Hinrich Matthiesen
Die BarcelonaAffäre
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Hinrich Matthiesen
Die BarcelonaAffäre
scanned by unknown corrected 01/2009 Katja Engelhardt wächst wohlbehütet als einziges Kind bei ihren Eltern auf – nur eines fehlt ihr: Verständnis und Wärme. Auf einer Klassenreise durch Spanien steigt sie aus dem Bus und kommt nicht mehr zurück. Die aufgeschreckten Eltern unternehmen einen unglückseligen Versuch, die Tochter zurückzugewinnen. Per Annonce heuern sie Roland Simon an, ihre Tochter nach Hause zu bringen. Roland übernimmt den zweifelhaften Auftrag und stürzt damit das Mädchen und sich selbst in einen verhängnisvollen Konflikt. Original: (1983) Verlag: Adolf Holzgreve Erscheinungsjahr: 1990
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1 Es war November, der Monat des Regens, des Nebels und der kalten Winde. Ein norddeutscher November. Nicht mehr das Herbstgold und noch nicht das Winterweiß. Überall nur Grautöne. Roland Simon, Student der Philologie und Pädagogik im siebenten Semester, stand am Fenster. Es war erst vier Uhr am Nachmittag, und doch begann es schon zu dämmern. Eigentlich ganz gut, dachte er; das Dunkel kommt schnell, und dann ist das Bild erst mal weg, dieser deprimierende Hinterhof aus Zement, Zinkblech, Glas und Schatten. Er trat zurück, setzte sich an seinen Schreibtisch, dessen Platte kaum größer war als ein Schachbrett und an dem er nun schon drei Jahre lang seine Semesterarbeiten verfaßt und, was in letzter Zeit nicht mehr so häufig vorgekommen war, seine Briefe geschrieben hatte. Er zog ein Blatt Papier aus der Schublade, legte es vor sich hin, nahm einen Kugelschreiber zur Hand. Es waren nur zwei Worte, die er immer wieder aufs Papier brachte, mal groß, mal klein, mal in Druckbuchstaben, mal in den alten deutschen Schriftzeichen; zwei englische Worte. Es war eine Spielerei, aber eine mit ernstem Hintergrund. Wie ein Schauspieler, der seine Rolle lernt und dabei eine besonders schwierige Passage immer wieder vor sich hinspricht, so schrieb Roland Simon die zwei Worte ein dutzendmal auf den weißen Bogen. Sie kennzeichneten seine Lage, seine Rolle, seinen Status als Student der achtziger Jahre: no future. Er zerknüllte das Blatt, warf es in den Papierkorb, dachte: Auf englisch klingt es zwar weicher, aber deshalb nicht weniger erschreckend als im 2
Deutschen. Und es ist doch so, ich habe keine Zukunft! Schon vor einem Jahr hatte einer seiner Professoren ihm und den sechzig oder siebzig anderen Zuhörern in einer Linguistik-Vorlesung gesagt: »Ich komme mir vor wie ein Roßtäuscher, der Ihnen einen lahmen Gaul aufschwatzen will. Ich preise Ihnen meine Sache an und weiß doch ganz genau, daß Sie in praktischer Hinsicht mit ihr nichts anfangen können.« Und so war es ja auch. Tausende hatten ihr Studium begonnen in der Überzeugung, die Lehrer von morgen sein zu können, aber dann stellte sich heraus, daß es in diesem Beruf für die meisten von ihnen keinen Platz geben würde. Das nahm ihnen nicht nur die Lust und den Eifer, es führte sie auch zu der bitteren Erkenntnis, kostbare Jahre ihres Lebens an ein nutzloses Objekt vergeben zu haben. Und nun hieß es sogar noch, den sozial Schwachen, zu denen auch er gehörte, würde der Staat zwar weiterhin die Gelder für das nutzlose Studium zur Verfügung stellen, aber nur noch in Form eines Darlehens. Derselbe Professor, der sich als Roßtäuscher vorgekommen war, hatte diese Neuerung mit den Worten kommentiert: »Wenn’s dazu kommt, dann ist es so, als nähmen Sie eine Hypothek auf eine Ruine, die Sie weder abreißen noch renovieren, weder verkaufen noch bewohnen dürfen.« No future! dachte Roland Simon. Er blickte an den Büchern entlang, die auf zwei meterlangen Borden standen. Einige trugen den Stempel der öffentlichen Bücherei, andere waren privat entliehen. Von den restlichen dreißig Bänden gehörte etwa die Hälfte Hannes Vogt, dem Freund und Wohngefährten, die andere ihm selbst, das heißt, auch sie nur zum Teil, denn vier der sehr teuren Fachbücher hatte er noch nicht bezahlt. Der Buchhändler wartete schon seit einem halben Jahr auf sein Geld, aber er war ein geduldiger Mann und hatte offenbar 3
ein Herz für Studenten. Man erzählte sich, er habe noch nie einen von ihnen gemahnt. Der Buchhändler war nicht der einzige, der von ihm noch Geld zu bekommen hatte. Seinem Freund schuldete er zweihundert Mark, dem Bäcker sechzig, dem Schlachter fünfzig, und mit der Miete waren Hannes und er zwei Monate im Rückstand. Die monatlichen sechshundertdreißig Mark Bafög reichten einfach nicht aus, und wegen der allgemeinen wirtschaftlichen Flaute waren die Möglichkeiten, sich etwas zu verdienen, gering. Es gab kaum noch Jobs, und die wenigen, die in den Zeitungsinseraten angeboten wurden, waren, wenn man sich meldete, meistens schon vergeben. Er stand auf, ging in die Küche, öffnete den Eisschrank, der außer einem Glas Gewürzgurken nichts enthielt als eine angebrochene Tüte Milch. Die nahm er heraus, trank im Stehen. Als er ins Zimmer zurückgekehrt war und sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, hörte er Schritte vom Treppenhaus her und gleich darauf die Tür zuschlagen. »Hallo!« Hannes Vogt war eingetreten, setzte sich aufs Bett. Er hatte eine Zeitung mitgebracht, legte sie nicht weg, sondern drehte daraus ein Rohr, das er gleich darauf mit beiden Händen umschloß, vor das linke Auge hielt und auf Roland Simon richtete. Dabei sagte er: »Du bist doch eigentlich ein gutaussehender junger Mann, nicht wahr?« Roland antwortete nur: »Laß die Späße! Du solltest mich mal von innen sehen! Wenn meine Mutter nicht wär’, würde ich vielleicht irgendwann anfangen zu klauen. So allmählich ist mir nämlich alles egal.« Hannes Vogt sah noch immer durch das Rohr aus Zeitungspapier. »Wirklich«, sagte er, »was ich da im Blickfeld habe, ist recht proper. Einsvierundachtzig groß, 4
schlank, sportlich. Appetitliche Lippen mit einem leicht melancholischen Schwung. Graublaue Augen voller Wissen und Weltschmerz. Nervige Hände. Und wenn du deine zerschlissene Jeansjacke gegen einen dunkelblauen Blazer aus irgendwas ganz Edlem eintauschen wurdest, wäre es ein ergreifender Anblick. Fast zu schön, um ihn ertragen zu können.« »Ich dachte, wir haben keinen Pfennig mehr. Welcher Trottel von Wirt hat dich also auf Kredit vollgetankt?« »Und Spanisch sprichst du auch noch! Du bist vierundzwanzig Jahre alt und ledig. Und Student, also jemand, bei dem man ein bißchen Zivilisation voraussetzen kann. Und erst dein Haar! Voll, seidig, dunkel und nicht so unordentlich lang wie bei den ÖkoTypen. Dazu das Timbre deiner Stimme, das jedem Teeny die Knie auseinanderbiegt, von älteren Jahrgängen ganz zu schweigen! Und in deiner Kasse …« »An dir hat man wohl ein neues Hormonpräparat ausprobiert, und das hat eine falsche Wirkung!« »Roland, ich hab’ einen Job für dich!« Hannes Vogt nahm das papierne Rohr vom Auge, schwang es hin und her. »Einen Job, wie er im Buche steht; das heißt, er steht in der Zeitung. In dieser!« »Und wieso ich? Warum nimmst du ihn nicht, wenn er so verlockend ist?« »Ich bin nicht gefragt. Sie wollen keinen Gnom aus dem Zirkus, sondern einen stattlichen jungen Mann. Sieh mich doch an: einsachtundsechzig, leicht aufgeschwemmt, Segelohren, Brille, rostbraunes Haar, alles zwar um einen guten Kern, aber der ist ja leider nicht zu sehen. Außerdem kann ich kein Spanisch.« Roland Simon wollte nach der Zeitung greifen, aber der Freund überließ sie ihm noch nicht, schlug statt dessen die Seite mit den Annoncen auf und las vor: »›Welcher 5
gutaussehende junge Mann, möglichst Student, ist bereit, unter Einsatz seiner ganzen Person unsere vom Weg abgekommene Tochter, neunzehn Jahre alt, Abiturientin, zu uns zurückzubringen? Spanischkenntnisse erwünscht. Sehr gute Bezahlung.‹ Na, wie klingt das?« »Ziemlich abgefeimt und skrupellos.« »Wieso?« »Die wollen ihr Kind sozusagen zurückkaufen. Widerlich find’ ich das.« »Du siehst das zu problematisch. Nimm’s doch als ’ne Ferienofferte mit eingebauter Lustklausel, und obendrein machst du noch einen guten Schnitt. Bestimmt geht es nach Spanien. Oder vielleicht sogar nach Südamerika.« »Und wenn mich da ein Monster erwartet mit einer Zehnteltonne Lebendgewicht, Haarausfall und schiefen Zähnen? Was ist dann mit deiner Lustklausel?« »Na ja, wenn das verirrte Kind wirklich nicht von Schönheit ist, betrachtest du die Sache als Job. Wir haben schon Kisten geschleppt, Fische ausgenommen, Adressen geschrieben, Zeitschriften verhökert, warum solltest du nicht mal eine pädagogische Aufgabe übernehmen! Willst doch Lehrer werden. Es fällt also in dein künftiges Metier.« »Zeig mal her!« Roland Simon fing die Zeitung auf, die Hannes Vogt ihm zugeworfen hatte. Er las die Anzeige, faltete das Blatt zusammen und steckte es in den Papierkorb. »Wirklich, das ist nichts für mich. Hier wird Schlitzohrigkeit verlangt, und damit kann ich nicht dienen. Ich verstehe nicht, daß Eltern auf einen solchen Weg verfallen, auf einen Handel mit Gefühlen. Das grenzt ja an Kuppelei und Prostitution.« »Man kann’s auch anders sehen. Vielleicht ist sie das einzige Kind dieser Eltern, ist achtzehn Jahre lang von ihnen geliebt, behütet und umsorgt worden, und in ihrem 6
neunzehnten Jahr flippt sie aus, kommt an Drogen oder an Alkohol, an den falschen Mann oder an eine dieser obskuren Sekten, und nun stehen die beiden Alten da mit leeren Händen. Bestimmt haben sie schon alles mögliche versucht, um sie zurückzugewinnen, und es hat nichts genützt. So hatten sie plötzlich die Idee: Vielleicht gelingt es einem sympathischen jungen Mann, sie da herauszulocken! Und sie sagen sich: Egal, was draus wird, Hauptsache, er holt sie erst mal aus dem Milieu, und sie kommt zur Besinnung; alles Weitere wird sich schon finden. Vielleicht ist sogar einkalkuliert, daß der Knabe sich nach einer Weile davonmacht und sie dann mit gebrochenem Herzen in den Schoß der Familie zurückfallt.« »Und du glaubst, mit einer solchen Rückkehr könnten die Eltern sich zufriedengeben?« »Na klar. Die sagen sich erst mal: Kommt Zeit, kommt Rat.« »Ich bin nicht der richtige Mann dafür. Sie sollten einen stellungslosen Schauspieler engagieren. Von denen laufen doch bestimmt Hunderte herum.« »Mensch, Roland, sieh es doch mal als eine Chance an, als deine Chance! Du wärest mit einem Schlage alle Schulden los, könntest eine Weile auf Spesen leben und hast am Ende noch einen schönen Batzen Geld übrig. Da steht: ›Sehr gute Bezahlung‹. Wenn du ihnen gefällst, könntest du deinen Preis vielleicht sogar selbst bestimmen. Sagst einfach: fünftausend! Weil du, wenn du die Sache übernimmst, ein paar andere lukrative Projekte aufstecken mußt. Mal dir das mal aus: Vielleicht sind es Millionäre, und du kannst dich einen oder zwei Monate lang in deren Verhältnissen tummeln! Du kannst es aber auch so betrachten: Ob wir je in einer Schulklasse landen, ist äußerst fraglich. Hier hast du die Gelegenheit, wenigstens 7
einen einzelnen Menschen zu erziehen. Was machen denn die Schulmeister und Pastoren anderes, als gegen Entgelt die Heranwachsenden unter ihren Einfluß zu nehmen? Okay, sie bringen ihnen auch Mathematik bei oder die Zehn Gebote, aber nebenher oder drumherum sagen sie ihnen doch auch, wo’s langgeht.« Roland Simon beugte sich hinunter, fischte die Zeitung aus dem Papierkorb, schlug sie erneut auf. »Eine Chiffre«, sagte er. »Also schreibst du an diese Chiffre, zählst deine Qualitäten auf und schlägst ein Treffen vor. Oder noch besser, ich schreibe den Brief, denn du stellst dein Licht ja doch nur unter den Scheffel. Also, setz dich hin und lies den Rest der Zeitung, und ich entwerfe inzwischen deine Antwort.« Sie machten es dann aber doch anders, formulierten jeder einen Text, verglichen die beiden Fassungen miteinander und schufen aus ihnen eine dritte. Als sie fertig waren, nahm Hannes Vogt das Blatt zur Hand und las dem Freund, so als habe er ihm etwas ganz Neues, ganz Überraschendes zu verkünden, laut und emphatisch vor: »Sehr geehrter Inserent! Ich beziehe mich auf Ihre heutige Zeitungsannonce und möchte mich für den von Ihnen genannten Auftrag zur Verfügung stellen. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt, Student der Germanistik und der Romanistik an der Universität Hamburg, ledig. Damit Sie sich ein Bild von meiner äußeren Erscheinung machen können, füge ich ein Foto bei. Wie Sie gewiß lange gezögert haben, ehe Sie sich zu diesem außergewöhnlichen Weg entschlossen, so habe auch ich mir meine Entscheidung nicht leicht gemacht. Meine endgültige Zusage ist allerdings vom Ergebnis 8
eines ausführlichen Gespräches mit Ihnen abhängig. Ich bin bereit, Sie aufzusuchen, bitte aber für den Fall, daß eine größere Anreise vonnöten ist, um Erstattung der Fahrkosten. Natürlich könnten wir uns auch bei mir treffen, aber anders wäre es mir lieber. Ich müßte ja ohnehin vor Antritt meines Dienstes den häuslichen Rahmen des jungen Mädchens kennenlernen. Mit freundlichen Grüßen etc. etc.« Hannes Vogt legte das Blatt aus der Hand, zog die alte Schreibmaschine, die ihnen gemeinsam gehörte, unter Rolands Bett hervor, stellte sie auf den Tisch, spannte einen Bogen ein und sagte: »Ich tippe das eben mal ins reine, und du kaufst an der Ecke einen gefütterten Umschlag und besorgst eine Briefmarke. Such doch auch schon mal ein Foto von dir heraus. Dann geht’s ab zum nächsten Briefkasten! Ich schätze, in drei Tagen haben wir eine Antwort, und dann heißt es für dich: Die tristen Tage in Marienthal sind nun zu Ende … Bestimmt geht’s auf südlichen Kurs. Nach Granada vielleicht oder Sevilla, auf die Kanarischen Inseln oder gar nach Montevideo. Sag mal, brauchst du bei deinem heiklen Job nicht einen Sekretär? Ich meine, so eine Art Butler? Vielleicht lassen die sich drauf ein, daß zwei fahren!« »Schön wär's, aber es kann genausogut sein, daß die Reise bloß nach Pinneberg geht. Vielleicht hat die Kleine einfach nur ein Faible für Cervantes oder Lope de Vega im Originaltext, so daß die Eltern meinen, sie sei über diesen Leisten leichter einzufangen. Warten wir’s ab.«
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2 Es dauerte nicht, wie Hannes Vogt prophezeit hatte, drei Tage, bis die Antwort kam, sondern schon vierundzwanzig Stunden später klingelte der Telegrammbote an ihrer Tür. Hannes nahm das kleine Couvert entgegen, schwenkte es, als er wieder ins Zimmer trat, hin und her und sagte: »Das kann nur von unserem neuen Boß sein, oder gibt es bei dir noch andere Leute, die so klotzig korrespondieren?« Er las vor: »Herrn Roland Simon!« Und fuhr fort: »Allein das Wörtchen ›Herr‹ kostet drei Zigaretten. Man hätte es leicht einsparen können. Unser Boß tat das nicht!« Roland Simon nahm das Telegramm, öffnete es, überflog es, und dann sagte er: »Hör zu! ›Sehr geehrter Herr Simon – ich danke Ihnen für Ihren freundlichen Brief vom 28. November. Meine Frau und ich würden uns freuen, Sie am morgigen Sonntag hier in Kiel in unserem Haus begrüßen zu dürfen. Bitte, rufen Sie mich gleich nach Erhalt des Telegramms an, privat oder in meinem Institut, damit wir das Treffen arrangieren können. Mit freundlichem Gruß – Dr. Rudolf Engelhardt‹. Darunter stehen noch die zwei Telefon-Nummern.« Er schob die Nachricht über den Tisch. Hannes Vogt begann sofort, den Text zu analysieren: »Erstens, der Job ist dir so gut wie sicher, denn wenn da noch mehr Kandidaten im Rennen lägen, hätte er sich zurückhaltender ausgedrückt. Zweitens, er hat es eilig. Drittens, die soziologischen Kriterien sind ermutigend, und zwar a), was dein Honorar angeht, und b), was das entflogene Täubchen betrifft, denn ein Medizinmann wird 10
es ja wohl zu verhindern wissen, daß seine Tochter zu einer Zehnteltonne Lebendgewicht aufläuft, unter Haarausfall leidet und schiefe Zähne bekommt. Von der ästhetischen, also der Lustklausel her gesehen hätte ich nun keine Bedenken mehr. Mag sein, daß die Kleine sich aus Protest gegen ihr Elternhaus ein bißchen vernachlässigt hat, so was kennt man ja, aber das wird, von der Basis her, reparabel sein. Mensch, Roland, ich wittere Morgenluft und warmen Regen und südliche Sonne und alle Köstlichkeiten dieser Welt! Außerdem hab’ ich den Namen Engelhardt schon mal gehört. In Kiel, glaube ich, ist das eine Top-Adresse.« Roland Simon wiegte den Kopf. »Das macht die Sache schwierig«, antwortete er. »Was hab’ ich bei solchen Leuten schon groß zu bestellen, ich, der uneheliche Sohn einer tapferen, aber armen Sekretärin und eines versoffenen Matrosen!« »Verdammt noch mal, du bist ja da nicht gleich als Schwiegersohn verplant, sondern sollst nur die vom Weg abgekommene Tochter sozusagen herumreißen! Die aber hat sich von ihrem hochgestochenen Elternhaus distanziert, und das kann dir doch nur nützlich sein. Vielleicht hat sie grad ihre soziale Phase; dann wären ›unehelich‹, ›arm‹ und ›versoffen‹ genau die richtigen Attribute. Außerdem zählt ja noch, was du selbst darstellst. Du hattest schon mit vierzehn begriffen, worauf es ankommt, und dann bist du deinen Weg gegangen, hast dein Abitur gemacht und dein Studium angefangen. Okay, es erweist sich jetzt als ein ziemlich beschissener Weg, aber das geht schließlich nicht auf dein Konto, und wie ich dich kenne, wirst du dich auch nach dem Examen durchboxen. Du kannst drei Fremdsprachen, schreibst Gedichte, und alle Mädchen sind verrückt nach dir. Nimm dagegen mich! Mein Vater ist Lehrer, und meine Mutter 11
war, bevor sie heiratete, Bibliothekarin, und alle meine Vorfahren waren, was man ehrenwerte Leute nennt. Da gab es, wenn meine Eltern mich richtig informiert haben, nirgendwo verkorkste Familienverhältnisse. Und trotzdem: Wenn wir beide zusammen auf den Prüfstand gehen, kippe ich mit Pauken und Trompeten hintenüber. Mensch, Roland, wieso muß ich dir dauernd klarmachen, was du wert bist?« Dieser fast zornige Ausbruch des Freundes gab den Ausschlag. Roland Simon steckte das Telegramm ein und ging zur nächsten Telefonzelle. Als er nach einer Viertelstunde zurückkam, hatte Hannes Vogt den Tisch gedeckt: Brot, Butter, Wurst, Käse, Marmelade. Sogar eine Flasche Wein stand zwischen den Tellern, und neben ihr brannte eine Kerze. Roland Simon sah auf das üppige Mahl und sagte: »Unser Eisschrank war leer, und die Läden haben schon geschlossen. Wie bist du an die Sachen gekommen?« »Die hab’ ich von der Frau unseres Hauswirts.« »Das hast du gewagt? Dabei schleichen wir uns seit Wochen auf Zehenspitzen an deren Haustür vorbei! Als wir das letzte Mal mit ihrem Mann gesprochen haben, hat er geknurrt, wenn nun nicht bald die Miete überkäme, würde er unsere Möbel auf die Straße stellen.« »Ich hab’ die big Knete angekündigt, und dieses Zeug hier hat sie mir für einen Zehner überlassen.« »Aber du hattest doch keinen!« »Sie hat einstweilen unser Mietkonto damit belastet.« »So, so.« »Ja. Ich hab’ gesagt, in einer Woche sind wir wieder liquide; hab’ ihr erzählt, wir hätten einen Traumjob erwischt. Sie war natürlich neugierig, aber ich hab’s spannend gemacht und erklärt, wir hätten morgen die entscheidenden Verhandlungen und bekämen dann auch 12
einen beachtlichen Vorschuß. Wie lief es denn bei den Engelhardts?« »Du immer mit deinem Tempo! Was, wenn ich eine Absage bekommen hätte?« »Dann würde dieses lukullische Mahl uns erst mal trösten. Aber du hast keine Absage bekommen, das sehe ich dir an. Nun erzähl schon! Was für einen Eindruck hast du!« »Einen guten.« »Hast du starke Konkurrenz?« »Er hat ungefähr zwanzig Zuschriften bekommen. Ist doch erstaunlich, wie viele Leute zu einem solchen Handel bereit sind.« »No future.« »Ja, das ist’s wohl. Aber ich glaube, da gibt es niemanden mehr, der mir gefährlich werden könnte. Nach dem Foto zu urteilen, sagt er, bin ich genau der richtige Typ.« »Siehst du? Mensch, Junge, einer von zwanzig! Das sind fünf Prozent! Du bist die Elite. Ich hab’s schon immer gesagt, letzten Endes spielt der gute oder der miese Stall doch nicht die Rolle, die ihm immer zugesprochen wird, sondern es kommt auf den einzelnen an. Meine Großmutter zum Beispiel hat einen ausgesprochenen Standestick, aber wenn du mal in ihrer ganz privaten Kiste rumwühlst, stößt du auf das totale Mittelmaß, angefangen bei der Mittleren Reife, die sie allerdings knapp verfehlte. Aber sie hat ein Abonnement im Stadttheater und besitzt viereinhalb laufende Meter Klassiker. Von ihrem verstorbenen Gatten, der Oberzollrat oder so was Ähnliches war. Ich hab’ nichts gegen Zöllner und Klassiker, ich hab’ nicht mal was gegen das Mittelmaß, aber die Synthese aus Dünkel und Dummheit kotzt mich an. So, nun aber los! Setz dich endlich hin und iß was und 13
erzähl weiter! Habt ihr auch schon über Geld geredet?« »Andeutungsweise.« »Und?« »Er hat noch keine Zahl genannt, aber durchblicken lassen, daß es ihm auf ein paar Tausender mehr oder weniger nicht ankommt. Ich soll zum Beispiel in einem guten Hotel wohnen. In Spanien. Er rechnet mit vier bis acht Wochen. Aber wo es genau hingeht, wollte er am Telefon nicht sagen. Er meinte, über den Preis würden wir uns bestimmt einig werden.« »Du, das klingt …, das klingt wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, und da brauchst du, um im Bild zu bleiben, doch bestimmt einen Eunuchen. Hast du dieses Detail schon berührt?« »Nein, das wäre übereilt gewesen. Vielleicht flechte ich es morgen beiläufig ein. Weißt du, es scheint eine sehr ernste Angelegenheit zu sein. Er sagte, Katja – so heißt das Mädchen – sei bis zum letzten Frühjahr eine so vorbildliche Tochter gewesen, daß er ihr plötzliches Weggehen noch immer nicht begreifen könne. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam die Nachricht, daß sie sich auf einer Klassenfahrt durch Spanien sozusagen von der Truppe entfernt hat. In einem kurzen Telefonat hat sie sich von den Eltern verabschiedet, hat den Lehrern Bescheid gesagt und ist …, ja, man muß es schon so sagen, ausgestiegen. Nicht nur aus dem Bus.« »Ohne Angabe von Gründen?« »Das weiß ich nicht. Ich nehme an, die gehören zu den Dingen, die er am Telefon nicht erörtern wollte und schon gar nicht in einem ersten Gespräch. Morgen werde ich’s erfahren.« »Und wann soll die Reise losgehen?« »So bald wie möglich, sagt er. Am liebsten wäre ihm übermorgen.« 14
»Also gut. Was spricht dagegen?« »Na, zum Beispiel mein Vorlesungsplan.« »Der ist nicht das Papier wert, auf dem er geschrieben steht. Das weißt du so gut wie ich.« »Stimmt. Also sagen wir, irgendwann in der kommenden Woche. Ich kann nicht nach Spanien abdampfen, ohne mich von meiner Mutter zu verabschieden. Morgen geht’s also nach Kiel, am selben Abend zurück. Übermorgen fahre ich für einen oder zwei Tage zu meiner Mutter; dann komme ich wieder hierher und melde mich in der Uni ab. Außerdem muß ich mir wohl noch etwas Kledage kaufen und einen halbwegs ansehnlichen Koffer, damit die mich überhaupt ins Hotel lassen. Donnerstag oder Freitag kann die Reise dann losgehen.« »Das ist ein Wort!« Hannes Vogt öffnete die Flasche. Sie aßen, tranken, rauchten, aber es wurde dann doch ein eher ernster als vergnügter Abend. Später, als er in seinem Bett lag, dachte Roland Simon: Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was ich vorhabe. Ich hoffe, es wird so sein, daß ich an sie herantrete und sage: Hallo, Katja, deine Eltern haben mich gebeten, mal bei dir reinzuschauen und dich von ihnen zu grüßen. Ja, dieser Weg sollte es sein und nicht der andere. Aber ich fürchte, so wie der Alte die Geschichte aufzieht, wird es doch auf die hinterhältige Version hinauslaufen: Mädchen, du wirkst so verlassen, so verloren, wie auch ich es seit langem bin; schmeißen wir doch unsere Traurigkeiten zusammen, vielleicht wird dann der eine am anderen wieder ein bißchen froh. Und etwas später – er schlief schlecht in dieser Nacht – kamen ihm die saloppen Theorien seines Freundes wieder in den Sinn, und er dachte: Es ist schwer, Menschen zu beurteilen, denn man hat ja kein geeichtes Maß zur Hand. Selbst wenn jemand von Kopf bis Fuß ein Schwein ist, 15
wird er doch geliebt von irgendwem. Und ein anderer, der sich nie etwas hat zuschulden kommen lassen, wird angefeindet. Eine komplizierte Börse. Da steigt es, und da fällt es, und nicht selten gelangt das Gemeine nach ganz oben. Wenn ich an meinen Vater denke, sehe ich rot. Dabei muß er ein guter Mensch gewesen sein. Ging zur See aus Verzweiflung. Kam an die Flasche aus Verzweiflung. Und es war seine eigene Familie, die ihn dazu trieb. Die Eltern, indem sie bezüglich ihrer Hinterlassenschaft eine nicht genügend durchdachte Verfügung trafen, und die schon erwachsenen Geschwister, die sich diese Panne zunutze machten. Bruder und Schwester erbten das Haus mit der Auflage, dem Jüngsten eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen. Ja, angemessen hieß es da, und das war dann das Vokabel, an der der ganze Streit entbrannte. Mein Vater wollte partout Abitur machen und studieren, und mit seiner Intelligenz hätte er es auch geschafft, aber Bruder und Schwester nahmen ein anderes Maß zur Hand: »Studenten hat es in unserer Familie noch nie gegeben! Du gehst also, bist jetzt fünfzehn, in eine Lehre! Wir haben dich sieben Jahre lang durchgefüttert, und das ist angemessen.« Mein Vater, in Rechtsfragen natürlich unkundig, packte seine Sachen und ging auf ein Schiff, blieb zehn Jahre weg, und als er endlich zurückkehrte, hatten Bruder und Schwester das Elternhaus für viel Geld verkauft. Er lernte meine Mutter kennen, heiratete sie aber nicht, weil es ihn wieder hinaustrieb auf See. Aber er schrieb ihr von jedem Hafen aus und schickte regelmäßig Geld. Als ich sechs Jahre alt war, starb er in einem Hospital in Houston. An Leberzirrhose, wie es hieß. Roland Simon wälzte sich im Bett herum, schüttelte die alte Geschichte ab, dachte an die neue, die auf ihn wartete und in der es auch um ein Familienzerwürfnis ging. Was 16
mag sie wohl auseinandergebracht haben, die honorigen Engelhardts und ihr flügge gewordenes Kind? Besitztümer und verweigerte Ausbildungschancen wohl nicht, aber auch bei ihnen wird irgend etwas unterschiedlich beurteilt worden sein.
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3 Das Haus erschreckte ihn. Er war, vom Bahnhof kommend, eine halbe Stunde zu Fuß gegangen, hatte sich durchgefragt, schließlich die Straße, die Hausnummer und das Namensschild entdeckt, und nun sah er, zwischen den hohen Streben des schmiedeeisernen Gitters hindurch, auf den pompösen roten Backsteinbau, der inmitten eines großen Gartens aufragte. Er musterte die Klingel, die Sprechanlage, das blankgeputzte Messingschild mit der Aufschrift Dr. med. Rudolf Engelhardt. Darunter stand Privat. Alles ist so abweisend, dachte er, das kleine, rechteckige Sieb des Lautsprechers, die Gitterstäbe, der einschränkende Hinweis unter dem Namen. Und er dachte auch: Eine Tür, vor der ich eigentlich nichts zu suchen habe. Er drückte auf den Klingelknopf, hörte gleich darauf eine weibliche Stimme: »Ja, wer ist da?« Er nannte seinen Namen, wollte noch hinzufügen, daß er zu dieser Stunde herbestellt sei, da hörte er schon das Surren und drückte schnell gegen die Stäbe. Die Pforte öffnete sich, er trat ein. Der Mann, der ihm auf dem Plattenweg entgegenkam, hätte seiner Kleidung nach der Gärtner sein können. Er trug eine ausgebeulte Cordhose in Grau und einen dunklen Pullover. Aber Roland Simon ahnte sofort, daß es nicht der Gärtner war, der da mit langsamen Schritten auf ihn zukam. Der große, sehr schlanke Mann mit dem kurzgeschnittenen eisgrauen Haar und der randlosen Brille ging wie jemand, der es gewohnt ist, andere zu inspizieren. Als nur noch wenige Meter sie trennten, setzte Roland Simon zu einem Gruß an, aber der 18
andere kam ihm zuvor. »Sie sind also Herr Simon?« »Ja.« »Willkommen! Ich freue mich, Sie hier bei uns zu sehen.« Sie gaben sich die Hand. »Ich muß sagen, das Foto hat nicht zuviel versprochen.« Sie gingen zum Haus, traten ein. Ein junges Mädchen nahm dem Gast den Mantel ab. Eine Weile später saßen sich die beiden Männer in einem kleinen BiedermeierZimmer gegenüber. Das Mädchen brachte Kaffee und Cognac, schenkte ein. Roland Simon sah sich unterdessen ein wenig um. Die hellen Kirschbaumstühle mit den leicht geschwungenen Formen, der schmucklose runde Tisch und die solide Vitrine unter dem Genrebild, das eine alte Frau am Spinnrad zeigte, riefen ihm in Erinnerung, was er über diese Art, sich einzurichten, gelernt hatte: daß sie Ruhe, Geborgenheit und familiäre Eintracht widerspiegeln solle. Und er fragte sich, ob die Engelhardts unter den gewiß zwölf, wenn nicht fünfzehn Räumen ihres Hauses mit Bedacht gerade dieses Zimmer für seinen Empfang ausgewählt hatten. Aber er mochte sich täuschen; vielleicht war es einfach nur der Raum, der seit eh und je für Gäste vorgesehen war, die zum erstenmal ins Haus kamen. Als das Mädchen gegangen war, erschien auch Frau Engelhardt. Er stand auf, begrüßte sie. Er fand sie vornehm und jung, ja, so jung, daß er im ersten Augenblick Zweifel hegte, ob sie überhaupt die Mutter der neunzehnjährigen Katja sein könne. Sie hatte dunkelblondes, glatt auf die Schultern fallendes Haar und graublaue Augen, war von knabenhafter Gestalt, und ihre Bewegungen verrieten Sicherheit und Eleganz. Sie setzte 19
sich zu ihrem Mann auf das mit rosa Chintz bezogene Sofa. Dr. Engelhardt war offensichtlich ein Mann, der schnell ans Ziel wollte. Er nahm einen Schluck Kaffee, setzte die Tasse ab und sagte: »Herr Simon, alles, was wir jetzt besprechen werden, ist streng vertraulich. Kann ich mich in diesem Punkt auf Sie verlassen?« »Ja, das können Sie.« »Gut. Wir haben die Annonce aufgegeben, weil wir keinen anderen Weg mehr wußten. Katja hat uns im Frühjahr, kurz vor dem Abitur, verlassen. Sie war mit ihrer Schulklasse auf einer Spanienreise. Eines Abends rief sie von Barcelona aus an und erklärte kurz und bündig, sie wolle in Zukunft ihr eigenes Leben leben und also nicht mehr ins Elternhaus zurückkehren. Sie sagte auch ihren Lehrern Bescheid, verabschiedete sich und tauchte unter. Wir waren wie vor den Kopf geschlagen.« »Gibt es Anhaltspunkte dafür, daß dieser Schritt vorbereitet war? Oder hatten Sie eher den Eindruck einer spontanen Entscheidung?« »Er war absolut nicht spontan. Sie hat vor Antritt der Reise ihr Konto aufgelöst. Viertausendneunhundert Mark. Sie hat auch alles, was sie an Wertsachen besaß, eingepackt.« »Wann stellten Sie das fest?« »Erst nach ihrem Anruf aus Barcelona. Ich bin gleich am nächsten Tag zur Bank gegangen, um mich zu erkundigen. Und dann haben wir ihre Sachen durchgesehen. Fast fünftausend Mark in bar also und an Schmuck und anderen Wertgegenständen etwa so viel, daß es ihr bei einem Verkauf noch mal das gleiche eingebracht haben könnte. Sie war also mit rund zehntausend Mark ausgestattet. Diese Reserve wird allerdings bald 20
aufgebraucht sein; auch in Spanien ist das Leben teuer geworden.« »Wie war sie eigentlich in der Schule?« Dr. Engelhardt nickte. »In diesem Zusammenhang eine naheliegende Frage, aber die Antwort darauf bringt uns auch nicht weiter. Sie war immer eine gute Schülerin.« »Eine exzellente!« warf Frau Engelhardt ein, »sie brachte nur gute Noten nach Haus, Jahr für Jahr. Ich würde Ihnen gern ihre letzten Zeugnisse zeigen, aber die hat sie auch mitgenommen.« »Verrückt!« sagte Dr. Engelhardt. »Eine Aussteigerin nimmt ihre guten Zeugnisse mit, also ausgerechnet die Dokumente, die beweisen, daß sie da, wo sie nicht mehr sein will, erfolgreich war.« »Lag Barcelona mehr am Anfang oder mehr am Ende der Reise?« »Am Ende.« Dr. Engelhardt stand auf, trat an die Vitrine, entnahm ihr einige Papiere, kehrte dann an den Tisch zurück. Er suchte aus dem etwa fingerdicken Stapel ein Blatt heraus und reichte es über den Tisch. »Der Reiseplan«, sagte er. Roland Simon überflog die Aufstellung. Santiago de Compostella, Valladolid, Madrid, Toledo, Córdoba, Sevilla, Málaga, Granada, Murcia, Valencia, Barcelona. »Hat Ihre Tochter auch noch von anderen Orten aus angerufen?« »Ja«, antworteten beide, und dann fuhr der Vater fort: »Sie hat uns auch mehrmals geschrieben.« »Gab es denn in den ersten Telefonaten oder in den Briefen schon Anzeichen dafür, daß sie im Begriff war, sich von Ihnen zu lösen?« Dr. Engelhardt wiegte den Kopf, schwieg aber. »Ja«, sagte dann seine Frau. »In dem Brief aus Granada …«, die schlanken, gepflegten Hände glitten zwischen die 21
Papiere, zogen einen Luftpostbogen heraus, entfalteten ihn. »Hier. Da schreibt sie: ›Gestern habe ich in einem andalusischen Dorf eine Wasserträgerin gesehen. Sie beugte sich über die steinerne Brüstung des Brunnens und ließ mit ganz ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen den Eimer in den Schacht hinunter, zog ihn, obwohl er dann gefüllt und bestimmt sehr schwer war, mit ebensolcher Anmut wieder herauf. Es war ein ästhetisch vollkommenes Bild, schöner als eine Ballettszene, und in diesem Augenblick haßte ich die polierten Wasserhähne in meinem Badezimmer …‹!« »Das gibt doch nichts her«, sagte der Vater, »ein momentaner Eindruck, eine flüchtige optische Verführung. Wir kennen das doch alle: Man ist zufällig Zeuge eines Vorgangs, von dem man weiß, daß er schon vor fünfhundert Jahren genauso oder ähnlich ablief, vernarrt sich daraufhin ins Altertümliche und verwirft leichtfertig das Moderne. Aber das zählt doch nicht für immer. Ich bin ganz sicher, sie wird sich da unten in den bestimmt nicht sehr komfortablen Gasthäusern oder Hotels so manches Mal nach ihrem eigenen Badezimmer gesehnt haben.« »Aber sie ist nicht zurückgekommen«, wandte Roland Simon ein, »und das spricht eigentlich dafür, daß die Brunnenszene sie tatsächlich angerührt hat.« »Trotzdem!« Dr. Engelhardt zeigte auf das Bild mit der Frau am Spinnrad, »ich liebe diese verhutzelte Alte und was sie da tut, ich liebe auch einfache, saloppe Kleidung«, er strich mit beiden Händen über seinen Pullover, »aber deswegen werfe ich doch nicht gleich alle meine Anzüge weg.« »Vielleicht empfindet Ihre Tochter anders. Konsequenter. Hat sie Ihnen eigentlich einen realen Grund 22
für ihr Weggehen genannt?« Darauf war es eine Weile still in dem Zimmer. Die Eltern sahen sich an, so als seien sie sich nicht recht schlüssig, wer von beiden antworten solle. Schließlich nahm die Mutter das Wort, und nun, als er sie länger ansah, entdeckte Roland Simon um ihre Augen herum und am Hals doch ein paar Falten. »Ja, sie hat durchaus einen Grund angegeben, aber wir akzeptieren ihn nicht. Sie sagt, es gebe in diesem Haus keine Wärme und keine Liebe. Das hat uns verletzt. Sie werden nachher ihr Zimmer sehen, und ich weiß genau, dann sagen Sie: ein beneidenswertes Kind, das so aufwachsen darf! Die teuerste Musikanlage und die Schränke voller Kleider und Möbel, von denen die meisten Söhne und Töchter nur träumen können. Es ist undankbar, was sie mit uns macht.« »Könnte es sein«, fragte Roland Simon, »daß ein Mann dahintersteckt?« »Nein.« Dr. Engelhardt sagte das sehr bestimmt. »Sie war völlig frei in ihren Entscheidungen, hat oft genug Freunde ins Haus gebracht, die uns nicht gefielen; aber wir haben sie hier geduldet. Sie sagte am Telefon, sie brauche mehr als eine Umgebung aus teuren Gegenständen.« »Was genau ist denn nun meine Aufgabe?« »Sie werden«, antwortete der Vater, »nach Barcelona fahren und Katja kennenlernen, so wie es sich unter jungen Leuten ergibt. Ja, und damit sind wir bei dem wunden Punkt! Sie müssen ihr etwas vorspielen, Ihre Sympathie, mehr noch, Ihre Liebe. Ich weiß, das klingt nicht gut, aber immerhin dient es einem guten Zweck. Sie müssen dafür sorgen, daß Katja sich besinnt auf Werte wie Familie, Bindung, geordnetes Zuhause, Abitur, Ausbildung. Auf alles das, was verantwortlich denkende Eltern ihren Kindern ermöglichen wollen. Das kann man 23
doch nicht einfach so in den Wind schlagen! Sie ist auf eine Art romantisch, die ich absurd finde.« »Wissen Sie denn überhaupt, wo sie wohnt?« »Ja, denn ich war selbst da unten, hab’ auch mit ihr gesprochen, aber ohne jeden Erfolg. Sie lebt mit ein paar jungen Leuten in einer Art Kommune. Es sind diese verdrehten Typen, die die heile Welt predigen und dabei gar nicht merken, wie kaputt sie selber sind. Und ausgerechnet unsere Tochter, die aus einer heilen Welt kommt, gibt sich mit solchen Leuten ab! Herr Simon, Sie sollen ihr die Augen öffnen, und weil es über den Verstand nicht mehr zu schaffen ist, müssen jetzt Gefühle her. Man kennt das doch! Ein junger Mann, wenn es nur der richtige ist, kann einem Mädchen derart den Kopf verdrehen, daß es bereit ist, alles, was bis gestern gültig war, über Bord zu werfen. Er kann es sogar gegen Vater und Mutter aufbringen und zur Flucht überreden. Ja, und da haben wir uns gedacht, daß die entgegengesetzte Version dann doch auch möglich sein muß. Die Voraussetzung ist allerdings: Katja darf nie erfahren, daß Sie in unserem Auftrag gekommen sind.« »Natürlich.« »Ich gebe Ihnen nachher ein paar Fotos von ihr und andere Unterlagen. Sie werden im Hotel Colón wohnen; es liegt im Gotischen Viertel und ist ein schönes altes Haus. Das Zimmer ist reserviert, und auch das Flugticket habe ich schon. Die Linienflüge nach Barcelona sind um diese Jahreszeit nie ausgebucht; Sie können also das Datum wählen, das Ihnen am besten paßt. Uns wäre ein möglichst früher Termin natürlich am liebsten. Sie bekommen die Spesen für vier Wochen im voraus. Mit zweihundert Mark pro Tag müßten Sie auskommen. Bleibt noch die Frage des Honorars zu klären. Sind Sie einverstanden, wenn wir Ihnen zehntausend Mark zahlen und außerdem, wenn’s 24
geklappt hat, eine Erfolgsprämie von weiteren zehntausend? Sagen Sie bitte ganz offen, ob die Konditionen Ihnen zusagen oder nicht.« Die Höhe der genannten Betrage überraschte Roland Simon, aber sein Gesicht verriet davon nichts. Er nickte und sagte dann: »Ich bin einverstanden.« »Gut. Dann gehen wir jetzt in die obere Etage.« Etwa eine halbe Stunde hielten sie sich in Katjas Zimmer auf, und als Roland Simon schließlich das Haus verließ, war er für seinen Auftrag wohlgerüstet. Die Frage, ob er einen Begleiter mitnehmen dürfe, hatte er gar nicht erst gestellt. Die finanziellen Mittel waren so reichlich bemessen, daß er diese Entscheidung einfach mit Hannes treffen konnte. In seinem Eisenbahnabteil nahm er noch einmal eines der Fotos zur Hand, die man ihm mitgegeben hatte. Es zeigte Katja Engelhardt auf dem Tennisplatz: ein Mädchen, auf das man ihn nicht erst mit viel Geld hätte anzusetzen brauchen. Wo immer er dieser Katja begegnet wäre, er hätte sich nach ihr umgedreht, ja, wäre ihr vielleicht sogar nachgegangen.
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4 Er hatte die Stadt nie vorher gesehen, war zwar dreimal in Spanien gewesen, aber nicht bis in die Nordostecke gekommen. Seine erste Spanienreise lag nun schon zehn Jahre zurück. Da hatte die Mutter ihn für zwei Wochen nach Torremolinos mitgenommen. Abgelenkt vom sonnigen Strand und von der Sprache, der Musik, der Lebensweise der Spanier eingenommen, hatte der sensible Vierzehnjährige das Herdendasein zwischen den monströsen Ferienfabriken der Costa del Sol schon damals nicht als lästig empfunden. Die zweite Reise, kurz nach dem Abitur, hatte er zusammen mit vier Schulfreunden unternommen. Zwei Jahre lang hatten sie ihr Taschengeld eisern gespart, hatten durch Nachhilfeunterricht, Erntearbeit und viele andere Jobs zusätzlich Geld verdient und alles in eine gemeinsame Kasse gezahlt. In einem Camping-Bus waren sie schließlich aufgebrochen zu der großen Reise, die sie an der Nord- und Westküste der Halbinsel entlangführte, hatten das Baskenland, Asturien und Galizien kennengelernt, waren die sechshundert Kilometer lange atlantische Flanke Portugals abgefahren bis hinunter in die Algarve. Nach einer Pause von einer Woche waren sie dann wieder nach Spanien übergewechselt, hatten sich einige Tage am Golf von Cádiz aufgehalten und schließlich die Heimreise angetreten, waren, unterbrochen durch einen dreitägigen Stop in Madrid, quer über die karge Meseta gefahren. Sechs Wochen insgesamt hatte die Unternehmung gedauert. Ein Abstecher nach Barcelona war zwar vorgesehen gewesen, aber das Geld hatte nicht 26
mehr gereicht. So hatten sie Katalonien von ihrem Programm streichen müssen und waren auf dem kürzesten Weg nach Deutschland zurückgekehrt. Beim dritten Mal war er in Sevilla gewesen und nur in Sevilla. Während eines Studienaufenthaltes, ermöglicht durch ein vom Romanischen Institut und der spanischen Botschaft vermitteltes Stipendium, hatte er sich, zusammen mit Studenten aus aller Welt, vier Wochen lang mit Spaniens Kultur und Geschichte befaßt, aber wiederum Barcelona nicht kennengelernt, hatte die Stadt nur bei diesigem Wetter vom Flugzeug aus unter sich liegen sehen und dabei nicht einmal den Montjuich, geschweige denn einzelne Straßen und Plätze und Gebäude ausmachen können. Und nun war er da, war mit einer Linienmaschine der Lufthansa angekommen, hatte sich von einem Taxi zum Hotel fahren lassen, dort das auf seinen Namen reservierte Zimmer bezogen und sich eingerichtet. Es war ein großes, schönes Zimmer im dritten Stock des alten und, wie es schien, traditionsreichen Hauses, hatte zwei Betten, zwei Sessel, Tisch und Schreibtisch und einen in die Wand eingelassenen Kleiderschrank. Zu der Hundertmark-Unterkunft gehörte auch ein mit viel Komfort ausgestattetes Badezimmer, und zur Avenida de la Catedral hin gab es einen kleinen Balkon. Es war später Nachmittag; die Zeit der siesta war vorbei. Er hatte die Balkontür geöffnet, blickte hinaus. Die Straßen bevölkerten sich wieder. Gegenüber stand, hochaufragend und platzbeherrschend, die Kathedrale. Im Vordergrund des mit Ornamenten reich versehenen Kirchenbaus befanden sich, von seinem Balkon aus ebenfalls gut sichtbar, das erzbischöfliche Palais, das Stadt-Archiv und Reste der alten römischen Mauer. Er wohnte also im Herzstück der 27
Stadt, und es mußten – das hatte er auf seinem Stadtplan gesehen – noch andere Sehenswürdigkeiten in der Nähe sein: die Plaza de Cataluna, der Hafen, das Chinesische Viertel, das Picasso-Museum und schließlich, ganz nah, die berühmten Ramblas. Er würde das alles sehen, würde Tage und Wochen durch die Stadt streifen, aber was immer sie ihm auch bot, es war, das vergaß er nicht einen Augenblick lang, an die zweite Stelle verwiesen, denn ganz oben auf der Liste stand das andere, der Auftrag, die nach Überwindung letzter Skrupel übernommene und hochbezahlte Pflicht, nach Katja Engelhardt zu suchen und sie zu finden, sie zu umwerben, sie zu gewinnen und schließlich zu ihren Eltern zurückzuführen. Hannes Vogt war in Hamburg geblieben. Obwohl das Reisegeld auch für zwei gereicht hätte, hatten sie beschlossen, die delikate Mission ernst zu nehmen und also keine fröhliche Ferienreise daraus zu machen. Allenfalls sollte der Freund, je nach dem Stand der Dinge, später für eine Weile dazustoßen. Hier war der Dezember anders als in Hamburg. Wenn es auch nicht mehr grün war, so schien doch die Sonne, und er spürte den warmen Wind im Gesicht. Auf den steinernen Stufen, die zum Portal der Kathedrale hinaufführten, sah er ein paar Leute sitzen; sie trugen keine Mäntel. Ein kleines Mädchen fütterte die auf dem Kirchenvorplatz versammelten Tauben; sie waren zutraulich, fraßen dem Kind aus der Hand. Er trat ins Zimmer zurück, schloß die Tür, zog die Gardine vor und legte sich auf eines der Betten, auf das der Fensterseite abgekehrte, glaubte, dort weniger dem Straßenlärm ausgesetzt zu sein als in dem anderen. An der Rezeption hatte man ihm versichert, die Avenida de la Catedral werde abends zu einer der stillsten Straßen von 28
Barcelona; nur manchmal fanden sich vor der prächtigen historischen Kulisse Passanten ein, um miteinander die Sardana zu tanzen, den alten katalonischen Volkstanz, aber das sei schließlich nicht Belästigung, sondern Vergnügen, und er mit einem Balkon zur Szene hin habe dann sogar einen Logenplatz. Er dachte an das Mädchen. Die Eltern hatten ihm ganze Serien von Fotos gezeigt, und fast immer hatte er in ein lächelndes, zufriedenes Gesicht gesehen. Die Engelhardts hatten ihn dann in Katjas Zimmer alleingelassen, hatten ihn gebeten, sich von der Tochter ein Bild zu machen, zum Beispiel aus ihren Büchern und Möbeln. Aber er war überzeugt gewesen, sie waren nur gegangen, um sich zu besprechen, und er hatte das als ganz natürlich empfunden. Später hatte Dr. Engelhardt ihn wieder zu sich gebeten, um das Geschäftliche zu regeln. Er hatte gefragt, ob auch er ein paar Unterlagen sehen dürfe, denn schließlich gehe es nicht nur um die Preisgabe von Familienangelegenheiten, sondern auch um viel Geld. Daraufhin hatte er dem Arzt seine Papiere vorgelegt, Reisepaß, Studentenausweis, Führerschein. Dr. Engelhardt hatte sich ein paar Notizen gemacht, ihm dann einen Scheck und das Flugticket übergeben, ebenso einen Prospekt vom Hotel Colón, seine Visitenkarte mit den Adressen und Telefonnummern, unter denen er zu erreichen sei, auch einige Fotos von Katja und schließlich sogar einen Stadtplan von Barcelona, auf dessen Rand, von Hand geschrieben, eine Adresse stand. »Da«, so hatte er gesagt, »wohnte sie, als ich zu ihr gefahren bin. Ich weiß natürlich nicht, ob die Anschrift auch jetzt noch stimmt, aber wenn nicht, ist sie wenigstens ein Anhaltspunkt.« Roland öffnete die Nachttisch-Schublade, nahm eines der Fotos heraus. Es war wieder das vorn Tennisplatz, 29
zeigte Katja Engelhardt kurz vor einem Ballaufschlag. Bestimmt, dachte er, ist sie nicht so groß, wie sie mir hier erscheint, denn sie steht auf Zehenspitzen und hat ihren schlanken Körper extrem gestreckt; der rechte Arm ist hochgerissen, und der Schläger in der Hand läßt die aufragende Gestalt noch größer erscheinen. Ich schätze sie auf einsfünfundsechzig, vielleicht ein paar Zentimeter weniger. Er betrachtete die kleinen, festen Wölbungen ihrer Brüste, die das enge Tennishemd spannten, die schöngeformten sommerbraunen Mädchenbeine, die Arme, den Hals. Das Gesicht wirkte ein bißchen angestrengt, aber das lag wahrscheinlich an der für den Aufschlag benötigten Konzentration und auch an dem Sonnenlicht, das ihr offenbar zu schaffen machte; der lange Schatten hinter ihr auf dem Ziegelmehl verriet, daß es gegen sie gerichtet war. Sie gefiel ihm sehr: der vollippige, in der Anspannung leicht geöffnete Mund, die schmale, gerade Nase. Die Augen waren nicht gut zu erkennen; er sah nur, daß sie unter einer hohen und freien Stirn genügend Abstand voneinander hatten und er also, der alten Faustregel folgend, nichts Arges hinter ihnen vermuten mußte. Ein weißes Stirnband hielt das blonde Haar zusammen. Er legte das Bild in die Schublade zurück, stand auf, zog sich zu seinen weißen Jeans einen dunkelblauen Pullover an, schlüpfte in ein paar leichte Schuhe aus hellem, schon ein wenig ramponiertem Leder, hängte sich die Segeltuchtasche mit Geld, Zigaretten und Feuerzeug, Notizblock und Kugelschreiber um. Jetzt packte er noch etwas hinzu, den Stadtplan und das Foto der Tennisspielerin. Er verließ sein Zimmer, fuhr mit dem Lift hinunter in die Halle, gab seinen Schlüssel ab und trat hinaus auf die 30
Straße, wollte zu den Ramblas. Wie jeden Neuankömmling verführten auch ihn die kleinen Läden und Lokale der schmalen Calle Portaferrisa zu häufigem Stehenbleiben. Er sah in die Schaufenster und unterlag der Versuchung, die ausgebreiteten Waren mit anderen Augen zu betrachten, als er es in seiner Heimat getan hätte, obwohl hier wie dort die gleichen Dinge gezeigt wurden. Auch die spanischen Preise unterschieden sich kaum noch von den deutschen. Selbst bei den Obstständen fand er nichts Neues. Exotische Früchte gab es in den Hamburger Läden auch, und trotzdem stand er nun davor und bestaunte die farbund formenreiche Vielfalt. Schon nach wenigen hundert Metern mündete die Calle Portaferrisa in die Ramblas ein. Er blieb eine Weile an der Ecke stehen, war sofort gebannt von dieser Doppelstraße, die vor langer Zeit ein Flußbett gewesen sein soll. Es war eine Straße, wie er sie noch nie gesehen hatte. Während sonst schmale Bürgersteige eine breite Fahrbahn säumen, war es hier umgekehrt. Der wohl fünfzehn, wenn nicht zwanzig Meter breite, mit Platanen bestandene Bürgersteig bildete die beherrschende Mitte und wurde flankiert von zwei engen Trassen, auf denen die Autos fuhren, die einen von der Plaza de Cataluna hinunter zum Hafen, die anderen in entgegengesetzter Richtung. Auf dem steinernen Mitteltrakt drängten sich Hunderte von Menschen, gut angezogene Bürger und zerlumpte Bettler, Frauen in teuren Pelzen und andere in billigen Fähnchen, Kinder, Greise, Soldaten, Schüler, Studenten. Das wogte herauf und wogte herab, vorbei an den vielen Verkaufsständen. Er überquerte die Fahrbahn, schleuste sich ein in den Fußgängerstrom, der sich in Richtung Hafen bewegte. Und staunte wiederum: Es gab zwar eine Fülle von 31
Verkaufsständen, aber sie boten entweder nur Vögel oder nur Bücher und Zeitschriften an. Immer wieder blieb er stehen und besah sich das Gewimmel der großen und kleinen buntgefiederten Geschöpfe. Einige der Vogelhändler hatten sich auf Papageien spezialisiert, andere auf Hühner und Tauben, doch meistens ragten neben den Käfigen der Krummschnäbel und den niedrigen Geflügelverschlägen hohe Volieren auf, in denen Singvögel verschiedenster Art herumschwirrten und ihr hundertstimmiges Gezwitscher ertönen ließen. An den Bücherständen ging es kaum weniger bunt zu. Goethe und Simenon, Kafka und Comics, Marx und Miller, Philosophisches und Frivoles und fast alle großen Tageszeitungen der Welt lagen dort aus. Man suchte und blätterte und kaufte oder legte zurück. Die in erdrückender Fülle angebotenen freizügigen Zeitschriften kündeten von der Liberalisierung Spaniens. Er dachte an die einzige Hure, die er je besucht hatte. Es war in Sevilla gewesen. Ihr Charme hatte ihn fast vergessen lassen, daß sie es für Geld tat. Zwischen der perfekt fotografierten Obszönität auf den Hochglanzcovers der hier feilgebotenen Magazine und dem, was die Sevillanerin machte, lagen für ihn Welten. Er blickte, während er langsam weiterging, in die nur wenige Meter breiten Gassen, die auf beiden Seiten in die Ramblas mündeten, und ihm fiel ein, was er im Flugzeug darüber gelesen hatte. Da gebe es zur Linken außer dem geschichtlichen Barrio Gótico die Juwelierläden und Feinschmecker-Restaurants, die Antiquitäten- und Modegeschäfte und die Läden kleiner Handwerker, während in dem rechterhand gelegenen Barrio Chino finstere Kaschemmen und Bordelle und die Behausungen zwielichtiger Geschäftemacher zu finden seien. In jüngster Zeit aber, so hatte er auch gelesen, trennten die Ramblas 32
nicht mehr eindeutig das eine vom anderen. Er würde sich beide Seiten ansehen. Für diesen Abend aber, den ersten in der unbekannten Stadt, hatte er etwas anderes vorgesehen. Er wollte, sobald es zu dunkeln begann, nach dem Haus suchen, in dem Katja Engelhardt gewohnt hatte, als ihr Vater sie besuchte. Er wußte, das mußte mit aller Vorsicht geschehen, wollte er seinen Plan nicht gefährden. Es war Abend geworden. Er hatte in einem Straßenlokal gegessen, war mit einem Taxi in die Calle Aragón gefahren und stand nun, im Schatten eines geparkten Lieferwagens, vor dem fünfstöckigen Haus, dessen Anschrift Dr. Engelhardt auf dem Stadtplan notiert hatte. Er sagte sich: Ich kann jetzt nicht einfach da hineingehen, mich vor eine der Türen stellen, klingeln oder anklopfen und die Leute nach einer señorita Engelhardt fragen, denn wenn sie da immer noch wohnt, wird sie es erfahren. Man wird ihr mein Aussehen beschreiben, und wenn es dann später zu der von mir inszenierten Begegnung kommt, könnte sie mich erkennen. Ja, es ist sogar möglich, daß nicht die Nachbarn nur die Tür öffnen, sondern daß eine junge Blondine erscheint, im Halbdunkel des Treppenhauses nicht gleich erkennbar, und auf meine Frage antwortet: »Ja, das bin ich; was wünschen Sie?« Er mußte es also anders machen! Er sah an den Fenstern entlang. Offenbar gehörten immer vier zu einer Wohnung. Im Parterre waren drei beleuchtet, im ersten Stock ebenfalls drei, im zweiten alle vier. Die dritte Etage war völlig dunkel. In der vierten gab es zwei helle Fenster, und ganz oben, im fünften Stockwerk, brannte nur hinter einem der Fenster Licht. Dr. Engelhardt hatte ihm die Etage, in der seine Tochter wohnte, nicht genau angeben können, war, wie er erklärte, 33
zu erregt gewesen, um auf die Anzahl der Stockwerke achtzugeben, erinnerte sich aber, etliche Treppen hochgegangen zu sein. Also, dachte Roland Simon, wird es ganz oben sein oder die Etage darunter. Doch das Zählen heller oder dunkler Fenster brachte ihn nicht weiter, und so löste er sich schließlich aus dem schützenden Schatten und überquerte die Straße. Ihm war eine Idee gekommen. Er ging auf die Haustür zu, öffnete, trat ein in das dunkle, nach Schweiß und Speisen riechende Treppenhaus, suchte den Lichtschalter, fand ihn nicht, tastete sich an den Wänden entlang, auf denen ein feuchter, klebriger Film lag, holte sein Feuerzeug heraus und ließ es aufleuchten. Er entdeckte die Briefkästen, las die Namen. Der von Katja Engelhardt war nicht dabei. Er ließ die kleine Flamme wieder ausgehen, zog im Dunkeln Papier und Kugelschreiber aus seiner Segeltuchtasche, machte wieder Licht, drückte mit der linken Hand, die auch das Feuerzeug hielt, den Notizblock gegen die Wand und schrieb sich alle Namen auf. Dann begann er, die Treppen emporzusteigen, leuchtete auf jeder Etage die Wohnungstüren ab. An einem der Briefkästen hatte er nicht weniger als drei Namen vorgefunden. Die entsprechenden Türschilder fand er schließlich im obersten Stock. Das könnte, dachte er, die Wohngemeinschaft sein! Aber der Name Engelhardt fehlte auch hier. Er ging wieder nach unten, verließ das Haus, fuhr zurück ins Hotel, setzte sich auf sein Bett und schlug das Telefonbuch auf. Er war fast entmutigt, als er die meisten Namen auf seiner Liste in fünfzig-, achtzig-, ja, hundertfacher Wiederholung vorfand. Langsam glitt er mit dem 34
Zeigefinger über das Papier, und seine Augen suchten neben den vielen Namen nach der Calle Aragon. Eine halbe Stunde später hatte er herausgefunden, daß drei Bewohner des von ihm inspizierten Hauses einen Telefonanschluß hatten; und so folgte nun der dritte und letzte Teil seiner Aktion. Er wählte die erste Nummer, wartete. Eine Frauenstimme meldete sich, und er fragte: »Kann ich bitte mit Herrn Torres sprechen?« Er erfuhr, daß Herr Torres im Krankenhaus lag und sie, die Tochter, nur zufällig in der Wohnung war. Er fragte, ob sie die Nachbarn im Hause kenne und bekam die Antwort: »Ni uno!« Nicht einen. Er bedankte sich und hängte ein. Beim zweiten Versuch geriet er an ein Kind, das dem Gestammel nach nicht älter als drei Jahre sein konnte und offenbar erst mal eine Weile Telefonieren spielen wollte. Er ging darauf ein, fragte: »Und du bist noch nicht im Bett?« Doch da wurde dem Plappermaul der Hörer weggenommen, und gleich darauf meldete sich ein Mann, nannte den Namen, den er auf Grund seiner Notizen erwartet hatte. Auf die Frage, ob er eine junge Deutsche mit dem Namen Katja Engelhardt kenne, die im gleichen Haus wohne oder gewohnt habe, kam die Antwort: »Ja, ich habe manchmal auf der Treppe eine Blonde gesehen, aber in letzter Zeit nicht mehr.« »Erinnern Sie sich, wann Sie sie zum letztenmal gesehen haben?« »Vielleicht vor zwei oder drei Wochen. Sie wohnte ganz oben, zusammen mit den anderen jungen Leuten. Fragen Sie doch bei denen mal nach.« »Entschuldigen Sie vielmals, aber würde es Ihnen große Mühe machen, einen von ihnen an den Apparat zu 35
holen? Soviel ich weiß, haben die nämlich kein Telefon. Bitte, es ist sehr wichtig.« »Gut, ich geh’mal rauf.« Es dauerte lange, bis der Herbeigerufene sich meldete, und dann war es der falsche, ein Kanadier. Roland erfuhr, daß der Kanadier vor zwei Wochen mit seiner Freundin in die Wohnung eingezogen sei und nur einen seiner fünf Vorgänger als Untermieter übernommen habe; der aber sei zur Zeit bei seinen Eltern in Málaga. Einen kleinen Trost allerdings enthielt die letzte Bemerkung des Mannes: »Alfonso hat gesagt, daß er bald zurückkommt; Sie können es ja in zwei, drei Tagen noch einmal versuchen.« Nach dieser Auskunft hatte es eigentlich nicht mehr viel Sinn, auch noch den letzten der drei Teilnehmer anzurufen, aber er sagte sich: Vielleicht ist es jemand, der sie näher gekannt hat und daher weiß, wo sie jetzt ist. Und so wählte er, wartete. »Muñoz.« Er entschuldigte sich wegen der Störung, stellte seine Frage, doch was Herr Muñoz darauf zu erwidern hatte, half ihm auch nicht weiter: »La guapa alemana?« Die hübsche Deutsche? »Sie ist, soviel ich weiß, vor ein paar Wochen weggezogen, aber wohin, kann ich nicht sagen.« »Haben Sie mal mit ihr gesprochen?« »Nein, leider nicht. Nur immer der kurze Gruß auf der Treppe.« »Ich danke Ihnen.« Er hängte ein. Sein erster Anlauf war also zu einem Mißerfolg geworden! Woher sonst, wenn nicht aus diesem Haus in der Calle Aragon, sollte er Informationen bekommen? Enttäuscht verließ er das Hotel. Er wollte noch einmal zu den Ramblas, bog, als er die Calle Portaferrisa bis zum Ende durchlaufen hatte, wieder links ein und ging in 36
Richtung Hafen. Der Passantenstrom war so dicht wie am Nachmittag. Er versuchte, sich Mut zu machen. Dieser Junge aus Málaga, dachte er, der Untermieter des Kanadiers, wird vielleicht etwas wissen. Sobald er zurück ist, muß ich mit ihm Verbindung aufnehmen. Aber nicht direkt. Es könnte ja sein, daß er noch Kontakt zu ihr hat. Am besten mache ich es wohl wieder telefonisch, diesmal vielleicht über Herrn Muñoz. Wenn er das Mädchen hübsch fand, wird er um ihretwillen wohl ein paar Treppen steigen. Nach einigen hundert Schritten verließ er die Ramblas, bog links ein in eine der schmalen Gassen, las das Straßenschild Calle Escudillers. Die meisten Geschäfte waren noch geöffnet. Kleine Kneipen lockten mit Musik und roten Lampen, und die Restaurants verkündeten auf großen Tafeln, was ihre Küchen zu bieten hatten. Er betrat ein Lokal, setzte sich an den langen Tresen, auf dem die Schüsseln mit bocadillos aufgereiht waren, mit Imbißhäppchen, die ihm sogleich, obwohl er schon zu Abend gegessen hatte, Appetit machten: Fische, Fleisch, Gemüse, Käse, Früchte, Kuchen. Er sah zu den anderen Gästen hinüber; sie spießten die kleinen Portionen mit dem Zahnstocher auf und führten sie so zum Munde. Er rief den Kellner heran und bestellte, indem er am Tresen entlangging und immer nur auf die jeweilige Schüssel zeigte. Sein Teller füllte sich, und was er dann schließlich vorgesetzt bekam, war ein merkwürdiges Sortiment: Hackfleischklößchen und Sardinen, Spinatauflauf und Tintenfisch, Camembert und Kuchen. Aber es schmeckte ihm vortrefflich. Er ließ sich einen Espresso kommen, dazu einen Cognac. Er probierte den Cognac. Gut, dachte er, sehr gut! Er setzte das Glas ab, sah sich um im Lokal. Auch hier gab es, wie auf den Ramblas und in den vielen kleinen 37
Querstraßen, das große Potpourri: Katalanische Bürger in Straßenanzügen neben alternativen Typen; elegante Frauen neben Mädchen in Jeans und Wolljacken; laut diskutierende Gruppen und hier und da ein Einsamer, der still in sein Glas starrte. Neben dem Spanischen hörte er das Catalan. Auf den Straßen und Plätzen der Stadt hatte er viele Hinweisschilder in beiden Sprachen gelesen und dabei feststellen müssen, daß er kaum ein Wort katalanisch konnte. Ein paar Hocker entfernt saßen zwei Frauen an dem langen Tresen. Es könnten Huren sein, dachte er. Sie hatten ihre welken Gesichter stark überschminkt und hielten ihm, wenn er zufällig hinübersah, ihr steinernes Lächeln hin. Plötzlich betrat eine Frau das Lokal. Sie mochte fünfundzwanzig oder auch dreißig Jahre alt sein, hielt eine Weile Ausschau unter den zahlreichen Gästen und glaubte dann wohl in ihm, Roland Simon, ein geeignetes Opfer gefanden zu haben. Sie trat an ihn heran, entschuldigte sich, erst auf spanisch, gleich danach auf englisch und deutsch, und dann ging es von neuem auf spanisch los: »Welche Nationalität haben Sie?« Im ersten Moment wollte er antworten, das gehe sie doch wohl nichts an, aber dann entdeckte er in ihrem Gesicht den Ansatz zu einem sympathischen Lächeln, und so gab er die erbetene Auskunft: »Ich bin Deutscher.« Sie sprach also Deutsch, zu seinem Erstaunen akzentfrei: »Ich verkaufe Gedichte, Liebesgedichte, die ich selbst verfaßt habe. Möchten Sie eins? Sie können aussuchen: die platonische, die romantische oder die sexuelle Liebe.« »Und was kostet es?« »Pro Gedicht zwanzig Peseten.« 38
Er rechnete um, fand fünfzig Pfennig nicht zu teuer für den Spaß und sagte: »Na, dann geben Sie mal eins her, irgendeins.« Er hielt ihr die offene Hand hin. »Nein, ich sage es Ihnen auf.« »Was? Wo denn?« »Na, hier.« Nun fand er die Sache noch unterhaltsamer, gab der Frau eine Fünfundzwanzig-Peseten-Münze, griff, weil er neben aller Belustigung auch eine gewisse Verlegenheit empfand, nach seinem Glas, trank und hörte so plötzlich und übergangslos, als habe er ein Gerät eingeschaltet, die Frau deklamieren: »Jetzt sind diese Gliedermassen kolossaler Weiblichkeit ohne jeden Widerstreit meinen Wünschen überlassen …« Er verschluckte sich, setzte das Glas ab: »Aber das ist doch von Heinrich Heine!« »Ja, der hat es so ähnlich auch schon gesagt.« Er wollte keinen Streit über Fragen des Urheberrechts, war im Grunde auch zu amüsiert, um sich hintergangen zu fühlen, und so sagte er: »Danke, das war sehr schön.« »Aber es ist ja noch gar nicht zu Ende!« »Die anderen Strophen kenne ich schon.« Wieder zeigte sie ihr leichtes Lächeln, und dann ging sie weiter, tiefer hinein in den von Speisedünsten und Tabakrauch durchzogenen Raum. Er trank sein Glas aus, bat um die Rechnung, zahlte und glitt vom Hocker. Bevor er aus der Tür ging, drehte er sich noch einmal um. Die Frau saß jetzt einem einfach gekleideten, älteren Mann gegenüber, der Mühe hatte, seinen Kopf hochzuhalten. Roland Simon konnte sie nicht hören, aber er sah ihre großen Gesten, und der Zuhörer machte ein Gesicht, als habe er schales Bier getrunken. Er ging hinaus 39
auf die Straße. Der kleine Auftritt hatte ihn heiter gestimmt, doch dann dachte er plötzlich: Ob womöglich auch Katja Engelhardt ihren Lebensunterhalt auf diese oder ähnliche Weise bestreitet? Und damit war er wieder bei seinem Auftrag, wurde nachdenklich, schließlich mutlos, sagte sich: Wenn der Untermieter mir nicht weiterhelfen kann, sitze ich fest. Wo in dieser riesigen Stadt soll ich denn wohl nach ihr suchen? Vielleicht ist sie ja auch gar nicht mehr in Barcelona, am Ende nicht mal mehr in Spanien. Und wieder kam ihm die Frau in den Sinn, die gestohlene Poesie als ihre eigene verkaufte, und in einem Anflug von Sarkasmus dachte er: Vielleicht verkauft Katja Engelhardt etwas anderes! Da gibt es ja, außer Gedichten, noch etwas, und es bringt bestimmt mehr Geld, wenn man nicht grad wie ein Monster aussieht. Und das tut sie nun wirklich nicht. Er dachte an die Huren, die er zu beiden Seiten der Ramblas gesehen hatte, und erwog allen Ernstes, irgendwann den Barrio Chino zu durchstreifen, und das nicht allein aus männlicher Neugier, sondern sozusagen als der Profi, der er geworden war, als der Mann, der nach der verlorenen Tochter zu suchen hatte und dafür bezahlt wurde. Aber ihm kam auch der Gedanke, Dr. Engelhardt anzurufen und ihm zu sagen, daß er wenig Hoffnung habe, das Mädchen zu finden. Er war, obwohl er ein Stück seiner Seele verkauft hatte, im Grunde ein gewissenhafter Mann, und daher fragte er sich, ob er bei so geringen Erfolgschancen seinen Aufenthalt in Spanien wirklich fortsetzen dürfe, auf Kosten eines besorgten Vaters. Schließlich schob er den Anruf doch wieder auf, wollte zumindest Alfonsos Rückkehr aus Málaga abwarten. Daß es diesen Jungen überhaupt gibt, dachte er, ist ein Trost. Und wenn auch er nichts weiß, werde ich wohl doch jeden einzelnen Hausbewohner ausfragen. Vielleicht hat sie mit 40
irgendeinem über ihre Pläne gesprochen. Das Risiko, daß sie von meinen Recherchen erfährt, muß ich dann eben eingehen. Er hatte sich in dem Gewirr der kleinen Gassen verlaufen, fragte nach dem Weg, ging an den alten, düsteren Mauern des Gotischen Viertels entlang, stieß endlich auf die Avenida de la Catedral, in der er sich schon fast ein bißchen heimisch fühlte, betrat sein Hotel.
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6 Er schlief schlecht in seiner ersten Nacht in Barcelona. Lärm war die Ursache nicht; das Gebiet um die Kathedrale erwies sich, jedenfalls zur Nachtzeit, tatsächlich als ein ruhiger Bezirk. Vielleicht war es der Mißerfolg des vergangenen Tages, der ihn nicht schlafen ließ. Er lag in seinem Bett und grübelte, beschäftigte sich noch kritischer als bisher mit seinem Vorhaben. Er war immer ein Mensch gewesen, der auf Unehrlichkeit oder gar Betrug mit leidenschaftlicher Ablehnung und Gegenwehr reagierte, immer hatte er das Schicksal seines Vaters vor Augen. Da hatten allernächste Angehörige um ihres eignen Vorteils willen ein Kind hintergangen, sich zumindest zu seinen Gegnern gemacht und eine nicht ganz eindeutige Rechtssituation bedenkenlos zu ihren Gunsten ausgelegt. Als er achtzehn Jahre alt gewesen war, hatte seine Mutter ihm zum erstenmal von den Hintergründen jener Erbteilung erzählt. Schon damals hatte ihn die Frage nach der Angemessenheit beschäftigt, dieser in jenem Testament verwendeten unglückseligen Vokabel. Was bedeutete eine angemessene Ausbildung? Worauf bezog sich dieser Begriff? Und was verstehen, fragte er sich nun, die Engelhardts unter angemessen? Sie scheuen kein finanzielles Opfer, um die Tochter zurückzugewinnen, benutzen es als letztes Mittel, und wenn man schon darüber geteilter Meinung sein kann, wie sehr dann wohl über mein Verhalten! Ich habe mich kaufen lassen für ein falsches, ein teuflisches Spiel! Erst gegen Morgen schlief er ein, und das hatte zur Folge, daß er ziemlich spät erwachte. Um zehn Uhr ging er hinunter zum Frühstücken. Er 42
trank zwei Tassen Kaffee, aß aber nur ein halbes Brötchen, zündete sich eine Zigarette an. Der freundliche alte Ober brachte ihm, ohne daß er darum gebeten hatte, eine Zeitung. Mit halbem Interesse las er die Berichte über Felipe Gonzalez und die neue sozialistische Regierung, über Marti Feldmanns Tod in Mexico und schließlich einen Artikel, der, sieben Monate nach dem Falklandkrieg, die Parteinahme der Spanier für Argentinien mit ihrem Anspruch auf Gibraltar erklärte. Er blätterte weiter, entdeckte Dutzende von Anzeigen, in denen Frauen und Mädchen ihre Liebesdienste anboten. Könnte sie hinter einer dieser Offerten stecken? Er las jede einzelne aufmerksam durch, suchte nach dem Wort rubia, blond, und gab acht auf das Alter, obwohl er wußte, daß beide Angaben nicht stimmen mußten. Er fand eine Blonde, die ihr Alter nicht nannte, sondern sich nur als jung ausgab, notierte sich die Nummer, schlug die nächste Seite auf. Die Fußballberichte überschlug er, aber eine andere Meldung vom Sport weckte seine Aufmerksamkeit, rief ihm sogleich das Foto in Erinnerung, das Katja Engelhardt auf dem Tennisplatz zeigte. War sie eine richtige Tennisspielerin oder gehörte sie, nur aus modischen Gründen, weil ihre Eltern es so wollten, einem der Kieler Clubs an? Darüber war nicht gesprochen worden. Nun wäre es hilfreich gewesen, Näheres zu wissen, denn sollte der fotografierte Aufschlag mehr gewesen sein als nur eine Pose, vielleicht gar ein wichtiger Moment in einem Turnier, dann könnte in der Nachricht, die er soeben im Sportteil der spanischen Zeitung entdeckt hatte, eine Chance liegen. Keine besonders große, das gestand er sich ein, aber bei so dürftiger Spur mußte er sich auch mit einer kleinen zufriedengeben. Er las den Bericht, der eine ganze Seite füllte, aufmerksam durch, schrieb ein paar Einzelheiten auf, gab die Zeitung zurück und verließ 43
seinen Tisch. Er fuhr mit dem Lift nach oben. In seinem Zimmer wählte er zunächst die Telefonnummer aus der Annonce, hörte eine weibliche Stimme: »Verónica.« Er fragte auf spanisch: »Entschuldigen Sie, sprechen Sie zufällig Deutsch?« Die Antwort war ein Lachen. Und dann: »No, señor, aber Französisch gern, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er verstand, legte auf. Dann meldete er ein Gespräch mit Kiel an, hatte sich für die Nummer des Instituts entschieden, wurde von der Telefonistin des Hotels gebeten, den Hörer nicht aufzulegen, und hatte wenige Sekunden später eine Sekretärin am Apparat. Er sagte, er rufe aus dem Ausland an und hätte gern Dr. Engelhardt gesprochen. Er mußte nicht lange warten. »Engelhardt.« »Guten Tag! Hier Roland Simon, Barcelona. Da ist etwas, was ich wissen muß. Doch zunächst einmal: Katja wohnt nicht mehr in der Straße Aragón. Von den fünf Mitgliedern der Wohngemeinschaft sind vier ausgezogen, auch Katja; und der fünfte, der dageblieben ist und mir vielleicht weiterhelfen könnte, ist zur Zeit auf Reisen.« »Kein guter Start«, antwortete Dr. Engelhardt, »trotzdem, nicht so schnell aufgeben, junger Mann!« »Vielleicht ist sie gar nicht mehr in Barcelona, vielleicht nicht mal mehr in Spanien.« »Haben Sie denn in dem Haus überhaupt nichts in Erfahrung bringen können?« »Nein, ausgenommen, daß dieser fünfte Mieter in einigen Tagen zurück sein wird. Es besteht immerhin noch die Chance, daß er weiß, wohin die anderen gegangen sind.« »Gut. Hoffen wir’s!« »Da ist noch etwas! Eines der Fotos, die Sie mir 44
mitgegeben haben, zeigt Ihre Tochter auf dem Tennisplatz. Ich müßte wissen, ob sie eine richtige, womöglich passionierte Tennisspielerin ist.« Die Antwort ließ auf sich warten. Roland Simon glaubte schon, die Leitung sei gestört, da hörte er: »Ich weiß nicht so recht, wie ich das einschätzen soll. Ehrlich gesagt, ich hab’ sie nie spielen sehen. Dieser Beruf, wissen Sie! Manchmal rund um die Uhr. Könnten Sie nicht meine Frau anrufen? Oder haben Sie es schon versucht?« »Nein, ich dachte mir, es ist Vormittag, ein Werktag, und da …« »Ja, ja, aber in diesem Fall fragen Sie doch lieber meine Frau. Haben Sie vor, die spanischen Tennisclubs abzusuchen?« »Nein, im Moment geht es um etwas anderes. Hier in Barcelona findet heute abend das große Masters Turnier Europa gegen Amerika statt, und da tritt die Welt-Elite an, Borg, O’Connor, McEnroe, Lendl und wie sie alle heißen. Für jemanden, den Tennis interessiert, müßte diese Veranstaltung ein großes Ereignis sein, und ich möchte eben wissen, ob Ihre Tochter sich ein solches Turnier vielleicht ansehen würde. Wenn ja, steck’ ich mein Fernglas ein und geh’ hin.« »Tun Sie das! Tun Sie das auf alle Fälle! Sie brauchen dann auch gar nicht mehr meine Frau zu fragen. Eine Chance ist es allemal. Und wenn sie da nicht ist, forschen Sie weiter! Gehen Sie in die Tennisclubs.« »Mach’ ich. Mir fällt gerade ein: Haben Sie damals eigentlich Katjas Freunde befragt?« Wieder entstand eine kleine Pause, und dann sagte Dr. Engelhardt: »Nein, nicht direkt. Wir haben natürlich herumgehört, aber mit so etwas zieht man ja nicht durch die Gemeinde.« »Da haben Sie recht«, sagte Roland Simon, aber das 45
war nicht das, was er dachte. Und er fuhr fort: »Okay, ich rufe Sie in drei oder vier Tagen wieder an.« »In Ordnung. Viel Erfolg und alles Gute!« »Danke. Auf Wiederhören.« »Auf Wiederhören.« Er legte auf, blieb auf der Bettkante sitzen. Wieso weiß der Vater nicht, ob seine Tochter Tennisspielerin ist? Und was ist mit seiner Frau? Warum meint er, ich brauche sie nicht mehr anzurufen? Ahnte er womöglich, daß auch sie mir keine klare Auskunft hätte geben können? Was die wohl noch alles nicht wissen, obwohl es sich doch um ihr eigenes Kind handelt? Ob Tischtennis, Fußball, Schlittschuhlaufen, meine Mutter hätte es immer gewußt! Nun gut, er würde also heute abend dieses Turnier besuchen. Bedenken, die Karten könnten ausverkauft sein, hatte er nicht. In der Zeitung hatte gestanden, daß die Organisatoren mit der Vorkasse unzufrieden waren und sogar bedauerten, die Spiele an Barcelona und nicht an Madrid vergeben zu haben.
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7 Das Stadion Palau war nicht nur nicht ausverkauft, Roland Simon hatte sogar noch die Wahl zwischen fast allen Preisklassen. Er entschied sich für einen der besseren Plätze in der Mitte einer der Längstribünen. Ein Blick auf den Plan hatte ihn davon überzeugt, daß sich die Suche von dort aus am besten durchführen ließe. Er versorgte sich, da es eine lange Sitzung zu werden versprach, mit einem Sandwich und einer Coca Cola, ging zu seinem Platz, setzte sich. Das Spiel war schon im Gang. Er warf einen kurzen Blick auf die Anzeigetafel. McEnroe lag gegen Borg in Führung. Aber er ließ sich gar nicht erst ein auf das Spiel. Er zog sein Fernglas aus dem Etui, setzte es an die Augen. Er begann die Suche auf der gegenüberliegenden Tribüne oben links und führte von dort aus das Glas ganz langsam, ganz systematisch die Reihe entlang bis dorthin, wo die Kurve ansetzte. Dann begann er, eine Reihe darunter, den Rückweg. Als er etwa in der Mitte angelangt war, stieß ihn sein Nachbar, ein korpulenter, etwa vierzigjähriger Spanier, der nicht weniger als fünf Dosen Bier zu seinen Füßen aufgereiht hatte, an und sagte: »Oye, amigo, están abajo los dos!«. Hör mal, mein Freund, die sind aber da unten, die beiden! »Sí, sí«, antwortete Roland Simon, und er hielt es, um sich vor weiterer Einmischung zu schützen, für besser, dem Mann eine Erklärung zu geben: »Ich suche meine Freundin.« Damit war der andere offenbar zufrieden; er nahm eine Dose, öffnete sie, trank, behielt sie in der Hand, und dann ging, mit der Gleichmäßigkeit eines Perpendikels, sein aufgeschwemmtes Gesicht wieder hin und her. 47
Roland Simon suchte weiter. Wenn er eine Blonde sah, verharrte er, betrachtete sie genauer, entdeckte dann, daß sie nicht der Frau entsprach, die er von den Fotos her im Kopf hatte, ließ ab und forschte weiter. Sein Fernglas, schon ziemlich abgeblättert und auch nicht sehr handlich, stammte aus der spärlichen Hinterlassenschaft seines Vaters. Es war ein mühevolles Geschäft, ein Gesicht nach dem anderen in Augenschein zu nehmen, und er empfand es als Erleichterung, wenn manchmal sechs, sieben oder noch mehr Männer nebeneinander saßen und er also schneller vorankam. Die leeren Plätze, nicht selten ein ganzes Dutzend in unmittelbarer Folge, genoß er besonders. Als er wieder einmal rechts angekommen war und damit die sieben obersten Reihen inspiziert hatte, legte er eine Pause ein, aß sein Sandwich, trank seine Cola. Dann nahm er die Suche wieder auf, und eine Viertelstunde später war er unten angekommen. Genau gegenüber entdeckte er mehrere unbesetzte Plätze, stand auf, ging hinauf zum oberen Rand der Tribüne und dann weiter, den Gang entlang, um von drüben diese Seite inspizieren zu können. Als er die Kurve halb durchschritten hatte, kam ihm der Gedanke, wenigstens die eine der beiden Schmalseiten sozusagen im Vorübergehen mitzunehmen. Er stellte sich an die Brüstung, hob sein Glas. Es dauerte nicht lange, bis er die nur spärlich besetzten Reihen abgesucht hatte. Er ging weiter, fand einen Platz, wollte sich gerade setzen, aber da sagte man ihm: »Está ocupado«, ist besetzt, und fragte ihn nach der Nummer auf seiner Eintrittskarte. Er sagte nur: »Perdone!« und ging dann weiter. Das gleiche geschah ein zweites und ein drittes Mal. Der Platz, den er dann schließlich einnehmen konnte, lag nicht ganz so günstig 48
wie sein erster, etwas tiefer und dazu noch seitlich versetzt, doch auch von hier aus waren die Gesichter auf der Gegenseite zu erkennen, und er nahm die Arbeit wieder auf. Nur wenn das Publikum klatschte oder gar aufsprang, ließ er sein Glas sinken, um eine Weile auszuruhen, denn in solchen Augenblicken gab es drüben ohnehin kein zuverlässiges Bild. Als schließlich McEnroe den Schweden besiegt hatte, gab es eine längere Pause, während der die Reihen durcheinandergerieten. Die Massen drängten zu den Ausgängen, um ein bißchen Bewegung zu haben und sich an den Verkaufsständen Erfrischungen zu holen. Die Unterbrechung dauerte fast eine halbe Stunde. Dann strömten die Menschen wieder herein, und Roland Simon setzte die Suche fort. Nachdem seine Augen die letzten Zuschauer der untersten Reihe, eine Gruppe von Jugendlichen in einheitlich grünen Trainingsanzügen, überflogen hatten, stand er auf, suchte sich abermals einen neuen Standort, um nun auch noch den letzten der vier Sektoren zu kontrollieren. Er entdeckte das Mädchen nicht und kehrte schließlich dorthin zurück, wo er zuerst gesessen hatte. Der dicke Spanier hatte seine Jacke ausgezogen. Vier der fünf Bierdosen waren geleert; sie lagen zusammengedrückt zu seinen Füßen. Roland Simon betrachtete eine Weile das Spiel, stellte aber fest, daß er kein rechtes Interesse mehr aufbringen konnte. Er nahm sein Fernglas wieder zur Hand, suchte weiter, aber nicht mehr mit System, sondern nur noch punktuell, blickte mal hierhin, mal dorthin, fast schon ohne jede Erwartung. Plötzlich gab es eine kleine Variante im längst gewohnten Ablauf. Er sah ein auf ihn gerichtetes Fernglas, mußte lächeln, und dann entdeckte er, daß auch drüben 49
gelächelt wurde, jedenfalls glaubte er, es trotz der Distanz erkannt zu haben. Er setzte sein Glas nicht ab, schwenkte es auch nicht weg, behielt es unbeweglich auf das interessante Ziel gerichtet. Eine Frau. Ihr Mund, den er hatte lächeln sehen, gefiel ihm. Vom übrigen Gesicht konnte er, da ihr Fernglas im Weg war, nicht viel erkennen. So betrachtete er zunächst einmal die Gestalt. Es war eine schlanke Frau in weißem Rock und dunklem Pullover. Weiter oben gab es noch einmal den Kontrast zwischen Hell und Dunkel, denn im Ausschnitt des Pullovers steckte ein weißer Schal, und dann war da schließlich noch das Haar, langes schwarzes Haar. Er war erregt, spürte die Besonderheit dieses nur mit Hilfe der Fernglaser möglich gewordenen Kontaktes, der nun in ein kleines Spiel überzugehen schien. Er beobachtete, wie die Hand auf dem rechten Okularmantel in Bewegung geriet. Die Finger gingen auf und nieder wie bei einem Flötenspiel. Das mochte ganz unbewußt geschehen oder auch aus Nervosität, aber für ihn war es ein heimliches Zeichen, und er antwortete auf die gleiche Weise. Daraufhin schien drüben der Code zu wechseln. Die Rechte kam zur Ruhe, und statt ihrer nahm nun die Linke die Zeichensprache auf. Und wieder antwortete er, indem er das gleiche tat. Ein paarmal noch ging es hin und her, dann sanken drüben die Hände mit dem Glas in den Schoß, so daß er endlich das ganze Gesicht sehen konnte. Es war ein schönes Gesicht mit großen, dunklen Augen. Er schätzte das Alter der Frau auf fünfundzwanzig bis dreißig Jahre. Jetzt ließ auch er das Glas sinken. Als er es bald darauf wieder aufnahm und vor die Augen hielt, geschah drüben das gleiche, und wieder schien der Blick der Frau einzig auf ihn gerichtet. 50
Das Intermezzo reizte ihn, ja, es verführte ihn zu einer Kühnheit, derer er sich nie für fähig gehalten hätte. Er legte das Fernglas neben sich und zog den Pullover aus, öffnete dann den obersten Knopf seines Hemdes, den zweiten, den dritten. Noch nie hatte er eine Geste von solcher Direktheit gewagt, aber jetzt trieb er das Spiel sogar noch weiter und hoffte, sein Signal möge empfangen und erwidert werden. Langsam schob er seine Rechte unter das Hemd, ließ sie eine Weile auf der Brust liegen, nahm, damit auch eine harmlose Deutung möglich blieb, schließlich eine Spitze des Hemdkragens in die Hand und fächelte sich Luft zu. Nach einer Weile hielt er inne, griff wieder nach seinem Fernglas, spähte nach drüben, gespannt darauf, ob das Spiel nun weitergehen würde oder nicht. Er sah, wie die Hände der Frau mit dem Glas sich senkten und im Schoß liegenblieben. Er wartete, blickte unentwegt in die Richtung, aus der er sich Antwort erhoffte, aber nichts geschah. Enttäuscht knöpfte er sein Hemd wieder zu, aber da, auf einmal, griff die Frau nach ihrem Schal, löste den Knoten, faltete das breite weiße Tuch zusammen und legte es beiseite. Für diejenigen, die es zufällig sahen, geschah es ganz beiläufig. Sie mochten den Eindruck haben, nach so vielen in der geschlossenen Halle verbrachten Stunden habe sie nichts weiter getan als sich Luft verschafft. Roland Simon freute sich. Das war die Antwort. Er hob das Glas, starrte auf den Ausschnitt des dunklen Pullovers. Die helle Schneise war schmal und züchtig, gab überhaupt nichts preis. Aber das war nicht wichtig. In diesem Augenblick kam es allein darauf an, daß die Frau geantwortet hatte. Immer noch starrte er hinüber, und erst jetzt bemerkte er den Mann, der an ihrer Seite saß und ihr gerade das 51
Glas abnahm. Aber er blickte, wie Roland Simon mit Erleichterung feststellte, nicht zu ihm herüber, sondern auf das rote Feld. Vor dem Netz war einer der Spieler gestürzt und wurde von zwei Sanitätern behandelt. Roland Simon kümmerte es nicht. Er hatte wieder die Frau im Blick, und plötzlich sah er, wie sie vor dem dunklen Hintergrund ihres Pullovers sieben Finger spreizte. Gleich darauf ließ sie ihre Hände in den Schoß zurückfallen. Er begriff nicht, dachte einen Moment lang, sie wolle ihm eine bestimmte Zeit, eine Stunde signalisieren, aber es war schon Viertel nach zehn, und so mußte sie etwas anderes gemeint haben. Und da ging es auch schon weiter. Wieder glitten die Finger hinauf, immer höher, bis fast an die Schultern. Diesmal waren es neun. Dann senkten die Hände sich, und wenige Sekunden später waren sie erneut da, zeigten zwei Finger. Er rekapitulierte: sieben, neun, zwei. Und begriff endlich! Es handelte sich um die ersten Ziffern einer Telefonnummer. Und wieder ging es weiter, drei Ziffern noch, in kurzen Abständen herübergesandt; bei der letzten lag nur eine Faust auf der dunklen Fläche, die Null also. Er setzte das Glas ab, zog Papier und Kugelschreiber hervor, schrieb sich die Nummer auf, sah, diesmal mit bloßem Auge, hinüber. Sie hatte ihr Glas wieder erhoben, hatte also wohl beobachtet, daß ihr Signal zur Kenntnis genommen worden war. Er hatte vergessen, weswegen er in diesem Stadion saß. Noch oft hob er sein Fernglas hoch, aber nicht ein einziges Mal ging es ihm darum, nach Katja Engelhardt Ausschau zu halten. Immer wieder ging sein Blick hinüber zu der Fremden, und meistens war es dann so, daß auch drüben das Glas in die Höhe ging. Kurz nach halb elf wurde der Kontakt plötzlich abgebrochen. Der Mann und die Frau erhoben sich und 52
gingen, er voran. Unmittelbar vor Erreichen des oberen Tribünenrandes wandte die Frau sich noch einmal um, hob – es wurde nur die Andeutung eines Winkens – ihre Hand und verschwand. Und dann wartete auch er das Ende des Spiels nicht ab, sondern verließ seinen Platz, verließ das Stadion. Auf dem Parkplatz hielt er noch einmal Ausschau, aber wiederum nicht nach blondem, sondern nach schwarzem Haar, ging an den langen Reihen der abgestellten Wagen entlang, fand nicht, wonach er suchte. Nun gab es also schon zwei Frauen, denen er in dieser Stadt nachspürte. Von der einen, dachte er, hab’ ich wenigstens die Telefonnummer, denn was sonst sollen die Zahlen bedeuten! Es dauerte lange, bis er ein Taxi fand, und als er es endlich hatte, war es eines, das ohne Uhr fuhr. Er nannte das Ziel, und der Fahrer forderte einen unverschämten Preis. Das Reklamieren nützte nichts; der Mann sagte ganz gelassen: »Dann suchen Sie sich ein anderes, señor!« Er blieb sitzen, empfand Unbehagen, weil er gezwungen war, sich von jemandem chauffieren zu lassen, mit dem er uneins war. Der Spanier war weniger empfindlich, fragte, da sein Preis schließlich akzeptiert worden war, gutgelaunt nach dem Ergebnis des Turniers und erzählte, es sei seine sechste Fahrt an diesem Abend vom Stadion Palau ins Zentrum. »Einen Tag wie diesen«, sagte er, »brauchen wir Taxifahrer öfter mal.« An der Plaza de Cataluña stieg Roland Simon aus. Er wollte, da er so lange gesessen hatte, das letzte Stück zu Fuß gehen. In einem kleinen Lokal in der Calle Portaferrisa aß er noch eine tortilla española, trank zum Abschluß dieses denkwürdigen Tages einen Cognac Carlos Quinto und kehrte in sein Hotel zurück. 53
8 Die amourösen Erfahrungen Roland Simons waren eher bescheiden; neben einigen flüchtigen Liebschaften hatte er kaum eine Handvoll tiefgehender Beziehungen gehabt. Die letzte war erst vor wenigen Wochen an der Unvereinbarkeit der verschiedenen Erwartungen zerbrochen. Marianne, die gleichaltrige Kommilitonin, hatte nach zwei gemeinsam verbrachten Jahren plötzlich die Meinung vertreten, ihrer beider Zusammengehörigkeit sei nun so weit gediehen, daß es naheliege, möglichst bald zu heiraten. Er jedoch hatte, bei aller Zuneigung, die er für sie empfand, einen solchen Schritt als verfrüht angesehen, zumal sich das Studium in zunehmendem Maße als unzuverlässiger Wegbereiter erwies. Außerdem hatte er seit Jahren davon geträumt, nach bestandenem Examen eine Zeitlang ins Ausland zu gehen, mal hier, mal dort zu leben. Er wollte sich also keinesfalls binden, und so hatten sie sich, weil keiner nachzugeben bereit gewesen war, schließlich getrennt. Er war also als gänzlich freier Mann nach Barcelona gekommen, und das Bewußtsein, vor niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, mochte zu dem sehr direkten Annäherungsversuch im Estadio Palau beigetragen haben. Am nächsten Morgen galt sein erster Gedanke der fremden Frau, und der Entschluß, sie anzurufen, blieb bestehen. Er stand auf, duschte, zog sich an und ging hinunter zum Frühstücken. Wieder brachte ihm der Ober die Zeitung. Er wollte sie nicht, aber aus Höflichkeit schlug er sie auf. Während er die Augen auf das Papier gerichtet 54
hielt, überlegte er sich, wie er das Gespräch mit der Frau einleiten könnte. Auch über ihren Begleiter dachte er nach. Ob es sich um ihren Mann handelte? Er hatte oft vom gefährlichen Temperament eifersüchtiger Spanier gehört, aber vielleicht waren sie auch in dieser Hinsicht liberaler geworden. Außerdem, das Maß einer solchen Gefahr würde sie, die ja immerhin ihre Bereitschaft bekundet hatte, wohl abschätzen können. Als er nach dem Frühstück in sein Zimmer trat, war es halb elf. Eine passende Zeit für einen Anruf, dachte er; Ehemänner sind ja in der Regel vormittags nicht zu Hause. Er holte den Zettel mit der Nummer hervor, wählte. Nach einer Weile meldete sich eine weibliche Stimme: »Sí?« Er hatte sich für den Beginn eine möglichst unverfängliche Taktik zurechtgelegt: »Guten Morgen, ich hätte gern die señora wegen des gestrigen Tennis-Turniers gesprochen.« »Quién habla?« Wer spricht? Und er antwortete: »Sagen Sie nur, es gehe um das Spiel im Estadio Palau, dann weiß die señora Bescheid.« »Un momento.« Und dann war da plötzlich die Stimme, eine volle, tiefe Frauenstimme. »Buenos dias! Que gusto escucharle!« Guten Morgen! Welch ein Vergnügen, Sie zu hören! Und er antwortete: »Ich weiß nicht, ob Sie offen sprechen können, wie ich im Grunde überhaupt nichts weiß außer, daß mich gestern abend die Welt-Elite im Tennis plötzlich nicht mehr interessierte, weil es etwas viel Erregenderes zu sehen gab. Jetzt habe ich den Wunsch, daß das Spiel weitergeht, natürlich nicht das Tennis-Spiel, sondern das andere, unseres.« Es war merkwürdig, er, dessen Rede sonst eher karg 55
und spröde war, erging sich in umständlichen Wendungen, noch dazu in einer fremden Sprache. »Auch mir hat es gefallen«, antwortete die Frau. »Ich kann übrigens frei sprechen, aber das gilt nicht grundsätzlich.« »Es war also Ihr Mann, der gestern neben Ihnen saß?« »Ja, mein Mann, der mich heute bestimmt an die Kette gelegt hätte, wenn ihm etwas aufgefallen wäre.« »Ich würde Sie gern sehen«, sagte er. »Wir werden einen Weg finden. Sie sprechen ausgezeichnet Spanisch, aber ich glaube herauszuhören, daß Sie nicht von hier sind.« »Ich komme aus Deutschland.« »Dann ist Ihre Zeit also begrenzt?« »Ja, leider. Aber ein paar Wochen bleibe ich noch.« »Ein paar Wochen, das klingt gut. Heute abend wären Zeit und Gelegenheit zu einem Treffen. Ich könnte das Haus für mehrere Stunden verlassen. Wo wohnen Sie?« »Im Hotel Colón.« »Ich hole Sie mit dem Wagen ab. Wir haben ein kleines Landhaus an der Küste, auf der Strecke nach Tarragona. Dorthin könnten wir fahren. Wäre Ihnen das recht?« »Aber ja! Ich freue mich, Sie wiederzusehen, und diesmal wird es keinen so großen Abstand zwischen uns geben. Obwohl auch unser heimlich geführtes Gespräch, an tausend Menschen vorbei, durchaus seinen Reiz hatte.« »Ich empfand es genauso. Wie heißen Sie eigentlich?« »Roland Simon. Und Sie?« »Maria Escobedo. Ich werde Sie um acht Uhr abholen. Am besten halte ich vor der Kathedrale auf dem kleinen Parkplatz. Steigen Sie einfach ein. Es ist ein alter schwarzer Buick. Ich muß jetzt auflegen. Bis heute abend.« »Auf Wiedersehen.« 56
Nach dem Gespräch blieb er noch lange auf seinem Bett sitzen. Er wußte: Was ihn am Abend erwartete, war nicht die große Stunde der Liebenden, die sich auf den ersten Blick erkannt haben und nicht mehr voneinander lassen wollen. Sie war verheiratet und er ein Durchreisender. Aber auch so würde es, das ahnte er, der Begegnung an Besonderheit nicht fehlen. Er hatte etwas so Spontanes noch nie erlebt, freute sich, aber plötzlich empfand er neben aller Freude auch eine leichte Irritation, weil ihm klar wurde, daß er zum zweitenmal innerhalb so kurzer Zeit bereit war zu etwas, was mit Konspiration, ja, mit Verrat zu tun hatte. Auch diesmal gab es ja jemanden, den es zu hintergehen galt. Er wollte den Tag für seine Recherchen benutzen, schlug das Branchenverzeichnis des Telefonbuches auf, suchte nach den Tennisclubs, fand mehrere, schrieb sich die Adressen und Telefonnummern heraus. Dann faltete er seinen Stadtplan auseinander, suchte nach den Straßen, in denen sich die Clubs befanden, entdeckte, daß vier von den sieben, die er notiert hatte, weit voneinander entfernt lagen. Es würde ihn etliche Stunden kosten, sie alle aufzusuchen. Also verlegte er sich wieder einmal aufs Telefonieren, wählte die erste Nummer, erklärte, er müsse unbedingt señorita Engelhardt sprechen, eine junge Deutsche; sie sei wahrscheinlich gerade auf dem Platz, aber besser sehe man vorher noch einmal nach, ob es überhaupt der richtige Club sei, denn sie habe ihm kürzlich von einem bevorstehenden Wechsel erzählt. In fünf Fällen erfuhr er auf diese Weise, daß man den Namen gar nicht führe, und damit hatte er sich schon fünf lange Wege erspart. Aber auch die beiden letzten Clubs – bei dem einen meldete sich niemand, bei dem anderen geriet er an eine Putzfrau – wollte er nicht persönlich besuchen; er würde später noch 57
einmal dort anrufen. Sehr enttäuscht war er nicht, hatte er doch ohnehin kaum damit gerechnet, das Mädchen auf diese Weise zu finden. Er öffnete die Balkontür und trat an die Brüstung. Vor der Kathedrale hielten drei große deutsche Reisebusse; einer davon trug die Aufschrift eines Hamburger Unternehmens. Also wird jetzt, dachte er, eine teutonische Hundertschaft durchs Gotische Viertel traben! Plötzlich fiel ihm ein, daß zu einer solchen Gruppe immer auch jemand gehört, der sich auskennt und sein Geld damit verdient, Tag für Tag vor immer neuen Zuhörern seine Lektion herzusagen. Manchmal waren es Studenten. Er kannte einen, der sich jeden Sommer als Hamburg-Führer verdingte und von vielen um seinen einträglichen Job beneidet wurde. Gerade quoll die dichtgedrängte Besucherschar zwischen dem erzbischöflichen Palast und dem Stadtarchiv hervor. Konnte Katja Engelhardt, die sich doch irgendwie Geld verdienen mußte, nicht solche Führungen übernommen haben? Immerhin war sie sehr ansehnlich und beherrschte beide Sprachen. Wieder der Griff nach dem Telefonbuch und wieder das Suchen im Branchenverzeichnis! Diesmal ging es um die Reisebüros, aber schon nach der dritten Anfrage gab er auf. Den Angestellten dort, so wurde ihm beschieden, seien die Namen der Reiseführer nicht bekannt; außerdem sei es ja meistens so, daß die Reisegesellschaften sie aus dem eigenen Lande mitbrächten. Irgendwann im Laufe des Vormittags kam er auf die Idee, der Name Katja Engelhardt müsse doch, da von einem längeren Aufenthalt auszugehen sei, im Einwohnermeldeamt oder in der Kartei des deutschen Konsulats registriert sein, aber dann hielt er diese 58
Vermutung für eine Ausgeburt seiner deutschen Gründlichkeit, sagte sich: Wer von heute auf morgen das Elternhaus verläßt und sich auf einer Spanienreise seitwärts in die Büsche schlägt, wird nicht gerade erpicht darauf sein, die Merkmale seiner Identität in einer Behörde zu hinterlassen. Aber irgendwas, verdammt noch mal, muß ich doch tun, außer daß ich auf diesen Mann aus Málaga warte! Es kennzeichnete seine Ratlosigkeit, daß er, der nach Barcelona gefahren war, weil sich die letzte Spur der Gesuchten in dieser Stadt verlor, plötzlich den Einfall hatte, Hannes Vogt in Hamburg anzurufen, damit der sich bei den Schulfreunden des Mädchens umsehe. Vielleicht hatte sie ja noch Kontakt zu irgend jemandem, und er bekam ihre Adresse heraus. Er nahm den Hörer auf, gab der Telefonistin die Nummer seines Vermieters durch und hatte ihn kurz darauf am Apparat, sagte: »Tag, Herr Kowasch, hier Simon. Würden Sie mir bitte einen großen Gefallen tun? Ich muß aus einem ganz wichtigen Grund mal eben mit Hannes Vogt sprechen. Ob Sie ihn ans Telefon holen könnten?« »Mach’ ich. Aber das soll keine Dauereinrichtung werden; bei den vielen Treppen. Ich guck’ mal nach, ob er da ist.« Und tatsächlich, nach etwa zwei Minuten hörte er den Freund sagen: »Mensch, Roland, ist was passiert?« »Nein. Aber ich trete auf der Stelle, kann das Mädchen nicht finden. Und es ist verrückt, in einem stillen Winkel meines Herzens bin ich froh darüber.« »Mein Lieber, das ist wohl kaum die richtige Einstellung zu deiner Arbeit.« »Ich weiß, und ich mach’ ja auch weiter. Aber im Moment tut sich hier nichts. Die Adresse des Mädchens stimmt nicht mehr. Ich hab’ schon alles mögliche versucht, aber ohne Erfolg.« 59
»Wissen ihre früheren Nachbarn nichts?« »Es gibt nur einen, der vielleicht was weiß, aber der ist jetzt in Málaga. Er kommt aber demnächst zurück.« »Dann mach dir bis dahin ein paar schöne Tage!« »Bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Aber vielleicht könntest du mir helfen, und darum rufe ich an. Hast du Zeit, für mich nach Kiel zu fahren, und zwar möglichst bald?« »Klar! Von mir aus schon morgen. Soll ich zu den Eltern gehen?« »Nein, die dürfen auf gar keinen Fall wissen, daß wir ausgerechnet in Kiel herumforschen. Ich möchte, daß du in die Schule gehst, die das Mädchen bis vor einem halben Jahr besucht hat. Es ist das Hebbel-Gymnasium. Da läßt du dir die Adressen von ein paar Mitschülern geben. Die haben zwar im Mai oder Juni Abitur gemacht und sind womöglich schon in alle Winde verstreut, aber vielleicht kommst du doch noch an den einen oder andern heran. Meine Hoffnung ist, daß Katja Engelhardt zu irgendeinem von ihnen Kontakt hat. Vielleicht hat sie mal geschrieben, und der Betreffende weiß, wo sie jetzt steckt.« »Na, das ist aber ein kümmerlicher Ansatz. Meinst du nicht, der Alte hätte für sein vieles Geld Anspruch auf was Solideres?« »Klar, aber du mußt dir das mal vorstellen: Ich kenne ihren Namen, hab’ ein paar Fotos von ihr, und das ist alles! Damit fang mal an zu suchen unter den Millionen in dieser Stadt!« »Kannst du nicht nach Málaga fahren, um mit dem Mann zu sprechen?« »Die Leute, die mir von ihm erzählt haben, wissen nur, daß er Alfonso Garcia heißt und zur Zeit bei seinen Eltern in Málaga ist. Und der Name Garcia …, na, das wäre ungefähr so, als würdest du in Hamburg nach einer 60
Familie Müller oder Schmidt suchen. Da warte ich lieber die paar Tage, bis er zurückkommt. Aber ich dachte mir, in der Zwischenzeit könnte man es mal mit Kiel versuchen.« »Stimmt. Ist jedenfalls besser als gar nichts. Ich setze mich morgen früh in Marsch. Hebbel-Gymnasium, sagtest du?« »Ja. Du könntest dich ausgeben als jemand, der Katja Engelhardt im letzten Jahr kennengelernt hat und sie wiedersehen will. Man wird dich natürlich erst mal an die Eltern verweisen, aber die müssen auf jeden Fall draußen vor bleiben. Denen ist die ganze Geschichte irgendwie peinlich. Jedenfalls meinte der Alte: ›Mit so was zieht man nicht durch die Gemeinde‹. Also sagst du, du brauchst nicht die Eltern, sondern die Freunde, hättest dich, was weiß ich, in die Kleine verknallt, und das dürften die Alten nicht wissen, aber du müßtest sie unbedingt wiedersehen.« »Und wenn ich was rauskriege?« »Dann rufst du mich an. Die Nummer vom Hotel hast du ja. Die Fahrt nach Kiel und alle anderen Unkosten bezahlst du von den tausend Mark, die wir für deinen Flug vorgesehen haben.« »Okay. Und was, wenn ich nicht fündig werde und dieser Mensch aus Málaga dir auch nicht weiterhelfen kann?« »Dann kommst du trotzdem für ein paar Tage hierher. Du, ich muß jetzt Schluß machen, hab’ bestimmt schon drei Riesen-Steaks vertelefoniert.« »Sag mir noch schnell, wie’s da unten mit den Mädchen aussieht. Können sie wenigstens ein bißchen Englisch? Und fliegen sie auf Männer mit mahagonifarbenem Haar?« »Ganz bestimmt.« »Prima. Ich schätze, sie sind zierlich und klein, so daß 61
ich mit meinen einsachtundsechzig eine Chance haben könnte.« »Sei unbesorgt. Das kriegst du schon hin. Sag mal, hört der Kowasch etwa zu?« »Natürlich nicht.« »Weil ich ihm nämlich gesagt hab’, es sei sehr dringend.« »Na und? Gibt es was Dringenderes? Wie ist es denn mit dir? Hast du schon was eingefädelt?« »So richtig noch nicht, aber heute abend hab’ ich eine Verabredung. Sie ist eine Augenweide und hat ein Landhaus in Tarragona, und dahin fahren wir.« »Himmel noch mal! Mond und Mittelmeer und Mortadella oder wie die Weine da unten so heißen.« »Jetzt schmeißt du wohl einiges durcheinander.« »Ist ja auch bloß wegen des Wohllauts. Bei so was muß man ja lyrisch werden.« »Apropos Mortadella. Jetzt bin ich schon beim fünften Steak. Mach’s gut, Hannes!« »Mach’s gut!« Um kurz nach acht sah er den dunklen Buick langsam auf den kleinen Platz rollen. Er verließ die Hotelhalle und ging auf den Wagen zu. Das Licht der Straßenlaternen fiel bis ins Wageninnere. Er erkannte die Frau sofort, trat von rechts an das Auto heran, öffnete die Tür, stieg aber noch nicht ein, sondern sagte: »Guten Abend, señora, fahren Sie zufällig nach Tarragona oder jedenfalls in die Richtung?« Sie klopfte leicht auf das Polster des Beifahrersitzes, und er stieg ein, zog die Tür zu. Sie sahen sich an, schwiegen noch. Er war weit weniger gelassen, als er sich gab. Im Stadion und bei dem Telefongespräch hatte die Distanz ihn sichergemacht, aber 62
jetzt war alles anders. Er fand die Frau älter und reifer, aber auch noch schöner und, was ihn am meisten verwirrte, vornehmer. Sie setzte den schweren Wagen zurück, schleuste sich ein in die Fahrzeugschlange in Richtung Innenstadt, und er sagte: »Müssen wir nicht ans Wasser?« »Doch«, antwortete sie, »aber erst später.« Schon bald bog sie links ab, drängte sich, fast mit Stoßstangenkontakt, in den großen Verteilerring der Plaza de Cataluna. Dann, als sie ihn wieder verlassen hatten, ging es für eine gute Viertelstunde durch das belebte Zentrum, immer auf derselben Straße, der viele Kilometer langen Gran Via de les Cortes Catalanes, an der großen Stierkampf-Arena vorbei und über die Plaza de España hinweg, immer weiter in Richtung Südwesten. Bald sah er die Lichtglocke des Flughafens, sah auch eine Maschine landen und konnte es kaum glauben, daß er erst vor zwei Tagen dort angekommen war. »Was machen Sie in Spanien?« fragte sie. »Sind Sie Tourist?« »Ich bin Student, und zu meinem Programm gehört auch das Spanische. Es ist bei uns ein wichtiges Fach geworden. Wer es lernen will, kann sich nicht auf Bücher beschränken, sondern muß ab und zu in eines der Länder fahren, in denen man es spricht. Darum halte ich mich jetzt für einige Wochen in Barcelona auf.« »Und? Wie gefällt es Ihnen bei uns?« »Im Augenblick ganz hervorragend, aber auch abgesehen von dieser besonderen Gunst, fühle ich mich sehr wohl hier. Es ist meine dritte Spanienreise. Vorher war ich in Galicien und Andalusien. Da ist es auch schön, aber Barcelona scheint mir …«, er suchte nach dem Wort »weltoffener«, sagte schließlich: »… kosmopolitischer zu sein. Ein Weg über die Ramblas ist wie ein Bummel über 63
den Jahrmarkt der Völker.« »Ja«, sagte sie, »Barcelona hat zu allen Zeiten die Menschen angezogen, vor allem die Künstler, zum Beispiel Garcia Lorca, Salvador Dalí und Tennessee Williams, aber das wissen Sie sicher längst. Und natürlich Picasso! Er hat lange hier gelebt. Diese Stadt ist immer sehr aufgeschlossen gewesen und hat damit der jetzigen Entwicklung Spaniens vorgegriffen.« »Es ist«, antwortete er, »interessant, den Wandel hier in Spanien zu beobachten.« »Es wurde höchste Zeit damit!« Ihre tiefe Stimme wurde etwas lauter. »Vierzig Jahre Franco waren genug! Aber noch immer, sieben Jahre nach seinem Tod, ist die Nation gespalten. Auf der einen Seite stehen die Konservativen, die der Franco-Ära nachtrauern und die meinen, wir bräuchten nun mal eine starke Hand und es sei nicht gut, unserem Volk so viel Freiheit zu geben. Und auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die voller Ungeduld auf den Wechsel gewartet haben. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß ausgerechnet unser König, Juan Carlos, die demokratischen Bestrebungen vorantrieb. Immerhin hat Franco ihn erzogen, und das natürlich mit dem Ziel, daß es nach seinem Tod in seinem Sinne weitergeht. Und ebenso erstaunlich ist es, daß Juan Carlos von Suárez unterstützt wurde, von einem Mann also, der einmal Generalsekretär der Falange war. Ausgerechnet diese beiden Männer, die für die Fortsetzung des FrancoRegimes wie geschaffen schienen, haben die Reform durchgeführt. Viele Spanier danken es ihnen, und ich gehöre auch dazu.« »Und es scheint gutzugehen«, warf Roland Simon ein, »denn daß jetzt die Sozialisten an die Macht gekommen sind, ist doch ein Beweis dafür, daß die Mehrheit des Volkes sich von der Vergangenheit losgesagt hat.« 64
»Das stimmt«, sagte sie, »die Oktober-Wahl ist eindeutig zugunsten der Demokratie ausgegangen« Sie hatten die Küste erreicht, durchführen eine kleine Ortschaft. Links hoben sich die Konturen unbeleuchteter Häuser von der mondbeschienenen Wasserfläche ab. »Der Winter ist nah«, sagte sie. »In dieser Zeit stehen die meisten Häuser leer.« »Wo ist Ihres?« »Am Strand von Comarruga, ungefähr fünfundzwanzig Kilometer vor Tarragona.« »Ich glaube«, sagte er, »früher wäre es unvorstellbar gewesen, daß sich hier in Spanien eine verheiratete Frau und ein Mann sozusagen per Funk kennenlernen und vierundzwanzig Stunden später zu zweit unterwegs sind.« »Das ist es auch heute noch. Wenn mein Mann von dieser Fahrt ans Meer wüßte, würde er …, also, es würde ohne Zweifel böse Konsequenzen haben. Er ist beim Militär, ist Oberst in der Armee und stammt aus einer Sippe, die lieber heute als morgen das FrancoRegime zurück hätte. Ich bin das schwarze Schaf der Familie, weil ich anders denke. Das Militär ist natürlich konservativ, der Putsch im letzten Jahr ging ja auch vom Militär aus. Er verlief wie eine Posse. Die Männer stürmten das Parlamentsgebäude, und die, die drinnen saßen, also unsere Abgeordneten, verkrochen sich unter Tischen und Bänken. Dennoch, es war heikel. Alles hing jetzt vom König ab, wieder mal, denn er ist schließlich auch der oberste Chef der Armee. Und er griff durch, Gott sei Dank. Aber, um auf meinen Mann zurückzukommen, für ihn ist die Demokratie ein Horror, und die Emanzipation der Frau erst recht. Aber das ist mir gleichgültig. Ich habe die Ketten schon oft abgestreift und bin meine eigenen Wege gegangen.« Sie griff nach seiner Hand. Er überließ sie ihr, ohne 65
jedoch den Druck zu erwidern, fühlte sich plötzlich unbehaglich, fühlte sich als einer von vielen, sagte sich dann aber: Ist doch klar, wenn eine Frau so spontan und so bravourös alle Hürden nimmt, dann hat sie Übung, dann ist sie eben drauf aus. Na und? Sie ist schön und sehr erotisch, und so etwas läuft nur nicht alle Tage über den Weg! Er löste sich aus ihrem Griff, legte seine Hand auf ihr Bein. Sie trug wieder einen Rock, aber diesmal, der nächtlichen Eskapade angepaßt, einen dunklen. Er schob ihn ein Stück hinauf, fühlte etwas, was er nicht kannte, ein Strumpfband, fühlte die warme, weiche Haut. Langsam gingen ihre Knie auseinander. Sie verringerte die Geschwindigkeit; achtzig, sechzig, vierzig. Und dann schlug sie, ganz plötzlich, die Schenkel wieder zusammen. Seine Hand war gefangen. Es überraschte ihn nicht mehr, daß er kein textiles Hindernis fand, nur die Haut und das Haar und die Wärme. »Wir sind gleich da«, sagte sie. Behutsam zog er die Hand zurück. Sie glättete ihren Rock, fuhr wieder schneller. »Hast du eine Freundin?« fragte sie. »Nein.« »Wie kommt das?« »Es ist gerade zu Ende gegangen.« »Ach so. Und wodurch?« »Sie war aufs Heiraten aus, aber das wollte ich noch nicht. Ich finde, die Ehe ist nichts für Studenten.« »Da denke ich genauso.« »Hast du Kinder?« »Ja, einen Sohn und eine Tochter. Er ist elf Jahre alt und sie sieben.« »Wie heißen sie?« »Der Junge heißt, wie sein Vater, Miguel und das 66
Mädchen Eugenia.« »Und wer nahm das Telefon ab, als ich anrief?« »Das war Chavela, unser Mädchen.« »Hat sie was gemerkt?« »Aber nein!« Sie lenkte den Buick in eine scharfe Kurve, und dann ging es auf einem holperigen Weg ein Stück bergauf, bis der Wagen unter dem von allerlei Gerank überwachsenen Dach einer Pergola hielt. »Komm!« Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn. »Drinnen müssen wir erst die Vorhänge zuziehen, bevor wir das Licht einschalten. Du weißt, die Nachbarn.« »Aber vielleicht haben sie den Wagen gesehen.« »Nein, dies hier ist der Hintereingang. Sonst steht das Auto immer auf der anderen Seite.« Es ging eine Treppe hinunter und dann durch eine kleine Tür ins Haus. Sie schloß hinter sich ab und zog ihn durch einen Gang und ein paar Kellerräume. Dann ging es wieder treppauf. Das Mondlicht fiel durch die Fenster und erhellte einen großen Dielenraum. Noch einmal eine Treppe, diesmal eine breitere, die mit dickem Teppichboden ausgelegt war und im Bogen nach oben führte. Immer noch hielt sie ihn an der Hand. Sie öffnete eine Tür. Auch hier hob das bleiche Licht, das von der Meerseite einfiel, die Konturen aus dem Dunkel. Roland Simon sah ein breites Bett, ein paar Sessel, eine Kommode, zwei Stehlampen, einen Wandschrank. Jetzt erst gab sie seine Hand frei. Sie trat ans Fenster, ließ das Rollo herunter und zog die schweren Vorhänge zu. Für einen Moment war es stockdunkel, doch gleich darauf, er hatte ihre Schritte auf dem Teppich gar nicht gehört, ging eine der Stehlampen an. Und wieder war ihm unbehaglich zumute. Die Situation 67
verwirrte ihn, denn er spürte, bei aller Spontaneität fehlte es an Leidenschaft, bei aller Heimlichkeit an romantischem Zauber. Plötzlich meinte er, es sei alles viel zu schnell gegangen. Und auch jetzt ging es zu schnell. Sie wollte keinen Wein, keine Zigarette, hatte nicht, wie er, das Bedürfnis, erst mal eine Weile am offenen Fenster zu stehen und übers Meer zu schauen. Sie trat dicht vor ihn hin, umarmte, streichelte ihn, aber ihre Bewegungen hatten etwas Nervöses, Fahriges. »Komm!« sagte sie schließlich und zog ihn hinüber zum Bett, und dann ließ er sich doch einfangen von der unbändigen Lust dieser Frau.
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10 Als er aufwachte, dauerte es eine Weile, bis er sich zurechtfand mit der fremden Umgebung und der Schlafenden neben sich. Er rieb sich das Gesicht, sah auf die Uhr. Es war kurz nach halb eins. Er stand auf, so leise es ging, tastete sich zu einer der Stehlampen hin, machte Licht und zog sich an. Sollte er Maria wecken? Doch dann sagte er sich: Wenn sie noch in der Nacht zurück sein müßte, hätte sie es mir gesagt. Und so ließ er sie schlafen. Er knipste das Licht wieder aus, trat ans Fenster, zog den Vorhang zur Seite und hob das Rollo ein Stück an. Der Mond war immer noch da, und das Meer spiegelte sein Licht wider. Die fünf, sechs schwarzen Tupfer darin waren Boote, die vor dem Strand von Comarruga geankert hatten. Ein leichter Wind schien aufgekommen zu sein. Am Rande des Gartens, der bis an den Strand hinunterreichte, bogen sich die Stamme junger Palmen, und ihre Blätter flatterten wie dunkle Bänder im fahlen Licht. Er wollte das Rollo wieder herunterklappen, blickte aber noch einmal über den Garten hin, und da entdeckte er den Mann, der unter den Palmen stand und – mit einem Fernglas vor den Augen – das Haus beobachtete. Roland Simon erschrak, ließ die Hand mit dem Wachstuch ganz langsam sinken, tastete sich ans Bett heran, beugte sich über die immer noch schlafende Maria, packte sie, schüttelte sie. »Mein Gott, was ist?« »Da ist ein Mann im Garten«, flüsterte er aufgeregt. Mit einem Satz war sie aus dem Bett, sprang ans Fenster, lüftete, wie vorher er, das Rollo, spähte hinaus. »Wo denn? Ich sehe keinen Mann.« 69
Er trat hinter sie, bückte sich, sah durch das kleine freigewordene Stück der Fensterscheibe hinunter zu den Palmen. Und wirklich: Da war niemand. »Aber er war da! Ganz sicher! Er guckte durch ein Fernglas, und zwar genau hierher. Kann es dein Mann gewesen sein?« »Mein Gott!« sagte sie noch einmal. Sie ließ das Rollo aus der Hand gleiten, zog den Vorhang zu, hastete durchs Zimmer und machte Licht. Dann begann sie, ihre Kleider zusammenzuraffen, wollte hineinschlüpfen, doch plötzlich hatte sie es sich anders überlegt. »Dafür ist keine Zeit mehr«, sagte sie, und es fiel ihm auf, daß auch sie flüsterte. »Versuch du, hier herauszukommen! Ich leg’ mich wieder hin. Mach schnell! Ich bin sicher, es ist mein Mann.« »Hat er einen Schlüssel?« »Natürlich. Los, beeil dich! Lauf nach unten, aber mach nirgendwo Licht! Du mußt dich verstecken, hinter einer Tür oder in der Besenkammer. Sobald er hier oben ist, verläßt du das Haus, läufst in den Ort und nimmst dir ein Taxi.« »Aber wo ist sie, die Besenkammer?« »Lauf endlich los!« »Und du?« »Er weiß, daß ich manchmal allein hierherfahre, um Gedichte zu schreiben, und so war es dann eben auch heute. Mach schnell!« Gedichte? Gemessen an der Situation, in der sie sich befanden, kam ihm diese Mitteilung grotesk vor, aber er dachte nicht weiter darüber nach, lief zur Tür, öffnete sie, schlich hinaus auf den Flur, drückte die Tür hinter sich zu. Er tastete sich bis ans Treppengeländer heran, nahm vorsichtig die erste Stufe, die zweite, wurde sicherer. Auf halbem Wege half ihm das einfallende Mondlicht, sich 70
zurechtzufinden. Er atmete auf, doch schon im nächsten Moment war alles Tasten und Suchen hinfällig geworden. Das Dielenlicht flammte auf. Neben der Tür, die in den Keller führte, stand Marias Mann. Im Stadion hatte er ihn nur flüchtig gesehen, aber das graue Haar und die untersetzte Gestalt waren ihm aufgefallen. So ließen diese beiden Merkmale in Verbindung mit dem Ort, an dem er jetzt auf ihn gestoßen war, keinen Zweifel zu, daß es derselbe Mann war, wie auch der spanische Oberst kaum Zweifel hegen durfte, daß er inzwischen um einen halben Meter gewachsen war, um die Hörner nämlich, die ihm der soeben in sein Blickfeld geratene junge Mann in dieser Nacht aufgesetzt hatte. Die beiden Männer starrten sich an, und es wäre in diesem Augenblick nur schwer auszuloten gewesen, in wessen Kopf es chaotischer zuging, in dem von Roland Simon, der genau wußte, wie schwer die Ehre eines Spaniers wog, oder in dem des Offiziers, der seine Frau und ihren Liebhaber ertappt hatte. Da Escobedo einen Mantel trug, konnte Roland Simon nicht erkennen, ob er bewaffnet war. Er sah nur in der herabhängenden Rechten das Fernglas. »Usted no sobrevivirá esta noche!« Klar und definitiv, wie ein gerichtliches Urteil, waren die Worte gesprochen worden. Er, Roland Simon, sollte also diese Nacht nicht überleben! In seinem Schrecken verfiel er auf ein Mittel, von dem er nicht wußte, wie wirksam es war, aber er wollte es damit jedenfalls versuchen, und sei es, um Zeit zu gewinnen. »Ich spreche kein Spanisch«, sagte er auf deutsch, und dann fügte er hinzu: »No Spanish!« und klopfte sich auf die Brust. »Come downstairs!« sagte Escobedo. Ganz langsam ging Roland Simon die Treppe hinunter, verharrte auf jeder einzelnen Stufe und ließ den anderen 71
nicht eine Sekunde aus den Augen. »Kommen Sie!« wiederholte Escobedo. Er sprach weiter Englisch, und nun kam noch einmal die unheilvolle Ankündigung: »Sie werden diese Nacht nicht überleben!« Roland Simon antwortete nicht. Er hatte inzwischen die Treppe verlassen und ging auf seinen Gegner zu. Als er bis auf zwei Schritte an ihn herangekommen war, machte er einen Satz bis zur Tür, wollte in den Keller, aber in dem Moment, als sie auf Tuchfühlung waren, schlug Escobedo zu. Mit dem Fernglas. Roland Simon hatte die Hand mit dem Glas in die Höhe schnellen sehen und in einem Reflex beide Arme erhoben; so traf der andere ihn nicht mit der ganzen Wucht, aber dennoch wurde es ein übler Schlag, der eine große, sofort blutende Wunde schnitt. Er wich einen Schritt zurück, taumelte, fing sich aber wieder, hob in einer blitzschnellen Bewegung sein rechtes Knie und stieß mit dem Fuß nach Escobedo, traf ihn in den Leib. Der Spanier ging mit einem Aufschrei zu Boden, und Roland Simon nutzte die Chance. Er riß die Tür auf, sprang die Kellertreppe hinunter, hastete durch den dunklen Gang, stieß gegen einen Mauervorsprung, prallte zurück, lief weiter, erreichte schließlich die Tür, durch die Maria und er ins Haus gekommen waren. Er packte den Griff, riß ihn herunter, aber die Tür war verschlossen, und der Schlüssel steckte nicht. »Verdammt!« Er fluchte laut, rüttelte noch einmal mit aller Kraft an der metallenen Klinke, doch das war mehr Zorn als Hoffnung, denn er war sicher, die Tür klemmte nicht, sondern war abgeschlossen. Auch das kleine, in die obere Hälfte des Türblattes eingearbeitete Fenster bot keinen Ausweg. Rahmen und Kreuz waren nicht aus Holz, sondern aus Eisen. Er ging zurück, irrte durch den Keller, tastete die Wände ab, fand einen Lichtschalter, drückte auf den Knopf. Nun war es 72
hell, aber er wußte nicht, ob er sich darüber freuen sollte, denn falls er tatsächlich hier unten gefangen sein sollte, würde Escobedo, wenn er herunterkäme, ihn noch leichter finden können. Er öffnete eine Tür, trat einen Schritt vor, machte auch hier Licht. Ein Vorratsraum. Regale mit Gläsern, Dosen und Flaschen. In der Außenwand ein Fenster. Er stürzte darauf zu, wollte es öffnen, aber da erkannte er, daß es von außen durch ein Gitter geschützt war. Noch einmal zischte er durch die Zähne: »Verdammt!« Und diesmal war die Enttäuschung noch größer, denn natürlich hatte er keinen Grund anzunehmen, daß die anderen Kellerfenster des Hauses weniger gut gesichert waren als dieses. Er verließ den Vorratsraum, ging zur Treppe zurück, lauschte nach oben, aber nichts war zu hören. Merkwürdig! Und wieso war Escobedo ihm nicht längst nach unten gefolgt? Es waren doch mindestens drei, wenn nicht vier oder fünf Minuten vergangen, seit er sich in den Keller geflüchtet hatte! Er ging ein paar Stufen hinauf, lauschte wieder. Nichts! Und was war mit Maria? Gut, sie hatte gesagt, sie wolle sich ins Bett legen, und das hieß natürlich, so tun, als habe sie geschlafen und das Eindringen des Fremden ins Haus gar nicht bemerkt, aber an diesem Plan konnte sie doch jetzt nicht mehr festhalten! Das wäre töricht, wäre ein schwerer Fehler, denn wenn sie auch den kurzen Wortwechsel zwischen Escobedo und ihm angeblich überhört haben könnte, der Kampf müßte sie geweckt haben. Sie hätte also, um glaubwürdig zu wirken, herunterkommen und nachsehen müssen, was denn eigentlich geschehen sei. Oder hatte sie vor, nun nicht mehr die Schlafende, sondern die Verängstigte zu spielen, die den Lärm zwar gehört, sich daraufhin aber eingeschlossen, womöglich verbarrikadiert hatte? 73
Er nahm wieder ein paar Stufen. Stand Escobedo vielleicht hinter der Tür, wohlwissend, daß der Ertappte, einmal in den Keller ausgewichen, in der Falle saß und also irgendwann heraufkommen würde? Wieder ein paar Stufen. Jetzt waren es nur noch vier, die ihn von der Tür trennten. Er mußte sie vollkommen geräuschlos bewältigen. Sollte nämlich der Heißsporn tatsächlich da oben stehen und eine Pistole bei sich haben, würde vermutlich der geringste von unten heraufdringende Laut ihn veranlassen, sein ganzes Magazin auf die hölzerne Tür abzufeuern. Er drückte sich an die Wand und ging so die letzten Stufen hinauf. Als er oben angekommen war, legte er vorsichtig die Hand auf den Türgriff, ließ sie aber gleich wieder sinken. Wie schießt einer, der seinen Gegner durch ein Türblatt hindurch erledigen will? Wenn er sechs Kugeln hat, bestreicht er von einer Seite zur anderen die ganze Breite und kann dann sicher sein, daß er sein Opfer erwischt hat. Also, folgerte er weiter, leg’ ich mich hin, möglichst flach, und öffne aus dem Liegen heraus die Tür. Ich bin dann zwar, wenn es nur auf einen Ringkampf hinauslaufen sollte, in einer verteufelt ungünstigen Position, sozusagen schon am Boden, aber vielleicht hat er ja doch eine Waffe, und dann besteht immerhin die Chance, daß er, während ich auf den Stufen liege, sein Magazin leerschießt. Ich könnte mitzählen, nach dem sechsten Schuß aufspringen und dann durch die Diele aus dem Haus laufen. Vorsichtig ging er in die Knie, legte sich ganz rechts auf die Stufen, hob den Arm, zog mit äußerster Behutsamkeit den Türgriff bis zum Anschlag hinunter, verharrte, lauschte. Dann schob er die Tür auf, zunächst nur eine Handbreit, lauschte wieder, vernahm nichts. Noch ein Stück und noch eins. Kein Schuß. Vielleicht hatte 74
Escobedo nur sein Fernglas in der Hand. Oder er hatte sich aus der Küche ein Messer geholt; für diesen Fall wäre es natürlich klüger, wieder aufzustehen. Er spähte durch den jetzt etwa dreißig Zentimeter breiten Türspalt, aber der andere war nicht zu sehen. Was war los? Warum rührte sich nichts? Zermürbungstaktik? Oder sollte ich ihn etwa, schoß es ihm durch den Kopf, mit meinem Fußtritt erledigt haben? Die Vorstellung erschreckte ihn derartig, daß er die Tür ganz aufstieß und in die Diele sprang. Escobedo lag tatsächlich am Boden, auf dem Bauch. Roland Simon beugte sich zu ihm hinab, sah auf blutverschmiertes Haar, drehte ihn herum. Der Oberst stöhnte, faßte sich an den Hinterkopf, versuchte, sich aufzurichten, schaffte es nicht, schien das Bewußtsein zu verlieren. Roland Simon sah sich im Zimmer um. Nur etwa eine Armlänge von dem am Boden Liegenden entfernt ragte die steinerne Kante des Kaminsockels in den Raum. Was sollte er tun? Ratlos blickte er auf den Verletzten, ließ ihn schließlich einfach liegen, stürmte die Treppe hinauf, riß die Tür auf, hinter der er Maria wußte. Sie saß im Bett, hatte die Knie angezogen und die Hände unters Kinn gelegt. Sie starrte ihn an. In ihrem Gesicht stand Angst. »Was ist passiert?« Sie fragte es flüsternd. »Er ist verletzt, liegt unten. Es gab einen Kampf. Du mußt einen Arzt rufen. Sofort. Er ist ohnmächtig.« »Wirklich nur ohnmächtig oder …« »Nein, nein! Nicht tot! Eben kam er sogar für einen Moment zu sich.« »Paß auf. Vielleicht findest du es brutal, daß ich nicht hingehe und ihm helfe, aber ich habe keine Wahl. Du mußt jetzt auch mich schlagen, mußt mich verletzen, und dann läufst du zum nächsten Telefon. Du rufst die Polizei an und sagst, du bist am Strand spazierengegangen und 75
hast hier hinter den erleuchteten Fenstern eine Schlägerei beobachtet. Und du hast auch einen Mann gesehen, der das Haus verließ, und vermutlich hat es Verletzte gegeben. Die sollen schnell einen Arzt schicken.« »Wie heißt die Straße hier?« »Du brauchst nur zu sagen: das Haus von Oberst Escobedo in Comarruga. Das kennen sie. Mach schnell! Schlag mich!« Sie war aus dem Bett gesprungen, war nicht mehr nackt, sondern trug ein langes weißes Nachthemd. Das packte sie jetzt am Ausschnitt und zerriß es in einer einzigen vehementen Bewegung. Und dann sagte sie noch einmal: »Los, schlag zu!« »Ich kann nicht.« »Du mußt! Wenn du es nicht tust, bin ich verloren.« Er blickte sich um. Sie erriet seine Gedanken, lief zum Tisch, bückte sich und holte einen hölzernen Fußschemel hervor. »Hier! Beeil dich! Er kann jeden Moment zu sich kommen, und dann ist es zu spät.« Er nahm den Schemel, packte ihn an einem der vier Füße, aber er brachte es nicht fertig, damit zuzuschlagen. Er warf das kleine, aus massivem Holz gefertigte und mindestens drei Kilo schwere Möbelstück aufs Bett. »Ich kann es nicht, und ich versuche es auch gar nicht!« Sie stieß ihn zur Seite, stürzte auf den Nachttisch zu, riß die Schublade auf, suchte mit fahrigen Händen, holte eine Nagelfeile hervor, fuhr sich mit dem spitzen Ende kreuz und quer über den Hals, so daß Blut heraustrat. Schon nach wenigen Sekunden waren große rote Flecken auf dem zerrissenen Nachthemd zu sehen. Dann warf sie die Feile auf den Teppich, lief zum Bett, nahm den Schemel auf und schlug sich die Kante der etwa vier Zentimeter dicken Sitzfläche auf den Kopf. Sie schwankte, ging in die Knie, fiel zu Boden, blieb liegen. Mit entsetzten Blicken hatte Roland Simon das furiose 76
Schauspiel verfolgt, aber jetzt lief er aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und, an dem immer noch auf dem Fußboden liegenden Escobedo vorbei, auf die Terrassentür zu. Sie war unverschlossen. Er rannte hinaus in den Garten und war in wenigen Sekunden auf der Straße. Etwa fünfhundert Meter entfernt sah er Lichter. Er lief auf sie zu, doch als er näher herankam, sah er, daß es Straßenlampen waren. Die Häuser links und rechts lagen im Dunkel. Es dauerte lange, bis er eine Telefonzelle gefunden hatte. Über dem Apparat hing eine Tafel mit den Notrufnummern. Er warf eine Münze ein, sagte dem Posten von der Guardia Civil, der sich gemeldet hatte, seinen Text auf: »Ich habe soeben vom Strand aus im Haus des Obersten Escobedo einen Kampf beobachtet, und zwar erst in einem der oberen Zimmer und dann unten im Erdgeschoß. Sicher hat es Verletzte gegeben. Schicken Sie sofort eine Ambulanz!« Und dann wiederholte er: »Das Haus des Obersten Escobedo, direkt am Strand!« Bevor die Antwort kam, legte er auf, und wieder rannte er, rannte durch den kleinen Ort, voller Angst, er könne der ausrückenden Guardia Civil in die Fänge geraten. Im Laufen preßte er sich sein Taschentuch gegen die Stirn, die Wunde blutete jetzt stärker. Er erreichte die Landstraße, wußte nicht, wohin er sich wenden sollte, kam zu dem Schluß, daß es gefährlich sein könnte, einen in Richtung Barcelona fahrenden Wagen anzuhalten. Womöglich würde man später den Fahrer ausfindig machen und verhören. Also stellte er sich auf die andere Seite der Straße. Schon wenige Augenblicke später hielt ein Laster an, der ihn bis ins Zentrum von Tarragona brachte. Er fragte sich zum Bahnhof durch, studierte die dort aushängenden Fahrpläne. Der nächste Zug nach Barcelona ging erst um zwölf Minuten nach sieben. Das 77
hieße also fünf Stunden durch die Straßen laufen oder sie auf einer Parkbank verbringen! Er wollte weder das eine noch das andere, und ein Hotelzimmer in dieser Stadt wollte er auch nicht. Seine Verletzung könnte ihn verraten, falls man auch hier nach dem Einbrecher von Comarruga fahndete. Er ging in die Bahnhofstoilette und sah sich im Spiegel die Wunde an. Sie hatte aufgehört zu bluten, fiel aber derart ins Auge, daß er es für besser hielt, sich das Haar tief ins Gesicht zu kämmen. Er verließ das Bahnhofsgebäude, ging hinüber zum Taxistand, handelte mit dem Fahrer des ersten Wagens einen Preis aus und warf sich in den Fond. Der Fahrer fragte ihn, ob er lieber die Küstenstraße oder die etwas längere Strecke auf der Autobahn nehmen solle. Küste, dachte Roland Simon, das heißt auch Comarruga, und da halten sie vielleicht schon die Fahrzeuge an. »Nehmen Sie bitte die Autobahn!« sagte er.
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11 Am nächsten Morgen waren ihm die turbulenten Ereignisse der vergangenen Nacht sofort gegenwärtig, denn was er mit dem ersten Augenaufschlag wahrnahm, war nicht mehr das schöne, alte Interieur seines Zimmers im Colón, sondern die schäbige Ausstattung eines drittoder viertklassigen Hotels auf der anderen Seite der Ramblas. Das häßliche, baufällige Haus, in dem das Zimmer nur fünfzehn Mark pro Nacht kostete, stand in einer der engen, die große Markthalle flankierenden Straßen, nicht weit entfernt von dem anrüchigen Barrio Chino. Noch in der Nacht war er umgezogen. Den Hotelangestellten in der Rezeption des Colón hatte sein überstürzter Aufbruch verwundert, aber durch die Mitteilung, ein deutscher Freund habe ihn auf seine Yacht eingeladen und das Schiff laufe schon in einer Stunde aus, hatte er die Situation erklären können. Er hatte seine Rechnung bezahlt und sich dann von einem Taxi zum luxuriösen Hotel Reina Sofia bringen lassen. Dort hatte er sich allerdings nur nach den Preisen erkundigt und anschließend erklärt, sie seien ihm zu hoch. Er war auf die Straße zurückgekehrt, jedoch nicht in eines der vor dem Hotel wartenden Taxis gestiegen, sondern, mit seinem Koffer in der Hand, einige hundert Meter zu Fuß gegangen und hatte dann einen Bus genommen, der ihn zur Plaza de Espana brachte. Von dort aus war er mit der Metro zum Bahnhof gefahren, hatte sich wieder ein Taxi nehmen und zu einem billigen Hotel bringen lassen wollen, doch gerade noch rechtzeitig begriff er, was für ein Fehler das gewesen wäre. Die ganze Odyssee durch Barcelona wäre 79
vergeblich gewesen, denn gerade an diesem Bahnhof, dem Bacelona Termino, kamen die Züge aus Tarragona an. Wahrscheinlich waren die Polizei und Escobedo längst auf den Gedanken gekommen, der Gesuchte könnte mit dem Zug von Tarragona nach Barcelona gefahren sein, und durch Befragung der Taxifahrer, die hier ihren Standort hatten, wäre es ihnen dann ein leichtes gewesen, seine neue Hoteladresse ausfindig zu machen. Er war also erneut in die Metro gestiegen, ein paar Stationen weitergefahren und hatte sich schließlich zum Hostal San Pedro bringen lassen, das ihm zwar nicht gefiel, das er aber, jedenfalls für ein paar Tage, als einen geeigneten Unterschlupf betrachtete. Er stand auf, wusch sich in dem kleinen Handbecken, besah im Spiegel seine Wunde, die nun schon verschorft war, versteckte sie wiederum unter dem Haar. Er zog sich an und verließ das Haus. Die kleinen Lokale an den Ramblas waren bereits geöffnet. Er suchte sich eines, in dem nur wenig Betrieb war, setzte sich in eine Ecke, ließ sich einen starken Kaffee kommen, aß dazu, mit wenig Appetit und eigentlich nur, um den Tag nicht mit leerem Magen zu beginnen, einen bizcocho, ein trockenes süßes Brötchen. Er dachte über seine Lage nach und fand sie alles andere als beruhigend. Durch das Abenteuer mit Maria hatte er sich in Umstände hineinmanövriert, die ihm nicht nur seinen Auftrag erschwerten, sondern auch Gefahr für Leib und Leben bedeuten konnten. Vielleicht war es übertriebene Vorsicht gewesen, die ihn zu seinem Quartierwechsel bewogen hatte, doch er mußte damit rechnen, daß Escobedo seine Frau zur Preisgabe von Informationen über ihren Geliebten zwingen würde, und allein schon aus diesem Grunde war der Umzug notwendig gewesen. Aber wie sollte es nun weitergehen? 80
Er machte sich Sorgen. Er hatte Escobedo, vom Affront gegen dessen Ehre einmal abgesehen, verletzt, womöglich schwer. Außerdem hielt er Marias nachträglich inszenierte Verschleierung der Ereignisse für unwirksam. Escobedo war ihr aller Wahrscheinlichkeit nach heimlich gefolgt, hatte das Haus observiert und also schon vorher Verdacht geschöpft. Nein, er würde ihr nicht glauben, auch wenn sie noch so viele Blessuren vorzeigte. »Zum Teufel mit den Frauen!« Er sagte es halblaut vor sich hin, stand auf, zahlte am Tresen und ging. Er wollte telefonieren, suchte nach einer Zelle, fand sie schon an der nächsten Straßenecke. Er mußte noch einmal Kontakt aufnehmen mit dem Haus, in dem Katja Engelhardt gewohnt hatte. Nach umständlichen Erklärungen und einigem Warten war er wieder mit dem Kanadier verbunden und erfuhr, daß Alfonso zwar schon aus Málaga zurück, aber im Augenblick nicht zu Hause sei. Vielleicht, so wurde ihm gesagt, könne er ihn in der Universität antreffen. Er ließ sich den vollständigen Namen des Studenten geben, dazu das Studienfach und machte sich denn auch sogleich auf den Weg. Bis zur Universität war es nicht weit, und so ging er den Weg zu Fuß, überquerte die Gran Via de les Cones Catalanes und trat ein in das alte, gelblich verputzte Gebäude. Im Sekretariat erfuhr er, daß der Gesuchte, da er Architektur studierte, wahrscheinlich im neuen Universitätsviertel an der Avenida Diagonal zu finden sei. Er fragte, wie er dorthin komme, und man erklärte es ihm, empfahl ihm aber, einen Bus oder ein Taxi zu nehmen. Er bedankte sich, verließ das Sekretariat, fand den Ausgang zur Straße nicht wieder, irrte durch die von Kreuzgewölben überdachten Gänge, auf Schritt und Tritt umgeben von jungen Leuten, die irgendwelchen Hörsälen 81
zustrebten. Er erkundigte sich nach dem Ausgang, fand ihn endlich und wollte gerade auf die gewaltige Tür aus fast schwarzem Holz zugehen, da sah er eine Gruppe von etwa dreißig Studenten, unter denen auffallend viele Blondköpfe waren, und hörte deutsche Worte. Sein eigener in Sevilla absolvierter Sprachkursus fiel ihm ein. So etwas muß es hier doch auch geben, dachte er. Vielleicht gehören diese Leute dazu, und vielleicht hat ja zufällig auch Katja Engelhardt einen solchen Kursus belegt. Er trat an eines der Mädchen heran: »Entschuldige bitte, ich höre gerade, daß ihr Deutsch sprecht. Macht ihr an dieser Uni einen Ausländerkurs?« »Nein«, das Mädchen sah ihn an, »die finden, soviel ich weiß, nur in den Semesterferien statt. Wir sind vom Romanischen Institut Berlin und machen eine Studienreise durch Spanien. Und hier waren wir zu einer Vorlesung.« »Ach so. Danke.« Er blieb noch eine Weile unschlüssig stehen und hörte den Gesprächen zu. Plötzlich ertönte von der Eingangstür her eine energische Stimme, die zum Aufbruch mahnte. Die Gruppe geriet in Bewegung, löste sich auf, und erst jetzt bemerkte er, daß er vor einem riesigen, mit einer Unzahl von Zetteln behängten Schwarzen Brett gestanden hatte, wie er es von der Hamburger Universität her kannte. Da wurden gesucht oder angeboten: Zimmer, Autos, Motorräder, Radios, Fernsehapparate, Sportgeräte, Bücher, Möbel, Mitfahrgelegenheiten oder einfach nur verwandte Seelen. Auch skurrile Dinge gab es. Einer der Texte lautete: »Biete Mitbenutzung meiner Stereoanlage und meiner 400 Schallplatten, suche Aufnahme in Wohngemeinschaft.« Oder: »Suche Ibsens Gesammelte Werke auf spanisch oder englisch; biete ein Jahr lang wöchentliche Lieferung von zwei Kilo frischen Tomaten.« 82
Er las sich fest, wenn auch noch nicht mit System, las mal hier, mal dort, bis er auf den Gedanken verfiel, oben links anzufangen und das etwa fünf Quadratmeter große Mosaik aus weißen Zetteln Botschaft für Botschaft durchzugehen. Es war ganz ähnlich wie bei dem TennisTurnier, als er die Tribünen überprüfte, nur daß seine Erwartung, etwas zu entdecken, diesmal viel geringer war. Und dennoch, hier fand er die Spur, nach der er suchte! Fand schon in der dritten Reihe die mit dem vollen Namen Katja Engelhardt unterzeichnete Annonce! Sie war mit Schreibmaschine geschrieben und lautete: »Erteile Deutschunterricht für alle Stufen und Spanischunterricht für Anfänger.« Der Text war in beiden Sprachen abgefaßt. Unter dem Namen standen Telefonnummer und ein Datum. Die Anzeige war sechs Tage alt. Er notierte sich die Nummer, verließ die Universität, wäre am liebsten zur nächsten Telefonzelle gelaufen und hätte das Mädchen angerufen, unterdrückte dann aber diesen Impuls, wollte sich erst eine Strategie zurechtlegen, wollte darüber nachdenken, wie der erzielte Volltreffer am unverdächtigsten zu verwerten sei. Plötzlich hatte er Hunger auf ein Riesenfrühstück mit Eiern und Schinken und Käse und mindestens drei Tassen Kaffee. In einer der zur Plaza de Cataluna führenden Straße fand er eine chocolateria. Ein Blick durchs Fenster verriet ihm, daß man dort nicht nur Schokolade trinken, sondern auch etwas essen konnte. Er trat ein, suchte einen freien Tisch, setzte sich, bestellte, und während sein üppiges Mahl zubereitet wurde, dachte er nach. Für die ursprünglich geplante, als Zufall getarnte Begegnung konnte er sich nicht mehr so recht erwärmen, kam statt ihrer immer wieder auf das Naheliegende zurück: Ich melde mich bei ihr! Melde mich an! Als Schüler! Als einer, dessen spanischer Wortschatz sich auf 83
buenos dias und buenas noches beschränkt! Der Tücken eines solchen Vorgehens war er sich durchaus bewußt. Ich muß mir, dachte er, die typischen Fehler der Anfänger einbleuen, muß Freude über kleine Lernerfolge vortäuschen und darf auf keinen Fall meine Lehrerin korrigieren, wenn ihr selbst mal ein Fehler unterläuft! Überhaupt, alles, was sie mir beibringt, muß für mich ganz neu sein! Aber das schaffe ich. Und auch, wenn ich dann vorankomme, nicht im Spanischen, sondern in der Liebe, und wir mal ausgehen, ins Kino vielleicht oder in ein Restaurant, muß ich mich ständig kontrollieren, darf den Film nicht verstehen, die Speisekarte nicht lesen können und in ein Gespräch mit ihren spanischen Freunden nicht einsteigen. Auch das schaffe ich! Sein Essen kam, und während er es verzehrte, plante er weiter: Natürlich muß ich, falls wir uns näherkommen, und darauf zielt ja schließlich alles ab, meine Biographie verändern, muß mit einem Lebenslauf aufwarten, der sie neugierig macht. Ich werde ein Lügengebäude errichten, und das ist natürlich schlimm, aber da am Anfang ohnehin die eine große Lüge steht, kommt es auf die vielen kleinen, die dann folgen, wohl auch nicht mehr an. Ein Student darf ich nicht sein. Oder doch! Nämlich einer, der sich angesichts der schlechten Aussichten entschlossen hat, noch schnell das Spanische dazuzulernen, um sich dann in irgendein südamerikanisches Abenteuer zu stürzen. Es kann nicht schaden, wenn ich anklägerisch und aggressiv werde, sobald es um die Zukunft geht, die man unserer Generation gestohlen hat. Das paßt dann gut zu ihrer Aussteigermentalität. Später, wenn wir uns schon besser kennen, schwenke ich allmählich um, und wenn ich ihrer erst mal sicher bin, werde ich uns sehr behutsam zu der 84
Einsicht bringen, daß es zu Hause doch am schönsten ist. Noch genauer wollte er seine Schritte nicht festlegen. Ich kenne sie ja überhaupt nicht, dachte er, und vielleicht stellt sich heraus, daß ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht habe. Das Wichtigste ist jetzt: Es geht weiter. Nein, es geht überhaupt erst los! Er nahm die Serviette, wischte sich den Mund ab, zündete sich eine Zigarette an und blies zufrieden den Rauch über die leergegessenen Teller.
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12 Seit seiner aufregenden Entdeckung am Schwarzen Brett der Universität waren drei Tage vergangen. Er hatte mit Katja Engelhardt telefoniert, sich ihr vorgestellt als jemand, der es eilig habe, das Spanische zu erlernen, und der zufällig auf ihren Zettel gestoßen sei. Sie waren sich schnell einig geworden. Der Unterricht sollte dreimal wöchentlich stattfinden, für zwanzig Mark pro Stunde. Gemessen an der Höhe seiner Tagesspesen, war das kein nennenswerter Posten, zumal er durch den Hotelwechsel täglich eine große Summe einsparte. Das Telefongespräch war noch am Freitag geführt worden, und so hatten sie die erste Stunde auf den darauffolgenden Montag gelegt. Die Zeit bis dahin hatte er mit einigen Unternehmungen überbrückt, war fast einen ganzen Tag im PicassoMuseum gewesen und hatte endlich das Gotische Viertel besichtigt. Er war nicht ohne Bedenken unterwegs gewesen, denn inzwischen hatten die Zeitungen über den Anschlag auf den Obersten Escobedo berichtet. In einem der Blätter hatte er sogar das Bild des Täters entdeckt, eine Phantomzeichnung. Zu seinem Glück war sie ziemlich danebengeraten, aber die im Text enthaltene Personenbeschreibung enthielt eine ganze Reihe zutreffender Angaben. Sie stimmten in bezug auf Körpergröße, Gestalt, Haarfarbe und Kleidung mit den Tatsachen überein. Besonders nachdrücklich hatte man auf die Stirnwunde hingewiesen. Aus der Liebesnacht mit Maria jedoch war etwas ganz anderes geworden, nämlich ein vereitelter Einbruchsversuch und als Folge davon ein brutaler Angriff auf die Eigentümer des Hauses. Da paßten 86
natürlich auch Marias Verletzungen ins Bild. Aber er gab sich keiner Täuschung hin. Ein spanischer Oberst würde es stets zu verhindern wissen, daß die Eskapaden seiner Frau in die Presse kamen, und so blieb offen, ob Escobedo die wahren Hintergründe der Ereignisse kannte oder nicht. Für Roland Simon war jedenfalls klar, daß er weiterhin auf der Hut sein mußte. Über die Verletzungen der Opfer waren keine Details genannt worden. Es hieß nur, beide, der Oberst und seine Frau, lägen im Krankenhaus. Es war halb vier am Nachmittag, und er verließ sein Hotel. Bis zum Paseo de Gracias, wo Katja Engelhardt wohnte, war es ein Fußweg von höchstens zwanzig Minuten, und so trank er, um nicht zu früh zu erscheinen, in der Nähe der Markthalle noch einen Espresso. Dann ging er die Ramblas hinauf, überquerte die Plaza de Cataluna, und wenige Minuten vor vier war er an der angegebenen Adresse. Er fuhr mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock, fand das Namensschild, läutete. Er erkannte sie sofort, nur war sie viel kleiner und zarter, als er gedacht hatte. Sie trug weiße Jeans, genau wie er, und dazu ein olivfarbenes T-Shirt. Das blonde Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. »Hallo«, sagte er und gleich darauf: »Eine so zierliche Lehrerin hatte ich noch nie!« Sie sah ihn an, und es war gar nicht anders möglich, es wurde daraus ein Blick von unten nach oben, denn er war einen Kopf größer als sie. »Du bist also Roland Simon?« Sie gab ihm die Hand, eine Kinderhand. »Ja.« »Komm rein!« 87
Durch einen schmalen Flur folgte er ihr in ein etwa vier mal fünf Meter großes Zimmer. Er sah die weiße Schleiflackfront einer Schrankwand, in der, wie er am Verlauf der dunklen Trennlinien erkannte, auch ein Bett untergebracht war. Außerdem gab es ein Bord mit Büchern, einen Tisch, drei Stühle und einen kleinen Sekretär mit heruntergeklappter Schreibplatte. Auf dem Fußboden lag ein von Wand zu Wand gespannter dunkelblauer Teppich, und in einer Bodenvase stand ein Strauß gelber Chrysanthemen. »Setz dich.« »Danke.« »Möchtest du einen Kaffee?« »Gern, wenn es dir nicht zu viel Mühe macht.« »Er ist fertig.« Sie trat hinter einen Vorhang, kehrte kurz darauf mit zwei gefüllten Tassen an den Tisch zurück, wo Zucker, Milch und eine Schale mit Waffeln bereitstanden, setzte sich ihm gegenüber. Wie ein schutzbedürftiges, in der Turbulenz dieser Millionenstadt gefährdetes Geschöpf kam sie ihm vor, doch die Souveränität, mit der sie, kaum war ihre Tasse geleert, den Unterricht aufnahm, hob diesen Eindruck rasch wieder auf. Sie begann mit den wichtigsten Regeln zur Aussprache, und bereits damit waren für ihn die ersten Fallstricke gespannt. Sie bat ihn, einen einfachen spanischen Text vorzulesen. Er war wirklich kinderleicht, und schnell sagte er: »Einige der wichtigsten Ausspracheregeln kenne ich schon.« »Um so besser«, antwortete sie. »Was mir fehlt, ist die Grammatik. Und beim Wortschatz hapert es natürlich auch gewaltig.« »Okay, darum bist du ja hier.« Sein Bekenntnis, doch nicht, wie am Telefon bekundet, 88
ganz am Anfang zu stehen, erwies sich als glückliche Eingebung, denn es hätte ihm viel Mühe gemacht, immer wieder zu unterscheiden zwischen dem, was er bereits bei ihr gelernt hatte, und dem, was er wußte, aber nicht wissen durfte. Es blieben ohnehin genug Tücken übrig, aber er überstand die erste Unterrichtsstunde, ohne daß Katja Engelhardt auch nur den geringsten Verdacht schöpfte, etwas anderes als der Wunsch, Spanisch zu lernen, habe ihn zu ihr geführt. Er sah auf die Uhr, legte das Lehrbuch aus der Hand. »Es ist schon fünf«, sagte er. »Bist du auch so einer, der mit dem Glockenschlag die Kelle aus der Hand fallen läßt? Oder hat dir die Stunde keinen Spaß gemacht?« »Ich fand sie großartig, aber du hast ja sicher auch noch was anderes zu tun. Halten wir es doch so: Wenn wir Überstunden machen, bezahle ich sie.« Sie lächelte ihn an. »Ich glaube«, antwortete sie, »daran kranken viele Menschen, daß sie jede Minute, die verstreicht, zählen, als sei sie bares Geld.« »Zu denen gehöre ich ganz bestimmt nicht. Ich dachte bloß, gleich kommt der nächste, und dann hast du nicht mal Zeit zum Luftholen. Wie viele Schüler hast du?« »Du bist der erste, der sich gemeldet hat.« »Wie kommt denn das?« »Na ja, Studenten haben nicht viel Geld, und von anderen Leuten werden die Mitteilungen am Schwarzen Brett sicher nicht gelesen.« »Ich würde es mal mit einer Zeitungsannonce versuchen.« »Damit muß ich vorsichtig sein. Ich bin hier nicht gemeldet.« »Du könntest es unter einer Chiffre machen.« »Vielleicht versuch’ ich’s mal.« 89
»Wirklich, das solltest du tun. Du kannst doch nicht von einem einzigen Schüler existieren. Oder machst du den Unterricht nur nebenher?« »Nein. Anfangs hab’ ich gejobbt, aber das klappt nicht mehr so recht. Und offiziell darf ich in diesem Land überhaupt nicht arbeiten, nicht mal diese Stunden geben, weil ich, wie gesagt, schwarz hier bin.« »Dann melde dich doch an.« »Das ist nicht so einfach. Du weißt, wie es den Ausländern bei uns in Deutschland ergeht, und so ähnlich ist es auch hier. Ohne Arbeitsnachweis keine Aufenthaltsgenehmigung, ohne Aufenthaltsgenehmigung keine Arbeit.« »Und wovon lebst du? Diese Wohnung zum Beispiel, die kostet doch eine Menge Geld! In dieser Gegend!« »Sie gehört einer Bekannten von mir, die grad einen Computer-Kursus in Madrid macht. Sie läßt mich für die Zeit hier wohnen, ohne Bezahlung. Und was das Leben anbetrifft, hab’ ich noch ein paar Ersparnisse.« »Die sind bestimmt schnell aufgebraucht in dieser teuren Stadt.« »Das stimmt, aber nun hab’ ich ja erst mal einen Schüler. Für wie lange eigentlich?« »Ich weiß es noch nicht; fünf, sechs Wochen vielleicht. Es können auch acht werden.« »Arbeitest du hier?« »Nein. Ich studiere in Hamburg Germanistik und Anglistik, bin schon bald fertig damit, und dann kommt das große Loch. Es gibt fast keine Chance, nach dem Examen als Lehrer angestellt zu werden. Da hab’ ich mir gesagt: Lern Spanisch dazu und hau dann erst mal ab nach Südamerika! Da gibt es eine Menge deutsche Schulen, vierzig allein in Chile, wie ich neulich gehört habe. Und die brauchen immer deutsche Lehrer. Mit dem offiziellen 90
Weg übers Auswärtige Amt in Bonn geht es natürlich nicht, denn dazu müßte man erst ein paar Jahre in Deutschland gearbeitet haben, und zwar ganz ordnungsgemäß als Beamter oder Beamtenanwärter. Es ist verrückt, ist ein ähnlicher Teufelskreis wie der mit der Arbeitserlaubnis und der Aufenthaltsgenehmigung. Tausende warten auf eine Anstellung, aber in Deutschland kriegen sie keine, und ins Ausland, wo man sie wahrscheinlich gut brauchen könnte, schickt man sie nicht, weil sie nicht mindestens drei Jahre in Deutschland tätig gewesen sind.« »Und wie willst du es trotzdem schaffen?« »Es gibt an den deutschen Auslandsschulen sogenannte Ortskräfte. Die werden nicht über das Auswärtige Amt vermittelt und sind billiger. Man geht auf eigene Kosten nach drüben und schließt so eine Art Privatvertrag. Man verdient dann zwar grad nur das Nötigste, aber es ist immer noch besser, als überhaupt nichts zu tun. Wie bist du denn ins Ausland gekommen?« Es half nichts, sogar bei dieser Frage, die in einem ersten Gespräch so unverdächtig war wie eine Plauderei über das Wetter, fühlte er sich unbehaglich. Er zündete sich eine Zigarette an, hielt auch ihr die Schachtel hin, aber sie lehnte ab. »Ich habe nicht mal Abitur gemacht«, antwortete sie »Hab’ ein Vierteljahr vorher alles hingeschmissen und bin weggegangen aus Deutschland.« »Und warum?« »Weil es mir da nicht mehr gefiel.« »Und deine Familie? Was sagt die dazu?« »Ach, weißt du, das ist so ein Kapitel für sich.« Sie schob ein Lehrbuch über den Tisch. »Hier«, sagte sie, »das nimmst du erst mal mit.« »Aber ich kann es mir doch auch kaufen.« 91
»Das gibt es hier nicht.« »Danke. Übrigens, wenn du nicht so überlaufen bist, könnte ich auch öfter kommen. Es würde mir nichts ausmachen, sechs Stunden pro Woche zu nehmen statt nur drei.« »Wird das nicht zu teuer?« »Wenn ich mein Pensum in wenigen Wochen schaffe, wird’s eher billiger. Wo hat du eigentlich Spanisch gelernt?« »An meiner Schule. Vier Jahre lang. Und nebenher habe ich Volkshochschulkurse besucht.« »Da hast du eine gute Basis gehabt.« »Also, wenn du willst, können wir es so machen, wie du sagst. Aber ich nehme dann nicht zwanzig Mark für jede Stunde, sondern, sagen wir, hundert pro Woche.« »Das finde ich fast zu großzügig von dir.« Er hatte kürzlich gelesen, daß Heinrich Mann in der Emigration eine Zeitlang aus einem Fond lebte, der von seinem Bruder Thomas mitfinanziert wurde, ohne daß Heinrich davon wußte. Das fiel ihm jetzt ein, und die Parallele lag ja auch auf der Hand, denn der Hundertmarkschein, den er ihr jetzt zuschob, kam von ihrem Vater. »Ich zahle im voraus«, sagte er. »Das brauchst du nicht.« »Es ist mir lieber so.« Er überlegte, ob er ihr schon jetzt eine gemeinsame Unternehmung vorschlagen solle, aber dann verwarf er den Gedanken. Es war noch zu früh dazu. Er stand auf. »Wie ist noch gleich dein Vorname?« »Katja.« »Ach ja. Morgen um die gleiche Zeit?« »Gern.« »Bis morgen also.« Sie gaben sich die Hand, und dann brachte sie ihn zur 92
Tür, wartete noch, bis der Lift kam. Durch die kleine Kabinenscheibe aus geriffeltem gelben Glas winkte er ihr noch einmal zu. Verschwommen sah er, wie sie zurückwinkte. Er fuhr hinab, trat auf die Straße und wandte sich in Richtung Plaza de Cataluna. Er hätte jetzt gern sein Zimmer im Colón zurückgehabt, und sei’s nur, um seinen Gedanken an die kleine, zarte Privatlehrerin eine würdigere Umgebung zu geben.
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13 Es war in der Tat ein freudloses Wohnen im Hostal San Pedro. Er trat in sein Zimmer, schloß die Tür, setzte sich auf die äußerste Bettkante und spürte Ekel in sich aufsteigen, weil nicht einmal die Wäsche sauber war. Sollte er nicht doch seine Sachen zusammenpacken und wieder ausziehen? Jetzt gleich? Aber dann sagte er sich: Falls Escobedo in den Hotels nach mir suchen läßt, findet er mich in dieser finsteren Behausung sicher nicht so schnell. Ein paar Tage noch, dann besorge ich mir etwas anderes, irgendwas zwischen Luxus- und Elendsquartier, allein schon ihretwegen, denn vielleicht kommt der Tag, an dem sie sagt: »Zeig mir doch mal, wo du wohnst!« Und ich kann sie doch unmöglich in dieses Rattenloch bringen! Auf dem Nachhauseweg war er ins Telegrafenamt gegangen, um Hannes Vogt von seinem Erfolg zu berichten. Telefonisch hatte er es wegen des mürrischen Hauswirts nicht machen wollen. Außerdem rechnete er damit, daß Hannes noch in Kiel war; dann würde er das Telegramm bei seiner Rückkehr lesen. Er schlug das Lehrbuch auf, das Katja ihm mitgegeben hatte, blätterte darin, überflog ein paar der Übungstexte, nahm aber den Inhalt kaum in sich auf. Er spürte, es war etwas geschehen! Er hatte sich in Katja Engelhardt verliebt. Und er wußte, es war nicht das flüchtige Feuer, war nicht die jähe, leichtfertige Hinwendung wie bei Maria Escobedo, sondern was ihm diese eine Nachmittagsstunde im Paseo de Gracias beschert hatte, war schon das große, alles beherrschende Gefühl, das man empfindet, wenn man sich an einen anderen Menschen verloren hat. 94
Er hatte etwas Ähnliches erst einmal erlebt, als Junge von siebzehn Jahren, hatte mit seinem ganzen Wesen die Stürme einer ersten großen Liebe durchlitten, einer Liebe, die nicht erwidert wurde, und von der er erst nach einem langen, qualvollen Jahr genas. Später dann, bei Marianne, war es ganz anders gewesen, prosaischer, vernünftiger, ohne jede Gefahr der Selbstaufgabe. Und jetzt? Die kleine, zarte Katja Engelhardt ging ihm nicht mehr aus dem Kopf! Wenn er sich noch vor kurzem ermahnt hatte, die Rechnung nicht ohne den Wirt zu machen, so erwies sich nun, daß es bereits geschehen war, wenn auch auf eine ganz andere Weise. Der Wirt war nicht das Mädchen, sondern was hier so überraschend die Rechnung durchkreuzte, war sein Herz, von dem er überzeugt gewesen war, daß es sich aus der ganzen schändlichen Geschichte heraushalten würde. Wie um sich das Dilemma mit aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, öffnete er seinen Koffer, holte einen Schuh heraus und entnahm ihm einen Teil des Lohnes, den er von Dr. Engelhardt entgegengenommen hatte, einen Stapel Schecks. Er blätterte sie auseinander und hatte das Gefühl, ein zwar starkes, aber gezinktes Blatt in der Hand zu halten. Langsam schob er den Fächer wieder zusammen, verbarg ihn an seinem Platz, schloß den Koffer ab, steckte den Schlüssel ein. Er stellte sich ans Fenster, sah hinaus. Es war Abend geworden, und die kleine Straße lag im Dunkel. Nur ihm gegenüber, auf gleicher Höhe, brannte ein trübes Licht. Er konnte in das Fenster hineinsehen, und es hatte etwas bedrückend Intimes, die fremde Wohnung so nah vor sich zu haben, fast zum Greifen. Er sah einen alten Mann am Herd hantieren. Was er nicht sah, dachte er sich dazu: Jetzt kocht er sich seine armselige Suppe, und dann setzt er sich an seinen Tisch, um sie zu löffeln mit seiner bestimmt sehr 95
bleichen Hand, denn wer hier wohnt, kann keine gesunde Haut haben. Und bestimmt lebt er allein; sonst würde ja wohl seine Frau da stehen und im Topf rühren. Falls er Söhne und Töchter hat, sind sie weit weg, denn wer, wenn er noch mitten im Leben ist, könnte es aushalten in einer solchen Gegend, wo es in den Häusern nach Hunden und Katzen und ranzigem Fett riecht und in der fast nie die Sonne scheint, höchstens mittags, wenn ihr Licht genau senkrecht einfällt und für ein paar Minuten in die Tiefe dieser steinernen Schlucht dringt. Ihm graute schon jetzt vor dem Schlafengehen. Es ekelte ihn bei dem Gedanken, sich auszuziehen und in das Laken zu wickeln, von dem er nicht wußte, wie viele Schwären es schon bedeckt hatte und ob es danach auch immer richtig gewaschen worden war. Diesmal – vielleicht, weil er Katja Engelhardt und ihre kleine adrette Wohnung nun schon kannte – empfand er den Widerwillen so stark daß er schließlich das Haus noch einmal verließ. Er ging an der Markthalle entlang, deren Verkaufsstände längst geschlossen hatten, lief eine Weile ziellos durch die engen Straßen, stieß auf die Ramblas, überquerte sie, ging – getrieben von dem plötzlichen Verlangen, an vertrautem Ort zu sein – in die Calle Portaferrisa, die noch hell erleuchtet war und in der sich trotz der späten Stunde die Menschen drängten. Er erreichte die Avenida de la Catedral, zögerte nicht, die kurze, zum Platz ausgeweitete Straße zu betreten, sah die Kirche, sah sein altes Hotel, das Colón, suchte nach Gründen, das noble Haus doch betreten zu dürfen, sagte sich: Maria könnte einen Brief hingeschickt haben, Engelhardts könnten angerufen und zu ihrem Entsetzen erfahren haben, daß ich gar nicht mehr da bin, und dann müßte ich sofort zurückrufen, sie beruhigen. 96
Er ging durch die Drehtür, betrat das Foyer, fragte den Mann an der Rezeption, der ihn gleich wiedererkannte, ob nach seinem Auszug Nachrichten für ihn eingetroffen seien. Der Spanier blätterte einen Stapel Post durch und legte ein Telegramm auf den Tresen, sagte: »Es kam heute nachmittag.« Er nahm es an sich, und dann fragte er: »Wissen Sie, ob sich in den letzten Tagen jemand nach mir erkundigt hat?« »Nein, hier war niemand, jedenfalls nicht während meiner Dienstzeit.« Roland Simon war beruhigt. Von einer polizeilichen Nachforschung hätte der Mann sicher gewußt, auch wenn sie außerhalb seiner Dienstzeit stattgefunden hätte. Und er machte auch nicht den Eindruck, daß er mit irgend etwas hinter dem Berg hielt, um später Alarm zu schlagen. »Auch keine telefonische Nachfrage?« »Einen Moment. Vielleicht kann uns da die Zentrale helfen.« Kurze Zeit später erfuhr er: »Heute mittag rief jemand aus Deutschland an.« »Wer?« »Den Namen weiß die Telefonistin nicht. Es war ein Herr.« Er bedankte sich, trat hinaus, kehrte zurück zur Calle Portaferrisa, stellte sich in einen erleuchteten Ladeneingang, öffnete das Telegramm, las: »Habe eben versucht, dich telefonisch zu erreichen, ohne Erfolg. Eintreffe Dienstag 3.05. Flughafen Barcelona. Gruß Hannes.« Freude und Bedenken stellten sich gleichzeitig ein. Natürlich war ihm der Freund willkommen, aber mit seiner so baldigen Ankunft hatte er nicht gerechnet. Er konnte ihn doch nicht gut im San Pedro unterbringen! Roland steckte das Telegramm ein, ging weiter, und 97
schon nach wenigen Schritten hatte er sich entschlossen. Er würde umziehen! Noch in dieser Nacht! Sofort! Auf den Ramblas war er schon mehrmals am Hotel Manila vorbeigekommen. Es lag nur einige hundert Meter von der Calle Portaferrisa entfernt, und so betrat er es bereits nach wenigen Minuten. Er ließ sich ein Zimmer zeigen, und es gefiel ihm. Zwar lag es direkt an der lauten Straße, aber es gab auch Zimmer nach hinten hin, die genauso eingerichtet waren, und von diesen reservierte er zwei nebeneinanderliegende. Er erklärte, er würde jetzt sein Gepäck holen und dann einziehen, das zweite Zimmer brauche er aber erst für den nächsten Tag. Beschwingt machte er sich auf den Weg. Im San Pedro hatte er für eine Woche im voraus bezahlt, doch angesichts des niedrigen Tagessatzes mochte er über eine Rückzahlung nicht feilschen. Er packte seine Sachen zusammen, verzichtete, da es wiederum nur ein kurzer Weg war, auf ein Taxi, trug sein Gepäck durch die nächtlichen Straßen. Es war kurz nach Mitternacht, als er seine neue Bleibe bezogen hatte. Und wieder trat er, nachdem er sich eingerichtet und dann geduscht hatte, ans Fenster. Er befand sich im vierten Stock, sah hinaus. Nun tat es ihm doch leid, sich für die Rückseite des Hauses entschieden zu haben, denn er sah in einen dunklen Hinterhof und hätte doch so gern dem Freund einen schöneren Ausblick geboten. Okay, dachte er, man kann wohl nicht beides haben, den Blick auf eine bunte, umtriebige Straße und dazu die Stille des Hinterhofes. Ganz still allerdings, so stellte er bald fest, war es nach hinten auch nicht. Er hörte das Summen von Aggregaten. Vielleicht, sagte er sich, entscheiden wir uns morgen zu zweit für die andere, die heitere Seite. Er legte sich hin. Es war ein schönes Gefühl, sich in der 98
weichen, weißen Wäsche zu dehnen. Vor dem Einschlafen kehrten seine Gedanken zu Katja Engelhardt zurück. Sie hat mich heute mit einem Kaffee erwartet, also kann ich morgen doch wohl etwas Kuchen mitbringen. Nicht zu viel natürlich, ein paar Stücke aus einer guten pastéléria. Und vielleicht, wenn dann die Stunde herum ist, kann ich, so ganz beiläufig, sagen: Spanischunterricht, das bedeutet doch eigentlich nicht nur die Sprache; dazu gehören auch das Land und die Leute, zum Beispiel die Stadt, in der man sich gerade aufhält. Du kennst sie, ich nicht. Willst du sie mir nicht zeigen, so wie die Lehrer manchmal den Biologie- oder den Zeichenunterricht nach draußen verlegen, vor Ort sozusagen? Und natürlich zahle ich dir diese Stunden genauso, als verbrächten wir sie über den Büchern, denn es ist ja deine Zeit. Doch dann kamen ihm Bedenken. War ein solcher Vorschlag nicht ein bißchen merkwürdig? Rückte er sie womöglich in die Nähe der Hostessen, die man sich von den Agenturen kommen lassen konnte und die darauf abgerichtet waren, dem eiligen Geschäftsmann die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen, mit ihm einen Drink zu nehmen oder zu essen, und die, wenn es Abend wurde, vielleicht mit höchst privaten Sehenswürdigkeiten aufwarteten? Ich sollte es, dachte er, weniger verdreht mit ihr bereden, einfach gradliniger und jünger, so wie es unter Schülern und Studenten üblich ist: »Ich will mir heute abend den Bunuel-Film ansehen; hättest du Lust mitzukommen?«
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14 »Du, die Straße da unten ist fantastisch, wie eine dicke Ader mit roten und weißen, blauen und grünen und gelben Blutkörperchen! Das flitzt und brodelt nur so! Und wie gut man das alles von hier oben aus sehen kann, die Menschen, die Bäume, die Vogelkäfige! Und links und rechts davon, wie riesige Laufketten, die Autos!« Noch einmal rief Hannes Vogt aus: »Es ist fantastisch!« Es war also doch zu Roland Simons drittem Quartierwechsel gekommen. Ein Taxi hatte die Freunde vom Flughafen zum Hotel gebracht, und schon im Auto hatte Hannes gesagt: »Also, wenn du in puncto Lärm nicht übersensibel bist, mir würde ein Zimmer mit Fenstern zum Leben hin besser gefallen als eins mit Blick in die Gruft. Hinterhof haben wir ja in Hamburg.« Viel mehr als dieser Vorschlag und ein kurzer Bericht über seine erfolglose Reise nach Kiel war von ihm nicht zu hören gewesen während der langen Fahrt, denn die meiste Zeit hatte Roland Simon gesprochen. Er hatte ausführlich berichtet, über jeden einzelnen Tag, den Besuch des Tennis-Turniers, die Fahrt nach Comarruga und seine Flucht von dort, über den Zettel am Schwarzen Brett der Universität und die erste Spanischstunde im Paseo de Gracias. Nur davon, daß Liebe ins Spiel gekommen war, hatte er noch nichts gesagt. Nun stand er vor dem Spiegel. Es war halb vier, und gleich mußte er gehen. Wegen seiner Wunde machte er sich keine Sorgen mehr. Sie begann zu verheilen. Die dunkle Spur ließ sich mit einer dünnen Schicht Puder fast ganz verdecken. »Zu Haus hast du noch nie so lange vor dem Spiegel 100
gestanden.« »Das hier ist etwas anderes. Aber ich glaube, ich hab’ mein Schandmal einigermaßen übertüncht.« Er drehte sich um. Hannes musterte ihn kurz, und dann sagte er: »Komm mal ans Fenster …, ja, so geht’s. Wenn man nicht ganz genau hinsieht, erkennt man nichts. Auf der Straße fällt das keinem auf. Aber was ist mit ihr? Sie sitzt dir doch genau gegenüber, an einem winzigen Tisch. Was sagst du ihr, wenn sie fragt?« »Ach, irgendwas. Du hast geniest, und da ist mir der Rasierapparat ausgerutscht.« »Und wenn sie die Zeitungsberichte gelesen hat und plötzlich mit ’ner dunklen Ahnung rausrückt?« »Dann sag’ ich ihr eben die Wahrheit. Sie wird mir schon glauben.« »Dann bist du für sie ein Abenteurer und hast es viel schwerer, bei ihr zu landen.« »Oder auch leichter. Das weiß man nie so genau.« »Da hast du allerdings recht.« »So, kann ich dich jetzt allein lassen, ohne daß du gleich wie ein brünstiger Elch durch die Stadt trabst?« »Ich warte auf dich, und dann traben wir gemeinsam; das gibt mehr her.« »Bis dann! Ich schätze, so gegen halb sechs.« »Und wenn sich schon heute was ergibt mit dem Kind?« »Dann ruf ich dich an.« »Okay.« Eine halbe Stunde später stand Roland Simon, in der Hand seine Kuchenschachtel, wieder vor ihrer Tür und klingelte. Sie öffnete. Diesmal trug sie einen hellgrauen Cordrock und eine weiße Bluse. »Hallo.« »Guten Tag! Komm rein!« 101
Er legte die Kuchen in der Teeküche ab. »Du erlaubst doch?« fragte er, wartete aber ihre Erwiderung gar nicht erst ab, sondern sprach gleich weiter: »Wie verbringst du eigentlich so deinen Tag? Ich meine, von dieser einen Stunde abgesehen?« Sie setzten sich. »Ich lese viel«, sagte sie. »Aber man kann doch nicht den ganzen Tag lesen!« »Manchmal schreibe ich auch.« »Was denn so?« »Über das, was ich beobachte. Auf den Straßen. In der Metro. Oder auch draußen, außerhalb der Stadt. Es kann passieren, daß ich mich ganz plötzlich, von einer Minute zur anderen, entschließe, in den Bus zu steigen und rauszufahren, irgendwohin. Ich mag die spanischen Dörfer so gern.« »Und warum lebst du dann in einer so großen Stadt?« »Ich mag auch manche Städte gern, diese hier zum Beispiel. Sie hat etwas Versöhnliches.« »Versöhnliches? Brauchst du das? Hast du Ärger mit irgendwas oder irgendwem?« »Ich meine es ganz allgemein. Es gibt so viel, was mich mutlos macht. Darum bin ich in diese Stadt gezogen. Sie ist heiter, und sie ist vital.« Er dachte an das trostlose Zimmer im San Pedro, an den Blick aus dem Fenster, aber er sagte: »Ja, Barcelona hat etwas Fröhliches. Man geht durch die Straßen und vergißt seine Sorgen. Wo bist du eigentlich zu Haus?« »Hier.« »Ich meine, wo warst du zu Haus, bevor du nach Barcelona gekommen bist?« »In Kiel.« »Das ist ja sozusagen vor meiner Tür! Und wann gehst du wieder dahin zurück?« 102
»Vermutlich nie. Aber jetzt haben wir schon fast zehn Minuten vom Unterricht verschenkt. Ich glaube, du willst nur von der Tatsache ablenken, daß du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast. In der Schule haben wir das auch manchmal gemacht. Wir hatten einen Lehrer, der den ganzen Rußlandfeldzug mitgemacht hat, und da brauchte bloß das Stichwort zu fallen, was weiß ich, sibirisches Eichhörnchen oder Bolschoi-Ballett oder auch was ganz Allgemeines wie Kälte und Schnee, und schon scherte er aus. Dabei war von seinem Fach her eigentlich gar nichts drin. Latein. Aber wir schafften es ziemlich oft. Oder er schaffte es. Und vielleicht haben wir in solchen Stunden am meisten gelernt. Aber nun Schluß! Ich hole uns jetzt Kuchen und Kaffee, und dann geht’s an die Arbeit!« Als der kleine Tisch gedeckt war und sie sich wieder gesetzt hatte, fragte sie: »Bis zu welcher Lektion bist du denn gekommen?« »Ich hab’ alles, was wir durchgenommen haben, gründlich wiederholt.« »Lies doch bitte mal den Text auf Seite drei!« Er las laut vor und bemühte sich, ein paar Fehler unterzubringen. Er fand es anstrengend, das eigene Wissen immer wieder zu überspielen, aber dann war es gerade diese Bemühung, die dazu führte, daß er unsicher wirkte. »Das war schon ganz gut.« »Findest du?« »Na ja, brillant war es nicht, aber wir sind ja auch erst ganz am Anfang. Bei dem Satz La Casa de mi Padre tiene cuatro Cuartos hast du die beiden letzten Wörter vertauscht. Cuatro ist vier, und el Cuarto ist das Zimmer, nicht zu verwechseln mit el Cuadro; das ist das Bild. Wie heißt denn wohl: ›Im Zimmer meines Vaters gibt es vier Bilder‹?« 103
»Wie heißt noch mal ›gibt es‹?« »Gestern hast du es gewußt.« »Hay!« »Ja, aber du darfst das ›H‹ nicht mitsprechen!« »Klar. Ist ja wie im Französischen.« »Also: Im Zimmer meines Vaters gibt es vier Bilder.« »En la …« »En el!« »Ach ja. En el cuarto … de mi Padre …« »Hay!« »… hay cuatro cuadros. Das ist ja so wie ›Fischers Fritz frißt frische Fische‹.« Es reizte ihn, sie in Erstaunen zu versetzen mit dem spanischen Zungenbrecher En los cuatro cuartos del cartero de mi Padre hay cuarenta y cuatro cuadros cuadrados, in den vier Zimmern des Briefträgers meines Vaters gibt es vierundvierzig quadratische Bilder. Aber ganz schnell unterdrückte er den kindlichen Impuls, wiederholte langsam ihren kurzen Satz, stotterte, machte lange Pausen und übte sich in Unzulänglichkeit. »Du sprichst das ›R‹ schon sehr gut aus. Viele Leute haben damit ihr Leben lang Schwierigkeiten.« Und so ging es weiter. Vor lauter Lügen schmeckte ihm sein Kuchen nicht; gegen Ende der Stunde sagte sie: »Du ißt ja gar nichts.« »Immer, wenn ich angestrengt nachdenken muß, vergeht mir der Appetit. Das war schon in der Schule so, und auch jetzt kommt es noch vor, daß ich während der letzten zwei, drei Tage vor einer Prüfung kaum etwas esse.« »Das hier ist doch keine Prüfung.« Er aß, wenn auch widerstrebend, seinen Kuchen auf, und dann sagte er: »Wenn es dann vorbei ist, krieg’ ich immer einen Riesenhunger. Nachher zum Beispiel, so um 104
sieben oder acht Uhr, da kann ich cuadro Steaks verzehren.« »Cuatro! Mit ›t‹!« »Okay. Cuatro. Aber viel lieber würde ich dir zwei abgeben. Oder wir essen jeder ein ganz großes. Was hältst du davon?« Sie sah ihn an, lächelte, schüttelte den Kopf. »Oder wenn nicht heute, dann vielleicht an einem anderen Tag. Oder wir könnten uns zusammen irgendwas ansehen, diese abenteuerliche Kirche von Gaudí zum Beispiel. Oder ins Kino gehen.« »Ich würde gern mal zum Kloster Montserrat fahren, jetzt bin ich schon ein halbes Jahr hier und war noch nicht da.« »Wunderbar, das muß ich ja auch noch. Man sagt, wer’s nicht gesehen hat, war nicht hier.« »Aber es ist eine Tagesunternehmung, wenn man nicht mit dem Auto fährt. Ich hab’ keins und du wohl auch nicht.« »Nein. Wie kommen wir also dahin?« »Mit dem Zug und anschließend mit der Seilbahn.« »Machen wir das doch morgen!« »Und die Spanischstunde?« »Die hängen wir dran; oder sie findet im Zug statt. Aber wir können sie auch ausfallen lassen.« »Im Zug, das ist eine gute Idee. Wir nehmen also die Bücher mit. Die Züge nach Montserrat gehen von der Plaza de Espana ab; wollen wir uns dort treffen?« »Oder ich hole dich ab.« »Gut. Sagen wir, um neun.« Er packte seine Sachen zusammen, und sie begleitete ihn wieder bis zum Fahrstuhl. »Bis morgen.« Er wollte ihre Hand nicht loslassen, doch dann war der Fahrstuhl da, und er trat ein, winkte, 105
und sie winkte zurück. Auf dem Bürgersteig drehte er sich noch einmal um und blickte an der Hausfront empor, suchte ihr Fenster, aber der Winkel war zu steil. Er sah nur die aus der Fluchtlinie herausragenden Simse, und es waren viel zu viele, als daß er hätte herausfinden können, welches zu ihrer Wohnung gehörte. Er sah ein Taxi langsam am Bordstein entlangfahren, winkte, stieg ein, und schon wenige Minuten später war er wieder im Hotel Manila. Hannes Vogts Schlüssel hing nicht am Brett. Der Freund war also oben in seinem Zimmer oder im Restaurant. Er fuhr hinauf, trat ein, warf die Bücher auf den Tisch, und da ging auch schon die Verbindungstür auf. »Du bist schnell zurück. Es hat also noch nicht geklappt?« »Doch, und jetzt bin ich ein bißchen in der Zwickmühle. Wir fahren morgen nach Montserrat; das ist ein Kloster in den Bergen, etwa vierzig Kilometer von hier entfernt. Eigentlich müßte ich dich mitnehmen, denn sehen mußt du es unbedingt; aber zu dritt würde daraus eine ganz andere Unternehmung.« »Mensch, nun reg dich wieder ab! Ich steh’ sowieso nicht auf Klöster. Nonnen deprimieren mich immer so.« »Es sind aber Mönche.« »Dann hab’ ich da schon gar nichts verloren.« »Aber es ist dein erster richtiger Tag hier, und ich lasse dich sitzen.« »Ich weiß auch allein was mit mir anzufangen. Wirklich, Roland, mal ganz ernst: Es ist doch wichtig, daß du vorankommst mit ihr. Je besser es klappt, desto schneller hast du dein Geld verdient. Da wartet ja auch noch die Erfolgsprämie.« Roland Simon nahm die Bücher vom Tisch, legte sie 106
aufs Bett; gleich darauf nahm er sie wieder zur Hand und legte sie zurück auf den Tisch. Dann trat er vor den Spiegel und untersuchte seine Narbe, drehte sich endlich wieder um und sagte: »Du, da ist ’ne ziemliche Panne passiert.« »Wo?« »In der Geschichte mit dem Mädchen.« »Hast du kalte Füße gekriegt?« »Nein. Füße nicht und kalt auch nicht.« Er legte sich die Hand auf die Brust, klopfte ein paarmal. »Hier«, sagte er. »Ach du grüne Neune!« »Ja.« »Und nun?« »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich einen ganz verfluchten Auftrag übernommen habe und am liebsten das Geld zurückzahlen würde.« »Aber davon ist schon eine Menge weg. Wenn du morgen abreist, sitzt du in Hamburg, hast ein paar tausend Mark Schulden mehr als vorher und siehst auch das Mädchen nicht wieder.« »Ich weiß das alles.« »Ist sie wirklich so große Klasse, oder bildest du dir das vielleicht bloß ein? Ich tippe, es ist deine besondere Auffassung von Recht und Anstand und Moral und so weiter. Es ist dein verdrehter Kopf; er stellt dir ein Bein.« »Nein, Hannes, so ist es nicht. Es ist ganz anders. Ich sitze ihr gegenüber und vergesse Kiel und die Eltern und das Geld, sehe nur ihre schönen grauen Augen. Und dann den Mund. Sie ist sehr klein, mußt du wissen, wie ein Kind beinah, aber dieser Mund macht mich verrückt. Er sagt zum Beispiel ›Partizip Präsens‹, aber ich höre immer nur ›Das macht, es hat die Nachtigall die ganze Nacht gesungen‹ oder ›Es waren zwei Königskinder‹ oder auch 107
irgendein altes spanisches Lied. Ich möchte über ihr Haar streichen, und natürlich möchte ich sie küssen, aber nicht, weil ich scharf drauf wäre, es ist alles ganz anders, es ist …, entschuldige, es ist mein Herz, das so etwas will. Und wenn sie da so sitzt und mir grammatikalische Regeln aufsagt, die ich im Schlaf kenne, dann manövriere ich sie in Gedanken in irgendeine große Gefahr, bloß um sie daraus befreien zu können. Aber nach dem Unterricht, das fängt schon im Fahrstuhl an, ist sofort die ganze abgefeimte Geschichte mit ihren Eltern wieder da. Und morgen fahren wir also nach Montserrat, und es ist ganz egal, wohin es geht, es könnte Pinneberg sein oder Altona, ich weiß nur, daß ich aufgeregt bin wie ein Fünfzehnjähriger.« »Ist also wohl doch ernster, als ich dachte.« »Es ist sehr ernst, und ich hab’ keine Ahnung, wohin das führt.« »Das beste ist, du sagst ihr die Wahrheit.« »Na hör mal! Ich kann doch nicht davon ausgehen, daß sie sich auch verliebt hat. Und selbst wenn, über den Betrug und über die Käuflichkeit käme sie bestimmt nicht hinweg. Dann zöge sie sich sofort in ihr Schneckenhaus zurück, und ich hätte keine Chance mehr. Nein, damit muß ich warten, bis wir uns so gut kennen, daß sie mit dieser finsteren Vorgeschichte fertig wird.« »Und wie verhältst du dich gegenüber ihren Eltern? Schließlich war eine solche Entwicklung ja wohl nicht eingeplant. Die Tochter für dich einzunehmen, sollte doch nur das Mittel sein, mit dessen Hilfe sie in den Schoß der Familie zurückkehrt. Diese neue Version schmeckt ihnen bestimmt nicht: Du gewinnst sie zwar, lieferst sie aber nicht ab, sondern behältst sie für dich. Das ist so etwas wie eine Unterschlagung.« »Ich rufe die Eltern nachher an und sage ihnen, daß ich 108
Katja gefunden habe. Das wollte ich eigentlich heute morgen schon tun, aber ich hab’s dann doch aufgeschoben. Also, ich verständige sie erst mal, damit sie beruhigt sind. Daß meine eigentliche Aufgabe erst jetzt anfängt, ist ihnen dann auch klar, und so hab’ ich Zeit gewonnen.« »Und der heutige Abend? Gehört der uns? Bist du frei?« »Sei nicht so zynisch! Ich zeige dir Barcelona bei Nacht.« »Das ist ein Wort.«
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15 Sie verließen das Taxi an der Plaza de Espana, gingen die Treppe hinunter und gelangten in die unterirdischen Gewölbe der Eisenbahnstation. Roland löste die Fahrkarten, kaufte noch etwas Obst und eine Schachtel Zigaretten, und dann suchten sie nach ihrem Bahnsteig. Beide hatten Jeans an, Roland ziemlich ausgebleichte, Katja etwas dunklere, und dazu Pullover. Seiner war ein grober, grauweiß gemusterter Norwegerpullover, den seine Mutter ihm vor Jahren geschenkt hatte. Ihrer war aus einer feinen dunkelblauen Wolle gestrickt; er lag eng an und ließ deutlich die Wölbungen ihrer Brüste erkennen. Beim Schuhwerk hatte er sich vertan, hatte seine Tennisschuhe angezogen, während sie wadenhohe Stiefel über den Jeans trug. Im Taxi, gleich zu Beginn der Fahrt, hatte sie gesagt: »Wollen wir nicht lieber umkehren und dir noch schnell ein paar feste Schuhe aus dem Hotel holen? Weil’s doch in die Berge geht!« Aber er hatte das für zu umständlich gehalten. Der Zug stand schon bereit. Er hatte nur drei kleine Wagen, die weder die Intimität von Einzelabteilen noch den Luxus bequemer Sitze boten. Sie stiegen ein, fanden noch zwei Fensterplätze. »Es ist eine Nebenstrecke«, sagte sie, »eine mit schmalen Schienen.« »Und wie lange dauert die Fahrt?« »Ungefähr anderthalb Stunden.« Er sah sich um, warf einen Blick auf die Mitreisenden. Da waren ein paar Schüler und Schülerinnen, ein Priester, zwei Bäuerinnen mit großen Gemüsekörben zu ihren 110
Füßen, ein alleinsitzender Mann in pepitagemusterter Jacke, der eine englische Zeitung las, drei Männer in blauen Overalls und auf der Bank hinter ihm zwei blonde Mädchen, die sich, wie ihm schien, auf dänisch unterhielten. Als er sich Katja wieder zuwandte, machte sie eine weit ausladende Handbewegung, so als segne sie die Fahrgäste. »Esto es un tren«, sagte sie und übersetzte auch gleich: »Dies ist ein Zug.« Und dann: »Va a Montserrat. Er fährt nach Montserrat. Kannst du die beiden Sätze wiederholen?« »Tu eres muy guapa!« sagte er, und sie antwortete: »Nein. Ich bin nicht schön. Woher hast du das? So weit sind wir doch noch gar nicht.« Sie lachten beide über den Doppelsinn ihrer Worte, und dann erwiderte er: »Das habe ich in deinem Buch gefunden.« »Aber es stimmt nicht!« »Doch! Es muß stimmen, der Kellner in meinem Hotel hat das auch gesagt.« »Der kennt mich ja gar nicht.« Wieder lachten sie, lachten so laut, daß die Leute zu ihnen hinübersahen. »In welchem Hotel wohnst du eigentlich?« »Im Manila.« »Und wie wohnt sichs da?« »Ganz passabel. Es liegt direkt an den Ramblas, ist also laut, aber wo es laut ist, ist es auch lebendig, und das ist es, was wir wollen.« »Wir?« »Gestern ist mein Freund aus Hamburg angekommen.« »Warum hast du ihn nicht mitgebracht?« »Er wollte es, wie er sich ausdrückte, retardierend anlaufen lassen und darum nicht gleich am ersten Tag 111
wieder raus aus der Stadt.« »Ist er auch Student?« »Ja. Wir haben in Hamburg eine gemeinsame Wohnung.« »Versteht ihr euch gut?« »Ja. Er ist der Bajazzo, und ich bin der große Tragöde. So ergänzen wir uns gut.« »So tragisch erscheinst du mir gar nicht.« »Na ja, ich wollte es nur anschaulich machen. Ich bin der Stille und Schwerfällige, und er sorgt bei uns fürs Lachen.« »Hast du Geschwister?« »Nein.« »Und deine Eltern? Wo leben die?« »Ich habe nur noch meine Mutter. Sie wohnt in Düren. Mein Vater starb, als ich sechs Jahre alt war. Ich erinnere mich kaum noch an ihn. Er fuhr zur See und war nur selten zu Haus. Und deine Eltern?« »Ich bin von ihnen weggegangen, weil wir …, wie soll ich es sagen? Also, wir lebten zwar in ein und demselben Haus, aber in verschiedenen Welten, und auf die Dauer ging das nicht gut.« »Klingt ziemlich traurig. War da nichts zu machen? Manchmal schafft man’s doch, sich über alle Verschiedenheit hinweg zu verstehen und vielleicht sogar zu lieben.« »Die Liebe, ja, das ist es eben! Meine Eltern haben mir alles gegeben, was für Geld zu haben ist. Ich hatte zwei große Zimmer, einen Fernseher, eine Stereoanlage, und zwar die teuerste, die es in unserer Stadt zu kaufen gab; sogar ein Auto haben sie mir geschenkt, und mit meinen Kleidern hätte ich eine Boutique aufmachen können. Aber ich verlangte etwas anderes von ihnen, etwas viel Wertvolleres, und das wollten sie mir nicht geben: Zeit. Es 112
klingt vielleicht nach nichts, oder es klingt hergeholt, weil Zeit …, na ja, du kannst sie zwar messen und zählen, aber du kannst sie nicht wiegen, und ich glaube, das ist eine entscheidende Nuance. Meine Eltern behaupten, sie hätten mir fast zwei Jahrzehnte ihrer Zeit gegeben, nämlich genau die Spanne, die mein bisheriges Leben umfaßt, und in dieser Rechnung steckt alles drin, was ich dir eben aufgezählt habe, das Auto, die Kleider und so weiter. Sie sagen, sie haben Jahre und Jahre gearbeitet, und diese Arbeit galt auch mir. Auf ihre Art haben sie vielleicht sogar recht, aber ihre Art ist eben nicht meine Art, und das ist das eigentliche Problem. Ich wollte ihre Zeit nicht auf dem Umweg über viele schöne und teure Gegenstände, sondern dann und wann einen richtigen Armvoll ganz für mich, ein langes Gespräch zum Beispiel, eins, das bis in die Nacht geht. Oder einen weiten Spaziergang. Strand oder Wald. Oder auch durch unsere Stadt, aber dann ohne Schaufenster.« »Was machen sie denn beruflich?« »Mein Vater ist Röntgenarzt, und meine Mutter arbeitet mit ihm zusammen. Sie haben ein riesiges Institut. Manchmal glaube ich, es spielt eine Rolle, daß sie immer nur röntgen, immer nur Fotos machen, Fotos von Menschen, Fotos von Krankheiten, aber mit den Menschen selbst nie zu tun haben. Sie sehen zwar dauernd das Innere auf ihrem Schirm, aber das eigentlich Innere ist es ja gar nicht; es sind nur die Innereien. Vielleicht hat dieses ständige Auswerten von Fotografien sie für den Umgang mit wirklichen Menschen so unsensibel gemacht.« Draußen ertönte ein Pfeifsignal, und gleich darauf setzte sich der Zug mit einem heftigen Ruck in Bewegung. Katja sah aus dem Fenster, wischte mit dem Ärmel ihres Pullovers über die beschlagene Scheibe. 113
»Du, ich freue mich auf diese Fahrt. Wenn wir Glück haben, kriegen wir die Messe mit. Ich habe gelesen, daß jeden Mittag ein feierlicher Gottesdienst stattfindet und daß die Mönche mit ihren Schülern dazu singen. Sie leben da oben wie eine große Familie.« Aber Roland Simon dachte an die Familie in Kiel, die, wiewohl nur dreiköpfig, nicht zusammengeblieben war. Und sah gewaltige mit Laufschienen versehene Regale vor sich, in denen Tausende von Röntgenaufnahmen hingen. Der Zug fuhr mit mäßigem Tempo durch die Stadt, oft so dicht an den Häusern vorbei, daß man in die Fenster hineinsehen konnte. Je weiter es auf den Stadtrand zuging, desto armseliger und verwahrloster wurden rechts und links die Wohnbezirke. Dazwischen lagen Werkstätten und Fabriken, große wie kleine. Manche waren modern und ordentlich, andere sahen aus wie fluchtartig verlassene Feldlager, so wild durcheinander standen Fahrzeuge, Geräte, Materialien und Abfalle herum. Doch auch da verriet schließlich irgendein Rad, das sich drehte, oder ein Mann, der an einer Maschine stand, oder auch eine Rauchfahne, daß dort gearbeitet wurde. Endlich, sie waren schon fast eine halbe Stunde gefahren, kamen die Felder, und ihr Anblick tat gut, obwohl Winter war und es nirgends blühte oder reifte. Der Zug wurde schneller, immer schneller, und je mehr seine Geschwindigkeit sich steigerte, desto heftiger wurden die Wagen gerüttelt und geschüttelt. Die Passagiere mußten sich festhalten, um nicht von den Sitzen geworfen zu werden. Und laut ging es zu, so laut, daß Roland und Katja sich nur noch durch Zurufe verständigen konnten. Das Hämmern der Räder auf die Schweißnähte der Schienen mischte sich mit dem Ächzen der Wagenwände. Plötzlich hatte Katja ein Problem, über das sie zwar 114
lachte, das sie aber zugleich erröten ließ. Das Rütteln war so stark geworden, daß ihre Brüste in Bewegung gerieten. Sie trug keinen Büstenhalter, und so hüpften die kleinen Halbkugeln unter ihrem Pullover munter hin und her. Rasch kreuzte sie die Arme, und um dieser Geste den Anschein von Beiläufigkeit oder auch harmloser Verspieltheit zu geben, faßte sie an ihre Ohrläppchen; die linke Hand hielt das rechte und die rechte das linke. Auch Roland mußte lachen. »Ich würde sie ja gern für dich festhalten«, sagte er, »aber dann gäbe es hier einen Aufstand. Beim nächsten Halt würde man uns verhaften, und du bekämest noch ein paar Jahre mehr als ich, denn bei dir wäre es Unzucht mit Abhängigen; schließlich bin ich dein Schüler.« »Vielen Dank für dein zweifelhaftes Angebot!« Immer noch saß sie da mit verschränkten Armen, in jeder Hand ein Ohr. »Eine verrückte Situation, aber wer rechnet denn auch mit so was!« Der Zug ging in eine Kurve. Roland beugte sich vor und hielt Katja an den Schultern fest. Gleich darauf wurde die Fahrt langsamer. Das Rütteln hörte auf, und sie ließ die Arme sinken. An der Seilbahnstation waren sie dann die einzigen Fahrgäste, die mit der Kabine hinaufwollten. Der Wärter schloß die Tür, und gleich darauf setzte sich das stählerne Gehäuse in Bewegung. Sie schwebten in flachem Winkel über die Straße, und dann ging es, immer steiler werdend, hinauf. »Jetzt kannst du erkennen«, sagte sie, »wie es zu dem Namen ›Montserrat‹ gekommen ist. ›Zersägter Berg‹ heißt das.« Sie sahen die Zähne des zerklüfteten Grats in den Himmel ragen. »Ein guter Platz für ein Kloster«, meinte er. »Ja, das finde ich auch. Ich glaube, da oben fühlt man 115
sich Gott näher. Es fing vor ungefähr tausend Jahren mit einer kleinen Einsiedelei an, aber bald danach bauten sie eine Kirche. Die Basilika entstand, wie ich gelesen habe, im sechzehnten Jahrhundert.« Plötzlich war nichts mehr zu sehen. Weiße Wolken umhüllten das luftige Vehikel, und seine beiden Insassen wurden still. Roland spürte plötzlich Katjas Hand auf seinem Arm. Er legte seine Rechte darüber und sagte: »Hab keine Angst! Das ist nicht die erste Fahrt, die der Kasten macht; da passiert nichts.« Ihre Hände blieben beieinander, auch als die Kabine die Wolkenschicht durchstoßen hatte und auf der Gleitschiene aufsetzte. Der erste Eindruck des alten Wallfahrtsortes war wenig sakral. Sie sahen einen ausgedehnten Parkplatz, ein Schnell-Restaurant mit angeschlossenem Drugstore, mehrere Souvenir-Läden. Da wirkten, ein paar Schritte weiter, die in dunkle Tücher gehüllten Frauen mit ihren kleinen Verkaufstischen schon gottgefälliger. Eine Stunde dauerte der Erkundungsgang durch Kirche und Kloster, Bibliothek und Pinakothek. Sogar ein BibelMuseum gab es dort oben mit seltenen Funden zur Geschichte der Heiligen Schrift. Auch den feierlichen Gesang der Mönche und ihrer Schüler hörten sie sich an, und obwohl sie beide sonst keine Kirchgänger waren, fühlten sie sich einbezogen in diesen Gottesdienst. Nach der Messe gingen sie ins Restaurant, und was schon bei der Ankunft der flüchtige Blick durch die großen Fensterscheiben hatte ahnen lassen, bewahrheitete sich: Sie saßen in einem kahlen, kalten Saal, holten sich das Essen vom Tresen und hatten, während sie die Hähnchen mit Pommes frites verzehrten, das Gefühl, in eine unwirtliche Autobahnraststätte geraten zu sein. 116
»Du hast«, sagte Katja, »das Taxi bezahlt, die Fahrkarten und dieses Essen, also darf ich dich morgen abend in ein schönes, altes Fischrestaurant einladen, ja? Es liegt im Gotischen Viertel.« »Aber für so ein Essen mußt du mindestens drei Unterrichtsstunden geben!« »Ich möchte es nun mal gern.« »Wir könnten uns doch auch irgendwas Schönes kaufen und es dann in deiner Wohnung zubereiten.« »Du schlägst mir also meine Bitte ab?« »Nein.« »Aber was machen wir mit deinem Freund? Du könntest ihn mitbringen.« »Lieber nicht. Er kommt sehr gut allein zurecht.« »Bleibt er auch so lange wie du?« »Nein, nur ein paar Tage.« Sie hatten ihre Teller geleert, verließen das Restaurant und gingen Hand in Hand zur Seilbahnstation. Wieder waren sie die einzigen Fahrgäste, aber diesmal verzögerte sich der Start. Katja hatte den einzigen vorhandenen Sitzplatz eingenommen, ein aus der Wand herausgeklapptes schmales Holzbrett. Roland stand dicht neben ihr. Plötzlich drangen Stimmen zu ihnen herüber, Männerstimmen, unterbrochen von Hammerschlägen. Sie sahen hinaus, und was sie da entdeckten, beunruhigte sie. Zwei Monteure arbeiteten im Räderwerk des Maschinenhauses, und es hatte ganz den Anschein, als müsse da noch etwas repariert werden, bevor die Fahrt losgehen konnte. Schließlich kam einer der beiden Männer zu ihnen, in der einen Hand eine dicke Eisenstange, in der anderen ein tellergroßes Zahnrad. Er legte die schweren Teile auf den Kabinenboden, sagte: »Die fahren auch mit. Könnten Sie wohl dem Wärter da unten Bescheid sagen, 117
damit er sie herausholt?« Roland hatte schon eine Antwort auf der Zunge, da fiel ihm in der buchstäblich letzten Sekunde ein, daß er den Mann nicht einmal verstanden haben durfte. Katja gab die Antwort, und sie sprach sehr leise: »Sí, señor.« Der Monteur schloß von außen die Tür und gab seinem Kollegen ein Handzeichen. Ein kräftiger Ruck ging durch die Kabine. Sie löste sich von der Rampe, schwebte abwärts. Katja saß starr auf ihrem Klappstuhl. Sie erreichten die Nebeldecke, tauchten ein. Plötzlich sagte sie: »Ich hab’ ein Problem.« Er trat noch dichter an sie heran, legte seine Hand auf ihr Haar. »Was für eins?« »Die beiden Teile da …«, sie nickte in Richtung auf die Stange und das Zahnrad, »fehlen doch jetzt da oben. Ich glaube, wir kommen nicht heil an.« »Aber natürlich kommen wir heil an! Wir sind ja schon halb unten und schweben genauso sanft wie auf dem Hinweg.« Er faßte sie bei den Schultern, zog sie vom Sitz hoch. Wieder tanzten Nebelfetzen um die gläserne Kuppel, aber Katja wagte nicht hinzusehen. Sie senkte den Kopf, schloß die Augen. Roland legte seine Rechte unter ihr Kinn, hob es ganz leicht an, beugte sich hinunter, küßte sie. Sie erwiderte den Kuß, drängte sich gegen ihn, hielt immer noch die Augen geschlossen. Erst als sie unten aufsetzten, löste er sich von ihren Lippen. Sie sah ihn lächelnd an, und dann sagte sie: »Entschuldige bitte, aber so ist es nun mal, wenn Leute aus Kiel sich in eine Seilbahn setzen. Ich hoffe nur, die Jodler haben genausoviel Angst in einem Segelboot bei Windstärke acht oder neun.« »Haben sie bestimmt.« Der Wärter öffnete ihnen die Tür, und sie sagte: »Die 118
beiden Maschinenteile schickt Ihnen Ihr Kollege von da oben.« Ihre Stimme klang wieder fest. »Gracias, señorita.« Sie mußten zwanzig Minuten auf den Zug warten. Als sie eingestiegen waren, fragte sie: »Warum hast du mich geküßt?« »Na hör mal! Man fragt doch auch nicht, warum die Sonne scheint oder warum jemand Neger ist. Das sind nun mal die unausweichlichen, naturbedingten Gegebenheiten.« »Ich glaube, es war nur, weil du merktest, daß ich Angst hatte. Du wolltest mich ablenken.« »Nein. Der Wunsch, dich zu küssen, war vorher da. Dann merkte ich, daß du Angst hattest, und dachte mir: Das ist ein günstiger Augenblick. Sie durchläuft gerade eine Phase der Schwäche, und so wird ihre Gegenwehr nicht allzu heftig ausfallen. Daß ich dich irgendwann küssen mußte, stand schon seit vorgestern fest.« »Ich verlange aber trotzdem, daß du immer deine Hausaufgaben machst.« »Tu’ ich. Wir könnten übrigens die Spanischstunde nachher dranhängen.« »Heute lieber nicht. Du mußt dich um deinen Freund kümmern und ich mich um mein seelisches Gleichgewicht. Wir machen morgen zwei Stunden, und anschließend gehen wir essen. Einverstanden?« »Einverstanden. Aber wir könnten, damit es nicht zuviel auf einmal wird, eine Stunde vor dem Essen machen und die andere danach.« »Das ist mir ein bißchen zu strategisch«, sagte sie.
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16 Roland Simon war ins Hotel zurückgekehrt, hatte den Freund nicht vorgefunden und sich an die Bar gesetzt, um auf ihn zu warten. Dort war er nun schon fast eine Stunde, trank seinen dritten Espresso und dachte über die veränderte Lage nach. Seinen Auftrag hatte er also erfolgreich angepackt, hatte einen ganzen Tag mit Katja Engelhardt verbracht, sie bei der Hand gehalten und sogar geküßt, und morgen würden sie schon wieder, Unterricht und Abendessen zusammengenommen, viele Stunden zusammen sein. Er kam also voran. Aber er hatte nicht die geringste Lust, darüber Bericht zu erstatten. Mit Schaudern erinnerte er sich der vielen Gespräche, die er bei der Bundeswehr mitangehört hatte. Die Soldaten hatten ihre amourösen Erlebnisse wie überstandene Heldentaten zum besten gegeben, immer munter drauflos nach der Devise: Je schlüpfriger die Details, desto mehr Anerkennung! Im Grunde gehörte auch Hannes Vogt zu diesen Typen; außerdem war er nicht minder versessen aufs Zuhören, und diesmal hatte er sogar einen gewissen Anspruch auf den Rapport, denn er war es ja gewesen, der die ganze Aktion eingeleitet hatte. Und erst Katjas Eltern, die das Werben um die Tochter als regelrechte Maßnahme angesetzt hatten! Denen mochte er schon gar nicht berichten. Er hätte sie längst anrufen müssen, schob es aber auch jetzt wieder auf. Er winkte dem Ober und bestellte sich einen Campari mit Orangensaft und Eis, aber als das Glas vor ihm stand, trank er nicht gleich, sondern zog erst mal Notizbuch und Kugelschreiber heraus und machte seine Rechnung auf. Ganz oben stand, wie eine beklemmende Warnung, die 120
Zahl sechzehntausend. Sie bedeutete die erste Honorarhälfte von zehntausend Mark und die für vier Wochen im voraus gezahlten Spesen. Jetzt schrieb er neben diesen Posten: Zahlung von Dr. Engelhardt. Darunter setzte er, mit genauer Spezifikation, seine Ausgaben. Sie umfaßten Hannes Vogts Reise nach Kiel, dessen Flug von Hamburg nach Barcelona und seine eigenen Kosten für Übernachtungen, Mahlzeiten, Taxiund Eisenbahnfahrten sowie für den Eintritt ins Stadion Palau und schließlich die hundert Mark für den Spanischunterricht. Dann folgten die Beträge für die noch in Hamburg vorgenommene Tilgung seiner Schulden, so daß sich das Debet auf runde dreitausendfünfhundert Mark belief. Schließlich fiel ihm ein weiterer Posten ein, den er zunächst vergessen hatte, weil er als Geldbetrag überhaupt nicht in Erscheinung getreten war, nämlich der für seinen eigenen, ihm von Dr. Engelhardt ausgehändigten Flugschein. Das waren eintausendundvierzig Mark. Im ganzen mußte er also, wollte er noch acht bis vierzehn Tage in Barcelona bleiben und dann das Geld an Katjas Vater zurückgeben, ungefähr sechstausend Mark aufbringen. Sechstausend, dachte er, das ist ja fast mein Jahresetat! Schon beim ersten Treffen mit Katja hatte er daran gedacht, sich eventuell von seinem Auftrag loszukaufen, aber da hatte er seine Schulden noch nicht addiert. Erst jetzt war ihm klargeworden, es ging um einen ausgewachsenen Kredit und nicht mehr um kleine, beim Bäcker, Buchhändler und Hauswirt stehengebliebene Restbeträge. Was war zu tun? Sollte er sein Studium für ein halbes oder auch für ein ganzes Jahr unterbrechen und während dieser Zeit Geld verdienen? Das würde nicht klappen, denn zur Annahme des Barcelona-Auftrags war es ja nur 121
gekommen, weil er keinen anderen Job gefunden hatte. Wieso sollte er jetzt etwas finden, noch dazu etwas, bei dem er soviel Geld verdienen würde? Und wenn er das Studium aussetzte, bedeutete das ja auch Verzicht auf die staatliche Unterstützung. Blieb eine Anfrage bei seiner Mutter. Aber er wußte, bei ihrem niedrigen Gehalt würde sie ihm nur helfen können, wenn sie ihrerseits ein Darlehen aufnähme, und so schob er die Entscheidung, sie zu fragen, hinaus. Er steckte das Notizbuch ein, nahm einen großen Schluck von seinem Getränk, setzte das fast leergewordene Glas ab und wollte gerade aufstehen, da sah er Hannes Vogt durch die Tür kommen. Er winkte ihm zu, und der Freund setzte sich zu ihm. »Ich dachte schon, die Stadt hätte dich verschluckt.« »Ich hab’ mir ’ne Menge angesehen. Toller Platz, dieses Barcelona! Ich glaub’, hier könnte ich leben. Aber nun sag schon, wie ist es dir ergangen?« »Es war ein schöner Ausflug. Den Montserrat solltest du unbedingt sehen, am besten gleich morgen.« »Bist du auch privat ein Stück weitergekommen? Das heißt, eigentlich müßte ich ja sagen: beruflich.« »Es läßt sich vielversprechend an.« »Dabei hab’ ich immer geglaubt, Wallfahrtsorte seien kein Gelände für zärtliche Annäherungen. Wegen der vielen Leute und auch, weil sie sozusagen Gottes spezielles Revier sind und daher eine gewisse Zurückhaltung auferlegen. Na ja, wo die Liebenden hinfallen! Ich hab’ über euch nachgedacht. Eigentlich ist es gar keine richtige Panne, denn jetzt, wo du Feuer gefangen hast, brauchst du ihr nichts mehr vorzumachen. Du bist jetzt der, den du eigentlich nur spielen solltest, und das macht doch alles leichter.« »Im Moment vielleicht, aber bald ist es dann um so 122
schwieriger.« »Kann sein, daß du recht hast. Weißt du, wenn es immer noch darum ginge, vor der Kleinen ’ne Show abzuziehen, dann wurde ich dir jetzt Löcher in den Bauch fragen. Allein schon aus Lernbegierde. Dann müßtest du mir jeden einzelnen Handgriff demonstrieren. Aber nun, wo das Ganze kein Spiel mehr ist …« »Ich glaube, sie mag mich und hat Vertrauen zu mir, ausgerechnet zu mir! Sag mal, hast du zufällig einen Onkel, der dir sechstausend Mark schenken würde? Die könntest du mir dann leihen. Ich würde diesem Engelhardt jeden Pfennig zurückzahlen und bräuchte nicht mehr mit falschen Karten zu spielen.« Hannes wiegte den Kopf. »Ich hab’ zwar ein paar Verwandte, die …« »Mensch, Hannes, das war doch nur Spaß! Aber was ich dir damit klarmachen wollte, ist, daß ich nach einer Möglichkeit suche, mir die sechstausend Mark zu beschaffen, um diesen Wahnsinnsjob schnellstens wieder loszuwerden.« »Das klappt nicht, Roland. Wir müssen einen anderen Weg finden. Zum Beispiel, du verzichtest auf die Erfolgsprämie und sagst den sauberen Eltern, die Aktion ist schiefgegangen, die Kleine will partout nicht zurück und du gibst auf. Das können sie dann bedauern, aber sie dürfen es dir nicht übelnehmen. Immerhin hat der Vater es auch versucht und nicht geschafft. Sie wissen genau, dein Erfolg stand von Anfang an in Frage; sie sind also auch auf einen Reinfall gefaßt. Dann nimmst du dir das Mädchen, und ihr macht irgendwas nach eurem Geschmack.« »Und damit haben wir das, was du neulich Unterschlagung nanntest.« »Man müßte den Tatbestand etwas verwischen. Zum Beispiel, du gehst erst mal nach Deutschland zurück, gibst 123
Bericht, wartest drei Wochen, fährst wieder nach Spanien, und ihr fangt ganz von vorn an. Nirgendwo steht geschrieben, daß sie nach einem ersten mißglückten Anlauf für dich tabu sein muß.« »Das ist mir zu spitzfindig. Außerdem, vielleicht kommen die Eltern auf die Idee, einen zweiten Mann nach Barcelona zu schicken. Der fängt dann an zu recherchieren, meldet nach Kiel, die Tochter lebe offensichtlich nicht allein, beschreibt ihnen mein Aussehen oder schickt womöglich ein heimlich gemachtes Foto hin, und schon ist die Sache geplatzt. Dann liegt der Betrug auf der Hand. Nein, ich glaube, ich frage meine Mutter, ob sie mir das Geld leiht.« »Ich denk’, die hat selbst nichts.« »Aber die Bank würde ihr einen Kredit geben.« »Willst du ihr denn reinen Wein einschenken?« »Besser nicht. Ich könnte ihr sagen, ich bin nie so ganz ausgekommen mit meinem Geld und habe im Laufe der Jahre sechstausend Mark Schulden machen müssen, und jetzt steht mir das Wasser bis zum Hals.« »Ziemlich beschissen, aber es könnte funktionieren. Bleibt die Frage: Wie geht es weiter? Hast du etwa vor, dein Studium an den Nagel zu hängen und hierzubleiben?« »Vielleicht.« »Mensch, du hast nur noch ein Jahr! Du kannst doch nicht wegen einer Ausreißerin, die du erst ein paar Tage kennst, sieben Semester hinschmeißen! Das wäre ein viel zu großes Opfer. Ein Risiko obendrein, denn nachher sitzt du womöglich da ohne Examen, ohne Chancen, ohne Geld und ohne das Mädchen!« »Ist doch klar, daß ich erst mal abwarten würde, wie sich alles entwickelt.« »Vielleicht hat sie nichts dagegen, mit dir nach Hamburg zu gehen. Da fällt mir übrigens noch ein Weg 124
ein! Du fährst nach Kiel, sagst den Eltern, die erste Phase der Operation sei gelungen, aber dann hätte sich so eine Art höherer Gewalt eingemischt, aus dem Spiel sei Ernst geworden und ihr wolltet zusammenbleiben. Wahrscheinlich würdet ihr in Hamburg leben, und selbstverständlich würdest du dann deinen ganzen, hoffentlich wachsenden Einfluß geltend machen, um in absehbarer Zeit auch noch die zweite Phase durchzuziehen. So wäre es weder Unterschlagung noch Betrug. Immerhin haben sie das Ganze angezettelt. Und der Alte wäre schief gewickelt, wenn er bei einem solchen Ergebnis das Geld von dir zurückverlangen würde.« »Ganz schön gerissen bist du!« »Ich hab’ doch recht. Aber zurück zu dem schönen Kind! Wir zerbrechen uns den Kopf über ungelegte Eier. Vielleicht hat sie gar nichts im Sinn mit dir. Oder du selbst merkst nach einigen Tagen, daß deine Leidenschaft nur ein Strohfeuer war. Ich finde, du solltest in puncto Finanzen überhaupt nichts unternehmen und dir auch nicht soviel Gedanken machen. Im Moment ist das, was du tust, immer noch Pflichterfüllung. Und selbst wenn du demnächst mit ihr schlafen solltest, wäre die Lage nicht unbedingt zugespitzt. Es könnte genausogut zur Ernüchterung führen. Mir selbst ist es mehr als einmal passiert, daß ich vorher lichterloh in Flammen stand und hinterher nur noch ein abgebranntes Streichholz in der Hand hatte. Na ja, das Bild ist vielleicht ein bißchen schief. Jedenfalls kannst du nicht auf Grund einiger schöner Tage deinen ganzen Lebensplan umkrempeln; auch nicht, wenn noch ein paar schöne Nächte hinzukommen.« Roland Simon gestand sich ein, daß Hannes recht hatte. Ein gemeinsamer Tagesausflug und ein Kuß waren keine weltbewegenden Vorkommnisse. 125
»Okay«, sagte er, »warten wir noch eine Weile. In einer Woche weiß ich mehr.« »Wie seid ihr denn verblieben?« »Morgen hab’ ich wieder Spanisch. Und danach wollen wir irgendwo essen.« »Dann gibt’s also niemanden, den du erst mal ausstechen mußt?« »Offenbar nicht.« »Und heute abend?« »Da hab’ ich, um es mit deinen Worten zu sagen, frei.« »Worauf warten wir also noch?«
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17 Am nächsten Morgen war Roland Simon voller Ungeduld. Er wollte nicht bis zum Nachmittag warten, sondern Katja sofort anrufen und fragen, ob sie mit ihm frühstücken wolle. Er trat an die Verbindungstür, öffnete sie leise, blickte ins Nebenzimmer, stellte fest, daß Hannes noch schlief. Er schloß die Tür und ging zum Telefon, das auf seinem Nachttisch stand, ließ sich ein Amt geben und wählte die Nummer, die er längst auswendig kannte. Sie meldete sich nicht mit ihrem Namen, sagte nur, wie viele Spanier es tun: »Bueno?«, aber er erkannte sie an der Stimme. »Guten Morgen! Hier ist dein Schüler. Erstens: Wie geht es dir? Zweitens: Ich hoffe, du hast dir gestern kein Seilbahn-Trauma eingefangen. Und drittens: Könnten wir nicht aus dem geplanten Abendessen ein Frühstück machen? Ich würde dich nachher gleich abholen. Wir frühstücken in einer cafeteria, und dann bummeln wir durch die Stadt, bis die Spanischstunden anfangen. Nach dem Unterricht gehen wir essen.« »Guten Morgen. Nach dem großen Schweiger hört sich das aber nicht an.« »Es gibt Fälle von Ermunterung, da laufen die einsilbigsten Geschöpfe plötzlich zu hemmungslosen Verkündern auf. Also, ich fand den Tag mit dir so schön, daß ich noch einen zweiten brauche und nicht bloß einen Nachmittag und einen Abend.« »Es ist jetzt neun Uhr. Um zehn hätten wir unser Frühstück beendet, und dann willst du sechs Stunden durch die Stadt laufen?« »Warum nicht? Unsere müden Füße können sich dann 127
beim Unterricht ausruhen. Ich habe übrigens gut gelernt, und fleißige Schüler soll man belohnen. Oder hast du schon irgendwas vor heute morgen?« »Das nicht. Aber was ist mit deinem Freund? Er besucht dich für ein paar Tage, macht die weite Reise, und du bist überhaupt nicht da für ihn.« »Wir waren gestern abend lange unterwegs. Außerdem habe ich ihn überredet, sich heute den Montserrat anzusehen. Ich bleibe also allein zurück, und statt auf der Bettkante zu sitzen und zu warten, daß es endlich vier Uhr wird, würde ich mich viel lieber sofort zu dir in Marsch setzen. Du, da ist noch etwas! Was ganz Altmodisches: ›All mein’ Gedanken, die ich hab’, die sind bei dir‹!« Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. »Aber du kennst mich nicht. Was sind zwei Stunden Spanisch und ein Ausflug in die Umgebung?« »Na, das wäre doch schon mal ein Grund, möglichst schnell mehr daraus zu machen. Ist es dir recht, wenn ich gegen zehn Uhr an deiner Tür bin?« »Gut. Soll ich dir die Sagrada Familia zeigen?« Er dachte: Und wenn sie mich eine ganze Woche lang durch die Kirchen dieser Stadt schleppt, so sind wir doch wenigstens zusammen. »Eine gute Idee!« sagte er. »Ist das nicht das Ding, an dem Gaudí vierzig Jahre gearbeitet hat?« »Ja. ›Ding‹ klingt ziemlich respektlos, aber die Urteile über dieses Bauwerk gehen so weit auseinander, daß zwischen ›Monstrum‹ und ›Achtem Weltwunder‹ alles drin ist, und also wohl auch das ›Ding‹.« »Wozu neigst du denn? Oder warst du noch nicht da?« »Doch, dreimal schon, und mit jedem Mal wurde die Irritation größer. Wenn du aber lieber etwas Maßvolles willst, könnten wir uns auch das Pueblo Español ansehen.« 128
»Ich bin für beides. Wir fangen mit dem Maßlosen an. Nein, erst kommt das Frühstück, denn auf nüchternen Magen vertrage ich Weltwunder so schlecht.« »Wie ging noch gleich das Lied, das du dir für diesen Morgen ausgesucht hast?« »All mein’ Gedanken, die ich hab’, die sind bei dir.« »Ich wollte es nur noch mal hören.« Sie frühstückten in einem Café an der Ronda Universidad, in dem viele junge Leute saßen, und er erinnerte sich jenes Morgens, an dem er den Architektur-Studenten Alfonso Garcia gesucht hatte. »Wo hast du gewohnt, bevor du in das Apartment im Paseo de Gracias ziehen konntest?« fragte er. »Hier ganz in der Nähe. Nur drei Blocks entfernt, in der Calle Aragón, zusammen mit vier anderen. Da hat mich mein Vater sogar mal besucht. Er wollte mich überreden, mit ihm nach Haus zu fahren.« »Und? Wolltest du nicht?« »Nein.« »So ganz hab’ ich’s eigentlich noch nicht begriffen, weshalb du weggegangen bist. Hat es da einen richtigen Knall gegeben mit Türenschlagen und allem Drum und Dran?« »Im Gegenteil, es ging sehr leise zu, wie überhaupt die ganze Entfremdung ein leiser, langsamer Vorgang war, den meine Eltern zunächst gar nicht so richtig mitkriegten. Sie fühlten sich meiner so sicher, daß mein Weggang sie traf wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Den genauen Grund willst du wissen? Also, es paßte mir nicht, ihr Geschöpf zu sein und einen Weg gehen zu müssen, der sozusagen auf jedem einzelnen Meter von ihnen festgelegt worden war. Schule, Abitur, Studium, Staatsexamen, Promotion, angemessene Heirat. Am liebsten hätten sie 129
schon die Namen für meine Kinder bestimmt. Ich spürte, daß ich so nie selbständig werden konnte. Weißt du, für sie war ich nichts anderes als ein immer wiederkehrendes Ausrufezeichen auf ihrem Terminkalender. Da stand dann: K. Sprachreise England; K. Fahrschulprüfung; K. schriftliches Abitur und so weiter. Aber alles kam immer nur von außen. Nie lasen sie mal einen meiner Schulaufsätze. Stell dir vor, ich bin sogar mal an Drogen gekommen, als Sechzehnjährige, und sie haben’s nicht gemerkt! Meine Freunde sahen es mir an, aber mein Vater, der Medizinmann, hat es nicht mitgekriegt. Und meine Mutter, die einmal in mein Zimmer kam, als ich gerade einen Joint rauchte, und sich über den Geruch wunderte, gab sich zufrieden mit meiner Erklärung, das seien Räucherkerzen. Dabei waren weit und breit keine Kerzen zu sehen. Da qualmte bloß meine Haschischzigarette vor sich hin. Wirklich, sie haben mich all die Jahre um sich gehabt wie ein Stück aus ihrer Biedermeier-Sammlung.« »Und daß du gerade nach Barcelona gegangen bist, hatte das einen besonderen Grund?« »Wir haben mit der Schule eine Spanienreise gemacht und sind auch hierher gekommen. Die Stadt gefiel mir, und so blieb ich.« »Hast du dich endgültig von deinen Eltern losgesagt, oder soll das Ganze für sie nur eine Lektion sein?« »Das klingt irgendwie ironisch.« »Ich meine es aber nicht so. Ich will tatsächlich wissen, ob du sie mit deinem Weggehen zum Nachdenken oder Umdenken bringen willst.« »Ich bin mir noch nicht ganz klar darüber.« »Das solltest du aber! Ich finde, Menschen, die ihren Fehler schließlich einsehen, darf man nicht immer weiter verurteilen, nur weil sie irgendwann mal diesen Fehler gemacht haben. Das wäre selbstgerecht und 130
unbarmherzig.« »Aber das ist es ja eben! Sie sehen ihren Fehler nicht ein, sondern versuchen, mir immer wieder zu beweisen, daß ich es bin, die die Fehler macht. Sie werfen mir Unreife vor und Undank. Einmal verstieg sich mein ehrenwerter Vater zu der Feststellung, ich müsse noch eine Menge lernen, ehe ich ein akzeptables Mitglied der Gesellschaft werden könne. Da hab’ ich mir gesagt: Gut, nehme ich also diesen Lernprozeß auf mich, aber bitte ohne ihn und ohne meine Mutter! Versteh mich richtig, Roland, ich gehöre nicht zu denen, die aus Prinzip gegen den Wohlstand ihrer Eltern sind. So etwas finde ich albern. Es zeugt von Dummheit, wenn Jugendliche ihren Eltern den Vorwurf machen, daß sie etwas haben und ihren Besitz nicht unter den Armen dieser Welt aufteilen; daß sie nicht zu den Hausbesetzern halten; daß sie dagegen sind, wenn ein paar Idioten die ChristianAlbrechts-Universität in Kiel umbenennen wollen in Christian-Klar-Universität, und daß sie nicht Job und Karriere und Haus sausen lassen, um irgendwo im Grünen zu leben. Solche Forderungen sind absurd. Andererseits verurteile ich es, wenn die Eltern ausschließlich Werte wie Besitz, Prestige und so weiter gelten lassen. Aber wir haben uns hier ja wohl nicht getroffen, um ein Seminar über den Generationskonflikt abzuhalten. Brechen wir auf?« »Ich hätte noch eine letzte Frage. Wie soll es bei dir weitergehen? Jeder Mensch lebt doch auf eine Zukunft hin, und wenn sie noch so viele Mängel hat. Ich mache in einem Jahr mein Examen und weiß doch genau, daß ich damit nichts anfangen kann. Aber ich werde es machen und dann irgendwas auf eigene Faust versuchen. Wie schon gesagt, wahrscheinlich im Ausland.« »Siehst du? Ich bin ja auch ins Ausland gegangen.« 131
»Und deine Pläne? Oder lebst du erst mal ziellos vor dich hin?« »Ich hab’ durchaus Pläne. Dir kann ich’s ja sagen: Ich habe von meinen Ersparnissen noch keinen einzigen Pfennig ausgegeben, hab’ gejobbt und mir auf diese Weise meinen Lebensunterhalt verdient. Jetzt versuche ich’s mit dem Unterricht. Pech, daß ich erst einen einzigen Schüler habe, aber vielleicht kommen ja noch ein paar dazu. Wenn ich genug Geld habe, will ich studieren.« »Aber du hast kein Abitur.« »Das hole ich hier nach, vielleicht sogar an einer deutschen Schule. Es gibt hier mehrere.« »Aber die Zulassung, die Papiere, die Behörden! Das kannst du doch niemals offiziell durchziehen!« »Ich will es versuchen.« »Könntest du dir vorstellen, irgendwas zusammen mit mir zu versuchen?« »Was heißt ›irgendwas‹?« »Zum Beispiel, mit mir nach Hamburg zu gehen, vielleicht sogar da dein Abitur zu machen, während ich mein Studium beende? Danach könnten wir zusammen nach Südamerika gehen.« »Wie kommt es, daß du mir so etwas vorschlägst? Nach so wenigen Tagen?« Er beugte sich über den Tisch, nahm ihre Hände. »Es gibt sie wirklich«, sagte er, »die Begegnung, bei der man von Anfang an weiß, daß man den Menschen gefunden hat, auf den es ankommt, und neben dem alle anderen zu Statisten werden.« »Willst du damit sagen, daß ich die Hauptdarstellerin bin in deinem Stück?« »Ja. Wobei das Wörtchen ›Stück‹ die Sache natürlich nicht trifft. Weißt du, in der ersten Spanischstunde, als du immer nur so um dich warfst mit Begriffen wie Partizip 132
Präsens und Konjunktiv, Akzent und Anlaut, schon da dachte ich immer nur: ›Dieses Mädchen muß mein Mädchen werden!‹« Sie lächelte, befreite ihre Hände aus seinem Griff. »Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber ich tu’s nun mal, denn ich hasse jede Art von Unaufrichtigkeit. Ich empfand ganz ähnlich. Ich mußte dich dauernd ansehen, das heißt, ich mußte immerzu ins Buch sehen, um dich nicht anzustarren. Und ich dachte: Hoffentlich ist er kein Abspringer! Ich kenne es von der Volkshochschule her. Bei der Anmeldung sind es vierzig, zur ersten Stunde kommen dreißig, zur zweiten fünfundzwanzig, und nach drei bis vier Wochen hat sich die Zahl der Kursteilnehmer bei fünfzehn eingependelt. Darum dachte ich: Du mußt dir Mühe geben, mußt eine besonders gute Stunde halten, damit er bloß nicht abspringt! Nicht er! Ich will dir sogar eingestehen, deine hundert Mark machten mich richtig froh. Ich dachte, so schmeißt niemand mit seinem Geld herum, daß er einen Hunderter hinlegt und dann zur nächsten Stunde nicht wiederkommt. Aber was jetzt? Wenn wir uns so gern haben, kann ich mir den Unterricht doch nicht bezahlen lassen!« »Natürlich kannst du das. Aber viel wichtiger ist, ob du mit mir kommst, wenn ich hier meine Zelte abbreche.« »Hamburg liegt sehr nahe bei Kiel. Außerdem sollten wir einen so wichtigen Schritt nicht schon nach drei Tagen beschließen. Du bleibst ja noch. Wir werden oft Zusammensein, allein schon wegen des Unterrichts, und vielleicht gehe ich dir nach vierzehn Tagen so auf die Nerven, daß du überhaupt keine Lust mehr hast, mich mitzunehmen. Aber jetzt komm! Ich will dir die merkwürdigste Kirche der Welt zeigen!«
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18 Sie standen vor dem monumentalen Rohbau und blickten zu den schlanken Türmen empor, die mit ihren zahllosen weichlinigen Facetten wie riesige Stalagmiten aussahen. »Gaudí selbst«, sagte Katja, »hat sein Werk eine ›Predigt aus Stein‹ genannt. Er wollte die Kathedrale aller Kathedralen errichten, und tatsächlich findest du hier so manches berühmte Bauwerk wieder. Er hat die Grundlinien vom Kölner Dom aufgenommen und auch die vom Münster in Ulm, und dahinten hast du sogar orientalische Minaretts. Neulich habe ich einen interessanten Aufsatz über diese Kirche gelesen. Da wurde sie als eine ›ebenso rührende wie tragische Donquichotterie der Architektur‹ bezeichnet, und ich glaube, das trifft es sehr gut. In Gaudis Leben gab es ja viel Tragik. Er hat immer wieder verworfen und neu konzipiert, hat sogar, weil das Ding, wie du es nennst, natürlich Unsummen verschlang, auf seine Einkünfte verzichtet. Als Vierundsiebzigjähriger wurde er von einer Straßenbahn überfahren und ist kurz darauf gestorben. Er hat zum Schluß zu den Ärmsten der Stadt gehört.« Sie überquerten die Straße, lösten die Eintrittskarten und schleusten sich durch eine mehr als mannshohe Drehtür aus eisernen Gitterstäben, und dann durchstreiften sie eine Stunde lang das gigantische Fragment, gingen still und beklommen durch das unvollendete Bauwerk. Es war wirklich maßlos. Als sie wieder draußen waren und sich auf der Calle de Cerdeña unter die Passanten mischten, sagte Roland: »Ich werde das Gefühl nicht los, da hat jemand die ganze Welt herausgefordert, die von gestern, die von heute, die von morgen gleich mit und alle Götter 134
dazu.« »Ja, aber das war nicht seine Absicht. Er wollte etwas Gutes, wollte die alles vereinende Kirche. Ich finde, es ist ein imposantes Zeugnis daraus geworden, und viele große Architekten sollen von ihm gelernt haben.« »Jetzt möchte ich aber lieber was Normales, das Pueblo Español zum Beispiel. Aber ich will dich nicht zum Fremdenführer machen. Wir gehen nur dahin, wenn du selbst auch Lust dazu hast.« »Na klar hab’ ich Lust, und so fremd bist du nur ja auch nicht mehr.« Sie nahmen, weil es ein weiter Weg war, ein Taxi, und eine halbe Stunde später gingen sie durch das Spanische Dorf, in dem typische Häuser, Kirchen und Plätze der verschiedenen spanischen Provinzen nachgebaut worden waren. »Mir scheint«, sagte Roland, »in der Idee gibt es eine gewisse Verwandtschaft zu dem, was Gaudí mit seiner Kirche gewollt hat. Das alles Vereinende an einem Ort. Und auch hier die unterschiedlichsten Stilelemente.« Sie lachte. »Im Grunde hast du recht; aber es ist viel bescheidener. Nicht der Versuch, alle Welt und alle Zeit zu umfassen.« In einem der vielen Läden kaufte er eine silberne Kette mit Achatsteinen, hängte sie ihr um den Hals. »Nicht, daß ich dich anketten will.« »Danke!« Sie sah an sich herunter, befühlte die Steine. »Sie ist wunderschön! Aber du gibst zuviel Geld aus. Wieso hast du eigentlich soviel? Du als Student?« Fast bereute er es, dem plötzlichen Impuls gefolgt zu sein und die teure Kette vom Geld ihres Vaters gekauft zu haben, aber nun war es geschehen. »Ich hab’ gar nicht soviel«, sagte er. »Mich überkam nur plötzlich die Lust, dir irgendwas zu schenken. 135
Übrigens«, er zeigte auf den Berg, der sich rechter Hand erhob, »neulich bin ich mit der Seilbahn über den Hafen hinweg zum Montjuich hinaufgefahren. Da oben ist die Station. Wollen wir von da aus nach Barceloneta fahren?« »Ja, das könnten wir machen.« »Oder hast du Angst vor der Seilbahn?« »Nein. Sie werden ja wohl nicht grad wieder die Maschine auseinandernehmen.« Vor dem Eingang des Freilichtmuseums fanden sie ein Taxi, und eine Weile später schwebten sie, wie am Tag zuvor, durch die Luft. Doch diesmal waren sie nicht allein. Es war ein Drängen und Schieben um sie her, ein Schauen und Schwatzen. Sie standen dicht beieinander, sahen hinunter auf die Kais, an denen die Schiffe lagen. »Den weißen Dampfer da unten«, sagte er, »mit dem gelben Schornstein, den nehmen wir für unsere Reise nach Südamerika. Aber erst später; erst mal gehen wir nach Hamburg.« »Ich denke immerzu an deinen Plan, aber ich mach’ nur mit, wenn wir ganz sicher sind. Ich meine, wenn wir unserer Zuneigung ganz sicher sind. Wenn es wirklich Liebe ist. Ich weiß, heute spricht man eher von Partnerschaft oder Beziehung und stellt erst mal einen Haufen Erwägungen an, was es denn wohl sein könnte, was man im anderen sucht oder sieht. Ich hätte nichts dagegen, mit dem Mann, den ich liebe, so ein richtig gestriges Paar zu sein, wenn es nur immer ehrlich zugeht.« Er hatte sich hinunterbeugen müssen, um ihre Worte verstehen zu können, hatte einmal sogar ihre Lippen an seinem Ohr gespürt, war glücklich gewesen, weil er genauso dachte wie sie, aber auch die allerletzten Worte hatte er sehr genau gehört, und sie schnitten sich ihm ins Herz. Die Kabine setzte auf. Sie gingen die Treppen hinunter, 136
und dann bummelten sie Hand in Hand durch Barceloneta, kamen schließlich an die Uferstraße, wo ein Fischrestaurant sich an das andere reihte. Für ein ehemaliges Fischerdorf war das nichts Ungewöhnliches, aber eine groteske Besonderheit an dieser Phalanx maritimer Lokale überraschte sie, widersprach sie doch so völlig dem sprichwörtlichen spanischen Stolz. Vor jedem Eingang pries ein Türsteher mit blumigen Worten all das an, was die Küche seines Hauses zu bieten hatte. Es war wie auf einem Jahrmarkt, ja, schlimmer, Roland fühlte sich an St. Pauli erinnert, wo die Huren vor den Türen standen und nach ihren Kunden griffen. Gleich der erste packte ihn an der Schulter, wollte ihn ins Restaurant ziehen, beschwor ihn, es lohne sich nicht weiterzugehen; sein Haus sei das beste und was danach noch käme, könne er getrost vergessen. Der Mann nahm sogar, eins nach dem anderen, die draußen auf Tischen ausgelegten und zum Teil noch lebenden Meerestiere zur Hand, hielt sie Katja hin, so daß sie erschrocken zurückwich vor den um sich schlagenden Schwanzflossen, den glubschigen Augen und den aufgerissenen Mäulern. Als er begriff, daß seine ejemplos de frescura y sabrosidad, seine Muster an Frische und Köstlichkeit, eher Schrecken als Appetit erzeugten, pries er den Panoramablick, die einmalige Aussicht aufs Meer, pries sie mit Ergriffenheit in der Stimme, so als sei sie eine exklusive Besonderheit seines Hauses, ein Geheimtip sozusagen. Sie gingen weiter. An der nächsten Tür das gleiche. Hände und Fische vor ihren Gesichtern und in ihren Ohren das Marktgeschrei. Die dritte Tür, die vierte. Überall das gleiche. Jedes Haus war das beste, jeder Preis der niedrigste und jede Aussicht die schönste weit und breit. Hin und wieder gelang es ihnen, an dem jeweiligen 137
Schreihals vorbei einen Blick ins Lokal zu werfen. Fast alle waren auffallend leer. »Keine Saison«, sagte Katja. »Wahrscheinlich eine schlimme Zeit für diese Leute, und darum fallen sie wie die Piranhas über uns her.« Und wieder zog ein Türsteher sie an seinen Tisch, hämmerte die exotischen Namen herunter: »Calamares, camarones, langostas …!« Roland spürte die Hand auf seinem Arm, spürte den Druck, der stärker und stärker wurde, ärgerte sich über die Dreistigkeit, mit der man ihn ins Lokal zerren wollte, und da tappte er dann doch in die Falle. »Lárgate, hombre!« fuhr er den Portier an. Hau ab, Mensch! Er nahm Katja an die Hand und zog sie hinüber auf die andere Straßenseite, wo es ruhiger zuging. Sie sah ihn an. Er entdeckte die Frage in ihrem Blick und begriff sofort, was geschehen war. Er lachte laut, ein wenig zu laut, und dann log er drauflos: »Das hab’ ich gestern abend gehört. In einem Lokal. Neben mir saß ein Spanier, und an dessen Füßen machte sich ein Schuhputzer zu schaffen, ziemlich aufdringlich. Der Junge, er war vierzehn, fünfzehn Jahre alt, versuchte es immer wieder. Bis der Stoß kam. Mit dem Fuß. Ziemlich hart. Und dazu diese Worte. Lárgate, hombre! Sehr laut, sehr böse. Ich merkte sie mir, aber ich weiß eigentlich gar nicht, warum. Vielleicht, weil ich mich manchmal in Auseinandersetzungen hineinträume, um dann so richtig kraftvoll den Überlegenen herauskehren zu können. Eine Kinderei. Ich weiß, es klingt nicht gut, dieses lárgate, hombre!, klingt sehr verächtlich, aber ich glaube, eben hab’ ich’s an der richtigen Stelle benutzt.« »Das stimmt. Und es hörte sich an, als hättest du es schon oft gesagt.« »Hab’ ich ja auch. In meinem Zimmer. Und bin mir 138
dabei sehr souverän vorgekommen.« »Ob du so etwas je zu mir sagen könntest?« Er nahm sie in die Arme und küßte sie, achtete nicht auf die Menschen ringsum. »Ich glaube«, meinte sie dann, »ich möchte heute abend lieber keinen Fisch essen.« Und er antwortete: »Sollen wir uns nicht doch in deiner Wohnung was kochen? In der Nähe meines Hotels ist ein riesiger Markt, und da …« »Der mercado San José.« »Ja. Da kaufen wir uns ein paar schöne Sachen, und nach dem Unterricht stellst du mich ab zum Gemüseputzen.« »Aber ich hab’ dich doch eingeladen und möchte, daß es dabei bleibt. Morgen machen wir es dann so, wie du sagst. Bitte, Roland!« »Einverstanden.« Sie gingen weiter, kamen an die Mole von Barceloneta, die wie ein langer Greifarm den Hafen umfaßte, stießen auf den Paseo de Colón, sahen nach einigen hundert Metern die Statue des großen Genuesen und, dem Denkmal sehr nah, die naturgetreue Nachbildung seiner Caravelle Santa Maria. Aber von Besichtigungen wollten sie nichts mehr wissen, und so bogen sie ab in die Ramblas. Mittlerweile war es Nachmittag geworden, und sie hatten sich müde gelaufen. So nahmen sie wieder ein Taxi und fuhren in Katjas Wohnung. »Eigentlich«, sagte er, nachdem er sich erschöpft auf einen Stuhl hatte fallen lassen, »steht mir der Sinn jetzt nicht nach Spanischunterricht.« Aber in diesem Punkt war sie unerbittlich. »Du kannst erst mal duschen«, sagte sie, »und dann dusche ich. Danach mache ich uns einen starken Kaffee, der möbelt uns wieder auf. Erstens hast du die Stunden ja schon bezahlt, und zweitens brauchst du sie 139
dringend, wenn du demnächst in Südamerika leben willst. Nur mit lárgate, hombre! kommst du nicht weit.« Und so saßen sie bald darauf über ihren Büchern, und er ließ sich grammatikalische Regeln erklären, die ihm doch alle längst bekannt waren.
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19 Und dann war aus ihrem Abendessen doch eine Fischmahlzeit geworden. In dem mit altspanischen Möbeln eingerichteten Restaurant, das sich in einem der zahlreichen Kellergewölbe des Gotischen Viertels befand und das, wie man ihnen erzählte, früher einmal ein Backhaus gewesen war, hatten sie das Spießrutenlaufen von Barceloneta vergessen und sich camarones bestellt, danach Seezungen, hatten gekühlten weißen Rioja getrunken und kurz vor Mitternacht das Mahl mit einem capuchino beendet. Sie traten hinaus in die schmale, nur schwach beleuchtete Passage. »Ich danke dir«, sagte Roland, »für diese schöne Tafeley. Wohlgemerkt, mit Ypsilon. Aber es war viel zu teuer für eine Privatlehrerin mit nur einem Schüler.« Er hatte seinen Arm um Katjas Schultern gelegt. Eng nebeneinander gingen sie an den dunklen Mauern entlang. »Wenn es schön war«, erwiderte sie, »soll man dem Geld nicht nachtrauern, das man dafür ausgegeben hat.« Sie bogen, ohne sich um ein Ziel zu kümmern, mehrmals ab und stießen irgendwann auf die Ramblas, überquerten die Fahrbahn, mischten sich unter all die Menschen auf dem breiten Trottoir, gingen vorbei an den Bücherständen und Volieren. Nach einer Weile zeigte Roland auf eine Fassade mit vielen erleuchteten Fenstern. »Da oben ist mein Zimmer«, sagte er. »Morgen kommst du mal mit rauf, und dann lernst du auch Hannes Vogt kennen.« »Was macht er jetzt?« »Ich weiß es nicht. Vermutlich eine private 141
Sightseeing-Tour. Barcelona bei Nacht. Es kann aber auch sein, daß er nach dem Ausflug zum Montserrat müde war und längst schläft.« Sie machten den Bogen um die Plaza de Cataluna, und gleich darauf waren sie in Katjas Straße. Die letzten hundert Meter gingen sie still nebeneinander her. Vor der Haustür blieben sie stehen, zögerten immer noch, etwas zu sagen. Schließlich brach Roland das Schweigen: »Ich glaube, wir haben beide den Wunsch, jetzt noch zusammenzubleiben. Warum sollten wir uns also Gutenacht sagen, uns die Hand geben oder auch einen Kuß und dann auseinandergehen? Jeder in seine Einsamkeit?« Sie antwortete nicht gleich, zog mit den Fingern das Zickzackmuster seines Norwegerpullovers nach. Als sie am Kragen angekommen war, ließ sie die Hand sinken und sagte: »Du bist ein Typ, nach dem die Mädchen sich umdrehen. Und auch, was du so sagst, nimmt für dich ein. Jetzt bist du für ein paar Wochen nach Spanien gekommen, lebst aber in Hamburg.« Sie machte eine Pause, und sofort fiel er ein: »Was nun wohl kommt? Das kann doch nur ein dicker Vorbehalt sein. Also?« »Eigentlich ist es undenkbar, daß in Hamburg niemand auf dich wartet. Ich möchte weder dein Reiseabenteuer sein, noch, wenn es denn mehr ist, dich jemandem wegnehmen. So, jetzt weißt du, wie altmodisch ich bin.« »Auf mich wartet niemand. Bis vor zwei Monaten hatte ich eine Freundin, Marianne heißt sie, aber als sie dann auf Heirat drängte, hab’ ich mich von ihr getrennt. Ich glaubte, als Student mit so wenig Aussichten eine Ehe nicht verantworten zu können. Aber heute weiß ich, der Grund für die Trennung war ein anderer. Mein Gefühl für sie hat nicht ausgereicht, denn wäre es wirklich Liebe gewesen, 142
hätten wir einen Weg gefunden. Wenn aber du, nach dem Montserrat und der Familia Sagrada, mit mir in eine dritte Kirche wolltest, nicht, um sie mir zu zeigen, sondern um meine Frau zu werden, würde ich ohne Zögern mit dir gehen. Marianne und ich kannten uns schon zwei Jahre und wußten doch nie so recht, woran wir miteinander waren. Du und ich, wir kennen uns erst seit wenigen Tagen, und trotzdem weiß ich schon jetzt ganz genau, daß ich dir überallhin folgen würde, um die ganze Welt und darum auch jetzt die paar Treppen nach oben.« »Aber ich hab’ einen Fahrstuhl.« Sie schloß die Haustür auf, und sie fuhren nach oben. Als er diesmal die kleine Wohnung betrat, war es anders als sonst. Weder ging es darum, Katja zu einer gemeinsamen Unternehmung abzuholen, noch warteten die Bücher auf ihn; zudem war es halb eins in der Nacht. Er drückte die Tür hinter sich zu, nahm Katja in die Arme, küßte sie, schob ihren Pullover in die Höhe und drängte sein Gesicht gegen ihre Brust. Sie ließ es geschehen, spielte mit seinem Haar, spürte seinen warmen Atem auf der nackten Haut. »Du ahnst ja gar nicht«, sagte sie, »wie altmodisch ich bin. Oder war. Ich hatte zu Haus immer viele Freunde und doch noch keinen so richtig.« »Heißt das, daß du noch nie mit …« »Ja.« »Das ist …, das ist ungewöhnlich. Heutzutage. Mit neunzehn.« »In gewisser Weise hat mein Vater also recht, wenn er sagt, ich müsse noch eine Menge lernen, um ein akzeptables Mitglied der Gesellschaft zu werden.« »So wird er es ja wohl nicht gemeint haben.« Er hob sie auf, trug sie aus dem kleinen Flur ins Zimmer, aber das Bett war nicht heruntergeklappt, und so 143
setzte er sie erst mal auf einen der beiden Stühle. Aber er kannte sich mit dem Mechanismus des Bettes nicht aus, und so blieb er bei ihr am Tisch. »Jetzt sitzen wir uns wie beim Unterricht gegenüber«, sagte sie, »aber diesmal sind die Rollen vertauscht. Du bist der Lehrer. Hast du schon andere Mädchen gehabt, für die du der erste warst?« »Nein.« »Dann ist es für dich auch so eine Art Premiere.« »Ja. Ich liebe dich, Katja.« »Ich liebe dich auch, und ich hab’ jetzt doch ein bißchen Angst. Nicht davor, daß es passiert, sondern davor, daß du es womöglich doch zu leicht nimmst. Ich halte es nämlich für etwas Großes, Bedeutendes, und vielleicht hab’ ich mich deshalb bislang aus sowas rausgehalten.« Er stand auf, ging um den Tisch herum, kniete sich vor sie hin und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Wieder begann sie, mit seinem Haar zu spielen. »Ich hab’ aber auch von den ganz anderen Begegnungen gehört«, sagte sie. »Da treffen sich zwei, finden sich sympathisch, schaffen es mit wenigen Worten, sich zu verständigen, legen sich zueinander, und danach heißt es nur adiós! Und beide wissen, daß ihre Wege sich nie wieder kreuzen werden. Für so etwas bin ich nicht geschaffen, glaube ich.« Er schob seinen Kopf unter ihren Pullover, küßte ihren Leib, küßte sich wieder hinauf zu ihren Brüsten und fühlte sich glücklich in dem Dunkel, das ihn umgab. »Ich möchte, daß wir immer zusammenbleiben«, sagte er, aber sie verstand ihn nicht und zog ihren Pullover aus. »Was hast du gesagt?« »Ich möchte, daß wir immer zusammenbleiben«, wiederholte er und fuhr dann fort: »Bitte, komm mit mir nach Hamburg! Und später dann nach Südamerika. Oder 144
auch wieder nach Spanien, wenn du das lieber möchtest. Jedenfalls irgendwohin, wo es eine deutsche Schule gibt, damit wir neben unserer Liebe auch was zu essen haben. Willst du?« »Ja.« Er ging ans Fenster, zog die Jalousien hoch und schaltete die Lampe aus. Das Mondlicht fiel ins Zimmer, und als er nun Tisch und Stühle, Schrank und Regal im Halbdunkel vor sich hatte, fiel ihm das Haus von Comarruga ein. Ganz schnell wischte er die Erinnerung wieder fort, ging auf Katja zu. »Ich würde, weil du so altmodisch bist, jetzt gern auf einer Wiese das kniehohe Gras zur Seite biegen und uns ein Lager machen, aber wir sind nun mal in deinem Zimmer, und irgendwo in dieser Schrankwand lauert die Technik. Wenn ich nur wüßte, wo!« »Oben links ist ein Knopf«, sagte sie, »aber paß auf, daß der Kasten nicht auf dich heruntersaust!« Er trat an die Wand heran, tastete, fand den Knopf, drückte. Er fing den Rahmen auf, ließ ihn langsam zu Boden gleiten. Katja kam zu ihm, richtete mit ein paar raschen Handgriffen das Bett her, sagte: »Entschuldige den Mangel an Poesie, aber von einem Versandhausmöbel kann man nicht mehr erwarten.« »Es ist romantisch genug«, antwortete er, »die Nacht, der Mond, die Stille.« Sie zogen sich aus, und noch einmal hob er sie hoch. Dann bettete er sie, legte sich zu ihr, nahm sie in die Arme, streichelte sie. »Ob es schlimm ist«, fragte sie, »daß ich an einen Riesen geraten bin? Ausgerechnet ich?« Er lachte. »Nein, es gibt auch behutsame Riesen.« Er küßte sie, und dann begnügten sie sich für sehr lange mit dem Spiel ihrer Hände. Neugierig befühlte einer den 145
Körper des anderen. Einmal strich sie mit der Hand über seine Stirn, und gleich darauf fragte sie: »In welchem Krieg hast du dir denn diese Narbe geholt? Ich sah sie schon am ersten Tag, aber da fand ich es noch zu indiskret, dich danach zu fragen.« »Ach das! Mein Gegner in dieser blutigen Auseinandersetzung war eine Tür in der Hamburger Uni. Ich wollte sie grad öffnen, da wurde sie von innen aufgestoßen, und die scharfe Kante schlug mir gegen die Stirn. Es passierte kurz vor meiner Abreise. Ich hoffe, du liebst mich trotzdem.« »Man sieht’s fast nicht mehr. Und sowieso, ich liebe alles an dir.« Noch einmal strich sie vorsichtig über die verschorfte Wunde. Sie lagen auf der Seite, die Gesichter einander zugekehrt. Plötzlich zog er sie zu sich heran, drängte sich gegen ihren schmalen Leib, ließ seine Rechte an ihrem Rücken hinabgleiten. »Deine Haut fühlt sich gut an«, sagte er. Und dann kam er zu ihr.
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20 Sie blinzelte in die Sonne, die sich schon ein gutes Stück über die Dächer der Stadt erhoben hatte und ihr Licht auf das breite Bett warf, rieb sich den Schlaf aus den Augen. Ihr Blick fiel auf den dunklen Haarschopf. Sie hörte die regelmäßigen Atemzüge des tief Schlafenden. Leise stand sie auf, nahm ihre Kleider und ging ins Bad, duschte, zog sich an. Als sie ins Zimmer zurückkam, lag er noch genauso da, und sie dachte: Ich lasse ihn schlafen und wecke ihn erst, wenn ich das Frühstück fertig habe. Im Flur nahm sie die Einkaufstasche vom Haken, warf das Portemonnaie hinein und verließ die Wohnung. Vorsichtig drückte sie die Tür ins Schloß. In der Fahrstuhlkabine war sie allein. Sie reckte die Arme in die Luft, wirbelte mit der Rechten die Tasche ein paarmal herum, und dann sagte sie, ziemlich laut, gegen die geriffelte Scheibe: »Das Leben ist toll!« Auf dem Bürgersteig wäre sie am liebsten gehüpft, wie sie es als kleines Kind manchmal getan hatte, aber sie unterdrückte den Impuls. Nur die Einkaufstasche, eigentlich mehr ein Beutel aus zahllosen aneinandergenähten Lederflicken, schlenkerte hin und her und ließ die Freude und den Übermut erkennen. Der Bäcker war gleich um die Ecke, und sie kaufte von den ofenfrischen süßen Brötchen so viele, daß sie für eine ganze Familie gereicht hätten. Dann ging sie ins Lebensmittelgeschäft und füllte ihre Tasche mit vielen Köstlichkeiten, mit Leberpastete und Konfitüre, Katenschinken, französischem Käse, Butter und Eiern. Sie verließ den Laden. Obst! schoß es ihr durch den 147
Kopf. Zu einem guten Frühstück gehören Früchte! Sie mußte einige Häuserblocks weit laufen, bis sie einen Stand gefunden hatte, kaufte dann aber, weil der Rückweg sonst zu beschwerlich werden würde, nur eine Ananas, die die Händlerin ihr in ein Stück Zeitung einschlug. So trat sie, in der Rechten die prall gefüllte Tasche und in der Linken, gegen ihre Brust gedrückt, die Ananas, den Heimweg an. Sie dachte: Die Eier mag er am liebsten von beiden Seiten gebraten, das hat er mal erzählt, ein Stück Speck liegt noch im Eisschrank. Es soll wieder eine schöne Tafeley werden; mit Ypsilon. Ich werde ganz leise sein, nur auf Zehenspitzen gehen und nicht mit Tellern und Tassen scheppern. Wenn er die Augen aufmacht, soll der Tisch gedeckt sein! Sie mußte vor einer Ampel warten, setzte die schwere Tasche zu ihren Füßen ab, sah auf die Ananas. Wie eine junge Palme ragte der dunkle Blattschopf aus ihrer Armbeuge. Sie wollte das Fruchtfleisch prüfen, bog das Zeitungspapier zur Seite, da fiel ihr Blick, an dem Grün vorbei, auf ein Gesicht. Es war eine Zeichnung, das Phantombild eines Männerkopfes mit einem dicken Strich auf der Stirn. Sie las die Überschrift des neben dem Bild abgedruckten Artikels: Quién ha visto a este hombre con la herida frontal? Wer hat diesen Mann mit der Stirnwunde gesehen? Mechanisch nahm sie ihre Tasche auf, trat vom Straßenrand zurück, drückte sich in einen Hauseingang, lehnte die Tasche gegen die Wand, wickelte die Ananas aus und legte sie auf dem Boden ab, las den nur wenige Tage alten Bericht. Danach stand sie minutenlang unter dem steinernen Torbogen, die Augen auf den vorbeiflutenden Verkehr gerichtet, aber sie sah nicht ein einziges Fahrzeug, und den Motorenlärm nahm sie auf wie die düstere Begleitmusik zu einem Horrorfilm, dessen 148
Szenen sich aus dem soeben Gelesenen zusammensetzen: das einsam gelegene Haus am Strand von Comarruga und darin der Oberst Escobedo und seine Frau. Das nächtliche Eindringen des Diebes, den sie nur zu genau vor sich hatte, denn wenn die Zeichnung auch wenig Ähnlichkeit aufwies, so ließ die detaillierte Personenbeschreibung in Verbindung mit dem Hinweis, daß es sich wahrscheinlich um einen Ausländer handele, kaum Zweifel, und für sie stand fest, der »etwa einsfünfundachtzig große, schlanke, dunkelhaarige Mann mit der Stirnwunde« war der, der jetzt in ihrem Bett lag. Sie sah Roland Simon durch die Räume des Strandhauses schleichen, auf der Suche nach Geld und Wertgegenständen. Sah, wie das aufflammende Licht ihn überraschte, wie er die Frau niederschlug und dann mit dem Obersten Escobedo kämpfte, ihn gegen den Kaminsockel stieß und gleich darauf mit blutender Stirn aus dem Haus flüchtete. Sie nahm, wie in Trance, ihre Tasche wieder auf, ließ die Ananas liegen, trat erneut an die Ampel, wartete das Grün ab, überquerte die Straße, ging langsam weiter. Auf halbem Weg berührte eine Bettlerin ihren Arm: »Eine Kleinigkeit für meine Kinder, señorita, bitte!« Sie sah auf die magere braune Hand, nur auf die Hand, nicht in die Augen, hob ihre schwere Tasche und hängte sie über den dünnen Arm, der sofort nach unten fiel, so daß die Tasche am Boden lag. Die Bettlerin kniete sich hin, umschloß den Beutel, sah empor: »Aber …« »Ist schon gut.« Ein paar Schritte später fiel ihr ein, daß auch ihr Portemonnaie in dem Beutel steckte, aber da sie bis auf ein paar Peseten alles ausgegeben hatte, lief sie nicht zurück, sondern setzte ihren Weg fort, in der Hand nichts als den Zeitungsartikel, den sie nach einer Weile ganz 149
klein zusammenfaltete und in ihre Jackentasche steckte. Sie erreichte die Haustür, schloß auf, trat in den Flur, ging an dem Aufzug vorbei und setzte sich auf die Treppe. Aber er sieht doch gar nicht aus wie ein Dieb! Und wie ein Gewalttäter schon gar nicht! Sie kannte es aus vielen Filmen: der Gejagte, der Schutz sucht bei einer Frau. Und die Frau, die ihn nie vorher gesehen hat und dennoch voller Ahnung ist, gewährt ihm diesen Schutz. Was für ein Impuls ist es, der sie zum Helfen verführt? Wieso versorgt sie ganz selbstverständlich die Wunde des Flüchtlings, gibt ihm zu essen, versteckt ihn hinter einer Tür, einem Vorhang, in einem Schrank und hat für die Häscher nur irreführende Auskünfte? Warum verhält sie sich so, als sei sie die Mutter des Gejagten? Soll ich es auch so machen? Nicht groß fragen, sondern einfach nur Schutz gewähren? Sie war unschlüssig und spürte, daß diese Frage zugleich die Frage nach ihrer Liebe war. Plötzlich war eine winzige Hoffnung da. Konnte es unter den Millionen Menschen in dieser Stadt nicht auch ein paar Doppelgänger geben? Sie stand auf, kehrte aus dem Halbdunkel der Treppe zur Tür zurück, ging noch einmal zum Bäcker, nahm diesmal aber nur vier bizcochos und ließ sie anschreiben. Als sie wieder im Haus war und mit ihrer kleinen Tüte in der Hand nach oben fuhr, faßte sie den Vorsatz, sich zunächst nichts anmerken zu lassen. Roland schlief noch immer. Ihr Blick fiel auf seine Kleider und dann auf die Leinentasche. Vielleicht ist er gar nicht aus Hamburg und auch kein Student! Vielleicht wohnt er weder im Manila noch hat er einen Freund. Vielleicht spricht er besser Spanisch als ich, und der Unterricht und alles, was sich drumherum ergab, ist nur der Vorwand, mich eines Tages, weil wir ja nun alles gemeinsam machen wollen, nach meinem Sparbuch zu 150
fragen! Ja, vielleicht heißt er nicht mal Roland Simon! Ihr fiel die Szene in Barceloneta ein, dieses lárgate, hombre!, das er wie ein Spanier über die Lippen gebracht hatte. Ich muß wissen, wer er ist! Sie nahm die Leinentasche von der Stuhllehne, ging leise hinaus, ging ins Bad, schloß sich ein, setzte sich, die Tasche im Schoß, auf den Badewannenrand. Sie hatte Skrupel, das fremde Eigentum zu untersuchen, aber dann erinnerte sie sich daran, wie er ihr die Achatkette geschenkt hatte, und das gab den Ausschlag: Ohne zu zögern, hatte er von einer Sekunde zur anderen fünftausend Peseten hingeblättert! Und ähnlich forsch hatte er sich bei der Bezahlung der Spanischstunden verhalten. Sollte dieser Beutel womöglich gefüllt sein mit geraubtem Geld? Dann würde sie nicht nur den Dieb, sondern auch das Diebesgut beherbergen! Sie zog den Reißverschluß auf, griff in die Tasche. Was ihre Hand zutage förderte, war ganz bestimmt kein gestohlenes Gut, denn außer ein paar hundert Peseten fand sie zunächst nur die Dinge, die jeder Mann bei sich hat. Sie blätterte in seinem Paß. Der Name stimmte, das Alter stimmte, und Hamburg war auch nicht erlogen. Sogar der Studentenausweis war da, und in der Plastikhülle steckte die Zulassungsbescheinigung für das siebente Semester Philologie. Sie begann schon, sich zu beruhigen. Doch da steckte noch etwas in der Hülle! Sie zog es heraus und hielt zum zweitenmal an diesem Morgen ein Stück Zeitung in der Hand. Diesmal war es kleiner, viel kleiner. Sie las: »Welcher gutaussehende junge Mann, möglichst Student, ist bereit, unter Einsatz seiner ganzen Person unsere vom Weg abgekommene Tochter, neunzehn Jahre alt, Abiturientin, zu uns zurückzubringen? Spanischkenntnisse erwünscht. Sehr gute Bezahlung.« Ihr ganzer Körper krampfte sich zusammen. Sie fror. 151
Zitterte. War unfähig, das Inserat in die Ausweishülle zurückzustecken. Schließlich legte sie beides auf den Fußboden, auch die Tasche, behielt einen letzten Gegenstand in der Hand, das Notizbuch. Sie öffnete es, blätterte und entdeckte die Eintragung: 16000 Mark, Zahlung von Dr. Engelhardt. Sie las nicht weiter, klappte das Buch zu, steckte, was sie herausgenommen hatte, in die Hülle zurück, warf alles in die Tasche. Und dann spürte sie den Brechreiz. Trotzdem zwang sie sich, die Hand vor dem Mund, zu einer blitzschnellen Aktion. Sie öffnete die Tür, huschte über den Flur und ins Zimmer, hängte die Tasche wieder über den Stuhl, kehrte ins Bad zurück und übergab sich. Wenige Augenblicke später klopfte es an die Tür. »Katja, was ist?« Sie richtete sich auf, öffnete. »Es tut mir leid«, sagte sie, »aber ich muß dich bitten zu gehen. Mir ist so elend.« »Auf gar keinen Fall werde ich gehen! Ich bleibe hier und pflege dich.« »Bitte, Roland! Ich will nicht, daß du mich so siehst. Versteh das doch!« »Aber du warst sogar schon beim Bäcker! Ich hab’ die Brötchen gesehen. Wieso ist dir plötzlich schlecht?« »Es ist nun mal so. Bitte, geh jetzt!« Es klang alles so flehend, so unabänderlich, daß er tatsächlich ins Zimmer zurückging und sich anzog. Er nahm seinen Beutel und stellte sich noch einmal vor die Tür des Badezimmers. »Meinst du, daß es mit heute nacht zusammenhängt?« fragte er. »Ich weiß es nicht. Vielleicht.« »Ich rufe einen Arzt an.« »Kannst du denn Spanisch?« Er stutzte. Das hatte böse geklungen. Aber er sagte nur: 152
»Die Ärzte hier werden doch wohl Englisch können.« »Ich brauche keinen Arzt.« Und dann kam noch einmal, dringlicher als vorher: »Bitte, geh! Ich ruf dich nachher an.« »Okay. Ich wünsch’ dir gute Besserung!« »Danke.« Er ging hinaus, drückte die Tür hinter sich zu, blieb noch eine Weile stehen. Was hatte sie nur? Ob es tatsachlich mit der letzten Nacht zusammenhing?
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21 »Am Morgen danach kriegt sie also einen Kollaps! Einen seelischen oder einen körperlichen oder beides zusammen! Es ist verrückt!« Hannes Vogt saß in Rolands Zimmer auf der Bettkante und schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist sie hysterisch«, fuhr er fort, »und das von heute morgen ist so ähnlich wie das mit dem Weggang von zu Haus. Eine dieser plötzlichen Launen, wie Frauen sie oft haben und mit denen sie uns tyrannisieren. Wie lief die Geschichte denn ab?« Roland stand am Fenster. »Das weiß ich eben nicht«, antwortete er. »Hab’s verpennt. Sie übergab sich, und davon bin ich aufgewacht. Aber vorher hatte sie beim Bäcker eingekauft; da muß sie also noch okay gewesen sein. Mensch, Hannes, und so was nach dieser Nacht! Du weißt, es liegt mir nicht, darüber zu reden, aber es war unglaublich schön, und wir waren so glücklich, wie man nur sein kann. Keine Spur von Verstimmung. Beide total einverstanden mit der Welt. Wir hatten die Vorhänge zurückgezogen und lagen im Mondschein auf dem breiten Bett. Wirklich, es war schöner als alles, was ich je erlebt habe. Und wir haben auch Pläne geschmiedet, nicht für die nächsten Tage, sondern für die nächsten Jahre. Im Grunde war’s wie eine Hochzeitsnacht, und dann setzt sie mich heute morgen kurzerhand an die Luft! Es ist nicht zu begreifen!« Hannes zeigte aufs Telefon. »Mußt dranbleiben. Immer noch einmal. Wie oft hast du’s schon versucht?« »Sechs- oder siebenmal in den anderthalb Stunden. Ich bin sicher, daß sie ihre Wohnung nicht verlassen hat. Sie sitzt zu Haus und nimmt den Hörer nicht ab. Bevor ich 154
ging, sagte sie noch, sie würde mich anrufen, aber ich hatte den Eindruck, sie wollte mich nur so schnell wie möglich loswerden. Ach, und dann sagte sie noch etwas, und ich denke die ganze Zeit darüber nach, wie sie das wohl gemeint haben könnte. Sie war doch im Bad, und da sagte ich ihr durch die geschlossene Tür, ich wolle einen Arzt anrufen. Ihre Antwort darauf war: ›Kannst du denn Spanisch?‹ Wenn sich für alles andere eine Erklärung finden ließe, für diese Frage finde ich keine, denn sie war irgendwie konisch, und Ironie in einer solchen Situation und nach einer solchen Nacht …, das will mir einfach nicht in den Kopf!« »Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder hat sie dich kränken wollen, aber da bliebe dann immer noch offen, warum. Oder sie ist dir auf die Schliche gekommen, hat also gemerkt, daß du im Spanischen kein Anfänger bist, und hat es übelgenommen, was ich verstehen könnte. So ganz geheuer war mir die Vorstellung von Anfang an nicht, daß du jemanden mimst, der keinen Schimmer hat, und in Wirklichkeit ein alter Fuchs bist. Da ist doch jede Lektion nur so gespickt mit Fußangeln.« »Gestern morgen waren wir in Barceloneta, wo es ein Fischlokal neben dem anderen gibt. Die Türsteher hängten sich wie die Kletten an uns, und da habe ich einen von ihnen angebrüllt ›Hau ab, Mensch!‹. Auf spanisch heißt das lárgate, hombre!, und die Zusammenziehung von Verb und Pronomen ist natürlich eine Form, auf die ein Anfänger, auch wenn er die einzelnen Vokabeln kennt, nicht gleich kommt. Aber das war’s bestimmt nicht, denn ich hab’ mich überzeugend rausgeredet. Hab’ ihr erzählt, ich hätte das irgendwo aufgeschnappt und mir gemerkt. Außerdem, sie hätte ihre Skepsis ja wohl nicht erst nach vierundzwanzig Stunden angemeldet. Nein, du kannst 155
sicher sein, sie hat nichts gemerkt. Ich hatte mich bestens unter …« Das Telefon läutete. Hannes wollte sich melden, aber dann zog er den Arm wieder zurück und sagte: »Mach du’s lieber! Womöglich erzählt mir der Typ von der Rezeption, daß unser Hotel abbrennt, und ich krieg’s nicht mit.« Roland ging zum Nachttisch, nahm den Hörer ab. »Simon.« »Da ist ein Anruf für Sie.« »Danke.« Es konnte eigentlich nur sie sein, denn sie allein wußte, wo er wohnte. Er war also nicht überrascht, ihre Stimme zu hören: »Roland, vielleicht hab’ ich gerade eben einen Fehler gemacht, obwohl mein Gefühl mir sagt, daß es keiner war. Ich habe den Obersten Escobedo angerufen und ihm mitgeteilt, daß der Mann, den er sucht, im Manila wohnt. Ich weiß nicht, wie wütend er ist. Sicher hängt es davon ab, wieviel du ihm gestohlen hast. Jedenfalls sind wütende Spanier gefährlich. Sie ziehen die Waffe schnell, und da dachte ich, es ist wohl besser, dich zu warnen. Was mich betrifft, brauchst du keine Angst zu haben. Ich laufe nicht mit einer Waffe herum, kann nur ein paar Dinge tun, die dich wahrscheinlich nicht mal interessieren, zum Beispiel die Achatkette wegwerfen, die du mir vom Geld meines Vaters gekauft hast. Ich werde lange brauchen, um darüber hinwegzukommen, daß die Tage mit dir eine einzige große Lüge waren, ein schmutziges Geschäft, zu dem sogar die vergangene Nacht gehörte.« »Katja, bitte, hör zu! Ich muß dir …« Es klickte in der Leitung. Er legte auf. »Sie weiß alles. Und jetzt hat sie mich verpfiffen, hat Escobedo angerufen.« »Wer ist das?« 156
»Der Oberst. Marias Mann.« »Verflucht! Und was nun?« »Sie werden hierherkommen, können jeden Augenblick auftauchen. Wir müssen weg, und zwar sofort. Jedenfalls ich. Aber die Leute an der Rezeption wissen, daß wir zusammengehören, und darum ist es besser, du kommst mit.« »Aber die können mir doch nichts anhaben! Die Polizei …« »… würde behaupten, du seist mein Komplize. Los, packen wir unsere Klamotten zusammen, und dann nichts wie weg!« »Und wohin?« »In das finsterste Hotel, das es in dieser Stadt gibt. Die anderen kommen nicht mehr in Frage, denn wir brauchen eins, wo man nicht nach dem Paß fragt.« Er hatte seinen Koffer schon aufs Bett geworfen, räumte den Schrank aus, verstaute seine Sachen. Hannes ging nach nebenan, begann ebenfalls zu packen. In weniger als zehn Minuten standen sie unten am Empfang. Roland wartete, die Traveller-Schecks in der Hand, ungeduldig an der Kasse. Als die beiden Gäste, die vor ihm standen, endlich abgefertigt waren, dauerte es noch einmal lange Minuten, bis der Kassierer die Belege zusammengestellt hatte und die Addiermaschine in Gang setzte. »Guck mal eben draußen nach, ob die Luft rein ist!« Hannes ging vor die Tür, kam gleich darauf zurück. »Nichts zu sehen. Kann der Bursche nicht ein bißchen schneller machen?« »Bitte, señor, wir haben es sehr eilig, müssen unser Flugzeug erreichen!« »Sí, señor, un momento.« Als sie das Hotel verließen, waren seit dem Anruf 157
zwanzig Minuten vergangen. Hannes wollte auf ein vor der Tür wartendes Taxi zulaufen, aber Roland riß ihn zurück. »Nicht hier! Komm!« Sie gingen in Richtung Plaza de Cataluña, schleppten ihre Koffer durch den dichten Passantenstrom. »Wie weit müssen wir denn noch laufen?« »Bis man uns vom Hotel aus nicht mehr sehen kann. Dann halten wir ein Taxi an.«. »Und du meinst wirklich, es muß die mieseste Absteige von ganz Barcelona sein?« »Ja, denn sonst kriegen sie uns über die Gästeliste, und dann wird es was Schlimmeres als die mieseste Absteige, nämlich das Gefängnis.« »Und ich wollte heute abend mal so richtig genüßlich in der Badewanne liegen und alle viere von mir strecken!« »Da kommt ein Taxi!« Roland winkte es heran, und sie stiegen ein. »Zum Barrio Chino, bitte!« Bald darauf hatten sie ihr neues Quartier bezogen, eine in der Tat erbärmliche Unterkunft. Es war ein etwa zehn Quadratmeter großes Zimmer mit einem Fenster zur Straße. Es gab nur zwei Betten, einen Nachttisch, eine Kommode mit Schüssel und Wasserkrug, keinen Schrank, statt dessen einen Haken an der Tür, an dem zwei Bügel hingen. Auf dem Fußboden lag ein schmutziger Kokosläufer mit zerfranstem Rand. Auf die gekalkten Wände waren ein paar Namen, Telefonnummern und obszöne Zeichnungen gekritzelt. Von der Decke hing eine verstaubte Glühbirne herab, und auf dem Nachttisch, der zwischen den beiden Betten stand, lag ein Stapel ComicHefte. Es roch nach Schweiß und Urin und einem Insektizid. Hannes hob die Arme halbhoch, spreizte alle zehn Finger. »Als Kind, wenn ich sonntags einen dieser 158
unausstehlichen frischgewaschenen Pullover tragen mußte, stand ich manchmal eine geschlagene Viertelstunde in meinem Zimmer, die kratzende Wolle auf der nackten Haut, und wagte nicht, mich zu bewegen, weil’s dann noch mehr kratzen würde. Obwohl hier nichts frischgewaschen ist, bin ich ähnlich paralysiert. Am liebsten wurde ich mir eine Hängematte kaufen und sie heute nacht über die Straße spannen. Schmal genug ist sie ja.« Er ging ans Fenster. »Da unten stehen die Huren. Ob die in diesem Schuppen hier ein- und ausgehen? Und ob die Wände dünn sind?« »Ich weiß es nicht. Jedenfalls sind wir erst mal in Sicherheit.« Roland setzte sich auf eines der Betten, zündete sich eine Zigarette an. »Sie weiß also nicht nur von der Escobedo-Geschichte – der falschen Version, versteht sich –, sondern auch von meinem Auftrag. Sie muß beides heute morgen erfahren haben. Aber wie nur? Noch in der Nacht strich sie ganz vorsichtig über meine Narbe und fragte: ›In welchem Krieg hast du dir denn das geholt?‹ Da wußte sie also noch nichts. Es muß auf dem Weg zum Bäcker passiert sein. Aber wieso beides zugleich? Das eine hat doch mit dem anderen überhaupt nichts zu tun!« »Sie kann eigentlich nur eine alte Zeitung gefunden haben. Die mit dem Phantombild.« »Okay. Aber das andere!« »Vielleicht hat sie mit ihren Eltern telefoniert, und die haben sich durch irgendwas verraten.« »Das halte ich für ausgeschlossen.« »Daß die sich verraten haben?« »Daß sie da angerufen hat.« »Hast du vielleicht in ihrer Wohnung was Verdächtiges herumliegen lassen? Zum Beispiel die Kieler 159
Telefonnummer?« »Mensch, Hannes, ich hab’ mein Notizbuch bei mir gehabt, und da stehen die Zahlungen drin, die von Dr. Engelhardt! Mit dem Namen! Das Ding war in meiner Tasche, aber der Reißverschluß war zugezogen. In der Ausweishülle steckte übrigens auch die Annonce. Aber sie kramt doch nicht in meinen Sachen herum, während ich schlafe!« »Nicht so ohne weiteres, das sicher nicht, aber vielleicht hat sie zuerst die Zeitung gefunden und es dann, als sie zurückkam, genau wissen wollen.« »Ja, so könnte es gewesen sein. Und die Entdeckung, daß ich wahrscheinlich der Mann von Comarruga war, gab ihr die Berechtigung, meine Sachen zu durchsuchen. Du, wenn es so war, was muß dann in ihr vorgegangen sein! Ich verstehe, daß sie Escobedo angerufen hat. Nach so einer Enttäuschung!« »Dann ist das Spiel wohl aus, nehme ich an. Definitiv.« »Ja. Jetzt kann ich ihr, falls ich sie überhaupt noch mal zu Gesicht kriege, erzählen, was ich will, sie wird mir nicht glauben. Dabei ist doch alles wirklich ganz, ganz anders! Ich liebe sie, wie ich noch nie jemanden geliebt habe. Und du weißt, ich wollte seit Tagen diesen widerlichen Job hinschmeißen, wollte meine Mutter anpumpen, um bei den Engelhardts klare Kante zu schaffen. Das ist ja alles völlig verruckt! Ihre Eltern schicken mich nach Barcelona, und nur dadurch lerne ich sie überhaupt kennen; innerhalb kürzester Zeit wissen wir beide, daß wir zusammengehören, aus dem Spiel wird Ernst, und nun ist alles zu Ende, weil auf meiner Seite der Ernst nicht mehr nachgewiesen werden kann. Ich glaube, ich ruf noch mal an.« »Meinst du, hier gibt’s ein Telefon?« »Wenn nicht, such’ ich mir eine Zelle.« 160
Nach zehn Minuten kam Roland zurück. »Nichts. Sie nimmt nicht ab. Ich werde es jede halbe Stunde versuchen.« Hannes stand wieder am Fenster. »Elf Huren hab’ ich gezählt, aber sie sind, zusammengerechnet, bestimmt achthundert Jahre alt. Da würde ich lieber drei Stunden in der Hölle stehen, angetan mit meinem scheußlichsten Kinderpullover, sogar noch mit ’ner Unterhose aus derselben Wolle, als mit einer von denen irgendwas zu machen.«
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22 Jetzt könnte ich einen Joint brauchen! Oder eine Valium. Oder es müßte nur gelingen, die Zeit zurückzudrehen bis hin zu dem Moment, als ich von der Sonne in meinem Gesicht aufwachte und er neben mir lag, schlafend. Ich kann es nicht begreifen! Unter Tausenden hätte ich ihn ausgewählt als den Mann mit dem ehrlichsten Gesicht, und ich hätte ihn zum Wächter meines Königreiches gemacht, wenn ich eins besäße. Aber nun: »Welcher gutaussehende junge Mann, möglichst Student, ist bereit …« Was für Eltern! Was für ein grotesker Versuch, mich zurückzuholen! Erst kaufen sie mich neunzehn Jahre lang immer aufs neue mit lauter teuren Sachen; dann wird mir das lästig, und ich geh’ weg, und nun kaufen sie für sechzehntausend Mark einen Mann, der keine Skrupel hat, seine Seele zu verschachern. Ein schäbiges Spiel! Ob Glück und Frieden nur noch käuflich zu erwerben sind? Was für eine Welt! Was für Menschen! Wieso sind alle bedenkenlos bereit, auf den Strich zu gehen, der ehrenwerte Doktor, seine ehrenwerte Frau und der smarte Student? Vielleicht sollte ich’s auch mal versuchen. Hier, hombres, kommt nur her, aber ihr müßt wissen, ich habe meinen Preis! Es war schon dunkel, und sie hatte kein Licht in ihrer Wohnung gemacht. Aus lauter Zorn und Verzweiflung hatte sie sich eine Flasche Cognac gekauft, aber schon nach dem zweiten Glas war die Übelkeit zurückgekehrt, und nun stand die Flasche im Küchenschrank. Unten, auf dem Paseo de Gracias, flutete der Abendverkehr vorbei. Sie sah auf das Dach eines Busses, und es überkam sie der Wunsch, die Stadt zu verlassen 162
und irgendwohin zu fahren, um zunächst einmal räumlichen Abstand zu gewinnen von den Ereignissen, die sie binnen weniger Tage auf den Gipfel geführt und dann so tief hatten stürzen lassen. Sie öffnete das Fenster, beugte sich über die Brüstung. Warum wegfahren? Ein Sprung hinunter schafft den Abstand erst recht! Und wer würde schon groß trauern um mich? Meine Eltern? Die hätten vermutlich keine Zeit dafür. Und dieser andere, der bis heute morgen seinen Job so fabelhaft erledigte, der wird auch nicht viel empfinden, denn ich war ihm ja gar nicht nahe, war nur die Hauptfigur in seinem Stück. Mein Sprung auf die Straße würde ihm nicht zu schaffen machen; allenfalls sähe er sich in der mißlichen Lage, das Scheitern seiner Mission nach Kiel melden zu müssen. Unten stießen zwei Autos zusammen. Ein Pkw war vom Bürgersteig aus rückwärts auf die Straße gefahren, und ein herankommender Lieferwagen hatte nicht mehr rechtzeitig bremsen können. Ein kleines Malheur, mehr nicht, wahrscheinlich nur zwei verbogene Stoßstangen und ein paar Glasscherben. Trotzdem wurde eine große Szene daraus: zwei Fahrer, die heftig aufeinander einredeten, eine Schlange hupender Autos, das Ausscheren einzelner und damit erneute Behinderung und erneutes Hupen, laut und anhaltend, dazu die Neugierigen am Straßenrand und schon nach wenigen Minuten die Polizei. Ich wäre ein idealer Zeuge, dachte sie. Hab’ ihn von oben gesehen, so deutlich wie in einem Zeichentrickfilm der Fahrschule, den ganz seltenen Fall, daß der Auffahrende unschuldig ist. Aber ich werde mich nicht einmischen, denn es geht ja nur um ein paar Peseten. Sie schloß das Fenster, schaltete das Licht ein, zog die Jalousien herunter. Sie machte sich einen Kaffee und setzte sich an den Tisch, an dem sie ihm dreimal Unterricht erteilt hatte, 163
zündete sich eine Zigarette an. Dieses lárgate, hombre! war also ein Ausrutscher, aber er hat sich raffiniert herausgeredet. Ich würde gern wissen, wieviel von dem, was die Menschen so sagen, aufrichtig ist. Ich fürchte, es ist wenig. Die Lüge beherrscht das Leben, im großen wie im kleinen, die Lüge und mit ihr die Verachtung der Menschen. Der Kaffee wärmte sie, und nun verspürte sie erneut Appetit auf einen Cognac, holte die Flasche wieder hervor, schenkte sich ein, trank. Diesmal bekam er ihr gut, und sie nahm noch einen zweiten. Ich muß heute abend etwas tun, womit ich mich einreihe in die Legion der Lügner und Menschenverächter, um für alle Zukunft gewappnet zu sein. Wenn so viele auf den Strich gehen, sei es, um Menschen zu kaufen, sei es, um sich selbst zu verkaufen, dann kann ich das auch! Außerdem muß ich den Irrtum der vergangenen Nacht korrigieren! Heute morgen, als ich aufwachte, dachte ich: Was in dieser Nacht geschah, war mein größtes und schönstes Erlebnis bisher. Aber eine Stunde später wußte ich, es war mein schlimmstes Erlebnis. Immer werde ich mich daran erinnern, daß er wie ein Generalstäbler tagelang in wohlbemessener Dosierung die einzelnen taktischen Schritte vornahm, um irgendwann zum großen Finale zu kommen. Es sollte ihn in die Lage versetzen, nach Kiel zu telegrafieren: »Auftrag ausgeführt, nächster Schritt Hamburg, anschließend Endphase«. Oder so ähnlich. Denn Südamerika war natürlich nicht ernstgemeint, war nur Mittel zum Zweck. Ja, wenn ich später an diese Nacht denke, diese allerschönste, allerschrecklichste Nacht, wird sein Betrug dominieren und mich erdrücken. Dagegen muß ich etwas tun, etwas, wodurch das alles profan und minderwertig wird. Ich will nicht, daß ich ihm etwas Besonderes gewährt habe. Ich muß mir andere suchen, drei, zehn! Je 164
mehr, desto besser! Noch einmal schenkte sie sich ein, leerte das Glas in einem Zug, und allmählich wurde ihr ein bißchen leichter ums Herz. Sie zog ihren kürzesten Rock an, schminkte sich, blieb vor dem Spiegel stehen: »Cinco mil, señor!« Fünftausend, mein Herr! Ach nein, ein solcher Mann wird wohl geduzt, denn man ist ja darauf aus, drei Minuten später mit ihm im Bett zu liegen. Oder sollte ich lieber zehntausend Peseten verlangen? Nein, denn dann werte ich die Nacht mit Roland Simon nicht genügend ab. Schließlich ist das Geld bei ihm das Maß der Dinge. Oder ich mache es ganz anders! Sag einfach: »Hombre, du kannst mich gratis haben«. Ja, so mach’ ich’s, und damit ist die letzte Nacht so gründlich entwertet, daß ich mich ihrer nicht mehr zu schämen brauche. Sie verließ die Wohnung, fuhr mit dem Lift nach unten, trat auf die Straße, nahm ein Taxi und ließ sich zu den Ramblas bringen. An der Markthalle stieg sie aus. Die Stände waren schon geschlossen, aber der Geruch von Fisch und Fleisch und Obst hing noch in der Luft. Hier begann er den Weg zu meinem Bett. Schlug vor, einzukaufen und dann in meiner Wohnung ein Abendessen zu veranstalten. Wie sagte er noch? Ach ja, ich könnte ihn gern zum Gemüseputzen abstellen. Jedes Wort war eine Lüge! Jede Geste eine Lüge! Alles, was die Qualität gehabt hätte, später zu einer schönen Erinnerung zu werden, war gelogen. Alles. Der Unterricht. Die Fahrt im Zug. Die Art, wie er mir in der Seilbahn die Angst nahm. Die Achatkette. Die andere Seilbahn und der Blick auf den Hafen, auf das Schiff mit dem gelben Schornstein, das uns nach Südamerika bringen sollte. Das Gerede von der Tafeley mit Ypsilon. Alles. Alles. Das Spiel seiner Hände auf 165
unserem mondbeschienenen Bett und daß er gern kniehohes Gras zur Seite gebogen hätte. Und: »Deine Haut fühlt sich gut an«. Sie ging hinein in die Straße Arco del Teatro, stieß eine Weile später auf die Montserrat, und als sie diesen Namen las, wollten wieder die Tränen kommen. Nur mit Mühe gelang es ihr, sie zurückzuhalten. Ich werde nie mehr mit einer Seilbahn fahren! Ziellos ging sie durch das Gewirr der engen Straßen, bis sie auf die ersten Huren traf, ging langsam an ihnen vorüber und ließ sich beschimpfen von den armseligen Kreaturen, die in ihrem Revier keine Konkurrenz dulden wollten, eine so junge und schöne schon gar nicht. An der nächsten Ecke blieb sie stehen, im Licht einer Straßenlampe, zehn bis zwanzig Schritte entfernt von dem musealen Dutzend, das sich im Schatten hielt. Sie zündete sich nervös eine Zigarette an. Aber plötzlich sank ihr Mut. Sie sah die Männer, die einzeln oder in kleinen Gruppen durch die Gasse zogen, die stehenblieben und sie musterten, sah die finsteren Hauseingänge, und schon bei der Vorstellung, mit irgendeinem Fremden durch ein halbdunkles Stiegenhaus nach oben zu gehen, breiteten sich Angst und Entsetzen in ihr aus. Von der gegenüberliegenden Straßenseite kam ein Mann auf sie zu. Er war etwa vierzig Jahre alt, untersetzt, vierschrötig. Er hatte eine Baskenmütze auf und trug unter der dunklen Lederjacke ein helles, am Hals offenes Hemd, so daß sie das Medaillon auf seiner Brust sehen konnte. Er kam ganz nah heran. Ihre Angst wurde größer. »Hallo, Kleine, was kostest du?« »Zwanzigtausend.« »Bist du verrückt?« Er schüttelte den Kopf und ging weiter. 166
Und was mache ich, wenn da nun wirklich einer bereit ist, diesen Preis zu zahlen? Etwas später kam eine der Huren aus dem Dunkel auf sie zu: »Hau ab, hier hast du nichts zu suchen!« Aber trotz ihrer Angst wollte sie das Feld nicht räumen: »Ich bin hier verabredet.« »Sag bloß noch, mit deinem Freund!« »Ja, so ist es.« »Und der Kerl eben? Das war doch ein Freier, und du hast zwanzigtausend verlangt, wie er uns erzählte.« »Das hab’ ich doch bloß gesagt, damit er weitergeht.« »Ich hoffe, du gehst auch bald weiter.« Als Katja wieder allein war, dachte sie: Was für Männer müssen das sein, die sich zu so einer legen! Überhaupt, was für ein entsetzlicher Markt! Aber da fiel ihr wieder Roland Simon ein, und prompt nahm sie die Huren in Schutz: Was er macht, ist schlimmer. Sie sind wenigstens ehrlich, nennen unumwunden ihren Preis und geben, was sie dafür zu bieten haben, während er sein schmutziges Geschäft mit schönen Worten verbrämt. Wieder trat einer auf sie zu, ein englischer oder amerikanischer Matrose in Uniform; sie las den Namen seines Schiffes auf dem Mützenband. Er war groß und schlank und jung, etwa so alt wie sie, und er hatte ein Kindergesicht, aber bevor er etwas sagen konnte, sprach sie ihn an: »Du mußt ein paar Schritte weitergehen; ich gehöre nicht dazu.« »Sorry«, sagte der Junge, aber er ging nicht zu den anderen, sondern überquerte die Straße und verschwand in einem Lokal. Ihr war längst klargeworden, daß sie den Plan, es nun ganz schnell mit einem oder drei oder zehn anderen zu tun, um das Erlebnis der vergangenen Nacht auszulöschen, nicht verwirklichen konnte. Er war der tiefen Kränkung 167
und dem Bedürfnis nach Vergeltung und wohl auch dem Cognac entsprungen, doch nun, mit der Wirklichkeit konfrontiert, war sie nicht fähig, ihn auszuführen. Aber noch eine Weile hier stehenbleiben, das wollte sie, so als sei ihr mit dem bloßen Anschein auch schon ein wenig geholfen. Sie zündete sich eine zweite Zigarette an.
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23 »Du, jetzt sind es nicht mehr elf, sondern zwölf, und zusammen sind sie nicht mehr achthundert Jahre alt, sondern …, na, ich schätze achthundertvierzehn! Du kannst dir also ausrechnen, daß es sich bei dem Zuwachs um ein taufrisches Exemplar handelt, allerdings wohl auch um eins, über das der Staatsanwalt noch schützend seine Hand hält. Ich kenne die spanischen Gesetze nicht. Vielleicht berücksichtigen sie den schnelleren südlichen Reifeprozeß, so daß die Kleine da unten schon darf. Eben hat sie einen von der Navy abgewimmelt; oder sie sind sich über den Preis nicht einig geworden. Mensch, ich hab’ das Gefühl, ich könnte meine Vorurteile über Huren heute mal über Bord werfen.« Hannes setzte sich dem Freund gegenüber auf das zweite Bett, zog seine Brieftasche heraus und fing an, sein Geld zu zählen. »Was mag so eine hierzulande kosten?« Doch Roland blieb ihm die Antwort schuldig, und so fuhr er fort: »Zweitausend Peseten? Das wären ungefähr vierzig Mark. Vielleicht noch ein Kindergartenaufschlag von zwanzig, dann wären’s sechzig. Mit dem Preis fürs Zimmer sind wir bei achtzig, noch ein Drink vorweg … Sag mal, ist in deinem Etat ein schlapper Hunderter für mich drin?« Wieder bekam er keine Antwort, und so ging er zurück ans Fenster. »Jetzt verhandelt sie mit einem baumlangen Neger! Da kommen einem ja anatomische Bedenken, und … Gott sei Dank, er geht wieder. Du, die verteilt lauter Körbe! Das fordert mich ja geradezu heraus.« Noch einmal zog er die Brieftasche hervor, schwenkte sie hin 169
und her. »Wenn du mir fünfzig gibst, käme ich auch noch zurecht. Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?« Roland hob den Kopf. »Ich höre dir zu, aber ich hab’, falls du es noch nicht mitgekriegt haben solltest, zur Zeit ein Problem, und das beschäftigt mich.« »Klar weiß ich, was in dir vorgeht. Ich meine bloß, so total solltest du dich deinem Katzenjammer nicht ausliefern. Das führt zu nichts. In ihren Augen hast du ein eiskaltes Spiel gespielt. Für dich wurde zwar ein heißes draus, aber das alles ist jetzt passe. Dir bleibt nichts anderes übrig, als zur kalten Masche zurückzukehren. Im Klartext heißt das: Vergiß das schöne Kind! Melde nach Kiel, daß dein Versuch, die Tochter umzustimmen, gescheitert sei. Brauchst deinen schwerwiegenden Regiefehler ja nicht unbedingt einzugestehen, erklärst einfach, es ist zwecklos, und du gibst auf. Dann kommst du zwar um die Erfolgsprämie, aber du hast dein Möglichstes getan, hast dir die erste Quote und die Spesen mehr oder weniger sauer verdient und bist schuldenfrei. Wir machen uns noch drei flotte Tage und fliegen dann nach Hamburg zurück. Das Ganze war nur eine Affäre, war deine Barcelona-Affäre. Sie hat dir ein bißchen Freude gebracht, ein bißchen Kummer und einen Haufen Geld. Punktum! Aus!« »Aber ich liebe sie.« »Das mußt du dir schnellstens wieder ausreden, kennst sie ja auch erst ein paar Tage.« »Was überhaupt nichts besagt. Es hat mich eben umgehauen. Die zwei Jahre mit Marianne sind eine blasse Episode im Vergleich zu den wenigen Stunden mit Katja.« Hannes stand immer noch am Fenster, sprach gegen die Scheibe, hielt seinen Blick unentwegt auf die Straße gerichtet. »Die Freuden sollten gerecht verteilt werden. Du hattest zwei spanische Abenteuer. Damit ich wenigstens 170
eins hab’, mußt du mir einen Zuschuß aus dem Budget genehmigen. Wie gesagt, fünfzig Mark würden genügen.« »Du kannst alles kriegen, was noch übrig ist. Aber willst du jetzt wirklich mit ’ner Nutte abziehen?« »Weißt du, die ganz jungen, die wissen noch gar nicht so richtig, was sie tun. Wenn ich mir das Kind so ansehe …, die ist, obwohl sie auf so einer Straße steht und wie ein verstopfter Ofen qualmt, noch unschuldig. Innerlich, meine ich. Übrigens ist sie bestimmt nicht von hier. Sie hat blondes Haar. Du solltest sie dir mal angucken.« »Meinst du nicht, daß es der falsche Zeitpunkt ist, mich auf so eine anzusetzen?« »Vielleicht ist es genau der richtige! Allerdings, den zarten Falter da unten wollte ich eigentlich für mich einfangen.« »Ich will ihn mit Sicherheit nicht.« »Wenn ich wüßte, er wäre gut für dich, dann würde ich von meiner Option keinen Gebrauch machen.« »Ich überlege, ob wir nicht mit irgendeinem Trick beim Hausmeister den Schlüssel für Katjas Wohnung loseisen können. Dann würde ich zu ihr gehen und alles aufklären.« »Du hast doch selbst gesagt, sie würde dir nicht glauben. Vergiß sie! Mensch, nun wird die Kleine schon wieder angequatscht! Diesmal sind es zwei, und wieder scheinen die Verhandlungen schwierig zu sein. Sie schüttelt den Kopf. Die wollen doch wohl nichts Abwegiges von ihr? Oh, und die elf Schattengewächse! Das mußt du dir mal ansehen! Alle elf Hälse sind nach rechts gekurbelt. Die Kleine stiehlt ihnen die Show. Hoffentlich rückt der Trupp nicht geschlossen an und schlägt meiner Blonden die elf Hurentäschchen um die Ohren. Wirklich, du solltest mal einen Blick nach draußen werfen! Jetzt hauen die beiden Kerle endlich ab, wechseln 171
über in die Sektion ›Altersheim‹. Mann, ist das spannend! Besser als Kino. Nun komm endlich und guck! Du sollst deinen Schmerz nicht kultivieren, du sollst ihn vergessen, und dafür ist das kleine Schmierenstück da unten bestens geeignet. Es würde dich ablenken.« Da Roland immer noch sitzen blieb, ging Hannes auf ihn zu, packte ihn am Arm und zog ihn ans Fenster. »Da rechts! Die elf Figuren! Mann, die wären was für Christoph Palinger!« »Wieso denn für den?« »Na, der studiert doch Archäologie. Ausgrabungen und so. Und nun dahinten! Links! Unter der Lampe! Andersens kleine Meerjungfrau. Sie ist …« »Mein Gott!« »Hab’ ich’s dir nicht gesagt? Da kippst sogar du aus den Schuhen. Glaubst du nicht auch, daß …« »Es ist Katja!« Roland riß das Fenster auf, beugte sich hinaus, starrte hinunter auf die Straße, dorthin, wo das blonde Mädchen stand. »Es gibt keinen Zweifel, sie ist es! Ich kenne ihr Haar, ihre Gestalt. Ich kenne die Art, wie sie die Zigarette hält. Ich muß zu ihr!« »Aber es ist doch unmöglich, daß ein Mädchen wie Katja Engelhardt sich da hinstellt!« »Es ist durchaus möglich! Nach allem, was passiert ist.« Roland schloß das Fenster, zog seine Jacke an. »Bist du absolut sicher?« »Hundertprozentig. Und auch der Zusammenhang ist mir klar. Überleg doch mal! Da sagt einer zu ihr, daß er sie liebt, und er wird der erste Mann für sie. Sie ist glücklich, will ihm bis ans Ende der Welt folgen, aber plötzlich stellt sie fest, daß das Ganze ein lausiges Komplott war, angezettelt von ihren Eltern. So ein Mädchen muß doch durchdrehen, muß Tabletten schlucken oder sich vor den 172
Zug werfen oder den Mann, der ihr das angetan hat, umbringen. Jedenfalls irgendwie reagieren. Sie hat mich nicht umgebracht, aber sie hat mich verraten. Sie hat sich nicht vor den Zug geworfen, dafür in die Gosse.« Er öffnete die Tür, wollte hinausstürmen. »Stop!« »Was denn noch?« »Du rennst einfach drauflos und weißt doch genau, daß du der allerletzte bist, den sie zu sehen wünscht. Was willst du denn überhaupt machen?« »Mit ihr reden. Ihr sagen, wie es zu allem gekommen ist. Und ich muß mich beeilen, denn irgendwann haut sie ab, geht in eine Kneipe oder sonstwohin. Sie ist doch jetzt auf einem ganz chaotischen Trip!« Er lief noch einmal ans Fenster, warf einen Blick hinaus. »Noch steht sie da! Ich muß runter! Bis später!« Wieder lief er zur Tür, aber Hannes hielt ihn fest. »Vorausgesetzt, sie ist es wirklich, dann rennt sie doch weg, sobald sie dich sieht. Und wenn du sie daran hinderst, schreit sie. Sie schreit die ganze Gegend zusammen. Und womöglich erzählt sie jedem, daß du ein gesuchter Ganove bist, der Einbrecher von Coma …, na, von Dingsda. Glaub mir, Roland, du schaffst es nicht, sie zu überzeugen, weil sie dir nämlich gar keine Chance läßt, den Mund aufzumachen.« »Aber …« »Ich bin es, der jetzt mit ihr reden muß! Und ich werde es richtig machen, das verspreche ich dir. Ein Glück, daß sie mich nicht kennt! Verlaß dich drauf, ich mach’ es richtig.« Roland war schon wieder am Fenster. »Noch einer, und zwar von der Guardia Civil.« »Was ist das?« »Die Polizei.« 173
»Na siehst du? Wenn du jetzt unten gewesen wärest, hätte sie dich gleich abgeliefert.« »Er geht schon wieder.« »Also, bis nachher!« »Und wenn sie mit dir ins Bett will?« »Das würde ich ihr schon ausreden.« »Aber willst du ihr denn sagen, wer du bist?« »Muß ich ja wohl. Aber nicht sofort. Erst mal bin ich nur irgendwer. Ich bringe sie weg aus dieser Gegend, und sobald wir einen ruhigen Platz gefunden haben, ein Restaurant oder eine Bank im Park, rücke ich mit meiner Sache raus. Mit deiner. Schrittweise.« »Vielen Dank, Hannes.« »Quatsch.«
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24 Sie sah auf die Uhr. Was mache ich nun mit diesem Abend? Ich habe Angst, daß ich es nicht schaffe. Morgen auch nicht und danach ebensowenig. Ich könnte ins Kino gehen, einfach ins Kino. Vielleicht passiert was Entsetzliches in dem Film, und es möbelt mich ein bißchen auf, weil ich sehe, daß ich nicht ganz so schlimm dran bin. Oder er ist lustig, und ich kann für eine Weile alles vergessen. Was mag in diesen Männern vorgehen, die mit ihren lüsternen Blicken die Frauen abschätzen und dann wieder verschwinden oder sich eine herauspicken und mit ihr abziehen? Was es wohl für sie bedeutet, wo sie doch dafür bezahlen müssen und nicht erwarten dürfen, daß auch nur ein bißchen wirkliche Nähe entsteht? Da ist schon wieder so einer, offenbar ein Zauderer, denn er tut so, als zähle er die Pflastersteine, aber zwischendurch hebt er verstohlen den Kopf und guckt her, taxiert mich. Er hat riesenhafte Ohren. Sehen aus wie die Flügel einer Fledermaus. Er raucht. Genau wie ich. Die Zigarette, die aus der Verlegenheit helfen soll. Aber jetzt hat er Mut gefaßt und kommt herüber, gibt sich den Anschein der Lässigkeit. Bestimmt fragt er als erstes nach dem Preis. Er ist noch ziemlich jung und wird nicht viel Geld haben. Sie warf ihre Zigarette in den Rinnstein und zündete sich eine neue an. »Du rauchst ziemlich viel«, sagte er. »Und wenn du dich nun geirrt hättest und ich kein Deutsch könnte?« »Sehr spanisch siehst du jedenfalls nicht aus, und da 175
dachte ich mir, fang mal mit Deutsch an. Aber, um ehrlich zu sein, viel mehr kann ich auch gar nicht. Höchstens noch Englisch und drei Brocken Französisch, ach, und dann noch plattdeutsch.« »Dann kommst du also aus dem rauhen Norden?« »Ja, aus Hamburg.« »Aus Hamburg?« Sie lachte, aber es war ein nervöses, bitteres Lachen. »Dahin hätte es mich beinahe mal verschlagen, aber dann wurde nichts draus.« »Du stehst mit Sicherheit an der falschen Ecke.« »Wieso? An welcher sollte ich denn deiner Meinung nach stehen?« »An gar keiner. Mit so einem Gesicht!« »Gesichter können täuschen.« Eine der Huren kam auf zwei Meter heran und fing an zu schimpfen, drohte mit der Faust. »Está bien«, antwortete Katja. Ist ja gut. Hannes aber schleuderte der alten Vettel ein beinahe überzeugendes »lárgate!« ins Gesicht. Bei dem Zusatz hombre war er nicht sicher, ob der nun »Mann« oder »Mensch« bedeutete, und so ließ er ihn weg. Die Alte räumte das Feld. Katja stutzte einen Moment, sah ihn an. Dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf und sagte: »Spanisch kannst du also auch?« »Nur ganz wenig. Es ist so wie mit meinem Französisch. Ein paar Wörter, mit denen man sich durchschlägt.« »Mit lárgate! kommt man aber nicht weit.« Noch einmal, den Klang der eigenen Stimme im Ohr, stutzte sie. Es irritierte sie, daß sie dieselben belehrenden Worte schon einmal gebraucht hatte. »Was ist?« fragte Hannes. »Hab’ ich was Falsches gesagt?« 176
»Nein, nein.« »Also, ich finde wirklich, du stehst hier nicht richtig, und wir sollten woanders hingehen.« »So, findest du das? Und warum, meinst du wohl, stehe ich hier?« »Weil du dich verlaufen hast. Komm!« Eigentlich wäre das ein ganz passabler Abtritt, dachte sie. »Aber wohin?« »In ein Restaurant. Wir könnten etwas essen oder ein Glas Wein trinken.« »Nicht so gern.« »Oder wir machen einen Bummel über die Ramblas.« »Das auch nicht.« »Dann laufen wir einfach durch die Nacht. Ohne Ziel.« »Okay.« Er nahm ihre Hand. »Wirklich, ich finde, diese Gegend ist nichts für dich. Ich glaube, du bist aus Verzweiflung hierhergekommen. Ist es vielleicht, weil du kein Geld mehr hast?« Sie schwieg, dachte: Warum redet er so? Warum will er nicht, wie die anderen, mit mir in die nächste Absteige, und das zu einem möglichst niedrigen Preis? Warum redet er wie ein Priester auf mich ein? »Ich habe Geld genug«, antwortete sie schließlich, und dann fügte sie hinzu: »Und verzweifelt bin ich auch nicht.« »Gott sei Dank! Sonst wären da nämlich heute abend zwei Verzweifelte aufeinandergeprallt.« »So? Was wolltest du denn eigentlich in dieser Gegend?« »Sie paßte so schön zu meinem Tiefpunkt, aber dann entdeckte ich dich. Das war ein richtiger Lichtblick und hob meine Stimmung, und darum möchte ich hier wieder 177
weg.« »Täusch dich nicht! Heute abend bin ich alles andere als ein Lichtblick.« »Also doch verzweifelt?« »Na, da gibt’s ja wohl noch ein paar Zwischenstufen.« Er hielt sie immer noch an der Hand, und sie ließ es geschehen. Sie hatten den Barrio Chino hinter sich gelassen, gingen am Schifffahrtsmuseum entlang und stießen auf die breite Uferstraße, vor ihnen war das Wasser. »Zum Hafen wollte ich eigentlich auch nicht«, sagte sie, »jedenfalls keine Schiffe. Nicht so gern.« »Auch nicht das kleine da?« Er zeigte über den Boulevard hinweg auf die Santa Maria. »Ist ja kein richtiges; nur eins, auf dem tagsüber die Schulklassen herumturnen. Wegen des anschaulichen Geschichtsunterrichts. Guck mal, da drüben ist der Bootssteg. Er hat eine Treppe. Auf die setzen wir uns und erzählen uns von unseren Sorgen.« »Wieso meinst du, daß ich welche habe?« »Jeder hat welche. Und du allemal, denn du hast, von diesem Abend abgesehen, noch nie in einem Hurenviertel gestanden.« Er ließ sie gar nicht erst antworten, sondern zog sie hinter sich her über die breite Straße. Weil sie wegen der Autos laufen mußten, kamen sie ganz außer Atem auf der anderen Seite an, und da lag sie schon vor ihnen, die Santa Maria, fast zum Greifen nah. Sie setzten sich, wie er es vorgeschlagen hatte, auf die hölzernen Stufen des Bootsstegs. Sie hörten das Wasser gegen die Pfahle schwappen und dazu, in Abständen, die Schnürgeräusche der Fender, die zwischen Bordwand und Anleger hingen. »Kaum zu fassen«, sagte Hannes, »daß er mit diesem kleinen Schiff den Weg über den Ozean geschafft hat.« 178
Aber sie sah an der Caravelle des Columbus vorbei, denn drüben, an einem der großen Kais, lag immer noch das Schiff mit dem gelben Schornstein. Es war illuminiert und bis über die Toppen geflaggt. »Wie heißt du eigentlich?« fragte sie. »Hannes Vogt.« Sie fuhr herum, starrte ihn an, aber gleich darauf vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und fing an zu weinen. Er legte ihr seine Hand auf die Schulter, doch wie in einem Reflex krümmte sie den Rücken und sperrte sich gegen die kleine Geste. So zog er die Hand wieder zurück. Endlich hob sie den Kopf. »Das ist es also«, sagte sie. »Ihr habt mir aufgelauert. Seid mir gefolgt. Hat er befürchtet, ich täte mir etwas an und er müßte dann den unangenehmen Zwischenfall in seinen Rapport einbringen? Keine Angst, ich überstehe es.« »So war es nicht«, sagte Hannes. »Wie denn? Und warum bist du hier und nicht er?« »Wir sind dir nicht gefolgt. Es ist reiner Zufall, daß wir dich entdeckten. Wir sahen dich von unserem Hotelzimmerfenster aus.« »Müßt ihr aber Augen haben, daß ihr vom Manila aus bis in den Barrio Chino sehen könnt!« »Da mußten wir doch ausziehen. Wegen dieses spanischen Offiziers.« Sie lachte, aber wieder klang es bitter. »So hab’ ich euch wenigstens einen Schrecken einjagen können! Der Oberst weiß von nichts. Ich habe ihn gar nicht angerufen.« »Was?« »Wie ich es sage. Ich wollte euch erschrecken. Nein, ihn! Roland! Ich hatte das Bedürfnis, etwas Schäbiges zu tun, aber dann genügte es mir, es nur vorzutäuschen. Wie ich sehe, war der Effekt der gleiche.« 179
»Bist du bereit, mir eine halbe Stunde lang zuzuhören?« »Was soll das noch?« »Du wirst deine Ansicht ändern.« »Bestimmt nicht.« »Doch, denn du machst dir ein falsches Bild. Zugegeben, es mußte wohl dazu kommen, aber es gibt eine Chance, dieses Bild zu korrigieren. Bitte, hilf mir, daß ich es schaffe, denn wenn ich mit leeren Händen zurückkomme, kriege ich ihn nicht wieder ins Lot. Er ist ziemlich am Ende.« »Ach.« »Ja.« »Quält es ihn so sehr, den hochbezahlten Auftrag verpatzt zu haben?« »Nein. Der Auftrag existiert schon lange nicht mehr. Von der ersten Spanischstunde an hatte er ihn aufgesteckt. Und seitdem bemüht er sich um Geld, weil er’s deinem Vater zurückgeben will.« »So, er bemüht sich um Geld. Der Einbruch von Comarruga war aber vorher. Das Datum stand in der Zeitung.« »Das war kein Einbruch.« »Was soll es dann wohl gewesen sein?« »Ein Abenteuer. Und weil es vor der ersten Spanischstunde stattfand, kannst du ihm keinen Vorwurf daraus machen. Er hatte eine Frau kennengelernt. Maria. Die Frau von diesem Escobedo. Sie hatte ihn in ihr Landhaus eingeladen, und der Ehemann hat die beiden ertappt.« »In der Zeitung stand es aber anders.« »Natürlich. Wie käme ein spanischer Offizier dazu, sich der Öffentlichkeit als Hahnrei zu präsentieren! Andererseits wollte er den Liebhaber seiner Frau in die 180
Finger kriegen, und darum machte er einen Einbruch draus.« »Aber sie selbst ist doch auch überfallen worden! Sie soll verletzt in einer Klinik liegen.« »Sie hat ebenfalls versucht, etwas anderes draus zu machen. Ihrem Mann gegenüber. Hat ihr Hemd zerrissen und sich ein paar Kratzer beigebracht.« »Das soll ich glauben?« »Du mußt es glauben.« »Mit einer Notizbuchzeile wie ›Sechzehntausend Mark, Zahlung von Dr. Engelhardt‹ im Kopf fällt mir das ziemlich schwer.« »Klar. Und über das alles muß ich mit dir reden.« »Mir ist kalt. Jetzt würde ich doch gern etwas trinken. Etwas Heißes.« »Wo? Im Barrio Chino?« »Lieber nicht.« »Du kennst dich hier besser aus als ich. Schlag etwas vor!« »Auf der anderen Seite der Ramblas.« »Komm!« Er half ihr auf. Sie überquerten wieder die breite Uferstraße, und eine Viertelstunde später saßen sie in der Calle Portaferrisa in einem kleinen Lokal und wärmten sich mit einem capuchino. »Es ist eine verrückte Geschichte«, sagte Hannes, »so verrückt wie die Idee deiner Eltern, jemanden zu engagieren, der dich zurückholen soll. Wir lasen ihre Annonce. Nein, jetzt kommt es auf die Feinheiten an! Also: Ich las die Annonce. Roland war gar nicht dabei. Irgend jemand hatte die Zeitung in der U-Bahn liegenlassen, und weil ich das Inserat darin fand, nahm ich sie mit nach Hause. Für ihn, denn für mich kam die Sache sowieso nicht in Frage, weil …«, er lächelte sie an, »ich 181
erstens außer lárgate! kein Wort Spanisch kann und zweitens bestimmt nicht der Typ bin, der deinen Eltern vorschwebte. Nun mußt du noch wissen, Roland und ich hatten Schulden, bei mehreren Leuten. Wir brauchten also dringend Geld. Wir waren beide in ziemlich desolater Verfassung, und zwar seit Wochen. Du hast sicher davon gehört, daß schon jetzt Tausende von Lehrern auf der Straße liegen. Wie wird es also denen ergehen, die das werden wollen? Also, wir waren in jeder Hinsicht beim Nullpunkt angelangt. In unserem Eisschrank krümmten sich gerade noch ein paar einsame Gewürzgurken neben einer Tüte Milch. Und nun kam ich mit dieser Anzeige und hielt sie Roland unter die Nase. Aber er sagte nein und warf die Zeitung in den Papierkorb. Ich brauchte den ganzen Abend, um ihn wenigstens zu einem Versuch zu bewegen, und schaffte es nicht zuletzt dadurch, daß ich ihm diesen heiklen Job als eine pädagogische Aufgabe verkaufte. Na, und dann lief die Sache an. Er besuchte deine Eltern, bekam ein paar Fotos mit und machte sich auf den Weg nach Barcelona. Dann wurde es grotesk. Er rief mich an, und da bekam ich doch tatsächlich zu hören, wie froh er sei, das Mädchen nicht gefunden zu haben. Ich erinnerte ihn wieder an seine Aufgabe. Er hatte auch ein Tennis-Foto von dir, und das veranlaßte ihn, sich das große Turnier anzusehen, das hier in der letzten Woche stattfand. Da lernte er diese Maria kennen. Was daraus wurde, weißt du. Einen Tag später fand er deinen Zettel am Schwarzen Brett der Uni, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Schon nach der ersten Unterrichtsstunde stand für ihn fest, daß er seine Aufgabe nicht zu Ende führen würde. Aber bei diesem Entschluß ging es ja leider wieder mal um Geld. Er war schon drauf und dran, seine Mutter zu bitten, für ihn ein Darlehen aufzunehmen. Sechstausend Mark. Das ist die Summe, die er braucht.« 182
»Ich denke, es sind sechzehntausend.« »Ja, was er im ganzen bekommen hat, aber das meiste davon hat er ja noch. Er will deinen Eltern alles zurückzahlen, auch die Reisekosten. Alles. Er hat übrigens keinen Kontakt mehr zu ihnen. Er wollte sie anrufen, sobald er dich gefunden hätte. Er fand dich, meldete sich aber nicht. Sagt das nicht genug? Er denkt verzweifelt darüber nach, wie er zu Geld kommt. Seine Mutter anzupumpen, ist nur der eine Weg. Der andere wäre, sein Studium für ein Jahr zu unterbrechen und zu arbeiten. Ich finde, da ist er ziemlich unrealistisch. Bei zweieinhalb Millionen Arbeitslosen!« Hannes machte eine Pause, bestellte noch zwei capuchinos. Als der Kellner wieder gegangen war, wollte er fortfahren, aber Katja kam ihm zuvor: »Ich gebe zu, wenn alles so gewesen ist, wie du sagst, dann ist er doch nicht so schäbig, wie ich seit heute morgen dachte. Aber warum hat er, wenn er diesen …, diesen geschmacklosen Plan aufgeben wollte, mir nicht einfach alles erzählt?« »Das hab’ ich ihm auch geraten, aber er hatte Bedenken, und die sind plausibel: Da lernt jemand ein Mädchen kennen und spürt vom ersten Augenblick an, das ist sie! Ist die, bei der er sein Leben lang bleiben möchte. Aber nun ist da dieser haarsträubende Auftrag, der, falls er dem Mädchen bekannt wird, alles zerstören kann. Diese Angst hat er gehabt, und so schob er das Geständnis erst mal vor sich her. So, nun weißt du alles und kannst dir vorstellen, wie es in ihm aussieht. Er hat den ganzen Tag versucht, dich anzurufen, aber du warst nicht da oder nahmst den Hörer nicht ab.« »Ich hab’ mir jedesmal die Ohren zugehalten.« »Sein letzter Vorschlag war, deinem Hausmeister unter irgendeinem Vorwand den Schlüssel zu deiner Wohnung abzuschwatzen und einfach nach oben zu gehen. Aber 183
dann standest du plötzlich an unserer Ecke, und …« »Was hat er da bloß gedacht?« »Das Richtige. Und er wollte natürlich sofort zu dir, aber ich hielt ihn zurück und sagte, das müsse ich machen, denn vor ihm liefest du bestimmt weg.« Sie griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand, drückte sie, ließ sie wieder los. »Ich bin dir sehr dankbar. Du bist von euch beiden der Spaßmacher, hat er gesagt; aber ich glaube, du kannst noch eine ganze Menge mehr.« »Ach was! Hab’ ja nichts weiter getan als die Wahrheit erzählt. Ich glaube, wir sollten ihn jetzt nicht länger warten lassen, aber in den Barrio Chino will ich dich nicht zurückbringen. In unserem Zimmer würdest du vor Ekel einen Starrkrampf kriegen. Ich schlage vor, wir nehmen uns ein Taxi und fahren ins Manila.« »Darf ich erst noch eben nach Haus? Ich möchte mir so gern was anderes anziehen. Es ist ja nur ein kleiner Umweg.« »Klar! Und dann fahren wir ins Manila. Da setzt du dich in die Bar, und ich versuche, unsere Zimmer wiederzukriegen. Die Gefahr, daß Escobedo uns hochnimmt, ist ja jetzt gebannt. Noch nie hab’ ich in solcher Panik meinen Koffer gepackt wie heute morgen, und dann sind wir über die Ramblas geächzt. Das hast du auf dem Gewissen, aber wir hatten’s wohl auch verdient. Während du in der Bar bist, fahr’ ich noch mal zu unserer Absteige und hol’ ihn. Dann kommt wieder ein Umzug. Für ihn ist es das fünfte Quartier in den paar Tagen. Colón, San Pedro, Manila, das Zimmer im Hurenviertel und wieder das Manila. Fünf.« »Sechs. Du hast das Haus in Comarruga vergessen!« »Dann sind es sogar sieben, denn in der letzten Nacht hab’ ich ihn nicht nach Haus kommen hören. Morgens stand er plötzlich an meinem Bett, ungewaschen und 184
unrasiert. Rausgeflogen aus dem warmen Bett direkt auf die Straße, so stand er vor mir mit allen Anzeichen psychischer Auflösung, der Ärmste!« Sie lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »War das mit Maria eine große Leidenschaft?« »Wohl kaum. Und die Erinnerung daran dürfte ziemlich deprimierend sein angesichts der Saalschlacht mit drei Verletzten.« Er winkte dem Kellner, zahlte. Beim Hinausgehen sagte er: »Wenn wir alle drei wohlbehalten im Hotel sind, leg’ ich mich aufs Ohr. Aber ihr habt euch dann, glaube ich, einiges zu erzählen.«
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25 Jetzt, an seiner Hand, war ihr der Anblick des Hafens wieder willkommen. Sie hatten Hannes im Manila zurückgelassen und sich, obwohl es weit nach Mitternacht war, noch einmal auf den Weg gemacht, um endlich wieder unbeschwert durch die Straßen zu gehen. Ohne ein bestimmtes Ziel verfolgt zu haben, waren sie am Hafen angelangt. Gegenüber lief gerade das Schiff mit dem gelben Schornstein aus. Fetzen von Musik drangen bis zu ihnen. Sie blieben stehen, sahen auf die Lichterfülle, die sich langsam seewärts bewegte. Sie sagten nichts, schauten nur versonnen dem großen Passagierschiff nach. Vielleicht fuhr es nach Málaga oder Cádiz, aber für sie stand nun einmal fest, daß das Ziel Südamerika war. Sie gingen den Paseo de Colón entlang, machten den Bogen um das große, von Kränen, Lagerschuppen und Containern flankierte Hafenbecken und erreichten die Mole von Barceloneta, setzten ihren Weg fort, am Wasser entlang. Erst bei der Seilbahnstation überquerten sie die Uferstraße, und dann schritten sie ein zweites Mal die Phalanx der Fischlokale ab, diesmal ohne Belästigung, denn fast alle hatten schon geschlossen. Sie gingen weit, viel weiter als beim ersten Mal, sahen dabei zu ihrer Rechten, zwischen den Häusern, immer wieder ein Stück Meer. Schließlich verlockte es sie, näher ans Wasser heranzugehen, und so verließen sie die Straße, bogen hinter einem der letzten Restaurants ab, betraten den Strand, setzten sich, obwohl es jetzt kühl war, in den Sand. Es war ziemlich hell. Dem Mond fehlte nur noch ein schmaler Streifen bis zum vollen Rund. Er stand weit 186
entfernt von den am Horizont aufgetürmten Wolken und warf sein Licht über Wasser und Land. Roland nahm eine Handvoll Sand auf, ließ ihn durch die Finger gleiten, aber er rieselte nicht, war feucht und kalt und fiel in kleinen Klumpen herunter. »Man kann es fast als Ironie bezeichnen«, sagte er, »daß ich deinen Eltern dankbar sein muß. Ohne ihren Aufruf in der Zeitung hätte ich dich nicht kennengelernt. Und ich muß froh sein darüber, daß ich bei dem schäbigen Spiel mitgemacht habe, denn sonst säße ich jetzt in Hamburg und wüßte gar nicht, daß es dich gibt.« »Aber was wäre passiert, wenn du dich nicht in mich verliebt hättest? Wenn …, na, wenn zum Beispiel der Oberst seiner Frau mehr Freiheit gelassen hätte. Dann wäre der Spanischunterricht für dich vielleicht nur ein Randereignis geblieben.« »Und wenn diese Frau so frei wie ein Vogel gewesen wäre, die erste Spanischstunde hätte alles beendet.« »Aber ich hätte dein Anti-Typ sein können.« Er mußte lächeln, denn er dachte an die monströse Zehnteltonne, die er in seiner Fantasie entworfen hatte, als noch alles offen war, und an den Haarausfall und die schiefen Zähne. Dachte: Auch dann wäre es ein denkender und fühlender Mensch gewesen, ein verletzbares Mädchen mit Träumen und Sehnsüchten, das sich, wenn alles nach Plan verlaufen wäre, auf seine vorgetäuschte Liebe eingelassen hätte. »Ich glaube«, antwortete er, »ich hätte das Spiel in keinem Fall durchgehalten. Es ist leicht, einen solchen Plan auszuhecken, aber dann, über Tage und Wochen hin, praktisch während jeder einzelnen Minute des Zusammenseins, den Betrug wirklich durchzuhalten, bei jedem Wort, bei jedem Blick, bei jeder zärtlichen Geste, dazu bedarf es dann schon der Durchtriebenheit eines Heiratsschwindlers, und, bei aller Selbstkritik, das 187
bin ich nun wirklich nicht.« »Lárgate, hombre! war doch eine Entgleisung, ja?« »Natürlich. Meine Schuhputzer-Story half mir dann zwar aus der Verlegenheit, aber sie erschreckte mich auch, weil sie mir so glatt von den Lippen ging. Ja, und die Spanischstunden waren auch ziemlich qualvoll. Versteh mich richtig, du machtest es sehr gut, und ich empfand es als schön, in deiner Nähe zu sein und dir zuzuhören, aber da war’s ja gleich eine ganze Kette von Lügen, und später, im Hotelzimmer, ging es bei den Hausaufgaben weiter. Ich übte mich im Fehlermachen, und mit einer solchen Lehrerin im Kopf wurde mir schlecht vor meiner eigenen Raffinesse. Es war scheußlich, aber ich bin sicher, es reicht nicht entfernt an das heran, was du heute durchgemacht hast.« »Dabei fing der Tag so schön an. Ich hatte ganze Berge zum Frühstück eingekauft, denn es sollte ein richtiges Festmahl werden. Die Obstfrau hatte zum Einwickeln ein Stück Zeitung benutzt, und so kam mir dein Steckbrief vor Augen. Verzeihst du es mir, daß ich danach deine Sachen durchsuchte?« »Wer hier um Verzeihung bitten muß, bin ich!« »Dein Freund Hannes gefällt mir übrigens sehr gut. Vielleicht ist er manchmal ein Schlitzohr, aber auf jeden Fall ein sympathisches.« »Ja, er ist in Ordnung. Ich hätte keinen Besseren finden können, der mit mir die Wohnung teilt. Schon oft hat er mich mit seinem Temperament und seiner Komik wieder aufgemuntert. Er hat dauernd originelle Einfälle und platzt vor Energie, weiß meistens gar nicht, wohin damit. Guck mal, da!« Ihr Schiff hatte den Hafen von Barcelona verlassen, kam nun um die Mole herum und grüßte mit seinen vielen Lichtern. Es hatte nordöstlichen Kurs, und so war es 188
ziemlich sicher, daß die Reise nach Marseille ging oder nach Genua, aber das hinderte Roland nicht zu sagen: »Zwei Wochen wird es wohl brauchen, wenn nicht drei, und dann gehen wir in Montevideo an Land.« Sie nahm seine Hand, die noch sandig war, aber sie spürte die kleinen Körner gar nicht, nur die Haut, die Wärme, die Nähe. »Schämst du dich nicht, eine mit nach drüben zu nehmen, die dein Freund im Barrio Chino aufgesammelt hat?« Er beugte sich über sie, küßte sie, und sie umschlang ihn. Lange lagen sie in dem kühlen, feuchten Sand. Schließlich befreite sie sich aus der Umarmung, richtete sich auf, zog einen länglichen Briefumschlag aus ihrer Jackentasche. »Hier« und legte ihn auf seine Brust. »Hoffentlich ist es kein Abschiedsbrief«, sagte er. »Er ist so beängstigend dick. Das sind mindestens zehn Seiten.« »Lies ihn!« »Jetzt?« »Ja.« »Meinst du, die Lampe da oben reicht aus?« »Ich glaub’ schon.« Er nahm den Brief in die Hand. »Und was machst du inzwischen?« »Ich sehe dir zu.« Der Umschlag war nicht verschlossen. Er griff hinein, und dann hielt er ein ganzes Bündel Traveller-Schecks in der Hand. Er steckte sie sofort zurück. »Das nicht, Katja! Wirklich, das nicht!« »Doch. Es ist die Bedingung, unter der ich bei dir bleibe. Im Grunde ist es ja nur das Geld meines Vaters, denn woher sonst sollten die Ersparnisse einer verwöhnten Tochter kommen? Ich finde es logisch, daß es jetzt auf diese Weise an ihn zurückgeht. Aber du kannst es auch 189
anders sehen. Irgendwie bin ich ja immer noch eine Engelhardt und das Kind dieser unbegreiflichen Eltern. Und ob sie’s nun gern tun oder nicht, Familienangehörige kommen in der Regel füreinander auf. Neunzehn Jahre lang haben meine Eltern, außer daß sie mir alles kauften, jeden Schaden ersetzt, den ich anrichtete, haben zum Beispiel die Straßenlampe bezahlt, gegen die ich am Tag nach meiner Fahrprüfung gesaust bin. Jetzt läuft es mal umgekehrt. Jetzt stehe ich ein für den Blödsinn, den sie angestellt haben. Und noch etwas! So richtig böse kann ich ihnen nicht mehr sein, denn immerhin waren sie es, die dich hierhergeschickt haben. Sie haben mir in all den Jahren tausend Dinge geschenkt, die mir nicht viel bedeuteten. Aber diesmal, dieses eine Mal, haben sie wirklich Gespür bewiesen für das, was mir gefallen könnte. Wäre es nicht undankbar, ihnen deswegen böse zu sein? Trotzdem bleibe ich dabei, daß sie etwas sehr Schlimmes gemacht haben, und ich könnte nicht nach Hause gehen in dem Gefühl, von ihnen zurückgekauft worden zu sein, sozusagen durch dich als den Zwischenhändler.« »Das ist ein Labyrinth«, sagte er. »Ich würde jetzt so gern etwas weniger Kompliziertes tun, als auf diesem Zickzack-Kurs nachdenken zu müssen.« Er hielt ihr den Umschlag hin. »Nein«, sagte sie, »du weißt doch, es ist eine Bedingung.« »Dann verwahr ihn für mich. Mein Pullover hat keine Taschen.« Sie steckte ihn ein. Er stand auf, ging zum Flutsaum hinunter, suchte eine Weile, hob einen Stein auf und schleuderte ihn in niedrigem Wurf hinaus aufs Wasser. Zwei-, dreimal hüpfte der flache Kiesel in langen Sprüngen über die 190
Oberfläche, ehe er eintauchte. »Flitschern sagten wir dazu als Kinder!« rief er ihr zu. Sie ging zu ihm, suchte sich auch einen Stein, warf ihn. Immer wieder bückten sie sich, hoben einen neuen auf, prüften ihn, und dann flog er in flacher Bahn über das glitzernde Wasser, sprang drei-, vier-, fünfmal und versank. Von Mal zu Mal wurden ihre Würfe besser.
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