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2006 digitalisiert by Manni Hesse Der Philosoph nter den tausendmal tausend Halmen der Wiese blüht immer wieder eine seltene, einzigartige Blume. So auch ersteht inmitten der Menschen immer wieder ein stiller, nachdenklicher Mann, ein Weiser, ein Philosoph. Er braucht nicht gelehrt zu sein, kein Examen zu bestehn, keinen großen Geldbeutel zu besitzen. Auch ist er an kein Volk, keine Zeit und an keinen Stand gebunden. So war im alten Rom der gewaltige Heerführer und Kaiser Marc Aurel ein begnadeter Philosoph, aber der arme schlesdsche Schuster .lakob üohme, der vierzehnhundert Jahre später lebte, war es nicht minder. Wie ein granitenes Mal steht immer wieder ein Weiser auf dem Jahrmarkt des Lebens. So vielgestaltig die Welt des Philosophen sich auch darbietet, so einheitlich blieb sein Gesicht von der fernsten Urzeit bis in unsre Tage: Der Philosoph erfährt Lust und Leid, Sehnsucht, Liebe, Geburt, Tod, Irrtum und Wahrheit in und um sich wie jeder andere. Er weicht dem Leben nicht aus, er geht auch nicht darin unter. In aller wirren Vielfalt sucht er die Einfalt und das Gesetz. Zu lauschen, zu schauen ist ihm gegeben. Wo andere nur obenhin sehen und hören und weiter rennen, verweilt er 2
und forscht hinter den blinkenden Schein und drängt zum Urqrund aller Wesen. Auch beugt er sich zum Staub und hebt auf, was keinem sonst des Aufhebens wert dünkt. Und was er so erhoben, erlauscht, erschaut, das trägt er zusammen in sein innerstes Innere. Wie auf Dürers Bild „Hieronymus im. Gehäuse" lebt dann der Philosoph in der Geborgenheit seiner Seele, indes hinter den bunten Butzenscheiben draußen das Leben vertost, indessen Löwe wie Hund, Leidenschaft, Gier und Wildheit eingeschlafen liegen. Er sitzt und knüpft das Getrennte zusammen, ordnet und windet den Kranz um die Stirne der Gottheit. Und diese Stille und Geborgenheit, sein „Gehäuse", trägt der Philosoph dann überall und immer mit sich. Die um ihn leben, wissen es nicht und spüren doch die Wohltat. Denn es ist gut mit ihm leben, man meint sich irgendwie gehegt und geborgen und trägt leichter, was man zu tragen hat. Nicht verstoßen, verfluchen, verzweifeln ist seine Art, sondern trösten, beistehen, aufrichten, das liegt ihm an. Erfolgreich im kaufmännichen Sinne, also reich an münzbaren Erfolgen wird der Philosoph nicht sein. Dafür beschäftigt ihn zu viel, was nur der Seele dient. Er wird aber auch niemand zur Last fallen, oder, wenn er schon eines andern Brot ißt, wird er königlich dafür bezahlen mit einem Geschenk aus seiner Seele. Und noch eine Eigenschaft hat der Philosoph; es ist seine beste: Er bleibt heiter bis zum Ende. Sogar einem ungerechten, verbrecherischen Tod lächelt er entgegen, wie S o k r a t e s das vermochte. Damit ist der Mann genannt, der Urbild und Vorbild des Weisen und Philosophen war, ist und bleibt. Fast zweieinhalb Jahrtausende sind es her, seitdem er lebte und starb. Und doch wirkt sein Wort auf uns oft so jung, als sei es eben erst aus unsrer Not geboren. Es gleicht darin dem „Parthenon", dem weißen Marmortempel auf aem Felsen über der Stadt Athen. Dieser Bau wuchs zugleich mit Sokrates vor bald zweieinhaibtausend Jahren empor, ragt noch immer über dem Lärm und Gehetze einer Großstadt in den blauen Himmel und wird heute wie je besucht und ehrfürchtig bewundert wie das Geheimnis der Schönheit selber.
Alkibiades über Sokrates lle großen Denker des Abendlandes haben ihre Erkenntnisse und Lehren durch Schriften der Nachwelt überliefert. Einzig Sokrates hat nicht ein Wort geschrieben. Er wirkte auf seine Mitmenschen allein durch die lebendige Rede und durch sein Vorbild. Erst seine Freunde und Schüler, allen voraus der geistgewaltige P i a t o n , überlieferten dann der Nachwelt diesen Sokrates. Es ist, als habe Piaton überlegt, wem er in seinen Schriften das Lob des Sokrates in den Mund legen solle, damit es auch überzeuge. Er wählte den Neffen des allmächtigen Perikles; Alkibiades. Wenn der einen Mitmenschen lobte, dann durfte man diesem Lob glauben. Alkibiades, von Kind auf gewöhnt, daß seine Launen Gesetze waren, reich, schön, klug, aber auch verdorben, ein Menschenverächter und spöttisch - eleganter Lebemann. * Mit Efeu und Veilchen bekränzt, von bunten Bändern umflattert, kommt Alkibiades in das Haus des Dichters Agathon, wo Sokrates und seine Freunde zur Seite des Gastgehers eben von dem Schönen und Guten sprechen und wie man Menschen rechtschaffen macht, auf daß sie gerecht und gut seien gegen die anderen. Sokrates hat das Gespräch zu jener einsamen Höhe geleitet, wo der Mensch das Wesen des Guten selbst erkennt, von dem die Seele lebt wie der Leib von den Bedingungen seines Wachstums. „Man darf keinem der Menschen weder mit Unrecht noch mit Übel vergelten, was man auch von ihnen zu erdulden habe." Da also, als Sokrates mit großer Leidenschaft dieses ausspricht, stürmt Alkibiades herein, die Flötenspielerin tanzt ihm voraus, der Schwärm der Mitzecher lärmt ihm nach. Er wirft sich neben dem Gastgeber auf das Lager, reißt sich die Bänder vom Haupt und umwindet damit den Agathon. Der ist ja tags zuvor zum Dichterkönig Athens ausgerufen worden. Die große „Kühlschale" läßt sich Alkibiades reichen, trunken will er sie alle sehen, kredenzt den Wein und . . . da erst bemerkt er neben sich den Sokrates. Er läßt die Schale sinken, wendet sich Sokrates zu und spricht fortan nur noch von ihm und zu ihm, dem einzigen Menschen, dem selbst ein Alkibiades die Ehrfurcht nicht versagen kann i
,Gib mir von deinen Bändern, Agathon", ruft Alkibiades, „daß ich auch diesem Mann sein wunderbares Haupt umwinde. Er soll nicht glauben, daß ich dich bekränze und ihn vergesse. Er hat ja nicht, wie du, bloß einmal gesiegt, er war immer und überall durch sein Reden und Dichten allen Menschen überlegen." Dann leert Alkibiades in einem Zug die volle Schale, ,,die ihre guten acht Manchen faßt", läßt sie wieder füllen und dem Sokrates reichen, der sie bedachtsam leert. Und halb spöttisch, halb ernst auf Sokrates niederblickend, fährt er fort: „Ist er nicht wie ein Piaton Flötenspieler, der die Menschen durch sein Spiel verlockt? Und er verlockt sogar ohne Instrument, nur mit seinen Lippen, durch sein bloßes Wort. Wild pocht mir das Herz, die Tränen rinnen mir, wenn ich ihn höre." Wegwerfend schnippt Alkibiades mit den Fingern: „Und das geschieht mir, der ich doch schon manchen Redner hörte, die besten des Landes. Lausche ich ihnen, dem großen Perikles etwa, so verspüre ich nichts von Unruhe und noch weniger von Unwillen darüber, daß ich in solch einem Zustand lebe. Dieser hier aber packt mir die Seele derart, daß ich manchmal meine, ich könnte nicht weiterleben, wenn ich der Nichtsnutz bliebe, der ich bin. Sokrates hat mich in seiner Gewalt, er zwingt mich, mir selber einzugestehen, es fehle mir noch fast alles von dem, was einer haben muß, der andern zu gebieten sich erdreisten will." Eine Weile sinnt er vor sich hin, wendet sich dann wieder Sokrates zu, mit dem Finger auf ihn weisend: „Dieser Mensch hat in mir vermocht, was noch kein anderer je zuvor fertig brachte und was man bei mir auch kaum vermutete: daß ich mich nämlich schämte und noch immer schäme. Ich kann ihm nie widersprechen. Ich spüre, das eben müßte ich tun, was er mir anrät. Freilich, wenn ich ihn dann nicht mehr höre, wenn mich das Volk wieder umschmeichelt, mir Ehre um Ehre zuträgt, so habe ich auch den Sokrates bald vergessen . . . Aber ich schäme mich desto mehr, wenn er mir wieder unter die Augen kommt. Manchmal bin ich so weit,
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daß ich heimlich wünsche, er lebte gar nicht mehr. Wäre das aber so, ich weiß gewiß, sein Tod schmerzte mich noch mehr als sein Leben." — Wieder schweigt er lange und nickt dann den andern zu und fährt leiser fort: „Ihr kennt ihn ja alle nicht. Ich kenne ihn und will ihn euch vollends schildern, da ich einmal damit begonnen. So bildet ihr euch ein, Sokrates sei vernarrt in schöne Dinge und Menschen, wolle derlei stets um sich haben; oder auch, er sei ein unwissender Tropf. Aber das ist bei ihm alles nur Verstellung und äußeres Gehabe. Es kümmert ihn nicht im mindesten, ob etwas oder ob einer schön, reich,. berühmt sei. Einen Pfifferling ist ihm das wert. Wenn es anders scheint, verstellt er sich nur vor den Leuten und führt sie an der Nase herum sein Leben lang. Inwendig jedoch, ihr Männer und Zechgenossen, wenn er sich da einem öffnet, ist er voller Weisheit. Ich weiß nicht, ob sonst noch einer die Götterbilder schaute, die Sokrates in sich trägt. Ich schaute sie, so göttlich, golden, erhaben und wunderbar. Mir war, ich müßte auf der Stelle tun, was er nur immer wünschte." Die Miene des Sprechenden erhellt sich, die Stimme spöttelt wieder: ,,Wir waren auch zusammen Soldat im Feldzug gegen Potidaia. Waren wir dann einmal abgeschnitten, wie das im Feld so vorkommt, und mußten wir hungern, — er machte sich nichts daraus. Wenn es dann ein andermal hoch herging, verstand er zu genießen, besser als jeder andere. Trinkgelagen wich er zwar aus, wo er konnte. War er aber einmal dabei, so überrundete er uns alle, und doch hat ihn noch nie einer betrunken gesehen. Die Winter dort waren furchtbar. Umwickelten wir dann die Füße mit Filz und Pelz, so sprang er barfuß über das Eis und lief leichter einher als wir in Schuhen." Das Kinn auf die Hand stützend, ahmt Alkibiades einen vergrübelten Menschen nach. „Einmal, da draußen bei Potidaia, ist unserem Sokrates etwas eingefallen, des Morgens in allei Frühe schon. Er bleibt also stehen, wo er steht. Die Gedanken gehorchen ihm wohl nicht recht. Aber er gibt nicht nach und jagt hinter ihnen drein und steht doch immer noch auf demselben Fleck. Darüber steigt die Sonne in den Mittag, die Leute treten vor das Lager und glotzen zu dem merkwürdigen Manne hinüber. Er sieht es nicht und steht und sinnt. Wie es Abend wird und wir gegessen haben, tragen einige ihre Schlafdecken ins Freie und legen sich dort hin für die Nacht. Es ist da kühler, geben sie vor; doch wollen sie nur den 6
Sokrates im Auge behalten und sind gespannt, ob er auch die Nacht über so stehen bleibe. Und er ist so geblieben bis zum anderen Morgen, bis die Sonne wieder autging. Dann betete er noch zur Sonne und ging seiner Wege." „Und in der Schlacht hast du ihn auch einmal im Kampf gesehen, Alkibiades?"fragt einer der Männer. „In dem berühmten Gefecht, für das mir dann die Heerführer den Preis zuerkannten, da wäre ich verloren gewesen ohne ihn. Ich war verwundet, und er rettete mich, er trug Alkibiades meine Waffen und mich selbst aus dem Getümmel heraus zu den unsrigen. Ich verlangte, Sokraites solle den Ehrenpreis der Tapferkeit bekommen. Als aber die Heerführer auf meine vornehme Herkunft Rücksicht nahmen und mir den Preis zuschanzen wollten, hast du, Sokrates, noch eifriger für mich geredet als selbst die Heerführer. —- Auch auf einer Flucht sah ich ihn, wie wir uns nämlich von Delion absetzen mußten. Ich war zu Pferde, er dagegen in schwerer Rüstung zu Fuß, er und noch einer, und sonst weit und breit keiner mehr von den unsrigen. So schreitet er dahin, ruhig, stark, dann und wann um sich blickend. Jedermann merkt, wer den da anrührt, muß sich auf allerhand Gegenwehr gefaßt machen. Es rührt ihn auch keiner an, der Feind hält sich lieber an andere, denen die Todesangst in den Knien zittert." Nach einmal blickt Alkibiades auf Sokrates nieder und fährt dann fort: „Andere Männer lassen sich mit dem und jenem Helden aus der Vorzeit vergleichen. Aber Leute wie ihn, Worte, wie er sie vorbringt, hat es noch niemals gegeben. Nicht als ob diese Worte und Zwiegespräche allen leicht aufgingen-, den meisten kommen sie erst ganz unbedeutend vor, handeln sie doch von Schustern und Schmieden, von Köchen und Ackerbauern, faseln von Lasteseln und Pferden. Seine Sprache hat er in das Fell eines Fauns gehüllt, und dem Dummkopf bleibt sein Wort verschlossen. Wem es aber aufging, der findet darin Götterbilder der Tugend und was nur 7
immei darauf zielt, den Menschen besser und edler zu machen . . . " Während Alkibiades noch spricht, da stürmen noch mehr junge Zecher von der Straße her Ins Haus des Agathon und füllen es mit gewaltigem Lärm. Und ein wildes Gelage hebt an. Dem Erzähler fallen die Augen zu. Gegen Morgen, 1 als er erwacht, ist es still geworden. Die Zecher schlafen oder sind heimgegangen. Nur drei neigen sich noch zusammen und lassen den Becher umgehen: Der Hausherr nämlich, Aristophanes, der Komödiendichter, und Sokrates. Die beiden hören zu, was Sokrates ihnen beweisen will, daß nämlich ein Dichter sich ebenso gut auf Lustspiele wie auf Tragödien verstehen müsse. Erst nickt Aristophanes ein, schließlich bei Tagesgrauen auch Agathon. Sokrates steht auf und schreitet über die Schläfer weg hinaus, badet, geht dann auf den Markt und verbringt den Tag wie gewöhnlich. Erst des Abends kehrt er heim und geht zur Ruhe.
Sokrates in seiner Zeit eboren im Jahre 469 v.Chr. und gestorben siebzig Jahre später, also 399 v. Chr., hat Sokrates den Aufstieg wie den Niedergang seiner Vaterstadt Athen erlebt, den Reichtum der Feste, den Glanz der Bauten, den Ruhm der Flotte in den Zeiten des großen Staatsmannes Perikles, aber auch die dreißig Jahre des Peloponnesischen Krieoes, Hunger, Pest, Niederlage im Krieg, Neid, Bosheit der Mitbürger und nachher die Willkür feindlicher Besatzungen. Sokrates hat dies alles mit dem Herzen erlebt. War doch sein binnen und Trachten stets nur dieser einen Stadt Athen zugewandt, die er nie verlassen hat, es sei denn gezwungen auf Feldzügen. Vater und Vorväter waren geachtete Bildhauer. Den gleichen Beruf hatte auch Sokrates. Man möchte sich ihn vorstellen unter den Gesellen des Meisters Phidias, an den Propyläen und am Parthenon-Tempel mitbauend und gestaltend. Doch zeigt Sokrates nirgendwo Künstlerehrgeiz. Nicht nur gab er den Beruf bald auf und stand den Tag über auf dem Markt, sich mit den Leuten zu unterhalten; er rühmte sich sogar, dem Beruf seiner Mutter zu folgen, die Hebamme war, und Hebs
ammenkunst nannte er, was er da mit den Leuten auf dem Markte trieb. Er meinte nämlich, das Gute und Rechte liege in jedem Menschen drin, wie das Kind im Mutterschoß und müsse gleich diesem mit Hebammenkunst und gutem Willen ans Licht gebracht, ins Leben geboren werden. Das beste Werkzeug dieser seiner Hebammenkunst dünkte Sokrates die Ironie, also eine schalkhafte Verstellung. Er tut so, als sei er ganz dumm und suche Belehrung, schiebt seine banal scheinenden Fragen wie im Brettspiel die Steine Zug um Zug weiter Periklet — bis plötzlich der andere merkt, er ist rings eingeengt und rettungslos geschlagen. Aus dem angeblich Gescheiten ist ein erwiesener Dummkopf gewoi den. Solch ein Sokratisches Gespräch mitanzuhören, mitzuerleben, wie Heuchelei entlarvt und Hochmut bestraft wird, das lockte die Jugend mehr an als das beste Theater. Vielleicht wählte Sokrates gerade die Ironie, weil sie seiner äußeren Gestalt am meisten entsprach. Kahlköpfig, mit breiter Stulpnase, vorstehenden Augen, wulstigen Lippen, dazu in schäbigen Kleidern und barfuß glich er einem Faun, wie Alkibiades ihn gern nannte. Er mußte beim ersten Anblick lächerlich wirken, und so war es nur ein Zeichen seiner Weisheit, wenn Sokrates gerade diese Ungestalt des Äußeren für seinen Zweck nutzte. Der Zweck seines Lebens aber, der ihm zugleich die Freude zum Leben gab, war, die Menschen zum Guten zu führen, die Tugend aus ihnen hervorzulocken, die doch jedem innewohnt, wenn auch oft versteckt und schlafend. Besser sagen wir: nicht den Menschen überhaupt, sondern seinen Athenern wollte Sokrates das Gewissen schärfen. So war er denn überall in der Stadt anzutreffen, wo Menschen zusammenströmten, knüpfte Gespräche an mit Hoch und Nieder, prüfte, mahnte, weckte, entlarvte und wandelte als eine Art Volksmissionar „jeden Markt zum Tempel". Nicht leben allein, sondern anständig leben soll unser Ziel sein, rief er der Jugend zu. Den Geldmachern bewies er: Nur der Tugendhafte vermag wahren q
Reichtum zu gewinnen und richtig anzuwenden. Bis zum Ende an sich arbeiten, gleich dem Bildhauer immer wieder den Meißel ansetzen, ein Gewissen haben und ihm nachleben, das erst heißt leben als ein Mensch. Damit hat Sokrates nicht nur seinen Athenern, sondern allen Menschen aller Zeiten und Rassen das eigene Innere, „den Garten der Seele" zugewiesen, dort das wahre Glück zu pflanzen und zum Blühen zu bringen. „Moral des Pöbels", „Sklavenmoral", nannte ein Philosoph des vorigen Jahrhunderts diese sittliche Haltung des Sokrates. Aber selbst der adelsstolze, gewaltige Perikles hat es nicht verschmäht, diesem „Pöbel" zu lauschen, und Piaton, dem Uradel Athens entstammend, fand keinen Besseren, ihm seine Gedanken in den Mund zu legen, als diesen angeblichen Sklaven. Sokrates lehrt, die Tugend beruhe wie irgendein Handwerk auf Wissen und sei darum erlernbar. Die Gelehrten bezeichnen darum seine Art als „intellektualistisch" und sagen von ihr, sie entspreche nicht dem wirklichen Leben. Wir brauchen indessen nur statt Wissen das sinnähnliche Wort: „überzeugt sein" setzen und können Sokrates zustimmen und in seinem Sinne sagen: Man muß von der Tugend überzeugt sein, um sie zu üben. Tief innerlich überzeugen wollte Sokrates und unterscheidet sich gerade dadurch von den andern, mit denen man ihn einst und jetzt vermengte, von den , , S o p h i s t e n ' ' . Auch diese scharten die athenische Jugend um sich; doch ging es ihnen weit mehr um münzbare Kenntnisse als um seelische Werte. Sie ließen sich denn auch bezahlen und gut bezahlen. Nicht den Gegner zu überzeugen, lag ihnen am Herzen, sondern ihn zu verwirren und in einem Netz trügerischer Beweise matt zu setzen. Manche Sophisten rühmten sich geradezu, sie könnten alles beweisen. Solche scheinbaren „Beweise" nennen wir noch heute „Sophismen". Piaton sagt von den Sophisten: Wenn Schuster und Schneider unsere Schuhe und Kleider schlechter zurückgeben als sie diese Sachen in die Hand bekamen, so merkt das jeder sofort und meidet fortan diesen Handwerker. Wer aber die Jugend einer Stadt schmutziger, verdorbener heimschickt als sie her kam, der wird noch gelobt, dem wird noch gelohnt. 10
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Akropolis mit dem Parthenon-Tempel zur Zeit des Sokrates Sokrates war verheiratet mit einer Frau namens Xanthippe. Ob diese Frau wirkliche eine „Xanthippe" war, ist nicht überliefert. Gewiß wurde es ihr nicht leicht, Hausfrau zu sein bei solch einem Mann, der tagaus, tagedn in der Stadt herumwandelte. Für die Sorgen einer Frau und Mutter scheint Sokrates, der sonst alles sah, keinen Sinn gehabt zu haben, wie denn die Frau überhaupt eine erstaunlich geringe Rolle in seinem Werk gefunden hat. Nur einmal, im „Gastmahl", sind gerade die erhabensten Worte einer Frau in den Mund gelegt, „einer Mantineerin namens Diotima, die sehr weise war". Was aber Sokrates je gesprochen und gelehrt, hat er unsterblich gemacht durch seinen Tod. Sein Sterben erst hebt ihn unter die Genien der Menschheit. 11
N.
Sokrates vor Gericht
ach dem Peloponnesischen Krieg fragten sich die Athener, wer das Land derart in Not und Niederlage gebracht habe. Die schuldigsten dünkten ihnen jetzt die beiden, denen sie vordem am lautesten zugejubelt: Der nichtsnutzig verwegene Alkibiades und der brutale Kritias, einer der Dreißig Tyrannen. Beide waren freilich schon tot, beide aber auch Schüler dieses Sokrates, der noch immer auf allen Gassen stand und den biederen Bürgern seine Redensarten anhing. Man warf ihm vor, er treibe es nicht anders als die Sophisten. Und den Sophisten war nichts zu groß, nichts zu alt, heilig und ehrwürdig, daß sie nicht ihr freches Wort dagegen warfen, die Jugend zu gleichem Frevel verführten und so allmählich die Grundlagen des Staates unterwühlten. Das Volk verlangte ein Opfer, und im Frühjahr 399 stellte man Sokrates vor das Gericht des Volkes. Man beschuldigte ihn einer Sache, die zu verhindern er sich mit Wort und Beispiel ein Leben Sokrates ^ a n 9 abgemüht: Er leugne und verspotte die dem Volk seit je geheiligten Gottheiten; er wolle sie durch andere ersetzen; er verführe die jungen Leute zu gleichem Frevelmut. Drei öffentliche Ankläger, ein Dichter, ein Gerber und ein Redner, standen wider ihn auf. Sokrates verteidigte sich selbst. Der Mann ohne Schuld, verkannt und verlassen; unter ihm das dumpfe, nichts ahnende Volk; darüber der makellose Frühlingshimmel... es ist wie eine Vorahnung jenes anderen Gerichtstages "über die Menschheit, der vier Jahrhunderte später im gleichen klaren Lenzeslicht sich vollzog. Die Ankläger hatten die Richter gewarnt vor des Sokrates gewaltiger Redekunst, womit er die Leute zu beschwätzen verstehe. Sokrates entgegnet: „In meinem siebzigjährigen Leben habe ich noch nie vor Gericht eine Rede gehalten, verstehe I?
mich auch nicht auf Reden. Nennt ihr aber den einen gewaltigen Redner, der die Wahrheit sagt, dann allerdings will ich als ein solcher gelten. Ich muß mich aber gegen zweierlei Ankläger verteidigen: Die einen, deren grobes Gerede ihr eben gehört habt, die mir nicht bange machen, und die andern weit schlimmeren, die man nicht greifen kann, die überall und nirgends gleich Schatten hinter mir drein tuscheln und mich verleumden. Aber ich will euch erklären, was eigentlich die Ursache ist für ihre Verleumdung. Vielleicht wird es einigen von euch nun so vorkommen, als scherzte ichj ihr könnt aber sicher sein, daß ich euch die volle Wahrheit sage. Denn, ihr Männer von Athen, durch nichts anderes als durch eine Art Weisheit habe ich mir den schlechten Ruf zugezogen. Denn der Gott in Delphi offenbarte eines Tages einem Athener, der ihn befragte, daß Sokrates der weiseste aller Griechen sei." — „Fangt mir nun nicht an zu lärmen, ihr Männer!" ruft Sokrates immer wieder gerade an solchen Stellen, wo er trotz seiner Bescheidenheit aussprechen muß, was in privatem Gespräch ihm wohl nie über die Lippen gekommen wäre. So fährt Sokrates fort: „Ich habe darüber nachgedacht, was wohl der Gott damit meine, mich weise zu nennen, wo ich doch so wenig Weisheit in mir verspüre. Was meint er nur, wenn er sagt, daß ich der Weiseste sei? Der Sinn des Wortes ging mir erst auf, als ich mit einem unserer Staatsmänner sprach. Den hielten andere und der hielt am meisten sich selbst für sehr weise, war es aber ganz und gar nicht. Ich habe ihm das auch bewiesen und mir so den Haß dieses und vieler anderer Männer zugezogen. Ich habe nämlich weiter geforscht, auch Redner, auch Dichter angesprochen und jedesmal feststellen müssen: je berühmter sie waren, desto armseliger erwiesen sie sich vor mir. Ebenso unterhielt ich mich mit Handarbeitern. Die wußten zwar wirklich manches, wovon ich nicht das Geringste verstand, in Sachen ihres Handwerks nämlich. Weil sie aber Meister in einem waren, wollten sie Meister in allem sein, und diese Torheit überdeckte dann jedesmal das Quentchen Weisheit, das in ihnen steckte. Der Gott in Delphi wollte sagen: Mit der Menschen Weisheit ist es überhaupt nicht weit her. Darum kann der noch für den weisesten gelten, der sich am wenigsten einbildet, weise zu sein. 13
Im Dienste des Gottes g e h e ich umher und forsche und untersuche überall, wo man mir e i n e n d e r Bürger oder der Fremdein als weise bezeichnet. Darüber h a b e ich mein H a u s w e s e n vernachlässigt und lebe in tausendfältiger Armut. J u n g e Leute, die Muße genug haben, also der reichsten Bürger Söhne, folgen mir überall, h a b e n ihren Spaß dabei, wie da immer wieder Nichtswisser sich bloßstellen, u n d versuchen sich selber in der Kunst. Der Haß dafür trifft aber nicht die Bloßgestellten, sondern mich. Sokrates sei ein ganz v e r k o m m e n e r Kerl, Sokrates v e r d e r b e die J u g e n d in Grund und Boden, schreien die Leute. Geht aber e i n e i gegen sie an u n d fragt w a r u m u n d wieso, dann weichen diese Leute aus u n d schweigen, weil sie eben nichts Bestimmtes zu sagen haben, weil sie im Grunde nichts wissen. Hinterher und insgeheim v e r l e u m d e n sie lustig weiter, munkeln v o n Göttern, v o n Himmel u n d Erde, sagen, daß ich Recht in Unrecht v e r d r e h e , u n d derlei Verschwommenes noch mehr. Diese Verleumder, feig hinter den Rücken der Menge geduckt, h a b e n n u n hier drei ehrgeizige Männer vorgeschoben, mich öffentlich anzuklagen . . . " Mit einem dieser Ankläger, mit Meletos, führt Sokrates n u n das letzte und wohl b e r ü h m t e s t e seiner öffentlichen Zwiegespräche. Es geht um die Anklage, Sokrates glaube nicht mehr an die Götter und deshalb sei er eine Gefahr für die Relioion und ein politischer G e a n e r des Staatswesens. Meletos windet sich zwar u n t e r den ihn b e d r ä n g e n d e n Fragen und sträubt sich; wohl sehend, wohin das führt, will er zum Schluß nicht mehr antworten. Aber auch w e n n dies letzte „Ja" v e r w e i g e r t wird, so ist es dennoch ein J a ! Sokrates sagt nämlich das Folgende: „Wenn ich an eine göttliche Stimme glaube, muß ich doch zuerst an Gott selber glauben." Von dieser göttlichen Stimme, dem „Daimonion" weiß aber qanz Athen, weil Sokrates tänlich davon gesprochen .. . „Von Kindheit auf widerfährt mir diese Stimme. Sie hat mir noch niemals z u geredet, sie redet mir nur immer a b. Auch davon riet sie mir ab, mich in politische Geschäfte zu mischen. Will nämlich einer sich sein Leben lang für die Gerechtigkeit einsetzen, so soll er Privatmann bleiben. Ich h a b e das selbst erfahren, einmal als ich, zum Mitrichter gewählt, mich als einziger v o n den Richtern einem gesetzwidrigen Urteil entgegenstellte; u n d das a n d e r e Mal unter den Dreißig T y r a n n e n : Die wollten ja möglichst viele mit sich in 14
Sokrates vor Gericht
(Nach einem Relief von Antonio Canova)
die eigene Schuld verstricken; aber ich gab ihnen nicht nach, obschon dies soviel wie den Tod für mich bedeuten mochte. Niemals wäre ich ungeschoren durchgekommen, wenn ich bei diesen Politikern ausgehalten und auch da versucht hätte, als aufrechter, redlicher Mann überall dem Recht zu helfen. So aber kann ich jetzt öffentlich versichern, nie in meinem siebzigjährigen Leben habe ich das geringste Zugeständnis wider Gesetz und Recht gemacht, weder mir selbst noch andern, auch nicht dem Alkibiades und dem Kritias, die von diesen Verleumdern hier meine Schüler genannt werden. Ich bin nämlich gar kein Lehrer und war es nie. Ich spreche für jedes Ohr, ob jung, ob alt, arm oder reich. Wer will, kann 15
zuhören, kann auch antworten. Ob ich dabei Jemanden j gebessert habe oder nicht, dafür trifft mich keine Verantwortung. Ich habe ja auch nie jemandem versprochen, ihm dies und das beizubringen, nie einen Lohn gefordert oder empfangen. Ausreichender Zeuge dafür ist meine Armut." Mit folgenden feierlichen Worten schließt Sokrates diese Verteidigung: „Ihr Richter, folget nun meinen Anklägern oder folget ihnen nicht, sprecht mich frei oder verurteilt mich! Ich werde niemals anders handeln als ich je gehandelt, und müßte ich dafür hundertmal des Todes sterben. Wenn ihr mich tötet, schadet ihr weniger mir als euch selbst. Ich verteidige mich auch nicht um meinetwillen, wie ihr euch wohl einbildet; sondern nur euretwegen. Ihr solltet nicht gegen das Geschenk Gottes sündigen durch meine Verurteilung. Schwerlich findet ihr wieder einen Mann wie mich, der von Gott dieser Stadt beigegeben ward wie einem edlen Pferd der Sporn, es vor Trägheit zu bewahren. Ich bitte nicht, ich überrede nicht, und noch viel weniger möchte ich euch dazu veranlassen, gegen euren Richtereid zu handeln. Täte ich anders, so lehrte ich damit, es gebe keinen Gott, so klagte ich mich selbst an, nicht an ihn zu glauben. Ich aber glaube tiefer als meine Ankläger und überlasse es euch und dem Gott, über mich zu entscheiden, so wie es für mich das Beste ist — und für euch." Nach dieser Verteidigung stimmte die Volksversammlung ab und erklärte den Sokrates für dessen schuldig, wessen man ihn angeklagt. Es war freilich nur eine ganz knappe Mehrheit gegen ihn. So durfte Sokrates hoffen, noch einige Zögerer für sich zu gewinnen, indem er von neuem sprach. Er konnte nach athenischem Brauch sagen und begründen, welche Sühne er für angemessen und für gerecht halte, worauf dann das Volk über die Strafe zum zweiten Mal abstimmte. Sokrates sagte: „überzeugt bin ich, daß ich nie einem Menschen Unrecht getan. So will ich auch mir selber kein Unrecht tun, will mir selber nicht zuerkennen, was ich nicht verdiene. Geld, ja, hätte ich es, ich wollte euch vorschlagen, meinen ganzen Besitz wegzunehmen. Das brächte mir weiter keinen Schaden. Ich habe jedoch keinen Heller. Oder soll ich mir die Verbannung zuerkennen? Das wäre mir ein schönes Leben, in meinem Alter noch von Stadt zu Stadt gejagt zu werden! Denn das wäre mein Geschick als Ver
bannter. Oder meint ihr, In anderen Städten brächte man zuwege, was Athen nicht vermocht, mich nämlich zu ändern? Ich weiß es gewiß, wohin ich auch käme, liefe mir die Jugend zu und lauschte meinen Worten. Dann aber träten auch dort Ankläger wider mich auf, beantragten meine Ausweisung und setzten sie schließlich durch. Was aber verdiene ich denn dafür, daß ich bin, wie ich bin? Etwas Gutes, ihr Mitbürger, und zwar etwas Gutes von der Art, die mir entspricht. Und was wäre denn angemessen für euern bettelarmen Wohltäter, der nichts so nötig braucht wie viel freie Zeit, um sie euch zu widmen? Wenn einer von euch mit einem Rennpferd, einem Zweigespann oder Viergespann in Olympia als Sieger hervorgegangen ist, ladet ihr ihn ein, mit euch im Stadthaus, im Pryaneion, auf Staatskosten seine Mahlzeiten einzunehmen. Solch ein Olympischer Sieger aber bedarf nicht euerer Speisen, denn er ist wohlhabend, ich aber bedarf ihrer, weil ich nichts zu eigen habe. Er bewirkt, daß ihr für Augenblicke glücklich scheint, i c h dagegen, daß ihr es wirklich seid und bleibet. Haltet es also nicht für törichten Dünkel, wenn ich mir zuerkenne, was ich mit Recht verdiene: Die Teilnahme an der Ehrentafel des Prytaneion." Piaton überliefert uns nicht, ob die Athener gegen dies letzte Wort lärmten und tobten. Doch nimmt man seit je an, indem Sokrates sich neben und über die gefeierten Sporthelden von Olympia stellte und die höchste nationale Ehre für sich beantragte, habe er selbst über sein Leben entschieden. Die Leute waren es gewohnt, daß ein Schuldiggesprochener vor ihnen flehte und flennte, nicht aber derart selbstbewußt den Kopf erhob. Sie verurteilten ihn zum Tode. Gelassen erhob sich Sokrates noch einmal und redete zu seinen Athenern. „Nur eine kleine Weile hättet ihr zu warten brauchen, so wäre ich von selbst gestorben; denn ihr seht doch mein Alter, wie vorgerückt, wie nahe es dem Tode bereits ist. Wenn ihr gewartet hättet, so wäre euer guter Name geblieben, so hätte niemand unsere Stadt verlästern dürfen, daß man hier den Sokrates umgebracht, der ein weiser Mann war. Dies Beiwort wird man mir nämlich geben, nicht weil ich es verdiene, sondern weil man euch damit ärgern will. Das gilt nur für die unter euch, die mich zum Tode verurteilt haben. Und noch eines will ich diesen voraussagen . . . Ich stehe ja nunmehr an der Schwelle des Todes, wo es dem 17
Menschen vorzüglich gegeben ist, zu weissagen. Und so. sage ich euch, ihr Männer, wenn ihr glaubt, dadurch daß ihr Menschen tötet, könntet ihr verhindern, daß man euch euren verkehrten Lebenswandel vorhalte, so denkt ihr falsch. Dieses Mittel, sich der eindringlichen Belehrung zu entziehen, ist weder erfolgreich noch gut. Das schönste und leichteste wäre es für euch gewesen, nicht andere zu unterdrücken, sondern euch selbst in den Stand zu setzen, daß ihr so gut als möglich werdet. Mit Hinrichtungen die Wahrheit verhalten zu wollen, ist so unedel wie schlecht." Nun aber auch noch zu euch, meinen Freunden, die für mich gestimmt haben und sich mit Fug und Recht Richter nennen dürfen. Meine gewohnte Vorahnung, das „Daimoniion", die Stimme Gottes in meiner Seele, die mich so oft bei den geringsten Anlässen zurückgehalten, sobald ich im Begriffe war, etwas falsch zu machen, sie schwieg heute morgen, als ich mein Haus verließ, und schwieg auch vorhin, als ich in die Gerichtsstätte trat, um vor euch zu sprechen. Was bedeutet das? Nichts anderes, als daß der Tod, der mich hier erwartete, nicht etwas Schlechtes und nicht das Übel ist, für das wir ihn halten. Denn es ist unmöglich, daß mich die gewohnte Stimme nicht gewarn', hätte, wenn ich nicht im Begriff gewesen wäre, etwas Gutes zu erfahren. Nur eins von beiden vermag der Tod: Entweder vei setzt er uns in das Nichts oder aber an einen andern Ort. Hätte der Tote keinerlei Empfindung mehr, läge er wie in traumlosem Schlaf versunken, so wäre der Tod schon ein wunderbarer Gewinn. Ist er aber wie ein Auswandern der Seele von hier nach einem andern Ort, und treffen wir dort, die vor uns starben, was könnte es wohl Schöneres geben! Wäret ihr nicht bereit herzugeben, was ihr nur besitzt, um Orpheus zu begegnen oder Homer und seinen Helden, die mit dem großen Heer gen Troja zogen? Mit ihnen umgehn und sprechen, sie ausforschen, wer unter ihnen der weiseste sei, das wäre mir unbeschreibliche Glückseligkeit. Und dort wird man mich deswegen jedenfalls nicht zum Tode verurteilen. Ich trage keinen Groll gegen meine Verurteiler und Ankläger. Sie wollten Böses über mich bringen, das allein verdient, an ihnen getadelt zu werden. Um dies Eine, Letzte bitte ich sie noch: übt Vergeltung an meinen Söhnen, wenn sie einmal herangewachsen sind, und ärgert sie auf die gleiche Weise, 18
wie ich euch geärgert habe, wenn ihr merkt, sie kümmern sich um Geld und derlei mehr als um die Tugend; und wenn sie sich '•/eise dünken, es aber nicht sind, so beweist und verweist es ihnen! Damit ist die Zeit gekommen, daß wir von einander scheiden, ich, um zu sterben, ihr, um zu leben. Wer von uns dem Besseren entgegengeht, ist einem jeden verborgen, außer Gott allein."
Gefängnis und Tod eit den sagenhaften Zeiten ihres Königs Theseus schickten die Athener jedes Frühjahr eine Art Wallfahrtsschiff nach der Ternpelinsel Delos im Ägäischen Meer. Solange dies Schiff unterwegs war, durfte niemand von Staats wegen hingerichtet werden. Die Frist begann am Abend vor der Ausfahrt des Schiffes, wenn der oberste Priester es feierlich weihte und bekränzte. Diese Feier beging man zufällig auch am Vorabend des Tages, an dem Sokrates zum Tod verurteilt wurde. Bis das Schiff nach Delos gelangte und dann wieder heimkehrte, vergingen viele Wochen. Sokrates nutzte sie, sich im Gefängnis mit den Freunden zu unterhalten, so oft diese Zutritt erhielten. Die Freunde nutzten die Zeit aber auch, um eine Flucht ihres geliebten Meisters vorzubereiten.
* Einer von diesen, Kriton, hat den Kerkermeister bestochen und dringt mit der ersten Morgendämmerung bei Sokrates ins Gefängnis ein. Kriton hat nämlich erfahren, an diesem Tage kehre das Staatsschiff von Delos wieder heim. Das bedeutete, daß für Sokrates der letzte Tag seines Lebens oder aber die letzte Möglichkeit zur Flucht gekommen sei. Kriton sucht also den Sokrates zu bewegen, daß er in der kommenden Nacht mit ihm fliehe. Die Türen stehen offen, die Wächter sind gewonnen. Das Geld, um sie zu bestechen, liegt bereit. Alle Freunde haben dazu beigesteuert. Und man brauchte nicht einmal viel Geld. Das Gesindel ist wohlfeil. Diese Flucht ist Sokrates den Freunden schuldig, die man sonst für feige und geizig hielte, wenn sie Geld hätten und es nicht hergäben, 19
den Lehrer zu retten. Was aber den Sokrates am meisten zui Flucht bestimmen sollte, ist der Gedanke an seine unmündigen Söhne, die er noch erziehen müßte. Weit fort in Thessalien warten schon treue Gastfreunde auf Sokrates, wollen ihm Zuflucht und Sicherheit schenken und ein Leben gewährleisten, wie es ihm nur immer gefallen mag. Was sagt Sokrates dazu? Man sieht ihn auf dem Lager sitzen, mit zusammengeketteten Füßen, und lauschen, wie nur Sokrates zu lauschen vermag. Und je eifriger Kriton spricht, desto heller werden die Augen des Sokrates und lächeln zuletzt. Vielleicht auch streichelt er, wie er das so gerne tut, dem jungen Freund über den lockigen Scheitel, indem er nun antwortet und dem Sprechenden die eine, entscheidende Frage entgegenstellt: „Dürfen wir Unrecht mit Unrecht vergelten?" Und um dies Wort darzustellen und die Antwort lebendkr zu gestalten, malt Sokrates nun aus, wie die „Gesetze dieser Stadt" herbeikämen und vor ihn hinträten, wenn er sich bereden ließe, verstohlen und vermummt nachts aus der Stadt hinauszuschleichen. „Sokrates", so sagten die Gesetze, „was trägst du im Sinn? Hast du nicht bedacht, daß du mit dieser deiner Flucht auch uns, den Gesetzen, und damit deiner ganzen Heimatstadt den Untergang bereitest? Oder bildest du dir etwa ein, der Staat könne noch länger bestehen, wenn jeder Privatmann ein ordentliches Gerichtsurteil umstoßen, für ungültig und nichtig erklären kann, weil es sich nun einmal gegen ihn richtete? Was für Beschwerden hast du denn gegen uns und unsere Stadt, da du so boshaft sein willst? Siebzig Jahre hattest du die Zeit und es stand dir frei, aus unserer Stadt fortzuziehen, wenn die Gesetze dir nicht zusagten. Aber du hast dich seltener von hier entfernt als die Lahmen und Blinden und andere Krüppel der Stadt. Wir genügten dir, und diese Stadt genügte dir: Weil es dir in Athen gefiel, hast du hier geheiratet und hier Kinder gezeugt. Kürzlich noch, als du vor Gericht standest, hast du laut verkündet, du wolltest lieber den Tod als die Verbannung. Und jetzt schämst du dich deiner früheren Worte und trachtest danach, uns Gesetze zu zerstören. Du machst es wie ein erbärmlicher Knecht, der gegen Vertrag und Versprechen zu entlaufen sucht. Und gesetzt, du entkämest in die nächstgelegene Stadt, in eine, wo Recht und Ordnung noch etwas gelten; müßte da nicht jeder, der seine Vaterstadt liebt, dich scheel ansehen und dich für einen
Zerstörer der Gesetze und also für einen Staatsfeind ansehen? Vielleicht sagten die Leute es dir nicht gerade ins Gesicht, was sie von dir halten, sofern du ihnen nicht zu nahe trittst und sie beleidigst. Aber müßtest du dann nicht vor allen kriechen und sie umschmeicheln? Und auch an deine Richter denke! Bringst du sie nicht nachträglich wieder zu Ehre und Ansehen; dürfen sie sich nicht in die Brust werfen und ausstreuen, mit Recht hätten sie dich verurteilt? Könntest du so schamlos sein und dort, in der fremden Stadt wieder zu reden beginnen, wie du es in Athen getan: daß Recht und Tugend, Gesetz und Ordnung für die Menschen das Höchste seien? Meinst du nicht, es komme den Leuten lächerlich vor, wenn du dich, in einen zerlumpten Kittel gewickelt oder wie du dich vermummen magst, aus Gefängnis und Stadt fortstiehlst und daß ein alter Mann noch derart nach dem Leben giert und die heiligsten Gesetze dafür hingibt? Und was suchst du in der Fremde? Trinken, schmausen, wie es dort der Brauch ist? Doch nein, du willt ja deinen Kindern zuliebe fliehen, willst sie selber dort aufziehen. In Barbarenländern? Wo statt der Gesetze die wilde Laune gebietet? Wir meinen, deine Kinder würden hier in Athen besser erzogen und unterrichtet, auch wenn du nicht mehr da wärest; nämlich von deinen Freunden. Nein, Sokrates, folge nur uns, den Gesetzen, deinen Erziehern! Achte nicht Kind noch Leben noch sonst irgendetwas höher als das Recht. Trittst du dann in die Unterwelt, so stehst du rein vor dem Richter der Toten, so bist du ein Opfer, zwar nicht von uns Gesetzen, aber von der Torheit der Menschen, und was du hier erduldet, verteidigt dich dort vor den Gebietern. Wenn du dagegen fliehst, die Verträge mit uns brichst und schmählich Unrecht mit Unrecht vergiltst, dann schändest und schädigst du gerade diejenigen, die es am wenigsten von dir verdienten, deine Freunde nämlich, deine Vaterstadt, uns Gesetze und am meisten dich selbst" . . . Das Gleichnis verklingt. Sokrates sitzt noch eine Weile versonnen und wie in sich selbst hinein lauschend. Endlich wendet er sich dem Freunde zu; „Wie es einem manchmal in den Ohren klingt und man eine Flötenstimme zu hören meint, so meinte ich eben die Stimme der Gesetze zu hören. Und derselbe Ton klingt mir auch aus meinem Innern entgegen und hat mich über?t
zeugt. Solltest du aber glauben, du vermöchtest hiergegen noch etwas auszurichten, so sprich nur, Kriton." Kriton flüstert mit gesenktem Kopf: „Nein, Sokrates, ich habe nichts mehr zu sagen". So kam der letzte Tag im Leben des Sokrates. Piaton läßt uns den Tag im ergreifendsten und wohl auch vollendetsten seiner „Dialoge", im „Phaidon" erleben. Wie jeden Tag, seitdem Sokrates im Gefängnis war, versammelten sich die Freunde schon früh am Morgen und warte ten, daß man ihnen aufschließe. Sie mußten indessen diesmal Länger warten als sonst. Der Türhüter kam zu ihnen heraus und sagte, die „Elfmänner",, also wohl eine Abordnung des Gerichts, seien eben bei Sokrates, ihm die Fußschellen zu lösen und zu verkünden, daß er heute nach Sonnenuntergang sterben müsse. Ein seltsamer Zustand war unter den Freunden, eine grausige Mischung aus Freude und Verzweiflung. Sie freuten sich, Sokrates noch einmal zu sehen und zu hören, und wollten fast verzweifeln, daß es zum letzten Mal war, und so lachten und weinten sie in einem. Endlich öffnete sich das Tor. Sokrates saß auf seinem Lager und neben ihm seine Frau Xanthippe. Sie trug ihr jüngstes Kind auf dem Arm. Als Xanthippe die Freunde hereinkommen sah, begann sie zu jammern und zu schluchzen. Sokrates winkte darauf dem Kriton, und der und einige andere geleiteten die Jammernde mit den Kindern hinaus. Sokrates blieb sitzen, rieb sich die Beine und sagte dabei: „Was ist es doch ein eigen Ding mit dem, was wir Menschen Freud oder Leid nennen. Hätten mich die Fesseln nicht zuvor schmerzhaft ins Fleisch geschnitten, so spürte ich jetzt auch nicht die Wohltat, sie los zu sein. So sind Freud und Leid und alle anderen Gegensätze gleichsam mit den Enden zusammengewachsen. Beide zusammen können wir sie nicht in uns haben, doch wenn das eine über uns kam, folgt gewiß auch bald sein Gegenteil." Wie verbringt nun Sokrates die Stunden bis Sonnenuntergang, der dann ein Weltuntergang für ihn sein wird? Natürlich mit dem, was er in seinem Leben am meisten schätzte, im philosophischen Gespräch mit seinen Freunden. Er beweist ihnen die Unsterblichkeit der Seele; mit keinem passenderen Gesprächs?2
stoff hätte er die letzten Pulsschläge seines Lebens erfüllen können. Zum ersten Mal in der Geschichte des abendländischen Geistes versucht hier ein Denker, nur mit dem natürlichen Werkzeug des Verstandes das zu beweisen, was sonst die Menschen als unmittelbar gewiß hinnehmen, also glauben. Diese Beweise überzeugen uns heutige Menschen nicht mehr so, wie einst die Freunde von ihnen überzeugt und ergriffen wurden. Wir Heutigen leiden vielfach an dem, was Sokrates mit „Redefeindschaft" bezeichnet. „Da lauscht so ein Mann einem Redner und läßt sich auch von ihm überzeugen, merkt aber gleich hinterdrein, daß man ihn beschwatzt und betrogen hat. Widerfährt derartiges dem Manne dann noch öfters, so meint er schließlich, es gebe überhaupt nichts, das feststehe und gesunde Richtung weise, verwirft alles und jedes und dünkt sich noch sehr weise dabei." Allein wenn auch die Beweise von damals uns heute nicht mehr ganz überzeugen und wir der Wahrheit auf andern Wegen nahezukommen suchen, so ergreifen uns mehr als die Worte die Taten des Sokrates. Man spürt, Sokrates spricht keineswegs, um sich selbst über das Sterben hinwegzutäuschen. Für ihn ist das längst durchdacht und wie in Erz geschrieben. Für seine jungen Freunde spricht er, ihnen will er einen Trost hinterlassen. Und so fällt hier auch das Wort, das seitdem in der Welt zum geflügelten wurde: „Nicht um Sokrates, um die Wahrheit kümmert euch!" Der Henker läßt Sokrates durch Kriton mitteilen, er möge doch lieber nicht soviel sprechen und sich erregen. Sonst wirke das Gift nicht sofort tödlich, er müsse dann den Becher zweioder gar dreimal leeren und verlängere damit seine Todesqualen. Sokrates schiebt jedoch solche Vorsicht wortlos beiseite und kehrt sich den Freunden zu. über Todesfurcht ist Sokrates längst hinausgewachsen. „Ich habe Sokrates immer bewundert", erzählt Phaidon später, „aber noch nie zuvor war ich so von ihm ergriffen wie damals. Er wußte ja immer etwas zu erwidern, das war man bei ihm schon gewöhnt. Nun aber bewunderte ich, wie gütig und sanft er unsere Einwände hinnahm, wie geduldig er uns immer wieder zuredete, ihm zu folgen und Satz um Satz mit ihm zu erwägen." 23
Unter den Freunden waren auch zwei Thebaner, Deide so recht jugendlich zweiflerisch und geneigt, nach dem Gegenteil zu suchen. Sokrates nahm ihre Einwände ernst oder heiter, wie es sich gerade schickte, und immer gewissenhaft pruiend. Diese jungen Menschen waren ihm wie eine Leiter, um daran höher und höher zu steigen. Zum Eingang erklärt Sokrates den Freunden, wie „der Leib mit Nahrungssorgen, Krankheiten, Begierden, Gelüsten, Befürchtungen und tausenderlei Schattenbildern und Kindereien die Seele daran hindert", der Wahrheit nachzuspüren. Die Seele vom Leibe absondern ist also das rechte Geschäft für emen Philosophen und der Tod sein Ziel. Denn nur im Tod oder nie erreicht er die Weisheit. .Wenn du also einen siehst, der den Tod fürchtet, so darfst du gewiß sein, der Mann hat in seinem Leben nicht der Weisheit der Seele, sondern nur der Torheit des Leibes gedient I" Trotzdem darf der Weise nicht sich selber den Tod geben Die Götter sind Hüter und Hirten der Menschen, und die Götter allein haben Gewalt über Leben und Tod. So sehr diese Worte aus überzeugter Seele kamen, sie überzeugten noch nicht die jungen Thebaner. Einer von ihnen hat Zweifel und Einwände, verlangt noch mehr Beweise, und Sokrates gibt sie, Beweise, daß die Seele schon vor der leiblichen Geburt besteht und auch nach dem leiblichen Tod weiter lebt, also „praeexistent" und zugleich „postexistent" ist, wie das Fachwort in der Sprache der Philosophen lautet. Ob man Mensch, Tier und Pflanze betrachtet, alles im Leben entsteht aus seinem Gegenteil, das Starke aus dem Schwachen, das Gerechte aus dem Ungerechten, und so auch der Tod aus dem Leben. Es kann aber nicht bei dieser einen Richtung bleiben, sonst wäre schließlich die ganze Welt von einerlei Gestalt, nämlich tot. Wie aus dem Schlaf das Erwachen, so aufersteht aus dem Tod das Leben. Damit vollendet sich der Kreislauf des Daseins. Diesem Beweis fügt Sokrates gleich einen zweiten an: All unser Lernen ist Wiedererinnern. „Man muß die Menschen nur recht zu fragen verstehen, und sie finden alles in sich selbst." Nicht durch die Sinne erkennen wir das Wesen der „Ideen", die hinter allem Körperlichen leben, sondern nur aus uns selbst. Also ist diese Erkenntnis seit eh und je und mit U
ans geboren, demnach bestand die Seele schon vor der Geburt des Leibes. Einen andern Beweis findet Sokrates in der „Seelenwanderung". „Der Leib gehört dem Auflöslichen, Unvernünftigen, Sterblichen an. Die Seele hingegen, wesensgleich mit den Ideen, ist auch gleich diesen vernünftig, unteilbar, unsterblich und göttergleich. Wäre der Tod das Ende von allem, so wäre er ein Geschenk für die Bösen. Die könnten dann mit dem Leib auch zugleich ihre verdorbene Seele los werden. Nun aber die Seele unsterblich lebt, kann es für sie kein ander Heil geben, als vernünftig und gut zu leben. Dem wahren Philosophen sind Lust wie Unlust ein Nagel, der seine Seele an den Leib heftet. Ein Kerker ist ihm der Leib; nur wie durch Gitterstäbe hindurch vermag er das wahre, freie Sein zu betrachten, solang er lebt. Wo nun eine befleckte Seele vom Leibe scheidet, eine Seele also, die stets nur dem Leibe diente, und von ihm bezaubert, nur anerkannte, was sich sehen, schmecken, betasten. essen, trinken, zur Liebe gebrauchen ließ, solche Seele schleicht als ein Schatten um das Grab des Leibes, bis der Sturmwind sie packt und in den Abgrund des Tartarus verweht. In der Unterwelt schwarzen Strudeln wird sie dann umgetrieben, bis ihre noch dem Sinnlichen anhaftenden Begierden sie wieder in einen irdischen Leib verstoßen: In einen Leib, passend zu den Trieben, die im einstigen Leben sich vertobten. Der Schlemmer und Trunkenbold geht in einen Esel, der Ungerechte, Herrschsüchtige. Räuberische in einen Wolf oder Geier ein. Die unbefleckte Speie aber kehrt zurück zu dem ihr Ähnlichen, wo keine Furcht, keine Torheit und wilde Liebe sie mehr heimsucht. In die wahre Geisterwelt kehrt sie ein, zu dem guten und weisen Gott, dahin auch meine Seele, wenn Gott ihr gnädig, bald heimkehren wird." Zuletzt entwirft Sokrates ein Gemälde von dieser Welt der Seelen und Ideen; gleich Dantes Hölle unwirklich und sinnenhaft zugleich, vollkommen und ewig, wie ein ewiger, vollkommener Schöpfer sie gestaltet. Die Erde spaltet sich in düstere Abgründe, darin die vier Ströme, die vier Winde in stetem Kreislauf toben, darin die Bösen jammernd hintreiben, darüber die Guten und Seligen gleich hellen Sommerwolken schweben. „Daß nun alles genau so eintreffe, wie ich es gesagt, wird kein Vernünftiger behaupten. Doch es lohnt sich, überhaupt M
etwas zu glauben und zu wagen. Es ist ein so schönes Wagnis. Wie es auch sei: wer immer nur der Wahrheit nachstrebte, der Seele diente und sie mit dem Adel der Tugend zu schmükken trachtete . . . darf guten Mutes sein." Die Worte verklangen, und Sokrates saß noch immer still und sinnend. So auch die Freunde. Und alle wußten sie, daß die Stunde verrann und die Sonne sich schon zur Erde hin neigte. Sokrates unterbrach die Stille und stand auf. „Ihr Freunde, geht nun wieder von hinnen. Mich ruft jetzt schon, wie ein tragischer Dichter wohl sagte, das eherne Geschick. Und es ist an der Zeit, .mich nach einem Bad umzusehen. Ich meine nämlich es sei besser, wenn ich selber bade, eh ich den Tod trinke. So erspare ich den Frauen die Mühe, den Leichnam zu waschen." Kriton trat ihm in den Weg. „Sokrates, du hast noch nicht davon gesprochen: Was trägst du uns auf deiner Kinder wegen? Und was möchtest du sonst für die Zeit nach deinem Tode noch anordnen?" „Nichts anderes, Kriton, als was ich euch schon immer sagte: Sorget für euch in der rechten Weise und als wahre Philosophen; so helft und nützt ihr mir und den mehligen wie euch selbst am besten, auch wenn ihr es jetzt nicht gelobt. Solltet ihr euch aber vernachlässigen und nicht den Spuren folgen, die ich euch vorgezeichnet, dann könntet ihr jetzt noch so viel und so heilig versprechen, ihr hieltet es später doch nicht." Kriton fragte noch einmal: „Und wie sollen wir dich begraben, Sokrates?" Da lächelte Sokrates: „Wie ihr wollt, — vorausgesetzt, daß ihr den Sokrates dann wirklich noch habt und er euch nicht entwischt". Und er blickte ringsum und zwinkerte schelmisch mit den Augen. „Diesen Kriton überzeuge ich nie, daß der Leib, der nun bald tot vor ihm liegt, gar nicht mehr der Sokrates ist. Dabei habe ich doch eine so lange Rede darüber gehalten, daß ich nicht länger bei euch bliebe, sondern fortzöge zu irgendwelchen Herrlichkeiten der Seligen, sobald ich den Giftbecher genommen. Kriton denkt wohl, ich hätte dies alles nur gesagt, um euch und mich zu beruhigen und über den Jammer hinwegzutäuschen. Also, bester Kriton, begrabe du meinen Leib oder verbrenne ihn, wie es dir recht und am schicklichsten scheint!" 26
Sokrates nimmt Abschied von seiner Familie
(Nach Canova)
Als er das gesagt hatte, ging Sokrates in einen anderen Raum, um zu baden. Kriton begleitete ihn. Die andern blieben zurück, sprachen noch einmal von dem, was sie eben gehört, und jammerten auch schon wieder über das Unglück, das nun gleich über sie kam und sie für immer zu Waisen machte. Nach dem Bad ließ der Aufseher noch einmal Frau und Kinder zu Sokrates. Sokrates trug ihnen auf, was er noch zu sagen hatte, hieß sie dann fortgehen und kehrte zurück in die Zelle und zu den Freunden. Die Sonne stand vor dem Untergang. Er war nämlich lange im Bad geblieben. Eben hatte er sich wieder auf sein Lager gesetzt und noch kaum ein Wort gesprochen, als der Gefängniswärter eintrat, "3
sich vor ihn stellte und sagte: „Du, Sokrates, wirst mich nicht verfluchen, wenn ich dir nun ansage, du sollest dich bereit halten. Seitdem du hier bist, lernte ich dich kennen als den edelsten, sanftmütigsten von allen, die jemals hier waren. Auch jetzt wirst du nicht m i r grollen, der keine Schuld hat, sondern deinen Richtern . . . Und also denn, Sokrates! Du weißt ja, weshalb ich vor dir stehe und was ich dir verkünden muß. Sei glücklich und trage leicht, was nicht zu ändern ist!" Der Mann weinte, wandte sich und ging. Sokrates blickte ihm nach und sagte langsam und leise: „Sei glücklich auch du!" Und zu den Freunden gewandt fügte er hinzu: „So ist er all die Wochen mit mir umgegangen, seitdem ich hier bin. Manchmal haben wir auch zusammen geplaudert, immer war er der beste Mensch. Und wie aufrichtig beweint er mich jetzt! Wohlan denn, Kriton, laß mich dem Mann gehorchen! Bring mir den Trank, wenn er schon angerieben ist! Wenn nicht, so laß ihn bereiten!" Kriton schüttelte den Kopf: „Die Sonne rührt ja noch kaum an die Berge, Sokrates. Ich weiß von andern, die haben erst ganz spät getrunken. Die haben zuvor gut geschmaust, übereile dich nicht, Sokrates, dir bleibt noch viel Zeit." Sokrates entgegnete: „Die Leute, von denen du erzählst, hatten in ihrer Art schon recht, wenn sie es so machten. Sie bildeten sich ein, dabei etwas zu gewinnen. Aber auch ich habe recht, wenn ich es nicht so mache. Ich weiß, ich gewinne nichts dabei, wenn ich später trinke. Ich käme mir selbst Jächerlich vor, wollte ich derart am Dasein kleben und die Sekunden zählen und sparen, wo nichts mehr zu sparen bleibt. So geh denn, Kriton, und tue, wie ich gesagt!" Kriton winkte also einem Knaben, der neben ihm stand. Der ging hinaus, blieb eine Weile fort und kehrte mit dem Henker zurück, der den Giftbecher trug. „Wie muß ich es machen, mein Bester?" fragte Sokrates, „du verstehst dich ja darauf." „Nichts weiter als trinken, dann herumgehn, bis die Beine bleiern werden. Drauf legst du dich nieder und hast es bald überstanden." Ganz gelassen, ohne im mindesten zu zittern oder die Farbe, die Miene zu wechseln, griff Sokrates nach dem Becher und 29
nob ihn an die Lippen. Doch zögerte er noch, schaute dem Henker fest in die Augen, wie das seine Gewohnheit war, una fragte: „Darf ich auch von diesem Trank der Gottheit ein Opfer spenden, wie ich das von Kind auf gewohnt bin, eh ich trinke? Was meinst du?" „Wir bereiten nur so viel, daß es eben ausreicht." „Also nicht!" sprach Sokrates, „doch beten darf ich wohl und muß es auch, daß mich die Gottheit gnädig geleite und mir auf die große Wanderung den Reisesegen gebe. So bete ich denn, und so möge es geschehnl" Er setzte den Becher von neuem an und trank ihn leer in einem Zug. Bis dahin hatten die Freunde noch an sich gehalten und nicht geweint. Nun sie ihn aber den Becher trinken sahen, hatten sie nicht länger Gewalt über sich und jammerten laut und schluchzten. Sokrates tadelte: „Was macht ihr denn, ihr wunderlichen Leute! Darum schickte ich doch Frau und Kinder fort, daß hier kein Gejammer sei. Ich habe immer sagen hören, man müsse still sein, wenn ein Mensch stirbt. So seid doch tapfer und ruhig I" Die Freunde bezwangen sich auch und schämten sich und hielten ein mit Schluchzen. Sokrates schritt schweigend auf und nieder, bis er wohl spürte, daß ihm die Beine schwer wurden. Drauf legte er sich hin, gerade hingestreckt und auf den Rücken, wie der Henker ihn geheißen. Der rührte jetzt immer wieder an Fuß und Wade. Einmal preßte er die Wade besonders stark und fragte Sokrates, ob er das noch spüre. Sokrates antwortete nein. Darauf tastete der Mann auch an das Knie und höher hinauf und zeigte, wie das allmählich erkaltete und erstarrte. Endlich berührte er ihn auch am Leib und sagte, wenn das bis zum Herzen gestiegen, habe er überstanden. Wenn fromme Griechen von schwerer Krankheit wieder genasen, opferten sie dem Gott der Heilkunde Asklepios einen Hahn, zum Dank dafür, daß ihnen ein neuer, froher Morgen aufgegangen. Als schon der Leib fühllos und kalt geworden, warf Sokrates noch einmal das Tuch zurück, darein er sein Gesicht verhüllt, und sprach diese seine letzten Worte: .Oh Kriton, wir schulden ^pm Asklepios einen Hahn. Opfert ihn, vergeßt es nicht!" ic,
Kriton beugte sich zu ihm nieder und sagte: ,,Es soll geschehn, wie du es willst! Und hast du uns sonst nichts mehr aufzutragen?" Doch Sokrates hatte schon wieder das Tuch über das Gesicht geschlagen und antwortete nicht mehr. Gleich darauf durchrann ihn ein Zucken. Der Henker deckte ihn auf. Da waren die Augen gebrochen. Kriton sah es und schloß ihm sanft den Mund und die Lider. ,,Das war das Ende unseres Freundes", schließt Piatons Bericht, „des Mannes, der nach unserem Urteil von allen, denen wir je begegnet, der vortrefflichste war, der vernünftigste, der gerechteste". Zu den Abbildungen in diesem Heft Bild auf der vorderen Umschlagseite: Pythia, die Priesterin Apolls im Heilig tum von Delphi, weissagt, auf dem goldenen Dreifuß sitzend, einem Besucher der Orakelstätte. Das Bild ziert das innere Rund einer kostbaren Schale, die uns aus der Zeit des Sokrates erhalten ist. Das Delphische Orakel verkündete seine prophetischen Weisungen wie religiöse Offenbarungen. Mit kundigem Rat und weise abwägenden Voraussagen beanspruchte die delphische Priesterschaft gleichsam eine göttliche Aufsicht über die Hellenen. Von einem Gefäß, das in Neapel gefunden wurde, stammt die Verherrlichung des denkenden Menschen und Sehers, die auf Seite 2 abgebildet ist. Das Bildnis Piatons auf Seite 5 ist einer Büste nachgezeichnet, die man bei Athen aus dem Boden grub. Der Philosoph trägt, um das Haupt gewunden, das Strophium, das Stirnbild der Götter. Piaton (geb 427, gest. 347 v. Chr.), lebte bis zum Tode des Sokrates in dessen nächster Umgebung. Er gilt als „das bedeutendste, weltbestimmende Resultat der sokratischen Lehre". Die Nachwirkung seiner Philosophie reicht bis in unsere Zeit. Piatons größter Schüler, der dritte in dem großen philosophischen Dreigestirn seines Zeitalters, war Aristoteles. Alkibiades (Bild Seite 7 nach einem geschnittenen Stein), geb. um 450, ermordet 404 v. Chr., war ebenfalls Schüler des Sokrates, entzog sich aber bald seinem mäßigenden Einfluß. Als Staatsmann und Feldherr von hoher Begabung, wußte er die Grenze zwischen Freiheit und Zügellosigkeit nicht zu wahren und trieb seine Selbstüberhebung bis zur Vernichtung des eigenen Vaterlandes. Bildnis des Perikles auf Seite 9, nach einer Bildsäule aus den Vatikanischen Sammlungen. Das Zeitalter des Perikles (ca. 500—429 v. Chr.), gilt als eine der Kulturhöhen der Menschheit. Der Staat, den er aufbaute, war „dem Stamme nach eine Demokratie, in der Tat aber die Herrschaft eines einzelnen Mannes". Perikles verstand es, die hohe geistige und künstlerische Begabung der attischen Jonier zu reichster Entfaltung zu bringen. Unter seiner Führung baute Athen die Tempelstadt der Akropolis aus dem Schutt der Perserkriege wieder auf. Das Bild auf Seite 11 zeigt die Akropolis in einer Rekonstruktionszeichnung, In der Mitte der Torbau der Propyläen, links die mit Bildwerken angefüllte Pinakothek, rechts von den Propyläen das kleine Heiligtum der Siegesgöttin
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Athene Nike (Nike - Tempel). Hinter den Propyläen aufragend die Riesenstatue der Göttin Athene von Phidias. Rechts, alle andere Bauten überragend, der Parthenon-Tempel. Alle Bauten der Akropolis waren in lebhaften Farben getönt. Abb. Seite 12: Sokrates, nach einer Büste gezeichnet, die kurz nach seinem Tode von dem Athener Erzbildhauer Lysippus zur Ehrenrettung des Hingerichteten gegossen wurde. Die Abbildungen auf den Seiten 15 u. 27 sind Szenenbilder nach einer fünfteiligen Reliefgruppe „Aus dem Leben des Sokrates" von dem Venetianischen Bildhauer Antonio Canova (1757—1822). Abb. Seite 31: Sokrates im Gespräch mit der Muse, nach einem Grabbild (Louvre).
Diesen Lesebogen schrieb Dr. Anton G a b e l e . Die aus Piaton übernommenen Stellen folgen, frei gestaltet, der Übersetzung des Philosophen Friedrich Schleiermachers.
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Heftpreis20Pfg.
Natur- und kulturkundliche Hefte. Verlag Sebastian Lux, Murnau-München Bestellungen (vierteljährlich 6 Hefte zu DM 1,20) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. Druck: Buchdruckerei Hans Holzmann, Bad Wörishofen.
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