige durch eine Öffnung der Kindergartengruppen5 mit vergleichsweise geringem organisatorischen Aufwand zu erreichen ist, hingegen die Betreuung 1-Jähriger in Krippengruppen oder altersgemischten Gruppen für die Einrichtungen zumeist aufwendige (Um-)Baumaßnahmen zur Folge hat. Bei den 4- und 5-Jährigen lag die Quote der Inanspruchnahme im Jahre 2007 zwischen 93% und 95%. Zwischen 2006 und 2007 haben sich die Quoten in West- und Ostdeutschland erneut leicht erhöht, so dass inzwischen in den letzten beiden Kindergartenjahren so gut wie alle Kinder erreicht werden. Ebenfalls gestiegen – von 74% auf 78% im Westen und von 90% auf 93% im Osten – ist die Quote der Bildungsbeteiligung der 3-Jährigen. Insofern wird auch in Westdeutschland spätestens der dritte Geburtstag zum Regelbeginn des Kindergartenbesuchs. Diese deskriptiven Befunde zeigen nicht nur eine für ein freiwilliges Angebot erstaunlich hohe Besuchsquote, sie werfen darüber hinaus auch die Frage auf, aus welchen Gründen eine Minderheit der Eltern ihre Kinder nicht oder erst sehr spät in den Tageseinrichtungen anmeldet. Die amtliche Statistik kann hierauf zwar keine Antwort geben. Sie kann jedoch als Ausgangspunkt für weitere Forschung fungieren. So wurde durch die Veröffentlichung dieser Zahlen ein Forschungsprojekt angestoßen, das sich der Frage des Nicht-Besuchs mittels qualitativer Verfahren nähert.6

5

Kindergartengruppen nehmen in der Regel erst Kinder im Alter ab 3 Jahren auf. Um Angebote für unter 3-Jährige zu schaffen, werden u.a. auch 2-Jährige in Kindergartengruppen aufgenommen. Die Anzahl der aufgenommenen Kinder beschränkt sich in der Regel auf 1 bis 3 Kinder. 6 Der Abschluss dieses interessanten Forschungsprojektes liegt inzwischen vor: Hüsken u.a. (2008).

227

Empirische Forschung auf der Basis der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik

Quote der Inanspruchnahme von Kindern in Kindertageseinrichtungen* und Kindertagespflege nach Altersjahrgängen in West- und Ostdeutschland 2007 (Quote in %)

Abbildung 1:

Insgesamt

Westdeutschland

9,9

1,7

89,0

0,6

Insgesamt

Ostdeutschland 8,1

3 bis unter 6 Jahre

88,3

40,7

3,6

37,1

unter 3

93,2

0,7

93,9

0,9 1,8

0,9

7,2

2,2

20,1

2,1 0,9

77,7 93,0 95,4 in % 120

5,0

92,4

80

60

Einrichtungen

37,2

1-Jährige

40

20

73,1

4,3

68,7

1,1

93,0

3-Jährige

91,9

4-Jährige

93,0

0,5

93,5

94,7

0,4

95,1

0

0-

Kindertagespflege

42,3

5,1

5-Jährige

94,9

0,5

6,3

4,8 1,4

2-Jährige

18,0

76,8

0,6

100

unter 1

20

40

60

80

100 in %

Insgesamt

* Bei der Quotenbildung wurden Kinder, die in vorschulischen Einrichtungen sind bzw. bereits die Schule besuchen, berücksichtigt. Die Abweichungen bei der Addition der Quoten zur Insgesamt-Quote ergeben sich aufgrund von Rundungseffekten. Quelle: Statistisches Bundesamt, Kinder und tätige Personen in Kindertageseinrichtungen 2007; Statistisches Bundesamt, Kinder in Kindertagespflege 2007, eigene Berechnungen Personalressourceneinsatz7 Das erste Auswertungs- und Analysebeispiel zur Altersstruktur der Kinder sollte verdeutlichen, dass bereits mit den Ergebnissen der von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder veröffentlichten Standardtabellen Forschungsfragen bearbeitet werden können. Ein deutlich breiteres Spektrum für sozialwissenschaftliche Analysen bieten jedoch die Ursprungsdaten der Erhebung. Durch die neu eingerichteten Forschungsdatenzentren des Statistischen Bundesamtes und der Statistischen Landesämter (www.forschungsdatenzentrum.de) steht der Wissenschaft unter Wahrung der Datenschutzbestimmungen der Zugang zu den Mikrodaten der amtlichen Statistik offen. Durch die Arbeit mit den Ursprungsdaten können alle Erhebungsmerkmale gleichzeitig in die Analyse einfließen. Hierzu ein Beispiel: Ein wichtiges Qualitätskriterium im Bereich der Kindertageseinrichtungen ist der Umfang des Einsatzes des pädagogischen Personals. Bislang waren zu dieser Frage nur sehr grobe Schätzungen mit Durchschnittswerten für alle Einrichtungen möglich. Mit den Mikrodaten ist jedoch auch eine Analyse auf Gruppenebene möglich, so dass sehr genau bestimmt werden kann, wie hoch die Personalressourcen in den fast 140.000 Gruppen in Deutschland sind. Um für die einzelnen Gruppen in den Tageseinrichtungen vergleichbare Werte zu erhalten, müssen auf Gruppenebene die Betreuungszeiten der Kinder und der Beschäftigungsumfang des pädagogischen Personals standardisiert werden. Dies ist deshalb notwendig, da der vertraglich vereinbarte Betreuungsumfang sehr unterschiedlich ist und sich in einer Spanne 7

Die methodischen Erläuterungen zum Personalressourceneinsatz wurden verfasst von Jens Lange.

228

Kirsten Fuchs-Rechlin/Ana Moya/Matthias Schilling

von 5 bis 10 Stunden täglich bewegt. Ähnliches gilt für die Beschäftigungszeiten der pädagogisch Tätigen. Diese bewegen sich in einer Spannweite von 10 bis 40 Wochenarbeitsstunden. Auf der Seite der pädagogisch Tätigen werden Vollzeitbeschäftigungsäquivalente gebildet, in dem die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit aller Tätigen aufsummiert und durch die Wochenarbeitszeit eines Vollzeittätigen geteilt wird (38,5 Wochenarbeitsstunden8). Auf Seiten der Kinder werden entsprechende Ganztagsinanspruchnahmeäquivalente gebildet. Gemäß der Berechnungen beim Personal wird auch hier die vertraglich vereinbarte Betreuungszeit der Kinder aufsummiert und durch 40 Stunden – dies entspricht in aller Regel der Betreuungszeit eines Ganztagsplatzes in einer Woche – dividiert. Da die vertraglich vereinbarte Betreuungszeit nicht stundengenau sondern in Zeitstufen erfasst wird, müssen diese vorab in ihre Mittelwerte umgewandelt werden. So wird beispielsweise aus einem Betreuungsumfang von ‚mehr als 5 bis zu 7 Stunden‘ ein Betreuungsumfang von 6 Stunden. Für die Kategorie ‚vor- und nachmittägliche Betreuungszeit ohne Mittagsbetreuung’ wurde eine durchschnittliche Betreuungszeit von 6,5 Stunden angesetzt. Durch dieses Berechnungsverfahren wurden auf beiden Seiten – also auf Seiten der Kinder und auf Seiten der pädagogisch Tätigen – Äquivalente gebildet, die mithin eine abstrakte aber standardisierte Größe darstellen. Sie bilden nicht die Zeit ab, die eine pädagogische Fachkraft täglich mit den Kindern verbringt, sondern der so errechnete Personalschlüssel stellt das Verhältnis von Ganztagsinanspruchnahmeäquivalenten pro Vollzeitbeschäftigungsäquivalent dar. Um dieses Konzept begrifflich gegenüber einem Betreuungsschlüssel abzugrenzen, wird der Begriff des Personalressourceneinsatzschlüssels verwendet.9 Da der Gruppentyp i.d.R. unmittelbar Auswirkungen auf die Personalausstattung hat, musste als weiterer Einflussfaktor auf den Personaleinsatz die Art der Gruppe, also der Gruppentyp berücksichtigt werden (vgl. Riedel 2008b, S. 190ff.). Die Gruppentypen wurden anhand zweier Merkmale, die sowohl in den Fachdebatten als auch in den Ländergesetzen Berücksichtigung finden, nämlich ‚Alter der Kinder’ und ‚Gruppengröße’, entwickelt. Daraus ergaben sich folgende Gruppentypen: - Gruppen mit Kindern unter 3 Jahren: In diese Kategorie fallen nur Gruppen, in denen alle Kinder jünger als 3 Jahre sind, fachlich werden diese Gruppen überwiegend als Krippengruppen gekennzeichnet. - Gruppen für Kinder ab 3 Jahren bis zum Schuleintritt: In diese Kategorie fallen alle Gruppen, in denen ausschließlich Kinder die 3 Jahre und älter sind, die aber noch keine Schule besuchen. Es handelt sich dabei um die klassischen Kindergartengruppen. - Geöffnete Kindergartengruppen: Für diese Gruppe gelten dieselben Merkmale wie bei den Kindergartengruppen. Zusätzlich werden diese Gruppen aber von mindestens 1 und bis zu 5 2-jährigen Kindern besucht. Zudem sind in diesen Gruppen mindestens 15 Kinder. In Fachdebatten werden diese Gruppen als ‚geöffnete’ bzw. ‚alterserweiterte’ Kindergarten8

Um bundesweit vergleichbare Größen zu erhalten, wurde immer mit 38,5 Wochenarbeitsstunden gerechnet, gleichwohl es Länderdifferenzen in der wöchentlichen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten gibt. 9 „Personalressourceneinsatzschlüssel“ ist sprachlich nicht der korrekte Begriff, da die ausgewiesenen Werte genau das umgekehrte Verhältnis ausdrücken, nämlich die betreuten Ganztagsinanspruchnahmeäquivalente pro Vollzeitbeschäftigungsäquivalent. Gleichwohl drückt die Zahl indirekt aus, wie hoch der Personalressourceneinsatz pro Kind ist. Um dies nachvollziehbar zu machen und auch um den in Gesetz und Debatte üblichen Begriff des Personalschlüssels anzuschließen, wurde der Begriff des Personalressourceneinsatzschlüssels gewählt, parallel wird der Begriff des standardisierten Personalschlüssels verwendet.

Empirische Forschung auf der Basis der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik

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gruppen bezeichnet, da es sich zumeist ursprünglich um klassische Kindergartengruppen handelte, in die inzwischen zusätzlich 2-jährige Kinder mit aufgenommen werden. Altersgemischte Gruppen: Merkmal dieser Gruppe ist zunächst, dass sie in keine der anderen Gruppenkategorien fällt. Als weitere Merkmale gelten, dass in diesen Gruppen ebenfalls keine Schulkinder sind und dass in ihr sowohl Kinder unter 3 Jahren als auch Kinder sind, die 3 Jahre und älter sind. Gruppen mit Schulkindern: Dies sind diejenigen Gruppen, in denen auch Schulkinder sind.

Für diese fünf Gruppentypen wird pro Gruppe der Personalressourceneinsatz berechnet und dann der Mittelwert pro Gruppentyp ausgewiesen. Um zusätzliche Verzerrungen – die Betreuung von Kindern mit Behinderungen ist zumeist personalintensiver – auszuschließen, bleiben Gruppen mit Kindern mit einer Behinderung unberücksichtigt. Insgesamt konnten so zum Stichtag 15.03.2006 ca. 111.000 Gruppen von insgesamt ca. 138.00 Gruppen in Kindertageseinrichtungen berücksichtigt werden.10 Auf der Seite der pädagogisch Tätigen wurden die Gruppenleitungen und die Ergänzungskräfte pro Gruppe berücksichtigt. Das gruppenübergreifende Personal sowie die freigestellten Leitungskräfte wurden anteilig auf die Gruppen verteilt und in die Berechnungen einbezogen. Insgesamt gilt für den in der beschriebenen Art errechneten Personalschlüssel, dass es sich um Personalressourcen handelt, die pro Kind eingesetzt werden und dies eine kategoriale Differenz zu einem Personalschlüssel darstellt, der die reale Betreuungssituation in den Gruppen abbildet. Eine Darstellung der realen Betreuungssituation in den Gruppen ist nach derzeitigen Erkenntnissen mit Hilfe der amtlichen Statistik nicht möglich. Hierfür wären weitere Informationen erforderlich. So müsste vom Personal bekannt sein, wie viele Stunden jeder Einzelne tatsächlich in welcher Gruppe arbeitet. Zur weiteren Verbesserung der Darstellung und Analyse des Personalressourceneinsatzes wäre es hilfreich, auf der Gruppenebene die Öffnungszeiten der Gruppe zu erfassen und in eine Relation zu den Anwesenheitszeiten der Kinder zu bringen. Ein Extrembeispiel kann dies verdeutlichen: In einer Gruppe sind 25 Kinder, für die eine Betreuungszeit von täglich 5 Stunden vereinbart wurde. Alle Kinder kommen um 8 Uhr und gehen um 13 Uhr. In einer anderen Gruppe sind ebenfalls 25 Kinder mit täglich 5 Stunden aber die Kinder sind zu ganz unterschiedlichen Zeiten anwesend. Im Extremfall in der Zeit von 6:30 bis 19:00 Uhr. Dies ist eine Zeitspanne von 12,5 Stunden. Im hier beschriebenen standardisierten Personalschlüssel würde für beide Gruppen der gleiche Personalschlüssel ausgewiesen, die reale Betreuungssituation in den Gruppen sähe aber sehr unterschiedlich aus. Die bisherigen Ergebnisse der umfangreichen Berechnungen des DJI und der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik stehen der Fachwelt inzwischen zur Verfügung (vgl. Riedel 2008b) und fanden Eingang in den nationalen Bildungsbericht 2008 (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008, S. 48f.). Für die überwiegende Angebotsform, die Betreuung von Kindern im Alter von 3 Jahren bis zum Schuleintritt, ergibt sich bundesweit ein durchschnittlicher Personalressourceneinsatzschlüssel von einer pädagogisch tätigen Person (standardisiert als Vollzeitäquivalent) für 10 Kinder (standardisiert als Ganztagsäquivalent). Aufgrund der unterschiedlichen Organisationsformen und Traditionen in den Kinderta10 Einschränkend ist jedoch anzumerken, dass zum gleichen Stichtag 8,6% der Einrichtungen ohne feste Gruppenstruktur arbeiteten. Für diese Einrichtungen konnte kein standardisierter Personalschlüssel ausgewiesen werden. Im Ergebnis ist aber der ausgewiesene standardisierte Personalschlüssel aussagekräftig für die ganz überwiegende Mehrheit der Kinder in frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung.

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Kirsten Fuchs-Rechlin/Ana Moya/Matthias Schilling

geseinrichtungen bestehen deutliche Unterschiede vor allem zwischen Ost- und Westdeutschland. Der durchschnittliche Personalschlüssel liegt im Westen bei 1 : 9,5, in Ostdeutschland bei 1 : 12,5, wobei es auch innerhalb der beiden Landesteile erhebliche Unterschiede gibt. Im Westen reicht die Spannweite von 1 : 8,1 bis zu 1 : 10,5, im Osten von 1 : 11,7 bis 1 : 13,6 (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008, S. 49). Diese ländervergleichende Perspektive zeigt, dass die personellen Voraussetzungen zur Anregung und Begleitung von Bildungsprozessen in Kindertageseinrichtungen für Kinder ab drei Jahren zwischen den Ländern erheblich voneinander abweichen. Der Einsatz von multivariaten Analysemethoden Regressionsanalyse zu hochschulausgebildeten Fachkräften in Kindertageseinrichtungen Die Forderung verstärkt hochschulausgebildete Fachkräfte in Tageseinrichtungen für Kinder einzustellen ist nicht neu. Vielmehr wird diese Frage schon seit den 1970er Jahren diskutiert. Diese Diskussion führte allerdings nicht zu einer vermehrten Einstellung von DiplomSozialpädagogInnen, wobei diese Zurückhaltung weniger fachlichen Argumenten folgte, sondern vielmehr fiskalischer Natur war bzw. nach wie vor ist. So besteht die Sorge, die Personalkosten würden bei einer verstärkten Einstellung hochschulausgebildeter Fachkräfte explodieren. In jüngster Zeit hat die Diskussion um die Einstellung von hochschulausgebildeten Fachkräften im Arbeitsfeld der Kindertagesbetreuung erneut Renaissance. Dies ist auf zwei Gründe zurückzuführen: Einerseits wurde durch den »PISA-Schock« der Bildungsauftrag der Tageseinrichtungen für Kinder stärker in den Mittelpunkt gerückt und zur Erfüllung dieses Auftrags eine bessere Qualifikation des Personals gefordert. Andererseits haben Fachhochschulen durch den Bologna-Prozess die Möglichkeit erhalten neue Studiengänge zur frühkindlichen Bildung und Erziehung durch Akkreditierung einzurichten (vgl. ausführlich Rauschenbach 2006).11 Diese Diskussion um das Qualifikationsprofil des Personals von Kindertageseinrichtungen findet seinen Niederschlag in zahlreichen Fachpublikationen und Stellungnahmen von Fachorganisationen. So fordert etwa die Kommission des 12. Kinder- und Jugendberichts, die Berufsqualifikation für das Personal dieses Bereiches auf Hochschulniveau anzusiedeln. Da dies jedoch weder kurz- noch mittelfristig umsetzbar ist – vielmehr würde sich ein solcher Umstellungsprozess über einen Zeitraum von 35 Jahren erstrecken –, sollte zumindest das Personal der Leitungsebene über eine Hochschulausbildung verfügen (vgl. BMFSFJ 2005, S. 322). Auch die Jugendministerkonferenz prognostiziert in ihrem Beschluss zur Weiterentwicklung der Erzieherinnen- und Erzieherausbildung vom 12./13. Mai 2005 einen „Prozess der Akademisierung“: „Die Jugendministerkonferenz stellt fest, dass die akademischen Aus-, Fortund Weiterbildungsangebote durch die Länder und die Träger ausgeweitet werden. Diese Entwicklung wird dazu führen, dass sich in einem mittelfristigen Prozess der Anteil des in den Kindertageseinrichtungen tätigen, akademisch ausgebildeten Personals vergrößern kann. Die Jugendministerkonferenz ist grundsätzlich offen für diesen Prozess der Differenzierung der Ausbildung und regt an, die Leitungskräfte in den Kindertageseinrichtungen weiter zu qualifizieren“ (Jugendministerkonferenz 2005, S. 2). 11 Eine aktuelle Übersicht befindet sich bei Hoffmann (2005) oder auf der Internetseite der GEW: http://www.gew.de/Studiengaenge_fuer_Erzieherinnen_und_Erzieher.html, weitere Informationen auch über geplante Studiengänge werden bereitgestellt durch die FH Koblenz: http://www.kita-studiengang. de/studienangebote.

Empirische Forschung auf der Basis der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik

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Im Gegensatz zu diesen bildungspolitischen Appellen zeigt die Auswertung der Daten der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik, dass hochschulausgebildete Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen in Deutschland nach wie vor ein ‚Schattendasein’ fristen: Bei einem Personalvolumen von rund 360.000 pädagogisch tätigen Personen im Jahr 2007 stellen die hochschulausgebildeten Fachkräfte mit einem Anteil von insgesamt 3,4% eine fast vernachlässigbare Größe dar (vgl. Statistisches Bundesamt 2007). Differenziert man die Akademikerquote nach unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen, zeichnen sich allerdings deutliche Unterschiede ab: Der höchste Anteil hochschulausgebildeter Fachkräfte findet sich in der Einrichtungsleitung mit 21%. In der Gruppenleitung sind diese Fachkräfte mit einem Anteil von knapp 3% nur noch selten vertreten und bei den Zweitkräften spielen sie erwartungsgemäß mit einem Anteil von unter zwei Prozent nur eine marginale Rolle. Mit Ausnahme der Leitung sind hochschulausgebildete Fachkräfte in Deutschland also nach wie vor eher die Ausnahme als die Regel. Und umso interessanter ist die Frage, unter welchen Bedingungen sie dennoch für die Tätigkeit in Kindertageseinrichtungen eingestellt werden.12 Dieser Untersuchungsfrage wird im Folgenden mittels einer multivariaten Analyse für die Fachkräfte in Nordrhein-Westfalen nachgegangen. Dabei gilt es nicht nur diejenigen Einflussgrößen zu identifizieren, die sich förderlich oder hinderlich auf die Einstellung von AkademikerInnen auswirken, sondern auch der Frage nachzugehen, wie diese untereinander zu gewichten sind. Für die multivariate Analyse wurde das Verfahren der binär logistischen Regression gewählt (vgl. hierzu ausführlich Backhaus 2003). Dieses Verfahren ermöglicht es zu überprüfen, ob und wenn ja in welchem Ausmaß die unabhängigen Variablen (z.B. Zielgruppe, Arbeitsbereich, Träger) die Wahrscheinlichkeit beeinflussen, dass eine Person zur Gruppe der hochschulausgebildeten Fachkräfte gehört und dies im Vergleich zur Gruppe der NichtAkademikerInnen. Die Ergebnistabelle der multivariaten Analyse weist die standardisierten Effekt-Koeffizienten aus (vgl. Tabelle 3). Diese geben zum einen die Stärke des Einflusses an, d.h. je weiter der Koeffizient vom Wert 1 entfernt ist, desto stärker ist der Zusammenhang zwischen abhängiger und unabhängiger Variable. Zum anderen lässt sich am Vorzeichen des Koeffizienten (positiv bzw. negativ) die Richtung des Zusammenhangs ablesen: Ein positives Vorzeichen bedeutet einen positiven Zusammenhang, d.h. mit dem Auftreten bzw. der Höhe der abhängigen Variable steigt die Wahrscheinlichkeit zur Gruppe der hochschulausgebildeten Fachkräfte zu gehören. Ein negatives Vorzeichen (gekennzeichnet durch eine hochgestellte -1) meint einen negativen Zusammenhang, d.h. mit dem Auftreten bzw. mit ansteigenden Werten der abhängigen Variable sinkt die Wahrscheinlichkeit zur Gruppe der hochschulausgebildeten Fachkräfte zu gehören. Da die Effekt-Koeffizienten standardisiert sind, sind sie innerhalb eines Modells vergleichbar. Geprüft wurden auf der Einrichtungsebene die Variablen Einrichtungsart und Einrichtungsgröße und Anzahl der Ganztagsplätze, bezogen auf die Tätigkeit der Fachkräfte die Variablen Arbeitsbereich, Wochenarbeitszeit und Beschäftigungsform und auf der Individualebene die Variablen Alter und Geschlecht. Die Variablen mit den höchsten Effekt-Koeffizienten finden sich in Nordrhein-Westfalen unter den tätigkeits- und einrichtungsbezogenen Merkmalen: Arbeitet eine Person in der Einrichtungsleitung oder im Bereich der Betreuung behinderter Kinder erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Hochschulabschluss besitzt, arbeitet sie hingegen als Zweitkraft 12

vgl. zu diesem Abschnitt Fuchs/Schilling (2006)

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sinkt diese Wahrscheinlichkeit (vgl. Tabelle 3). Auch in der Hortbetreuung ist die Wahrscheinlichkeit höher zur Gruppe der hochschulausgebildeten Fachkräfte zu gehören. Für die einrichtungsbezogenen Merkmale Ganztagesplätze und Einrichtungsgröße gilt ebenfalls ein positiver Zusammenhang: Je höher der Anteil der Ganztagesplätze oder je größer die Einrichtung, desto wahrscheinlicher ist es, dass dort hochschulausgebildete Fachkräfte zum Einsatz kommen. Schließlich weisen auch die individuumbezogenen Merkmale Alter und Geschlecht signifikante Koeffizienten nennenswerter Größenordnung auf: Je älter eine Person, desto eher besitzt sie einen Hochschulabschluss. Dies erklärt sich aus dem späteren Berufseinstieg von AkademikerInnen. Im Durchschnitt sind Fachkräfte mit einem Hochschulabschluss rund 5 Jahre älter als Fachkräfte, die ihre Ausbildung an einer (Berufs-)Fachschule absolviert haben. Aber nicht nur ältere Fachkräfte auch Männer gehören eher zur Gruppe der hochschulausgebildeten Fachkräfte. Dieser Befund ist insofern erstaunlich, als dass (sozial-)pädagogische Studiengänge ‚Frauenstudiengänge’ sind, sich also deutlich mehr akademisch ausgebildete Frauen als Männer auf dem Arbeitsmarkt ‚tummeln’ dürften. Tabelle 3:

Bedingungsgefüge für den Einsatz hochschulausgebildeter Fachkräfte in Nordrhein-Westfalen – standardisierte Effekt-Keoffizienten einer binär logistischen Regression (2002; n=71.812)

Die These von den SozialpädagogInnen als ‚Lückenbüßer’, etwa um Zeiten eines höheren Fachkräftebedarfs zu überbrücken, wird auch durch die Befunde zur Befristung und zur Wochenarbeitszeit gestützt. Mit der Befristung und mit sinkender Anzahl der Wochenstunden steigt die Wahrscheinlichkeit zur Gruppe der AkademikerInnen zu gehören, d.h. hochschulausgebildete Fachkräfte sind eher befristet und in Teilzeit, also in nicht-regulären Beschäftigungsverhältnissen, tätig. Alles in allem bleibt festzuhalten: Hochschulausgebildete Fachkräfte sind in NordrheinWestfalen die Ausnahme im Arbeitsfeld Tageseinrichtungen für Kinder. Unser Ziel war es die Frage zu klären unter welchen Bedingungen diese Ausnahmen zustande kommen. Dabei hat sich gezeigt, dass hochschulausgebildete Fachkräfte nicht auf breiter Basis, sondern eher für spezialisierte Aufgabenfelder wie die Betreuung behinderter Kinder oder in der Einrichtungs-

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leitung eingesetzt werden. Darüber hinaus lässt sich ein besonderer Typus von Einrichtungen identifizieren in dem das Qualifikationsprofil von hochschulausgebildeten Fachkräften eher auf Akzeptanz stößt. Es sind dies vor allem große Einrichtungen und Einrichtungen mit einem hohen Anteil an Ganztagesplätzen. Es ist zu vermuten, dass in diesen Aufgabenfeldern und Einrichtungen Kompetenzen erforderlich sind, wie sie insbesondere im Rahmen des Hochschulstudiums erworben werden können. Mehrebenenanalyse zum MigrantInnenanteil in Kindertageseinrichtungen Vor dem Hintergrund der Diskussion um die gesellschaftliche Integration von Zuwandererfamilien sind in den letzten Jahren auch die Kindertageseinrichtungen und deren Funktion für die Integration der Kinder sowie deren späteren Schulerfolg in den Blick öffentlicher Diskussionen gerückt. Kindertageseinrichtungen sind für Familien mit Migrationshintergrund bzw. ihre Kinder die erste Bildungseinrichtung mit der sie in Kontakt kommen und in der sie die ‚Spielregeln’ der Mehrheitskultur kennen lernen können. Entsprechend hoch sind die Erwartungen der Familien aber auch der Gesellschaft an die Integrationskraft dieser Einrichtungen. Vergleichsweise günstige Voraussetzungen liegen dann vor, wenn die Anzahl der Kinder ohne Migrationshintergrund deutlich überwiegt (vgl. Autorengruppe Bildungsbericht 2008, S. 53; Leu 2007, S. 162). Eine besondere Bedeutung wird den Kindertageseinrichtungen im Hinblick auf den Spracherwerb zugeschrieben und Untersuchungen zeigen, dass „Defizite in der deutschen Sprache bei Migrantenkindern umso seltener vorkommen, je länger diese den Kindergarten besucht haben“ (Becker 2006, S. 449). Nun findet Spracherwerb in der frühen Kindheit nicht in speziellen Unterrichtseinheiten statt, wie dies etwa beim Erlernen einer Fremdsprache in der Schule der Fall ist, sondern ‚en passant’, also nebenbei im unmittelbaren Alltagsvollzug. Denn Spracherwerb ist bei Kindern unmittelbar mit ihren Alltagsaktivitäten verknüpft. Dabei spielen Erwachsene als „Sprachvorbilder“ ebenso eine Rolle wie die gleichaltrigen Kinder mit denen sie spielen und kommunizieren. „Um auch im Austausch mit anderen Kindern die deutsche Sprache zu praktizieren, müssen Kinder die Chance haben, in der Kindertageseinrichtung auf Kinder zu treffen, die selber Deutsch sprechen, am ehesten repräsentiert durch die Gruppe der Kinder, deren Familiensprache Deutsch ist“ (vgl. Leu 2007, S. 164). Vor diesem Hintergrund lohnt auch ein Blick auf das Merkmal ‚nicht-deutsche Familiensprache’ in der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik: In welchem Ausmaß treffen Kinder mit Migrationshintergrund in Kindertageseinrichtungen auf Kinder, deren Familiensprache deutsch ist, oder bleiben sie in den Tageseinrichtungen weitestgehend unter sich?13 In Westdeutschland besuchen gut 30% der Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache Einrichtungen, bei denen der Anteil der Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache über 50% liegt. Bei den Kindern, die zu Hause überwiegend deutsch sprechen liegt dieser Anteil unter 13 Der Migrationshintergrund der Kinder wird in der amtlichen Statistik mit zwei Merkmalen erhoben. Zum einen wird danach gefragt, ob mindestens ein Elternteil ausländischer Herkunft ist, zum anderen wird nach der in der Familie vorrangig gesprochenen Sprache gefragt. Auskunft zu diesen Fragen geben die EinrichtungsleiterInnen. Sofern aber diese Merkmale von den Einrichtungen nicht direkt erhoben werden, z.B. im Rahmen der Anmeldung der Kinder (und hier wird in der Regel nach der Staatsangehörigkeit und nicht nach dem Geburtsort der Eltern gefragt), muss die Einrichtungsleiterin bzw. müssen die ErzieherInnen eine Einschätzung abgeben. Die Messgenauigkeit hängt also davon ab, wie ‚gut’ die MitarbeiterInnen die Eltern kennen. Während die ‚vorrangig gesprochene Sprache’ noch aus den Sprachfähigkeiten der Kinder abgeleitet bzw. aus der beobachtbaren Kommunikation der Eltern mit ihren Kindern geschlossen werden kann, dürfte zumindest bei der Frage nach der Herkunft mit einer erheblichen ‚Grauzone’ zu rechnen sein.

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5%. Dementsprechend verhält es sich umgekehrt bei den Kindern, deren Familiensprache deutsch ist: 82% dieser Kinder besuchen Einrichtungen, in denen höchstens 25% der Kinder eine nicht-deutsche Familiensprache sprechen. Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache besuchen hingegen lediglich zu 34% diese Einrichtungen. Damit zeichnen sich in den Kindertageseinrichtungen deutliche Segregationseffekte ab, die darüber hinaus stärker ausgeprägt sind als in der Schule (vgl. Autorengruppe Bildungsbericht 2008, S. 53).14 Offen bleibt die Frage, worin diese Segregationseffekte begründet liegen. Hat es mit dem Aufnahmeverhalten der Einrichtungen zu tun, wenn etwa konfessionelle Träger nur bis zu einem bestimmten Prozentsatz ihrer Plätze mit Kindern mit Migrationshintergrund belegen? Oder spielen regionale Einflüsse etwa der MigrantInnenanteil eine Rolle? Eine Stärke der amtlichen Statistik liegt darin, dass es sich um hierarchisch strukturierte Daten handelt. Erfasst werden Kinder, die den einzelnen Einrichtungen zugeordnet werden können. Die Einrichtungen wiederum können nach Kreisen/Kommunen zusammengefasst werden und diese Kreise/Kommunen nach Bundesländern. Die amtliche Statistik liefert Regionalkennungen, mittels derer den Daten Merkmale zu den Regionen (bis hinunter zur Kreisebene) zugespielt werden können, etwa Informationen zur Angebotsstruktur wie die PlatzKind-Relation in einem Kreis oder zur Sozialstruktur wie die Arbeitslosenquote oder die MigrantInnenquote. Soll nun untersucht werden, inwiefern der Anteil von MigrantInnen in einer Einrichtung von Kontextmerkmalen der Kreise/Kommunen und Bundesländer abhängt, dann kann dies mit Hilfe des Verfahrens der Mehrebenenanalyse in adäquater Weise geschehen.15 In der Vergangenheit wurden, da geeignete statistische Verfahren für hierarchisch strukturierte Daten fehlten, überwiegend traditionelle Verfahren insbesondere Standard-Regressionsanalysen eingesetzt, um Daten mit einer Mehrebenenstruktur zu analysieren. Dies ist vielfach unbefriedigend, da „die Koeffizienten eines einfachen Regressionsmodells als eine uninterpretierbare Mischung aus Effekten innerhalb und zwischen den Aggregateinheiten angesehen werden könnten“ (vgl. Ditton 1998, S. 29). Mehrebenenanalysen bieten demgegenüber den Vorteil, eine vollständige Betrachtung auf allen Ebenen zu ermöglichen. Das wichtigste Grundprinzip von Mehrebenenanalysen ist, dass Individuen auf unterschiedlichen Analyseebenen gleichzeitig untersucht werden können, d.h. die Struktur der Daten (u.a. die Abhängigkeit der Messungen) wird berücksichtigt. Unter Zuhilfenahme der Mehrebenenanalyse können nicht nur die einzelnen Effekte von Individual- und Kontextvariablen, sondern auch deren Zusammenwirken geschätzt werden. In der Regel wird als abhängige Variable ein Individualmerkmal (z.B. die Schulleistung von Schülern) untersucht, zu dessen Erklärung bzw. Vorhersage weitere Individualmerkmale (z.B. Alter) und zudem noch Merkmale der Einheiten mindestens einer höheren Ordnung (z.B. Merkmale der Schule, des Wohngebietes) herangezogen werden. Ziel der vorliegenden Auswertungen ist es, den Einfluss sozialstruktureller Faktoren auf den Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in Kindertageseinrichtungen zu quantifizieren und zwar unter Kontrolle einrichtungsbezogener Variablen wie etwa die Trägerschaft der 14 Diese Segregationseffekte zeigen sich der Tendenz nach auch in den östlichen Bundesländern allerdings hier auf einem sehr viel niedrigeren Niveau. Dies liegt daran, dass in den neuen Bundesländern deutlich weniger Menschen mit Migrationshintergrund leben als in den westlichen Bundesländern. 15 Diese Darstellung ist als ‚Werkstattbericht’ zu verstehen, da es sich noch nicht um vollständig abgeschlossene Analysen handelt. Durch den Werkstattbericht wollen wir jedoch schon jetzt aufzeigen, welche Möglichkeiten existieren, um auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anzuregen, mit diesen Daten zu arbeiten.

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Kindertageseinrichtungen. Die abhängige Variable ‚Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund’ bezieht sich auf die tiefste Ebene, die Einrichtungen. Für die abhängige Variable wird eine Binomialverteilung vorausgesetzt. Insgesamt werden drei Ebenen berücksichtigt: die Bundesländer auf Ebene drei, die Kreise/Kommunen auf Ebene zwei und die Kindertageseinrichtungen auf der ersten/untersten Ebene. Bei der Analyse wurde der Einfluss folgender Variablen geprüft: Tabelle 4:

Mehrebenenmodell zur Analyse des Anteils der Kinder mit Migrationshintergrund in Kindertageseinrichtungen

3. Ebene

Bundesland

Ost-West Rechtsanspruch (Referenzkategorie: Kein Rechtsanspruch)

2. Ebene

Kreis

Bevölkerungsdichte Anteil der MigrantInnen Versorgungsquote Arbeitslosenquote Sozialhilfequote

1. Ebene

Einrichtung

Einrichtungsgröße (gemessen an der Anzahl der Kinder) Öffentliche Träger (Referenz: freie Träger) AkademikerInnenanteil am Personal Personalvolumen (Vollzeitäquivalent)

Abhängige Variable: Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in Einrichtungen in den einzelnen Kreisen in Bundesländern (BL) ohne Berlin

Schaut man sich nun die standardisierten Koeffizienten an, so zeigt sich, dass die abhängigen Variablen der Kreisebene die größte Erklärungskraft für den Anteil der MigrantInnen in den Einrichtungen liefern (vgl. Abbildung 2). Mit großem Abstand folgen die Variablen auf Bundeslandebene und schließlich die einrichtungsbezogenen Merkmale. Bei den Variablen auf Kreisebene zeigt sich zum einen ein Urbanisierungseffekt, d.h. je höher die Bevölkerungsdichte, desto höher ist der Anteil der MigrantInnen in den Kindertageseinrichtungen. Dies dürfte mit der unterschiedlichen Bevölkerungsstruktur, also dem StadtLand-Gefälle beim MigrantInnenanteil, zusammenhängen. Zum anderen lässt sich ein – allerdings negativer – Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und MigrantInnenanteil in den Einrichtungen beobachten. Als Indikator für die Sozialstruktur der Kreise bzw. Kommunen wurde das Merkmal Sozialgeldbezug in das Modell eingeführt. Je höher der Anteil der SozialgeldempfängerInnen in den Kreisen, desto niedriger ist der Anteil der MigrantInnen in den Einrichtungen. Möglicherweise erklärt sich dieser Befund aus der ‚Bildungsferne’ sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen, die wiederum häufig mit einem Migrationshintergrund zusammenfällt. Es zeigt sich, dass diese Familien Kindertageseinrichtungen seltener in Anspruch nehmen als Bevölkerungsgruppen mit höherem Bildungsniveau (vgl. Fuchs/Peucker 2006). Da jedoch in der amtlichen Statistik das Merkmal ‚Bildungsstand der Eltern‘ nicht ausgewiesen wird, kann diese Vermutung nicht näher geprüft werden.

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Abbildung 2:

Mehrebenenmodell zum Anteil der MigrantInnen in den Einrichtungen (Standardisierte Effekt-Koeffizienten)

3. Ebene: Bundesland

2. Ebene: Kreis/Kommune

Rechtsanspruch: ab 3

Bevölkerungsdichte 214,98**

8,202

Sozialgeldbezug

Rechtsanspruch: ab 2,5 39,409**

-132,08**

Rechtsanspruch: ab 0 -18,586**

Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in der Einrichtung

27,222**

Vollzeitäquivalent 10,224**

Akademikeranteil 28,4184**

Einrichtungsgröße 13,034**

Öffentlicher Träger

1. Ebene: Einrichtung

**: p<,01 Quelle: Statistisches Bundesamt, Kinder und tätige Personen in Kindertageseinrichtungen 2007; eigene Berechnungen Auf der Bundeslandebene wurde das Merkmal ‚Rechtsanspruch’ untersucht. Hier zeigt sich, dass in Bundesländern, die bereits einen Rechtsanspruch für 2-Jährige besitzen, der Anteil der MigrantInnen in den Einrichtungen ebenfalls höher ist. Dieser Befund ist umso erstaunlicher, als dass Thüringen, mit einem insgesamt niedrigen MigrantInnenanteil, als einziges Bundesland bereits für Zweijährige einen Kindergartenplatz garantiert. Gilt der Rechtsanspruch hingegen, wie dies bei den meisten Bundesländern der Fall ist, ab dem dritten Lebensjahr, erzeugt dies

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keinen Unterschied bei der Höhe des MigrantInnenanteils im Vergleich zur Referenzkategorie ‚kein Rechtsanspruch’.16 Auf der untersten Ebene, der Einrichtungsebene, zeigen sich positive Zusammenhänge zur Trägerschaft, zur Einrichtungsgröße, zum Akademikeranteil sowie zum Personalvolumen. Bezogen auf das Personal steigt der MigrantInnenanteil mit dem Personalvolumen und dem Anteil der HochschulabsolventInnen am Personal. Ebenso nimmt der MigrantInnenanteil mit der Einrichtungsgröße zu und Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft weisen einen höheren MigrantInnenanteil auf als Einrichtungen in freier Trägerschaft. Zusammenfassend kommen also den Kontexteinflüssen, insbesondere jenen der Kreisebene, die stärksten Einflüsse auf den Anteil der MigrantInnen in den Einrichtungen zu. Diese Ergebnisse, in Zusammenhang mit den vergleichsweise geringen Effekten der Einrichtungsebene, sprechen dafür, dass der MigrantInnenanteil in Kindertageseinrichtungen im Wesentlichen durch die Bevölkerungsstruktur im Umfeld der Einrichtungen bestimmt wird. Stärker noch als dies in der Schule der Fall ist, bilden sich hierin „sozialraumbezogene Segregationsprozesse in Stadtteilen bzw. Wohnquartieren“ ab (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008, S. 53). Die Einrichtungen selbst scheinen dagegen kaum einen Einfluss darauf zu haben, wie stark sie von Familien mit Migrationshintergrund in Anspruch genommen werden. In den Einrichtungen setzt sich demnach also nur das fort, was für das Wohnumfeld der Kindertageseinrichtungen gilt: Sind im Wohnumfeld MigrantInnen ‚unter sich’, so trifft dies gleichermaßen auf die Kindertageseinrichtungen zu. Die Höhe des Anteils der Kinder mit Migrationshintergrund in Kindertageseinrichtungen ist demnach kein pädagogisches ‚Problem’, das durch eine wie auch immer geartete pädagogische Konzeption gelöst werden könnte, sondern ein sozialpolitisches. Schließlich zeigt die Dominanz der Kontexteinflüsse aber auch, dass es notwendig ist, diese Forschungsfrage mehrebenenanalytisch zu bearbeiten. Fazit Die Angebote der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege haben in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung erhalten, insbesondere unter den Gesichtspunkten der möglichst frühen Förderung der Kinder und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Nicht zuletzt, um die Umsetzung dieser gesellschaftlichen Herausforderung möglichst differenziert beobachten, analysieren und beurteilen zu können, wurde eine umfangreiche amtliche Statistik geschaffen, die beginnend mit dem Jahr 2006 einmal jährlich erhoben wird. Dass diese Ergebnisse nicht nur für die Erfolgsmeldungen der Politik oder die Überprüfung der Ziele der Jugendhilfeplanung dienlich sind, sondern hilfreiches Forschungsmaterial für die Wissenschaft liefern, sollte in diesem Beitrag deutlich werden. Die standardmäßig aufbereiteten Ergebnistabellen der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder bieten zwar schon ein großes Potential an Erkenntnismöglichkeiten, allerdings vervielfachen sich die Möglichkeiten, wenn mit den Ursprungsdaten gearbeitet werden kann. 16 Als ein weiterer Befund zeigt sich, dass sich ein Rechtsanspruch ab 0 Jahre negativ auf den MigrantInnenanteil auswirkt. Da ein solch umfassender Rechtsanspruch jedoch nur in Thüringen und Sachsen-Anhalt, also in östlichen Bundesländern mit ohnehin niedrigem MigrantInnenanteil, besteht, gilt es in weiteren Analysen zu prüfen, inwiefern hinter diesem Zusammenhang ein Ost-West-Gefälle im Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund liegt.

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Wir haben aufgezeigt, welches Auswertungsspektrum bis hin zur Mehrebenenanalyse möglich ist. Die Forschungsmöglichkeiten an den Gastwissenschaftlerarbeitsplätzen in den Forschungsdatenzentren an den jeweiligen Standorten der Statistischen Landesämter ist zunächst faszinierend, verursachen aber auch einen nicht unerheblichen Sekundäraufwand, insbesondere wenn man nicht am Standort des zuständigen Landesamtes wohnt. Die Arbeit am Gastwissenschaftlerarbeitsplatz hat den großen Vorteil, dass die Ergebnisse sofort sichtbar sind und ggf. die Auswertungsstrategien sofort geändert werden können. In einer explorativen Phase ist dies sehr hilfreich. Wenn sich allerdings die Auswertungsstrategien konsolidiert haben, ist es ökonomischer die kontrollierte Datenfernverarbeitung zu nutzten. Mit einem Dummy-Datensatz können die Berechnungen und Analysen am eigenen Arbeitsplatz vorbereitet werden, der Auswertungslauf erfolgt dann im Landesamt. Dort werden dann auch die datenschutzrechtlichen Anonymisierungen vorgenommen und man erhält die Ergebnistabelle per eMail. Insgesamt stellen die Forschungsdatenzentren – nicht nur für die Kinder- und Jugendhilfestatistik – eine deutliche Verbesserung der sekundäranalytischen Forschung mit den Daten der amtlichen Statistiken dar. Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008): Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I, Berlin. Backhaus, K./Erichson, B./Plinke, W./Weiber, R. (2003): Multivariate Analysemethoden. Eine anwendungsorientierte Einführung. 10. neu bearb. u. erw. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York. BBR (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung): Laufende Raumbeobachtung – Raumabgrenzungen. Siedlungsstrukturelle Grundtypen. [www.bbr.bund.de, 22.09.2008] Becker, B. (2006): Der Einfluss des Kindergartens im Kontext zum Erwerb der deutschen Sprache bei Migrantenkindern. In: Zeitschrift für Soziologie, 2006, Heft 6, S. 449-465. Beher, K. (2001): Kindertageseinrichtungen im Zwiespalt. Neue Qualität jenseits der Quantität? In: Rauschenbach, T./Schilling, M. (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfereport 1. Analysen, Befunde und Perspektiven, Münster, S. 53-72. Berg-Lupper, U (2006): Kinder mit Migrationshintergrund. Bildung und Betreuung von Anfang an? In: Bien, W./Rauschenbach, T./Riedel, B. (Hrsg.): Wer betreut Deutschlands Kinder? DJIKinderbetreuungsstudie, Weinheim/Basel, S. 83-104. Bien, W./Rauschenbach, T./Riedel, B. (Hrsg.) (2006): Wer betreut Deutschlands Kinder? DJIKinderbetreuungsstudie, Weinheim/Basel. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2005): Zwölfter Kinderund Jugendbericht. Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule, Berlin (www.bmfsfj.de). Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2007): Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren. Unterrichtung durch die Bundesregierung - Drucksache 16/6100 vom 12.07.2007, Berlin. Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2008): Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2007. Drucksache 16/9049, Berlin. Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) (2008): Zahlenspiegel 2007. Kindertagesbetreuung im Spiegel der Statistik, München (www.bmfsfj.de Forschungsnetz Kinder und Jugendliche). Ditton, H. (1998): Mehrebenenanalyse: Grundlagen und Anwendungen des Hierarchisch Linearen Modells, Weinheim/München.

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II. Forschungsessays

Der Wirkungsdiskurs in der Sozialen Arbeit und seine Implikationen für die empirische Sozialforschung Stefanie Albus/Heinz-Günter Micheel/Andreas Polutta

„Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen.“ Friedrich Dürrenmatt, 21 Punkte zu Die Physiker, S. 91

Zuweilen erscheint es – betrachtet man die Erwartungen an Wirkungsevaluation und Wirkungsforschung – dass auch für die Soziale Arbeit nach der „Weltformel“ der Dürrenmatt’schen Physiker gesucht werden soll. Weil Soziale Arbeit Interventionen und durchaus Eingriffe in die Lebensführung der Menschen vornimmt und sich dafür – so ein häufig vorgetragenes Argument – nicht nur mit Blick auf öffentlich bereit gestellte Ressourcen, sondern auch gegenüber den Bürgern in Bezug auf ihr Leistungsversprechen legitimieren müsse, wird zunehmend gefordert, dass Wissen über Wirkungen und Ergebnisse, auch über so genannte Nebenwirkungen, durch Forschung verfügbar gemacht wird. Politik müsse wissen, was sie als „value for money“ erwarten könne, Bürger müssen wissen, welche Risiken und Nebenwirkungen sie erwarten, Fallmanager müssen wissen, welches Programm in welchem Fall die höchste Effektivität und Effizienz hat. Der Wirkungsgrad wohlfahrtsstaatlicher Leistungen geht in dieser Logik zumindest alle PolitikerInnen, BürgerInnen, SozialpädagogInnen etwas an. Die Annahme, mit Hilfe von Wissenschaft und Forschung könnten letztlich Technologien identifiziert werden, die Wirkungen solcher Interventionen zunächst beschreibbar und in einem zweiten Schritt dann auf der Basis wissenschaftlicher Evidenz steuerbar machen, setzen dabei durchaus die Hoffnung frei, möglicherweise das allseits beklagte Technologiedefizit überwinden zu können. Freilich liegen bereits in solchen Annahmen Gefahren, die weniger in der Gefährlichkeit möglicher Weltformel-Erkenntnisse liegen, sondern in der Sprengkraft, die bei gewisser Verwendung des Wissens solche Steuerungsphantasien für das professionelle Selbstverständnis und die Rahmenbedingungen professioneller Sozialer Arbeit entfalten könnten. Ist es also Zeit, dass auch die Sozialforschung sich fragen muss, ob, und wenn ja wann Forschungsergebnisse „zerstörerisch“ wirken können? Zur Klärung dieser Fragen wird in diesem Essay zunächst der Wirkungsdiskurs in mehreren Facetten kurz umrissen, um anschließend die Frage zu erörtern, welches Wissen Forschung über Wirkungen der Sozialen Arbeit produzieren kann und sollte – und welche Verwendung des Wissens angemessen erscheint. Konjunktur für Wirkung – aber nicht nur als Wirkungsforschung Es ist nicht nur Wirkungsforschung, über die in der Sozialen Arbeit derzeit intensiv diskutiert wird. „Der Wirkungsdiskurs“ in der Sozialen Arbeit scheint bei genauerer Betrachtung nicht als ein Diskurs und schon gar nicht als ein nur an wissenschaftlichen Fragestellungen zur Wirkung orientierter Wissensaustausch existent. Vielmehr sind es sehr unterschiedliche Diskurslinien, denen zwar gemeinsam ist, dass der Begriff der Wirkung zentrale Bedeutung hat, dabei G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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jedoch verschiedene Akteure mit ganz verschiedenen Intentionen und auf der Basis sehr unterschiedlicher Standpunkte ausgemacht werden können. So kreisen etwa die Debatten um Evidenzbasierte Soziale Arbeit, um Evaluation und Management und um wirkungsorientierte Steuerung jeweils um Fragen der Wirksamkeit, nehmen jedoch durchaus Unterschiedliches in den Blick. Zunächst ein Blick auf die prominente, im englischsprachigen Raum entwickelte Wirkungsdebatte: die „Evidence-based Practice“-Bewegung. Die Debatte um „Evidence-based Practice“ ist durch die Verbindung von einer forschungsmethodischen und -methodologischen Prämisse einerseits und einer Kritik an den bisherigen professionsorientierten Erbringungsformen Sozialer Arbeit gekennzeichnet. Während die grundlegende Kritik an der vorherrschenden Sozialen Arbeit als einer „authority-based Profession“ (Gambrill 2001) den Boden für die Argumentation bereitet, dass Entscheidungen über Maßnahmen, Angebote, Hilfen und Interventionen auf eine völlig neue – durch empirische Forschung fundierte – Basis gestellt werden müsse, wird zugleich eine Hierarchie wissenschaftlicher Evidenz formuliert, die quantitative randomisierte Kontrollstudien (RCTs) und solche Studien umfassende Metastudien (Meta Analyses) als Gold Standard formuliert (McNeece/Thyer 2004; Soydan 2009) und gegenüber allen anderen Forschungsmethoden präferiert. Dabei ist die Dynamik der – von den Protagonisten selbst so bezeichneten – „Bewegung“ nicht nur aus einer Debatte um adäquate Methoden der empirischen Wirkungsforschung zu begreifen. Vielmehr ist die mit den evidenzbasierten Strategien verbundene wissenschaftsbasierte Neukonfiguration des Feldes Sozialer Arbeit von entscheidender Bedeutung: Proctor und Rosen (2003, 2004) sehen zum Beispiel die Anleitung von Fachkräften mit Hilfe von Practice-Guidelines vor und befassen sich damit explizit mit Wegen und Möglichkeiten der Manualisierung sozialpädagogischen Handelns auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnis. Eine Rahmung erhalten die Ansätze evidenzbasierter Praxis durch den Aufbau von internationalen Forschungsdatenbanken, Think-Tanks, Zentren und Instituten. Teils formal als Nicht-Regierungsoriganisationen verfasst, wie etwa die einflussreiche Campbell-Collaboration, teils durch Regierungen ins Leben gerufen und finanziert wie z.B. das Social Care Centre for Excellence SCIE in Großbritannien (für eine Übersicht weiterer bedeutsamer Zentren vgl. Otto u.a. 2007). Für Deutschland trägt das Nationale Zentrum für frühe Hilfen des BMFSFJ (http://www.fruehehilfen.de/) wesentliche Merkmale eines solchen Zentrums, das wirkungsorientierte Umgestaltung fördern und unterstützen soll. Gray, Plath und Webb (2009) wiesen jüngst darauf hin, dass ein umfassendes Verständnis des Ansatzes der Evidence-based Practice nur zu erlangen sei, wenn man die Eingebundenheit in ein „networked evidence system“ mit in Betracht zieht. In diesem Sinne zeigen sich wesentliche Bestandteile der evidenzbasierten Idee bereits in den zunehmenden Evaluationsbestrebungen – nicht nur in der Sozialen Arbeit, sondern weit darüber hinaus. Versteht man Soziale Arbeit als ein Feld innerhalb der von Power bereits in den 1990er Jahren beschriebenen „Audit Society“, so springt für den Bereich der Sozialen Arbeit ins Auge, dass ein anhaltender Evaluationsboom immer weitere Arbeitsfelder im Sozialund Bildungswesen erfasst. Michael Power hat darauf hingewiesen, dass die Verbreitung von Evaluationen, Audits und „Rituals of Verification“ verwoben sind mit einer gesamtgesellschaftlichen Ausrichtung an Bilanzierungsdenken und –streben („Accountability“) und der Selbstverständlichkeit neuer Kontrollformen zwischen öffentlicher Administration, Organisationen und Individuen. Das von Noordegraaf und Abma (2003) beschriebene paradigmatische Schema eines „Management by Measurement“ steht für diesen Einfluss bis hinein in Institutionen und Organisation des Sozialwesens. Diese neuen Regierungsformen, die etwa auch in-

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nerhalb der Governmentality Studies (Rose/Miller 1992; Bröckling 2000; Kessl 2005) in ihrer umfassenden Charakteristik auch im Kontext der Ökonomisierung des Sozialen herausgearbeitet wurden, verweisen darauf, dass die Frage nach Wirkungen durchaus eingebettet ist. Entsprechend ist also auch für die ganz praktischen Ausdrucksformen des Wirkungsdiskurses diese Einbettung zu berücksichtigen. Pawson und Tilley betonen, „Programmes are embedded“ (2009, S.153) und zielen dabei sowohl auf die sozialen und organisatorischen Kontexte der Programmumsetzung als auf auch ihre sozialpolitische Rahmenprogrammatik. Im bundesdeutschen Kontext zeigt sich die „Wirkungsorientierte Steuerung“ als Variante des Wirkungsdiskurses in der Sozialen Arbeit. Sie ist Ausdruck für ein zunächst übergreifendes, in den letzen Jahren auch durch die Initiierung von Initiativen und Modellprogrammen auf Bundesebene konkretisiertes Programm.1 Diese wirkungsorientierten Steuerungsansätze sind zwar deutlich eingebettet in die Entwicklung der Ausrichtung an Accountabilty, haben jedoch nur zum Teil den englischsprachigen Diskurs um Evidence-based Practice mit aufgenommen. Wirkungsorientierte Steuerung in Deutschland kennzeichnet sich bislang stärker dadurch, dass mit der Intention, Wirkungen zu steigern, die Implementierung von Wettbewerbsmodellen und wirtschaftlichen Anreizen voran getrieben wird, und dies zeitlich mit der Etablierung neuer kommunalpolitischer Steuerungsformen und fachlicher Standardisierungen einhergeht, ohne dass diese neuen Ansätze zuvor empirisch als besonders wirksam identifiziert worden wären. Diese Entwicklungen, die die gleichzeitige intensive Ausbreitung von Selbstevaluationsverfahren in der Praxis einschließen, sind kennzeichnend für die Debatten um wirkungsorientierte Steuerung, weshalb die deutsche Auseinandersetzung auch von Otto u a. (2007) als halbierter Wirkungsdiskurs bezeichnet wurde. Die hier vorgenommenen Skizzierungen sollten zeigen, dass es unter dem Wirkungsthema nicht nur um wissenschaftliche Forschung und die Generierung wissenschaftlichen Wissens und wissenschaftlichen Aufklärungspotentials geht. Vielmehr durchziehen die Wirkungsdiskurse teils machtvolle Strategien und Programme, die auf eine Umgestaltung öffentlicher wohlfahrtsstaatlicher Angebote und veränderte Erbringungskontexte und Erbringungsformen sozialer Dienste zielen. Diese Auswirkungen der wirkungsorientierten Umgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen erscheinen durchaus folgenreicher und brisanter, als einzelne Ergebnisse von Studien der Wirkungsforschung. Denn – wenn auch unterschiedlich akzentuiert – so zielen sowohl die Bestrebungen der Evidence-based Practice als auch der Wirkungsorientierten Steuerung auf eine bestimmte Form der Verwendung von Wissen der Wirkungsforschung. Und diese Verwendung unterscheidet sich von der Funktion professionellen Reflexionswissens erheblich. Diese Auswirkungen der Wirkungsorientierung gehen daher alle (professionellen) Akteure im Feld der Sozialen Arbeit an und stellen diese vor die Herausforderung, sich im Wirkungsdiskurs zu positionieren. (Wirksame) Handlungsalternativen für Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit Angesichts der oben dargestellten Diskurslinien drängt sich die Frage auf, ob und wie sich VertreterInnen der Forschung und Disziplin zu den unterschiedlich aufgezeigten Optionen positionieren können, wenn sie an einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema inte1

In diesem Rahmen initiierte Programme sind z.B. die „Wirkungsorientierte Jugendhilfe“ (http://www.wirkungsorientierte-jugendhilfe.de/) oder das Aktionsprogramm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ (http://www.fruehehilfen.de/3232.0.html).

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ressiert sind. Die „Vogel-Strauß-Politik“ in Gestalt von einer Ignoranz des Themas muss in diesem Fall als Handlungsalternative ausgeschlossen werden, wenn eine kritisch-produktive Bearbeitung des Wirkungsdiskurses das Ziel ist. Eine kritische Haltung umfasst dabei sowohl eine genaue Betrachtung der Konsequenzen, die einzelne wirkungsorientierte Trends und Maßnahmen für die verschiedenen Beteiligten (AdressatInnen, Professionelle, VerwaltungsbeamtInnen, PolitikerInnen) haben, als auch die Anerkennung von Potentialen, die in der Beschäftigung mit den Wirkungen Sozialer Arbeit liegen. Eines der zentralen Potentiale des Wirkungsdiskurses zeigt sich in der besonderen Platzierung der Wissensgenerierung. Sei es die evidenzbasierte Politik oder Praxis, die Audit Society oder die wirkungsorientierte Steuerung in bundesdeutschen Verwaltungseinheiten, jede dieser Organisationsmaßnahmen ist auf spezifisches Wissen über die Praxis Sozialer Arbeit angewiesen. Dass damit in der Regel – als Ausnahme können hier die einfachsten Formen der wirkungsorientierten Steuerung gelten – auch die Stärkung von empirischer Forschung verbunden ist, muss nicht zwangsläufig negativ konnotiert werden, sondern kann im Gegenteil angesichts der andauernden Forderungen nach einer konsequenteren empirischen Sättigung theoretischsystematischer Fragestellungen (vgl. Otto/Oelerich/Micheel 2003, S.3) begrüßt werden. Verkürzt wäre es allerdings davon auszugehen, dass jenes, was unter dem Namen „Wirkungsforschung“ in der aktuellen Diskussion protegiert wird, diese Forderungen nach einer theoriegenerierenden empirischen Forschung auch nur im Ansatz erfüllt bzw. erfüllen soll. Die Testung klar definierter Handlungsprogramme im Rahmen einer Evidence-based Practice lässt zwar statistische Aussagen zu, unter welchen kontrollierten Bedingungen ein bestimmtes Programm bei einem spezifischen Klientel (wahrscheinlichkeitstheoretisch!) zu einer festgelegten Zielerreichung geführt hat, aber der Erklärungsgehalt dieser Ergebnisse und die handlungsrelevanten Erkenntnisse für die Praxis lassen zu wünschen übrig. Weder können ForscherInnen und Professionelle aus den empirischen Ergebnissen ableiten, aufgrund welcher Handlungsweisen die Ziele erreicht wurden und wie diese variiert/kombiniert werden können, noch wird deutlich, welchen Einfluss die Kontextbedingungen auf die Ergebnisse hatten, womit auch die Frage der Übertragbarkeit ungeklärt bleibt. Festzuhalten ist daher, dass die meisten der bisherigen Wirkungsstudien weniger Erklärungswissen für die SozialarbeiterInnen an der Basis liefern als eher Handlungsanleitungswissen und Kontextgestaltungsnormen für die Sozialmanager (vgl. Ziegler 2006; Otto u.a. 2007). Die klassischen Experimental-Studien zeichnen sich dementsprechend dadurch aus, dass ihr Wert zwar hoch geschätzt wird in der Evidenzhierarchie (vgl. McNeece/Thyer 2004), ihr Nutzen für die Alltagspraxis jedoch nicht nur in der Sozialen Arbeit angezweifelt wird (vgl. Biesta 2007; Pawson 2002). Denn die Risikoprofile der AdressatInnen/PatientInnen/SchülerInnen etc. und die Kontextmerkmale der Interaktionen – kurz gefasst das Leben an sich – passen sich nicht immer bzw. in der Regel selten nahtlos in den Kriterienkatalog der getesteten Programme ein. Ganz im Gegenteil wagen die Menschen – häufig ganz unbewusst – den Widerstand, indem sie Individualität ausbilden und damit die empirisch geprüften Maßnahmen unbrauchbar werden lassen. Ohne das Wissen um die Gründe einer Wirksamkeit bleibt die Aussage zur Praxistauglichkeit einer (sozialpädagogischen) Maßnahme also weiterhin im Dunkeln. Die Unklarheit über die Zusammenhänge der Wirksamkeit sozialpädagogischer Maßnahmen begründet sich in den vielfach unterkomplexen theoretischen Annahmen, die den Studien zugrunde gelegt werden. Der experimentelle Kontext wird durch Standardisierung vermeintlich kontrolliert und als Einflussfaktor ausgeschlossen. Damit findet die Forschung quasi vor der „weißen Leinwand“ statt. Vor diesem Hintergrund wird dann die „Black Box“ der sozialpäda-

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gogischen Maßnahme platziert, deren Wirksamkeit ermittelt werden soll. Angesichts solcher Reduzierungen scheinen die Befürchtungen, dass die Wirkungsorientierung eher zu einer Vereinfachung zwecks managerieller Steuerungsoptimierung als zu einer wissensbasierten Modernisierung von personenbezogenen sozialen Dienstleistungen führt, durchaus angebracht und lässt einen an der Wirkungsforschung generell zweifeln. Allerdings zeichnen sich durchaus alternative methodologische Ansätze ab, die die Frage, ob etwas wirkt, erweitern und konsequent nach Antworten auf die Frage „Warum wirkt es und unter welchen Umständen“ suchen. Im Rahmen realistischer Evaluation (vgl. Pawson/Tilley 2009; Pawson 2006) wird der Kontext dezidiert mit einbezogen und die Black Box geöffnet, um nach relevanten Wirkfaktoren zu suchen, die im statistisch kausalen Zusammenhang mit beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen bestimmter (sozialpädagogischer) Maßnahmen stehen. In Abgrenzung zum oben dargestellten Defizit bezüglich der externen Valididität randomisierter Kontrollexperimente plädieren Pawson und Tilley dafür, den Blick der Wirkungsforschung auf den alltäglichen Vollzug von Maßnahmen sozialer Arbeit und den Stellenwert professioneller fallbezogener Entscheidung zu richten, die den – wie die Autoren es nennen – „aktiven“ Charakter von Programmen ausmachen: „In trials with medical interventions human volition is seen as a contaminator. The experimental proposition under test is about whether the treatment (and the treatment alone) is effective. As well as random allocation of subjects, further safeguards such as the use of ‘placebos’ and ‘double blinding’ are also utilised to protect this causal inference. The idea is to remove any shred of human intentionality from the investigation of whether treatment brings about cure. Active programmes, by contrast, only work though the stakeholders’ reasoning.” (Pawson/Tilley 2009, S.154/155)

Die Prozesshaftigkeit und Diversität dieser „aktiven“ Programme – das also, was potenziell aus einer Kontext-erfassenden Wirkungsforschung als wirksam zu identifizieren wäre – kann unter dem methodisch systematischem Ausschluss im Rahmen von klinischen Studien gerade nicht erfasst werden und damit möglicherweise die wirksamsten Einflussfaktoren nicht erkannt werden. Die Eruierung relevanter Wirkfaktoren erfordert ein komplexes Forschungsdesign, das sowohl qualitative und quantitative Methoden integriert. Insbesondere diese methodische Offenheit ermöglicht den vielfältigen Zugang zu persönlichen Wahrnehmungen und Interpretationen, beobachtbaren Interaktionsmustern und wahrscheinlichkeitstheoretischen Zusammenhängen. Voraussetzung für die Verifizierung als Wirkfaktor ist allerdings die Tatsache, dass als relevant geachtete Veränderungen stattfinden, die von den fokussierten Wirkfaktoren beeinflusst worden sind. Damit wird die Längsschnittperspektive, die bisher nur in wenigen Studien in der Sozialen Arbeit realisiert werden konnte, zu einem elementaren Bestandteil der realistischen Wirkungsanalyse von sozialen Hilfeprogrammen. Sie impliziert, dass zu mindestens zwei Zeitpunkten die Situation der AdressatInnen sowie die Kontextmerkmale dieser Situation erhoben werden. Der statistische Vergleich zwischen einer Ausgangssituation und der Situation zu einem späteren Zeitpunkt ermöglicht es, Veränderungen zu beobachten, ohne deren Existenz jeglicher Art von Wirkungsforschung ihre Grundlage entzogen wird, da ohne eine konstatierte Veränderung auch keine Notwendigkeit besteht, nach den Ursachen dieser (in einem solchen Fall nicht-existenten) Veränderung zu suchen. Werden aber Veränderungen beobachtet, wird die Suche nach den Ursachen im Rahmen einer realistischen Wirkungsevaluation differenziert

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verfolgt, indem nicht einfach nur komplexitätsreduzierte Wirkannahmen der Maßnahme en bloc überprüft werden, sondern eine Ausdifferenzierung dieser „Programmtheorie“ anhand von detaillierten Aufschlüsselungen der Prozesse und den darin eingebundenen Wirkfaktoren erfolgt. Wissenschaftliches Wissen kann aber bei aller Komplexität immer nur einen Teil des Professionswissens neben dem Handlungswissen ausmachen (vgl. Dewe/Otto 2001, S.1419). Vor allem ist dabei festzuhalten, dass das Wissen um statistische Wahrscheinlichkeiten nicht die fallbezogene Kontextualisierung ersetzen kann. Wie im einzelnen Fall die sozialpädagogische Hilfe ausgestaltet werden sollte, kann demnach nicht durch Wirkungsforschung beantwortet werden – allerdings gehört das Wissen um Wirkfaktoren und relevante Kontexte in den Wissensfundus professioneller Entscheidungen, die im Einzelfall gemeinsam mit den AdressatInnen ausgehandelt werden. Als Zwischenfazit kann also festgehalten werden, dass Möglichkeiten der empirischen Wissensförderung exisitieren, mit denen weder gemeingefährliche Weltformeln noch unterkomplexe Kausalbeziehungen generiert werden. Damit kommt man den Forderungen nach einer kritischen, fachlich orientierten und reflektierenden Wirkungsorientierung einen Schritt näher. Um diesen Weg entschlossen zu beschreiten, muss allerdings neben der Klärung von empirischen Fragen die Auseinandersetzung um die Inhalte stattfinden. Die Frage nach dem Wirkungsfokus stellt sich als die entscheidende heraus, vergegenwärtigt man sich die Unterschiede bei den Erkenntnispotentialen je nach zentraler Forschungsfragestellung: Soll herausgefunden werden, wie erfolgreich Soziale Arbeit die AdressatInnen dazu bewegt, sich an die (häufig ungerechten) Verhältnisse des Arbeitsmarktes anzupassen? Oder interessiert allein die (möglichst kurze) Maßnahmendauer? Oder aber werden Wirkungsziele überprüft, die an den fachtheoretischen Diskurs rückgekoppelt sind? Der Anschluss des Wirkungsdiskurses an Debatten um die Ziele und die Funktionen Sozialer Arbeit erscheint aus fachlich-professioneller Perspektive unumgänglich. Um die Erkenntnisse der Wirkungsforschung und ihre Relevanz für die professionelle Praxis bewerten zu können, braucht es Wissen um die theoretischen und fachpolitischen Auseinandersetzungen über die originären Aufgaben der Sozialen Arbeit. Und diese Aufgabe besteht in erster Linie nicht darin, möglichst kurze, kostengünstige Maßnahmen zu realisieren – wobei dieser Einwand nicht als Argument gegen eine ressourcenschonende Planung und Durchführung sozialpädagogischer Maßnahmen verstanden werden will. Eine der zentralen Aufgaben Sozialer Arbeit wird in der Stärkung ihrer AdressatInnen gesehen, ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben in gemeinschaftsfähiger Weise zu führen – und zwar sowohl theoretisch, als auch politisch-praktisch (z.B. im Kinder- und Jugendhilfegesetz der Bundesrepublik Deutschland). Aus dieser fachlichen Perspektive müssen viele klassische Wirkungsstudien als im Grunde genommen irrelevant für die sozialpädagogische Praxis angesehen werden, da die Forschungsfoki auf Kriterien wie Kostenaufwand, Abwesenheit von psychischen Krankheiten, Schulerfolg o.ä. gelenkt wurden, die zwar, je nach individuellem Einzelfall, wichtige Etappenziele oder notwendige Voraussetzungen für den konkreten Hilfeprozess sein können, aber erstens nicht zwangsläufig in jedem Fall relevant sein müssen, und zweitens sich im Einzelfall dadurch legitmieren sollten, welchen Beitrag sie zur Erreichung des übergeordneten Ziels – der Autonomie des Subjekts – leisten. Nun wird in Diskussionen um die Angemessenheit von Wirkungsindikatoren meist darauf verwiesen, dass sich derartige Globalziele schlecht operationalisieren lassen. Der pragmatische Umgang mit dieser Problematik läuft dabei nicht selten darauf hinaus, dass man auf einfach

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messbare Indikatoren zurückgreift (z.B. Schulnoten, angezeigte Straftaten etc.), die bei genügend effektiver Verdrängung der Komplexität von Lebensführung in einen mehr oder weniger plausiblen Zusammenhang mit den konkreten Aufgaben der sozialpädagogischen Praxis gebracht werden können. Hauptargument für den Rückgriff auf diese leicht messbaren, wenn auch aus einer fachlich-kritischen Perspektive nicht hinreichenden Wirkungskriterien ist häufig das der Forschungseffizienz: Indikatoren, die einfach messbar sind, sparen Zeit und Personal und gehorchen damit der dominierenden Logik, dass möglichst wenig finanzielle Ressourcen für wohlfahrtsstaatliche Belange im engeren oder weiteren Sinne verbraucht werden. Ob sie aber tatsächlich die relevanten Fragen klären, bleibt kritisch zu überprüfen und ist häufig zu Recht anzuzweifeln. Auf welche Lebensbereiche und Aspekte die Wirkungsforschung in der Sozialen Arbeit rekurrieren muss, ist dabei in erster Linie eine theoretische Frage, die empirisch gelöst werden kann. Einen viel versprechenden Ansatz zur empirischen Erfassung der komplexen, theoretisch fundierten Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes gutes Leben stellt der Capabilities Approach dar, dessen Potenzial beim Blick über den disziplinären Tellerrand hinaus offensichtlich wird. Dieser Ansatz, der von dem Ökonomen Amartya Sen und der Rechtsphilosophin Martha Nussbaum maßgeblich konzeptioniert wurde, stellt das Konstrukt der Autonomie und der Würde des Menschen in Zusammenhang mit den strukturellen Möglichkeiten und den individuellen Fähigkeiten (vgl. Sen 1992, 1999; Nussbaum 2000, 2006). Die Freiheit, ein Leben zu führen, für das sich der oder die Einzelne mit guten Gründen entscheidet, ist demnach abhängig von rechtlichen Möglichkeiten, materiellen Ressourcen, sozialen Netzwerken, individuellen Fähigkeiten und persönlichen Dispositionen und Bewertungen. Der Capabilities Approach ist mittlerweile als Evaluationsperspektive wohlfahrtsstaatlicher Leistungen international anerkannt. Die Erweiterung des Blicks von der einseitigen Begutachtung von Güterverteilungen oder der ausschließlichen Messung von individuellen Fähigkeiten im Sinne eines skill assessment hin zu einer empirischen Erfassung von tatsächlich realisierbaren Handlungsmöglichkeiten stellt einen wichtigen Fortschritt für die Wirkungsforschung im sozialpädagogischen Feld dar. Die Entscheidungsfreiheit der Menschen wird damit systematisch in den Blick genommen, d.h. es wird nicht festgelegt, wie der oder die Einzelne sein Leben tatsächlich gestalten muss. Ein Konformitäts- bzw. Normalisierungsanspruch der alltäglichen Lebensführungen, wie er der Sozialen Arbeit in Theorie und Praxis häufig vorgeworfen wird, wird damit zurückgewiesen. Allerdings wird mit dem Anspruch auf individuelle Entscheidungsfreiheit nicht negiert, dass eine gerechte Verteilung von strukturellen Ressourcen und persönlichen Lernmöglichkeiten die Basis für eine Gleichverteilung von Handlungsfreiheiten darstellt. Zur Operationalisierung der Aspekte von Möglichkeiten, Fähigkeiten und Präferenzen kann zum größten Teil auf bewährte Indikatoren sozialwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Forschung zurückgegriffen werden (vgl. Albus u.a. 2008). Ebenso wichtig wie die Operationalisierung dieser Zielkonstrukte Sozialer Arbeit, die Erhebung der relevanten (Kontext-) Informationen und die Analyse der entscheidenden Wirkfaktoren ist aber das Bewusstsein, dass Forschungsergebnisse im (fach-)politischen Raum interpretiert werden (müssen) und professionelles Handeln beeinflussen (und im besten Fall unterstützen). Fazit Die Rolle der Wirkungsforschung im Rahmen der unterschiedlichen Diskurslinien von Wirkungsorientierung ist nicht determiniert, sie eröffnet ForscherInnen Spielräume, die für oder

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gegen eine professionsunterstützende, adressatInnenstärkende Soziale Arbeit genutzt werden können. Sofern man sich in diesem Zusammenhang für eine Unterstützung von professionell zu erbringenden sozialen Dienstleistungen entscheidet, die Autonomiespielräume von AdressatInnen erweitern helfen sollen, ist es ratsam, einen fachlich-kritischen Prozess der Wirkungsforschung in der Sozialen Arbeit zu initiieren, der insgesamt folgende Aspekte berücksichtigt: Ein methodologisch und methodisch adäquates Forschungsdesign, das Wirkfaktoren aufzuklären sucht anstatt simplifizierte Prognosen über die Wirksamkeit bestimmter Programme abzugeben. Die Unterstützung von Professionalisierungsbestrebungen und Entscheidungsspielräumen der PraktikerInnen durch die Produktion von empirischem Wissen und die Betonung des Unterschiedes von statistischen Mehrheiten und konkreten Einzelfällen. Die Rückbindung der Forschungsinhalte an fachtheoretische Auseinandersetzungen um Ziele, Werte und Aufgaben Sozialer Arbeit. Sich damit der Frage der Normativität sozialpädagogischer Forschung und Praxis offensiv zu stellen und Bewertungsprozesse mit unterschiedlichen Akteuren anzustoßen, sind zentrale Haltungen und Anliegen einer notwendigen kritischen Wirkungsdebatte, die dazu beitragen kann, Praxis, Theorie und Forschung gleichermaßen zu modernisieren. Eine so verstandene Wirkungsforschung steht in Deutschland noch am Anfang und muss weiter ausgebaut und vorangetrieben werden. Nur so wird es möglich sein, Ergebnisse der Wirkungsforschung für eine moderne, gerechtigkeitsorientierte Soziale Arbeit zu nutzen – als Reflexionswissen für professionelle SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen und nicht zur Steuerung Sozialer Dienste mittels fachfremder Kriterien. Damit wird klar: Auswirkungen einer (Wirkungs-)forschung, die diese Aspekte nicht berücksichtigt, können gefährlich für Wissenschaft, Profession und Gesellschaft werden. Dabei erscheint die Nichtbeachtung wissenschaftlicher Forschung zur Reflexion Sozialer Arbeit (etwa beim halbierten Wirkungsdiskurs) von ähnlich großer Gefahr wie die Verfolgung von nicht angemessenen Forschungsprogrammen, die ein Wissen erzeugen, das zwar Effektstärken einzelner Interventionen untersucht, aber die Wirkungsweisen pädagogischer Praxen in der sozialen Wirklichkeit nicht abzubilden vermögen. Hingegen besteht, wenn empirische Sozialforschung Wissen über autonomierelevante Wirkungen und deren zu Grunde liegenden Wirkfaktoren erzeugt, die begründete Hoffnung, dass es möglich wird, den Wirkungsdiskurs aktiv und professionsorientiert mit zu gestalten. Da der Wirkungsdiskurs den Stellenwert eines maßgeblich einflussreichen Themas hat, werden dessen Auswirkungen auf die zukünftigen Entwicklungen der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen wie der exemplarisch hier benannten Kinder- und Jugendhilfe in den kommenden Jahren nicht unerheblich sein. Solche Auswirkungen gehen die Profession Sozialer Arbeit, die BürgerInnen und die Politik gleichermaßen an. Literatur Albus, Stefanie/Greschke, Heike/Klingler, Birte/Messmer, Heinz/Micheel, Heinz-Günter/Otto, HansUwe/Polutta, Andreas (2008): Zwischenbericht der Evaluation des Bundesmodellprogramms „Wirkungsorientierte Jugendhilfe“. In: ISA Planung und Entwicklung GmbH (Hrsg.): Schriftenreihe Wirkungsorientierte Jugendhilfe Band 6: Zwischenberichte der Regiestelle und der Evaluation zum Modellprogramm. Münster: Waxmann, S.58-135. Biesta, Gert (2007): Why „What Works“ Won´t Work. Evidence-Based Practice and the Democratic Deficit in Education Research. In: Educational Theory, 57 (1), No.1, pp.1-22.

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Konstruktionen von Hilfebedarf im internationalen Vergleich Lebenslaufregimes als Bezugsrahmen für die vergleichende sozialpädagogische Forschung Andreas Walther „Wir verfügen nur über ein einziges Mittel, um festzustellen, dass ein Phänomen Ursache eines anderen ist: das Vergleichen der Fälle, in denen beide Phänomene gleichzeitig auftreten oder fehlen, und das Nachforschen, ob die Variationen, die sie unter diesen verschiedenen Umständen zeigen, beweisen, dass das eine Phänomen vom andern abhängt.“ (Durkheim 1980, S. 205)

Die Frage, was Soziale Arbeit sei, welche gesellschaftlichen Aufgaben und Funktionen, inhaltlichen Diskurse und Zielsetzungen sowie institutionellen und professionellen Strukturen sie kennzeichnen, ist lange Zeit primär im Rahmen nationaler Debatten diskutiert worden, die Thole (2005, S. 53) außerdem als „semantische Theoriebildung“ charakterisiert. Und auch die in den letzten Jahren zunehmenden Bemühungen sozialpädagogische Theoriebildung empirisch zu fundieren (Schweppe/Thole 2005), beschreiben Soziale Arbeit nach wie vor weitestgehend mit allgemeinen, kontextunabhängigen Begriffen. Dies trifft teilweise sogar auf Beiträge im Rahmen international geführter Debatten zu – etwa zur Ökonomisierung Sozialer Arbeit (z.B. Otto/Schnurr 2000), ‚international social work’ (z.B. Borrmann u.a. 2007) oder die Transnationalität von Problemlagen und Hilfestrukturen (z.B. Homfeldt u.a. 2008). Warum verharrt Soziale Arbeit in nationalen Perspektiven und Diskursen, obwohl – darauf weist etwa Rainer Treptow hin – öffentliche Hilfe immer schon eine grenzüberschreitende, internationale Dimension hatte (Treptow 2004) und obwohl seit den 1990er Jahren ein Nachholbedarf an vergleichender Forschung festgestellt wird und Überlegungen hinsichtlich einer „sozialpädagogischen Komparatistik“ angestellt werden (Homfeldt/Walser 2004; vgl. Kreidenweis/Treptow 1990; Treptow 1996; 2005; Homfeldt/Brandhorst 2004; Schnurr 2005). Einen Grund sieht Walter Lorenz darin, dass die Etablierung und Professionalisierung Sozialer Arbeit stark an die Konsolidierung nationalstaatlicher Wohlfahrtsstaaten im und nach dem Zweiten Weltkrieg geknüpft war. Theorie und Forschung wurden primär in ihrer Funktion für die Qualifizierung sozialer Dienstleistungsfachkräfte im Kontext gegebener institutioneller Strukturen gesehen und gefördert. Gleichzeitig hat sich die Vergleichende Erziehungswissenschaft bisher nicht mit sozialpädagogischen, sondern vor allem schulbezogenen Fragestellungen beschäftigt (Lorenz 2006; vgl. Mollenhauer 1959; Böhnisch 1982; Treptow 1996; 2005). Die Frage nach den Ursachen der begrenzten Entwicklung sozialpädagogischer Vergleichsforschung soll im vorliegenden Beitrag jedoch nicht weiterverfolgt werden. Der folgende Abschnitt identifiziert vor dem Hintergrund des Forschungsstandes zum Vergleich in der Sozialpädagogik drei Desiderata, nämlich die Klärung der Funktion(en) und die Bestimmung des Gegenstands sozialpädagogischer Vergleichsforschung sowie die Entwicklung eines Modells, anhand dessen sich Unterschiede (oder Gemeinsamkeiten) zwischen unterschiedlichen Konfigurationen Sozialer Arbeit nicht nur beschreiben, sondern auch erklären und verstehen lassen. Ein solches Modell analysiert konkrete Praxis Sozialer Arbeit in ihrer Einbindung in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Ausgehend von einem Verständnis Sozialer Arbeit als „Hilfe bei der Bewältigung des Lebenslaufs“ (Böhnisch u.a. 2005, S. 122) lassen sich unterschiedliche Konfigurationen als Lebenslaufregimes fassen. Dieses Modell wird unter Rückgriff G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Andreas Walther

auf vergleichende Forschungsbefunde zur unterschiedlichen Gestaltung von Übergängen junger Frauen und Männer in die Arbeit und diesbezüglicher Unterstützungsangebote entwickelt. Abschließend wird resümiert, was dieses Modell für den Vergleich in der Sozialen Arbeit zu leisten in der Lage ist und was nicht. Wozu Vergleich, was vergleichen und wie die Befunde erklären? Bestandsaufnahme zur vergleichenden Forschung in der Sozialpädagogik In ihrem Überblick über jüngere sozialpädagogische Veröffentlichungen kommen Schweppe und Hirschler (2007, S. 123) zum Ergebnis, „dass sich die Soziale Arbeit in Deutschland das Thema Internationalität zu Eigen gemacht hat. Eine systematische Bearbeitung ist allerdings noch nicht zu erkennen.“ Diese Schlussfolgerung kann dahingehend zugespitzt werden, dass zwar zunehmend internationale Themen bearbeitet werden, nach wie vor aber wenig Themen auch international vergleichend analysiert werden (Schnurr 2005). So liegen bisher insgesamt wenig vergleichende Studien vor, die meisten davon wiederum sind primär deskriptiv, ohne die festgestellten Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zu erklären und zu verstehen und ohne vergleichende Befunde auf den theoretischen sozialpädagogischen Diskurs zu beziehen. In den letzten Jahren wird allerdings zunehmend Nachholbedarf konstatiert. Es wird eine Anerkennung der Internationalität Sozialer Arbeit gefordert (Kreidenweis/Treptow 1990; Treptow 1996; Homfeldt/Brandhorst 2004), auf Auswirkungen von Globalisierung sowie transnationale Herausforderungen Sozialer Arbeit verwiesen (Homfeldt u.a. 2008). Unter diesen Stichworten werden so unterschiedliche Phänomene wie Migration, Europäisierung, die Flexibilisierung nationaler Märkte und die Schwächung nationalstaatlicher Strukturen thematisiert. Gemeinsam ist diesen Diagnosen eine Relativierung einer nationalen Perspektive und der Verweis auf die Notwendigkeit des Vergleichs, womit jedoch offensichtlich unterschiedliche Erwartungen verbunden sind. Ein erstes Desiderat der Systematisierung sozialpädagogischer Vergleichsforschung ist deshalb die Klärung ihrer Funktion: wozu vergleichen? Hörner (1999) unterscheidet für die Vergleichende Erziehungswissenschaft entlang der zwei Achsen individualisierendes versus generalisierendes und theoriebezogenes versus praxisbezogenes Erkenntnisinteresse vier Funktion des Vergleichs, aus denen sich Idealtypen vergleichender Forschung ableiten lassen (siehe Tabelle 1): Tabelle 1:

Theoriebezug Praxisbezug x

x

Funktionen des internationalen Vergleichs in der Erziehungswissenschaft (Hörner 1999) Individualisierend Idiographisch Melioristisch

Generalisierend Experimentell Evolutionistisch

Idiographie ist die Beschreibung des Fremden in seiner Besonderheit quasi als Selbstzweck oder im Sinne einer „Erweiterung des menschlichen Diskursuniversums“ (Geertz 1987), z.B. die explorative Beschreibung des Zustandekommens und Ablaufs von Hilfen zur Erziehung in sieben europäischen Ländern in der Studie von Mamier u.a. (2003). Experimentell ist ein Vergleich der durchgeführt wird, um allgemeine Strukturen eines Gegenstands von kontextspezifischen Ausprägungen zu unterscheiden. Experimentell, weil nach Durkheim (1980) der Vergleich die Methode in den Sozialwissenschaften ist, die ansatzweise die Funktion des Experiments in den Naturwissenschaften zu ersetzen in der

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Lage ist. So vergleicht etwa Züchner (2006) die Ausdifferenzierung Sozialer Arbeit in Deutschland, Spanien und den USA in Abhängigkeit von der Institutionalisierung des modernen Wohlfahrtsstaats. Evolutionistisch ist ein Vergleich von Prozessen sozialen Wandels hinsichtlich der Konvergenz oder Divergenz sowie der diesbezüglichen Steuerung unterschiedlicher nationalstaatlicher Strukturen; ein Erkenntnisinteresse, das auf eine Annahme konvergenter Modernisierungsprozesse zurückgeht, die im Zuge von Globalisierungsprozessen neue Nahrung erhält ( vgl. Parsons 1976). Melioristisch ist ein Vergleich, der v.a. dem Interesse einer Weiterentwicklung bzw. Verbesserung von Praxis folgt, sei es im Sinne des Lernens von ‚best practice’, dem Ziel der Übertragung erfolgreicher Praxisansätze oder als „Argument“ (Zymek 1975) in der politischen Debatte (z.B. zu Ganztags- oder Gesamtschule; zu den Grenzen des ‚policy borrowing’ siehe Schmid 2002; Walther/Pohl 2005).

In der Regel orientieren sich Vergleichsuntersuchungen nicht nur an einer dieser Funktionen, sondern stellen komplexe und selten transparente Mischungsverhältnisse dar. Gerade in Handlungswissenschaften wie der Sozialen Arbeit verfolgen theoriegeleitete Vergleiche häufig auch Anwendungsinteressen. Ein aktuelles Beispiel der Verbindung evolutionistischer und melioristischer Funktionen sind darüber hinaus internationale Leistungsvergleiche, die im Kontext von Mechanismen der ‚global governance’ bildungs- oder sozialpolitische Ziele wie zum Beispiel ‚Lesekompetenz’ als allgemein(gültig)en Trend vorgeben, Nationalstaaten daraufhin vergleichen und diesen Zielen so im Sinne einer self-fulfilling prophecy zur Durchsetzung verhelfen (vgl. OECD 2001; Fuchs 2003; Amos 2005). Gegenüber einer unterschiedlich motivierten Feststellung des Nachholbedarfs an international vergleichender sozialpädagogischer Forschung wird häufig auf die Schwierigkeit verwiesen, ihren Gegenstand – das sogenannte tertium comparationis – zu bestimmen, da Soziale Arbeit keineswegs einheitlich institutionell verortet, disziplinär angebunden und professionell konstituiert ist und zum Teil auch unterschiedliche Aufgaben erfüllt. So sind sowohl Sozialpädagogik als auch Jugendhilfe spezifisch deutsche theoretische bzw. institutionelle Ausprägungen Sozialer Arbeit (vgl. Treptow 1996; Homfeldt/Walser 2004; Lorenz 2006; Meeuwissen/Swärd 2007). Zweites Desiderat für die Systematisierung des sozialpädagogischen Vergleichs ist deshalb die Gegenstandsbestimmung: was vergleichen? Die Vergleichbarkeit unterschiedlicher sozialer Strukturen verweist im Anschluss an Parsons (1976; vgl. Prceworski/Teune 1970) auf den Aspekt der funktionalen Äquivalenz, d.h. dass unterschiedliche Gesellschaften zur Erfüllung ähnlicher Funktionen unterschiedliche Strukturen ausgebildet haben. Die Vergleichbarkeit Sozialer Arbeit ergibt sich also aus der Frage nach ihren gesellschaftlichen Funktionen. Eine Vergleichsperspektive, die laut Schefold geeignet ist, kontextabhängige institutionelle und disziplinäre Engführungen zu vermeiden, ist die „Organisation von Lebenslauf und Biographie“ (Schefold 1996, S. 97). Dieser Ansatz beruht auf einem Verständnis Sozialer Arbeit als funktionalem Äquivalent für „Hilfe bei der Bewältigung des Lebenslaufs“ (Böhnisch u.a. 2005, S. 122), das damit ein tertium comparationis auf der Metaebene darstellt. Dieses ist dann in konkreten Vergleichsstudien in Bezug auf einzelne Handlungsfelder, Tätigkeitsformen, Theoriediskurse, Zielgruppen, Zuschreibungs- oder Zuweisungsmechanismen oder Modernisierungsprozesse zu konkretisieren (vgl. Lorenz 2004; Meeuwissen/Swärd 2007). Die Vergleichslinie Lebenslauf/Biographie ist deshalb geeignet, weil sie sowohl die Kontrollfunktion Sozialer Arbeit als Gate-Keeper von Lebensläufen als auch die

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Hilfe bei biographischer Bewältigung umfasst (vgl. Böhnisch 2001; Schefold 2001; Hanses/ Homfeldt 2008); weil sie zweitens sowohl lebenslaufbezogene Prävention (zum Beispiel Jugendarbeit) als auch Intervention (zum Beispiel Hilfen zur Erziehung) mit einbezieht; weil drittens das Konstrukt Lebenslauf umfassende Kontexte der gesellschaftlichen Herstellung von Normalität beschreibt – einer mit Böhnisch gesprochen „latent operativen Dimension“ Sozialer Arbeit (Böhnisch 1984, S. 108; vgl. Link 2006; Behnisch 2007); und weil sie viertens das Wechselverhältnis zwischen Struktur und Handeln quer zur Mikroebene subjektiver Lebensbewältigung und hilfebezogener Interaktionen, zur Mesoebene der Organisation von Hilfepraxis sowie der Makroebene gesamtgesellschaftlicher sozio-ökonomischer, institutioneller und kultureller Strukturen beinhaltet (Treptow 2005; 2006). Die Frage nach dem Wie, d.h. nach den Methoden des internationalen Vergleichs ist Gegenstand einiger Vorarbeiten zu einer „sozialpädagogischen Komparatistik“ (Homfeldt/Walser 2004; Schnurr 2005; Treptow 2005; 2006). So haben etwa Homfeldt und Walser (2004) das Verfahren des sozialwissenschaftlichen Vergleichs, das in der Vergleichenden Erziehungswissenschaft als Standard gilt (vgl. Hilker 1962; Allemann-Ghionda 2004), für die Sozialpädagogik zugänglich gemacht. Dieses Modell, das sowohl auf qualitative wie auf quantitative Fragestellungen und Zugänge anwendbar ist, unterscheidet vier Phasen: die Deskription, die – etwas missverständlich – den Prozess der Datenerhebung und die Aufbereitung der Daten für den Vergleich umfasst, die kontextimmanente Interpretation der Daten, die Juxtaposition, d.h. das Nebeneinanderstellen der jeweiligen nationalen Befunde nach deduktiv oder induktiv gebildeten inhaltlichen Dimensionen und im vierten Schritt die vergleichende Analyse – in der Regel durch die Bildung von Typologien, indem ähnliche Konstellationen zu Clustern gruppiert werden. Bei diesem vierten Schritt stoßen viele sozialpädagogische Vergleichsstudien an ihre Grenzen und bleiben bei der Beschreibung unterschiedlicher Muster stehen; ob es nun um die Frage der Unterbringung von Kindern in Heimen oder Pflegefamilien (z.B. Trede 2004) oder um die idealtypische Initiierung von Hilfeprozessen geht (z.B. Mamier u.a. 2003). Damit kommen wir zum dritten Desiderat: der Erklärung bzw. dem Verstehen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten durch das Einbeziehen gesellschaftlicher Kontexte Sozialer Arbeit in den Vergleich. Laut Schriewer ist der sozialwissenschaftliche Vergleich eine „Relationierung von Relationen“ (Schriewer 2000, S. 500ff.). Versteht man Soziale Arbeit als gesellschaftliche Relation, muss deshalb ihre vergleichende Analyse (Relationierung) auch ihre jeweilige Einbindung in institutionelle, sozio-ökonomische und kulturelle Kontexte einschließen, d.h. die Frage welche Funktionen sie erfüllen muss, aber auch welche Deutungsmuster und Normen jeweiliger Praxis und ihren Organisationen zu Grunde liegen. Noch einmal anders formuliert: Versteht man Soziale Arbeit als Mechanismus sekundärer Normalisierung (Böhnisch/Schefold 1985), kann sie nicht unabhängig von ihrer (nachrangigen) Ausrichtung an primären Normalisierungsmechanismen wie z.B. regulären Bildungs- und Erwerbsverläufen verglichen werden. Ein Schlüssel für den Vergleich in der Sozialpädagogik ist deshalb die Frage, wie sich gesellschaftliche Normalitätsannahmen und Normalisierungsweisen in jeweils unterschiedlichen Konstruktionen von Hilfebedarf niederschlagen, aus denen sich wiederum unterschiedliche Zugänge zu sowie Formen und Ziele von Hilfe ableiten lassen.

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Konstruktionen von Hilfebedarf im internationalen Vergleich

Lebenslaufregimes als Konfigurationen von Normalität und Bezugsrahmen für den Vergleich in der Sozialpädagogik Schließt man sich einem Verständnis Sozialer Arbeit als lebenslaufbezogener Hilfe und einer Analyse ihrer strukturellen Ausrichtung am Verhältnis von Lebenslauf und Biographie an, so erscheinen allgemeinere Strukturen des Lebenslaufs als sinnvoller Zugang zur gesellschaftlichen Einbindung und Einbettung Sozialer Arbeit. Im Folgenden soll ein Vergleichsmodell von Lebenslaufregimes vorgestellt werden, verstanden als unterschiedliche Konfigurationen des Wechselverhältnisses zwischen institutionellen Strukturen (v.a. Wohlfahrtsstaat, Bildung), sozio-ökonomischen Strukturen (v.a. Arbeitsmarkt, Wirtschaft, soziale Ungleichheit) und kulturellen Deutungsmustern und Praktiken (z.B. Religion, Geschlechter- und Lebensalterrollen, Alltagspraktiken). Wohlfahrtsregimes Als erster Zugang zu einem Vergleichsmodell von Lebenslaufstrukturen bietet sich die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung an: zum einen, weil mit Lessenich aufgrund der Doppelfunktion des Wohlfahrtsstaats, nämlich der Anreizfunktion zur Beteiligung an Erwerbsarbeit, dem zentralen Zugang zu Ansprüchen sozialer Sicherung, und gleichzeitig der Absicherungsfunktion gegen Risiken des Verlusts von Erwerbseinkommen, von einer „wohlfahrtsstaatlichen Totalkonditionierung der Lebensführung“ gesprochen werden kann (Lessenich 1995, S. 52); zum anderen, weil in Bezug auf den Wohlfahrtsstaat schon Einiges an vergleichender Forschung vorliegt. Am bekanntesten ist das Modell der Wohlfahrtsregimes von Esping-Andersen (1990), das vergleicht, wie bzw. welche Personen gegen den Ausfall von Einkommen aus Erwerbsarbeit abgesichert sind und welche Rolle dabei jeweils Markt, Staat und Familie spielen. Zentrale Vergleichskriterien sind also die Zugänge zu und das Niveau von sozialer Sicherung. Esping-Andersen unterscheidet drei Modelle: ein sozialdemokratisches, ein liberales und ein konservatives bzw. korporatistisches (siehe Tabelle 2). Tabelle 2:

Wohlfahrtsregimes nach Esping Andersen (1990, kursiv: Gallie/Paugam 2000)

Sozialdemokratisch Universalistisch Liberal Konservativ Erwerbsarbeitszentriert Unterinstitutionalisiert

Zugang Bürgerstatus

Sicherungsniveau Hoch

Länder Skandinavische Länder

Bürgerstatus Erwerbs-/ Familienstatus Partiell nach Erwerbs-/ Familienstatus

Niedrig Variabel

Angelsächsische Länder Kontinentaleuropäische Länder Südeuropäische Länder

Niedrig bzw. variabel

Dieses Modell ist kritisiert und erweitert worden, was seine mangelnde Differenzierung nach Geschlecht (z.B. Lewis 1994; Ostner 1995) oder ethnischer Herkunft bzw. Migration (Sainsbury 2006) oder die Tatsache betrifft, dass etwa in Südeuropa weite Teile der Bevölkerung de facto über keinen Zugang zu staatlicher sozialer Sicherung verfügen; von der unübersichtlichen Situation in den mittel- und osteuropäischen Transformationsgesellschaften ganz zu schweigen (vgl. Gallie/Paugam 2000; Blossfeld u.a. 2005; Walther/Pohl 2005). So gut wie gar nicht wird dabei allerdings der Regimebegriff thematisiert, geschweige denn definiert. Dies ist deshalb problematisch, weil er in anderen Kontexten mit anderen spezifischen Bedeutungen oder Konnotationen belegt ist. Alltagssprachlich verweist der Regime-

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begriff in Analogie zu machtheoretischen Begriffen wie Hegemonie (Gramsci) und Diskurs (Foucault) auf das Wechselverhältnis zwischen Herrschaft und Vergesellschaftung. In der politikwissenschaftlichen Theorie internationaler Beziehungen bezeichnen (internationale) Regimes dagegen Regulierungsmechanismen jenseits nationalstaatlicher Institutionen – „governance without government“ (Mayer u.a. 1993, S. 391f.) – auf der Basis von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren (vgl. Müller 1993; Parreira do Amaral 2007). Abbildung 1:

Dimensionen von Wohlfahrtsregimes

Das Schaubild in Abbildung 1 versucht zu verdeutlichen, warum der Begriff Regimes auch für den Vergleich von Vergesellschaftungsstrukturen sinnvoll ist: Es geht um die Interdependenz unterschiedlicher Strukturen, die über öffentliche Institutionen hinaus auch sozioökonomische und kulturelle Faktoren umfassen und bis in die Lebensplanung und -führung der Subjekte hineinreichen, d.h. eine umfassende Wirkungsmacht entfalten. Institutionelle Interdependenzen und die Verschränkung unterschiedlicher Dimensionen sind Resultat historischer Entwicklungsprozesse und deshalb vergleichsweise veränderungsresistent, was mit dem aus der Institutionenökonomie stammenden Begriff der „Pfadabhängigkeit“ umschrieben wird (North 1990; vgl. Schmid 2002, S. 82ff.). Daraus ergibt sich zum einen, dass Vergleich – zumal in der Sozialpädagogik mit ihrem Rekurs auf Normalität und Normalisierung – nicht nur System-, sondern auch Kulturvergleich bedeutet, d.h. dass unterschiedliche Strukturen nicht nur funktionalistisch erklärt, sondern gleichzeitig auch in ihren unterschiedlichen Bedeutungen hermeneutisch verstanden werden müssen (vgl. Treptow 1996b; Schweppe 2005). Zum anderen impliziert internationaler Vergleich immer auch eine historische Perspektive, um aktuelle Unterschiede als mittels unterschiedlicher Entwicklungspfade gewordene rekonstruieren zu können (vgl. Liegle 1988; Kreidenweis/Treptow 1990). Eine solche Perspektive geht über die meisten Wohlfahrtsstaatsvergleiche hinaus, die vor allem auf der Analyse von statistischen Daten zu Sozialausgaben oder Deckungsgraden sozialer Sicherung sowie auf der Rekonstruktion historischer Akteurskonstellationen beruhen. Erst neuerdings werden stärker auch kulturel-

Konstruktionen von Hilfebedarf im internationalen Vergleich

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le Faktoren oder das Verhältnis zwischen nationaler und lokaler Ebene bzw. zwischen sozialen Sicherungssystemen und sozialen Diensten berücksichtigt (Opielka 2004; Pfau-Effinger 2005). Dennoch ist das Modell der Wohlfahrtsregimes in erster Linie ein heuristisches Modell, das weniger wohlfahrtsstaatliche Strukturdetails als ähnliche Logiken der Vergesellschaftung entsprechend ihrer „Gestalt“ zu Typen zusammenfasst (Kaufmann 2003, S. 51). Regimes des Übergangs von der Jugend zum Erwachsensein Ein Ansatzpunkt für eine Erweiterung des Modells der Wohlfahrtsregimes in Richtung Lebenslauf und Biographie ergibt sich aus vorliegenden Forschungsbefunden zur Gestaltung der Übergänge zwischen Jugend und Erwachsensein im Allgemeinen und zwischen Schule und Arbeit im Besonderen. Für die Entwicklung einer sozialpädagogischen Vergleichsperspektive sind diese Befunde außerdem deshalb interessant, weil sie sich auch auf die Unterstützung derjenigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen bezieht, deren Übergänge durch Strukturen der Benachteiligung und Risiken geprägt sind. Die Forschungsbefunde, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, sind im Rahmen des EGRIS-Netzwerkes (European Group for Integrated Social Research) entstanden. Forschungsleitend war die Frage nach allgemeinen Strukturen der Entstandardisierung von Übergängen junger Frauen und Männer angesichts der Unterschiedlichkeit ihrer Ausprägung in verschiedenen Kontexten Europas. Charakteristisch für die EGRIS-Projekte ist, dass neben der Vergleichsperspektive die Interaktion zwischen institutionellen und biographischen Perspektiven auf Übergänge im Mittelpunkt steht; also Übergänge im Sinne des Wechselspiels zwischen Struktur und Handeln analysiert werden (EGRIS 2001; Walther u.a. 2002; Stauber u.a. 2007; vgl. Giddens 1988).1 Als Ausgangspunkt für den Vergleich diente das Modell der Wohlfahrtsregimes, obwohl von vornherein klar war, dass es nur eine Orientierung bieten konnte und um wesentliche Aspekte erweitert werden musste (siehe Abbildung 2): der Zugang von Jugendlichen zu sozialer Sicherung, der in gängigen Wohlfahrtsstaatsvergleichen nicht thematisiert wird, die Strukturen von Bildung und Ausbildung zwischen Selektivität und Standardisierung (Allmendinger 1989), Strukturen von Jugendpolitik (IARD 2001), spezifische Programme für arbeitslose bzw. benachteiligte Jugendliche (Furlong/McNeish 2001; Walther/Pohl 2005), öffentliche Ausga1

Wichtige Projekte waren Misleading Trajectories, eine vergleichende Sekundäranalyse zu institutionellen Ausgrenzungsrisiken im Übergang in die Arbeit (Walther u.a. 2002); Integration through Training? Ein Vergleich von Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit im Zuge der Implementierung der Europäischen Beschäftigungsstrategie mittels Programmanalysen und ExpertInneninterviews (Furlong/McNeish 2001; Walther 2002); Families and Transitions in Europe (FATE) untersuchte mittels eines Surveys und qualitativer Interviews die Rolle und die Strukturen familiärer Unterstützung bei der Bewältigung von Übergängen in Arbeit (Bendit u.a. 2004; Stauber/du Bois-Reymond 2006); Youth Policy and Participation (YOYO) untersuchte Zusammenhänge zwischen Partizipationsmöglichkeiten und Motivation benachteiligter Jugendlicher im Übergang anhand von biographischen Interviews und Projektfallstudien (Walther 2005; Walther u.a. 2006); die Thematic Study on Policy Measures for Disadvantaged Youth basiert auf Sekundäranalysen zu Konstellationen von Benachteiligung und Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit und Bildungsbenachteiligung (Walther/Pohl 2005; Pohl/Walther 2006); das Projekt Youth – Actor of Social Change (UP2YOUTH) untersucht das Verhältnis zwischen Struktur und Handeln anhand der Themen Übergänge in Elternschaft, Übergänge von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Arbeit sowie Partizipation Jugendlicher. Alle Projekte wurden von der EU finanziert. Insgesamt waren über die verschiedenen Projekte Partner aus Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Finnland, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien und Spanien beteiligt; siehe auch www.iris-egris.de/projekte.

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ben für jugend- und übergangsrelevante Politikbereiche (Walther/Pohl 2005), dominante Deutungsmuster in Bezug auf Benachteiligung oder Jugend (Walther 2002, 2006) und schließlich auch die biographische Ebene des Übergangshandelns junger Frauen und Männer (Walther 2006; Walther u.a. 2006). Abbildung 2:

Dimensionen von Übergangsregimes in Europa

Auch wenn ein internationaler Vergleich von Biographien selbst nur bedingt möglich erscheint, weil sich Prozesse biographischer Konstruktion gegen eine nationalstaatliche Zuordnung sperren, sind in biographischen Narrationen doch – mehr oder weniger explizit – Spuren der nationalstaatlichen Strukturen zu finden, mit denen sich Subjekte in ihrer Lebensbewältigung und Lebensführung auseinandersetzen müssen (Walther 2006). Der internationale Vergleich setzt deshalb an der strukturellen Seite an. Über die verschiedenen EGRIS-Projekte hinweg wurden statistische Daten, Programme und institutionelle Strukturen analysiert, Experteninterviews, Projektfallstudien und Fragebogenerhebungen sowie biographische Interviews mit jungen Frauen und Männern durchgeführt. Zusammen mit der Rezeption anderer Studien lagen so nach und nach für immer mehr Dimensionen des Modells Daten vor. Dieses überschneidet sich also mit den Wohlfahrtsregimes und weist gleichzeitig über sie hinaus; und es steht mit jedem neuen Vergleichsprojekt wieder auf dem Prüfstand.

Tabelle 3:

Tabelle 3

Konstruktionen von Hilfebedarf im internationalen Vergleich

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Die in Tabelle 3 abgebildete Vergleichsmatrix, hier auf institutionelle und kulturelle Aspekte reduziert, stellt als Zwischenergebnis eines solchen Vergleichs eine mittels Typenbildung verdichtete Vergleichsanalyse nationaler Übergangsstrukturen dar. Sie unterscheidet vier Regimetypen, die aus Platzgründen lediglich entlang der jeweils vorherrschenden Bedeutung von Jugend kurz skizziert werden sollen. Die Kategorie „vorherrschende Bedeutung von Jugend“ wurde zum einen aus dem Vergleich der verschiedenen institutionellen Dimensionen, der Definition von Zielgruppen und der Analyse relevanter Jugendgesetzgebung abgeleitet, zum anderen aber auch aus ExpertInneninterviews gewonnen. Dabei zeigte sich, dass sich die unterschiedlichen institutionellen Strukturen zugrunde liegenden kulturellen Normalitätsannahmen eher mittels scheinbar einfacher Fragen erschließen, die helfen Missverständnisse durch vorschnelle Interpretationen zu vermeiden und die die InterviewpartnerInnen dazu zwingen scheinbar selbstverständliche Grundlagen institutioneller Strukturen oder Praxis zu explizieren. Die Frage an InstitutionenvertreterInnen und Schlüsselpersonen lautete: „Wodurch sollten sich Programme für jugendliche Arbeitslose von solchen für Erwachsene unterscheiden?“ (Furlong/McNeish 2001, S. 120f.) Danach heißt Jugend im universalistischen Regime der skandinavischen Länder zuerst Persönlichkeitsentwicklung, die als Aspekt des Bürgerstatus unterstützt und abgesichert wird. Im liberalen Regime, d.h. eher in den angelsächsischen Ländern, ist Jugend vor allem durch die Erwartung an bzw. den Druck zu früher ökonomischer Selbständigkeit gekennzeichnet. Im erwerbsarbeitszentrierten Regimetyp, zu dem etwa auch Deutschland zählt, bedeutet Jugend primär Sozialisation und Allokation zu bestimmten beruflichen und darüber dann gesellschaftlichen Positionen. Daraus leitet sich die Zentralität von beruflicher Bildung sowie – im Falle ‚benachteiligter Jugendlicher’ – Berufsvorbereitung ab. Im unterinstitutionalisierten Regimetyp in Südeuropa ist Jugend aufgrund des Strukturdefizits im Übergangssystem und die lange Abhängigkeit von der Herkunftsfamilie und informellen Arbeitsverhältnissen durch ein Statusvakuum gekennzeichnet (Walther 2006, S. 124ff.). Das Bild eines solchen heuristischen Vergleichs ist jedoch aus zwei Gründen nicht ganz unproblematisch. Zum einen ist es begrenzt auf westliche (post)industrielle Gesellschaften, obwohl in vielen EGRIS-Projekten auch Partner aus Mittel- und Osteuropa beteiligt waren. Aufgrund der Dynamik des Wandels ist man sich in der vergleichenden Wohlfahrtsstaats- und Übergangsforschung einig, dass es die aktuelle Datenlage weder erlaubt, diese Länder unter bestehende Regimetypen zu subsumieren noch neue Typen zu entwickeln. Man beschränkt sich auf die Beobachtung entlang der den Vergleichstypologien zugrunde liegenden Dimensionen. Die post-kommunistischen Gesellschaften eint die Geschichte vergleichsweise verlässlicher, aber eben auch starrer Lebenslauf- und Übergangsstrukturen. Seit 1990 orientieren sich die meisten post-kommunistischen Länder – u.a. unter dem Einfluss von EU und Weltbank – zunehmend am liberalen und konservativen Modell, wodurch (zum Teil auch schon vorher bestehende) Unterschiede zunehmen (vgl. Manning 2004; Walther/Pohl 2005). Das Bild ist außerdem statisch, da es sozialen Wandel nicht abbilden zu können scheint. Allerdings zeigen vergleichende Analysen zur Umsetzung des scheinbar allgemeinen arbeitsmarktpolitischen Prinzips der Aktivierung, an dem sich im Zuge der europäischen Beschäftigungsstrategie alle EU-Mitgliedsstaaten orientieren müssen, dass sich Mechanismen der Pfadabhängigkeit in unterschiedlichen Interpretationen von Aktivierung und dementsprechend unterschiedlichen Maßnahmen niederschlagen (Walther 2003; Pohl/Walther 2006). Auch hier gilt: Jede neue vergleichende Untersuchung muss das Modell hinterfragen und gegebenenfalls differenzieren.

Konstruktionen von Hilfebedarf im internationalen Vergleich

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Lebenslaufregimes als übergreifender Bezugsrahmen Auch wenn das Modell der Übergangsregimes durchaus hilfreich für den Vergleich von Unterstützungsmaßnahmen für sogenannte ‚benachteiligte’ Jugendliche im Übergang ist, eine aus deutscher Sicht durchaus sozialpädagogische, weil auf das sozialpädagogische Handlungsfeld der Jugendberufshilfe bezogene Fragestellung, so trifft dies für andere sozialpädagogische Fragen und Handlungsfelder nicht oder nur bedingt zu, sei es weil sie sich auf andere Lebensalter beziehen, sei es weil sie – wie offene Jugendarbeit oder Hilfen zur Erziehung – stärker durch kommunale Strukturen bestimmt sind (vgl. Bahle 2003). Deshalb bedarf es im Sinne eines allgemeineren Bezugsrahmens der Erweiterung von Wohlfahrts- und Übergangsregimes hin zu einem Vergleichsmodell von Lebenslaufregimes, das die generelle Strukturierung individueller Lebensläufe im Sinne institutionalisierter Lebensaltersphasen und Übergänge umfasst. Der Begriff der Lebenslaufregimes ist in der vergleichenden Lebenslaufforschung auch schon eingeführt (Lessenich 1995), vor allem in Bezug auf den Vergleich unterschiedlicher Lebensverlaufsmuster auf der Basis von mittels Panels erhobenen Längsschnittdaten (z.B. Mayer 1997; Blossfeld u.a. 2005). Unterschiede in den dominanten Lebensverlaufsmustern werden in erster Linie mit den jeweiligen institutionellen Strukturen von Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat erklärt. Allerdings ist das Modell noch nicht so weit ausbuchstabiert, dass es einen verlässlichen Bezugsrahmen für die vergleichende Sozialpädagogik abgeben könnte; zumindest nicht in Bezug auf alle Lebensalter und – mit Blick auf die Entstandardisierung von Lebensläufen – vor allem auf die zunehmenden Übergänge innerhalb und zwischen den jeweiligen Lebensphasen. Und auch nicht in Bezug auf Verhältnisse zwischen nationalstaatlichen Strukturen und lokaler Ebene. Hier besteht also Forschungsbedarf. Abbildung 3:

Dimensionen von Lebenslaufregimes

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Wie könnte ein diesbezüglicher Beitrag sozialpädagogischer Vergleichsforschung aussehen? Im Gegensatz zum Übergang zwischen Jugend und Erwachsensein liegen zum Beispiel für die Jugendphase zwar etliche internationale Sammelbände vor (z.B. Cavalli/Galland 1995; Leccardi/Ruspini 2006; vgl. du Bois-Reymond 2002) jedoch kaum Studien, die dem Anspruch einer vergleichenden Analyse gerecht werden und zwar über die verschiedenen disziplinären Bereiche sozialwissenschaftlicher Jugendforschung hinweg. Aus sozialpädagogischer Sicht wäre deshalb eine wichtige Fragestellung, wie Jugendliche zu AdressatInnen öffentlicher Unterstützungsleistungen (zu deutsch: Kinder- und Jugendhilfe) werden, d.h. ganz grundlegend, welche Strukturen und Formen von Unterstützung für Kinder und Jugendliche in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten bestehen, wer zentrale Akteure sind, welche normativen, rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen gelten, welches fachliche Profil und welche Methoden dominieren, nicht zuletzt wie sie theoretisch begründet werden und in welcher Disziplin die Ausbildung der Fachkräfte verortet ist (vgl. Schefold 1996; Zierer 2006). Das Konzept der Lebenslaufregimes bietet dabei zuallererst eine Begründung für die Auswahl von Vergleichsländern oder -regionen. Diese hängt jedoch auch vom Erkenntnisinteresse und der jeweiligen Funktion des Vergleichs ab. Geht es beispielsweise um das Erkennen allgemeiner, kontextunabhängiger Strukturen der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, müssten möglichst unterschiedliche Kontexte verglichen werden, das Sampling also quer zu den Regimetypen (oder über die bestehenden Typen hinaus) erfolgen. Stehen anwendungsbezogene Interessen im Vordergrund, ist zu berücksichtigen, dass die Realisierungschancen von Übertragungsprozessen im Sinne eines Lernens „von den Anderen“ höher sind, wenn die Vergleichskontexte ähnlich sind (vgl. Schmid 2002). Im Prozess der Datenerhebung kann das Modell der Lebenslaufregimes relevante Kontextinformationen liefern (z.B. in Bezug auf Strukturen der jeweiligen Übergangs- und Bildungssysteme), aber auch Hinweise für die Auswahl von Indikatoren und thematischen Dimensionen zum eigentlichen Gegenstand von Hilfen für Kinder- und Jugendliche wie z.B. zentrale Akteure, Zuständigkeiten, rechtliche Regelungen, Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen, die historische Entwicklung von Kinderund Jugendhilfe sowie dominante Diskurse. Für den nächsten Schritt der kontextimmanenten Interpretation kann das Regimemodell aufgrund seines heuristischen Charakters und seiner Konzentration auf die „Gestalt“ von Vergesellschaftungslogiken Anregungen für die Deutung der konkreten Befunde in Bezug auf die – funktionale und kulturelle – gesellschaftliche Einbindung von Unterstützungsstrukturen geben. Der Schritt der Juxtaposition sollte dann jedoch strikt induktiv erhobene Befunde nebeneinander stellen und gruppieren, d.h. der Versuchung widerstehen, Befunde direkt in die Regimetypologie einzusortieren und diese im Sinne einer self-fulfilling prophecy zu reproduzieren anstatt sie empirisch zu überprüfen. Das Ergebnis der Juxtaposition kann dann im Schritt der vergleichenden Analyse mit dem Regimemodell verglichen werden. Im Falle einer Übereinstimmung der Cluster lassen sich die Logiken der jeweiligen Regimetypen als Erklärungsmuster für Unterschiede in den jeweiligen Hilfeformen heranziehen. Im Falle der Nicht-Übereinstimmung können induktiv aus dem Material gewonnene Erklärungen zu einer Differenzierung des Modells beitragen – oder zur Hinterfragung der angenommenen Beziehungen zwischen Hilfeformen und Lebenslaufstrukturen durch weitere vergleichende Forschung. Ertrag eines lebenslaufbezogenen Vergleichs für die Sozialpädagogik Der Weiterentwicklungsbedarf in Bezug auf international vergleichende sozialpädagogische Forschung wurde eingangs anhand von drei Desiderata formuliert: Klärung des Gegenstands,

Konstruktionen von Hilfebedarf im internationalen Vergleich

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Klärung der Funktion und Klärung der analytischen Reichweite vergleichender Forschung. Die resümierende Frage nach dem Ertrag eines lebenslaufbezogenen Vergleichs für die Sozialpädagogik ist deshalb dahingehend zu differenzieren, inwieweit das Modell zur Klärung dieser drei Desiderata beiträgt. Dabei ist vorab zu unterstreichen, dass es sich primär um ein heuristisches und kein beschreibendes Modell handelt, auch wenn es auf empirischen Deskriptionen und Analysen basiert. Es ersetzt also nicht den vergleichenden Forschungsprozess an sich, sondern trägt zu seiner Organisation bei – und zwar sowohl in Fragen des Forschungsdesigns als auch in Fragen der Analyse. Es setzt erstens an einer funktional äquivalenten Bestimmung des Gegenstands sozialpädagogischer Vergleich als Hilfe zur Bewältigung des Lebenslaufs an, das heißt daran, wie und in welchem Ausmaß in unterschiedlichen Gesellschaften Hilfe im Spannungsverhältnis zwischen Lebenslauf und Biographie institutionalisiert ist. Lebenslaufregimes als unterschiedliche Konfigurationen der Vergesellschaftung durch Lebenslaufstrukturen stellen Kontexte der Konstruktion von Hilfebedarf dar und bieten sich somit als tertium comparationis zweiter Ordnung für den sozialpädagogischen Vergleich an. Dies ist zweitens verknüpft mit der Frage nach der analytischen Reichweite bzw. der Erweiterung bestehender eher deskriptiver Vergleichsforschung um die Erklärung unterschiedlicher Bedeutungen, Formen und Zugangsregelungen von Hilfe im Lebenslauf. Das Lebenslaufregimemodell enthält keine Beschreibung unterschiedlicher institutioneller Strukturdetails, sondern bietet durch seine analytische, typologisierende Verdichtung Zugänge zur Erklärung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kontexte von Hilfe. Es erlaubt eine Begründung der Auswahl von Vergleichsregionen oder -ländern im Sinne eher unterschiedlicher oder eher ähnlicher Kontexte, es enthält Hinweise für die Operationalisierung sozialpädagogischer Fragestellungen und für relevante Dimensionen, was die Datenerhebung betrifft, und es erleichtert Unterschiede und Gemeinsamkeiten durch die Kontextualisierung konkreter Formen von Hilfe in struktur-funktionale und kulturelle gesellschaftliche Zusammenhänge zu erklären. Drittens erlaubt das Modell eine reflexive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Funktionen des internationalen Vergleichs in der Sozialpädagogik. In Bezug auf theoriebezogene Forschungsinteressen trägt eine kontextualisierte, lebenslaufbezogene Forschung zu einer Differenzierung allgemeiner Aussagen zu Struktur, Funktion und Wandel Sozialer Arbeit bei. Sie erlaubt es allgemeine, überall vorfindbare Strukturen von solchen zu unterscheiden, die an bestimmte Lebenslaufstrukturen, bestimmte Konfigurationen von Normalität gebunden sind. Dies ist auch im Kontext von Globalisierung und Transnationalisierung Sozialer Arbeit keinesfalls obsolet. Transnationalisierung ersetzt ja keinesfalls die Kategorie des Nationalstaats, sondern steht eher in einem dialektischen Verhältnis zu ihr. Franz Hamburger betont: „Das Verhältnis von Nationalität und Transnationalität lässt sich also nur in der Dialektik von faktischer Gegebenheit (‚die deutsche Jugendhilfe’) und allgemeinmenschlichen (‚Hilfe’) oder allgemeingesellschaftlichen (‚Kontrolle’) Kategorien genauer beschreiben. […] Erst die international vergleichende Forschung kann das in einem bestimmten Land bestehende soziale und kognitive System der Sozialen Arbeit als Ganzes verständlich machen. [...] Fragen, die auf die Erkenntnis von Transnationalität abzielen, implizieren deshalb immer das internationale Vergleichen als epistemologische Grundlage.” (Hamburger 2008, S. 264)

Theoriebezogene Fragen, die derzeit international diskutiert werden, ohne jedoch unterschiedliche Ausgangssituationen, Traditionen und Interpretationen vergleichend zu reflektieren, sind, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, etwa Fragen nach

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Handlungsmöglichkeiten Sozialer Arbeit im Zuge der Ökonomisierung Sozialer Dienste – angesichts unterschiedlicher Finanzierungsstrukturen, Zuständigkeitsregelungen sowie wohlfahrtsstaatlicher Anspruchsregulierung und -legitimation (z.B. Otto/Schnurr 2000; Lorenz 2006); Wirkungsorientierung und Wirkungsmessung in der Sozialen Arbeit, wobei davon auszugehen ist, dass Erfolg und Wirkung von Hilfe in unterschiedlichen Kontexten Unterschiedliches bedeuten (z.B. Heiner u.a. 2007; Otto 2007); dem Zusammenhang von Bildung, Erziehung und Hilfe, der für die Theorietradition der Sozialpädagogik konstitutiv, für die Sozialarbeit dagegen nicht überall selbstverständlich ist; Anlass hierzu gibt die aktuelle Frage nach dem Verhältnis zwischen formaler und nonformaler Bildung bzw. zwischen Bildung und sozialer Unterstützung wie sie in Deutschland als Verhältnis zwischen Jugendhilfe und Schule (BMFSFJ 2006; Winkler 2006) oder international im Zuge des Diskurses um Capabilities gestellt wird (z.B. Otto/Ziegler 2006).

In Bezug auf die Praxis bzw. deren politische Gestaltung bietet ein lebenslaufbezogener Vergleich die Möglichkeit, Voraussetzungen und v.a. Grenzen der Übertragung von fremden Praxisansätzen auszuloten. So lassen sich Ansätze eher zwischen ähnlichen als zwischen sehr unterschiedlichen Kontexten übertragen und auch dann nur unter der Voraussetzung einer umfassenden Analyse der Kontextbedingungen und der Suche nach funktionalen Äquivalenten (Schmid 2002, S. 435ff.). Der Zugang zu anderer Praxis und anderen Deutungsmustern führt jedoch generell dazu, die selbstverständliche Normalität der eigenen Praxis bzw. deren Rahmenbedingungen zu dekonstruieren und kritisch zu reflektieren, „ ... als ob man sich gegenseitig einen Spiegel vorhielte, in dem die eigenen Stärken und Schwächen, Gewinn- und Verlustrechnungen präsentiert würden“ (Flickinger 2006, S. 8).

Dies ermöglicht nicht nur die reflexive Vergewisserung der Rahmenbedingungen der eigenen Praxis, sondern stärkt im Sinne eines „Lesens der Verhältnisse“ (Negt/Kluge 1992, S. 219f.; vgl. Kessl 2005, S. 123) gleichzeitig eine kritische Perspektive in der Sozialen Arbeit durch das Wissen über andere mögliche „Welten im Kapitalismus“. Literatur Allmendinger, Jutta (1989): Educational Systems and Labour Market Outcomes’, in: European Sociological Review, 5 (3), S. 231 – 250. Amos, Karin (2005): Die USA als Argument: Anmerkungen anlässlich der Debatte um Bildungsstandards, in: Tertium Comparationis, (11/2), S. 209-228. Bahle, Thomas (2003): The changing institutionalisation of social services in England and Wales, France and Germany: is the welfare state on the retreat, in: Journal of European Social Policy, 13(1), S. 520. Behnisch, Michael (2007): Sozialpädagogik und Normalität oder: Vom (unsicheren) Leben in der Kurvenlandschaft, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, Heft 55, S. 43-60. Bendit, René/Hein, Kerstin/Biggart, Andy (2004): Delayed and negotiated autonomy: Domestic Emancipation of young Europeans, in: DISKURS 3/2004, S. 76-85. Bereday, George Z. F. (1964): Comparative method in education. New York: Holt, Reinhart and Winston.

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III. Methodische Beiträge

Das Episodische Interview Uwe Flick Einleitung In der Forschung in der sozialen Arbeit kann die Beschäftigung mit subjektivem Wissen und Erfahrungen unter verschiedenen Aspekten relevant werden: Zunächst aus der Sicht der Klienten1 bspw. hinsichtlich ihrer Situation und Erfahrung mit Angeboten sozialer Dienste; Dann aus der Sicht der Professionellen bspw. zu ihrem beruflichen Alltag und bestimmten Orientierung darin; Oder mit der Perspektive einer Evaluation aus der Sicht von Teilnehmern an bestimmten Angeboten hinsichtlich ihrer Bewertung. Subjektives Wissen über einen bestimmten Bereich wird in der qualitativen Forschung in der Regel über Interviews mit mehr oder minder offenen Fragen erhoben. Subjektive Erfahrungen und Verläufe des eigenen Lebens aufgrund eines bestimmten Ereignisses oder Prozesses – bspw. eine Erkrankung oder deren Chronifizierung – werden häufig über Erzählungen, etwa im Narrativen Interview nach Schütze (1983) rekonstruiert. Nicht in jedem Falle ist die eindeutige Orientierung an einem dieser Zugänge zielführend. Für verschiedene Fragestellungen aber auch für bestimmte Zielgruppen (zur Indikation von qualitativen Forschungsmethoden vgl. Flick 2007) können Kombinationen von offener Befragung und Erzählung sinnvoll sein bzw. auch eher realisiert werden. Ausgangspunkte Das episodische Interview stellt eine Kombination aus diesen zwei methodischen Zugängen dar, womit es zu einem Beispiel für eine methodeninterne Triangulation wird (vgl. den entsprechenden Supplementbeitrag des Autors zur Trigangulation in diesem Band). Ausgangspunkt ist dabei die Unterscheidung zwischen semantischem und episodischem Wissen: Während semantisches Wissen um Begriffe und ihre Beziehungen untereinander herum aufgebaut ist, besteht episodisches Wissen aus Erinnerungen an Situationen. Ersteres ist am besten über Fragen und Antworten zu erheben, letzteres eher über Erzählanstöße und Erzählungen. Semantisches Wissen hat sich teilweise aus den im episodischen Wissen enthaltenen Erfahrungen entwickelt: So können sich die meisten Menschen an ihren ersten Schultag erinnern und dazu erzählen, wie die erste Begegnung mit einem Lehrer verlaufen ist. Daraus und aus weiteren Begegnungen mit Lehrenden hat sich in der Regel eine Vorstellung entwickelt, was ein guter Lehrer ist, worin er sich von einer schlechten Lehrerin unterscheidet und welche Arten von Lehrern es allgemein gibt. Entsprechend dieser Unterscheidung soll das episodische Interview als Erhebungsverfahren die in der folgenden Übersicht (vgl. Abb. 1) skizzierten Bestandteile des Alltagswissens berücksichtigen und erfassen. 1

Wenn im Folgenden die männliche Form verwendet wird, ist die weibliche Form jeweils mitgedacht.

G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_17, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

274

Uwe Flick

Wissensbereiche des Alltagswissens im episodischen Interview

Abbildung 1:

Semantisch-begriffliches Wissen Oberbegriff 2

Oberbegriff 1 Begriff 1

Situation 1 Situation 2 Situation 3

Begriff 2 Begriff 3

argumentativtheoretische Darstellung

Episodisches Interview

Erzählende Darstellung

Episodischnarratives Wissen

Bestandteile des Interviews Einerseits enthält das episodische Interview Fragen, die auf mehr oder minder klar umrissene Antworten abzielen. Andererseits zielt es auf Erzählungen von Situationen ab, in denen Interviewpartner bestimmte Erfahrungen gemacht haben. Dazu ist eine Reihe von Erzählaufforderungen enthalten. Zentraler Ansatzpunkt dieser Interviewform ist die regelmäßige Aufforderung, Situationen zu erzählen.2 Um den Interviewpartner mit der Interviewform in Bezug auf das Thema der jeweiligen Studie vertraut zu machen, wird zunächst das Grundprinzip des episodischen Interviews einführend erläutert (z.B.: „Im Folgenden werde ich Dich immer wieder bitten, mir Situationen zu erzählen, die mit dem Thema „Krankheit“ – mit Deiner eigenen, aber auch mit Krankheit ganz allgemein – zu tun haben.“). Einstieg ist dann in der Regel, dass der Interviewte gebeten wird, sein Verständnis des Untersuchungsgegenstands zu erläutern – in unserem Beispiel (seine) chronische Krankheit: „Zunächst einmal, was verbindest Du mit dem Begriff [Krankheit X]?“ Daran anschließend wird der Beginn der Konfrontation mit dem Untersuchungsgegenstand thematisiert – hier der Beginn der Krankheit: „Erinnere Dich bitte einmal an die Anfänge Deiner Krankheit zurück: Wie hast Du überhaupt bemerkt, dass Du krank bist, kannst Du mir dazu eine Situation erzählen?“ Und: „Wie hast Du die erste Zeit nach der ärztlichen Feststellung der Erkrankung erlebt? Gibt es eine Situation, die Du mir dazu erzählen kannst?“ Entweder an dieser Stelle oder im weiteren Verlauf des Interviews wird in der beschriebenen Studie der Einstieg in das Straßenleben angesprochen, wobei auch Ketten von Situationen angesprochen werden können: „Nun möchte ich Dich bitten, mir zu erzählen, 2 Die im Folgenden verwendeten Beispiele entstammen einer Untersuchung zum Umgang von obdachlosen Jugendlichen mit chronischer Krankheit (vgl. den Beitrag oben von Flick/Röhnsch in diesem Band).

Das Episodische Interview

275

wie für Dich der Alltag in Deiner Familie aussah“ und: „Worin bestanden Gründe, Dich dem Straßenleben zuzuwenden – kannst Du dazu eine Situation erzählen, die mir das deutlich macht?“ Großen Raum nehmen dann Fragen und Erzählanstöße zum Alltag mit der Krankheit in der „Szene“ ein („Welche Rolle spielt denn die Krankheit heutzutage für Dich? Wann genau wird die Erkrankung für Dich zum Thema, kannst Du mir dazu mal eine Situation erzählen?“) oder bei den Versuchen an Geld zu kommen und allgemeiner im Umgang mit Alkohol und Drogen („Wenn Dich [krankheitsbedingte Widrigkeiten einsetzen] belastet, nimmst Du da auch Alkohol oder Drogen, um damit klarzukommen? Ist Deine Krankheit für Dich ein Grund, dem Konsum von Alkohol (und Drogen) eine Grenze zu setzen?“). Ein weiterer Aspekt sind Phantasien hinsichtlich erwarteter oder befürchteter Veränderungen („Wie stellst Du Dir Dein weiteres Leben vor – welche Pläne hast Du für Dich persönlich? Kannst Du mir dazu auch noch einmal eine Situation phantasieren?“). Neben Erzählaufforderungen bilden Fragen (z.B. nach subjektiven Definitionen: „Nachdem wir uns nun schon einige Zeit über Deine Krankheit unterhalten haben, etwas anderes: Was verstehst Du eigentlich unter Gesundheit?“) den zweiten Zugang im Interview. Dieser zielt auf die semantischen Anteile des Wissens ab. Vorbereitung des Interviews Generell soll das Interview verschiedene Bereiche des Alltags erfassen, in denen das Thema der Untersuchung für die Befragten relevant wird. Zur Vorbereitung der Interviews wird zur Orientierung über die thematischen Bereiche, zu denen solche Erzählungen erbeten werden sollen, ein Leitfaden erstellt. In unserem Beispiel umfasst der Leitfaden folgende Bereiche: Beginn der Krankheit Alltag mit der Krankheit auf der Straße Belastung durch die Krankheit Rolle von Drogen und Alkohol Inanspruchnahme medizinischer bzw. sozialarbeiterischer Hilfe und Erfahrungen damit Rolle der Szene für den Umgang mit der Krankheit Zukunftsvorstellungen, Erwartungen, Ängste, Hoffnungen Lebenssituation auf der Straße und Einstieg in das Straßenleben. Zu allen Bereichen werden Erzählaufforderungen und Fragen formuliert, wobei in den meisten Bereichen die Erzählaufforderungen überwiegen. Mit der Reihenfolge der Bereiche und der Fragen kann wie in anderen Interviews auch flexibel umgegangen werden. Gerade bei der Verwendung in Studien mit mehreren Interviewern (etwa in Lehrforschungsprojekten mit Studierenden) hat es sich als hilfreich erwiesen, vor Beginn der eigentlichen Interviews ein Interviewtraining mit allen Interviewern durchzuführen. Darin sollte der Umgang mit Erzählaufforderungen und mit Nachfragen geübt, besprochen und weitgehend vereinheitlicht werden.

276

Uwe Flick

Verwendungsweisen des episodischen Interviews Interviews mit Betroffenen, Laien, Patienten etc. Neben der oben vorgestellten Studie zu chronischer Krankheit obdachloser Jugendlicher wurde das Verfahren noch in verschiedenen anderen Kontexten eingesetzt. So ging diesem Projekt eine Studie zu Gesundheitsvorstellungen und Umgang mit dem Thema Gesundheit auf der Straße voraus (vgl. Flick/Röhnsch 2006a, b, c, 2008). Darin wurden wiederum Erzählaufforderungen und Fragen zu verschiedenen Bereichen vorgegeben, wie die folgenden Beispiele im Kasten 1 zeigen. Die im Leitfaden einbezogenen Bereiche waren hier: Gesundheitsvorstellungen: Allgemeine und persönliche Gesundheitsdefinition, Bedeutsamkeit und Beeinflussbarkeit von Gesundheit Bezug lebensweltlicher Faktoren u. Risiken zu Gesundheitsvorstellungen und -verhalten Riskantes Verhalten und dessen Sekundärprävention als Teil des Gesundheitsverhaltens Krankheitserfahrungen und Umgang mit diesen Gesundheitsvorstellungen und -verhalten in sozialer Bedingtheit bzw.soziale Unterstützung Kasten 1: Beispielfragen zum Gesundheitsverständnis obdachloser Jugendlicher 1.) Zunächst einmal würde ich Dich bitten, mir zu erzählen, wie für Dich der Alltag in Deiner Familie aussah? Worin bestanden Gründe, Dich dem Straßenleben zuzuwenden – kannst Du dazu eine Situation erzählen, die mir das deutlich macht? 2.) Jetzt kommen wir mal zum Thema, und zwar, was verstehst Du unter „Gesundheit“? 3.) Woran merkst Du, dass Du gesund bist? Kannst Du eine Situation erzählen, an der mir das deutlich wird? 4.) Was war Deine bedeutsamste Erfahrung mit Gesundheit, kannst Du diese Situation erzählen? 5.) Wie wichtig ist es für Dich heutzutage, gesund zu sein? Aus welchen Gründen ist das der Fall/nicht der Fall, kannst Du mir dazu eine Situation erzählen, die mir das verdeutlicht? 6.) Inwiefern hast Du einen Einfluss darauf, ob Du gesund bist oder nicht? Kannst Du eine Situation erzählen, an der mir das deutlich wird? Interviews mit Professionellen zu ihrem beruflichen Handeln In früheren Studien wurde das episodische Interview bei Ärzten und Pflegekräften zur Analyse von deren Vorstellungen über Gesundheit, Prävention und Gesundheit (Flick et al. 2004) bzw. zu Gesundheit im Alter (Walter et al. 2006) eingesetzt. Dabei umfasst der Interviewleitfaden drei große Komplexe: Fragen zum Gesundheitskonzept und darauf bezogene Erzählanreize Fragen und Erzählaufforderungen zu Gesundheit im Alter Fragen und Erzählanreize zu Prävention und Gesundheitsförderung Der Fragenkomplex zum Gesundheitskonzept enthält Fragen zu den subjektiven Konzepten der Ärzte und Pflegekräfte zur Gesundheit und ihre Relevanz für die professionelle Arbeit sowie darauf bezogene Erzählanreize. Aufschlussreich sind dabei zum einen die konkret erzählten Situationen, aber auch die Selektion aus der Vielzahl möglicher Situationsbeschreibungen, da sie verdeutlichen, aufgrund welcher Ereignisse Gesundheitsvorstellungen entstanden sind bzw. sich verändert haben. Dabei wird unterstellt, dass Gesundheitsvorstellungen und

Das Episodische Interview

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auch der Umgang mit Gesundheit sich im Laufe des Lebens verändern, da beides eine biographische Komponente hat und durch bestimmte private (z.B. Krankheitserfahrungen) oder berufliche Erfahrungen (z.B. mit bestimmten Patienten, durch Fortbildungen) modifiziert werden. In der folgenden Wiedergabe von Ausschnitten des Leitfadens (siehe Kasten 2) sind die vor allem auf episodisches Wissen zielenden Erzählaufforderungen mit E-1 etc., die eher auf semantisches Wissen gerichteten Fragen mit S-2 etc. gekennzeichnet. Kasten 2: Ausschnitt Interviewleitfaden Gesundheits- und Alterskonzepte von Ärzten und Pflegekräften In diesem Interview werde ich Sie wiederholt bitten, mir Situationen zu schildern, in denen Sie Erfahrungen mit den Themen „Gesundheit“ und „Alter“ gemacht haben. S-1 Was ist das für Sie, „Gesundheit“? Was verbinden Sie mit dem Wort „Gesundheit“? E-2 Wodurch wurden Ihre Vorstellungen von Gesundheit besonders beeinflusst? Können Sie mir bitte ein Beispiel erzählen, an dem dies deutlich wird? E-3 Haben Sie den Eindruck, dass sich Ihre Vorstellung von Gesundheit im Laufe Ihres Berufslebens gewandelt hat? Bitte erzählen Sie mir eine Situation. E-4 Haben Sie den Eindruck, dass sich Ihr Umgang mit Gesundheit gegenüber früher verändert hat? Erzählen Sie mir bitte eine Situation, wodurch dies deutlich wird. E-5 Haben Sie das Gefühl, dass Ihr privater Umgang mit Gesundheit Ihr berufliches Handeln beeinflusst? Erzählen Sie mir bitte ein Beispiel, wodurch es mir deutlich wird. E-6 Was beinhaltet für Sie in Ihrer beruflichen Tätigkeit, Gesundheit zu fördern? Können Sie mir dazu bitte ein Beispiel nennen, an dem sich das festmacht. E-7 Hat sich Ihre berufliche Tätigkeit in den letzten Jahren in Bezug auf die Förderung von Gesundheit verändert? Können Sie dies bitte anhand eines Beispiels erzählen. E-8 Können Sie mir bitte Ihren gestrigen Tagesablauf erzählen; wie, wann und wo hat die Förderung von Gesundheit eine Rolle gespielt? ... In den Interviews mit diesem Leitfaden werden Konzepte in Form von Definitionen (in diesem Falle von Gesundheit) wie im folgenden Beispiel deutlich: I: Was ist das für Sie, „Gesundheit“? Was verbinden Sie mit dem Wort „Gesundheit“? IP: Mit dem Wort Gesundheit, ja, (verbinde ich, d. Verf.) eigentlich ‘ne ganze Menge, nicht nur frei von Krankheit, sondern ein Sich-Rundum-Wohlfühlen. Das eben nicht nur in physiologischer Hinsicht, sondern auch sich seelisch wohl fühlen, sich sozial, also in dem sozialen Rahmen, in dem man lebt, wohl fühlen. Und so weiter. (...) Ja, ja, man kann vielleicht auch noch sagen, frei von finanziellen Sorgen, was sicherlich auch mit dazu gehört, weil finanzielle Sorgen auch krank machen. Erzählungen in den Interviews verdeutlichen etwa, wie Veränderungen ausgelöst wurden: I:

Wodurch wurden Ihre Vorstellungen von Gesundheit besonders beeinflusst? Können Sie mir bitte ein Beispiel erzählen, an dem dies deutlich wird? IP: Es gibt eigentlich ganz viele Beispiele. Also beeinflusst, meine persönliche Meinung ist einfach dadurch beeinflusst, dass unsere Kinder, wir haben drei Kinder, und die beiden Großen, als die geboren wurden, das war vor neunzehn Jahren und achtzehn, siebzehn Jahren, beide sehr schwer krank

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Uwe Flick

waren. Bei unserem Sohn, dem älteren, wussten wir auch nicht, ob der die erste Nacht überlebt. Und da hatte ich so das Gefühl, dass in mir so ein Schalter umgegangen ist, ja? Also umgeschaltet wurde. Und bis dahin brauchte ich immer sehr viel formelle Sicherheit, räumliche Sicherheit, finanzielle Sicherheit, und das war von dem Tag an, als die Entscheidung so in der Luft hing, überhaupt völlig unwichtig geworden. Und damals hab ich dann auch angefangen, also so mein eigenes Verhältnis zur Schulmedizin zu entwickeln. Ich hab ja eine klassisch schulmedizinische Ausbildung und hab dann aber angefangen, viele Sachen innerhalb der Familie erst mal anders zu regeln, also über Gespräche, über Physiotherapie, über Akupunktur, Ozonsauerstofftherapie. Und als das dann relativ gut funktionierte, hab ich das auch auf Patienten auch angewandt. Mischformen aus Definitionen und Erzählungen, wie die Interviewpartnerin diese Definition entwickelt hat, was dabei eine Rolle gespielt hat, resultieren als dritte Form von Daten: I: Was ist das für Sie, „Gesundheit“? Was verbinden Sie mit dem Wort „Gesundheit“? IP: Gesundheit ist relativ, denke ich. Gesund kann auch jemand sein, der alt ist und ‘ne Behinderung hat und kann sich trotzdem gesund fühlen. Also früher hätte ich, bevor ich in die Gemeinde gegangen bin, immer gesagt, gesund ist jemand, der in einem sehr geordneten Haushalt lebt und wo alles korrekt und supergenau ist und, ich sag mal, absolut sauber. Dessen bin ich belehrt worden, als ich angefangen hab in der Gemeinde zu arbeiten, das war 1981, ich war früher Krankenschwester in der (Name der Klinik) gewesen auf der Intensiv und kam also mit völlig anderen Vorstellungen hierher. Und musste damit erst mal lernen umzugehen, dass jemand eben in seiner Häuslichkeit so angenommen wird, wie er ist. Und deswegen, denk ich, ist Gesundheit – kommt immer darauf an, wie jeder selbst sich fühlt. Ne, also es kann jemand ‘ne Krankheit haben und trotzdem sich gesund fühlen, das denk ich schon, dass das so ist. Interviews im Rahmen von Evaluationsstudien Im Rahmen von Lehrforschungsprojekten wurde das episodische Interview auch im Rahmen von Studien der qualitativen Evaluation eingesetzt (vgl. hierzu auch Flick 2006a, b). So wurden die Teilnehmer einer Fortbildung (zum Ernährungsmanager) mit der Methode zu ihrer Entscheidung für die Teilnahme an der Fortbildung, zu ihren Erwartungen an die Fortbildung, zum Verlauf der Veranstaltung, zur Umsetzung des neu erworbenen Wissens in ihrem beruflichen Alltag im Anschluss sowie zur Bewertung der Fortbildung insgesamt befragt. Probleme der Durchführung Wie die herangezogenen Beispiele verdeutlichen sollten, kann das episodische Interview in verschiedenen Bereichen der Forschung in der Sozialen Arbeit – Interviews mit Klienten, mit Professionellen und in der Evaluation von Angeboten – herangezogen werden. Es sind Untersuchungen zu empfehlen, die auf Wissen, Erfahrungen und Veränderungen aus der Sicht der Befragten abzielen, ohne jedoch einen eindeutigen und ausschließlichen Fokus auf biographische Prozesse zu legen. Die Erfahrungen mit der Anwendung der Methode zeigen, dass ein entscheidender Schritt die Erläuterung und Verinnerlichung des Prinzips der Erzählung von Situationen darstellt – sowohl auf der Seite des Interviewers, als auch beim Interviewten. Trotzdem wird es nicht in jedem Fall gelingen, zu allen Bereichen Erzählungen zu konkreten Situationen zu stimulieren. Häufig werden Situationen nur genannt oder es werden regelmäßig

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Das Episodische Interview

wiederkehrende Situationen geschildert (sog. Repisoden – Neisser 1981, z.B.: „immer wenn ich ....“) oder auch Beispiele geschildert (die nicht auf selbst erlebte Situationen bezogen sind). In Abbildung 2 sind die verschiedenen Datensorten, die im episodischen Interview entstehen können, zusammengefasst. Abbildung 2:

Datensorten im episodischen Interview A rg u m e n ta tiv e A u s s a g e n s u b je k tiv e D e fin itio n e n B e is p ie ls c h ild e ru n g e n R e p is o d e n S itu a tio n s e rz ä h lu n g e n R e p is o d e n S te re o ty p e s u b je k tiv e D e fin itio n e n A rg u m e n ta tiv e A u s s a g e n

Je nach Fragestellung können diese verschiedenen Datensorten zentrale Bedeutung als Zugänge zu unterschiedlichen Bestandteilen der Sicht- und Erfahrungsweisen der Interviewpartner haben.3 Abschließende Bemerkungen Das episodische Interview lässt sich in verschiedenen Bereichen der Forschung in der Sozialen Arbeit und verwandten Feldern einsetzen, in denen es um Wissen und Erfahrungen in subjektiver Perspektive geht. Die Analyse der so erhobenen Daten kann auf verschiedenen Wegen erfolgen. Bewährt haben sich dabei Methoden der Kodierung und Kategorisierung mit dem Ziel einer Theoriebildung oder der Entwicklung von Typen und Mustern in den Antworten und Erzählungen (vgl. hierzu Flick 2007, Kap. 23). Literatur Flick, U. (Hrsg.) (2006a). Qualitative Evaluationsforschung – Konzepte, Methoden, Anwendungen. Reinbek: Rowohlt. Flick, U. (2006b). Interviews in der qualitativen Evaluationsforschung. In: Flick, U. (Hrsg.). Qualitative Evaluationsforschung – Konzepte, Methoden, Anwendungen. Reinbek: Rowohlt, S. 214-232. Flick, U. (2007). Qualitative Sozialforschung – Eine Einführung (erw. u. akt. Neuausgabe). Reinbek: Rowohlt. 3

Für eine ausführlichere methodische Begründung und Beschreibung des episodischen Interviews vgl. Flick 2008, Kap. 3

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Uwe Flick

Flick, U. (2008). Triangulation – Eine Einführung (2. erw. u. akt. Aufl.). (Reihe Qualitative Sozialforschung). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft. Flick, U. & Röhnsch G. (2006a). „Ich vertrau’ der anderen Person eigentlich...“ – Armut und Obdachlosigkeit als Kontexte sexuellen Risiko- und Schutzverhaltens von Jugendlichen. In: Zeitschrift für die Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 26 (2), 171-187. Flick, U. & Röhnsch G. (2006b). „Lieber besoffen. Oder bekifft. Dann kann man’s wenigstens noch aushalten.“ – Alkohol- und Drogenkonsum obdachloser Jugendlicher. In: Diskurs – Kindheits- und Jugendforschung, 1 (2), 261-280. Flick, U. & Röhnsch G. (2006c). „...wenn man sich nich’ helfen lassen will...“ – Hilfesuchverhalten obdachloser Jugendlicher. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 4 (4), 338-359. Flick, U. & Röhnsch, G. (2008). Gesundheit auf der Straße. Vorstellungen und Erfahrungsweisen obdachloser Jugendlicher. Weinheim: Juventa. Flick, U., Walter, U., Fischer, C., Neuber, A. & Schwartz, F.W. (2004). Gesundheit als Leitidee? – Gesundheitsvorstellungen von Ärzten und Pflegekräften. Bern: Huber. Neisser, U. (1981). John Dean’s Memory: A case study. In: Cognition, 9, S. 1-22. Schütze, F. (1983). Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis, 13 (3), S. 283-293. Walter, U., Flick, U., Fischer, C., Neuber, A. & Schwartz, F.W. (2006). Alt und gesund? – Altersbilder und Präventionskonzepte in der ärztlichen und pflegerischen Praxis. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft (Reihe Alter und Gesellschaft).

Repertory Grid Methodik Nina Thieme Einleitende Bemerkungen zur Methodologie und Methode Ausgehend von einer kritischen Fokussierung vorherrschender psychologischer Traditionen der 1940er und 1950er Jahre hat George A. Kelly1 seine Psychology of personal constructs (vgl. 1955a, 1955b) entwickelt. Ziel seiner Überlegungen war, „das Individuum auf einer neuen Grundlage zu erklären und damit greifbarer und untersuchbarer zu machen, als dies die Psychoanalyse [und behavioristische Ansätze, Anm. N.T.] bis dahin geleistet hatte[n]“ (Catina & Schmitt 1993: 11). Die Psychologie persönlicher Konstrukte umfasst eine differenzierte Ausarbeitung (erkenntnis-)theoretischer Annahmen, in deren Zentrum Konstruktionsprozesse von ›Wirklichkeit‹ stehen, und ist, verbunden mit der philosophischen Grundlegung des Konstruktiven Alternativismus, einem epistemologischen Konstruktivismus (vgl. Burr 2003: 185) zuzuordnen. Die für das Werk von Kelly essentiellen Charakter aufweisende Annahme besteht darin, dass es keinen unmittelbaren, voraussetzungslosen Zugang zur ›objektiven Wirklichkeit‹ gebe, sondern „[v]ielmehr [...] alles, was wir über sie wissen können, [...] unsere Konstruktion der Wirklichkeit [ist], aber nie die Wirklichkeit, ›wie sie tatsächlich ist‹“ (Fromm 1995a: 11). Dieser Auffassung entspricht Kellys metaphorische Charakterisierung des Menschen ›als Forscher bzw. Wissenschaftler‹, der durch die Anwendung persönlicher Konstrukte der Welt aktiv Bedeutung verleiht und „[gemäß der] Rückmeldungen, die [er] für [seine] Antizipationen der Realität erhält“ (Catina & Schmitt 1993: 17), die Angemessenheit seiner personal constructs kontinuierlich prüft sowie diese gegebenenfalls neu justiert. Ausgehend von der These, „[that] [i]n a solipsistic world there would be no need to test one’s constructs“ (Warren 2004: 40), lässt sich folgern, dass durch Kellys Ansatz die Existenz von Realität nicht geleugnet wird. Aussagen über diese im ontischen Sinne (vgl. Hejl 2001: 17) können jedoch nicht getroffen werden. Abgelehnt wird folglich das auf einer Korrespondenzlogik basierende Postulat einer einzigen (wahren) Wirklichkeit, sondern ›Wirklichkeit‹ wird gedacht als subjektive ›Wirklichkeit‹, als eine mögliche unter alternativen Konstruktionen. Die persönlichen Konstrukte werden als dichotome Interpretationen von ›Wirklichkeit‹ verstanden, als „Unterscheidung von Dingen und Ereignissen, die eine Person vornehmen kann“ (Fromm 1995a: 15). Um die personal constructs methodisch greifbar zu machen, hat Kelly den Role Construct Repertory Test (vgl. 1955a: 219ff.) entwickelt, der entgegen der gewählten Terminologie jedoch gerade kein Testverfahren im klassischen Sinn ist, das sich durch ein standardisiertes, festes Format kennzeichnet (vgl. u.a. Fromm 1995b: 133; Lohaus 1993: 80), sondern eine flexibel handhabbare, forschungsinteressengeleitet zu gestaltende Befragungspraxis. Ausgehend von dem Urverfahren hat sich bis heute eine ausgesprochen vielgestaltige Gruppe von Interviewverfahren entwickelt (vgl. Fransella & Bannister 1977: 23ff.), die unter dem Begriff Repertory Grid Technique bzw. Methodik gefasst werden und denen der Anspruch inhärent ist, den aktiven Status des zu Befragenden hervorzuheben. 1

Zur Biographie Kellys, der in den USA in der Mitte des letzten Jahrhunderts insbesondere den Bereich klinischer Psychologie prägte, vgl. u.a. Fransella & Neimeyer 2005: 4ff. G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_18, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Nina Thieme

Trotz der Vielfalt ist allen Grid-Verfahren gemeinsam, dass Erfahrungsgegenstände2, so genannte Elemente, ausgewählt und vom Interviewten mit dichotomen Interpretationen von ›Wirklichkeit‹, mit seinen personal constructs, beschrieben werden (repertory). Die Erfassung und die Fixierung der Elemente und Konstrukte, welche abschließend von der interviewten Person in Form eines ratings bewertet werden, erfolgen in einer gitterförmigen Matrix (grid) (vgl. Fromm 2002: 195f.). Inwieweit das von Kelly begründete Verfahren eher dem quantitativen oder dem qualitativen Forschungsparadigma zuzurechnen ist, hängt von der durch den Forschungsgegenstand zu bestimmenden Ausgestaltung der Erhebung und Auswertung ab. Zum konkreten Vorgehen der Erhebung3 Quantifizierendes4 Untersuchungsdesign Gemeinsam ist allen Grid Verfahren, dass zu Beginn eines Interviews eine Erhebung von Erfahrungsgegenständen erfolgt, wobei „[i]n eher quantitativ angelegten Untersuchungsdesigns [...] Elemente zumeist vom Untersuchenden auf der Grundlage bestimmter Thesen zum Untersuchungsgegenstand vorgegeben [werden]“ (Meyer & Freitag 2005: 145). Bezüglich der zu erhebenden Elemente wird in der Literatur auf eine Anzahl „from 6 [...] elements“ (Neimeyer 2003: Absatz 3) bis ca. 20 Elemente verwiesen. Diese werden in einem entsprechenden Formblatt schriftlich fixiert, wie exemplarisch anhand von Material der im ersten Teil des Buches dargestellten Studie der Autorin verdeutlicht wird (vgl. Abb. 1).

2

In Abhängigkeit vom Untersuchungsinteresse können dies beispielsweise Personen, Ereignisse oder physikalische Einheiten sein. 3 Alle Abbildungen, durch die im Folgenden Möglichkeiten der Erhebung und Auswertung von Repertory Grid Interviews exemplifiziert werden, sind dem im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Jugendhilfe im Wandel“ (12/2005 bis 11/2008) geförderten Dissertationsprojekt „Hin-Sichten professioneller Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe. Zur Bestimmung der Kategorie Adressat“ entnommen. Trotz des Fokus der Studie auf das qualitative Potential der Repertory Grid Technique werden zu Demonstrationszwecken die aus einem Interview mit einem Diplom-Sozialpädagogen FH stammenden Daten, soweit möglich, auch einem quantifizierenden Prozedere unterzogen. 4 Diskussionswürdig ist, inwieweit von einer quantitativen Gestalt von Repertory Grid Interviews gesprochen werden kann, zumindest dann, wenn die für repräsentative Generalisierung (vgl. Lewis & Ritchie 2003: 264) notwendigen Fallzahlen nicht gegeben sind. Um diese Diskussion zu umgehen, wird im Folgenden von quantifizierenden Verfahren gesprochen.

Repertory Grid Methodik

Abbildung 1:

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Repertory Grid Formblatt: Elementzeile5

Die den Untersuchungsgegenstand repräsentierenden Elemente, die zur Visualisierung für den Interviewten auf Karten festgehalten werden können, werden dann vom Befragten mit seinen subjektiven Interpretationen von ›Wirklichkeit‹ beschrieben. In Kellys Terminologie als persönliche Konstrukte bezeichnet, konstituieren sich diese „[…] as having two poles, a pole of affirmation and a negative pole [...]” (Bannister & Fransella 1986: 12). Gemäß der Idee der philosophischen Grundlegung des Konstruktiven Alternativismus vertritt Kelly die Annahme einer Bipolarität persönlicher Konstrukte jedoch nicht dem Verständnis zufolge, „that it is nature’s ultimate revelation“ (Kelly 1955a: 106), sondern als eine mögliche – plausibel begründbare – Konstruktion von ›Wirklichkeit‹.

5

Der „Ideale Adressat“ ist im Rahmen der Interviews zur Untersuchung von Hin-Sichten professioneller Akteure als einziges Element vorgegeben worden.

284 Abbildung 2:

Nina Thieme

Repertory Grid Formblatt: Konstruktspalte

Die Konstrukterhebung erfolgt in der Regel nach der „Triadenmethode“6 (Scheer 1993: 26): Der Interviewee sucht drei der in der Elementzeile schriftlich fixierten Elemente aus und verbindet zwei durch eine Gemeinsamkeit in Abgrenzung zu einem Attribut, mit dem das dritte Element beschrieben wird. Im vorliegenden Beispielinterview hat der Interviewte, ablesbar in der Triadenspalte, eine erste Triade aus dem Element sieben (Paddy), dem Element zwei (Mike) und dem Element sechs (Madeleine) gebildet, wobei er Paddy und Mike mit dem Attribut ›gute Qualität des Kontaktes‹ verbindet und Madeleine den kontrastierenden Konstruktpol ›schlechte Qualität des Kontaktes‹ zuweist. Der Vorgang der Bildung von bipolaren Konstrukten erfolgt orientiert an der Anzahl der Elemente, „[m]an fährt fort, bis man ungefähr soviele [sic!] Konstrukte hat, wie Elemente vorlagen“ (Scheer 1993: 26). 6

Auch die Bildung von Dyaden zur Konstrukterhebung ist möglich, insbesondere dann, wenn ein weniger komplexes Vorgehen für das Interview sinnvoll erscheint, beispielsweise, wenn der Interviewee ein Kind ist.

Repertory Grid Methodik

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Abgeschlossen wird die Erhebung in „eher quantitativ angelegten Untersuchungsdesigns“ (Meyer & Freitag 2005: 145) mit einem rating. Verbreitet ist eine 5- bis 7-stufige Rating-Skala (vgl. Fromm 1995a: 44). Abbildung 3:

Repertory Grid Formblatt: rating

Im vorliegenden Material wurde eine 7-stufige Rating-Skala verwendet: Exemplarisch lässt sich für den „Idealen Adressaten“ konstatieren, dass dieser vom Interviewten mit Extremwerten hinsichtlich der erhobenen Konstrukte beurteilt worden ist. Beispielsweise kennzeichne er sich durch eine extrem schlechte Qualität des Kontaktes zu den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Einrichtung, durch einen extremen Mangel an sozialer Kompetenz und durch einen extrem mit Selbstzweifeln behafteten Umgang mit seiner Umwelt und Menschen. Die an einer quantifizierenden Logik orientierte Erhebung des Datenmaterials endet mit „isolierten und damit vieldeutigen Begriffen [...]“ (Fromm 1995b: 139), ohne einen für quantifizierende Verfahren aufgrund der Größe der Studie unpraktikablen Mehraufwand der Erläuterung der Konstrukte durch den Interviewten einzufordern.7 Ein derartiges Vorgehen, welches nur mit den durch das rating entstandenen Urteilen arbeitet und gleichzeitig Beschreibungen der Konstrukte ausblendet, erscheint jedoch inkompatibel mit dem methodologischen Standpunkt von Repertory Grid, demzufolge der Mensch 7

Beispielsweise lässt sich über die subjektive Bedeutung des persönlichen Konstruktes ›gute Qualität des Kontaktes – schlechte Qualität des Kontaktes‹ nur spekulieren.

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›Wirklichkeit‹ mit einzigartigen personal constructs aktiv konstruiere (vgl. dazu auch Dick 2000: Absatz 11). „[U]m [diese] [...] subjektive Bedeutung der erhobenen persönlichen Konstrukte möglichst treffend zu erfassen [...]“ (Fromm 1995a: 176), sind ausführliche Präzisierungen durch den Interviewee, die auf qualitative Vorgehensweisen konträr zu quantifizierenden Designs zielen, unumgänglich. Qualitatives Vorgehen In qualitativ orientierten Repertory Grid Interviews geht es primär um die narrative Fundierung der durch den Interviewee benannten Konstrukte, um eine angemessene Deutung des gemeinten Sinns überhaupt möglich zu machen.8 Exemplarisch lässt sich das Gesagte am Material verdeutlichen: Eine quantifizierende Vorgehensweise endet mit der Erhebung des vom Professionellen genannten Konstruktes ›gute Qualität des Kontaktes – schlechte Qualität des Kontaktes‹, dessen Deutung, wenn es nicht isoliert und vieldeutig bleiben soll, zwingend eine ausschließliche Interpretation des Deutenden erfordern würde. Ein qualitatives Vorgehen ermöglicht dagegen eher eine Annäherung an das subjektive Relevanzsystem des Interviewten9, das Konstrukt ›gute Qualität des Kontaktes – schlechte Qualität des Kontaktes‹ erfährt, wie der folgenden Interviewsequenz zu entnehmen ist, eine Präzisierung durch den Interviewee.

8

Allerdings ist auch in qualitativ orientierten Vorgehensweisen „[d]er vom Deutenden erfaßte subjektive Sinn [...] bestenfalls ein Näherungswert zu dem gemeinten Sinn des Sinnsetzenden, aber niemals dieser selbst, denn dieser hängt von den Auffassungsperspektiven und dem notwendig immer fragmentarischen Vorwissen um die Deutungsschemata des Du ab“ (Schütz 1974: 181). 9 Analog zu Reichertz formuliert gibt es hinsichtlich der Erhebungs- und Auswertungsverfahren von Repertory Grid Interviews nicht nur „die Alternative zwischen absoluter Aufklärung und Blindheit“ (Reichertz 2003: 338) in Bezug auf die Re-Konstruktion des Sinns persönlicher Konstrukte der Befragten, sondern man kann die Bandbreite von Methoden differenzieren in solche, die der methodologischen Position von Repertory Grid eher widersprechen und solche, die dem methodologischen Standpunkt eher entsprechen.

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In Abgrenzung zu quantifizierenden Untersuchungsdesigns steht im Zentrum einer qualitativ orientierten Erhebung „der [...] Vorgang der Versprachlichung von sozialen Phänomenen“ (Lamnek 2002: 157), der durch das methodisch spezifische Vorgehen der Repertory Grid Technique strukturierend unterstützt wird. Möglichkeiten der Auswertung Quantifizierendes Untersuchungsdesign „Die Vielfalt der Auswertungs- und Analysemethoden reduziert sich in der Praxis weitgehend auf das, was sich mit dem Computerprogramm, das man – mehr oder weniger zufällig – gerade hat, rechnen läßt“ (Fromm 1995a: 175). Neben der Möglichkeit einer Handauswertung (vgl. dazu Fromm 1995a: 183ff.) stehen für computergestützte Analysen von Repertory Grid Daten zahlreiche spezialisierte Programme zur Verfügung (vgl. u.a. Fromm 1995a: 162ff.; Willutzki & Raithel 1993: 68ff.). Abhängig davon, ob das Forschungsinteresse darauf gerichtet ist, „[to study] personal [or] interpersonal systems of meaning“ (Neimeyer 2003: Absatz 1), sind Programme zu wählen, die entweder über keine oder aber über eine „Shared-Grids-Option [verfügen], [...] [die erlaubt], mehrere Einzel-Grids miteinander auf Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit zu vergleichen, sofern diese die gleichen Elemente und Konstrukte enthalten“ (Dick 2006: Absatz 44). Bei der Auswertung von Einzelgrids reicht das Spektrum eines computergestützten Vorgehens „von einfachen Verteilungsmaßen über zahlreiche mehr oder weniger nützliche Indizes bis zu verschiedenen Varianten der Cluster- und Hauptkomponentenanalyse“ (Fromm 1995a: 192). Unter Einsatz des von Bacher & Fromm entwickelten Programmpakets GridSuite (vgl. u.a. 2004) soll im Folgenden anhand des Beispielmaterials zumindest ansatzweise, jedoch unkommentiert10 verdeutlicht werden, welche Möglichkeiten spezialisierte Software zur Auswertung von Grid Daten eröffnet.

10 Da von der Autorin für eine qualitative Ausgestaltung von Repertory Grid Interviews plädiert wird, erfolgt keine detaillierte Explikation der quantifizierenden Auswertungsmöglichkeiten (vgl. dazu u.a. Meyer & Freitag 2005).

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Abbildung 4:

Clusteranalyse (graphische Darstellung): Dendrogramm

Abbildung 5:

Hauptkomponentenanalyse (graphische Darstellung)

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„Wie weit das, was routiniert gerechnet und mit imposanten Grafiken präsentiert werden kann, im Hinblick auf die untersuchten Phänomene noch einen Sinn ergibt, wird [...] allerdings selten thematisiert“ (Fromm 1995b: 134), denn „[...] Korrelationstabellen, Clusterbäume, Faktorenberechnungen und Plots [...] [lassen] schnell in Vergessenheit geraten [...], dass [bei quantifizierenden Varianten der Repertory Grid Methodik] z.T. Urteile mit höchster numerischer Exaktheit verrechnet werden, die von Kommentaren der folgenden Art begleitet wurden: »Ich glaub, ich leg das einfach mal hierhin, oder so«“ (Fromm 2002: 210). Qualitatives Vorgehen Sowohl die von Fromm in Frage gestellte Sinnhaftigkeit als auch das erläuterte Defizit einer Nichtkompatibilität quantifizierender Strategien mit dem methodologischen Standpunkt von Repertory Grid begründen die Notwendigkeit einer Erweiterung des Blicks in Richtung qualitative Auswertungsverfahren, die gegenwärtig im Kontext von Repertory Grid immer noch eine Ausnahme repräsentieren. Inhaltsanalytisches Vorgehen Bereits Kelly hat Vorschläge zu einer qualitativen Handhabung formuliert, deren Charakter als konstruktsystematisierend bezeichnet werden kann. Demzufolge werden Konstrukte durch den Deutenden nach bestimmten Kategorien zusammengefasst und geordnet, beispielsweise nach Situativität (situational constructs), Oberflächlichkeit (superficial constructs), Unbestimmtheit (vague constructs) (vgl. 1955a: 232ff.). „[Wenn es, wie bei qualitativen Vorgehensweisen, jedoch] darum geht, möglichst genau zu verstehen, wie eine Person einen Erfahrungsbereich konstruiert, ist jede inhaltliche Einflußnahme des Interpreten problematisch [...]“ (Fromm 1995a: 176). Die Vorschläge Kellys einer Revidierung unterziehend, versucht Fromm, die inhaltliche Einflussnahme des Interpreten zu minimieren. „Die grundsätzliche Strategie besteht [...] darin, jeweils zunächst alle einschlägigen expliziten Äußerungen“ (1995a: 178) des Befragten zu seinen Konstrukten zusammenzustellen, die sich auf die von ihm angewandten Konstrukte, auf die Art und Weise der Anwendung sowie auf das Verhältnis der Konstrukte untereinander beziehen und anschließend eine Paraphrasierung der Konstrukte vorzunehmen (vgl. ebd.). Auch wenn, im Gegensatz zur inhaltsanalytischen Vorgehensweise Kellys, keine subsumtionslogische Systematisierung der Konstrukte unter vorgegebene Kategorien stattfindet, kann durch die Verfahrensschritte nach Fromm dennoch nicht vermieden werden, dass der Interpretierende ausgehend von „seiner Perspektivik und der eigenen Sprache“ (Reichertz 2003: 336) eine Zusammenstellung und Paraphrasierung der persönlichen Konstrukte des Interviewten vornimmt. Sequenzanalytisches Vorgehen Um – wie durch die methodologische Position von Repertory Grid ausdrücklich formuliert – eine möglichst angemessene Annäherung an die subjektive Bedeutung der persönlichen Konstrukte des Befragten zu erreichen, sind Auswertungsverfahren anzuwenden, die nicht wie quantifizierende oder inhaltsanalytische Prozeduren hinter diesem explizit artikulierten Anspruch zurückbleiben.11 11 Dennoch wird nicht dafür plädiert, „die Frage ernsthaft zu diskutieren, ob [...] [generell] Verfahren ›wirklich‹ in der Lage sind, unsere Perspektivität oder die Grenzen dieser Perspektivität zu beseitigen: Denn es kann keinen Zweifel daran geben, dass sie dazu nicht in der Lage sind. Kein[ ] [...] Verfahren vermag es, den Schleier von den ›Sachen selbst‹ wegzuziehen, also einen Zugang zur Wirklichkeit zu

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Am ehesten Berücksichtigung erfährt der Anspruch der Individualität persönlicher Konstrukte durch Verfahren datengestützter Perspektivendekonstruktion, insbesondere durch eine an der hermeneutischen Wissenssoziologie orientierte Sequenzanalyse. „Die strikte Durchführung einer Sequenzanalyse (also der extensiven hermeneutischen Auslegung von Daten in ihrer Sequentialität) kostet nicht nur immens viel Zeit, sondern sie zerstört im Prozeß der systematischen und gesteigerten Sinnauslegung alle Selbstverständlichkeiten der eigenen Perspektivik und der eigenen Sprache. Strikte Sequenzanalysen führen dazu, daß alle geltenden oder für [den Interpreten] gültigen Vorurteile, Urteile, Meinungen und Ansichten in der Regel schnell zusammenbrechen“ (Reichertz 2003: 336). Eine durch ein derartiges Vorgehen gewährleistete Perspektivendekonstruktion garantiert am ehesten eine angemessene Erfassung subjektiver Interpretationen von ›Wirklichkeit‹, während quantifizierende und inhaltsanalytische Verfahren in unterschiedlichem Ausmaß dem in Kellys Werk explizit artikulierten Anspruch der Individualität persönlicher Konstrukte, den es nicht nur theoretisch zu entfalten, sondern auch methodisch umzusetzen gilt, nicht gerecht werden. Literatur Bacher, Andreas & Fromm, Martin (2004): GridSuite 2 (Software). Stuttgart. Bannister, Don & Fransella, Fay (1986): Inquiring man: The psychology of personal constructs, 3. edition. London, Sydney & Dover: Croom Helm. Burr, Vivien (2003): Constructivism. In: Lewis-Beck, Michael; Bryman, Alan E. & Futing Liao, Tim [Hrsg.]: The SAGE encyclopaedia of social science research methods. Volume 1. Thousand Oaks: Sage, S. 185 – 186. Catina, Ana & Schmitt, Gustel M. (1993): Die Theorie der persönlichen Konstrukte. In: Scheer, Jörn W. & Catina, Ana [Hrsg.]: Einführung in die Repertory Grid-Technique. Band 1: Grundlagen und Methoden. Bern, Göttingen, Toronto & Seattle: Verlag Hans Huber, S. 11 – 23. Dick, Michael (2000): Die Anwendung narrativer Gridinterviews in der psychologischen Mobilitätsforschung. In: Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 1, Heft 2, 39 Absätze. URL: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-00/2-00dick-d.htm [Datum des Zugriffs: 18.04.2008]. Dick, Michael (2006): Das Repertory-Grid-Interview als Methode kooperativen Forschungshandelns. Rezensionsaufsatz: Fromm, Martin (2004): Introduction to the Repertory Grid Interview/Fromm, Martin & Bacher, Andreas (2003-2004): GridSuite 2.1.0 (Software zur Erhebung, Bearbeitung und Auswertung von Repertory-Grid-Interviews). In: Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 7, Heft 2, 49 Absätze. URL: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-06/06-2-6-d.htm [Datum des Zugriffs: 18.04.2008]. Fransella, Fay & Bannister, Don (1977): A manual for repertory grid technique. London, New York & San Francisco: Academic Press. Fransella, Fay & Neimeyer, Robert A. (2005): George Alexander Kelly: The man and his theory. In: Fransella, Fay [Hrsg.]: The essential practitioner’s handbook of personal construct psychology. Chichester: John Wiley & Sons. Fromm, Martin (1995a): Repertory Grid Methodik. Ein Lehrbuch. Weinheim: Deutscher Studienverlag. Fromm, Martin (1995b): Repertory Grid Technique – Netzinterview. In: König, Eckhard & Zedler, Peter [Hrsg.]: Bilanz qualitativer Forschung. Band II: Methoden. Weinheim: Deutscher Studienverlag, S. 133 – 157. ermöglichen – einen Zugang zudem, der allen anderen, wenn sie gewissenhaft der angegebenen Prozedur folgten, ebenfalls möglich ist“ (Reichertz 2003: 337, Hervorheb. im Original).

Repertory Grid Methodik

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Das Paarinterview als Erhebungsinstrument in der sozialpädagogischen (Familien)Forschung Nadine Lauer „Symbolische Macht ist die Macht, Dinge mit Wörtern zu schaffen.“ (Pierre Bourdieu – Sozialer Raum und symbolische Macht, 1992)

Przyborski und Wohlrab-Sahr (2008) konstatieren, dass das Paar- und Familieninterview in der Sozialforschung weitaus weniger häufig verwendet wird, als Einzel- oder Gruppeninterviews (ebd., 122). Wie Reichertz (2007) formulieren würde, handelt es sich bei dem Paar- resp. Familieninterview jedoch um eine bisher wenig „elaborierte“ Methode (ebd., 198). Der folgende Artikel widmet sich primär dem Paarinterview als Erhebungsinstrument und stellt den Versuch einer method(olog)ischen Annäherung unter Berücksichtigung relevanter Aspekte sozialpädagogischer Forschung dar. Der Artikel leistet somit einen Beitrag zur Weiterentwicklung des bislang wenig diskutierten, kollektiven Erhebungsverfahrens. Die Diskussion des Instruments soll jedoch nicht unabhängig vom zugrunde liegenden Forschungsprojekt stattfinden. Daher erfolgt zunächst ein kurzer Überblick über dessen zentrale Fragestellungen. Da die Ebene der Performanz einen wichtigen und zentralen Gesichtspunkt im Paarinterview repräsentiert, widmen sich die Ausführungen insbesondere denjenigen Implikationen, die diesbezüglich von besonderem Interesse sind. Zum Schluss erfolgt eine kurze Zusammenfassung der method(olog)ischen Überlegungen zum Paarinterview als Erhebungsinstrument in der sozialpädagogischen Forschung. Der Nutzen sozialpädagogischer Dienste im Spannungsfeld zwischen De- und Re-Subjektivierung1 (Ehe-)Paare und Familien, die über Erfahrungen in Zwangskontexten2 der Fremdunterbringung verfügen, bewegen sich in einem Spannungsfeld de- und re-subjektivierender Zuschreibungen und Praktiken. Die Herausnahme eines Kindes als Eingriff in die elterliche Erziehungsverantwortung symbolisiert einen Akt der Aberkennung der Handlungsautonomie und Deutungsmacht der Eltern hinsichtlich ihrer Fürsorgepflicht gegenüber dem Kind. Die Institution greift zum Wohle des Kindes in das Familiengefüge ein und schränkt dadurch die Berech1

Der Begriff der Subjektivität bzw. Subjektivierung wird an dieser Stelle primär im Sinne einer selbstbestimmten Handlungs- und Deutungsfähigkeit verstanden. 2 Wann ein Kontext als Zwangskontext bezeichnet werden kann, bedarf einer genaueren Analyse. So definiert Kähler (2005) Zwangskontexte als „von außen“ bzw. „fremdinitiierte“ Kontexte, „wenn andere Menschen darauf drängen, dass jemand einen Sozialen Dienst aufsucht“ (z.B. gesetzliche Verpflichtung zur Kontaktaufnahme). Die Freiwilligkeit wiederum ist von einer „selbstinitiierten“ Kontaktaufnahme geprägt, die zwar in den Lebensumständen begründet ist, aber stärker intrinsisch motiviert ist (ebd., 7). Inwiefern diese Definition von ‚Zwangskontexten’ ausreicht, wird an anderer Stelle noch diskutiert. Hier wird dieser eher allgemeinen Definition von ‚Zwangskontexten’ aufgrund einer anderen thematischen Schwerpunktsetzung des Artikels zunächst zugestimmt. G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_19, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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tigung der Eltern auf Selbstbestimmung und Umsetzung ihrer erzieherischen Aufgaben ein, welches bis zur Aberkennung des Status als Erziehungsberechtigte gehen kann (Prozess der DeSubjektivierung). Gleichzeitig wird den Erziehungsberechtigten, sofern eine Rückführung des Kindes in die Familie nicht ausgeschlossen ist, nach vorheriger Aberkennung bzw. Einschränkung der Handlungs- und Deutungsautonomie als Eltern, die Möglichkeit der ‚Wiedererlangung’ ihrer Selbstbestimmungsautonomie über die Nutzung entsprechender Dienstleistungsangebote eingeräumt (Prozess der Re-Subjektivierung). Das Dissertationsvorhaben verfolgt das Ziel Akte der De- und Re-Subjektivierung aus Sicht der NutzerInnen zu rekonstruieren und diese auf der Basis subjekt-, macht- und interaktionstheoretischer Ansätze zu analysieren. Im Vordergrund des vorliegenden Forschungsvorhabens stehen folglich die sozialen Bedingungen von und die sozialen Beziehungen in (Zwangs-)Kontexten der Hilfen zur Erziehung aus NutzerInnensicht, um (Un-)Möglichkeiten der NutzerInnen sich selbst als Akteure ihrer Lebenspraxis bereifen zu können zu eruieren. Die empirische Annäherung erfolgt über ein multiperspektivisches Forschungsdesign, welches sowohl Sinnkonstruktionen der Akteure als auch konkrete Interaktionskontexte erfasst. Ersteres wird über die Forschungsfrage, welchen Sinn Eltern der ihnen gewährten Hilfe (SPFH) unter den Umständen der De- und Re-Subjektivierung verleihen, fokussiert. Über offene Interviews werden Elemente der „kognitive[n] Strukturierung von ‚Welt’, die die Handelnden implizit leisten“, erhoben und als Teile des praktischen Wissens betrachtet, „die sich in sozialen Praktiken aktualisieren“ (Reckwitz 2004, 44). Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, wie NutzerInnen die Ambivalenz3 von Deund Re-Subjektivierung in der Interaktion mit den Professionellen bewältigen. Zu diesem Zweck wurden Gespräche zwischen Professionellen und NutzerInnen während der wöchentlich stattfindenden Hausbesuche aufgezeichnet sowie Beobachtungsprotokolle erstellt. Das Paarinterview als Erhebungsinstrument – eine method(olog)ische Annäherung Das im Kontext der Studie entstandene Paarinterview wurde im Zeitraum einer 4-wöchigen Hospitation im Handlungsfeld der Hilfen zur Erziehung in einem Kreisjugendamt einer Kleinstadt durchgeführt. Die Familie wurde zum Zeitpunkt des Interviews seit ca. 1 ½ Jahren nach §31 SGB VIII (Sozialpädagogische Familienhilfe) betreut. Die Inanspruchnahme der Hilfe seitens der Eltern basierte auf einer unfreiwilligen Freiwilligkeit4, die an dieser Stelle als ‚Zwangskontext’ verstanden wird. 3

Der Ambivalenz-Begriff geht auf die Überlegungen Zygmunt Baumans zurück, dessen Ambivalenzverständnis eng mit dem der Ambiguität verbunden ist. So fasst Junge (2007) zusammen, dass i.S. Baumans „die sozialtheoretische Diskussion von Ambiguität und Ambivalenz […] als Folge eines Klassifikationsproblems“ begriffen werden kann (ebd., 79; Hervh. i. O.). Junge folgert weiter, dass das Ambivalenzkonzept Baumans u.a. „als Angelpunkt zeitdiagnostischer Analysen von Vergesellschaftungszusammenhängen“ fungiert (ebd.). 4 Nach der „Wegnahme“ des ersten Kindes zog die Mutter aufgrund einer neuen Paarbeziehung in eine andere Region, womit ein Wechsel des zuständigen Jugendamtes einherging. Nach einiger Zeit wurde sie von dem neuen Lebensgefährten und jetzigen Ehemann wieder schwanger. Die zuständige Sozialarbeiterin berichtete, dass die Installation der SPFH aufgrund der Sicherstellung des Kindeswohls des noch ungeborenen Kindes erfolgte. Die Eltern berichteten, dass sie zum Zeitpunkt der Schwangerschaft selbstständig den Kontakt zum zuständigen Jugendamt aufnahmen und die SPFH beantragten, um zu vermeiden, dass das zweite Kind ebenfalls aus der Familie genommen und gleichzeitig die Rückführung des ersten Kindes beschleunigt wird.

Das Paarinterview als Erhebungsinstrument in der sozialpädagogischen (Familien-)Forschung

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Die Kontaktherstellung zwischen der Forscherin und den Eltern erfolgte über die zuständige Sozialarbeiterin. Diese Art des Feldzugangs ist nicht unkompliziert, da die Forscherin seitens der Befragten als Person wahrgenommen wird, die den Erstkontakt zu den Professionellen pflegt und von diesen an sie heran getragen wird. Dies kann, je nach der Qualität der Beziehung zwischen Professionellen und den NutzerInnen, zu anfänglichem Misstrauen gegenüber der Forscherin führen. Um dem entgegen zu wirken, fand vor dem Interview ein Gespräch mit den potenziellen Interviewten ohne den/die zuständige/n SozialarbeiterIn statt. Dort wurden sowohl das Thema (Hilfe in den ambulanten Sozialen Diensten) als auch das Forschungsinteresse (Welche Erfahrungen haben Sie in der Zeit der Hilfe gemacht?) erläutert und bei Bereitschaft ein Interviewtermin vereinbart. Teilweise deutete sich in diesen Vorgesprächen schon die Präferenz der Befragten als Interaktionseinheit aufzutreten an. Das Forschungsdesign sah zu Beginn der Datenerhebung offene Einzelinterviews mit NutzerInnen ambulanter Hilfen zur Erziehung vor, um über die Evozierung von Narrationen kognitivstrukturierende Elemente praktischen Wissens zu erfassen ([Hilfs-]Konstruktionen). Eine problemlose Durchführung der Einzelinterviews ließ sich insbesondere in den Fällen verzeichnen, in denen es sich um alleinerziehende Elternteile mit Kleinkindern (ausschließlich Frauen) handelte. Versuche in anderen Familien, Interviews mit einzelnen Familienmitgliedern durchzuführen, scheiterten demgegenüber. Beispielsweise kamen zwei geplante Einzelinterviews mit einer Mutter und ihrem 16-jährigen Sohn auch nach mehreren Anläufen nicht zustande. Schon im Vorgespräch fragte die Mutter mehrmals, ob die Interviews getrennt von einander stattfinden müssten, was wiederholt begründet und an dem festgehalten wurde. Dass dies letzten Endes der Grund für das Scheitern der Interviews war, lässt sich nicht belegen. Dennoch kann die von der Mutter mehrfach gestellte Frage als impliziter Wunsch einer gemeinsamen Befragung mit dem Sohn interpretiert werden. Auch das vorliegende Paarinterview war als Einzelinterview mit der Mutter geplant. Doch dann wurde dem Wunsch der Befragten zu zweit an dem Gespräch teilzunehmen nachgekommen. Ausschlaggebend waren zum einen die vorherige Erfahrung des Scheiterns und zum anderen die Ausgeglichenheit der Redeanteile der Gesprächspartner, die dazu durch gegenseitige Rücksichtnahme des Sprecher-Zuhörer-Verhältnisses geprägt war. Gleichzeitig drängte sich jedoch die Frage auf, was sich hinter diesem Phänomen des Wunsches der „Kopräsenz“ im Interview verbirgt (Goffman 1982). Ausgehend von der Annahme Goffmans, dass das Individuum in face-to-face Begegnungen jeweils etwas Verschiedenes darstellen kann, wird das vorliegende Paarinterview aus interaktionstheoretischer Perspektive näher betrachtet. Das Paarinterview als performativer Akt im Kontext sozialpädagogischer Forschung Przyborski und Wohlrab-Sahr (2008) betonen, dass der Vorteil des Paar- resp. Familieninterviews darin liege, dass die GesprächspartnerInnen in der Situation als Paar bzw. Familie kommunizieren, interagieren und folglich inszenieren, und somit die „Ebene der Performanz“5 von besonderer Relevanz für dieses Erhebungsinstrument sei (ebd., 122). Ausgehend von dem Performanzverständnis’ Goffmans (performance) im Sinne einer „Darstellung“, die als Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers oder im Falle des Paarinterviews als Miteinander zwi5

Przyborski und Wohlrab-Sahr definieren an dieser Stelle nicht, welchem „Performanz“-Verständnis sie folgen. In Anlehnung an die von Schuegraf (2008) in einem anderen Kontext stattgefundenen Überlegungen der unterschiedlichen theoretischen Konzepte von „Performance – Performanz – Performativität“ erscheint eine Diskussion um den „Performanz“-Begriff im Kontext des Paar- bzw. Familieninterviews hinsichtlich einer differenzierten methodologischen Auseinandersetzung mit dem Erhebungsinstrument unausweichlich.

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schen mehreren Teilnehmern an einer bestimmten Situation verstanden werden kann, die andere Teilnehmer in irgendeiner Weise beeinflusst, werden einige method(olog)ische Überlegungen zum Paarinterview als performativer Akt erfolgen (vgl. Goffman 2005). Wie es generell bei Interviews zu Forschungszwecken der Fall ist, handelt es sich auch bei dem Paarinterview um ein wissenschaftlich inszeniertes Kommunikationssetting, in dem die Interviewpartner ihre Rollen interaktiv herstellen. Der/die ForscherIn spricht dabei die Interviewpartner in einer bestimmten Rolle (‚Experten’ für etwas) an. Prinzipell beruht die Interaktion jedoch auf der gegenseitigen ‚Fremdheit’ der Interaktionspartner. Kalthoff formuliert in Anlehnung an Schütz (1972), dass der/die ForscherIn insbesondere den InterviewpartnerInnen primär als „ein Mensch ohne Geschichte“ entgegentritt (Schütz 1972, 60; zit.n. Kalthoff 1997, S. 240). Diese ‚Fremdheit’ kann nur bedingt im Rahmen regelmäßiger Begegnungen relativiert werden. In der Regel gestaltet sich dies bei Interviews schwierig, da diese, im Gegensatz zu ethnographischen Erhebungsmethoden lediglich mit einem kurzen Aufenthalt im Forschungsfeld verbunden sind, aus dem sich die ForscherInnen nach Durchführung des Interviews wieder zurück ziehen. Im Falle der vorliegenden Forschung fanden im Rahmen der 4-wöchigen Hospitation mehrere Begegnungen zwischen der Forscherin und den Interviewpartnern statt. Die Kontaktaufnahme bzw. -herstellung zu den Eltern erfolgte dabei über die Sozialarbeiterin, sodass im Vorfeld jeweils Gespräche mit der Sozialarbeiterin über die jeweiligen ‚Anderen’ (Forscherin bzw. Eltern) gesprochen wurde. Das Sprechen über die ‚Anderen’ gestaltete sich allerdings sehr unterschiedlich. Beim Sprechen über die Eltern wurden u.a. auch die privaten Verhältnisse dieser, die familiären und persönlichen, zum Gegenstand des Gesprächs zwischen Forscherin und Professioneller gemacht. Dies führte zu einer aktiven Konstruktion der Eltern als ‚KlientInnen’/‚NutzerInnen’ etc. Sozialer Arbeit. Darüber hinaus befindet sich die Forscherin in einem machtvollen Status, der sich dadurch auszeichnet, dass die Forscherin zum einen mehr über die Eltern als NutzerInnen der Sozialpädagogischen Familienhilfe, ihre aktuelle familiäre Lebenssituation etc. weiß als umgekehrt und zum anderen als Folge dessen auch über dieses Wissen verfügen kann. Die Konstruktion der NutzerInnen als solche nimmt in der direkten face-toface Interaktion ihren Fortlauf, in dem sich die Forscherin unter einer spezifischen Fragestellung für ihre Erfahrungen als ‚KlientInnen’/‚NutzerInnen’ Sozialer Dienste interessiert.6 Dieser den Interviewpartnern von Außen zugeschriebenen Rolle fügen sich diese jedoch nicht. Mit dem Wunsch der Interviewpartner das Interview gemeinsam durchführen zu wollen, welchem aufgrund der vorherigen Erfahrungen nachgegangen wurde, traten die Interviewpartner als Interaktionseinheit (‚Ehepaar’) auf. Die Einheitskonstitution initiierten die Gesprächspartner und nicht wie üblicherweise der/die ForscherIn. Das Paarinterview eröffnete den Eltern somit einen Rahmen der aktiven Einflussnahme auf die Ausgestaltung ihrer Rolle als ‚KlientInnen’/‚NutzerInnen’ im Interviewkontext. Die „Kopräsenz“ des Ehepaares kann im Sinne Goffmans (1984) als „Partizipationseinheit“ bezeichnet werden, da die Akteure aufgrund der Selbstdarstellung während des Interviews als zusammengehörig wahrgenommen wurden und sich selbst als solche präsentierten7 (ebd., 43). Berücksichtigt man, dass die Interviewten in 6

Das Dilemma der Reproduktion von Konstruktionen und Zuschreibungen seitens der qualitativen Forschung haben Mecheril/Scherschel/Schrödter (2003) in einem Aufsatz zur „Wiederholung der alienierenden Zuschreibung durch qualitative Forschung“ ausgeführt (siehe auch Broden/Mecheril 2007 „Sprechen als soziale Praxis – Das Beispiel Wissenschaft“, ebd. 15ff.). 7 Sowohl auf der sprachlichen Ebene, als auch auf der außersprachlichen Ebene lassen sich am Datenmaterial Selbstrepräsentationen als ‚Ehepaar’, ‚Eltern’, ‚Familie’ oder andere einheitserzeugende Konstruktionen aufzeigen (sprachlich: „mein Mann“ [533; 891], „meine Frau“ [166], „das haben wir angestrebt“

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ihrer Rolle als ‚KlientInnen’ im Kontext der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) aktiv konstruiert werden und es dabei auch um die Konstruktion von „Familie“, „Elternschaft“ etc. geht8, bietet sich im Interview die Möglichkeit diese Konstruktionsleistung selbst und ohne den Einfluss der Ko-Produzenten (Professionellen9) zu vollziehen. Im Handlungskontext der Hilfe werden die NutzerInnen, und hier insbesondere in den Zwangskontexten, immer wieder mit der ‚Fragilität’ ihrer familialen bzw. partnerschaftlichen Beziehungen, u.a. durch die Herausnahme eines oder mehrerer Kinder, auch auf latentere Art und Weise, konfrontiert (Stichwort: De-Subjektivierung). Um diesem Bild der ‚Fragilität’, welches primär von Außen an sie herangetragen wird, entgegenzuwirken, kann der Kontext des Interviews als performativer Akt der Dekonstruktion dieser Fragilität verstanden werden, in dem die Akteure als Interaktionseinheit auftreten und dabei auf eine „kollektive Identität als Paar oder als Familie“ zurückgreifen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008, 123). Die von Przyborski und Wohlrab-Sahr geäußerte Kritik an dem Paar- und Familieninterview, dass die Interviewsituation den Gesprächspartnern abfordere, ein „Mindestmaß von Einheit [zu] etablieren und [zu] dokumentieren“ und deshalb eine gewisse Präsentationsfassade errichten müssten, welche allzu große Differenzen, „die Brüche in der kollektiven Identität dokumentieren oder verursachen könnten‚ unter dem ‚Teppich’ zu lassen“ (ebd., 123), kann in diesem Falle hauptsächlich für die Datenanalyse positiv gewendet werden und so gesellschaftlich relevante Konstruktionen stärker hervorbringen (Idealisierung gesellschaftlicher Rollenmuster). Denn die Kategorie ‚Ehepaar’ stellt eine allgemein akzeptierte soziale Institution dar, die rituell in der Form der Trauung ihren gesellschaftlich anerkannten Höhepunkt findet. Schäfer (2004) bezeichnet die Trauung und die damit verbundene Ehe auch als eine „idealisierte Institution“, die hoch integrativ wirkt. Welche Rolle Integrations- und Exklusionsmechanismen vor allem auf der Interaktionsebene im Kontext der SPFH spielen, wird in der Studie noch weiter eruiert und verfolgt. Das Paarinterview bietet sich in der sozialpädagogischen Forschung als performativer Raum symbolischer Machtausübung an, der im Sinne Sacks (1984) auf ein ‚being ordinary’ zielt und somit der im Hilfekontext stattfindenden sozialpädagogischen ‚Klientifizierung’ (vgl. Messmer/Hitzler 2007) durch Dekonstruktionsleistungen der Interviewten entgegenwirken kann. Methodische Umsetzung Das Paarinterview wurde als ein offenes Interview konzipiert. Dabei wird den Interviewten „eine aktive Gestaltung der Rollen im Gesprächsablauf ermöglicht“ (Rosenthal 2005, 126) und [25], „viele Ergebnisse haben wir noch nicht gesehen“ [31], „wir sind dahin gegangen“ [69] usw.; außersprachlich: abwechselnde Beschäftigung und Beaufsichtigung des gemeinsamen Kindes während des Interviews, fürsorgliche Gesten gegenüber dem Kind etc.). 8 Dies wird insbesondere in dem Gesprächsprotokoll des Hausbesuchs deutlich, in dem die Professionelle und die Mutter miteinander kommunizieren. So lassen sich Passagen erkennen, in denen die Professionelle auf Familien- und (Ehe-)Paarkonstruktionen zurück greift, die die Adressatin bzw. den Adressaten in unterschiedlichen Rollen, als ‚(Nicht-)Mutter’ als ‚Ehefrau’, als ‚Tochter’, als ‚Vater’ als ‚Ehemann’ etc. konstruieren (Beispiel-Zitate A-P1: „Es geht ja vielleicht auch darum, dass ihr Mann dann wenn hier wäre. [10f], „Ja die Tendenz hier hin zu kommen war doch (/) angesprochen von ihnen. Das ihre Mutter hier her kommt.“ [32f], „Ja ich hab ein bisschen die (/) Sorge, die Sorge hab ich nur, (/) wenn sie dahin ziehen und sich soviel A- (/4) ja sag ich mal hier Abstand von nehmen, von ihrem Mann, von dieser Wohnung, (/) ist ja ein zeitlicher Abstand, oder?“ [84-87], „Wenn man sich am Wochenende trifft ist ja noch mal was anderes (/) für ihn [der zweite Sohn] der Papa nicht da (/) jeden Tag.“ [90f] usw. 9 Zur rollenspezifischen Komplementarität zwischen ‚Professionellen‘ und ‚Klienten‘ vgl. Messmer/ Hitzler (2007).

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das Evozieren narrativer Passagen durch den Einsatz offener Erzählstimuli intendiert. Insgesamt wurden im Vorfeld drei erzählgenerierende Fragen entwickelt. Die erste Frage fokussierte den Kontext bzw. den Entwicklungsprozess der Hilfe („Wenn Sie sich einmal zurück erinnern, wie war das, als die Hilfe begann?“), während sich die zweite Frage auf den Verlauf bzw. die Aktivitäten innerhalb der Hilfeleistung richtete („Erzählen sie mir einmal, was Sie in den letzten Monaten/Jahren innerhalb der Hilfe gemacht haben.“). Die dritte Frage erstrebte eine Einschätzung der Gesprächspartner hinsichtlich des Leistungsangebots. Zu diesem Zweck wurden die Interviewten aufgefordert den Satz „Sozialpädagogische Familienhilfe ist für mich wie…“ zu beenden. Doch hier wurden schnell die Grenzen des Erhebungsinstrumentes gegenüber den Einzelinterviews deutlich. Es war zu beobachten, dass die Gesprächspartner neben gemeinsamen thematischen Relevanzen auch unterschiedliche Themen kommunizierten, die nicht konsequent weiterverfolgt wurden. Durch gegenseitige Ergänzungen wurden Erzählstränge ‚umgelenkt’, abgebrochen bzw. nicht weitergeführt. Beispielsweise thematisierte der Ehemann Aspekte, auf die seine Frau nicht weiter eingehen wollte und diese demzufolge ungesagt blieben. Vor dem Hintergrund des Motivs der Einheitskonstitution im Paarinterview sowie dem Motiv der ‚Deklientifizierung’ ist der thematische Abbruch nicht überraschend, da es sich um ein Thema handelte, welches die Mutter als Person einer defizitären Kindheit konstruiert hätte. Andererseits ergänzten sich die Interviewten gegenseitig bei der Schilderung unterschiedlicher Erzählaspekte, was zu einer facettenreicheren Darstellung einzelner Aspekt führte. Im Verlaufe des Gesprächs kristallisierten sich zentrale Inhalte heraus, die auf unterschiedlichen Ebenen zu verorten sind. So wurden neben Selbst- und Fremdzuschreibungen auch Ausführungen zum Hilfeprozess insgesamt getätigt. Diese kollektiven Sinnkonstruktionen werden als „sinnstrukturierte[s] Produkt[e] menschlichen Handelns“ betrachtet, die als potentielle Handlungsmotive ausgelegt werden können (Reichertz 2008, 250). Vornehmlich bei der Datenanalyse muss berücksichtigt werden, dass diese Konstruktionen Gegenwartskonstruktionen sind, welche situativ hergestellt wurden. Die in den Interviews geäußerten (Hilfs-)Konstruktionen werden dabei als „Ergebnis[se] einer kollektiven Deutungstätigkeit“ im Paarinterviews betrachtet, die durch Erlebtes und Erzähltes geprägt und in der vorliegenden Interviewsituation ihren Fortlauf nehmen (Reichertz 1999, 319). Diese Situiertheit der Aussagen wird im sequenzanalytischen Verfahren, hier in Anlehnung an die von Soeffner u.a. begründete hermeneutische Wissenssoziologie, aufgegriffen und berücksichtigt. Dies gewährleistet auch einen methodisch sorgfältigen Umgang mit dem Gesamtkontext. Denn Soeffner (2004) geht von der Prämisse aus, dass die Interaktions- und Interpretationssequenzen „einen Handlungszusammenhang repräsentieren, innerhalb dessen die Einzeläußerungen grundsätzlich über sich selbst hinausweisen und immer den Handlungsrahmen als Ganzen, als Horizont mit in Rechnung stellen“ (ebd., 81). Daraus folgert Soeffner weiter, dass es „keine Einzeläußerungen innerhalb eines Textes gibt, die ‚für sich’, als einzelne interpretierbar wären“ (ebd.). Jegliche Äußerungen seien interaktionstheoretisch in folgende Bezüge eingebettet: sie beziehen sich „auf die ihr vorausgehenden Äußerungen und den Handlungskontext insgesamt, auf die unmittelbar vorangehende Äußerung, sei es des Gegenübers oder des Sprechers selbst, auf die erwarteten oder erwartbaren Nachfolgeäußerungen, auf den Handlungs- und Sinnhorizont des Interaktionszusammenhanges als Ganzen“ (ebd.). In Anlehnung an die dargestellten Prämissen erfolgt die methodische Umsetzung des sequenziellen Verfahrens i.S. der hermeneutischen Wissenssoziologie in der Form, dass die Interpretation des ersten Interakts Kontextwissen sowie die darauf folgenden Sequenzen für die Interpretation zu Beginn der Analyse systematisch ausblendet, um möglichst viele Bedeutungen des Sprechaktes zu explizieren. In einem weiteren Schritt werden die möglichen Bedeutungen des ersten Interakts

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mit dem Interaktionsrahmen (faktischer Kontext) verglichen. Darauf basierend wird der nächste Interakt als eine Reaktion auf den ersten Interakt und dessen Kontext angesehen usw. Diese akribische Analyse vermeidet vorschnelle Deutungen aufgrund von Kontextwissen, welches zu einer Verzerrung der empirischen Daten führen kann. Gleichzeitig erscheint es notwendig, den sich auf die Erzählinhalte auswirkenden Inszenierungscharakter des Paarinterviews mit zu berücksichtigen. Zusammenfassung der method(olog)isch relevanten Überlegungen zum Paarinterview als Erhebungsinstrument in der sozialpädagogischen Forschung Insgesamt handelt es sich bei dem Paarinterview um ein Erhebungsinstrument, welches sich insbesondere für Forschungsvorhaben eignet, die an kollektiven Konstruktionsleistungen von Paaren (resp. Familien) interessiert sind. Wie bei anderen Interviewmethoden qualitativer Forschung handelt es sich auch bei dem Paarinterview um ein wissenschaftlich inszeniertes Forschungssetting, dessen Genese in der Datenanalyse systematisch reflektiert werden muss, da dies epistemologische Konsequenzen impliziert. Diesbezüglich stellt ein sequenzanalytisches Vorgehen, welches insbesondere das Wie der gemeinsamen Konstruktion zugänglich macht, ein adäquates Analyseverfahren dar. Entsprechend ist zu berücksichtigen, wie und von wem diese Rollenzuschreibungen initiiert werden, da sich dies auf die Interaktion und somit auf den Inszenierungscharakter der Akteure als (Ehe-)Paar oder Familie auswirkt. Darüber hinaus versucht ein sequenzanalytisches Verfahren den Kontext systematisch auszublenden und so Selbstverständlichkeiten zu dekonstruieren bzw. aufzudecken. Neben der Genese des Paarinterviews spielt der Gesamtkontext der Forschung eine wichtige Rolle. Der Forschungskontext (hier Zwangskontexte in den Hilfen zur Erziehung) als auch die Forschungsfrage sind von wesentlicher Bedeutung für den Interaktionskontext des Paarinterviews. Dabei bildet das Paar eine Partizipationseinheit gegenüber der InterviewerIn, die wiederum eine Art „Öffentlichkeit“ repräsentiert. Das Paar agiert als Interaktionseinheit, was dazu führt, dass Themen ausgehandelt und Schwerpunkte gemeinsam gesetzt werden. Hier zeigen sich auch Grenzen des Erhebungsinstruments. Die Themen werden nicht in dem Maße dargestellt, wie es in einem Einzelinterview der Fall sein kann. Narrative Elemente sind nur begrenzt evozierbar. Dennoch gibt es individuelle Schwerpunktthemen, die sich im Paarinterview rekonstruieren lassen. Der Effekt der Einheitskonstitution und Identitätskonstruktion als ‚Ehepaar’ führt dazu, dass nur selten Divergenzen auftreten und so unterschiedliche Positionen nicht unbedingt verbalisiert werden. Insbesondere (Zwangs-)Kontexte sozialpädagogischer Dienste, die Normalisierungsarbeit leisten und so von De- und Re-Subjektivierungspraktiken geprägt sind, die die NutzerInnen ambivalenten Bedingungen aussetzt, produzieren eher harmonisierende Darstellungselemente seitens der Akteure, um sich so den klientifizierenden Konstruktionen zu entziehen bzw. diese zu dekonstruieren. Dabei bildet dass Paarinterview einen Raum symbolischer Machtausübung, die es dem Paar erlaubt ihre bzw. gesellschaftlich anerkannte Normalisierungsmuster der Institution ‚Familie’ resp. als ‚Ehepaar’ performativ auszuführen. Um diese Stärke des Paarinterviews, die Ebene der Performanz optimal zu nutzen, d.h. das Interview auch als ein ethnographisches Protokoll zu betrachten, bieten sich der Einsatz offener Interviewformen und erzählgenerierende Stimuli an. Auch wenn das Aufkommen individueller narrativer Passagen eher unterbunden wird, lässt sich der Anspruch der gemeinsamen Konstruktion des Gesprächsgegenstands für die Rekonstruktion kollektiver Relevanzen für das Erkenntnisinteresse nutzen. Die Reflexion der eigenen ForscherInnenrolle ist hinsichtlich

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der Datenproduktion und vor allen Dingen in der Datenanalyse ein unabdingbarer Prozess, der auch im Hinblick auf die Durchführung des Paarinterviews während des gesamten Forschungsprozesses systematisch mit einbezogen werden sollte. Literatur Broden, Anne/Mecheril, Paul (2007): Sprechen als soziale Praxis – Das Beispiel Wissenschaft. In: Dies.: RePräsentationen. Dynamiken der Migrationsgesellschaft, Düsseldorf: BMFSFJ, S. 15 – 18 Goffman, Erving (1982): Das Individuum im öffentlichen Austausch – Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag Goffman, Erving (2005): Wir alle spielen Theater – Selbstdarstellung im Alltag. München: Pieper Verlag Junge, Matthias (2007): Ambivalenz: eine Schlüsselkategorie der Soziologie von Zygmunt Bauman. In: Junge, Matthias/Kron, Thomas (Hrsg.): Zygmunt Bauman. Soziologie zwischen Postmoderne, Ethik und Gegenwartsdiagnose, 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag, S. 77 – 94 Kalthoff, Herbert (1997): Fremdrepräsentation. Über ethnographisches Arbeiten in exklusiven Internatsschulen. In: Hirschauer, Stefan/Amann, Klaus (Hrsg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, S. 240 – 266 Kähler, Harro Dietrich (2005): Soziale Arbeit in Zwangskontexten – Wie unerwünschte Hilfe erfolgreich sein kann. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag Mecheril, Paul/Scherschel, Karin/Schrödter, Mark (2003): „Ich möchte halt von dir wissen, wie es ist du zu sein“. Die Wiederholung der alienierenden Zuschreibung durch qualitative Forschung. In: Badawia, T./Hamburger, F./Hummrich, M. (Hrsg.): Wider die Ethnisierung einer Generation. Beiträge zur qualitativen Migrationsforschung. Frankfurt a.M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation, S. 93 – 110 Messmer, Heinz/Hitzler, Sarah (2007): Die soziale Produktion von Klienten – Hilfeplangespräche in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang/Behrend, Olaf/Sondermann, Ariadne (Hrsg.): Fallverstehen und Deutungsmacht – Akteure in der Sozialverwaltung und ihre Klienten. Opladen: Barbara Budrich Verlag, S. 41 – 73 Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika (2008): Qualitative Sozialforschung – Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg Verlag Reckwitz, Andreas (2004): Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Budler. In: Hörning, Karl H. (Hrsg.): Doing Culture. Zum Begriff der Praxis in der gegenwärtigen soziologischen Theorie. Bielefeld: Transkript Verlag, S. 40 – 53 Reichertz, Jo (2007): Qualitative Sozialforschung – Ansprüche, Prämissen, Probleme. In: Erwägen – Wissen – Ethik 18, Heft 2, S. 1 – 14 Reichertz, Jo (2008): Die Macht der Worte und der Medien, 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag Reichertz, Jo/Hitzler, Ronald/Schröer, Norbert (Hrsg.) (1999): Hermeneutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretation, Bd. 1. Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz Rosenthal, Gabriele (2005): Interpretative Sozialforschung- Eine Einführung. Weinheim: Juventa Verlag Sacks, Harvey (1984): Doing Being Ordinary. In: Atkinson, J. M./Heritage, J. C.: Structures of Social Action: Studies in Conversation Analysis. Cambridge, S. 413 – 429 Schäfer, Alfred (2004): Differenzerzeugung und Macht. In: Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hrsg.): Innovation und Ritual – Jugend, Geschlecht und Schule, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 7. Jg., Beiheft 2. Wiesbaden: VS Verlag, S. 222 – 230 Schuegraf, Martina (2008): Theoretische Konzepte: Performance – Performanz – Performativität. In: Dies.: Medienkonvergenz und Subjektbildung – Mediale Interaktionen am Beispiel von Musikfernsehen und Internet. Wiesbaden: VS Verlag, S. 68 – 108 Schütz, Alfred (1972): Der Fremde. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze II. Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag: Jijhoff, S. 53 – 69 Soeffner, Hans-Georg (2004): Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Weinheim: UTB Verlag

Teilnehmende Beobachtung in medizinischen Vorsorgeuntersuchungen Frühe Kindheit und generationale Ordnung Anja Tervooren In der ethnographischen Kindheitsforschung, in welcher die Anwesenheit im Feld und damit die teilnehmende Beobachtung ins Zentrum gestellt wird, haben sich seit Mitte der 1980er Jahre im deutschsprachigen Raum zwei Untersuchungsschwerpunkte etabliert: Meistens im Kontext von Institutionen der Primarbildung werden zum einen Interaktionen der Kinder untereinander und zum anderen solche zwischen Pädagoginnen oder Pädagogen und Kindern analysiert. Auch wenn sich die Foci der Analysen unterscheiden, ist es jeweils das Ziel, sich der „Welt“ oder „Perspektive“ der Kinder anzunähern und vor allem deren Mitarbeit an den eigenen formellen und informellen Bildungsprozessen herauszuarbeiten. Drei Forschungstraditionen beeinflussten diese Schwerpunktsetzung. Erstens wurde die frühe Studie Martha Muchows „Die Lebenswelt des Großstadtkindes“, in welcher der Raum, „den das Kind lebt“ (Muchow/Muchow 1998, 1935, S. 72), untersucht wurde, neu aufgelegt und damit eine sozialpädagogische Blickrichtung ausgebaut. Zweitens wurden entwicklungspsychologische und soziologische Ansätze, in welchen Konzepte der Stadien kindlicher Entwicklung mit der Bearbeitung dieser durch die Kinder verbunden werden, weiterentwickelt (Cook-Gumperz et al. 1986, Youniss 1994, Mey 2003). Drittens wurde mit der deutlichen Abgrenzung vom Entwicklungs- und Sozialisationsparadigma die neuere sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung erarbeitet, die sich von der Betonung der Schutzbedürftigkeit der Kinder und der normativen Ausrichtung dieser Kindheitskonzeptionen verabschiedete und den Blick auf die Interaktionen, Praktiken und Routinen der Kinder lenkte. In allen drei Ansätzen wurde die Eigenaktivität der Kinder in den Vordergrund gestellt. Ziel war es, das Konzept einer relativen Eigenständigkeit der Kindheit bzw. der Kinder gegenüber einer Welt der Erwachsenen zu profilieren. Doch zog diese Fokussierung die Konsequenz nach sich, dass vor allem den Gleichaltrigengruppen und den Kindern zwischen dem sechsten und zwölften Lebensjahr die größte Aufmerksamkeit zukam, während die frühe Kindheit nur wenig berücksichtigt wurde. Diese Ausrichtung ist einerseits einer zu linearen Übersetzung der Forschungsperspektive in ihren Forschungsgegenstand geschuldet: Es wurde nicht nach der Eigenständigkeit der Kinder in unterschiedlichen Rahmungen des generationalen Verhältnisses gefragt, sondern der generationale Kontext mehr oder weniger ausgeblendet, um die Praktiken der Kinder untereinander besser herausarbeiten zu können. Andererseits hatte sich bereits eine disziplinäre Zuständigkeitsverteilung etabliert: Die Untersuchung der frühen Kindheit und der Interaktionen zwischen Eltern und Kindern wurde der Psychologie überlassen.1 Neuere Veröffentlichungen aus dem Kontext „Kindheitsforschung“ dagegen berücksichtigen zunehmend das Generationenverhältnis (Andresen/Diehm 2006, Hengst/Zeiher 2005, 1

Diese Ausrichtung ist auch den institutionellen Bedingungen geschuldet, unter denen die ethnographische Kindheitsforschung im Rahmen der Erziehungswissenschaft entwickelt wird. An den Universitäten kann vor allem auf die Ressourcen der Grundschulpädagogik zurückgegriffen werden, wohingegen die Sozialpädagogik erst nach und nach ihre traditionelle Ausrichtung auf das Jugendalter korrigiert. Die Forschung zur frühen Kindheit ist an Hochschulen insgesamt nur ungenügend verankert, erfährt allerdings insgesamt gerade einen starken Ausbau. G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_20, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Kelle 2008), um die Verknüpfung kindlicher Praktiken mit gesellschaftlichen Diskursen und damit einen Entwurf von Kindheit zwischen Machen und Gemacht-Werden zu erarbeiten. So schlägt Leena Alanen (2005) den Begriff der „generationalen Struktur“ vor und kennzeichnet soziale Prozesse, in denen einige Personen zu Kindern und andere zu Erwachsenen werden. Sie plädiert für eine relationale Perspektive auf Kindheit, die sich erst im Generationenverhältnis erschließe. Eng damit verknüpft erfährt in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion auch das Thema „Familie“ stärkere Beachtung (Büchner/Brake 2006, Ecarius 2007) und wird unter anderem mit ethnographischen Methoden erarbeitet (Audehm 2007, Lareau 2003). Unterstützt wird diese Tendenz durch die Ergebnisse von IGLU und PISA, welche auf die Abhängigkeit eines gelungenen Bildungsverlaufs von der Herkunft und damit der Erziehung innerhalb der Familie hinweisen (Bos et al. 2007, Prenzel et al. 2007).2 Sich dem primären Ort des Aufwachsens zuzuwenden und auch empirisch die Einbettung der Kinder und ihrer Eltern in eine „generationale Ordnung“3 und den praktischen Umgang beider Generationen mit dieser herauszuarbeiten, erweist sich daher als Forschungsdesiderat aktueller Kindheitsforschung. Am Beispiel der Kindervorsorgeuntersuchungen, in welchen Ärztin oder Arzt als weitere Mitspielende auf Seiten der Erwachsenen, aber mit dem Auftrag einer Profession hinzukommen, soll dieses Desiderat methodologisch und methodisch ausdifferenziert werden.4 Praxen der Diagnostik und der Erziehung: Kindervorsorgeuntersuchungen im Dreieck von Medizin, Kindern und Eltern Die Kindervorsorgeuntersuchungen (U1-U9), die zwischen Geburt und vollendetem fünften Lebensjahr meistens in den kinderärztlichen Praxen durchgeführt und von den Krankenkassen empfohlen und auch finanziert werden, sollen Krankheiten vorbeugen und die Entwicklung des Kindes begutachten. Die Vorsorgeuntersuchungen haben einen teilstandardisierten Rahmen: Erhobene Befunde zu Körpermaßen, den Organen, der Motorik und dem Nervensystem werden durch erfragte, die je größer die Kinder werden auch ihre sprachliche, emotionale und soziale Entwicklung betreffen, ergänzt und in ein „Kinderuntersuchungsheft“ eingetragen.5 Der Blick und das Vorgehen der Mediziner und Medizinerinnen wird durch den Fragenkatalog, den dieses Heft vorgibt, gelenkt und darüber hinaus entwickeln diese, so zeigt die empirische Erhebung, ihre eigenen Untersuchungsweisen. Auf der Grundlage dieses Entwicklungsscreenings wird gegebenenfalls informelle Förderung empfohlen, an andere Fachärzte weiter verwiesen oder gerade in den beiden Jahren vor Schulbeginn Logo- oder Ergotherapie ver2

Diese Tendenz ist in der Kindheit allerdings weniger ausgeprägt als im Jugendalter, wie die divergierenden Ergebnisse von IGLU – dort rangieren die bundesdeutschen Kinder im Lesen und Rechnen im internationalen Vergleich weit oben – und PISA belegen. 3 Alanen orientiert sich an der relationalen Konzeption der „Geschlechterordnung“, wie sie Robert Connell (2000) ausgearbeitet hat, verwendet aber dennoch den Begriff der „Struktur“, der eine strukturfunktionalistische Konnotation mitführt. Ich werde im Folgenden im Anschluss an Alaanen und Connell von „generationaler Ordnung“ sprechen, auch weil dieser Begriff in der Debatte bereits eingeführt ist. 4 Dieser Artikel basiert auf den Erfahrungen der Datenerhebung und den Diskussionen um Methode und Theorie im DFG-Forschungsprojekt „Kinderkörper in der Praxis“, das von 2006 bis 2010 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt unter der Leitung von Helga Kelle durchgeführt wird. 5 Die flächendeckenden Kindervorsorgeuntersuchungen wurden 1976 eingeführt. Dienten sie zunächst der „Vermeidung von Krankheiten“ wurde ihr Schwerpunkt nach und nach in Richtung Entwicklungsdiagnostik verschoben. Vgl. zur Geschichte der Kindervorsorgeuntersuchungen Kelle 2008.

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schrieben. Die Fokussierung auf einen „medizinischen Blick“6 ist jedoch nur eine Seite der Medaille: die Begutachtung der Entwicklung ihrer Kinder und die anschließende Beratung wird von vielen Eltern in hohem Maße nachgefragt. Für Eltern und Kinder wird diese Untersuchung häufig zur Prüfung dessen, was im Zeitraum seit der letzten Untersuchung geschehen ist. Wenn Probleme festgestellt werden, erhalten die Eltern nicht nur eine Beratung in medizinischen Belangen, sondern auch eine Beratung zur angemessenen Erziehung. Letztendlich ist es die Aufgabe der Eltern zu zeigen, dass sie einen schmalen Grad zwischen Überängstlichkeit und Vernachlässigung begehen können. Das Kind wird durch eine Betreuungsperson vorgestellt und wenn es das Alter erlaubt, in der Untersuchung selbst befragt: zu dem, was es gerne tut, mit wem es spielt, was es träumt, ob es sich schon alleine aus- oder anziehen kann etc. Häufig muss es Aufgaben bewältigen: laufen oder springen, einen Turm bauen, Dinge benennen oder eine Bildergeschichte erzählen, ein Bild malen etc. Darüber hinaus lenken die Kinder selbst die Beurteilung durch den Arzt: durch die Art und Weise, wie sie die Aufgaben ausführen, wie sie auf die Aufforderungen der Ärzte reagieren, ob sie selbst fragen oder auf andere Weise aktiv werden. Auf der Grundlage der Phänomenologie und Performanz des Kinderkörpers und der Art und Weise, wie die Eltern die geforderten Praktiken begleiten, wird das Kind in seinem Gesundheitszustand und seiner Entwicklung beurteilt. Dass Kinder, die noch nicht schulpflichtig sind und deshalb im öffentlichen Raum außerhalb der Familie nicht sichtbar sein müssen, einer Ärztin oder einem Arzt vorgestellt werden, hat die Kindervorsorgeuntersuchungen in den letzten Jahren zum Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit werden lassen: Als Schnittstelle zwischen öffentlicher und privater Sphäre wird sie als Möglichkeit ausgemacht, um Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern aufzudecken und seit 2007 haben einzelne Bundesländer eine Verpflichtung dieser Untersuchungen gesetzlich und institutionell möglich gemacht.7 Doch wird die Tatsache, dass auf diese Weise Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe auf Ärzte und Ärztinnen übertragen werden, teilweise sehr kritisch diskutiert: Die Ärzte sehen das Vertrauensverhältnis zum Patienten gefährdet und Organisationen des Kinderschutzes halten dieses Vorgehen nicht für geeignet, um Gefährdungen der Kinder zu erkennen. In diesem Dreieck zwischen Medizin, Kindern und Eltern werden Diagnosen von normaler oder aber abweichender Entwicklung im Tun hervorgebracht. Sie werden im Zusammenspiel von Praktiken, Orten und Materialien des Testens, von Konzeptionen des Kinderkörpers und der kindlichen Entwicklung, den Vorstellungen von richtiger und angemessener Erziehung, von zur Verfügung stehenden medizinischen und entwicklungspsychologisch beeinflussten, teilweise standardisierten Diagnosewerkzeugen und von den anwesenden Personen erarbeitet. Dieser kulturanalytische Zugang zum Feld der Diagnostik ist auf die Beobachtung von 6 Foucault entwickelt in „Die Geburt der Klinik“ (1993, 1963) eine Genealogie des medizinischen Blicks. Rekonstruiert wird dabei, wie und warum der Arzt einen Patienten als „Fall“ betrachten kann. 7 Aktuell wird in den einzelnen Bundesländern nach und nach eine verpflichtende Teilnahme mit unterschiedlichen Sanktionsmöglichkeiten eingeführt. Gleichzeitig werden die frühen Hilfen, wie der Besuch von Hebammen bei Familien mit Neugeborenen, in unterschiedlichen Modellen von „Frühwarnsystemen“ ausgebaut, allerdings mit geringen finanziellen Mitteln. Auch von der medizinischen Seite ist die Verpflichtung zum Kinderschutz ausgebaut worden. In die „Kinderrichtlinien“ wird im Frühjahr 2008 der Passus: „Bei erkennbaren Zeichen einer Kindesvernachlässigung oder -misshandlung hat der untersuchende Arzt die notwendigen Schritte einzuleiten.“ aufgenommen.

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Praktiken in vivo angewiesen, weil diese Praktiken nur zum Teil bewusst werden und nicht ex post erhoben werden können.8 Die generationale Ordnung im medizinischen Kontext teilnehmend beobachten: Forschungspraktische Überlegungen Die teilnehmende Beobachtung zeichnet sich dadurch aus, dass die Beobachtenden durch ihre Ko-Präsenz mit den Beobachteten selbst zum Erhebungsinstrument werden. Schon in der Erhebungssituation wird der Prozess der Wahrnehmung organisiert und unter dem, was gesehen, gehört, gerochen und gefühlt wird, also das für Feld und Fragestellung Relevante, wenn auch häufig unbewusst, ausgewählt. In dieser komplexen Situation wird bereits Wichtiges von Unwichtigem getrennt.9 Die Eindrücke von Raum und Einrichtung der Arztpraxis, die Gerüche und Atmosphären, die Interaktionen, die initiierten, aber auch zufällig gehörten Gespräche und der Umgang der Akteure mit Gegenständen, involvierten Dokumenten etc. werden im weiteren Verlauf in den Feldnotizen und in einem letzten Schritt in der Formulierung des Beobachtungsberichts geordnet und in eine interpretierbare Form gebracht. In den Kindervorsorgeuntersuchungen, die durch einen ritualisierten Ablauf geprägt sind, lässt sich diese Steuerung der Wahrnehmung noch vertiefen: Einzelne Bestandteile können durch ihre Wiederholung vorausgesetzt und müssen nicht stets neu beschrieben werden, andere können besonders ins Auge gefasst werden. Dabei ist die Konzentration auf die Bild- neben der Sprachförmigkeit sozialer Wirklichkeit für die Beobachtung kleinerer Kinder äußerst angemessen. Zwar bedienen sich diese im 8 Wurde in früheren Studien zur Arzt-Patienten-Interaktion häufig die Asymmetrie der Beziehung und der Machtverhältnisse herausgestellt (Silverman 1981, Saake 2003), liegt der Fokus der Ethnographie der Kindervorsorgeuntersuchungen auf einer gemeinsamen Konstruktion von kindlicher Entwicklung. Neben der teilnehmenden Beobachtung kommen auch die Dokumentenanalyse und die Methode des Interviews einerseits mit Eltern und andererseits mit Experten und Expertinnen zum Einsatz. Eltern bzw. Elternteile einiger der untersuchten Kinder werden interviewt und erhoben, wie das Aufwachsen des Kindes seit seiner Geburt verlaufen ist, welche Einstellungen gegenüber Bildungsformen und -institutionen die Eltern transportieren, welche Erziehungs- und Bildungskonzepte sie haben und welches Kindheitsbild diesem zugrunde liegt. Die Fragen zielen auf das Erleben der Befragten ab und neben dem narrativen Interview („Wie war das mit dem Aufwachsen des Kindes? Wie war das der Geschwisterkinder?“) werden auch Elemente des ethnographischen Interviews aufgenommen und Fragen zur Untersuchungssituation selbst gestellt. Dazu in Beziehung gesetzt werden offene, leitfadenorientierte Experteninterviews mit den beteiligten, aber auch mit im politischen Feld verantwortlichen Schulärzten und -ärztinnen, die als Repräsentanten organisatorischer und institutioneller Zusammenhänge befragt werden. Bei ersteren werden das Professionsverständnis, ihre Auffassungen der eigenen Verfahren und die Reflexion der Praktiken der Durchführung erhoben; darüber hinaus interessieren ihr Kindheitsbild, ihre Konzeption von kindlicher Entwicklung und deren historischen Wandel und ihre Auffassungen vom ElternKindverhältnis. Die leitenden Experten werden nach ihrer Einschätzung des politischen Feldes gefragt und als Beobachter der Kindergesundheit adressiert. 9 Die Methode der teilnehmenden Beobachtung wird der videogestützten Beobachtung unter anderem auch deshalb vorgezogen, weil es sich bei einer Vorsorgeuntersuchung um eine sensible, auch intime Situation handelt, in der Filmaufnahmen die Sphäre der Persönlichkeit und auch die Schamgrenzen verletzen könnten. Eine teilnehmende Beobachterin oder ein Beobachter kann sich darüber hinaus in das medizinische Setting einfügen und wird nicht sichtbar zum Störfaktor. Da häufig neben Arzt oder Ärztin noch andere Erwachsene anwesend sind, z.B. um die Ergebnisse der Untersuchungen am Computer zu notieren, fällt das Schreiben von Feldnotizen durch Feldfremde nicht besonders auf.

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Laufe ihres Aufwachsens mehr und mehr der Sprache, doch sind es in den ersten Lebensjahren, in denen die Kindervorsorgeuntersuchungen in ihrer höchsten Dichte stattfinden, zum großen Teil ihre Bewegungen im Raum und ihre Interaktion mit Menschen und Dingen, über die junge Kinder sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen.10 Eine Fokussierung auf die Bewegung im Raum, auf die Positionen der Körper zueinander, die Interaktionen von Körpern und Gegenständen stellen in der Untersuchungssituation, die durch eine Überzahl Erwachsener charakterisiert ist, das Kind stärker in den Mittelpunkt. Tatsächlich sind mehrheitlich Erwachsene bei den Kindervorsorgeuntersuchungen anwesend: Neben dem Kind, das meistens von einer Bezugsperson, ab und an aber auch von zwei Elternteilen, in seltenen Fällen von einem Geschwisterkind begleitet wird, befinden sich noch die Ärztin oder der Arzt, häufig eine Praxisangestellte und in der Forschungssituation die teilnehmende Beobachterin oder der Beobachter im Praxisraum. Zwischen diesen können sich vielfältige Interaktionen entwickeln, an denen immer mindestens eine oder ein Erwachsener beteiligt sind: Interaktionen zwischen Ärztin und Mutter, Interaktionen zwischen Arzt und Kind, Interaktionen zwischen Ärztin und Praxisangestellter, Interaktionen zwischen Eltern, Interaktionen zwischen Mutter oder Vater und Kind etc. Werden in solch einer Beobachtungssituation vor allem Gespräche notiert, stellte sich notwendigerweise eine Zentrierung auf die Erwachsenen her. Dass den teilnehmend Beobachtenden in diesem Setting zwei Perspektiven regelrecht angeboten werden, muss reflexiv eingeholt werden. Die teilnehmend Beobachtenden begleiten entweder den Arzt oder die Ärztin und sind auch schon vor den Patienten im Untersuchungszimmer oder aber sie warten mit Eltern und Kind im Wartezimmer11 und werden dann in das Untersuchungszimmer gebeten. Somit ergibt sich entweder eine Positionierung auf Seiten der Eltern und Sorgeberechtigten und -verpflichteten oder auf der Seite der Mediziner oder Medizinerinnen, die professionell mit dem Kindeswohl betraut sind und als Vertrauenspersonen, aber in zunehmendem Maße auch als Kontrollinstanz fungieren. Gerade die Unterschiedlichkeit der Perspektiven kann Aufschluss über die Rollen dieser durch Profession und Elternschaft divergent positionierten Erwachsenen geben. Die teilnehmende Beobachtung der unterschiedlichen Praktiken und Blickwinkel der Erwachsenen und die der anderen Seite der generationalen Ordnung, der Kinder, wird Grundlage einer Analyse der Vielschichtigkeit des diagnostischen Prozesses. Darüber hinaus kann empirisch rekonstruiert werden, wie die einen in dieser Situation zu Erwachsenen und die anderen zu Kindern werden.

10 Mit der Betonung der Rolle der Körperlichkeit in der frühen Kindheit soll jedoch nicht gesagt werden, dass in der Beobachtung älterer Kinder, Jugendlicher oder Erwachsener die körperlichen Handlungsvollzüge eine untergeordnete Rolle spielen. Vgl. zu Methode und Körper Petersen 2007, Tervooren 2006, 65ff. 11 In diesem Spannungsfeld, in dem nicht nur die Differenz zwischen Medizinern und Laien, sondern auch die Generationendifferenz rekonstruiert werden soll, kann es sinnvoll sein, gezielt Situationen im Wartezimmer einzubeziehen, die auch Praktiken unter Gleichaltrigen umfassen können. Damit werden der Umgang von Eltern und Kindern mit unterschiedlichen, in diesem Fall alltäglicheren Situationen, also Daten zu dem Eltern-Kind-Verhältnis erhoben.

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Konversationsanalyse Sarah Hitzler/Heinz Messmer Die Konversationsanalyse (KA) ist eine qualitative empirische Methode, die sich in den 1960er Jahren aus der Ethnomethodologie entwickelt hat. Ihr Grundanliegen ist es, soziale Ordnung in ihrer Produktion im Miteinander von Individuen zu beschreiben. Der Begriff Konversationsanalyse ist eine direkte Übersetzung des englischen ‚conversation analysis’ und damit etwas irreführend, da im Deutschen ‚Konversation’ oftmals nur als informelle, kurze Unterhaltung verstanden wird. Tatsächlich untersucht die KA jedoch alle Formen von mündlichen Interaktionen, unabhängig von dem Kontext, in dem sie stattfinden, ihrem Formalisierungsgrad oder der Anzahl der Beteiligten. Als Variante der Gesprächsforschung, unter die beispielsweise auch die Diskursanalyse oder die diskursive Psychologie fallen, unterscheidet sich die KA von anderen qualitativen Methoden vor allem in der Form der Datenerhebung. Während Interviews oder Fragebögen soziale Wirklichkeit nie selbst abbilden können, sondern sich immer auf die Interpretation der Befragten hinsichtlich sozialer Situationen verlassen müssen (also Situationen immer erst ex post facto, im Nachhinein erheben können), sind gesprächsanalytische Verfahren in der Lage, Aussagen über die Situation selbst zu treffen. Damit können sie auch in den Situationsdeutungen von Beteiligten unhinterfragt gebliebene Annahmen aufdecken und analysieren. Die KA ist damit ein Instrument der Rekonstruktion von Beobachtungen erster Ordnung und dient der Beschreibung der Eigenrationalität sozialer Situationen. Theoretische Grundannahmen Der Anspruch, soziale Situationen in ihrer Entstehung zu dokumentieren, erwächst der KA aus ihrer theoretischen Verwurzelung in der Ethnomethodologie. Diese wurde durch den Soziologen Harold Garfinkel entwickelt, der sich gegen die in der Soziologie damals vorherrschende strukturfunktionalistische Vorstellung wandte, Gesellschaften seien durch einen kognitiven Konsens bezüglich internalisierter kultureller Wertvorstellungen organisiert. Garfinkel hielt dem entgegen, dass geteilte Wertvorstellungen nicht aus sich selbst soziale Ordnung schaffen könnten, sondern vielmehr soziale Ordnung voraussetzten, um durch Sozialisationsprozesse internalisierbar zu werden. Daher sei der Schlüssel zur Produktion von sozialer Ordnung in den sozialen Aktivitäten von Individuen und nicht der Gesellschaft an sich zu suchen. Denn die Individuen sind es, die stets aufs Neue im Miteinander soziale Regeln anwenden, abwandeln und verfestigen und ihnen dadurch den sozialen Sinn verleihen, der für die Entwicklung sozialer Ordnung konstitutiv ist (Garfinkel 1967). Die KA greift diese Überlegungen auf, bezieht sie aber vornehmlich auf sprachliche Interaktionen. Ihr liegt die Prämisse zugrunde, dass alle soziale Ordnung durch kommunikative Interaktionen vermittelt sein muss, also im sprachlichen Miteinander von Individuen aus deren gemeinschaftlicher Sinnproduktion hervorgeht (Sacks 1992). Aus dieser Perspektive ist soziale Wirklichkeit immer Vollzugswirklichkeit, das heißt sie entsteht immer lokal aus der konkreten Interaktion sozialer Akteure (Bergmann 2000). Diese Perspektive bedeutet auch, dass gesellschaftliche Wirklichkeit nicht in abstrakten Begriffen und Konzepten aufgedeckt werden kann. Nur das, was in einer spezifischen Situation von den Teilnehmern sozial relevant gesetzt wird, ist auch sozial relevant, also sozial wirklich. G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_21, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Nach dieser Überzeugung sind soziale Akteure in der Konstitution sozialer Wirklichkeit kontinuierlich aufeinander bezogen. Gemeinschaftlich sind sie damit beschäftigt, Ordnung und Sinnverstehen sicherzustellen, um ihre Handlungen sinnhaft aufeinander beziehen zu können. Dabei gestalten sie ihre Aktivitäten so, dass sie für das Gegenüber erkennbar und verstehbar werden. Soziales Handeln ist also grundsätzlich reflexiv, das heißt es enthält immer bereits Hinweise darauf, wie es verstanden werden möchte. Entsprechend können Äußerungen nicht von der Situation abgelöst verstanden werden, in der sie entstanden sind. Die Tatsache, dass Interaktion unaufhörlich Ordnung produziert, ist den Beteiligten allerdings nicht bewusst. Bewusstsein über interaktiv hergestellte Ordnungsprinzipien entsteht oft erst im Falle ihres Versagens, wie Garfinkel durch seine berühmt gewordenen Krisenexperimente demonstrierte. Solange Kommunikation jedoch störungsfrei funktioniert, bleiben Ordnungsleistungen gleichsam unsichtbar, was die KA mit dem Begriff seen-but-unnoticed umschreibt. Als Methode hat sie es sich daher zum Ziel gemacht, diese Ordnungsphänomene sichtbar zu machen und in ihrer Bedeutung für soziale Ordnung zu rekonstruieren. Analytische Grundsätze Der Ansatzpunkt für die empirische Analyse liegt für die KA im oben skizzierten Kerngedanken der Reflexivität. Indem Interaktionsteilnehmer einander unablässig sichtbar machen, welche Absichten sie mit ihren Aktivitäten verfolgen, produzieren sie systematische Deutungsangebote, die prinzipiell jedem kompetenten Mitglied derselben Gesellschaft zugänglich sind. Dieses grundsätzliche intuitive Verstehen von Interaktionsregeln bildet den Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Analyse, die also der andauernden Selbstanalyse der Teilnehmenden nachempfunden ist. Datenerhebung Die methodischen Prämissen der KA spiegeln sich nicht zuletzt in der Art ihrer Datenerhebung wider: Ihr ist es wichtig, Daten zu verwenden, in denen die Reflexivität sozialer Aktivitäten nicht durch alternative Interpretationen überlagert wird. Daher verlässt sich die KA ausschließlich auf sogenannte natürliche (Kommunikations-)Daten. ‚Natürlich’ bedeutet in diesem Zusammenhang zweierlei: Zum einen bezieht es sich darauf, dass konversationsanalytische Studien ihre Daten in Situationen erheben, die genauso oder zumindest hinreichend ähnlich auch ohne das zugrundeliegende Forschungsinteresse stattgefunden hätten. Darin unterscheidet sich die KA beispielsweise von Interviews oder auch experimentellen Settings, in denen Situationen künstlich hergestellt werden, um dem Forschungsinteresse bestmöglich zu entsprechen, die aber damit bereits Einfluss auf das Phänomen nehmen, das sie untersuchen wollen. Zum anderen verweist ‚Natürlichkeit’ auch auf die Art und Weise der Datenerhebung selbst: Anders als beispielsweise in ethnographischen Studien verlässt sich die KA nicht auf Feldnotizen oder Gesprächsmitschriften, sondern verwendet Audio-, zunehmend auch Videoaufnahmen, um die anvisierte Situation möglichst lückenlos zu dokumentieren. Auf diese Weise werden Situationen fixiert, ohne diese bereits zu gewichten oder zu interpretieren; darüber hinaus lassen sich die aufgezeichneten Situationen beliebig oft und von beliebig vielen Forschern verwenden.

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Datenaufbereitung Die so erhobenen Ton- oder Bilddaten werden schließlich detailgenau transkribiert. Jede hörbare Pause, jede Überlappung, jede Unterbrechung, im Falle von Videodaten vielfach auch Mimik, Gestik und Körperhaltung werden präzise verschriftlicht. Denn im Vorfeld der Analyse lässt sich nicht entscheiden, welche Phänomene einer Interaktion für deren Ordnungsaufbau wesentlich oder unwesentlich sind. Durch die detailgenaue Transkription wird weitgehend sichergestellt, dass der durch die Aufzeichnung gewonnene Datenreichtum nicht vorzeitig durch zu frühe, intuitiv plausibel erscheinende Interpretationen wieder aufgegeben wird. Diese Form der Datenaufbereitung wirkt vor allem dem Problem der Flüchtigkeit sozialer Wirklichkeit (Bergmann 1985) entgegen, das darin besteht, dass soziale Situationen aus einer Vielfalt übereinandergelagerter Phänomene bestehen, die in dem Moment, in dem sie auftreten, in ihrer Komplexität nicht alle einzeln erfassbar sind. Die Arbeit mit detaillierten Transkripten versetzt den Forscher dahingegen in die Lage, die Abläufe zu verlangsamen und damit die Wirklichkeit der an der Interaktion Beteiligten in ihren vielfältigen Einzelheiten zu rekonstruieren, ohne die Wirklichkeit des Interpretationsvorgangs vorzeitig mit einwirken zu lassen. Datenanalyse Ihre analytische Aufgabe sieht die KA darin „to see how it is that persons go about producing what they do produce” (Sacks 1992, 11). Um dies zu erreichen, erlegt sich die KA einige Beschränkungen auf, die ihre Aussagekraft stärken und ihre Ergebnisse belastbar machen sollen: Die Analyse ist immer datengeleitet. Anders als bei anderen Formen der qualitativen Sozialforschung findet keine Vorstrukturierung der Daten durch Codierung, Klassifizierung oder ähnliche Verfahren statt. Wie Phänomene zusammenhängen, ist ausschließlich durch die zu analysierende Situation vorgegeben. Zu keinem Zeitpunkt argumentiert die KA kognitiv oder psychologisch. Sie unterstellt keine Motivlagen oder macht Annahmen über internale Zustände der Beteiligten, sofern diese sich nicht empirisch in der Interaktion widerspiegeln. Ebenso wenig bezieht sie externes Wissen ein, solange sich dieses nicht in den Daten selbst wiederfindet. Vor allem den klassischen soziologischen Kategorien wie Macht, Geschlecht, Klasse und ähnlichen steht sie sehr vorsichtig gegenüber. Diese sind in der KA nur von Belang, wenn sie sich als Kategorisierungen der Beteiligten aus der Analyse selbst ergeben, wenn also beispielsweise eine Teilnehmerin erkennbar als Frau agiert und sich aus dieser interaktiven Selbstdarstellung Rückschlüsse ableiten lassen. Die Analyse vollzieht sich streng sequenziell. Sie rekonstruiert die Situation in deren eigenen Entstehungslogik. Interpretationen, die sich aufgrund von Informationen aus einem späteren Zeitpunkt des Gesprächs ergeben, dürfen nicht verwendet werden, da diese den Beteiligten zum analysierten Zeitpunkt auch noch nicht zur Verfügung standen. Die Frage, die jeder Analyse zugrunde liegt, lässt sich fassen als Frage nach dem why that now: Warum zeigt sich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ausgerechnet dieses Phänomen? Entsprechend Sacks’ programmatischer Maxime des order at all points werden alle beobachtbaren Phänomene – auch scheinbar Belangloses wie Überlappungen, Verhaspelungen oder Abbrüche – zunächst als gleichermaßen bedeutsam behandelt. Oft sagt eine geschickt platzierte Pause mehr als eine langatmige Phrase, deuten minimale Feedbacksignale (wie ‚hm-hm’) auf Dissens hin oder informieren Satzabbrüche über fehlende Einigkeit zwischen Gesprächsbeteiligten. Interaktionsteilnehmer sind, gerade auch dann, wenn sie scheinbar fehlerhafte Kommunikationen produzieren, zumeist äußerst geschickte Konstrukteure sozialer Wirklichkeit, die über ein ausgefeiltes Instrumentarium zur Kontrolle

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sozialer Situationen verfügen, das über normative Vokabel- und Grammatikkonzepte weit hinausgeht. Gemäß diesen Grundsätzen sollen in der Analyse so zunächst Interaktionsphänomene identifiziert und beschrieben werden, die in dieser formalen Ausprägung systematisch auch in anderen Situationen vorkommen. Damit lässt sich in einem zweiten Schritt auf strukturell zugrunde liegende Interaktionsprobleme zurück schließen, für die die beobachteten Geordnetheiten eine Lösung darstellen. Solche ‚Probleme’ können beispielsweise sein, die verloren gegangene Aufmerksamkeit einer Gesprächspartnerin wiederzugewinnen; Bedeutungsambiguitäten aufzulösen; Glaubwürdigkeit herzustellen; eine Menge untereinander angeregt Smalltalk haltender Menschen zu einem Plenum zu formen, das sich auf den gleichen Fokus ausrichtet; usw. Das Ziel der Analyse liegt also darin, zwischen systematisch hervorgebrachten Phänomenen und den interaktiven Anforderungen, auf die diese reagieren, methodische Zusammenhänge herauszuarbeiten, an denen die Sinnhaftigkeit sozialer Ordnungen sichtbar wird. Konversationsanalyse in der Sozialarbeitsforschung Die KA hat sich lange Zeit vor allem mit mikroskopischen Phänomenen sozialer Interaktionen befasst. So beschäftigten sich klassische Studien beispielsweise mit Fragen nach der Organisation des Sprecherwechsels, dem Beginn und der Beendigung von Gesprächen oder der Bearbeitung von Nebensequenzen. Ihr Erkenntnisinteresse lag darin, die elementaren Aspekte der „Maschinerie“ von Alltagsinteraktionen zu beschreiben. Seit den 1990er Jahren werden jedoch zunehmend auch großräumigere kommunikative Phänomene analysiert. Mit Erscheinen mehrerer Untersuchungen Anfang der neunziger Jahre (vielzitiert der Sammelband Talk at Work von Drew und Heritage aus dem Jahr 1992) erschloss sich die KA das Feld der institutionellen Kommunikation. Diese Erweiterung führte zu einer Fülle von Arbeiten in institutionellen Kontexten, die oft zu völlig neuen und für die Praktiker der jeweiligen Untersuchungsfelder unerwarteten Ergebnissen führten. Beliebte Felder waren und sind die Kommunikation vor Gericht, Arzt/Patient-Kommunikation, (psycho-)therapeutische Gespräche, mediale Kommunikation und Interaktion im Unterricht. Langsam beginnt auch die Sozialarbeitsforschung, das Potenzial der KA für sich zu entdecken. Dabei schreitet diese Entwicklung international schneller voran als in Deutschland (für einen Überblick über den Stand der gesprächsanalytischen Forschung in der Sozialen Arbeit vgl. Hitzler/Messmer 2008). Allmählich entsteht aber auch im nationalen Kontext ein wachsendes Interesse an der Aussagekraft konversationsanalytischer Studien. Dabei ist vor allem ihre Fähigkeit, hinter die Selbstbeschreibungen des Feldes zu blicken, von Interesse, so zum Beispiel, wenn allgemein unhinterfragte Konzepte wie ‚der Klient’, ‚die Professionelle’, ‚der Fall’, ‚die Hilfe’ usw. in ihrer institutionellen Generierung und Bearbeitung im Rahmen sozialarbeiterischer Interaktionen selbst beschrieben werden. In diesem Sinne lassen sich zahlreiche seen-but-unnoticed Selbstverständlichkeiten der Sozialen Arbeit thematisieren, was wertvolle Hinweise für die Theoriebildung liefern kann. Zusätzlich kann die Beschreibung struktureller Interaktionsbedingungen auch Fachkräfte in ihrem unmittelbaren Handeln entlasten (vgl. Hall et al. 2003). Entsprechend wird das reflexive Potenzial konversationsanalytischer Studien auch für die Anwendung in der Praxis zunehmend bedeutsam.

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Literatur Bergmann, Jörg (1985): Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit: Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie. In: Bonß, Wolfgang/Hartmann, Heinz (Hg.): Entzauberte Wissenschaft: Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung. Göttingen: Schwarz, S. 299– 320. Bergmann, Jörg (2000): Konversationsanalyse. In: Flick, Uwe/Kardorff, Ernst von/Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 524–537. Drew, Paul/Heritage, John (Hg.) (1992): Talk at work. Interaction in institutional settings. Cambridge: Cambridge University Press. Garfinkel, Harold (1967): Studies in ethnomethodology. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall. Hall, Christopher/Parton, Nigel/Juhila, Kirsi/Pösö, Tarja (2003): Conclusion: Yes, but is this of any use? In: Hall, Christopher/Juhila, Kirsi/Parton, Nigel/Pösö, Tarja (Hg.): Constructing clienthood in social work and human services. Interaction, identities, and practices. London: Jessica Kingsley Publishers, S. 223–232. Hitzler, Sarah/Messmer, Heinz (2008): Gespräche als Forschungsgegenstand in der Sozialen Arbeit. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 54, H. 2, S. 244–260. Sacks, Harvey (1992): Lectures on conversation. 2 Bände. Herausgegeben von Gail Jefferson: Oxford & Cambridge: Blackwell Publishing.

Diskursanalytische Vorgehensweisen Fabian Kessl 1 Sue White (2008: 171) plädiert in ihrem aktuellen Grundlagenbeitrag zu diskursanalytischen Vorgehensweisen in der Sozialen Arbeit für deren Nutzung, um professionelle Reflexivität weiter zu entwickeln: „Discourse Analysis can help by slowing down the action so we can reflect systematically and empirically on the language we use and which words and phrases assume power“. Fast zeitgleich zu Thinking about Social Work: Theories and Methods (Gray/Webb 2008), in dem Whites Beitrag erschienen ist, erscheint im deutschsprachigen Kontext die Neuauflage des Handbuchs Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (Friebertshäuser/Langer/Prengel 2010). Auch in dieser findet sich nun ein Beitrag zur Diskursanalyse (Langer/Wrana 2010). Diese beiden Sequenzen sind symptomatisch für den Stand der diskursanalytischen Forschung: Während diese in den englischsprachigen Diskussionen seit den 1990er Jahren bereits einen Grad der Etablierung erreicht hat, erfahren diskursanalytische Vorgehensweisen im deutschsprachigen Kontext erst in den vergangenen Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit. Innerhalb der Sozialen Arbeit liegen bisher nur vereinzelte Studien vor (vgl. Behnisch 2005; Kessl 2005, Spies 2010), in angrenzenden Feldern (vgl. Becker 2007) und der erziehungswissenschaftlichen Forschung insgesamt befindet sich die Diskursforschung zumindest in einem Prozess einer Implementierung (vgl. z.B. Fegter in diesem Band; Höhne 2003; Reh 2003). Diese also noch sehr überschaubare Entwicklung korrespondiert allerdings mit einer inzwischen deutlich dynamisierten Diskussion um die Notwendigkeit, die Gestalt und die Erkenntnismöglichkeiten einer Diskursforschung in anderen deutschsprachigen sozial- und geisteswissenschaftlichen Feldern (vgl. Angermüller 2005; Fegter/Langer 2008; Keller 2005; FQSSchwerpunkt „Diskursanalyse“ 2007): Unter anderem in der Allgemeinen Sozialwissenschaft (vgl. Bublitz 2003), den Geschichtswissenschaften (vgl. Landwehr 2008) und der Soziologie (vgl. Diaz-Bone 2002; Keller 2005; Reckwitz 2006) machen in den vergangenen Jahren Diskursforscher_innen auf sich aufmerksam. Im Folgenden soll mit Blick auf drei vorliegende Studien, die eine sehr unterschiedliche, aber explizite diskursanalytische Vorgehensweise gewählt haben und deren Untersuchungsgegenstand entweder ein explizit sozialpädagogischer ist oder zumindest für die Soziale Arbeit einen deutlichen Relevanzgrad aufweist, skizziert werden, was diskursanalytische Vorgehensweisen auszeichnet.2 Dazu wird nach einer kurzen Vorstellung der ausgewählten Studien im 1

Für die immer wieder anregend-irritierenden Auseinandersetzungen darum, in welcher Weise und mit welchem Interesse diskursanalytische Perspektiven in der Erziehungswissenschaft und darüber hinaus realisiert werden (können), danke ich den Kolleg_innen der AG „Diskursanalyse und Gouvernementalität in der Erziehungswissenschaft“. Mein Dank gilt an dieser Stelle insbesondere für die sehr hilfreichkritischen Kommentare zu einer ersten Version dieses Beitrags. 2 Die Leserin könnte durch die Auswahl der drei Studien irritiert sein, schließlich wurden einzelne Studien (vgl. Behnisch 2005), deren Untersuchungsgegenstand sehr viel stärker im Zentrum von Themen der Sozialen Arbeit stehen, zugunsten anderer Studien vernachlässigt, die weniger explizit sozialpädagogische und sozialarbeiterische Themenstellungen bearbeiten. Grund für diese Entscheidung ist die Konzentration auf die Studien, denen ein rel. strukturanaloger Diskursbegriff unterlegt ist. Ein solcher lässt sich für die drei ausgewählten Studien im Anschluss an die Arbeiten Michel Foucaults identifizieren (vgl. im

G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_22, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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ersten Schritt der Frage nachgegangen, welches Verständnis von Diskursanalyse diesen Arbeiten zugrunde liegt. Dabei wird zugleich auf die immer wieder monierte Unschärfe diskursanalytischer Studien hinsichtlich der Frage des Verhältnisses von Diskurstheorie und Diskursanalyse eingegangen. Im zweiten Schritt steht die Frage zur exemplarischen Bearbeitung an, was den Untersuchungsgegenstand diskursanalytischer Studien ausmacht. Immer wieder wird gegenüber diskursanalytischen Vorgehensweisen eingewandt, sie konzentrierten sich ausschließlich auf die sprachliche Ebene (textanalytischer Fokus) und vernachlässigten damit die Ebene der Praktiken (praxisanalytischer Fokus) – und genau diese zweite Ebene sei aber für ein wissenschaftliches Vorgehen mit Blick auf die Soziale Arbeit von entscheidender Bedeutung (vgl. Stenson 2008; Stövesand 2007). Abschließend werden diese exemplarischen Vergewisserungen nochmals hinsichtlich ihres Nutzungswerts für die Wissenschaft Sozialer Arbeit beleuchtet und mit einem Vorschlag verbunden, diskursanalytische Vorgehensweisen in Auseinandersetzung mit der Positioning Theory (vgl. Hollway 1984) zu fokussieren. Walburga Freitag (2003) rekonstruiert im ersten Teil ihrer Studie den wissenschaftlichen Diskurs um Contergan. Im Anschluss an das diskurstheoretische Verständnis, wie es Foucault in seinen frühen Arbeiten und der Archäologie des Wissens entwickelt, stellt sich Freitag die Frage, wie es dazu kam, dass nach der Geburt erster contergangeschädigter Kinder Ende der 1950er Jahre „bestimmte Aussagen erschienen (sind) und keine andere an ihre(n) Stelle(n)“ (ebd.: 22). Diskursanalyse versteht Freitag dabei als die Frage danach, „welche Funktion der Diskurs in Bezug auf den Gegenstand hat, der durch den Diskurs gebildet wird“ (ebd.: 23). Der Anteil der diskursanalytischen Rekonstruktion dient Freitag in ihrer Studie somit als kritische Analyse von Legitimations- und Platzierungsstrategien im Kontext der akademischen Bearbeitung des Phänomens Contergan. Methodisch realisiert Freitag diese kritische Analyse durch eine Sichtung medizinischer, heil- und schulpädagogischer, psychologischer und soziologischer Fachliteratur seit 1957.3 Die vier folgenden Felder, entlang derer Freitag ihre Studie auch gliedert, markiert sie auf Basis ihrer Materialrekonstruktion als Dispositivmarker der wissenschaftlichen Diskurse: (1) Praktiken der Konstruktion der Thalidomid-Embryopathie und des Dysmelie-Kindes, (2) medizinischer Habilitationspraktiken, (3) psychosozialer Habilitationspraktiken und (4) eines Berufsbildungsdiskurses. Diese diskursiven Praktiken um das Phänomen Contergan sortiert Freitag außerdem in vier zeitliche Phasen ab 1960 bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Im Anschluss an diese Rekonstruktion der zentralen Dispositive innerhalb der wissenschaftlichen Diskurse nimmt Freitag im zweiten, biografieanalytischen Teil ihrer Studie die Erfahrungsmuster der contergangeschädigten Subjekte selbst in den Blick. Dieser Einbezug von Erfahrungsmustern erscheint Freitag mit Blick auf Foucaults methodologische Weiterentwicklungen konsequent, denn dieser habe seine diskursanalytische Perspektive in späteren Arbeiten in eine „Genealogie Unterschied dazu die toposanalytische Anlage von Behnisch 2005 (108ff.) und die diskurstheoretische Anlage einer Theorie der Sozialpädagogik von Winkler 1988). 3 Die zeitliche Anfangsbegrenzung ihres Materialkorpus begründet Walburga Freitag durch die erstmalige Wahrnehmung contergangeschädigter Personen Mitte des 20. Jahrhunderts. Freitags Studie weist an dieser Stelle stellvertretend auf ein Charakteristikum diskursanalytischer Materialauswahlprozesse hin. Denn die scheinbar eindeutig-historische Bestimmbarkeit des Auftretens eines Phänomens, wie der Conterganschädigung, diffundiert mit Blick auf deren diskursive Produktion und Positionierung. So weist Freitag für ihren Untersuchungszusammenhang darauf hin, dass 1959 auf einer Fachtagung eine erste Falldarstellung durch Ernst Marquardt vorgenommen wurde, die disziplinäre und damit verbundene öffentliche Wahrnehmung aber erst Mitte der 1960er Jahre auf Basis entsprechender disziplinärer Forschungs- und Publikationspraktiken beginnt.

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der Formen der Subjektivierung“ münden lassen (ebd.: 29). Subjekte müssten sich demnach „in modernen Gesellschaften als Subjekte (des) ‘wahren’ Wissens anerkennen“, womit Erfahrungsmuster und wissenschaftliches Wissen im Subjekt zusammenflössen, sich also in den „Technologien der individuellen Beherrschung manifestierten“ (ebd.). In sieben Biografieskizzen stellt Freitag daher diese subjektiven Erfahrungsmuster auf Basis des biografischen Interviewmaterials vor und kontrastiert diese Fallbeschreibungen mit den diskursanalytischen Erkenntnissen aus dem ersten Teil ihrer Studie, vor allem den rekonstruierten psychosozialen und medizinischen Habilitationspraktiken. Methodologische Zielsetzung der Arbeit von Freitag ist also letztlich, die spezifischen Subjektivierungsweisen im Kontext Contergan zu verdeutlichen, und damit auch zu zeigen, dass das „von den wissenschaftlichen Disziplinen geschaffene ‘wahre Wissen’ auf der biographischen Ebene eine andere Gestalt einnimmt“ (ebd.: 445). In ihrer diskursanalytischen Ethnografie Disziplinieren und entspannen geht Antje Langer (2008) der Frage nach, wie im schulischen Kontext der zumeist als sichtbar und inszeniert vorausgesetzte Körper zu einem solchen erst wird. Materialbasis ihrer Studie sind drei pädagogische Zeitschriften der Jahrgänge 1995 bis 20054 und ethnografische Beobachtungsdaten aus dem Unterricht und den Schulpausen einer siebten Hauptschulklasse. Ähnlich wie Walburga Freitag beschränkt auch Langer ihre diskursanalytische Rekonstruktion somit nicht auf Textdokumente. Während es Freitag (2003: 187ff.) allerdings um die Kontrastierung von subjektiven Erfahrungen und disziplinären Habilitationspraktiken geht, zielt Langer mit der Verschränkung von Zeitschriften- und ethnografischem Material auf den systematischen Einbezug von „Körperpraktiken in Interaktionen im Unterricht“ (Langer 2008: 69). In einer korrespondierenden Verdichtung des unterschiedlichen Materials kommt Langer zur Identifizierung von sechs Themenkomplexen: Körper, Jugend, Sexualität/Pubertät, Gender, Disziplin und LehrerInnen und damit verbundenen Sprechergruppen: eine allgemeine, die der SchülerInnen, der SchülerInnen und LehrerInnen, der LehrerInnen und SchülerInnen und der LehrerInnen. Die Rekonstruktion von generellen Thematisierungslinien, die sie aus dem Zeitschriftenkorpus gewinnt, erweitert Langer durch eine feinanalytische Untersuchung einzelner Schlüsseltexte. Hierzu nutzt sie vor allem zwei sprachanalytische Instrumente: die Inblicknahme der Setzung von Differenzen und die jeweilige Nutzung von Metaphern. Außerdem erweitert Langer ihre feinanalytischen Rekonstruktionen noch durch eine ergänzende bildanalytische Betrachtung. Langer möchte mit diesem erweiterten diskursanalytischen Vorgehen in die Tiefendimension der (Re)Produktion diskursiver Körper vorstoßen: „(J)enseits des ‘Körperbooms’, welcher vor allem den willentlich ‘markierten’ Körper fokussiert, (gehe es ihr darum; FK), eine Thematisierung weniger an der Oberfläche der Texte, z.B. implizit in Form opaker Verweise auf den disziplinierten, gesellschaftsfähigen Körper“ in den Blick zu nehmen (ebd.).5 Zentrales Ergebnis der Studie Langers ist daher unter anderem die systematische Verdeutlichung, dass mit der modernen Schulkultur eine gezielte Körper(be)arbeit(ung) nurmehr schulformbezogen stattfindet (in Förder-, Haupt- und Realschulen). Das zentrale Körperdisziplinierungsformat stelle 4 Diese Auswahl begründet Antje Langer (2008: 83) mit dem Hinweis, dass Mitte der 1990er Jahre eine exponentielle Zunahme von Körperthematisierungen zu beobachten sei, das heißt ein „diskursive(s) Ereignis“, das den Beginn der Untersuchung markiere. Bei den untersuchten Zeitschriften handelt es sich um die Pädagogik, das PÄD forum und das Schulmagazin 5 bis 10. 5 Damit schließt Langer an eine Lesart an, die diskursanalytische Vorgehensweisen im Anschluss an Foucaults Arbeiten als Interpretation von kulturellen Praktiken begreift und nicht als hermeneutisches Vorgehen (vgl. Dreyfus/Rabinow 1994: 153ff.).

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nämlich nun das der „Selbstdisziplinierung“ dar und nicht mehr nur das der Fremddisziplinierung, wie in der frühmodernen Schule (ebd.: 272). In einer eigenen Studie (Kessl 2005) stand die Gestalt(ung) der politischen Rationalitäten im Feld der bundesrepublikanischen Kinder- und Jugendhilfe nach der Implementierung des veränderten Staatsverständnisses (Aktivierender Sozialstaat) Ende der 1990er Jahre im Zentrum des Interesses. Als Materialkorpus dienten dazu zwei Jahrgänge (1999/2000) der bundesdeutschen Landesjugendamtszeitschriften und der Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung seit 1965, also Dokumente, die als eine Art Transformationsriemen zwischen politischer Entscheidungsebene und sozialpädagogischer Erbringungsebene verstanden werden können.6 In der textanalytischen Rekonstruktion dieser Zeitschriften konnten die Konturen des Machtdispositivs „Aktivierung“ für die Kinder- und Jugendhilfe sichtbar gemacht werden. Das diskursanalytische Vorgehen wurde dabei als Verdichtungsprozess dominanter Themenlinien, spezifischer Thematisierungsweisen also, durchgeführt. Diese mündeten in der Kartografierung von drei Themenfeldern: der (Re)Moralisierung und Demoralisierung, der Individualisierung und Vergemeinschaftung und der Standardisierung und Entstandardisierung (ebd.: 131ff.). Der Materialanalyse wurde eine genealogische Rekonstruktionsskizze als erster Teil der diskursanalytischen Studie vorangestellt (ebd.: 15ff.), mit der auf dominierende Denkweisen innerhalb der Debatten um Soziale Arbeit hingewiesen werden konnte. Theorie, Methodologie oder/und Methode? Innerhalb diskursanalytischer Selbstverständigungsdebatten wie in Diskussionen, die diese in den Blick nehmen, löst die Frage nach dem Format diskursanalytischer Forschung immer wieder Irritation aus. Gefragt wird zum einen, ob denn Diskursanalyse primär als eine Methode zu begreifen sei und wenn ja, wie denn eine solche zu realisieren sei. Zum anderen wird die Frage aufgeworfen, welche methodologische Verortung mit diskursanalytischer Vorgehensweise eingenommen werde oder ob Diskursanalyse gar ausschließlich eine diskurstheoretische Haltung darstelle. Antje Langer (2008: 56) schlägt dazu in ihrer Studie eine klare Differenzierung zwischen Diskurstheorien und Diskursanalysen vor. Diskurstheoretisch schließt sie an die Überlegungen Michel Foucaults an, die sie aber über zentrale performanztheoretische Annahmen Judith Bulters, ideologietheoretische Einsichten Louis Althussers und interaktionstheoretische Deutungen Ervin Goffmans erweitert. Langer unterscheidet dabei drei diskurstheoretische Prämissen, die sie an anderer Stelle mit Daniel Wrana gemeinsam ausgearbeitet hat (vgl. Langer/Wrana 2010): (1.) Diskurse werden als Praktiken bestimmt, das heißt Langer geht davon aus, dass diese „die Gegenstände, von denen sie sprechen, systematisch erzeugen“ (Langer 2008: 54); diskursive Praktiken bestimmt Langer (2.) im Sinne der Derridaschen-Butlerschen 6

Die Beschränkung des Materialkorpus auf die beiden Jahrgänge 1999/2000 wird auch hier mit dem Verweis auf diskursive Markierungen begründet: Mit dem Regierungswechsel 1998, nach 16 Jahren bürgerlich-liberaler Regierung, sei die Etablierung einer „Aktivierenden Sozialpolitik“ vehement dynamisiert worden. Diese politische Neuprogrammierung (Kessl/Krasmann 2005) und ihre spezifischen Ausprägungen lassen sich, so die Analyse, in den darauf folgenden Ausgaben der Landesjugendamtsperiodika sehr deutlich nachzeichnen (Positionierung). Die Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung dienten der Einordnung (Kontextualisierung) dieser spezifischen diskursiven Markierung in den weiteren Kontext der Programmierungspraktiken der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe.

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Iterationsidee als Zitationsketten, als „Wiederaufgreifen und Transformieren bereits vergangener Äußerungsakte“ (ebd.: 55); und ideologietheoretisch geht Langer (3.) davon aus, dass Subjekte erst im Akt des Sprechens zu solchen werden. In diesem methodologischen Kontext positioniert Langer die von ihr gewählte modifizierte Vorgehensweise als diskursanalytische Ethnografie. In der eigenen Studie (Kessl 2005: 111ff.) wurde davon ausgegangen, dass diskursanalytische Perspektiven dadurch charakterisiert sind, dass sie eine andere zeitliche Dimensionierung vornehmen als handlungs- wie strukturtheoretisch angelegte Forschungsvorhaben. Während jene eine zeitliche Abfolgesequenz von Handlungsautonomie und sozialer Vermittlung von Handlungsbestimmung und Handlungsvollzug voraussetzen, das heißt in Modellen eines „Vorher-Nachher“ denken, gehen diskursanalytische Vorgehensweisen von einer Vorstellung der Unablässigkeit aus (vgl. Deleuze 1976: 145): „Zeitliche Anordnungen in der Abfolge vorausgesetzter analytischer Schemata sind nicht (mehr) festzulegen, sondern auch der Forschungsprozess als Vorgehensweise unablässiger historisch-spezifischer und kontingenter (Re)Produktion zu begreifen und dementsprechend zu realisieren – beispielsweise als diskursanalytische Rekonstruktion“ (Kessl 2005: 111). Walburga Freitag formuliert in ihrer Studie die diskurstheoretische Annahme, „Diskurs“ stelle im Foucaultschen Denken eine Konzeption dar, mit der Foucault vor allem in seiner früheren, archäologischen Phase arbeite und vor allem auf die Rekonstruktion disziplinärer Wissensordnungen ziele. Diese diskurstheoretische Phase, in der diskursanalytische Vorgehensweisen im Sinne einer „Analysemethode“ (vgl. Freitag 2003: 22) Verwendung finden, werde dann aber zunehmend von der genealogischen Phase verdrängt, in der es Foucault, wie bereits skizziert, nun um die Subjektivierungsweisen und nicht mehr nur um disziplinäre Wissensordnungen gehe. An dieser Stelle verortet Freitag ihre Forschungsperspektive. Diskursanalytische Vorgehensweisen beanspruchen nicht weniger als die Ausweisung eines „new methodological area for empirical research that conceives itself as a form of scientific and self-reflexive practice“, so die Herausgeber/innen des FQS-Schwerpunkts zur Diskursanalyse (Bührmann et al 2007). Antje Langers Studie kann als Hinweis auf die damit notwendige gegenstandsbezogene Explikation der jeweiligen diskursanalytischen Vorgehensweise gelesen werden. Denn analog zu jüngeren methodologischen Debatten über Fragen einer notwendigen „Haltung der Forscherin“ und deren Gestalt in der rekonstruktiven Sozialforschung – unter anderem in der der Ethnografie oder der Biografieforschung – sehen sich auch die Diskursforscher/innen mit der Frage konfrontiert, wie die jeweilige, gegenstandsangemessene diskursanalytische Haltung ausgestaltet werden kann. Eine einheitliche diskursanalytische Vorgehensweise, und damit eine fixierte diskurstheoretische Bestimmung diskursanalytischer Vorgehensweisen scheint nicht überzeugend, solange der selbst-reflexive Anspruch und die je historischspezifische Verortung ernst genommen werden sollen. Auf diesen Aspekt kann das markierte Verständnis einer Perspektive der Unablässigkeit im Deleuzeschen Sinne hinweisen. Im Anschluss an Freitags Studie kann außerdem die Frage gestellt werden, ob diskursanalytische Vorgehensweisen im Anschluss an Michel Foucaults Arbeiten nur auf dessen archäologische Arbeiten zu beschränken sind – und damit eher mit Blick auf die Gestalt von Aussagen und darüber sich formierende Diskursformationen – oder auch die genealogisch-dispositivbezogenen Dimensionen mit einzubeziehen sind. Die Frage einer Integration der Dispositivdimension, einer Überführung von diskurs- in dispositivanalytische Vorgehensweisen oder eine entsprechende Erweiterung des bisherigen Formats diskursanalytischer Vorgehensweisen steht aktuell im Zentrum deutschsprachiger Diskussionen (vgl. ebd.).

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Sinnvoll erscheint meines Erachtens ein Diskursverständnis, das diesen als System von Aussagen begreift. Diskursanalytische Vorgehensweisen sind dann als Rekonstruktionen von historisch-spezifischen Regelmäßigkeitssystemen des Sagbaren zu bestimmen. Zugleich ist damit kein rein textanalytisches Vorgehen angenommen, wie dies auch Foucault in der Archäologie des Wissens bereits andeutet, denn das Sagbare selbst wird als soziale und kulturelle Praktik verstanden und prägt sich als solche aus. Daher kann der Fokus auf Dispositivmuster, verstanden als Regelmäßigkeitsystem des machtvollen Systems des Sicht- und Sagbaren, sicherlich einen zentralen Marker darstellen, der diskursanalytische Vorgehensweisen im Anschluss an Foucaults Arbeiten davor bewahren kann, die machtanalytischen Dimensionen ihres Vorgehens zu unterschätzen oder gar auszublenden – oder im Sinne Foucaults: die Dimensionen von Macht und Herrschaft, die dieser in seinen späteren Arbeiten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt hat, als zentrale Dimensionen diskursanalytischer Vorgehensweisen vorzusehen.7 Von Diskurs, Diskursanalyse und (nicht-)diskursive Praktiken Alle drei skizzierten Studien verbindet der Umstand, dass das jeweilige diskursanalytische Vorgehen nicht ausschließlich in Form einer textanalytischen Rekonstruktion von zentralen politisch-programmatischen Dokumenten realisiert wird. Ähnliches zeigt sich auch in weiteren diskursanalytischen Arbeiten in der erziehungswissenschaftlichen Forschung (vgl. Reh 2003). Dieser Befund ist – zumindest mit Blick auf geschichtswissenschaftliche und soziologische Beiträge – durchaus erstaunlich. Denn diesen wurde in den vergangenen Jahren – teilweise vehement – der Vorwurf gemacht, sie konzentrierten sich ausschließlich auf textanalytische Rekonstruktionen. Ein Einwand, der gerade auch gegenüber den Forschungen formuliert wird, die im Schnittfeld von Studien zur Gouvernementalität und diskursanalytischen Vorgehensweisen zu verorten sind. Insofern ist es auch nicht überraschend, dass die Bedenken hinsichtlich einer rein textanalytischen Analyse mit Blick auf die drei ausgewählten Studien am ehesten gegenüber der eigenen Studie formuliert werden können, da in dieser in beiden Teilen dokumentenbasiert vorgegangen wird. Allerdings wird in der Studie davon ausgegangen, dass in beiden Dokumentensorten (Literatur wie Zeitschriften) diskursive Praktiken, wenn auch in unterschiedlichen Formaten zum Tragen kommen: Ziel war daher die Dechiffrierung von Regelmäßigkeiten sozialer Praktiken, die allerdings in Textform beobachtbar wurden (vgl. Kessl 2005: 100). Zwar ist nicht alles Text, so könnte man dieses diskurstheoretische Verständnis zusammenfassen, aber textuelle, wie andere sprachliche und symbolische Praktiken formieren sich in diskursiver Form, realisieren sich also als diskursive Praktiken. Antje Langer lehnt in ihrer Studie eine Differenzierung im Sinne einer Gegenüberstellung von Text und Handlung ähnlich eindeutig als analytisch unzureichend und verkürzt ab. Selbstverständlich sei der „Gegenstand sozialwissenschaftlicher Diskursanalysen (...) das Sprechen“, schreibt Langer in diesem Zusammenhang, aber eben immer als „kommunikative und soziale 7

Kontraproduktiv erscheint mir in diesem Zusammenhang der irritierende Versuch, durch eine Proklamation der Überführung von diskurs- in dispositivanalytische Vorgehensweisen diese selbst zum „Dispositiv“ zu erklären (Bührmann/Schneider 2008: 158). Ja, noch weiter: Bührmann und Schneider wollen damit sogar bereits einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel durch eine „Normalisierung der Dispositivforschung“ erreichen (ebd.). Ganz abgesehen davon, dass Thomas Kuhn (1973: 28) die Identifizierung eines anerkannten Paradigmas – und nicht eines „Dipositivs“ – erst der jeweiligen Nachfolgegeneration zuschreibt, wird in diesem hybriden Schlussplädoyer die Verwendung des Dispositivkonzepts völlig voluntaristisch.

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Tätigkeit“ (Langer 2008: 53; vgl. ebd. 65ff.). Es gehe um die sprachliche Rede als Praktik, als Tätigkeit im Gebrauch, was Langer terminologisch in der Rede von den diskursiven Praktiken und nicht nur vom Diskurs symbolisiert. Diskursanalytisch von Interesse sei vor allem die Gestalt des Sagbaren, des Wissens, das „wahr gesprochen wird“ (ebd.): „Diskursanalysen gehen (…) über reine Sprach- und Textanalysen hinaus, weil mit den diskursiven Praktiken zugleich ein spezifisches, gesellschaftlich hegemoniales Wissen untersucht wird“ (ebd.: 55). Walburga Freitag vermittelt zwar ebenso soziale Praktiken in Form der Erfahrungsmuster der interviewten contergangeschädigten Personen mit den Dispositiven, wie sie sie innerhalb der wissenschaftlichen Diskurse zeigen kann. Zugleich sieht Freitag die Bezugnahme von diesen diskursiven Praktiken auf die sozialen Praktiken der Subjekte aber als eine Vermittlung von diskursanalytischer und genealogischer Perspektive an. Sie beschränkt also das explizit diskursanalytische Vorgehen (im ersten Teil ihrer Studie) auf das archäologische Format, wie es in der früheren Phase der Foucaultschen Arbeiten präsent ist. Diskursanalytische Vorgehensweisen in der Sozialen Arbeit. Erste Hinweise für eine Fokussierung Die vorgenommene Vergewisserung macht deutlich, dass in Bezug auf die bisher vorliegenden Arbeiten in der Sozialen Arbeit bzw. in Studien, die für diese von Interesse sind, der Vorwurf, diskursanalytische Vorgehensweisen konzentrierten sich ausschließlich auf die sprachliche Ebene und vernachlässigten damit die Ebene sozialer Praktiken – und genau diese sei schließlich für wissenschaftliche Arbeiten zur Sozialen Arbeit von entscheidender Bedeutung – in dieser generellen Weise unzutreffend ist. In der englischsprachigen Debatte hat John Rodger (1991) diesen Einwand bereits Anfang der 1990er Jahre in seinen machtanalytischen Überlegungen zur sozialpädagogischen Erbringungssituationen aufgegriffen und daher ein alternatives diskursanalytisches Vorgehen vorgeschlagen. Diskursanalytische Rekonstruktionen könnten seines Erachtens einsichtig über die „wider knowledge base of social work“ informieren, so Rodger (1991: 68) damals. Sie seien aber typischerweise hinsichtlich der Informationen über das Alltagsleben, in dessen sozialen Interaktionen sich die realen Umstände von Armut, Klasse und Rassismus niederschlügen, schwach. Rodger schlägt zur Vermeidung dieses Desiderats eine Kombination ethnomethodologischer und diskursanalytischer Vorgehensweisen vor: „What we need, in short, is a discourse analysis grounded in social relationships“ (ebd.). Die hier skizzierten Studien versuchen analog ein diskursanalytisches Vorgehen durch die Kombination von Ethnografie, Biografieanalyse oder einer genealogischen Rekonstruktion mit der jeweiligen Dokumentenanalyse zu realisieren. Diese Versuche machen damit aber auch deutlich, dass die ethnomethodologische Perspektive zwar eine sinnvolle, aber nicht die einzige Möglichkeit darstellt, um eine diskursanalytische Rekonstruktion als Rekonstruktion sozialer und kultureller Praktiken methodologisch angemessen durchzuführen. Gleichzeitig bietet sich für die Soziale Arbeit die Kombination mit ethnomethdologischen Vorgehensweisen sicherlich schon aus forschungspragmatischen Gründen als eine naheliegende Variante an, da mit einer erklecklichen Zahl von englischsprachigen Arbeiten bereits Modelle vorliegen, wie eine solche Kombination in Form der Korrespondenz von konversations- und diskursanalytischen Vorgehensweisen realisiert werden kann (vgl. Juhila/Suoninen 1993; White 2008). Allerdings sind diese Arbeiten immer dann in Gefahr, den machtanalytischen Fokus der Foucaultschen Diskursforschung zu verschatten, wenn sie sich allzu sehr auf ihren mikroanalytischen Fokus konzentrieren. Um das zu vermeiden, wäre sinnvoll das Anschluss- und Erweiterungspotenzial

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anderer methodologischer Positionen im Umfeld diskursanalytischer Diskussionen, wie der hegemonietheoretischen Überlegungen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2000; vgl. Nonhoff 2006), auch in der Sozialen Arbeit zu berücksichtigen. Eine in der Diskursforschung insgesamt bisher wenig ausgeleuchtete, aber vielversprechende Position ist außerdem die der Positioning Theory, wie sie Hollway (1984) und Davies/Harré (2002) vorgelegt haben (vgl. Tirado/Gálvez 2007). Die damit ermöglichte Systematisierung der Frage, wie gültige Positionierungen durch die Produktion und Re-Produktion vorherrschender Grenzziehungen stabilisiert werden, kann gerade für die Stabilisierung der machtanalytischen Sichtweise in der Diskursforschung weiterführend sein. Damit kann außerdem das positivistische Missverständnis, das manches Mal in einem vulgarisiert-Weberschen Wissenschaftsverständnis einer angenommenen Werturteilsfreiheit Raum zu greifen scheint, verhindert werden. Dazu ist allerdings auch die Perspektive der Positioning Theory nochmals machtanalytisch zu schärfen (vgl. Kessl 2009). Diese wäre m.E. sinnvoll in eine Positioning Analysis zu überführen, im Sinne einer Unterscheidung von „Theorie“ als der einzig möglichen und notwendigen Form einer Aufklärung von Praktiken und „Analyse“ als Praxistheorie im Sinne eines „Schritt halten(s) mit der Raffinesse und dem Reichtum an Varianz, mit der kulturelle Praktiken (den) Gegenstand erfinden“ (Hirschauer 2004: 90). Eine solche Positioning Analysis hätte die Möglichkeit, einen entscheidenden Beitrag zu einem skeptisch-kritischen Wissenschaftsverständnis zu erbringen, indem die vorherrschenden Markierungen in den diskursiven Praktiken beleuchtet und damit als Ansatzpunkte für deren Verschiebung sichtbar gemacht werden. Zugleich könnte über eine Fokussierung auf die Positionierungen auch die Akteursdimension in diskursanalytischen Vorgehensweisen expliziter markiert werden, womit das Missverständnis, diskursanalytische Vorgehensweisen berücksichtigten die sozialen und kulturellen Praktiken nicht, endlich ausgeräumt werden könnte. Allerdings wäre dazu der „Akteur“ als schwacher und nicht als starker Akteur im Sinne einer handlungsvorgängigen Subjektposition zu konzipieren.8 Diskursanalytische Vorgehensweisen eröffnen sich m.E. durch eine solche Fokussierung einen Weg, auf dem nicht nur im Sinne Sue Whites eine Unterstützung des Projekts einer professionellen Reflexivität Sozialer Arbeit möglich ist, sondern vor allem die Einnahme einer Haltung kritischer Reflexivität, das heißt die Unterstützung einer expliziten politischen Positionierung der jeweils beteiligten Akteure in den Feldern Sozialer Arbeit. Literatur Angermüller, Johannes (2005): Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse in Deutschland: zwischen Rekonstruktion und Dekonstruktion. In: Keller, Reiner/Hirseland, Alexander/Schneider, Werner/ Viehöver, Willy (Hg.): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, Konstanz, S. 23-48. Becker, Regina (2007): Beratung von pflegenden Angehörigen: eine queer-feministische Diskursanalyse, Kassel (Dissertationsschrift) [Quelle: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0002-4010; Stand: 18. August 2008] Behnisch, Michael (2005): Pädagogische Beziehung. Zur Funktion und Verwendungslogik eines Topos der Jugendhilfe, Würzburg. 8

Mit der Figur eines „schwachen Akteurs“ wird ein – vorerst assoziativer Anschluss – an die Denktradition eines „schwachen (nach-metaphyischen) Denkens“ eingenommen. Ein solches Verständnis arbeiten beispielsweise beide italienischen Philosophen Gianni Vattimo und Pier Aldo Rovatti seit Anfang der 1980er Jahre aus (vgl. Weiß 2003). Allerdings fehlt es bisher weitgehend an grundlegenden deutschsprachigen Auseinandersetzungen mit diesen Überlegungen (vgl. Scheu 2008), weshalb der Anschluss (noch) auf assoziativ-heuristischem Niveau verbleibt.

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Triangulation Uwe Flick Einleitung Forschung in der sozialen Arbeit ist häufig mit komplexen Problemen und komplexen Lebenslagen beschäftigt. Fragstellungen in der Jugendhilfeforschung bspw. reichen in der Regel über den ‚Fall’ des Jugendlichen hinaus, für eine angemessene Bearbeitung ist häufig die Einbeziehung institutionell-professioneller Sichtweisen oder derjenigen im Umfeld (Eltern, Nachbarn etc.) notwendig. In vielen Fällen reicht dabei ein methodischer Zugang nicht aus, um diese Komplexität empirisch zugänglich zu machen: Neben Interviews mit den verschiedenen Beteiligten (die ggf. nach unterschiedlichen Prinzipien gestaltet werden müssen) können Dokumentenanalysen (Akten zum ‚Fall’), Beobachtungen in der Lebenswelt und andere Zugänge notwendig werden. In diesem Kontext bekommt der Ansatz der Triangulation besondere Bedeutung. Ausgangspunkte Der Begriff der Triangulation bezeichnet in der Regel, dass ein Forschungsgegenstand von (mindestens) zwei Punkten aus betrachtet wird. Meist wird die Analyse von zwei und mehr Punkten durch die Verwendung verschiedener methodischer Zugänge realisiert. Das Konzept geht zurück auf die Diskussion um non-reaktive Messverfahren (Webb et al., 1966). Breitere Aufmerksamkeit findet die Konzeption von Denzin (1970/1989), der Triangulation ursprünglich als eine Strategie der Validierung versteht. Er unterscheidet vier Formen: Die Kombination verschiedener Datenquellen (Data Triangulation), die zu verschiedenen Zeitpunkten, an unterschiedlichen Orten und an verschiedenen Personen erhoben werden. Investigator Triangulation kennzeichnet den Einsatz verschiedener Beobachter bzw. Interviewer, um die subjektive Verzerrung durch den Einzelnen auszugleichen. Theorien-Triangulation bezeichnet die Annäherung an den Forschungsgegenstand ausgehend von verschiedenen Perspektiven und Hypothesen. Zentrales Konzept ist bei Denzin die methodologische Triangulation innerhalb einer Methode (within-method, d. h. etwa die Verwendung verschiedener Subskalen in einem Fragebogen) und von verschiedenen Methoden (between-method). Im Laufe der Diskussion hat diese sich nach einiger Kritik weg bewegt von der Orientierung an der Validierung von Forschungsergebnissen und hin zu einer Erweiterung der Erkenntnismöglichkeiten durch verschiedene Zugänge (vgl. für einen Überblick: Flick 2008). Demnach lässt sich Triangulation wie folgt definieren:

G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_23, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Definition der Triangulation Triangulation beinhaltet die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand oder allgemeiner: bei der Beantwortung von Forschungsfragen. Diese Perspektiven können sich in unterschiedlichen Methoden, die angewandt werden, und/oder unterschiedlichen gewählten theoretischen Zugängen konkretisieren, wobei beides wiederum mit einander in Zusammenhang steht bzw. verknüpft werden sollte. Weiterhin bezieht sie sich auf die Kombination unterschiedlicher Datensorten jeweils vor dem Hintergrund der auf die Daten jeweils eingenommenen theoretischen Perspektiven. Diese Perspektiven sollten so weit als möglich gleichberechtigt und gleichermaßen konsequent behandelt und umgesetzt werden. Durch die Triangulation (etwa verschiedener Methoden oder verschiedener Datensorten) sollte ein prinzipieller Erkenntniszuwachs möglich sein, dass also bspw. Erkenntnisse auf unterschiedlichen Ebenen gewonnen werden, die damit weiter reichen, als es mit einem Zugang möglich wäre (Flick 2008, S. 12).

Anwendungsweisen der Triangulation Zur Erläuterung des Ansatzes der Triangulation wird die oben dargestellte Untersuchung zu Erleben von und Umgang mit chronischer Krankheit bei obdachlosen Jugendlichen herangezogen (Flick/Röhnsch im vorliegenden Band; vgl. auch Flick/Röhnsch 2008). Darin wurden verschiedene Formen der Triangulation angewendet. Den Einstieg in das Projekt und die Thematik stellte eine ausgedehnte Phase der Teilnehmenden Beobachtung an einem der Treffpunkte der Szene der obdachlosen Jugendlichen dar. Ursprünglich war geplant noch eine andere Szene einzubeziehen, die sich an einem anderen öffentlichen Ort trifft, was sich jedoch durch Baumaßnahmen während der Laufzeit der Projekte1 nicht realisieren ließ, da diese Szene sich ‚verzogen’ hatte. Daran schloss sich eine ausführliche Befragung von Jugendlichen aus der Szene zuerst zu ihren Gesundheitsvorstellungen an, wobei das episodische Interview (vgl. ausführlicher den entsprechenden Beitrag des Autors in diesem Band) eingesetzt wurde. Im zweiten Schritt wurden dann Jugendliche ausgewählt, die in dieser Szene mit chronischen Erkrankungen leben, wobei ebenfalls wieder das episodische Interview eingesetzt wurde allerdings mit weitgehend anderen Fragen. Ergänzend dazu wurden Experteninterviews (vgl. hierzu Meuser/Nagel 2002) mit Mitarbeitern von Institutionen der Sozial- und Gesundheitsversorgung, an die sich obdachlose Jugendliche bei Bedarf wenden könnten, durchgeführt. Dabei kam Triangulation auf verschiedenen Ebenen zum Einsatz: Einerseits stellt das episodische Interview für sich schon eine Form der „within-methods“-Triangulation dar: Hier werden Erzählanreize mit Fragen kombiniert, um Erzählungen und Antworten als verschiedene Datensorten zu erhalten. Hinter der Anwendung dieser beiden Zugänge stehen jeweils unterschiedliche Annahmen über den Gegenstand der Untersuchung. Andererseits wurden verschiedene Methoden im Sinne der „between-methods“-Triangulation mit einander kombiniert – verschiedene Interviews und Beobachtungen. Darüber wurden jeweils unterschiedliche theoretische Perspektiven verfolgt (im Sinne der Theorien-Triangulation) und unterschiedliche Datensorten produziert (im Sinne der Daten-Triangulation). 1

Bei den Studien handelt es sich um zwei DFG-Projekte. Das erste widmete sich den Vorstellungen und Praktiken von obdachlosen Jugendlichen in Bezug auf Gesundheit. Daran schloss sich die zweite Studie an, die den Umgang mit chronischen Krankheiten zum Thema hatte. Die beiden Studien wurden in den Jahren 2004-2007 durchgeführt.

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Umsetzung von Triangulation in qualitativen Studien Bei der Verwendung von Triangulation in qualitativen Studien lassen sich folgende Phasen unterscheiden: Indikation der Triangulation Wie bei der Verwendung anderer methodischer Ansätze sollte zunächst geklärt werden, warum die Triangulation eingesetzt werden soll, warum sie notwendig ist und was der erwartete Zugewinn an Erkenntnis ist. Nicht in jedem Falle ist Triangulation notwendig oder hilfreich. Diese Klärung – warum setze ich eine bestimmte Methode bei meiner Fragestellung, bei meiner Zielgruppe und beim Stand des Wissens über beides ein – lässt sich auch als Indikation verstehen (vgl. Flick 2007a, Kap. 29), ähnlich wie die Indikation einer bestimmten Therapie in der Medizin oder Psychotherapie. In der oben beschriebenen Studie waren die Gründe für den Einsatz von Triangulation: Umgangsweisen mit bestimmten Gesundheitsthemen und -risiken lassen sich nur über Beobachtungen direkt erfassen. Weiterhin hatten die ausgedehnten teilnehmenden Beobachtungen die Funktion, die Forscherin in das Feld einzuführen, Kontextinformationen zu den Lebensbedingungen der Jugendlichen zu sammeln und potentielle Interviewpartner zu identifizieren. Ein großer Teil der gesundheits- und krankheitsrelevanten Wissensbestände und Handlungsweisen sind einer Beobachtung nicht zugänglich. So sind Themen wie Sexualität und sexuelles Risikoverhalten einerseits höchstens über Interviews zugänglich. Auch sind längerfristige Prozesse und Entwicklungen oder vergangene Ereignisse, die z.B. zum Einstieg in das Straßenleben geführt haben, in der Regel nicht über Beobachtungen zugänglich sondern über Erzählungen bzw. Fragen. Aus diesem Grunde wurden die Teilnehmenden Beobachtungen durch systematische Interviews ergänzt. Da die relevanten Themen am ehesten über eine Kombination von subjektivem Wissen und Erfahrungen zugänglich werden, bot es sich an, diese beiden Datensorten in einem kombinierten Interview (wie dem episodischen Interview) und damit in einer „within-methods“-Triangulation zu erheben. Schließlich sollte die Sicht der Jugendlichen durch die Perspektive des professionellen Umgangs mit dem Problem chronische Krankheit auf der Straße oder allgemeiner mit der gesundheitlichen Versorgung von obdachlosen Jugendlichen ergänzt werden, weshalb als dritte Methode (bzw. Datensorte) Experten-Interviews durchgeführt wurden. Planung von Triangulationsstudien: Design und Ressourcen Triangulation kann im Wesentlichen in den gängigen qualitativen Ansätzen und Designs eingesetzt werden. Dabei sind jedoch verschiedene Punkte bei der Konstruktion eines Forschungsdesigns (vgl. Flick 2007b) zu beachten. Zunächst einmal sollte geprüft werden, ob die für das Projekt zur Verfügung stehenden Ressourcen – Zeit, Geld, Erfahrungen etc. – ausreichend sind, um verschiedene Methoden einzusetzen. Die Zeit für die Durchführung und v.a. Transkription mehrerer Interviews (verschiedener Interviewtypen) sollte nicht unterschätzt werden. Bei Drittmittelprojekten sollte dies bei der Kalkulation der beantragten Mittel ebenso bedacht werden, wie bei der zeitlichen Planung einer Dissertation. Unterschiedliche Methoden folgen ggf. auch unterschiedlichen Logiken des Sampling. Bei Interviews wird das Sampling sich auf Personen konzentrieren und bspw. theoretisches Sampling bei der Auswahl von Interviewpartnern umsetzen. Bei Beobachtungen stehen jedoch eher Situationen im Vordergrund der Materialauswahl.

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In der Beispielstudie wurden zunächst unterschiedliche Situationen aus dem Alltag der Jugendlichen ausgewählt, in denen teilnehmende Beobachtungen und ggf. informelle Gespräche durchgeführt wurden. Bei der Auswahl der Jugendlichen für die Interviews war das Sampling eher am Ansatz des theoretischen Sampling in Bezug auf Personen orientiert, wobei im zweiten Teilprojekt die Variation der chronischen Krankheit zu einem zentralen Kriterium wurde. Bei der Auswahl der Experten für die Interviews war eher der Ansatz des purposive Sampling (Patton 2002) die Orientierung, da gezielt Vertreter unterschiedlicher Institutionen der Versorgung von Jugendlichen auf der Straße gesucht wurden. Datenerhebung in Triangulationsstudien Im Zuge der Datenerhebung bei der Verwendung der Triangulation stellt sich die Frage, ob diese tatsächlich zu unterschiedlichen Datensorten führen: Die Kombination eines LeitfadenInterviews mit einem Narrativen Interview bei der gleichen Person führt zwar zu unterschiedlichen Daten. Die sind jedoch nicht auf so unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, dass der Einsatz zweier Methoden und die Notwendigkeit eines zweiten Termins mit demselben Interviewpartner gerechtfertigt erscheint. Hier ist eher die Verbindung von Erzählung und Antworten in einem Verfahren zu empfehlen. In der als Beispiel herangezogenen Studie haben die verschiedenen Methoden zu unterschiedlichen Datensorten geführt: Interaktions- und Handlungsdaten bei der Beobachtung, Erzählungen eigen-erlebter Erfahrungen und subjektives Wissen in den Interviews mit den Jugendlichen und allgemeine Einschätzungen in den Experteninterviews. Jeder Zugang konnte Daten liefern, die das von den anderen Methoden Produzierte auch systematisch überschreiten. So enthalten die Daten Erkenntnisse auf unterschiedlichen Ebenen des ‚gleichen’ Problems. Bei der Verwendung verschiedener Methoden ist auch zu bedenken, dass diese sich wechselseitig beeinflussen können. Ein ausführliches Interview mit einem Jugendlichen über sein gesundheitsbezogenes (Risiko-) Verhalten kann durchaus Auswirkungen auf sein Verhalten im Rahmen der weiteren Beobachtungen in der Szene haben. Beobachtungen können wie in unserem Beispiel (auch) die Funktion haben, den Weg zu Interviewpartnern zu ebnen. Grundsätzlich lassen sich solche Interferenzen nicht ausschließen sollten aber offensiv genutzt werden, wenn sie auftreten. Analyse von Daten aus Triangulationsstudien Ein wesentlicher Schritt in der Anwendung der Triangulation ist die Herstellung von aussagekräftigen Bezügen zwischen den verschiedenen Datensorten. Hier lassen sich zwei Ansatzpunkte nehmen. Zunächst einmal können Bezüge auf der Ebene des Einzelfalls hergestellt werden – wie unterscheiden sich die Aussagen im Interview von den beobachteten Verhaltensweisen desselben Jugendlichen? Wird auf ihn in einem oder mehreren der Experteninterviews Bezug genommen und in welcher Relation steht das zu seiner Sicht bzw. seinem Verhalten? Diese unmittelbaren Bezüge auf der Ebene des Einzelfalls lassen sich jedoch nur im Idealfall herstellen. Häufiger ist der Umweg über die Datensätze: Welche Typen von Verhaltensweisen zeigt die Beobachtung, in welcher Beziehung stehen diese zu den Typen, die in den Aussagen und Erzählungen der Jugendlichen deutlich werden? Worin unterscheiden sie sich von den Antworttendenzen oder Typologien in den Experten-Interviews etc. (vgl. Abb. 1).

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Triangulation

Abbildung 1:

Ebenen der Triangulation mit drei methodischen Zugängen

Die Ergebnisse, die sich aus der Verknüpfung unterschiedlicher Datensorten ergeben, können übereinstimmen (konvergieren) – der Jugendliche verhält sich in den Beobachtungen entsprechend seiner Aussagen im Interview, seine Erzählungen entsprechen seinen allgemeinen Aussagen. Häufiger ist jedoch festzustellen, dass die Ergebnisse sich wechselseitig ergänzen (komplementär sind) – die Beobachtungen zeigen Zusätzliches zu dem im Interview Angesprochenen, das Interview beantwortet Fragen zu Themen, die der Beobachtung nicht zugänglich waren, ohne direkt im Widerspruch dazu zu stehen. Schließlich können Ergebnisse auch divergieren (zu diesen drei Formen von Ergebnisbeziehungen vgl. Kelle/Erzberger 2000) – der Jugendliche handelt seinen Aussagen aus dem Interview zuwider, wenn er beobachtet wird. Gerade die letzten beiden Varianten rechtfertigen eigentlich erst die Verwendung der Triangulation, weil sie dann tatsächlich einen Mehrwert an Erkenntnis bringt, der zudem noch nach (theoretischen) Erklärungen für die Diskrepanzen verlangt. Probleme der Durchführung Bei der Verwendung unterschiedlicher Methoden ergeben sich schließlich ggf. unterschiedliche Ansprüche an die Daten bzw. an die Qualität der Untersuchung. Bei qualitativer Forschung ist die Frage nach Kriterien zur Bestimmung der Qualität von Studien ohnehin noch nicht hinreichend beantwortet. Wenn die Triangulation darüber hinaus quantitative Daten und standardisierte Methoden einbezieht, bleibt zu klären, ob die dafür entwickelten Kriterien auch für die Verwendung qualitativer Daten und Methoden angewendet werden sollen und können oder ob dies auch nach unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit der Qualitätsfrage verlangt. Triangulation ist mit höheren Erwartungen an die Teilnehmer einer Untersuchung verbunden und sie liefert umfassendere Informationen auch über den Einzelnen. Beides lässt sich auch unter Gesichtspunkten der Forschungsethik betrachten: Die erhöhten Erwartungen an die Teilnehmer der Studie durch verschiedene Methoden bedeuten ggf. auch, dass sie sich wiederholt oder in verschiedener Hinsicht mit belastenden Themen auseinandersetzen sollen – etwa den Einschränkungen, die mit der chronischen Krankheit verbunden sind, oder der Tatsache, dass diese nicht mehr einfach verschwinden wird. Diese zusätzlichen ‚Zumutungen’ an die Teilnehmer der Studie sollten durch tatsächlich notwendige und unterschiedliche Daten bzw. Erkenntnisse im Vergleich zu Studien mit einer Methode gerechtfertigt sein. Die umfas-

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Uwe Flick

senderen Informationen, die aus der Verwendung mehrerer Methoden entstehen, sollten – mehr noch als bei qualitativer Forschung ohnehin schon notwendig – besonders sensibel behandelt werden und daraufhin geprüft werden, ob sie tatsächlich notwendig sind für die Beantwortung der Forschungsfrage(n). Abschließende Bemerkungen Wie die letzten Punkte verdeutlicht haben, sollte Triangulation nicht nur aus forschungspraktischen, sondern auch aus ethischen Gründen nur in Projekten eingesetzt werden, in denen die Fragestellung dies verlangt und die Umsetzung tatsächlich neue und weitergehende Erkenntnisse verspricht. Hier wurde der Akzent der Darstellung einerseits auf die Triangulation von Methoden gelegt. Dabei sollten die unterschiedlichen theoretischen Hintergründe von Methoden berücksichtigt werden (vgl. hierzu ausführlicher Flick 2008), da Beobachtung und Befragung in der Regel unterschiedlichen Erkenntnisprinzipien folgen. Da der Ausgangspunkt der Darstellung die oben vorgestellte Untersuchung sein sollte, wurde hier auch nicht auf die spezielle Rolle der Triangulation in der Verknüpfung qualitativer und quantitativer Forschung eingegangen (vgl. hierzu Flick 2008, Kap. 5). Literatur Denzin, N. K. (1970/1989). The Research Act (3. Aufl.). Englewood Cliffs, N. J.: Prentice Hall. Flick, U. (2007a). Qualitative Sozialforschung – Eine Einführung. Erweiterte und aktualisierte Ausgabe. Reinbek: Rowohlt. Flick, U. (2007b). Designing Qualitative Research Book 1 of The SAGE Qualitative Research Kit (8 Volumes). London/ Thousand Oaks, CA/ Dehli: Sage. Flick, U. (2008). Triangulation – Eine Einführung (2. erw. u. akt. Aufl.). (Reihe Qualitative Sozialforschung). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft. Flick, U. & Röhnsch, G. (2008). Gesundheit auf der Straße. Vorstellungen und Erfahrungsweisen obdachloser Jugendlicher. Weinheim: Juventa. Flick, U., Walter, U., Fischer, C., Neuber, A. & Schwartz, F.W. (2004). Gesundheit als Leitidee? Gesundheitsvorstellungen von Ärzten und Pflegekräften. Bern: Huber. Kelle, U. & Erzberger, Ch. (2000). Quantitative und Qualitative Methoden – kein Gegensatz. In: Flick, U., Kardorff, E. v. & Steinke, I. (Hrsg.): Qualitative Forschung – Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt, S. 299-309. Meuser, M. & Nagel, U. (2002). ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Bogner, A., Littig, B. & Menz, W. (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen: Leske + Budrich, S. 71-93. Patton, M.Q. (2002). Qualitative Evaluation and Research Methods (3. Aufl.). London: Sage. Webb, E., Campbell, D., Schwartz, R. & Sechrest, L. (1966). Unobtrusive Measures: Nonreactive Research in the Social Sciences. Chicago: Rand McNally.

Hauptkomponentenanalyse Sandra Landhäußer/Holger Ziegler Im Rahmen des Forschungsprojekts ‚Räumlichkeit und soziales Kapital in der Sozialen Arbeit. Zur Governance des sozialen Raums’ (vgl. den Beitrag der AutorInnen im ersten Abschnitt dieses Bandes) wurde eine Fragebogenerhebung mit 491 BewohnerInnen eines Stadtteils zu ihrem ‚sozialen Kapital‘‚ durchgeführt. Die Befragten stellen eine auf Basis der Einwohnermeldeamtsstatistik gezogene, repräsentative Stichprobe der knapp 4000 BewohnerInnen dieses Stadtteils zwischen 14 und 75 Jahren dar. Um einen Überblick über die zahlreichen Antworten zu bekommen, ging es zunächst darum, in einer explorativen Weise, die Frage zu bearbeiten, inwiefern sich in den Antworten der Befragten zu ihrem sozialen Kapital Muster bzw. Regelmäßigkeiten zeigen. Statistisch lässt sich diese Frage auf der methodischen Basis einer Hauptkomponentenanalyse beantworten. Diese stellt ein Verfahren der multivariaten Statistik dar, das darauf zielt, hinter den Antworten zu einzelnen Fragen liegende Dimensionen zu finden. Mit Hilfe einer Hauptkomponentenanalyse kann demnach eine Vielzahl von Informationen aus einzelnen Variablen auf dahinter liegende, latente Dispositionen befragt werden. Die Antworten werden bei diesem Vorgang entsprechend strukturiert und auf wenige Dimensionen reduziert bzw. komprimiert. So kann z.B. die latente Disposition hinter den Antworten zu den drei Einzelfragen „Haben Sie Menschen in Ihrem Bekanntenkreis, die Ihren Einkauf erledigen können, wenn Sie krank sind?“ „… die Ihr Kind babysitten können?“ „… denen Sie Ihre Hausschlüssel geben, wenn Sie weg fahren?“ als das ‚Ausmaß an alltäglicher Unterstützung’ der Befragten bezeichnet werden. Bei hauptkomponentenanalytischen Verfahren geht es also um inhaltliche, „variablenbezogene“ (Micheel 2003) Dimensionierungen. Wenn man beispielsweise bei einer Vielzahl von Einzelitems drei dahinterliegende Dimensionen findet, so erhält jedeR Befragte für jede der drei Dimensionen einen eigenen Wert. Nach dieser inhaltlichen Strukturierung stellte sich dann aber die Frage nach einer möglichen „objektbezogenen“ (Micheel 2003) Kategorisierung der Befragten: Inwiefern lassen sich in der Verteilung von sozialem Kapital unter den Befragten Muster ausmachen? Diese Frage lässt sich alternativ auch so formulieren: Inwiefern lassen sich Gruppen mit ähnlichem Sozialkapital von anderen unterscheiden? Um diese Fragen zu beantworten bietet sich eine clusteranalytische Vorgehensweise an. Die Clusteranalyse (dt. ‚Ballungsanalyse’) stellt ein statistisches Verfahren zur Mustererkennung und Klassifizierung dar, mit dessen Hilfe Typen gebildet, d.h. die Befragten in möglichst trennscharfe Gruppen aufgeteilt werden können. Trennscharf sind die Gruppen bzw. Typen dann, wenn die Unterschiede in Bezug auf zugrunde gelegte Merkmale (d.h. der Dimensionen der Hauptkomponentenanalyse) zwischen den Befragten innerhalb einer Gruppe möglichst gering, die Unterschiede zwischen den Gruppen groß sind. Nachdem clusteranalytisch verschiedene Gruppen gebildet worden sind, stellen sich mit Blick auf unser Forschungsinteresse – die Identifikation von gruppentypischen Mustern der Verteilung von sozialem Kapital – folgende Fragen an das Ergebnis der Clusteranalyse: Wie verteilen sich die unterschiedlichen Formen von sozialem Kapital zwischen diesen Gruppen? Welche Befragten haben welche Formen von sozialem Kapital? G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4_24, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

330

Sandra Landhäußer/Holger Ziegler

Anknüpfend an die Frage nach einer Strukturierung von Einzelvariablen wird nun die Vorgehensweise bei Hauptkomponentenanalysen mit dem Statistikprogramm SPSS dargestellt. Als inhaltliches Beispiel dient ein Ausschnitt aus der Analyse des sozialen Kapitals der Befragten aus dem bereits genannten Projekt. Zur Berechnung einer Hauptkomponentenanalyse (beim folgenden Beispiel mit drei Dimensionen) wird die Eingabe folgender Syntax empfohlen: FACTOR /VARIABLES v1 v2 v3 v4 v5 v6 vn /MISSING PAIRWISE /ANALYSIS v1 v2 v3 v4 v5 v6 /PRINT INITIAL EXTRACTION ROTATION /CRITERIA FACTORS(3) ITERATE(25) /EXTRACTION PC /CRITERIA ITERATE(25) /ROTATION VARIMAX /SAVE REG(ALL) /METHOD=CORRELATION.

gewünschte Variablen

gewünschte Anzahl an Dimensionen

Da die Hauptkomponentenanalyse hier als exploratives Verfahren genutzt wird, ist es auf der Basis inhaltlicher Entscheidungen notwendig, die Dimensionen zunächst mehrfach mit unterschiedlichen Variablenkombinationen sowie einer verschiedenen Anzahl von Komponenten zu berechnen, und sich dann für das inhaltlich sinnvollste, interpretierbare Ergebnis zu entscheiden. Ebenso empfiehlt sich, unterschiedliche Hauptkomponentenanalysen in Verbindung mit unterschiedlichen Clusteranalysen zu rechnen und sich dann erst für eine der möglichen Clusterlösungen zu entscheiden. Die Wahl einer bestimmten Hauptkomponentenanalyse lässt sich auf der Basis folgender Kriterien treffen: Lässt sich das Ergebnis inhaltlich beschreiben und verwenden? Sind die Ladungen – nur auf einer Dimension – hoch genug? (So genannte Doppelladungen sollten – sofern sie zugelassen werden – erklärbar sein.) Bei der Durchführung einer Hauptkomponentenanalyse ist es sinnvoll, fehlende Werte zunächst paarweise zu ersetzen (MISSING PAIRWISE). Hat man sich dann für eine Variante der Hauptkomponentenanalyse entschieden, sollten fehlende Werte durch den Mittelwert ausgetauscht werden (Syntaxbefehl: MISSING MEANSUB). Unterscheiden sich beide Ergebnisse nicht wesentlich voneinander, sollte die Lösung mit den Mittelwerten gespeichert werden (SAVE REG/ALL). Unterscheiden sie sich stark voneinander, so sind Variablen mit zu vielen fehlenden Werten in der Analyse enthalten. Diese Variablen sollten eher ausgeschlossen werden. Bei der Speicherung einer Lösung wird in der Datentabelle für jedeN BefragteN auf jeder Dimension ein Wert gespeichert. Es empfiehlt sich, jede Dimension mit einem prägnanten Namen zu versehen. Ein Beispiel ist folgende Ausgabedatei, wobei eine sinnvolle Bezeichnung von Dimension bzw. Komponente 1 z.B. „lokales Kapital“, für Komponente 2 z.B. „ressourcenstarke Kontakte“ und für Komponente 3 z.B. „Alltagshilfe“ sein könnte:

331

Hauptkomponentenanalyse

Rotierte Komponentenmatrix(a)

Komponente 1 2 Die Menschen hier kommen schlecht miteinander aus. -,718 Die Menschen hier halten zusammen. ,702 -,169 Die Menschen hier helfen sich gegenseitig. ,689 Man kann den Menschen in der Nachbarschaft vertrauen. ,689 -,105 Die Menschen hier haben keine gemeinsamen Werte. -,656 Ich lebe gerne in Sieker. ,642 Die Menschen hier haben keinen Respekt vor Gesetz und Ordnung. -,613 ,130 „Ich fühle mich in Sieker ‚zu Hause’ ,604 …netto mehr als 3000 Euro im Monat verdienen? ,737 …in Ämtern oder Behörden arbeiten? ,662 …in einer Partei aktiv sind? -,116 ,645 …viel über gesetzliche Vorschriften und Verordnungen wissen? ,637 …Arbeitgeber sind? ,630 …die Ihren Einkauf erledigen können, wenn Sie krank sind? -,137 …denen Sie Ihre Hausschlüssel geben, wenn Sie weg fahren? …die Ihr Kind babysitten können? ,146 …bei denen Sie unter Umständen für eine Woche wohnen können? ,223 Extraktionsmethode: Hauptkomponentenanalyse. Rotationsmethode: Varimax mit Kaiser-Normalisierung. a Die Rotation ist in 3 Iterationen konvergiert.

3 ,129

,174

,178 ,730 ,671 ,649 ,595

Zur Beantwortung des zweiten Fragekomplexes (Inwiefern lassen sich in der Verteilung von sozialem Kapital unter den Befragten Muster ausmachen? Lassen sich Gruppen mit ähnlichem Sozialkapital von anderen unterscheiden?) wird eine Clusteranalyse auf der Basis der zuvor ermittelten Dimensionen, die als „lokales Kapital“ (fac1), „ressourcenstarke Kontakte“ (fac2) und „Alltagshilfe“ (fac3) benannt werden, empfohlen. Das Distanz- oder Ähnlichkeitsmaß, das zur Feststellung der Unterschiede zwischen den Clustern bei clusteranalytischen Verfahren (mit metrischen Variablen) üblicherweise bemessen wird, ist der so genannte (quadrierte) euklidische Abstand. Um einen intern möglichst geringen und zwischen den Typen möglichst großen Unterschied bei einer explorativen d.h. Strukturen entdeckenden Typisierung von Ratingskalen1 sicherzustellen, ist eine Kombination von Verfahren zur Hauptkomponentenanalyse mit einer hierarchischen Clusteranalyse (dem Ward-Verfahren) und einer anschließenden iterativen Clusteranalyse (dem K-Means-Verfahren) nach dem Varianzkriterium2 besonders 1

Rating-Skalen sind Einschätzungsskalen, bei denen Befragte auf einer mehrstufigen Skala ihre Antwort abgeben. 2 Mit Verfahren nach der Ward-Methode lassen sich zwar brauchbare Cluster bilden. Die Ward-Methode hat allerdings den Nachteil, dass ein Objekt, das in dem schrittweisen Prozess einem Cluster einmal zugeordnet wurde, aus diesem nicht wieder entfernt werden kann. Deshalb wird mit dem iterativen (K-Means)

332

Sandra Landhäußer/Holger Ziegler

vorteilhaft (zur methodischen Begründung dieser Vorgehensweise vgl. Micheel 20033). Die Kombination dieser Verfahren hat sich als Vorgehensweise zur sozialwissenschaftlichen Typisierung inzwischen als besonders geeignet durchgesetzt. Im Gegensatz zu Clusteranalysen, die auf den Antwortmustern der Befragten zu Einzelitems basieren, wird mit Hilfe der zuvor durchgeführten Hauptkomponentenanalyse eine für eine sinnvoll interpretierbare Clusteranalyse notwendige Voraussetzung4 geschaffen: Die Hauptkomponentenanalyse sorgt dafür, dass die Distanzbestimmung der Clusteranalyse auf der Basis unkorrelierter Merkmale stattfindet. Nur wenn Merkmale nicht untereinander zusammenhängen ist eine Bildung von Typen anhand von Ähnlichkeiten bei den Ausprägungen unterschiedlicher Merkmale sinnvoll. Zunächst zur Berechnung einer hierarchischen Clusteranalyse nach Ward: Syntaxbefehl: CLUSTER fac1 fac2 fac3 /METHOD WARD /MEASURE= SEUCLID /PRINT SCHEDULE CLUSTER(4.10) /PLOTS NONE /SAVE CLUSTER(4.10) .

gewünschte Anzahl der (Ward-)Cluster

Daraufhin wird der Clusteranalyse in der Datenansicht ein Name zugewiesen, er wird als letzte Variable hinten angefügt: z.B. clu5_6. Auf der Basis dieses Namens empfiehlt sich dann zu prüfen, ob die gebildeten Cluster inhaltlich Sinn ergeben. Eine Abweichung des Mittelwerts um mehr als 0,5 von Null nach oben oder unten kann als Richtwert genommen werden, dass ein Cluster auf einer Dimension eine besonders geringe oder starke Ausprägung hat. Außerdem lässt sich feststellen, wie viele Personen die einzelnen Cluster umfassen (N). Syntaxbefehl: means fac1 fac2 fac3 by clu5_6.

Verfahren angestrebt, durch schrittweises Verrücken von Objekten zwischen den Clustern die Lösung aus der hierarchischen Methode zu verbessern (vgl. Micheel 2003: 411ff.). 3 Im vorliegenden Supplement liegt der Fokus auf der Beschreibung der methodischen Vorgehensweise. Dabei rückt – u.a. zur besseren Lesbarkeit – die Begründung einzelner Schritte in den Hintergrund. Wir haben uns in der Vorgehensweise an Micheel (2003) angelehnt. Die ausführliche methodische Begründung kann dort nachgelesen werden. 4 Den Hintergrund bildet der Umstand, dass Eigenschaften, die durch miteinander korrelierende Merkmale bestimmt werden, die Distanzbestimmung innerhalb der Clusteranalyse stärker beeinflussen, als voneinander unabhängige, und damit die Clusteranalyse verzerrt würde.

333

Hauptkomponentenanalyse

Ausgabedatei CLU5_6 Ward Method 1 Mittelwert N 2 Mittelwert N 3 Mittelwert N 4 Mittelwert N 5 Mittelwert N Insgesamt Mittelwert N

lokales Kapital -1,1294032 74 -,0339137 70 1,2597025 16 -,1443551 180 ,6078044 151 ,0000000 491

ressourcenstarkes Kapital -,6216131 74 -,8823112 70 ,4205505 16 1,0373085 180 -,5674383 151 ,0000000 491

Alltagshilfe ,3189802 74 -1,0323894 70 -3,5713033 16 ,1124217 180 ,5666734 151 ,0000000 491

Auch hier ist es sinnvoll, verschiedene Clusteranalysen mit einer unterschiedlichen Anzahl an Clustern zu rechnen. Wie viele Gruppen letztlich übernommen werden sollen, sollte – um Methodenartefakte zu vermeiden – vor allem auf inhaltlicher Basis vor dem Hintergrund eigener theoretischer Erörterungen begründet werden. Hierzu empfiehlt es sich die Werte der einzelnen Cluster auf den Dimensionen der Hauptkomponentenanalyse zu betrachten (siehe Tabelle oben). Anschließend, zur Durchführung eines iterativen (K-Means)Clusterverfahrens nach dem Varianzkriterium zur Ermittlung der endgültigen Clusterlösung empfiehlt sich folgende Syntax, in die die Mittelwerte aus der Tabelle oben hineinkopiert werden (die Kommata müssen dabei durch Punkte ersetzt werden): Syntaxbefehl: QUICK CLUSTER fac1 fac2 fac3 /MISSING=PAIRWISE /initial (-1.1294032 -.6216131 .3189802 -.0339137 -.8823112 -1.0323894 1.2597025 .4205505 -3.5713033 -.1443551 1.0373085 .1124217 .6078044 -.5674383 .5666734) /CRITERIA= CLUSTER(4) MXITER(100) CONVERGE(0) /METHOD=KMEANS(NOUPDATE) /PRINT INITIAL ANOVA /SAVE= CLUSTER(Clustername).

Hier muss die gleiche Anzahl an Clustern benannt werden wie bei der vorangegangenen WardAnalyse.

Der Name des Clusters ist beliebig

334

Sandra Landhäußer/Holger Ziegler

Im Ergebnis zeigt sich eine optimierte Verteilung der Fälle nach dem iterativen Verfahren im Vergleich zur Lösung nach dem Ward Verfahren. Zunächst ist es im Anschluss an die Clusteranalyse geboten, die gebildeten Gruppen zu beschreiben, d.h. zu prüfen, wie sich die Cluster durch welche Merkmale (anhand der zugrunde gelegten Dimension oder der Ausgangsvariablen) charakterisieren lassen. Hierzu bieten sich wiederum die Mittelwerte der Cluster auf den einzelnen Dimensionen an. (Syntaxbefehl: means fac1 fac2 fac3 by Clustername). Ausgabedatei lokales Kapital Cluster 1 Cluster 2 Cluster 3 Cluster 4 Cluster 5 Insgesamt

Mittelwert N Mittelwert N Mittelwert N Mittelwert N Mittelwert N Mittelwert N

-,5217020 138 -,5105426 76 ,9993237 22 -,3518169 131 1,0878951 124 ,0000000 491

ressourcenstarkes Kapital -,6368997 138 -,7225079 76 ,2770136 22 1,2472070 131 -,2151263 124 ,0000000 491

Alltagshilfe ,5002727 138 -,9829031 76 -3,2647738 22 ,2259742 131 ,3861726 124 ,0000000 491

Ein nächster Schritt könnte nun darin bestehen, sozioökonomische und andere interessierende Merkmale der Befragten in den jeweiligen Clustern zu vergleichen. Literatur Micheel, Heinz-Günter (2003): Explorative Typisierung von Ratingskalen. In: Otto, Hans-Uwe/Oelerich, Gertrud/Micheel, Heinz-Günter (Hrsg.): Empirische Forschung und Soziale Arbeit. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. München/Unterschleißheim. Luchterhand, S. 401-417.

Autorinnen und Autoren

Dipl. Päd. Stefanie Albus Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, AG 8 – Soziale Arbeit, Universitätsstr. 25, D-33615 Bielefeld – [email protected] Dr. Ellen Bareis Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein, Fachbereich IV – Sozial- und Gesundheitswesen, Ernst-Boehe-Straße 4, D-67059 Ludwigshafen am Rhein – [email protected] Dr. Christof Beckmann Mathematisch-Lerntherapeutisches Institut Gütersloh, Berliner Str. 24, 3330 Gütersloh – [email protected] Prof. Dr. Peter Cloos Stiftung Universität Hildesheim, Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft, Marienburger Platz 22, D-31141 Hildesheim – [email protected] Susann Fegter, M.A. Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, AG 1 – Allgemeine Erziehungswissenschaft, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld – [email protected] Prof. Dr. Uwe Flick Alice Salomon Hochschule Berlin, Alice Salomon Platz 5, D-12627 Berlin – [email protected] Dr. Kirsten Fuchs-Rechlin Technische Universität Dortmund, Fakultät Erziehungswisssenschaft und Soziologie, Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut / Technische Universität Dortmund, Vogelpothsweg 78, D-44227 Dortmund – [email protected] Dipl. Päd. Julia Günther Technische Universität Dresden, Fakultät Erziehungswissenschaften, Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften, Weberplatz 5, D-01217 Dresden – [email protected] Prof. Dr. Andreas Hanses Technische Universität Dresden, Fakultät Erziehungswissenschaften, Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften, Weberplatz 5, D-01217 Dresden – [email protected]

G. Oelerich, Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Empirische Forschung und Soziale Arbeit, DOI 10.1007/978-3-531-92708-4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

336

Autorinnen und Autoren

Sarah Hitzler, M.A. Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Arbeitsbereich Qualitative Methoden für empirische Sozialforschung, Postfach 100131, D-33501 Bielefeld – [email protected] Prof. Dr. Fabian Kessl Universität Duisburg Essen, Fakultät für Bildungswissenschaften, Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik, Berliner Platz 6 - 8, D-45127 Essen – [email protected] Dr. Alexandra Klein Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Fachbereich 6, Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Sozialpädagogik / Erwachsenenbildung, Georgskommende 33, D-48143 Münster – [email protected] Dr. Stefan Köngeter University of Toronto, Factor-Inwentash Faculty of Social Work, 246 Bloor Street W, Toronto, ON M5S 1V4, Canada – [email protected] Dr. Sandra Landhäußer Eberhard Karls Universität Tübingen, Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Sozialpädagogik, Münzgasse 26, D-72070 Tübingen – [email protected] Dipl. Päd. Nadine Lauer Universität Duisburg Essen, Fakultät für Bildungswissenschaften, Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik, Berliner Platz 6 - 8, D-45127 Essen – [email protected] Prof. Dr. Katja Maar Hochschule Esslingen, Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, Flandernstr. 101, D-73732 Esslingen – [email protected] Veronika Magyar-Haas, M.A. Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Freiestr. 36, CH-8032 Zürich – [email protected] Prof. Dr. Heinz Messmer Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Institut für Kinder- und Jugendhilfe, Thiersteinerallee 57, CH-4053 Basel – [email protected] PD Dr. Heinz-Günter Micheel Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft / AG 8 – Soziale Arbeit, Universitätsstr. 25, D-33615 Bielefeld – [email protected] Dr. Ana Moya Technische Universität Dortmund, Fakultät Erziehungswisssenschaft und Soziologie, Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut / Technische Universität Dortmund, Vogelpothsweg 78, D-44227 Dortmund – [email protected]

Autorinnen und Autoren

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Prof. Dr. Burkhard Müller Universität Hildesheim, Institut für Sozial- und Organisationspädagogik, Marienburger Platz 22, D-31141 Hildesheim – [email protected] Prof. Dr. Frank Nestmann Technische Universität Dresden, Fakultät Erziehungswissenschaften, Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften, Weberplatz 5, D-01217 Dresden – [email protected] Dr. Gertrud Oelerich Bergische Universität Wuppertal, Fachbereich Bildungs- und Sozialwissenschaften, Gaußstr. 20, D-42119 Wuppertal – [email protected] Prof. Dr. Dr. h.c mult. Hans - Uwe Otto Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Bielefeld Center for Education and Capability Research, Universitätsstr. 25, D-33501 Bielefeld – [email protected] Dipl. Soz.-Päd. Andreas Polutta Universität Duisburg Essen, Fakultät für Bildungswissenschaften, Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik, Berliner Platz 6 - 8, D-45127 Essen – [email protected] Prof. Dr. Claus Reis Fachhochschule Frankfurt am Main, Fachbereich 4 - Soziale Arbeit und Gesundheit, Nibelungenplatz 1, D-60318 Frankfurt / M. – [email protected] Dr. Petra Richter Universität Bremen, Fachbereich 11 – Human- und Gesundheitswissenschaften, Institut für Public Health und Pflegeforschung, Grazer Str. 2, D-28344 Bremen – [email protected] Dr. Gundula Röhnsch Alice Salomon Hochschule Berlin, Alice Salomon Platz 5, D-12627 Berlin – [email protected] Dr. Matthias Schilling Technische Universität Dortmund, Fakultät Erziehungswisssenschaft und Soziologie, Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut / Technische Universität Dortmund, Vogelpothsweg 78, D-44227 Dortmund – [email protected] Prof. Dr. Mark Schroedter Universität Kassel, Fachbereich Sozialwesen, Institut für Sozialpädagogik und Soziologie der Lebensalter, Arnold-Bode-Str. 10, D-34109 Kassel – [email protected] Jun.-Prof. Dr. Anja Tervooren, Universität Hamburg, Fachbereich Allgemeine, Interkulturelle und international Vergleichende Erziehungswissenschaft, Von-Melle-Park 8, D-20146 Hamburg – [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Dipl. Päd. Nina Thieme Leibniz Universität Hannover, Institut für Erziehungswissenschaft, Schloßwender Straße 1, D30159 Hannover – [email protected] Prof. Dr. Werner Thole Universität Kassel, Fachbereich Sozialwesen, Institut für Sozialpädagogik und Soziologie der Lebensalter, Arnold-Bode-Str. 10, D-34109 Kassel – [email protected] Prof. Dr. Andreas Walther Goethe Universität Frankfurt / M., Fachbereich Erziehungswissenschaften, Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung, Robert-Mayer-Str. 1, D-60325 Frankfurt / M. – [email protected] Dr. Jillian Werner Technische Universität Dresden, Fakultät für Erziehungswissenschaften, Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften, Weberplatz 5, D-01217 Dresden – [email protected] Prof. Dr. Holger Ziegler Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, AG 8 – Soziale Arbeit, Universitätsstr. 25, D-33615 Bielefeld – [email protected]

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