S. Santorius
Das Schicksal der Seherin Version: v1.0
Das Schreien war ohrenbetäubend. Ein gellendes Krei...
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S. Santorius
Das Schicksal der Seherin Version: v1.0
Das Schreien war ohrenbetäubend. Ein gellendes Kreischen, als würde ein Mensch unter entsetzlichen Qualen sterben. Es gellte durch den Raum und ertränkte jede andere Wahrnehmung, bis es das Zimmer, das bislang in nächtlichem Frieden geruht hatte, verschluckte. Dröhnend bohrte sich das unheimliche Geräusch in Melissas Bewusstsein. Es erreichte sie im Halbschlaf und zerrte sie in die Nacht zurück. Noch bevor sie richtig aufgewacht war, griff sie nach dem Dolch, der auf ihrem Nachttisch bereit lag. Die andere Hand umfasste das silberne Amulett, das sie um den Hals trug …
Fahles Mondlicht fiel durch die dünnen Vorhänge. Unwillkürlich kniff Melissa die Augen zusammen, um etwas erkennen zu können. Der Ursprung des Schreis war übernatürlich, daran bestand kein Zweifel. Es geht also wieder los! Melissa spürte etwas Fremdes im Raum, etwas Übernatürliches. »Tritt hervor!«, befahl sie dem Wesen. Ihre Stimme bebte vor Anspannung. War ihr der Geist wohl gesonnen, oder hatte eines ihrer Opfer einen Rachedämon gesandt, um sie fertig zu machen? Das unheimliche Kreischen war inzwischen verstummt. Doch der Urheber war noch immer anwesend; Melissa spürte seine Präsenz bis in ihre Haarwurzeln. Der Geist war alt, mindestens dreihundert Jahre und er war männlich. Mit der Zeit hatte Melissa gelernt, die Anwesenheit von Geistererscheinungen emphatisch wahrzunehmen. Je näher sie der Wesenheit war, umso mehr spürte sie von dessen Aura. Das war äußerst hilfreich, denn viele Gestalten der Nacht zogen es vor, unsichtbar zu bleiben oder sich zu tarnen. »Komm raus, du verdammter Geist! Oder ich schicke dich unbesehen zurück in die Hölle, in die du gehörst!«, schrie Melissa in die nächtliche Schwärze ihres Schlafzimmers. In der Dunkelheit regte sich etwas und kroch auf sie zu. Es glitt über die Wände wie eine riesengroße Spinne und näherte sich lautlos dem Bett. Melissa hörte nichts. Es war, als hätte ihr jemand Watte in die Ohren gestopft. Jeder Laut im Zimmer schien von dem Wesen im Keim erstickt zu werden. Doch je näher es kam, desto mehr Details seiner Persönlichkeit nahm sie wahr. Es war der Geist eines Verstorbenen, was sie etwas beruhigte. Bei einem Zurückgekehrten hatte sie eine Chance auf ein Gespräch,
bevor er über sie herfallen würde. Mit Elementarwesen war meist nicht zu reden. Er war jetzt über ihrem Bett. Die Stuckdecke wölbte sich wie ein vergilbtes Handtuch und spannte sich über ein Gesicht. Es war hager und markant mit hohen Wangenknochen. Der Mund war in einem stummen Schrei weit geöffnet, die Augen in unendlichem Schmerz verzerrt. Plötzlich schlug Melissa ein scharfer Fischgeruch entgegen. »Thaddeus!«, rief sie, als sie endlich erkannte, um wen es sich bei dem nächtlichen Besucher handelte. »Verdammt, musst du mich so erschrecken? Was soll der Auftritt?« Jegliche Furcht war von ihr gewichen und nur eine gewohnheitsmäßige Vorsicht war übrig und ließ sie den Dolch weiterhin festhalten. »Welch barsche Begrüßung, Madame.«
* Thaddeus’ Geist glitt wie ein Schatten lautlos aus der Decke und nahm neben Melissa auf dem Bett Platz. »Madame müssen verzeihen, aber ich bin gekommen, um Euch zu warnen. Kräfte vereinen sich und belieben, an die Oberfläche zu drängen.« Seine piepsige Stimme ließ Melissa erschaudern, aber es bestand kein Anlass, ihn zu fürchten. Seit sie ihn vor sieben Jahren mit einem Bann in ihre Dienste gezwungen hatte, konnte er ihr nicht mehr schaden. Er war ihr Spion in der anderen Welt – was ihm allerdings nicht gefiel. Trotz aller Bemühungen, ihm die heute übliche Redeweise einzutrichtern, hatte er sich strikt geweigert, von seiner antiquierten Sprache abzuweichen. Sie hasste das und das wusste er. Darum verhielt er sich so.
»Eine neue Manifestation? Wer, wann und wo?«, fragte sie genervt. Thaddeus grinste, richtete sich auf und sprach: »Der Reiter des Drachen, mit Flügeln, einst rein, wird dir dienstbarer Lehrer oder Todbringer sein. Die Schatten sind kurz nur im fahlen Licht. Und die Grenze der Reiche ist ausgewischt. Nun lauf zu den Mauern aus grobem Gestein, in denen einst Loblied und Wahnsinn daheim.« »Kannst du nicht normal mit mir reden? Ich bin zu müde für deine Reimspielchen«, murrte Melissa. Doch statt einer Antwort erhob sich Thaddeus elegant und schwebte zum Kopfende des Bettes. Viele Löcher verunstalteten seinen groben Wollanzug, das Werk unzähliger Motten und Würmer. Ganz war ihm das Glätten seines Äußeren nach all der Zeit im Grab nicht gelungen. Melissa war froh, dass er nicht als abgefressenes Skelett in Stofffetzen vor ihr stand. In solchen Momenten dankte sie den Göttern für Thaddeus’ Eitelkeit. »Ihr kennt die Regeln, Madame«, sagte der Geist. »Zu meinem Bedauern bin ich an sie gebunden.« Noch einmal grinste er sarkastisch und war im nächsten Augenblick verschwunden. »Arschloch!«
* Melissa lag im Bett und grübelte. Das mit den Rätseln war nicht Thaddeus’ Schuld. Es war seine Art, sich vor der Rache der höheren Dämonen zu schützen. Sollten sie herausfinden, dass er sie verriet, würden sie ihm das Nachleben zur Qual werden lassen und seinen astralen Leib wieder und wieder in
Stücke fetzen – oder Schlimmeres. So hatte er etwas gesagt und auch wieder nicht. Es war an ihr, Nutzen aus seinen Worten zu ziehen. Trotzdem ärgerte sich Melissa über die Kopfschmerzen, die ihr die Raterei immer verursachte – und sie waren erst der Anfang! Unruhig wälzte sie sich hin und her, bis sie schließlich in einen wirren Traum sank …
* Schweißgebadet erwachte sie. In ihrem Traum hatte ein Drache sie durch ein Labyrinth gehetzt. Thaddeus’ Spruch hatte Wirkung gezeigt. Der Traum war erschreckend real gewesen. Sie hatte den heißen, giftigen Atem des Verfolgers in ihrem Nacken spüren können. Der Boden unter ihren nackten Füssen war kalt und uneben gewesen, Wind hatte um eingestürzte Mauerstümpfe geweht und war ihr eisig ins Gesicht geschlagen. Schließlich hatte sie eine säulengetragene Halle erreicht, wo drei Gestalten auf dem Boden gekauert hatten. Und sie hatte ein Symbol gesehen, das schwach in der Dunkelheit flackerte. Es war ein Pentagramm in einem Kreis, gekreuzt von zwei parallelen senkrechten Linien. Aus der Mitte zeigte eine weitere Linie nach unten und endete in einem Kreuz. Da hatte der Traum sie ausgespuckt …
* Noch immer leicht benommen stand Melissa auf und ging ins Bad. Sie warf ihr T‐Shirt in die Ecke und drehte die Dusche auf. Zitternd
stand sie unter dem warmen Strahl und wusch sich die Albtraumgespenster vom Körper. Aber aus dem Kopf konnte sie die Bilder nicht verbannen. Plötzlich riss sie die Augen auf. Das Symbol! Sie kannte es. Melissa stellte das Wasser ab, warf sich ein Handtuch um und stürzte ins Arbeitszimmer. Ihre langen braunen Haare klebten ihr im Nacken und schickten Rinnsale warmen Wassers den Rücken hinunter. Ihre nackten Füße patschen über das Laminat. Auf einem kleinen Schreibtisch stapelten sich neben dem PC‐ Monitor unzählige Akten und Schriften über paranormale Phänomene. Größtenteils handelte es sich um Hirngespinste überdrehter Fernsehjunkies, aber einige unter ihnen waren einen zweiten Blick wert. An den Wänden ihres Arbeitszimmers zogen sich Bücherregale bis unter die Decke, voll gestopft mit Grimoires, Lexika und Abhandlungen über Dämonen, Engel, Geister und Mythen aller erdenklichen Kulturen, die der blaue Planet hervorgebracht hatte. Ihr Blick flog über die Buchrücken und blieb an einem kleinen ledergebundenen Buch hängen. Hastig blätterte sie durch die brüchigen Seiten, bis sie fand, was sie suchte. »Verflucht!«, stieß sie hervor. »Astaroth!«
* Melissa stürzte ihren Kaffee hinunter. Das bittere Gebräu verbrannte ihr fast die Zunge. Vier Stunden hatte sie bereits über Thaddeus’ Rätseltext gebrütet, war aber keinen Schritt weiter gekommen. Ein Geistesblitz wollte sich einfach nicht einstellen. Kurz schmunzelte sie über den Gedanken. So sehr sie die gestelzte Art von Thaddeus auch hasste, sie mochte den zickigen Geist irgendwie. Er war kultiviert, eloquent und besaß trotz seiner
modrigen Erscheinung einen gewissen Charme. Das Einzige, was sie nicht übersehen – oder besser über riechen – konnte, war sein penetranter Fischgestank. Thaddeus war zu Lebzeiten Buchhalter in einem Londoner Handelskontor gewesen. Sein Tod hatte den tranigen Geruch nach fauligem Fisch zu ihrem Leidwesen nicht tilgen können und Thaddeus roch ihn schon längst nicht mehr. Ein Vorteil des Todseins. In ihre Grübeleien versunken, knabberte sie an einer trockenen Scheibe Knäckebrot. Sie machte mal wieder eine ihrer unzähligen Diäten, um ihre schlanke Linie zu bewahren. Aber weniger Essen war ihr lieber, als Sport zu treiben oder sich in einem Fitnessstudio in ein Trimm‐dich‐Gerät einzusperren. Ihre körperlichen Ertüchtigungen holte sie sich woanders. Nachts, wenn die braven Bürger vor dem Fernseher saßen oder friedlich in ihren Betten schliefen, war sie auf der Jagd. Natürlich nicht jede Nacht! Es war albern, zu glauben, man würde einem Dämon schon über den Weg laufen, wenn man nachts mit spitzen Holzpflöcken bewaffnet in den Straßen patrouillierte. Kein Dämon marschiert einfach so in diese Welt. Dazu braucht es Rituale, Beschwörungen und vielerlei Beiwerk. Aber vor allem brauchte es einen starken Willen, um den Dämon unter Kontrolle zu zwingen. Zu Melissas Ärger war das genau das, woran es immer scheiterte und was ihr Arbeit einbrachte. Melissa war eine Seherin. Das traf es ihrer Ansicht nach am besten. Sie konnte Geister und andere übernatürliche Wesen sehen wie Nichtbegabte Menschen sahen. Und sie spürte, wenn ein Dämon versuchte, in diese Welt einzudringen. Meist arbeitete die Zeit für sie. Ein Dämon musste das Opfer auswählen, von dem er Besitz ergreifen wollte – nicht jeder Mensch eignete sich gleich gut dafür. Das Ritual musste vorbereitet und der
richtige Ort und Zeitpunkt gefunden werden. Normalerweise spürte sie Tage vorher die nahende Ankunft eines Dämonen. Doch diesmal spürte sie nichts … Melissas abwesender Blick streifte durch die Küche. Die Spüle war sauber, kein schmutziges Geschirr stapelte sich darin. Das Besteck lag in verschlossenen und mit Fetischen versehenen Schubladen. Die Drudenfüße an den Fensterbänken und auf den Türschwellen waren intakt. Ein mäßiger Schutz, aber er genügte, um sich einigermaßen sicher zu fühlen. An der Tür hing ein Abrisskalender. Er zeigte das gestrige Datum. Melissa stand auf und riss mit einem halbherzigen Ruck das oberste Blatt ab. Entsetzt starrte sie auf das Recyclingpapier. Auf dem Zettel prangte mahnend eine Ziffer. Darunter wand sich in verschnörkelten Buchstaben ein Sinnspruch, den Melissa ignorierte. Mit grausamer Deutlichkeit sprang sie das Datum an. Samstag, 31. Oktober. »Und die Grenze der Reiche ist ausgewischt«, zitierte sie flüsternd Thaddeus. Jetzt wusste sie was es bedeutete: Samhain! Der Dämon würde heute Nacht erscheinen, um Mitternacht, wenn die Schatten am kürzesten waren! Ihr blieb nicht viel Zeit! Es war bereits Mittag und sie wusste noch nicht, wo die Beschwörung stattfinden sollte. Die Zeit wurde verdammt knapp, wenn sie verhindern wollte, dass Astaroth ein ahnungsloses Opfer finden würde. Was sie jetzt brauchte war Hilfe, auch wenn sich ihr bei dem Gedanken die Nackenhaare sträubten. Sie stellte die Tasse achtlos in das Spülbecken und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch stand eine dunkelblaue Nylonsporttasche. Darin befand sich Melissas Ausrüstung. Für gewöhnlich ruhte die Tasche unter einer losen Bodendiele
unter ihrem Bett. Zu Melissas täglichem Schutz reichten ein paar Fetische, Amulette und ihr Dolch. Aber sie war in Begriff, sich Astaroth entgegenzustellen, einem mächtigen Höllenfürst. Da würde ihr Dolch nicht viel ausrichten. In der Tasche ruhte in einer schmalen Lederscheide ihr geweihtes Schwert. Der Griff war mit Leder umwickelt und lag perfekt in ihrer Hand. Sie legte nicht viel Wert auf Verzierungen. Die Parierstange war einfach und schmucklos. Lediglich am Ende des Griffes hatte der Schmied eine Kugel aus Mondstein eingefügt und damit das blasse, kalte Erscheinungsbild der Klinge vollendet. Manchmal kam ihr diese Waffe sehr antiquiert vor, aber schließlich waren Dämonen auch nicht gerade die Jüngsten. Neben dem Schwert befanden sich eine Schusswaffe samt Munition, diverse Amulette und Weihwasser in der Tasche. Sie zog den Reißverschluss zu und streifte sich einen Mantel über. Gerade wollte sie zur Türklinke greifen und die Wohnung verlassen, als das Telefon klingelte. Sie machte kehrt und nahm den Hörer ab. »Ahrens«, meldete sie sich. »Melissa! Hast du gut geschlafen, mein Schatz?«, sagte am anderen Ende der Leitung ein unverschämt gut gelaunter junger Mann – Daniel, Anfang Dreißig, Programmierer und seit zwei Monaten Melissas Freund. Der erste seit fünf Jahren! »Ja, natürlich … Liebling«, stammelte sie. Dieser Anruf kam mehr als ungelegen. Aber wie sollte sie ihm das schonend beibringen? Daniel ahnte nichts von ihren Fähigkeiten und was sie nachts auf die Straßen trieb. Er war nie in ihrer Wohnung gewesen und bei ihren Gesprächen vermied sie jegliche übersinnlichen Themen. Sie wollte ihn so schützen – und auch sich selbst. »Melissa, ich wollte deine Stimme hören und außerdem habe ich
eine Überraschung für dich«, summte er verliebt ins Telefon. »Eine Überraschung? Da bin ich aber gespannt.« Unruhig trippelte sie hin und her und warf immer wieder nervös einen Blick auf ihre Uhr. »Was hältst du von einem romantischen Abendessen, nur wir beide, bei ›Luigi‹ und anschließend einer Halloween‐Party im alten Rathaus?« »Gar nichts«, entfuhr es Melissa. »Ähm … ich meine: klingt toll! Nur leider kann ich heute Abend nicht. Ich habe unglaublich viel zu tun. Ich muss einen Bericht für das Institut fertig schreiben und die Listen für die Ausstellung durchgehen.« »Hat das nicht Zeit bis morgen?«, murrte er. »Tut mir Leid, Daniel. Aber der Professor benötigt die Unterlagen am Montag und ich bin schon seit vorgestern im Rückstand. Du hast mich die letzten Tage arg in Anspruch genommen«, hauchte sie so lasziv sie konnte in den Hörer und hoffte, damit seine Unternehmungslust vertrösten zu können. »Lass uns das Montag Abend nachholen, ja, Liebling?« »Wie könnte ich dir etwas abschlagen, mein Engel?«, schnurrte er ergeben und legte auf. Melissa atmete erleichtert auf. Sie hasste es, Daniel anzulügen. Aber sie hatte Angst, ihm die Wahrheit zu sagen. »Hör zu, Schatz, ich sehe Geister und jage Dämonen zurück in die ewigen Jagdgründe.« Es war kaum vorstellbar, dass er ihr glauben würde. Für die meisten war Parapsychologie esoterische Spinnerei und sie war nicht umsonst fünf Jahren lang solo gewesen. Also schwieg sie lieber. Für Daniel war sie eine junge Frau mit einem Doktor in Geschichte und Germanistik, die als Assistentin im Institut für Völkerkunde an der hiesigen Universität arbeitete. Sie drehte sich zur Wohnungstür und machte sich auf den Weg zu dem Einzigen, von dem sie sich sicher war, dass er ihr glaubte.
* Noch zwei Schritte und sie war am Ziel. Mit bebender Hand zog sie sich auf den Treppenabsatz im dritten Stock des Altbaus. Es roch nach Bohnerwachs und frischer Farbe. An der Tür vor ihr prangte ein ovales Messingschild. ›Magnus‹ stand in geschwungenen Lettern darauf. Sie atmete einmal tief durch und ging einen Schritt auf die Tür zu. Plötzlich klackte es hallend und sie stand im Dunklen. Nur der Lichtschalter für die Treppenhausbeleuchtung glimmte in einem sanften orange rechts von ihr an der Wand. Ihr Herz klopfte, als stünde ihr ein Rendezvous bevor. Wäre schön, wenn es so wäre, aber sie wollte von Philipp alles andere als einen romantischen Abend. Was gab ihr nur das Recht hier zu sein, jetzt vor seiner Tür zu stehen, mit einem so unverschämten Anliegen? Aber außer ihm fiel ihr niemand ein, der ihr helfen konnte. Also nahm sie allen Mut zusammen und drückte den Klingelknopf. Es summte auf der anderen Seite der Tür. Kurz darauf vernahm sie gedämpfte Schritte auf Teppichboden. Die Tür öffnete sich und ein warmer Lichtschein fiel auf das Linoleum des Treppenhauses. Das Licht umfloss ihre Gestalt und sprach der düsteren Qualen Hohn, die ihr Hiersein für Philipp bedeuten würden. In dem hell erleuchteten Flur stand ein Mann Ende Vierzig mit einer kurzen blonden Igelfrisur in einem schwarzen Rollkragenpullover und schwarzen Jeans. Eine dunkle eckige Hornbrille hing verrutscht auf seiner Nase und gab ihm das Aussehen eines Intellektuellen, den man gerade von einer spannenden Lektüre fortgezerrt hatte.
Melissa lief ein eisiges Kribbeln durch den Magen. Wie konnte sie nur? Philipp sah sie schweigend an. Endlich trat er zur Seite und neigte leicht den Kopf. »Komm rein, Melissa«, sagte er tonlos. Sie huschte an ihm vorbei in die Wohnung. Mit einem leisen Schnappen fiel die Tür ins Schloss und sperrte die Dunkelheit des Treppenhauses aus. Philipp dirigierte sie mit einer Geste ins Wohnzimmer. Die wenigen Male, die sie in seiner Wohnung gewesen war, hatten bei ihr einen modernen, geordneten und kühlen Eindruck von Philipps Leben hinterlassen. Wäre nicht sein Schreibtisch mit den vielen aufgestapelten Zetteln und Büchern gewesen, zwischen denen man den Monitor seines Rechners beinahe suchen musste, nichts hätte auf den Menschen hingedeutet, der hier wohnte – keine Fotos, keine Bilder, keine Pflanzen. Melissa fühlte sich daran nicht ganz unschuldig. Wäre sie damals früher gekommen und hätte sie mehr Erfahrung im Austreiben von Dämonen gehabt, Philipps Leben wäre heute vermutlich um einiges normaler. Philipp deutete auf ein schwarzes Ledersofa, das sich samt zweier Sessel um einen niedrigen Glascouchtisch gruppierte und ging zu seinem Schreibtisch. Schnell beendete er ein Programm und fuhr den Rechner runter. Als das Summen des PC erstarb, wirkte die Wohnung noch kälter als zuvor. Melissa setzte sich und musterte Philipp vorsichtig. Sie kannte ihn seit fast zehn Jahren. Damals stand sie noch ganz am Anfang ihrer Berufung und Philipp war einer der Ersten gewesen, die von ihren Talenten profitiert hatten. Er war mit zwei Freunden auf die glorreiche Idee gekommen, Gläserrücken auszuprobieren. Einer von ihnen hatte im Internet eines dieser magischen Oui‐ja‐Bretter ersteigert. Alle waren sie
neugierig gewesen auf die Magie, aber keiner von ihnen hatte daran geglaubt. Das war ihnen zum Verhängnis geworden. Sie waren unvorsichtig gewesen und hatten einen niederen Geist gerufen, der prompt von Philipp Besitz ergriffen hatte. Melissa war in die Seance geplatzt, als sich Philipp bereits wimmernd auf dem Boden gewälzt hatte, die Augen und Gliedmaßen seltsam verdreht. Es war ihr nur mit Mühe gelungen, den Geist auszutreiben. Dabei hatte sie ihr stärkstes Amulett eingebüßt – und das Ereignis hatte tiefe, unwiderrufliche Spuren bei Philipp hinterlassen. Seit dieser Begegnung verfügte er über das Zweite Gesicht. Aber es war für ihn jedes Mal mit ungeheuren körperlichen und psychischen Schmerzen verbunden, wenn er diese Gabe anwandte. Temporäre Bewusstseinsspaltung, epileptische Anfälle, Schüttelfrost und Übelkeit waren nur wenige der Symptome, die er auszustehen hatte, wenn er einen Blick durch die Ebenen wagte. Also verdrängte er diesen Teil seiner Welt und versuchte, ein unscheinbares, durchschnittliches Leben zu führen. Nie wieder wollte er die Schwelle zur anderen Welt übertreten. Doch genau deswegen war Melissa hier. Sie benötigte seine übersinnlichen Fähigkeiten. »Philipp«, begann sie zögernd, »ich bin hier um …« »Ich kann mir schon denken, warum du hier bist«, entgegnete er ruhig. »Gibt es keine andere Möglichkeit?« »Du weißt, dass ich nicht hier sitzen würde, wenn es sie gäbe.« »Erzählst du mir wenigstens, worum es geht?« Seine Stimme klang nun nicht mehr so kalt wie zu Beginn. Er wusste, dass sie nicht hier war, um ihn aus reinem Egoismus zu quälen. Sie arbeitete lieber allein. Dass sie Daniel hatte anlügen müssen, lag ihr noch immer schwer im Magen. Doch Philipp konnte, ja musste sie die Wahrheit sagen. »Thaddeus hat mir eine neue Manifestation angekündigt«, berichtete sie. »Heute Nacht wird ein Höllenfürst versuchen, in
diese Welt zu gelangen.« »Hast du eine Ahnung, um wen es sich handelt?« Melissa nickte. »Astaroth.« Das genügte, um Philipp umzustimmen. Bei der bloßen Erwähnung des Namens war er bleich geworden. »Was kann ich für dich tun?« »Ich muss wissen, wo er erscheinen wird! Thaddeus hat mir zwar wieder einen Hinweis gegeben, aber du weißt ja, wie gut ich im Rätselraten bin.« »Das ist nicht gerade deine Stärke«, bemerkte Philipp. Und tatsächlich, er lächelte dabei. »Hilf mir, bitte!« Er nickte. Langsam erhob er sich von seinem Sessel, umrundete den Tisch und setzte sich neben sie aufs Sofa. Mit einer müden Geste legte er seine Brille auf die Glasplatte und rieb sich die Nasenwurzel. Schließlich blickte er sie an. »Was hat Thaddeus dir gesagt?« Melissa wiederholte die Prophezeiung. Als sie geendet hatte, sah sie erwartungsvoll in Philips braune Augen. »Hast du eine Ahnung, was damit gemeint ist?«, fragte sie. »Es geht ja wohl nur um die beiden letzten Verse. So schlecht bist du im Raten gar nicht«, sagte er lächelnd. »Ich hab dafür den ganzen Tag gebraucht«, seufzte sie. »Aber bei dem letzten komm ich einfach nicht weiter. ›Loblied und Wahnsinns‹ … Was soll das heißen? Gibt es hier in der Nähe eine Stätte, wo sich irgendwelche Sektenspinner versammelt haben?« »Nicht dass ich wüsste. Ich sehe schon. Mir wird nichts anderes übrig bleiben. Willst du einen Kaffee?« »Philipp, sei mir nicht böse, aber mir rennt die Zeit davon. Es ist schon zehn Uhr, also nur noch zwei Stunden bis Mitternacht.« Melissa versuchte, ihre Angst nieder zu kämpfen. Was, wenn es schon zu spät war? Der Ort konnte Kilometer weit weg sein. In dem
Fall würde sie niemals rechtzeitig eintreffen, um Astaroths Erscheinen zu verhindern. Eine Berührung holte sie aus ihren panischen Gedanken zurück. Philipps Hand lag auf ihrem Knie. Sie war kalt. Melissa wagte kaum, ihm in die Augen zu sehen. In seinem Blick wechselten sich Angst und Zweifel ab, bis er sie schließlich entschlossen ansah. »Danke.« Sie drückte fest seine Hand. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen und verschwand sofort wieder. Philipp saß leicht gebeugt auf dem Sofa und starrte auf den beigen Teppich. Es war unerträglich still im Raum, aber Melissa wagte nicht zu sprechen. Alles, was sie tun konnte, war, abzuwarten und zu beobachten. Philipps Pupillen zogen sich immer enger zusammen. Bald waren von ihnen nur noch stecknadelkopfgroße schwarze Punkte übrig. Plötzlich ergoss sich Schwärze über seine Iris und überschüttete das Weiß, bis seine Augen wie schwarze, ausgebrannte Höhlen aussahen. Melissa hielt den Atem an. Seine Hand wurde immer kälter. Es war, als würde etwas die Wärme aus seinem Körper ziehen. So nah hatte sie noch nie neben ihm gesessen, wenn er durch die Ebenen blickte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie Angst vor seiner Gabe. Dennoch hätte sie gerne mit ihm getauscht, um ihn nicht immer wieder in ihre furchtbare, geisterbestimmte Welt hineinziehen zu müssen. Aber das konnte sie nicht. Diese Schicksal war für Philipp bestimmt. Die Kälte erfasste nun auch ihren Körper. Obwohl der Herbst dieses Jahr ungewöhnlich mild war, kroch Frost in ihre Knochen. An den Innenseiten der Fensterscheiben bildeten sich Eisblumen. Melissa hatte den Eindruck, als sei das Licht ebenfalls kälter geworden. Der Raum hatte jetzt mehr Ähnlichkeit mit einem
Kühlhaus als mit einem Wohnzimmer. Wenn die Welt um Philipp schon so verrückt auf seine Fähigkeit reagiert, was mag dann erst in ihm vorgehen?, überlegte Melissa. Sie blickte in Philipps schwarze Augen. Sie waren matt, nichts spiegelte sich darin, als würden diese Höhlen alles Licht und alle Bilder verschlucken wie kleine Schwarze Löcher. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet, die Atemfrequenz hatte sich drastisch reduziert. Plötzlich sog er scharf die Luft ein, packte sie an den Schultern und warf sich auf die Seite. Er lag auf dem Rücken und wälzte sich auf den schwarzen Lederpolstern. Hatte er zuvor kaum noch geatmet, so rang er jetzt gierig nach Luft, als sei er am Ertrinken. Melissa war von seinem Ausbruch völlig überrascht worden. Sie lag halb auf ihm und versuchte, sich aus seinem klammernden Griff zu winden. Aber sie konnte sich nicht befreien. Sie fühlte, wie seine Brust unter ihr bebte und zitterte, als wollte sich sein Herz mit aller Macht einen Weg aus dem Brustkorb sprengen. Sein Kopf zuckte wild hin und her, die Augen waren weit aufgerissen. »Scheiße, Philipp«, wimmerte sie. Es gelang ihr endlich, einen Arm zu befreien. Sie stemmte sich hoch und berührte Philipps Stirn. Sie war glühend heiß. »Komm zu dir!«, flehte Melissa. »Brich es ab, bitte!« Sie kämpfte mit den Tränen. Ihre Hand streichelte ihm über die Stirn und Wangen, hielt ihn sanft fest. Es zeigte Wirkung. Allmählich fand er zurück. Sein Körper unter ihr zuckte nicht mehr. Das Schwarz war wieder seinen rehbraunen Augen gewichen, aus seiner Nase tropfte Blut. Er schien die wilde Schlacht in seinem Innern gewonnen zu haben. Für dieses Mal …
Melissa richtete sich auf und tupfte es mit einem Taschentuch ab. Plötzlich packte er ihre Hand und sah sie an. Seine Muskeln zitterten. Es bereitete ihm große Schmerzen, sich zu bewegen. »Ich …«, presste er hervor. »Ganz ruhig«, flüsterte Melissa. »Es ist egal. Ich finde den Ort auch so. Ich hätte dich nicht darum bitten sollen.« »Ich weiß, wo er ist«, hauchte Philipp. Melissa hielt inne. Sollte er es doch geschafft haben? »Wo?«, fragte sie. »Die alte Sülte«, brachte er mit letzter Kraft hervor. »Tritt ihm in den Arsch!« Im nächsten Augenblick sackte er kraftlos zusammen. Vor ihr auf dem Sofa lag sein ausgezehrter Körper. Wüsste sie es nicht besser, sie hätte Philipp für einen Bulimiekranken gehalten. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Wangenknochen traten scharf hervor und seine Haut hatte einen ungesunden Gelbton angenommen. »Du hast was gut bei mir«, flüsterte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Ich hoffe, du siehst mich nie wieder.« Sie legte eine Decke über ihn und verließ die Wohnung. Gern wäre sie bei ihm geblieben, bis er sich erholt hätte, aber ein Blick auf die Uhr genügte, um sie zur Eile zu ermahnen. Es war 23 Uhr 30. Ihr blieb nur noch eine halbe Stunde …
* Von Philipps Wohnung waren es nur fünfzehn Minuten Fußmarsch zur Sülte. Melissa rannte. So würde sie früh genug ankommen, um das Schlimmste zu verhindern. Sie hatte zwar noch keine Ahnung, ob sie mit ihren Mitteln etwas gegen Astaroth ausrichten konnte, aber
nichts zu tun war in jedem Fall verhängnisvoll. Auf ihrem Weg lag ein kleiner stillgelegter Bahnhof. Ein Ort, den man als Frau und noch dazu im Dunkeln besser meiden sollte. Aber ein Umweg würde zu viel Zeit kosten. Die Sporttasche mit ihrer Ausrüstung zog schwer an ihrer Schulter. Als sie um die nächste Häuserecke bog, lag der Bahnhof vor ihr. Nun, die Bezeichnung ›Bahnhof‹ war vielleicht übertrieben. Auf beiden Seiten der Schienen zogen sich Betonplattformen entlang. Die Unterstände aus ehemals durchsichtigem Plexiglas waren mit mehreren Lagen Graffitis überzogen. Die wenigen Laternen, die nicht kaputt waren, spendeten nur diffuses Licht, das kaum gegen die Dunkelheit ankam. Melissa stand vor der Wahl, eine rostige, zum Teil eingefallene Brücke zu benutzen, die über die Gleise führte; oder durch eine feuchtkalte, düstere Unterführung zu gehen. Sie entschied sich für Letzteres. Der Fußgängertunnel empfing sie mit modriger, kalter Luft. Es roch nach Urin, Alkohol und Erbrochenem. Melissa hielt den Atem an und beschleunigte ihre Schritte. Unter der niedrigen Decke hingen alle zwei Meter Neonröhren. Sie waren zum Teil mit Farbe beschmiert, so dass sie kaum Helligkeit verbreiteten. Von den Wänden starrten sie Tags in grellen Farben an, die bis unter die Decke reichten. Sie hatte das Ende der Unterführung fast erreicht, als vor ihr drei Gestalten um die Ecke bogen. Ihre weiten Bundeswehr‐Hosen, ihre aufgeblähten Blouson‐Jacken, die Springerstiefel und nicht zuletzt die kahlen Schädel machten Melissa unmissverständlich klar, was da auf sie zu kam – Ärger! Diese Jungs mochten allein ja ganz umgänglich sein, aber in der Gruppe setzte ihr Gehirn aus und sie wurden zu einem gefährlichen Rudel. Doch Melissa saß die Zeit bedrohlich im Nacken und sie unternahm die Flucht nach vorne. Auf sie wartete etwas, das viel
Schlimmer war als diese Schläger. Das Licht einer intakten Neonröhre tauchte die Gesichter von drei jungen Männer in kaltes, flackerndes Licht. Ihr hämische Grinsen und die Seitenblicke, die sich die drei zuwarfen, waren eindeutig. »Na Süße! Wohin so spät?«, fragte der erste prompt und stellte sich Melissa in den Weg. Flankiert von den beiden anderen versperrte er ihr den Weg nach draußen. Das Spiel war eröffnet. »Und so allein, die Kleine«, höhnte sein Kumpel, der eine große Zahnlücke aufwies, durch die Melissa eine beträchtliche Bierfahne entgegenschlug. Bei vollem Einatmen wäre sie wahrscheinlich betrunken gewesen. »Lasst mich vorbei!«, forderte Melissa. »Und wenn wir das nicht wollen?« Die drei waren sich offenbar ihrer gemeinsamen Stärke sehr sicher. Melissa zitterte. Ruhig bleiben, Mädchen! Das sind nur drei Spinner, mit denen wirst du fertig. Hoffentlich. »Wir können so ne geile Maus wie dich doch nicht einfach gehen lassen«, sagte der erste grinsend. »Wäre doch Verschwendung.« »Genau«, grunzte sein Kumpel zustimmend. »Du hast doch nichts gegen ein bisschen Gesellschaft? Wir werden dir auch bestimmt die Zeit vertreiben!« »Hört zu. Ich hab’s eilig. Eine Verabredung wartet auf mich und ich habe keine Lust auf eure Gesellschaft«, wehrte Melissa ab. »Das sehen wir aber ganz anders«, knurrte der Anführer und gab seinen Kumpanen einen Wink. Die beiden traten einen Schritt auf Melissa zu. »Zuerst lass uns mal einen Blick in deine Tasche werfen«, verlangte der linke. »Die ist viel zu schwer für dich.« »Tut mir leid, Jungs. Aber die Tasche könnt ihr nicht haben«, sagte
sie kühl und stellte sie hinter sich auf den Betonboden. »Da irrst du dich, Schätzchen«, rief der Anführer der Schläger. »Karl, schnapp dir die Tasche!« Sofort stürmte der Kerl mit der Zahnlücke vor und wollte sein scheinbares Opfer zur Seite und in die Arme seines Kumpels stoßen. Doch Melissa packte ihn am Arm, drehte sich um und zog ihn mit Schwung über die Schulter. Mit einem lauten Krachen landete er auf dem Rücken und japste nach Luft. »Du kleine Schlampe!«, brüllte sein Kumpan und sprang vor. Melissa stoppte ihn mit einem Faustschlag auf die Kehle. Zielsicher traf sie seinen Adamsapfel. Er griff sich an den Hals und brach vor ihr auf die Knie. Nummer zwei, dachte sie. Jetzt war nur noch der Anführer übrig. Mit einem Blick versicherte sich Melissa, dass seine Kumpane keine Gefahr mehr für sie darstellten. Die waren beide mit Luftholen beschäftigt. Der dritte hatte in der Zwischenzeit eine grobgliedrige Kette aus der Jackentasche gezogen und näherte sich jetzt. Seine Augen sprühten vor Wut. »Ich mach dich fertig, elendes Miststück!«, fuhr er sie mit zornerstickter Stimme an. »Dafür wirst du bluten!« Er ließ das eine Ende der Kette aus der Hand gleiten und schwang sie bedrohlich neben sich. Das metallische Rasseln der Kettenglieder wurde von den Wänden zurückgeworfen und ließ Melissa einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Er war nur noch zwei Schritte entfernt, da ließ er die Kette auf Melissas Hals zusausen. Im letzten Moment duckte sie sich darunter hinweg, sprang sofort wieder auf – und trat dem Skinhead mit aller Kraft zwischen die Beine. Mit weit aufgerissenen Augen und einem erstickten Keuchen ging
das Muskelpaket vor ihr in die Knie »Dreckstück!«, presste er hervor. Für diese Beleidigung rammte ihm Melissa das Knie unters Kinn und schickte ihn ins Reich der Träume. »Wer macht hier wohl wenn fertig, Arschloch«, sagte sie angewidert …
* Der Zwischenfall mit den Skinheads hatte Melissa wertvolle Zeit gekostet. Von einer nahen Kirchturmuhr – in dieser alten Bischofsstadt gab es reichlich davon – begleiteten dumpfe Schläge den letzten Teil ihres Weges. Es war viertel vor zwölf! Melissa passierte gerade das Theater, als elegant gekleidete Besucher den säulengesäumten Eingangsbereich verließen. Sie lachten und scherzten. Offenbar hatte ihnen die Vorstellung gefallen. Wehmütig dachte Melissa an ihren letzten Theaterbesuch. Sie hatte den Urfaust gesehen. Selbst Goethe hatte gewusst, dass man dafür bezahlen musste, wenn man sich mit Dämonen einließ. Sie beschleunigte nochmals ihre Schritte. Wenn nichts mehr dazwischen kam, würde sie die Sülte in wenigen Minuten erreichen. Nach einer viel befahrenen Kreuzung und einem Spurt über einen kleinen Parkplatz war sie am Ziel. Vor ihr ragte ein ehemals U‐ förmiges Gebäude aus groben Steinquadern auf. Riesige Kastanien und Linden warfen tanzende Schatten auf die verwitterten Wände. Der Nordflügel des ehemaligen Klosters lag in Trümmern. Hier war kein Stein auf dem anderen geblieben. Lediglich die Grundmauern waren noch zu erkennen. Moose, Flechten und Efeu hatten die Mauerstücke mit einer grünen Decke überzogen. Der Mitteltrakt war am besten erhalten. In der Seitenwand, die sich zum Innenhof öffnete, gähnte ein großes Loch, in dem früher
einmal ein mächtiges Flügeltor gehangen hatte. Von den Fenstern waren nur noch die Holzstreben übrig. Glasscherben staken in den Rahmen wie scharfe Zähne eines mittelalterlichen Ungeheuers. Sogar schmale Schießscharten waren zu erkennen. Von dem Dach und den Ziegeln war nichts mehr übrig. Dieses verfallene Gebäude beherbergte längst keine Nonnen mehr. Bereits im vergangenen Jahrhundert hatte das Bistum diesen Gebäudekomplex dem Land zur Verfügung gestellt, um eine Psychiatrie darin unterzubringen. Kurz vorher war man darauf gekommen, dass Geisteskranke wie Kranke behandelt werden und nicht zu den Straftätern ins Gefängnis gesperrt werden sollten. Überall waren daraufhin Psychiatrien entstanden, Heilanstalten. Die Sülte war eine davon. Melissa mochte lieber nicht darüber nachdenken, welche Therapien hier an den Patienten durchgeführt worden waren. Jetzt war das Gebäude eine Zufluchtsstätte für Obdachlose und Punks, die alle den Räumen ihre persönliche Note verliehen hatten. Beim Durchstreifen der Geschosse fand Melissa leere Pappkartons, die zu armseligen Schlafstätten zusammengepfercht waren. Auch hier waren die Wände voller Graffitis. Immer wieder musste sie über leere Bierflaschen steigen und heruntergestürzte Mauerstücke umrunden. Ab und zu wanderte ihr sorgenvoller Blick zur Decke. Der Boden unter ihren Füßen knarrte oft genug bedenklich und der Staub kitzelte in ihrer Nase. Wo, zur Hölle, sind sie?, fragte sich Melissa. Im zweiten Stock des Hauptgebäudes war sie auf ein Pentagramm gestoßen, das mit Kreide auf den Boden gemalt worden war. An den Spitzen des Sterns standen weiße, verstaubte Kerzenstümpfe – harmlos und noch dazu Wochen alt. Melissa wurde unruhig. Von Fern hallte der Schlag der Turmuhr zur vollen Stunde. Es war Mitternacht und sie hatte die Beschwörer
noch immer nicht gefunden! Sie verlagerte ihre Suche in den Südflügel. Von Außen hatte sie gesehen, dass er zur Hälfte eingestürzt war. Das würde ihre Suche verkürzen. Aber was, wenn Philipp sich geirrt hatte, kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Wenn Astaroth ihm dazwischen gefunkt und falsche Bilder geschickt hatte? Sie vertrieb diese Vorstellung aus ihrem Kopf. Das durfte nicht sein! Aber warum spürte sie den Dämon nicht? Sie passierte gerade einen Torbogen, in dem eine morsche Holztür mit schweren Eisenbeschlägen angefressen in den Angeln hing. Der Staub war hier Zentimeter dick. Der Schein ihrer Taschenlampe huschte über den Boden. Quiekend floh eine Ratte durch ein Loch in der Außenmauer. Da bemerkte Melissa die Fußspuren. Sie zogen sich von einem Fenster in der rechten Mauer quer über den Boden zu einer Tür in der vor ihr liegenden Westwand. Der Staub war von drei Paar Schuhen frisch aufgewirbelt. Zwei Paar hatten Spuren von breiten Absätzen hinterlassen, nur eines wies schmale Abdrücke auf. Melissa hatte es also mit drei Beschwörern zu tun, zwei Männern und einer Frau. Sie waren durch das Fenster eingestiegen und zielstrebig auf die Tür zugegangen. Demnach war alles ganz sorgfältig geplant worden. Melissa musste vorsichtig sein. Sie hatte es allem Anschein nach nicht mit Anfängern zu tun. Sie näherte sich der Tür – und hörte plötzlich einen leisen Sprechgesang. »Komm herbei, erhöre uns. Schenk uns die Macht. Gewähre uns, dir Werkzeug und Diener zu sein für Geld und Macht. Tritt zwischen uns ein.« Melissa stellte leise ihre Tasche ab, zog den Reißverschluss auf und warf die ausgeknipste Taschenlampe hinein. Die brauchte sie jetzt nicht mehr. Das Mondlicht, das durch die hohen spitzbogigen Fenster fiel, war hell genug.
Die Seherin band sich die Haare mit einem Gummiband zusammen und schnallte das Hohlster für die 38er um. Routiniert überprüfte sie nochmals die Waffe, bevor sie sie wegsteckte. Ihren Dolch verstaute sie in einer Scheide, die sie sich an den Oberschenkel band. Schließlich zog sie ihr Amulett unter dem Pullover hervor, so dass es für jeden sichtbar auf ihrer Brust ruhte und steckte sich einen magischen Ring an den linken Ringfinger. Das Gold des Ringes schimmerte rötlich, ebenso wie der Blutrubin, der darin eingefasst war. Ein warmes, beruhigendes Licht umflutete ihre Hand. Sie zog den schwarzen Mantel wieder über. Die Waffen verschwanden unter dem dunklen Stoff, nur die Schmuckstücke leuchteten sanft in der Finsternis. Mit klopfendem Herzen nahm sie nun das Schwert aus der Tasche. Nachdem sie es aus der Scheide gezogen und den Griff mit ihrer Hand umschlossen hatte, fühlte sie, dass es leicht pulsierte. Die Klinge verlangte nach dem Blut des Dämons. Es war so weit! Vorsichtig prüfte Melissa, ob die Tür abgeschlossen war. Das war nicht der Fall. Die Seherin stieß sie auf und brüllte: »Sofort aufhören!« Ihr Schrei verlor sich in einer weiten Halle, die sich vor ihr auftat. An den Seiten zogen sich Säulen entlang, die das Gewölbe stützten und es in ein Hauptschiff und zwei Seitenschiffe teilten. Dies musste der Speisesaal gewesen sein. Der Raum erinnerte Melissa an eine gotische Kirche. Die Decke war teilweise eingestürzt und erlaubte einen Blick in das obere Stockwerk. Inmitten der Halle standen die drei Beschwörer um ein riesiges Pentagramm. Es maß circa fünf Meter im Durchmesser und war mit roter Farbe auf den Boden gemalt. Den Kreis hatten sie mit einem Runenband verziert und an den Sternspitzen schwarze Kerzen aufgestellt.
Die drei hatten sich anscheinend besser informiert als die Möchtegern‐Satanisten aus dem Hauptgebäude. Zwischen den Kerzen standen Schalen, aus denen dicker, süßlicher Rauch quoll. Einer der beiden Männer hielt ein Buch in den Händen, aus dem er fortwährend leise vorlas. So ein Grimoire konnte man heutzutage sogar über das Internet bestellen, auch wenn kaum davon auszugehen war, dass diese Bücher vollständig waren. Nicht wie die Originale, die sorgfältig behütet wurden. Als wollten die drei die theatralische Wirkung der Szene vervollständigen, trugen sie lange weiße Kutten. Was geht nur in den Köpfen solcher Menschen vor?, schoss es Melissa durch den Kopf. Halten die Magie für ein amüsantes Spiel mit Verkleiden und Räucherstäbchen? Ihr blieb keine Zeit mehr, weitere Überlegungen anzustellen. Unbeeindruckt von ihrem filmreifen Auftritt hatten die drei Satanisten weiter gesungen und ihre dämonische Liturgie beendet. Das Pentagramm loderte auf. Feine Lichtlinien zuckten von den Füßen der Beschwörer zum Kreismittelpunkt und vereinten sich dort in einem flackernden Ball, der langsam anschwoll. Als er menschliche Größe erreicht hatte, formte sich im Innern eine Gestalt. Wie gebannt konnte Melissa nichts anderes tun, als zusehen. Etwas hielt sie davon ab einzugreifen. Genauso wie etwas ihren Spürsinn für das Übernatürliche störte. Die Beschwörer hatten die Arme zu der Gestalt erhoben. »Komm zu uns! Komm zu uns!« Die Erscheinung verfestigte sich. Melissa konnte jetzt ein Gesicht erkennen. Nie zuvor hatte sie ein schöneres und anmutigeres Antlitz gesehen als dieses, das jetzt inmitten des Kreises vor ihr schwebte. Es war das Gesicht eines Engels, stolz und erhaben, Ehrfurcht gebietend, als hafte der Glanz der Silberstadt noch auf seinen Zügen. Einen Augenblick später registrierte Melissa die prächtigen Flügel, die hinter der Gestalt aufragten. Das weiße, wallende
Gewand vervollkommnte den Eindruck. Jegliche Furcht wich angesichts dieser Gestalt von Melissa. Thaddeus hatte sich geirrt. Die Beschwörer hatten einen Engel rufen wollen, deshalb hatte sie nichts gespürt. Sie lies das Schwert sinken und wollte sich gerade abwenden, als sie aus den Augenwinkeln eine Veränderung bemerkte. Die Schwingen des Engel … Etwas stimmte damit nicht! Bislang hatte der Engel demütig die Augen gesenkt. Jetzt sah er auf und ein eisiger Blick traf Melissa. Plötzlich färbten sich die Flügel des Engels schwarz, als hätte eine unsichtbare Macht sie mit Farbe übergossen. Seine Gestalt verkrümmte sich, bis sein Körper einer missgestalteten Parodie eines Engels glich. Vor ihnen stand ein Gefallener. Die Frau am Rand des Kreises stieß einen spitzen Schrei aus. »Markus, was hat das zu bedeuten?« Der Mann, der noch immer das Buch in Händen hielt, sah sie triumphierend an. »Ich habe das Ritual nur ein wenig abgeändert.« »Was soll der Scheiß?« »Bist du völlig bescheuert?«, mischte sich nun auch der Dritte ein. »Wir wollten einen Geist beschwören, der uns zu Macht und Geld verhilft und keinen Dämon rufen. Das ist Wahnsinn!« »Ihr Feiglinge! Warum sollte ich mich mit einer Gehaltserhöhung zufrieden geben, wenn ich ganz nach oben kommen kann? Astaroth ist mächtig und wird uns helfen. Wir haben ihn gerufen. Er muss uns dienen!« »Haltet endlich die Klappe!«, schrie Melissa. Zwischen den Beinen der Engelsgestalt formte sich ein weiteres Wesen, wurde immer größer und massiger. Bald konnte Melissa schuppige Haut erkennen. Das Reittier des Engels war ein Drache. Doch damit war die Wandlung noch nicht vollzogen. Der Gefallene streckte die Hand aus, als wolle er nach etwas greifen. Und wirklich
hielt er im nächsten Moment etwas in Händen – eine Schlangenpeitsche, die Waffe Astaroths. Thaddeus hat Recht behalten, erkannte Melissa. Wie habe ich nur an ihm zweifeln können? Astaroth hatte es geschafft, sie zu täuschen. Doch jetzt kannte sie seine wahre Gestalt und er konnte sich nicht mehr vor ihr verstecken. Kaum hatte sich der Dämon manifestiert, da stürmte er bereits auf einen der Beschwörer zu, um dessen Körper in Besitz zu nehmen. Sein Ziel war die junge Frau, die voller Angst aufschrie. Unfähig sich zu bewegen, stand sie stocksteif am Rand es Runenkreises und sah den Dämon auf sich zurasen. Melissa bückte sich blitzschnell, packten einen Stein und warf. Sie traf die Beschwörerin an der Schläfe und schickte diese in die Bewusstlosigkeit. Der Dämon stockte verwirrt, wandte mit einem Ruck den Blick in die Richtung, aus der das Geschoss gekommen war und starrte Melissa ungläubig an. Sie hockte noch immer an der Stelle, von der sie den Stein aufgehoben hatte und grinste herausfordernd. Nun richtete sie sich auf, das Schwert leicht in der Hand wiegend. Die Augen des Dämons glommen wütend auf. Einen Moment schien er unentschlossen – doch mit einem Mal drehte er sich zu einem der Männer um und machte Jagd auf sein neues Opfer. In einen ohnmächtigen Menschen zu fahren, mit einer Seherin im Raum, war ihm wohl zu gefährlich. Astaroth war eben nicht dumm. Noch hatte sich seine irdische Form nicht gefestigt. Melissa rannte los. Sie musste näher heran. Der junge Mann, hinter dem Astaroth nun her war, war der Typ mit dem Buch. Als der endlich begriffen hatte, dass der Dämon aus dem Kreis ausgebrochen war und er die Macht über ihn verloren
hatte, nahm er die Beine in die Hand und lief los. Das Buch presste er sich wie einen Schild fest vor die Brust. Mit einer Hand raffte er die Kutte hoch, um nicht auf den Saum zu treten und zu stürzen. Wie ein Kaninchen versuchte er, seinem Verfolger hakenschlagend zu entkommen. Dabei kam er an Melissa vorbei, ohne sie zu beachten. Die Seherin trat zwischen ihn und den Dämon, riss das geweihte Schwert hoch und ließ die Klinge in den astralen Leib des Drachen fahren. Mit einem gellenden Schrei riss Astaroth sein Reittier zurück. Aus dem Hals des Tieres quoll eine dunkle Flüssigkeit und tropfte zu Boden. Was davon die Klinge des Schwertes berührt hatte, verdampfte in einer überriechenden Wolke und lies die Schneide sauber und rein zurück. Aber noch hatte Melissa nicht gesiegt. Astaroth holte zu einem neuen Schlag aus und rammte dem Drachen die Hacken in die Flanke. Der Lindwurm bäumte sich auf. Im nächsten Augenblick stürmte er los, dem Mann hinterher, der eben so knapp entkommen war. Auch Melissa rannte. Sie war näher an dem Mann und hatte gute Chancen, ihn früher zu erreichen. Mit einem Satz sprang sie über ein Mauerstück und hetzte weiter. Sie spürte den Atem des Drachen hinter sich; sah, wie er feine Staubflöckchen aufwirbelte. Sie musste es schaffen! Der Beschwörer hatte die Tür fast erreicht. Melissa stieß sich vom Boden ab, warf sich nach vorne und erwischte ihn an den Füßen. Der Mann verlor den Halt und schlug der Länge nach hin. Gemeinsam rutschten sie über den dreckigen Boden und krachten gegen die Wand. Melissas Aufprall wurde vom Körper des Mannes abgefedert.
Doch er schlug mit voller Wucht gegen die Mauer. Das würde eine saftige Gehirnerschütterung geben, war aber besser, als einen Dämon im Kopf zu haben. Selbst jetzt, als er ohnmächtig in der Ecke lag, hielt der Kerl das Buch fest umklammert. Wutschnaubend hatte sich Astaroth auch von diesem verlorenen Opferkandidaten abgewandt und sah sich nach dem verbliebenen Satanisten um. Er schien in seiner unvollendeten Körperlichkeit noch keinen Kampf mit Melissa zu wagen. Der letzte der Dreiergruppe hatte sich wimmernd in eine Ecke gekauert und hoffte zitternd, dass dies alles nur ein böser Traum war. Der dröhnende Schrei des herannahenden Dämons riss ihn aus seinen Gebeten. Voller Entsetzen blickte er dem tobenden Verderben ins Angesicht. Astaroth beugte sich vor und holte zum vernichtenden Schlag aus, mit dem er in den Körper des Mannes fahren und endlich sein Dasein auf der Erde sicherstellen wollte. Melissa erkannte, dass sie die Distanz zu dem Dämon nicht überwinden konnte, bevor dieser sein Werk vollendet hatte – und tat sie das Einzige, was ihr noch übrig blieb … Der Kuttenträger riss in einer verzweifelten Geste die Arme vors Gesicht, um den Schlag des Dämons mit bloßen Händen abzuwehren. Da fegte ein ohrenbetäubender Schrei durch die Halle und ließ die dicken Mauern erzittern. Ungläubig starrte Astaroth auf seine Brust hinab, auf der sich ein dunkler Fleck ausbreitete. Melissas Schwert steckte im Mauerwerk, keine Handbreit über dem Kopf des jungen Mannes. Sie hatte es einmal quer durch die Halle geschleudert. Das war zu viel für den Beschwörer. Mit einem Seufzen verabschiedete er sich aus der Welt des Wachens und übergab sich den tröstenden Armen der Träume. Jetzt waren nur noch Melissa und Astaroth übrig. Hämisch grinsend wandte sich der Dämon ihr zu. Ihr Schwert
steckte unerreichbar in der Wand am anderen Ende der Halle. Unendlich langsam trabte der Drache auf sie zu. Melissa wich zurück, bis sie die Wand im Rücken spürte. Fieberhaft überlegte sie. Vielleicht würde es ihr gelingen, mit einem geschickten Ablenkungsmanöver an ihr Schwert zu gelangen. Doch die Tatsache, dass Astaroth samt seinem Drachen mühelos einen der Säulengänge blockierte, machte ihr wenig Hoffnung auf Erfolg. Der Dämon war nur noch zehn Schritte entfernt. »Jetzt rechnen wir ab, Mensch! Ohne dein Schwert bist du Nichts. Du stellst dich mir nicht länger in den Weg.« »Du wärst nicht der Erste, der sich da irrt«, konterte Melissa – und rannte los. Sofort riss Astaroth den Drachen herum und trieb ihn an. Wieder befand er sich zwischen ihr und dem Schwert. Es lag nur drei Meter entfernt und war dennoch unerreichbar. »Was nun, Mensch?«, fragte Astaroth gelassen. Er beugte sich zu ihr hinunter und öffnete den Mund. Sofort riss sich Melissa die linke Hand vors Gesicht, auf der ihr magischer Ring steckte. Das allein rettete sie vor Astaroths giftigem Atem, der nun in einer alles erstickenden Wolke um sie brandete. Neben sich an der Wand sah Melissa die feinen Flechten in Bruchteilen von Sekunden verwelken und zu Staub zerfallen. Im Umkreis von vier Metern blieb absolut nichts mehr am Leben. Wütend brüllte Astaroth sie an, als er sah, dass sein Odem sie nicht erreichte. Lauernd standen sich Melissa und der Dämon gegenüber und warteten, dass einer von ihnen eine Schwäche zeigte. Bis plötzlich eine Stimme ertönte. »Melissa?« Die Seherin fuhr erschrocken herum. »Daniel?« Das war der Augenblick, auf den Astaroth gewartet hatte. Sofort jagte der Drache los. In dem Moment, in dem Daniel durch die
Eingangtür die große Halle betrat, wurde er von einer ungeheuren Druckwelle gegen die Wand gepresst. Sein Mund wurde aufgerissen. Ein schattenhafter Schemen mit riesigen Flügeln stürzte auf ihn zu – und verschwand. »NEIN!«, schrie Melissa entsetzt, aber es war zu spät. Daniel richtete sich auf. Mit einer Hand wischte er sich über das Gesicht. Seine Augen loderten in einem eiskalten Feuer, als er sie ansah. Er verzog den Mund zu einer überlegen grinsenden Fratze. »Du hast verloren, Mensch«, sagte Astaroth mit Daniels Stimme. »Du hast mich nicht aufhalten können. Du bist zu schwach. Und nun habe ich den Körper deines Liebsten und du kannst nichts dagegen tun.« Schallendes Gelächter brandete Melissa entgegen. Wie ist Daniel nur hierher gekommen? Melissas Gedanken rasten. Was sucht er hier? Er muss mir gefolgt sein! Der Anruf, das abgesagte Essen – Daniel war eifersüchtig. Ob er gesehen hat, dass ich zu Philipp gegangen bin? Warum hat er mich bis hierher verfolgt? Wollte er mich zur Rede stellen? Warum gerade jetzt? Ihr blieb nur eine Möglichkeit, Daniel zu retten … Entschlossen trat sie aus dem Säulengang und stellte sich Astaroth. Die Augen des Mannes, der einst Daniel gewesen war, sahen sie mit einer Mischung aus Arroganz und Schadenfreude an. Da hob Melissa die 38er und drückte ab. Der Schuss zerriss die Stille und fetzte ein tiefes Loch in Daniels Brust. Sein Blut verteilte sich hinter ihm an der Wand, bevor er wie in Zeitlupe zusammensackte und gegen die Mauer gelehnt liegen blieb. Mit einem Satz war Melissa über ihm und rammte ihm den Dolch in den Leib. Es knackte, als sie seinen Brustkorb spaltete. Mit einem schmerzerfüllten Heulen entwich der Dämon aus dem toten Körper und versuchte zu entkommen. Doch Melissa war schneller. Sie zerriss die Kette des Amuletts und
schleuderte es auf die trügerische Engelserscheinung. Noch einmal glomm der Dämon in gleißendem Licht auf, bevor er von dem Pentagramm zurück in die Abgründe der Hölle gezogen wurde. Melissa trat an den fünfzackigen Stern und verwischte mit dem Fuß die rote Farbe. Anschließend hob sie das Amulett auf steckte es achtlos in die Manteltasche und holte das Schwert. Erst jetzt kehrte sie zurück zu Daniels Leiche. Sie kniete sich zu ihm und zog den Dolch aus seinem Körper. Sanft schloss sie seine starr geweiteten Augen. »Warum hast du dich bloß eingemischt?«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. In der Ecke kam stöhnend der Anführer der Beschwörer zu sich. Melissa erhob sich und ragte als drohender Schatten über ihm auf. Ängstlich zuckte er zusammen. »Bist du nun zufrieden?«, fragte sie kalt. »Deine verdammte Gier hat das Leben eines Menschen gefordert. Wolltest du das?« Jetzt schrie sie: »Wolltest du das?« Der Mann kroch zitternd in die Ecke zurück. Melissa riss ihm das Buch aus den Händen und verbarg es unter ihrem Mantel. »Armseliger kleiner Spinner. Lass in Zukunft die Finger von so was.« Sie verließ die Sülte. Blut zeichnet die Spur der Seher und es wird erst enden, wenn sie fallen. ENDE