C.H.GUENTER
Die Spur
ins Inferno
Erfolgsnachdruck Nr. 103
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Bretagne. E...
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C.H.GUENTER
Die Spur
ins Inferno
Erfolgsnachdruck Nr. 103
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Bretagne. Ende März 1944 Der schwarze Horch mit dem Generalsstander auf dem Kotflü gel bog von der Küstenstraße ab und fuhr auf Nebenwegen nach Karnével. Die Nachmittagssonne strahlte durch die Wind schutzscheibe herein. Der General im Fond setzte seine dunkle Brille auf. Trotz der Wärme fror es ihn im pelzgefütterten Le dermantel. „Wie weit noch?“ fragte der General seinen Fahrer. Der Oberfeldwebel drehte sich um. „Da vorn im Wald ist schon das Schloß, Herr General.“ Tafeln und Wegweiser mit taktischen Zeichen der Marine standen am Straßenrand. Das Hauptquartier des U-Boot-Befehlshabers war jetzt nicht mehr zu verfehlen. Der General blickte über das weite flache Land. Westwind hatte am Morgen Himmel und See blankgefegt. Die französi sche Kanalküste lag im grellen Frühlingslicht. Jagdbomberwe t ter. Die Augen des Generals fixierten sich im Blau. Auf diese Weise konnte er sich am besten sammeln. Und volle Konzen tration war jetzt notwendig. Ein schwieriger Mann, der Befehlshaber der U-Boote. Wer etwas von ihm wollte, brauchte seine ganze Kraft, um es durchzusetzen. Wenig später bog der Horch durch die bewachte Einfahrt in den Schloßpark, der ein wenig dem von Versailles nachemp funden war. Die Räder knirschten bremsend auf dem Kies. Die schwere Tür ging auf, schlug zu. Der General eilte die Freitreppe hinauf. Niemand kam ihm entgegen. Schöner Empfang. Aber der Admiral erwartete ihn bereits. 3
„General Nordstrand vom Reichssicherheitshauptamt Berlin“, meldete ein Adjutant. „Ich lasse bitten“, sagte der Admiral mit seiner hellen klaren Stimme. Abgesehen von der Farbe ihrer Uniform glichen sich die ho hen Offiziere auffallend. Beide waren sie über mittelgroß, beide hatten sie schlanke Figuren, hagere Durchsetzergesichter und kalte Augen. Trotzdem kamen sie sich erst beim Mokka näher. „Ein Mann“, faßte der General aus Berlin zusammen, „nur ein Mann.“ „Ausrüstung?“ fragte der Admiral mißtrauisch, „Klavier und Geige?“ Nordstrand winkte ab. „Nicht mal eine Zahnbürste führt er mit. Nur was er am Leib trägt. Genaugenommen würde uns allein sein Gehirn genügen.“ „Ein Gehirn bekommt man nicht ohne den dazugehörigen Körper“, bemerkte der Admiral. „Noch nicht.“ Nun trat der Admiral an die große Lagekarte, die die Innen wand seines Arbeitszimmers ausfüllte. „Sie sagten ein Mann“, murmelte der Befehlshaber der UBoote, „aber Sie wollen ihn vom Nahen Osten nach Berlin befördert haben. Vom hintersten Zipfel des Mittelmeers. Das sind 3500 Seemeilen. Und dazwischen liegt die praktisch un passierbare Meerenge von Gibraltar.“ „Hauptsache Sie bringen ihn bis Athen.“ „Das geht nur mit einem Atlantikboot vom Typ VII-C. Da von haben wir aber keines im Mittelmeer stehn. Also muß es durch Gibraltar.“ „U-Boote können tauchen, dachte ich.“ Der Admiral blickte den Abwehrgeneral an und sagte nichts. Was sollte er dem Mann lange Vorträge über die Kampfmittel des Gegners halten, angefangen bei Radar und Sonar, Asdic und U-Boot-Jägern, Minen und Wasserbomben, Torpedos und Stahlnetzen. 4
Der Admiral rührte in seiner Tasse um, aber der Löffel be wegte nur noch Zucker. „Geht es nicht auf einem anderen Weg, Herr Kamerad?“ „Das Amt Canaris hat alle Möglichkeiten durchgerechnet, glauben Sie mir. Es gibt vielleicht die eine oder andere, aber die Gefahr, der wir diesen Mann dabei aussetzen müssen, ist zu groß. Sein Kopf ist einfach zu wertvoll.“ „Was glauben Sie, wie wertvoll eines meiner U-Boote ist.“ „Kein Vergleich zu diesem Mann“, erwiderte der General, „es sei denn, eines Ihrer Boote könnte allein den Ausgang des Krieges entscheiden.“ „Wohl kaum“, bedauerte der Admiral und bezweifelte insge heim, ob es dieses Genie, das so dringend nach Berlin gebracht werden sollte, vermochte. Aber Befehl war Befehl. „Ich lasse“, sagte der Admiral, „sofort alles in die Wege lei ten, Pläne ausarbeiten, ein Boot vorbereiten.“ „Das seetüchtigste mit der besten Besatzung“, erbat sich der General. „Dann darf ich also dem Führerhauptquartier mel den…“ „Sie dürfen, Nordstrand.“ „Und wann läuft das Boot aus St. Nazaire aus?“ „Sagen wir, spätestens in zehn Tagen.“ „Dann kann es wann vor Beirut sein?“ „Bis Ende April. Um den 25. herum. Wenn alles gut geht.“ Drei Wochen nach General Nordstrands Besuch beim Be fehlshaber der U-Boote in der Bretagne erreichten die Anten nen von Schloß Karnével eine Nachricht, die alle Hoffnungen zunichte machte. U-Dora, auf dem Weg von der Loiremündung an die Levan teküste, meldete vor Tanger Feindberührung: – Werde von UBoot-Jägern und Zerstörern gehetzt. – Seit acht Stunden Was serbomben. – Schwere Schäden. – Versuche ins Mittelmeer durchzubrechen. – So lautete der Funkspruch. Es war der letzte. Das lange Warten auf ein Lebenszeichen von U-Dora begann. 5
Anfang Mai bestand dann kein Zweifel mehr. Die Operation Beirut war fehlgeschlagen. U-Dora mit fünf Offizieren und 49 Mann Besatzung wurde auf die Verlustliste gesetzt. * Berlin. 8. Mai 1944. Am späten Vormittag. In Berlin gab man nicht auf. Zwar tobte der Chef des RSHA und schrie: „Immer diese verdammten Eliteeinheiten. Wenn man sie braucht, glänzen sie durch Abwesenheit. Die Jagdflieger und die U-Boot-Leute. Man päppelt sie wie hochempfindliche In strumente, macht sie zu Helden, versorgt sie mit dem besten Material zu Lasten anderer Waffengattungen, aber wenn man etwas Besonderes von ihnen fordert, dann versagen sie.“ Allmählich beruhigte sich der SS-Obergruppenführer wieder, fuhr dann aber nicht weniger schneidend fort: „Stelle fest, dieser Mensch, Träger des derzeit wichtigsten Gehirns der Welt, sitzt noch immer im Libanon und wartet auf seine Abholung. Wenn der Mann nicht bald in Berlin ist, dann trete ich einigen Herrschaften hier von morgens bis abends pausenlos in den Hintern. – Ich erwarte Ihre Vorschläge.“ Zunächst einmal reagierte die Runde mit eisigem Schweigen. Zögernd wurden die alten Ideen ausgegraben. Man wollte versuchen, den Mann über die Türkei durchzu schleusen, oder mit einem Fischkutter wenigstens bis Rhodos zu bringen. Alle Pläne wurden als zu gefährlich abgelehnt. Das Risiko, den Mann heil nach Berlin zu bringen, mußte mit mindestens 98 Prozent kalkulierbar sein. Der Chef des RSHA blickte General Nordstrand an. „Sie hatten die gloriose Idee mit dem U-Boot-Transport“, schnarrte der Amtschef, „jetzt sind Sie dran, Nordstrand. Wet zen Sie die Scharte gefälligst aus.“ 6
Der General saugte an der flachen Nil-Zigarette. Während seine Hände mit der blauen Schachtel spielten, brachte er eine völlig neue Variante ins Spiel. „Wie war’s mit dem KG-200?“ Ein Teil der Anwesenden wußte nicht einmal genau, um was es sich dabei handelte. „KaGe-zweihundert, was ist das? Nie gehört. Neue Waffe? Spezialeinheit?“ Ein Oberst, der etwas mehr zu wissen schien, machte vage Andeutungen: „Nennt man es nicht das Geister-Geschwader?“ „Geister-Gespenster-Spionagegeschwader“, erklärte ein Mann der Luftwaffe. „Es hat viele Namen.“ „Und welche Funktion hat es?“ General Nordstrand setzte die Konferenzmitglieder ins Bild: „Um irgendwelchen Legenden, die sich um das KG 200 gebildet haben sollten, gegenzuhalten, kurz folgendes: Das Kampfgeschwader zwohundert ist ein Verband, der auf Grund seiner Ausrüstung und seines Personals in der Lage ist, So n deraufträge durchzuführen, die ein normales Frontgeschwader überfordern würde. Darunter versteht man spezielle Kampf und Transportaufgaben.“ Der General räusperte sich. „Rund um den Globus“, fügte er dann noch hinzu. Das klang einem der Anwesenden allzu großmäulig. „Über was für Wunderflugzeuge verfügt dieses KG 200 denn?“ „Die verschiedensten Typen“, sagte Nordstrand kurz. „Dar unter solche, von denen nur wenige Exemplare gebaut wurden. Natürlich auch Beuteflugzeuge wie Lancaster und B-24 Libera tor.“ „Was sind das für Soldaten beim KG-200?“ „Die besten Piloten, Navigatoren und Mechaniker, über die wir verfügen.“ „Und wo liegt das KG-200?“ „Es steht verteilt auf verschiedenen Fliegerhorsten von Nor wegen bis Griechenland, von der Kanalküste bis Rußland.“ 7
Der Chef des RSHA, von dem man verlangte, daß er diesen kriegswichtigen Mann vom Libanon endlich nach Berlin brach te, hatte die Unterhaltung mehrere Minuten lang verfolgt. Nun unterbrach er sie heftig: „Ist“, fragte er, „das Kampfgeschwader zweihundert in der Lage, die Operation Beirut durchzuführen, nachdem die Mari ne so kläglich versagte? Ja oder nein?“ „Ich setze mich sofort mit dem Oberbefehlshaber der Luft waffe in Verbindung“, erklärte Nordstrand. „Und warum, zum Teufel, ist das nicht schon längst gesche hen?“ „Weil der Verlust von U-Dora erst vor 48 Stunden bestätigt wurde.“ „Ich bitte mir aus“, zischte der Chef der RSHA mit leiser, aber drohender Stimme, „daß die Operation bis 15. durchge führt ist. Wenn ich bis fünfzehnten dieses Monats dem Haupt quartier den Vollzug nicht melden kann… dann, meine Her ren…“, der Blick des Obergruppenführers schwenkte über die Gesichter der Anwesenden, „… dann, meine Herren, rollen Köpfe.“ * Rechlin. – Erprobungsstelle der Luftwaffe. 9. Mai 21 Uhr. Im Dienstzimmer des Flugplatzkommandanten saßen sie zu sammen. Sie tranken Kaffee und rauchten. Der General beendete seinen Vortrag mit den Worten: „Höchste Dringlichkeit, geheime Kommandosache, kriegs wichtig. Durchführung sofort.“ Den Männern vom KG-200 war klar, daß dies eine Be fehlsausgabe war. Man ging sofort an die Arbeit und entrollte die Karten. Als erstes wurden Entfernungen und Landemöglichkeiten er örtert. „Von Athen aus dreitausend Kilometer hin und zurück“, 8
rechnete der Materialexperte des KG-200, ein HauptmannIngenieur. „Mit der He 177 oder der Ju 290 leicht zu schaffen.“ Schon in diesem Stadium begann der GeschwaderKommodore Ausscheidungen vo rzunehmen. „Die He 177 kommt nicht in die Tüte.“ Jeder wußte warum. Der Heinkel Fernbomber hatte vier Mo toren, wovon immer zwei in Reihe hintereinander angeordnet auf eine riesige Vierflügelschraube wirkten. Dadurch litt der hintere Motor so oft an Überhitzungserscheinungen, daß man der He 177 den Beinamen Reichs-Feuerzeug verpaßt hatte. Die He 177 war schnell und verfügte über hohe Reichweite, aber sie entsprach nicht dem geforderten Sicherheitsgrad. „Dann die Ju 290.“ „Ja, gutes Flugzeug“, meinte der Hauptmann, „bester Groß transporter aller Zeiten, Mit der Ju 290 sind wir schon bis Ja pan geflogen und haben Engpaß-Material rübergeholt. Chrom vor allem und Kautschuk.“ „Von Athen aus“, ergänzte der Kommodore, „ein Klax bis Beirut.“ Als es aussah, als sei die Entscheidung schon gefallen, mach te General Nordstrand einen Einwand, der alles zerschlug. „Meine Herren“, sagte er, „und wo bitte wollen Sie im Liba non landen?“ „Wir dachten… nun… dafür wäre vorgesorgt.“ „Ist auch“, erklärte Nordstrand, „die Landebahn ist natürlich vorhanden. Nur handelt es sich nicht um einen Erdflugplatz. Die sind nämlich alle unter Kontrolle der Engländer. Aber vor der Küste steht uns jede Menge Wasser zur Verfügung.“ Der Geschwader-Kommodore kratzte sich laut seufzend am Kinn, blickte Nordstrand an und anschließend seine Männer. Dann lachte er kurz und gequält auf. „Warum denn nicht gleich. Dann kommt überhaupt nur ein Vehikel in Frage. Nämlich ein Flugboot. Die BV 222 Wiking. Sechsmotorig. Eindringtiefe von Athen ausreichend.“ „Vergessen Sie Athen als Startpunkt“, wandte der General ein, „wenn so ein riesiges Ding von einem Wiking-Flugboot 9
vor Piräus wassert und dort auf seinen Einsatz vorbereitet wird, was glauben Sie, wie da die Luft nur so glüht von Agentenmel dungen. Dutzende von Geheimsendern funken täglich aus Griechenland zum alliierten Nahostkommando. Die schießen unser Flugboot dann mit Sicherheit über dem Mittelmeer ab.“ Wieder fing das Rechnen an. „Start von Süditalien aus ginge gerade noch.“ „Da sind schon die Amerikaner.“ Man rutschte weiter nach Norden, wo die Amerikaner noch nicht standen. Der Finger des Kommodore blieb auf einem blauen Karten punkt etwa in der Mitte des italienischen Stiefels hängen. Der Punkt lag zwischen Rom und Florenz in der Toscana. „Lago Trasimeno.“ „Ist der groß genug für die Wiking?“ „Dreimal.“ „Kriegen wir Sprit und Wartungspersonal so schnell runter?“ „Ja, mit zwei Ju 290 zum Flugplatz Perugia.“ Man sprang sofort in Details. Es ging um die Ausrüstung des Vorkommandos, um die Be reitstellung von Lastkraftwagen. Wo fand das Flugboot am Trasimenischen See, wenn es von Lübeck kam, die erforderli chen Uferbedingungen vor? Es ging um die Einrichtung von Funkstellen und Telefonverbindungen, um die Auswahl der Besatzung, um Flugkurse, präzise Wettervorhersagen, um Jagdschutz und die Bestimmung des Landeplatzes nördlich Beirut. Es ging um die Partisanentätigkeit in der Toscana, um tausend Dinge. Und das im fünften Kriegsjahr, wo die Luftüberlegenheit der Alliierten, ihre ständigen Bombenangriffe, die Planung, Vorbe reitung und Durchführung eines so komplizierten Unterneh mens schon ungeheuer erschwerten.
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Italien. Lago Trasimeno 14. Mai 1944
Vier Stunden vor Sonnenuntergang.
Der Kommandant des Flugbootes hieß Pfeiffer. Vorname Fred. „Fred Pfeiffer mit vier F“ pflegte er sich vorzustellen. Er war klein, aber schlank war er bestimmt nicht. Er trug eine enge Hose, kariertes Hemd und darüber eine alte blaue See mannsjacke mit drei goldenen Ärmelstreifen, die ihn als Kor vettenkapitän auswiesen. Beim Heer nannte man das Major. Er sah aus wie ein Gemüsehändler, der die letzten Rechnun gen nicht bezahlt hatte. Und er rauchte pausenlos Zigaretten. Mißtrauisch blickte er auf den See hinaus. Der Lago Trasi meno glänzte wie poliertes Silber. Etwa achtzig Meter vom Ufer entfernt lag das riesige sechs motorige Flugboot an der Boje. Länge fast 50, Spannweite 45, Gesamthöhe 18 Meter. Es war schon mehr ein Flugschiff. Ein Schiffsrumpf mit Bulleys, mächtigen Flügeln und Leitwerk. Ein Vierzig-Tonnen-Ungetüm mit fünftausend PS. „Eigentlich“, sagte Kapitän Pfeiffer zu seinem zweiten Pilo ten, „ist dieser Apparat gar nichts. Er kann schlechter fliegen als ein Flugzeug und nicht so gut schwimmen wie ein Schiff. Aber in der Art, wie er alles nicht kann, ist er wundervoll. Los, gehen wir an Bord. Bringen wir es hinter uns, Kameraden.“ Die achtköpfige Besatzung, zwei Piloten, der Navigator, zwei Funker, zwei Mechaniker, ein I.-Wart, stieg in das Boot und ließ sich zu der BV 222 Wiking hinausrudern. Über die Aluminiumleiter kletterten sie an Bord, an ihre Ar beitsplätze im Cockpit und Funkraum, sechs Meter weit oben. Das Flugboot hatte keine Ladung. Trotzdem hing es schwer im Wasser. Die Tanks in den Flügelholmen und die Zusatz tanks im Rumpf waren randvoll Flugbenzin. Obwohl die Maschine topfit vom Werkmeister übergeben worden war, überprüfte Pfeiffer sie noch einmal sorgfältig. Im Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung, die eher schlampig wirkte, war er in diesem Punkt ein großer Pedant. 11
Er ließ die Motoren an, begnügte sich aber nicht damit, die luftgekühlten BMW-Bramo-323 Warmlaufen zu lassen. Er checkte alle Drehzahlen durch, die Luftschraubenautomatic, die Temperaturen, die Ladedrücke, die Hydraulik, elektrische Systeme, Generatoren, Treibstoff und Ölvorrat, die Umpump anlagen, die Trimmanlage und den ganzen technischen Kram. Dann drehte er das Flugboot gegen den Wind in Westrich tung. „Start!“ meldete er in die Bordsprechanlage und schob die sechs Leistungshebel der Sternmotoren vor. Die Bramos heul ten auf. Die Piloten konzentrierten alle Sinne auf das Flugzeug, Au gen, Ohren, Hände und Hintern. Nach kilometerlangem Anschwimmweg über den leeren See konnte Pfeiffer das Flugboot langsam aus dem Wasser ziehen. Die BV222 stieg wie ein Ballon. Und plötzlich verschwand auch das hohle Gefühl in der Ma gengegend, das man vor jedem Ferneinsatz hatte. „Start 16 Uhr fünf“, notierte der Navigator und drückte eine der vier Stoppuhren. * 14. Mai. Flugboot Wiking. Bordzeit 20 Uhr Ihr Kurs war Südost, Flughöhe 2000, Geschwindigkeit 350 Stundenkilometer. Die Adria war längst überquert, Griechen land überflogen. Unter ihnen lagen die Sporaden im letzten Licht der sinkenden Sonne. Das Dunkle voraus am Horizont war Rhodos. Dahinter tauch te die türkische Küste auf. Sie wechselten immer die Höhe. Bei Fernflügen hing sie weitgehend vom Wetter ab. Pfeiffer nahm die Leistungshebel der Triebwerke noch etwas zurück und regulierte die Drehzahlen auf sparsamsten Marsch flug. 12
Dazu korrigierte er entsprechend die Trimmung. Bei Motor vier und fünf stieg die Temperatur. Der zweite Pilot öffnete geringfügig die Klappen des Kühlerspreizkragens. Hinten saß der Navigator am Peiler. Nachdem es schwierig geworden war, Sender Belgrad zu hören, holte er sich seine letzte Standlinie durch Bodenpeilung. Er visierte die Nordspit ze von Rhodos an. Dann ging er vor zum Kommandanten. „Kursänderung auf eins vier fünf. Sonst überfliegen wir neu trales Gebiet.“ Die neue Kurszahl wanderte im Kreisel ein. „Zigarette?“ fragte Kapitän Pfeiffer. Sie rauchten stumm. Durch die Tür zum Pilotenraum hörte man das Geräusch der Pumpen, mit denen die Mechaniker die Tanks egalisierten. Die Dunkelheit kam jetzt schnell, fast schlagartig. Der zweite Pilot schaute auf die Uhr, die er innen am Handgelenk trug. Allen an Bord war klar, daß die Hauptschwierigkeit des Un ternehmens in der Kürze der Mainacht bestand. Sie betrug hier nur siebeneinhalb Stunden. SU 20 Uhr 30, – SA 04 Uhr 05. Die Minimaldauer der Operation Beirut war aber mit neun Stunden und fünfzig Minuten berechnet worden. Dies unter Ausnutzung aller Möglichkeiten und Tricks, und vorausgesetzt, daß alles am Schnürchen klappte. „Ab wann haben wir Mond?“ fragte Kapitän Pfeiffer. „Null ein Uhr zehn.“ „Wetter?“ „Regentief über der Levanteküste. Die Meldung ist aber schon 24 Stunden alt.“ Das bedeutete, daß sie über Cypern bereits mit dem Sinkflug beginnen mußten. In drei Stunden etwa. „Wind?“ „Nach meiner Koppelung vier Knoten aus Nordost.“ Das Meer unter ihnen war jetzt eine endlose nachtschwarze Fläche. Im ovalen Rahmen der Tür tauchte die Gestalt des Funkers auf. 13
„Aus Beirut noch nichts, Herr Kapitän.“ „Weiter auf Frequenz bleiben.“ „Was ist mit den Motoren los?“ „Nichts. Alles in Ordnung.“ Der Navigator saß wieder an seinem Platz bei den Karten, Kompassen, Stoppuhren und Peilern. Eine Stunde später schoß er durch das Astrodom, einer Plexiglaskuppel in der Rumpf oberseite, einen Stern. Minuten später nannte er dem Kom mandanten den punktgenauen Standort und den neuen Kurs. Der erste Wart lieferte in Stundenabstand Notizen mit dem Treibstoff stand. Bis nach Hause kamen sie damit nicht mehr. Das war von vorneherein klar gewesen. Deshalb hatte man eine Zwischenwasserung in Iraklion auf Kreta vorgesehen. Dort sollten sie auftanken und sich bis zur kommenden Nacht ve r steckt halten. Das Mittelmeer mit einem so großen und so auf fälligen Flugboot bei Tag zu überqueren, das zog nur alliierte Jäger an. Die Außentemperatur sank plötzlich stark ab. „Scheinwerfer“, befahl Pfeiffer. Der zweite Pilot betätigte den Schalter. Der scharfgebündelte Strahl machte die Konturen der Flügel sichtbar. „Noch kein Eis“, stellte der Kommandant erleichtert fest. Sie kamen jetzt in Wolken. Das bedeutete Blindflug nach dem künstlichen Horizont. Für einen Laien war es unvorstell bar, aus so einer Suppe heraus einen Punkt, der noch sechshun dert Kilometer vor ihnen irgendwo in der Nacht lag, genau zu finden. Plötzlich schneite es. Eis setzte sich an. Sie gingen tiefer. Un ter tausend Meter platzte das Eis mit scharfem Knall wieder weg. Der Beobachter kam und deutete auf die Karte. „Augenblickliche Position. Vorausgesetzt die Berechnung stimmt.“ Der Schnee wurde zu Regen. Der Regen hörte auf. Der Mond kam heraus. Sie drosselten die Motoren. Langgestreckter Sink flug. Noch siebenhundert Meter am Höhenmesser. Bald nur 14
noch vierhundert. Das Schwarze dort war die Küste, ein dunk ler Strich im mondglänzenden Wasser. Und Lichter, die Lichter beleuchteter Ortschaften. „Ist ja schneller gegangen als erwartet“, sagte Pfeiffer. „Hatten zuletzt wohl etwas Rückenwind.“ Sie überflogen eine kleine Insel. Wie ein mattes Blatt lag sie im glitzernden Meer. „Dort die Stadt.“ Der Korvettenkapitän brachte die BV 222 in eine weite Nordkurve. Der Höhenmesser zeigte zweihundert. Weiter Bo gen über Nord nach West. Suchkreis. Der Küstenvorsprung, die Landzunge, das mußte der Leucht turm von Mananah sein. Die Paris-Promenade kam, die Bucht. Sie holten weit hinaus bis an den Rand der Dreimeilenzone. Dann Klappen raus, anschweben, Landung, aufsetzen. Die Gischt spritzte bei der ersten Wasserberührung bis zu den Cockpitscheiben hoch. Satt setzte sich der Kiel ins Meer, pflügte über seine Oberfläche dahin bis die Fahrt raus war. Mit langsam laufenden Motoren schwammen sie strandwärts auf den Mond zu. An der Straße, einen Kilometer östlich vom Leuchtturm hatte es geheißen, wartete der Mann. In dieser Nacht, ab 24 Uhr. Schon so nahe, daß sie die felsige Küste und die Scheinwer fer einzelner Autos in den Gläsern ausmachen konnten, schal tete der Kommandant die Positionslampen ein. Links rot, rechts grün. Alle zwei Minuten, für wenige Sekun den. * 15. Mai 1944. 01 Uhr 20. Vor Beirut. Sie warteten schon vierzig Minuten. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war groß. Schuld trug das Mondlicht. Einer der Mechaniker hatte Position auf dem Flügelende be zogen und suchte mit dem Glas die Umgebung ab. 15
„Motorboot aus vi er Uhr“, meldete er. „Wenn es ein Küstenschützer ist“, sagte Pfeiffer, „erst mal abwarten. Aber wenn er was Unkeusches will, dann voll drauf.“ Sie waren nicht besonders stark bewaffnet, aber sie hatten zwei MGs und die Zweizentimeter. Die Miene des Navigators wurde immer länger. „Sollten schon längst wieder in der Luft sein.“ „Der kommt schon noch.“ „Ihre Ruhe, Kapitän, und Deutschland siegt an allen Fron ten.“ „Wann ist Sonnenaufgang?“ fragte der 2. Pilot. „Vier Uhr.“ „Noch gute zwei Stunden also.“ „Distanz bis Kreta elfhundert Kilometer genau.“ „Drei Stunden Flug. Da rutschen wir gerade noch mit dem ersten Licht rein. Und mit Massel.“ „Falls dieser Professor in den nächsten drei Minuten antanzt.“ „Wachboot dreht ab“, kam es von oben. In der Stadt gingen die Lichter aus. Nur noch wenige Autos fuhren auf der Chouran Street vorbei. Der Rumpf der BV 222 dümpelte leicht. „Scheinwerfer!“ befahl Pfeiffer plötzlich, „bringt den Scheinwerfer rauf.“ „Das verrät uns aber mächtig.“ Der Kommandant war bereit, Konzessionen zu machen. „Für dreißig Sekunden volles Scheinwerferlicht. Wir suchen Wasser, Strand und Park ab. Ist er nicht zu sehen, dann Start. Aber blitzartig.“ Eine Entscheidung, die alle Mann befriedigte. Aber sie brauchten den Scheinwerfer nicht. Plötzlich hörten sie eine Stimme aus Richtung Dor el Moraysses. „Ist dort das U-Boot?“ fragte jemand auf deutsch. „U-Boot“, murmelte Pfeiffer, „in welchem Jahrhundert lebt der denn? U-Boot haben wir nicht, kriegen wir auch nicht mehr rein. Tauchen können wir auch nicht, nur ein bißchen fliegen.“ 16
Sie knipsten eine Stablampe an. Aus dem Dunkel zwischen den Felsen schälte sich ein Kahn, besetzt mit einem Mann. Er hatte Schwierigkeiten, die Ruder zu bedienen. „Der hätte das vorher üben sollen“, bemerkte der zweite Pi lot. „Paddelte wohl immer im Kreis herum.“ „Man kann nicht alles können“, sagte Pfeiffer und rief: „Kennwort, Sir!“ „Kennwort: Der Sieg ist unser.“ „Stimmt“, antwortete Pfeiffer, „unser euer ihr.“ Sie warfen eine Leine. Der Mann fing sie. Mit der Leine zo gen sie ihn heran. Das Schott ging auf, die Leiter klappte her aus. Er stieg an Bord und wunderte sich, daß es kein U-Boot war, das ihn abholte. „Mein Name ist Shoemaker“, sagte er. „Begrüße Sie an Bord, Professor“, sagte Pfeiffer. „Kaffee, belegte Brote?“ „Später.“ Der Mann hatte nichts bei sich als das, was er am Leib trug. Nicht einmal eine Zahnbürste. Der zweite Mechaniker kümmerte sich um ihn und wies ihm seinen im Laderaum montierten Sessel an. Pfeiffer turnte nach oben ins Cockpit. „Start!“ befahl er noch ehe er saß. Sekunden später sangen die Anlasser. Die Motoren waren noch warm. Motor sechs bekam Vollgas. Das Flugboot drehte seewärts. Der lange Anlauf begann. Die Wellen schlugen ge gen den Rumpf. Spritzwasser kam bis zu den Motoren. Weit draußen, bei 160 km/h herausheben der Wiking. Steigflug. Schon stürzten wieder all die bekannten Probleme auf sie ein. Wetterrisiko, Navigationsschwierigkeiten, und jetzt, wo der Tag heraufdämmerte, die Gefahr von Feindeinwirkung. Die Motoren heulten mit Startleistung. Der Beobachter gab den neuen Kurs nach vorn. In weitem Bogen über Süd drehte das große Flugboot von der Küste ab.
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15. Mai 1944 / 25 Grad Ost-35,5 Grad Nord. Bucht von Iraklion. 19 Uhr MEZ Minuten vor dem Abflug in Kreta fegte ein amerikanischer Moskito-Aufklärer über die Insel. Man hörte förmlich das Klicken seiner Kameraverschlüsse. Die Existenz eines deut schen Flugbootes im Mittelmeerraum würde spätestens in drei Stunden im alliierten Hauptquartier bekannt sein. Höchste Zeit also, daß sie mit ihrer wertvollen Fracht verschwanden. Der mittelgroße, hagere Passagier wurde wieder im Notsessel festgeschnallt. Start. Vollgetankt und schwerfällig kam die Wiking endlich aus dem Wasser. Vor ihnen lagen 2200 Kilometer. Sieben Stunden Flug bis Berlin, wo sie auf der Havel landen sollten. Und plötzlich schien sie das Glück zu verlassen. Die Start klappen ließen sich nicht einfahren. Irgendein Fehler in der Hydraulik. Die Mechaniker taten ihr Bestes. Sie konnten den Schaden am Druckzylinder finden und beheben. Doch wenig später drang Brandgeruch durch den Rumpf des Flugbootes bis hinauf zum Pilotenraum. Es stank nach schmorender Elektrik, nach Ampere. „Kabelbrand“, meldete der I. Wart. Sie suchten, rissen Innenverkleidungen ab. Die Schaumlö scher zischten. Sie brachten den Sc hwelbrand unter Kontrolle. Aber nun hatten sie praktisch keine elektrische Anlage mehr. Nur noch der Magnetkompaß, der Staudruckmesser und der stromunabhängige Luftdruck-Höhenmesser arbeiteten. „Funkanlage?“ fragte der Kommandant. „Totalausfall.“ „Wie bitte“, fragte Pfeiffer äußerlich ruhig, „soll ich unter diesen Umständen Berlin finden?“ Das Hauptproblem bestand jedoch darin, daß sie sich jetzt nicht mehr als deutsches Flugzeug zu erkennen geben konnten. Sofort faßte Pfeiffer mehrere Notlandepunkte ins Auge. Die nördliche Adria bei Venedig, den Plattensee und, falls sie Ber lin verfehlten, als letztes die Ostsee bei Stralsund. 18
„Wasser ist zum Glück überall“, sagte der zweite Pilot. „Dann also weiter mit Gott und seinen himmlischen Heer scharen“, murmelte der Kapitän. Sie flogen über einer geschlossenen Wolkendecke. Nach ei ner Stunde lag unter ihnen Griechenland. Um 21 Uhr der Bal kan, Jugoslawien, um 23 Uhr Ungarn. Die Wolkendecke riß auf. Im Mondlicht ragten einzelne Al pengipfel bis zu ihnen herauf. Sie mußten steigen. „Kurs und Höhe halten“, befahl Pfeiffer seinem Piloten und begab sich zu dem einzigen Passagier des großen Flugbootes. „Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte er den erstaunlich jun gen Wissenschaftler, der auf abenteuerlichen Wegen Amerika verlassen hatte, der sich mühsam von Californien bis in den Libanon durchgeschlagen hatte, um vielleicht in dieser Nacht jämmerlich zugrunde zu gehen. „Darf man rauchen?“ fragte Shoemaker. Pfeiffer bot ihm eine von seinen Junos an. Doch Shoemaker drehte sich seine Zigarette selbst. Aus schwarzem Tabak und dünnem Papier fertigte er geschickt eine Art Torpedo an, lang wie eine Zigarre, vorne dick, hinten spitzer zulaufend. „Wann werden wir da sein?“ fragte er. „Spätestens fünf Uhr.“ „Sie haben Probleme, Kapitän“, bemerkte Shoemaker mit ge runzelter Stirn. „Ihr Funker nahm den Schraubenzieher zur Hand. – Wenn Funker das tun, ist meistens etwas kaputt und ihrem Zauberkasten kein Ton mehr zu entlocken.“ „Nicht der Rede wert.“ „Ziel bleibt Berlin. Ja?“ Pfeiffer lächelte. „Wir bringen Sie schon wohlbehalten hin.“ „Oben blieb noch keiner, wie?“ „Mir ist kein Fall bekannt.“ Pfeiffer ging wieder. Sie navigierten nach Mond und Sternen und dem bißchen, was sie auf der Erde erkennen konnten. Der Navigator glaubte, die Donau ausgemacht zu haben. Der Kurs stimmte also. Sie 19
flogen jetzt in die Tschechei ein, über Prag weiter Richtung Dresden. Um 02 Uhr hatten sie Bodensicht. „Die Elbe“, murmelte der Navigator nach Kartenvergleich. „Das Elbknie bei Elster. Neuer Kurs dreihundertfünfzig. Di stanz achtzig Kilometer.“ Von jetzt an ging es an die Nerven. Pfeiffer ließ das Flugboot erdwärts sinken. Gleitwinkel und Geschwindigkeit waren jetzt so einander anzupassen, daß sie die Havel bei Potsdam er wischten. Dort war die Landung vorgesehen, dort würde man sie erwarten. Vorausgesetzt, man glaubte noch an ihre Exi stenz. Pfeiffer konzentrierte sich voll auf die Maschine. Sein zwei ter Pilot sagte ihm die Werte an, soweit sie vorhanden waren. Kurs, Höhe, Geschwindigkeit. Über der Straße nach Berlitz bekamen sie Flakfeuer: „Verdammt“, fluchte Pfeiffer, „das auch noch“, und wich nach Westen aus. Zweihundert Meter über Grund. Wälder, Auen, das Gelände stieg an. Und keine Wasserfläche zu sehen. Landeklappen. Hundert Meter Höhe. Letzte Chance, mit Vollgas durchzu starten. Wolken, Nebel, Dunst. Der zweite Pilot deutete nach rechts. „Da!“ Etwas blitzte im Mondlicht auf. Eine darmartig gekrümmte Wasserfläche. Der Schwielow-See, dann die Eisenbahnbrücke, die Havel. Wieder Flakfeuer. Scheinwerfer erfaßten und blen deten sie. Sie schossen Erkennungssignal, Leuchtkugeln. „Idioten“, schrie Pfeiffer. Dreißig Meter Höhe, zwanzig. Es gab kein Zurück. Mit dem Mut der Verzweiflung schmiß er sein Flugboot einfach in den Bach. Ein brutales Manöver. Absetzer, erneutes Aufschl agen. Der Kiel schnitt sich ein, der Rumpf legte sich hart aufs Was ser. Die Bugwelle rauschte. Fahrt kam aus der BV 222. Die Stützschwimmer setzten auf. Der Widerstand des Was sers nahm rasch die Fahrt aus dem Flugboot. Mit langsam 20
drehenden Motoren näherte es sich dem dunklen Uferstrich auf der Werder Seite. Pfeiffer sank erledigt zusammen und überließ den Rest sei nem zweiten Piloten. „Geschafft, schätze ich“, sagte er und griff nach der Cognac flasche. Ein Motorboot tauchte auf und gab Blinksignal. Die Bramos heulten wieder auf. Sie folgten. In Ufernähe stellten sie die Motoren ab. „Dampf auf, Feuer aus“, murmelte Pfeiffer, „Großdeutsch land hat uns wieder.“ Sie warteten und waren verdammt erleichtert. Zehn Minuten später kamen vier Zivilisten an Bord. Sie übernahmen Professor Shoemaker. Shoemaker reichte, als er von Bord ging, Kapitän Pfeiffer die Hand. „Danke“, sagte er fast gerührt. Pfeiffer grinste. „Wofür?“ Wenig später hörten sie drüben am Ufer Autotüren zuschla gen. Die Motoren von zwei schweren Limousinen sprangen an. Das dünne Licht aus den Schlitzen der abgedunkelten Schein werfer geisterte durch die Bäume. * 16. bis 28. Mai Peenemünde. Professor Paul Schumacher wurde im Gästehaus des Raketen versuchsgeländes untergebracht. Man bewachte ihn pausenlos wie einen Diamanten von unersetzlichem Wert. Täglich wurde er zu Gesprächen abgeholt, die zunächst mehr oder weniger den Charakter von Verhören hatten. In einer streng geheimen Abteilung des Versuchsgeländes, wo man sich nicht mit V-l oder V-2 Flugkörpern, sondern mit viel weitergehenden Waffenentwicklungen befaßte, mußte 21
Schumacher den deutschen Experten seine Theorien auseinan dersetzen. Das Gremium wurde immer größer. Zu den Physikern und Produktionsfachleuten stießen am Donnerstag leitende Herren des Rüstungsministeriums sowie Bevollmächtigte des Amtes Speer. Am Wochenende kam noch ein Experte des Führerhauptquar tiers hinzu und hohe Offiziere in schwarzen Uniformen. An geblich sollten sie für die Beschaffung des Rohmaterials in den besetzten Gebieten sorgen. Nach einwöchiger Konferenz, nach komplizierten Durch- und Hochrechnungen, kam die Elite der deutschen Rüstungsindu strie zu einem niederschmetternden Ergebnis. Der Reichskommissar für Rüstung persönlich teilte es Profes sor Schumacher in einem Gespräch unter vier Augen mit. „Professor“, sagte er, „nach Überprüfung aller von Ihnen ge lieferten Einzelheiten sind wir zu der Überzeugung gelangt, daß sich damit die grandioseste Waffe aller Zeiten bauen läßt. Eine Waffe, die demjenigen, der sie besitzt, ganz egal in wel cher strategischen Lage er sich befinden mag, schlagartig zum Sieg verhilft. – Leider, und dies gilt als gesicherte Erkenntnis, benötigen wir allein bis zur Produktionsaufnahme des ersten Versuchsmodells achtundzwanzig Monate. Wobei die Bereit stellung des Rohmaterials nur unter Aufbietung aller Kräfte möglich ist. Und diese Zeit ist zu lange. Der Krieg treibt schon vorher in seine entscheidende Phase. Ich bedaure, Ihnen des halb mitteilen zu müssen, daß der Führer persönlich das Projekt abgeblasen hat. Es ist zu phantastisch, zu gigantisch, zu groß für die uns verbliebenen Kräfte.“ Schumacher, wie betäubt von der Enttäuschung, nahm es mit einem Kopfnicken hin. Er blickte den Reichskommissar an und hatte nur eine Frage: „Und was wird aus mir?“ „Das“, sagte der Mann in der braunen Uniform, „wird man sehen.“ Immerhin war Schumacher einiges versprochen worden. 22
Zwei Millionen Mark in Dollar, eine neue Identität, sowie Verbringung in ein neutrales Land seiner Wahl. Nach Schwe den oder in die Schweiz. „Ich hoffe, Ihre Regierung hält sich an unsere Abmachun gen“, sagte Schumacher voll böser Ahnungen. Der Posten begleitete den Professor in die Gästebaracke. We nig später war Schumacher klar, daß sich die deutsche Regie rung nicht an den Vertrag halten würde. Noch in der Nacht wurde er weggebracht. Man schaffte ihn in ein Lager bei Ber lin. Hinter drei Meter hohem Stacheldraht vegetierten Me n schen aller Nationen. Vom britischen Bomberpiloten bis zum norwegischen Politiker und französischem Stahlindustriellen. Dort blieb Schumacher vier Tage. Er sagte, er sei deutscher Radioingenieur, Halbjude und vor dem Krieg nach den USA ausgewandert. Bei einer Geleitzugschlacht im Atlantik, wo sein Frachter sank, hätte ihn ein portugiesischer Fischer gerettet. Der Fischer habe aber wegen Motorschadens einen französi schen Hafen anlaufen müssen. So sei er in die Hände der Deut schen gelangt. Dem schweigsamen, etwa achtundzwanzig Jahre alten Mann glaubte man es. Zwei Tage später hieß es, er würde nach Süd deutschland verlegt. Der Barackenälteste nahm ihn beiseite und warnte ihn. „Ich fürchte, Schumacher“, sagte er, „das ist ein Todeskom mando. Von allen Kameraden, die dorthin kamen, hörten wir nie wieder ein Wort. Mein Rat, versuchen Sie unterwegs zu türmen. Ich glaube, es geht per Lastwagenschub. Springen Sie bei Dunkelheit von einem der Wagen. Erwischt man Sie, ist es so oder so aus. Aber Sie haben eine Chance, wenn auch nur eine dünne.“ Am 27. Mai ging der Transport ab. Die Lastwagen fuhren auf der Autobahn Richtung München. Kurz vor Ingolstadt sprang Schumacher vom fahrenden Büs sing. Die Posten schliefen und merkten es zu spät. Mit seinem perfekten Deutsch und seiner wachen Intelligenz 23
schlug sich Paul Schumacher bis Österreich durch. In Inns bruck schwang er sich auf einen Kohlenzug, der über den Brenner nach Verona ging. Im Süden waren die amerikanischen Truppen bereits bis Mit telitalien vorgedrungen. Die dritte Offensive bei Monte Cassi no lief an. Monte Cassino fiel bald danach. Am 2. Juni 1944 erreichte Schumacher per Anhalter auf ei nem Leichenwagen Rom. Am 4. Juni besetzten alliierte Truppen die italienische Haupt stadt. Professor Schumacher fühlte sich in Sicherheit. Aber was fortan unauslöschbar in ihm brannte, war der Haß gegen die Männer, die erst großartige Versprechungen gemacht und ihn am Ende verraten und verkauft hatten. 2. 26. Februar 1977 Südtirol. Dolomiten. Sie verzichteten auf Skihubschrauber und Sessellift. In stun denlangem Fußmarsch stiegen sie durch den verschneiten Win terwald aufwärts Richtung Pordoi Joch. Hoch oben kannte das Mädchen, das Urban nur Contessa nannte, ein paar unberührte Abfahrten. Als sie aus dem Tannenwald kamen, lagen unverspurte Hä n ge, soweit das Auge reichte, vor ihnen. Das Mädchen im ny longlänzenden Weltraumanzug lehnte sich an Urban. „Na, ist das schön?“ „Wenn das nichts ist, kein Lift, keine gewalzte Abfahrt, keine Seele. Ein Naturwunder.“ „Darauf hat mein Vater immer geachtet, daß unsere Wälder und Berge unberührt blieben. Solange es geht, hat er gesagt, kommt kein Seilbahnmast auf unseren Grund und Boden.“ „Kluger Mann.“ 24
Sie stiegen noch höher, bis dorthin, wo über den Felsen der Gletscher begann. Dann schnallten sie die Skier an. „Wie wär’s“, fragte der deutsche Geheimagent, „mit ein biß chen weißen Rausch, Contessa?“ Jauchzend sprang sie die Skier in Talrichtung und rauschte durch den flaumigen lockeren Schnee davon. Urban folgte in ihrer hochstiebenden Wolke. Schußfahrt, Tiefschneewedeln. Ein Sprung über eine Steilkante. Zwanzig Meter weit schwere loses Schweben und Gleiten. Die Trunkenheit des vollkomme nen Skierlebnisses. Ein Traum, der Wirklichkeit wurde. Sie rasten auf den Hochwald zu, schwangen durch die Lat schen, durch die Fichten und hohen Tannen. Ein Buckel schleuderte die Contessa hoch. Sie hatte ihn zu wenig in den Knien ausgefedert. Sie kam ins Trudeln wie ein überzogenes Flugzeug und landete platt im Schnee. Urban bremste mit parallelgeführten Skiern. Der aufstiebende Schnee deckte sie fast zu. Er drückte mit den Stöcken auf den Patentverschluß und kniete neben ihr. Sie lag da wie tot, das Gesicht vom Schnee bepudert, die Au gen geschlossen. Die Kappe war verrutscht, das goldblonde Haar quoll hervor. Plötzlich umarmte sie ihn spontan und küßte ihn mit nassen Lippen. „Gut, daß du da bist.“ „Hast du mich deshalb eingeladen?“ „Ja, für den Fall eines Sturzes.“ „Nur deshalb?“ „Es gibt so viele Arten von Stürzen“, flüsterte sie. Er zog sie hoch, hielt sie umarmt. „War der Sturz etwa geplant?“ „Der da“, deutete sie an, „der da noch nicht.“ Sie versuchte mit links auf zutreten. Es schmerzte offenbar ein wenig, aber es ging. Minuten später fuhr sie langsam vor ihm her talwärts. Urban wurde neugierig, wie weit sie beide noch abstürzen würden. Damals im Fasching, als er Theresa auf diesem Künst 25
lerfest kennenlernte, hatte er sie für ziemlich unnahbar gehal ten. Seine innere Sonde hatte sofort Warnsignale gesendet. Vorsicht, hübsches Mädchen, aber mit eingebautem Traualtar. Sie hatten sich gut verstanden und ausgemacht, daß sie sich Wiedersehen wollten. Aber was versprach man sich im Fa sching nicht alles. – Und als er sie schon vergessen hatte, war ihr Anruf gekommen. München hatte ihn wieder einmal angeekelt. So war er nach Innsbruck über den Brenner und nach Südtirol gefahren. Zwischen den Stämmen tauchten die Dächer des Schloß turms, der Talgrund und die ersten Lichter von Corvara auf. Die Dämmerung gab den Schatten auf dem Schnee einen tief blauen Schimmer. Es wurde bitterkalt. * Im Schloß. Zur Dinnerzeit. Zuerst zündete die Contessa das Kaminfeuer an. „Um so ein altes Gemäuer warmzukriegen, brauchst du eine eigene Ölquel le“, sagte sie. „Seit Januar liefen zwanzigtausend Liter Heizöl durch die Brenner. Aber richtig gemütlich wird es in diesem kaputten Eisschrank erst mit Kaminfeuer.“ „Ist eben ein kalter Winter.“ Die Knutscherei im Schnee schien vergessen zu sein. Sie sprachen über ganz alltägliche Dinge. Über den Heizölpreis zum Beispiel bei Abnahme einer Tankwagenladung. Die Contessa verschwand. Als sie wiederkam, hatte sie den schicken aluminiumfarbenen Skianzug abgelegt und trug nur noch das Unterzeug. Ein hautenges schwarzes Baumwolltrikot, das die Konturen getreuer wiedergab als jeder noch so nackte Körper. Ihre Figur konnte man verdammt so lassen. Sie war einssieb zig groß, schlank, aber mit den gewissen Rundungen der Italie nerin an den vom lieben Gott vorgesehenen Stellen. Hoher 26
Busen, Hohlkreuz, runder Popo. Wenn sie ging, machte ihr Hintern auf irgendeine Weise einladende Bewegungen. Das fiel ihm auf. „Musik?“ fragte sie. „Um diese Zeit gern.“ „Gibt es eine Zeit, wo du sie nicht magst?“ „Ja, morgens um sieben.“ Sie deutete zu einem Gebirge von Boxen, Verstärkern und Abspielgeräten in der Ecke des großen Raumes, alles im Zir belholzton der Wandtäfelung gehalten. Urban suchte aus dem Platten- und Kassettenbestand etwas Mexikanisches, vorwi e gend mit Gitarren. Das Essen war so gut vorbereitet wie das Kaminfeuer. Es gab Tiroler Speck, Tiroler Würste, Vintschgauer Brot, frische But ter, Tiroler Nüsse, Tiroler Käse, Tiroler Braten, serviert von einer Tiroler Contessa. „Kamst du“, fragte sie später, „kamst du aus Neugier oder aus Neigung?“ „Konnte dich nicht vergessen“, sagte er. „Jeden Tag beim Aufwachen war mein erster Gedanke…“ „Daß du ein ausgekochter Bursche von einem Lügner bist, wenn nicht sogar was weit Schlimmeres“, ergänzte sie. Sie saß vor ihm auf dem Boden auf einem langhaarigen Fell. Sie zupfte mit den Fingern vom Speck und vom Brot. Sie trank aus seinem Glas, und sie ließ sich von ihm mit Walnüssen füttern. „Und was ist noch weit schlimmer?“ fragte er. „Ein Cop.“ „Bin kein Cop.“ „Bei euch in Deutschland sagt man Bulle, glaube ich.“ „Ich bin zwar auch kein Bulle, aber wenn ich einer wäre, hät test du mich dann angerufen?“ Sie hob die Schultern. „Es braucht seine Zeit, bis man begreift, ob einer ein Kom munist ist oder…“ „… oder ein Polizist.“ 27
„Oder ein Agent. Ein Mann, der für den BND sterben wür de.“ Urban lachte still in sich hinein. „Für seinen Job“, sagte er, „soll man nicht sterben, sondern kämpfen. Damit was rauskommt dabei.“ „Kämpfen in welcher Richtung?“ „Für Sicherheit auf den Gebieten Forschung, Landesverteidi gung, Wirtschaft, Außenpolitik und so weiter.“ Sie kaute auf einer Nuß und verzog das Gesicht. Es lag aber nicht an der Nuß, sie war nicht ranzig. „Die Welt der Politik ist eine faule Krise“, bemerkte sie, „morsch wie nichts sonst. Politik führt ja auch zu nichts. Ihre ganze Produktivität besteht immer nur aus neuen, verderben bringenden Faktoren.“ Er goß vom rubinroten Wein nach und betrachtete ihre Brü ste, die sich bis zu den Spitzen abzeichneten. Worauf will sie hinaus, überlegte er und blies ein wenig in ihr Horn. „Als Politiker“, sagte er, „muß man bereit sein, Menschen zu opfern, im Dienst einer Idee, sei sie gut oder mies.“ „Und du bist die Sorte Maus, die kräftig daran herumnagt“, entgegnete sie giftig. Das war ganz und gar nicht nach seiner Vorstellung von ei nem berauschenden Wochenende in den Dolomiten. Das lief verdammt in Richtung Fehlgeburt. „Va bene“, sagte er auf Italienisch, „und du bist die heilige Theresa.“ „Ich heiße nur zufällig so.“ „Der Mann“, sagte er, „dieser prächtig aussehende Kerl mit dem Römerprofil, dein Begleiter in München, hat er Ansprüche auf dich?“ „Kein Monopol.“ „Aber ein Recht.“ Ihre für eine Italienerin unwahrscheinlich hellen Augen such ten die seinen. „Der Conte“, sagte sie, „der Kerl, wie du ihn nennst, er macht 28
mich einfach nicht an. Er gehört zu den Männern, die eine Frau einfach nicht anmachen.“ „Schwul?“ „Schwule machen Frauen oft sogar sehr an“, gestand sie, „aber ich fürchte, er ist auf mein Geld aus.“ „Und das verhindert das Anmachen.“ Sie lachte und nickte. Urban ging jetzt auf sein Ziel los. „Bin ich hier, weil ich dich anmache?“ „Vielleicht“, sagte sie. Ganz langsam schwang in ihm die Nadel herum. Der Kom paß zeigte weniger auf Gefühl, als auf Neugier. Er überlegte, was die beste Technik sei, hinter das Geheimnis dieser sechs undzwanzigjährigen Jet-Set-Puppe zu kommen. Am besten vielleicht gar keine Technik. Er ließ sich treiben. * In einem Punkt revidierte Urban seine Meinung über Theresa. Sie hatte keinen eingebauten Traualtar. Nichts lag ihr ferner als zu heiraten. Aber vielleicht hatte sie ein eingebautes Raubtier gebiß. Das Kaminfeuer brannte herunter. Die Contessa legte nicht nach. Daraus schloß er, daß sie zu Bett zu gehen wünschte. Auch die Korbflasche war leer. Sie mochte drei Liter enthal ten haben. Zwei Liter hatte er konsumiert, die Contessa einen. Ein bißchen zuviel für sie und ein bißchen zuviel für ihn. Aber ein bißchen zuviel war gerade recht. Die Konturen zeigten sich gleich weniger hart. „Müde?“ fragte sie. „Angenehm.“ „Wünsche?“ „Ein Bett“, sagte er. Sie stand auf. In dem engen Trikot, das alles, aber auch alles abzeichnete, war sie wie ein schönes Reptil. Sie nahm ihn bei 29
der Hand, zog ihn aus der Wohnhalle den Gang entlang und hinauf in ein Schlafzimmer, das für ein Gästezimmer wo hl zu elegant möbliert war. Mit den grauen Seidentapeten, dem fran zösischen Bett in Rosa, den goldenen Empiretisch, erinnerte es ihn an die teuerste Suite im Bayrischen Hof in München. „Was man auf alten Schlössern doch alles so findet“, sagte er. Sie lachte kehlig. „Du wirst dich wundern.“ „Hübsches Nest für die unheilige Theresa.“ „Gleich“, sagte sie und verschwand. Aber vorher löschte sie den Kronenleuchter. Nur aus dem Nebenraum fiel noch Licht herein. „Was weißt du über die heilige Theresa?“ fragte sie ihn. „War sie nicht Spanierin?“ Bob Urban verhielt sich immer so unkompliziert und den Umständen entsprechend, wie möglich. Auf einem Golfplatz spielte er Golf, in einer Bar trank er, in der Oper schlief er und in einem Schlafzimmer kleidete er sich aus. „Ja, eine Mystikerin. Förderin der Gegenreformation, so um fünfzehnhundert herum.“ Ihre Stimme klang, als strenge sie sich ziemlich an. „Gründete sie nicht ein Kloster?“ fragte Urban. „Das der unbeschuhten Karmeliterinnen.“ „Unbeschuht, was ist das? Ist das dasselbe wie barfuß?“ Er legte sich ins Bett. Nackt, weil seine Reisetasche mit dem Schlafanzug noch im Kofferraum des BMW lag. Drüben im Badezimmer hörte das Wasser auf zu rauschen. Irgendein verwegener Duft, es mochte das neue Opium-Parfum sein, kündete ihr Kommen an. Und dann stand sie in der Tür, im Gegenlicht, ohne alles. „Barfuß bis obenhin“, sagte sie. Es gibt Dinge, dachte Urban, mit denen du fünf Minuten vo r her einfach nicht rechnen kannst. Ihre Nacktheit war so deutlich wie der Schuß vor den Bug einer friedlich dahinsegelnden Yacht. Und wie sie auf ihn zu kam, diese Hüftbewegungen, die sagten alles. 30
Sie drehte sich um, zeigte sich von allen Seiten. Ihr Hinterteil signalisierte Alarm. Sie drehte sich wieder nach vorn, spreizte die Beine, strich sich von den Schenkeln aufwärts über Bauch und Brüste, machte dort mit den Händen kreisende Bewegun gen. „Gut so?“ fragte sie. „Optimal.“ „Deine Augen… ich kenne solche Männeraugen… sie haben mich längst ausgezogen.“ „Gehört ja nicht viel dazu.“ „Warum“, fragte sie, „hast du es nicht schon am Kamin ve r sucht?“ „Du sprachst von Politik.“ „Ich spreche gern über solche Dinge, wenn ich an Liebe de n ke.“ „Dein Trikot wäre in Fetzen gegangen.“ „Wenn schon.“ „Du nanntest mich einen Cop.“ „Es gab Fürstinnen“, sagte sie, „die trieben es am liebsten mit dem Stallburschen.“ Hektische Röte breitete sich auf ihrem Körper aus, vom Hals abwärts bis zu den Brüsten. Ihre Erregung überraschte ihn. – Du bist vielleicht ein Frau enkenner, dachte er, bei Frauenkenntnis Note drei… zwei… eins… aus. Sie riß das Laken von ihm und stürzte sich auf ihn. „O laß uns jetzt abstürzen“, rief sie, „gemeinsam in die tiefste aller Gletscherspalten. O Bob, Bob, Bobissimo…“ Das war noch nicht einmal der Anfang. Jetzt erst drückte sie den Starter. Nicht ein Motor sprang an, sondern ein halbes Dutzend. Heilige Theresa, dachte er.
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27. Februar. Sonntag. In den ersten Morgenstunden. Sein Mund war trocken. Er fühlte sich ausgedörrt wie nach einem Saharamarsch. Die Contessa lag an ihm, Brust an Brust, im Tiefschlaf. Ihre Haut klebte an der seinen. Vorsichtig löste er sich von ihr. Trotz veränderter Schwer punktlage erwachte sie nicht. Sie schlief tief und fest wie ein überanstrengtes Kind. Rasch zog er einen herumliegenden Bademantel an. Auf der Suche nach etwas Trinkbarem entdeckte Urban die Schloßküche, fand im Kühlschrank aber nicht das Richtige. Es gab nur Dosen mit Orangensaft, Tomatensaft und Grapefruit juice. Mineralwasser war sein Gedanke, notfalls ein Schluck Wein. Am Ende der gewölbten Küchendecke hing ein Perlschnur vorhang. Urban dachte, es ginge in einen Abstellraum. Statt dessen führte eine Treppe abwärts in den Keller. Dort steht mit Sicherheit ein Kasten Aqua minerale, dachte er. Der Keller war in Fels gehauen und sehr tief, Temperatur sie ben Grad plus, schätzte er, gerade richtig für Wein. Er zog den Bademantel enger. Urban fand kein Mineralwasser und auch nur Roten in ver schlossenen Fässern. Dafür stieß er auf etwas, womit in diesem alten Schloß nicht unbedingt zu rechnen war. Nachdem er eine Tür geöffnet hatte, befand er sich in einem schmalen, aber ziemlich langen Raum. Was man zunächst für eine Kegelbahn halten mochte, entpuppte sich als moderner Schießstand. Die Einrichtung hätte selbst den Erfordernissen einer Agentenschule genügt. Es gab sogar eine Pritsche. Man konnte liegend und stehend schießen. Ganz am Ende des schmalen weißgekalkten Schlauches be fanden sich bewegliche Figuren, Scheiben, die man elektrisch heranholen konnte und eine Leinwand zum Abspielen von Schießfilmen. 32
Links an der Wand befand sich ein in Mauerwerk eingelasse ner Waffenschrank. Ein Gitter aus Stahlstäben schützte die Panzerglasscheiben der Türen. Es gab Gewehre verschiedenen Kalibers, Präzisions - und Infanteriewaffen, Pistolen, Revolver und drei Maschinenpistolen. Eine FN, eine kleine Scorpion und eine mit chinesischer Beschriftung. Vermutlich ein Lizenz nachbau der Kalaschnikow aus Pekinger Waffenfabriken. Interessant, dachte Urban, wer mag hier wohl der fleißige Schießer sein? Weil es auch hier nichts Trinkbares gab, ging er weiter und fand sich plötzlich im rotgekachelten Kellerschwimmbad wi e der. Unter der Gewölbedecke war ein Vier-mal-sieben-MeterBecken in den Felsen gehauen worden. Der Saunakabine schloß sich eine kleine Bar an. Es gab eine Menge Flaschen voll Gin, Scotch, Wermut und Likören, aber kein Minerale. Mit dem großen Zeh prüfte Urban die Temperatur der Bek kenfüllung. Das Wasser war überraschend warm und weich. Vielleicht kam es aus einer heißen Quelle. Kurzentschlossen ließ er Theresas Bademantel fallen und sprang hinein. Ein paar Bahnlängen nach so einem turbulenten Abend waren genau das Richtige. Eine Abkühlung war für Urban erst dann vollständig, wenn er ganz eintauchte. Also ging er kopfüber auf Tiefe und schwamm eine Bahnlänge unter Wasser. Als er am Beckenrand wieder auftauchen wollte, hinderte ihn etwas daran. Der Weg war versperrt. Sein Kopf wurde von irgend etwas unter der Wasser linie gehalten. Er kam nicht nach oben durch. Er war auch nicht zu tief unter den Beckenrand geraten, denn die Kachelung lief vom Rand senkrecht bis auf zwei Meter Tiefe. Verdammt, dachte er, was hält dich fest? Es war nicht hart wie Stein, sondern eher weich und federnd. Noch hatte er keine Atemnot. Urban ließ sich ein Stück in die Tiefe sinken und versuchte, zwei Meter weiter links aufzutau chen. – Wieder dieser federnde Widerstand. – Er versuchte, ihn 33
abzuschütteln, doch das Hindernis folgte den Bewegungen seines Kopfes. Nun versuchte er erneut wegzutauchen. Diesmal wurde sein dichtes Kopfhaar festgehalten wie von den Fängen einer Fle dermaus. Er griff nach oben. Plötzlich war der Druck weg. Seine Füße erreichten den Beckenboden. Kräftig stieß er sich ab, schoß hoch. Wieder dieser Gegendruck beim Auftauchen. Allmählich wurde ihm die Luft knapp. Das Spiel dauerte jetzt schon zwei Minuten. Er wirbelte herum wie eine Spindel, kraulte in Beckenmitte und tauchte dort auf. Es ging glatt. Sein Kopf stieß ins Freie. Keuchend holte er Luft. In der intimen Beleuchtung des Schwimmbades sah er, wie sich etwas Helles zur Tür hin bewegte und wie sich die Tür schloß. Mit zwei Zügen war er am Beckenrand, schwang sich hinauf, rannte, so schnell es die nassen Füße auf den glitschigen Flie sen erlaubten, zur Tür, und riß am Knauf. Die Tür war wie zugenagelt. Sie gab nicht einen Millimeter nach. Gewöhnlich hatten Türen in den Schlössern aber etwas Luft. Es gab also nur eine Erklärung: Die Tür wurde von außen zu gehalten. Und zwar mit aller Kraft. Dann war das, was er gese hen hatte, ein menschliches Wesen, und zwar dasselbe, das ihn unter Wasser gedrückt hatte. Urban ließ den Knauf los, wischte sich das Wasser vom Ge sicht, lehnte sich gegen die Wand und hätte gern was zu Rau chen gehabt. „Was soll das, Contessa?“ rief er, erhielt aber keine Antwort. „Na schön, dann schieb mir wenigstens eine Zigarette unten durch.“ Abermals keine Antwort. Wieder packte Urban den Knauf und riß mit aller Kraft daran. Die Tür federte diesmal wenige Zentimeter auf, schnellte aber wie von Gummibändern gezogen sofort wieder in den Rahmen. 34
„Findest du das Spiel etwa spaßig?“ fragte er wütend, „ich nicht.“ „Wir auch nicht.“ Mit diesen drei Worten änderte sich die Situation völlig. Ein Mann mit Baßstimme hatte englisch gesprochen. Urban brauchte gewöhnlich nicht allzulange, um eine neue Lage zu durchblicken. Hier gelang es ihm nach einer Minute noch nicht. Wie kam der Bursche her? Theresa und er waren doch allein im Schloß gewesen. Wer stieg schon zum Spaß den Weg vom Tal herauf? Die steile schneeglatte Auffahrt war kaum mit Ketten an den Antriebsrädern eines Autos zu schaf fen. Daß Theresa ihre Stimme so verstellte, schloß er jedenfalls aus. Sie hatte keine schauspielerischen Talente. „Los, verzieh dich“, rief Urban durch die Tür. „Moment noch. Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen, Robert Ur ban.“ „Dann kommen Sie gefälligst rein, Mann.“ „Ich darf Ihnen leider mein Gesicht nicht zeigen.“ „Jetzt machen Sie aber halblang. Wir sind auf einem Schloß in Tirol und nicht in Schottland. Und die Gespensterstunde ist längst vorbei.“ „Ich möchte mich kurz fassen“, erklärte der Türzuhalter draußen, „das alles mag für einen Realisten wie Sie, Mister Dynamit, etwas gewollt makaber erscheinen, aber wir dachten, daß es der beste Weg sei, um Ihnen unsere Wünsche klarzuma chen. Bitte, hören Sie jetzt genau zu.“ „Ich schreibe sogar mit, Mann. Aber fangen Sie endlich an.“ Was dann kam, überraschte ihn einigermaßen. „Fahren Sie sofort nach Bonn“, sagte der Mann, der sein Ge sicht nicht zeigen wollte. „Wie bitte?“ Unbeirrt fuhr der Unsichtbare fort: „Sie sind zwar nur ein BND-Agent, aber Sie haben Einfluß. Man nimmt Sie ernst, Ihr Wort ist von Gewicht.“ „Meine paar Freunde sind derzeit leider nicht an der Regie 35
rung“, versuchte Urban zu scherzen. Irgendwie wollte er dem Burschen klarmachen, daß er ihn ganz und gar nicht ernst nahm. „Uns genügt Ihr Einfluß im Krisenstab.“ „Der tritt aber nur bei Krisen zusammen.“ „Eine solche wird bald eintreten, wenn Sie mich jetzt nicht ausreden lassen, Mister.“ „Okay“, murmelte Urban, „reden Sie tacheles.“ „Ich wiederhole: Fahren Sie sofort nach Bonn, machen Sie den entsprechenden Leuten klar, daß die Unterlassung gewi s ser, äußerst dringlicher Maßnahmen von allergrößtem Schaden für die Bundesrepublik sein würde.“ „Ach bitte, fassen Sie das doch ein wenig genauer.“ „Zum Beispiel die immer wieder hinausgezögerte Aufwer tung der D-Mark.“ „Entscheiden das nicht die Bundesbank und der Finanzmini ster?“ „Egal, wer es entscheidet, wenn sie es nicht bald tun, ge schieht ein Unglück.“ „Wie darf ich das auslegen? Gibt es Seuchen, Überschwem mungen, Erdbeben?“ Der Mann draußen kicherte, zumindest kam es Urban so vor. „Es käme zum größten Unglück seit Ende des zweiten Welt krieges, mit Beschneidung der wirtschaftlichen und politischen Freiheit Ihres Staates von unvorstellbarem Ausmaß. Also, tun Sie was ich Ihnen rate.“ Urban hielt den Burschen für eine Art Irren. Wer sollte we gen des D-Mark-Kurses, der vielleicht etwas unterbewertet war, gleich solche Drohungen ausstoßen? Weil der andere schwieg, sagte Urban: „Darüber müssen wir sprechen.“ Keine Antwort. „Hören Sie, Mann.“ Der andere stellte sich stumm. Urban zog an der Tür. Sie öffnete sich ohne Widerstand. Er stürzte hinaus, eilte die Treppe hinauf, durch die Küche, durch 36
das Schloß. Er sah den Mann nicht und hörte ihn nicht. Urban rannte durch die Halle, öffnete die zweiflügelige, von innen versperrte Eingangstür. Draußen fiel Schnee in fetten Flocken. Keine Spur war zu sehen. * Corvara, 01 Uhr 55 Die Contessa schlief noch in derselben Lage, in der Urban sie verlassen hatte. Mißtrauisch geworden, tastete er ihren Körper ab. Von den Füßen bis zum Nacken wies er überall Betttemperatur auf. Wie kann ein Mensch so tief schlafen, überlegte er. Auf Al kohol und Sekt allein war das nicht zurückzuführen. Ihr Atem ging gleichmäßig, ihr Herz schlug relativ langsam. Urban kleidete sich an. Als er ins Badezimmer ging, um sich das Haar zu kämmen, da sah er das Röhrchen mit dem Schlaf mittel. Dolviran, in Italien hergestellt. Wann hatte Theresa es eingenommen? Vorher oder nachher? So schläfrig war ihm ihre Gymnastik aber nicht vorgekommen. Also war sie nach der Liebe noch einmal aufgestanden, um die Tablette zu schlucken. Aber warum? – Eine gesunde Frau mit Alkohol im Blut, die sich obendrein bis zur Erschöpfung ausgetobt hatte, brauchte nicht extra eine Schlaftablette. Zumindest hätte man sie dann für einen medizinischen Sonderfall halten müssen. Vielleicht lag ihr daran, sehr lange und sehr tief zu schlafen. Sollst du haben, dachte er. Keiner wird dich wecken. Viel leicht die Sonne, aber bestimmt nicht Urbans Robert. Anstandshalber wollte er ihr ein paar Grußworte hinterlassen. Aber wie? Da sah er ihr rundes nacktes Hinterteil und drüben den Kamin. Er faßte unter das Kaminfutter, bis sein Finger Ruß fand. Damit schrieb er auf ihren hübschen Po vier Buchstaben. CIAO. 37
„Tschau, Contessa“, murmelte er, „servus und auf Wieder sehn.“ Kein Muskel unter ihrer Haut zuckte bei der Berührung. Wenig später verließ Urban das Schloß. Es hatte aufgehört zu schneien. Dafür war es wieder kälter geworden. Er räumte den Schnee von der Windschutzscheibe seines Coupés. Die Türen klebten an der Gummidichtung, als er sie auf riß. Aber der Sechszylinder kam mit der zweiten Ritzeldrehung. Langsam und nachdenklich fuhr Urban los. Trotz der Ketten ging es im tiefen Neuschnee wie mit einem Lastwagen durch Pudding. Von der ersten Kurve aus, bevor die hohen Tannen die Sicht versperrten, schaute er noch einmal zum Schloß hinauf. Waren nette vierzehn Stunden gewesen, aber auch höchst merkwürdige. – Dann gab er Gas. Durch die Serpentinen rutschte der BMW quer. 3. Spanien. Lloret de mar. 1. März. Vormittag 9 Uhr. Das alte spanische Holzkastentelefon läutete stotternd. Der weißhaarige Mann auf der Terrasse frühstückte weiter. Ab und zu schaute er durch das Fernglas, wie die Fischer im Hafen ihre Fänge auswogen. Das Telefon ließ er Telefon sein. Nach fünf Minuten läutete es wieder und hörte nicht mehr auf. Es verhielt sich so penetrant störend, daß er schließlich aufstand, hineinging und abhob. Was er hörte, klang zwar sachlich, im Ton aber unfreundlich. „Haben Sie sich unser Angebot überlegt, Señor Schuma cher?“ „Ja“, sagte er verärgert. Zuviele Leute kamen immer wieder zu ihm und wollten mit ihm oder mit seinem Namen Geschäfte machen, aus denen 38
meistens nichts wurde. Er fühlte sich immer nur ausgenutzt. Und verbittert war er ohnehin. „Und Ihre Entscheidung?“ drängte der Fremde. „Ich lehne ab. Buenos dias!“ „Diesmal“, sagte der englischsprechende Anrufer, „machen Sie einen Fehler.“ „Würde nicht mein erster sein. Ich war immer zu gutgläubig.“ Der andere schien zu wissen, wie er einem Mann wie Paul Schumacher, einem Wissenschaftler von Rang, am besten beikam. Nämlich mit Fakten. „Sie sind doch knapp bei Kasse, Herr Professor.“ „Ich komme mit meiner Pension aus.“ „Mit den paar Kröten, die Ihnen aus Deutschland überwiesen werden, daß ich nicht lache.“ „Es sind immerhin zweitausend Mark monatlich. Umgerech net in Peseten eine hübsche Summe.“ „Es sind nur achtzehnhundert Mark“, verbesserte ihn der An rufer. Damit verblüffte er Schumacher zum erstenmal. „Bitte, belästigen Sie mich nicht mehr“, zischte Schumacher und wollte auflegen, tat es aber so langsam und nachdenklich, daß er noch etwas mitbekam. „Sind hunderttausend Dollar Vorschuß wirklich eine Belästi gung, Señor?“ „Sprüche, nichts wie Sprüche.“ „Damit könnten Sie die Hypothek für Ihr Ferienhaus ablö sen“, sagte der Anrufer, „sich das Boot kaufen, auf daß Sie schon lange scharf sind, mal wieder… hm, zu den dunkelhäuti gen Damen im Cubana-Club gehen.“ „Unverschämtheit. Was fällt Ihnen ein.“ „Noch eine ganze Masse, wenn Sie wünschen, Señor Profes sor“, machte der Anrufer weiter. „Wir schätzen Sie sehr. Für uns sind Sie ein verkanntes Genie. Sie lieferten immer mehr als man Ihnen tragischerweise abnahm. Mit dem Ruhm, der Ihnen zustand, schmückten sich stets die anderen. Es lag daran, daß Sie sich nie recht verkaufen konnten. Wenn einmal das große Geld, der große Erfolg kam, lief es in letzter Minute meistens 39
schief. Dann ging stets ein anderer vor Ihnen durch die Tür. Deshalb sollten Sie sich unser Angebot ernsthaft überlegen, Mister Shoemaker. Es ist das Beste, das Sie noch erwarten können. Es kommt spät, aber es ist da.“ Schumacher, barfuß im Morgenmantel, spürte unter den Ze hen die kühle Glätte der Kacheln. Ein wohltuendes Gefühl. Es gab ihm ein wenig Selbstvertrauen. „Was wollen Sie eigentlich?“ fragte er. „Sie kennen doch unser Angebot“, sagte der andere. „Sie kommen für uns in die USA. Wir unterhalten dort ein Labora torium, das speziell in Ihrer Fachrichtung arbeitet und im Mo ment wegen gewisser Probleme nicht weiterkommt. Probleme, die Sie vermutlich lösen können, weil es sich um die Schuma cher-Spirale handelt.“ „Um Isotopentrennung also“, unterbrach der Professor. Der andere fuhr unbeirrt fort: „Vorkasse einhunderttausend Dollar in jeder Ihnen genehmen Währung. Jährliche Bezüge ebenfalls hunderttausend Dollar, Bungalow und Dienstwagen extra. Einzige Bedingung: Sie reisen noch diese Woche.“ Schumacher hatte sich alles längst durch den Kopf gehen las sen. Wenn er annahm, bedeutete das, Spanien verlassen zu müssen. Er liebte dieses Land. Aber Spanien war im Grunde weniger wichtig, als er sich vormachte. Eigentlich ging es ihm darum, und sei es jetzt mit dreiundsechzig, den großen Erfolg zu haben. Er wollte endlich in die erste Reihe der Wissen schaftler seines Faches vorstoßen, es ihnen einmal zeigen, wer der kleine Schumacher war. Dagegen bedeutete Spanien wirklich nichts. Und Californien war im Süden ja auch fast Spanien. Außerdem würde der For schungsauftrag nur zwei oder drei Jahre dauern, länger nicht. Und jede Arbeit war ein Gesundbrunnen gegen dieses Leben eines Müßiggängers, der sich nur noch mit Sport in Form hielt. „Ich überlege es mir“, sagte Schumacher. „Ich rufe Sie wieder an.“ „Ihr Risiko, Sir.“ 40
„Noch heute.“ Schumacher legte auf. Immer, wenn man auflegte, bimmelte der alte Holzkasten noch einmal nach. * Mittwoch.
Bei Dunkelheit.
Sie trafen sich in der alten Stierkampfarena von Tossa. Eine stockfinstere Nacht. „Kein Licht“, bat der Mann, als Schumacher zu ihm in den Seat stieg und sich eine schwarze Gitanes anstekken wollte. „Darf ich Ihr Gesicht nicht sehen?“ „Das ist eine unserer Bedingungen.“ „Was verstecken Sie vor mir?“ „Wir möchten sichergehen, daß Sie nicht erfahren, mit wem Sie es zu tun haben, bevor der Vertrag in Los Angeles unter zeichnet ist.“ „Seid Ihr die Schwarze-Hand-Incorporated?“ Dem anderen entfuhr nicht der kleinste Lacher. Er saß da, Mantelkragen hochgestellt bis zu den Ohren, Hut tief in die Stirn gezogen. In Verbindung mit der Sonnenbrille stellte das eine nahezu perfekte Tarnung dar. „Kann ich jetzt das Money sehen?“ fragte der kleine Profes sor, den man so aufs Kreuz gelegt hatte, daß Mißtrauen zu seiner hervorstechendsten Eigenschaft geworden war. Der andere angelte einen Stadtkoffer unter dem Sitz hervor. „Bitte zählen Sie nach.“ „Wie denn im Dunkeln?“ „Hier ist eine Leuchtlupe.“ „Sie denken aber an alles.“ „Wir denken immer an alles, Sir.“ Schumacher knipste das unförmige Briefmarkensammler werkzeug an. Am Ende des Handgriffs leuchtete eine kleine 41
Birne auf und erhellte die handtellergroße, zweifach vergrö ßernde Lupe. „Dollar, Franken, D-Mark.“ „Danke, ich weiß.“ Erst zählte der Professor, dann prüfte er ziemlich routiniert die Echtheit der Noten. Er untersuchte Druck und Sicherheits faden, dann machte er am Ohr die Raschelprobe. Endlich schien er zufrieden zu sein. „Und hier das Flug-Ticket.“ , Schumacher kontrollierte es ebenfalls im Schein der beleuch teten Lupe. Ruckartig hob er den Kopf. „Wie darf ich das verstehen?“ fragte er. „Hier steht als Zielort Chicago. Dachte, es geht nach Los Angeles.“ „Da bin ich überfragt“, antwortete ihm der Geldbote. „Schät ze aber, man wird Sie diesbezüglich aufklären.“ „Gefällt mir nicht“, murmelte Schumacher. Der andere schien es eilig zu haben. „Nun, nehmen Sie die Anzahlung oder nicht, Sir?“ Schumacher zögerte nicht. Der andere schaute auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. „Ich muß morgen früh in Madrid sein, Sir.“ „Okay“, sagte Schumacher. Er sah keine andere Möglichkeit, aus seiner selbstgewählten Verbannung herauszukommen, als zu akzeptieren. Der andere reichte ihm ein Quittungsformular. Schumacher bestätigte den Empfang. Dann stieg er mit dem Geldkoffer aus. Als er in seinem alten VW saß, hatte der Geldbote schon ge wendet und fuhr Richtung Autobahn davon. * Freitag, 4 März. Flugplatz Muntadas. Eine Stunde vor Abflug seiner Maschine nach Paris hatte Paul Schumacher noch immer die hunderttausend Dollar Devisen in 42
seinem schwarzen Stadtkoffer. Allmählich brannte ihm das Geld in den Händen. Zuerst hatte er vorgehabt, es in seinem Haus einzumauern. Aber wer weiß, vielleicht kamen die Termiten an die Scheine und am Ende blieb nur noch Papiermehl übrig. Eine andere Möglichkeit wäre ein Stahlfach gewesen. Treso re galten zwar als termitensicher, aber im Safe brachte das Geld auch keinen Zins und im Notfall konnte er so schwer darüber verfügen, wie wenn er es einmauerte. Also zahlte er es bei der Flughafenfiliale der Banca National ein und ließ den ganzen Betrag auf sein Pensionskonto in Karlsruhe überweisen. Jetzt quälte ihn nur noch ein Problem, nämlich die Anonymi tät seiner neuen Dienstherren. Angeblich handelte es sich um ein Californisches Forschungsinstitut auf privater Basis. Of fenbar war es mit genügend Geldmitteln ausgestattet, um die Isotopentrennung nach System Schumacher, in der sogenann ten Schumacher-Spirale, endlich zur Serienreife zu entwickeln. Ihm sollte es recht sein. Für ihn erfüllte sich damit der Traum seines Lebens. Und wenn das Ding erst einmal arbeitete und als rationellstes Verfahren der Urananreicherung in alle Welt verkauft wurde, dann regnete es auch noch Li zenzgebühren en masse. Schumacher hatte wenig Gepäck. Nur eine Reisetasche und einen großen altmodisch eckigen Lederkoffer. Links im Jackett steckten seine blauen Gitanes, rechts die fla che Viertelliterflasche mit Whisky. Er nahm einen Schluck. Plötzlich hörte er seinen Namen. Er wurde über Lautsprecher ausgerufen. „Señor Schumacher“, gab die Hostess durch, „Sie werden am Telefon verlangt. Zelle zwei links neben der Cafeteria.“ Er suchte die Kabine, fand sie und trat hinein. Der Mann, mit dem er von Anfang an wegen Amerika ve r handelt hatte, war am Apparat. „Ich bin Ihnen noch eine Erklärung schuldig“, sagte der Mann. 43
„Das kommt ziemlich spät“, knurrte der Professor, „aber im merhin früher als erwartet. Warum geht mein Ticket nur bis Chicago?“ „Weil wir Sie bitten, von Chicago ab die Western Union zu benutzen.“ „Die Eisenbahn?“ „Im Express nach Denver ist für Sie ein Bedroom reserviert.“ Schumacher erfuhr die genaue Abgangszeit des Zuges. „Und wozu die Umstände, wenn ich fragen darf?“ Der Mann aus dem Management seiner neuen Firma erklärte: „Sie sind ein berühmter Mann, Professor. Und die Reporter unserer californischen Zeitungen sind helle Köpfe. Die lauern tagaus tagein am Flughafen herum, um einen interessanten Fisch an die Angel zu kriegen. Man könnte aus Ihrer Ankunft gewisse Schlüsse ziehen, die wir für voreilig halten. Wir möch ten Ihre Tätigkeit für unsere Firma erst dann der Öffentlichkeit bekanntgeben, wenn wir den Augenblick für gekommen halten. Die Konkurrenz ist sehr wachsam. Verstehen Sie das?“ „Nur wenn ich mir Mühe gebe.“ „Dann bitte ich Sie darum“, fuhr der Anrufer fort. „Sie wer den eine angenehme Reise durch die Staaten machen.“ „Danke, ich kenne Amerika.“ „Verzeihung, ich vergaß ganz, daß Sie lange dort lebten und Ihre Position unter mehr als tragischen Umständen zur Verfü gung stellten.“ „Was heißt tragisch“, entgegnete Schumacher, „man hat mir lediglich die Früchte meiner Arbeit gestohlen. Sparen wir uns also lange Worte.“ „In Denver, Colorado“, erwähnte der andere noch, „wird ei ner unserer Vertrauensleute zu Ihnen in den Express steigen und Sie bis Californien begleiten.“ „Sein Name?“ „Er meldet sich mit Kennwort.“ „Und wie lautet es?“ „Nehmen wir der Einfachheit halber eine Zahl“, schlug der Anrufer vor. „Wie wär’s mit zweihundertachtunddreißig?“ 44
Schumacher schluckte. Diese Zahl hatte in seinem Leben größere Bedeutung gehabt als jede andere. „Sehr sinnig“, sagte er, „Uran zweihundertachtunddreißig.“ Damit war das Gespräch beendet. Schumachers Flug wurde aufgerufen und erschien als Leuchtschrift auf der großen An zeigentafel ganz oben. Er nahm den letzten Schluck aus der kleinen Flasche. Der Scotch schmeckte so wie spanischer Whisky, der mit Cognac verschnitten wurde, immer schmeckte. Die leere Flasche warf er in den Papierkorb. 4. Freitag, 4. März. Bonn. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb in ihrer Mittwoch ausgabe, daß eine Anpassung der D-Mark an andere Währun gen vor der Tür stehe. Das löste an den internationalen Geld handelsplätzen einen Run auf die deutsche Mark aus. Denn wer vor der Aufwertung eine Mark kaufte, und die Aufwertung machte nur fünf Prozent aus, der hatte dadurch im Handumdre hen fünf Pfennige verdient. Eine erstklassige Ve rzinsung und ein riesiges Geschäft, wenn man mit einigen Millionen für wenige Tage umstieg. Die Aufwertungsgerüchte verdichteten sich derart, daß die Bundesbank am Freitag allein für neunhun dert Millionen Devisen kaufen mußte. Da beschloß die Regierung gegenzusteuern. In einer Blitzaktion wurden die im Wirtschafts- und Finanz ministerium konzentrierten Experten zusammengerufen. Die Fachleute waren für solche Situationen vorbereitet und trainiert. Unter Leitung eines Ministerialdirektors machten sich ein Dutzend Spezialisten an die Arbeit, alle nur denkbaren Entwicklungsphasen zu analysieren. Hinter verschlossenen Türen wurden die verschiedensten La gen durchgerechnet. Was geschah, wenn man aufwertete? Wie schlug das auf die exportabhängige Industrie durch? Konnte 45
man die verteuerten Waren im Ausland noch absetzen? Erhöhte sich dann die internationale Konkurrenz des deutschen Waren drucks durch Kampfmaßnahmen? Wie hart konnten sich diese auswirken? Kam es nur zu Dumpingpreisen und zu Preiskämp fen, oder gar zu Einfuhrsperren, zu neuen Zollschranken, zu einem Wirtschaftskrieg? Am Nachmittag griff der Minister persönlich in die Planspie le ein. In seinem schwarzen Mercedes fuhr er um 16 Uhr 45 im Lagezentrum vor. Er sah aus, als trage er heute nicht sein eigenes Gesicht, son dern einen Gipsabguß davon zur Schau. Er eilte durch das Foyer des Ministeriums, durch mehrere Gänge bis vor eine metallisch schimmernde Tür. Diese Tür war sogar dem Minister versperrt. Selbst er konnte sie nur mit fremder Hilfe öffnen. Einen Moment blieb der Minister so vor der Tür stehen, daß die eingebaute Fernsehkamera seinen Kopf erfaßte. Es dauerte mehrere Sekunden, bis ihn der Sicherheitsbeamte auf dem Bildschirm identifiziert hatte. Ein Knopfdruck öffnete die Tür. Nun eilte der Minister ins Innere des mehrräumigen abhör und bombensicheren Trakts. Im klimatisierten Sitzungssaal blieb er am oberen Ende des ovalen Tisches stehen. „Meine Herren“, begann er mit leiser Stimme und entnahm gleichzeitig seiner linken inneren Sakkotasche einen zusam mengefalteten Din-A4-Bogen von rosa Färbung. „Meine Her ren“, sagte er noch einmal, „ich habe hier eine streng vertrauli che Information des Kanzleramtes. Unserem Auslandsnach richtendienst ist eine Warnung zugegangen, derzufolge man uns rät, baldigst dem Gedanken an eine Aufwertung näherzu treten. Unser Geld also teurer zu machen. Die Drohung ist anonym, der Kreis aus dem sie stammen kann, ist denkbar groß. Der BND rät uns, sie zumindest in unsere Kalkulationen einzubeziehen. – Nun, wir sind nicht gewöhnt, wirtschaftlich notwendige Entschlüsse von Drohungen beeinflussen zu las 46
sen. Treffen wir also unsere Entscheidung anhand der vorlie genden Fakten.“ Einer der anwesenden Wirtschaftsprofessoren fragte mit ge runzelter Stirn: „Schön. Aber was steckt dahinter?“ „Ankündigung von Gegenmaßnahmen.“ „Welcher Natur?“ „Vernichtender.“ „Wir sind die potenteste Exportmacht der Welt“, murmelte jemand und lachte dann leise, „wer uns vernichten will, der muß schon von anderen Sternen kommen.“ + München. Samstag. 20 Uhr 30. Sie saßen im Königshof beim Essen. Durch die hohen Glas scheiben konnte man auf Deutschlands verkehrsreichsten Platz, den Stachus, hinabblicken. Als Hauptgang gab es Fasanenbrüstchen in einer Kräuterso ße. Urban wußte, was er seinem Gast schuldig war. Um das hüb sche Gesicht der brünetten Kollegin konturenschärfer sehen zu können, löschte er die Kerze. „Hat ja lange gedauert“, sagte er dann. „Die Bonner Mühlen mahlen eben langsam.“ „Und unsicher. – Und was fiel am Ende in den Sack?“ „Wer Graupen drischt, kann kein Weizenmehl erwarten.“ „Also keine Aufwertung.“ „Falls Sie mit elf Mark dreißig spekuliert haben sollten, Bob, haben Sie sich verkalkuliert.“ Trotzdem winkte er dem Ober und bestellte noch eine Fla sche von dem vorzüglichen Côte de Provence. „War ja nur mein Job“, sagte er, „es weiterzuleiten.“ „Der Minister läßt danken.“ „Ich finde“, sagte Urban, „bevor wir Drohungen nachgeben, 47
sollte man uns schon eine Bombe vor die Tür setzen. Aber mindestens.“ Das hübsche und elegante Mädchen ging nicht auf diese lok kere Art von Ton ein. Als treudeutsche Beamtin sagte sie: „Wir haben noch immer ein Wirtschaftswachstum, wenn auch ein vermindertes. Also warum sollten wir?“ „Ganz meine Meinung“, pflichtete er bei. „Wie lautet übrigens privat Ihre Meinung zu diesem mitter nächtlichen Gespräch? Ich meine, was wurde sonst noch ange deutet?“ „Wer will das wissen?“ „Der Minister.“ Man sah es also doch ernster, als Urban angenommen hatte. Er gab eine Schilderung seines Abenteuers im Corvaratal, beschränkte sich aber objektiv auf den im Schwimmbad statt gefundenen Dialog. Doch die Dame aus Bonn ließ nicht locker. „Ich fragte nach Ihrer privaten Meinung, Robert.“ Urban hob die Schulter. „Ein Scherz war es nicht, Gnädigste.“ „Ihre Meinung“, bohrte die hübsche Ministerialrätin mit dem doppelten Doktor. „Nun“, sagte er, „man machte sich immerhin die Mühe, mir bis in die Dolomiten zu folgen, um eine Gelegenheit zu finden, mir eine Sache mitzuteilen, oder besser klarzumachen, die man auch auf andere Weise… aber das alles gehört wohl zu einem großangelegten Plan. Warum tat man es in einem Schloß, unten im Kellerschwimmbad morgens um halb zwei? Warum ausge rechnet wandte man sich an mich? Da kommt doch noch etwas Dickes, Rundes hinterher.“ Die Ministerialrätin sah auch mit schmalen Augen noch rei zend aus. „Sie glauben also an die Drohungen.“ „Man hat so seine Erfahrungen.“ „Wie lange ist das jetzt her?“ „In wenigen Stunden fast eine Woche.“ 48
„Wandte man sich noch einmal an Sie?“ „Mit keinem Wort.“ „Wurden Sie beobachtet oder verfolgt?“ „Nichts davon bemerkt.“ „Erst diese Drohung von der größten Katastrophe seit dem zweiten Weltkrieg und dann eine geschlagene Woche lang nichts.“ Urban lehnte sich zurück, steckte sich eine MC an und warte te auf das Dessert. „Das spricht für diesen Kreis.“ „Inwiefern?“ „Man wollte die Entscheidung des Krisenstabes abwarten.“ „Sein Zusammentreten war streng geheim.“ Er winkte ab. „Niemand außer mir und Contessa de Lucca wußte, daß ich letztes Wochenende in die Dolomiten fuhr. Aber diese Leute wußten es. Also wissen sie auch von der Sitzung des Krisen stabes. Sie sind bestens informiert. Vermutlich wissen sie so gar, was der Krisenstab beschloß.“ „Das konnten sie sich an den fünf Fingern abzählen.“ Hier hakte Urban nach. „Und was beschloß man bitte?“ Erst kam noch eine Gegenfrage der Regierungsbeamtin. „Wer ist diese Frau, Robert?“ „Theresa“, sagte Urban, „eine Contessa. Südtiroler Adel. Keine Angst, sie wird inzwischen überprüft.“ Die Ministerialrätin aus Bonn, die nur wegen dieses Ge sprächs und nicht, um sich von Urban zum Essen ausführen zu lassen, nach München gekommen war, sagte: „Wer steckt Ihrer Meinung nach dahinter?“ Urban gewann allmählich den Eindruck, daß man der Sache Gewicht beimaß. „Jeder“, sagte er. „Jeder, der als Konkurrent auf den Exportmärkten in Frage kommen könnte.“ „Und der wünscht, daß unsere Waren teurer werden.“ 49
„Um seine eigenen Exporte billiger in die Bundesrepublik einführen zu können.“ „Der Bogen spannt sich von der UdSSR bis in die USA.“ „Aber es ist nicht die typische Methode dieser Partner. Die Russen bedrohen uns auf höherer Ebene – mehr politisch, mit dem Faustpfand Berlin. Und die Amerikaner machen es wieder anders.“ „Mit dem Faustpfand NATO“, entgegnete Urban, „Verteidi gungsbeitrag, Brennstoffversorgung unserer Atomkraftwerke und…“ Der neue Rosé kam. Die kalte Flasche war beschlagen. Das Eis klirrte im Kühler, als der Kellner sie eintauchte. „Bluff?“ fragte die Bonner Beamtin. „So wenig wie Ihre Schönheit, Julia.“ „Aber man muß verdammt aufpassen.“ „Wir“, sagte Urban, „müssen auch verdammt aufpassen. Wir beide.“ Sie lächelte, hob das Glas und sagte: „Keine Angst. In einer Stunde holt mich Peter ab, mein Mann. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder.“ * BND-Hauptquartier. Am selben Abend. Der Alte war wie ein Dynamo auf zwei Beinen. Solange Urban über das Gespräch mit der Bonner Beamtin referierte, lief er mit seinen kurzen schnellen Schritten hin und her. Als Urbans Vortrag zu Ende war, schien Sebastian seine Energieabgabe kurz zu unterbrechen. „Lage also wie gehabt.“ „Bonn hat unsere Information zur Kenntnis genommen, än derte aber nichts an der langfristigen Konzeption.“ „Ganz klar. So ein Gespräch zwischen Tür und Angel kann die Wirtschafts- und Finanzpolitik wohl kaum beeinflussen.“ 50
Urban erhob sich. Er hatte Bericht erstattet und wollte gehen. „Gefällt Ihnen nicht, das Ganze wie?“ bemerkte der Chef nä selnd. „Nein“, gestand Urban. „Merke, nicht hinter jeder Drohung steckt auch eine Faust“, sagte Oberst Sebastian. „Übrigens, da kam noch etwas für Sie von Abteilung vier herauf.“ Er reichte Urban einen anderthalbzeilig getippten Bogen. Dossier Theresa Lucca, stand in Großbuchstaben darüber. Urban überflog es. Es gab weniger her. Trotzdem bekam sein Gesicht einen Aha-Ausdruck. „Wer ist diese Frau?“ fragte der schmerbäuchige Operations chef. „Die Contessa, der ich die Einladung nach Corvara und damit die Verwicklung in diese saublöde Geschichte verdanke.“ „Warum heißt sie hier Theresa Lucca und nicht de Lucca?“ „Das ,de’ hat man wohl übersehen.“ „Man hat wohl noch mehr übersehen“, zeigte sich der Alte gut informiert. Offenbar hatte er das Dossier studiert. Urban wußte, was ihm noch aufgefallen war. „Sie meinen den Namen de Lucca. Ihre Mutter ist eine gebo rene de Lucca und Theresa trägt den Namen ihrer Mutter.“ „Hat sie keinen Vater? War es ein Fall von künstlicher Be fruchtung?“ Urban wußte wenig genug über die Contessa und so gut wie nichts über ihre Eltern. Nur, daß ihr Vater in und um Corvara eine Menge Land besaß und keinen Quadratmeter davon her gab, hatte sie ihm erzählt. „Ist das denn möglich“, erkundigte sich der Alte, „daß in Ita lien Mädchen den Familiennamen der Mutter führen?“ „Bei Adligen kommt das bisweilen vor.“ „War ihr Vater ein bürgerlicher?“ „Ein deutschstämmiger Südtiroler, glaube ich“, sagte Urban. „Und sein Name?“ „Keine Ahnung.“ Urban drehte das Blatt um. Die Rückseite war leer. Auch in 51
dem Kurzdossier, das der BND sicherheitshalber mit dem ita lienischen Geheimdienst erarbeitet hatte, stand nur soviel über Theresas Vater, daß er vor Jahren gestorben sei. „Im Keller des Schlosses“, erwähnte Urban nebenbei, „ist ein hochmodernes Schießkino eingebaut.“ Der Oberst hob die buschigen Augenbrauen. „Großer Jäger gewesen, der Herr Vater.“ „Ich sah mehr Militärwaffen als Jagdwaffen.“ „Und was schließen Sie daraus?“ „Daß Theresas Vater Zugang zu solchen Geräten hatte.“ „Hatte er“, kombinierte Sebastian, „die Waffen vielleicht aus geschäftlichen Gründen gesammelt, etwa, um sie zu testen, um sie vorzuführen?“ „Soviel ich weiß, verwaltete er nur seine Güter und Latifun dien.“ „Nun“, meinte der Oberst. „Waffenhandel ist ja auch weniger ein Beruf als ein Hobby. Ein sehr gefährliches, aber auch ein recht einträgliches.“ Urban stieß plötzlich etwas auf. „Im Waffenschrank hinter dem Panzerglas hing eine Skorpi on.“ Sebastian nahm seine Wanderung wieder auf. „Die niedliche tschechische Maschinenpistole, die in jede Damenhandtasche paßt und von Omnipol vertrieben wird?“ „Die gibt es doch erst seit ein paar Jahren, oder?“ Der Alte blieb ruckartig stehen. „Und wie lange ist der Vater der Contessa tot?“ „Jedenfalls schon etwas länger.“ „Dann stimmt da wohl einiges nicht. Wie kommt eine Scor pion in den Waffenschrank einer 26jährigen Italienerin?“ „Plus einer Kalaschnikow aus der Pekinger Waffenfabrik“, fügte Urban hinzu. „Ich fürchte, meine Einladung nach Südtirol war von Seiten der Dame doch nicht ganz uneigennützig. Da standen noch andere Motive dahinter.“ Der Alte dachte nach und machte dann eine wegwerfende Handbewegung. 52
„Wir müssen die antiken Brandmalereien in unseren Hirnen, die noch aus der Gründerzeit der Geheimdienste stammen, die müssen wir flugs mal vergessen. Ich glaube nicht, daß da noch viel nachkommt.“ „Na schön, so faszinierend war der Zwischenfall auch wieder nicht, daß man ihn nicht vergessen könnte.“ Urban empfahl sich, um nach Hause zu fahren. Es regnete heftig. Auf dem Weg zu den kahlen Ulmen, wo sein 633-CSi Coupé stand, dachte er, daß von der nicht mehr vorhandenen Faszina tion des Geheimdienstgeschäftes, vom Schreibtisch des Direk tors bis zum Agenten draußen in der Kälte, obendrein noch eine Menge verlorenging. 5. Los Angeles/Calif. 4. März Für 16 Uhr war eine Festzeitschaltung bei der Belle Telephone Corporation beantragt. Sie wurde pünktlich hergestellt. Ein Teilnehmer saß auf einer Insel in der Südsee, der zweite auf seiner Luxusyacht vor Ha waii, der dritte in seinem Büro in Los Angeles City. Nachdem sich die Teilnehmer ausführlich über die Schlußno tierungen der Börsen in New York, Chicago und San Franzisko unterhalten hatten, sprachen sie über die Entwicklung auf den Rohstoffmärkten und steckten ihre Ziele für die kommende Woche ab. Es ging um die Order großer Mengen von Rohöl und eine unverkäufliche Partie von sechzigtausend Tonnen Walzstahl. Schließlich bedauerte man die allgemeine Geschäftslage am Exportmarkt und die dirigistischen Maßnahmen der USA. Pessimistisch wurde die Entwicklung auf dem Gebiet des in dustriellen Hochseefischfanges betrachtet, wo man mit spürba ren Rückschlägen rechnete. Dann ging es noch um Kampf preiskalkulationen bei den Tankerwerften und darum, ob man 53
für die Luftfahrtgesellschaft drei neue Jumbos bei Boeing kau fen solle, oder ob es besser sei, die Langversion des Airbusses abzuwarten. Ganz zum Schluß kamen sie, ohne daß der Name ausgespro chen wurde, auf das Thema Schumacher. Der Teilnehmer von Hawaii fragte: „Wie weit sind wir in der 238er Sache?“ „Er ist unterwegs. Fliegt heute in Barcelona ab.“ „Dann ist er wann in New York?“ „Heute nacht.“ „Und in Chicago?“ „Morgen früh.“ „Wenn man zugrunde legt, daß der Express von Chicago nach Denver zwei Tage braucht, wann ist er dann soweit?“ „Montag. Spätestens.“ „Wurde für alles vorgesorgt?“ „Empfang wie besprochen.“ Der Mann aus der Südsee schaltete sich ein. „Ich bitte mir aus, daß das pannenlos über die Bühne geht.“ „Sie haben Sorgen“, sagte der in Los Angeles. „Viertausend Kilometer vom Brennpunkt entfernt. Was will ich da sagen? An mir hängt die Detailorganisation.“ „Meine Sorgen sind anderer Natur“, erklärte der Teilnehmer in der Südsee, so deutlich, als spreche er aus dem Nebenzim mer, „nämlich unsere Probleme auf dem EWG-Markt, den die Deutschen anführen. Und die Deutschen sind äußerst hartleibig und uneinsichtig.“ „Noch sind unsere Preise konkurrenzlos.“ „Wie lange noch, wenn sie drüben nicht aufwerten? Kennen Sie die neuesten Forderungen der Gewerkschaften?“ „In Deutschland beträgt der Durchschnittsstundenlohn eines Industriearbeiters inzwischen brutto neunzehn Mark. Bei uns keine elf.“ „Trotzdem. Die deutsche Stahlindustrie ist unterbeschäftigt, andere Sparten, mit Ausnahme der Automobilhersteller, arbei ten gerade an der roten Linie. Wenn es bei denen weiter so 54
schief läuft, werden die Deutschen rasch handeln. Dann schla gen sie hart zu wie immer. Und ihre Breitseiten richten sich voll gegen uns. Das muß unter allen Umständen verhindert werden. Für min destens 24 Monate.“ „238 wird uns dabei helfen.“ „Ja, das drückt die Germans wie nichts vorher“, fügte der Mann auf seiner Luxusyacht vor Hawaii hinzu. „Wann spre chen wir uns wieder?“ „Wenn es erledigt ist“, sagte der in Los Angeles. „Dienstag, würde ich vorschlagen.“ Die Konferenzschaltung wurde um 16 Uhr 10 von der Tele fongesellschaft beendet * Boyle Heights. 23 Uhr. Kaum ein Fremder wagte sich um Mitternacht in das Mexika nerviertel. In einer der engen schmutzigen Gassen stand ein chromblit zender rosafarbener Straßenkreuzer. Lässig in die Polster des riesigen Cabrios gelehnt, saß ein olivhäutiger junger Mann hinter dem Lenkrad. Er rauchte eine Marihuana-Zigarette und schien auf nichts zu warten. Ohne daß er es merkte, näherte sich aus dem Dunkel des Me xikanerslums eine Gestalt von athletischer Größe und der Schulterbreite eines Gorillas. Mit voller Wucht trat ein Stiefel gegen den makellosen Lack des Kofferraumdeckels. Entsetzt fuhr der Mexikaner herum. „He Mann, bist du wahnsinnig. Die sieben Lackschichten ha ben mich einen Monat Arbeit gekostet.“ „Was spielt das für ‘ne Rolle bei einem Sozialempfänger?“ Erst jetzt schien der Junge zu begreifen, um was es ging. – Zu 55
spät. Der Riese landete seine Faust am Kinn des Kleinen, daß die glühende Zigarette auf den Getriebetunnel fiel. Der Junge heulte auf vor Schmerz. „Warum ist El Chico nicht da?“ fragte der Mann aus dem Dunkel. „Hat keine Zeit.“ „Hör zu“, sagte der Weiße, „entweder El Chico, und zwar in zehn Minuten, oder es geht dir mies. Und El Chico auch. Wir haben genug in der Hand, um ihn hochgehen zu lassen bis in die Umlaufbahn.“ Der Mexikaner hatte ein schlechtes Gewissen. Er hatte hun dert Dollar genommen, um den Kontakt mit El Chico herzu stellen, aber den Schein einfach auf den Kopf gehauen. „Und bevor wir dich zu Mus machen“, fügte der Weiße noch hinzu, „machen wir die Karre da zu Schrott.“ Ein neuer Tritt, diesmal gegen die Türflanke, beulte das Au to, das für einen Arbeitslosen wie Pablo das Wichtigste auf Erden war, zentimetertief ein. „Mann, ich hole ihn ja“, sagte Pablo, ließ an und rollte ganz langsam um die Ecke. * Boyle Heights.
Noch vor Mitternacht.
Mit dem Ausdruck tödlicher Langewe ile hatte sich El Chico angehört, was ihm der Weiße zu sagen hatte. Aber bei dem letzten Angebot verging ihm das Lachen. „He, du weißer Ab schaum“, knurrte der dunkelhäutige Mexikaner, „sag’s noch mal.“ „Zwanzigtausend Dollar.“ Jetzt grinste El Chico vom geölten Scheitel bis zu den hoch glanzpolierten spitzen Slippers. „Leg noch mal zehn zu.“ 56
„Du kannst den Job ja abschlagen, du Ratte, du hast es ja dik ke.“ El Chico nickte. „Wenn ich noch so helle Haut hätte wie du, Mann, wäre ich schon längst Millionär.“ „Was man braucht, um aus der Scheiße rauszukommen, ist eben ’ne weiße Haut. Und einen echt amerikanischen Paß.“ Der andere spielte darauf an, daß El Chico als illegaler Ei n wanderer in Los Angeles lebte, und daß er davon wußte. „Ich bin ein Profi“, sagte El Chico, „der nichts ohne Vorkasse macht.“ „Wenn es okay ist, dann schlag ein.“ „Was hätte ich zu tun?“ ,,’nen Gringo umlegen.“ „Wo?“ „Im Expreß Denver – Los Angeles.“ „Bedroom?“. „Ja, Schlafwagenabteil.“ „Wie?“ Der Mann, der den Killer in Dienst nehmen wollte, entnahm der Innentasche seiner Jacke etwas in Tuch Gewickeltes. Der Inhalt des öligen Lappens fühlte sich knochig und stäh lern an. „Eine fünfundvierziger Luger-Pistole. Mit Schalldämpfer. Die Spritze ist fabrikneu. Sie war noch nicht am Markt, wurde noch nie benutzt. Also keine registrierten Kugelmerkmale. Funktion von uns überprüft. Zwei Kugeln im Magazin. Maga zin steckt. Verwende nur dieses Magazin. Die zwei Kugeln müssen genügen.“ El Chico war mißtrauisch wie alle, die lange und oft genug getreten worden waren. „Ist was Besonderes an der Munition?“ Der Auftraggeber sagte ihm nicht die volle Wahrheit. „Well. Hohlgeschosse. Speziallegierung. Sie zerlegen sich im Körper.“ El Chico nahm die Waffe und tastete sie unter dem Tuch ab. 57
„Und wenn es erledigt ist?“ „Schnappst du dir nur seinen Koffer und steigst aus. Die Waffe schmeißt du am besten in den Limerick Canon.“ „Noch besser in den Tujunga Creek.“ „Am besten gleich ins Meer. Da holt sie kein Polizeitaucher raus.“ El Chico machte, wieder mit dem Ausdruck tödlicher Lan geweile, eine Zeigefingerbewegung. „Wie steht es mit dem Zaster?“ „Fünftausend voraus.“ „Okay.“ Dann hatte er noch einige Fragen. „Wird er mich in sein Abteil reinlassen?“ „Nur mit Kennwort. Das Kennwort lautet zweihundertacht unddreißig.“ „Zwoachtunddreißig“, murmelte El Chico. „Was bedeutet das, Mann?“ „Keine Ahnung.“ „Welcher Expreß?“ „Gibt nur den einen pro Tag.“ El Chico tippte an den geckenhaften Strohhut. Das Geschäft war perfekt. El Chico hielt, was er versprach. Seinen richtigen Namen kannte keiner, nicht einmal er selbst. Sie nannten ihn El Chico und er war einfach El Chico. Schließ lich sah er auch aus wie ein Chico. 6. Montag, 7. März.
Bundesautobahn München-Stuttgart.
An dem Morgen, an dem alle Zeitungen brachten, daß die Re gierung nicht daran denke, den Kurs der D-Mark im Vergleich zu anderen Währungen zu verändern, befand sich Bob Urban schon sehr früh auf Achse. 58
Sein BMW-Coupé in Stahlmetallic fraß die Autobahnspur nach Westen. Hundertsiebzig hielt der Sechszylinder kaum wahrnehmbar und lässig. Die Sicht war so kristallklar wie die Musik, die ihn aus den vier Lautsprechern seiner Stereoanlage beschallte, eine Kassettenaufnahme erstklassiger südamerika nischer Solisten. Luis Bonta spielte auf der Gitarre Sambas, daß es wie ein ganzes Orchester klang, und Piazolle entlockte seinem Bandoneon ungeheure Tangoklänge. Hinter Adelshausen, wo es in die Augsburger Ebene hinun terging, brachte Urban den 633 auf jenseits der zweihundert. Ab und zu mußte so ein Motor kräftig durchatmen. Beim Überholen eines schweren Tanklastzuges kam es ihm vor, als schwinge sein Coupé etwas weich und lange nach. Konnte aber auch am Seitenwind liegen. Gleich darauf lupfte er den Zeh vom Gaspedal, weil das Tele fon summte. Das Hauptquartier war am Apparat „Letzte Korrektur“, gab Abteilung vier durch, „der Mann heißt nicht Lormand, sondern wahrscheinlich Moorsand.“ „Ziemlicher Unterschied, findet ihr nicht auch.“ „Stimmt. Und wer heißt schon Moorsand. Im Moor gibt es keinen Sand.“ „Mit Namen ist das so eine Sache. Ich kannte einen Absti nenzler, der hieß Bierfreund. Mein erster Lateinlehrer hieß Zärtlich und war ein Sadist erster Güte.“ „Ich kenne einen Hartmann, der ist ein Schwuler. Aber soviel steht jetzt fest. Moorsand war ein echter Südtiroler.“ „Hat er optiert?“ „Nein, er hat nicht optiert. Damals, als Hitler alle Südtiroler fragte, wollt ihr heim ins Reich, hatte er gerade die schöne Lucia de Lucca geheiratet. Er blieb bis zum Kriegsausbruch in Corvara, bewirtschaftete ihre Güter und vergrößerte sie. Doch dann hielt es ihn nicht länger. Er war immerhin Oberst der Reserve in der österreichischen Armee gewesen. So meldete er sich freiwillig.“ „Und kam durch.“ „Nach dem Krieg kurze Gefangenschaft bei den Engländern. 59
Nur ein paar Monate. Im Herbst 45 kehrte er nach Italien heim. Fünfzig wurde seine Tochter geboren. Vierundsechzig hatte er den tödlichen Unfall auf der Autobahn.“ „Und ihr seid sicher, daß es nicht vierundsiebzig war?“ „Die Zeitungen berichteten davon. Zuerst glaubte man an Mord, ausgelöst durch eine Höllenmaschine. Eine Beweisfüh rung war aber nicht möglich.“ „Und er ist in Limbach begraben?“ „Das Nest liegt dicht an dem Autobahnkilometer, wo es pas sierte. Sie beerdigten ihn gleich dort.“ „Na Klasse“, sagte Urban. „Aber wie kommt es, daß er in den Kirchenbüchern nicht eingetragen ist?“ „Keine Ahnung. Dachte…“ „Ihr dachtet, daß Urban, das Arbeitstier, das schon rauskriegt. Aber wie soll ich etwas finden, wenn sich im Verlauf von drei Tagen sein Name siebenmal ändert?“ „Was ist denn so verdammt wichtig an diesem Mann?“ fragte der Kollege in der Zentrale. „Seine Tochter.“ „Dann frag sie doch.“ „Sie ist leider unerreichbar.“ „War Moorsand in heiße Geschäfte verwickelt?“ „Nur wenn man Waffenhandel dazu rechnet.“ „Der Mann ist fast dreizehn Jahre tot“, gab der Kollege zu bedenken. „Sein Sterbedatum mißfällt mir.“ „Dir kann aber auch keiner was recht machen.“ „Was würdest du dazu sagen, wenn du im Grab von König Herodes unter seinen Lieblingsspielsachen plötzlich eine Rol leiflex-Kamera finden würdest, die erst zweitausend Jahre später gebaut wurde?“ „Das hinkt doch.“ „Alle Vergleiche hinken“, sagte Urban und legte auf. Er ging noch mehr vom Gas, denn kaum einen Kilometer vor ihm lag satt und breit eine graue Schneewolke auf der Auto bahn. Im Nu war er drin. Die Sicht war gleich null. 60
7. März
10 Uhr 45 bis 11 Uhr 30.
Urban verließ die BAB an der Ausfahrt Günzburg und fuhr in Nordrichtung. Nach drei Kilometern bog er auf die Straße nach Knöringen ab. Nach wiederum fünf Kilometern kam die Ab zweigung Limbach. Ein schmales Sträßchen führte unter der Autobahn hindurch auf die kleine Ortschaft zu. Als Urban die scharfe Kurve genommen hatte, registrierte er abermals das Schwimmen an der BMW-Hinterachse. Diesmal schloß er Seitenwind aus. Er rollte noch etwa hundert Meter bis zu einem Wäldchen. Dort hielt er abseits der Straße unter Bäumen an. Beim Aussteigen sah er die Bescherung. Der Reifen auf der linken hinteren Alufelge war so gut wie platt. Äußerlich war jedoch keine Beschädigung zu erkennen. Ge wiß lag es am Ventil. Er löste die Gummistaubkappe und schraubte mit einer alten Metallstaubkappe, die er immer im Handschuhfach hatte, den Ventileinsatz heraus. Das Ding sah vergleichsweise wie ein blutunterlaufener Fin ger aus. Die Feder war rostig, und der kleine schwarze Dich tungsring hatte sich in der braunen Rostsoße zerrieben. Natürlich handelte es sich nicht um Rost. Ventileinsätze, ge sichert durch Staubkappen, nahmen selten Wasser auf. Hinzu kam noch, daß der Schlauch nicht älter war als das Auto, also knapp ein Jahr. Urban beschnupperte die Flüssigkeit an seinem Finger. Sie roch scharf. Wohl irgendeine Säure. Jemand mußte ihm einen Tropfen ins Ventil gespritzt haben. Es gab Säuren, speziell solche für chemische Zünder, die sich in ihrer Dosierung genau bestimmen ließen. Wenn man die anzugreifenden Materialien kannte, war ihre Wirkung auf die Minute genau bestimmbar. Vorsicht, Urbansky sagte er sich, steckte eine MC an und schaute sich um. 61
Weit und breit nichts zu sehen. Oben an der Straße nach Knö ringen dieselte ein Mercedes mit Viehtransportanhänger vo r bei. Urban machte sich ans Reifenwechseln. Kofferraum auf, ein Griff an den Ersatzreifen. Er war hart, also voll Luft. Er holte den Wagenheber aus dem Futteral und setzte ihn an. Bevor er das Auto hochkurbelte, lockerte er erst die Felgen muttern. Das Rad kam frei. Fünf Minuten später war gewech selt. Der defekte Reifen lag samt Felge im Koffer. Urban verstaute den Heber und sah in der Ecke des Koffer raumes mehrere viereckige Aluminiumbeutel mit dem Werbe aufdruck eines Münchner Feinschmeckerlokals schimmern. In dem Augenblick, als Urban die Metallfolie aufriß, um an das Erfrischungstuch heranzukommen; spürte er den Schlag im Kreuz. Der Schlag war so brutal, daß es ihn hochriß. Sein Kreuz fühlte sich an wie zersplittert. In der Drehung versuchte Urban den Gegner, den Mann, der diesen Schlag gegen ihn geführt hatte, zu erkennen. Aber da war niemand. Er stand da, gestützt auf den Kofferraumrand und atmete keuchend. Nach wenigen Sekunden ließ der Schmerz schon nach. Aber plötzlich kam der Schock. Es durchrieselte ihn erst wie Strom, gleich darauf begann er zu zittern. Das Zittern wur de langwelliger, ging in ein Beben über und schließlich in ein stampfendes Schwingen. Urban sackte in die Knie. Verbissen sträubte er sich gegen die Ohnmacht, konnte aber nichts dage gen tun. Nicht mit aller Energie. Er klammerte sich am Blech fest, doch die samtartige Schwärze eroberte unaufhaltsam die Augen. Er wußte nicht, wie lange der Zustand angehalten hatte. Nach Sekunden oder auch einer Minute verging der Schock. Urban fing wieder zu denken an. Er kannte neuartige Waffen, die solche Schocks auslösten. Sie töteten nicht, aber sie setzten den Gegner kurzzeitig außer Gefecht. Es gab dickläufige Gewehre, aus denen man per Preß 62
luft winzige, mit Bleischrot gefüllte Plastikkissen verschoß. Im Flug begannen sie zu rotieren, falteten sich auf, und wenn sie trafen, war das wie ein Fausthieb plus Hochspannung. Taumelnd noch tastete Urban die Taschen nach der MCPackung ab. Dabei blickte er nach unten und sah das Ding liegen. Er hob es auf. Tatsächlich ein handtellergroßer Beutel aus lederartigem Kunststoff. Der kleinkörnige Inhalt machte ihn fast pfundschwer. Eine fliegende Faust hatte ihn erwischt. Nicht jeder Mann verfügte über so eine Waffe. Urban schaute sich um. Kein Schütze zu sehen. Wer schoß solche Dinger ab, ohne eine Andeutung, warum er es tat? Kopfschüttelnd haute Urban den Kofferdeckel zu und schob sich in den Wagen. Sein Kreuz schmerzte nicht mehr, es fühlte sich nur noch taub an. Da sah er die Tonbandkassette auf dem Beifahrersitz liegen. Eine schwarze Kunststoffkassette Marke AGFA-CARAT/SM Chromdioxid, Abspieldauer 60 Minuten. Er selbst verwendete nur bespielte 120er Kassetten. Offenbar hatte ihm jemand einen Gruß geschickt. * München
Am späten Abend.
Urban traf den Chef noch im Büro an. „Schlafen Sie neuer dings hier?“ fragte Urban. Das Lederkissen auf dem alten Sofa war zerknautscht. „Einer muß ja schließlich arbeiten in dem Laden.“ Der Alte nahm erst das Monokel aus dem Dackelgesicht, dann die Virginia. „Was gibt’s Neues, Nummer achtzehn?“ „Wollen Sie es von Anfang an der Reihe nach hören, oder nur das Ergebnis?“ Sebastians ungnädige Handbewegung besagte, daß er wie 63
immer keine Zeit habe. Urban setzte sich erst einmal gemütlich hin. „Betrifft Friedhof in Limbach, nach der Landessprache auch Gottesacker genannt. – Kein Grab, kein Kreuz mit dem Namen Moorsand, keine Eintragung in den Friedhofsbüchern. Habe alle Leute befragt. Niemand erinnert sich. Unfälle auf der Au tobahn sind dort an der Tagesordnung.“ „Und sonst?“ „Nun“, erklärte Urban, „in kultureller Beziehung ist in Lim bach soviel los wie in der Arktis, würde ich sagen. Ebenso in gastronomischer.“ „Sie fuhren also weiter.“ „Mit der Erkenntnis, daß man über Ereignisse, deren Hergang man nicht genau kennt, nach dreizehn Jahren kaum die ganze Wahrheit zu fassen kriegt.“ „Also Fehlanzeige.“ „Bis auf das da“, sagte Urban und legte das Schockgewehr kissen auf Sebastians Schreibtisch. Dazu gab er eine kurze Erklärung ab. Der Alte klemmte das Monokel wieder ein. „Das war doch Absicht, scheint mir.“ „Es war der Postbote, der angeklopft hat und etwas mitbrach te.“ Jetzt zeigte ihm Urban die Tonbandkassette. Der Alte blinzelte nach allen Seiten. „Inhalt?“ „Leider kein Musikstück“, berichtete Urban, „sondern die Stimme eines Mannes von so neutralem Tonfall, daß es schwerfällt zu sagen, ob sie angenehm oder das Gegenteil da von ist.“ „Inhalt?“ wiederholte der Oberst, lehnte sich zurück und griff dorthin, wo einst seine Galle gewesen war. In unerfreulichen Momenten hatte er an dieser Stelle noch Phantomschmerzen. Urban faßte es in seine eigenen Worte: „Der reizende Mensch aus Südtirol brachte sich in Erinne rung. Er bedauert, daß wir auf seine Drohung so wenig eingin 64
gen. Er findet die Entscheidung der Regierung, die D-Mark nicht aufzuwerten, außerordentlich betrüblich. Als Zeichen dafür, daß sie es bitterernst meinen, kündigt er den Tod eines Mannes an, der uns viel Ärger machen wird. Wir können die Meldung von seinem Ableben demnächst in den Zeitungen nachlesen.“ Hier hakte der Oberst nach. „Bei der verdammten Masse Zeitungen.“ „Dazu gibt er uns gnädigst einen Tip. Es handelt sich angeb lich um kalifornische Zeitungen.“ „Und weiter?“ „Er läßt herzlich grüßen und meldet sich wieder.“ „Alles?“ Urban nickte. „Ist“, setzte der Alte an, „ist der Bursche eigentlich größen wahnsinnig?“ „Das ist immer relativ. Kommt darauf an, wer dahinter steckt.“ Der Oberst machte die Grimasse eines alten Mannes, der plötzlich in zu helles Licht blickt „Aber so geht das doch nicht.“ „Natürlich nicht. Ich habe bereits das Labor angespitzt. Sie werden sich die Kassette vornehmen. Alles wird untersucht. Fingerabdrücke, wo gekauft, Herstellungsdatum, Stimmanaly se, mit welchem Gerät die Botschaft aufgezeichnet wurde, Umgebungsrauschen, Fremdgeräusche und und…“ „Dazu möchte ich auch geraten haben. Ist das nun alles?“ „Morgen fällt uns noch mehr dazu ein.“ „Warum erst morgen?“ „Weil das tierische Plasma“, erklärte Urban, „aus dem ich bestehe, Ermüdungserscheinungen auf weist.“ „Ich bin ja auch nicht müde.“ „Ein ausgeschlafener Gedanke ist besser als zehn unausge schlafene.“ Das Gesicht des Alten verfiel zusehends. „In Bonn macht man sich Sorgen.“ 65
„Dann verstellt man sich dort aber prächtig.“ „Wir müssen dieser Sache endlich auf den Grund gehen. Und wenn wir…“ Urban stand auf, schloß den Mittelknopf seines einreihigen grauen Glencheck-Sakkos, griff sich an die Krawatte, die blau seidene, und zog den Knoten hoch. „Einen Mord in Amerika, wie wollen Sie den verhindern? Da passieren stündlich mehrere, und nicht einmal das FBI kann etwas tun.“ Der Alte sagte: „Ich stehe unter Druck. Und den gebe ich weiter. Das nennt man Vorgesetzter sein.“ Dabei spielte er Urban den alten Puppenspieler vor, der nur noch angewidert die Fäden zog und dabei verbissen grinste. Aber Urban kannte ihn. Er war schon ein eiskalter Antreiber, der Alte. 7. Colorado/USA Montag, 7. März, 16 Uhr Westküstenzeit El Chico mochte sich nicht besonders. Er hatte aus seinem Leben nichts gemacht als einen Haufen Dreck. Deshalb haßte er alle, die Schuld daran trugen. Seine Eltern, arme Landarbeiter in Nueva Rosito, haßte er, und seinen Lehrer, der ihn wegen Faulheit und Aufsässigkeit von der Schule gewiesen hatte. Er haßte alle Behörden, die hinter ihm herwaren, weil er die Gesetze, deren Einhaltung sie zu überwachen hatten, mißachtete, und nicht zuletzt haßte er sich selbst. Nur manchmal hatte er Mitleid mit sich. Und zwar immer dann, wenn er gezwungen war, etwas zu tun, um leben zu kön nen. Es dämmerte schon, als er in die Berge kam und in einen Ort, der sich Hot Springs nannte. 66
Eine feuchtneblige Gegend. Die bunten Neonlichter der Bars schimmerten wie hinter Milchglas, und auf den Wagen am dichtbesetzten Parkplatz lag Nässe. El Chico stellte seinen Pontiac zwischen zwei Tiefkühllaster. Auf seinen schräg nach vorne gerichteten Cowboyabsätzen stiefelte er in den Laden hinein. Drinnen ein Haufen Leute. Lärm, Musik, Essensgeruch und Qualm schlugen ihm entge gen. Keiner nahm Notiz von ihm. Chico drängelte sich an die Bar. „Kaffee!“ rief er und griff sich einen Schmalzkrapfen vom Teller. Der Krapfen war zu alt und der Kaffee nicht heiß genug. Ne ben ihm zahlte ein Truckfahrer in großkarierter Parka seine Rechnung. El Chico hielt ihn am Arm fest. „He Mann“, sagte er, „ich sitze hier fest. Meine Karre macht’s nicht mehr. Stinkt mir vielleicht. Nimmst du mich mit bis Denver?“ „Was für ’ne Scheißkarre hast du?“ „Pontiac Grand Prix.“ Der Truckdriver stieß seinen Kumpel an. „Hör dir das an. Ein Halbnigger wie der fährt einen Grand Prix. Und wir, was fahren wir? Sattelschlepper!“ „Muß die Wasserpumpe sein“, sagte El Chico, „überhitzt dauernd.“ Der Fahrer grinste immer noch. „Geht’s um Leben und Tod?“ „Aber sicher.“ „Das will ich auch hoffen“, sagte der Fahrer. „Los, komm mit.“ Es war ein riesiger Containerlastzug, fünf Achsen, das Lenk rad so groß wie ein Waschbottich, dreihundert HP, Zehngang getriebe. Sie fuhren los. Noch hundertzwanzig Meilen bis Denver. Wenn nichts dazwischenkam, schafften sie es leicht, daß El Chico in Denver den Express erwischte. Oben am Paß hingen jede Menge Wolken in der Luft. 67
Der Fahrer sang, aber nur ab und zu fand er zu den Textzeilen auch die richtigen Töne. Er deutete hinaus. Draußen wurde es weiß. Schnee. Links lag eine tiefe Schlucht. „Wenn ich ihn da runterschmeiße“, sagte der Fahrer, „produ zieren wir jede Menge kleingehacktes Eis.“ Dazu gab er fröhlich weiter Vollgas. Nur in den engen Kur ven würgte er kurz die Auflegerbremse hinein, daß der Hänger wie von selbst hinten herumkam. * Denver/Col. 19 Uhr 55 Der Expreß lief mit zwei Minuten Verspätung ein. Der Aufent halt wurde verkürzt, so daß der Zug den Bahnhof pünktlich wieder verließ und auf die Strecke ging. In einem Schlafwagenabteil döste Paul Schumacher vor sich hin. Der kleine Mann mit den kleinen Händen rauchte eine blaue Gauloise nach der anderen. Nach jeder Zigarette nahm er einen Schluck Bourbon, nach jedem Schluck eine neue Zigaret te. So war er immer ein wenig aufgekratzt. Auch ließ sich die monotone Reise von Chicago nach Californien leichter ertra gen. Als der Zug schwankend und ratternd die vielen Weichen des Großbahnhofs hinter sich gebracht hatte und, kraftvoll von den zwei Dieselloks gezogen, die Steigungen der Rocky Moun tains anging, legte sich Schumacher der Länge nach aufs Bett. Mit einer Hand spielte er am Radio. Die San-Juan-Station brachte eine Wunschsendung, also jede Menge hektisches Ansagergefasel mit Namen und Adressen und zwischendurch Western-Musik, die Schu macher sowieso haßte. Er schaltete das Radio ab und dachte an seinem Lieblingsthema herum. Zum Teufel ja, diesmal würde er Glück haben. Californien, das war seine Chance. Californien, das bedeutete Geld und 68
Erfolg. Nun schaffte er es doch noch, bevor er alt und grau wurde. Ein bißchen Rache nehmen für alles, was man ihm angetan hatte, ein bißchen die alte schmutzige Wäsche wa schen, das würde guttun. Es kam reichlich spät, aber er würde es genießen. Ja, zum Teufel, Rache üben für erlittenes Unrecht, das war das einzig Wahre. Der monotone Schlag der Räder auf den Schienenstößen wirkte einlullend. Schumacher verfiel in Schlaf. In Zweidrittel schlaf, wie er es immer nannte. Tiefschlaf kannte er nicht. Ein Klopfen an der weißlackierten Tür weckte ihn. Er stand auf und ging hin, ohne jedoch die Tür zu öffnen. „Ja bitte?“ Statt einer Antwort wieder das Klopfen. Heftiger diesmal. „Wer sind Sie? Der Schaffner?“ Daraufhin eine deutlich gedämpfte Stimme: „Zwoachtunddreißig, Sir.“ Es handelte sich zweifelsfrei um das Kennwort. Ohne zu zögern, sperrte Schumacher auf und ließ den Besu cher herein. „Mein Name ist Schumacher“, stellte er sich vor. „Interessiert mich nicht.“ „Sie haben Informationen für mich?“ Der olivhäutige Mexikaner mit den grauschwarzen Augen verzog keine Miene. „Stimmt. Setzen Sie sich bitte, Mister.“ Schumacher kam der Verbindungsmann reichlich jung vor. Auch daß sie ihm einen Mexikaner schickten, wunderte ihn. Er nahm Platz, deutete auf den schäbigen Sessel. Der Mann, der das Kennwort kannte, blieb stehen und griff mit der Hand in seine Lederjacke. Ein Linkshänder, dachte Schumacher. Die Art, wie der Mann hineinfaßte, ließ schließen, daß er etwas Längliches herauszie hen würde. Vermutlich einen Umschlag mit Anweisungen. Schumacher war zwar äußerst mißtrauisch, auch machte es ihn nervös, daß der Mexikaner die Hand so lange in der Tasche ließ, er sah aber keinen Anlaß, etwas zu unternehmen. 69
„Kann ich Ihnen helfen?“ „Kaum, Sir.“ Plötzlich hatte der Mexikaner die Hand wieder draußen. Sei ne Faust umklammerte eine Luger aus schwarzbraun brünier tem Stahl. Vorn war ein vier Zoll langer Schalldämpfer aufge schraubt. Ehe Schumacher irgendwie reagieren konnte, streckte der Mann den Arm, brachte, die Waffe in Anschlag, visierte und drückte ab. Der Professor spürte einen fürchterlichen Schlag gegen die Stirn und dann nie mehr etwas. * Bedroom 33 California Express. 21 Uhr 05 El Chico hatte ihn zwischen die Augen getroffen. Der Mann war in die gepolsterte Ecke gesackt. Seine Krawatte hing trau rig nach links, vom Kinn tropfte Blut auf das weiße Hemd. Draußen klopfte es. „Was gibt’s?“ „Platznehmen zum Dinner, Sir“, sagte der Schaffner. „Danke.“ Der Schaffner ging weiter. El Chico atmete den Pulverdampf ein, den die Patrone bei der Zündung in das Abteil geblasen hatte. Er wußte, wie Pistolenmunition stank, aber dieser Ge stank war anders, chemischer, bissiger in den Schleimhäuten. Ob er lüften sollte? – Doch dazu hatte er keine Anweisungen. Mit seinem Raubvogelblick schaute er sich um. Der Koffer lag unter dem Fenster auf dem Riemenbock. Er hob ihn an. Ziemlich schwer das Ding. Die alten massiven Schlösser waren versperrt. El Chico stellte den Koffer neben die Abteiltür, schaute auf die Uhr und rechnete. Noch genügend Zeit. Noch gut acht Meilen bis zu dem langen kurvigen Steilstück am Long Peak Pass. 70
Er würde die Stelle schon nicht versäumen. Da oben fuhr der Zug nur noch Schrittempo. El Chico steckte sich eine Zigarette aus der blauen französi schen Packung seines Opfers an. Die ungefilterte Schwarze schmeckte brutal im Vergleich zu einer Chesterfield, aber doch weitaus besser als das selbstgedrehte Kraut, das er jahrelang inhaliert hatte. Damals, als es ihm noch dreckig ging. Die Asche fing El Chico in der hohlen Rechten auf. Bloß keine Spuren hinterlassen. Die Anwesenheit der Leiche hinge gen störte ihn nicht im geringsten. Der Mann war tot, also indiskutabel. Tote hörten für ihn zu existieren auf. Getan war die Arbeit für El Chico, als er um 21 Uhr 18 den mit Radfahrertempo paßwärts rollenden Expreß eine Meile östlich der großen Brücke verließ. Erst warf er den Koffer hinaus, dann zog er, mit einer Hand am Griff hängend, hinter sich die Wagentür zu und sprang dem Koffer hinterher. Weich kam er im Schnee auf. Nur später, als er mit dem Kof fer auf der Schulter durch den Wald nach Hot Springs abstieg, geriet er mit dem Fuß unter eine Baumwurzel, daß es im Ge lenk knackte. Aber da sah er Springs schon liegen und humpelte weiter. Wenig später saß er in seinem Pontiac Grand Prix und fuhr Richtung Leadville. Über Utah nach Arizona und weiter über Las Vegas nach Hause, das waren zwölfhundert Meilen. Zwanzig Stunden, schätzte er, mit seinem heißen Schlitten. * Los Angeles. 8. März. Abends. El Chico stellte sein schnelles Fahrzeug im Wellblechschuppen neben der Wohnung ab. Er fühlte sich saumäßig. Das lag nicht am Job und nicht dar an, daß er kaum eine Pause eingelegt hatte. Wie oft war er 71
schon in einem Rutsch von San Franzisko bis Acapulco durch gerauscht, ohne daß ihn das geschlaucht hätte. Es lag auch nicht am Wetter. Regen war er um diese Jahreszeit gewohnt. Es lag daran, daß er Dünnschiß hatte, daß er nichts im Magen behielt, was er auch zu sich nahm, und daß er nicht wußte, woher das kam. Sein Magen gebärdete sich plötzlich wie ein wildgewordener Dudelsack. Kopfschmerzen bekam er auch. Nie im Leben hatte er jemals Kopfschmerzen gehabt. Er hatte gar nicht gewußt, was das ist. Selbst nach den heißesten Feten hatte er nie einen Kater bekommen. Und das heute, das war schon ein ausge wachsener Angorakater. Unter Aufbietung aller Kräfte hatte er noch den Koffer im Schließfach der Zentral-Station abgestellt und den Fachschlüs sel in einen vorbereiteten Umschlag nach postlagernd 238 Fullerton in den Kasten geschmissen. Jetzt war er fertig, total geschafft, erledigt. Er schlich in sein möbliertes Zimmer, drehte die Heizung auf, nahm einen Schluck Tequila und übergab sich sofort wieder. Im Badezimmer betrachtete er sein Gesicht im Spiegel. Verdammt, dachte er, jetzt hast du ja die Hautfarbe, die du immer haben wolltest. Nicht ganz weiß, aber immerhin grau wie Kreide, also auf dem Weg dahin. Er saß auf dem WC und spürte, wie drei Stahlbänder um sei nen Körper enger wurden, je eines um Kopf, Brust und Magen. El Chico überlegte, was er gegessen hatte. War doch alles einwandfrei gewesen. Vielleicht dieser verdammte Schmalz kringel in Hot Springs. Nein, daran konnte es nicht liegen. Er dachte daran, eine Dusche zu nehmen, um den Kotzgeruch von der Haut zu schwemmen, fühlte sich aber zu zerschlagen. Beim Ausziehen merkte er, daß die Kanone noch in der Le derjacke steckte. Er schob Jacke und Waffe mit dem Fuß unter das Bett. Würde ihn schon nicht in die Gaskammer bringen, das Ding. Wer verdächtigte ihn schon? Wer vermutete schon einen Killer hinter ihm? – Okay, er stand auf verschiedenen Karteikarten der Polizei, 72
aber nur wegen Zuhälterei und Autodiebstahls. Das lag schon lange zurück. In der Zeit, als er mit Stoff gehandelt hatte, war er nie erwischt worden. Fahrende Killer, die heute hier, morgen dort tätig wurden, die faßten die Bullen, vorausgesetzt, daß man sich nicht dämlich stellte wie ein Stück Chickenshit, praktisch niemals. Noch halb in den Klamotten legte er sich hin, zog die gelbe Decke über sich und versuchte zu schlafen. Irgendwann mußte die Übelkeit ja wieder vergehen. Außerdem erwartete er bald Besuch. Den Burschen, der die restlichen fünfzehntausend brachte. Zahlbar bei Ankunft der Leiche in Los Angeles und Kofferübernahme. El Chico konnte nicht schlafen. Dafür bekam er Schüttelfrost. Und was für einen. Als Junge hatte er Rippenfellentzündung gehabt. Die Schüttelfröste damals waren ein angenehmer Kitzel gegen den von heute. In der Nacht wurde ihm dann verdammt heiß. Es lag nicht an der Heizung. Die gab nicht viel her. An den wirren Träumen merkte er, daß er fieberte. Sein Mund war trocken. Er trank und erbrach sogar das Mineralwasser. Verzweifelt und wütend rief er Pablo, seinen Kumpel an. „Komm rüber, mir ist sauschlecht.“ „Stoß dir einen Schuß. Das hilft immer.“ El Chico hatte nur manchmal gefixt. Er war nicht von Drogen abhängig. Er konnte ohne sie leben. Natürlich war es eine feine Sache, wenn der Flash ins Blut fuhr, aber so toll fand er es auch wieder nicht, daß man gleich eine Weltanschauung daraus machte. – Schon der Gedanke an eine Heroininjektion verur sachte ihm heute Übelkeit. Er übergab sich. Aber mehr als Schleim war nicht mehr in ihm… „Komm, Pablo Pablino“, stöhnte er, „hilf deinem Amigo.“ „Du brauchst einen Doktor“, sagte Pablo. „Keinen Doc, und wenn ich krepiere“, keuchte El Chico.
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8. Los Angeles. Airport 12. März Er war keiner, der sich als Schachfigur hin und her schieben ließ. Trotzdem hatte Bob Urban die Reise nach Californien unternommen. Alles stand dafür. Einerseits war seine Erfah rung groß genug, daß er sich beim Umgang mit einer Waffe den Finger nicht in der Maschinerie verklemmte, andererseits wußte er genau, wann er sie benutzen mußte. Sie hatten gar keine andere Wahl gehabt, denn das FBI schwieg sich aus und behandelte den Fall als top secret. Was das FBI natürlich nicht verhindern konnte, war, daß die Repor ter Wind bekamen und ihn in die Zeitungen brachten. Aus dem California Star und aus anderen Blättern wußten sie, daß einen gewissen Paul Schumacher der Teufel geholt hatte. Paul Schumacher, alias Pol Shoemaker, deutscher Kernphysi ker und Wanderer zwischen zwei Welten. Urban und Oberst Sebastian, der alte Schinder, hätten sich dafür fressen lassen, daß der Mord an Professor Schumacher im California Express die Sache war, auf die die Tonband stimme anspielte. Aber sie brauchten mehr Information. Sie hatten auf allen Klavieren gespielt, sie hatten FBI angebohrt und es über gute Freunde bei der CIA, dem amerikanischen Geheimdienst, versucht. Sie hatten auch noch andere Kanäle angezapft. Doch überall Schweigen im Walde. Aber das weni ge, das sie erfuhren, klang bedrohlich. Äußerst rätselhaft zum Beispiel war, warum die Polizei von Los Angeles sofort die Bundeskripo eingeschaltet hatte. Und was mochte FBI bewegen haben, die Leiche zu plombieren, das Schlafwagenabteil Schumachers zu entgiften und den gan zen Waggon unter Quarantäne zu stellen? – Hatte der Tote gefährliche Bazillen an sich gehabt? Fürchteten sie den Aus bruch einer Seuche? Schließlich hatte der BND keine andere Chance mehr gese 74
hen, dem Fall beizukommen, als an Ort und Stelle nachzufor schen. So war Urban losgeflogen. Nicht einfach ins Blaue, so tollkühn war Urban nicht. Dem Start in Riem waren pausenlose Recherchen vorausge gangen. Nachforschungen in Richtung Schumachers Vergan genheit. Jetzt passierte Urban die Paßkontrolle. Mit seinem USDauervisum kam er ungeschoren durch. Was war als nächstes zu tun? Der Schritt war vorgezeichnet. Er fußte auf den Teilerkennt nissen, die sie in München gewonnen hatten. * 22 Stunden vorher. BND-Zentrale München/Pullach. „Kann er es sein, kann er es nicht sein“, hatte der Oberst ge zweifelt. Urbans Frage lautete schon einen Dreh präziser. „Ist er es, oder ist er es nicht?“ Sie studierten immer wieder, was sie über Schumacher zu sammengekratzt hatten. „Er ist es“, entschied der Alte schließlich kraft seiner Position als Operationschef. „Weil wir zunächst keinen besseren haben.“ Urban ging noch einmal die wesentlichen Punkte aus Schu machers Dossier und den Agentenmeldungen durch. „Er hat sein Haus in Tossa an der spanischen Costa Brava dichtgemacht, wie man es vor einer längeren Abwesenheit zu tun pflegt. Dann ließ er sich mit einem Taxi zum Flughafen nach Barcelona bringen. Dem Fahrer erzählte er, er habe einen Forschungsauftrag in den USA übernommen.“ „Das war vor einer Woche. – Aber wie kam er in den Expreß nach Californien? Für gewöhnlich…“ Urban unterbrach den Chef. „Paul Schumacher war kein gewöhnlicher Mann. In seinem 75
Leben verlief, soweit es der Bundesverfassungsschutz reko n struieren konnte, alles außergewöhnlich schief. Zum Beispiel seine frühzeitige Pensionierung.“ „Er war im Kernforschungsinstitut in Karlsruhe tätig und nahm vorzeitig seinen Abschied.“ „Gibt kaum einen Kollegen, der ihm eine Träne nachweint. Er kam mit keinem seiner Mitarbeiter klar. Je älter er wurde, desto schlimmer wurde es. Von seiner Seite aus galt es immer als besondere Gnade, daß er überhaupt für Deutschland arbeite te.“ „Und warum arbeitete er für uns?“ „Seine Einstellung erfolgte als ein Akt der Wiedergutma chung.“ „Ist er Jude gewesen?“ „Höchstens Vierteljude“, sagte Urban. „Seine Mutter war Halbjüdin. Deshalb verließ er noch vor dem Krieg, unmittelbar nach Abschluß seines Physikstudiums in Berlin, Deutschland.“ Der Oberst unterstrich das Datum in seinem eigenen Durch schlag. „Zuerst ging er nach Frankreich, dann in die USA.“ „Dort übernahm er einen Lehrstuhl. Später soll er im Kreis um Fermi am Manhattan-Projekt mitgewirkt haben“, ergänzte Urban. „Am Bau der ersten Atombombe also.“ „Bei Ende des Krieges war er schon in Europa. Er marschier te praktisch mit der US-Armee ein.“ Dieser Punkt, diese dunkle Stelle, machte sie stutzig. „Im Frühjahr 45 tauchte er in Mailand auf“, fuhr Urban fort, „während die erste Atombombe erst Monate später über Hiro shima gezündet wurde. Das Atombombenprojekt war damals das Geheimste vom Geheimen.“ „Wie kam es dazu, daß sie einen Mann, der den FermiReaktor mitentwickelte, überhaupt aus den USA herauslie ßen?“ „In den Berichten über die Atombombenentwicklung“, sagte 76
Urban, „wird sein Name zum letzten Mal Ende 1943 erwähnt. Von da ab schweigen sich die Quellen aus.“ Der Oberst schob die Blätter beiseite. „Der Verfassungsschutz hat ihn überprüft und kein Haar in der Suppe entdeckt.“ Urban war anderer Ansicht. „Das BfV hat lediglich festgestellt, daß er kein Kommunist und nicht für den Osten tätig ist, und daß seine fachliche Quali fikation ausreicht.“ „An Geheimprojekten arbeitete er ja nicht.“ „Nun“, schränkte Urban ein, „wenn man von der Schuma cher-Spirale absieht. Für ihn war das schon eine Geheimsache ersten Ranges. Und wenn sie jemals funktionieren sollte, dann verleiht sie demjenigen, der sie baut und einsetzt, anderen gegenüber schon einen tüchtigen Vorsprung.“ „Schumacher-Spirale“, murmelte der Alte, „was darf der Laie darunter verstehen? Bitte so kurz und einfach wie möglich.“ Urban versuchte es in wenige Sätze zu pressen. „Es geht um die Herstellung von Brennstoff für Kernreakto ren. Man gewinnt ihn aus Natururan. Im Natur-Uran ist Uran nur in Geringstmengen vorhanden, es muß also angereichert werden, ehe es als Kernbrennstoff geeignet ist. Man konzen triert es zunächst auf 70 Prozent Urangehalt. Dann hat man Rohuran, U3 O8“ den sogenannten Yellow Cake. Das Zeug läßt sich in den heute vorwiegend eingesetzten Leichtwasserreakto ren aber noch nicht verwenden. Erst nach einer weiteren Anrei cherung ist das möglich.“ „Wie geht das vor sich?“ Urban versuchte sich abermals so volkstümlich wie möglich zu fassen: „Der Yellow Cake, den wir jetzt haben, enthält nur zu etwa nullkommasieben Prozent spaltbares Uranisotop 235. Man braucht aber rund drei Prozent davon. Damit fangen die eigent lichen Probleme an.“ Der Oberst glaubte schon verstanden und den Daumen drauf zu haben. „Und darum dreht sich alles?“ 77
Urban nickte. „Für die letzte Stufe der Anreicherung muß zunächst das Uran in einer gasförmigen Verbindung vorliegen. Am besten eignet es sich als Uranhexaflorid, das schon bei 56 Grad in die Gasphase übertritt. Jetzt muß man nur noch die brauchbaren Isotope von den unbrauchbaren trennen. Also 235 von 238. Klatsch-Bum und man hat es.“ „Und wie geht das Klatsch-bum, bitte?“ „Entweder durch das Diffusions -, das Zentrifugen- oder das Trenndüsenverfahren.“ Der Alte konnte immer noch sehr gut mitdenken. „Und wo bleibt die Schumacher-Spirale?“ „Zu der kommen wir noch“, sagte Urban. „Die Amerikaner entwickelten damals im Krieg das Diffusionsverfahren. Man drückt das Urangas durch Membranen. Kostet leider ungeheure Mengen an Energie. Nach diesem Verfahren trennt man heute noch. Neuere Methoden sind Zentrifuge und Trenndüse. Hier nützt man die schwerere Komponente 238 aus. In der Ultrazen trifuge reichert sie den Bereich nahe der Behälterwand an. In der Trenndüse strebt sie ebenfalls zur Außenwand und wird dort abgeschält. Natürlich muß man immer noch Hunderte von Zentrifugen und Trenndüsen hintereinanderschalten, um den gewünschten Gehalt an Uran 235 zu erhalten.“ „Und was hat es nun mit der Schumacher-Spirale auf sich?“ drängte der Alte. „Ganz einfach“, erklärte Urban erleichtert, als sei er jetzt end lich über den Berg. „Mit seiner Spirale versuchte Schumacher Zentrifuge und Trenndüse miteinander zu verbinden. Man jagt das Uran-Hexaflorid mit hohem Druck, also Geschwindigkeit, durch eine horizontal stehende ringförmige Spirale aus Edel stahlröhren. Uran 238 lagert sich an den Außenwänden an und wird dort von den Trenndüsen abgeschält. Übrig bleibt U-235. Kostet fast keine Energie. Wenn es funktioniert, stellt es alle anderen Verfahren in den Schatten.“ „Ja, und funktioniert das denn?“ „Nun“, meinte Urban, „unter besonders günstigen Wetterbe 78
dingungen kann sogar ein Elefant fliegen. Ich meine im Orkan. – Schumachers Verfahren soll schon gearbeitet haben, aber wohl unter unkontrollierbaren Zufallsbedingungen. Er bekam seinen Apparat nie ganz in den Griff. Immer gab er die Schuld den anderen. Einmal den Technikern, dann dem Material, dann den zu geringen Geldmitteln. Der Streit, ob Membrane oder Schumacher-Spirale, muß schon damals 1943 bei Fermi in Chicago begonnen haben. – Das ist das ganze Klatsch-bum.“ „Ein unverstandenes Genie also, der Herr Professor.“ „Das auf jeden und alle sauer ist.“ „Und nun bot man ihm plötzlich einen Forschungsauftrag an.“ „Und dann tötete man ihn“, ergänzte Urban. Mit einem Schwenk kam der Alte wieder zum Ausgangs punkt des Gespräches zurück. „Aber was hat Professor Schu macher mit der Finanzpolitik der Bundesregierung zu tun, speziell mit den Entscheidungen des Zentralbankrates?“ „Weiß ich noch nicht“, gestand Urban. „Aber offensichtlich ist er einer der Dreh- und Angelpunkte.“ ,Als Toter?“ „Ist er wirklich tot?“ „Die Zeitungen melden es, und Ihr unbekannter Erpresser kündigte es an.“ „Erst muß ich ihn tot liegen sehn“, sagte Urban. Er betrachtete das von Abteilung vier beschaffte Schuma cherfoto. „Was dieser Verrückte uns androht, läuft doch auf eine Art Wirtschaftskampf hinaus“, sagte Sebastian. „Wenn es dabei bleibt. Einen Wirtschaftskrieg würden wir uns doch nicht gefallen lassen. Und wenn man sich etwas nicht bieten läßt, ist die Eskalation im Anmarsch wie eine Gewitter wand mit Rückenwind.“ „Demnach“, überlegte Sebastian, „wäre ein Flug nach Cali fornien, um dort an Ort und Stelle Nachforschungen zu betrei ben, noch vergleichsweise billig.“ „Spott“, ergänzte Urban, „spottbillig.“ 79
Log Angeles/ Calif. 16 Uhr. Der Mann hieß Cole Hunter. Er betrieb eine Werbeagentur in Hollywood und war nebenbei für den BND tätig. Seine Funkti on wurde im BND-Jargon mit ‚ortskundiger Reiseleiter’ um schrieben. Er sorgte für Basisinformationen und dafür, daß alles glatt ging, wenn ein Agent dienstlich in der Nähe zu tun hatte. Cole Hunter, ein vierschrötiger, rothaariger und immer aus vollen Backen grinsender Bursche, hatte Urban ein Auto zum International Airport gebracht. Jetzt bewegte Urban den völlig serienmäßigen Mercury Cougar auf dem Venice Boulevard Richtung Culver City. „Ich schwöre Ihnen, Bob“, sagte der Werbemensch, „mehr war nicht rauszuholen.“ „Warum wurde der ganze Schlafwagen entseucht?“ bohrte Urban. „Routinemäßig, hieß es.“ „Warum gab der Staatsanwalt die Leiche solange nicht frei?“ „Wegen der angeordneten Obduktion.“ „Wenn Kopfschuß vorliegt, was gibt es da zu sezieren?“ Cole bedauerte. „Ich bin Werbefachmann, Sir.“ „Wie kommentieren denn die Zeitungen? Eure Revolverblät ter denken sich doch immer wunderhübsche Gruselstories aus, weil das so auflagensteigernd wirkt.“ „Diesmal beschränken sie sich auf Fakten.“ „Sie mit Ihren Drähten zu den Redaktionen“, fluchte Urban, „müssen doch etwas rauskriegen, zum Teufel nochmal.“ „Kein Kommentar, heißt es.“ „Dann hat das FBI perfekt abgeriegelt.“ „Offenbar. Und das mißfällt euch, schätze ich.“ „Hätte ich mir sonst dreizehn Stunden lang den Hintern im Flugzeugsessel plattgebügelt?“ Urban ging vor einer Kreuzung vom Gas, weil Rot kam. „Und dann diese Hast mit der Beerdigung.“ 80
„Ganz normale Hast. Achtundvierzig Stunden nach der Lei chenfreigabe.“ „Also morgen früh.“ „Angeblich liegt er jetzt im Aufbewahrungsraum der kleinen Kirche am Friedhof von Pasadena.“ „Obwohl er verseucht ist?“ wandte Urban ein. „Reine Vermutung. Verseucht womit? Mit Cholera, Pocken, Pest? Oder gibt’s da noch mehr?“ „Vielleicht.“ Bevor die Straße in den Labreda Boulevard einmündete, tipp te Cole gegen Urbans Arm. „Brauchen Sie mich noch, Bob?“ „Nicht, wenn Sie mir alles gesagt haben.“ „Tank ist voll, Öl und Luft okay.“ „Ich gebe Ihnen die Karre zurück, wenn ich fertig bin.“ „Lassen Sie sie einfach irgendwo stehen. Anruf genügt.“ „Wie kommen Sie nach Hause, Cole?“ „Mit dem Bus.“ Hunter deutete noch auf eine Drehskala in der Konsole unter halb des Armaturenbretts. „Einknopfbetätigung für das Air-conditioning. Blau ist kälter, Rot wärmer.“ „Danke, ich habe schon mal eine Klimaanlage bedient.“ „Na fein“, sagte Cole und stieg aus. Man sah ihm an, daß es ihn erleichterte, den Agenten los zu sein. * Friedhof von Pasadena. 17 Uhr 15 Urban hatte die Air Condition etwas kühler gedreht, denn es war ein schwüler Tag unter einer Dunstglocke, die Smog an kündigte. Nach schier endloser Fahrerei durch den Geschäftsverkehr, der sich gigantisch ausdehnenden Stadt und ihre Vororte ve r 81
ließ er den Sierra Madre Boulevard und bog zum Friedhof ab. Dort brauchte er sich nicht durchzufragen. Auf einem Hügel zwischen Grabmälern von überwältigender Größe und Ge schmacklosigkeit, lag die Kirche und die Aussegnungshalle. Er suchte den Eingang, fand ihn aber verschlossen. Eine klei ne Japanerin, hübsch und mit Klassebeinen, was bei Japanerin nen selten war, kam vorbei. „Schon geschlossen?“ fragte Urban. „Die Halle ist leer.“ „Wollte gerade einem Freund die letzte Ehre…“ Sie war reizend, aber ihre Schlitzaugen irritierten ihn. Man wußte nicht, schauten sie einen an, lächelten sie oder staunten sie. „Die Halle dürfte wirklich leer sein, Sir.“ „Man sagte mir aber…“ Er unterhielt sich locker mit dem Mädchen, fast ohne Akzent. Bei American-English hatte er keine Probleme. Er sprach es fließend. „Vor einer Stunde fand die Bestattung statt“, sagte die Japa nerin. „Feuer?“ „Erde.“ „Ich kam extra von Frisko runter“, log er. Sie deutete durch die Palmen an einem weißen Marmormo nument vorbei in eine ziemlich leere Ecke des Friedhofs. Ver mutlich war das die Sektion, wo man ärmere Herrschaften begrub. „Der Hügel dort.“ „Und fast keine Blumen“, murmelte er traurig. „Sie haben ja auch keine“, sagte die kleine Japanerin. Ob vorwurfsvoll oder erstaunt, war abermals nicht zu ergründen. „Wollte zunächst nur wissen, wann die Beisetzung stattfin det“, redete er sich hinaus. „Und wie war der Name?“ „Shoemaker.“ Sie deutete auf eine Wandtafel, wo unter Glas die Namen je 82
ner Toten aufgeführt waren, die an diesem traurigen Samstag begraben wurden. Der letzte in der Reihe war der Mann, den er suchte. Urban wunderte sich. „Sie kennen sich aber aus. Sind Sie eine Angestellte?“ „Mein Großvater liegt hier. Ich komme an jedem Weekend zu seinem Grab.“ Er dankte noch einmal und ging auf den ovalen flachen Erd hügel zu. Ein Kranz und ein Nelkenstrauß war alles, was ihn schmückte. Vermutlich eine Beerdigung nach Kategorie vier. Sarg in Fichte einfach, ein Kranz und sieben verblühte Nelken. Urban gedachte nicht des Toten und sprach auch kein stum mes Gebet. Er hatte den Mann nie gekannt. Aber klar war ihm, daß er zu spät gekommen war, um den Sarg in Augenschein zu nehmen. Aus dem Sarg hätte man Schlüsse ziehen können. Leichen, von denen Verseuchungsge fahr ausging, wurden gewöhnlich in versiegelten Metallkästen zur Ruhe gebettet. Er schaute sich noch ein bißchen um. Er war ganz allein in dieser Ecke des Friedhofs. Weiter unten an einem Grab stand ein Junge und rupfte Unkraut. Ein Mexikaner, vielleicht zwa n zig Jahre alt. Urban machte kehrt und ging. Auf dem Weg zum Ausgang steckte er sich eine Monte-Christo an. Sie schmeckte nicht. Sie schmeckte so wie ein Schnaps schmeckte, den man trank, um einen Mißerfolg zu begießen. Es dämmerte schon, als er auf den Mercury zusteuerte. Außer dem zartgrünen stand nur noch ein dunkelblauer Ford auf dem Parkplatz. Urban schob sich auf den kunstlederbezogenen Sitz, rückte ihn etwas weiter vom Lenkrad weg und stellte das Rad etwas tiefer. Dann ließ er die Scheibe herabsurren, machte noch einen Zug aus der MC und schnippte die Kippe nach draußen. Die Scheibe surrte hoch. In diesem Moment spürte er etwas Steifes im Nacken zwischen Haaransatz und Kragen. 83
Es war kühl und hart und hatte die Abmessungen eines Re volverlaufes. Urban drehte sich um. „Schauen Sie nach vorn“, zischte jemand hinter ihm. Urban hatte trotzdem genug gesehen. „Der Unkrautzupfer“, sagte er. „Was verschafft mir die Ehre, Amigo?“ Der dünne Mexikanerjunge hatte eine erstaunlich feste Stim me. „Wolltest nachgucken gehen, ob er unter der Erde liegt, he?“ „Na und?“ „Er ist unter der Erde, Mann. Aber zahlen wollt ihr nicht, ihr weißen Schweine. Ich kriege noch fünfzehn Riesen.“ „Du?“ „El Chico schickt mich.“ „Und warum kommt er nicht selbst?“ „Weil es ihm beschissen geht. Seit dem Job ist bei ihm der Wurm drin. Und der Dank ist, daß ihr ihn aufs Kreuz legt. Aber nicht mit uns, Mann.“ In seinem Drang, den Auftrag gut durchzuführen, war der Junge recht gesprächig. Mit dem, was er sagte, konnte Urban schon eine ganze Menge anfangen. Die nächste Zigarette hätte ihm wohl erheblich besser gemundet. Wenn es auch noch keine Siegerzigarette gewesen wäre, so vielleicht doch eine Aufstei gerzigarette. „Die Moneten her, oder es knallt“, drohte der Mexikaner. „Dir zahle ich keinen Cent, Amigo.“ „Aber vielleicht Chico. Und zu dem reisen wir jetzt, du wei ßer Abschaum, du.“ Nichts lieber als das, hätte Urban am liebsten gesagt. Aber er zierte sich noch. „Er bekommt schon, was ihm zusteht.“ „Jetzt.“ „Du bist ein kleiner Drängier, Amigo.“ Der Druck der Waffe verstärkte sich. 84
„Los, fahr ab, Mann. Zu El Chico. Du weißt, wo es langgeht. Boyle Heights. Oder ich säble dir ein Ohrläppchen ab.“ Urban wußte nur ungefähr, wo das Mexikanerviertel lag. Al so noch mal quer durchs Städtchen der Engelskönigin nach Süden. Er startete, schaltete die Automatic auf D. „Aber sag’s mir, wenn du eine Abkürzung weißt“, höhnte er und kurbelte am Rad. Mit seiner riesigen Lenkübersetzung hatte der Mercury einen Fahrbahnkontakt wie ein Zentner Pflaumen. Dieser El Chico bekam also für geleistete Arbeit noch fünf zehn Mille. Urban hatte ungefähr vierzehnhundert Dollar bei sich und Reiseschecks. Konnte ja amüsant werden, konnte das. * Boyle Heights. Bei Dunkelheit. Der Duft von Marihuana-Zigaretten zog durch die Gassen. In der Ferne spielten Mariachi-Trompeten zweistimmig Good bye Tristeza. Urban stieg vor Pablo die Außentreppe des Hauses hinauf. Nur eine Tür und sie waren drin. Die Möbel des Zimmers waren verschlissen, mochten aber den Ansprüchen eines Menschen, der vorher in einer Indianer hütte gehaust hatte, durchaus genügen. Über dem Bett brannte eine nackte 60er Birne. Beiderseits der Birne hingen Poster von Che und Marilyn. Im Bett lag ein Häufchen Elend. Ein junger Mann, der aussah wie ein alter Mann, graue, eingefallene Züge, fiebrige Augen. Es stank nach Sterben, nach dem Tod, der schon vor der Tür wartete. El Chico musterte Urban, hob die Hand und murmelte: „Das ist der Falsche, du Arsch.“ „Er war oben am Grab“, erklärte Pablo. 85
„Das ist ein Cop. Das rieche ich. So ‘ne Ratte mit Colt.“ „Wen hast du denn erwartet?“ fragte Urban. „So ein weißes Schwein wie dich, so ein Langer. Schuldet mir ‘ne Masse Zaster.“ Jedes Wort, jede Bewegung schien große Mengen von Ener gie aus diesem geschwächten Körper abfließen zu lassen. „Ist ja auch scheißegal“, sagte El Chico, „ich krepiere sowie so bald.“ „Wie wär’s mit einem Arzt“, schlug Urban vor. El Chico schien gar nicht hinzuhören. „Da schuftet man wie ein Biber“, murmelte er, „und dann fällt man um wie ein Fabrikschornstein.“ Urban setzte sich neben ihn aufs Bett. Hier kam jeder Arzt zu spät, das sah er sofort. Der Bursche hatte alle Anzeichen einer akuten Leukämie an sich. Das waren einwandfrei die Symptome von Blutkrebs. „Wo fehlt’s denn?“ fragte er vorsichtshalber. „Wo nicht?“ entgegnete der Mexikaner. „Hab Fieber, fühle mich zerschlagen, wie aus dem Fenster geschmissen. Glieder schmerzen, und überall kommt Blut aus der Haut, aus den Schleimhäuten.“ Er zog die Bettdecke weg. „Schauen Sie sich meine Milz an und die Leber. Als wäre ich schwanger, so dick.“ „Seit wann?“ fragte Urban. „Als ich aus Denver zurückkam, von meinem letzten Job, fing es an.“ Die Tatsache, daß er davon sprach, war ein Beweis, daß er sich bereits aufgab. „Job in Denver“, bohrte Urban. „Der Schuß auf Schuma cher.“ „Kenne den Namen von dem Typ nicht.“ Urban fragte sich, was El Chico dabei erwischt haben moch te, und ob sich Schumacher auch damit angesteckt hatte. „Hast du im Abteil etwas angefaßt?“ „Nur den Koffer“, kam es langsam und gequält. „Koffer? Wie groß, wie schwer?“ 86
„Ziemlich“, sagte El Chico leise. „Wo ist der Koffer jetzt?“ „Weiß ich nicht mehr.“ Der Mexikaner hatte die Augen geschlossen und verfärbte sich zusehends. Jetzt, wo sich El Chico mit Urban unterhielt, wurde auch Pa blo weniger feindselig. Urban wandte sich an ihn. „Womit hat er geschossen? Welche Waffe?“ Der Junge bückte sich und holte unter dem Bett eine Luger hervor. Urban faßte sie mit dem Taschentuch an, schnüffelte an der Laufmündung. Sie stank noch ein wenig nach Karbid. Dann ließ er das Magazin herausgleiten. Es war leer. Er zog das Spannknie zurück. Eine Patrone hüpfte auf die Bettdecke. Er nahm sie an sich. Rein instinktiv tat er das. Dann gab er Pablo die Waffe zurück. „Deinem Kumpel hilft nur noch das Krankenhaus. Intensiv station. Blutaustausch und so weiter.“ Und selbst das hat nur aufschiebende Wirkung, setzte er in Gedanken hinzu. Urban stand auf, um zu gehen. „Darf er weg?“ fragte Pablo seinen sterbenden Freund. „Klar.“ „Und wenn er die Polizei verständigt?“ „Soll er doch“, murmelte El Chico. „Ich lag schon kurz mal im Koma oder wie man das nennt. Ich schwöre dir, es war eines meiner schönsten Gefühle überhaupt. Ich denke, es setzt bald wieder ein. Ich hoffe es… will es hoffen.“ Dann gingen sie hinaus. Pablo schien noch unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Urban kam ihm zuvor. „Kannst du mich nach Hollywood rauflotsen?“ „Wenn es sein muß, Mann.“ Sie gingen durch die Gasse bis zu dem Platz, wo der Mercury 87
stand. Urban machte keine Anstalten, selbst zu fahren, sondern schob sich auf den rechten Sitz. „Beweg du die Karre“, sagte er. Der kleine Mexikaner schüttelte den Kopf. „Mit euch Gringos kennt sich aus, wer will. Oder bist du schwul, Mann, und suchst was für die Nacht? Nicht mit mir.“ Urban hatte sich umgesehen und schien jetzt wieder sehr be friedigt zu sein. „Wir werden beschattet“, sagte er. „Na und?“ „Kannst dir einen Hunderter verdienen, Junge.“ „Gern. Und wie?“ Urban fetzte einen Zettel aus seinem Notizbuch, schrieb Hun ters Adresse darauf und ein paar Zeilen. Dann wickelte er die Patrone aus der Luger in ein Kleenex tuch. „Bring das Auto und die Patrone zu diesem Mann. Er zahlt dir hundert Dollar. Er soll die Patrone ins Labor geben.“ „Bist also doch ein Bulle.“ „Geheimbulle. German Secret Service. Wenn dir das lieber ist.“ „Egal. – Sonst noch was?“ „Du läßt mich an der nächsten Ecke raus.“ „Gemacht, Mann.“ „Und gondelst mit der Karre erst mal zwei Stunden kreuz und quer durch die Landschaft.“ „Bis der Tank leer ist, Mann“, feixte Pablo. „Ich hänge sie ab, verlaß dich drauf.“ Er fuhr ganz langsam um die Placa herum. Überall waren Leute unterwegs. Mexikaner, Touristen, Huren, Zuhälter, Ga noven. Immer wieder schlug einer mit der flachen Hand auf das Mercurydach. „He Pablo“, riefen sie, oder auch: „Kleines Stinktier.“ Die vier Scheinwerfer hinter ihnen hielten immer den glei chen Abstand. Sie gehörten zu einem dunkelblauen Ford. Noch immer der vom Friedhof. Er hing an ihnen wie eine Klette. 88
„Ich steige jetzt aus“, sagte Urban. „An der Ecke. Anhalten ist nicht nötig. Aber wenn ich weg bin, dann volle Pulle.“ Im Fahren öffnete er die Tür, war im Nu draußen und mischte sich unter die Leute. Der Mercury zog ab. Seine Lichter waren schon nicht mehr zu sehen, als der Ford beschleunigend hinterherpreschte. Urban atmete tief durch. Nach zehn Schritten wurde er aufgehalten. Vor ihm standen zwei, hinter ihm einer. Burschen in lässiger Aufmachung, in hellen Drellhosen und Nylonlumberjacks. Sie zeigten Ausweise in Lederetuis. „FBI“, sagte einer. „Kommen Sie mit uns.“ 9. Südsee. Todelau-Inseln. 14. März In der palmenbestandenen Bucht ankerte eine weiße Hochsee yacht. Auf dem Flugplatz, den man in den Dschungel gerodet hatte, stand ein Jet, dreimotorig, Typ Dassault Brequet Falcon 50. Die Villa auf dem Hügel hatte jeden Luxus dieses Jahrhun derts. Nur ein Raum war karg eingerichtet. Mit seinen Wand karten, den graphischen Projektionen, den Funkgeräten, Funk fernschreibern und Radiotelefonen glich er eher der Komman dozentrale eines NATO-Stabes. In den Drehsesseln aus schwarzem Leder und Chromstahl saßen die Gentlemen zusammen, die über die wirtschaftliche Kapazität einer industriellen Großmacht geboten. Angefangen bei der Produktion von Stahl und dessen Verarbeitung in Schif fen, Maschinen und Automobilen, bis zur Herstellung von elektronischen Modulen und deren Einbau in Computer, Steu ergeräte und Unterhaltungselektronik beherrschten sie einen hohen Prozentsatz der Weltproduktion. Ganz abgesehen von den Banken, die sie dirigierten, von den Kohlengruben, den 89
Erdölfeldern und Manganabbauflotten. Doch wie es schien, war ihr großes Orchester aus dem Takt gekommen. Darüber machten sie sich erhebliche Sorgen. „Wie steht es in Californien?“ fragte der Herr der Insel seinen Partner, der aus Amerika herübergeflogen war. „Sie beißen an.“ „Inwiefern bitte?“ „Ihr Mann in Californien ist der Beweis dafür, daß sie unsere Warnungen ernst nehmen.“ „Vorausgesetzt, er findet das Richtige.“ „Dafür ist gesorgt.“ „Das würde ihnen einen Schock versetzen.“ „Und ihre Hartleibigkeit, was unsere Wünsche betrifft, nach haltig beeinflussen.“ Der Älteste der drei, ein weißhaariger Mann mit schütterem Bart, war nicht so leicht zu überzeugen. „Die Deutschen sind stur. Ich kenne sie.“ „Aber sie haben eine wunde Stelle. Und das ist ihre Vergan genheit. Noch lebt ein Teil der alten Kriegs- und Nazigenerati on mit Leuten in den höchsten Staatspositionen. Die sind ve r dammt allergisch auf alles, was sie an ihr damaliges Versagen erinnert. Dafür wurden schon Milliardensummen ausgegeben, um Ressentiments aus der Welt zu schaffen, um alte Wunden nicht aufbrechen zu lassen. Wenn man die Deutschen jemals kleinkriegen kann, dann nur mit ihren alten Sünden, und zwar jetzt. In zehn Jahren ist es zu spät. Dann ist eine neue selbstbe wußte Generation am Ruder, die sich den Teufel um das schert, was einmal gewesen ist. Die jungen Leute verfallen bei dem Wort KZ oder Kriegsschuld nicht mehr in Panik, die fragen höchstens, was ist das bitte.“ Die Morgenmeldungen, die allmählich über den. Funkfern schreiber einliefen, klangen nicht gut. Die Weltwirtschaft setzte ihre derzeitige Abwärtstendenz fort. Stagnation überall. „Gehn wir einen Drink nehmen“, schlug der Älteste der Run de vor. 90
11 Uhr 30 Am Swimmingpool. Das kalte Büffet ließ keine Delikatesse vermissen. Es reichte für zehn Mann, wurde aber kaum von jemand beachtet. Der alte Mann nahm etwas Kaviar zu Toast, der jüngste Spiegelei mit Trüffeln. Ihr Partner, der im Alter zwischen ih nen lag, ein athletisch gebauter Mann um die Fünfzig, be schränkte sich auf eine Prärie-Auster. Weil sie ihm zu milde angerichtet war, würzte er sie mit Worcester-Soße, mit Pfeffer und Currypulver tüchtig nach, ehe er das Glas leerschlürfte. „Unsere nächsten Schritte“, drängte der alte Mann ungedul dig, „wann finden sie statt?“ „Wir werden demnächst vom Inhalt des Koffers nach Bonn berichten.“ „Des Schumacher-Koffers?“ „Richtig.“ „Ob das etwas nützt?“ „Dann senden wir einige Fotos hinterher. Fotos des Inhaltes und ein paar Röntgenaufnahmen. Ihre Experten werden sich verdammt schnell ein Bild von seiner Gefährlichkeit machen können.“ Der alte Mann sagte: „In meiner Gegenwart bitte nicht solche Kraftausdrücke wie verdammt, bitte.“ „Nächster Schritt?“ fragte der grauhaarige Athlet. „Das wäre dann der letzte Schritt.“ „Und wie sieht er aus?“ Nach einer andächtigen Pause sagte der jüngste Konferenz teilnehmer, aus den Rühreiern die dunklen Trüffelstückchen gabelnd: „Der letzte Schritt ist die Nutzung des Kofferinhaltes.“ Der Greis wischte sich Feuchtigkeit aus den Augen. „Sieht dies der Plan vor?“ „Der Plan, dem wir alle zustimmten.“ „Dann hat der Computer es überprüft.“ „Und gab sein Okay.“ 91
Wieder ließ der Senior eine Rüge los. „Bitte, meine Freunde, in meiner Gegenwart keine Ausdrücke wie okay. Bitte.“ Dann schien er zusammenzusacken. „Also Nutzung des Kofferinhaltes“, wiederholte er müde. „Das wird sie Mores lehren.“ „Das kann Besetzung ihres Landes durch die ehemaligen Al liierten einschließlich der Russen bedeuten. Das nehmen sie nicht hin.“ „Nein, sie werden sich wehren.“ „Das gibt Krieg.“ „Ein Krieg schränkt, vorsichtig ausgedrückt, ihre Exportfä higkeit enorm ein.“ „Damit scheiden sie aber auch als Exportmarkt für uns aus.“ „Wenn sie nicht aufwerten, scheiden sie als Absatzmarkt ebenfalls bald aus. Wir können nicht bei jedem Artikel zehn Prozent bar zusetzen.“ „Es ist gehupft wie gesprungen“, meinte der mit der Prärieau ster. „Jetzt müssen wir weiterheizen.“ „Ja, um dem Siedepunkt nahezubleiben.“ Der Rest der Frühstückspause galt dem Nac hdenken. Obwohl sie sich letzten Endes auf die Ausdrucke ihres Lagecomputers verließen, nahmen sie noch eigene Analysen vor. Denn was man Computern nur bedingt einfüttern konnte, waren die Cha raktereigenschaften des Gegners. * West-Tokelau. Spätnachmittag. Die Konferenz war beendet. Die Besucher schickten sich an, die Insel zu verlassen. Der alte Mann begleitete seine Freunde zu ihren Transportmitteln. Im elektrischen Golfwagen fuhren sie vom Hügel hinab zum Flugplatz. 92
„Soeben kam noch ein Fernschreiben“, sagte der Gastgeber. „Ja, FBI hat diesen Urban geschnappt.“ „Ist das planmäßig?“ „Zumindest war es zwangsläufig. FBI kann es sich nicht bie ten lassen, daß der Agent eines ausländischen Geheimdienstes Sachen enttarnt, die man geheimzuhalten wünscht.“ „Jetzt werden sie ihre Erkenntnisse zusammenlegen.“ „Na wunderbar.“ „Wer ist dieser Deutsche?“ „BND-Agent Nr. 18, Bob Urban, genannt Mister Dynamit.“ „Guter Mann?“ fragte der Alte. „Sonst wäre er für unsere Zwecke nicht ausgewählt worden.“ „Aber“, gab der Greis zu bedenken, „wird er sich nicht mög licherweise als ein zu guter Mann herauskristallisieren?“ Das etwa fünfzigjährige Ratsmitglied, der Mann, dem die Yacht gehörte, sagte: „Er kann schlau sein wie der Gott, an den sie glauben. Unser Netz durchdringt er nicht mit seinen Gedan ken.“ „Wenn aber doch?“ „Dann gibt es frühe Anzeichen dafür.“ „Und falls die Anzeichen auftauchen, was sagt dann der Computer dazu?“ „Das wurde ihm bis jetzt nicht eingefüttert.“ „Liquidation?“ fragte der Alte, und es klang wie eine Forde rung. „Er hat das Spiel für uns angeleiert, wenn er gefährlich wird, dann Liquidation.“ Sie stimmten ab. Die Forderung wurde einstimmig ange nommen. „Ich arbeite die Anweisungen für die Aktivgruppen schon einmal aus“, sagte der Jüngste der drei. Er war der Macher an der Front. Wenige Minuten später startete der Jet Richtung Syd ney/Australien. Bei Sonnenuntergang lichtete auch die Yacht ihre Anker. Sie verließ die Bucht und nahm draußen im tiefen Wasser Kurs auf die Philippinen. 93
10.
Los Angeles.
14 März. Frühmorgens.
In dem Moment, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel, arbeitete Urbans Kopf noch einmal so schnell. „Sie“, sagte er zu der niedlichen Japanerin, die ihn vom FBIBüro zum Flugplatz fuhr, „Sie also.“ „Ich habe Sie herausgehauen.“ Herausgehauen nannte sie es, nachdem er einen Tag und ei nen halben vom FBI festgehalten worden war, ohne daß man ihn auch nur angehört hätte. Kostbare Zeit, die nie mehr einzu holen war. „Losgeeist, wie denn?“ fragte er. „Es ist mein Fall“, erklärte sie emotionslos, aber nicht ohne Stolz in der Brust. Sie trug einen marineblauen Kaschmirpullover, einen Tweed rock und hochhackige Schuhe mit einem Riemchen über dem Spann. Sie hatte zwei reizende halbkugelige Brüste, und wenn er sich nicht irrte, trug sie keinen BH. „Warum Ihr Fall?“ „Ich war an der Reihe“, sagte sie, „und wegen meiner hüb schen Augen.“ Urban lehnte sich zurück. Oder war es volle Absicht, daß man ihr diesen Fall übertrug? Wer wußte das? Jedenfalls hatte sie sich am Pasadena-Friedhof vor zwei Tagen profimäßig verhalten. Das sprach für ihre Qua litäten als Agentin. „Und welchen Umstand verdanke ich meine Abschiebung?“ wollte er wissen. „Mehr als meinen Namen hatten Sie doch nicht.“ Sie blickte ihn an und lächelte. „Der Name genügt ja wohl, Mister Dynamit.“ Das war gewiß nicht als Schmeichelei, sondern eher vor wurfsvoll gemeint. Warum mischte er sich auch in ihre Ange 94
legenheiten ein? So etwa klang es. Ihre reizenden asiatischen Schlitzaugen irritierten ihn abermals. Eine klare Augendiagno se war so gut wie unmöglich. Da schaute keiner jemals durch. „Was brachte Sie zu der Überzeugung, daß ich nur passiv mit dem Fall zu tun habe?“ fragte er. „El Chico ist als Killer eine Nummer.“ „Und wie kamen Sie auf ihn?“ „Durch die Hilfe eines Truckdrivers, der ihn von Hot Springs bis Denver mitnahm und ihn beschrieb. Mit Hilfe seines Autos, das immerhin so knallig bemalt ist, daß kein Zuhälter einstei gen würde, kamen wir weiter. Der Rest war Beobachtung des Friedhofes und nicht zuletzt Ihrer Person, Bob Urban. Sie führ ten uns schließlich zu ihm.“ „Aber das war doch alles noch kein Beweis, oder? Ich meine, ein Geständnis legte er wohl nicht ab.“ „Konnte er gar nicht“, sagte die Japanerin, „denn er ist tot.“ „Dann zählte wohl sein Ende als Geständnis.“ Sie nickte. „In etwa.“ Wegen eines ausscherenden Lkw mußte sie stark bremsen. Durch die Kniebewegung rutschte ihr Rock weit nach oben. Sie zog ihn rasch wieder vor, wohl um sicher zu gehen, daß er ihr Höschen nicht sah. Sie trug kaum Make-up. Sie konnte sich leisten, darauf zu verzichten. „Und die Strahlung“, fügte sie recht einsilbig hinzu. „Er starb an akuter Leukämie.“ „So nennt man es wohl, wenn man eine Superportion radio aktiver Substanzen abbekommen hat.“ Sie wußten von der Strahlung, also wußten sie mehr. „Was für Strahlen?“ wollte er wissen. „Alpha, Beta, Gam ma?“ „Gammastrahlen“, sagte sie. „Wohl in der Hauptsache, und die gefürchteten Alphas.“ „Die gehen vom Plutonium frisch entladener Brennelemente aus“, bemerkte Urban. 95
„Richtig.“ Urban fielen wieder ein paar Schuppen von den Augen, und er kombinierte rasch. Die Fragen der FBI-Agentin halfen ihm auf die Sprünge. „Hatte Professor Schumacher mit so etwas je zu tun?“ erkun digte sie sich. „Ja, bei dem Versuchsreaktor, an dem er arbeitete.“ „Nur ein Versuchsreaktor“, vergewisserte sie sich in einem Tonfall, als habe sie den Verdacht, Deutschland würde serien weise heimlich Atombomben herstellen. „Demnach befand sich in dem Abteil, das El Chico betrat, um Schumacher zu töten, Plutonium in irgendeiner Form.“ „Mag sein. Aber warum zog es dann Schumacher nicht in Mitleidenschaft?“ „Das ist das große Rätsel“, meinte sie. „Der Koffer ist schließlich weg.“ „Was für ein Koffer?“ „Der, um den alles geht. Stellen Sie sich doch nicht so an, Bob.“ „Und was soll in dem Koffer drin sein, bitte?“ „Das werden Sie schon noch erfahren, fürchte ich.“ „Ja, fürchte ich auch“, sagte er. „Wenn man nur wüßte, wer hier die Hintergrundmusik spielt. Gibt es denn keine Anhalts punkte?“ „Leider“, bedauerte sie. Trotz des guten Busens hatte sie ein schmales Figürchen. Nicht so schlank, daß es einem durch die Finger glitt, aber doch beachtlich. „Kein Anhaltspunkt?“ fragte er noch einmal. „Wirklich?“ Sie lächelte und er lächelte zurück, Zahn um Zahn. Natürlich wußten sie beim FBI mehr als sie zugaben. Aber warum sollten sie ihm ihre Vermutungen mitteilen, ausgerech net ihm, der sich nicht geniert hatte, solchen Wirbel in ihre geruhsamen Ermittlungen zu bringen? Mit Sicherheit wußten sie mehr, aber seine Anwesenheit störte sie. Deshalb hatten sie ihn nachdrücklich aufgefordert, die Heimreise anzutreten. 96
Der Ford näherte sich in rascher Fahrt dem Flugplatz. Die FBI-Agentin bog auf den Zubringer ab. Richtung Pazifik startete gerade ein Jumbo. „Ich heiße übrigens Sabina“, sagte sie, „Sabina Cord. Für den Fall, daß man sich einmal Wiedersehen sollte. Hallo Sabina klingt doch viel weniger förmlich, als Hallo, Miß, oder?“ Sie parkte und ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen. Sie hängte sich an ihn wie ein Schatten, als er seine Reiseta sche aus der Aufbewahrung holte, als er noch einen Kaffee nahm, als er sein Ticket abgab und schließlich durch den Zoll ging. „Mach’s gut, Gringo“, rief sie zum Abschied. „Sie sind das netteste Mädchen“, sagte er, „das einem Mann begegnen kann. Machen Sie in Zukunft besser einen Bogen um mich.“ Wieder irritierten ihn ihre Schlitzaugen. Und ob sie einen Bü stenhalter trug, wußte er immer noch nicht. * München. 15. März. Während des langen Rückfluges von Los Angeles über New York nach Hause hatte Bob Urban die Vorgänge seines Auf enthaltes in Californien immer wieder rekonstruiert. Speziell das Gespräch mit der FBI-Agentin Sabina Cord hatte er mehr mals im Geiste nachvollzogen. Irgend etwas daran stimmte nicht. Irgendwo lag da ein logischer Bruch. Aber er fand die richtige Stelle nicht. Du hast etwas übersehen, Urbanski, sagte er sich und skizzierte das Gespräch sicherheitshalber im Notiz buch. Vielleicht täuschte ihn aber auch sein Instinkt. Bei jeder Arbeit gab es Phasen, da witterte man überall Schlingen oder Fallgruben. Später überstürzten sich die Ereignisse dann so, daß er das alles ganz vergaß. In Bonn waren neue Drohungen eingegangen. So handfeste 97
diesmal, daß man sie nicht mehr ignorieren konnte. Sein Chef, der Oberst, zeigte ihm die Kurierfotos. „Sie erreichten gestern abend das Kanzleramt. Die Originale natürlich.“ „Und was sagt man in Bonn dazu?“ „Man ist aus dem Häuschen. Der Krisenstab tagt. Helle Auf regung.“ „Verrückt“, sagte Urban. „Ich würde es mehr einen Alptraum nennen.“ Urban hielt sich mit seiner Meinung noch zurück und be trachtete die Fotos jetzt unter der Lupe. Das erste zeigte einen altmodischen kantigen Lederkoffer in schwerer Ausführung. Abmessungen wenigstens hundertmal sechzig mal vierzig. Auf dem nächsten Foto war der Koffer geöffnet. Sein Inneres wurde zu zwei Dritteln von einer metallisch schimmernden Röhre ausgefüllt. Die Röhre war so lang wie der Koffer, bei etwa vierzig Durchmesser. Die schmale Spalte an der Längs seite enthielt eine Art Konsole mit elektrischen Meßinstrume n ten, einer 24-Stunden-Uhr, verschiedenen Schaltern, Einstell knöpfen, Kipphebeln und Kabelsteckverbindungen. Das letzte Foto schließlich zeigte eine Schnittzeichnung des Ganzen. Urban tastete sich mit seinem Kommentar langsam an das Unfaßbare heran. „Die Anzeigeinstrumente sind, wie mir scheint, von Siemens und von AEG. Die Zeitschaltuhr möglicherweise von Kienzle. Solche Dreh- und Kippschalter habe ich schon bei Elektrogerä ten von Bosch gesehen.“ „Alles deutsche Hersteller“, ergänzte Sebastian. „Zu demsel ben Ergebnis kommt auch das Labor. Sogar Stecker und Kabel könnten made in Germany sein.“ „Das ist ja wohl auch der Sinn des Ganzen“, sagte Urban. „Von wem stammt das Fotopapier, des Originals, meine ich.“ „Von Agfa. Der Film ebenfalls. Sie errechneten es anhand der Körnung. Aufgenommen wurde das Bild allerdings mit einer schwedischen Hasselblad-Kamera.“ 98
„Klingt hübsch häßlich.“ Dem Alten mißfiel Urbans Ruhe, mit der er das alles hin nahm. „Für Sie ist das also nur ein dummer Witz“, zischte er. „Für uns ist es ein Alptraum.“ „Das sagten Sie vorhin schon.“ Der Alte fuhr hoch. „Zum Teufel, wissen Sie denn, um was es sich da handelt?“ Urban nickte. „Aber ja. Um Schumachers Reisekoffer, der ihm im Califor nia-Express abhanden kam.“ „Um eine Atombombe“, keuchte der Oberst heraus. „Deut schen Ursprungs. – Und wie, so fragt man sich, ist das über haupt möglich?“ Urban steckte sich eine MC an, schlug die Beine übereinan der und rauchte genüßlich aus. „Ganz einfach. Immer wieder verschwinden in den meisten Atomkraftanlagen der Welt hochangereichertes Uran oder Plutonium. Letztes Jahr ermittelte man weltweit eine Fehlme n ge von hundert Kilogramm. Genug, um zwanzig Bomben zu bauen.“ Der Alte rechnete mit gerunzelter Stirn nach. „Heißt das, daß so eine Bombe mit einem Gewicht von fünf Kilogramm zu veranschlagen wäre?“ „Fünf Kilo Nuklearsprengstoff etwa“, schränkte Urban ein. „Mit allem Drum und Dran, die zwei Ladungen müssen ja konventionell ineinander geschossen werden, um den kriti schen Zustand herbeizuführen, also, mit allem Drum und Dran wiegt so eine Bombe schon zehn Kilo.“ „Und das paßt in diesen Koffer?“ „Leicht.“ „Und das ergibt einen voll funktionsfähigen Atomsprengkör per?“ .Aber sicher, Großmeister. Und wie funktionsfähig. Eine prima Kernwaffe ergibt das.“ 99
Der Alte verhüllte mit einer theatralisch wirkenden, aber ernstgemeinten Handbewegung das Gesicht. „Mein Gott.“ „Ja, eine üble Konsequenz.“ „Wenn diese Bombe zur Detonation kommt, und wenn be kannt wird, daß sie in Deutschland mit deutschem Material gebaut wurde, dann würde das doch bedeuten…“ „…daß man uns Handfesseln anlegt. Und nicht welche aus Seide“, kommentierte Urban. „Man würde den vollen Besatzungszustand wiederherstellen. Schließlich gibt es noch immer keinen Friedensvertrag. O Gott!“ „Ja, wir wären wieder weltweit die schlimmen Buben.“ Dem Alten mißfiel Urbans Ton. Er sprang auf und war außer sich. „Offenbar geht Ihnen das nicht im mindesten unter die Haut“, schrie er. „Dafür verlange ich eine Erklärung.“ Urban nickte. „El Chicos Tod“, sagte er. „Inwiefern bitte? Starb er nicht an der Gammastrahlung des Koffers?“ „Lassen Sie mir“, bat Urban, „noch ein wenig Zeit. Ich den ke, daß ich in der Lage bin, das Ganze als Bluff zu entlarven.“ „Wie lange Zeit?“ „Ich bin im Labor“, sagte Urban. * BND Zentrale. 11 Uhr 30 Technisch-Wissenschaftliche Abteilung Auf dem Schreibtisch des BND-Cheftechnikers Prof. Stralman summte der graue Hausapparat. Stralman hob ab und übergab an Urban, „Für dich.“ Die meist hektische Kommandostimme Sebastians schien durch fünf Stockwerke bis in den Laborkeller zu hallen. 100
„Bonn erbittet Entscheidungshilfe“, sagte Sebastian. Der weißhaarige Stralman nahm über dem Zweithörer am Gespräch teil. Stralman schob, wie jede Minute einmal, seinen zu locker sitzenden Zwicker höher auf die Nasenwurzel. Urban blickte ihn fragend an. Stralman hob die Schultern. Urban ließ den Oberst weiterreden und machte eine Kopfbe wegung zum Safe hin. Jetzt nickte Stralman aufmunternd. „Die Herrschaften in Bonn sollen sich wieder abregen“, riet Urban. „Die von mir bei El Chico sichergestellte Patrone kam bereits gestern per Luftpost an und wurde analysiert.“ „Und?“ fragte Sebastian. „Die Treibladung enthält winzige Spuren von Plutoni umstaub. Schon ein tausendstel Gramm davon, vom menschli chen Organismus aufgenommen, führt unweigerlich zum To de.“ Trotz aller Aufregung sah Sebastian einen Lichtschimmer. „Das würde ja bedeuten…“ Urban half ihm weiter. „…daß die Gammastrahlung nicht aus dem Koffer kam, son dern von El Chico selbst, ohne daß er es wußte, mitgebracht und freigesetzt wurde.“ „Als er den Schuß löste.“ „Und dann das aus der Patrone freiwerdende Plutonium ein atmete.“ Sebastian überfiel schon wieder die nackte Angst. „Plutonium ist doch hochgiftig.“ „Das verheerendste derzeit bekannte Gift.“ „So was konnte doch nur von technisch erstklassig ausgerü steten Leuten in die Neun-Millimeter-Patronen praktiziert we r den.“ „Allerdings.“ „Dann stellt das Ganze doch…“ „Was?“ fragte Urban. „Eine Verstärkung der letzten Warnung dar.“ 101
„Mag sein, Chef“, sagte Urban, „andererseits beweist es aber, daß die Strahlung nicht von diesem ominösen Bombenkoffer ausging, mit dem man sie gern in Verbindung bringen möchte. Melden Sie das ruhig nach Bonn.“ „Und das ist amtlich?“ „So amtlich, daß die Strahlenabteilung trotz aller Vorsichts maßnahmen und obwohl die Patrone hinter zentimeterdicken Blei im Safe liegt, entseucht werden muß. Man stellt hier ve r zweifelte Überlegungen an, wie man das Teufelsding wieder loswerden kann.“ Der Alte schien erleichtert zu sein. Aber dieser Zustand hielt nur kurz an. „Bonn“, sagte er, „wird noch weitere Beweise fordern, ehe man sich entschließt, den Erpressern die kalte Schulter zu zei gen.“ Urban ahnte schon, worauf das hinauslief. „Klar, man wird den Koffer haben wollen.“ „Und Ihre Meinung, Urban, Ihre private?“ „Auch ich“, gestand Urban, „wäre erst beruhigt, wenn ich den Koffer hätte. Ganz egal, wer uns damit erpreßt. Denn wer das Plutonium in die Patrone mischte, der kann auch eine Bombe bauen.“ „Und das muß nicht unbedingt Schumacher gewesen sein.“ „Schumacher war doch nur eine Marionette.“ „Aber ein deutschstämmiger Atomwissenschaftler. Das ist letzten Endes entscheidend.“ Urban überlegte. Wer wußte, daß er die Patrone gefunden hatte? – Niemand. – Wer wußte, daß von ihr die tödliche Strah lung ausgegangen war? – Auch niemand. – Aber ohne den Koffer war der Druck nicht von ihnen genommen. – Noch glaubten sie zuversichtlich, daß es sich bei dem Inhalt des Koffers nur um ein Potemkinsches Dorf handelte. In Schuma chers Gepäck waren gewiß nur Hemden, Socken und Unterwä sche gewesen. Aber ganz hundertprozentig überzeugt war er nicht. „Ja, der Koffer muß beschafft werden“, sagte er. 102
„Und das binnen 24 Stunden“, fügte der Alte hinzu. „Bißchen knapp die Zeit, so ein Köfferchen in der schönen weiten Welt…“ Der Alte fiel ihm ins Wort. „Vierundzwanzig Stunden lassen diese Erpresser Bonn noch Zeit, um Aufwertungsmaßnahmen zu überdenken. Die Frist beginnt Punkt zwölf Uhr, also in neunzehn Minuten. Und sie endet morgen mittag.“ „Wenn es zwölf Uhr vom Turme schlägt.“ „Wenn am Rathausturm am Marienplatz die Schaffler tan zen“, murmelte Stralman. „Nein, die tanzen schon um elf. Das wäre eine Stunde zu spät.“ Urban legte auf. Sie starrten sich an. Beide waren sie echt rat los. 11. Spanien. Costa Brava. 15. März 17 Uhr „Du mußt so vorsichtig sein“, hatte Urban dem BNDMann in Barcelona telefonisch erklärt, „als gingst du heimlich in dein Lieblingsbordell und möchtest nicht gesehen werden. Und nimm einen Geigerzähler mit.“ „Wenn ich Anfänger wäre“, hatte Luis erwidert, „würdest du mir den Job nicht anvertrauen.“ „Das ist keine Vertrauensfrage, sondern eine Zeitfrage“, hatte Urban noch hinzugefügt. „Eigentlich ist es so wichtig, daß ich es selbst machen sollte, aber ich muß nach Südtirol. Und über Spanien dauert das auch mit dem Jet zu lange.“ „Verstanden. Ich reite sofort los.“ Luis Paracuin ließ alles liegen und stehen, zog den Alfa aus der Garage und fuhr nach Norden. In Lloret war es ihm noch nicht dunkel genug. Er trank in der Bar am Hafen einen Tinto, ehe er sich der kleinen Villa dieses 103
Señor Schumacher näherte. Zuerst öffnete er das Garagentor. Die Garage gab wenig her. Rechts stand ein hellgrauer VWKäfer, Baujahr 74, daneben zwei abgefahrene Reifen auf rosti gen Felgen. Die linke Seite der Garage diente der Aufbewah rung von Gartengeräten. Luis sah verschiedene Harken, Laubrechen, eine fahrbare Schlauchtrommel, einen halben Sack Kunstdünger, ein paar Gummistiefel und Fingerhandschuhe aus grobem Leder. Zwischen Garage und Haus gab es keine Verbindung. Weil die Kellertür massiv und die Fenster vergittert waren, versuchte es Luis von der Meerseite her über die Terrasse im ersten Stock. Den Riegel der Jalousientür öffnete er, indem er die steife Plastikhülle des Führerscheins im Türschlitz nach oben schob. Die Scheibe der Innentür mußte er leider eindrücken. Mit der Stablampe suchte er das Haus von oben bis ans Fun dament ab. Neben dem Raum mit dem Ölofen für die Lufthei zung fand er endlich, was er suchte. Einen Verschlag, einge richtet als Hobbywerkstatt. Sofort schaltete er den Geigerzähler an. Das Gerät tickte etwa so hektisch wie in einem Pinienwald oben in der Sierra. Es zeigte die natürliche Radioaktivität der Luft an und nicht mehr. Mit Plutonium oder hochangereichertem Uran war hier mit Sicherheit nicht herumgespielt worden. Die Werkzeuge eigne ten sich wohl auch mehr für Holz- als für Metallbearbeitung. Luis fand eine Reihe von Hobeln und Sägen und eine alte Tischlerdrehbank. Wenn sich Paul Schumacher in diese Bastlerwerkstatt zu rückgezogen hatte, dann wohl mehr, um einen Stuhl als eine Atombombe zu bauen. „Oder wir haben es mit einem Meister der Tarnung zu tun“, murmelte Luis Paracuin, „was er offensichtlich aber nicht war.“ Wie von München gefordert, suchte er im Haus auch schrift liche Aufzeichnungen, die den Charakter eines Tagebuches hatten. Außer einem Heft, das Schumachers Einnahmen und 104
Ausgaben aufführte, fand er jedoch nichts. Das Haus hatte auch keinen Safe. Etwa eine Stunde, nachdem er in die Villa eingestiegen war, verließ Luis sie wieder. Er fuhr nach Barcelona zurück, um sofort das BND-Hauptquartier zu verständigen. * Corvara im Val Badia. 13. März Die Sonne stand schräg über den weißen Flanken des Grödner jochs. Seit Urbans letztem Besuch vor neunzehn Tagen hatte sich einiges geändert. Es gab etwas weniger Schnee, und vor den Hotels parkten weniger Touristenautos. Vielleicht war auch das Wetter milder. Gewöhnlich fiel, so bald die Sonne wegtauchte, der Frost ins Tal. Heute mußte er sogar die Heizung kleinstellen, und die Straße zum Schloß hinauf hatte eine schneefreie, wenn auch schmale Fahrspur. Das hohe mittelalterliche Tor der Hofeinfahrt war zu. Urban betätigte erst die Glocke, dann den Knopf der Sprechanlage. Die Glocke bimmelte, aber aus dem Lautsprecher in der Bron zeplatte kam kein Ton. Und dies, obwohl er sich angemeldet hatte und auch erwartet wurde. Nun rüttelte Urban an den massiven, als Hirschknöpfe ausgeführten Torgriffen. Der rechte Flügel schwang auf. Unter den Arkaden des ehemaligen Stallgebäudes stand der weinrote Lancia Monte Carlo. Der Sportwagen war da, also war auch Theresa de Lucca in Corvara. Aber warum, zum Teufel, hatte sie auf sein Läuten nicht rea giert? Sie wußte doch, wie pünktlich er war. Urban durchquerte den Innenhof, nahm die breite Treppe zum Haupthaus und fand auch dort die Tür unversperrt. Im Schloß war es kühl wie in einem Felsenkeller. Er blieb in der Halle stehen und rief ihren Namen. Das Echo 105
schlug von den Wänden zurück und klirrte in den hohlen Rit terrüstungen nach, als lache ihn jemand aus. Urban schaute sich im Erdgeschoß um. Der mächtige Kamin im Wohnraum war kalt. Auch in der Bibliothek, in den Neben zimmern und in der Küche hielt sich niemand auf. Selbst die Espressomaschine fühlte sich kalt an. Urban eilte nach oben und betrat das Schlafzimmer der Com tessa. Das Bett war unberührt, die Decke glattgestrichen wie ein Tablett. Urban schaute in den begehbaren Schrank und dann ins Badezimmer. – Und dort sah er sie dann. Theresa de Lucca lag auf den Fliesen zwischen der Wanne und dem großen Spiegel. Ihr Kopf ruhte auf dem linken Oberarm, ihr blondes Haar hat te sich gelöst, die Knie hatte sie leicht angewinkelt. Sie war völlig entkleidet. Es sah aus, als schlafe sie. Aber die Art und Weise, wie sie ihren linken Arm von sich wegstreckte, erweckte den Eindruck, als verabscheue sie ihn. Urban prüfte ihren Puls, machte die Lidprobe und faßte an ihre Halsschlagader. Keine Reaktion mehr, keine Spur von Leben in ihr. Nun hob Urban den weggestreckten Arm etwas an. Mit ihm nahm er eine Einwegspritze aus Plastik hoch. Die Kanüle mochte Kaliber 18 haben und steckte noch in der Vene der Contessa. Ihre Fingerkuppen wirkten leicht vertrocknet, die Nagelbetten grau-blau-unterlaufen. Morphium, schätzte er, mindestens sechzig Milligramm. Vierzig Milligramm waren schon tödlich. Eine solche Überdo sis hatte ihr schlanker Körper einfach nicht verkraftet. Urban richtete sich auf und suchte Spuren eines Kampfes. Er fand keine. Und daß sich Theresa selbst getötet haben sollte, das ging ihm nicht in den Kopf. Welche Gründe gab es für einen heiteren lebensfrohen Menschen, so was zu tun? Hatte man sie in die Enge getrieben? Er ließ sie liegen, um der Polizei die Ermittlungen nicht zu erschweren, suchte aber noch einmal die bewohnten Räume des Schlosses ab. Leider ohne Ergebnis. Er schaute auf die 106
Uhr. Wenn er sich beeilte, konnte er vor Mitternacht wieder in München sein. Trotzdem ging er noch einmal hinauf zu Theresa, um Ab schied zu nehmen. Ciao, hatte er damals mit Kaminruß auf ihr rundes Hinterteil geschrieben. Jetzt tat es ihm leid. Er blieb im Türrahmen stehen, sagte tschau Theresa und ent deckte jetzt erst, daß sie die Faust der anderen Hand geballt hatte. Mühsam öffnete er sie. Der Wagenschlüssel fiel auf die Fliesen. Also kein Selbstmord. Niemand konnte sich mit der rechten Hand links eine Veneninjektion geben, ohne dabei den Zündschlüssel wegzulegen. Der Umstand, daß sie den Schlüs sel krampfhaft bei sich behielt, war soviel wie ein Hinweis. Minuten später fand Urban ihre Krokohandtasche unter dem Beifahrersitz des Sportcoupes. Er betrachtete sie als Theresas Vermächtnis für ihn und durchsuchte sie. In einem der Fächer lag ein Umschlag. ‚Roberto’ stand mit steiler Handschrift darauf. Er fand eine Reihe von Papieren. Zunächst überflog er sie nur. Es handelte sich um Briefbogen, um Geschäftskorrespo n denz, aus der hervorging, daß Theresa die Waffenhandelsfirma ihres Vaters weitergeführt hatte. Unter anderem lag den Papieren auch die Kopie eines Liefer kontraktes für Panzermunition nach Tokio bei. Darüber hinaus fand Urban auch mehrere Fotos. Das alte, schon recht zerknit terte zeigte einen Mann in Generalsuniform der deutschen Wehrmacht mit Ritterkreuz. Auf der Rückseite stand: Berlin. Winter 44. – Das zweite Foto zeigte ein Autowrack. Dem total zertrümmerten Fahrzeug war nur noch mit Mühe anzusehen, daß es sich um einen Mercedes 220 handelte. Auf der Rücksei te dieses Fotos stand: Lumbach 1964. Peter Häufflein. Kein Zweifel, Theresa hatte die alten Bilddokumente extra für ihn herausgesucht, um ihm ein paar wichtige Stationen im Leben ihres Vaters aufzuzeigen. Vielleicht kam er über Gene ral Moorsand weiter. Wenn das eine Spur war, wohin führte sie? Wie es aussah, führte sie direkt ins Inferno. 107
16. März 07 Uhr 45 Während im BND-Hauptquartier die Auswertung der deLucca-Unterlagen auf höchsten Touren lief, hatte sich Bob Urban nach wenigen Stunden Schlaf noch einmal auf die Bun desautobahn nach Stuttgart begeben. Er wollte einen gewissen Peter Häufflein in Limbach besuchen. Wie sich ergab, gehörte Häufflein ein Aussiedlerhof an der Straße nach Wettenhausen. Das moderne Anwesen stand auf einem Hügel am Ufer der Kammel. Der junge Landwirt erinnerte sich sofort, als ihm Urban das Foto zeigte. „Damals hatten wir noch den alten Hof in Limbach“, sagte er, was allerdings keine Antwort auf Urbans Frage war. „Wer hat das Foto aufgenommen?“ „Ich selbst mit meiner Box.“ „Und warum fotografierten Sie das Wrack?“ erkundigte sich Urban. „Sie haben es bei mir auf den Hof geschleppt. – Ich machte das Foto zunächst einmal als Dokument, damit es später nicht hieß, ich hätte das eine oder andere von dem Mercedes abmon tiert.“ „Erwies sich das als notwendig?“ „Nein“, sagte der etwa vierzig Jahre alte Landwirt, „niemand hat sich jemals mehr um den Wagen gekümmert.“ „Wo kam das Wrack hin?“ „Es blieb hinten in unserm Obstgarten, bis der neue Hof fer tig war.“ „Wo ist es jetzt?“ Der Bauer kratzte sich unter der Mütze. „Es rostete so vor sich hin. Schließlich habe ich die vier Rä der abgeschraubt und den Odelwagen damit bestückt. Mein Knecht hat die Ledersitze rausgenommen. Der Rest war nicht verwertbar. Ein Schrotthändler hat ihn mitgenommen.“ 108
„Und wie kommt das Foto in den Besitz der Tochter des Toten?“ „Sie kam vor vier oder fünf Jahren vorbei. Sie suchte das Grab ihres Vaters und schaute auch bei uns herein. Da schenkte ich ihr das Foto.“ Urban hatte das Gefühl, daß er hier nicht auf Öl stieß. Außer dem wollte Häufflein hinaus zu seinen Äckern. Der Traktor lief schon. Urban versuchte es trotzdem noch einmal. „Erinnern Sie sich an irgendeine Besonderheit vielleicht im Zusammenhang mit dem Unfall?“ „Eigentlich nein“, lautete die Antwort. „Eigentlich“, bohrte Urban neugierig weiter. „Abgesehen von dem Soldbuch.“ „Soldbuch? Interessant.“ „Ich fand im Handschuhfach ein altes zerfleddertes Soldbuch der deutschen Wehrmacht. Ich hob es einige Zeit auf, aber beim Umzug kam es wohl abhanden.“ „Und was war damit?“ Wenn sich Häufflein daran erinnerte, mußte es einen Grund dafür geben. „Es war das Soldbuch eines Generals.“ „Dann gehörte es dem Toten.“ „Das ist nicht so sicher“, meinte der Bauer. „Soweit ich mich erinnere, lautete es auf einen anderen Namen. Der Mann auf dem Soldbuch-Foto war ein General, das steht fest, aber sein Name war anders als der in den Zeitungen.“ „Nicht Moorsand?“ „Ich glaube Nordstrand“, sagte der Bauer, „oder so ähnlich. Nur ein paar Buchstaben waren anders.“ Der Mann hatte kein übles Gedächtnis. „Das Soldbuch finden Sie wohl nicht mehr, ich meine, wenn wir Ihnen den Zeitausfall für die Suche ersetzen.“ „Das kann Tage dauern. Auch dann ist es zweifelhaft.“ Tage waren für diesen Fall einfach zu lange. In wenigen Stunden lief das Ultimatum ab. „Danke Ihnen“, sagte Urban. 109
„Krieg ich jetzt Schwierigkeiten?“ fragte der Bauer. „Von mir nicht“, sagte Urban. Der Bauer fuhr hinaus zu seinen Äckern und Urban betätigte die Drucktasten seines Autotelefons. Die Nachrichten aus Pullach klangen wenig zuversichtlich. „In der ganzen deutschen Wehrmacht“, übermittelte ihm Se bastian, „gab es keinen General mit Namen Moorsand.“ „Kann ich mir denken“, erklärte Urban, „er zog es nämlich vor, hielt es aus irgendwelchen Gründen für ratsam, seinen Namen zu ändern.“ „Nach wem sollen wir dann suchen?“ „In Richtung Nordstrand.“ „Nordstrand“, murmelte der Alte. „Nordstrand. Moment mal, war ein Nordstrand nicht im Reichssicherheitshauptamt Berlin? Vielleicht änderte er deshalb seinen Namen.“ „Da würde ich aber sofort mit Volldampf hinterhaken“, schlug Urban vor. „Worauf Sie sich verlassen können.“ Urban hatte noch eine Frage. „Weil ich gerade in Limbach bin“, sagte er, „was ergab ei gentlich die Überprüfung der Tonbandkassette, die mir hier bei meinem letzten Besuch so freundlich überreicht wurde?“ Sebastian blätterte in Unterlagen. „Sie wurde über einen Sony-Recorder besprochen.“ „Und die Stimme?“ „Hatte einen Akzent drauf.“ „Was für einen?“ „Einen östlichen. Aber da ist von Polen bis Rußland alles drin.“ „Schade“, bedauerte Urban. „Wann sind Sie hier?“ „Bald.“ „Beeilen Sie sich. In vier Stunden läuft das Ultimatum ab.“ „Und wenn es in vier Minuten abläuft“, sagte Urban, „erst brauche ich einen Kaffee, wenn’s recht ist.“ 110
Bonn 10 Uhr Die Regierung entschloß sich zur Vorwärtsverteidigung. Di plomatische Noten an die Adressen der Großmächte wurden vorbereitet. Die für Washington, London, Paris und Moskau bestimmten Mitteilungen erklärten, daß es einer noch unbekannten Gruppe gelungen sei, sich Nuklearmaterial zum Bau einer Atombombe zu beschaffen. Das spaltbare Material stamme möglicherweise aus deutschen Kernreaktoren oder Kernforschungszentren, die übrigen Bombenbestandteile aus deutscher Industrieprodukti on. Es sei nicht auszuschließen, daß die Mini-Atombombe auch gezündet werde. Über die Wirkung dieser Noten war man sich im unklaren. Es gab auch Unstimmigkeiten, was die Formulierungen betraf. So beschloß man, sie bis zum letzten Moment zurückzuhal ten. Immerhin wären diese Noten einem Offenbarungseid gleichgekommen. Man hätte damit zugegeben, daß die Kon trollen relativ lasch durchgeführt wurden, daß es undichte Stel len gab – wie übrigens überall auf der Welt, wo Kernkraft im Einsatz war, und daß die Gefahr krimineller Handlungen mit Nuklearsprengstoffen von Tag zu Tag wuchs. Um 11 Uhr 33 erreichte den Krisenstab in Bonn ein neues Fernschreiben. Die Textanalyse ergab, daß sich die Bomben leute bereiterklärten, das Ultimatum um 24 Stunden zu verlän gern. Man wollte dem Krisenstab eine letzte Entscheidungsfrist gewähren. Am 17. März dieses Jahres, 12 Uhr Ortszeit, würde die Atombombe deutscher Herkunft dann unweigerlich in ei nem dichtbesiedelten Gebiet von hoher politischer Brisanz gezündet – sofern die internationalen Nachrichtenagenturen kein Einlenken der deutschen Bundesregierung auf die gestell ten Forderungen meldeten. Die Telefonleitung von Bonn zum BND-Hauptquartier Mü n chen-Pullach war permanent geschaltet. Aber der BNDPräsident konnte die Regierung nur vertrösten. Man habe eine Spur, versicherte er, wenn auch nur eine vage, 111
aber man tue das Menschenmögliche. Man wisse, um was es ginge, und die besten Leute seien notfalls bereit, auch durch die Hölle zu marschieren, um diese tödliche Gefahr vo n der Bun desrepublik abzuwenden. 12. München. 16. März 14 Uhr Agent Nummer 18, Bob Urban, raste zum Flugplatz. In den vergangenen zwei Stunden war die Entscheidung gefallen. Schon begann er an den Einzelheiten des Planes und seiner Durchführung herumzudenken. Neben ihm im Dienstmercedes saß sein Chef, Oberst Sebasti an. Urban klopfte an die Trennscheibe. „Fahr schneller“, rief er dem Fahrer zu. Der tat schon, was er konnte. Aber es kam auf jede Minute an. Sebastian balancierte den Ordner mit den Unterlagen und Fernschreiben auf den Knien. „Noch einmal von vorn.“ „Wozu das Ganze?“ „Möchte wissen, ob wir an alles gedacht haben.“ Urban, der sämtliche Fakten auf seinem Tonband im Kopf gespeichert hatte, sagte: „Nordstrand brachte die Lösung. Im Frühjahr vierundvierzig veranlaßte er, daß das Kampfgeschwader 200 in einer Geheim aktion Schumacher aus dem Libanon herausholte. Und zwar mit einer BV 222, einem Wiking-Flugboot, wie in den Kriegs tagebüchern steht. Eine ziemlich kühne Operation für damalige Verhältnisse. Allerdings machte man von Schumachers Ideen dann doch keinen Gebrauch mehr.“ „Für sein Spiralendings.“ „Die Physiker im Amt Speer konnten sich wohl ausrechnen, 112
daß es für den Bau einer Atombombe zu spät war, und daß die Amerikaner das Rennen gewinnen würden.“ „Man hatte also keine Verwendung mehr für Schumacher.“ „Worauf seine tiefe Sympathie für Deutschland im allgemei nen und besonderen zurückzuführen sein dürfte.“ „Wie aber“, setzte der Alte an, „kam es dreißig Jahre später zu dieser Entwicklung, die wir jetzt haben? Ich meine, wer benutzte Schumacher und warum als Werkzeug?“ Auch Urban war dies erst allmählich klargeworden. „Es waren die Japaner“, sagte er, „die Schumacher damals halfen, von Hawaii, wo er im Winter 1943 Urlaub machte, abzuhauen. Sie brachten ihn nach Tokio und von dort mit ei nem U-Boot in den Persischen Golf. Von Basra aus soll er, wiederum mit Hilfe der Achsenmächte, quer durch das damali ge Mesopotamien und Syrien in den Libanon gelangt sein. In Beirut hielt er sich eine Weile auf, bis ihn das deutsche Flug boot eines Nachts abholte.“ „So lautet das Berliner Fernschreiben.“ Der Oberst hatte das Monokel eingeklemmt und blickte nach draußen, wo die nassen Flocken späten Schnees herumwirbel ten. Hinter Grünwald raste der 280 S die lange, von Bäumen gesäumte Straße Richtung Riem weiter. „Aber das alles reichte wohl nicht aus“, sagte der Alte, „für so weitführende Entscheidungen.“ „Immerhin wissen wir jetzt, wer dahintersteckt.“ „Die Japaner also.“ „Wer sonst? Als alte Waffenbrüder aus dem zweiten Welt krieg kannten sie natürlich auch das Unternehmen Beirut. Sie wußten von der Existenz Schumachers, und darauf gründeten sie ihren Plan.“ „Nämlich Schumacher als Druckmittel zu verwenden, damit Bonn sich auf die Bedürfnisse ihrer Exportwirtschaft einstellt.“ „Aufwertung der D-Mark, keine extra Handelsbeschränkun gen für japanische Industrieprodukte. Da geht es doch um Mil liarden. Japan lebt vom Export wie wir auch. Exportieren oder 113
sterben, heißt es für die. Um diesen Export zu halten, ist jedes Mittel recht. Jedes.“ „Auch daß man einem Staat wie dem unseren den Bau einer Atombombe unterschiebt? Die Japaner sind sicherlich ganz furchtbar nette Leute, aber hier gehen sie offensichtlich zu weit, finden Sie nicht?“ „Die Geschäfte werden eben immer brutaler“, sagte Urban und dann: „Als mein Erkenntnisstand soweit war, da wußte ich auch, warum sich das FBI so unfreundlich verhielt.“ „Weil die Amerikaner ähnliche Probleme mit Japan haben.“ „Einerseits“, sagte Urban. „Setzte das FBI deshalb eine Japanerin als Agentin ein?“ „Natürlich. Diese Sabina Cord quakte doch perfekt japanisch. Außerdem kennt sie als Japanerin die Mentalität des Gegners besser. Deshalb setzte man sie ein. Und das hätte mir zu den ken geben müssen.“ „Ist ja noch nicht zu spät“, tröstete ihn der Oberst mit einem Blick auf die Uhr. „Noch 22 Stunden.“ „Was ist das schon“, meinte Urban, „22 Stunden und keine Spur von dem Koffer.“ „Warum fliegen Sie dann an die Levante?“ „Weil…“, setzte Urban an, „weil es dort passieren könnte.“ „Würden Sie mir das bitte noch einmal darlegen?“ Der Mercedes nahm die Kurven ziemlich scharf, und die Ortsdurchfahrt von Unterhaching dreißig Kilometer über dem Limit. Der Fahrer gab Gas, daß es nur so pfiff. „Hoffentlich“, sagte der Alte, „messen sie hier nicht wieder mit Radar.“ „Dann kostet es mindestens hundert Mark.“ „Macht ja nichts. Diesmal zahlt es der Staat.“ „Aber es würde uns aufhalten.“ Urban kam Sebastians Wunsch entgegen und erläuterte ihm, was er noch nicht kapierte, weil er wieder nur Tee getrunken hatte statt Kaffee. „Ich sprach mit Los Angeles. Mit dem dortigen FBIBüro“, erwähnte Urban. 114
„Sie wollten diese hübsche Agentin sprechen.“ „Deren Schlitzaugen mich immer so irritierten. Aber Miß Cord, hieß es, sei verreist. – Dienstlich? fragte ich. – Privat, erklärte man mir. – Urlaub? fragte ich. – Wohlverdienter, ant worteten sie mir. – Wohin? Wollte ich wissen. – Europa, laute te die Auskunft. Und damit war Schluß. Basta.“ „Und Sie glaubten kein Wort.“ „Komischerweise glaubte ich ihnen sogar“, sagte Urban. „Was mich aber nicht hinderte, nachzufassen.“ „In Europa?“ „Ich habe da so eine Theorie“, fuhr Urban fort, „sie ist noch nicht ganz ausgegoren, aber zwischen Miß Cord und Contessa de Lucca gibt es Zusammenhänge. Ich rief also die Italiener an. Ihr Geheimdienstbüro in Mailand fand tatsächlich heraus, daß eine US-Japanerin namens Sabina Cord in Mailand Linate angekommen ist. Und zwar gestern morgen schon. Gestern spätabends flog sie mit der letzten Swiss-Air-Maschine weiter nach Jerusalem.“ „Und Jerusalem ist ja gleich rechts von Beirut“, höhnte der Alte. Urban hob den Zeigefinger. „Den Koffer“, sagte er, „vergessen Sie nicht, daß wir den Koffer kriegen müssen. Und zwar, bevor er Klatsch-bum macht.“ Der Alte lehnte sich zurück und hielt sich fest, weil der Fah rer das als äußerst kurvenstabil bekannte Auto wieder auf zwei Räder zu stellen versuchte. „Für mich hat Ihre Kombination noch ein paar tüchtige Lö cher“, kritisierte Sebastian. „Aber Sabina Cord wird sie mir schon stopfen helfen.“ „Warum jetzt erst?“ „Was sollte ich in Los Angeles machen? Sie foltern oder ver gewaltigen? Ihre Rolle wurde erst in den letzten 24 Stunden richtig transparent.“ „Jeder ist das Opfer seiner Ausbildung“, bemerkte der Alte, und Urban fragte sich, wie er das wohl meinte. 115
Genaugenommen hatte der Alte immer etwas in Reserve, das er einem vorwerfen konnte. Handelte man nach den Vorschrif ten, dann war man nicht dynamisch. Überschritt man die Vo r schriften, dann handelte man zu emotionell. Ließ man den Emotionen freien Lauf, hieß es, der Mann ist brutal. Und zeigte man sich menschlich, hieß es ganz hart ausgedrückt, der Mann ist zu weich. Sie erreichten Riem vier Minuten nach der errechneten Zeit. Der Mercedes rollte gleich zum Areal der Privatflugzeuge durch. Sie hatten vielleicht noch zweihundert Meter bis zu der zweimotorigen weißen Cessna-441 des BND. Sebastian nützte die wenigen Sekunden, um seinem Agenten noch einmal das Kreuz zu stärken. „Vergessen Sie nicht, denen in Bonn brennen langsam die Sicherungen durch.“ „Wenn ich daran denke“, sagte Urban, „daß keine Politik keiner Regierung, auch der unsrigen, den wahren Wünschen des Volkes entspricht, dann sollte man sie mal hängenlassen. Aber wer muß es dann ausbaden? Lieschen Müller und Otto Meier.“ „Bonn rechnet mit uns. Wir sind für sie die letzte Bremse.“ „Wird schon schiefgehen.“ Der Alte brachte den Dackelkopf in Schräglage. „Sie glauben, daß die Sache läuft?“ Der Mercedes bremste unmittelbar neben dem Tiefdecker. Urban nahm seine Reisetasche und stieg aus. „Ich habe schon viel seltsamere Sachen gesehen“, sagte er, „die auch irgendwie liefen.“ Mit zwei Fingern tippte er eine Art militärischen Gruß an die Stirn. Im gleichen Moment sprangen die Propellerturbinen der Cessna an.
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Tel Aviv. 19 Uhr Ortszeit. Dem Kollegen vom israelischen Geheimdienst MOSSAD muß te Urban erst mühsam den Unterschied zwischen kleinen Bu ben und kleinen Mädchen klarmachen. „Nein, sie ist keine Japanerin, sondern Amerikanerin“, sagte er. „Sie sieht aber aus wie eine Japanerin.“ „Richtig.“ „Eben behaupteten Sie, sie sei Amerikanerin.“ „Rasse und Staatsangehörigkeit sind doch zwei verschiedene Dinge, oder?“ Der MOSSAD-Beamte schielte Urban an. „Müde?“ fragte er provozierend. Urban winkte ab. „Nach sechs Stunden Flug mit Zwischenlandung auf dem to tal vernebelten Flugplatz von Izmir fühle ich mich frisch wie nach einem Champagnerbad. Ob Sie es glauben oder nicht, mein Freund.“ „Ich glaub’s ja“, sagte der Kollege, „wie ich weiß, daß Sie ein hervorragender Schachspieler sind.“ Also glaubte er ihm kein Wort, denn als Schachspieler war Urban nicht sonderlich gefürchtet. Urban sagte dem mißtrauischen vorsichtigen Israeli in Lod, was er sagen durfte. „Und wo ist Miß Sabina Cord jetzt?“ „Sie verließ in der Tat hier das Flugzeug und hatte ein ord nungsgemäßes Visum für unser Land.“ „Sie macht doch ganz gewiß keine Besichtigungstour zu den heiligen Stätten der Christenheit.“ „Woraus schließen Sie das?“ „Ich kenne die Dame.“ „Sie haben also Beziehungen zu ihr.“ „Ja, wie ein Jäger zu einem ganz besonders ausgekochten Wild.“ 117
Dies endlich machte den drahtigen Israeli nachdenklich. „Wir wollen natürlich keinen Ärger.“ „Mit der bekommen Sie aber fix welchen.“ Der Israeli grinste. „Nicht mehr.“ „Wie darf ich das verstehen? – Etwa weil ich jetzt hier bin?“ „Nein. Weil wir die Dame natürlich auf Grund Ihres Hinwei ses pausenlos beschatteten.“ „Die schüttelt doch jeden Observanten ab, die hat das doch von der Pike auf gelernt.“ „So war es in der Tat.“ Urbans Stimmung rutschte wieder in den Keller. „Man hat sie also aus den Augen verloren.“ Das Gesicht des Israeli verdüsterte sich, ehe es sich wieder aufhellte. „Verloren und gefunden. Als sie die Grenze zum Libanon in einem Mietwagen überquerte, da hatten wir sie wieder.“ „Beirut?“ fragte Urban und konnte es noch immer nicht glau ben, daß seine Kombination so folgerichtig sein sollte. Sollten die Japaner tatsächlich derart konsequent sein und die Bombe dort hochgehen lassen, wo Schumacher monatelang gelebt hatte? Nein, das war gewiß nicht der Grund. Genaugenommen bot sich dieses dichtbesiedelte, politisch labile Gebiet stark an. Es war eine Ecke der Welt, die alle Großmächte immerzu im Auge hatten, und wo ein Funke ge nügt, um Kriege auszulösen. Ausgerechnet im Libanon, dachte Urban. An der Grenze nach Syrien, an der Grenze nach Israel, wo sich die USA und die UdSSR eifersüchtig beobachteten, jeder um seinen Einfluß bangend. „Was mißfällt Ihnen?“ fragte der Israeli. „Beirut ist eine zerstörte Stadt. Wie soll ich sie da kriegen? Das ist dasselbe, als hätte 1945 in Berlin ein Flüchtling aus Ostpreußen einen Flüchtling aus dem Balkan zu treffen ve r sucht.“ „Wir beschatten Miß Cord weiter.“ 118
Urban schaute sich um. Die Nacht sank herein. „Beschaffen Sie mir eine Starterlaubnis nach Beirut.“ „Nichts lieber als das“, sagte der israelische Kollege, der Ur ban so rasch wie möglich loshaben wollte, „aber mit der Lan degenehmigung wird es hapern.“ * Beirut 22 Uhr 30 Rasch waren sie auf dreitausend Feet Höhe gestiegen. Sie flo gen in Richtung Nordost. Die Nadeln der Tankanzeige zitterten um halb. Urban deutete darauf. „Halbvoll.“ „Halbleer“, sagte sein Copilot. Es war dasselbe und doch eine ganz andere Weltanschauung. Der Copilot hatte die Karte auf den Knien. Der grüne Kurs strich, mit Wachskreide eingezeichnet, lief genau auf Beirut International Airport zu. Manchmal lächelte Urbans Copilot und deutete nach unten. Die Küste, das Meer, die Lichtpunkte der Städte kamen und verschwammen. Schon Haifa. Rechts sah man durch die Plexiglasscheiben die stark befahrene Autobahn. Am Horizont türmten sich Rauchwolken. Die großen Raffi nerien spuckten Dreck und Schwefel aus. Urban steckte sich eine MC an. Sein Copilot lehnte ab. Statt dessen schob er die Kopfhörer ein Stück zurück und fragte: „Ob wir da runterkommen?“ Urban sagte lieber nichts. Der Copilot legte die Hand ans Ohr, um ihn besser zu verstehen. Aber Urban hatte gar nichts gesagt. Zwanzig Minuten später landeten sie auf dem total verdun kelten Platz. Der Tower hatte nicht eine einzige Funzel für sie 119
angesteckt. Aber sie hatten den Mond, und der ließ die Beton pisten schimmern wi e graue Samtbänder. Sie rollten gar nicht erst zur Flugleitung, sondern sofort an den Südzaun zur Straße. Auf dem riesigen Flugplatz würde man die Cessna nicht so schnell finden. Wer machte sich schon die Mühe bei der totalen Desorganisation in diesem schwer geschädigten Land? Sie stellten ab, stiegen aus und überkletterten den Zaun an einer Stelle, wo die Pfosten von Granaten getroffen umgefallen waren. Tatsächlich brachten sie ein Taxi zum Halten. In der Stadt gelang es Urban sogar, Telefonkontakt mit einem der MOSSAD-Leute aufzunehmen. Das Taxi wartete. Aber nur wegen der guten D-Mark, die sie dem Fahrer pausenlos nachschoben. Und bald standen sie vor dem alten, halb zerschossenen Haus im Moslemviertel. Urbans Copilot lächelte. Auf dem Boden schien er sich im Moment wohler zu fühlen, auch wenn es ein höchst unsicheres Stück Erde war. „Hier knallt dir wenigstens kein Jumbo vor den Bauch“, sagte er, „wenn du in verbotener Höhe eine Luftstraße kreuzt.“ „Vielleicht begegnet uns was anderes“, sagte Urban. „Du bleibst hier. Ich gehe rein.“ „Warum soll ich warten?“ „Damenbesuch“, deutete Bob Urban grinsend an. Südlich der Acgrafieh-Straße, auf der anderen Seite des Häu serblocks, wurde geschossen. Sie schossen jede Nacht. Es war immer noch lebensgefähr lich, die Grenze zwischen den Christlichen Sektoren und denen der Moslems zu überqueren. – Der Waffenstillstand bedeutete so gut wie nichts. Er stand nur auf dem Papier. Aber viel heißer konnte es nicht mehr werden. Deshalb ging Urban jetzt hinein. Die Tür war kaputt und nicht schließbar. Als er sie öffnete, raschelte ein Perlonvorhang. Wenn sie nicht sehr laut waren, oder wenn sie nicht Radio hörten, mußten sie es drinnen be merkt haben. Dann wurde das Haus zur Falle. 120
Aber er hatte keine andere Wahl. So leise, als müsse er ein bereits erzeugtes Geräusch wieder gutmachen, trat er ein und schlich durch den dunklen Gang bis zu dem gelblichen Lichtschimmer, der unter einer Tür ein schräges Viereck bildete. Es stank nach Stearinkerzen und nach Hammelfett… und nach Parfüm. Plötzlich flammte hinter Urban Licht auf. Ein Mann stand da, untersetzt, stabil, mit einem dickläufigen Gewehr in der Hand. Wer sagt’s denn, schoß es Urban durch die Ganglienzellen, ein Gelber, ein Japs. Und diesmal zeigten sie sogar ihr Gesicht. Freundlich lächelnd drückte ihm der Japaner die doppelläufi ge Schrotflinte ins Kreuz. Aber er machte einen Fehler. Er rückte zu dicht auf. Das wurde einem schon in der Grundschule für Gegnerbe handlung eingebleut, daß man nie auf Tuchfühlung gehen durf te. Denn einem flinken Mann war es immer möglich, den Lauf einer Waffe schneller aus der Schußrichtung zu bringen, als man den Finger am Abzug hatte. Urban reagierte blitzartig, denn jetzt ging es ums Leben. Er drehte sich halb herum, bot dem Gegner die Schmalseite, pack te gleichzeitig den Lauf und stieß dem Japaner den Kolben in den Magen. Dann stieß er noch einmal voll nach und schwang ihm den Kolben gegen den Schädel, daß er auf die Knie ging. Das Poltern alarmierte natürlich die Leute im Zimmer. Die Tür wurde aufgerissen. Damit hatte sich die Zahl der Gegner verdreifacht. Urban stand zwei Männern und einer Frau gegenüber. Noch schoß er nicht. Die Entfernung war nicht optimal für eine Schrotladung. Schrotschüsse streuten etwa fünf Quadratzenti meter pro Meter Entfernung. Der ganz vorne zog eine Pistole. Urban schlug zu. Der Mann taumelte gegen die Wand und rutschte zu Boden. Der zweite hatte ein Messer. Urban grinste mit gebleckten Zähnen. 121
„Ich spicke jeden von euch mit Blei wie einen mageren Hammel mit Speckstreifen.“ Der Japaner zögerte anzugreifen. Doch das Mädchen, dieses niedliche Biest Sabina Cord, deren Schlitzaugen ihn immer so irritiert hatten, warf ihm einen 38er Colt zu. Aber der Japaner erwischte ihn nicht. „Los, leg ihn um, der Mann ist ein Tier“, schrie Sabina. „Wie denn?“ fragte der Japaner. Da richtete sich der am Boden stöhnend auf. Urban trat ihn mit dem Fuß wieder in die Ecke. Plötzlich hatte FBI-Agentin Sabina Cord eine winzige Pistole in der Hand. Eine Astra, mit Laufverlängerung. So ein Ding, das kaum 400 Gramm wog. Urbans Lage wurde jetzt kritisch. Und zu alledem kam noch hinzu, daß der Mann hinter ihm in der Diele wieder lebendig wurde. Urban kreiselte herum, erwischte ihn noch einmal mit dem Kolben. In diesem Moment bellte die kleine 22er-Astra los. Heiß zischte die Kugel an Urban vorbei. Und dann löste sich, ohne daß er es gewollt hatte, ein Schuß aus der Schrotflinte. Der untere Rand der Schrotwolke erwischte den Japaner im Genick. Er schrie auf und blutete sofort. Sabina ließ die Astra sinken. „Los, fessele ihn?“ befahl Urban. „Ich habe noch einen Schuß. Mit dem würde deine Schönheit für alle Zeiten zu einer Hexenlarve.“ „Was“, fragte sie tonlos, „was brachte dich bloß auf die Idee…“ „…hierherzukommen, meinst du.“ Sie nickte immer noch verblüfft. Er sagte es ihr. „Unser Gespräch damals in Los Angeles, von der City zum Airport, ich habe es festgehalten. Ich wußte, daß daran etwas nicht stimmt. Und nachdem ich es hundertmal durchgegangen war, wußte ich, woran es lag. Es war das Wort Koffer.“ 122
„Koffer“, murmelte sie. „Nur El Chico wußte von dem Koffer“, fuhr Urban fort, „und seine Auftraggeber. Aber El Chico war tot, als ihr ihn fandet. Woher also konnte dir die Existenz des Koffers bekannt sein? Doch nur von den Drahtziehern dieser ganzen bösen Geschich te. Also gehörtest du zu ihnen. Du warst von ihnen in das FBI eingeschleust worden, oder bestochen, oder was weiß ich. Und deshalb folgte ich dir. Okay, Baby, jetzt bring mich hin.“ „Wohin?“ „Zu dem Koffer, Baby“, sagte er ganz ruhig und ganz cool. Er wartete, bis sie ihre Komplicen gefesselt hatte. Dann ließ er die drei Japaner von Sabina in einen Abstellraum schleppen, den er höchst persönlich absperrte und den Schlüssel einsteck te. Dann ging er mit ihr hinaus. Urban blieb zwei Schritte hinter ihr. Draußen wartete noch das Taxi. Aber sein Copilot lag am Boden und rührte sich nicht. – Den hatte wohl der Japaner mit der Schrotflinte als ersten ausgepunktet. – Er atmete aber noch. Der Taxifahrer und das Mädchen hoben den Piloten ins Taxi. „Bring ihn ins Hospital“, sagte Urban zu dem Fahrer, „aber erst zu der Adresse, die dir diese Lady da nennt.“ „Wohin?“ fragte sie, als könne sie nicht bis drei zählen. „Du weißt schon.“ „Ich weiß gar nichts.“ Daraufhin vergaß er seine Erziehung und seine Ausbildung. „Eine Schrotladung“, sagte er, „auf Distanz abgeschossen, wirkt schmerzhaft und zerstört die Epidermis eines Menschen ziemlich irreparabel. Aber eine Schrotladung mit aufgesetztem Lauf abgefeuert, Gnädigste, das ist die Hölle.“ Eine Sekunde lang sah es aus, als kämpfe sie mit einem Pro blem. Urban bezweifelte jedoch, daß eine Frau wie Sabina Cord jemals ein echtes Problem haben konnte. „Ibn Sina Street“, sagte sie tonlos. Verdammt, dachte Urban, das ist ja das Hotelviertel. 123
Hotel Phoenicia 17. März. Nach Mitternacht. Das ehemals schönste Hotel Beiruts war nur noch eine ausge brannte verkohlte Ruine. Sie nahmen den halbverschütteten Lieferanteneingang und kletterten auf den Nottreppen abwärts über Schutt und Unrat bis zum Basement. Sabina ging vor Urban her, immer im Kegel seiner Lampe bleibend. Sie kannte sich aus, als habe sie hier persönlich das Ding geparkt. Als Urban Gefahr lief, sie im aufwirbelnden Betonstaub zu verlieren, setzte er mit einem Hechtsprung über ein Autowrack und packte sie am Arm. „Immer schön langsam, mein safranhäutiges Baby.“ Gleichzeitig riß er seinen zu fest gestrickten Schlips aus dem Kragen, knotete ihn um ihren Oberarm und wickelte das andere Ende zweimal um seine Faust. Aber sie gab nicht auf. Wenig später versuchte sie einen Bluff. Sie tat so, als habe sie sich in den hundert Gängen, Nebengängen und Räumen unter dem Phoenicia verlaufen. Urban drückte ihr den Lauf der Flinte ins Kreuz. „Mein Versprechen gilt“, sagte er. „Los, weiter, Tigerkätz chen, du findest sie schon, die Maus.“ Der Unrat, in dem die Flüchtlinge gehaust hatten, als sie sich vor dem Artilleriebeschuß in Sicherheit brachten, war meter tief, der Gestank unbeschreiblich. Ratten huschten aufgestört aus dem Lichtkegel. Sie arbeiteten sich durch verwesenden schmierigen Dreck bis zum Ende eines Korridors. Dort ging es nicht mehr weiter. Aber Urban hatte etwas gesehen. Die Agentin hatte es nicht vermeiden können, im Vorbeigehen eine mennigrote Stahltür anzuschielen. „Sorry“, sagte sie. „Verirrt. Total verirrt.“ „Sorry“, antwortete er, „entweder du erinnerst dich und führst 124
mich in drei Minuten hin, oder die Tortur des mittelalterlichen Pfählens war eine Wohltat gegen das, was dir blüht.“ Sie machte zögernd kehrt und ging wieder an der Stahlblech tür vorbei. Urban ruckte am Schlips, als reiße er ein Pferd mit dem Zü gel zurück. „Aufmachen“, befahl er. Sie stemmte sich gegen die Tür. Vergebens. Er trieb sie erneut an. Daraufhin schliff die Tür einige Grade nach links. Urban trat mit dem Stiefel dagegen. Jetzt konnte er in den Raum hineinleuchten. Wenn auch die Welt gar nicht in Ordnung war, so stimmte jetzt doch alles wieder. Mitten in dem besenrein ausgefegten Kellerabteil stand der Koffer, der alte braune Lederkoffer von den Fotos. Der Deckel war offen. Aber nichts tickte, kein Lämpchen zuckte im Rhythmus der fliehenden Sekunden. Nur die Wendel einer Glimmlampe glühte und der Zeiger ei nes Amplitudenmessers schlug zuckend wie der Puls eines Menschen. Der Koffer stand also unter Spannung. Die Bombe war ge schärft. Und daß es kein Bluff war, das könnte man riechen. Das Ding verströmte den durchdringenden Geruch, wie er auch von Atomreaktoren ausging, beißend wie ionisierte Säure. „Die Bombe haben erst deine Leute in Schumachers Koffer praktiziert“, sagte Urban. „Ziemlich brutal, sie in einem so ausgepowerten Land hochgehen zu lassen. Ziemlich…“ „Und sie wird hochgehen“, erklärte Miß Cord. „Der Versuch, sie zu entschärfen, wird den Prozeß nur beschleunigen und den Zündzeitpunkt vorverlegen. – Und euer verdammtes Deutsch land, Deutschland über alles, wird endlich den wünschenswe r ten Knick bekommen. Hoffe ich.“ „Okay“, murmelte Urban, „der Stiefel ist vergiftet, wie es in der Bühnensprache so schön heißt. Aber du bist jetzt mein Stiefelträger.“ 125
Sie lachte hektisch auf. „Wohin denn damit? Für Atombomben gibt es kein Körb chen.“ Urban leuchtete die Apparatur ab. Die Einstellknöpfe, die Meßgeräte und die blockierte Zeitschaltuhr vor dem Stahlzy linder, der die kritischen Ladungen enthielt. „Noch zehn Stunden“, las er ab. „Was nützt das? Zehn Stunden oder eine Stunde, oder eine Minute, oder eine Sekunde. Sie wird detonieren. So oder so.“ „Aber es muß ja nicht hier sein“, meinte er mühsam be herrscht. „Los, Gepäckträger, würden Sie wohl die Güte ha ben.“ Er schloß den Kofferdeckel. Was immer jetzt auch geschehen würde, er mußte es wagen. Vorsichtig, wie mit Samthandschuhen, stellte er den Koffer senkrecht. – Nichts passierte. Er hob ihn an, drehte ihn herum. – Nichts geschah. Er setzte ihn wieder ab. – Keine Reaktion. Das Ding wog geschätzt zwanzig Kilo. Urban machte eine Denkpause. Der Schweiß, den er zuerst, in den Handflächen gespürt hatte, trat ihm jetzt auch aus den Achselhöhlen und aus der Stirn. „Würdest du“, sagte er, „wohl die Güte haben, Safranbaby?“ „Ich soll den Koffer…?“ „Oder erwartest du, daß ich hier den Kavalier spiele?“ fauch te er sie an. * Beirut. 03 Uhr 15 Wahnsinn, mit dem Ding durch die Stadt zu gondeln. Der Taxi fahrer hatte keine Ahnung, was er hinten in seinem Auto trans portierte, und daß es die gefährlichste Fracht war, die jemals ein Peugeot beförderte, seitdem er diese Automobilmarke gab. 126
„Zum Flugplatz“, sagte Urban. Im Innern hatte er längst mit allem abgeschlossen. Er kannte das Zündsystem der Bombe nicht und nicht all die Schweine reien, mit denen die Hersteller dieses Hölleninstrument verse hen haben konnten. Aber vielleicht hatten sie es auch ganz unkompliziert gebaut, weil sie einfach nicht damit rechneten, daß es jemand fand, bevor es hochging. Das war seine Chance. Sie erreichten die Stelle, wo sie vor Stunden das Taxi an gehalten hatten. Urban stieg aus, ließ Miß Cord den Koffer schleppen und kletterte mit ihr über den Zaun. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Bei der BND-Cessna stand ein Soldat. Er trug Stahlhelm, gefleckte Tarnuniform, Handgranate im Cordkoppel und Mpi. Der Bursche wurde ein Problem. An der Leine hatte Urban die Japanerin, im Koffer eine Atombombe und vor sich einen Soldaten, der den Befehl hatte, das Flugzeug zu bewachen. Urban beschloß, sofort in die Vollen zu gehen. Handscheinwerfer auf. Er blendete den Soldaten direkt ins Gesicht. „Hände hoch, oder ich lege dich um!“ rief er englisch. Der junge Moslem wirkte verdattert. Er war nicht einer der Tapfersten. Urban riß den Abzug der Flinte durch und ballerte in die Luft. Einen Schuß, wie Kanonendonner. Der Soldat stand einen Moment fixiert da, dann warf er die Waffe weg und erwartete sein Ende. „Koppel aufmachen und ab durch die Mitte!“ befahl Urban. Der Soldat löste die Schnalle. Das Koppel mit den Eierhand granaten fiel zu Boden. „Worauf wartest du?“ schrie Urban. Der Soldat machte kehrt und rannte ins Dunkel hinein davon. Minuten später war der Koffer auf dem Rücksitz der Cessna verstaut. Die Japanerin hockte im Copilotensessel. Urban links. 127
Er fesselte ihre Handgelenke mit den Anschnallgurten zu sammen. Dann startete er die zwei Garret-Propellerturbinen. „Propellerautomatik nicht vergessen“, bemerkte sie spöttisch. „Danke.“ „Willst du das Zeug etwa ins Meer werfen?“ „Um es zu verseuchen. Bist du irre?“ „Oder in die Wüste?“ „Damit der Wind den radioaktiven Staub nach Norden weht. Würde euch so passen.“ Sie lachte höhnisch. „Wohin dann?“ „Wirst schon sehen.“ Was er sagte, klang zuversichtlicher als er war. Er hatte noch keine Ahnung, was er mit der Bombe tun konnte, nicht die geringste. Treibstoffdruck stand, die Turbinen hatten schnell Betriebs temperatur. Er gab Gas. Der Vogel rollte zur Piste. Urban ging, als er Beton unter dem Fahrwerk hatte, auf Startleistung. Der kaum belastete Tiefdecker nahm rasch Fahrt auf. Urban zog langsam. Fahrwerk ein, Klappen ein. Steiggeschwindigkeit neun Metersekunden. – Alles okay an Bord. Ein verlorener Scheinwerferfinger vom Tower suchte nach ihnen. Zum Lachen. Nein, es war nicht zum Lachen. Wohin jetzt, wohin mit dem verdammten Höllending? * 17. März 04 Uhr 45 Bis München reichte der Sprit nicht. Zwischenlanden mit der Bombe an Bord, war Urban zu ris kant. Selbst wenn er sie noch vor der Detonationszeit nach 128
München brachte, was wäre damit gewonnen gewesen? Ve r mutlich ging die Bombe hoch, wenn man nur den Schrauben zieher in einen der Schraubenschlitze steckte. Nein, so ging es nicht. Urban flog Nordwestkurs. Zunächst übers Meer. Er sah jetzt eine Chance. Die südliche Türkei war kaum bevölkert. Wenn jemand Ve r ständnis für die Probleme der Bundesrepublik aufbrachte, dann ein Staat, der mit Deutschland im NATO-Bündnis stand, und den außerdem alte Freundschaft mit den Deutschen verband. Urban leuchtete die Karte ab. Er dachte an das Taurusgebirge. Da gab es noch einsame Tä ler, wo nie eine Menschenseele hinkam, mit tiefen Schluchten zwischen schroffen Höhen, die die Wirkung so einer Bombe besser abschirmten als tausendmeter dicke Betonwände. Urban versuchte einen Funkspruch abzusetzen. Niemand hör te ihn. Er versuchte es immer wieder. Der verdammte Kasten blieb tot. Vielleicht hatten die Libanesen irgend etwas an der Antenne gefummelt, als sie die Kiste fanden. Also flog er weiter seinen einsamen Kurs, mit dieser un menschlichen Entscheidung ganz allein auf sich gestellt. Er steckte sich eine Zigarette an, drückte sie wieder aus. Sie schmeckte wie Schnürsenkel. Es begann zu dämmern. Die Japanerin blickte ihn an. – Ihre Augen irritierten ihn jetzt nicht mehr. „Warum“, fragte er sie, „hast du die Front gewechselt?“ „Hast du noch nie die Front gewechselt?“ erwiderte sie. „Nein.“ „Auch nicht in Gedanken?“ „Vielleicht.“ „Und ich tat es eben in der Realität. Es geht um mein Volk, um meine Nation, mein Blut.“ „Wie romantisch. Aber muß man dabei gleich zum Mörder werden?“ 129
„Du meinst diese Contessa de Lucca.“ Er nickte. „Sie war so schön“, sagte die Japanerin, „wie man Schönheit nur bei Frauen von altem Adel antrifft, in sich ruhend. Ich mußte es tun. Wir hatten sie einmal benutzt. Ganz zu Anfang. Wir strapazierten unsere Geschäftsverbindungen ein wenig. Sie lud dich nach Corvara ein. In unserem Auftrag. Und sie hätte dir alles gestanden. Ich mußte es also tun. Ich hoffte, damit sei die Spur zu uns gelöscht.“ „Das war zuviel“, sagte er. „Ein Dreher nur, aber es war zu viel.“ „Nein, es war eher zu wenig“, entgegnete sie. Sie flogen über das Meer. Etwa vierzig Minuten, dann kam die Küste in Sicht. Erst ein rauchiger Strich, bald nach oben hin zerfließend schon das ferne Gebirge. Urban flog tief, um die Radarstationen der Türken nicht zu alarmieren, nach Anatolien hinein. Rasch änderte sich das Land. Unter ihnen zog eine Mischung aus den verschiedensten Geländetypen weg. Erst Küste, ein Flußdelta, Sümpfe, später Hügel, Steppe, allmählich zu Hoch land und Gebirge aufsteigend. Über Mersin, noch vor dem Eregli-See an der Nordflanke des Taurus bog Urban wieder nach Süden ab. Dies hier war die wildeste und einsamste Zone des Gebirges. Die Tankanzeige zitterte jetzt um achtelvoll. In weniger als einer halben Stunde würden die Treibstoff pumpen den letzten Tropfen aus den Tanks gesaugt haben. Urban kurbelte die Cessna hinauf bis zu den hohen Wolken und folgte einem langgestreckten steinigen Tal ohne Vegetati on und Ansiedlungen. Am Rande des Tals kippte er die Cessna auf die Fläche und machte kehrt. Er hatte eine Schlucht entdeckt, einen Riß in der Erde, eine Spalte, furchterregend, schwarz und tief. Er fand das Loch wieder und kreiste über ihm. Er zog seine Kurven dicht an den grauen Felswänden vorbei und ließ die Cessna dabei klettern. 130
„Raus mit dem Koffer!“ befahl er endlich. „Aufschlag und aus“, prophezeite Miß Cord. „Na und?“ „Unser Ende. Die Druckwelle zerfetzt uns.“ „Wir sind nur zwei.“ „Auch wir leben gern.“ „Verdammt, wer bist du schon?“ fluchte er. Er streckte sich, griff nach hinten und zerrte den Koffer vor. Dann drückte er die Tür auf und stieß den Koffer gegen den Fahrtwind hinaus. Der Koffer kippte, rutschte über die Fläche, taumelte endlich hinab ins Bodenlose. Der Koffer traf die Schlucht vermutlich nicht genau, auch nicht an ihrer tiefsten Stelle, aber er würde ungefähr sein Ziel finden. Am liebsten hätte Urban Sabina Cord der Bombe hinterher geschmissen. Aber er behandelte sie gut. Wie ein rohes Ei. Sie war sein einziger Beweis für diese ganze böse Geschichte. Urban hatte die Stoppuhr gedrückt. Die Uhr lief. 20 Sekunden. – Nichts. – Er lag schon mit Vollgas, mit Notleistung beider Triebwerke auf Fluchtkurs, als der Stoppuhrzeiger jenen Punkt erreichte, der nach seiner Berechnung der Aufschlagzeit des Koffers entsprach. Und nichts geschah. Nichts erschütterte die Erde. Wenig später landete Bob Urban die BND-Cessna mit dem letzten Tropfen Sprit am Flugplatz der türkischen Hafenstadt Alanya. Er fühlte sich so leer wie die Tanks seines Flugzeugs.
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13. Erlangen, 17. März 12 Uhr Mitteleuropäischer Zeit Die zweite Hälfte des Tages war genau zehn Sekunden alt, da wußte man im seismologischen Zentralobservatiorium Gräfen berg bei Erlangen, daß im Umkreis von fünftausend Kilome tern ein Erdbeben stattgefunden hatte. Die zehn Seismometer, die im Jura zwischen Lichtenfels und Wernding in tiefen Erdstollen installiert waren, schickten die Daten automatisch nach Erlangen. Dort wurden die Werte mit Magnetbändern und Bildschrei bern aufgezeichnet. Das Erdbeben erreichte auf der Richterska la eine Stärke von sechs Grad. Die Herdbestimmung nannte ein Gebiet in der südlichen Türkei. Die Typenanalyse des Bebens war jedoch nicht möglich. Sie stieß auf unerwartete Schwierig keiten, weil sich zu diesem Zeitpunkt weltweit keinerlei Beben angekündigt hatten. Die Wissenschaftler des Instituts für Geophysik der Universi tät München erklärten das Auftreten dieses Bebens für absolut rätselhaft. ENDE
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